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German Pages 1000 [1004] Year 2000
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Schleiermacher-Archiv Herausgegeben von Hermann Fischer und Ulrich Barth, Konrad Cramer, Günter Meckenstock, Kurt-Victor Selge
Band 19
Walter de Gruyter · Berlin · New York 2000
200 Jahre „Reden über die Religion" Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft Halle 1 4 . - 1 7 . März 1999 Herausgegeben von Ulrich Barth und Claus-Dieter Osthövener
Anhang: Johann Joachim Spalding Religion, eine Angelegenheit des Menschen Erste Auflage, Leipzig 1797
Walter de Gruyter • Berlin · New York
2000
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche Bibliothek -
CIP-Einheitsaufnahme
200 Jahre „Reden über die Religion" : Halle, 14.-17. März 1999 / hrsg. von Ulrich Barth und Claus-Dieter Osthövener. Anhang: Religion, eine Angelegenheit des Menschen / Johann Joachim Spalding. - Berlin ; New York : de Gruyter, 2000 (Akten des ... Internationalen Kongresses der SchleiermacherGesellschaft ; 1) (Schleiermacher-Archiv ; Bd. 19) ISBN 3-11-016904-5
© Copyright 2000 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Satz: Ready Made, Berlin Druck: Gerike GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin
Zum Geleit Das Titelblatt des vorliegenden Bandes des Schleiermacher-Archivs weist ein verändertes Herausgebergremium auf, das dem neuen Herausgebergremium der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Schleiermachers entspricht. Seit der Gründung beider Unternehmen ist deren Herausgeberkreis identisch. Uber die Notwendigkeit und die näheren Umstände der Veränderung des Herausgeberkreises informiert das Vorwort zu KGA V/5. Die Herausgeber danken auch an dieser Stelle noch einmal Gerhard Ebeling und Heinz Kimmerle sehr herzlich für ihre bisherige Mitarbeit am Schleiermacher-Archiv, das sie seit seinen Anfängen mit stets hilfreichem Rat tatkräftig begleitet und gefördert haben. Im Namen der Herausgeber
Hermann Fischer
Vorwort Der vorliegende Band vereinigt die Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft anläßlich des 200jährigen Jubiläums des Erscheinens der Reden ,Über die Religion'. Der Kongreß fand vom 14. bis 17. März 1999 in Halle /Saale statt. Die hier dargebotenen Abhandlungen sind gemäß dem Verlauf des Kongresses aufgeteilt in öffentliche Vorträge und Sektionsvorträge. Einige wenige Beiträge konnten auf der Tagung selbst nicht vorgestellt werden und wurden nachträglich eingefugt. Als Anhang wird ein Abdruck der schwer zugänglichen Erstauflage von Johann Joachim Spaldings Religionsschrift beigegeben, die sich auch in Schleiermachers Besitz fand und gewissermaßen das neologische Gegenstück zu den .Reden' darstellt. An dieser Stelle sei allen Forschern, die ihre Vorträge fur diesen Band zur Verfügung gestellt haben, noch einmal aufrichtig gedankt. Die Durchführung des Kongresses und die Publikation der Kongreßakten wurden durch vielfältige Unterstützung ermöglicht. Zu danken ist zuvörderst der Fritz-Thyssen-Stiftung (Köln), die einen beträchtlichen Beitrag zur Finanzierung der Tagung bewilligt hat. Zu danken ist sodann den Franckeschen Stiftungen (Halle), in deren historischen Räumen die Tagung stattfinden konnte. Zu danken ist ferner der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, die organisatorischen Beistand geleistet hat. Zu danken ist des weiteren den Herausgebern des Schleiermacher-Archivs für die Aufnahme der Kongreß-Akten in diese Reihe. Zu danken ist darüber hinaus dem Verlag Walter de Gruyter (Berlin) für die sorgfältige Betreuung der Drucklegung. Zu danken ist schließlich den beiden wissenschaftlichen Hilfskräften Herrn Georg Neugebauer und Herrn Roland Lehmann für die mühevolle Arbeit des Korrekturlesens. Es ist wohl im Sinne aller Mitwirkenden, an das Erscheinen dieses Bandes die Hoffnung zu knüpfen, daß sich die perspektivenreiche Diskussion des Kongresses für die weitere Erforschung der Epoche als fruchtbar erweist. Halle, den 6. September 2000
Ulrich Barth / Claus-Dieter Osthövener
Inhaltsverzeichnis Zum Geleit Vorwort
V VII
Öffentliche Vorträge ULRICH BARTH /HALLE
Begrüßung und Einfuhrung in den Kongreß
3
EBERHARD J Ü N G E L / T Ü B I N G E N
„Häresis — ein Wort das wieder zu Ehren gebracht werden sollte". Schleiermacher als Ökumeniker
11
K U R T NOWAK/LEIPZIG
Romantik. Zum historischen Ort einer kulturellen und religiösen Erscheinung
39
JÜRGEN STOLZENBERG/HALLE
Weltinterpretationen um 1800 TRUTZ
58
RENDTORFF/MÜNCHEN
Religion - das „vollendetste Resultat der menschlichen Geselligkeit". Perspektiven einer Individualitätskultur im Verhältnis von Religionstheorie und Gesellschaftstheorie
79
HENDRIK J O H A N A D R I A A N S E / D E N H A A G
Schleiermachers .Reden' als Paradigma der Religionsphilosophie
100
KONRAD CRAMER/GÖTTINGEN
.Anschauung des Universums". Schleiermacher und Spinoza
118
EILERT H E R M S / T Ü B I N G E N
Religion, Wissen und Handeln bei Schleiermacher und in der Schleiermacher-Rezeption 142 WILHELM G R Ä B / B O C H U M
Der kulturelle Umbruch zur Moderne und Schleiermachers Neubestimmung des Begriffs der christlichen Religion
167
χ
Inhaltsverzeichnis
Sektion I: Philosophische und Theologische Aufklärung ANDREAS A R N D T / B E R L I N
Schleiermacher und die englische Aufklärung
181
LUTZ DANNEBERG/BERLIN
Schleiermacher und das Ende des Akkommodationsgedankens in der hermeneutica sacra des 17. und 18. Jahrhunderts
194
WOLFGANG VIRMOND/BERLIN
Bemerkungen zu Schleiermachers Schlobittener Stil-Vorträgen von 1791. Mit einem Exkurs über die ,Reden' (1799) und Spaldings ,Religion' (1797) 247 BERND OBERDORFER/AUGSBURG
Schleiermachers frühe Ethik in ihrem Verhältnis zu Johann August Eberhard
262
ALBRECHT B E U T E L / M Ü N S T E R
Aufklärer höherer Ordnung? Die Bestimmung der Religion bei Schleiermacher (1799) und Spalding (1797)
277
MARTIN OHST/WUPPERTAL
Schleiermacher und Herder
311
PETER GROVE/AARHUS
„Vereinigungsphilosophie" beim frühen Schleiermacher und bei Herder 328 HERMANN PATSCH/MÜNCHEN
Du, Redner der Religion. Zeitgenössische Gedichte auf die ,Reden' . . 344 GIOVANNI M O R E T T O / G E N U A
Schleiermachers ,Reden' und die Mystik
364
Sektion II: Romantik und Idealismus HANS-OLOF K V I S T / T U R K U
Kants praktische Philosophie in den Jugendmanuskripten Schleiermachers. Einige kritisch-grundsätzliche Gesichtspunkte zur KantRezeption des jungen Schleiermacher
383
Inhaltsverzeichnis
XI
FOLKART W I T T E K I N D / B O C H U M
Die Vision der Gesellschaft: und die Bedeutung religiöser Kommunikation. Schleiermachers Kritik am Atheismusstreit als Leitmotiv der ,Reden' . . 397 JOACHIM RINGLEBEN / G Ö T T I N G E N
Schleiermachers Reden .Über die Religion' und Hegels .Theologische Jugendschriften'. Einige Beobachtungen zu ihrem Verhältnis
416
SHIN-HANN C H O I / T A E J O N
Trifft Hegels Kritik am Begriff der Unmittelbarkeit zu? Schleiermachers Plädoyer für Unmittelbarkeit in seinen Reden ,Uber die Religion' 444 JAN RÖHLS / M Ü N C H E N
„Der Winckelmann der griechischen Philosophie" — Schleiermachers Piatonismus im Kontext
467
ISAK WINKEL HOLM/KOPENHAGEN
Antipathetische Sympathie. Soren Kierkegaard und die Frühromantik
497
GUNTER S C H O L T Z / B O C H U M
Schleiermacher und die Kunstreligion
515
HANS DIERKES/NIEDERKASSEL
„Schleyermacher hat Eine Art von Liebe, von Religion verkündigt". Hat er das? Novalis' Rezeption der Reden ,Über die Religion'
534
CHRISTIAN ALBRECHT/TÜBINGEN
Zwischen transzendentalphilosophischer Spekulation und religionspraktischer Empirie. Zu Schleiermachers Grundlegung eines diagnostisch motivierten Programms religionstheoretischer Methodik 559 ASHOT VOSKANIAN/ERIWAN
Warum Schleiermacher kein Romantiker ist
574
Sektion III: Religionstheorie und Theologie MARKUS SCHRÖDER/AUGSBURG
Das „unendliche Chaos" der Religion. Die Pluralität der Religionen in Schleiermachers ,Reden'
585
XII
Inhaltsverzeichnis
DIETRICH K O R S C H / M A R B U R G
„Höherer Realismus". Schleiermachers Erkenntnistheorie der Religion in der Zweiten Rede
609
MATTHIAS WOLFES/KIEL
„Ein Gegensatz zwischen Vernunft und Offenbarung findet nicht statt". Friedrich Schleiermachers Vorlesung über Dogmatische Theologie aus dem Sommersemester 1811 629 JÖRG DIERKEN/ H A M B U R G
„Daß eine Religion ohne Gott besser sein kann als eine andre mit Gott". Der Beitrag von Schleiermachers .Reden' zu einer nichttheistischen Konzeption des Absoluten 668 C L A U S - D I E T E R OSTHÖVENER/HALLE
Das Christentum als Erlösungsreligion
685
DIETZ LANGE /GÖTTINGEN
Schleiermachers Christologie und die Aufklärung
698
MAUREEN JUNKER-KENNY/DUBLIN
Die .Anschauung des Universums ... zur Vollkommenheit ausgebildet". Zur Christologie der .Reden' 714 ARNULF VON SCHELIHA/HAMBURG
Albrecht Ritschis Deutung von Friedrich Schleiermachers Reden .Uber die Religion' 728 H A R T M U T RUDDIES/GÖTTINGEN
„Das große Programm aller wissenschaftlichen Theologie". Bemerkungen zur Schleiermacher-Rezeption Ernst Troeltschs
748
Sektion IV: Ethik und Kulturtheorie MICHAEL WELKER/HEIDELBERG
Schleiermachers geniale früheste Ethik
773
SERGIO SORRENTINO/NEAPEL
Das Verhältnis von Ethik und Geschichtsphilosophie beim frühen Schleiermacher
786
Inhaltsverzeichnis
XIII
RUTH DRUCILLA RICHARDSON/SPARTA
The Berlin Circle of Contributors to Athenaeum': Friedrich Schlegel, Dorothea Mendelssohn Veit, and Friedrich Schleiermacher
816
URSULA FROST/KÖLN
Das Bildungsverständnis Schleiermachers und Humboldts im Kontext der Frühromantik
859
JENS BRACHMANN/JENA
Über die Möglichkeit, „die Ethik ... zerstiikkelt mit hervorzubringen." Die Bestimmung des Verhältnisses von Ethik und „technischen Disciplinen" und die Rezeption erziehungstheoretischer Texte beim frühen Schleiermacher
878
INKEN MÄDLER/FRANKFURT
Ausdrucksstil und Symbolkultur als Bedingungen religiöser Kommunikation
897
ALBRECHT GECK/BOCHUM
Schleiermachers Kirchen- und Real-Kirchenpolitik zwischen Revolution und Restauration (1799-1823) 909 M A K O T O MIZUTANI/KYOTO
Die Problematik der Rezeption der ,Reden' in Japan - ein geschichtlicher Uberblick und einige Problempunkte
928
Anhang Johann Joachim Spalding: Religion, eine Angelegenheit des Menschen. Abdruck der ersten Auflage von 1797. Nachwort von Wolfgang Virmond
939
Öffentliche Vorträge Leitung der Podiumsdiskussionen: Kurt-Victor Selge/ Berlin Richard Crouter/Northfield (USA) Hermann Fischer/Hamburg
Begrüßung und Einfuhrung in den Kongreß VON ULRICH B A R T H / H A L L E
Sehr geehrte Kongreßteilnehmer, werte Vereinsmitglieder, meine Damen und Herren! Seien Sie herzlich willkommen hier in Halle, der Stadt, die mit dem Werdegang Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers aufs engste verknüpft ist, aber auch dem Ort, an dem seit zwei Jahren die neu gegründete Schleiermacher-Gesellschaft ihren offiziellen Sitz hat. Mit großer Freude erfüllt es uns - damit spreche ich im Namen des gesamten Vorstands - , daß die Einladung zu einem wissenschaftlichen Colloquium anläßlich der 200-jährigen Wiederkehr des Erscheinens der ,Reden über die Religion' ein solch breites Echo gefunden hat, nicht nur unter den Fachforschern im engeren Sinne, sondern auch bei den vielen anderen Schleiermacherkennern hier in Deutschland, in Europa und in aller Welt. Ich hoffe, daß es dem Kongreß gelingen wird, die an ihn gehegten Erwartungen zu erfüllen, wie auch immer sie im Einzelfall gelagert sein mögen. Gleich zu Beginn möchte ich ganz herzlich den Franckeschen Stiftungen danken, die uns zur Durchführung des Kongresses ihre altehrwürdigen, erst jüngst wiederhergestellten Räume großzügig zur Verfügung gestellt haben. Mein Dank gilt des weiteren der Universität, die vor allem auf organisatorischer Ebene behilflich war, und insbesondere der Fritz Thyssen-Stiftung, die uns in beachtlichem Maße finanzielle Unterstützung zuteil werden ließ. Bevor wir uns dem Anlaß und der Thematik der Tagung zuwenden, gilt es zunächst derer zu gedenken, die schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Planung ihr Interesse und ihre Mitwirkung erklärt hatten, diese dann aber leider nicht mehr wahrmachen konnten. Hier ist zuerst der Name Ernst Behlers zu erwähnen. Er wollte mit einem Vortrag über Schleiermacher und Schlegel aufwarten. Als ich ihn im September 1996 auf den Kongreß und den von ihm erbetenen Beitrag ansprach, willigte er spontan ein und fügte fast euphorisch hinzu: „In der Beziehung zwischen Schleiermacher und Schlegel steht mir jeder Tag klar vor Augen." An zweiter Stelle ist Niklas Luhmann zu nennen. Ihm war das Thema ,Individualität und Kommunikation' zugedacht, das er auch gerne traktieren wollte. Die Assistentin, die in seinem Auftrag die Korrespondenz erledigte, signalisierte aber gleich mit, daß ein Auftritt nur dann realistisch sei,
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Öffentliche Vorträge
wenn sich bis dahin der Gesundheitszustand wesentlich gebessert hätte. Diese Hoffnung hat sich bekanntlich nicht erfüllt. Und schließlich ist an Falk Wagner zu erinnern, der sich dem Verhältnis .Religion und soziale Evolution' widmen wollte. Noch im Juli vergangenen Jahres, nach seiner dritten Operation, hielt er an dem Vorhaben fest. Es sollte — wie er sich ausdrückte - „noch einmal ein Wort an die liberalen Freunde" werden. Erst Anfang November, wenige Tage vor seinem Tod, kam die Absage. Von allen drei Teilnehmern wäre — auf je eigene Weise — ganz Außerordentliches zu erwarten gewesen. Ich denke, wir ehren die verstorbenen Forscher am angemessensten dadurch, daß wir ihre großen Themen im Auge behalten und in den Diskussionen der kommenden Tage als gegenwärtige Fragestellungen mitführen, sei es ausdrücklich oder implizit. Der äußere Anlaß nun, der uns hier zusammengeführt hat, bedarf keiner ausführlichen Erläuterung. Unser Kongreß fällt - fast auf den Tag genau zusammen mit dem 200jährigen Jubiläum des Erscheinens von Schleiermachers erstem Hauptwerk. Trotz der stetigen Weiterentwicklung seines Denkens, die auch eine Reihe von Selbstkorrekturen mit sich brachte, darf es als die Programmschrift seines gesamten Religions- und Christentumsverständnisses gelten. Als solche haben die ,Reden' denn auch Epoche gemacht. Das bedeutet jedoch umgekehrt zugleich, daß deren sachliche Aktualität nur dann angemessen gewürdigt werden kann, wenn man sie einordnet in die Beschäftigung mit seinem Gesamtwerk überhaupt. Mißt man den Rang eines Klassikers an der Breite und Intensität der auf ihn bezogenen Debattenlage, dann scheint die Bedeutung Schleiermachers seit etwa 30 Jahren sogar noch — oder besser gesagt: wieder — im Wachsen begriffen zu sein. Sowohl die steigende Zahl der Monographien und Aufsätze, als auch die Zunahme des Spezialisierungsgrades der Forschung, gerade auch zu den früher eher unterbelichteten Teilen seines Werks, haben dessen Profil wesentlich geschärft, so daß Globalurteile oder vereinfachende Stellungnahmen, wie sie früher durchaus nicht selten begegneten, heute kaum mehr möglich sind. An der gegenwärtig zu beobachtenden Schleiermacher-Renaissance haben meines Erachtens vor allem drei Faktoren mitgewirkt: Erstens das Erscheinen der — bis zu ihrem Abschluß noch geraume Zeit beanspruchenden — Kritischen Gesamtausgabe, zweitens die inhaltlich und methodisch erheblich erweiterte geistesgeschichtliche Neuzeitforschung und drittens das gestiegene Bedürfnis nach einer Neuorientierung der Theologie hinsichtlich ihrer allgemeinen Rahmenbedingungen und Grundlagenprobleme. Ich möchte alle drei Momente kurz erläutern. Zunächst zum ersten Punkt. Bereits im Jahre 1927 hatte Hermann Mulert in Verbindung mit 4 2 anderen Gelehrten der verschiedensten Fachrichtungen die Inangriffnahme einer neuen Schleiermacher-Gesamtausgabe ins Auge gefaßt. Dieser Entschluß geriet aufgrund der ungünstigen äußeren Verhältnisse
Barth, Begrüßung und Einfuhrung in den Kongreß
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jedoch nie über den Status eines vagen Projekts hinaus. Erst im Jahre 1972 gelang es Hans-Joachim Birkner, jene Absicht in die Tat umzusetzen, und zwar dank Unterstützung von Seiten der Deutschen Forschungsgemeinschaft, des Verlags Walter de Gruyter, dem Rechtsnachfolger von Schleiermachers einstigem Hausverlag, und der Ostberliner Akademie der Wissenschaften, die den Manuskriptennachlaß verwaltete. Der erste Band der Kritischen Gesamtausgabe konnte bereits acht Jahre später der Öffentlichkeit übergeben werden. Seitdem sind Zug um Zug — in verhältnismäßig kurzen Abständen - wichtige Neuund Ersteditionen erschienen. Gegenwärtig liegen insgesamt 15 Bände vor. Weitere werden folgen. Doch schon jetzt steht fest — und die Forschungslage spiegelt dies bereits wider —, daß sich das Schleiermacherbild dank der kritisch edierten Quellen wesentlich verfeinert hat und Bezüge deutlich werden, die zuvor weithin unbekannt waren oder ganz anders gewichtet wurden. Im Folgenden seien nur einige der wichtigsten Gesichtspunkte kurz dargestellt. - Erstmals liegen die Jugendmanuskripte, soweit erhalten, in vollständiger Fassung vor. Sie haben Aspekte zutage gefördert, die das einst von Wilhelm Dilthey gezeichnete Porträt der Anfangsjahre in erheblichem Maße als korrektur- und ergänzungsbedürftig erweisen. - Die Briefedition ist inzwischen bis zum Jahre 1800 vorgerückt. Sie gibt jeweils den vollständigen Briefwechsel wieder, also nicht nur die Schreiben aus Schleiermachers eigener Feder. Reiches Informationsmaterial ist beigefügt. Dadurch ist das Bild der einzelnen Stationen und Kontexte der Frühbiographie erheblich facettenreicher und plastischer geworden. - Die vollständige Publikation der sogenannten Gedankenhefte — tagebuchartige Aphorismensammlungen — gewährt einen Einblick in die Gedankenwerkstatt dieser Jahre. Sie legen Fragestellungen und Motive frei, deren Ergebnisse dann in den veröffentlichten Schriften ihren Niederschlag gefunden haben. - Der Wiederabdruck der weithin unbekannten frühen Rezensionen macht deutlich, welch enzyklopädische Interessenvielfalt Schleiermachers Bildungstrieb von Anfang an bestimmte. Manche rätselhafte Anspielung seiner bekannten Texte wird allererst dadurch identifizierbar. - Die Zusammenstellung sämtlicher, zum Teil weit verstreuten theologischen Spezialabhandlungen und Gelegenheitsschriften sowie die Edition der handschriftlichen Aufzeichnungen zur Erstauflage der .Glaubenslehre' lassen nun auch bis in die letzten Einzelheiten hinein erkennen, in welch hohem Maß Schleiermacher eingebunden war und aktiv eingriff in die theologische, frömmigkeitsgeschichtliche und kirchenpolitische Gesamtentwicklung zwischen den Befreiungskriegen und den Ereignissen des Vormärz.
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Öffentliche Vorträge
— Die kritische Herausgabe des gesamten Vorlesungsmaterials und der Predigten wird dieses Spektrum dann noch einmal um eine ganz neue Dimension bereichern. Mit der jüngst erfolgten Publikation der .Staatslehre' ist ein erster Anfang auf diesem Gebiet gemacht. Hier tut sich ein wahrhaft gewaltiges Arbeitsfeld auf, das nur durch eine Vielzahl hochspezialisierter Forscher und nur auf interdisziplinärem Wege bewältigt werden kann. Es ist nicht zuletzt das Anliegen der von der Schleiermacher-Gesellschaft veranstalteten wissenschaftlichen Colloquien und speziell auch dieses Kongresses, den Austausch von Anregungen zu fördern, bereits in Angriff genommene Projekte zu vernetzen und deren Ergebnisse in überschaubarer Form zu bündeln. Damit komme ich zum zweiten Punkt. Die Erforschung der Theologie und Philosophie Schleiermachers, insbesondere der Anfänge, hätte in den letzten Jahren nicht einen solchen Aufschwung nehmen können, wenn sie nicht begleitet gewesen wäre von einer Vielzahl paralleler Bestrebungen. Die erhöhte Aufmerksamkeit auf die sogenannte Sattelzeit, also die Epoche der zweiten Hälfte des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts, kam nicht nur den Bereichen Sozial-, Wirtschafts- und Mentalitätsgeschichte zugute, sondern in besonderer Weise auch der problemgeschichtlich orientierten Ideengeschichtsschreibung. An die Stelle schematischer Einteilungen und stereotypisierender Begriffsbildungen ist eine Fülle mikrologischer Fallstudien getreten, die jeden Einzelsachverhalt in einen sachlichen und genetischen Verweisungszusammenhang einrücken und allererst so dessen innere Komplexität sichtbar machen. Die Querverbindungen und Rückbezüge, die sich bei genauerer Kenntnis überall auftun, zeigen, daß scheinbar eindeutige Zuordnungen häufig nur das Produkt willkürlicher Abstraktion darstellen. So hat etwa die Erforschung der Spätaufklärung, des späten Pietismus, des Sturm und Drang, der Frühromantik oder der Anfänge des Deutschen Idealismus gezeigt, daß die Ubergänge zwischen jenen Strömungen wesentlich fließender verliefen, als es Epochenetikettierungen suggerieren. Dies trifft in vollem Umfang auch auf die Genese des Schleiermacherschen Denkens zu. Herrnhuter Frömmigkeitstradition, Hallenser Schulphilosophie, Berliner Aufklärung, klassizistische Griechenlandbegeisterung, spinozistisches Alleinheitsgefuhl, frühromantische Ästhetik und frühidealistisches Systemdenken, also Gedankenformationen, die sich auf den ersten Blick wechselseitig auszuschließen scheinen, zeigen sich im Frühwerk Schleiermachers bei näherer Betrachtung auf eine zum Teil höchst bizarre Weise miteinander verschränkt. Insofern kann die Position der ,Reden' geradezu als exemplarisch gelten für die innere Vielfalt der zu Beginn der Moderne um 1800 sich darbietenden Synthesemöglichkeiten. Auch aus diesem Grund ist Schleier-
Barth, Begrüßung und Einfuhrung in den Kongreß
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machers Werk wie kaum ein anderes darauf angewiesen, durch einen engen Verbund verschiedener Methoden und Fachdisziplinen erschlossen zu werden. Ein anschauliches Beispiel dafiir bietet die gegenwärtige Diskussion um den Stellenwert der Schleiermacherschen Hermeneutik. Die Selbstreflexion der Geisteswissenschaften auf ihre gesamtgesellschaftliche Rolle, die methodische Konkurrenz von sozialwissenschaftlichem und kulturwissenschaftlichem Ansatz in der Historie, das Eindringen semiotischer Modelle in die Kulturtheorie und die Wiederkehr des vermeintlich längst überwundenen Historismusproblems haben der Beschäftigung mit der klassischen Hermeneutik ganz neue Impulse verliehen. Schleiermacher, der die Theorielage des 19. Jahrhunderts entscheidend geprägt hat, mußte dabei zwangsläufig wieder in den Vordergrund rücken. Aber gerade an seiner Einschätzung hat sich gezeigt, wie verzerrend und störend sich rasterhafte Periodenstilisierungen auswirken können. Die vor allem von Dilthey und Gadamer einflußreich propagierte These von Schleiermacher als dem Anfang der wissenschaftlichen Hermeneutik hat sich nicht halten lassen. Die genauere Analyse der klassisch-romantischen Vorgängergestalten und vor allem die subtile Erforschung der Hermeneutik der rationalistischen Schulphilosophie haben gezeigt, wie sehr Schleiermacher in einer Tradition wurzelt, deren Dimensionen er nur zu einem geringen Teil überblickte. Damit wird seine Leistung keineswegs geschmälert, sondern im Gegenteil allererst in ihrer tatsächlichen Besonderheit erkennbar. Doch die zu beobachtende Schleiermacher-Renaissance wäre weit unterbelichtet, wollte man sie ausschließlich an texteditorischen und ideengeschichtlichen Forschungsprozessen festmachen. Damit sind wir beim dritten Punkt angelangt. Die ungeheure Aktualität Schleiermachers hängt sicherlich auch und vermutlich vorwiegend mit den Orientierungsnöten zusammen, in denen sich die Theologie gegenwärtig befindet. Mehr und mehr zeigt sich, daß die kulturellen und gesellschaftlichen Vermittlungsprobleme der Kirchen keineswegs nur aus technisch-praktischen Schwierigkeiten resultieren, sondern weit tiefer liegenden, konzeptionellen Unsicherheiten entspringen, die bis in die Grundorientierung der Theologie hineinreichen. Erlauben Sie mir, an diesem Punkt etwas weiter auszuholen. Der Zusammenfall des .Reden'-Jubiläums mit dem Ausgang unseres Jahrhunderts legt eine solche Erweiterung der Perspektive ja geradezu von selbst nahe. Ich beschränke mich im Folgenden auf die Entwicklung in Deutschland. Mit einer Intensität wie kaum anderwärts hat sich hier der katastrophenreiche Verlauf des 20. Jahrhunderts auch und gerade der Theologie mitgeteilt. Die zunächst durch den ersten Weltkrieg hervorgerufene und dann durch die totalitären Ideologien der Folgezeit verstärkte kulturelle Krisenerfahrung hat auf breiter Ebene einen theologischen Paradigmenwechsel bewirkt, dessen Fol-
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Öffentliche Vorträge
gen sich bis heute bemerkbar machen. Ein von Aufklärung, Pietismus, Idealismus, Romantik und Historismus bestimmtes Christentumsverständnis wurde abgelöst durch einen exklusiven Theologiebegriff, der, um möglichen Fremdbestimmungen und Verwechselbarkeiten bereits in der Wurzel entgegentreten zu können, sich konsequent abkoppelte von allem, was zuvor als anthropologische Grundlagen oder gesellschaftliche Rahmenbedingungen von Christentum namhaft gemacht wurde. Bevorzugte Zielscheibe der Kritik waren das neuzeitliche Kulturverständnis, der moderne Religionsbegriff, die ästhetisierende Bewußtseinseinstellung, der bürgerliche Individualismus, das ethnische Nationalgefuhl, das soziale Klassenbewußtsein und manches andere mehr. Kirchliche Lehre sollte sich allein aus der Selbsterzeugung des ihr eigentümlichen Gegenstands aufbauen. Als Symbol dafür fungierte ein extrem hochstufiger Offenbarungsbegriff. Selbst der kritische Umgang mit den oppositionellen Außenbedingungen durfte sich nur unter deren vorgängiger dogmatischer Chiffrierung vollziehen. Es gab freilich auch eine Reihe von Stimmen, die schon früh vor den Folgen dieser Wendebewegung warnten. Adolf von Harnack apostrophierte deren Protagonisten als „Verächter der Wissenschaft", Paul Tillich erblickte darin eine Erscheinung von „Neoorthodoxie", Dietrich Bonhoeffer sprach von „Offenbarungspositivismus". Es ist nun hier nicht der Ort, über die argumentativen Probleme des gerade skizzierten Umformungsprogramms oder über die sachliche Angemessenheit der letztgenannten Stellungnahmen zu befinden. Nur eines verdient festgehalten zu werden: Unter wissenssoziologischem Gesichtspunkt wird man die Forderung nach einer Autarkie der Dogmatik wohl als einen Vorgang der Selbstimmunisierung des theologischen Bewußtseins zu bezeichnen haben. Sicherlich kann jenem Ansatz angesichts der weltanschaulichen Aggressivität der politischen Systeme, auf die entschieden reagiert werden mußte, der historische Respekt nicht versagt werden. Mit seiner Hilfe wurden die ideologischen Gefährdungen vielerorts erfolgreich und im wesentlichen ohne größere innere Beschädigungen überstanden. Aber die ihm zugrunde liegende mentale und intellektuelle Abkapselung mußte sich spätestens dann als gewaltiger Hemmschuh herausstellen, als es galt, unter neuen, eher normaleren Bedingungen sich wieder der kulturellen und gesellschaftlichen Wirklichkeit zu öffnen und das lebensweltliche Vorkommen von Religion gedanklich zu integrieren und konstruktiv zu gestalten. Hierbei erwiesen sich rein theologische Identitätskriterien, absolute Entgegensetzungen und steile Offenbarungsbegriffe zunehmend als kontraproduktiv. Die erste theologische Disziplin, die aufgrund der ihr spezifischen Vermittlungsanforderungen Zweifel an jener Theologiekonzeption anmeldete, war die Praktische Theologie. Wenig später sind dann auch einzelne Vertreter der Sy-
Barth, Begrüßung und Einführung in den Kongreß
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stematischen Theologie gefolgt. Die in beiden Bereichen sich einstellende Erfahrung war überraschenderweise die, daß es sich bei den meisten der heute andrängenden Schwierigkeiten keineswegs um gänzlich neue Probleme handelte, sondern weitgehend um solche, die längst begrifflich ausformuliert vorlagen, die jedoch verabschiedet wurden, weil sie als theologisch illegitim galten. Im Grunde sind es Fragen, die die neuzeitliche Theologie spätestens seit der Aufklärung in Atem halten. Man braucht sie nur einmal stichwortartig Revue passieren zu lassen, um ihr epochales Gewicht und die darin beschlossenen Herausforderungen an die Theologie zu ermessen: der konfessionelle Pluralismus der Kirchen, die interkulturelle Präsenz konkurrierender Weltreligionen, der Konflikt zwischen kritischer Wissenschaft und kirchlich gebundener Theologie, die Entfremdung von humaner Bildung und positioneller Bekenntnisorientierung und im Gefolge davon die Entdogmatisierung des Frömmigkeitsstils, die Individualisierung der religiösen Einstellung und — zumeist alternativ — die Ethisierung oder Ästhetisierung des religiösen Erlebens. Diese übergreifenden Tendenzen haben die politisch-ideologischen Katastrophen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts überdauert und kehren an dessen Ende in verstärkter Form wieder. Sie aus dem Theologiebegriff ausklammern, heißt nurmehr, vor ihnen zu kapitulieren. Die Auswirkungen auf bestimmte Formen kirchlicher Selbstpräsentation sind sattsam bekannt. Entweder man umgibt sich mit der Aura eines überdehnten Institutionenbewußtseins, das jede gewollt subjektiv-individuelle Auffassung mit dem Totschlagargument des Abgleitens in Beliebigkeit einschüchtert, oder man verschanzt sich in einem Gruppenghetto Gleichgesinnter, das sich mit der Floskel von der Entchristlichung der Gesellschaft ein gutes Gewissen für die eigene Unbeweglichkeit verschafft. Beide Verhaltensstrategien sind nicht nur unkreativ, sondern auch extrem kurzsichtig. Dieter Henrich hat einmal formuliert: „Jede Theorie muß ebenso komplex sein wie die Wirklichkeit, auf die sie sich bezieht". Ich denke, diese methodische Maxime gilt auch für die Theologie, jedenfalls solange, als sie bereit ist, sich auf die vorfindliche Situation einzulassen, und willig, dabei mit guten Argumenten zu bestehen. Das bedeutet, daß sie sich auseinandersetzen muß mit all den Wissenschaften, die für die Beschreibung der sozialen und kulturellen Realität zuständig sind. Solches wird ihr aber nur dann überzeugend gelingen, wenn diese nicht nur in instrumentalisierter Form als Hilfswissenschaften und Anwendungsdisziplinen rezipiert werden, sondern wenn der Theologiebegriff selber sich von seinen eigenen Theoriegrundlagen her als anschlußfähig erweist. Der soeben skizzierte Problemstau und Lösungsdruck dürfte die eigentliche Ursache dafür sein, daß in der gegenwärtigen Situation des Christentums das Interesse an den großen Theoretikern des Kulturprotestantismus und der libe-
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öffentliche Vorträge
ralen Theologie wieder stark zugenommen hat. In diesem größeren Kontext ist auch die Schleiermacher-Renaissance der letzten Jahrzehnte zu sehen. Sein vermittlungstheologisches Theorieprogramm steht freilich nicht allein. Auch andere neuprotestantische Autoren wie Richard Rothe, Albrecht Ritsehl, Adolf von Harnack oder Ernst Troeltsch wären hier zu nennen. Daß gerade Schleiermacher in den Vordergrund der Debatte gerückt ist, hängt sicherlich damit zusammen, daß es ihm gelang, ein Maximum an zeitdiagnostischer Präzision, kulturhermeneutischer Weite und gedanklicher Begründungsleistung zu erzielen. Sein philosophisch-theologisches Gesamtsystem hat auch unter den gewandelten Bedingungen der Gegenwart nichts an theoretischer und praktischer Orientierungskraft verloren. Die Art und Weise, in der er das Verhältnis von Theologie und Wissenschaft, Christentum und Kultur, Religion und Bildung, Individuum und Institution, Kirche und Gesellschaft bestimmt hat, verleihen seinem Entwurf selbst vor dem Hintergrund heutiger Theorien der Moderne noch wegweisende Bedeutung. Und dies gilt auch fïir sein 1799 erschienenes Reformmanifest, zu dessen 200jährigem Jubiläum wir uns hier versammelt haben. Damit sind wir beim äußeren Aufbau der Tagung angelangt. Die Veranstaltungen bewegen sich formell betrachtet auf zwei Ebenen. An den Nachmittagen werden in vier Sektionen die verschiedenen Aspekte der ,Reden' und auch anderer Texte des Frühwerks behandelt. Die geistesgeschichtlichen Beziehungen zur Aufklärung, Frühromantik und zum Deutschen Idealismus bilden den Gegenstand der beiden ersten Sektionen. Den stärker gegenwartsorientierten Fragen der Theologie, Religionsphilosophie, Ethik und Kulturtheorie sind die Sektionen III und IV gewidmet. Die Sektionsarbeit insgesamt bewegt sich überwiegend auf der Ebene der fachlichen Forschung. Die Vorträge am Vormittag hingegen tragen einen etwas anderen Akzent. Hier wird es vor allem darum gehen, die großen Linien herauszuarbeiten und in übergreifende Zusammenhänge einzuordnen. Sie wenden sich an ein breiteres Publikum und sind öffentlich. Damit — denke ich — wäre vorerst das Wichtigste mitgeteilt. Nun bleibt mir nur noch übrig, denjenigen unter Ihnen, die von außerhalb kommen, einen angenehmen Aufenthalt in Halle zu wünschen, uns allen aber eine gedanklich und menschlich ersprießliche Kongreßatmosphäre.
Häresis — ein Wort das wieder zu Ehren gebracht werden sollte". Schleiermacher als Okumeniker VON EBERHARD J Ü N G E L / T Ü B I N G E N
Der Titel dieses Vortrages ist geeignet, Fragen auszulösen. Ehrenrettung der Häresie? Der Kirchenvater des Neuprotestantismus als Okumeniker? Sauve qui peut! Rette sich, wer kann\ So höre ich schon einen vom Feinde erkauften Verräter ausrufen, der diesen Vortrag dafür ausschreit, als solle hier entweder eine ökumenische Häresie oder gar eine Ökumene der Häresien zu Ehren gebracht werden. Während ein anderer von einem anderen Feinde erkaufter Verräter genau umgekehrt denjenigen Theologen, der doch dem Protestantismus sein neuzeitliches Profil gegeben hat, zu einem das protestantische Selbstbewußtsein kränkenden kompromißfreudigen Okumeniker degradiert sehen zu müssen befürchtet und sich deshalb ebenfalls mit einem sauve qui peut bemerkbar macht: rette sich, wer kann\ Doch die Kundigen unter Ihnen, meine Damen und Herren, haben bereits die Hegeische Vorlage erkannt und wissen folglich, daß mein kecker Versuch, einen Vortrag über Schleiermacher mit einer Hegel-Parodie zu beginnen, in die beruhigende Versicherung einmünden muß: „Es ist aber nicht so bös gemeint". Es war schon von Schleiermacher nicht so bös gemeint, als er Häresis für „ein Wort" erachtete, „das wieder zu Ehren gebracht werden sollte". In welchem Sinne das Schleiermachersche Kompliment für die Häresie zu verstehen ist und inwiefern es geeignet ist, einen Zugang zu Schleiermacher als einem Okumeniker - sei es der Konfessionen, sei es der Religionen — zu eröffnen, das möchte ich heute abend zu zeigen versuchen. Daß freilich ich, ein bloßer Amateur in Sachen Schleiermacher, einem so gelehrten Kreis von Schleiermacher-Forschern mein attempto entgegensetze, bedarf zumindest einer kurzen Begründung. Daß ich hier das Wort nehme, ist einerseits in der dem Vorsitzenden der neugegründeten Schleiermacher-Gesellschaft gegebenen Kunst begründet, wenn nicht mit „groß Macht", so doch mit „viel List" auf einen zögerlichen Menschen einzuwirken, hat aber andererseits nun doch auch den schlichten Grund, daß der jetzt zu Ihnen redende Schleiermacher-Amateur eben ein wirklicher Amateur, also ein Liebhaber ist. Und von dem gilt, was in den „Vertraute [n] Briefe [n] über Friedrich Schlegels Lucinde" zu lesen ist: nämlich, daß seine
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Öffentliche Vorträge
Liebe, „wenn sie recht tief in den Menschen hineingegangen ist, auch wieder recht weit aus ihm herausgehen muß". 1 U n d so wage ich denn, die Anwesenheit so vieler hochgelehrter Köpfe einfach überspielend, eine liebevolle Exegese jener merkwürdigen Empfehlung des als ökumenischer Theologe erst noch zu entdeckenden Schleiermacher, das Wort Häresis wieder zu Ehren zu bringen. Dies wird in 13 Abschnitten von unterschiedlicher Länge geschehen. O b und inwiefern der dadurch entstehende Rhythmus dem Gedankengang zugute kommt, wird sich während des Vortrages ganz von selbst herausstellen.
I Der Satz, dem der Titel für diesen Vortrag entnommen ist, findet sich in der fünften der vor nunmehr 200 Jahren publizierten ,Uber die Religion' nachdenkenden ,Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern'. Wir haben dieses seit der Reformationszeit bedeutendste Manifest eines evangelischen Theologen alle gelesen. Ich könnte also schnell zur Sache kommen. D o c h wie es sich fur einen rechten Liebhaber nun einmal schickt, werde ich die Schönheit der Geliebten preisen, werde ich also von diesen Reden, obwohl wir sie alle kennen, aufs neue erzählen, werde staunend und bewundernd von ihrer Attraktivität Zeugnis geben, werde zumindest ein wenig in jenen zauberhaften Text selber einkehren müssen — statt ihn auf ein den Titel meines Vortrags betreffendes abstract zusammenschrumpfen zu lassen. Es handelt sich immerhin um Redenl U n d in einer Rede hat jeder Gedanke seinen rhetorischen Ort. Ich muß Sie also erneut mit jenem Text konfrontieren, den Sie längst kennen. D o c h wer geneigt ist, mir zu folgen, dem verspreche ich, daß sich das rechte Verständnis des dem Worte Häresie zuteilgewordenen Komplimentes dann ganz von selbst erschließt. Schleiermachers Reden über die Religion wenden sich, wie wiederum jedermann weiß, an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Ihnen soll Aufklärung zuteil werden über das, was sie verachten. Insofern handelt es sich u m so etwas wie a contemptoribus religionis eruditis non bene informatis ad melius informandos orationes. D o c h diese Reden wollen mehr als nur zu einer besseren Information verhelfen. Die hermeneutische Eigenart dieser Reden erschließt sich erst der Einsicht, daß — wie es in der vierten, aber auch schon in der ersten Rede heißt - „der Religiöse nothwendig spricht". 2 Er „muß [...] nach jedem
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2
Fr. Schleiermacher: Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde (1800); K G A 1/ 3, 164iof. Reden; K G A 1/2, 268jf.
Jiingel, „Häresis"
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Ausfluge seines Geistes ins Unendliche [...] das[,] was ihm begegnet ist, fur Andere darstellen", und zwar auch dann, wie Schleiermacher ausdrücklich hinzufügt, „wenn [...] Niemand da wäre".3 Sind keine Zuhörer da, so schafft die Religion sich solche. Es liegt in der Natur der Religion nicht nur, daß „der Religiöse nothwendig spricht", sondern auch, daß er sich „Hörer verschafft".4 Und insofern sind Schleiermachers Reden weit mehr noch als nur aufklärende Informationen über die Religion. Sie sind religiöse Sprachereignisse. Sie haben zwar die apophantische Struktur des λόγος τινός. Sie teilen etwas mit. Doch dieser λόγος ereignet sich als Akt ursprünglicher Anrede derart, daß diese sich ihre Hörer allererst erschafft, um ihnen an der mitzuteilenden hinreißenden Sache so Anteil zu geben, daß sie sich selber von dieser Sache zu ihr hinreißen lassen. Es ist nichts Hinreißenderes in dieser Welt und in einem jeden in ihr lebenden Menschen zu entdecken möglich als die Religion. Die Reden über sie wollen ihr nur den ihr gebührenden Raum verschaffen — vergleichbar jenen dem Jerusalemer Patriarchen in den Gassen der Altstadt voranschreitenden Gestalten, die mit langen Stöcken auf den Boden stoßen, um ihrem Patriarchen jenen Raum zu verschaffen, den dieser, ihnen auf dem Fuße folgend, auch sofort ausfüllt: adveniat, fiat religio ... II Die fünfte und letzte jener Reden über die Religion handelt von den Religionen. Der in der Aufklärung dominanten Tendenz, gegenüber den vielen sogenannten positiven Religionen die eine wahre, weil angeblich „natürliche" Religion zur Geltung zu bringen (oder doch eine solche aus jenen zu abstrahieren), setzt Schleiermacher die Aufforderung entgegen, „in den Religionen [...] die Religion [zu] entdeken".5 Die Religion, über die Schleiermacher die aufgeklärten Verächter derselben seinerseits aufzuklären sich vorgenommen hatte, ist also etwas ganz anderes als die sich von den geschichtlichen Religionen überlegen abhebende sogenannte vernünftige oder natürliche Religion. Von der Religion im Singular hatte freilich auch der Verfasser der Reden zuvor gesprochen, als er sich in der ersten Rede als Apologet der Religion vorstellte, um dann in der zweiten Rede über das Wesen der Religion, in der dritten Rede über die Bildung zur Religion und in der vierten Rede über das Gesellige in der Religion zu handeln. Doch obwohl Schleiermacher dabei eine 3
AaO. 19330fr.
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AaO. 2684. AaO. 294is; Hhg.v.Vf.
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„Uns Allen inwohnende [...] Anlage" 6 im Sinn hatte, also etwas zur Natur des Menschen Gehörendes, ist seine Rede von der Religion im Singular doch streng zu unterscheiden vom Begriff der natürlichen Religion. Während diese „gewöhnlich so abgeschliffen" ist und „so philosophische und moralische Manieren" hat, 7 daß sie im Grunde „nur eine unbestimmte dürftige und armselige Idee ist, die für sich nie eigentlich existiren kann", 8 handelt es sich bei der in den Religionen zu entdeckenden Religion um das, was jede geschichtliche Religion allererst zur Religion macht und was die Religiosität des Menschen allererst zur Religiosität macht. Diese in jedem Menschen zumindest keimhaft anzutreffende Religion kann zwar verstellt, sie kann verschüttet werden. Doch sie muß „nur freigemacht werden", um ihre „zur Anbetung" hinreißende Kraft entfalten zu können. Und deshalb setzt die fünfte Rede mit der Versicherung des Redners ein: „ich bin der Kraft des Gegenstandes gewiß[,] der nur frei gemacht werden durfte, um auf Euch zu wirken". 9 Schleiermacher setzt auf die sich gegen alle Religionsvergessenheit, Religionsverdrängung oder Religionsverachtung durchsetzende Souveränität der Religion. Und gerade weil er der Religion die Kraft einer — mit Knud E. Logstrup zu reden — souveränen Lebensäußerung zutraut, nimmt er fiir sie — vielmehr: nimmt sie durch ihn das Wort. Der Redner selber kann gar nicht anders: er muß Aas Wort nehmen. Er muß, von einer ,,innere[n]" und „unwiderstehliche[n] Nothwendigkeit" durchdrungen 10 — paulinische und sokratische Grundeinstellungen in sich vereinigend - , zum Apologeten der Religion werden. Das paulinische ανάγκη . . . μοι επίκειται ( l K o r 9,16) gilt auch für ihn. „Apologie" - so die Überschrift der ersten Rede — sind Schleiermachers Ausführungen allerdings nicht im apologetischen Sinne. Diese Apologie ist genausowenig apologetisch, wie die platonische Apologie des Sokrates apologetisch ist. 11 So wie jene ist auch diese „Verteidigung ein Angriff". 1 2 Und wie in jenem Fall, so soll auch in diesem Fall der Angriff den Angegriffenen zugute kommen. Wie das Sokratische so ist auch das Schleiermachersche Verfahren mäeutisch und ironisch zugleich, insofern es gegenüber den Verächtern der Religion an „nichts anders [...] anknüpfen" will „als an" deren „Verachtung selbst": „ich will Euch nur auffordern in dieser
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AaO. 29330.
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AaO. 296j7f.
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AaO. 299iff.
9
AaO. 294iiir.
10
AaO. 191sf.
11
Vgl. Paul Friedländer: Platon, Bd. 2: Die platonischen Schriften. Erste Periode, Berlin 3
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1 9 6 4 , 145.
Ebd.
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Verachtung recht gebildet und vollkommen zu sein".13 Und auch darin erinnert Schleiermacher an Sokrates, daß er nicht ein Zuwenig, sondern ein Zuviel bekämpft: ein Zuviel an weltlichem Wissen und weltlichen Künsten wird für die Religionsvergessenheit der Religionsverächter verantwortlich gemacht. Werden Ludwig Feuerbach und Karl Marx einige Jahrzehnte später die Entstehung der Religion aus der Erfahrung eines elementaren Mangels an Vollkommenheit begründen, so begründet Schleiermacher sozusagen spiegelbildlich dazu die zunehmende Religionslosigkeit unter den Gebildeten seiner Zeit mit der Erfahrung eines selbsterworbenen kulturellen Reichtums·. „Es ist Euch gelungen [,] das irdische Leben so reich und vielseitig zu machen, daß Ihr der Ewigkeit nicht mehr bedürfet, und nachdem Ihr Euch selbst ein Universum geschaffen habt, seid Ihr überhoben[,] an dasjenige zu denken, welches Euch schuf'. Die Gebildeten unter den Verächtern der Religion meinen, über die Religion alles zu wissen - „Ihr seid darüber einig [...], daß nichts Neues und nichts Triftiges mehr gesagt werden kann über diese Sache"14 —, sie meinen, über die Sache alles zu wissen, und wissen doch nicht einmal, daß sie nichts wissen. Γνώθι σεαυτόν sagt auf seine Weise auch Schleiermacher zu den Verächtern der Religion, wenn er sie in ihre eigenen „innerste [n] Tiefen" geleitet, auf daß sie dort selber entdecken, „aus welchen Anlagen der Menschheit" die Religion hervorgeht „und wie sie zu dem gehört", was ihnen, ohne daß sie es selber wissen, „das Höchste und Theuerste ist".15
III Um zu dieser Entdeckung zu verhelfen, hatte Schleiermacher in der zweiten Rede die Eigenart der Religion als einer selbständigen, autochthonen Funktion im Menschen herausgestellt, die diesem zu seinem „ungetheilten Dasein", 16 zu seiner ureigenen Ganzheit verhilft, ja, die ihn mit der Ganzheit des Seins, „mit dem Universum" zusammenschließt.17 In der Glaubenslehre wird — mit einem von H. Steffens entlehnten Begriff — dann von der „unmittelbare [n] Gegenwart des ganzen ungeteilten Daseins" die Rede sein.18 Religion geht aufs Ganze, sie geht so sehr aufs Ganze, daß sie - im Unterschied zur Moral — das menschliche
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Reden; KGA 1 / 2 , 1982«·.
14
AaO. 18922fr.
15
AaO. 197i4ff.
16
Vgl. aaO. 195 β.
17
Vgl. aaO. 2463a-247i : „wenn Ihr so mit dem Universum [ . . . ] zusammengefloßen seid".
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C G 2 § 3.2; I, 17.
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Ich sogar mit seinen Fehlem zusammenschließt, indem sie nämlich mich „mit meinen [...] Fehlern in meinem ungetheilten Dasein heilig zu halten" lehrt.19 Diese die Ganzheit des totus homo konstituierende Funktion der Religion erklärt sich fur Schleiermacher aus derjenigen ontologischen Grundstruktur, die allem Seienden eignet und die darin besteht, daß „das wesenhaft voneinander Unterschiedene stabil aufeinander" bezogen wird.20 In jedwedem Seienden waltet als höchster Antagonismus die Unterschiedenheit von Endlichem und Unendlichem und - davon abgeleitet - die Differenz zwischen Individuum und Universum, zwischen Subjektivität und Objektivität sowie zwischen Spontaneität und Rezeptivität. Doch eben diese Polaritäten existieren nur als Korrelationen, nämlich so, daß „Eins nur mit dem Andern zugleich werden kann".21 Und in dieser ihrer Bezogenheit aufeinander verweisen sie auf einen ihnen gemeinsamen, identischen Konstitutionspunkt — einen Punkt freilich, der sich ereignet, ein punctum saliens im ausgezeichneten Sinne. Der anthropologische Ort, an dem sich dieser Punkt ereignet, ist - wie Schleiermacher zu betonen nicht müde wird — „weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl".22 Nicht, daß die Religion intellektfeindlich und dem Handeln hinderlich wäre. Ganz im Gegenteil: Denken und Handeln gedeihen nur, wenn die Religion „als das nothwendige und unentbehrliche Dritte zu jenen beiden, als ihr natürliches Gegenstück" auftritt. „Spekulazion und Praxis haben zu wollen ohne Religion, ist verwegener Übermuth".23 Soll doch der Mensch - um für diesmal bei der Praxis zu bleiben - zwar „nichts aus Religion", aber „alles mit Religion thun".24 Nichts aus Religion tun — das ist genuin protestantischer Geist. Wie denn ja auch die Unterscheidung der Religion von Metaphysik und Moral, von Spekulation und Praxis eine genuin reformatorische Einsicht zur Geltung bringt, die seit Luthers,Heidelberger Disputation' zum character indelebilis jeder sich recht verstehenden evangelischen Theologie gehört.25 Doch gerade das Insistieren 19 20
21
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Reden; KGA 1/2, 195i2f. Christian Albrecht: Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit. Ihr wissenschaftlicher Ort und ihr systematischer Gehalt in den Reden, in der Glaubenslehre und in der Dialektik. Berlin/New York 1994, 193. So die 2. Auflage von 1806: Friedrich Schleiermacher's Reden Ueber die Religion, hg. von G.C.B. Pünjer, Braunschweig 1879, 5449. Reden; KGA 1/2, 21 l32f. AaO. 21220fr. AaO. 21923f. „Schleiermacher ist auf diesem Wege einer Spur Luthers gefolgt" - urteilte mit Recht Wilhelm Herrmann (Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben. Eine Besprechung des gleichnamigen Vortrags von Ernst Troeltsch; in: ders.: Schriften zur Grundlegung der Theologie, hg. von P. Fischer-Appelt, 2 Bde., München 1966/67, 2, 281-289; hier 285), um sodann (aaO. 285f) zu konstatieren: „Daß die meisten [...]
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darauf, daß die Religion — mit Schleiermacher zu reden - „aus dem Inneren jeder beßern Seele nothwendig von selbst entspringt, daß ihr eine eigne Provinz im Gemüthe angehört, in welcher sie unumschränkt herrscht",26 genau diese vollständige Eigenständigkeit der Religion macht diese bedeutsam für alle anderen menschlichen Verhaltensweisen. Gerade weil der Mensch „nichts aus Religion" tun soll, kann er „alles mit Religion tun". Die die souveräne Eigenständigkeit der Religion sichernde scharfe Unterscheidung derselben von Denken und Handeln läßt die Religion zur schöpferischen Begleiterin aller menschlichen Kulturarbeit werden. „Protestantismus und Kultur" - bei Schleiermacher wird diese Verbindung nicht nur beschworen, hier wird sie, und zwar gerade durch den Aufweis der unbedingten Selbständigkeit der Religion, begründet. Doch zur souveränen Selbständigkeit der Religion gehört nun eben gerade dies, daß sie selber kein Handeln ist. Wer hingegen dem ,,gänzliche[n] Mißverstand, daß die Religion handeln soll", verfällt, der begünstigt damit auch schon einen „furchtbare [n] Mißbrauch" der Religion, der, „aufweiche Seite sich auch die Thätigkeit wende, in Unheil und Zerrüttung endigen" muß.27 Auch hierin ist Schleiermacher ein Erbe reformatorischer Theologie, die die paulinische Feststellung ernst nimmt, daß der Glaubende ein μή εργαζόμενος (Rom 4,5) ist. Und das gilt nicht nur im Blick auf die individualethische Praxis. Der politisch überaus engagierte Schleiermacher war ein entschiedener Gegner jedweder „politischen Theologie".28 Religion versetzt den Menschen, statt ihn als Handelnden anzusprechen, vielmehr in eine - allerdings höchst kreative — Passivität. Und sie tut das nach Schleiermacher im Ereignis des Anschauens des Universums. Wie das? Wie kann àzs Anschauen von etwas den Anschauenden in den Zustand der Passivität versetzen? IV Um zu verstehen, was gemeint ist, muß man sich von dem Kantischen, aber auch von dem Fichteschen Begriff der Anschauung völlig lösen. „Die Kantische Philosophie leugnete für den Menschen jede nicht sinnlich bedingte Anschauungs-
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Theologen es damit nicht versuchen wollen [...], ist nur daraus zu erklären, daß das in Luther und Schleiermacher wiederaufgelebte Verständnis der Religion noch immer unbekannt zu bleiben scheint." Reden; KGA 1/2, 20434fr, Hhg.v.Vf. AaO. 220i7(T. Unter etwas anderen Voraussetzungen wird auch der Schleiermacher der .Glaubenslehre' konstatieren: „Und so ist Christus [...] das Ende aller politischen Religion geworden" (CG 1 § 126.3; KGA 1/7.2, 1039er). Vgl. CG 2 § 105.3; II, 144.
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weise".29 Nach Schleiermacher aber wird im Endlichen das Unendliche, im Teil das Ganze, im Sinnlichen das Universum angeschaut, und diese Anschauung ist eine unmittelbare Erfahrung. Insofern berührt sich das, was Schleiermacher unter Anschauung versteht, mit Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung, die jeder „unmittelbar in sich selbst finden" muß. Doch für Fichte ist nun wiederum die intellektuelle Anschauung „das unmittelbare Bewußtseyn, dass ich handle",30 also so ziemlich das Gegenteil der von Schleiermacher behaupteten Versetzung des Anschauenden in den Zustand „kindlicher Paßivität".31 Denn was nach Schleiermacher in der Religion angeschaut wird, ist das allemal tätige Universum - der Vergleich mit Spinozas natura naturans drängt sich auf - , so daß in der Religion der Mensch das Universum als handelnd, sich selber aber als nichthandelnd erfährt:,Anschauen will sie [sc. die Religion] das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen [...] es [...] belauschen".32 Das Universum ist also selbst behandelnde Instanz, die Anschauung des Universums ist von diesem selbst bewirkt.33 Und im Gegensatz zur anthropozentrischen Interpretation des Universums, die „im ganzen Universum nur den Menschen als Mittelpunkt aller Beziehungen, als Bedingung alles Seins und Ursach alles Werdens" sieht, will die Religion sowohl im Menschen als auch in allen anderen Seienden, will sie in „allen [...] Einzelnen und Endlichen das Unendliche sehen".34 In der als Anschauen des Universums begriffenen Religion widerfährt dem Menschen also eine heilsame Relativierung: er erfährt sich, ohne dadurch an Würde einzubüßen, als Geschöpf unter Geschöpfen. Doch Anschauung ist nur die eine Seite der Religion. Das überwiegend objektbezogene Anschauen des Universums ist immer schon mit einem den ganzen Menschen bewegenden, überwiegend subjektbezogenen Gefìihl zu einer ursprünglichen Einheit „innig [...] verbunden".35 Reden kann man von dieser 29
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Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. 4, Gütersloh 3 1 9 6 4 , 520. Johann Gottlieb Fichte: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797); Sämtliche Werke, hg. von I.H. Fichte, Bd. 1/1, Berlin 1845, 4 6 3 (Hhg.v.Vf.); vgl. ders.: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794), aaO. 2 2 9 : „Das Ich setzt sich, als anschauend, heisst zuvörderst: es setzt in der Anschauung sich als thätig . Reden; K G A 1/2, 21136. AaO. 21l33ff. Schleiermacher spricht von einem „Einfluß des Angeschauten auf den Anschauenden, von einem ursprünglichen und unabhängigen Handeln des ersteren, welches dann von dem letzteren seiner [sc. des Aufnehmenden] Natur gemäß aufgenommen, zusammengefaßt und begriffen wird" (aaO. 2133β-214ι): Quidquid recipitur, secundum modum recipientis recipitur! AaO. 21140-2121 ; Hhg.v.Vf. AaO. 23624.
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Einheit allerdings nur, indem man sie auch schon wieder aufhebt und also Gefühl und Anschauung unterscheidet. Man kann „von beiden nicht anders als getrennt redend Die ursprüngliche Einheit von Anschauung und Gefühl ereignet sich nur. „Spricht die Seele, so spricht ach! schon die Seele nicht mehr", ist man versucht, mit Friedrich Schiller zu interpretieren. 37 Denn der denkende λόγος ist immer auf Unterscheidung bedacht. Und deshalb läßt sich die Reflexion auf die Einheit von Anschauung und Gefühl nur unterscheidendvollziehen. Und so bleibt denn selbst der Akt ursprünglichster Anrede hinter jenem religiösen Urereignis zurück, das Schleiermacher als den „erste [n] geheimnisvollein] Augenblik", 38 in dem Anschauung und Gefühl noch wesenseins sind, mit erotischer Metaphorik in Erinnerung ruft. Man kann ihn in der Tat nur in Erinnerung rufen. Analysieren oder gar beschwören kann man ihn nicht. Hier wird jeder auf sich selbst zurückverwiesen. Wir haben, meine Damen und Herren, uns in der zweiten, dem Wesen der Religion geltenden Rede aufgehalten. Wir mußten in diese Rede einkehren, weil nur von ihr her sich die Aufforderung Schleiermachers erschließt, „in den Religionen [...] die Religion" zu „entdeken". 39 Die dritte und vierte Rede stellen so etwas wie einen „metadiskursiven Einschub" dar, der in Gestalt einer Rede über die Bildung zur Religion und in Gestalt einer Rede über das Gesellige in der Religion oder über Kirche und Priestertum die „innere Notwendigkeit und die äußerlich gestaltenden Realisierungsmöglichkeiten der intersubjektiven religiösen Kommunikation" bereitstellt,40 wie Christian Albrecht in seiner meisterhaften Analyse des Aufbaus und der inneren Architektur der Reden feststellt. Wir können beide Reden jetzt übergehen und uns direkt der fünften Rede zuwenden, in der Schleiermacher die Häresie zu Ehren gebracht wissen will. Von der Problemlage der fiinften Rede her kommen wir hier und da auf die früheren Reden zurück.
V Schleiermachers Aufforderung: „in den Religionen sollt Ihr die Religion entdecken", ist dahin zu präzisieren, daß man die Religion überhaupt nur in den
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AaO. 220j2f; Hhg.v.Vf. Friedrich Schiller: Sprache. Tabulae votivae, Nr. 84, Sämtliche Werke, hg. von G . Fricke und H . G . Göpfert, Bd. 1, München 6 1980, 313. Reden; K G A 1/2, 22 ho. AaO. 294i8. Christian Albrecht [wie Anm. 20], 342.
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Religionen entdecken kann. Die Religion, also das, was die Religion zur Religion macht, subsistiert in den Religionen, deren jede die Religion wiederum repräsentiert — nach Schleiermacher vergleichbar dem Verhältnis des einzelnen Menschen zur Menschheit.41 Doch die Subsistenz der Religion in den Religionen wird von den Verächtern der Religion, die ausschließlich eine natürliche Religion gelten lassen wollen, gerade in Frage gestellt. Sie ist also erklärungsbedürftig. Schleiermacher bedient sich christologischer Topoi, wenn er die Aufmerksamkeit auf die Subsistenz der Religion in den vielen geschichtlichen Religionen lenkt: „Ich will Euch gleichsam zu dem Gott, der Fleisch geworden ist[,] hinführen; ich will Euch die Religion zeigen, wie sie sich ihrer Unendlichkeit entäußert hat".42 Die Bezugnahme der beiden für die Ausbildung des christologischen Dogmas maßgeblichen neutestamentlichen Aussagen Joh 1,14 und Phil 2,5ff läßt die Subsistenz der Religion in den Religionen in einem doppelten Licht erscheinen. Einerseits ist — dem Johannesprolog folgend — die einzelne positive Religion als geschichtliche Manifestation des Wesens der Religion aufzufassen. Andrerseits ist — dem Philipperhymnus folgend - die einzelne positive Religion immer nur die sich selbst unter das Gesetz ganz bestimmter geschichtlicher Bedingungen entäußernde und insofern für Entstellungen anfällige Religion.43 Doch während die christologischen Topoi darauf zielen, daß der ewige Gott in der Person und Geschichte eines einzigen Menschen und nur in ihr zeitlich wird, legt Schleiermacher auf das Gegenteil Wert: die Religion individualisiert sich notwendig in vielen Religionen, weil „die Mehrheit der Religionen [...] im Wesen der Religion gegründet" ist.44 Selber „ein Unendliches und Unermeßliches [...] muß" die Religion doch „ein Princip sich zu individualisiren in sich haben" und „eine unendliche Menge endlicher und bestimmter Formen, in denen sie sich offenbart",45 aus sich heraussetzen.
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Vgl. Reden; KGA 1/2, 23220« „Ihr selbst seid ein Compendium der Menschheit, Eure Persönlichkeit umfaßt in einem gewißen Sinne die ganze menschliche Natur und diese ist in allen ihren Darstellungen nichts als Euer eigenes vervielfältigtes, deutlicher ausgezeichnetes, und in allen seinen Veränderungen verewigtes Ich." Und so wie man die Religion nicht nur in ihrem Sein, sondern in ihrem geschichtlichen Werden betrachten muß, so gilt: „nicht nur in ihrem Sein müßt Ihr die Menschheit anschauen, sondern auch in ihrem Werden". AaO. 294i5ff. Vgl. aaO. 2984fr: ,,gesteht[,] daß Vieles überall unvermeidlich ist, sobald das Unendliche eine unvollkommene und beschränkte Hülle annimmt, und in das Gebiet der Zeit und der allgemeinen Einwirkung endlicher Dinge, um sich von ihr beherrschen zu laßen, herabsteigt". AaO. 295i3ff. AaO. 2963ff.
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Dies, daß die Religion notwendig und unvermeidlich in einer Vielheit von Religionen subsistiert, unterscheidet sie nach dem Urteil Schleiermachers von der Kirche, deren Vielheit er „verdammt".46 Die Kirche, und zwar sowohl „die innere, wahre Kirche" als auch „die äußere und [sc. nur] uneigentlich sogenannte Kirche", soll „Eins sein",47 und die voneinander unterschiedenen Kirchen sind „nur Fragmente eines einzigen Individuums", so daß jede Partialkirche, die sich statt fur ein bloßes Fragment selber fur ein ,,besondere[s] Individu[um]" hält, einem „Mißverständniß" erliegt.48 Doch warum soll die Kirche „Eins sein", die Religion hingegen nur in der Vielzahl von Religionen existieren? Warum soll die Kirche „Ein ungetheiltes Ganzes sein",49 während sich die Religion notwendig in viele Religionen individualisiert? Die Frage läßt sich erst beantworten, wenn man das Individuationsprinzip der Religion begriffen hat. Worin besteht es? Daß die Religion „in einer unendlichen [...] Menge bestimmter Formen" und insofern also in einer Vielzahl von positiven Religionen subsistiert und daß sie nur in dieser Pluralität „vollständig gegeben" ist,50 hängt mit dem Wesen der Religion als Anschauen des Universums zusammen. Denn das Universum kann in jeder seiner Hervorbringungen angeschaut werden, und eine jede einzelne Anschauung des Universums ist in sich suffizient, so daß sie „für sich besteht". Es gibt folglich auch „keinen bestimmten innern Zusammenhang zwischen den verschiedenen Anschauungen und Gefühlen vom Universum". 51 Doch damit sich eine bestimmte Religion bilden kann, muß eine der vielen möglichen Anschauungen des Universums zur Fundamentalanschauung und damit zum Zentralpunkt der ganzen Religion gemacht werden. Wann immer aber dies geschieht, wann immer also „irgend eine [...] Anschauung des Universums [...] zum Centraipunkt der ganzen Religion gemacht, und Alles darin auf sie bezogen wird" - und dadurch „ein bestimmter Geist und ein gemeinschaftlicher Charakter in das Ganze" kommt —, dann entsteht eine Religion als Individuum bzw. „ein Individuum der Religion".52 Daß aber von den unbegrenzt vielen möglichen Anschauungen des Universums eine einzelne zum Zentralpunkt gemacht wird, das kann nur aufgrund einer freien Entscheidung oder, wie Schleiermacher sich ausdrückt, „aus freier Willkür" geschehen, da ja jede der möglichen Anschauungen wegen deren religiöser Gleichrangigkeit
46 47 48 49 50 51 52
AaO. 29429fr. AaO. 29436». AaO. 29535fr. AaO. 29433. AaO. 299if. AaO. 30018fr. AaO. 30323fr.
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Öffentliche Vorträge
- eine jede ist für sich suffizient! - „gleiche Ansprüche darauf hätte",53 zum religiösen Zentralpunkt gemacht zu werden. Wer aber „zuerst jene Anschauung"54 zum Mittelpunkt einer Religion macht, der wird zum Stifter einer positiven Religion. Die Totalität solcher positiver Religionen stellt sich genau wie jede einzelne Religion ihrerseits geschichtlich, also „nur in einer unendlichen Succeßion kommender und wieder vergehender" positiver Religionen dar.55 Und im Blick auf diese Totalität aller positiven Religionen, in denen sich „die ganze Religion" sukzessiv verwirklicht, ist jede einzelne positive Religion, weil sie aufgrund einer freien Wahl, „aus freier Willkür", entstanden ist, „eine Häresis — ein Wort das wieder zu Ehren gebracht werden sollte".56
VI Die Rekonstruktion des Schleiermacherschen Gedankenganges hat, meine Damen und Herren, deutlich werden lassen, daß der Ausdruck Häresis von Schleiermacher in seiner ursprünglichen Bedeutung gebraucht worden ist. αίρέω heißt wählen. Aus dieser Grundbedeutung hat sich in der Antike das Substantiv als Bezeichnung für die philosophischen und medizinischen Schulen entwikkelt, denen beizutreten man wählen konnte. In den späteren Auflagen der .Reden' bemerkt Schleiermacher selber, daß er das Wort Häresis „in demselben Sinne" gebraucht habe, „wie es von den hellenischen Schulen gebraucht" wurde: nämlich als Selbstbezeichnung der „Schulen der Philosophen und Aerzte [...], in denen doch zusammengenommen jene ganze Kunst und Wissenschaft enthalten war".57 Doch während in der späteren Erläuterung der Ton einseitig darauf liegt, daß die Häreseis insgesamt das Ganze der Philosophie bzw. das Ganze der Medizin vertreten, wurde in der ersten Auflage der ,Reden' zumindest genauso stark der Aspekt der freien Wahl zur Geltung gebracht: die positive Religion mí eine Häresis (im Sinne des Teiles eines Ganzen) aufgrund e.iner Häresis (im Sinne einer freien Wahl).
53 54 55 56
57
AaO. 30325ÉF. AaO. 304s. AaO. 30338f. AaO. 3044f. Für Schleiermacher besteht kein Widerspruch zwischen der freien Wahl einet Anschauung des Universums zum religiösen Zentralpunkt und der Behauptung, daß dem Menschen „seine Fundamental-Anschauung [...] im Voraus bestimmt" ist (aaO. 30531fr). Reden (2.-) 4. Aufl.; K G A 1/12, 302i2f (Anm. 7).
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Das Moment der Freiheit setzt sich aber auch innerhalb der positiven Religionen fort. Die Zugehörigkeit zu einer von ihnen bedeutet für den einzelnen Menschen keineswegs so etwas wie religiöse Gleichschaltung oder religiöse Uniformierung. Denn auch innerhalb einer durch eine Fundamentalanschauung konstituierten Religion gibt es fur jeden Menschen das besondere, nur ihm eigentümliche Urereignis - Bekehrung nennen es die Pietisten - , in welchem für jedes menschliche Ich „ein eignes religiöses Leben" beginnt, das dann unbeschadet des „religiösen Stoffs", den es „mit allen gemein hat", die zur selben Zeit in derselben Gegend derselben Religion angehören — von jenem Urereignis her fiir immer geprägt wird und also sein ureigenes religiöses Leben ist und bleibt. Hat doch jenes besondere Urereignis, durch das das Ich religiös „erweckt" wurde, einen „immerwährenden Einfluß" auf seine ganze weitere religiöse Existenz. Und insofern hat auch innerhalb jeder positiven Religion jedes Ich etwas, was es „mit Keinem gemein haben kann".58 Und so gibt es denn „im Reich der Religion" keine „leere Doublette", sondern vielmehr eine Fülle von jeweils anders gebauten „religiösen Individualitätfen]".59 Das von Leibniz formulierte principium identitatis indiscemibilium, dem gemäß es keine ununterscheidbaren Individuen gibt,60 mithin innerhalb der Schöpfung eine möglichst große Mannigfaltigkeit gewährleistet ist61 — ein ausgesprochen barockes Prinzip! - , wird von Schleiermacher auch für das Reich der Religionen geltend gemacht. Und das ist in der Tat ein zumindest in seiner heuristischen Bedeutung gar nicht hoch genug zu veranschlagendes Prinzip, das zum großen Schaden unserer Welt zumindest im Umgang mit dieser in Vergessenheit geraten ist. Unsere eigene Zeit, meine Damen und Herren, beginnt gerade erst zu entdecken, was uns mit diesem Prinzip verlorengegangen ist. Denn wenn das principium identitatis indiscemibilium fur die ganze Schöpfung gilt, dann gibt es unter allem, was ist, auch nicht eine einzige ,leere Dublette', dann ist alles Seiende um seiner selbst willen interessant, dann verbietet es sich ganz von selbst, daß der zum dominium terrae berufene Mensch dieses — die Geschöpfe in acht nehmende - dominium zum imperium pervertiert, in 58
Reden; K G A 1/2, 30622(1.
59
A a O . 3072.10.
60
Gottfried Wilhelm Leibniz: Viertes Schreiben an Clarke (Die philosophischen Schriften, hg. von C.I. Gerhardt, Bd. 7, Nachdruck 1978, 3 7 2 : „II n'y a point deux individus indiscernables"). Nach Schleiermacher (Reden; K G A 1/2, 192sf) besteht „die Vollkommenheit der intellektuellen Welt" ebenfalls darin, daß sich aus den — in allen Seienden anzutreffenden — gegensätzlichen Kräften „alle" nur „mögliche [n] Verbindungen dieser beiden Kräfte" verwirklichen und damit möglichst viele voneinander unterschiedene Mischungsverhältnisse hervorbringen.
61
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dem sich dann die nichtmenschliche Kreatur unter seinen eigenen Händen zum bloßen Material verwandelt und von Bedeutung nur noch ist, was man damit oder daraus machen kann. Und wenn nun, wie Schleiermacher erkennen läßt, das principium identitatis indiscernibilium auch im Reiche der Religionen gilt, dann verbietet es sich wiederum ganz von selbst, daß der eine jede positive Religion kennzeichnende Gemeingeist zu einem die religiöse Individualität mit dem Terror der Gleichschaltung vergewaltigenden Gemeinschaftsgeist pervertiert wird. Gibt es so etwas wie ökumenischen religiösen Geist, dann muß er bereits innerhalb einer jeden Religion gegenüber den zu dieser Religion gehörenden Individuen anheben. Denn was für alle Religionen - zumindest derselben Stufe — gilt, das gilt auch für alle Menschen. Ist „in allen" Religionen (der höchsten Stufe) „dasselbe [...], aber in jeder alles auf andere Weise", so gilt auch im Blick auf die menschlichen Individuen: „jeder Mensch hat alles das, was der andere [sc. auch hat], aber alles anders bestimmt".62 Dieser in den Reden in vielfachen Variationen zum Ausdruck gebrachte Gedanke wurde von Schleiermacher in der .Glaubenslehre' mit höchstmöglicher Bestimmtheit ausgesprochen. Die vielen positiven Religionen sind also individuelle Verwirklichungen der einen ganzen Religion. Und in den positiven Religionen verwirklichen sich wiederum die religiösen Individualitäten. Insofern „umschließt sie Alle", wie es in der vierten Rede heißt, „Ein Band". 63 Dann aber können die Menschen, die schon Religion haben, prinzipiell nicht in gegeneinander agierenden religiösen Gemeinschaften existieren. Die jeder höheren Religion eigentümliche Gemeinschaftsform einer Kirche kann dann nicht gegen eine andere Kirche gerichtet sein. Und alle auf Konversion von der einen zur anderen Kirche gerichteten Aktivitäten sind ausgeschlossen. Der zur „Bekehrungssucht" veranlassende „schrekliche Wahlspruch: kein Heil außer uns"64 ist falsifiziert. Und so bilden denn alle, die schon Religion haben, die eine, wahre, über die ganze Erde zerstreute und „fast unsichtbar[e]" „erhabene [...] Gemeinschaft"65 oder Kirche: una ecclesia für alle, die schon Religion haben, und insofern also auch fur alle Religionen. Und damit, meine Damen und Herren, haben wir Schleiermacher als Ökumeniker kennengelernt: freilich als Ökumeniker höherer Ordnung.
62 63 64 65
C G 2 § 10.2; I, 66f. Reden; K G A 1/2, 271 ni. AaO. 27136fr. A a O . 2913f.
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VII Ökumeniker im heutigen Verständnis des Wortes ist der Schleiermacher der ,Reden' freilich nicht. Er ist es schon deshalb nicht, weil es ihm keineswegs nur um die Einheit der unterschiedlichen christlichen Kirchen geht. Redet Schleiermacher von der „wahren Kirche", die wesenhaft eine ist, dann hat er - eher dem Sprachgebrauch Immanuel Kants66 als der traditionellen theologischen Begrifflichkeit folgend — ein alle Religionen einbeziehendes Gemeinwesen im Sinn. Die Einheit der wahren Kirche ist nicht die Einheit aller derer, die an Jesus Christus und deshalb an den dreieinigen Gott glauben; sie ist die Einheit aller derer, die Religion haben. Aber auch darin unterscheidet sich der Schleiermacher der,Reden' von den Ökumenikern unserer Tage, daß er, die reformatorische Unterscheidung von unsichtbarer Kirche - „abscondita est Ecclesia, latent sancti"67 — und sichtbarer Kirche sehr eigenwillig rezipierend, eine „innere, wahre Kirche" von einer „äußere [n] und [sc. nur] uneigentlich sogenannte[n] Kirche"68 unterscheidet und dabei die innere, wahre Kirche nur denen „offen stehen" läßt, „welche schon im Besiz der Religion sind", während die äußere, nur uneigentlich so zu nennende Kirche ein bloßes „Bindungsmittel [...] zwischen ihnen und denen[,] welche sie [sc. die Religion] noch suchen",69 sein soll und deshalb auf den „schneidende [n] Unterschied zwischen Priestern und Laien",70 auf das Gegenüber von ,Anführer[n] und Priesterfn]" einerseits und ,,Schüler[n] und Lehrlinge[n]" andererseits71 angewiesen ist, damit letzteren „soviel Religion gezeigt werde, daß dadurch ihre Anlage für dieselbe nothwendig entwikelt werden muß".72 Für die innere, wahre Kirche gilt hingegen, daß „alle Mittheilung gegenseitig ist".73 Hier herrscht das allgemeine Priestertum aller Glaubenden. Doch die reformatorische Behauptung eines allgemeinen Priestertums aller Gläubigen wird von Schleiermacher dadurch interpretiert, daß ihr so etwas wie das allgemeine Lai66
67 68 69 70 71 72 73
Vgl. Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (Akademie-Ausgabe 1/6, Berlin 1907), 101. Kant versteht die „Vereinigung der Menschen zu einem Ganzen", von der auch Schleiermacher reden kann, allerdings im Sinne eines ethischen gemeinsamen Wesens, also als „Vereinigung aller Rechtschaffenen unter der göttlichen unmittelbaren, aber moralischen Weltregierung". Martin Luther: De servo arbitrio (1525), W A 18, 65223. Reden; KGA 1/2, 29Am. AaO. 2775fr. AaO. 28726f. AaO. 277sff. AaO. 2843sf. AaO. 274i3.
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entum aller Gläubigen zur Seite tritt: „Jeder ist Priester [...], jeder ist Laie" nämlich „Priester, indem er die Andern zu sich hinzieht auf das Feld, [...] wo er sich als Virtuosen darstellen kann"; und „Laie, indem er der Kunst und Weisung eines Andern dahin folgt, wo er selbst Fremder ist in der Religion". 7 4 D e n n dazu „soll [...] die innere, wahre Kirche Eins sein", daß „Jeder anschauen und sich mittheilen laßen könnte die Religion des Andern". 7 5 Die äußere Kirche ist nur „ein Anhang der wahren Kirche" oder „das Vorzimmer derselben" 7 6 : „eine vermittelnde Anstalt [...], durch welche die wahre Kirche in eine gewiße Berührung k o m m t mit der profanen Welt". 7 7 Durch diese Berührung mit der profanen Welt frischt sich die wahre Kirche sozusagen auf, indem sie „neuen Stoff an sich zieht und bildet". 7 8 D o c h zugleich k o m m t es durch jene Berührung mit der profanen Welt dazu, daß sich „um jedes [...] Bruchstück der wahren Kirche", ja „in und mit ihm, eine falsche und ausgeartete Kirche" bilden kann. 7 9 Vollends aber unterscheidet sich der Schleiermacher der ,Reden' von den Ökumenikern unserer Tage dadurch, daß er zwischen äußerer Kirche und Religion eine gegenläufige Proportion walten sieht. D a s Interesse für die äußere Kirche und religiöses Interesse verhalten sich umgekehrt proportional: denn die Kirche wird „den Menschen um so gleichgültiger je mehr sie zunehmen in der Religion". 8 0 D o c h alle diese in die Augen springenden Unterschiede zwischen den ökumenischen Leitbildern des 20. Jahrhunderts und den .Reden' des jungen Schleiermacher dürfen nun doch nicht aus dem Blick geraten lassen, daß Schleiermacher in den,Reden' in einer schwerlich zu überbietenden Weise „der majestätischen Einheit der wahren Kirche" 8 1 das Wort redet. Majestätisch ist die Einheit der wahren Kirche, weil die, die Religion haben, in ihr das „gänzliche Verschmelzen ihrer Naturen" erleben: zwar „nicht in Absicht auf das Sein und Wollen" — in dieser Hinsicht bleibt ein jeder gegenüber dem anderen distinkt er selbst - , wohl „aber in Absicht auf den Sinn und das Verstehen". 8 2 Im Unterschied zu der alles erklären wollenden „Wuth des Verstehens", 8 3 die den
74 75 76
AaO. 270i7ff. AaO. 29436fr. AaO. 28722f.
77
A a O . 28422t.
78
AaO. 284 2 5 f . AaO. 28Û8ff. A a O . 27542f. AaO. 2883. AaO. 29l3if. AaO. 252i6. Schleiermacher erläutert sie in den späteren Auflagen als die „Wuth des Berechnens und Erklärens" (Reden, (2.-) 4. Aufl., K G A 1/12, 15627f).
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„Sinn" fur „den ungetheilten Eindruck von etwas Ganzem"84 gar nicht erst aufkommen läßt, steigert sich in der wahren Kirche die Intensität gegenseitigen Verstehens in dem Maße, in dem der Sinn fürs Unendliche wächst. Die Einheit der wahren Kirche ist die Einheit eines sich im gegenseitigen Verstehen bildenden gemeinsamen Bewußtseins, in dem sich, ohne die religiöse Individualität aufzuheben, eine einzige Menschheit konstituiert. Denn: „Je mehr sich Jeder dem Universum nähert, je mehr sich Jeder dem Andern mittheilt, desto vollkommner werden sie Eins, keiner hat ein Bewußtsein für sich, jeder hat zugleich das des Andern, sie sind nicht mehr nur Menschen, sondern auch Menschheit".85 Die majestätische Einheit der inneren, wahren Kirche ist die Einheit nicht etwa nur der Christenheit, sondern die Einheit der Menschheit. Damit stellt sich sogar eine eschatologische Perspektive ein. Indem sich in der wahren Kirche der Uberstieg vom Sein als Mensch zum Sein als Menschheit vollzieht, nimmt die majestätische Einheit der wahren Kirche insofern eschatologische Züge an, als die derart Geeinten, „aus sich selbst herausgehend" und „über sich selbst triumfirend[,] [...] auf dem Wege zur wahren Unsterblichkeit und Ewigkeit" sind.86
VIII Doch nicht nur der majestätischen Einheit der inneren, wahren Kirche redet Schleiermacher das Wort. Es soll „auch die äußere [...] Kirche Eins sein".87 Warum? „Damit Jeder die Religion in der Gestalt aufsuchen könnte, die dem schlummernden Keim[,] der in ihm liegt[,] homogen ist".88 Kennt die äußere Kirche die Unterschiedenheit mehrerer äußerer Religionsgesellschaften, dann ist auch hier eine jede im selben Sinne wie die einzelne positive Religion „in Beziehung auf das Ganze eine Häresis"89 und als solche das genaue Gegenteil einer „Sekte", die immer „auf eine möglichst vollendete Gleichförmigkeit", also auf Uniformität bedacht und deshalb nach Schleiermacher „der irreligiöseste BegriP ist, „den man im Gebiet der Religion kann realisiren wollen".90 Im Blick auf die äußere Kirche besteht das ökumenische Interesse Schleiermachers nicht 84 85 86 87 88 89 90
Reden; K G A 1/2, 254nf. AaO. 29l32ff. AaO. 29l36f. AaO. 29439t. AaO. 2944o-295i. AaO. 3044. AaO. 30 Uff.
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zuletzt darin, die einzelne äußere Religionsgesellschaft davor zu bewahren, zur Sekte zu degenerieren. Davor wird sie aber in dem Maße bewahrt, in dem sie „der majestätischen Einheit der wahren Kirche" ,,[n]äher gebracht wird".91 Damit diese Approximation gelingen kann, muß freilich „der ganze Zuschnitt dieser Anstalt [...] ein anderer" werden „und ihr Verhältniß zur wahren Kirche ein ganz andres Ansehn gewinnen".92 Dazu gehört für Schleiermacher nicht zuletzt die klare Trennung von Staat und Kirche, ohne die die äußeren Kirchen durch institutionelle politische Bindungen einander entgegengesetzt werden und bleiben. „So oft ein Fürst eine Kirche für eine Corporation erklärte, fur eine Gemeinschaft mit eignen Vorrechten [...], war das Verderben dieser Kirche unwiderruflich beschloßen".93 Und deshalb fordert Schleiermacher: „Hinweg also mit jeder [...] Verbindung zwischen Kirche und Staat!"94 - eine Forderung, die wiederum der Ökumene der äußeren Kirchen zugute kommt. Wird diese Forderung erfüllt, dann bekommt auch die Einheit der äußeren Kirche ihre Chance. Denn die äußere Kirche gewinnt ihre sich der majestätischen Einheit der wahren Kirche annähernde Einheit „nur dadurch, daß sie eine fließende Maße wird, [...] wo jeder Theil sich bald hie bald dort befindet, und Alles sich friedlich unter einander mengt".95 Damit ist nicht Asx Aufhebung der einzelnen äußeren Religionsgesellschaften das Wort geredet, wohl aber deren intensiver Kommunikation, durch die dann der „gehäßige Sekten- und Proselyten-Geist" ganz von selbst vernichtet wird.96
IX Den Ökumenikern unserer Tage dürfte der Schleiermacher der ,Kurzen Darstellung' und der .Glaubenslehre' sehr viel näher kommen als der Verfasser der Reden ,Uber die Religion'. Und das nicht etwa, weil der gealterte Löwe — zwischen der Erstauflage der ,Reden' und dem Erscheinen der .Glaubenslehre' liegen mehr als zwei Jahrzehnte - schließlich, von der Höhe der einstigen Erkenntnis herabgesunken, doch noch Stroh zu fressen gelernt habe - wie Wilhelm Herrmann97 und mit ihm so mancher unterstellt, der an der .Glaubens91 92
AaO. 2882. AaO. 277uf. 28125fr.
93
AaO.
94
AaO. 2873f. AaO. 2 8 8 « . AaO. 288öf. Vgl. Wilhelm Herrmann: Unser Glaube an Gott (aaO. [wie. Anm. 25] 2, 247-257), 255.
55 96 97
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lehre' bemängeln zu müssen meint, daß in ihr „die ursprüngliche Frische der Konzeption" der ,Reden' „bereits vergangen" ist.98 Die gewisse Nähe zur Problemlage gegenwärtiger ökumenischer Theologie erklärt sich vielmehr aus der schlichten Tatsache, daß die ,Glaubenslehre' eine evangelische Dogmatik und insofern von ihrer Aufgabenstellung her auf die innerchristlichen konfessionellen Verhältnisse verwiesen ist. Dabei bleibt jedoch die bereits in den .Reden' in vielfachen Wendungen ausgesprochene fundamentale Auffassung leitend, daß in allen Religionen dasselbe da ist, aber in jeder alles auf andere Weise." Nur daß diese These in der Dogmatik nun auf die verschiedenen christlichen Konfessionen und Kirchen anzuwenden ist. Auch in ihnen ist dasselbe da, nämlich Christus und sein Geist; aber dasselbe in jeweils anderer Weise. Daß in allen christlichen Konfessionen dasselbe da ist, zeigt sich in der ihnen gemeinsamen Abgrenzung von den fundamentalen Häresien - ein Ausdruck, der von Schleiermacher nun in seiner ketzerischen Bedeutung gebraucht wird. Ich begnüge mich mit einigen wenigen Hinweisen und nehme dabei auch auf Schleiermachers ,Kurze Darstellung' und auf seine Vorlesungen über theologische Enzyklopädie' Bezug. Angesichts der faktischen Vielzahl von christlichen Konfessionen hat eine ökumenische Zielsetzung nur dann einen Sinn, wenn einerseits die Einheit aller Christen zum Wesen des Christentums gehört, andererseits aber die Pluralität christlicher Kirchen von dieser Einheit her - und sei es denn als deren Entstellung - verständlich gemacht werden kann. Schleiermachers in dieser Hinsicht zur Geltung zu bringender Grundsatz lautet: „Das Christenthum ist wesentlich Eins, gestaltet sich aber verschieden in verschiedenen Zeiten".100 Damit ist das Ideal eines zeitinvarianten Lehrsystems ausgeschlossen.101 Der Grundsatz stellt zwar die wesentliche Einheit des Christentums als eine unaufgebbare Konstante desselben heraus, dies aber so, daß die Einheit des Christentums sich geschichtlich variabel gestaltet. Dabei haben auf dem Gebiet der Lehre sowohl orthodoxe wie heterodoxe Elemente, wenn sie nur angemessen vermittelt werden, ihr unbestreitbares Recht. Sie sind „gleich wichtig".102 Die orthodoxen Elemente bringen die Kon98 99 100
101
102
Wilhelm Herrmann: Christlich-protestantische Dogmatik (aaO. 1, 2 9 8 - 3 6 1 ) 3 1 4 . Vgl. oben S. 24. Fr. Schleiermacher: Theologische Enzyklopädie ( 1 8 3 1 / 3 2 ) , Nachschrift David Friedrich Strauß, hg. von W . Sachs, Berlin/New York 1 9 8 7 [= Theologische Enzyklopädie], 194. Vgl. M. Weeber: Schleiermachers Eschatologie. Eine Untersuchung zum theologischen Spätwerk, Tübinger Dissertation, 1999, 12. Fr. Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen ( 2 1830) [= KD] § 204; K G A 1/6, 3993.
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tinuität und die Einheit, die heterodoxen Elemente das diese Einheit lebendig Erhaltende und Vorwärtstreibende zur Geltung.103 Am Heterodoxen muß sich das Orthodoxe als aktuell bewähren, und wenn sich dabei herausstellt, daß es „in der öffentlichen kirchlichen Mittheilung schon ganz antiquirt" ist, handelt es sich um „falsche Orthodoxie".104 Umgekehrt ist es „falsche Heterodoxief,] auch solche Formeln [...] anzufeinden, welche in der kirchlichen Mittheilung ihren wohlbegründeten Stiizpunkt haben".105 Daß in der evangelischen Kirche Orthodoxie und Heterodoxie nur ungenügend miteinander vermittelt sind, das erklärt nach Schleiermacher die ausgesprochen turbulenten Bewegungen, die der evangelischen Kirche und ihrer Dogmatik eigen sind.106 Wären, so könnte man aus dem Dargelegten folgern, die getrennten Kirchen fähig, das schon ganz Antiquierte aus ihrem jetzt geltenden Lehrbestand auszuscheiden, dann könnten wohl viele kirchentrennende Sätze, dann könnten nicht wenige Anathemata als obsolet gewordene Sätze behauptet und „der Dogmengeschichte [···] übergeben"107 werden. Doch wie konnte es angesichts der dem Christentum wesentlichen Einheit überhaupt zu Kirchentrennungen und Kirchenspaltungen kommen?
X Schleiermacher verweist auf einen allgemeinen geschichtlichen Sachverhalt: es gibt innerhalb der geschichtlichen Entwicklung bei allen geschichtlichen Organismen immer auch „krankhafte Erscheinungen", die „theils in zurükktretender Lebenskraft gegründet sein" können, „theils darin, daß sich beigemischtes fremdartige in denselben fur sich organisi«". 108 Das gilt auch für die ja immer nur geschichtlich existierende Kirche. Im Blick auf sie spielt die fundamentale Unterscheidung von Kirche und Welt die entscheidende Rolle. Denn daß die von der Kirche unterschiedene Welt gleichwohl noch immer „einen Einfluß auf die Kirche ausübt",109 das kann zu derart krankhaften Erscheinungen fuhren, daß die wesentlich eine Kirche in eine Mehrheit von Kirchen auseinandertritt. Ein solches Auseinan-
103 104 105 106 107 108 109
Vgl. Theologische Enzyklopädie, 195 und KD § 203, 3 9 8 « . KD § 205 , 3997fr. KD § 206, 399i4ff. Vgl. KD § 208, 4005fr und Theologische Enzyklopädie, 199. CG 2 § 97.4; II, 73. KD § 54, 346i2fr. CG 2 § 148; II, 384.
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dertreten muß freilich als solches noch nicht unbedingt krankhaft sein. Daß die sichtbare Kirche im Unterschied zur unsichtbaren Kirche „eine geteilte ist",110 muß noch nicht bedeuten, daß sie eine Mehrheit von getrennten Kirchen ist. Schon „nach physischen Gesetzen" kann es dazu kommen, daß „der Zusammenhangabreißt". 111 Sodann gibt es auch „nur vorübergehende Störung[en]",112 die durchaus vernachlässigt werden können. Ja, Schleiermacher erwägt sogar die Möglichkeit, „daß es auch Trennungen geben kann, die nicht in dem, was Welt ist in der Kirche, ihren Grund haben, mithin letztlich doch zu den Wirkungen des Heiligen Geistes zu zählen" wären. Aber diese Möglichkeit wird dann doch verworfen, so daß, was in solchen Fällen „als Trennung erscheinen" mag, gar keine vom Heiligen Geist gewollte Trennung ist. Denn „der Geist bindet". Wenn aber dennoch „mehrere von einander getrennte Gemeinschaften in der Christenheit nebeneinander bestehen", dann ist zu prüfen, „von welcher Seite [...] die Trennung ausgegangen ist" - eine Frage, die nach Schleiermacher „oft nicht leichter zu entscheiden sein wird, als die, welcher von beiden Teilen in einem Krieg eigentlich der angreifende gewesen ist".113 Zu vom Heiligen Geist nicht gewollten, auf den Einfluß der Welt zurückzuführenden, die Kirchengemeinschaft der wesenhaft einen Kirche bedrohenden Trennungen kommt es in der Regel dann, wenn die einzelne Kirchengemeinschaft „sich selbstliebig [...] gestaltet".114 Aus Eigenliebe also gehen Kirchentrennungen hervor. Dann kommt es in der Lehre zur „Kezerei", von Schleiermacher nun auch „Häresis" im negativen Sinne des Ausdrucks genannt, und in der Kirchenverfassung zur „Spaltung", zum „Schisma".115 In diesem der Einheit der Person Christi und der Einheit des Geistes Christi widersprechenden Einfluß der Welt auf die Kirche erkennt Schleiermacher die Ursache fur den „Gegensatz zwischen àzrsichtbaren\inàunsichtbaren Kirche".116 und behauptet nun - im Unterschied zu der in den Reden vertretenen Auffassung —, daß die sichtbare Kirche „immer im Auseinandergehen und Sich-Trennen begriffen" ist.117 Die sichtbare Kirche ist „eine geteilte [...], die andere aber ungeteilt eine".118 Doch „solange die abgeschnittene Gesellschaft noch ihren 110 111 112 113 114 115 116 117 118
CG 2 § 149; II, 387; Hhg.v.Vf. CG 2 § 149.2; II, 389. CG 2 § 150.1; II, 391. CG 2 § 151.2; II, 392f. CG 2 § 149.2; II, 389. KD § 58, 348*. CG 2 § 148; II, 384. CG 2 § 149.2; II, 389. CG 2 § 149; II, 387.
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geschichtlichen Zusammenhang mit der Verkündigung des Evangeliums, durch welche sie gestiftet worden ist, festhält, [...] muß noch eine Wirksamkeit Christi in ihr sein", so daß in allen diesen Fällen „die Kirchengemeinschaft nicht ganz aufgehoben" ist. Die getrennten sichtbaren Kirchen partizipieren vielmehr an der „Einheit der unsichtbaren Kirche", und diese „stellt sich" auch in ihnen „dar".119
XI Eine besondere Stellung gewinnt in diesem Zusammenhang das Urchristentum. Da nach Schleiermacher das eigentümliche Wesen einer geschichtlichen Erscheinung nur in deren „frühesten" Zuständen „am reinsten zur Anschauung kommt",120 ist für die Zielsetzung aller Kirchenleitung, „das eigenthümliche Wesen" des Christentums „in jedem künftigen Augenblikk [sc. immer noch] reiner darzustellen", die „Kenntniß des Urchristenthums" von entscheidender Bedeutung.121 Freilich war auch „schon in dem Zeitraum des Urchristentums [...] die Anlage zu einer Trennung zwischen Judenchristen und Heidenchristen [...] weit ausgebildet". Doch „die damals in ursprünglicher Stärke gegenwirkende Kraft des gemeinschaftbildenden Prinzips" hat „den wirklichen Ausbruch derselben zurückhalten" können.122 Und da nun einmal „mehrere im Gegensaz mit einander stehende christliche Kirchengemeinschaften sich nur bilden konnten aus einem Zustande des Ganzen, in welchem [sc. noch] kein Gegensaz ausgesprochen war",123 muß sich jede der im Gegensatz zueinander stehenden christlichen Kirchengemeinschaften an diesem ursprünglichen Zustand, der seinen Ausdruck im Kanon der heiligen Schrift gefunden hat, messen lassen. Die Einheit des Christentums, auf die eine ökumenische Theologie bedacht ist, kann also nur im Rückgang auf die heilige Schrift gewonnen werden. Um eine ökumenische Einheit der Kirchen hat sich die Theologie auch nach Schleiermacher deshalb zu bemühen, weil „innerhalb des Christenthums" „jeder Gegensaz dieser Art [...] dazu bestimmt ist, wieder zu verschwinden". Deshalb hat die Theologie „divinatorisch auch die Formen fur dieses Verschwinden" mit zu bedenken. Doch gerade wer sich in dieser Hinsicht besonders verpflichtet weiß, wird, so Schleiermacher, „falsche Unionsversuche abzuweh119 120 121 122 123
CG 2 § 152.2; II, 394f. KD § 83, 3582c Vgl. K D § 84, 358eff. CG 2 § 150.1; II, 3 9 1 . KD § 52, 3 4 5 1 » .
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ren" 124 haben, also jene „Vereinigungsversuche [...], welche nicht in dem Geist der Kirche ihren Ursprung haben [...], und deren Gelingen also auch nicht als ein Gewinn angesehen werden kann". 125 Gleichwohl gilt: „Sooft sich in der christlichen Kirche Trennungen wirklich hervortun, kann auch das Bestreben, das Getrennte zu vereinigen, niemals fehlen". 126 Denn: „Die gänzliche Aufhebung der Gemeinschaft zwischen verschiedenen Teilen der sichtbaren Kirche ist unchristlich". 127
XII Fragen wir nun noch, wie sich unter diesen Prämissen das Verhältnis zwischen evangelischem und katholischem Christentum fiir Schleiermacher darstellt, 128 so fällt eine gewisse Dialektik ins Auge. Einerseits kann sich „zu jetziger Zeit" gemeint ist die erste Hälfte des vorigen Jahrhunderts! — eine „innerhalb der abendländischen Kirche aufzustellende Glaubenslehre [...] zu dem Gegensatz zwischen dem Römisch-Katholischen und dem Protestantischen nicht gleichgültig verhalten, sondern muß einem von beiden Gliedern angehören". 129 Denn 124 125 126 127 128
129
KD § 53, 34528-3468. CG2 § 150.2; II, 392. CG2 § 150; II, 391. CG2 § 151; II, 393. Den „Gegensatz zwischen abendländischer und morgenländischer Kirche" hat Schleiermacher keineswegs ausgeblendet, aber doch recht stiefmütterlich behandelt - und zwar deshalb, weil die orthodoxen Kirchen angeblich „immer mehr erstarrt" seien (CG2 §23.1; I, 134). CG2 § 23; I, 134. Das gilt auch für die praktische Theologie. Die Frage, ob „es dieselbe praktische Theologie [...] fur evangelische Theologen und katholische" geben könne, wird von Schleiermacher folgendermaßen erörtert: „Diese Frage kann verschieden beantwortet werden; es kann sogar eine Antwort geben, die indifferentistisch ist, und eine andere, die rein polemisch ist; diese werden entgegengesetzt sein: die lezte wird die Identität der Regeln verneinen, die erste im weitesten Sinn behaupten. Die eine ist so unwahr wie die andere, weil die Principien falsch sind; die Wahrheit liegt zwischen beiden, ist aber schwierig auszudrükken. Es giebt gewisse Regeln, die identisch sind für beide Kirchen; geht man aber ins einzelne: so wird sich die Differenz der Principien auch darin zeigen, aber es wird sich nicht angeben lassen, wo die Differenz und die Identität aufhören und angehen. In thesi ist die Formel richtig; aber in praxi, weil wir die näheren Bestimmungen nicht geben können, wird unsere praktische Theologie nur Gültigkeit haben für die evangelische Kirche. Wir werden allerdings sehen, wie wir in beiden Gebieten keinen Punkt aufweisen können, wo die wirkliche Handlung nicht müßte die Differenz zwischen beiden Kirchen an sich tragen. In dem Kirchenregiment sind ganz andere Grundsäze über das Verhältniß der Kirche zum Staat, selbst andere über das Verhältniß
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der „Protestantismus ist in seinem Gegensaz z u m Katholizismus nicht n u r als eine Reinigung u n d Rükkehr v o n eingeschlichenen M i ß b r ä u c h e n , sondern auch als eine eigenthiimliche Gestaltung des C h r i s t e n t h u m s anzusehen". 1 3 0 Eine eigentümliche Gestaltung des C h r i s t e n t u m s ist er insofern, als durch ihn „das individualisirende Element" des C h r i s t e n t u m s freigesetzt w u r d e , 1 3 1 so daß der Protestantismus beides ist: „Reinigung u n d Individuation". 1 3 2 Eine „ Ö k u m e n i sche Dogmatik", w i e sie in unseren J a h r e n E d m u n d Schlink versucht hat, hielt Schleiermacher also noch f ü r ausgeschlossen. Andrerseits w i r d jedoch auch v o n i h m ausdrücklich bestritten, daß „dieser Gegensatz [...] die ganze Glaubenslehre ergriffen" habe, weshalb Schleiermacher darauf besteht, d a ß auch der Gegensatz v o n römisch-katholischer Kirche u n d evangelischer Kirche „zum Verschwinden bestimmt" sei. D i e D o g m a t i k aber wird, „je nachdem", ob „man glaubt, der Gegensatz habe seinen K u l m i n a t i o n s p u n k t n o c h nicht erreicht, oder er habe ihn schon überschritten", sehr unterschiedlich verfahren. 1 3 3 Schleiermacher selber meint beider Kirchen zu einander, und da werden schon die ersten Principien different sein müssen. Für den Kirchendienst ist in unserer Kirche das Verhältniß zwischen Klerus und Laien anders gestellt als in der katholischen, und hat der evangelische Geistliche ganz andere Subsidien, weil er auf größere Bekanntschaft mit der Schrift rechnen kann und das Gebiet der Tradition für ihn einen ganz anderen Werth hat. Hier sind die Elemente so verschieden, daß die Regeln über den Gebrauch derselben anders ausfallen müssen. Also wäre es vergeblich, uns auf eine allgemeine praktische Theologie und eine besondere einzulassen; sondern es ist zwekkmäßiger, daß wir uns gleich auf den Umfang der evangelischen Kirche beschränken" (Friedrich Schleiermacher, Die praktische Theologie nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt; S W 1/13, 510130
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CG 1 § 27; KGA 1/7,19729fr. Zur minutiösen Auslegung des - in der 2. Auflage (§ 24) leicht veränderten - Leitsatzes vgl. Martin Rössler: Protestantische Individualität. Friedrich Schleiermachers Deutung des konfessionellen Gegensatzes, in: A. v. Scheliha/M. Schröder (Hg.): Das protestantische Prinzip. Historische und systematische Studien zum Protestantismusbegriff, Stuttgart 1998, 55-75. Fr. Schleiermacher: Die christliche Sitte, Manuskript 1822, Beilagen, 104; zit. nach Rössler, aaO. 60. Martin Ohst: Schleiermacher und die Bekenntnisschriften. Eine Untersuchung zu seiner Reformations- und Protestantismusdeutung, Göttingen 1989, 210. CG 2 § 23.2; I, 135. Nach Schleiermacher wird es „im letzteren Fall [ . . . ] ein wahrer Fortschritt sein, wenn man in den streitigen Lehren vermittelnde Formeln aufsuchte oder vorbereitete, um von allen Punkten aus die bevorstehende Aufhebung des Gegensatzes zu erleichtern und einzuleiten; und ebenso wäre es dann in der Ordnung, in den nicht streitigen Lehren das Gemeinsame auf das kräftigste festzustellen, um wohlmeinenden, aber den Totalzustand der Kirche verkennenden Eiferern möglichst zu erschweren, daß sie nicht durch Aufregung neuer unnützer Streitigkeiten die Vereinigung beider Teile noch weiter als nötig hinausschieben könnten. Wogegen in dem andern
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Gründe dafür geltend machen zu können, daß „die Spannung des Gegensatzes" nicht „schon als im Abnehmen" betrachtet werden kann. 134 Er faßt den noch zu überwindenden Gegensatz deshalb so scharf wie möglich und bestimmt ihn „vorläufig" dahin, daß der Protestantismus „das Verhältnis [...] zur Kirche abhängig macht von seinem Verhältnis zu Christo", der Katholizismus „aber umgekehrt das Verhältnis des Einzelnen zu Christo abhängig [macht] von seinem Verhältnis zur Kirche".135 Obwohl der Gegensatz tiefgreifend ist, übt die evangelische Kirche aus gutem Grund „nirgends eine organisierte Missionstätigkeit auf die katholische Kirche aus". Sie denkt nicht daran, eine Art Gegenstück zur Rückkehrökumene zu proklamieren, um „die ganze katholische Kirche in die evangelische hinüberzuziehen", sondern sie setzt bei aller notwendigen Polemik „gegen das, was wir wirklich zu den Verderbnissen rechnen, [...] zugleich voraus [...], daß anderes dort Einheimische", uns aber „Fremde doch von der Art ist, daß wir es neben dem Unsrigen glauben bestehen lassen zu dürfen" als „ebenso christlich".136 Eine „Wiedervereinigung" folgt freilich daraus nicht. Sie folgt selbst dann nicht, wenn „die katholische Kirche [...] sich in allen streitig gewordenen Lehren" zu den protestantischen Bestimmungen der Lehre herüber neigte.137 Und auch mit der bloßen Zurückführung auf die angeblich idealen Zustände der Kirche des apostolischen Zeitalters ist nichts gewonnen, weil durch bloße Zurückführung niemals eine verlorene Einheit wiedergewonnen werden kann. 138 Ökumenisch hat die Dogmatik seiner Zeit nach Schleiermacher also zunächst einmal darin zu sein, daß sie den Unterschied der Konfessionen möglichst präzis bestimmt. Dabei ist allerdings auch dann davon auszugehen, daß der in beiden Konfessionen „waltende Geist des Christentums" es schlechterdings nicht zuläßt, daß die in ihnen nach dem Urteil der jeweils anderen Konfession drohende Gefahr - nämlich entweder (die dem Protestantismus dro-
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Falle als wahrscheinlich vorauszusetzen ist, daß, wenn die Spannung überhaupt noch zunehmen soll, dies auch auf dem Gebiet der Lehre der Fall sein werde. Dann aber müßte in demselben Geist, nämlich um den ganzen Prozeß in einem stetigen Verlauf möglichst zu beschleunigen, das Entgegengesetzte geschehen. Eine protestantische Glaubenslehre hat sich dann das Ziel vorzustecken, daß sie den Gegensatz auch in denjenigen Lehrstücken nachweise, worin er bisher noch nicht erschienen ist; denn erst wenn er in allen herausgebildet wäre, könnte man völlig sicher sein, daß er auch in der Lehre seinen Kulminationspunkt erreicht habe" (ebd.). CG 2 § 23.3; I, 136. CG 2 § 24; I, 137. CG 2 §24.1; I, 137. CG 2 §24.1; I, 137f. Vgl. CG 2 § 24.1; I, 138 Anm. a.
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hende Gefahr) unkirchlich zu werden oder aber (die der römisch-katholischen Kirche drohende Gefahr) unchristlich zu werden - „jenes Äußerste jemals erreiche".139 Und deshalb muß, obwohl der Gegensatz möglichst treffend zu bestimmen ist, die evangelische Dogmatik besorgt sein, „den Gegensatz nicht zu übertreiben, um nicht in Unchristliches zu verfallen".140 Die Erfassung des Gegensatzes dient nur dazu, daß in der evangelischen Kirche der ihr eigentümliche Geist überall zur Geltung kommt. Wenn aber „der eigentümliche evangelische Geist" erst einmal „überall in der Lehre" der evangelischen Kirche „entwickelt"141 sein wird, dann, aber wirklich erst dann dürfte auch nach Schleiermacher der Zeitpunkt gekommen sein, „in den streitigen Lehren vermittelnde Formeln" aufzusuchen oder vorzubereiten, „um von allen Punkten aus die bevorstehende Aufhebung des Gegensatzes zu erleichtern und einzuleiten".142
XIII Schleiermacher als Okumeniker? Ja, das ist er. Und das ist er sogar in beispielhafter Weise. Unsere heutige ökumenische Theologie wird ihm in nicht wenigen Punkten zustimmen, sie wird von ihm aber noch immer einiges lernen können und zu lernen haben. Sie wird ihm sicherlich darin zustimmen, daß zwar¿¿V Religion nur in vielen Religionen subsistiert und daß diese niemals „Eins" werden können, daß hingegen das Christentum nach einer einzigen Kirche verlangt, die zwar als sichtbare Kirche in mehrere äußere Kirchengemeinschaften auseinandertritt, der es aber als unsichtbarer Kirche wesentlich ist, eine und nur eine Kirche zu sein. Und auch darin wird man Schleiermacher zustimmen, daß die wesenhaft eine Kirche sich von allen ihre Identität bedrohenden Häresien abgrenzen mußte und immer wieder wird abgrenzen müssen. Hingegen wird die ökumenische Theologie unserer Tage vom Schleiermacher der Reden wohl erst noch lernen müssen, daß auch innerhalb jeder Partialkirche im Blick auf jedes ihr zugehörige Glied am Leibe Christi gilt, daß jeder dasselbe hat, wenn auch jeder in anderer Weise. Die Ökumene der Konfessionen kann nur gedeihen, wenn auch innerhalb jeder einzelnen Konfession ökumenische Toleranz herrscht: Toleranz derart, daß die christliche Individualität zu freier Entfaltung kommen kann. 139 140 141 142
CG 2 § 24.3; I, 140. CG 2 §24.4; I, 141. Ebd., Hhg.v.Vf. CG 2 § 23.2; I, 135.
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Die Ökumeniker unserer Tage werden Schleiermacher weiterhin darin gern zustimmen, daß die Dialektik von orthodoxen und heterodoxen Elementen in der christlichen Lehre diese zu entwickeln erlaubt, und zwar durchaus auch so zu entwickeln erlaubt, daß die konfessionellen Gegensätze als kirchentrennende Gegensätze überwunden werden. Daß dies freilich nicht so geschehen kann, daß die Orthodoxie der eigenen Konfession der Orthodoxie der anderen „geopfert" wird - daß also, um ein Beispiel zu nennen, die reformatorische Exklusivpartikel sola fide und das reformatorische mere passive im articulus iustificationis nicht der Orthodoxie Tridentinischer Anathematismen geopfert werden kann - , das gilt es wohl erst noch zu begreifen. Gelingende Ökumene wird wohl nur so zustande kommen, daß die heterodoxen Elemente in beiden Kirchen hinreichenden Spielraum gewinnen, um einer beiden Kirchen gemeinsamen, lebendigen Orthodoxie den Weg zu bereiten. Dazu bedarf es freilich der Kraft zur Unterscheidung: zur Unterscheidung zwischen dem, was an orthodoxen Elementen lebendig ist und lebendig bleiben muß, und dem, was an pseudoorthodoxen Antiquiertheiten „der Dogmengeschichte [...] übergeben" werden kann. Nicht Kirchendiplomatie ist gefragt, wenn es um das wenigstens partielle Sichtbarwerden der Einheit der unsichtbaren Kirche geht — in diplomatischer Hinsicht wird uns die römisch-katholische Kirche zudem immer überlegen sein, und man sollte ihr dieses Charisma neidlos überlassen - , sondern das, was Schleiermacher als genuin theologische Aufgabe proklamiert hat: nämlich divinatorisch auch die Formen zu entwerfen, durch die die bestehenden konfessionellen Gegensätze zwischen nebeneinander existierenden Partialkirchen wieder zum Verschwinden gebracht werden können. Die Theologie muß diese divinatorische Fähigkeit wohl erst noch entwickeln. Entziehen darf sie sich dieser Verpflichtung jedenfalls nicht. Denn wenn die „gänzliche Aufhebung der Gemeinschaft zwischen verschiedenen Teilen der sichtbaren Kirche [...] unchristlich" ist, dann ist die Gemeinschaft zwischen den verschiedenen Teilen der sichtbaren Kirche zu fördern unbedingte theologische Pflicht. Und schließlich dürfte Schleiermachers Ökumene-Konzept auch darin beispielhaft, weil realistisch, sein, daß der Weg zur Einheit der Christenheit nicht der Weg der Ausblendung des konfessionellen Gegensatzes sein kann, sondern daß dieser Weg nur über die schärfstmögliche Bestimmung des konfessionellen Gegensatzes verlaufen kann, auf daß sich der jeder Konfession eigentümliche Geist innerhalb dieser überall zu entwickeln und zu verwirklichen vermag. Erst dann ist es möglich, die einstmals aufgegebene Kirchengemeinschaft zurückzugewinnen, nein: nicht zurück, sondern in ganz neuer Weise zu gewinnen. Sonst kommt es fast zwangsläufig zu Regredierungen. Und Regredierungen führen bekanntlich nicht voran, sondern zurück.
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Bleibt also die Frage, meine Damen und Herren, ob der eigentümliche evangelische Geist wirklich schon überall in der Lehre und Praxis der evangelischen Kirche sich zu entwickeln und durchzusetzen vermochte oder ob er — gar nicht auszudenken - zumindest aus der von uns Theologen zu verantwortenden Lehre, aus welchen Gründen auch immer, sich zurückzuziehen im Begriffe ist. Das freilich wäre das Todesurteil für jedwede ökumenische Theologie. Wer also wirklich ökumenische Arbeit leisten will, der hat zunächst einmal dafür Sorge zu tragen, daß die evangelische Theologie und die evangelische Kirche überall und ganz und gar evangelisch werden. Denn nur eine wirklich evangelische Christenheit ist für eine ökumenische Kirchengemeinschaft ein ekklesiologischer Gewinn.
Romantik. Z u m historischen Ort einer kulturellen und religiösen Erscheinung VON KURT NOWAK/LEIPZIG
Der deutsche Literaturbetrieb u m 1800 reagierte auf die Romantik mit H o h n und Spott. Im J a h r m a r k t zu Plundersweilern' ließ Johann Daniel Falk einen jungen Geistlichen auftreten, der laut Regieanweisung „mit imposanten T o n und oratorischen Anstand" zu reden hatte und folgende Worte spricht: „ihr sollt wissen, die Schöpfung ist ein Instrument des Ewigen; die Erde ist sein Pedal, und Fichtens Wissenschaftslehre ist der Stimmhammer!" August von Kotzebue brachte in Leipzig die Theaterbesucher mit seinem .Hyberboreeischen Esel' zum Lachen. Der junge Held Karl, einst ein verständiger und liebenswerter Mensch, kehrt aus der Fremde zu seinen Lieben völlig verkorkst zurück. Er ist bei Friedrich Schlegel in die Schule gegangen. Aus seinem M u n d e dringen nur noch Schlegelsche Paradoxien, ζ. B. „Moderantismus ist Geist der kastrierten Illiberalität". Die Mutter weint, Malchen, die Braut, gibt Karl den Laufpaß, und der Landesfurst findet: „Wenn diese Pest u m sich greift, was soll aus der menschlichen Gesellschaft werden! — Weinen sie nicht, M a d a m . Er verdient Ihr Mitleid, nicht Ihren Zorn. Ein paar Jahre im Tollhaus werden ihn schon zur Vernunft bringen". 1 Die antiromantischen Possenspiele waren schnell vergessen. Der schale Witz des c o m m o n sense übte sich am untauglichen Objekt. Die Kritik gewann Inhalt und Tiefe. In der Perspektive von G . W . F. Hegel war Romantik die Z u sammendrängung all der „großen Fragen nach der Entstehung der Welt, nach dem Woher, Wozu, Wohin der geschaffenen Natur und Menschheit" auf den „Punkt des subjektiven Gemüths". J e tiefer sich die „Innerlichkeit des Geistes" entwickelte — „die Empfindung, die Vorstellung, das G e m ü t h " —, desto krasser gestaltete sich der Gegensatz zur äußeren Welt und zeigte sich in einer „unendlich gesteigerten Fülle der inneren und äußeren Kollisionen, Zerrissenheiten,
Rainer Schmitz (Hg.): Die ästhetische Priigeley. Streitschriften der antiromantischen Bewegung, Göttingen 1992, 103 (Johann Daniel Falk: Der Jahrmarkt zu Plundersweilern) und 4 2 (August von Kotzebue: Der hyperboreeische Esel).
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Stufenleitern der Leidenschaft". 2 Der Aufklärungsschriftsteller und Übersetzer Johann Heinrich Voß, von Heinrich Heine als der größte Bürger in der deutschen Literatur nach Lessing gefeiert, trat in seinen späteren Jahren zu einem erbitterten Kampf gegen die „christkatholischen Romantiker" an, wie er sie nannte. In England riet Lord Byron zur Lektüre John Miltons, John Drydens und Alexander Popes, nicht aber der Werke der Lake School, repräsentiert durch Wordsworth, Coleridge und Southey, „den schäbigen Gesellen [...] — und doch / Mit eurem Lorbeerkranze Dichter noch!" 3 Woher die Ablehnung? Warum so viel Antipathie? Ihrem Begriff nach war die Romantik eine Haßgeburt ihrer Gegner, auch wenn es Novalis war, der das Substantiv Romantik (von ihm verstanden als Romankunst) prägte. Subjektivistisch entgleist, betrunken, bizarr und dazu noch im Mystizismus befangen, so stand die Romantik in den Augen ihrer zeitgenössischen Kontrahenten da. In Frankreich erlebte sie als Regelverstoß gegen den klassizistischen Kanon 1824 ihre Hinrichtung durch einen „Discours" an der Akademie. Ugo Foscolo, der italienische Romantiker, verwahrte sich gegen seine Etikettierung als Romantiker. Er schwor auf die klassische Ästhetik, ebenso Giovanni Leopardi. Soll man sich angesichts der antiromantischen Fronde mit der Feststellung begnügen, neue Bewegungen in der Welt des Geistes und der Kunst, der Literatur und Religion stießen allemal auf Widerstände — in diesem Fall auf Widerstände mit äußerst scharfen Waffen, nicht zuletzt mit der Waffe der Verhunzung? Von Feindschaft blieb die Romantik weit über ihre Ursprünge hinaus hartnäckig verfolgt. Noch 1972 führte Ernst Behler mit seinen .Kritischen Gedanken zum Begriff der europäischen Romantik' eine letzte, eigentlich schon gewonnene Schlacht gegen die langen Schatten und Chimären der Anti-Romantik. 4 Die Ablehnung der Romantik über anderthalb Jahrhunderte hinweg ist erklärungsbedürftig, ebenso die Faszination, die sie stets hervorrief. Tatsächlich laufen zwei Geschichten neben- und gegeneinander. Das muß nicht heißen, die Geschichte der Faszination sei authentischer und „richtiger" als die Geschichte der Ablehnung. Beide Geschichten unterliegen rezeptionshermeneutischen Spielregeln.
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik II, Sämtliche Werke, hg. v. H. Glockner, Bd. 13, Stuttgart 1928, 130. 131. Lord Byron: Don Juan. Episches Gedicht in sechzehn Gesängen, Halle o. J., 4. Ernst Behler: Kritische Gedanken zum Begriff der europäischen Romantik, in: Die europäische Romantik. Mit Beiträgen von Ernst Behler, Heinrich Fauteck u. a., Frankfort am Main 1972, 7-43.
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1. Chiffre einer Störung Man trifft das Phänomen Romantik nur schulmäßig, wenn man feststellt, ihr zeitgenössisches Verständnis sei aus der Übertragung von Stilmerkmalen der nachmittelalterlichen, nichtklassischen Literatur auf die literarische Avantgarde um 1800 erwachsen. Die Avantgarde verstieß nicht nur gegen einen ästhetischen Kanon, der ohnehin keine feste Form mehr besaß. Sie erneuerte mit erheblicher Wucht und auf denkbar breiter Fläche die „Querelle des Anciens et des Modernes" des ausgehenden 17. Jahrhunderts. Jetzt ging es nicht mehr bloß um einen Krieg der Kunst. Man witterte in der romantischen Bewegung — durchaus zu Recht - eine Irregularität, welche im Haushalt des traditionellen Konfliktwissens nicht mehr einzuholen war. Verrückt — das Epitheton kam nicht von ungefähr. Die Romantik stieg in der Ara des Übergangs vom Ancien Regime zur bürgerlichen Gesellschaft empor. Das politische Ereignisdatum für jenen langen Umbruch ist das Jahr 1789. Die Romantiker der ersten Generation waren Zeitgenossen des gallischen Schauspiels, blutjung zumeist, und keineswegs allesamt Anhänger der Revolution. Chateaubriand flüchtete entsetzt ins britische Exil. 5 In der zeitgenössischen Erlebniswelt war die französische Staatsumwälzung etwas nie zuvor Gesehenes, ein Ereignis der Menschheitsgeschichte ohne historische Analogie. Der Boden des Zeitalters war aufgebrochen. Nach 1789 war alles anders als vorher, die Hoffnungen, die Ungewißheiten, die Enttäuschungen. 6 Es war diese Revolution, als Politikum und als Metapher, die in Europa neue Zur historisch-politischen Verarbeitung vergleiche man Chateaubriands „Essai historique, politique et moral sur les révolutions anciennes et modernes, considérées dans leur rapports avec la révolution française", in: Chateaubriand: Essai sur les révolutions. Génie du christianisme. Texte établi, présenté et annoté par Maurice Regard, Paris 1 9 7 8 . Klopstock, der Vorausschauende, sah bereits Ende 1 7 8 8 in der Einberufung der „Etats Généraux" eine Epochenwende. „Die größte Handlung dieses Jahrhunderts sei,/So dacht ich sonst, wie Hercules Friedrich / Die Keule führte, von Europas /, Herrschern bekämpft und den Herrscherinnen! So denk' ich jetzt nicht. Gallien krönet sich / Mit einem Bürgerkranze, wie keiner war! / Der glänzet heller - und verdient es - / Schöner als Lorbeer', die Blut entschimmert." Zit. nach Claus Träger (Hg.): „... ihr seid dabeigewesen." Deutsche Schriftsteller zur Französischen Revolution, Leipzig 1989, 20. Vgl. die neueste (und in vielen Punkten neuartige) Darstellung der Französischen Revolution bei Rolf E. Reichardt: Das Blut der Freiheit. Französische Revolution und demokratische Kultur, Frankfurt am Main 1998.
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geistige Aggregatzustände schuf. Man kann die Romantiker „Neunundachtziger" nennen, gleichviel ob sie die Revolution bejahten oder verneinten. Wie nimmt man in einer nach allen Seiten labilen historischen Situation avantgardistische Bewegungen wahr? Es scheint zu einem kumulativen Effekt gekommen zu sein. Der in der Revolution entfesselte „clash of cultures" rückte die literarische Avantgarde in eine zusätzliche Dimension der Störung, mehr noch: der Zerstörung. Ein treffender Ausdruck dafür wollte sich lange nicht einstellen. Wie schwach ist der den Romantikern entgegengeschleuderte Begriff Respektlosigkeit. Mangel an Respekt, das klang wie ein Wort aus dem Brevier des guten Benehmens und meinte doch ungleich mehr, eine Fassungslosigkeit, eine Empörung über die vermeintliche Lust am Niederreißen, an der Verachtung und Verhöhnung der Tradition. Die literarischen Skandale - in Deutschland der Skandal um Friedrich Schlegels .Lucinde' - wirken in diesem Kontext wie der Vordergrund ganz anderer Konflikte. Die antiromantische Gegnerwelt sah mit der Romantik hinter der Sonne der Aufklärung ein schwarzes Gestirn hervortreten. Sie erblickte in der literarischen Avantgarde einen geistigen Stoßtrupp der Anarchie. Nehmen wir das Bild des romantischen Dichters. Eine bürgerliche Berufsstatistik der romantischen Autoren — meines Wissens existiert sie noch nicht — könnte zeigen, daß der romantische Autor vom Berufsprofil des Aufklärungsschriftstellers nicht weit entfernt war. Allenfalls wäre eine deutliche Abnahme der theologischen Berufe zu registrieren. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts machte sich eine wachsende Disjunktion zwischen den artes liberales und der Theologie bemerkbar. Was aber sind Beobachtungen dieser Art, wenn man den romantischen Autor auf der Projektionsfläche seines ästhetischen Selbstverständnisses sieht? Er bietet sich dar als Priester oder Magier, als rêveur sacré, als promethetischer Befreier „in tyrannos", als geweihter Rhetor, der die wahre Religion verkündet, als Stimme des Volkes, als Schöpfer einer neuen Welt und in weiteren Formen. Gewiß, die Apotheose des Dichters ist aus älteren Traditionen ableitbar, denen der Antike (der Dichter als Seher) und aus neueren Konstellationen (der Dichter als Priester bei Klopstock). Haben wir aber wirklich vergleichbare Phänomene vor uns? Friedrich Schlegel bezeichnete sich als „Kain des Weltalls", Novalis nannte den Dichter einen „transcendentalen Arzt". 7 Auch die literarischen Helden veränderten sich. Die Leser hatten sich an eine andere Art ihres Sprechens, Empfindens und Agierens zu gewöhnen, und dies in ästhetisch verwandelten Welten. Der neue Held konnte ein edler Räuber 7
Als Ersatz fur umfangreiche bibliographische Notizen zum Selbstverständnis des romantischen Dichters sei genannt Helmut Schanze (Hg.): Romantik-Handbuch, Stuttgart 1994, 6 1 5 - 7 8 8 (Bio-Bibliographien).
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sein, ein träumender und für das Leben unbrauchbarer Jüngling, ein Zyniker und Libertin, oder ein Dichter, der sein Leben zum romantischen Abenteuer machte und darüber zugrunde geht. Gerhard Schneider rückte die Romantiker und ihre Literatur an die Seite der Adelsopposition gegen den modernen Staat. Arnold Hauser bezeichnet sie als „wesentlich bürgerliche Bewegung", als die „bürgerliche Bewegung par excellence". Ganz ähnlich sieht es Gordon A. Craig: „Soziologisch gesehen war die Romantik stets [...] eine dem Wesen nach bürgerliche Bewegung." Einige Jahrzehnte vorher hatte Karl Mannheim die Romantiker als „frei schwebende Intellektuelle" charakterisiert, die keiner sozialen Schicht zugeordnet werden können - vielleicht eine unfreiwillige Referenz an die romantische DichterAureole, und dennoch eine den anderen Auffassungen überlegene Deutung. 8 Die Kulturstörungen des 18. Jahrhunderts liefen in der Romantik zu einer neuen Qualität zusammen. Literaturgeschichtlich handelt es sich um den Zusammenhang des Zeitalters der Empfindsamkeit, der Melancholie, des Sturms und Drangs mit der Romantik. Die historische Aufschließung der vorromantischen Kulturstörungen steht in einem Wechselverhältnis mit unserem Urteil über die Stoßkraft, die Ausdehnung und Neuartigkeit der Störungen in der romantischen Bewegung. Der Thesaurus der vorromantischen Kulturstörungen ist möglicherweise umfangreicher, als es der gemeinhin zur Bezeichnung romantischer Vorläuferschaften verwendete Begriff der Prä- oder Vorromantik nahelegt. Dazu zwei Beispiele: 1745 veröffentliche der Arzt und Philosoph La Mettrie seine ,Histoire naturelle de l'âme', die er dem von 1736-1753 in Göttingen lehrenden Arzt, Naturforscher und Dichter Albrecht von Haller widmete (der sich allerdings scharf dagegen verwahrte). Ein wesentliches Motiv des Werks wie auch der drei Jahre später erschienenen Schrift ,L'homme Machine' war La Mettries Aufbäumen gegen die kulturelle Leere, gegen den „ennui". Was vermochte den Menschen wahrhaft zu fesseln? Als Remedium gegen die Daseinsleere hob er den „esprit" empor. La Mettrie entwickelte das Projekt einer Weltbemächtigung durch den „esprit", das keinen Anspruch mehr auf Stabilität erhob und nur noch als Spiel begriffen war: „un trésor inépuisable, le plus sûr contrepoison du cruel ennui; qui se promene & voyage avec nous et en un mot nous suit par tout". 9 Noch überraschender fur das Krisenwissen in kulturellen 8
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Gerhard Schneider: Studien zur deutschen Romantik, Leipzig 1962, 58; Arnold Hauser: Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1953, II, 185; Gordon A. Craig: Über die Deutschen, München 1982, 223; Karl Mannheim: Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, hg. v. D. Kettler u. a., Frankfurt am Main 1984, 144. [Julien Offroy de La Mettrie:] Histoire naturelle de l'ame. Chez Jean Neaulme, Libraire, M . D C C . X L V ; ders.: L'homme Machine. À Leyde, De L'Imp. d'Elie Luzac, Fils. MDCCXLVIII (Préface [unpaginiert]).
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Figurationen, die vordergründig in eine ganz andere Richtung zeigen, ist eine Passage beim „Patriarchen der Neologie", dem Berliner Propst und religiösen Erfolgsschriftsteller Johann Joachim Spalding. In seinen, Vertrauten Briefen, die Religion betreffend', die 1788 in dritter Ausgabe vorlagen, schlug Spalding Rousseaus Thema von Sein und Schein an. Es ging nicht mehr bloß um den Mißbrauch der dem Menschen überantworteten Welt durch Mangel an Einsicht, Gottesfurcht und durch moralische Schwäche. Das Thema hieß Verlorenheit des Menschen im Labyrinth der Zivilisation. „Europa [...] siehet in seinem Schooße Geschlechter entstehen und untergehen, die nicht werth waren zu leben." 10 Die Chiffre der großen Störung, die Romantik, kann als Phänomen einer Verdichtung der „Krise des europäischen Bewußtseins" bewertet werden, wie Paul Hazard sie nannte. 11 Stellt man umgekehrt die das 18. Jahrhundert durchlaufenden kulturellen Störungen niedriger, vollzieht sich in der Romantik ein qualitativer Sprung. W i e auch immer, der Unterschied zwischen den „Neunundachtzigern" und ihren Vorgängern bestand darin, daß sie in verschiedenartigen politisch-kulturellen Makrostrukturen wirkten. Die Kulturkritiker der Jahre vor 1789 waren Zeitgenossen des Ancien Regime. Die frühen Romantiker lebten schon anderswo, zwischen „zwei verschiedenen Ordnungen der Dinge", wie Schleiermacher in der Religionsschrift sagte. Der kulturelle Code samt seinen Mechanismen zur Marginalisierung und Ausgrenzung des Irregulären funktionierte vor dem romantischen Phänomen nicht mehr. „Klassisch ist das Gesunde, romantisch das Kranke", befand der ursprünglich als Protektor und Heros der Romantik geltende Goethe in seinen .Maximen und Reflexionen'. 12 Auch dies war eine eher schwache Metapher für die Irritation, von der die Gegner und Kritiker der Romantik heimgesucht waren. Lehrreich für die Geschichte der romantischen Störung sind gewisse perspektivische Inversionen. Die Romantikgegner hielten die Romantiker fur Schwärmer und sich selber für Realisten. Die Romantiker sahen die Sache aber gerade umgekehrt. Der romantische Künstler, fand die literarische Avantgarde, sei den Künstlern, die in traditional entleerten Kulturtechniken befangen blieben, durch seinen Sinn für die Wirklichkeit und seine künstlerische Mittel überlegen. Deshalb sei er der wahre Realist gegen den nur eingebildeten Realismus der „Realisten". 10
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[Johann Joachim Spalding:] Vertraute Briefe, die Religion betreffend, dritte Auflage mit einer Zugabe. Breslau 1788, 196. Paul Hazard: La Crise de la conscience européenne 1 6 8 0 - 1 7 1 5 . Paris 1 9 3 5 (seither mehrere Ausgaben in deutscher Sprache unter dem Titel: Die Krise des europäischen Geistes; zuletzt Hamburg 1965). Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen. Werke, hg. v. E. Trunz, Bd. 12, München 1 2 1994, 4 8 7 (Nr. 863).
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2. Repraesentatio einer Krisis Die Empörung der Romantikgegner und der Untertext ihrer Empörung - die kulturelle Beängstigung — hatte gute Gründe. Die Romantiker signalisierten einen Bruch der Weltordnung. Sie standen für eine Krise. Wie sachhaltig ihr Krisenwissen war, ist ein relativ sekundäres Problem. Vom historischen Beobachtungsstand der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte nehmen sich die Bewegungen der Romantiker im Gelände des Zeitalters einigermaßen esoterisch aus. Bewußtseinsgeschichtlich stehen sie im beginnenden Umbruch der Neuzeit zur Moderne jedoch ganz vorn. Urteile über die Konkordanz oder Nichtkonkordanz von Bewußtseinsgeschichte und Sozial- bzw. Gesellschaftsgeschichte stoßen methodisch in eine Art von leerem Raum, wenn man die romantischen Krisenartikulationen in die Perspektive der Repraesentatio stellt, der künstlerischen Vorstellung oder Darstellung. Die Romantiker waren Künstler und keine Soziologen. Sicher ist, daß sie den Januskopf der Zivilisation erblickt haben. Alles kann scheitern. Schleiermacher reduzierte in den Reden ,Über die Religion' den Krisentopos nicht auf die Gesellschaft in Frankreich. Seine Krisensätze sind zu guten Teilen am Bild des Hexagons abgezogen, erschöpfen sich aber nicht in ihm. Passagenweise weht uns Hamlets Geist an („Die Zeit ist aus den Fugen ..."). Ganz und gar ins Katastrophische geht Schleiermachers Betrachtung im literarischen Spiel mit der Ekpyrosis, dem alles verzehrenden Weltenbrand. Im Weltenbrand sinkt der alte Aon in Staub und Asche.13 In der romantischen Agenda der Krisenrepraesentatio steht das Denkangebot eines entscheidungszeitlichen Entweder - Oder obenan. Entweder verliert sich die Menschheit im geist-, kunst- und religionslosen Tun und Machen, oder sie drängt zu einer neuen Kultur im denkbar umfassenden Sinn des colere vor: von der Poesie bis zur Politik, von den Wissenschaften bis zur Religion, vom Parnaß des Geistes bis in die Alltagswelt. Novalis nannte die bisherigen Bücher (und meinte damit die Kulturformen) ein „unförmliches Papiergeld, das die Gelehrten in Kurs bringen. Diese Papiermünzliebhaberei der modernen Welt, ist der Boden, auf den sie, oft in Einer Nacht, emporschießen." Oder: „Die Vorstellungen der Vorzeit ziehn uns zum Sterben — zum Verfliegen an - die Vorstellungen der Zukunft - treiben uns zum Beleben — zum Verkörpern, zur assimilierenden Wirksamkeit". 14 Das 13
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Einzelheiten bei Kurt Nowak: Schleiermacher und die Frühromantik. Eine literaturgeschichtliche Studie zum romantischen Religionsverständnis und Menschenbild am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland, Weimar/Göttingen 1 9 8 6 , 1 4 0 - 2 0 7 . Novalis Werke, hg. v. G. Schulz. München 3 1 9 8 7 , 3 4 8 . 3 5 2 (Vermischte Bemerkungen [Blüthenstaub] 1 7 9 7 - 1 7 9 8 Nr. 110; 124).
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entscheidungszeitliche Entweder — Oder durchbricht den Zeitpfeil des aufgeklärten Kultur- und Geschichtsdenkens und lagert in die Weltzeit eine kairologische Stunde ein. Die Krisenszenarien der Frühromantiker sind hochdramatisierte Kulturkritik. In der Sphäre der Religion bietet sie sich als Aufspringen der Erfahrung einer Welt ohne Gott dar: Kosmos atheos. In den Debatten der Aufklärung war der Atheismus überwiegend noch im älteren Sinne der άθεότης gedeutet, als Gottlosigkeit durch Verstockung oder durch Tausch des wahren Gottes gegen Götzen. Die Romantik erfährt die Gott- und Religionslosigkeit als das bisher Unfaßbare, als die unmögliche Möglichkeit der Religion. Wenn die Religion dahinstürzt, dann auch die Philosophie, die Moral, die Poesie - kurz, die Kultur. Friedrich Schlegels ,Ideen', in der Letztphase von Schleiermachers Niederschrift der Reden ,Über die Religion' begonnen, sind eine Artikulation jener Erfahrung in Zustimmung und kritischem Kontrast zum Text des Berufstheologen und geistlichen Amtsträgers. „Das ewige Leben und die unsichtbare Welt ist nur in Gott zu suchen. In ihm leben alle Geister, er ist ein Abyssus von Individualität, das einzige unendlich Volle." 15 Die Krisenartikulation im Kulturhaushalt der ohnehin gestörten Epoche wird auch in den romantischen Erinnerungen an die Unberechenbarkeit Gottes greifbar. Manche Texte der Romantik führen uns an Orte „wilden Denkens". In ihnen leuchtet und gewittert all das, was den Panzer christlich-bürgerlicher Unangefochtenheit sprengt. Noch einmal betreten der Teufel, Dämonen und Hexen die Bühne. Gott selber verrätselt sich. Gott ist nicht nur gnädig. Er steigert seinen Zorn zur Tyrannei, er wird zum Widerpart des aufbegehrenden und zerrissenen Menschen, dessen Scheitern den Leser in einen Zustand zwischen Grauen und Sympathie versetzt. Gott kann zur Chiffre des Fremden, des Unheimlichen werden: der wahnsinnige Gott. Die Physikotheologien, Theodizeen und aufgeklärten Kulturtheologien des 18. Jahrhunderts stürzen in der romantischen Theologie des Gottes- und Weltschmerzes reihenweise dahin. Schöpfungsordnung, Sozialordnung und Religion treten aus ihrem Gefüge und gehen neue Verbindungen ein, beispielsweise die Verbindung von Religion und Horror. Seit 1821 gab es dafür den Begriff „Satanic School". Die Romantik mobilisierte religiöse Tatbestände, die dem europäischen Christentum am Ende des 18. Jahrhunderts weithin fremd geworden waren. Auch heute liest die Theologie über manches romantische Menetekel, über Erinnerungen an das Abgründige der Religion schnell hinweg. „Es ist sonderbar, daß nicht längst die Assoziation von Wollust, Religion und Grausamkeit die Leute aufmerksam auf 15
Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe, hg. v. E. Behler. Paderborn u. a. 1958 ff [=KA], Bd. 2, 257 (Nr. 6).
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ihre innige Verwandschaft und ihre gemeinschaftliche Tendenz gemacht hat". 16 Diese Feststellung stammt vom Novalis. Gemeinhin haben wir von ihm andere, den Abgrund verhüllende Texte im Ohr. „Ich sehe dich in tausend Bildern, Maria, lieblich ausgedrückt, Doch keins von allen kann dich schildern, Wie meine Seele dich erblickt". 17 Nicht alle Texte der Romantik sind krisenintensiv oder muten so an. Joseph von EichendorfF, im bürgerlichen Erwerbsleben zunächst Schulrat in Danzig, seit 1831 Regierungsrat im Berliner Kultusministerium, wollte ein „wahrer Volksschriftsteller" sein, der „dreierlei einfache Dinge" beherzigte: „daß er es ehrlich meine, daß er wisse, was er will, und daß er mit dem Volke, für das er schreibt, das Gefühl von der Wahrheit und Schönheit der Religion theilt". 18 Einige seiner Wanderlieder (ζ. B. „Wem Gott will rechte Gunst erweisen") rückten zu Volksliedern auf. Die idyllische Uberzeichnung der realen Welt in einigen seiner Novellen könnte Anlaß geben, in EichendorfF einen schönheitstrunkenen Poeten zu erblicken. W i r wissen, EichendorfF ist mehr, ein Krisenautor der besonderen Art. Der Traum der Idylle ist Repraesentatio der Krise. In der Novelle ,Das Marmorbild' (1819) streicht EichendorfF die Idylle aus. „Die Flammen des Blitzes warFen gräßliche Scheine zwischen die Gestalten, durch deren Gewimmel Florio die steinernen Bilder mit solcher Gewalt auf sich losdringen sah, daß ihm die Haare zu Berge standen. Das Grausen überwältigte alle seine Sinne, er stürzte verworren aus dem Zimmer durch die öden, widerhallenden Gemächer und Säulengänge hinab." 19 An dieser Stelle sei eine methodische Anmerkung eingefügt. Die Fixierung des Krisenmotivs gelingt am ehesten in den Aufbruchsgestalten der Romantik und in der unmittelbaren Folgegeneration, die weithin von schon konventionalisierten Mustern der frühen Romantik lebte. Schwierig wird sie in den Grenzzonen und SpätFormen der romantischen Literatur. Die ungeFestigte Chronologie und Geographie der Romantik schafft zusätzliche Probleme, ebenso ihre
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Novalis aaO. [wie Anm. 14] 5 3 3 (Fragmente und Studien 1 7 9 9 - 1 8 0 0 ) . AaO. 71 (Geistliche Lieder XII). Joseph von Eichendorff: Die deutschen Volksschriftsteller, in: Sämtliche W e r k e Bd. VIII/1, Regensburg 1962, 1 4 0 - 1 5 8 ; hier: 158. Zitat (mit Analyse) bei Ludwig Stockinger: Poetische Religion — Religiöse Poesie: Friedrich von Hardenberg (Novalis) und Joseph von EichendorfF, in: W . Braungart/G. Fuchs/M. Koch (Hg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. I: Um 1800, Paderborn u. a. 1998, 1 6 7 - 1 8 6 ; hier: 1 6 9 - 1 7 5 .
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Verknüpfung mit verschiedenartigen gesellschaftlichen Kontexten. Bereits im deutschen Sprachraum evoziert Romantik ganz heterogene Erscheinungen, nämlich den „Kosmopolitismus der frühen romantischen Schule und ihrer metaphysisch fundierten Poetik, dann die national und volkshaft orientierte Romantik aus der Zeit der Befreiungskriege, sogar die politische Romantik der Restaurationszeit [...], deren Bestrebungen zur Wiedererweckung der Heiligen Allianz" einen „scharfen Kontrast" zu den romantischen Ursprüngen bildeten. 20 So geht es weiter bis zur Mitte des Jahrhunderts. Die Romantiken außerhalb des deutschen Sprachraums mit ihren besonderen Profilen sind in diesem Szenarium noch gar nicht erwähnt. In Italien stand Romantico als Synonym fìiir Patriota. Wenn der Sammelbegriff Romantik also unscharf ist und nur als Behelfswort für ganz unterschiedliche literarische Landschaften und Entwicklungen dient: kann Romantik dann noch mit Krisenartikulation gleichgesetzt werden? Die Antwort ist nicht mit einer Typologie oder Morphologie der Romantik zu gewinnen. Sie hat sich an der Empirie der Texte zu bewähren. Der mythische Gott Proteus besaß die Gabe, sich in allerlei Gestalten zu verwandeln. So offenbar auch die romantische Krisis. In einigen literarischen Figurationen ist sie unmittelbar evident, in anderen muß sie dekodiert werden, vor allem gegen das Ende der romantischen Bewegung hin, zumal die Literaturgeschichtsschreibung hier besonders hohe Hürden des Vorurteils aufgerichtet hat. Die Romantiker, liest man bei Gottfried Gervinus und seither immer wieder, hätten anfangs zwar Beachtliches geleistet, dann aber eine Neigung zur Formalpoesie entwickelt und dieser hinfälligen Kunst durch den Mystizismus eine Stütze zu geben versucht. 21
3. Kontinuität - Diskontinuität Die Romantik, schärft Jean Fabre ein, darf nicht isoliert betrachtet werden, „même quand il prétend s'en dissocier par un anathème ou un refus". 22 Gegenläufig zum Bild der großen Störung, der Verrücktheit, des angeblichen Ausverkaufs der Werte und gegenläufig zur romantischen Exposition der Krisis ist Romantik auch als Phänomen einer kulturellen Kontinuität lesbar. Diese Perspektive öffnete sich bei der Einzeichnung der romantischen Bewegung in die Kulturkontexte ihrer Zeit. Im Spannungsfeld von Kontinuität und Diskonti20 21 22
Ernst Behler: aaO. [wie Anm. 4] 34. Georg Gottfried Gervinus: Schriften zur Literatur, hg. von G. Erler, Berlin 1962, 647f. Jean Fabre: Lumières et romanticisme, énergie et nostalgie de Rousseau à Mickiewicz, Paris 1 9 6 3 , X V (ND 1980).
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nuität müssen sich scheinbar unverwechselbare Charaktermerkmale der Romantik ihre Rückstellung in Traditionen des 17./18. Jahrhunderts gefallen lassen. In der vergleichenden Perspektive verliert zum Beispiel die Gruppenbildung der Frühromantiker, die so gern als zeitlich querstehender Vorausentwurf einer freien Gesellschaft gefeiert wird, das Prädikat des Originären. Das Ideal der Egalität prägte dank des Prinzips der Denk- und Sprechfreiheit bereits die Salonkultur der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts führte Madame de Staël den Erfolg der Salons auf den „esprit de conversation" zurück, modern ausgedrückt auf das interdisziplinäre Gespräch in allen denkbaren Uberkreuzungen der Künste und Wissenschaften. Das literarische und philosophische Produktionsmodell der deutschen Frühromantiker, die „Symphilosophie", zeigt Verwandtschaften mit dem „esprit de conversation". Der Salon war eine europaweite Institution mit beträchtlichem Signalwert, Diderot nannte die literarische Plattform seiner Ästhetik „Salon" (1759-1781). In England waren es die „Blue Stockings", die sich in den Salons trafen. Anfangs waren sie aus Frauen und Männern gemischt, ehe die „Blaustrümpfe" zum Ausweis für künstlerisch gebildete und wissenschaftlich interessierte Frauen wurden. Die Salons der deutschen Romantik fügen sich in die Geschichte der Weimarer Abendgesellschaften von Herzogin Anna Amalia und der Salons von Charlotte von Greiner und Karoline Pichtier in Wien ein. Neu war in der romantischen Salonkultur der preußischen Metropole um 1800 die Führungsrolle jüdischer Frauen. Seit 1781 lief in der preußischen Monarchie eine intensive Debatte zur bürgerlichen Gleichstellung der Juden. Vielleicht erklärt sie die Besonderheit der Salonnière vom Typ der Henriette Herz, Rahel Levin oder Sarah Meyer. Was neben den Salons die literarischen und gelehrten Gesellschaften als Vorbilder romantischer Gesellung angeht, so befindet sich deren räum- und typenbezogene Erforschung erst in den Anfängen. Erkundungen im mitteldeutschen Raum, der besonders reich mit Sozietäten besetzt war, lassen ganze Schwärme von literarischen, philosophischen, philologischen und naturwissenschaftlichen Sozietäten erahnen. Ihre Bedeutung als kulturelle Vorfeldorganisationen der Romantik wäre noch zu klären. Der Abkühlung überhitzter Theorien von der kulturgeschichtlichen Unverwechselbarkeit der Romantik könnten auch Forschungen zum Verlags- und Buchwesen und die Leserforschung dienen. Vergleichbare Größen zwischen Aufklärung und Romantik bieten sich sodann beim Stichwort Menschheit an. Wie in den Kultur- und Geschichtsmodellen der Aufklärung ist auch in der Romantik das Subjekt der Reflexion und der kulturellen Aktion die Menschheit. Nur sind jetzt die Elemente, die das Kollektivsubjekt Menschheit konstituieren — das Individuum, die Gruppen, die Völker — stärker herausgebildet und dialektisch zueinander ins Ver-
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hältnis gesetzt. Auf der künstlerisch-literarischen Ebene entsprach der „Menschheit" in der deutschen Frühromantik das Programm der „Weltliteratur". August Wilhelm Schlegel begründete es näher in seinen Vorlesungen von 1804. Die Wende in die autochthonen Literaturen gehörte einer anderen Entwicklung an. Noch zu wenig beachtet scheint der Zusammenhang zwischen Aufklärung und Romantik im Horizont der Formel „der ganze Mensch". Der „ganze Mensch" ist ein prominentes Thema der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, ein anthropologischer Ansatz, der die biotische Verwurzelung des Menschen ebenso umgreift wie seine Prägung durch Gesellschaft, Sprache, Technè. Eine „science de l'homme" bricht sich Bahn, zu der Rousseau im Vorwort seines zweiten Discours (1756) angemerkt hatte: „La plus utile et la moins avancée de toutes les conoissances humaines me paroît être celle de l'homme". 23 Die historische Ortsbestimmung der Romantik steht in genetischer Beziehung zur Erforschung des Zeitalters der Aufklärung. Je mehr sich das Wissen um den Prozeß der Aufklärung ausdifferenziert, desto deutlicher treten Kontinuitäten hervor. Der ältere Gegensatz Romantik versus Aufklärung ist seit den 1960er Jahren erledigt. Die Entkräftung der vermeintlichen Antithese ist indes noch nicht in eine breitflächige Vergleichsforschung überführt. Man kann die komparatistische Sonde nahezu überall in das Material einführen. Man wird selbst dort fündig, wo die Romantik etwas völlig Neues zu bieten scheint, so auch beim Komplex romantische Universalpoesie und -philosophie. Novalis erklärte die logischen Erkenntnisakte der Philosophie nicht für ungültig, sah die Philosophie aber erst durch die Poesie zu ihrem Ziel kommen. „Die Poesie hebt jedes Einzelne durch eine eigenthümliche Verknüpfung mit dem übrigen Ganzen - und wenn die Philosophie durch ihre Gesezgebung der Welt erst zu dem wircksamen Einfluß der Ideen bereitet, so ist gleichsam Poësie der Schlüssel der Philosophie, ihr Zweck und ihre Bedeutung; denn die Poësie bildet die schöne Gesellschaft — die Weltfamilie — die schöne Haushaltung des Universums." 24 Der Philosophiebegriff von Novalis besaß enzyklopädische Dimensionen. Er erstreckte sich bis zur Mathematik, Physik, Geologie und Chemie. Die Weite dieses Philosophieverständnisses mochte um 1800 vielleicht in Deutschland ungewöhnlich anmuten, nicht aber in anderen europäischen Kulturen. Die britische „Royal Society" nannte ihre Publikationen „Philosophi-
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Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l'origine et les fondemens de l'inégalité parmi les hommes. In: Œuvres complètes. III: Du contrat social; écrits politiques, Paris 1964, 1 1 1 - 2 2 3 ; hier 123. Novalis: Schriften, hg. v. P. Kluckhohn/R. Samuel. Stuttgart 2 1 9 6 0 ff. Bd. 2, 3 2 I f (Vorarbeiten [Poësie] Nr. 31).
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cal Transactions" und vereinigte unter diesem Rubrum alles, was anderswo schon disziplinar verselbständigt war. „Philosophical" meinte — ebenso wie das französische „philosophique" - „wissenschaftlich". Erinnert sei überdies an den berühmten .Prospectus de l'Encyclopédie' Diderots von 1750. Philosophie umgreift hier „science de Dieu, science de l'homme et science de la nature". 25 Auch die Verschmelzung von Philosophie und Poesie besitzt Vorbilder im Zeitalter der Aufklärung. Das verbindende Element zwischen ihnen war — nochmals Diderot — die „imagination". In der Abhandlung ,De la poésie dramatique' (1758) erklärte der Dichter-Philosoph, die Imagination sei eine Qualität, ohne die man weder Poet noch Philosoph noch überhaupt ein Mensch sei. Die Grenze zwischen den Denkwelten und den Bildwelten verfließt. Als Philosoph gilt jemand, der die Phänomene in ihrem natürlichen Zusammenhang sieht, während der Poet sie aus verstreuten Teilen komponiert, wodurch er stärkere Empfindungen auslöst. Philosoph und Dichter treten ineinander, indem sie ihre geistigen Welten in unterschiedlichen Perspektiven schaffen; „c'est être philosophe ou poète, selon le but qu'on se propose". 26 Das romantische Wissen um die Ursprungseinheit von Philosophie, Kunst und Religion erscheint auf diesem Hintergrund als verwandelte Reprise von Ideenbeständen der „BellesLettres". Der Aufweis kultureller Kontinuitäten befestigt die Erkenntnis, daß die Romantik keine exterritoriale Erscheinung in der Kultur und Gesellschaft des 18./19. Jahrhunderts war. Die lange gepredigten Antithesen Romantik versus Aufklärung, Romantik versus Klassik, romantischer Quietismus versus Realismus waren größtenteils deutungspolitische Konstrukte. Sie hatten mit den kulturellen Gemengelagen des Zeitalters wenig zu tun. Nichtdeutsche Literaturgeschichten enthalten dafür beherzigenswerte Lektüreanweisungen. Im europäischen Ausland versteht man unter deutscher Romantik in erste Linie die Werke Goethes, Herders, Schillers und Lessings. Schillers Jungfrau von Orleans' trägt den Untertitel ,Eine romantische Tragödie'. Die eigentlichen Romantiker betrachtet man als esoterische Begleiterscheinung einer romantisierten Literatur des Sturms und Drangs. Bei der französischen Romantik wird von vornherein bestritten, daß sie sich aus der klassizistischen Entwicklung ausgliedern lasse. Ähnlich ist der Befund bei der englischen Romantik und den
Näheres bei Martin Fontius: Zur Entwicklung des „philosophie"-Begriffs in der französischen Frühaufklärung, in: M. Fontius/W. Schneiders (Hg.): Die Philosophie und die Belles-Lettres, Berlin 1997, 1 0 3 - 1 1 8 ; hier: 1 1 3 . Diderot: Œuvres esthétiques, édition de Paul Vernière. Paris 1 9 6 8 , 2 1 9 . Zit. nach Rolf Geißler: Diderot zwischen Philosophie und Belles-Lettres, in: Fontius/Schneiders [wie Anm. 25], 1 1 9 - 1 3 3 ; hier 1 3 1 .
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slawischen Romantiken. Die volksnahen Romantikkulturen des europäischen Ostens gelten als Teil von nationalkulturellen Entwicklungen, denen im Zuge des Werdens der modernen Nationen Aufgaben der Identitätspräsentation zufielen (Pflege der Volkskultur und der Nationalgeschichte). „ Qu'est-ce que le Romantisme?" fragt Henry M. Peyre. In seinen Augen sind die Romantiken nationalkulturelle Schöpfungen, eingewoben in die literarische, politische und wissenschaftliche Entwicklung ihrer Sprachterritorien. „Les événements politiques et sociaux, les aspirations des peuples, l'action de leurs gouvernements sur les sujets et citoyens variaient beaucoup de l'Angleterre de George III et de Pitt, de l'Allemagne et de l'Italie morcelée et pour un temps napoléonise à la France de Robesspierre et de l'Empire". 27 Die nationalkulturellen Chronologien und Topologien folgen, so die Konsequenz, differenten Schwerpunkten und gehorchen unterschiedlichen Rhythmen. Die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität der Romantik verändert sich dementsprechend. Notwendigerweise unterliegt im Kontext der nationalkulturellen Gemengelagen dann auch der Begriff „europäische Romantik" der kritischen Reflexion. Offenbar in Analogie zum Terminus „europäische Aufklärung" gebildet, soll er einen einheitlichen Grundzug der Romantik und einen Kontrast zum siècle des lumières suggerieren. Die Flächigkeit mancher Definitionen der „europäischen Romantik" macht allerdings stutzig. „They all see the implication of imagination, symbol, myth, and organic nature, and see it as a part of the greater endeavor to overcome the split between subject and object, the self and the world, the conscious and the unconscious." 28 Bis zu einem gewissen Grade ist Romantik in der deutschen Tradition das Konstrukt eines literaturgeschichtlichen Periodisierungszwanges in der Reihung Sturm und Drang - KlassikRomantik. Im Zuge tieferer Einsichten in die Zusammenhänge der soziokulturellen Entwicklung wären auch andere Leitbegriffe vorstellbar.
Henry M. Peyre: Qu'est-ce que le romantisme? Paris 1 9 7 1 , 4 1 . Eine demonstratio ad oculos für die nationalkulturelle Engfiihrung der Romantik bietet Dominique Rincé: La Poésie romantique. Textes, commentaires, et guides d'analyse, Éditions Fernand Nathan 1 9 8 3 . Rincé beschränkt die romantische Poesie auf französische Autoren und weist lediglich in einer Art von salvatorischer Klausel auf englische und deutsche Einflüsse hin: „Ce florilège d'idées et de thèses, d'ideologies et d'experience, venues aussi bien d'outre - Manche que d'outre Rhin, constitue un facteur décisif dans l'émergence de la poésie romantique française" (5). René Wellek: The Concept of Romanticism in Literary History, in: Comparative Literature 1 (1949) 128. Welleks Vorschlag zu einer Definition der Romantik auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner richtete sich gegen Arthur O. Lovejoys These, Romantik bezeichne alles und nichts. Vgl. zu diesem Streit Jean-Marie Schaeffer: La naissance de la littérature. La théorie esthétique du romantisme allemand, Paris 1983, 15f.
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4. Vermittlung und Versöhnung So sehr Romantik sich als kulturelle Sonderform darstellen mochte, deren Gestus die Loyalitätsaufkündigung war, ihr eigentlicher Antrieb lag anderswo. Die Attacken einiger (nicht aller) deutscher Frühromantiker gegen führende Repräsentanten des Zeitalters und die Stilisierung der Gegenwartskultur zum Verfallsprodukt folgen einer kulturintegrativen Vision. Die negative Charakteristik des Zeitalters ist Durchgangspunkt für eine neue Geschichte, welche die alte Geschichte in sich aufnimmt. Der Krisentopos war Propädeutikum. In dieser Gesinnung überzog der frühromantische Kreis die Kulturwelt mit seinen „Teufeleyen", also mit dem Geist der Kritik. Kritik galt als Vorarbeit für den Neuaufbau der Welt. Schleiermacher beschäftigte sich in seinen Fragmenten für das ^Athenaeum' mit der Dialektik von Duldung und Vernichtung. „Die Duldung hat keinen andern Gegenstand als das Vernichtende. Wer nichts vernichten will, bedarf gar nicht geduldet zu werden; wer alles vernichten will, soll nicht geduldet werden. In dem was zwischen beyden liegt, hat diese Gesinnung ihren ganz freyen Spielraum. Denn wenn man nicht intolerant seyn dürfte, wäre die Toleranz nichts". 29 Das Programm der Vermittlung bestand in der Auflösung scheinbarer oder tatsächlicher Antinomien. Blickt man auf die deutschen Frühromantiker und akzeptiert bei ihnen gewisse Rollenverteilungen, so stand August Wilhelm Schlegel für Philologie und Literaturkritik, Friedrich Schlegel für Dichtungstheorie und Philosophie, Ludwig Tieck für die romantische Erzählkunst und Schleiermacher für Moral und Theologie. Einen Sonderstatus in dem Geniekreis könnte man Novalis zusprechen, der sich quer durch mehrere Wissenschaften bewegte und zudem an dichterischer Kraft alle seine Freunde überragte. Demgemäß ließe sich eine Art von arbeitsteiliger Typologie des kulturellen Vermittlungsprogramms entwickeln, dessen Teilstücke einen lockeren, teils konkordanten, teils diskonkordanten Verbund erzeugten. Die Komplexität des Problems und des Textmaterials gestattet nur wenige Hinweise. August Wilhelm Schlegel entgrenzte den romantischen Stiltypus auf die Literatur der „neueuropäischen Völker". Dem romantischen Typus gehörten seinem Urteil zufolge Dante, Ariost, Tasso, Calderón, Shakespeare und weitere Autoren an. Aus der Tiefe der Antike holte er den klassischen Stiltypus heran, vermittelte ihn mit der klassizistischen Tradition der französischen Literatur und der vom Klassikideal geprägten deutschen Dichtung und diese wiederum mit der jüngsten Literaturproduktion. Diesem Konzept lag die Aufklärungs-
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Fragment Nr. 349; KGA 1/2, lOio-u.
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idee des Fortschritts zugrunde, die auch fur die Dichtungsgeschichte zu gelten hatte. Die historische Aufarbeitung der Dichtungsgeschichte in ästhetischer Absicht sollte der künftigen Kunst ihr Maß und ihre Form geben. Sein Bruder Friedrich zeigte sich zunächst als konservativer Graecomane. Er lobte in der griechischen Dichtung den „höchsten Gipfel der Idealität" und sah von dieser antiken Höhe nur noch eine stetig fallende Linie, die in der modernen Literatur eine Art von ästhetischem Nullpunkt erreichte. Das Individuelle spreizte sich, das Interessante gaukelte nichtvorhandene Tiefe vor, die Sucht nach dem „Neuen, Piquanten und Frappanten" überwog. 30 Da Friedrich Schlegel künstlerisch sensibel und historisch wie philosophisch umsichtig genug war, um nicht ein antikisierender Traditionsnarr zu werden, waren ihm die Aporien seiner Position sehr wohl bewußt. Denn natürlich hatte eine ins Transzendentalphilosophische gesteigerte Polarisierung zwischen dem Klassischen und dem Modernen vor dem Forum des historischen Denkens keinen Bestand, und natürlich war die nachantike Dichtung nicht summarisch vom Tisch zu wischen: nicht der auf der Folterbank der Zerrissenheit liegende ,Hamlet' des „Neudichters" Shakespeare, nicht der großartige Goethe, vor dem Schlegel in Haß und Liebe schwankte. Schlegel relativierte 1797 (.Vorrede') die Antinomien seines Studium-Aufsatzes (1795) und brachte sie in einer Perspektive der Vermittlung des Alten und Neuen zur Versöhnung. Er zeichnete in die moderne Dichtkunst den Aspekt einer unendlichen, auf ein (unerreichbares) Vollendungsideal zielenden Progression ein und gab dieser Perspektive einen Gegenhalt in der an der Antike genährten Idee der objektiven Poesie.31 Dichtung umfaßte das Ganze der Menschennatur. Insofern erfolgte in der dichtungsgeschichtlichen und -ästhetischen Vermittlungsfigur der Schlegelschen Poetik ein genereller kultur- und bildungsgeschichtlicher Akt der Versöhnung. Ahnlich besonnen zeigte Schlegel sich nach einigem Hin und Her in einer anderen Sphäre, der Religion. Im .Gespräch über die Poesie', entstanden von September 1799 bis Januar 1800, hatte er zunächst das Programm einer bildungsgeschichtlichen Gleichwertigkeit von griechischer Götterfrömmigkeit und christlichem Gottesglauben entwickelt. Die Vermittlung beider wollte er in einem Dritten leisten, gebildet durch die Allmacht der Poesie. Er spielte mit
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Friedrich Schlegel: Über das Studium der griechischen Poesie (1795); K A 1, 2 1 7 - 3 6 7 ; hier: 228. Friedrich Schlegel: Vorrede (1797); K A 1, 2 0 5 - 2 1 6 . Es war Peter Szondi, der auf die Überwindung des Klassizismus in der ,Vorrede' aufmerksam machte. Ihm folgte Claudia Brauers: Perspektiven des Unendlichen. Friedrich Schlegels ästhetische Vermittlungstheorie. Die freie Religion der Kunst und ihre Umformung in eine Traditionsgeschichte der Kirche, Berlin 1996, 74-82.
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der poetischen Inszenierung einer „neuen Mythologie". Sie müsse „aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden; es muß das künstlichste aller Kunstwerke seyn, denn es soll alle andern umfassen, ein neues Bette und Gefäß für den alten ewigen Urquell der Poesie und selbst das unendliche Gedicht, welches die Keime aller andern Gedichte verhüllt". 32 Auch hier siegte Schlegels Klugheit über sich selbst. Dem Projekt „neue Mythologie" haftete die Künstlichkeit eines bengalischen Feuers an. Es sank vor der Geschichte in sich zusammen. Schlegel erkannte alsbald an, daß die Mythologie der klassischen Antike ein religionsgeschichtliches Denkmal bleiben mußte. Was aus der religiösen Geschichte des Menschengeistes aufzubewahren war, hatte sich im Medium einer nachklassischen Gestalt der Religion, des Christentums, zu artikulieren. Was Schlegels „Ja" zum Christentum vermittlungskulturell bedeutete, wird an seiner Charakteristik des „Christianismus" deutlich, wie er ihn zeitweilig nannte. Das Christentum ist im Vergleich mit dem Ideal der sinnlich-geistigen Ursprungseinheit des vorchristlich-antiken Stadiums der Menschheitsgeschichte Ausdruck der Zerrissenheit, die Religion des Todes, ein religiöses principium der „Negativitaet". 33 An die Zerrissenheit, die nachantike Gestalt des Religiösen, knüpft sich jetzt die Hoffnung auf die Harmonie des Weltalls. Der iterative Charakter der romantischen Kultur- und Zivilisationskritik oder anders gesagt: die Hinabstoßung des gegenwärtigen Zeitalters durch Erinnerung an die Vergangenheit und den Vorausgriff in die Zukunft manifestiert sich auch bei Schleiermacher, insbesondere an seiner Handhabung der Antithetik Alter Aon — Neuer Aon. Der Alte Aon scheint verloren, reif zur Ausbrennung. Weiter scheint es, daß Schleiermacher in schroffer Schwarz-Weiß-Zeichnung arbeitet. Der Kontrastbegriff zur Ausbrennung ist „Palingenesie" (der Begriff wird in den Reden ,Uber die Religion' an zwei Stellen verwendet). 34 Tatsächlich senkte er in das Schema Ekpyrosis — Palingenesie bzw. Vernichtung — Wiedergeburt retardierende Elemente ein. Das antithetische Schema dient als Fundament für den Aufbau des neuen Äons, wird aber abgebremst und relativiert. Schleiermacher erzeugte durch die Ankündigung von Ende und Neubeginn 32
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Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie; KA 2, 284-338 (= Athenaeum III/l, 58128; hier 96). Novalis am 20. Januar 1799 an Friedrich Schlegel: „Deine Meynung von der Negativitaet der Xstlichen Religion ist vortrefflich das Xstenthum wird dadurch zum Rang der Grundlage — der projectirenden Kraft eines neuen Weltgebäudes, und Menschenthums erhoben" (Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe, hg. v. H.-J. M ä h l / R . Samuel, München 1978, 1, 684). [Friedrich Schleiermacher:] Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Berlin 1799, 162i5 („Palingenesie der Religion") und 30922f („Palingenesie des Christenthumes").
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eine endzeitliche Stimmung mit zukunftsgerichteter Umschwungstendenz. Indem er sowohl das Ende wie den Neubeginn prolongierte, entwand er sich der Antinomie von alter und neuer Welt. Krise und Heil werden zum Dauerzustand. Die Denkfigur der Ausbrennung enthüllt sich als dialektisches Spiel mit dem „Schon" und „Noch nicht" des Untergangs, die Denkfigur der Palingenesie als das „Schon" und „Noch nicht" des Aufgangs der neuen Welt: „neue Gottgesandte werden nöthig um mit erhöhter Kraft das Zurükgewichene an sich zu ziehn und das Verderbte zu reinigen mit himmlischem Feuer, und jede solche Epoche der Menschheit wird die Palingenesie des Christenthumes, und erwekt seinen Geist in einer neuen und schöneren Gestalt".35 Die romantischen Vermittlungen und Versöhnungen meinten nicht die Affirmation des herrschenden Kulturzustandes. Die Romantiker blieben Kinder der Krisis. Um zum Zeitalter „Ja" sagen zu können — ein strukturelles „Ja", das von seiner kulturkritischen Gebärde nichts preisgeben möchte — brauchen sie den utopischen Riickbezug in die Vergangenheit und den utopischen Vorausgriffin die Zukunft. Beides macht die Gegenwart möglich, weil notwendig. Krisendramatik und Utopie werden eingebunden in die Potenzen des Zeitalters. In diesem Licht ist das romantische Krisen- und Versöhnungsprogramm ein spezieller Modus der Moderierung von kulturellen Zuständen.
5. Progression Romantik ist das Protokoll einer Geschichte schmerzhafter und unaufhaltsamer Verluste. Naivität ist in Reflexionskultur verloren, Einheit in Fragmentierung, Religion in Zerrissenheit, Wissen in Eklektizismus, Poesie im nur Interessanten usf. In der romantischen Matrix wird die Verlustgeschichte umgeschrieben zur Geschichte einer neuen, unendlichen Welt der Liebe, des Geistes, der Schönheit. „Die Lieb ist frei gegeben, Und keine Trennung mehr. Es wogt das volle Leben Wie ein unendlich Meer". 36 Die Romantiker wären höchst unromantisch gewesen, hätten sie ihre Texte im sensus litteralis gemeint. Der „code romanique" funktioniert anders. Sein Gesetz ist die Progression. Das gilt nicht nur für die „progressive Universalpoesie" 35 36
AaO. 30922-23. Novalis, aaO. [wie Anm. 14] 51 (Hymnen an die Nacht).
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im berühmten Athenaeum-Fragment Nr. 116. Die Progression, das Hinausund Vorwärtstreibende ist das Signum des romantischen, und das heißt des neuzeitlich-modernen Kulturzustands schlechthin. Die Frühromantiker haben, weil Progression und nichts als Progression unerträglich anmutet, der Progression einen idealen Endpunkt zu setzen versucht, sei es im regulativen Postulat der objektiven Poesie, in der Metapher von der vollen Lebenswoge im unendlichen Meer, in der Vision jener religiösen Menschheitsrepublik, in der das Weltgeheimnis häuslich geworden ist, oder in der Sozialutopie der Erde als „Feenpallast".37 Sie haben den Progressionsideen des Zeitalters der Aufklärung romantische Lichter aufgesteckt, gleichzeitig aber viel mehr getan. Das unverkennbar romantische Ferment im Prozeß der Moderne war nicht die Krisenartikulation und nicht einmal die Versöhnung der Gegenwart mit der Vergangenheit und Zukunft. Es bestand im Wissen um das Ungewisse. Der Horizont ist offen, auch wenn noch so schöne Projektionen am Himmel erscheinen. Verdüstert ist der romantische Himmel nicht. „Zur Welt suchen wir den Entwurf ", notierte Novalis 1797/98 - ; „dieser Entwurf sind wir selbst Was sind wir? Personifizierte allmächtige Punkte. Die Ausführung, als Bild des Entwurfs, m u ß ihm aber auch in der Freiheit und Selbstbeziehung gleich sein — und umgekehrt. Das Leben des Geistes besteht also in Zeugung, Gebärung und Erziehung seinesgleichen".38
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Reden [wie Anm. 34] 231i4. Novalis, aaO. [wie Anm. 14] 383 (Fragmente und Studien 1797-1798).
Weltinterpretationen um 1800 VON JÜRGEN STOLZENBERG / H A L L E
An keiner Stelle seines Werkes hat Immanuel Kant die Stellung des Menschen in der Welt unter den Bedingungen neuzeitlicher Rationalität eindringlicher beschrieben als am Ende seiner zweiten kritischen Hauptschrift, der .Kritik der praktischen Vernunft'. 1 Dort entläßt Kant seinen Leser mit der berühmten Schilderung zweier Ansichten, unter denen der Mensch seine Stellung in der Welt zu verstehen hat. Angesichts des sich in unbegrenzte Weiten erstreckenden und in unendlicher Dauer bestehenden Weltalls muß der Mensch seine physische Existenz als eine bedeutungslose Episode eines Lebewesens ansehen, das „die Materie, daraus es ward, dem Planeten (einem bloßen Punkt im Weltall) wieder zurückgeben muß, nachdem es kurze Zeit (man weiß nicht wie) mit Lebenskraft versehen gewesen" ist. 2 Betrachtet der Mensch sich hingegen als moralisches Wesen, dann eröffnet ihm das Bewußtsein seiner moralischen Autonomie die Aussicht auf ein Dasein, das vom Gesetz der Kausalität in der Natur unabhängig ist und das nicht auf die Bedingungen und Grenzen seiner physischen Existenz eingeschränkt ist, sondern, wie Kant schreibt, „wahre Unendlichkeit hat, aber nur dem Verstände spürbar ist". 3 Die Suggestion, die von Kants Schilderung der conditio humana moderna ausgeht, läßt leicht übersehen, daß sie mit einer anderen Überlegung verbunden ist, aus der sie erst hinreichend verständlich wird. Obwohl beide Ansichten unmittelbar mit der Gewißheit verknüpft sind, die der Mensch von seiner Existenz als Person hat, stellen sie sich doch nicht gleichsam naturwüchsig ein. Sie verdanken sich vielmehr der Einsicht in den Stand der neuzeitlichen mathematischen Naturwissenschaften auf der einen, den Ergebnissen der in ihrem Geist unternommenen kritischen Philosophie auf der anderen Seite. Die experimentelle Untersuchung der Ereignisse in der Natur und die mathematische 1
Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, in: Kants gesammelte Schriften. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (begonnen), Berlin 1900ff. Im Folgenden zitiert unter der Abkürzung AA mit Angabe der Band- und Seitenzahl.
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Darstellung ihrer Gesetze - „der Fall eines Steins, die Bewegung einer Schleuder, in ihre Elemente und dabei sich äußernde Kräfte aufgelöst und mathematisch bearbeitet, brachte zuletzt", so fuhrt Kant aus, „diejenige klare und für alle Zukunft unveränderliche Einsicht in den Weltbau hervor, die bei fortgehender Beobachtung hoffen kann, sich immer nur zu erweitern, niemals aber zurückgehen zu müssen fürchten darf". 4 So ist es die neuzeitliche Astronomie, die den periodischen Lauf der Gestirne berechnet und das nach Gesetzen der Optik konstruierte Fernrohr, das die Kunde von fernen und zahllosen Welten bringt, unter denen die Erde wie ein Punkt und unser Leben wie ein rasch vergehender Hauch erscheint. Es ist bekannt, daß Kant sein eigenes kritisches Unternehmen und die mit ihm eingeleitete „Revolution der Denkart" in Analogie zur experimentellen Methode der neuzeitlichen Naturwissenschaften verstanden hat. Mit Bezug auf die Analyse des moralischen Bewußtseins verweist Kant im vorliegenden Zusammenhang auf das der Chemie ähnliche Verfahren der Scheidung von Stoffen, das „in wiederholten Versuchen am gemeinen Menschenverstände" 5 zur Trennung der empirischen und rein rationalen Elemente führt, aus der sich auch die Berechtigung der Rede von einer Welt, die wahre Unendlichkeit hat, ergibt. Ein moralisch guter Wille nämlich ist ein Wille, der nicht durch empirische Prinzipien, sondern durch die bloße Form einer allgemeinen Gesetzlichkeit bestimmt wird. Ein solcher Wille läßt reine Vernunft praktisch werden und kann daher als Prinzip einer übersinnlichen Welt gedacht werden, die als solche nicht bloß komparative, sondern in der Tat wahre Unendlichkeit hat. Kants Überlegungen am ,Beschluß' der ,Kritik der praktischen Vernunft' sind nicht nur geeignet, den Blick auf die theoretischen Grundlagen, aus denen die Neuzeit ihre Legitimität geschöpft hat, zurückzulenken und auf die Bedeutung aufmerksam zu machen, die Kant seiner kritischen Philosophie für ein vernunftgeleitetes Leben, das sich seiner kosmischen Sonderstellung bewußt ist, zugesprochen hat. Sie stellen auch den Ausgangspunkt für eine systematisch orientierte Verständigung über den Gang der theoretischen Reflexion nach Kant dar, der, mit Fichtes Wissenschaftslehre von 1794 anhebend, in den Jahren um 1800 einen ersten Höhepunkt erreicht. Das, was der theoretischen Reflexion um 1800 ihr eigentümliches Gepräge gibt und was, wie sich zeigen wird, ihre relative Homogenität ausmacht, ist der Versuch, im Ausgang von unabweisbaren und unhintergehbaren Phänomenen subjektiven Lebens, zu denen insbesondere das Bewußtsein moralischer Autonomie zählt, zu einer Verständigung über das Ganze der Welt und der Stellung des Menschen in ihr zu gelan4
A A V , 163.
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gen, die sich nicht mehr in jener Doppelung der Standpunkte der Reflexion hält, die für Kants Denken leitend ist. Eine der Grundüberzeugungen, welche der theoretischen Reflexion um 1800 zugrunde liegt, ist es daher, daß eine integrative Welt- und Selbstdeutung nicht im Rekurs auf die von allen subjektiven Bezügen absehende mathematisch-naturwissenschaftliche Erkenntnis gewonnen werden kann. Als Ausdruck dieser Uberzeugung kann die Frage aus dem .Ältesten Systemprogramm des Deutschen Idealismus' gelten: „Wie muß eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?", 6 die nicht zufällig im Kontext des Programms einer Reform der neuzeitlichen Physik aufgebracht wird. Damit einher geht eine kritische Reflexion auf die logische Form deskriptiver Grundbegriffe, mit denen die Grundstrukturen der Welt zu beschreiben sind sowie der Begründungsformen, unter denen der Anspruch dieser Beschreibungen auf objektive Gültigkeit gerechtfertigt werden kann. Damit stellt sich die theoretische Reflexion um 1800 als eine erneute Reflexion auf die Quellen, den Umfang und die Reichweite des neuzeitlichen Prinzips der Rationalität dar. Die Phänomene, in deren Namen eine solche neue, integrative Selbst- und Weltdeutung unternommen wird, sind neben dem moralischen das religiöse und das ästhetische Bewußtsein bzw. das, was in der Form eines symbolischen Ausdrucks im Kunstwerk zur Darstellung gebracht wird. Für die diesbezüglichen Reflexionen stehen die Namen Hegels, Fichtes, Schleiermachers, Schlegels und Schellings. Der Frage, welche Argumentationsformen in der theoretischen Konstellation um 1800 leitend sind, welche kritischen Implikationen darin enthalten sind und welche Folgerungen sich daraus für die Rationalitätsstrukturen der neuzeitlichen philosophischen Theoriebildung ergeben, soll im Folgenden ein Stück weit nachgegangen werden. In dieser Absicht soll zunächst die Position Hegels um 1800, genauer seine Theorie des religiösen Bewußtseins im ,Systemfragment von 1800', vorgestellt und kommentiert werden.
I. Erhebung des endlichen zum unendlichen Leben — Hegels Theorie des religiösen Bewußtseins im ,Systemfragment von 1800' Hegel hat seine Theorie des religiösen Bewußtseins im sog. ,Systemfragment von 1800' im Kontext einer allgemeinen Theorie des Lebens entworfen. 7 Die Chr. J a m m e / H . Schneider (Hg.): Mythologie der Vernunft. Hegels .ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus', Frankfurt am Main 1984, 11 f. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Systemfragment von 1800. 1. in: Hegels theologische Jugendschriften, hg. v. H. Nohl, Tübingen 1907, unveränderter Nachdruck 1966, 345-351. 2. in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden, hg.
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Grundverfassung von Leben versteht Hegel nach dem Modell eines allgemeinen lebendigen Organismus, dessen formale Strukturbedingungen anhand des Verhältnisses von Teil und Ganzem zu bestimmen sind. Dieses Verhältnis besteht kurz gefaßt darin, daß die Teile das Ganze in einem Prozeß hervorbringen, von dem sie nicht zu trennen sind, insofern sie sich selber eben dadurch hervorbringen, daß sie das Ganze hervorbringen. So sind die Teile eines lebendigen Organismus ihrerseits als organisierte Individualitäten anzusehen, die nicht nur an ihnen selber jeweils das Ganze repräsentieren, sondern auch in ihren wechselseitigen Beziehungen untereinander nur das Ganze ausmachen. 8 Das theoretische Problem, auf das Hegel in der Folge aufmerksam macht, ergibt sich aus der Art und Weise, wie der Gesamtzusammenhang von Teil und Ganzem, Individuum und Leben, angemessen verstanden und konzeptualisiert werden kann. 9 Zwei Möglichkeiten bieten sich an. Die erste besteht darin, das eine und „ungeteilte Leben" zum Prinzip der Reflexion zu machen. Dann ist die Beziehung dieses Lebens zu den endlichen lebendigen Wesen als die Weise zu denken, in der es sich auf unendliche, je verschiedene Weise konkretisiert und darstellt. Geht die Reflexion hingegen von den einzelnen lebendigen Wesen aus und sucht von ihnen aus einen Begriff vom Gesamtzusammenhang des Lebens zu konstruieren, dann stellt dieser sich als eine unendliche Vielfalt je für sich bestehender, als solcher aber auch aufeinander bezogener Individuen dar. Die hierbei in Anwendung gebrachten Reflexionsbegriffe der Einheit und Vielheit lassen das Leben somit einmal als eine unendliche Vielheit von Individuen erscheinen, während es sich unter dem Begriff der Einheit als „ein einziges organisiertes getrenntes und vereinigtes Ganzes" darstellt. 10 v. E. Moldenhauer/Κ. M . Michel, Frankfurt am Main 1971, Bd. 1: Frühe Schriften, 419-427. Hegels Werke werden im Folgenden unter der Abkürzung: Hegel, Werke, mit Angabe der Band- und Seitenzahl zitiert. Zu Hegels Theorie des religiösen Bewußtseins im ,Systemfragment von 1800' vgl. Manfred Baum: Die Entstehung der Hegeischen Dialektik, Bonn 1986 (im Folgenden zitiert als Baum, Dialektik, mit Angabe der Seitenzahl). Vgl. auch: Shen Zhang: Hegels Übergang zum System. Untersuchungen zum sog. „Systemfragment", Bonn 1990. Z u m Denken des jungen Hegel vgl. neuerdings den Sammelband von M. Bondeli/H. Linneweber-Lammerskitten (Hg.): Hegels Denkentwicklung in der Berner und Frankfurter Zeit, München 1999. Die folgenden Überlegungen schließen in Teilen an die Untersuchung des Vf.: Subjektivität und Leben. Z u m Verhältnis von Philosophie, Religion und Ästhetik um 1800, in: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. I: um 1800, hg. v. W. Braungart/G. F u c h s / M . Koch, Paderborn u. a. 1997 an. 8
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Vgl. hierzu Hegels Erklärung: „Nur von Objekten, von Totem gilt es, daß das Ganze ein anderes ist als die Teile, im Lebendigen hingegen [ist] der Teil desselben ebensowohl und dasselbe Eins als das Ganze" (Hegel, Werke 1, 376). Zum Folgenden vgl. Hegel, Werke 1, 420f. Hegel, Werke 1, 420.
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Diese Art der Beschreibung des Lebens definiert den Begriff dessen, was Hegel „Natur" nennt." Der Begriff der Natur erscheint somit als Resultat eines theoretischen Konstrukts, das sich aus den skizzierten verschiedenen Hinsichten und der Anwendung der Reflexionsbegriffe wie Einheit und Vielheit, Vereinigung und Trennung, des Teils und des Ganzen sowie des Einzelnen und Allgemeinen ergibt. Versucht man nun, den im Begriff des Lebens enthaltenen organologischen Einheitssinn unter Anwendung des von der Reflexion konstruktiv erzeugten Begriffs der Natur auszudrücken, dann kann dies nur so geschehen, daß man mit Bezug auf dieses Leben sowohl von der Vereinigung als auch von der Trennung des Endlichen und Unendlichen bzw. von einer „Verbindung der Verbindung und NichtVerbindung" spricht. 12 D a der erste Begriff der Verbindung seinerseits mit seinem Gegenbegriff der NichtVerbindung verbunden werden müßte, läßt sich einer unendlichen Iteration nur dadurch entgehen, daß der Gesamtzusammenhang des Lebens außerhalb des Bereichs der Anwendung jener Reflexionsbegriffe gesetzt und damit als ein „Sein außer der Reflexion" 13 gefaßt wird. Dieses Sein bezeichnet Hegel als das „wahre Unendliche". 14 Das entscheidende konzeptuelle Problem ergibt sich für Hegel aber erst aus der folgenden Überlegung. Sie wendet sich dem Selbstverständnis des auf diese Weise reflektierenden Subjekts zu. Von ihm muß nämlich gesagt werden, daß es sich selber als ein individuelles organisiertes Wesen und damit zugleich als Element des einen unendlichen Lebens versteht. Als theoretisch betrachtendes Subjekt vermag es sich auf diese Weise jedoch nicht zu verstehen, wie die vorige Überlegung zeigt. So nimmt das Subjekt im Zuge seiner theoretischen Betrachtung die Diskrepanz wahr, die zwischen ihm als einem Wesen besteht, das über jene deskriptiven Begriffe verfügt, unter denen es das Leben als einen allgemeinen organologischen Einheitszusammenhang zu beschreiben sucht, und ihm als einem Wesen, das sich dem so gefaßten Leben zugehörig weiß, ohne diesen Zusammenhang und seine eigene Stellung in ihm angemessen konzeptualisieren zu können. Genau darin, in der Einsicht in die Unmöglichkeit, als theoretisch betrachtendes Subjekt zu einem konsistenten Verständnis seiner selbst und seiner Stellung im Ganzen des Lebens zu kommen, liegt das Problem. Ein konsistentes Selbstverständnis ist dem Subjekt in der Sicht Hegels nur so möglich, daß es den in theoretischer Einstellung konstruktiv erzeugten Be11
12 13 14
Ebd. Es ist zu vermuten, daß Hegel mit dieser Erklärung der Natur als Resultat einer Konstruktion des Verstandes Fichte im Blick hat. Vgl. hierzu die erhellenden Ausführungen von Baum, Dialektik 46, Anm. 8. Hegel, Werke 1, 422. Ebd. Hegel, Werke 1, 423.
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griff der Natur zwar nicht preisgibt, den mit ihm verbundenen Totalitätsanspruch aber dadurch relativiert, daß es das Moment des Lebendigen aus ihm gleichsam ,heraushebt'15 und auf diese Weise der Natur die Vorstellung eines, wie Hegel sich ausdrückt, „allebendigen, allkräftigen unendlichen Lebens" entgegensetzt und dieses Leben „Gott" nennt. 16 Diesen Akt beschreibt Hegel als Erhebung des Menschen vom endlichen zum unendlichen Leben. Er ist der Ursprung von Religion. Dieser Akt erscheint somit als Folge der Reflexion des Subjekts auf seine Endlichkeit, unter der ihm der Bezug auf den umfassenden unendlichen Lebenszusammenhang problematisch geworden ist. Weil es sich selber als endliches, beschränktes Wesen versteht - so kann nunmehr der Akt, durch den sich das religiöse Bewußtseins konstituiert, präzisiert werden —, setzt es das Ganze des unendlichen Lebens außer sich; weil es sich selber aber ebenso als ein unendliches Leben versteht, setzt es in dieser Hinsicht zugleich sich selbst außer sich.17 Auf diese Weise erhebt es sich als endliches Wesen zu jenem unendlichen Leben, darin vermag es sich selber in ihm zu finden und „aufs innigste sich mit ihm [zu] vereinigten]" - und darin „betet [es] Gott an". 18 Will man diese .Deduktion' des religiösen Bewußtseins hinsichtlich ihres theoretischen Status genauer charakterisieren, dann wäre sie wohl am ehesten als die Begründung eines Aktes der Selbstdeutung des Subjekts anzusehen. Denn im Modus des religiösen Bewußtseins ist es dem Subjekt allererst möglich, sich in seiner Gesamtverfassung, und das heißt, sowohl als endliches Wesen als auch als Element jenes universalen Lebenszusammenhangs angemessen zu verstehen. So ist es nicht so sehr, wie es zunächst scheinen mochte, ein begriffslogisches Argument, mit dem die Unangemessenheit der Reflexionsbegriffe mit Bezug auf den organologischen Einheitssinn des Lebens bewiesen werden soll, sondern ein auf der Basis einer Theorie des Lebens entfaltetes .hermeneutisch' zu nennendes Argument, das aus dem Bestreben der Verständigung des Subjekts über sich selbst als eines individuellen endlichen lebendigen Wesens entfaltet wird, mit dem Hegel die Überlegenheit des religiösen Bewußtseins gegenüber dem theoretischen Diskurs hinsichtlich der Repräsentation des Gesamtzusammenhangs des Lebens demonstriert. Mit diesem Akt der Selbstdeutung, so ließe sich nun in Erinnerung an die eingangs zitierte Kantische Wendung sagen,
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Vgl. Hegel, Werke 1, 421. Ebd. Vgl. ebd. Hegel, Werke 1, 422. Daraus ergibt sich für den Hegel des .Systemfragments von 1800' die Konklusion: „Die Philosophie muß eben darum mit der Religion aufhören" (Hegel, Werke 1, 422f.).
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eröffnet sich dem Subjekt des religiösen Bewußtseins vom Standpunkt seiner Endlichkeit aus eine Welt, die wahre Unendlichkeit hat und von der auch gilt, daß sie dem Verstände nicht erreichbar ist, von der jedoch, gegen Kants Konzept des moralischen Bewußtseins gewendet, gilt, daß das Subjekt des religiösen Bewußtseins sich mit dieser Welt vereinigt weiß. Diese Assoziation an die Kantische Theorie des moralischen Bewußtseins legt Hegel selber nahe. Denn Hegels Theorie des religiösen Bewußtseins im ,Systemfragment von 1800' ist das letzte Kapitel seiner Kant-Kritik der Frankfurter Zeit, die sich zunächst im Namen der Liebe, sodann des hier skizzierten religiösen Bewußtseins gegen Kants Theorie des moralischen Bewußtseins und die perennierende Entgegensetzung des moralischen Subjekts und der Welt der Erfahrung sowie den Antagonismus von Pflicht und Neigung wendet. 19 Hegels Theorie des religiösen Bewußtseins provoziert aber noch eine andere Assoziation. Am Ende seiner Überlegungen 20 zitiert Hegel, wenngleich auf indirekte Weise, so doch mit unverhohlenem Spott, Passagen aus Fichtes Appellationsschrift', in denen Fichte in offenkundigem Anschluß an die eingangs zitierten Formulierungen Kants aus dem ,Beschluß' der,Kritik der praktischen Vernunft' die Überlegenheit und Unabhängigkeit des moralischen Bewußtseins gegenüber der Sphäre der endlichen und vergänglichen Natur rühmt. Dem moralischen Bewußtsein geht nämlich auf, so führt Fichte in der »Appellationsschrift', Kants rhetorische Stilhöhe noch einmal überbietend, aus: „daß dieser Erdball mit allen den Herrlichkeiten, [...] daß diese Sonne, und die tausendmaltausend Sonnen, die sie umgeben, daß alle die Erden, die ihr um jede der tausendmaltausend Sonnen ahnet, und die in keine Zahl zu fassenden Gegenstände alle, die ihr auf jedem dieser Weltkörper ahnet, [...] daß dieses ganze unermeßliche All, vor dessen bloßem Gedanken eure sinnliche Seele bebt, und in ihren Grundfesten erzittert - daß es nichts ist, als in sterblichen Augen ein matter Abglanz eures eigenen, in euch verschlossenen und in alle Ewigkeiten hinaus zu entwickelnden ewigen Daseins". 21
In Fichtes Apotheose des moralischen Bewußtseins und dessen Dasein in einer Welt, die, wie die Kantische,,wahre Unendlichkeit' hat, vermag Hegel nur die äußerste Verirrung in die „höchste Subjektivität", 22 „ein Schweben des Ich über
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Zu Hegels früher Kant-Kritik vgl. Andreas Wildt: Autonomie und Anerkennung. Hegels Moralitätskritik im Lichte seiner Fichte-Rezeption, Stuttgart 1982 sowie Martin Bondeli: Der Kantianismus des jungen Hegel, Hamburg 1997. Vgl. Hegel, Werke 1,426. Fichtes Werke, hg. v. I. H. Fichte, Berlin 1971. Im Folgenden zitiert unter der Abkürzung Fichte, Werke, mit Angabe der Band- und Seitenzahl; hier: V, 236. Hegel, Werke 1, 241.
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aller Natur" und damit das extreme Gegenteil zu jener „schönen Vereinigung" 23 von Endlichem und Unendlichem zu sehen, die für Hegel im religiösen Bewußtsein erreicht ist. Hegels Fichte-Kritik, die offensichtlich ebenso gegen Kant gerichtet ist, fordert indessen zu einer genaueren Untersuchung auf, und dies aus folgendem Grund: Die von Hegel zitierten Passagen der Fichteschen »Appellationsschrift' stimmen der Sache nach mit der von Fichte am Ende der .Bestimmung des Menschen' von 1800 entworfenen Interpretation des moralischen Bewußtseins überein. 24 Dort aber ist Fichtes Absicht unverkennbar, den Gedanken der moralischen Autonomie mit derjenigen lebensphilosophisch begründeten Theorie des religiösen Bewußtseins in Einklang zu bringen, die Hegel offensichtlich gegen Fichte und Kant zu behaupten sucht. So verwendet Fichte ebenfalls den Begriff eines ursprünglichen Lebens, den er wie Hegel als Einheit von „Kraft und Tat" versteht und schließlich mit dem Begriff Gottes identifiziert. 25 Weiter beschreibt Fichte den Zusammenhang des individuellen Bewußtseins mit dem Ganzen des Lebens ähnlich wie Hegel als eine allseitig wahrnehmbare Verwandtschaft mit dem Bewußtsein eigenen Lebens. Und die Konzeption einer monistischen Lebensphilosophie, die Hegel im ,Systemfragment' und anderen Texten der Frankfurter Zeit vertritt, findet sich bei Fichte in dem Bild des „einen zusammenhängenden Stroms" 26 zusammengefaßt, in dem das Leben sich in allen seinen besonderen Gestalten als eine und dieselbe Kraft zu erkennen gibt. Und schließlich begreift Fichte wie Hegel das intersubjektive Verhältnis als eine Form der Darstellung des Lebens unter dem Begriff der Liebe. 27 Keine unendliche Trennung von Ich und Welt also, wie Hegel es sieht, sondern dieselbe „schöne Vereinigung", die Hegel für das religiöse Bewußtsein reklamiert, und die Fichte seinerseits als „das Reich der wahren Schönheit" rühmt, in das nur „das religiöse Auge" dringt. 28
23 24
Hegel, Werke 1, 4 2 7 (Hvh. i. Orig.). Vgl. J. G. Fichte: Die Bestimmung des Menschen, in: Fichte, Werke II, 165ff, hier:
315ff. 25 26 27
28
Vgl. ebd. Fichte, W e r k e i l , 3 1 6 . „Der Einzelne [findet] sich selbst, und versteht und liebt sich selbst nur in einem anderen" (Ebd.). Fichte, Werke II, 3 1 5 . A u f den Zusammenhang der Konzepte moralischer Autonomie und Vereinigung bei Hegel und Fichte hat Ludwig Siep aufmerksam gemacht. Vgl. hierzu ders.: Autonomie und Vereinigung. Hegels und Fichtes Religionsphilosophie bis 1800, in: Der W e g zum System. Materialien zum jungen Hegel. Hg. v. Chr. Jamme/ H. Schneider, Frankfurt am Main 1990. 2 8 9 - 3 0 2 .
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Wie ist diese scheinbar paradoxe und irritierende Situation zu verstehen und wie ist sie zu beurteilen? Die Antwort ergibt sich aus Fichtes Theorie des moralischen Bewußtseins in der ,Bestimmung des Menschen' aus dem Jahre 1800.
II. Reiner Wille — Fichtes Theorie des moralischen Bewußtseins in der .Bestimmung des Menschen' Das Bewußtsein, zu einer sittlichen Handlung auf unbedingte Weise verpflichtet zu sein, stellt sich fur Fichte als Gefühl, präziser als Gefühl des Gewissens, dar. 29 Der rationale Gehalt dieses Gefühls besteht Fichte zufolge darin, daß in ihm ein unbedingtes Sollen erfahren wird. Dieses Sollen verweist in der Sicht Fichtes auf einen Willen, der den gebotenen Zweck auf eine unbedingte Weise zu realisieren strebt. Im Gefühl des Gewissens, so läßt sich daher sagen, kündigt sich auf eine je individuell bestimmte Weise ein reines, unbedingtes und nur durch sich selbst bestimmtes Wollen an. Daher läßt sich in der Sicht Fichtes von einem „erhabenen Willen" sprechen, der das „Gesetz der übersinnlichen Welt" 30 darstellt; und es wird dann auch verständlich, daß Fichte diesen unbedingt wirkenden Willen, der, wie es heißt, „absolut durch sich selbst zugleich Tat ist und Produkt, dessen Wollen Geschehen, dessen Gebieten Hinstellen ist", als „göttlichen Willen" 31 bezeichnet. Damit sind bereits die wichtigsten Momente versammelt, die Fichte als Interpretamente der soeben skizzierten lebensphilosophischen Konzeption verwendet. So findet der Begriff des Lebens seine Interpretation in dem Konzept jenes überindividuellen, sich selbst bestimmenden Willens, unter dem Fichte nun ein universales Prinzip begreift, das sich in allen besonderen Gestalten organisierten Lebens darstellt. Daraus ergibt sich der Gedanke einer allseitigen Verwandtschaft dieses Willens mit dem Bewußtsein je eigenen Lebens und Tätigseins. Eine weitere, für den vorliegenden Zusammenhang entscheidende Gemeinsamkeit betrifft die Weise des epistemischen Zugangs zur Dimension eines reinen Willens. Da das Subjekt sich Fichte zufolge nur in der Weise eines unmittelbaren Gefühls des Gewissens von der Wirklichkeit jenes reinen und unbedingten Willens zu überzeugen vermag, ist das Verhältnis des individuellen Bewußtseins zu ihm durch einen rational nicht zu überwindenden Hiat
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Z u m Folgenden vgl. Fichte, Werke II, 249ff. Fichte, Werke II, 302. Fichte, Werke II, 297.
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charakterisiert. So läßt sich auch in diesem theoretischen Kontext von einer Erhebung des endlichen zum unendlichen Leben sprechen, das dem diskursiven Verstand nicht zugänglich ist und in der dem Subjekt sich im Modus des Gefühls des Gewissens die letzte Dimension seines Selbst- und Weltverständnisses erschließt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob Hegels Fichte-Kritik in Wahrheit nur der Ausdruck eines Mißverständnisses ist, zu dem Fichtes Darstellungsweise in der Appellationsschrift' den Anlaß gegeben hätte. Stimmen beide Konzeptionen am Ende überein? Die hier zu gebende Antwort fällt differenziert aus. Beide Konzeptionen stimmen insofern überein, als sie auf einen gemeinsamen theoretischen Bezugsrahmen verweisen. Er wird durch Jacobis und Herders Leibniz- und SpinozaDeutung gebildet. 32 So hatte Jacobi in seinem ,David Hume' 33 eine sich auf Leibniz berufende Philosophie des Lebens vorgetragen, derzufolge jedes Ding als ein lebendiges organisches Wesen gedacht werden muß und nach der auch die menschliche Seele und das Bewußtsein nur eine „gewisse bestimmte Form des Lebens"34 sind. Das Verhältnis lebendiger Wesen zueinander hatte Jacobi sodann kosmologisch als ein Verhältnis des Lebens zu sich selbst unter dem Begriff der Liebe gedacht. 35 Herder seinerseits hatte in seiner Schrift ,Gott' von 1787 36 den Begriff Gottes als höchste, unendlich wirkende Kraft gedacht, als deren Ausdruck die individuellen Organisationen der Natur und deren Kräfte zu verstehen sind. 37 Diesem Kontext, dem Hegels Theorie des Lebens offenbar verpflichtet ist, sucht sich allem Anschein nach auch Fichte mit seiner Theorie des moralischen Bewußtseins zuzuordnen. Diese Zuordnung wird aber erst dann einsichtig, wenn man das Fichtesche Konzept von einem unendlichen Willen an den Ausgangspunkt der Überlegungen in der,Bestimmung des Menschen', die Reflexion auf das unmittelbare
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34 35 36
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Vgl. hierzu näher Baum, Dialektik, 47f. Friedrich Heinrich Jacobi: David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch, in: Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Hg. v. F. Roth/Fr. Koppen, Leipzig 1 8 1 2 - 1 8 2 5 , Bd. 2, 3-288. Im Folgenden zitiert unter der Abkürzung Jacobi, Hume, mit Angabe der Seitenzahl. Jacobi, Hume, 2 5 8 . Jacobi, Hume, 2 7 2 . Johann Gottfried Herder: Gott. Einige Gespräche, in: Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden. Hg. v. M. Bollacher u. a., Frankfurt am Main 1985ff, Bd. 4; vgl. 7 5 8 f , 773, 791 f. Vgl. hierzu näher Hermann Timm: Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit. Band 1: Die Spinozarenaissance, Frankfurt am Main 1974, 320ff.
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Gefühl des Gewissens und eines darin sich bekundenden unbedingten Willens, zurückbindet. Da dieser Wille sich im Gefühl des Gewissens in einer von allen zufälligen subjektiven Bedingungen freien Weise darstellt, kann gesagt werden, daß er etwas Wirkliches ist, das sich auf unbedingte Weise im Bewußtsein ankündigt. Daraus folgt jedoch nicht, daß er auch unabhängig von der Tatsache des unmittelbaren Gefühls des Gewissens als ein für sich bestehender Gegenstand gegeben und zugänglich wäre. Was folgt, ist, daß das Bewußtsein von der Wirklichkeit dieses Willens sich allein der unmittelbaren Gewißheit des unbedingten Sollens in der Form des Gefühls des Gewissens verdankt. Nur aufgrund dieser Gewißheit, in der jener Wille als etwas von einer bloß subjektiven Beziehung auf ihn Unterschiedenes und Unabhängiges aufgefaßt wird, kann von der Wirklichkeit eines reinen Willens die Rede sein.38 Von hier aus läßt sich nun auch der zitierten Passage aus der Appellationsschrift' und ihrer Nähe zur Kantischen Überlegung im .Beschluß' der .Kritik der praktischen Vernunft' ein konsistenter Sinn geben. In ihr, so läßt sich nun sagen, nimmt Fichte auf den von Kant namhaft gemachten Unterschied zweier Standpunkte oder Betrachtungsweisen der Welt Bezug. Diese Standpunkte lassen sich als der natürliche und der moralische Standpunkt unterscheiden. Während der natürliche Standpunkt die Welt nur als eine endliche, nach kausalmechanischen Gesetzen objektiv erkennbare Sphäre betrachtet, zeigt sich unter dem moralischen Standpunkt die Welt als ein universaler Sinnzusammenhang, in dem Teil und Ganzes wechselseitig Ursache und Wirkung voneinander sind, dem sich das moralisch handelnde Wesen zugehörig weiß und aus dem es sich selber, seine Stellung und seine Aufgabe in der Welt versteht. Daher ist das Fichtesche moralische Selbstbewußtsein nicht, wie Hegel es sieht, als unendliche Trennung von der Welt, sondern nur als eine von einem moralischen Standpunkt aus betrachtete, zum natürlichen Standpunkt alternative Selbst- und Weltinterpretation zu verstehen. Die Überlegenheit dieser Weltinterpretation gegenüber dem natürlichen Standpunkt besteht für Fichte darin, daß nur auf diese Weise das primäre Selbstverständnis des Subjekts als eines frei handelnden Wesens seinen angemessenen Ausdruck finden kann. Die Differenz dieser Standpunkte ist das Thema von Fichtes Appellationsschrift'. Mit Bezug auf ihre Darstellung gilt allerdings, daß sie den moralischen Standpunkt auf das sittliche Selbstbewußtsein einschränkt und nicht jene umfassende moralische Weltordnung zum Thema macht, wie es in der ,Bestimmung des Menschen' der Fall ist. Dies dürfte einer der Gründe dafür sein, daß Hegel Fichtes DarstelZur systematischen Bedeutung von Fichtes Konzept eines reinen Willens vgl. v. Vf.: Reiner Wille. Ein Grundbegriff der Philosophie Fichtes, in: Revue Internationale de Philosophie 4 (1998) 617-639.
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lung in der .Appellationsschrift' als Ausdruck der ins Extrem gesteigerten Trennung von Ich und Welt ansehen und mißverstehen konnte. Hat man sich über die hier vorliegenden theoretischen Konstellationen verständigt, dann lassen sich auch die argumentationstypologischen Ubereinstimmungen zwischen Hegels Theorie des religiösen Bewußtseins und Fichtes Theorie des moralischen Bewußtseins in den Blick bringen. Denn wie Hegels Annahme der Dimension des unendlichen Lebens und des Zugangs zu ihr im Modus des Glaubens, so wird auch Fichtes Überzeugung von der Wirklichkeit eines reinen und unbedingt wirkenden Willens als Folge eines Aktes der Selbstdeutung des endlichen Subjekts begründet, das sich einem unendlichen Lebenszusammenhang zugehörig weiß, das diesem Selbstverständnis aber nur dadurch einen konsistenten Ausdruck zu geben vermag, daß es, wie im Falle Hegels, das unendliche Leben außer sich setzt und zu ihm sich im Modus des Glaubens erhebt bzw., wie in der Konzeption Fichtes, in der Vermittlung über das Gefühl des Gewissens sich auf die Instanz eines reinen Willens bezieht. Daß der darin implizierte Gesamtzusammenhang des Lebens nur im und durch den Akt der Selbstdeutung des endlichen Subjekts greifbar und verfügbar wird und allein daraus den Status von etwas Wirklichem erhält, das ist die Form der Rationalität, die Fichtes und Hegels Theorien des moralischen und des religiösen Bewußtseins zugrundeliegt. „Religion ist [eine] Erhebung des Endlichen zum Unendlichen als einem gesetzten Leben",39 so faßt Hegel seine Theorie des religiösen Bewußtseins zusammen. Dies gilt auch für Fichte und seine Theorie des moralischen Bewußtseins. 40 Dieser Argumentationstyp gilt auch, wie nun zu zeigen ist, für Schleiermachers Theorie des religiösen Bewußtseins in den Reden ,Über die Religion' von 1799. III. Anschauen des Universums - Schleiermachers Theorie des religiösen Bewußtseins in den Reden ,Uber die Religion' „In der Religion wird das Universum angeschaut, es wird gesetzt als ursprünglich handelnd auf den Menschen", so heißt es am Ende der Zweiten Rede. 41 39 40
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Hegel, Werke 1, 4 2 6 (Hhg.v.Vf.). Dem entspricht Fichtes Erklärung der Einheit von Moralität und Religion: „Moralität und Religion sind absolut Eins; beides ein Ergreifen des Ubersinnlichen, das erste durch Tun [sc. dem das „Gefühl des Gewissens" zugrundeliegt], das zweite durch Glauben" (Fichte, Werke V, 209). Fr. Schleiermacher: Uber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, in: KGA 1/2, 185ff., hier: 245 (Hhg.v.Vf.). Im Folgenden zitiert unter der Abkürzung Reden, mit Angabe der Seitenzahl.
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Diese Erklärung darf als Interpretation der bekannten zentralen Erklärung am Anfang derselben Rede gelten: „Alles Einzelne als einen Teil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religi"
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on . Folgt man diesen Erklärungen, dann sind im Begriff des Anschauens in Schleiermachers „Formel der Religion", dem ,Anschauen des Universums",43 mindestens die folgenden Bedeutungsmomente miteinander verbunden. Ein erstes Moment ist in der Beziehung auf einen einzelnen Gegenstand zu sehen. Diese Beziehung muß der zweiten Erklärung zufolge indessen als Gewahren eines spezifischen Verhältnisses zwischen einem Einzelnen und einem Ganzen verstanden werden. Es ist ein Verhältnis, in dem das Einzelne als Darstellung eines Ganzen erscheint. Daraus folgt, daß das, was der eigentliche Gegenstand der hier thematisierten Anschauung zu nennen ist, nicht etwas ist, das in der empirischen Erfahrung von einzelnen Gegenständen in Raum und Zeit gegeben wäre; es ist vielmehr etwas, das durch und im Akt des Anschauens hervorgebracht oder, wie Schleiermacher sich ausdrückt, „gesetzt" wird. Zwar geht, wie Schleiermacher im Zuge der Erläuterung seiner „Formel der Religion" ausführt, alles Anschauen „von einem Einfluß des Angeschaueten auf den Anschauenden, von einem ursprünglichen und unabhängigen Handeln des ersteren"44 aus; doch wird dieses dann — wie es in indirekter Anspielung auf das Kantische Theorem der produktiven Einbildungskraft heißt —, von dem Anschauenden „seiner Natur gemäß aufgenommen, zusammengefaßt und begriffen".45 Eben dieses Moment bringt die zuerst zitierte Erklärung zum Ausdruck: Das Universum wird insofern angeschaut, als es als handelnd gesetzt wird, und darin wird zugleich ein spezifischer Einheitssinn von Einzelnem und Ganzem gesetzt, der als Darstellung des Ganzen im Einzelnen bezeichnet wird. So liegt dem „Anschauen des Universums" nicht ein bloß passives Hinnehmen von etwas Gegebenem, sondern eine spezifische Deutungsleistung auf Seiten des anschauenden Subjekts zugrunde; sie besteht darin, das Einzelne, das auch das anschauende Subjekt selber umfaßt, als Darstellung des Ganzen anzusehen.46 42 43 44 45 46
Reden 214. Reden 213. Ebd. Reden 213f. Dieses Moment ist gegen Fred Lönkers Betonung der Dominanz der „reinen Empfänglichkeit" im Begriff der Anschauung im Kontext seiner subtilen Analyse von Schleiermachers Theorie des religiösen Bewußtseins festzuhalten. Vgl. Fred Lönker: Religiöses Erleben. Zu Schleiermachers zweiter Rede „Über die Religion", in: D. Burdorf/R. Schmücker (Hg.): Dialogische Wissenschaft. Perspektiven der Philosophie Schleier-
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Diese Leistung ist offenkundig nicht die Herstellung eines begrifflich vermittelten Subsumtionsverhältnisses von Besonderem und Einzelnem, und sie ist auch nicht der Aufweis eines rein quantitativen Verhältnisses, in welchem das Einzelne nur als ein Element eines Ganzen im Blick stünde, von dem dann nicht gesagt werden könnte, daß das Ganze sich im Einzelnen darstellt. Gemeint ist etwas anderes. Gemeint ist mit Bezug auf etwas Einzelnes das Gewahren einer Struktur, derzufolge dieses Einzelne so aufgefaßt werden kann, daß es einen universalen Sinn- und Ordnungszusammenhang repräsentiert, der sich allen kontingenten und bloß subjektiv bedingten Meinungen entzieht und deswegen als etwas erfahren und vermeint werden kann, dem ein subjektinvariantes Sein zugesprochen werden kann. Daher läßt sich die Formel vom ,Anschauen des Universums" in der Tat als Prinzip eines „höheren Realismus" verstehen, von dem Schleiermacher mit Bezug auf die Religion spricht.47 Der soeben aufgewiesene Zusammenhang liegt auch Schleiermachers Konzept der Konjunktion von Anschauung und Gefühl zugrunde.48 Ist nämlich im Gefühl die Weise bezeichnet, in der das anschauende Subjekt nicht intentional auf einen Gegenstand, sondern unmittelbar auf sich selbst bezogen ist, dann liegt diesem Gefühl im vorliegenden Fall gleichwohl eine spezifische Rationalität zugrunde, die es von einem kontingenten subjektiven Zustand unterscheidet. Gerade darin, so ließe sich auf eine scheinbar paradoxe Weise sagen, daß das anschauende Verhalten zur Welt in einem Einzelnen einen universalen Ordnungszusammenhang gewahrt, der von jeder Form begrifflich vermittelter Reflexion unterschieden ist, eignet dem die Anschauung begleitenden Gefühl eine spezifische, subjektunabhängige Form von Rationalität. Sie besteht darin, das Einzelne als das sehen zu lassen, was es in Wahrheit ist, nämlich Darstellung eines unendlichen Ganzen zu sein. Und eben weil dieses Verhältnis sich nicht in die Form einer begrifflich vermittelten Erkenntnis bringen läßt, kann es das ist Schleiermachers Argument für die Konjunktion, nicht von Anschauung und Begriff, sondern von Anschauung und Gefühl - , nur im Modus eines Gefühls gewahrt werden, in dem das Subjekt sich selber in seinem Anschauen des Universums gegeben ist. Daß auch dieses Gefühl nicht als ein passives Hinnehmen von etwas Gegebenem verstanden werden darf, sondern seinerseits
47 48
machers, Paderborn u. a. 1999, 53-68, hier: 55. Auch Andreas Arndt hebt auf die „Passivität der Anschauung und des Gefühls" ab. Vgl. Friedrich Schleiermacher: Schriften, hg. v. A. Arndt, Frankfurt am Main 1996, 1 1 4 9 . Zur Sache vgl. Joachim Ringleben: Die Reden über die Religion, in: Friedrich Schleiermacher 1 7 8 6 - 1 8 3 4 . Theol o g e - Philosoph - Pädagoge, hg. v. D. Lange, Göttingen 1 9 8 5 , 2 3 6 - 2 5 8 . Ebd. Vgl. Reden 2 1 1 .
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auf ein „Handeln" und eine „Selbsttätigkeit [des] Geistes" verweist, hat Schleiermacher in der Zweiten Rede mit Nachdruck betont. 49 Die nicht zufällig an Kants Logik des reinen Geschmacksurteils und die Theorie des spezifisch ästhetischen Gefühls, bzw. Kants Theorie der ästhetischen Idee erinnernde Argumentation scheint auch Schleiermachers Rede vom „Sinn und Geschmack fürs Unendliche" 50 zugrundezuliegen. Während die Kantische ästhetische Reflexion jedoch vornehmlich auf die äußere Gestalt der Dinge bezogen ist und darin eine unendliche und begrifflich nicht adäquat beschreibbare Bedeutungsfulle entdeckt, gewahrt das Anschauen, von dem Schleiermacher spricht, im Einzelnen einen universalen Ordnungszusammenhang wesentlicher Bestimmungen, wie es in der Zweiten Rede mit Blick auf das Gewahren der universalen Harmonie und Korrespondenz naturgesetzlicher Verhältnisse ausgeführt wird: „Ihre chemischen Kräfte, die ewigen Gesetze, nach denen die Körper selbst gebildet und zerstört werden, diese sind es, in denen wir am klarsten und heiligsten das Universum anschauen". 51 Aus dem Kommentar zu den Begriffen, mit denen das Anschauen des Universums und die darin gewahrte Harmonie naturgesetzlicher Verhältnisse als „Neigung und Widerstreben", „Individualität und Einheit" beschrieben wird, findet das deutungstheoretische Fundament von Schleiermachers Theorie des religiösen Bewußtseins noch einmal seine Bestätigung und inhaltliche Präzisierung. Denn diese Begriffe, so fuhrt Schleiermacher aus, stammen nicht aus der Natur, sondern „ursprünglich aus dem Innern des Gemüts [...], und sind erst von da auf jenes gedeutet". 52 Die zuvor bemerkte Parallele zwischen der ästhetischen Wahrnehmung und dem religiösen Bewußtsein findet in den ,Reden' ihre Bestätigung: „Religion und Kunst stehen nebeneinander wie zwei befreundete Seelen, deren innere Verwandtschaft, ob sie sie gleich ahnden, ihnen doch noch unbekannt ist", 53 so heißt es am Ende der Dritten Rede. Es scheint, daß Friedrich Schlegel diese Verwandtschaft unter dem Begriff der Phantasie, in dem Schleiermacher in seinen ,Reden' das höchste und ursprünglichste Organ der Weltdeutung sieht, 49
50 51 52
53
Vgl. Reden 218. In diesem Zusammenhang wird auch Schleiermachers Bemühen deutlich, den das religiöse Bewußtsein bestimmenden Gefuhlsbegriff von einer empiristischsensualistischen Auffassung zu unterscheiden. Das Kriterium der Unterscheidung ist der Verweis auf die Selbsttätigkeit des Geistes. Reden 212. Reden 227. Ebd. Der Text fährt fort: „Darum ist es auch das Gemüt eigentlich, worauf die Religion hinsieht, und woher sie Anschauungen der Welt nimmt, im innern Leben bildet sich das Universum ab, und nur durch das innere wird erst das äußere verständlich" (Hhg.v.Vf.). Reden 263.
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und unter dem Titel eines gegen die idealistische Philosophie gerichteten neuen Realismus, von dem, wie erwähnt, auch Schleiermacher in derselben kritischen Absicht spricht, in seiner ,Rede über die Mythologie' aus dem Jahre 1800 aufgenommen und zum Thema gemacht hat. Auf welche Weise dies geschieht, soll abschließend gezeigt werden.
IV. Phantasie - Friedrich Schlegels Theorie der Poesie in der ,Rede über die Mythologie' von 1 8 0 0 Friedrich Schlegels programmatische ,Rede über die Mythologie' von 1800 5 4 führt den utopischen Entwurf einer neuen Mythologie fort, mit der das eingangs erwähnte Älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus' von 1797 endet. Bereits Lessing, Hamann, Herder, Schiller und Goethe hatten sich für die Stiftung eines lebendigen und gemeinschaftsbildenden Mythos ausgesprochen, während Hegel schon in Tübingen die Verbindung der Religion mit Mythen im Kontext seiner Überlegungen zu einer Reform des religiösen Lebens im Sinne einer „Volksreligion" gefordert hatte. 55 Das Älteste Systemprogramm' greift auch darin auf zeitgenössische Diskussionen zurück, daß erst mit einer neu zu schaffenden Mythologie eine alle Schichten der Gesellschaft verbindende geistige Kultur zu realisieren sei, in der die Ideale der französischen Revolution, die „allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister", 56 erst ihre Verwirklichung finden könnten. Für das Selbstverständnis Schlegels als Kritiker des Geistes seiner Zeit und als Theoretiker der Poesie ist seine Einschätzung der Leistungskraft der idealistischen Philosophie entscheidend. In der ,Rede über die Mythologie' erscheint der Idealismus „in theoretischer Ansicht" Schlegel nur als „ein Teil, eine Äußerungsart von dem Phänomen aller Phänomene, daß die Menschheit aus
54
Friedrich Schlegel: Rede über die Mythologie, in: Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie, in: Athenäum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Dritten Bandes Erstes Stück, Berlin 1800, Nr. IV, 5 8 - 1 2 8 , Dritten Bandes Zweites Stück Nr. II, 1 6 9 - 1 8 7 , in: Friedrich Schlegel: Kritische Schriften und Fragmente, Studienausgabe in sechs Bänden, hg. v. E. B e h l e r / H . Eichner, Bd. 2: Kritische Schriften und Fragmente [ 1 7 9 8 - 1 8 0 1 ] , Paderborn u. a. 1 9 8 8 , 2 0 1 - 2 0 8 . Im Folgenden zitiert unter der Abkürzung Schlegel, Rede, mit Angabe der Seitenzahl.
55
Vgl. die Ubersicht von Christoph Jamme in: Mythologie der Vernunft. Hegels ,ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus', hg. v. Chr. J a m m e / H . Schneider, Frankfurt am Main 1984, 58f. sowie die dortigen Literaturangaben.
56
Hegel, Werke 1, 2 3 6 .
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allen Kräften ringt, ihr Zentrum zu finden".57 Ein solches identitätsstiftendes Zentrum sieht Schlegel in einem „neuen Realismus" 58 gegeben, der allein durch Poesie zu verwirklichen sei. Das theoretische Modell für diesen Realismus sieht auch Schlegel in der Philosophie Spinozas gegeben, und zwar in einer ebenfalls organologisch interpretierten Form, derzufolge die Natur als Inbegriff des Wirklichen nach dem Modell eines stetig sich bildenden Organismus gedacht wird. Die Deutung der Natur als eines dynamischen Organismus, in dem jedes Teil sowohl das Ganze repräsentiert als auch mit allen Teilen zusammen nur das Ganze in einem stetigen Bildungsprozeß realisiert, ist auch der Grund dafür, daß nicht der Verstand, der auf begrifflich fixierende Erkenntnis verpflichtet ist, sondern allein die Poesie bzw. die Phantasie als Organ der Poesie diesen Zusammenhang darzustellen in der Lage ist. Und dies ist zugleich der Grund, aus dem Schlegels weitere zentrale These verständlich wird, die These, daß der Idealismus gleichwohl der Ursprung eines neuen poetischen Realismus sei. 59 Bezieht man nämlich, wie es naheliegt, den von Schlegel verwendeten Begriff der Phantasie auf den Fichteschen Begriff der Einbildungskraft, dann ist mit ihm die Grundfunktion des menschlichen Geistes als eines vereinigenden Schwebens zwischen einander entgegengesetzten Bestimmungen bezeichnet,60 durch die der Begriff des Anschauens — die zweite Auflage der Wissenschaftslehre präzisiert: „Hin-schauen - in aktiver Bedeutung" 61 — von etwas, das Realität hat, definiert ist. Dieser Grundbegriff des Idealismus ist es offenbar, der in Schlegels Konzeption einer neuen Mythologie nun eine poetisch-produktive Bedeutung und Funktion erhält. Denn durch Einbildungskraft bzw. durch Phantasie soll jene „reizende Symmetrie von Widersprüchen" und „künstlich geordnete Verwirrung" 62 als Ausdruck des Gesamtzusammenhangs des Wirklichen in einem poetischen Kunstwerk realisiert werden. Aufgabe der Poesie ist es daher, „den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben" und jene „schöne Verwirrung der Phantasie" 63 wiederherzustellen, aus der die Poesie ihre weltentwerfende und weltdeutende Kraft schöpfen soll. Daher läßt sich sagen, daß die Einbildungskraft den idealistischen Ursprung des neuen poetischen Realismus repräsentiert. In einem solchen Realismus, das 57
58 59 60 61 62 63
Schlegel, Rede, 202f (Hhg.v.Vf.). Der Idealismus „in praktischer Ansicht" ist Schlegel zufolge „nichts anderes als der Geist jener Revolution, die großen Maximen derselben, die wir aus eigner Kraft und Freiheit ausüben und ausbreiten sollen" (ebd.). Reden 203. Ebd. Vgl. Fichte, Werke I, 216ff. Fichte, Werke I, 230. Schlegel, Rede, 204. Ebd.
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ist Schlegels poetologisches Programm, soll der universale Einheitszusammenhang des Wirklichen im poetischen Kunstwerk an einem individuell gebildeten Stoff seinen symbolisch vermittelten Ausdruck finden. Genau darin soll die neue Mythologie bestehen und darin, so endet Schlegels programmatischer Entwurf einer neuen Mythologie, würde „der Mensch inne werden, was er ist, und würde die Erde verstehn und die Sonne". 64 Seiner selbst inne werden und die Erde und die Sonne verstehen, das meint ersichtlich nicht das Innewerden der Nichtigkeit des Menschen angesichts der unermeßlichen Dimensionen des Universums, über die die neuzeitliche Naturwissenschaft belehrt. Es meint aber auch nicht, den Menschen als den Entdekker der gesetzlichen Zusammenhänge verstehen, die der Natur und dem kosmischen Geschehen zugrunde liegen. Es meint vielmehr das Gewahren eines Gesamtzusammenhangs des Wirklichen, den die neuzeitlichen mathematischen Naturwissenschaften von sich aus nicht darzustellen in der Lage sind, aufgrund dessen es dem Menschen möglich ist, den Sinn dieses Zusammenhangs und seine Stellung in ihm zu verstehen und ihm im Medium der Phantasie in einem individuellen Kunstwerk einen symbolisch vermittelten Ausdruck zu geben. Genau dadurch und darin wird der Mensch inne, was er ist.65 Der Gedanke an Schellings Theorie der Kunst und die Vision einer neuen Mythologie am Ende des ,Systems des transzendentalen Idealismus' von 1800 sowie an Schellings Philosophie der Natur liegt nahe. Und wirklich läßt sich Schellings Konzept der Philosophie um 1800 an das Ende des bisher unternommenen Untersuchungsgangs stellen. Dies soll in einem letzten Schritt geschehen.
V . Geschichte des Selbstbewußtseins — Schellings Konzept der Philosophie im ,System des transzendentalen Idealismus' von 1 8 0 0 Hegels Bewußtsein reinen Lebens, Fichtes Gefühl des Gewissens, Schleiermachers Anschauen des Universums und Schlegels poetische Phantasie sind
64 65
Ebd. Zu den weiteren poetologischen, historischen und mythostheoretischen Aspekten von Schlegels ,Rede über die Mythologie' vgl. den perspektivenreichen Aufsatz von Karl Heinz Bohrer: Friedrich Schlegels Rede über die Mythologie, in: Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, hg. ν. Κ. H. Bohrer, Frankfurt am Main 1 9 8 3 , 52-82. Zum Thema „Neue Mythologie" vgl. insbesondere Manfred Frank: Der kommende Gott. Vorlesungen über die neue Mythologie, Frankfurt am Main 1 9 8 2 . Zu Schlegels ,Rede über die Mythologie' vgl. ebd. 188ff.
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Interpretationen von Phänomenen subjektiven Lebens, die in einem unmittelbaren Bezug zum Ganzen einer Welt begriffen sind, aus dem das Subjekt sich selber und seine Stellung in dieser Welt versteht. Die Unmittelbarkeit dieses Verhältnisses bedeutet nicht, daß es als ein Faktum gegeben und hinzunehmen wäre. Im religiösen Bewußtsein, im Gefühl des Gewissens, im Anschauen des Universums und in der poetischen Phantasie erscheint das Ganze der Welt vielmehr in der Weise eines Sinn- und Ordnungszusammenhangs präsent, der sich dem Subjekt erst in einer von ihm selber zu leistenden Aktivität erschließt. So erscheint das Selbstverhältnis des Subjekts zwar als eine Funktion seines Weltverhältnisses, doch ist das Bestehen dieses funktionalen Zusammenhangs eine Leistung des Subjekts. Im Blick auf die vorgestellten Positionen ist deutlich geworden, daß der Konstitution dieses funktionalen Zusammenhangs eine prinzipielle Bedeutung zukommt. So kommt darin das Grundverhältnis zum Ausdruck, aus dem das Subjekt sich selbst und seine Stellung im Ganzen einer Welt versteht, wobei die genannten Phänomene als Weisen der Darstellung dieses Grundverhältnisses erscheinen. Wenn die Konstitution dieses Grundverhältnisses eine Leistung des Subjekts ist, dann läßt sich auch sagen, daß darin das Prinzip der Subjektivität selber zur Darstellung kommt. Damit aber legt sich der Gedanke von einer philosophischen Theorie nahe, die auf eben diesem Prinzip begründet ist und die Weisen der Darstellung dieses Grundverhältnisses in ein systematisch geklärtes Verhältnis bringt. Es ist klar, daß dieses Verhältnis aus der internen Struktur dieses Prinzips selber entfaltet und begründet werden muß. Für eine philosophische Theorie, die dies zu leisten sucht, folgt daraus, daß dem Verhältnis zwischen der Begriffsform, die dem Prinzip der Subjektivität zukommt, und der logischen Form des Begründungsgangs, in der sich diese Theorie entfalten soll, eine ausgezeichnete systematische Bedeutung zukommen muß: Dieses Verhältnis muß sich seinerseits als ein streng funktionaler Zusammenhang darstellen lassen, und das heißt, als ein Zusammenhang, in dem das Subjekt sich genau dadurch auf sich selbst bezieht, daß es sich auf die Welt bezieht. Für die systematische Verfassung der Theorie folgt daraus, daß die Begriffsform, die das Prinzip der Subjektivität charakterisiert, auch das Prinzip der Begründung abgeben muß, demgemäß die Theorie sich entfaltet. Da die Begriffsform des Prinzips der Subjektivität darin besteht, daß das Subjekt sich genau dadurch auf sich selbst bezieht, daß es sich auf die Welt bezieht, müssen die Weisen, wie das Subjekt sich auf die Welt bezieht, als diejenigen Weisen entwickelt werden, in denen es sich auf sich selbst bezieht. Der Gang der Begründung, in dem die Theorie sich entfaltet, muß daher identisch mit dem Prozeß sein, in dem das Subjekt sich selbst bestimmt und begreift.
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Es ist abzusehen, daß damit die Ausarbeitung eines gänzlich neuen Konzepts von der systematischen Verfassung und den Prinzipien der Rationalität einer philosophischen Theorie verbunden ist. Denn nicht nur gewinnen die Grundbegriffe der Theorie ihren Sinn und ihre Bedeutung allein aus der Funktion, die ihnen im Gang der Selbstbestimmung des Subjekts zukommt; auch die Form der Begründung, in der sie entwickelt werden, ist gänzlich abhängig von dem Gang und der Logik der Selbstbestimmung, der sie zugehören. Das bedeutet, daß jeder Begriff, der im Gang der Theorie eine operative Funktion einnimmt, allein dadurch seine Rechtfertigung gewinnt, daß gezeigt wird, daß er ein notwendiges Moment im Gang der Selbstbestimmung des Subjekts darstellt. Die deduktive Entfaltung der Grundbegriffe einer solchen Theorie und ihre erschließende Kraft ist dann identisch mit dem Prozeß der Explikation des Prinzips der Subjektivität. Die Begriffe, die auf diese Weise zu entwickeln sind, stellen nicht nur die Grundfunktionen des epistemischen Weltbezugs des Subjekts dar, sondern auch die kategorialen Hinsichten, unter denen die Welt beschrieben wird. Denn durch sie erschließt sich dem Subjekt erst die Grundverfassung der Welt, aus der es sich selbst versteht. „Die äußere Welt liegt vor uns aufgeschlagen, um in ihr die Geschichte unseres Geistes wiederzufinden".66 So beschreibt Schelling das Projekt einer „Geschichte des Selbstbewußtseins", das er im ,System des transzendentalen Idealismus'67 von 1800 im Anschluß an Fichte zum ersten Mal in die Form eines Systems gebracht hat. Dessen Begründungsgang ist ganz von der Aufgabe beherrscht, den Nachweis zu erbringen, auf welche Weise das Subjekt sich in der Beziehung auf die Welt hinsichtlich seiner wesentlichen Verfassung objektiv wird und sich dadurch als Subjekt begreift.68 In ihr findet das moralische Bewußtsein seine systematisch ausgezeichnete Stelle als Grundlage einer Theorie der endlichen, konkreten Subjektivität, in der der Akt der Selbstbestim-
66
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ausgewählte Werke, Schriften von 1 7 9 4 - 1 7 9 8 , Darmstadt 1980, hier:, Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre'. Geschrieben in den Jahren 1 7 9 6 und 1 7 9 7 . Zweiter Abdruck 1 8 0 9 , 2 6 3 . Im Folgenden zitiert als Schelling, Werke, mit Angabe der Seitenzahl.
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Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transzendentalen Idealismus, hg. v. H. D. Brandt/P. Müller, Hamburg 1992, hier: 5. Im Folgenden zitiert unter der Abkürzung Schelling, System, mit Angabe der Seitenzahl. Eben dies meint die Erklärung Schellings in den Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre': „Jede Handlung der Seele ist auch ein bestimmter Zustand der Seele. Die Geschichte des menschlichen Geistes also wird nichts anderes sein als die Geschichte der verschiedenen Zustände, durch welche hindurch er allmählich zur Anschauung seiner selbst, zum reinen Selbstbewußtsein gelangt" (Schelling, Werke, 262).
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mung die Funktion eines primären Gegenstandes des Bewußtseins erhält. 69 Daher erscheint der Akt der Selbstbestimmung, den Schelling mit Fichte im Bewußtsein eines unbedingten Wollens gegeben sieht, als die „höchste Bedingung des Selbstbewußtseins". 70 Ihr Ziel findet die „Geschichte des Selbstbewußtseins" in der ästhetischen Anschauung und einer Theorie der Kunst, die — eine letzte Reminiszenz an das Älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus' - , in die Vision einer neuen Mythologie mündet. 71 So scheint es nicht zu viel gesagt, wenn Schellings ,System des transzendentalen Idealismus' als die systematisch durchgeführte Begründung derjenigen Evidenzen verstanden wird, die der theoretischen Konstellation um 1800 zugrundeliegen. Es war bekanntlich Schellings Uberzeugung, daß dieses Verfahren auch für die Begründung einer Philosophie der Natur fruchtbar zu machen sei, die er seit 1797 skizziert und dann ab 1801 in dem Unternehmen der Identitätsphilosophie in Einheit mit der Theorie der Subjektivität auszufuhren unternommen hat. Auch Hegels Entwicklung nach 1800 kommt in einer Theorie der Subjektivität, die Ontologie und spekulative Philosophie der Natur zugleich ist, an ihr Ziel. Dem vermochte Fichte nicht zu folgen. Fichtes Einsicht, deren Konturen sich ab 1801 deutlich abzeichnen, war es, daß die Verständigung über die Grundverfassung des Prinzips der Subjektivität zu seiner Relativierung mit Bezug auf die Position eines rational nicht konstruierbaren absoluten Seins führt. Die der Philosophie eigene Form der Rationalität kann daher in der Sicht Fichtes nur die der Konstruktion eines prinzipiell nicht Konstruierbaren sein. Welcher der nach 1800 eingeschlagenen Wege der rechte Weg ist, ist bis heute offen.
69 70 71
Zur Begründung der praktischen Philosophie vgl. Schelling, System, 202ff. Schelling, Werke, 2 7 5 . Vgl. Schelling, System, 283ff.
Religion — das „vollendetste Resultat der menschlichen Geselligkeit". Perspektiven einer Individualitätskultur im Verhältnis von Religionstheorie und Gesellschaftstheorie VON T R U T Z R E N D T O R F F / M Ü N C H E N
In den 1998 posthum publizierten , B e g r i f i f e [ n ] in Geschichten' notierte Hans Blumenberg unter dem Stichwort „Ambiguitätstoleranz": „Ein Kriterium für intellektuelle Gesundheit ist die Spannweite von Unvereinbarkeiten im Hinblick auf ein und dieselbe Sache, die ausgehalten wird und dazu noch den Anreiz bildet, Gewinn aus der Beirrung zu ziehen". 1 Diese Bemerkung ließe sich gut auf die Geschichte der Schleiermacherinterpretation beziehen, die 200 Jahre nach den ,Reden' wieder in voller Blüte steht und in gesteigertem Maße Anreize zu einer solchen Ambiguitätstoleranz bietet. Das gilt in erster Linie für Schleiermachers Art Theologie zu treiben, von der ihr prominentester Kritiker im 20. Jahrhundert immerhin gelten läßt, mit ihr habe eine „neue Epoche im ganzen Studium der Theologie", 2 ja eine „neue Periode in der Kirchengeschichte" begonnen. Karl Barth wendet in der Ouvertüre seiner Darstellung auf Schleiermacher an, was dieser in einer Akademierede von Friedrich dem Großen gesagt hat: Er habe nicht eine Schule, sondern „ein Zeitalter gestiftet". 3 Auch das schwergewichtige theologische Anathema, Schleiermacher habe die Anthropologie an die Stelle der Christologie gesetzt, hat Karl Barth nicht gehindert, dem darob heftig Befehdeten den Preis zuzuerkennen, „für alle Zeiten an die Spitze der Geschichte der Theologie der neuesten Zeit" zu gehören. 4 Die Ambiguität der Spannweite, welche der Deutegeschichte Schleiermachers ihre Lebendigkeit verleiht und gleichsam deren Unendlichkeit ausmacht, zeigt sich nicht zuletzt daran, wie das geschichtliche Selbstverständnis der protestantischen Theologie aufs Engste mit Zeitdeutung, mit Deutungen der Moderne verwoben ist. Man könnte das an Schleiermacher orientierte und darin viel1 2
3 4
Hans Blumenberg: Begriffe in Geschichten, Frankfurt 1998, 9. Aus einem Brief von Wilhelm G a ß an Schleiermacher, zit. nach Karl Barth: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zürich 2 1 9 5 2 , 379. Aus August Neanders Rede beim T o d e Schleiermachers; zit. ebd. Ebd.
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stimmige Selbstverständnis protestantischer Theologie als eine wissenschaftsgeschichtliche Form von Individualitätskultur bezeichnen. Zu ihr hat Schleiermacher in der Spannweite seiner Schriften selbst beigetragen. Sie wird durch den Fortgang der Kritischen Gesamtausgabe seines Werkes noch einmal gesteigert und differenziert, und zu ihr trägt auch ein Vortrag auf einem Kongreß „200 Jahre Reden über die Religion" gewollt oder ungewollt im Kleinen bei. Im Kleinen, das heißt: Ich werde (1.) den kirchenkritischen Begriff der Religion in der vierten Rede darstellen, aus der das Zitat im Titel dieses Vortrages genommen ist.5 Sodann werde ich (2.) die bei Schleiermacher exemplarisch erkennbare Struktur des Theologietreibens nachzeichnen, wie sie fur die individuelle Bildungsgeschichte protestantischer Theologie charakteristisch ist. Dieser Prozeß des Theologietreibens wird (3.) exemplarisch untersucht an den Korrekturen, die Schleiermacher selbst im Eingehen auf das geschichtliche Christentum in den Erläuterungen zu den ,Reden' vornimmt. Schließlich soll (4.) das Verhältnis von Religionstheorie und Gesellschaftstheorie als aktuelle Problemstellung der Theologie in Beziehung zu Schleiermacher diskutiert werden.
1. Die „wahre" Religion als Kritik der Kirche Religion als „das vollendetste Resultat der menschlichen Geselligkeit", dieses Zitat stammt aus der vierten der Reden ,Uber die Religion'. Die vierte Rede handelt bekanntlich ,Über das Gesellige in der Religion oder über Kirche und Priesterthum'. 6 Die Verächter der Religion werden auch in dieser Rede als Gebildete aufgefordert, den Unterschied mit zu vollziehen, der das Programm der ,Reden' durchgängig bestimmt. Hier ist es die Unterscheidung und der gleichwohl bestehende Zusammenhang zwischen der Kirche als Veranstaltung, gegen den sich der Widerwille richtet, deren Repräsentanten als „die Verhaßtesten unter den Menschen" 7 angesehen werden, und der Religion als Mitteilung, die zur Natur von Religion gehört: „Ist die Religion einmal, so muß sie nothwendig auch gesellig sein". 8 Die „Einwirkung religiöser Menschen aufeinander" mache ihre „natürliche und ewige Verbindung" aus. 9 Die Verächter werden aufgefordert, den Frommen nicht zu verargen, daß ihnen „dies himmlische Band, das vollendetste Resultat der menschlichen Geselligkeit, zu wel5 6 7 8 9
Reden Reden Reden Reden Reden
184; zititert nach K G A 1/2 in der Paginierung der 1. Auflage. 174. 175. 177. 183f.
Rendtorff, Religion und „Geselligkeit"
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chem sie nur gelangen kann, wenn sie vom höchsten Standpunkt aus in ihrem innersten Wesen erkannt wird, ihnen mehr werth ist, als Euer irdisches, politisches Band, welches doch nur ein erzwungenes, vergängliches, interimistisches Werk ist." So das vollständige Zitat. 10 Schleiermacher erklärt, er wolle „den ganzen Begrif [sc. der Religionsvereinigungen] [...] vom Mittelpunkt der Sache aus aufs neue erschaffen, unbekümmert um das, was bis jetzt wirklich ist, und was die Erfahrung uns an die Hand giebt". 11 Das Bild, das Schleiermacher entwirft, ist das der „wahren Kirche", die „vollkommene Republik". 12 Es ist die Gemeinschaft derer, die die „in der Religion Vollkommenen" sind. 13 Und er identifiziert den neu zu erschaffenden BegrifFin expliziter Aufnahme eines „alten aber sehr sinnreichen Ausdrukes" als den der „triumfirenden Kirche" — ecclesia triumphans — im Unterschied „von der streitenden Kirche" 14 - ecclesia militans. Der an der wahren Religion orientierte Begriff der Kirche kommt so der Vorstellung der „civitas Platonica" nahe, wie Melanchthon sie in der Apologie kritisch beurteilt hat. 15 Diese, die wahre Kirche, wird im „schneidenden Unterschied" zur bestehenden Kirche dargestellt. Diese Unterscheidung erlaube es, die „Mißbräuche, die in der Kirche obwalten", uneingeschränkt zu kritisieren, und „über ihre Ursachen miteinander" nachzudenken. 16 Denn diese Vereinigung ist der wahren Kirche „in fast allen Stüken entgegengesetzt".17 Allerdings: Nicht ein Sollensbegriff der Kirche wird gegen deren empirisch unvollkommene Erscheinungsweise gestellt. Schleiermacher versichert seinen virtuellen Zuhörern, daß er „nicht von dem geredet habe, was sein soll, sondern von dem, was ist". „Die wahre Kirche ist in der That immer so gewesen", nur der gröbere Blick sei durch empirische Beschränkungen gehindert, sie so zu sehen. 18 Also der Perspektivenwechsel, der im Ergebnis einer Konstruktion der Kirche „aus dem Begriff ihres Zwecks" 19 folge, wird in diesem Gegensatz dargestellt. Der Zweck der Geselligkeit aber ist die Mitteilung. Oder anders: Geselligkeit ist ihrer Natur
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Reden 184. Reden 176. Reden 184. „Die Religion der Vollkommenen" lautete der Titel einer Schrift, die Wilhelm Abraham Teller 1792 veröffentlichte. Reden 191. Apologie der Konfession, in: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen 1952, 23820. Reden 200f. Reden 193. Reden 191. Reden 191.
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nach „gegenseitige Mitteilung". 20 Gesellig sein heißt sich mitteilen - so der Grundbegriff von Gesellschaft, wie ihn Schleiermacher faßt. Es wäre „etwas höchst widernatürliches", „wenn der Mensch dasjenige, was er in sich erzeugt und ausgearbeitet hat, auch in sich verschließen will". 21 Geselligkeit vollzieht sich als beständige, praktische und intellektuelle „Wechselwirkung" 22 mit den Übrigen seiner Gattung. In der dritten Auflage heißt es statt „Wechselwirkung" „unentbehrliche [] Gemeinschaft und gegenseitigen Abhängigkeit". 23 In der Wechselwirkung wird der Mensch des Verhältnisses seiner besonderen Erfahrung „zur gemeinschaftlichen Natur inne". 24 Diese Sozialisierung der eigenen Erfahrung dient dem Erweis, „daß ihm nichts als menschliches begegnet", 25 der Legitimation der religiösen Erfahrung im Medium ihrer Bestätigung durch andere. Nichts als Menschliches, das besagt auch, die gegenseitige Mitteilung induziert den Sinn für die Kritik der Form kirchlicher Lehre, die „an den Grenzen der Superstition einhergeht und an irgend einer Mythologie hängt", 26 in der darum jene befangen sind, die nicht durch eigene Mitteilung, sondern durch äußere Belehrung an den Darstellungsformen von Religion teilhaben. Die Mitteilung ist das Mittel, um die eigene „religiöse Ansicht" oder das ,,fromme[] Gefühl" auf andere „fortzupflanzen". 27 Sie dient insofern der Ausbreitung und Kontinuierung der religiösen Erfahrung. Und die gegenseitige Mitteilung als offener und unbeschränkter Prozeß ist darüber hinaus die Form der Partizipation des endlichen Frommen an der Unendlichkeit von Religion, gleichsam der ideale Diskurs, in dem alle gleichmäßig geben und empfangen. Auch damit verbindet sich die strikte Unterscheidung von der Anstaltskirche, mit ihrer Scheidung von Priestern und Laien. Erkauft wird diese Festlegung auf die ideale Struktur der Mitteilung dadurch, daß sie nur unter denjenigen funktioniert, die bereits zur wahren Kirche gehören, zur Mitteilung der vollkommenen Religion fähig sind. Die Religion schafft sich deswegen auch einen eigenen Typus der Mitteilung, der sich von der leichten Art des intellektuellen Diskurses in der bürgerlichen Gesellschaft unterscheidet durch die erhaben-feierliche Sprache, „gleichsam ein höheres Chor". „In heiligen Hymnen und Chören, denen die Worte der Dichter nur lose und luftig anhängen, wird ausgehaucht 20 21 22 23 24 25 26 27
Reden 179. Reden 177. Ebd. Reden, 3. Aufl.; K G A 1/12, 183. Reden 177. Ebd. Reden 202; entsprechend Reden 55-58. Reden 178.
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was die bestimmte Rede nicht mehr faßen kann, [...] bis Alles gesättigt ist und voll des Heiligen und Unendlichen". 28 Die bestimmte Rede: Deren Grenzen werden zementiert und deren Endlichkeit wird zur hinderlichen Schranke der Religion durch die in Formeln gefaßte Lehre der Kirche, durch die Bindung an schriftliche Dokumente, den toten Buchstaben. Schleiermacher weist hier der in der ersten Rede ausgeführten Kritik an der in Dogmatik und Bekenntnisformeln gefaßten kirchlichen Theologie ihren funktionalen Ort in dem „schneidenden Unterschied" 29 der wahren Kirche von der empirischen Gestalt der Kirche an. Zwar gibt es für die .Anstalt" die Aufgabe, das „Bindungsmittel" darzustellen zwischen denen, „welche schon im Besitz der Religion sind", die schon zur Frömmigkeit in sich gereift sind und die „wahre Kirche" bilden, und „denen, welche sie noch suchen". Aber „der ganze Zuschnitt dieser Anstalt müßte ein anderer sein". 30 Der Religion wird das Attribut des „vollendetsten Resultats der menschlichen Geselligkeit" in diesem Gegensatz und der kritischen Neubestimmung der Funktion der Theologie zugeschrieben.
2. Theologie- und Kirchenkritik im Kontext der protestantischen Theologie der Moderne. Ein Strukturmodell Schleiermachers ,Reden' lassen sich als eine Ortsbestimmung der Theologie in der Moderne lesen. Das wird gerade an der vierten Rede exemplarisch deutlich, wenn die feste Gestalt des durch Kirche und Lehre bestimmten Bildes von Theologie verflüssigt wird in den Zügen eines ,,göttliche[n] Beruf[s]", 31 der den Redner an den Ort fiihrt, an dem in der „wahren religiösen Geselligkeit alle Mittheilung gegenseitig ist". 32 Die Umbestimmung der Art des Theologietreibens, in der der Theologe sich als Mitspieler in den je gegenwartsspezifischen Prozeß religiöser Kommunikation einreiht, bildet gleichsam den Hintergrundtext der ,Reden' und darüber hinaus. Hans-Joachim Birkner hat in einer Erörterung von Problemen der Schleiermacherinterpretation 33 nachdrücklich gesagt, die ,Reden' Schleiermachers soll28 29 30 31 32 33
Reden 183. Reden 2 0 0 . Ebd. Reden 5. Reden 193. Hans Joachim Birkner: Theologie und Philosophie. Einführung in Probleme der Schleiermacher-Interpretation (1974), in: ders.: Schleiermacher-Studien, hg. v. H. Fischer, Berlin 1996, 1 5 7 - 1 9 2 .
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ten nicht für sich genommen werden. Man müsse sie „im Zusammenhang der aufklärerisch-nachaufklärerischen Diskussion" betrachten, „die bis zum Jahre 1799 bereits eine kleine Bibliothek gefüllt" habe. 34 Birkner verweist auf diesen Diskussionskontext, der gebildet werde durch Semlers ,Über historische, gesellschaftliche und moralische Religion' von 1786, Fichtes ,Versuch einer Kritik aller Offenbarung' von 1792, Kants ,Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft', Hegels Manuskripte, die von Hermann Nohl 1910 unter dem Titel ,Theologische Jugendschriften' herausgegeben wurden. Dies seien nur „die bekanntesten Dokumente aus einer Fülle von thematisch verwandten Veröffentlichungen aus einer umfassenden Debatte". Deren gemeinsames Kennzeichen sei darin zu sehen, daß und wie in ihr „veränderte Bedingungen des christlichen Denkens" hervortreten. Die „veränderten Bedingungen des christlichen Denkens" prägen die Struktur der protestantischen Theologie als Religionstheorie wie als Christentumstheorie, exemplarisch bei den Klassikern, aber nicht minder bei der protestantischen Theologie insgesamt, in vielfältigen Spielarten bei den „Vergessenen Theologen". Die Umbildung der Theologie vollzieht sich als ein Prozeß, der über den jeweiligen Neueinsatz einer kritischen Ortsbestimmung hinausführt. Die Schleiermacherinterpretation hat sich dabei mit den Veränderungen zu beschäftigen, die sich in seinem Werk vollzogen haben. In diesem Zusammenhang ist dann auch zu fragen, welche Bedeutung den späteren Auflagen der ,Reden' zukommt. Insbesondere die dritte Auflage von 1821 ist hier von Interesse. Hat ihr Schleiermacher doch ausführliche Erläuterungen angefügt, die in der Aufmerksamkeit der Schleiermacherinterpretation im 20. Jahrhundert zurückgetreten sind wegen des großen Einflusses, den die von Rudolf Otto veranstaltete Neuausgabe der ersten Auflage 1899 ausgeübt hat. 35 In der ,Kurzen Darstellung' 36 heißt es im § 219, in einer berühmten Formulierung: „Von jedem evangelischen Theologen ist zu verlangen, daß er im Bilden einer eigenen Überzeugung begriffen sei über alle eigentlichen Örter des Lehrbegriffs, nicht nur so, wie sie sich aus den Prinzipien der Reformation an sich und im Gegensatz zu den römischen Lehrsätzen sich entwickelt haben, sondern auch, sofern sich Neues gestaltet hat, dessen für den Moment wenig-
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36
AaO. 172. Vgl. dazu die .Historische Einleitung' von Günter Meckenstock [wie Anm. 23], VIILXIII. Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1810, 1830), hg. v. H . Scholz, Darmstadt 1961. Vgl. dazu die subtile Analyse von Martin Rößler: Schleiermachers Programm der Philosophischen Theologie, Berlin 1994, bes. 203ff.
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stens geschichtliche Bedeutung nicht zu übersehen ist".37 Das „Bilden einer eigenen Überzeugung" wird hier von Schleiermacher explizit in einer, wie wir heute sagen würden, kontextuellen und historisierenden Weise dargelegt, bezogen nämlich auf „Neues", dem keine endgültige Bedeutung, sondern „für den Moment" des eigenen Bildens der Überzeugung „geschichtliche Bedeutung" zukommt. Das Bilden einer Überzeugung kann auch als weitergehender Prozeß innerhalb der jeweiligen Überzeugung, als deren Modifikation und Veränderung oder Erweiterung verstanden werden. Dieser Prozeß macht die eigentümliche Struktur protestantischer Theologie und ihres Christentumsverständnisses aus. Darin läßt sich eine spezifische Struktur der Bildungsgeschichte reflektierter protestantischer Theologie ausmachen. Sie kann skizzenhaft etwa so nachgezeichnet werden: Ihr Anfangspunkt ist — erstens — bestimmt durch Kritik an bis dahin geltender Tradition als verbindlicher Autorität. Üher das kritische Bewußtsein erwacht der protestantische Theologe gleichsam zur Selbständigkeit der Theologie, die ihren Geist als Wissenschaft ausmacht. Dabei lassen sich drei Momente ausmachen. Die Kritik richtet sich - zum einen — gegen die Form geltender Lehre mit dem Motiv, daß die Autorität der Lehre nicht mehr dem Leben, sei es des Christentums, sei es der Religion, sei es der lebendigen Wahrheit, gerecht zu werden vermöchte. Dafür sind die ,Reden' von 1799 zum herausragenden Exempel geworden, allerdings doch nicht isoliert für sich, sondern unbeschadet ihrer eigentümlichen Sonderstellung in einer der Struktur protestantischer Theologie als Wissenschaft vom Christentum entsprechenden Weise. Die Kritik wird — zum andern — vollzogen im Modus des Rückganges auf das Ursprüngliche, auf den eigentlichen Ursprung, den gegenüber der zu fester Form erstarrten Autorität wahrhaft normativen Anfang, von dem her die geltende Tradition kritisch hinterfragt wird, um in Perspektiven neuer Lebendigkeit transformiert zu werden. Die Verbesserung der Lehrart fungiert als leitendes Motiv der Kritik. Um dem Anspruch der Kritik, die ursprünglichen Quellen wieder zur Geltung zu bringen, gerecht zu werden, müßte die ganze Art ihrer gegenwärtigen Darstellung eine andere sein. Die Kritik verbindet sich - so das dritte Moment — weiter mit dem Bewußtsein einer neuen Zeit. Sie nimmt Motive und Deuteperspektiven der Zeitdiagnose, der Kulturdiagnose auf und prägt in sie die Vorstellungen von der Allgemeinheit dessen ein, worum es in der Theologie zu tun ist, die durch die kritisierte Tradition zum bloß randständigen Partikularen der Kultur verkümmert ist. Das Bilden der eigenen Überzeugung drängt — zweitens — auf die Bildung einer neuen Konstruktion. Die Kritik muß sich weiterbilden zu einem Äquiva37
Kurze Darstellung 83.
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lent für das, was Schleiermacher den „Lehrbegriff" genannt hat, über die eigene unmittelbare Uberzeugung zum Entwurf einer Theologie, zum Begriff eines systematischen Zusammenhangs. Das kann sich in der protestantischen Theologie -zum einen —ausbilden in der Form eines Systems, in dem die inhaltlichen Bestände der Tradition eingeholt und neu gedeutet werden, also das, was den besonderen, kritischen Anfangspunkt bestimmt, mit dem verbindet, was den „Gemeinbesitz" der Theologie ausmacht. Es kann sich auch ausbilden in den Formen neuer Disziplinen in der Theologie, wie im Falle der historischen, vor allem historisch-exegetischen Disziplinen. Die konstruktiven und methodisch ausdifferenzierten Entwürfe bleiben - zum anderen — jedoch als Produkte der „eigenen Uberzeugung"gemäß ihrem Anfangspunkte bestimmt, nämlich in der Gleichzeitigkeit und darin auch strittigen Konkurrenz mit anderen. Der Gemeinbesitz bildet sich fort in Formen seiner sich gegenseitig kritisierenden und korrigierenden Darstellung. Auch das gehört zur protestantischen Struktur des Theologietreibens. Die Theologie erhält sich darin das Bewußtsein für ihre eigene Geschichtlichkeit in der Pluralität der Auffassungen. Das ist — synchron genommen — genau jenes Element, das — diachron — die Kritik möglich und notwendig gemacht hat und auch in der je selbständigen systematischen oder methodischen Konstruktion nicht aufgehoben werden kann. Schleiermachers .Erläuterungen' zu den,Reden' sind dafür ebenso aufschlußreich wie seine Sendschreiben an Lücke.38 Mit dem darin liegenden geschichtlichen Sinn hängt als das dritte Moment in der Entwicklung eines konstruktiven Entwurfs - die Offenheit für Anschlußfdhigkeit an das zusammen, worin sich das bestehende Christentum seiner Identität zu vergewissern sucht. In wechselvoller Weise handelt es sich dabei um diejenigen Traditionselemente, die sich als die historisch geprägten und aktuell zu erfassenden Komposita bezeichnen lassen, aus denen sich die „Kirchlichkeit" der Theologie zusammensetzt und die als solche nicht rein und direkt aus dem Konstrukt eines theologisch-philosophischen Systems zu deduzieren sind. Die meisten Punkte, in denen Schleiermacher in seinen ,Erläuterungen' zu den ,Reden', besonders zur vierten Rede, spezifisch und konkret wird, sind von dieser Art. Das Bilden der eigenen Uberzeugung führt ferner — drittens — im Fortgang von Kritik zu Konstruktion und dem damit immanent und exoterisch verbundenen geschichtlichen Bewußtsein zu der anspruchsvollen Aufgabe, in der sich der Theologe des wissenschaftlichen Ortes seiner Bildungsgeschichte vergewissern muß. Anspruchsvoll ist diese Aufgabe — zum einen —, weil sie vom Theologen verlangt, der Unterscheidung zwischen der eigenen persönlichen Überzeu-
38
Ueber seine Glaubenslehre, an Dr. Lücke, in: SW 1/2, 575ff, 605ff.
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gung und der „Sache der Religion"39 ständig gewahr zu bleiben, also der Unterscheidung von Theologie und Religion. Diese Unterscheidung bedarf aber einer eigenen Form der Rationalität, die sich nur über die Orientierung im Felde der Wissenschaften einstellt. Für Schleiermacher und seine theologischen Zeitgenossen sowie lange Zeit im 19. Jahrhundert repräsentierte die Philosophie die Rationalitätsstandards, die zur Selbstkontrolle des Theologietreibens in Anspruch genommen wurden. Doch trat schon die neu sich ausbildende Naturwissenschaft hinzu. Gleichermaßen belangreich können diese Begleitfunktionen aber dann auch von der historischen Methode oder — sehr viel komplexer — von den Sozialwissenschaften ausgeübt werden. Wie dabei jeweils die Grenze zwischen formal-wissenschaftlicher und inhaltlicher Bezugnahme zu ziehen ist, gehört zu den Selbstklärungsdebatten der Theologie. Das Bilden der eigenen Uberzeugung realisiert sich - zum andern — in allgemeiner Form in den sich ausdifferenzierenden Disziplinen der Theologie und überführt die Frage nach der Einheit der Theologie in die nach der theologischen Enzyklopädie. Auch hier hat Schleiermacher eine maßgebliche Spur gelegt, auch wenn seine Enzyklopädie nicht wirklich maßgeblich geworden ist und allgemeine Anerkennung gefunden hat. Das ist auch nicht zu erwarten, weil der Entwurf einer theologischen Enzyklopädie selbst zum Prozeß des Theologietreibens gehört. Die wissenschaftliche Begleitung und Rationalitätskontrolle vollzieht sich — so bei Schleiermacher - in der permanenten Reflexion auf die Ethik als Grundwissenschaft., aus Gründen, die es mit dem allgemein-humanen, am Handeln aus Vernunft orientierten Charakter jener Praxis zu tun hat, die Schleiermacher im Grundsinne in der Kategorie der Mitteilung als Elementarform der Geselligkeit begriffen und beschrieben hat. Schließlich ließe sich dieser für die protestantische Theologie charakteristischen Struktur des Theologietreibens — viertens — noch jene Dimension hinzufügen, in der das Bilden der eigenen Uberzeugung je aktual neu ins Werk gesetzt wird, wo es um die direkte christliche Rede des Theologen oder um die Beteiligung des Theologen an der Konsensbildung in der politischen und gesellschaftlichen Kultur zu tun ist.40 Fazit aus dieser Struktur: Die individuell gesteuerte und zugleich aufs Allgemeine bezogene Art der Vertretung Als höhere Form des religiösen Virtuosen? In diesem Licht sind einige Erläuterungen' im einzelnen zu betrachten.
39 40
Reden 15. Neben den Predigten Schleiermachers sind hier seine politischen und kirchenpolitischen Schriften und Voten von Bedeutung.
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3. Umbildung der Theologie im Wechselverhältnis mit dem geschichtlichen Christentum. Zu den Erläuterungen zur vierten Rede Die Erläuterungen vor allem zur vierten Rede sind, worauf Günter Meckenstock ausdrücklich hingewiesen hat, 41 die ausführlichsten und in ihrem Umfang länger als der erläuterte Text der vierten Rede selbst. Sie sind ein exemplarisches Zeugnis für den Prozeß des Theologietreibens, wie er nicht nur für Schleiermacher selbst charakteristisch war, sondern darüber hinaus für das Theologietreiben „unter veränderte[n] Bedingungen des christlichen Denkens". In diesen Prozeß holt der Schleiermacher der ,Reden' das wieder ein, was zum „Gemeingut der Christen" 42 gehört. Daraus resultieren, so ließe sich behaupten, auch die Veränderungen in der systematisch-begrifflichen Ausführung des eigentümlichen Ansatzpunktes der ,Reden'. Im bewußten Eingehen auf die veränderten Bedingungen nimmt die theologische Theoriebildung teil an der komplexen geschichtlichen Wirklichkeit des Christentums. Gegenüber einer isolierten Lektüre der 1. Auflage der, Reden' verweisen diese Veränderungen auf Schleiermachers Gespür für die lebendige Geschichtlichkeit des Christentums, deren „Kenntnis" deshalb „ein Unendliches" ist. 43 Die Erläuterungen zur vierten Rede geben im einzelnen und im konkreten Detail zu erkennen, an welchen Beobachtungen Schleiermachers Interesse sich ausbildet, den „schneidenden Unterschied" zwischen der wahren Kirche und der empirischen Kirche umzuformen in eine differenzierte Sicht der Binnenperspektive des geschichtlichen Christentums. Von der These, „religiöse Mittheilung ist nicht in Büchern zu suchen", nur wenn die Religion „aus der Gesellschaft der Lebendigen" verjagt sei, müsse sie „ihr vielfaches Leben verbergen im todten Buchstaben" 44 sagt Schleiermacher, sie habe „die Erfahrung sehr gegen sich". 45 Von den heiligen Schriften aller Religionen bis zu den „ungeheuer verbreiteten Erbauungsbüchern" und Pamphleten gelte, daß sie auf die „Erregung der Frömmigkeit" durch Schriften zielten.46 Schleiermacher entwickelt zur Klärung des - scheinbaren - Widerspruchs zu der Behauptung der Rede in
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Meckenstock [wie Anm. 23] X X V . Kurze Darstellung 84. Kurze Darstellung 83. In systematisch-analytischer Hinsicht sind die Reden im Zusammenhang des Schleiermacherschen Werkes eindringlich untersucht worden von Christian Albrecht: Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit. Ihr wissenschaftlicher Ort in den Reden, in der Glaubenslehre und in der Dialektik, Berlin 1994. Reden 179f. Erläuterung; K G A 1 / 1 2 , 2 1 6 . Ebd.
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kurzem Umriß eine Theorie der Wirkungsgeschichte der „heiligen" Texte: Nur weil sie und sofern sie das Moment der unmittelbaren Wirkung in sich tragen, sind sie als Texte anderes als bloße Schrift, nämlich Medium der Mitteilung als „lebendige traditionelle Kraft", wobei der „Moment" des Ursprungs sich „individuell vergegenwärtigt". 47 Die Vergeschichtlichung des Ursprünglichen fordert nun aber die gelehrte Schriftauslegung durch die Predigt, die als „unsere lebendige religiöse Mitteilung" „an sie anknüpft". Der „schneidende Gegensatz" wird im weiteren Duktus der Erläuterung umformuliert in die Abgrenzung von den Erbauungsschriften. Diesen fehle der „objective Charakter" einer schriftgemäßen und kirchenmäßigen Terminologie, die „subjectivsten innern Erfahrungen" würden sich von dem „Charakter des gemeinsamen religiösen Lebens" entfernen. 48 Die durch die Schrift vermittelten ursprünglichen religiösen Impulse müssen dagegen im Kontext ihrer christentumsgeschichtlichen Wirkungsgeschichte wieder individuell vergegenwärtigt werden, nicht aber in Formen unmittelbarer erbaulicher Subjektivität. Die Abgrenzung der Form der religiösen Mitteilung von den Formen des Gesprächs in der freien Geselligkeit und ihre Bindung an eine eigene, „erhabene" Form 49 wird jetzt von Schleiermacher deutlich relativiert. Habe er sich damals auf die Brüdergemeinde bezogen, so sei die Form der darin praktizierten „besonderen Zusammenkünfte" noch kein Garant für echte religiöse Mitteilung. Und entsprechend könnten auch „in unserer freien Geselligkeit" durchaus „religiöse Gegenstände" verhandelt werden. 50 Worauf es allein ankomme sei, daß „darin ein religiöser Geist walte". 51 Die Abgrenzung der „frommen Gemeinschaft" von der Gesellschaft wird von Schleiermacher in zweifacher Hinsicht in vergleichende Betrachtung aufgehoben: In beiden Fällen kann sich die Form der Mitteilung, ihre Soziologie gleichsam, als religiös geistlos erweisen wie, umgekehrt, als eine solche, in der der religiöse Geist waltet. Die Privilegierung der Sonderform der Brüdergemeinde als Modell der wahren Kirche und religiösen Mitteilung wird so nicht mehr normativ besetzt. Analog korrigiert Schleiermacher seine hymnischen Preisungen der religiösen Rede: „Ein größerer Abstand" sei „schwerlich zu denken als der zwischen dieser Beschreibung, und dem was ich selbst in einer nun beinahe dreißigjährigen Amtsführung [...] auf dem Gebiet der religiösen Rede geleistet habe". 52
47 48 49 50 51 52
AaO. 217. AaO. 219. S. o. Anm. 27. Erläuterung; KGA 1/12, 220. Ebd. Ebd.
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Schleiermacher fragt sich, wie das jeder tun müsse, ob er dabei seinem Ideal so nahe wie möglich gekommen ist. Er habe sich „lieber mit schlichter Rede begnüg[t] als nach unächtem Schmuck" zu streben. Schleiermacher erläutert die Differenz mit dem Hinweis darauf, damals habe er von der wahren Kirche gesprochen, jetzt beziehe er sich „auf die kirchliche Gesellschaft, wie sie unter uns besteht". 53 — Die Religion, die immer schon ist, nicht bloßes Sollen! Da sei die schmucklose und didaktische Rede genauso nötig und angebracht wie bei der Sammlung eines kirchlichen Liederbuchs, an die man nicht „denselben Maaßstab" anlegen dürfe wie bei den „Gesängen unsers Klopstock und unsers Hardenberg". 54 In der vierten Rede hatte Schleiermacher strikt gegen den „schreckliche [n] Wahlspruch: kein Heil außer uns" polemisiert. 55 Ein Band umschließe alle, und jede besondere Vereinigung sei „nur ein fast fließender integrierender Teil des Ganzen, in unbestimmten Umrissen sich in das Ganze verlierend". In der Erläuterung differenziert er dieses Urteil dahin, was den Wahlspruch nulla salus angehe, so habe er „für die große Gemeinschaft der Frommen eine absolute Wahrheit". 56 Nur sofern dieser Wahlspruch „gegen andere" ausgesprochen werde, habe er eine zerstörerische Wirkung. Mit dieser Unterscheidung wird von Schleiermacher vorgezeichnet, was Ernst Troeltsch später in seiner Würdigung der „naiven Absolutheit" als notwendigem praktischen Element des religiösen Bewußtseins im Unterschied zur abstrakt-dogmatischen Absolutheit ausgeführt hat. 57 Die ,,wilde[] Bekehrungssucht" leugne eine „allgemeine Gemeinschaft". 58 Die Wahrung der je besonderen Individualität einer religiösen Gemeinschaft werde zu dieser Gemeinschaft nicht durch Preisgabe ihrer internen Absolutheit in Beziehung treten. Vielmehr plädiert Schleiermacher jetzt fur ein Konzept einer „weltbürgerlichen friedlichen Verbindung aller bestehenden und jede in ihrer Art möglichst vervollkommneten kirchlichen Gemeinschaften". 59 Nicht äußere Einheit nach dem Maß des spezifisch religiösen Bewußtseins, sondern eine „weltbürgerliche Verbindung" 6 0 entspreche dem Gedanken einer wahren Kirche. Das weltbürgerlich Gemeinsame ist die Form 53 54 55 56 57
58 59 60
Ebd. Ebd. Reden 188. Erläuterung; K G A 1/12, 2 2 5 . Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/ 1 9 1 2 ) . Kritische Gesamtausgabe Bd. 5, hg. von T. Rendtorff/S. Pautler, Berlin/New York 1998, 2 1 0 - 2 4 4 . Erläuterung; K G A 1/12, 2 2 5 . AaO. 2 2 9 . AaO. 2 3 0 .
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des Religionsfriedens in einer Perspektive, die durchaus an die Zielsetzung des Westfälischen Friedensschlusses erinnern kann. Von dieser Perspektive der friedlichen weltbürgerlichen Vereinigung sind auch die Erläuterungen bestimmt, in denen Schleiermacher neu und anders votiert, wo es um den potentiellen Ausschluß der religiös „Unfähigen" geht. In der vierten Rede heißt es, der Aufenthalt in der wahren frommen Gemeinschaft sei zwar für diejenigen tolerabel, die zur eigenen religiösen Erregung erst noch befördert werden sollten, und zugleich sei dieser Prozeß „entscheidend", nämlich im Sinne von „ausscheidend" für den, „der sich unfähig gefunden hätte davon ergriffen zu werden". 61 Jetzt heißt es: Dies sei beileibe nicht „buchstäblich" zu verstehen, als ob die Unfähigen „ausgeschlossen werden" oder veranlaßt werden sollten, „freiwillig aus[zu]treten". 62 Die Frommen könnten von sich aus „keinen austreten lassen" und „noch weniger können sie ausschließen". Denn eine „absolute Unfähigkeit" kann nie erkannt werden. „Das allen Menschen Gemeinsame" könne sich nur in der geschichtlichen Dimension entwikkeln und stehe unter der Voraussetzung einer „Zeit", die den Raum gebe, eben diese Entwicklung fortwährend zu befördern. Unverkennbar spricht Schleiermacher hier aus dem Kontext von Erfahrungen mit den kirchenpolitischen Wirkungen des Hahnschen Streits. In diesem Streit hatte Schleiermacher dezidiert für die verfemten Rationalisten Partei ergriffen, die genau in dem hier von ihm angedeuteten Sinne aufgefordert worden waren, von sich aus aus der Kirche auszutreten, andernfalls sie vom Ministerium aus ihrem theologischen Amt entfernt werden sollten. 63 Diese aus den Erläuterungen ersichtlichen Modifikationen zeigen gerade im Detail den differenzierenden, individualisierenden Blick, in dem sich für Schleiermacher nunmehr dasjenige darstellt, was in dem Ursprungspathos der ,Reden' durch schneidende Gegensätze charakterisiert wurde. Die Erweiterung des religionssoziologischen Blicks wird von Schleiermacher selbst ausdrücklich thematisiert, wenn er von der „Vorliebe [ . . . ] für die kleineren Kirchengemeinschaften [...] im Gegensatz gegen die großen kirchlichen Verfassungen" spricht, eine Vorliebe, die, wie er jetzt urteilt, „ohnstreitig einseitig" sei.64 Bemerkenswert ist Schleiermachers Erklärung, diese Einseitigkeit sei dem „rednerischen Zusammenhang" geschuldet. Die Einseitigkeit habe nur die Funktion,
61 62 63
64
Reden 202. Erläuterung; K G A 1/12, 234f. Zu Schleiermachers Stellungnahme zum Hahnschen Streit vgl. An die Herren D. von Cölln und D. Schulz. Ein Sendschreiben ( 1 8 3 1 ) ; S W 1/5, 6 6 7 - 7 0 2 , bes. 6 7 6 f f ; dazu auch: Zweites Sendschreiben an Lücke; S W 1/2, 6 2 3 . Erläuterungen; K G A 1/12, 2 3 5 (umgestellt).
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„die Aufmerksamkeit auf einen [...] geringgeschäzten Gegenstand" zu lenken.65 Die kleinen religiösen Gemeinschaften dienen dabei gleichsam als case studies, könne bei ihnen doch im gleichen Raum und zu gleicher Zeit „eine Mannigfaltigkeit" leichter manifestiert gefunden werden, die sonst nur „der genauere Beobachter wahrnehmen" könne, auch träten dabei die Prozesse der religiösen Vergemeinschaftung stärker hervor, wie sie sich „um eine kräftige und eigentümliche Erscheinung bilden". Mit genau diesen methodischen Gesichtspunkten begründet Schleiermacher, warum ihm nicht nur die Brüdergemeinde, sondern auch .Amerika" als der Fall par excellence für die freie Bildung religiöser Gemeinschaften erschienen sei, eine Ahnung, die sich inzwischen bestätigt habe.66 Dort findet er die fließende und flexible Form sich zu Gemeinschaft bildender und wieder auflösender Strukturen religiöser Mitteilung, bis dahin, daß sie, wie im Falle der Unitarier, „uns" als „außerhalb des Christentums zu liegen scheinen, aber eben nur scheinen". Die Sorge, es könne sich dabei um einen Prozeß des „Zerfallens" der großen historischen Gestalt des Christentums handeln, wäre vor allem dann berechtigt, wenn „die wissenschaftliche Festhaltung desselben ganz könnte in Vergessenheit" geraten. Nachdem nun aber in Amerika „auch Institutionen zur Fortpflanzung der christlichen Gelehrsamkeit" gegründet seien, wäre in dieser Hinsicht die „Aussicht noch fröhlicher".67 Getrübt werde dieser Ausblick nur dadurch, „daß der brittische Geist zu sehr überhand genommen hat und der deutsche immer mehr zurücktritt" - weshalb Schleiermacher für eine Verstärkung der deutschen Einwanderung nach Amerika, den „Freistaaten", eintritt.68 Insgesamt wird die Vorliebe für kleine Gemeinschaften im Gegensatz zu den großen Anstalten aus dem systematischen Begründungszusammenhang der „wahren" Kirche überführt in eine deskriptive Auffassung ihrer gegenseitigen Ergänzung und Durchdringung. 69 Die Wahrnehmung der geschichtlich-sozialen Wirklichkeit von Religion und Christentum wird nicht aus der systematisch konstruierten Theorie der ,Glaubenslehre' abgeleitet. Das Theologietreiben vollzieht sich prozeßhaft in 65 66 67 68 69
Ebd. Ebd. AaO. 235f. AaO. 236. Damit verbindet Schleiermacher gleichzeitig die Erklärung, die er sich selbst und seinen Lesern schuldet, warum er sich selbst kirchenpolitisch betätigt und öffentlich engagiert, wie bei den Unionsbestrebungen der protestantischen Kirchentiimer. Vgl. dazu die Untersuchung von Albrecht Geck: Schleiermacher als Kirchenpolitiker. Die Auseinandersetzungen um die Reform der Kirchenverfassung in Preußen ( 1 7 9 9 - 1 8 2 3 ) , Bielefeld 1997.
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Wechselwirkung mit und Teilnahme an der Gegenwart, sofern sich in ihr „Neues bildet". In diesem Prozeß verändert sich die Theologie, wird selbst auch neu, aber nicht definitiv und in sich letztbegründet, abschließend, sondern in Beziehung zu dem jeweiligen „Moment", dem geschichtliche Bedeutung zukommt.
4. Zum Verhältnis von Religionstheorie und Gesellschaftstheorie In diesem Prozeß des Theologietreibens hat die gesellschaftstheoretische Zeitdiagnose eine wichtige Funktion inne. Religion, das „vollendetste Resultat der menschlichen Geselligkeit"? In der vierten Rede gibt es gegen Ende jene Passage,70 in der der Redner „am Ende unserer künstlichen Bildung" eine Zeit erwartet, in der „es keiner andern vorbereitenden Gesellschaft für die Religion bedürfen wird als der frommen Häuslichkeit". Darin entwirft Schleiermacher das Bild einer Gesellschaft, die „unter dem Druk mechanischer und unwürdiger Arbeiten" seufzt, in einer „Erniedrigung", die als Ursache dafür gilt, „warum sie den freien und ofnen Blick nicht gewinnen mit dem allein man das Universum findet." Es gebe „kein größeres Hindernis der Religion als dieses daß wir unsere eignen Sklaven sein müßen". Das Sklavendasein bestehe darin, etwas zu verrichten, „was durch todte Kräfte sollte bewirkt werden können". Von der „Vollendung der Wißenschaften und Künste" erwartet der Redner, „daß sie uns diese todten Kräfte werden dienstbar machen" und die „körperliche Welt, und alles von der geistigen was sich regieren läßt in einen Feenpalast verwandeln werde, wo der Gott der Erde [...] nur eine Feder zu drüken braucht, wenn geschehen soll was er gebeut". Dann werde jeder der Religion teilhaftig, der ihrer fähig ist, alle einseitige Mitteilung höre auf, und „der belohnte Vater geleitet den kräftigen Sohn [...] in die heilige, nun zahlreichere und geschäftigere Versammlung der Anbeter des Ewigen".71 Schleiermacher ist, soweit ich sehe, auf diese Vision der religionsfördernden Konsequenzen der wissenschaftlichtechnischen Kultur nirgends so direkt wieder zu sprechen gekommen. Das der Theorie der idealen Gesellschaft als Negativfolie dienende Bild der Sklaven mechanischer Arbeitsprozesse ist in der theologischen Zeitdiagnose gleichwohl in mannigfacher Variation lebendig. Exemplarisch dafür ist, wenn heute unter dem Einfluß sozialwissenschaftlicher Theorien dieses Bild übertragen und überblendet wird auf die Gesamtheit der funktional ausdifferenzierten modernen Gesellschaft. 70 71
Reden 230f. Reden 232. Vgl. auch Reden 79.
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Die so diagnostizierte Moderne wird etwa, unter Berufung auf Schleiermacher, als „kulturell vermittelte" Ursache für den „Schwund des religiösen Lebens" verantwortlich gemacht. 72 Von einem solchen „Schwund" einer einstmals besseren, religionsfreundlichen Kultur ist allerdings bei Schleiermacher gerade nicht die Rede. Wiederholt er doch ausdrücklich seine Auffassung, „daß auch unser Zeitalter der Religion nicht ungünstiger sei, als jedes andre". 73 Die Forderung, sich in ,,stärkste[m] Oppositionsgeist" 74 gegen die Tendenzen flacher Aufklärung emporzuarbeiten, richtet sich bei Schleiermacher an den religiösen Menschen und dessen eigene Fähigkeit zur,Anschauung seiner selbst". 75 Zugespitzt und scharfsinnig hat Falk Wagner diese Problemstellung erörtert, die hier in ehrendem Andenken pars pro toto diskutiert werden soll. Falk Wagner hat von der Ambivalenz der modernen Individualitätskultur gesprochen. 76 Deren „Zweideutigkeit" komme zum Ausdruck in den religiösen Neuaufbrüchen, den „neu erwachten religiösen Bedürfnisse[n] und Sehnsüchteln]". 77 Die Zweideutigkeit besteht, so Falk Wagner, darin: Die Individualitätskultur korrespondiere einerseits objektiv mit den Modernisierungsprozessen der funktional differenzierten Gesellschaft. In politisch-rechtlich garantierten Grundrechten werde den Individuen die Anerkennung als freie, autonome, selbstbestimmende und selbstzweckliche Personen zuteil. Die Individualitätskultur könne sich zwar außerhalb der sozialen Funktionssysteme der Gesellschaft verwirklichen, also außerhalb der Wirtschaft, Politik und Verwaltung. Andererseits aber werde sie zugleich von den systemischen Mechanismen des Geldes und des Rechts durchdrungen, in Formen der Kultur- und Freizeitindustrie. Die Individuen machten demnach eine ihrer Selbstverwirklichung als unverwechselbare selbstbestimmte Personen zuwiderlaufende Erfahrung der allgemeinen Austausch- und Ersetzbarkeit. Aus dieser Ambivalenz der Individualitätskultur resultiere der Erwartungsüberschuß von Selbstverwirklichungsansprüchen, aus der Verlagerung der individuellen Erwartungsüberschüsse gehen „offensichtlich" die religiösen Neuaufbrüche der Gegenwart her-
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So in einer religionssoziologischen Interpretation der Reden Ulrich Barth: Schleiermachers ,Reden' als religionstheoretisches Modernisierungsprogramm, in: S. Vietta/D. Kemper (Hg.): Ästhetische Moderne in Europa, München 1998, 441-474; hier: 469. Reden 161; vgl. Ulrich Barth aaO. 465 und Anm. 58. Reden 156. Reden 157. Falk Wagner: Religion und die Zweideutigkeit der modernen Individualitätskultur, in: Gott im Selbstbewußtsein der Moderne, hg. v. U. Barth/W. Gräb, Gütersloh 1993, 140-151; vgl. ders.: Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus, Gütersloh 1995. Falk Wagner, aaO. 148.
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vor. Religion fungiere dafür als der lebensweldich und kulturell bedingte Ort der Reflexion des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. 78 In dieser Analyse kann man gut ein Beispiel für den Zusammenhang zwischen Theologie als Religionstheorie und Zeitdiagnose als Gesellschaftstheorie erkennen, wie er zur strukturellen Kontinuität protestantischer Theologie gehört. 79 Wagner verbindet die historisch-soziologische Analyse denn auch mit einer systematisch-theologischen Konzeption, die gegenüber seinen früheren strikt in der Logik des Gottesbegriffs prozedierenden Ansätzen durch eine ausdrückliche Aufnahme der historisch-soziologischen Analyse nicht unwesentlich modifiziert ist. Als deren systematischer Bezugspunkt wird „die christologische Subjektivität" 80 geltend gemacht, die als subjektivitätstheoretische Kategorie „ein schöner, gleichwohl nutzloser Gedanke" bliebe, wenn sie nicht „in den individuellen und soziokulturellen Weltumgang des Menschen" sich übersetzen läßt.81 Individualitätskultur wird dabei identisch gesetzt mit Vorstellungen von selbstbestimmten Individuen, die einen zur objektiven Individualitätskultur der modernen Gesellschaft „zusätzlichen" Anspruch geltend machen. Damit zerfällt der Begriff der Individualitätskultur in den Dual von „objektiv" allgemeiner und „subjektiv" individueller Kultur. Demgegenüber stellt sich jedoch die Frage, ob die der Moderne spezifische Reflexivität, wie sie im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft obwaltet, in dem zum Gegensatz erhobenen Dual von Individuum und Gesellschaft einer dann zweideutig erscheinenden Individualitätskultur fixiert werden kann. Ist nicht vielmehr die Dynamik der modernen Gesellschaft ausweislich ihres hohen Grades an Differenzierung im Unterschied zu einer stationären Ständegesellschaft durch eben diese Reflexion des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft insgesamt bestimmt? Macht das nicht gerade ihre historische Individualität aus? Läßt sich, anders gesagt und in die Perspektive Schleiermachers gerückt, der Begriff der Individualität exklusiv auf das empirische Einzelindividuum hin auslegen? Daraus resultiert erst notwendigerweise der abstrakte Gegensatz. In beiden Hinsichten, einesteils auf die kulturgeschichtlichen Gründe des Schwundes von Religion wie andernteils auf die gegenwartsspezifischen Gründe des Neuerwachens von Religion wird die Religion in einer subjektivitätstheoretischen Perspektive ins Spiel gebracht als Statthalter eines Verlorengegangenen oder als Anwalt eines akuten Verlustes. Religionstheorie fungiert als Krisentheorie und Kulturkritik. Diese Diskussion muß heute „von jedem Theo78 79 80 81
So zusammengefaßt die Analyse bei Wagner. S. o. 85f. Falk Wagner, 150. Ebd.
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logen" als Ingrediens „im Bilden einer eignen Überzeugung" geführt werden, „sofern sich Neues gestaltet hat". 82 In ihr sollte die Erinnerung vergegenwärtigt werden, daß Schleiermacher in seinen Entwürfen zur Ethik 83 Begriff und Vorstellung von Individualität nicht für das Einzelindividuum reserviert. Die von den Anfängen an seine theologische Systematik begleitende ethische Theoriebildung hat sich immer auch auf die allgemeinen Formen von Individualität ausgerichtet. Schon in den grundlegenden Kategorien der gegenseitigen Mitteilung ist die Geselligkeit als Sozialform der Individualität mitgedacht. 84 Deutlicher noch wird dies in Schleiermachers Entwürfen zur Güterlehre, die ihren Zielpunkt in der von ihm neu konzipierten Lehre vom Höchsten Gut findet.85 Auch wenn es dazu über die beiden Akademievorträge hinaus keine von ihm selbst noch zur VeröfFentlichungsreife gebrachten Schriften gibt, läßt sich doch eine „elementare sozialtheoretische Orientierung" (Oberdorfer) seines Denkens rekonstruieren, die mehr umfaßt als es die Konzentration auf den religiösen Selbstvollzug des Subjekts zu erkennen erlaubt. Die Lehre vom Höchsten Gut wird von Schleiermacher ausgeführt in einer Pluralität der Darstellungsweisen. Mit der Güterlehre als der Theorie dessen, was Menschen bewirken wollen, tritt Schleiermacher einer Auffassung des vernünftigen Individuums entgegen, derzufolge nur übrig bliebe, „daß jeder nur handelt um so zu sein oder zu bleiben wie er ist". 86 Darum sei es unzureichend, den Begriff des Höchsten Gutes „nur auf den einzelnen Menschen zu beziehen, und nach dem höchsten Gut des einzelnen zu fragen". 87 So würden „Gesinnung und Handlung von dem Werk gänzlich" getrennt. Die Pluralität des Höchsten Gutes liegt insofern nicht in dem Pluralismus der unendlichen einzelnen Individuen. Die Pluralität liege in der Art der Betrachtung, je nachdem wir den einen Standpunkt nehmen oder den anderen. In der klassischen Stelle aus der ersten Akademierede heißt es, das Höchste Gut erscheine vielfältig „als das goldene Zeitalter in der ungetrübten und allgemeinen Mitteilung des eigentümlichen Lebens, als der ewige Friede in der wohlverteilten Herrschaft der Völker über die Erde, oder als die Vollständigkeit und Unveränderlichkeit des Wissens in der Gemeinschaft der Sprachen, als das Himmelreich in der freien 82 83
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Kurze Darstellung [wie Anm. 37]. Wagner spricht von der „natürlich-vernünftigen Theologie" als „entgrenzter Offenbarungstheologie" in Form einer „Sozialethik oder ethischen Theologie" (aaO. 151). Vgl. dazu pars pro toto die einschlägige Untersuchung von Bernd Oberdorfer: Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit, Berlin/New York 1995. Über den Begriff des höchsten Gutes. Erste Abhandlung 1827. Zweite Abhandlung 1830; S W III/2, 446ff, 469ff. Über den Begriff des höchsten Gutes 452. AaO. 459.
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Gemeinschaft des frommen Glaubens, jedes von ihnen in seiner Besonderheit dann die anderen in sich schließend und das Ganze darstellend". 88 Das ist in Kürze das für Schleiermacher leitende Bild von Individualitätskultur im Begriff des Höchsten Gutes, an dem sich die geschichtlich-ethische Analyse orientiert. Der lebendige Zusammenhang dieser Pluralität der Güter wird darin bewußt, daß sie von der menschlichen Vernunft ausgehen. Ihre Besonderheit, ihre Veränderung, auch ihre Modernisierung zu bestimmen und zu beschreiben ist Gegenstand der Geschichtskunde. Diese wird der wirkenden ethischen Vernunft vorzüglich in den unterschiedlichen und unterscheidbaren Institutionen der Gesellschaft ansichtig, in denen sich die freie Vernunft betätigt. Im Vergleich dazu muß die Deutung der Ambiguität von wiedererwachter oder wieder zu befreiender Religion in Kontraststellung gegen die „von der Aufklärung heraufbeschworene mentale Gesamtsignatur der Epoche" 89 in die Vorstellung einer Dichotomie von Systemzwängen und Individualisierung münden. Das wäre dann ein später Reflex der modernitätskritischen Implikationen der theologischen Opposition von „Wort Gottes" und „Welt", aus deren Umklammerung sich die Schleiermacherrenaissance der jüngsten Zeit doch befreien will. In Umkehrung der fiktiven Redesituation von 1799 müßten dann nicht die Verächter der Religion, sondern die Verächter der modernen Gesellschaft aufgeklärt werden, mit der Religionstheorie als Gesellschaftskritik gebildet umzugehen. In der theologischen Diskussion der Gesellschaftstheorie wäre im Interesse metatheoretischer Klärung Schleiermachers Theorie des Selbstbewußtseins zu verhandeln. Was hat es mit der „Duplizität des Selbstbewußtseins" auf sich, durch die das „Sein des Subjektes für sich" und „sein Zusammensein mit anderem", „Empfänglichkeit und Selbstätigkeit" unterscheidbar sind? 90 Wie immer es hinsichtlich dieser Duplizität des Selbstbewußtseins und ihrem Bewußtwerden als „schlechthin abhängig" mit dem „oder" als „in Beziehung zu Gott" steht91: Man wird sich schwer der Konsequenz der Interpretation von Konrad Cramer 92 entziehen können, Schleiermacher habe zwar „nicht mit der Vorstellung" gebrochen, daß „Gott dem Bewußtsein gegenüber ein Transzendentes" sei, aber sehr wohl „mit der Vorstellung eines bewußtseinstranszendenten Got-
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AaO. 4 6 6 . Ulrich Barth, aaO. [wie Anm. 72] 4 6 8 . C G 2 § 4,1; 1, 24. CG2 § 4 ; 1 , 2 3 . Konrad Cramer: Die subjektivitätstheoretischen Prämissen von Schleiermachers Bestimmung des religiösen Bewußtseins, in: D. Lange (Hg): Friedrich Schleiermacher 1 7 6 8 - 1 8 3 4 , Göttingen 1985, 1 2 9 - 1 6 2 .
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tes". „Unbezüglich auf die Tatsache, daß es uns gibt, hat die Vorstellung, daß es Gott gibt, nicht einmal einen Sinn".93 Die Theorie der Struktur unseres Bewußtseins erschöpft sich nicht in der Theorie der Frömmigkeit. Das Bewußtsein der Frömmigkeit hat in seiner Besonderheit an der „Duplizität des Selbstbewußtseins" teil. Das Bewußtsein der Frömmigkeit würde sonst in einem Gegensatz zur „Bewußtseinsstellung der Moderne" isoliert und bliebe in seiner Individualität unbegriffen. Die in der Duplizität des Selbstbewußtseins sich zeigende Gleichzeitigkeit transzendiert insofern eine Separatstellung und Vergegenständlichung des real existierenden frommen Selbstbewußtseins, das nicht nur in der theoretisch ausgemittelten ursprünglichen Verfaßtheit des Selbstbewußtseins zu bestimmen ist, sondern zugleich und im Vollzug in den sozialen Formen des Nachvollzugs, in denen es sich vermittelt fortpflanzt. Nicht nur die spezifische Besonderheit, in der es in Beziehung auf den Ausdruck „Gott" gefaßt werden kann, sondern zugleich die Erfahrungskontexte, im Verhältnis zu denen es angeregt wird, sich auf seine Besonderheit zu besinnen, gehören zum „Stoff" der Frömmigkeit, wenn sie denn nicht auf eine supranaturale Dichotomie fixiert werden soll. Zur Ausdeutung dieser Problemstellung ist deshalb zu bedenken: In demselben Prozeß, den man bei Schleiermacher an den Erläuterungen zu den ,Reden' feststellen kann, ist Schleiermacher auf vorsichtige Distanz zum Religionsbegriff gegangen. Eine dafür einschlägige Bemerkung findet sich am Schluß der Lehnsätze aus der Ethik, wo Schleiermacher empfiehlt,94 sich des Ausdrucks „Religion" und seiner verschiedenen, sehr willkürlichen Gebrauchsweisen im wissenschaftlichen Gebrauch „lieber zu enthalten", so wie er selbst sich „desselben bis auf einen flüchtigen, nur der Abwechslung dienenden Gebrauch" möglichst enthalten habe, zumal dieser Begriff „im Gebiete des Christentums in unserer Sprache sehr neu ist". Indem Schleiermacher selbst dagegen den Begriff des Christentums bevorzugt,95 lädt er dazu ein, über die Vereinbarkeit oder relative — Unvereinbarkeit der Begriffe von Religion und Christentum neu nachzudenken, nämlich in Richtung auf diejenige individuelle Form von „Religion schlechthin",96 die als geschichtliches Christentum ihre historisch-gegenwärtige Individualität in den Ausprägungen einer modernen Kultur und nicht im schneidenden Gegensatz gegen sie erweist. Sie kann darin Individualitäts-
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AaO. 1 6 1 . C G 2 § 6 Zusatz; 1, 45-47. Vgl. dazu die Untersuchung von Markus Schröder: Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion, Tübingen 1 9 9 6 . C G 2 § 6 Zusatz; 1 , 4 6 .
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kultur genannt werden, worin sie bis in die institutionell ausdifferenzierten Formen des Bewußtseins die Unterscheidung von Individuum und Gemeinschaft offen hält. Insofern kann gesagt werden, daß das Christentum mehr ist als Religion, nämlich zugleich Rechtskultur, Wissenschaftskultur, ökonomische Kultur, und in seiner eigenen geschichtlichen Verfaßtheit eben protestantische Kultur. Darin vollzieht sich das „unvollendete Projekt der Individualitätskultur" der Moderne. Die der Theologie inhärente Gesellschaftstheorie avanciert so von einem Außenthema zum expliziten Thema ihres Selbstverständnisses, in dem die Vorstellung, daß „Gott dem Bewußtsein gegenüber ein Transzendentes" sei, gerade nicht in negativen Bestimmungen der Gesellschaft vergegenständlicht wird, sondern die Theorie zum Begreifen ihrer individuell-geschichtlichen humanen Verfaßtheit anregt.
Schleiermachers ,Reden' als Paradigma der Religionsphilosophie VON HENDRIK JOHAN ADRIAANSE/ D E N HAAG
1. Paradigma Der Ausdruck .Paradigma' in dem Titel dieses Vortrags gemahnt an die Diskussionen in der Wissenschaftstheorie der 60er und 70er Jahre dieses Jahrhunderts. Einer der prominentesten Diskutanten, der Amerikaner Thomas Kuhn, hat die ausufernde Bedeutung dieses Grundbegriffs in zwei Hauptbedeutungen zusammengefaßt, eine mehr soziologische und eine andere, die er nicht benennt, die man aber als die technische charakterisieren könnte. Im soziologischen Sinn ist mit .Paradigma' die ganze Konstellation von Annahmen, Wertsetzungen, Techniken usw. gemeint, die die Mitglieder einer wissenschaftlichen Gemeinschaft miteinander teilen. In dem wichtigeren, sozusagen technischen Sinn bezieht sich der Ausdruck .Paradigma' auf ein bestimmtes Element in dieser Konstellation, nämlich die konkreten Lösungen, die als Modell oder Vorbild bei der Inangriffnahme neuer Probleme gebraucht werden können. Die konkreten Lösungen sollen hier mit abstrakten methodologischen Regeln kontrastiert werden. Die Entwicklung der Wissenschaft findet, so war eine Hauptthese Th. Kuhns, nicht durch Anwendung solcher abstrakten Regeln, sondern durch Benutzung konkreter Vorbilder statt. Man denke etwa an die Ausbildung neuer Wissenschaftler: diese werden in einer bestimmten Praxis geschult. Sie lernen bestimmte Problemstellungen mit bestimmten theoretischen Mitteln und Instrumenten zu bearbeiten. Ihre Schulung hat in starkem Maße den Charakter einer Einübung. 1 All das kann im Folgenden nur im übertragenen Sinn Anwendung finden. Schleiermachers ,Reden über die Religion' 2 sind ja keine wissenschaftliche Schrift. Man kann sie höchstens zu der ziemlich vagen Gattung der GeistesgeT h o m a s Kuhn: T h e Structure of Scientific Revolutions, Chicago 3 1971, bes. 175. Schleiermachers Schrift ,Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern' wird in der Erstauflage nach K G A 1 / 2 zitiert. Die eingeklammerten Zahlen im Text beziehen sich auf die Seitenzahlen der Erstauflage.
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schichte zählen. Das zieht eine entsprechende Auflockerung der anderen theoretischen Begriffe nach sich. Von Problemlösung kann höchstens im abgeschwächten Sinn die Rede sein. Hypothesenbildung ist oft kaum möglich, crucial experiments sind meistens nicht zu haben und eindeutige Verifikationen oder Falsifikationen finden nur ausnahmsweise statt. Auch fehlt der ganze organisatorische Betrieb, der für die moderne Wissenschaft als gesellschaftliches Phänomen kennzeichnend ist. Gleichwohl dürfte dieser wissenschaftstheoretische Terminus ,Paradigma' auch für unsere Zwecke brauchbar sein. Erstens wegen seines geschichtlichen Charakters. Ein Paradigma ist nicht auf einmal da und auf einmal wieder verschwunden, sondern kennt eine Entstehungs- und eine Wirkungsgeschichte. Diese sind allerdings meistens recht verwickelt, so daß auch schon im Bereich der empirischen Wissenschaften der Fortschritt alles andere als linear verläuft.3 In der Geistesgeschichte ist der Sachverhalt noch ungleich komplexer; vielleicht kann man hier überhaupt nicht von Fortschritt reden. Es ist hier ja auch nur ganz selten, daß eine Idee oder ein Verfahren endgültig veraltet ist und auf keinerlei Weise mehr rezipiert werden kann. Aber die mehr zyklische Art geistesgeschichtlicher Entwicklung schließt Dynamik, Aufstieg und Untergang, Neuansatz und Fortwirkung keineswegs aus. Nur muß man mit längeren Epochen4 rechnen. In der Wissenschaft ist die Lebensdauer eines Paradigmas oft recht begrenzt, in der Geistesgeschichte ist es, scheint mir, nicht unangebracht, die paradigmatische Funktion gewisser Erkenntnisse oder Grundansichten in Jahrhunderten zu zählen. Und so möchte ich im Blick auf Schleiermachers ,Reden' den Begriff so weit fassen, daß er die ganzen zweihundert Jahre, die uns von ihnen trennen, umspannen kann. Es kann m. E. sinnvoll gefragt werden, welcher paradigmatische Wert den ,Reden' in bezug a u f g e g e n wärt ige Religionsphilosophie zukommen könnte. Auf diese Frage will ich mich sogar konzentrieren. Zweitens ist der wissenschaftstheoretische Paradigma-Begriff brauchbar wegen seiner emphatischen Rede von Problemen und Problemlösungen. Diese Rede kann, wie gesagt, in geistesgeschichtlichem Bezug nur auf übertragene Weise stattfinden, aber ganz auf sie zu verzichten, wäre auch in diesem Bereich 3
4
Vgl. Wolfgang Stegmüller: Rationale Rekonstruktion von Wissenschaft und ihrem Wandel, Stuttgart 1979, 124ff, 168ÍF. Falk Wagner hat in bezug auf Schleiermacher mit Recht die Gründung einer Epoche von der einer Schule abgegrenzt. „Schleiermacher hat nicht eine ,Schule begründet', sondern eine neue Epoche in der Geschichte des Verständnisses von Religion und der Theologie eingeleitet" (vgl. Falk Wagner: Theologie im Banne des religiös-frommen Bewußtseins, in: K.-V. Selge (Hg.): Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, Berlin/New York 1985, 9 2 3 - 9 4 4 ; hier: 923).
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unüberlegt. Die frühromantische Bewegung, zu der Schleiermachers ,Reden' gehören, war gewiß nicht eine bloße Mode-Erscheinung ohne jedes Problembewußtsein; ihr Profil war im Gegenteil stark gedanklich und philosophisch. Der kritische und diskursive Gehalt ihrer Stellungnahmen soll nicht unterschätzt werden. Und das gilt bis in die Sprachhandhabung. Es ist nicht von ungefähr, daß die Frühromantiker nicht nur die Begrifflichkeit, sondern auch den Ton, den Stil änderten. Hier stoßen wir auf einen der Punkte, an denen Schleiermachers,Reden' ein paradigmatischer Wert zugesprochen werden könnte: wichtig dürfte seither in der Religionsphilosophie nicht nur die Frage sein, was zu sagen ist, sondern auch die Frage, wie es zu sagen ist. Hier kommt der zweite Grundbegriff aus meinem Titel ins Spiel.
2. Religionsphilosophie Wie gesagt, möchte ich den Terminus ,Religionsphilosophie' vor allem in seiner gegenwärtigen Bedeutung nehmen. Es kann demnach dahingestellt bleiben, ob die ,Reden' selbst als eine religionsphilosophische Schrift anzusehen sind. In dieser Frage sind sehr verschiedene Stellungnahmen möglich. Es gibt gute Gründe, sie zu verneinen.5 Das Wort kommt nicht einmal vor, geschweige denn, daß Schleiermacher es als Ausdruck seines eigenen Standpunktes und Verfahrens benutzt hätte. Unleugbar ist aber, daß die ,Reden' im Laufe ihrer Wirkungsgeschichte eine beträchtliche religionsphilosophische Relevanz aufgewiesen haben. Und das ebenfalls aus guten Gründen: denn sie legen einen philosophischen Gehalt an den Tag, der auch einen zunächst unwilligen Leser wie Schelling in Erstaunen und Bewunderung versetzen konnte: „ich ehre jetzt", schrieb er an A. W. Schlegel am 3.7.1801, „den Verfasser als einen Geist, den Vgl. Otto Piper: Das religiöse Erlebnis. Eine kritische Analyse der Schleiermacherschen Reden über die Religion, Göttingen 1920, 4: „So gewiß es ist, daß Schleiermacher sich vor der Abfassung der .Reden' mit philosophischen Problemen abgegeben hat [...], ebenso verkehrt ist es, wenn man in ihnen eine religionsphilosophische Studie sehen will." Hermann Timm geht gewissermaßen noch einen Schritt weiter. Nach ihm sind die ,Reden' sogar ¿wft'-religionsphilosophisch, insofern sie primär geschrieben seien gegen die in der Kant-Schule eingeführte Rede von der .Religionsphilosophie' als einer Spezialdisziplin der Weltweisheit. „Schleiermacher startet einen Frontalangriff gegen diese Synthesis, die im Begriffe steht, zum Konsens der aufgeklärten Bildungsöffentlichkeit zu werden: Befreit die Religion von den Fesseln dieser, der idealistischen Philosophie, oder umgekehrt: revolutioniert sie zum .höheren Realismus' des Weltgeistes!" (Hermann Timm: Die heilige Revolution Schleiermacher - Novalis - Friedrich Schlegel, Frankfurt am Main 1978, 29).
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man nur auf der ganz gleichen Linie mit den ersten Original-Philosophen betrachten kann [...] wer etwas der Art hervorbringen will, [muß] die tiefsten philosophischen Studien gemacht haben - oder er hat durch blinde göttliche Inspiration geschrieben". 6 Nicht nur die Streitfrage nach dem religionsphilosophischen Charakter der ,Reden' selbst bleibt also dahingestellt; ich will mich auch nicht auf Schleiermachers eigenes Verständnis dieser Disziplin festlegen. Bekanntlich hat Schleiermacher in seinen späteren Schriften Begriff und Ausdruck aufgenommen und der Religionsphilosophie eine nicht unwichtige Stellung im System der Wissenschaften zuerteilt als einer kritischen Disziplin, die die Weiterentwicklungen frommer Gemeinschaften auf das geschichtliche Wesen derselben bezieht. 7 Dieses Verständnis kann im Folgenden zwar weitgehend mitgenommen werden, doch scheint es angebracht, weil ja das primäre Interesse der gegenwärtigen religionsphilosophischen Relevanz der ,Reden' gilt, den ziemlich starken wissenschaftssystematischen Akzent etwas abzuschwächen. Die Idee eines Systems der Wissenschaften spielt heutzutage, soweit ich sehen kann, weder in der Religionsphilosophie noch in der allgemeinen Wissenschaftstheorie eine ansehnliche Rolle. Man kann im Blick auf die gegenwärtige Lage auch schwerlich von der Religionsphilosophie reden. Es gibt vielerlei Arten und Typen derselben und nicht selten stehen sie untereinander auf gespanntem Fuß. Das hat zur Folge, daß die paradigmatische Funktion der ,Reden', die wir in diesem Vortrag erwägen wollen, nicht allgemein gelten kann. Es gibt Varianten gegenwärtiger Religionsphilosophie, die völlig an Schleiermacher vorbeileben, die die Gedankenwelt und Sprachart der ,Reden' nicht nur ablehnen, sondern nicht einmal kennen. Immerhin sind etliche andere Spielarten zu verzeichnen, für die diese Funktion in der Tat in Betracht kommt. Es muß sich dabei nicht notwendig um ausdrücklichen Einfluß handeln; die paradigmatische Wirkung kann auch unbewußt vorgehen. Auf diese Weisen könnten so verschiedene Typen von Religionsphilosophie wie der phänomenologische, der existential-hermeneutische, der modernitätstheoretische und der pluralistische zu Schleiermachers 6
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F. W. J. Schelling: Briefe und Dokumente, Bd. II: 1775-1803 Zusatzband (Hg. von H. Fuhrmans), Bonn 1973, S. 335 (zit. nach Kurt Nowak: Schleiermacher und die Frühromantik. Eine literaturgeschichtliche Studie zum romantischen Religionsverständnis und Menschenbild am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland, Göttingen 1986, 162, Anm. 118). Vgl. K D 2 § 23; siehe auch C G 2 § 7 Anm. Vgl. auch Doris Offermann: Schleiermachers Einleitung in die Glaubenslehre, Berlin 1969, bes. 152ff; Marianna Simon: La philosophie de la religion dans l'oeuvre de Schleiermacher, Paris 1974, bes. 19-34; Theodor H. Jorgensen: Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis des späteren Schleiermacher, Tübingen 1977, bes. 203ff, 292f.
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,Reden' in Bezug gesetzt werden. In dieser Feststellung liegt auch die Antwort auf die Frage, was nun bei alledem unter gegenwärtiger Religionsphilosophie zu verstehen sei: eben einer oder mehrere dieser (oder ähnlicher) Typen. Ich kann leider nichts Präziseres sagen als das. So viel vorher zu den Begriffen Paradigma und gegenwärtige Religionsphilosophie. Jetzt bleibt noch eine Vorfrage zu lösen, nämlich welche Fassung der .Reden über die Religion' in unserem Zusammenhang als die maßgebliche zu gelten hat. Dieser Frage wollen wir uns jetzt zuwenden. Sie ist in der T a t eine Vorfrage, doch bringt sie uns bereits in medias res.
3. Plädoyer für die Erstauflage Es kann behauptet werden, daß die Urfassung der ,Reden' hinter den FolgeAuflagen zurücksteht. Es sei denn auch nicht zufällig, daß Schleiermacher nachher selbst Veränderungen vorgenommen und Erläuterungen hinzugefügt hat. 8 Dieser Nachteil gelte gerade in religionsphilosophischer Hinsicht, denn die Erstauflage versage dort, wo es darauf ankommt, die Religion in ihrem Wesen wirklich zu begreifen, d.h. sie, wie es sich doch in jedem Zweig der Philosophie gehört, konzeptuell zu erfassen und schlüssig zu explizieren. Ein Beispiel dieser Auffassung findet man in der großangelegten Schleiermacher-Darstellung von Emmanuel Hirsch, auf die ich hier etwas näher eingehen möchte. Hirsch hebt besonders die Änderungen in der 2. Auflage aus dem Jahre 1806 hervor. In den sieben Jahren zwischen der 1. Auflage und dieser 2. hatte Schleiermacher seine philosophische Ethik ausgearbeitet, die die Grundlage seines ganzen reifen Schrifttums bildet. Hier werden die Beziehungen zwischen Vernunft und Natur aufgeklärt und kommt das Geviert der allgemein organisierenden, allgemein symbolisierenden, individuell organisierenden und individuell symbolisierenden Tätigkeiten zur Entfaltung. Hier enthält auch die Religion ihren klaren systematischen Ort. Erstens könne ihr nunmehr vollauf ein Vernunftcharakter zuerkannt werden. Sie fällt in das individuelle Symbolisieren, aber Individualität ist nicht als solche ineffabel oder irrational, so sehr sie auch Sache des Gefühls ist. Das unmittelbare Gefühl ist selbst „als eine Tätigkeit der Vernunft ein sich kenntlich Machen des Geistigen nach seiner Einheit mit der Natur". 9 Zweitens, Vgl. zu diesen Änderungen und Erläuterungen die Einleitung des Bandherausgebers Günther Meckenstock in K G A 1/12, bes. X-XXVI. Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Gütersloh 3 1964, IV, 554.
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und in unserem Zusammenhang entscheidend, könne so erstmals von einer ReMgionsphilosophie die Rede sein. Vorher hätten Schleiermachers Ausführungen über die Religion vielmehr einen bloß psychologischen Charakter gehabt. Sie wären eine Darstellung der Erlebnisse, die im religiösen Subjekt vorgehen, deren Wahrheitsgehalt aber zwangsläufig in der Schwebe bleiben müsse. Daß dem so ist, gehe am klarsten aus dem Stellenwert des Anschauungsbegriffes hervor. In der 1. Auflage der ,Reden' spielt der Begriff der Anschauung neben dem des Gefühls eine Hauptrolle. Aber bei Lichte besehen, sei er ein Zwitterding. Schleiermachers Anschauung des Universums sei nicht sinnlich, denn sie geht auf das Unendliche, aber eigentlich geistig sei sie auch nicht, denn sie bezieht sich stets auf positiv-individuelle Ausdeutungen bestimmter Erfahrungszusammenhänge. Dem geschulten transzendentalphilosophischen Blick könne nicht verborgen bleiben, daß diese Anschauung „die Zusammensetzung eines Absolutheitsgefühls mit einem Phantasieakt" ist. Die Darstellung des Wesens der Religion in der Urauflage sei demnach bestenfalls die Beschreibung bestimmter Erscheinungen des religiösen Bewußtseins. Darum sei es nichts anderes als eine folgerichtige Selbstkorrektur, wenn Schleiermacher in der 2. Auflage auf den Anschauungsbegriff verzichtet und sich mit dem Gefühlsbegriff begnügt. So erst werde sein Religionsverständnis frei von erkenntnistheoretischen Unmöglichkeiten. Kurzum, vergleicht man die Fassungen der 2. Rede in der ersten und in der zweiten Auflage, so ist nach Hirsch klar, „daß sämtliche Neuerungen ohne Ausnahme sachliche Verbesserungen sind". 10 Was ist im Hinblick auf die uns beschäftigende Frage zu dieser Interpretation zu sagen? Erstens und nebenbei sei bemerkt, daß neuere wortstatistische Untersuchungen ausgewiesen haben, daß die Daten, auf die Hirsch seine Interpretation gründet, nicht ganz stimmen. Wie Chr. Albrecht bemerkt, wird der Anschauungsbegriff in den späteren Auflagen nicht aufgegeben, sondern eingeschränkt, während er auch in der 1. Auflage bereits im Gefälle der zweiten zur fünften Rede beschränkt wird." Zweitens und wichtiger: in dieser Interpretation wird das semantische Potential des Anschauungsbegriffes sehr heruntergespielt. Aufschlußreicher ist es, etwa mit Ulrich Barth in diesem Begriff das direkte Äquivalent zu Spinozas dritter Erkenntnisart der adäquaten Intuition zu erblicken oder auch, wie Xavier Tilliette, ihn als eine verkappte und eigenwillige Form der intellektuellen Anschauung im Geiste Fichtes und Schellings
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Hirsch, aaO. 562. Vgl. Christian Albrecht: Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit. Ihr wissenschaftlicher Ort und ihr systematischer Gehalt in den ,Reden', in der Glaubenslehre und in der Dialektik, Berlin/New York 1994, 109. Albrecht bezieht sich auf die Interpretationen von Friedrich Wilhelm Graf und Werner Schultz.
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anzusehen. 12 Drittens und vor allem ist aber zu bemerken, daß sich in dieser Interpretation ein Verständnis von Religionsphilosophie verrät, das fraglich ist. Ist es wahr, kann man einwerfen, daß Schleiermachers jugendliche Darstellung des Wesens der Religion an die Ebene der Philosophie nicht eigentlich herankommt und in der Psychologie steckenbleibt? Es ist doch sonnenklar, daß die Anschauung zwar Individuelles betrifft, aber daß, um noch einmal Tilliette anzuführen, Individuum hier ein qualitativer Begriff 7 ist, der ebensowohl für das konkret Allgemeine als auch für die Person steht, — also für alles, was den Stempel des All-Einen trägt. 13 Weiter, und vor allem: Hirsch erklärt selber einmal, daß fur die philosophische Klarheit und Folgerichtigkeit der späteren Auflagen ein teurer Preis bezahlt werden mußte: „gerade das eigentümlich Romantische, das der Urauflage ihren D u f t gibt, ist dahin". 1 4 M a n kann fragen: ist dieser D u f t religionsphilosophisch irrelevant? Wenn man ihn auf die besondere Frische der Sprache beziehen darf, bin ich der Meinung, daß dem nicht so ist. Gerade die nicht begrifflich vollendete, sondern eher rhapsodische, hymnische, ironische, prophetische, polemische oder auch rhetorische 15 Sprachart der Erstfassung der ,Reden' kann für die gegenwärtige Religionsphilosophie paradigmatisch wirken. In unserer geistesgeschichtlichen Lage auf der Grenze zwischen Moderne und Postmoderne dürften neben der sachlichen Begriffssprache auch subtilere Sprachen - „subtler languages", wie der kanadische Philosoph Charles Taylor sagt 1 6 — erforderlich sein: Sprachen, die den Gegenstand der Besinnung eben nicht in den Begriff einsperren, sondern ihn in seinem Erlebnischarakter freilegen und auch gewissermaßen selbst vollziehen. Vielleicht ist, so gesehen, die offenkundige Vorliebe unseres Jahrhunderts für die Erstauflage der ,Reden' auch kein Zufall. 1 7 A u f jeden Fall entscheide ich mich für sie und lasse 12
Vgl. Ulrich Barth: Schleiermachers .Reden' als religionstheoretisches Modernisierungsprogramm, in: S. Vietta/D. Kemper (Hg.): Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik. München 1997, 441-474, hier 462; Xavier Tilliette: L'intuition intellectuelle de Kant à Hegel, Vrin/Paris 1995, 164.
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Tilliette, aaO. 162. Emanuel Hirsch: Geschichte IV, 563. Vgl. zu diesen Qualifikationen vor allem Kurt Nowak: aaO. [wie Anm. 6] bes. I46ff und Hermann T i m m , Heilige Revolution, bes. 26f. Vgl. Charles Taylor, Sources of the Self. The making of Modern Identity, Cambridge U P 1989, part V, 393ff. Auch schon aaO. 302 begegnet dieser Ausdruck (in der Einzahl) und zwar nach dem Novalis-Zitat „Nach innen geht der geheimnisvolle Weg". Taylor fährt fort: „It follows that the language needed to interpret the order of nature is not one we can read off a publicly available gamut of correspondences; it has to take shape out of the resonances of the world within us. It is a .subtler language'". Vgl. dazu auch Rudolf Otto: Zur Einführung, in: Friedrich Schleiermacher, Uber die Religion, Z u m Hundertjahr-Gedächtnis neu herausgegeben von Rudolf Otto, Göttin-
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die später erfolgten Änderungen und Erläuterungen, wie wichtig und wertvoll auch immer, dahingestellt sein.
4. Destruktion der rationalen Theologie Inwiefern sind die ,Reden' in ihrer Urfassung ein Paradigma gegenwärtiger Religionsphilosophie? Ich möchte an der Antwort auf diese Frage zwei Seiten unterscheiden, eine destruktive und eine konstruktive. Beginnen wir mit der ersteren und realisieren wir kurz Schleiermachers Haltung zu der rationalen Theologie. Seine Kritik daran tritt nicht erst in den ,Reden' zutage. Schon in seinen Jugendarbeiten hatte er im Anschluß an Kant die spekulativen Gottesbeweise aufgegeben und, über Kant hinaus, auch den moralischen Gottesbeweis, bzw. das Gottespostulat der reinen praktischen Vernunft, angegriffen. Als 21jähriger bezweifelte und verneinte er schließlich, daß die Begriffe Gott und Unsterblichkeit in praktischem Bezug „auf einem etwas festeren Grund ruhten als auf der natürlichen Illusion der spekulativen Vernunft". 18 Man erkennt darin unschwer die Behandlung der Begriffe Gott und Unsterblichkeit am Ende der zweiten Rede wieder. „Gott ist nicht Alles in der Religion sondern Eins" (132), so heißt es dort, oder noch derber, „daß eine Religion ohne Gott besser sein kann, als eine andre mit Gott" (126). Schleiermacher war sich freilich des atheistischen Anscheins dieser Aussagen wohl bewußt und befürchtete, daß der Zensor sie auch so beurteilen und entsprechend zusammenstreichen würde. „Sehr unangenehm" nennt er die Lage in dem Brief vom 22. Februar 1799 an Henriette Herz, „aber", so fügt er gleich hinzu, „was ist zu machen!" 19 Offenbar war er gewillt, es darauf ankommen zu lassen und nicht nachzugeben. Er sah seinen Fall im Zusammenhang mit dem Fichtes, der zur gleichen Zeit in den Atheismusstreit verwickelt war. Ohne Fichtes Namen zu nennen, nimmt er in seinen ,Reden' auf ihn Bezug20 und pflichtet ihm bei. „Mit großer Gelassenheit haben sie [sc. die wahrhaft religiösen Menschen] das, was man Atheismus nennt, neben sich gesehn, und es hat immer etwas gegeben, was ihnen irreligiöser schien als dieses" (130). Ja, in Wahrheit geht Schleiermacher noch über Fichtes , Atheismus" hinaus, denn bei diesem war der Gottesbegriff zwar aller transzen-
18
19 20
gen 1899, XV; vgl. auch die Einleitung des Bandherausgebers Günther Meckenstock in K G A 1/2, bes. LXXVIII. K G A 1/1, 99; vgl. Günther Meckenstock: Deterministische Ethik und kritische Theologie, Berlin/New York 1988, bes. 150f. Vgl. K G A V/3, 15. Vgl. vor allem Reden 1 3 0 und Emanuel Hirsch: Geschichte IV, 3 5 9 .
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denten und persönlichen Züge entkleidet, aber doch entschieden auf die moralische Weltordnung ausgerichtet worden. So ergab sich, was in den ,Reden' der vollendete und gerundete Idealismus heißt (vgl. 54), an dem Schleiermacher aber die „armselige Einförmigkeit" (53) rügt, die für die Mannigfaltigkeit und Individualität der lebendigen Natur kein Gespür hat. So konnte Schleiermacher ausdrücklicher als Fichte auf die Einzahl im Gottesgedanken, auf den Monotheismus also, verzichten. Seine bekannte Äußerung: „einen [sc. Gott] oder mehrere, ich verachte in der Religion nichts so sehr als die Zahl" (125), läßt sich auch als eine Kritik an Fichte lesen. Entscheidend ist die individuelle Art, wie das Universum angeschaut wird. Nicht auf die Weltordnung in ihrer strengen Einheit, sondern auf das Leben in der Verschiedenheit seiner Bildungen kommt es an. Lassen wir aber das komplizierte Verhältnis Schleiermachers zu Fichte auf sich beruhen und nehmen wir unsere Leitfrage auf. Inwiefern kann die Destruktion der herkömmlichen rationalen Theologie als paradigmatisch für die gegenwärtige Religionsphilosophie erkannt werden? Ich möchte diese Frage anhand der von Ulrich Barth vorgebrachten Alternative .Religion oder Gott' beantworten. Barth führt aus, daß bei Schleiermacher die Stellung, die der Gottesbegriff innehatte, auf den Religionsbegriff übergeht. Er zeigt, wie dieser Wechsel bei Kant gründlich vorbereitet wurde. Kants ethikotheologischer Religionsbegriff ist das Deduktionsprinzip einer sachhaltigen Gotteslehre, nicht umgekehrt. Darum vermag auch allein der Religionsbegriff — nicht etwa der Gottesgedanke - eine umfassende Theorie des Christentums zu generieren. Schleiermacher ist dann in seiner ,Glaubenslehre' diesen Weg ebenso konsequent wie kreativ gegangen. Das Ergebnis der Ausführungen Barths sei hier wörtlich angeführt; es ist fur uns umso wichtiger, da es auch den hier zugrundegelegten theoretischen Begriff anklingen läßt: „Wenn es wirklich einen prinzipientheoretischen Paradigmenwechsel in der Geschichte der Theorie des Christentums gegeben hat, dann war es - dies machen Kant und Schleiermacher je auf ihre Weise deutlich - die Ablösung des Gottesgedankens als des generierenden Prinzips der Theologie durch den Begriff der Religion". 21 Mir scheint diese Feststellung ganz treffend. Allerdings müßte sie von der christlichen Theologie auf die Religionsphilosophie ausgedehnt werden. Sie verlöre damit ihre ausschließliche Ausrichtung auf die christliche Religion. Der besagte Paradigmenwechsel müßte also für die Theorie aller und jeder Religion Ulrich Barth: Religion oder Gott? Die religionstheoretische Bedeutung von Kants Destruktion der spekulativen Theologie, in U. Barth/W. Grab (Hg.): Gott im Selbstbewußtsein der Moderne. Zum neuzeitlichen Begriff der Religion, Gütersloh 1993, 1133, bes. 30 und 33.
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gelten können. Das ist freilich eine Bedingung, die gerade in jüngster Zeit auf Bedenken stößt; wir werden am Schluß noch auf das Problem des allgemeinen Religionsbegriffes zurückkommen müssen. Im Übrigen aber ist kaum zu leugnen, daß ein Großteil der Religionsphilosophie bis auf den heutigen Tag in der Spur dieses Ansatzes geht. Schon ihr Name legt davon Zeugnis ab. Der Aufstieg dieses Namens scheint das Scheitern der alten rationalen Theologie geradezu vorauszusetzen: 22 Religionsphilosophie entsteht demnach, wenn die Betrachtung sich nicht mehr auf das göttliche Wesen an sich, sondern auf die Religion als menschliche Lebensform richtet. Dieser Name hat sich heutzutage weithin durchgesetzt. Das bedeutet freilich nicht, daß seine Verwendung überall mit der Destruktion des althergebrachten Gottesgedankens einhergeht. Wiederum muß ich an die interne Verschiedenheit der Religionsphilosophie erinnern. Denkt man ζ. B. an die anglo-amerikanische Szene, so stellt sich heraus, daß
der Name philosophy of religion oft einfach gleichbedeutend mit philosophical theology gebraucht wird oder auch entweder eine massive Christentumsapologie oder eine massive vorkritische Metaphysik deckt. Die Diskussionen über die Gottesbeweise sind dort denn auch noch keineswegs verstummt; vielmehr werden die Fortschritte in Logik und Naturwissenschaften dazu benutzt, immer raffiniertere Varianten derselben vorzubringen. 23 Gleichwohl gibt es große Gebiete in der gegenwärtigen Religionsphilosophie, die die im 18. Jahrhundert ausgebrochene Krise des Theismus reflektieren und in denen, nicht anders als in Schleiermachers ,Reden' und vielleicht nach dessen Vorbild, der Versuch gewagt wird, um mit einer Formulierung Ulrich Barths zu reden, „Religion auch unter den Bedingungen der Moderne als eines nachtheistischen Zeitalters zur Geltung zu bringen". 24
5. Die Adressaten So viel zur destruktiven Seite. Wenden wir uns jetzt dem konstruktiven Aspekt der fraglichen paradigmatischen Funktion zu. Als erstes Konstruktionselement möchte ich Schleiermachers Wahl seines Adressatenkreises in Betracht ziehen. Er richtet sich mit seinen ,Reden' über die Religion an die Gebildeten unter
22
23
24
Vgl. K. Feiereis: Die Umprägung der naturlichen Theologie in Religionsphilosophie. Ein Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts, Leipzig 1965. Zum neuesten Stand dieser Art Religionsphilosophie vgl. Κ. E. Yandell: Philosophy of Religion. A Contemporary Introduction, London/New York 1999, der allerdings den Pluralismus der Religionen zum Ausgangspunkt nimmt. Ulrich Barth: Schleiermachers ,Reden' aaO. [wie Anm. 12] 4 6 3 .
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ihren Verächtern und erklärt ausdrücklich, daß er das Interesse, das er von seinen Lesern beansprucht, an nichts anderes anknüpfen will als an ihrer Verachtung selbst, so daß er sie nur auffordern kann, „in dieser Verachtung recht gebildet und vollkommen zu sein" (21). Kühne Worte sind das, in denen zumindest enthalten ist, daß der Verfasser sich dem Selbstdenken und dem eigenen Urteilsvermögen der Leser vorbehaltlos auszusetzen bereit ist. Man kann sagen, daß damit eine Mindestbedingung aller und jeder Philosophie ausgesprochen ist. Für die Religionsphilosophie gilt sie ebenfalls und hier beinhaltet sie, daß Strategien zur Inschutznahme dogmatischer Glaubensaussagen vor sachlicher Kritik besser vermieden werden sollten, weil sie zum Scheitern verurteilt sind. In dieser Hinsicht hat Schleiermachers Publikumswahl heutzutage großen paradigmatischen Wert, wenn nicht im faktischen, so doch im normativen Sinn des Wortes ,Paradigma'. Aber es kann noch etwas anderes, wichtigeres gesagt werden. Schleiermacher verspricht sich von einer recht gebildeten und vollkommenen Verachtung der Religion offenbar keine Unempfindlichkeit gegen sie, sondern im Gegenteil eine Entdeckung ihres wahren Wertes. Religion erscheint auf vielerlei Weise; man soll ihre zudringlichsten Formen nicht partout für die maßgeblichen halten. Man soll vielmehr ihres Wesens ganz von neuem gewahr werden. Eben gebildete und vollkommene Verachtung wird das erkennen und sich auf das Abenteuer einer Neubewertung des fraglichen Phänomens einlassen. Mehr noch: gerade den Gebildeten unter den Religionsverächtern kann zugemutet werden, daß sie genug esprit de finesse besitzen, um in den vielfach fragwürdigen Erscheinungen das wahre Wesen zu finden. Sie sind also nicht bloß Schleiermachers Gegner, sondern bei Lichte besehen vielmehr seine Verbündeten. Dieses wunderliche Bündnis hat, wie mir scheint, für die Religionsphilosophie beträchtlichen paradigmatischen Wert. Religionsphilosophie ist frei, sich des dogmatischen Glaubens zu enthalten, aber sie ist nicht frei, sich nichts aus Anschauung und Gefühl zu machen. Ohne ein gehöriges Maß von Sensibilität, besonders auch in dem sprachlichen Ausdruck, gelingt ihr nichts Gutes. Die gegenwärtige religionsphilosophische Szene läßt dieses Merkmal oft vermissen. Es werden eine Härte und Schärfe der Begrifïlichkeit erstrebt, die andernorts angemessen sein mögen, im Blick auf die Religion aber verfehlt sind. Der höhere Realismus, den diese nach Schleiermacher ahnden lassen soll (vgl. 54), erheischt, mit einem gewagten Ausdruck Hermann Timms zu reden, so etwas wie eine „qualifizierte Unschärfe".25
25
Hermann T i m m : Heilige Revolution, 11-14.
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6. Selbständigkeit und Geschichtlichkeit Als zweites konstruktives Element möchte ich die Betonung der Selbständigkeit, bzw. Eigenart26 der Religion hervorheben. Die ,Reden' legen sehr viel Wert darauf. Nach den bekannten Formulierungen bildet die Religion eine eigene Provinz im Gemüte (37) und ist von den benachbarten Gebieten der Moral und der Metaphysik durch einen „schneidenden Gegensatz" (50) getrennt. Wenn Schleiermacher jene Kunst nennt und diese Wissenschaft (52f), so ist man versucht, seine Ansicht gegen das bekannte Diktum Goethes einzusetzen: wer diese beiden besitzt, hat nach dem Verfasser der ,Reden' eben noch nicht Religion und wer die beiden nicht besitzt, dem wird Religion als Ersatz auch nichts frommen. Natürlich kann nach Begründung dieser Selbständigkeit gefragt werden. Sie liegt in dem, was Schleiermacher als das Wesen der Religion bestimmt: Anschauung des Universums und Gefühl. Die Sache ist sehr oft verhandelt worden und ziemlich breitgetreten, doch behält sie ihre Bedeutsamkeit und muß in kurzen Worten erinnert werden. Das Universum — ein Wort, das in romantischen Kreisen eine Art Schibboleth geworden war: „Der Gedanke des Universums und seine Harmonie ist mir Eins und Alles; in diesem Keime sehe ich eine Unendlichkeit guter Gedanken, welche ans Licht zu bringen und auszubilden ich als die eigentliche Bestimmung meines Lebens fühle", hatte Fr. Schlegel im Athenaeum' geschrieben27 — ist ewig und Eins, differenziert sich aber durchgehend in den endlichen Dingen. Diese führen eine Zeit lang eine gesonderte Existenz, bis sie wieder untergehen und in das All-Eine aufgenommen werden. Dieses Schema hat ontologischen, aber zugleich auch erkenntnistheoretischen Wert. Das Universum, das der Grund der Wirklichkeit alles Seienden ist, kann als solches nicht eigentlich gedacht werden. Erst in der Differenzierung wird es faßbar und in der Teilung mitteilbar. Es muß also ein Prinzip der Individualisierung in sich tragen, damit es sei und erkennbar sei. Andererseits kann das Hervorgehen des endlichen Seienden aus der All-Einheit nicht bedeuten, daß es nunmehr vollkommen für sich bestünde: so wie das Universum auf Verendlichung, so ist alles Endliche auf Wiedervereinigung mit dem ewigen Grund angelegt. Dieses schillernde Verhältnis ist dem Zugriff des Verstandes entzogen; ahnen läßt sich es aber, oder, mit Schleiermachers Ausdruck: ,an26
27
Vgl. zu dieser Unterscheidung Otto Piper aaO. [wie Anm. 5] 92f. Vgl. zum Problem auch Falk Wagner: Der Begriff der Religion in der Religionsphilosophie, in W. Kerber (Hg.): Der Begriff der Religion, München 1993, 159-219, bes. 163-185. Friedrich Schlegel: Uber die Philosophie. An Dorothea, in: Athenaeum ( N D Darmstadt 1983), Zweiten Bandes Erstes Stück (1799), 1-38; hier 15.
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schauen'. Von diesem Wort war oben schon die Rede; ich will mich nicht in eine Detailexegese verlieren und beschränke mich auf zwei kurze Bemerkungen. Erstens ist der nicht-begriffliche Charakter der Anschauung zu betonen. Wenn sich in ihr auch Erkenntnis vollzieht, so doch auf andere Weise als im Medium des Begriffs. Weitere Präzisierung ist nicht gut möglich. Einmal gibt sich die Anschauung als for begrifflich: etwa wenn Schleiermacher die Wirkung des Universums als einen „Einfluß des Angeschaueten auf den Anschauenden" (55) kennzeichnet, oder auch alle begriffliche Artikulation als sekundär in bezug auf die ursprünglichen Anschauungen vorstellt. Zum Anderen kann sie als «¿«•begrifflich erscheinen, als wftókritisches Prinzip, ähnlich der dritten Erkenntnisart bei Spinoza. „Quo magis res singulares intelligimus, eo magis Deum intelligimus"28 — dieses schöne Wort aus der Ethica wäre, so gesehen, ein trefflicher Ausdruck von Schleiermachers eigentlicher Meinung und zwar nicht zuletzt wegen des Wortes ,intelligere'; in der Tat handelt es sich um eine Art intellektuelle Anschauung. Zweitens ist der enge Zusammenhang der Anschauung mit dem Gefühl zu bedenken. Die beiden Ausdrücke fungieren im Grunde wie ein Hendiadys. Das bedeutet, daß das Verhältnis des Universums zu dem es Anschauenden geprägt wird durch Innerlichkeit oder unmittelbares Bewußtsein. Das nicht-begriffliche Erkennen ist wesentlich ein Teilhaben an dem sich Mitteilenden. In Anschauung und Gefühl stellt sich das Universum selbst auf individuelle Weise dar. In der Zusammengehörigkeit beider vollendet sich der Dreischritt der Einheit, Differenzierung und Wiedervereinigung,29 als welcher das Universum besteht; Seinsordnung und Erkenntnisordnung fallen letztlich zusammen. Beachtlich ist nun, daß Religion im Sinne dieses unmittelbaren Verhältnisses zum Universum eine allgemein menschliche Anlage ist. „Der Mensch wird mit der religiösen Anlage geboren wie mit jeder andern", heißt es in der 3. Rede (144). So scheint die Begründung der Selbständigkeit der Religion bei Schleiermacher eine transzendentalphilosophische Wendung nehmen zu müssen. Auf diese Weise ist sie in der von Schleiermacher ausgehenden Religionsphilosophie oftmals verstanden und ausgelegt worden. Ohne das volle Recht dieses Ansatzes in Abrede stellen zu wollen, möchte ich doch auf eine gewisse Einseitigkeit hinweisen. Als Beispiel nehme ich die Interpretation von Rudolf Otto. In seiner Neuausgabe der ,Reden' aus Anlaß der ersten Jahrhundertfeier ihrer Urauflage bemerkt Otto in seiner Einführung zu der eben zitierten Stelle, Religion sei für Schleiermacher „das religiöse apriori, das ihm noch in der Glaubenslehre ,alle
28 29
Spinoza: Ethica V, prop. XXIV. Vgl. Nowak aaO. [wie Anm. 6] 163.
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Beweise für das Dasein Gottes' ersetzt".30 So lehrreich diese Bemerkung an sich ist, sie weckt das Mißverständnis, als eigne Schleiermachers Begriff der Anlage sich reibungslos zur Anwendung für das in Ottos Zeiten beliebte Forschungsprogramm nach einem religiösen Apriori. Schleiermacher selbst kommt es nicht nur auf die Vorhandenheit dieser Anlage, sondern mindestens so sehr auf ihre Entwicklung, auf die Bildung also, an. Damit sind wir bei der geschichtlichen Realisierung als unaufgebbarer Komponente der Selbständigkeit der Religion. Das a priori kommt nicht aus ohne ein a posteriori, das ihm korrespondiert. So kann Schleiermacher auch die Hoffnung äußern, daß die gebildeten Verächter ein günstigeres Urteil über die Religion fällen werden, wenn sie sich einmal dazu bringen, „sie in den bestimmten Gestalten anzuschauen, in denen sie schon wirklich erschienen ist" (244). In diesem Lichte erscheint die Religionsphilosophie als eine doppelpolige Disziplin. Der Gegenstand ihrer Besinnung erfordert einen transzendentalphilosophischen, aber auch einen empirisch-geschichtlichen Ansatz und er geht in keinem von beiden ganz auf. So hat sie ihren Ort in dem Bereich zwischen diesen zwei Polen und ihre Aufgabe liegt in einem Hin und Her zwischen ihnen. Man sieht demnach in den ,Reden', meine ich, Schleiermachers spätere Konzeption der Religionsphilosophie als einer kritischen Disziplin schon vorgebildet. Man denke etwa an die bekannten Stellen in der Einleitung der Glaubenslehre', wo die Religionsphilosophie unter den doppelten Ausgangspunkt „Konstruktion und Auffindung" gestellt und bestimmt wird als „kritische Darstellung der verschiedenen gegebenen Formen frommer Gemeinschaften, sofern sie in ihrer Gesamtheit die vollkommene Erscheinung der Frömmigkeit in der menschlichen Natur sind". 31 Gerade dank dieser Doppelpoligkeit hat Schleiermachers Religionsphilosophie eine unermeßliche Wirkung gehabt und besitzt auch für gegenwärtige Religionsphilosophie unterschiedlicher Observanz den Wert eines Paradigmas. Zum Beleg sei ein einziger Hinweis aus vielen hier erlaubt. Der Engländer Peter Byrne hebt hervor, daß die Religionsphilosophie, besonders in ihrer pluralistischen Prägung, der Aufklärung verpflichtet ist, aber doch nur soweit diese durch die Romantik gemildert und verwandelt ist. Insbesondere wird man dabei nach Byrne an einige Schlüsselideen aus Schleiermachers fünfter Rede erinnert: „that cognitive success in
30
31
Rudolf Otto aaO. [wie Anm. 17] XXVII. Otto hat sich später zu einem wichtigen Vorkämpfer der Idee des religiösen Apriori entwickelt, vgl. sein berühmtes Buch Das Heilige. Uber das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 23 25 1936, bes. Kap. 16 und 19. Vgl. zum Problem auch meine Schrift Het idee van een religieus apriori, Amsterdam 1998. CG 2 § 7 Anm.; I, 47 und § 2; I, 14.
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religion consists in relation to the infinite vouched by experience; that each religion is a form o f relationship to the infinite; and that each is in consequence one o f the modes o f relationship humankind had to accept at some time and some place". 32 Doppelpoligkeit also: es ist das Zusammennehmen von Prinzipientheorie und geschichtlicher Diversität; man kann auch sagen: es ist die Offenheit nach beiden Seiten hin, die Nichtentscheidung zwischen dem unveränderlichen Wesen und den höchst veränderlichen, höchst verschiedenen Gestalten, durch die die ,Reden' sich auch in unseren Tagen ein Auditorium verschaffen. W i r wollen in einem letzten Abschnitt noch etwas näher auf diese Offenheit eingehen anhand des Verhältnisses zwischen dem Gattungs- und dem Artbegriff der Religion. Dieses Verhältnis ist das dritte und entscheidende Konstruktionselement: Religion ist nach Schleiermacher, ganz anders als etwa bei Kant, 3 3 nicht nur in der Einzahl, sondern grundsätzlich auch in der Mehrzahl zu verstehen.
7. Religion und Religionen Gattungs- und Artbegriff sind grosso modo über die 2. und die 5. Rede verteilt. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Reden ist oft als spannungsvoll angesehen worden. Beginnen wir mit der kurzen Betrachtung einer rezenten Interpretation, die diese Spannung schlankweg verneint; ich meine den hellsichtigen Schleiermacher-Aufsatz des holländischen Religionshistorikers Peter van Rooden. 34 Nach Van Rooden ist die gemeinsame Grundlage der beiden Reden die Apologie des Christentums. Sein entscheidendes Argument ist, daß das Ende auf den Anfang hinausläuft: das Christentum entspricht als „Religion der Religionen" ( 3 1 0 ) der ontologischen und erkenntnistheoretischen Grundansicht, die Schleiermacher in seiner Darstellung des Wesens der Religion zum Ausgangspunkt nimmt. Die christliche Anschauung des Universums ist, so kann Van Rooden Schleiermachers eigene Definition anfuhren, „keine andere, als die des allgemeinen Entgegenstrebens alles Endlichen gegen die Einheit des Ganzen, und der Art wie die Gottheit dieses Entgegenstreben behandelt" (291 ). Sünde, Erlösung und Vorsehung, diese christlichen Grundworte beziehen sich
32
P. Byrne: Prolegomena to Religious Pluralism. Reference and Realism in Religion,
33
Vgl. ζ. Β. Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden, Sämtliche Werke, hg. v. K. Vorländer,
Basingstoke 1995, 197f. V I , 147 Anm. 34
P. T . van Rooden: Friedrich Schleiermachers ,Reden über die Religion' en de historische bestudering van de godsdienst, in: Theoretische geschiedenis 2 3 ( 1 9 9 6 ) 4 1 9 - 4 3 8 .
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auf den ewigen Dreischritt, in dem das Universum aus der Differenzierung, in die es aus seiner Einheit herausgegangen ist, wieder in die Einheit mit sich zurückkehrt. Diese „Identität" zwischen philosophischer und christlicher Weltansicht wird durch Schleiermachers Geschichtsbetrachtung vertieft. Das Universum kann nicht begriffen werden; es gibt sich bekannt mittels Offenbarung. Offenbarung ist bei Schleiermacher aber vor allem als geschichtliche, um nicht zu sagen geschichtsphilosophische Kategorie gedacht und die menschliche Geschichte ist die wichtigste Offenbarungsinstanz, „der höchste Gegenstand der Religion" (100). In der Menschheitsgeschichte sieht man die Wanderung der Geister und der Seelen, ja, ganzer Völker und Generationen in solcher Fülle und Zusammenhang, daß es dem Anschauenden zuletzt schwindelt und er weder großes noch kleines, weder Ursache noch Wirkung, weder Erhaltung noch Zerstörung weiter unterscheiden kann (vgl. lOlf). Dann wird er dessen inne, daß nichts Einzelnes in der Geschichte selbständigen Wert hat; vielmehr sind es der Reichtum und die Verschiedenheit des Ganzen, die ihren Wert ausmachen. Eben dieses Geschichtsverständnis wird nun auch der Apologie des Christentums zugrundegelegt. Die Geschichte ist die Quelle immer neuer Religionsindividuen, die eine Zeit lang bestehen und in ihrem Sein zu verharren trachten, aber am Ende doch wieder im Universum untergehen. Das Christentum ist die Religion, die um diesen Sachverhalt weiß. Es weiß also auch wie keine andere Religion um seine eigene geschichtliche Art und seine eigenen Versteinerungen, die unerbittlich zum Verschwinden verurteilt sind. Diese Selbstbezüglichkeit fördert noch ein anderes Moment dieser Geschichtsphilosophie zutage, das M o m e n t der Zeitdiagnose und des Kairosbewußtseins. Schleiermacher kann sich der Kritik an den verschlackten Formen gerade auch des Christentums vorbehaltlos anschließen. Er sieht seine eigene Zeit als den Augenblick, in dem das Alte im Begriff steht, hinweggeräumt zu werden, um dem Neuen Platz zu machen. Die,Reden' sind ein Zeugnis der Kraft der „Palingenesie" (162. 309), die der Religion, aber insbesondere dem Christentum zu eigen ist. So ist seine Erwartung einer Wiedergeburt des Christentums selbst zutiefst christlich. Über die Geschichtsbetrachtung kommen Philosophie und Christentum also zusammen und so stellt sich auf den letzten Seiten der .Reden' heraus, daß Schleiermachers Verfahren von Anfang an nichts anderes gewesen ist als eine Ausarbeitung des Wesens des Christentums. Diese bestechende Interpretation kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß zwischen Anfang und Ende der ,Reden' große Spannungen bestehen. Das geht schon aus der Behandlung des Judentums hervor. Das Judentum ist, wie das Christentum, ein Religionsindividuum, dem eine bestimmte Anschauung des Universums zugrundeliegt. Aber in diesem Fall ist es eine Anschauung, aus der „Leben und Geist längst gewichen ist" (291). Noch abgesehen von der Frage
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nach der faktischen Richtigkeit dieser Behauptung, kann hier ein logisches Bedenken geltend gemacht werden. Wird der Begriff der Anschauung auf diese Weise nicht alteriert? Ist Anschauung in der 2. Rede nicht gedacht als per se aktuell, und ist eine gewesene Anschauung nicht ein hölzernes Eisen? Schleiermacher scheint hier mit zweierlei Maß zu messen. Wichtiger aber ist ein Bedenken, das Van Rooden selbst vorbringt. Bei der Bestimmung des Wesens der Religion in der 2. Rede wird der Machtaspekt völlig außer Acht gelassen. Religion kann im Grunde nichts anderes sein als Religiosität streng persönlicher Art. Der paradigmatische Wert dieser Begriffsbestimmung für die gegenwärtige Religionsphilosophie ist allerdings evident und, möchte ich meinen, fast der Kulminationspunkt des direkten und indirekten Einflusses, der von den .Reden' auf die Religionsphilosophie ausgegangen ist. Persönliche Religiosität schließt zwar Vergesellschaftung religiöser Individuen nicht aus und so kann Schleiermacher auch ein höchst wertvolles Kapitel über das Gesellige in der Religion schreiben. Aber die Mitteilung, als welche diese Geselligkeit stattfindet, besteht in einer Förderung der Innerlichkeit und einer Übertragung derselben auf je neu Hinzukommende. Die Glaubenden leben in vollkommener Harmonie. Sie haben es nicht nötig, einander zu disziplinieren. Macht spielt keine Rolle. Als Religionshistoriker beanstandet Van Rooden an der Gleichsetzung der Religion mit Innerlichkeit ihre unhistorische Universalität. In Wahrheit spiegele diese Gleichsetzung den Aufgang des modernen Nationalstaates wider, wo in der Tat für die Religion kein anderer Ort mehr übrig bleibt als im Inneren der Bürger.35 Religionen haben aber gar nicht immer in der Bildung von Innerlichkeiten ihre Hauptaufgabe gesehen. Wenn Schleiermacher die Religion, indem er sie modernisierte, historisiert hat, so ist also das Problem, daß er nicht weit genug gegangen ist und nicht auch den Religionsbegriff selbst historisiert hat. Diese historische Kritik lasse ich auf sich beruhen. Wichtig scheint mir in religionsphilosophischer Hinsicht aber der Hinweis auf die Innerlichkeit im Gegensatz zur Macht. Diese Differenz eröffnet aufs neue den Riß zwischen der Religion und den Religionen als positiven Größen. Jene ist ewig und wird immer neu geboren aus der conditio humana selbst; diese sind geschichtlich und immer wieder zum Absterben bestimmt. Jene kennt als individuelle Anschauung des Universums keinen Widerstreit zu anderen Anschauungen und läßt vollkommene Toleranz walten; diese wehren sich gegeneinander und versuchen Dieser Aspekt wird auch stark betont von Falk Wagner, vgl. seinen Aufsatz Theologie im Banne des religiös-frommen Bewußtseins, aaO. [wie Anm. 4] 9 4 I f f und auch Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1986, bes. 66ff.
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einander auszustechen. Jene ist klar von Metaphysik und Moral abgegrenzt; diese sind unentwirrbar damit verschlungen im System der Kultur. Jene ist reine Gemeinschaft; diese sind soziale Institutionen, die sich notfalls mit Hilfe äußerer Machtmittel handhaben und durchsetzen. Wenn jene Religion ist, wieso sind diese es auch? Und wenn diese es sind, warum soll dann in jener das Wesen gefunden werden? Nun, es ist klar, daß Schleiermacher diesen Knoten nicht lösen will. Er will zwischen Religion und Religionen nicht trennen, sondern sie trotz aller offenkundigen Spannung zusammenhalten. Er optiert für das .sowohl ... als auch'. Darin tritt erneut die Nichtentscheidung zutage, von der oben die Rede war, die Offenheit nach beiden Seiten hin: Wesen und Erscheinung, Einheit und Vielfalt, allgemeine Anlage und besondere geschichtliche Ausgestaltung. Mir scheint, daß gerade diese Offenheit - diese Doppelpoligkeit, wie ich es oben genannt habe - die eigentliche paradigmatische Valenz der ,Reden' für die Religionsphilosophie ausmacht. Religionsphilosophie ist — wenigstens in einer ganzen Reihe ihrer Spielarten - durch dieses Nichtwählenkönnen gekennzeichnet. Sie will - wenn ich einmal die ältere, aber noch immer treffende Terminologie von Heinrich Scholz aufgreifen darf - weder den Religionsbegriff bloß philosophisch konstruieren, noch die bunte Fülle von Religionsgestalten ohne philosophischen Vorbehalt gelten lassen.36 Oder, positiv gewendet, sie will Religion sowohl als Vernunftsache, die auch zu denken gibt, wie als faktische und oftmals recht seltsame Lebensform. Es ist klar, daß dieses ,Sowohl ... als auch' große Vorteile hat: die Religionsphilosophie erhält dadurch eine Weite des Blickfeldes, dank deren sie über die Geschlossenheit entweder der Metaphysik oder dogmatischen Theologie hinweggehen kann. Aber, und das ist mein Schlußakkord, es ist ebenfalls klar, daß es beträchtliche Nachteile hat. Ein gewisses Schwanken, eine gewisse — und nicht immer qualifizierte — Unschärfe in der Linienführung scheint sich als unausbleibliche Folge einzustellen und die Kritik herbeizurufen. Auch in diesem Bezug ist die Aussage Falk Wagners zu bedenken, daß „die bei Schleiermacher anhebende Theorie des religiösen Bewußtseins [...] die Bewährungsprobe durch die radikale Religionskritik noch vor sich" hat.37 Paradigma-Sein ist also bei Lichte besehen eine zweideutige Sache. Sofern Schleiermachers Reden ,Uber die Religion' als Paradigma gegenwärtiger Religionsphilosophie fungieren, so tun sie es for better and for worse.
36 37
Vgl. Heinrich Scholz: Religionsphilosophie, Berlin 2 1 9 2 2 , 3ff. Falk Wagner: Was ist Religion? 72; vgl. ders.: Der Begriff der Religion, aaO. [wie Anm. 26] 178 und 198.
„Anschauung des Universums". Schleiermacher und Spinoza VON KONRAD CRAMER/GÖTTINGEN
„Opfert mir ehrerbietig eine Loke den Manen des heiligen verstoßenen Spinosa! Ihn durchdrang der hohe Weltgeist, das Unendliche war sein Anfang und Ende, das Universum seine einzige und ewige Liebe, in heiliger Unschuld und tiefer Demuth spiegelte er sich in der ewigen Welt, und sah zu wie auch Er ihr liebenswürdigster Spiegel war; voller Religion war Er und voll heiligen Geistes; und darum steht Er auch da, allein und unerreicht, Meister in seiner Kunst, aber erhaben über die profane Zunft, ohne Jünger und ohne Bürgerrecht." Unvermittelt, so scheint es, jedenfalls kommentarlos, konfrontiert der dreißigjährige Schleiermacher seinen Leser so ziemlich am Anfang der zweiten seiner Reden ,Über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern' 1 mit diesem Satz über Bento d'Espinosa, der sich nach seiner Lossagung vom Glauben seiner Väter - nun nicht mehr Baruch - Benediktus nannte, ohne jemals Christ zu werden. Einen weiten Weg hatte Spinoza zurückgelegt, bis ihm eine derartige Apotheose zu Teil wurde. Als es ruchbar wurde, daß der 1670 veröffentlichte .Tractatus Theologico-Politicus' Spinoza zum Autor hatte, da schreibt eine zeitgenössische Schmähschrift: „Durch den abtrünnigen Juden Spinoza, aus der Hölle stammend, worin in einer unerhörten Atheistenmanier bewiesen wird, daß Gottes Wort durch Philosophie erklärt werden müsse", und eine weitere Flugschrift drückt dies noch genauer so aus: „Von dem abtrünnigen Juden zusammen mit dem Teufel in der Hölle geschmiedet und mit seinen Komplizen herausgegeben." Freilich, in der Ersetzung dieser Einschätzung durch ihr konträres Gegenteil waren Schleiermacher andere wenige Jahre zuvor schon vorausgegangen. Im Jahre 1785 hatte Friedrich Heinrich Jacobi seine Schrift ,Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses
Schleiermacher: Über die Religon, in: K G A 1/2, 184ff. Zitiert nach der Originalpaginierung. Das voranstehende Zitat 54f. Nach Zitaten in Klammern gesetzte Zahlen beziehen sich auf die Originalpaginierung.
Cramer, Schleiermacher und Spinoza
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Mendelssohn' 2 herausgebracht und in ihnen die These vertreten, daß jeder konsequent zu Ende gedachte Pantheismus in den Spinozismus münde, der Spinozismus aber notwendigerweise Atheismus sei. Mit dieser These hatte Jacobi aber die weitere verbunden, daß der Spinozismus das einzige konsequent zu Ende gedachte System rationaler Welterklärung sei. Gerade wegen seiner inneren Stringenz und Unvermeidlichkeit erwies sich der Spinozismus fiir Jacobi jedoch als das folgerichtige Resultat eines in sich sinnlosen Unternehmens. Der von Jacobi in Evidenz beanspruchte ursprüngliche Gedanke ,Sein' läßt sich - so wandte er gegen Spinoza ein — nicht auf die Weise einer rationalen Demonstration begründen, denn er kann nicht als das Ergebnis einer theoretischen Reflexion verstanden werden. Im Gedanken ,Sein' wird vielmehr etwas gedacht, was jedem Gedanken von bestimmtem Seienden voraus als bereits erfüllt gedacht werden muß — ein allem Bestimmten vorausliegendes Unvordenkliches. Der Gedanke von solchem aber kann weder auf besondere Erfahrungen gesichert noch seine Realität durch Beweisgründe gesichert werden. Damit hatte Jacobi gegen den Rationalismus und — wie er meinte - den Atheismus des Spinoza die Ahndung eines Höheren in dem Bedürfnis eines Glaubens an ein allem Endlichen gegenüber transzendentes Ur-sein eingeklagt, das in einer unmittelbaren, aus dem Leben selbst erwachsenden Gewißheit präsent ist und einer philosophischen Theologie Raum gibt, die gerade auf Grund der Irrationalität ihrer Grundlage dem spinozistischen System der rationalen Welterklärung überlegen und daher auch dessen atheistischen Konsequenzen nicht ausgesetzt ist.3 Dieser Ansicht vom Atheismus der Philosophie Spinozas hatte sich freilich schon Jacobis Freund Goethe nicht anzuschließen vermocht. In einem Brief vom 9. Juni 1785 schreibt Goethe aus Ilmenau an Jacobi: „Du erkennst die höchste Realität an, welche der Grund des ganzen Spinozismus ist, worauf alles Übrige ruht, woraus alles Übrige fließt. Er beweist nicht das Daseyn Gottes, das Daseyn ist Gott. Und wenn ihn andere deshalb Atheum schelten, so möchte ich ihn theissimum, ja christianissimum nennen und preisen". 4 2
Friedrich Heinrich Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, in: ders.: Werke Gesamtausgabe, hg. v. K. H a m m a c h e r / W . Jaeschke. Band 1,1 und 1,2: Schriften zum Spinozismusstreit, hg. v. K. H a m m a c h e r / I . - M . Piske, Hamburg 1 9 9 8 . Zitiert als .Uber die Lehre des Spinoza' nach den Seitenzahlen dieser Ausgabe, deren Texterstellung (Band 1,1) vorbildlich und deren Kommentierung (Band 1,2) eine Meisterleistung ist.
3
Vgl. dazu näher D. Henrich: Der Grund im Bewußtsein, Stuttgart 1992, 4 8 f f (Teil I, Kap. 5: Das „Seyn in allem Dasein": Jacobi und Spinoza).
4
Zitiert nach: Goethe-Briefe mit Einleitungen und Erläuterungen, hg. v. Ph. Stein. Band III. Weimar und Italien 1 7 8 4 - 1 7 9 2 , Berlin 1 9 0 2 , 50.
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Was der notorische Nicht-Christ und Heide Goethe damit gemeint haben mag, daß er Spinoza den allerchristlichsten Denker nannte, ist schwer zu ergründen. Daß er ihn theissimum nannte und damit den Jacobischen Vorwurf des Atheismus von Spinozas Philosophie nicht nur abwehrte, sondern als eine Absurdität verwarf, hatte Gründe. Die Gründe sind dieselben, die Schleiermachers Anrufung Spinozas geleitet haben. Um diese Gründe geht es im Folgenden. Schleiermachers Apotheose des Spinoza — die im übrigen zwar von christologischen, nicht aber, wenn man sich so ausdrücken darf, von jesulogischen Konnotationen frei ist, wenn von seiner ,heiligen Unschuld' und ,tiefen Demut' und davon die Rede ist, daß er ,voll heiligen Geistes' war: ein Jesus von Amsterdam sozusagen, wenngleich ohne Jünger — geschieht, so scheint es, unvermittelt. Der Schein trügt. Das wird deutlich, wenn man die Eingangsüberlegungen bereits der Ersten Rede genau liest. Die Gebildeten unter den Verächtern der Religion werden von Schleiermacher hier so angeredet: „Ich weiß daß Ihr ebenso so wenig in heiliger Stille die Gottheit verehrt, als Ihr die verlaßenen Tempel besucht, daß es in Euren geschmackvollen Wohnungen keine andere Hausgötter giebt, als die Sprüche der Weisen und die Gesänge der Dichter, und daß Menschheit und Vaterland, Kunst und Wissenschaft, denn Ihr glaubt dies alles ganz umfassen zu können, so völlig von Eurem Gemüthe Besitz genommen haben, daß für das ewige und heilige Wesen, welches Euch jenseits der Welt liegt, nichts übrig bleibt, und Ihr keine Gefühle habt für dasselbe und mit ihm" (2). Es ist der in seinem ästhetischen Bewußtsein durch Klopstock, Goethe und Schiller gebildete, in seinen theoretischen und praktischen Einstellungen durch Kants Kritik der Metaphysik und den kategorischen Imperativ bestimmte, in seinen politischen Ansichten durch Kosmopolitismus und dessen Verbindung mit einem freilich wenig geklärten Patriotismus in der Folge der französischen Revolution aufgeklärte Bildungsbürger der Epoche, der kein Gefühl mehr hat fur das ewige und heilige Wesen. Warum nicht? Schleiermachers Antwort auf diese Frage ist: Weil ihm dieses ewige und heilige Wesen jenseits der Welt liegt. Es ist die extramundane und damit supranaturale Auffassung vom Wesen und Dasein Gottes als des Gegenstandes der Religion, die in den .Tempeln', das heißt den Kirchen, gelehrt und gefeiert wird, die dem Gebildeten zum Gegenstand seiner Verachtung geworden ist und ihn dazu veranlaßt, die von ihm längst verlassenen Stätten des Gottesdienstes nicht mehr aufzusuchen. Es ist die Auffassung von der Transzendenz Gottes gegenüber der von ihm geschaffenen Welt, seiner Jenseitigkeit gegenüber all dem, worin sich der Gebildete unter den Verächtern der Religion zu finden vermag, aus der sich eben diese Verachtung nährt. Denn eben diese Jenseitigkeit Gottes und alles, was mit ihr zusammenhängt, ist unverständlich und sinnlos geworden. Das gilt
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einmal für das Kausalverhältnis, welches zwischen Gott und der Welt unter der Bedingung der gedoppelten Transzendenz Gottes gegenüber der Welt und der Welt gegenüber Gott herrschen soll, nämlich für die Schöpfung einer Welt aus dem Nichts durch eben diesen Gott. Und das gilt nicht weniger für den Anthropomorphismus in der Vorstellung dieses Schöpfergottes als einer durch den Begriff der Person zu bestimmenden Entität, in der sich unendliche Macht zugleich mit Willen und Güte verbindet. Und das gilt am Ende auch für seine dem Bewußtsein des Christen entscheidende Heilstat. „Die orthodoxen Begriffe von der Gottheit sind nicht mehr für mich; ich kann sie nicht genießen. Εν και τταν! Ich weiß nichts anders." Diese Worte hatte Jacobi Lessing in den Mund gelegt5 und damit den Streit zwischen ihm und dem ebenso ungläubigen wie bestürzten Mendelssohn über Lessings Spinozismus entfacht, über dem Mendelssohn hinwegsterben sollte; ein Streit jedoch, der eine Welle der Beschäftigung mit Spinoza in Deutschland erzeugen sollte, die sich von der vormaligen Verwerfungs-Rhetorik grundsätzlich unterscheidet, die dem stereotypen „Spinoza errat" von Christian Wolffs Kritik an Spinozas Metaphysik folgt, die Wolff im zweiten Teil seiner,Natürlichen Theologie' von 1737 ausführlich entwickelt hatte.6 Noch im Jahre 1748 konnte Samuel Christian Hollmann, der erste Professor für Logik und Metaphysik an der neugegründeten Göttinger Universität in seiner Besprechung des eigentlich so zu nennenden Skandalbuchs der Jahrhundertmitte, Julien OfFray de la Mettries ,L'homme machine' - vom Magistrat der Stadt Leyden sogleich verbrannt schreiben: „Ein Spinozist ist in meinen Augen ein elender und verworrener Mensch, mit dem man Mitleiden haben, und wenn ihm noch zu helfen, mit einigen nicht gar tiefsinnigen Anmerkungen aus der Vernunftlehre und einer deutlichen Erklärung, was Eins, was Viel heiße und was eine Substanz für ein Ding sei, zur Hilfe zu kommen suchen muß. Wer hiervon deutliche und von allen Vorurteilen gereinigte Begriffe hat, der wird sich schämen, wenn die verworrenen Einfalle eines Spinozisten nur eine Viertelstunde ihn beunruhigt haben". 7 Doch hatte schon Pierre Bayle sich zu seiner Beunruhigung die Frage 5 6
7
Über die Lehre des Spinoza, Werke 1,1, 16. Vgl. Christian Wolff: Theologia Naturalis methodo scientifica pertractata. Pars II. Sect. II. Cap. IV: D e Paganismo, Manichaeismo, Spinosismo et Epicuraeismo, §§ 671-716. - Zu Wolffs Kritik an Spinozas Ontologie siehe näher K. Cramer: Christian Wolff über den Zusammenhang der Definitionen von Attribut, Modus und Substanz und ihr Verhältnis zu den beiden ersten Axiomen von Spinozas Ethik, in: Spinozas Ethik und ihre frühe Wirkung, hg. v. K. C r a m e r / W . G . J a c o b s / W . Schmidt-Biggemann. Wolfenbütteler Forschungen Bd. 16. 1981, 67-106. In den Göttingischen Zeitungen von gelehrten Sachen. 1784. Jahr. 52. Stück. Zweite Zugabe zum Mai, 427. - Die mitgeteilte Tirade verrät freilich eher, daß ihr Verfasser
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vorlegen müssen, wie der in der Theorie verhärtete Atheist Spinoza in seinen Handlungen von einem gleichsam heiligmäßigen Leben Zeugnis ablegen konnte.8 Und auch Jacobi sollte sich von der überkommenen Verwerfungsrhetorik auf dramatische Weise verabschieden und zwischen dem Atheisten des philosophischen Systems und dem Lebensfrommen in seiner Kampfschrift ,Wider Mendelssohns Beschuldigungen betreffend die Briefe über die Lehre des Spinoza' von 1786 so unterscheiden: „Eh, proh dolor [...] Und sey Du mir gesegnet, großer, ja heiliger Benedictus. Wie Du auch über die Natur des höchsten Wesens philosophieren und in Worten Dich verirren mochtest: seine Wahrheit war in Deiner Seele, und seine Liebe war Dein Leben". 9 „So lange unsere Priester" so fährt er fort - „uns nach dem Himmel sehen heissen, nur darum weil er uns die Erde düngt", wäre es „Schwachheit von Leßing gewesen — ja Dummheit, Tollheit, und Ruchlosigkeit, daß er einem solchen Theismus, den unendlich frömmeren Atheismus eines Spinoza vorzog? [...] Dieser zeigt mir wenigstens sein höchstes Gut da wo es liegt; er will mich nicht betrügen und betrügt mich nicht, er giebt mir seine Wahrheit rein, und ist vielleicht ein zehnmal frömmerer Mann als der ihm flucht". 10 Nun aber war die Situation grundstürzend geändert. Denn Lessing hatte, folgt man Jacobi, die Ungenießbarkeit der orthodoxen Begriffe von der Gottheit mit dem Namen dessen verbunden, der in seiner ,Ethica Ordine Geometrico demonstrata' hierzu die Theorie geliefert hatte: „Wenn ich mich nach jemandem nennen soll, so weiß ich keinen andern" 11 als Spinoza. So hatte Lessing zu in Wahrheit schon das gerade Gegenteil dessen denkt, was er schreibt: Die Meinung, der Spinozismus könne durch ein paar simple Hinweise auf die Gesetze der formalen Logik und die Anfangsgründe der etablierten Wölfischen Ontologie als Standpunkt eines bloßen Ignoranten beschrieben werden, ist in Wahrheit selber lächerlich. Siehe hierzu näher K. Cramer: Die Stunde der Philosophie. Uber Göttingens ersten Philosophen und die philosophische Theorielage der Gründungszeit, in: Zur geistigen Situation der Zeit der Göttinger Universitätsgründung 1737. Eine Vortragsreihe aus Anlaß des 250jährigen Bestehens der Georgia Augusta, hg. v. J. v. Stackelberg, Göttingen 1988, lOlf, bes. 135f. 8 9
10 11
P. Bayle: Dicitionnaire historique et critique (1. Ausgabe 1697), Art. ,Spinoza'. Friedrich Heinrich Jacobi: Wider Mendelssohns Beschuldigungen betreffend die Briefe über die Lehre des Spinoza, Leipzig 1786; Werke 1,1, 3 1 3 . - Jacobis Wendung ,Eh, proh dolor' ist - nicht ganz wörtlich — übernommen aus Spinozas .Tractatus TheologicoPoliticus'. Cap. II: „Et, proh dolor! res eo iam pervenit, ut, qui aperte fatentur, se Dei ideam non habere, et Deum non nisi per res creatas (quarum causas ignorant) cognoscere, non erubescere Philosophos Atheismi accusare" (Spinoza Opera, hg. v. C. Gebhardt, Heidelberg 1 9 2 5 . Band III, 30). AaO. 3 1 5 . Über die Lehre des Spinoza, Werke 1,1, 17.
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Jacobi nach dessen Behauptung gesagt. Das Εν καί τταν verweist also auf Spinoza und damit auf den Spinozismus als die der Orthodoxie überlegene Auffassung Gottes, der .Gottheit', wie Lessing in charakteristischer Neutralitätsmodifikation sagt. Darin wird ihm Schleiermacher in den ,Reden' folgen. So ist der Grund der Verachtung der Religion durch die Gebildeten mit Spinoza zu beseitigen. Denn er war, so Schleiermacher, .voller Religion' — und nicht die, „welche die Virtuosen derselben zu sein behaupten und von Staat und Volk dafiir angesehen werden" (3), denen die Gebildeten jedoch nicht nur nicht mehr glauben, denen sie vielmehr in Sachen der Religion um so verdächtiger werden, wenn es von ihnen kommt. Und so ist sich denn Schleiermacher, der Prediger an der Berliner Charité, dessen bewußt, daß er in allem, was er denen, an die er sich wendet, zu sagen hat, seinen „Stand völlig verleugne" (4), daß er nicht als christlicher Theologe und Seelsorger zu ihnen sprechen kann. Dann nämlich würde er selber der Verachtung anheimfallen, welche die Verächter der Religion, wenn sie nicht gerade Volk und Staat sind, dem Stande der Verwalter der orthodoxen Begriffe von der Gottheit eben deswegen bezeugen, weil diese Begriffe, um noch einmal mit Jacobis Lessing zu reden,,ungenießbar' geworden sind. Aber eben deshalb kann Schleiermacher - und das ist ein fast einzigartiger Zug von Kühnheit an ihm - diesen seinen Stand auch „bekennen", und zwar „wie irgend eine andere Zufälligkeit" (4). Der Geistliche kann nicht als Geistlicher zu den gebildeten Verächtern der Religion sprechen. Wenn er dies aber nicht kann, so muß es eine andere Redeweise über das, was Religion und religiöses Bewußtsein ist, geben, als es diejenige ist, welche durch das institutionalisierte Christentum, mit Thron und Altar sozusagen, in Volk und Staat etabliert ist. Diese andere Redeweise ist es, die allein den Grund der Verachtung der Religion aufzuheben vermag. Tatsächlich sind Schleiermachers ,Reden' aber nicht nur eine andere Redeweise über dasselbe, sondern Rede über etwas anderes als das, dem die Verachtung der Gebildeten gilt. Das geht schon aus dem berühmten Selbstzeugnis der Ersten Rede hervor: „Religion war der mütterliche Leib in deßen heiligem Dunkel mein junges Leben genährt und auf die ihm noch verschlossene Welt vorbereitet wurde, in ihr athmete mein Geist, ehe er noch seine äußere Gegenstände, Erfahrung und Wißenschaft gefunden hatte, sie half mir als ich anfing den väterlichen Glauben zu sichten und das Herz zu reinigen von dem Schutte der Vorwelt, sie blieb mir, als Gott und Unsterblichkeit dem zweifelnden Auge verschwanden, sie leitete mich ins thätige Leben, sie hat mich gelehrt mich selbst mit meinen Tugenden und meinen Fehlern in meinem ungetheilten Dasein heilig zu halten, und nur durch sie habe ich Freundschaft und Liebe gelernt [...] aber so liegt die Sache der Religion und so selten ist sie, daß wer von ihr etwas ausspricht, muß es nothwendig gehabt haben, denn er hat es nirgends
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gehört. Von allem was ich als ihr Werk preise und fühle steht wohl wenig in heiligen Büchern, und wem der es nicht selbst erfuhr, wäre es nicht ein Ärgernis oder eine Thorheit?" (I4f). Was also ist Religion, wenn sie und nur sie gerade das ist, was hilft, wenn man anfängt, den väterlichen Glauben zu sichten, das heißt ein kritisches Verhältnis zur Herrnhutischen Frömmigkeit zu gewinnen, und das Herz zu reinigen von dem Schutt der Vorwelt, das heißt den eigenen Sinn zu entlasten von den eingeübten Konventionen institutioneller religiöser Praxis, die keine ist? Wenn von ihr wohl wenig in heiligen Büchern steht, wenn die Bibel ihre vormalige Autorität verloren hat, und zwar weil sie als Autorität der Sache der Religion zuwider ist, denn man kann von der Sache der Religion nirgends durch bloßes Hörensagen etwas erfahren. Denn ihr Wesen ist - so Schleiermachers Grundthese -Sf/feerfahrung. „Nicht der hat Religion", so hat Schleiermacher diesen Gesichtspunkt in der Zweiten Rede provozierend genug formuliert, „der an eine heilige Schrift glaubt, sondern welcher keiner bedarf, und wohl selbst eine machen könnte" (122). Was also ist Religion, wenn diese nicht nur ohne die orthodoxen Begriffe der Gottheit auszukommen vermag, sondern sogar die Funktion besitzt oder wenigstens doch besitzen kann, diese Begriffe aus dem religiösen Bewußtsein zu entfernen, derart sogar, daß wie es später heißt, „eine Religion ohne Gott besser sein kann, als eine andere mit Gott" (126)? ,Anschauen des Universums, ich bitte befreundet Euch mit diesem Begriff, er ist der Angel meiner ganzen Rede, er ist die allgemeinste und höchste Formel der Religion, woraus Ihr jeden Ort in derselben finden könnt, woraus sich ihr Wesen und ihre Gränzen aufs genaueste bestimmen laßen" (55). Diese Aussage findet sich im unmittelbaren Anschluß an die Apotheose Spinozas, des Meisters in seiner Kunst. War also dessen Kunst die des wahrhaften Virtuosen des religiösen Bewußtseins nach Maßgabe der von Schleiermacher gegebenen Bestimmung des Begriffs der Religion? Ist Spinozas ,Ethica Ordine Geometrico demonstrata' von Schleiermacher als das unvergleichliche Dokument der Artikulation von Religiosität als Anschauen des Universums aufgefaßt worden? Und ließe sich, wenn dies so ist, mit dieser Auffassung ein Sinn verbinden, der Spinozas Unternehmen wirklich trifft? Solche Fragen lassen sich ohne eine nähere Explikation dessen, was Schleiermacher unter Anschauen des Universums verstanden hat, nicht beantworten. Sehen wir also näher zu. Zunächst: Anschauen' oder, wie es auch heißt, Anschauung' des Universums ist noch nicht der vollständige Titel für das, was der Angelpunkt von Schleiermachers ,Reden' ist. Genauer heißt es .Anschauung und Gefühl" (50), „Sinn und Geschmack für das Unendliche" (53), „Instinkt für das Universum" (114), „Trieb anzuschauen", der „aufs Unendliche gerichtet ist" (65), .Ahndung" (105). All
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diese Worte bezeichnen Zustände des ,Gemüths', die dieses in einer eigentümlichen Schwebe halten, sie deuten hin auf etwas Unfixiertes, Unfixierbares, was nicht in die Diskursivität unseres Wissens und in die Praktizität unseres Tuns aufgelöst werden kann. Gefühl, Sinn, Geschmack, Instinkt, Trieb, Ahndung sind Zustände des Gemüts, in denen sich ihm Bedeutsamkeit rein hinnehmend erschließt. Sie erschließen jedoch nicht nur auf andere Weise, als es Begriff und Urteil, Zwecksetzung und Tätigkeit tun, sie erschließen auch etwas Anderes als das, was Gegenstand unseres theoretischen und praktischen Wissens sein kann. Zwar führt Schleiermacher an einer signifikanten Stelle der Zweiten Rede aus: „Stellt Euch auf den höchsten Standpunkt der Metaphysik und der Moral, so werdet ihr finden, daß beide mit der Religion denselben Gegenstand haben, nemlich das Universum und das Verhältnis des Menschen zu ihm" (41). Aber die „Theoretiker in der Religion, die aufs Wißen über die Natur des Universums und eines höchsten Wesens, deßen Werk es ist, ausgehen, sind Metaphysiker", und die „Praktiker, denen der Wille Gottes Hauptsache ist, sind Moralisten" (43), denen das Universum unter dem Begriff einer moralischen Weltordnung am Herzen liegt. Metaphysik und, wie Schleiermacher in diesem Zusammenhang hinzufügt, „Euere Transcendentalphilosophie" (42) „begehrt [...] das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären" und Moral „begehrt [...] aus der Kraft der Freiheit und der göttlichen [sie!] Willkühr des Menschen es fortzubilden und fertig zu machen" (50). Religion als Anschauen und Gefühl, Sinn und Geschmack aber ist wegen der ihr und nur ihr eigentümlichen Zugangsweise zu diesem eben deswegen von ihr nur uneigentlich so zu nennenden ,Gegenstand' - dem Universum — dem Denken der Metaphysik und dem Handeln aus Freiheit „in allem entgegengesetzt, was ihr Wesen ausmacht, und in allem, was ihre Wirkungen charakterisiert" (50f). Wenn Metaphysik und Moral mit Religion denselben Gegenstand haben, so heißt dies also nicht, daß Religion diesen Gegenstand auf dieselbe Weise bestimmt wie jene. Genauer gesagt bestimmt sie ihn überhaupt nicht; denn alle Bestimmung erfolgt in Begriffen und Urteilen, ist also Wissen oder doch Wissensanspruch. Schleiermacher verkennt keineswegs, daß die Metaphysik der vorkantischen Epoche eine Theorie des Universums in der Form einer rationalen Kosmologie in Verbindung mit einer natürlichen Theologie in Vorschlag gebracht hatte, welche den außerweltlichen Grund der Welt in einer Wissenschaft von Gott, sofern er ohne Glauben erkannt wird, zur Welt in ein Verhältnis der Beziehung von Ursache und Wirkung zu setzen unternahm. 12 Auch war
Der Buchtitel von Christian Wolffs sogenannter ,Deutscher Metaphysik' von 1719: .Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen
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er sich darüber im Klaren, daß Immanuel Kants in seiner .Kritik der reinen Vernunft' geführter Nachweis der Unmöglichkeit einer nicht-antinomischen Verständigung über die Grundbegriffe der Kosmologie und der Unmöglichkeit von Gottesbeweisen mit der Folge der Einsicht in die Unmöglichkeit der von Kant so genannten dogmatischen' Metaphysik der Leibniz-Wölfischen Schule selber noch Wissen zu sein beanspruchte, nämlich Wissen von den Grenzen des Wissens über das Universum und seinen Grund.,Metaphysik von der Metaphysik' — so hatte Kant sein kritisches Unternehmen selber genannt. Aber seine kritizistische Begrenzung des Theorieanspruchs der Metaphysik hatte — so Schleiermacher - keineswegs zur Freisetzung der Verfassung des religiösen Bewußtseins und seiner von allem Wissen und Tun unterschiedenen Bedeutsamkeit geführt, sondern in Kants .Kritik der praktischen Vernunft' nur zu einer neuen Moraltheologie auf der Grundlage einer Postulatenlehre der reinen praktischen Vernunft, die Gott, Freiheit und Unsterblichkeit als Forderungen aufgestellt hatte, die das moralische Bewußtsein zum Zwecke der Verständigung über sich selbst als unumgänglich ansehen muß, und schließlich zu einer Religion eben bloß innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft geführt. 13 Eine Phänomenologie des religiösen Bewußtseins läßt sich, dies war Schleiermachers Uberzeugung, nicht als Vernunftreligion entwickeln. Richtig verstanden befindet sich Religion nicht nur „gegen Moral und Metaphysik" in dem „schneidenden Gegensatz" (50), sondern auch gegen deren kritizistische Interpretation und deren Folgen, die Formen der Transzendentalphilosophie der Wissenschaftslehre Fichtes und der Systementwürfe des frühen Schelling. Der Glaube, von dem Kant sprach, als er den Satz formulierte, er habe das Wissen einschränken müssen, um dem Glauben Platz zu schaffen, ist gleichsam nur das Negativ des Wissens, er bleibt grundsätzlich affiziert von eben dem, aus dessen Einschränkung er erwachsen soll. Religion „entsagt" jedoch, „um den Besiz ihres Eigenthums anzutreten, allen Ansprüchen auf irgend etwas, was jenen", nämlich Moral und Metaphysik, „angehört, und giebt alles zurük, was man ihr aufgedrungen hat" (50). Der Metaphysik gibt sie zurück ihre rationale Kosmologie und ihre theoretischen und moralischen Gottesbeweise, der Transzendentalphilosophie ihre Kritik an der Metaphysik, ihre praktische Freiheit und ihren Vernunftglauben. All dies Fremde stößt sie von sich ab. Nur so kann sie den Besitz ihres Eigentums antreten.
13
Dingen überhaupt' benennt mit ,Gott' und ,Welt' die Themen dieses Theorieprogramms. Die Definition der natürlichen Theologie als Wissenschaft von Gott, sofern er ohne Glauben erkannt werden kann, bei Alexander Baumgarten: Metaphysica § 800: Theologia Naturalis est scientia de deo, quatenus sine fide cognosci potest. Vgl. den Titel von Immanuel Kants Schrift von 1793: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft.
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Das aber hat die Folge, daß ihr von Schleiermacher immerhin selber so genannter ,Gegenstand' in Wahrheit keiner eigentlich so zu nennenden gegenständlichen, objektivierenden Auffassung fähig, freilich aber auch keiner solchen Auffassung bedürftig ist. Die Frage: Was ist denn das Universum, das im religiösen Bewußtsein angeschaut und gefühlt wird, was ist denn das Unendliche, für das in diesem Bewußtsein Sinn und Geschmack entwickelt ist? - diese Fragen sind dann, wenn man mit der Antwort auf sie eine objektive Bestimmung des so in Frage Stehenden verlangt, nicht einmal sinnvoll. Sie sind deshalb fehl am Platze, weil Religion „nicht in das Gerede geraten darf, der Totalität wissenschaftlicher und physischer Urteile zu nahe zu treten." Das heißt: das religiöse Bewußtsein läßt sich nicht in eine diskursive Erkenntnis dessen, was es anschauend fühlt, übersetzen, ohne seinen eigenen Standpunkt preiszugeben. So sind auch die Reden ,Über die Religion' nicht selbst Religion — oder dies doch wenigstens nicht auf unmittelbare Weise. Ihre Abzweckung ist ja zunächst die, in den Gebildeten unter ihren Verächtern, deren Bildung eben in der Verfügung über theoretische und praktische Begriffe einer Totalität besteht - oder auch darin, diese Begriffe zu kritisieren - , Sinn und Geschmack für eben den Sinn und Geschmack zu wecken, der das Wesen der Religion ausmacht: das unmittelbare Innesein dieser Totalität „in kindlicher Passivität" (50), nicht Denken der Totalität und auch nicht Handeln in dieser und auf diese. Denn eben: „Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl" (50). 14
Diesen Gesichtspunkt wird Schleiermacher auch noch in ,Der christliche Glaube' von 1 8 3 1 in seiner berühmten Bestimmung der „Frömmigkeit" als einer „Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewußtseins" (§ 3), in dem „wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewußt sind" (§ 4) festhalten, aber auch präzisieren. — In meinem Versuch der Rekonstruktion der subjektivitätstheoretischen Bedeutung dieser Formeln (K. Cramer: Die subjektivitätstheoretischen Prämissen von Schleiermachers Bestimmung des religiösen Bewußtseins, in: Friedrich Schleiermacher 1 7 6 8 - 1 8 3 4 . Theologe — Philosoph — Pädagoge, hg. v. D. Lange, Göttingen 1985, 129ff.) habe ich das emotive Moment in der Unmittelbarkeit des Selbstbewußtseins, durch welches Schleiermacher die Frömmigkeit charakterisiert, wenn er diese Unmittelbarkeit als eine ,Bestimmtheit des Gefühls' bezeichnet, vermutlich zu sehr in den Hintergrund gedrängt (vgl. Abschnitt VII der genannten Abhandlung, 156ff). An den meine Rekonstruktion leitenden Gesichtspunkten möchte ich jedoch trotz der scharfsinnigen Kritik, die Ulrich Barth an ihnen geübt hat, festhalten. Siehe U. Barth: Bewußtsein schlechthinniger Abhängigkeit. Anmerkungen zu Konrad Cramers Schleiermacher-Interpretation. Demnächst in: Subjekt und Metaphysik. Symposium zu Ehren von Konrad Cramer aus Anlaß seines 65. Geburtstages, hg. v. J. Stolzenberg, Göttingen 2 0 0 1 .
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Was aber kann dann Anschauung des Universums oder des Unendlichen bedeuten? Anders gefragt: Wie eigentlich wird das Unendliche angeschaut? Es ist nicht zufällig so, daß der intentionale Gehalt des religiösen Bewußtseins seine nähere Fassung im Laufe der,Reden' gerade durch die Formel erhält, die Jacobi Lessing in den Mund gelegt hatte: „Die Metaphysik geht aus von der endlichen Natur des Menschen, und will aus ihrem einfachsten Begriff, und aus dem Umfang ihrer Kräfte und ihrer Empfänglichkeit mit Bewußtsein bestimmen, was das Universum fiir ihn sein kann, und wie er es nothwendig erbliken muß. Die Religion lebt ihr ganzes Leben auch in der Natur, aber in der unendlichen Natur des Ganzen, des Einen und Allen-, was in dieser alles Einzelne und so auch der Mensch gilt, und wo alles und auch er treiben und bleiben mag in dieser ewigen Gährung einzelner Formen und Wesen, das will sie in stiller Ergebenheit im Einzelnen anschauen und ahnden". Religion „will im Menschen nicht weniger als in allen anderen Einzelnen und Endlichen das Unendliche sehen, deßen Abdruk, deßen Darstellung" (51 ; Hhg.v. Vf.). „Die Moral geht vom Bewußtsein der Freiheit aus, deren Reich will sie ins Unendliche erweitern, und ihr alles unterwürfig machen; die Religion athmet da, wo die Freiheit selbst schon wieder Natur geworden ist, jenseits des Spiels seiner besonderen Kräfte und seiner Personalität faßt sie den Menschen, und sieht ihn aus dem Gesichtspunkte, wo er das sein muß was er ist, er wolle oder wolle nicht. So behauptet sie ihr eigenes Gebiet und ihren eigenen Charakter nur dadurch, daß sie aus dem der Spekulazion sowohl als aus dem der Praxis gänzlich herausgeht" (51; Hhg.v.Vf.); „warum" — so fragt Schleiermacher — „vergißt über alles Wirken nach außen und aufs Universum hin Euere Praxis am Ende eigentlich immer den Menschen selbst zu bilden? weil Ihr ihn dem Universum entgegengesetzt und ihn nicht als Theil desselben und als etwas heiliges aus der Hand der Religion empfangt. Wie kommt sie zu der armseligen Einförmigkeit, die nur ein einziges Ideal kennt und dieses überall unterlegt? weil es Euch an dem Grundgefühl der unendlichen und lebendigen Natur fehlt, deren Symbol Mannichfaltigkeit und Individualität ist. Alles Endliche besteht nur durch die Bestimmung seiner Gränzen, die aus dem Unendlichen gleichsam herausgeschnitten werden müssen. Nur so kann es innerhalb dieser Gränzen selbst unendlich sein und eigen gebildet werden, und sonst verliert Ihr alles in der Gleichförmigkeit eines allgemeinen Begriffs" (53; Hhg.v. Vf.) — „alles Einzelne als einen Theil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion! was aber darüber hinaus will, und tiefer hineindringen in die Natur und Substanz des Ganzen ist nicht mehr Religion, und wird, wenn es doch noch dafür angesehen sein will, unvermeidlich zurücksinken in leere Mythologie" (56; Hhg.v.Vf.). Schwungvolle Worte sind das. Und so ist es gewiß auch nicht zufällig so, daß die Formel des Εν και τταν als Formel für den Inhalt der hinnehmenden
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Anschauung und des passivischen Gefühls des religiösen Bewußtseins gerade dort noch einmal auftritt, wo Schleiermacher sich in den ,Reden' zum zweiten und letzten Mal auf Spinoza bezieht: „wo alles streitende sich wieder vereinigt, wo das Universum sich als Totalität, als Einheit in der Vielheit, als System darstellt, und so erst seinen Namen verdient: sollte nicht der, der es so anschaut als Eins und Alles, auch ohne die Idee eines Gottes mehr Religion haben, als der gebildetste Polytheist? Sollte nicht Spinoza ebenso weit über einem frommen Römer stehen, als Lukrez über einem Götzendiener?" (128; Hhg.v.Vf.). Spinoza also hat, das behauptet Schleiermacher mit diesen Sätzen, das Universum angeschaut als die Totalität des Eins und Alles, und eben deswegen konnte Schleiermacher von ihm sagen, daß er .voller Religion' war. Wenn man jedoch zwischen ,Religion haben' und eine Theorie dessen zu haben, was man da hat, unterscheiden muß, konnte Schleiermacher unmöglich der Meinung sein, daß die ,Ethica Ordine Geometrico demonstrata' selber auf unmittelbare Weise Religion gewesen ist. Sie ist ja, wenn man Jacobi folgt, im geraden Gegenzug zu Religion im Sinne Schleiermachers das konsequenteste System rationaler Welterklärung; und sie bleibt auch dann, wenn man Jacobi nicht folgt, das härteste System einer natürlichen Theologie, freilich ohne die Idee Gottes, wenn man unter Gott ein extramundanes, die Welt erschaffendes Wesen versteht. „Religion" aber „ist ihrem ganzen Wesen nach von allem Systematischen eben so weit entfernt, als die Philosophie sich von Natur dazu hinneigt" (28). Was jedoch ist die Lehre des Spinoza anderes als systematische Philosophie? Offensichtlich hat Schleiermacher in diesem unleugbaren Sachverhalt keinen Widerspruch zu seiner Charakterisierung Spinozas gesehen. Denn er war offenbar der Überzeugung, daß die Lehre des Spinoza, so wie sie in den ,Opera Postuma' niedergelegt ist, eine Grunderfahrung systematisiert, die zwar in dieser Systematisierung als solche nicht mehr unmittelbar präsent sein kann, die aber doch seine philosophischen Gedanken geleitet hat: eben Religion als die Anschauung des Einen und Allen. Aber was heißt das eigentlich? „Anschauung" — so fuhrt Schleiermacher nach seiner Anrufung Spinozas in der Zweiten Rede aus - „ist und bleibt immer etwas einzelnes, abgesondertes, die unmittelbare Wahrnehmung, weiter nichts; sie zu verbinden und in ein Ganzes zusammenzustellen, ist schon wieder nicht das Geschäft des Sinnes, sondern des abstrakten Denkens. So die Religion; bei den unmittelbaren Erfahrungen vom Dasein und Handeln des Universums, bei den einzelnen Anschauungen und Gefühlen bleibt sie stehen; jede derselben ist ein für sich bestehendes Werk ohne Zusammenhang mit andern oder Abhängigkeit von ihnen; von Ableitung und Anknüpfung weiß sie nichts; es ist unter allem was ihr begegnen kann das, dem ihre Natur am meisten widerstrebt. Nicht nur eine einzelne Thatsache oder Handlung, die man ihre
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ursprüngliche und erste nennen könnte, sondern alles ist in ihr unmittelbar und für sich wahr" (58). Diese auf Kants Bestimmung der Differenz von Anschauung und Denken zurückgehende Charakterisierung der Anschauung als .unmittelbare Wahrnehmung' besagt nicht nur, daß Anschauen als die Bezugnahme auf das Angeschaute ein einzelner Gemütszustand ist, sondern auch, daß das Angeschaute, insofern es nur als ein solches präsent ist, etwas Einzelnes ist. Anschauung ist als hinnehmende stets repraesentatio singularis in der gedoppelten Bedeutung von ,singularis', die Verfassung einer Vorstellung und des in ihr Vorgestellten zumal zu bezeichnen. Im Unterschied zum theoriefähigen Anschauen, dessen Gehalte - mit Kant zu sprechen - durch Handlungen der Synthesis des denkenden Verstandes zu einem Ganzen verbunden werden, das Objekt des theoretischen Wissens ist, .bleibt' das Anschauen des religiösen Bewußtseins bei den einzelnen Anschauungen und Gefühlen, und das heißt, was das Anschauen anlangt, beim Anschauen des Einzelnen,stehen', aber so, daß es das angeschaute Einzelne als ebenso unmittelbare, nicht durch Akte des bestimmenden Verstandes konstituierte Erfahrung vom Dasein und Handeln des Universums auffaßt. Religion ist Gewahren des Einzelnen als Gewahren des Daseins und Handelns des Universums. Bezieht man den Gehalt dieser Aussage auf die Formel, welche das Universum als Totalität aufzufassen erlauben soll, auf die Formel des ,Eins und Alles', so ist erstens klar, daß das ,Eine' dem Allen' nicht auf die Weise eines dem Allen transzendenten Grundes seines Daseins gegenübersteht. Denn eben insofern das religiöse Bewußtsein das angeschaute Einzelne als unmittelbare Erfahrung vom Dasein und Handeln des Universums auffaßt, kann das, was dieses Universum als Eines anzusehen erlaubt, nichts von dem einzelnen Angeschauten Getrenntes sein. Vielmehr wird das Eine im Einzelnen angeschaut. Έν εν τοις ττασιν — Eines in Allem. Zweitens aber wird das Eine auch nur im Einzelnen angeschaut. Denn das Eine ist unabhängig von Allem, das heißt dem Inbegriff des jeweils Einzelnen und als Einzelnes Angeschauten, kein selbständiger Gegenstand der Anschauung. Das Eine, das in Allem ist, muß daher als das Eine - τ ο Έν - gefaßt werden; und dies Eine ist Einziges. Wäre das Eine in Allem nur als Eines, nicht aber als Einziges gefaßt, wäre nicht auszuschließen, daß das Eine eines unter möglichem oder wirklichem Einzelnen ist. Wäre das Eine aber so gefaßt, daß der Gedanke zugelassen bleibt, es sei eines unter anderem, wäre das Eine selber als etwas von der ontologischen Bestimmtheit dessen gedacht, was Element der Klasse der Vielen ist. Was aber immer Element der Klasse der Vielen ist, ist etwas Einzelnes unter möglichem oder wirklichem anderen Einzelnen. Denn es scheint unsere Rede von dem Vielen zu definieren, daß wir unter dem Vielen etwas und noch etwas gleicher oder ungleicher Art verstehen und dabei eine Voraussetzung unserer gleichsam na-
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turwüchsigen Ontologie ins Spiel bringen, die vorsieht, daß der Ausdruck .etwas und noch etwas (anderes)' seine primäre Interpretation in unserer Rede von etwas Einzelnem und noch etwas (anderem) Einzelnen besitzt. So kann das Eine der Formel Εν καί τταν nicht nach dem Modell der Ontologie der Einzeldinge verstanden werden, wenn anders es sich in Allem, das heißt jeglichem Einzelnen, manifestieren können soll. Das bedeutet jedoch drittens, daß das Eine als solches gerade nicht angeschaut werden kann. Denn das Eine ist kein Einzelnes. Das Eine kann nur im Einzelnen angeschaut werden, nämlich insofern jedes angeschaute Einzelne auf ebenso unmittelbare Weise, wie es in der Anschauung zur Präsenz kommt, als Erfahrung des Daseins des Einen und als Erfahrung des Handelns des Einen auf das anschauende Gemüt, ohne welches das Vermögen der Anschauung nicht aktualisiert werden kann, verstanden wird. Viertens schließlich ergibt sich, daß Alles in dem Einen ist - Παντα εν τω ένί. Denn nur unter der Bedingung, daß Alles - τα παντα - , das heißt der Inbegriff von jeglichem als Einzelnes Anschaubaren, in dem Einen ist, das selber kein Element dieses Inbegriffs ist, könnte überhaupt mit Sinn gesagt werden, daß das Eine im Einzelnen angeschaut wird. Wäre der Inbegriff des Einzelnen nicht in dem Einen, sondern außerhalb des Einen, wäre gänzlich unverständlich, wie die Anschauung von etwas Einzelnem die unmittelbare Erfahrung vom Dasein des Einen sein könnte. Es wäre dies unverständlich. Das heißt noch nicht, daß es verständlich ist. Tatsächlich ist nämlich die These, daß Alles in Einem ist, leichter zu verstehen als die zu ihr komplementäre, aber keineswegs aus ihr auf analytische Weise folgende These, daß Eines in Allem ist. Beide Thesen gehen jedoch in Schleiermachers Bestimmung der Struktur des intentionalen Gehalts des religiösen Bewußtseins ein. Das Endliche, und näher alles Endliche, mithin alles Einzelne, wird von diesem Bewußtsein so gesehen, daß es in allem Endlichen das Unendliche, als dessen Abdruck', als dessen .Darstellung' sieht. Steht das Unendliche für das Eine der Formel Εν και τταν, für das Universum in seiner Totalität, so ist Alles, nämlich alles Endliche als anschaubares Einzelnes, nicht nur im Unendlichen, sondern das Unendliche ist auch in allem einzelnen Endlichen. Soviel freilich ist verständlich: Ist das Eine der Formel ,Eins und Alles' die Chiffre fur das, was Schleiermacher in den .Reden' .die Gottheit' oder auch .das Göttliche' nennt, so macht die Rede von einem Gott außer der Welt des Einzelnen, einem weltlos gedachten Gott, der zwar ihr Schöpfer ist, aber seiner Schöpfung gegenüber transzendent bleibt, so wenig Sinn wie die Rede von einer Welt, die Gott gegenüber transzendent ist. Denn eben: das Eine ist nur kraft der Formel .Eins und Alles' Eines und hat nach dem oben entwickelten Strukturmoment des religiösen Bewußtseins die Bedeutung von Alles in Einem'.
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Das ist nun ohne Zweifel authentischer Spinoza, und so hat Schleiermacher die Bedeutung der Lessingschen Formel auch verstanden. Schleiermachers frühe Beschäftigung mit Spinoza geht aller Vermutung nach auf die Jahre 1793 und 94 zurück, und zwar an Hand einer sorgfältigen Lektüre und Analyse von Jacobis Untersuchungen ,Über die Lehre des Spinoza'. Der Originaltext der ,Ethica Ordine Geometrico demonstrata' oder anderer Schriften Spinozas stand Schleiermacher zunächst nicht zur Verfügung. In seinem aus dieser Beschäftigung resultierenden Manuskript ,Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems' 15 hat Schleiermacher als den „Hauptsatz" des Spinoza die Aussage bestimmt: „Es muß ein Unendliches geben, innerhalb dessen alles endliche ist". 16 Tatsächlich darf dieser Satz als der zusammenfassende Ausdruck dessen aufgefaßt werden, was man das .Prinzip des Spinozismus' genannt hat. Denn das von Spinoza im Buch I der ,Ethica' entwickelte Prinzip seiner allgemeinen Ontologie lautet (1) daß jede Substanz notwendigerweise unendlich ist, 17 (2) daß es außer Gott als einer Substanz von unendlichen Attributen eine andere Substanz weder geben noch eine andere begriffen werden kann, 18 (3) daß alles, was ist, in Gott ist, und nichts ohne Gott sein noch begriffen werden kann. 19 Gott ist Substanz und daher kraft der von Spinoza eingeführten Definition des Begriffs,Substanz' etwas, das in sich ist und durch sich begriffen wird. 20 Da Gott die einzige Substanz ist, gibt es außer Gott nichts, das in sich ist und durch sich begriffen wird. Das heißt jedoch für Spinoza nicht, daß es nichts von Gott Différentes gibt. Denn im Unterschied zu Gott als Substanz und den Attributen dieser Substanz, welche kraft der von Spinoza eingeführten Definition des Begriffs Attribut' die inhaltliche Bestimmtheit einer Substanz und damit eo ipso auch die der einzigen Substanz, Gottes, bestimmen, 21 gibt es die Modi dieser 15 16 17 18 19 20
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K G A 1/1, 559ff. AaO. 5 6 4 (Hhg.v.Vf.). Ethica I. Prop. VIII: Omnis substantia est necessario infinita. AaO. Prop. XIV: Praeter Deum nulla dari, neque concipi potest substantia. AaO. Prop. X V : Quicquid est, in Deo est, et nihil sine Deo esse, neque concipi potest. AaO. Def. III: Per substantiam intelligo id, quod in se est, et per se concipitur: hoc est id, cuius conceptus non indiget conceptu alterius rei, a quo formari debeat. - Zur Interpretation von Spinozas Definition des Substanzbegriffs siehe näher K. Cramer: Kritische Betrachtungen über einige Formen der Spinozainterpretation, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 3 1 . Zum Gedenken an den 300. Todestag von Benedict de Spinoza, 527ff. AaO. Def. IV: Per attributum intelligo id, quod intellectus de substantia percipit, • tanquam eiusdem essentiam constituens.
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Substanz, nämlich solches, das kraft der von Spinoza eingeführten Definition von ,Modus' nicht in sich ist und auch nicht durch sich begriffen wird, sondern in etwas anderem ist und durch dies andere auch begriffen wird,22 das seinerseits in sich ist und durch sich begriffen wird. Dies bedeutet zwar, daß es außer Substanzen und deren Modi ,in rerum natura' nichts gibt,23 aber nicht, daß die Modi einer Substanz mit dieser Substanz identisch sind. Wenn nun Gott die einzige Substanz ist, dann gibt es nur solches von dieser Substanz Différentes, was ihr Modus ist, das heißt nur solches, was in Gott ist. Damit ist ein absolutes Immanenzverhältnis zwischen Gott, der einen und einzigen Substanz, und allem, was mit ihm nicht identisch ist, gesetzt. Alles, was ist, ist in Gott, - er selbst als Substanz nicht in etwas Anderem, sondern in sich, und alles, was in etwas Anderem ist, der Inbegriff der Modi, in ihm. Sofern Gott etwas wirkt, setzt er nicht etwas außer sich., sondern nur etwas in sich, als Modifikation seiner Attribute. Gott ist daher die immanente, nicht die transiente Ursache von allem, was nicht mit ihm identisch ist.24 So muß es nach Spinoza in der Tat, wie Schleiermacher in dem genannten Manuskript notiert, ,ein Unendliches geben, innerhalb dessen alles Endliche ist' — ein Unendliches also, dieses aber ein Unendliches gerade und nur insofern, als alles Endliche in ihm ist. Dieser Position des Spinoza hat Schleiermacher in den ,Reden' emphatisch zugestimmt. Denn ihr zuzustimmen heißt, einen Hauptgrund der Verachtung der Religion durch die Gebildeten zu beseitigen. Den ,salto mortale' Jacobis in diejenige Irrationalität, durch welche die Ahndung und der Glaube an ein der Welt transzendentes Prinzip ihres gesamten Daseins gekennzeichnet ist, ist Schleiermacher nicht mitgesprungen. Schon Lessing empfahl Jacobi: „Sie werden schon wieder auf ihre Füße zu stehen kommen".25 Und auch, andere mit seinem Glauben an eine verständige persönliche Ursache der Welt lieber nicht zu beschweren. Ebenso der Schleiermacher der,Reden': „Alle Begebenheiten in der Welt als Handlungen eines Gottes vorstellen, das ist Religion, es drükt ihre Beziehung auf ein unendliches Ganzes aus, aber über das Sein dieses Gottes vor der Welt und außer der Welt grübeln, mag in der Metaphysik gut und nöthig sein, in der Religion wird auch das nur leere Mythologie, eine weitere Ausbildung desjenigen, was nur Hülfsmittel der Darstellung ist, als ob es selbst das
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AaO. Def. V: Per modum intelligo substantiae affectiones, sive id, quod in alio est, per quod etiam concipitur. AaO. Prop. IV, Dem.: Omnia, quae sunt, vel in se, vel in alio sunt (per Axiom 1.), hoc est (per Def. 3 et 5), extra intellectual nihil datur praeter substantias, earumque affectiones. AaO. Prop. XVIII: Deus est omnium rerum causa immanens, non vero transiens. Über die Lehre des Spinoza, Werke 1.1, 20.
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wesentliche wäre, ein völliges Herausgehen aus dem eigenthiimlichen Boden" (58). Nun wäre aber eine Metaphysik, die ihrerseits, und zwar als Metaphysik, solchen Grübeleien den Boden entzieht, für Schleiermacher allen anderen Formen von Metaphysik gewiß vorzuziehen. Denn in einer solchen Metaphysik würde eine das religiöse Bewußtsein selber kennzeichnende Grunderfahrung leitend sein, diejenige nämlich, daß das Sein Gottes nichts ,außer der Welt' und ,vor der Welt' ist, die Grunderfahrung des ,Alles in Einem'. Indem Spinozas Metaphysik eben diese religiöse Grunderfahrung als Theorem ausspricht, erweist sich, so könnte gesagt werden, ihr Autor fur den Autor der .Reden' als .voller Religion'. Aber das ,Alles in Einem' ist nur die eine Seite der Sache der Religion. Die andere ist ihr,Eines in Allem'. Läßt sich aus Spinozas Metaphysik erheben, daß er auch nach dieser Seite ,voller Religion' war? Es ist nicht ausgemacht, daß Spinoza selber der Auffassung gewesen ist, daß das ihm von Lessing und Schleiermacher zugeschriebene ,Eins und Alles' jenen Gedanken der All-Einheit alles Seienden impliziert, der nicht nur die Immanenz alles Seienden in Gott, sondern auch die Immanenz Gottes in allem Seienden behauptet. Zwar ist nach Spinoza alles, was ist, in Gott, und ohne Gott kann weder etwas sein noch begriffen werden. Aber nirgends findet sich im System des Spinoza ein Axiom oder ein Lehrsatz mit dem Aussagegehalt, daß in allem, was ist, Gott ist, und nichts sein noch begriffen werden kann, ohne daß Gott in ihm ist.26 Die Klasse aller Entitäten ist im System des Spinoza eingeteilt in Substanzen und Modi. Die eine und einzige Substanz, Gott, ist in sich und daher nicht in etwas Anderem. Alles, was ist, aber mit Gott nicht identisch ist, ist Modus, das heißt in etwas Anderem. Nun ist aber das einzige Andere, in dem etwas als in etwas Anderem sein kann, Gott; und dieser kann nicht in etwas Anderem sein, weil er nicht Modus ist. Anders gewendet: Gott kann nicht in etwas Anderem sein, das mit ihm nicht identisch ist, weil alles, was in etwas Anderem ist beziehungsweise sein kann, in Gott ist, oder: weil nur das, was mit Gott nicht identisch ist, in etwas Anderem sein kann, nämlich in Gott. Dies besagt: Alle Modi der Substanz sind in Gott, Gott aber ist gerade nicht in den Modi. Da es außer der einen Substanz und ihren Modi ,in rerum natura' nichts gibt noch geben kann, müßte Gott, um selber in etwas Anderem sein zu können, in seinen Modi sein. Das ist ein sinnloser Gedanke, solange er buchstäblich genommen wird. Denn was sollte es heißen, von irgendetwas zu behaupten, es sei in etwas anderem, und von diesem anderen zugleich zu behaupten, Diese virtuelle Aussage müßte im Text der ,Ethica' lauten: In quocumque, quod est, Deus est, et nihil esse, neque concipi potest, in quo Deus non est. Für diese Aussage oder eine ihr ähnliche Formulierung gilt fur den ganzen Text der ,Ethica': vacat.
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es selber sei in dem, was in ihm ist? Die spinozanische These von der Immanenz und näher der Inhärenz von allem, was mit Gott nicht identisch ist, in Gott, fuhrt zwar zu einem strikten Pantheismus. Zu einem /Wtheismus reziproker Immanenz und Inhärenz der Dinge, die mit Gott nicht identisch sind, in Gott, und Gottes in allen Dingen, die mit ihm nicht identisch sind, fuhrt er nicht.27 Wenn aber das voll entwickelte religiöse Bewußtsein, wie Schleiermacher fordert, das angeschaute Einzelne derart anschaut, daß es auch anschaut, daß das Eine in ihm ist, und eben nicht nur, daß das Einzelne in dem Einen ist, war dann Spinoza nicht ,voller Religion', weil er sich zu diesem entscheidenden Schritt der Immanenz der Gottheit in allem Einzelnen nicht entschließen konnte? Oder war es nur so, daß er sich von dieser zu seiner eigenen These von der Immanenz aller Dinge in Gott komplementären These von der Immanenz Gottes in allen Dingen keinen Begriff machen konnte? Dann aber hätte er, so müßte Schleiermachers Schlußfolgerung lauten, das Wesen der Religion am Ende sogar verkannt. Zwar bedarf die religiöse Erfahrung keiner Rekonstruktion in Begriffen von ihrem Inhalt, weder einer richtigen, noch einer falschen Rekonstruktion. Eine Metaphysik aber, die in ihren Theoremen jene Erfahrung verstellt, muß eine solche Frage auf sich ziehen. Was läßt sich hier mit dem authentischen Spinoza noch sagen? Um diese Frage zu beantworten, soll noch einmal Goethe in seinem Brief an Jacobi vom 9. Juni 1785 zu Wort kommen: Er schreibt da „Vergieb mir, daß ich so gerne schweige, wenn von einem göttlichen Wesen die Rede ist, das ich nur in und aus den rebus singularibus erkenne, zu deren nähern und tiefern Betrachtung niemand mehr aufmuntern kann als Spinoza selbst, obgleich vor seinem Blicke alle einzelnen Dinge zu verschwinden scheinen [...] Hier bin ich auf und unter Bergen, suche das göttliche in herbis et lapidibus".2S Diese Sätze, mit denen Goethe sich zugleich in erklärte Distanz zu dem tumultuarischen Verfahren von Jacobis Spinoza-Darstellung begibt, bekunden, welch tiefen Blick Goethe in das System des Spinoza getan hat, einen mehr als nur divinatorischen Blick. Zwar schreibt Goethe in demselben Brief auch dies: „Ich kann nicht sagen, daß ich jemals die Schriften dieses trefflichen Mannes in einer Folge gelesen habe, daß mir jemals das ganze Gebäude seiner Gedanken völlig überschaulich vor der Seele gestanden hätte. Meine Vorstellungs- und Lebensart erlaubens nicht".29 Es muß hier nicht entschieden werden, ob diese Bemerkung nicht eher nur als 27
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Zum Voranstehenden siehe näher K. Cramer: Gedanken über Spinozas Lehre von der All-Einheit, in: All-Einheit. Wege eines Gedankens in Ost und West hg. v. D. Henrich, Stuttgart 1985, 1 5 1 f f . Goethe - Briefe [wie vgl. Anm. 4] 52. AaO. 5 1 .
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eine taktische Maßnahme zu verstehen ist, mit der Goethe jeden weiteren Disput mit Jacobi über dessen ihm unerträgliche Deutung des Spinozismus abschneiden wollte, was ihm übrigens nicht ganz gelang. 30 Festzuhalten ist nämlich, daß Goethe mit dem Hinweis darauf, daß er das göttliche Wesen nur ,in und aus den rebus singularibus' erkenne, zu deren ,näherer und tieferer Betrachtung' niemand mehr aufmuntern könne als Spinoza selbst, sich einen der wichtigsten Sätze von Spinozas Metaphysik zu eigen macht und ganz offensichtlich auch vor Augen hat. „In herbis et lapidibus": das heißt nicht, die Steine auf dem Wege und die Gräser, die an seinem Rande wachsen, zu zählen. Es heißt, Gestein und Pflanze nicht nach abstrakt-allgemeinen Begriffen, sondern als ,Gestalten', als .Formen', als ,Typus' der Natur in ihrer Individualität und damit in ihrem Wesen zu erkennen. Es ist der Verfasser der .Metamorphose der Pflanzen', der Abhandlungen ,Über den Granit' und ,Zur Kenntnis der böhmischen Gebirge', des Entwurfs ,Zur Bildung der Erde', der, Mitglied der Herzoglichen Bergwerkskommission, der er war, als Mineraloge und Geologe die Geschichte des Ortes unseres Aufenthaltes im Leben sehen lernen will, der beobachtend Unterscheidende und das Beobachtete doch nicht Scheidende, der im Brief an Jacobi spricht. Aus dieser Sprache spricht Spinoza. Lehrsatz 24 des Fünften Buches der ,Ethica' lautet: „Je mehr wir die Einzeldinge erkennen, um so mehr erkennen wir Gott". 31 Für seinen Beweis verweist Spinoza auf das Corrolar zu Lehrsatz 25 des Ersten Buchs der ,Ethica', der lautet: „Gott ist nicht nur die wirkende Ursache der Existenz, sondern auch des Wesens der Dinge". 32 Das Corrolar hierzu stellt fest: „Die besonderen Dinge sind nichts anderes als Affektionen der Attribute Gottes, das heißt Modi, durch welche die Attribute Gottes auf gewisse und bestimmte Weise ausgedrückt werden". 33 Zum Erweis dieses Satzes rekurriert Spinoza auf Lehrsatz 15 des Ersten Buchs, der das Prinzip des Spinozismus ausspricht 34 und auf die Modusdefinition. 35 Auch in Lehrsatz 24 des Fünften Buchs ist nicht die Rede davon, daß Gott in den Einzeldingen - in rebus singularibus — ist, wohl aber davon, daß sich 30 31 32
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34 35
Vgl. hierzu insbesondere Goethes Brief an Jacobi vom 2 1 . Oktober 1 7 8 5 (aaO. 68). Ethica V Prop. V: Quo magis res singulares intelligimus, eo magis Deum intelligimus. Ethica I Prop. XXV: Deus non tantum est causa efficiens rerum existentiae, sed etiam essentiae. AaO. Res particulares nihil sunt, nisi Dei attributorum affectiones, sive modi, quibus Dei attributa certo, et determinato modo exprimuntur. Demonstratio patet ex Propositione 15., et Definitione 5. Vgl. oben Anm. 19. Vgl. oben Anm. 22.
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unsere Erkenntnis Gottes in dem Maße erweitert, in dem wir die Einzeldinge, die in ihm sind, erkennen. Das heißt nicht, daß wir eine ausgebreitetere Erkenntnis Gottes dadurch gewinnen, daß wir Regentropfen zählen. Vielmehr erweitert sich unsere Erkenntnis Gottes dadurch, daß wir erkennen, daß Gott nicht nur die wirkende Ursache der Existenz, sondern auch des Wesens der Einzeldinge ist, und daher in dem Maße, wie wir das Wesen dieser Dinge erkennen. Denn nicht nur die Existenz, sondern auch das Wesen der Einzeldinge ist eine Modifikation der Attribute Gottes und drückt seine Natur auf eine bestimmte Weise aus. So kann zwar nicht gesagt werden, daß Gott in den Einzeldingen auf eben dieselbe Weise ist wie die Einzeldinge in ihm sind. Insofern aber verstanden wird, daß das Wesen der Einzeldinge in der absoluten Kausalität Gottes ebenso gründet wie deren Existenz, und deren Wesen eben daher eine bestimmte Weise der Expression, des »Ausdrucks', der göttlichen Natur selber ist, wird allererst verstanden, was das Einzelne ist. Von Gott als solchem haben wir nur die abstrakte Erkenntnis dessen, was Spinoza seine ,propria' nennt, nämlich daß er Substanz und Ursache seiner selbst36 ist, und die ebenfalls abstrakte Erkenntnis der beiden uns Menschen bekannten und auch allein bekannt sein könnenden Attribute der Ausdehnung und des Denkens.37 Auch kann auf der Grundlage der Einsicht in die Ewigkeit der Attribute Gottes38 eingesehen werden, daß in Gott - im Unterschied zu allen Dingen, die er hervorgebracht hat,39 sein Wesen und sein Dasein nicht unterschieden werden können, sondern zwischen Wesen und Dasein Gottes eine Beziehung der Identität herrscht,40 die es im übrigen auch ausschließt, seine Existenz als eine seiner Wesensbestimmungen unter anderen solchen Bestimmungen aufzufassen, wie der traditionelle ontologische Beweis vom Dasein Gottes zu können meinte. Gottes von seinem Dasein ununterscheidbares Wesen ist seine Macht,41 aus der unendliches auf unendliche Weise hervorgehen muß.42 Seine Macht und damit sein Wesen wird erkannt, wenn erkannt wird, was aus ihr hervorgeht. Die Endpunkte seiner Wirkmacht sind die aus ihr hervorgehenden Einzeldinge, die Gott als immanente Kausalität nicht außer sich, sondern in sich bewirkt. Je mehr sich daher das Erkennen in das Erkennen der Einzeldinge 36 37
Siehe hierzu näher meine oben Anm. 2 0 genannte Abhandlung. Ethica II. Prop. I: Cogitatio attributum Dei est, sive Deus est res cogitans. - Prop. II: Extensio attributum Dei est, sive Deus est res extensa.
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Ethica I. Prop. X I X : Deus, sive omnia Dei attributa sunt aeterna.
39
AaO. Prop. X X I V : Rerum a Deo productarum essentia non involvit existentiam.
40
AaO. Prop. X X : Dei existentia, eiusque essentia unum et idem sunt.
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AaO. Prop. X X X I V : Dei potentia est ipsa ipsius essentia.
42
AaO. Prop. X X V I : E x necessitate divinae naturae, infinita infinitis modis [ . . . ] sequi debent.
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ausbreitet, desto mehr erkennt es Gottes Macht und damit sein Wesen. In dieser Ausbreitung wird das Erkennen daher die Erkenntnis Gottes suchen und Gott sehen. Solches Sehen aber ist im System des Spinoza genau das, was von der Religion, wenn man Schleiermachers .Reden' folgt, abgehalten werden muß, nämlich Wissen-, und zudem eines von besonderer Art. Es wird nicht durch quantitative Ausbreitung in die Welt des Einzelnen, sondern durch die Erkenntnis der qualitativen Individualität der Einzeldinge erworben. Es ist daher auch nicht mit der Erkenntnis identisch, daß die ,res singulares' endliche Modi der Attribute Gottes sind. Auch diese Erkenntnis bleibt noch abstrakt und erfaßt nicht das Wesen der Einzeldinge als Einzelner. Spinoza hat das, was er die adäquate Erkenntnis des Wesens der Dinge nannte, der dritten der von ihm unterschiedenen Erkenntnisarten zugeordnet, derjenigen, die er „anschauendes Wissen" — „scientia intuitiva"43 - nannte. Sie galt Spinoza im Unterschied zu der unsicheren Erfahrung und der fehleranfälligen Imagination sowie der rationalen Erkenntnis von den Eigenschaften der Dinge durch allgemeine Begriffe per notas communes - als die höchste Erkenntnisart. Sie allein schreitet von der adäquaten Idee der formalen Wesenheiten einiger Attribute Gottes fort zu der adäquaten Erkenntnis des Wesens der Einzeldinge.44 Denn was allen Dingen gemein und was gleichermaßen im Teil wie im Ganzen ist, macht nicht die Wesenheit eines Einzeldinges aus.45 Je mehr wir daher die Einzeldinge auf die Weise dieser dritten Erkenntnisart erkennen, umso mehr erkennen wir Gott. So muß gesagt werden, daß Spinozas .scientia intuitiva' die adäquate Erkenntnis Gottes gerade insofern ist, als sie Gott als Ursache von Singulärem qua Singulärem, und daher von Individuellem erkennt, mithin nicht nur als die Ursache des Allgemeinen, das für viele Singuläre gilt. Man könnte auf Grund dieser Befunde im Text der ,Ethica' zu sagen versucht sein, daß Spinozas Theorie der epistemischen Funktion der dritten Erkenntnisart dasjenige Moment der von Schleiermacher reklamierten Struktur des religiösen Bewußtseins vertritt, nach dem das Eine in Allem angeschaut wird, nach dem sich das Unendliche im Endlichen als sein Abdruck', seine .Darstellung' manifestiert. Und doch wäre es gänzlich verfehlt, Spinozas Redeweise von einer anschauenden Erkenntnis des Wesens der Einzeldinge Schleiermachers Redeweise vom Anschauen des Universums im Einzelnen anzugleichen. Hier hat Goethe wirk43 44
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Vgl. Ethica II. Prop. XL: Scholium II. Ebd: Atque hoc cognoscendi genus procedit ab adacquata idea essentiae formalis quorundam Dei attributorum ad adaequatam cognitionem essentiae rerum (Hhg.v.Vf.). Ethica II. Prop. X X X V I I : Id, quod omnibus commune, quodque aeque in parte, ac in toto est, nullius rei singularis essentiam constituit.
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lieh tiefer gesehen, hier war er der ,bessere' Spinozist. Wenn es erlaubt ist, Goethes Satz, daß er das göttliche Wesen ,in rebus singularibus' und nur in diesen suche, als Ausdruck dessen zu deuten, was ihm .Religion' war, dann ,darf ' Religion nicht nur sehr wohl ,in das Gerede geraten, der Totalität wissenschaftlicher und physischer Urteile zu nahe zu treten', sie muß vielmehr mit der recht verstandenen Totalität solcher Urteile identifiziert werden. Denn dann ist Religion ihrem Wesen nach beobachtende Vernunft: die Sonderung und Vereinigung der .Bildungen' der Natur in einer Anschauung, die zum Entwurf von individualisierenden Begriffen des Bleibenden in der Flucht der Erscheinungen fuhrt. So dem .Wesen' der Einzeldinge nachzuforschen, das heißt das Göttliche in ihnen zu suchen. Das ist es, was Spinoza in Lehrsatz 24 des Fünften Buchs der ,Ethica' ausspricht. Und so hatte Goethe recht, wenn er schrieb, daß zu solcher ,nähern und tiefern Betrachtung' der Einzeldinge ,niemand mehr aufmuntern kann als Spinoza selbst'. Wenn für Schleiermacher jedoch Religion etwas nicht ist, dann Naturforschung. So kommt in seine Berufung auf Spinoza eine Zweideutigkeit hinein, die auch durch die von seinem Freunde Friedrich Schlegel erborgte Charakterisierung des Spinozismus als „höherer Realismus" (54) nicht beseitigt wird. Denn Schleiermachers Anschauung des Endlichen im Unendlichen und die von ihr nicht zu unterscheidende Anschauung des Unendlichen im Endlichen ist nicht nur durch die Unmittelbarkeit und Begriffslosigkeit der Beziehung auf den ihr eigentümlichen Inhalt charakterisiert, sie ist auch etwas Flüchtiges, Verschwebendes. Sie hält nicht fest, sondern läßt los, ist ,da' nur in ihrer transitorischen Verfassung, die nichts fixiert, in der Anschauung und Gefühl noch nicht getrennt sind: „Jener erste geheimnißvolle Augenblik, der bei jeder sinnlichen Wahrnehmung vorkommt, ehe noch Anschauung und Gefühl sich trennen, wo der Sinn und sein Gegenstand gleichsam ineinander gefloßen und Eins geworden sind, ehe noch beide an ihren ursprünglichen Plaz zurükkehren - ich weiß wie unbeschreiblich er ist. und wie schnell er vorüber geht [ . . . ] Flüchtig ist er und durchsichtig wie der erste Duft womit der Thau die erwachten Blumen anhaucht, schamhaft und zart wie ein jungfräulicher Kuß, heilig und fruchtbar wie eine bräutliche Umarmung, ja nicht wie dies, sondern er ist alles dieses selbst. Schnell und zauberisch entwickelt sich eine Erscheinung eine Begebenheit zu einem Bilde des Universums" (73f). Aber ebenso schnell vergeht, was sich .zauberisch' so entwickelt hat. 46 Von all dem kann bei Spinozas Charakterisierung der dritten und höchsten Erkenntnisart keine Rede sein. Der Ausdruck .Anschauung' macht es nicht. Er 46
Joachim Ringleben hat hierfür die treffende Formulierung der „Erfahrung von Einheit im Abschied von ihr" gefunden; vgl. ders.: Die Reden über die Religion, in: Friedrich Schleiermacher [wie Anm. 14] 2 5 2 .
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wird von Spinoza ohnehin mit denjenigen Konnotationen verwendet, die er bei Descartes hatte. Die in Spinoza anschauender Erkenntnis präsente Evidenz hat nichts Irrationales, auch nichts Ästhetisches an sich. In ihr realisiert sich vielmehr die höchste Form vernünftiger Einsicht. Sie schaut nicht an — weder im Sinne Kants noch im Sinne Schleiermachers - sie ist nicht Gefühl, Sinn und Geschmack, Instinkt, Trieb, Ahndung, nicht eine unmittelbare Schau, die mit der Rationalität des Begreifens einer Sache nichts zu tun hat. 47 Sie ist im Gegensatz dazu begreifendes Wissen als Wissen um Gründe. Für alles, was ist, sind Gründe jedoch als Ursachen dessen, was ist, aufzufassen. „Wahrhaft wissen heißt, durch Ursachen wissen".48 Ohne daß die Welt des Einzelnen und Individuellen in eine kausale Beziehung gesetzt wird zu ihrem letzten Grund, Gott, und ohne daß damit die Beziehung zwischen der Welt des Einzelnen und Individuellen zu Gott durch Begriffe der Relation von Ursache und Wirkung bestimmt wird, gibt es die anschauende Erkenntnis des Spinoza und die in ihr allein vorliegende Erkenntnis des Wesens der Einzeldinge nicht. Bei allen Schwierigkeiten, die Spinozas Theorie der dritten Art der Erkenntnis als ,scientia intuitiva' ihren Interpreten seit jeher entgegengestellt hat, gilt schon aus diesem Grunde: Spinozas Anschauung des Universums ist begreifendes, nicht begriffloses Anschauen des Universums. Das aber hat Folgen. Wenn nämlich das Wesen der Einzeldinge, des Endlichen, nur unter der Bedingung erkannt werden kann, daß verstanden worden ist, daß Gott die wirkende Ursache nicht nur der Existenz, sondern auch des Wesens alles Endlichen ist, dann kann erstens von einer Identifikation von >Allem' mit,Einem' nicht sinnvoll gesprochen werden. Zwischen dem Einen und allem Einzelnen besteht vielmehr der grundlegende Unterschied, daß alles Einzelne und dessen Wesen aus der absoluten Kausalität des Einen als dessen Wirkung hervorgeht. Ursache und Wirkung lassen sich aber nur um den Preis des Verschwindens der in diesen Begriffen zu denkenden Relation identifizieren. Wenn ferner gilt, daß kraft der immanent bleibenden und nicht transient aus sich herausgehenden Kausalität Gottes alles Endliche in Gott ist, dann ist es zweitens ebenso sinnlos, behaupten zu wollen, daß Gott ebenso in allem Endlichen ist wie alles Endliche in ihm. Zwar ist kraft des von Spinoza konstruierten absoluten Verhältnisses der Immanenz von allem, was mit Gott nicht identisch ist, in Gott, mitbehauptet, daß alles, was Gott bewirkt, in ihm und
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Vgl. W. Bartuschat: Spinoza, München 1996, 102. ,Vere scire est scire per causas'. Auf diesen aristotelischen Grundsatz bezieht sich Spinoza im ,Tractatus de Intellectus Emendatione' so: Id quod idem est, quod Veteres dixerunt, veram scientiam procere a causa ad effectus (Spinoza Opera [wie Anm. 9] Band II, 32).
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damit in der Ursache ist, die diese Wirkungen hat. Das kann jedoch nicht heißen, daß die Ursache dieser Wirkungen ebenso in diesen Wirkungen ist wie diese Wirkungen in ihr. Denn jede Wirkung unterscheidet sich von ihrer Ursache durch genau das, was sie von der Ursache hat.49 Wie sollte es angehen, daß unter der Bedingung dieser fur alle Kausalverhältnisse konstitutiven Differenz die Wirkungen Gottes nicht nur in Gott sind, sondern deren Ursache, Gott, gleichermaßen in allen von ihm ausgehenden Wirkungen ist? Verständlich wäre dies nur, wenn der Gedanke sinnvoll wäre, daß die Ursache für alle diese Wirkungen in jeder einzelnen dieser Wirkungen ganz präsent, immanenter Gehalt in jeder einzelnen von ihr ausgehenden Wirkung wäre. Nun sind aber die vielen von Gott ausgehenden Wirkungen - als die Modi seiner Attribute - weder mit Gott identisch noch ist ein solcher Modus mit einem anderen Modus identisch. Daher müßte sich Gott, um in jedem seiner Modi als solcher präsent zu sein, auf beliebige Weise vervielfältigen können. Und das ist nicht nur für Spinoza ein sinnloser Gedanke. Verständlich wird Schleiermachers Berufung auf Spinoza also nur, wenn man dem Spinozismus die Formel Alles in Einem' zuordnet. Die komplementäre Formel .Eines in Allem' kann man Spinozas Denken der All-Einheit aber nicht zuordnen, es sei denn als bloße Metapher für einen ganz anderen Sachverhalt, nämlich den spinozanischen Grundgedanken von der immanenten Kausalität Gottes und das mit ihm postulierte Verhältnis der absoluten Immanenz aller Dinge in Gott. Aber was sollen Metaphern in der Metaphysik? Spinozas anschauende Erkenntnis des Universums ist denkendes Begreifen des Universums, Schleiermachers Anschauung des Universums und das damit verbundene Gefühl, der Sinn und Geschmack für es, nicht. Ob Anschauung des Universums als Anschauung des Unendlichen in allem Endlichen ohne das Denken des Universums zu haben ist, das genau ist die Frage. Die Schleiermacher und Spinoza gemeinsame Position der Welthaftigkeit des Einen und damit der Immanenz des Vielen in dem Einen entscheidet diese Frage nicht.
Ethica I Prop. XVII Scholium: Nam causatum differt a sua causa praecise in eo, quod a causa habet.
Religion, Wissen und Handeln bei Schleiermacher und in der Schleiermacher-Rezeption VON EILERT HERMS/TÜBINGEN
Vor knapp 125 Jahren, im Herbst 1874, erschien Albrecht Ritschis Schrift .Schleiermachers Reden über die Religion und ihre Nachwirkungen auf die evangelische Kirche Deutschlands'. 1 Sie verursachte einen tiefen Einschnitt in der Wirkungsgeschichte Schleiermachers. Einerseits stellte sie in kühler Objektivität fest, daß Schleiermacher durch die .Reden' — übrigens nicht nur deren erste, sondern auch alle folgenden Auflagen — einen grundlegenden Einfluß auf alle Richtungen akademischer Theologie, von der konservativ-erwecklichen bis zur spekulativen, und auf das kirchliche Leben in allen seinen Ausprägungen und Richtungen ausgeübt habe. Andererseits scheut sie sich dann aber auch nicht, eben diesen Schleiermacherschen Ausgangspunkt aller theologischen und kirchlichen Entwicklungen der Gegenwart auch zum Ursprung aller Übel zu erklären, unter denen diese Gegenwart leidet. Die Tendenzen zur Lockerung des Bandes zwischen Kirche und Staat, 2 die Christentumskritik D. F. Strauß', die Neigungen der Pfarrer zu einem geistlichen Hierarchentum, die neue Rechtgläubigkeit der Lutheraner, der gefühlige Pietismus und nicht zuletzt die Vernachlässigung der arbeitenden Klassen des Bürgertums und der Arbeiterschaft in Predigt und Seelsorge der Kirche - dies alles sieht Ritsehl auf Motive zurückgehen, die in Schleiermachers ,Reden' enthalten und durch sie zur Wirkung gelangt seien. Bonn 1 8 7 4 . Gegen Schleiermachers These von dem Schaden, den die Aneignung und Benutzung der evangelischen Kirche durch den Staat gestiftet habe, vertritt Ritsehl die These (aaO. 9 4 - 1 0 7 ) , daß die Quelle des kirchlichen Verfalls die Streitsucht der Theologen sei, während es umgekehrt für die evangelischen Kirchen historisch konstitutiv sei, vom Staat erhalten worden zu sein und durch ihn die verbindliche Strenge ihres Lehrbegriffs sowie ihre erzieherische Wirkung auf die Gesamtgesellschaft garantiert bekommen zu haben. Diese historische Rolle ist fur Ritsehl auch die sachgemäße, denn er ist der Überzeugung, „daß der Staat [...] die rechtliche Form des gesamten, also auch des sittlichen Volkslebens ist" (aaO. IOO17-19) - im diametralen Gegensatz zu Schleiermachers Staatsauffassung (vgl. S W III/2, 3 7 4 f ) .
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Natürlich ist dieses Urteil über die Wirkungsgeschichte der ,Reden' nur möglich aufgrund eines bestimmten Sachverständnisses dieses Textes, über das Ritsehl im ersten Teil der genannten Schrift explizit Auskunft gibt. Er findet, daß die in den ,Reden' enthaltene Theorie vom Wesen der Religion Stärken und Schwächen besitzt, aber vor allem vermeintliche Unklarheiten, die er breit vorführt und durch Verbesserungsvorschläge zu beheben sucht. Was ich in meinem Beitrag zunächst behandeln möchte, sind just diese Schwierigkeiten, die Ritsehl, dann aber auch Wilhelm Herrmann und ebenso Vertreter der religionsgeschichtlichen Schule mit dem Verständnis der Religionstheorie der ,Reden' hatten; und ihre Versuche, diese Schwierigkeiten auf eigene Faust zu lösen. Nicht von ungefähr kommt es dabei zu einer Konzentration auf Schleiermachers Bestimmung des Verhältnisses zwischen Religion, Wissen und Handeln - weil sie im Zentrum der Schleiermacherschen Theorie steht und weil sich an ihr die Frage nach der Kulturbedeutung der Religion entscheidet. Dabei verfuhren alle diese Autoren — Ritsehl, Herrmann, aber auch Troeltsch - so, daß sie Schleiermachers Ausführungen in einen Verstehenshorizont einordneten, der ihnen selber vertrauter war, als die in ihren Augen hochgradig unklaren und interpretationsbedürftigen Aussagen der .Reden'. Und es läßt sich zeigen, daß dieser Interpretationshorizont für sie alle ein durch bestimmte Grundentscheidungen des kantischen Kritizismus geprägtes Wirklichkeitsverständnis war. Alle genannten Autoren versuchen, sich Schleiermacher in einem kantianischen Rahmen klar und verständlich zu machen. Das aber heißt: Alle diese Autoren übersehen, daß re vera in Schleiermachers Religionsverständnis selber ein Daseinsverständnis zur Sprache kommt, welches seinerseits aus einer dezidierten — wenn auch nicht in wünschenswerter Ausführlichkeit artikulierten - Kritik an eben demjenigen Verständnis von Wirklichkeit resultiert, das Kants kritischer Philosophie zugrunde liegt. So möchte ich schließlich zeigen, daß die Schleiermacher-Rezeption am Ende des letzten und zu Beginn dieses Jahrhunderts ihre systematische Pointe darin hat, daß sie in den Horizont eines Wirklichkeitsverständnisses zurückfuhrt, das Schleiermacher gerade zu überwinden trachtete. Durch dies alles wird implizit — aber schließlich auch explizit - deutlich werden, daß ich selbst es nicht fur geraten halte, dieses Mißverständnis heute noch einmal zu wiederholen. Die Schleiermacher-Rezeption seit den 60er Jahren stellt insofern einen systematischen Fortschritt gegenüber jener hier noch zu skizzierenden älteren Rezeption dar, als sie tatsächlich deren Fehler vermieden hat. Sie fragt nach dem eigenen Wirklichkeitsverständnis, zu dem Schleiermacher in Erarbeitung und Kritik des kantischen Kritizismus vorgedrungen ist. Deshalb wird dann auch verständlich, daß und warum eine systematisch-theologische Arbeit, die sich selbst von diesem eigenen Wirklichkeitsverständnis Schleiermachers inspi-
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rieren läßt, ihrerseits einen kritischen Widerstand gegen alle Spielarten eines Verstehens von Wirklichkeit entwickelt, die sich - bewußt oder unbewußt, jedenfalls de facto - auf dem Boden jener problematischen ontologischen Grundentscheidungen des kantischen Kritizismus bewegen.
I 1. Zunächst zu Ritschi. Seine Schwierigkeiten mit Schleiermachers Religionstheorie betreffen drei Punkte: 1. Wie ist ihr Gegenstand gegeben? 2. W i e wird der Religionsbegriff formal bestimmt? 3. Wie wird er inhaltlich bestimmt? 1.1. Ritsehl sieht richtig, daß für ein zulängliches Sachverständnis von Schleiermachers Religionstheorie die negative Abgrenzung der Religion von „Theorie und Moralgesetz" (3i2) nicht ausreicht, daß man vielmehr eines positiven „Maaßstabs" des Verständnisses (35) bedürfe. Dieser Maßstab könnte entweder in der Entstehungsgeschichte der Theorie liegen oder in einer klaren Auskunft über die Gegebenheitsweise ihres Gegenstands und ihre Erkenntnisvoraussetzungen. Jedoch, aufschlußreiche Einblicke in die Entstehungsgeschichte der Reden besäßen wir nicht ( 3 i 2 f f ) ; und auch den Adressatenkreis könnten wir nur vermutungsweise erschließen ( 3 2 2 f r ) . Was andererseits den Gegenstandsbezug und die Verfahrensweise der Religionstheorie der Reden betreffe, so könne man zwar den „metaphysischen" und „psychologischen" „ A p p a r a t " , dessen sich Schleiermacher zur Bestimmung des Religionsbegriffs „bediene" ( 3 2 6 f f ) , durch einen Blick auf Spinoza und Schelling rekonstruieren, aber „der Umfang historischer Anschauung" ( 3 3 2 f f ) , auf den sich der Redner dabei stütze, bleibe bis zur fünften Rede unklar, so daß ein genaueres Verständnis des Religionsbegriffs der Reden nur möglich sei, wenn die Interpretation mit der letzten Rede einsetzte und von dort nach vorne zurückführte (46-is). An diesen Erwägungen Ritschis ist aufschlußreich vor allem, wie er sich über die richtig festgestellten Lücken in der Darstellung hinweghilft: Er unterstellt hier denjenigen Gegenstandsbezug, in dem sich seine eigene theologische Arbeit bewegt: Das ist der durch „historische Anschauung" gestiftete Bezug auf geschichtliche Erscheinungen des religiösen Lebens, die im Lichte eines .Apparats" metaphysischer und psychologischer Allgemeinbegriffe zu interpretieren und auf das allen wirklichen geschichtlichen Religionen Gemeinsame hin auszulegen sind. 3 Man wird sich fragen, ob dieses Vorgehen dem eigenen Gegen3
Die Pointe dieser Darstellung (aaO. 3 - 1 2 ) ist, daß das empirische Material in empirischer Objektivität gegeben ist und dann nur erst in einem zweiten Schritt der Deutung, Auslegung und Bewertung in einem kategorialen Rahmen bedarf, wobei hinsichtlich
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standsbezug der ,Reden' tatsächlich gerecht wird. Zweifel daran weckt nicht nur Ritschis Behauptung, die ,Reden' könnten nur verstanden werden, wenn wir sie von hinten nach vorne lesen, sondern auch alles, was wir sonst über Schleiermachers eigenes Verständnis von „historischer Anschauung" wissen, daß sie nämlich gerade nicht der gegebene Ausgangspunkt von Erkenntnis ist, sondern ihrerseits von philosophischen Einsichten abhängt, die nur im Medium der Selbstbesinnung, der Reflexion, zustande kommen. Reflexion ist die umfassende Weise des Gegenstandsbezugs, in dem für Schleiermacher alles Wissen, das spekulative wie das empirische, zustande kommt. Diesen von Schleiermacher erkannten Gegenstandsbezug allen Wissens bekommt Ritsehl gar nicht zu Gesicht und ersetzt ihn kurzerhand durch den ihm selber geläufigen und einleuchtenden. 1.2. Die zweite Schwierigkeit liegt für Ritsehl in der Bestimmung der Funktion von Religion im Unterschied zu der von Wissen und Moral. Im Blick auf die Vorgaben des Textes müsse zweierlei geklärt werden: Erstens die Gleichursprünglichkeit von Koexistenz und Unterschiedenheit von Religion, Wissen und Moral, zweitens die geistige Eigenart von Religion gegenüber diesen beiden, Wissen und Moral. Die Klärung des ersten Sachverhalts erreicht Ritsehl, indem er zugleich Antwort auf die Fragen gibt, warum denn die Eigenart von Religion so leicht verkannt und sie mit Wissen und Moral gleichgesetzt wird. Ritschis Antwort hieraufknüpft an die Feststellung der,Reden' an, daß alle drei — Wissen, Moral und Religion — auf das Universum bezogen seien, jedoch auf jeweils unterschiedliche Weise. Ritsehl versteht diesen Passus über die Bezogenheit von Religion, Wissen und Moral „auf das Universum" 4 als Aussage über ihre Bezie-
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dieses Rahmens nur zweierlei sicher ist: es ist unklar, woher er selbst stammt, und er besitzt jedenfalls nicht die Autorität des „Objektiven" wie die empirischen Tatsachen. Faktisch begegnet hier bereits jener Dualismus von Tatsachenfeststellung einerseits, Werturteil andererseits, der durch Max Weber später zum Programm erhoben und bis in die Gegenwart hinein verbreitete Anerkennung gefunden hat. Fr. Schleiermacher: Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern, 1799, 4 1 : „Stellet Euch auf den höchsten Standpunkt der Metaphysik und der Moral, so werdet Ihr finden, daß beide mit der Religion denselben Gegenstand haben, nämlich das Universum und das Verhältnis des Menschen zu ihm". - Schon auf der nächsten Seite stellt Schleiermacher klar, daß dann die Differenz zwischen Wissen, Metaphysik und Religion nur noch durch ihre je unterschiedliche Weise der Beziehung auf und des Umgangs mit dem Universum bestimmt werden kann: „Soll sie [sc. die Religion] sich also unterscheiden, so muß sie [...] diesen Stoff ganz anders behandeln, ein anderes Verhältnis der Menschen zu demselben ausdrücken oder bearbeiten, eine andere Verfahrungsart oder ein anderes Ziel haben". Dieser Ansatz der Unterscheidung kommt bei Ritsehl gar nicht in den Blick.
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hung „auf das Ganze" und bestimmt ihr unterschiedliches Verhältnis zu diesen schließlich so, daß er den Sinn von Ganzheit auf unterschiedliche Weise faßt: Die Religion finde „an dem W