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German Pages 145 Year 2018
Recht und Politik
Beiheft 3
Zeitschrift für deutsche und europäische Rechtspolitik
100 Jahre Weimarer und Wiener Republik – Avantgarde der Pluralismustheorie Herausgegeben von Christoph Gusy, Robert Chr. van Ooyen und Hendrik Wassermann
Duncker & Humblot · Berlin
100 Jahre Weimarer und Wiener Republik – Avantgarde der Pluralismustheorie
Recht und Politik Zeitschrift für deutsche und europäische Rechtspolitik
Begründet von Dr. jur. h. c. Rudolf Wassermann (1925–2008) Redaktion: Hendrik Wassermann (verantwortlich) Ernst R. Zivier Heiko Holste Robert Chr. van Ooyen
Beiheft 3
100 Jahre Weimarer und Wiener Republik – Avantgarde der Pluralismustheorie
Herausgegeben von Christoph Gusy, Robert Chr. van Ooyen und Hendrik Wassermann
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 2567-0603 ISBN 978-3-428-15613-9 (Print) ISBN 978-3-428-55613-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-85613-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die Entdeckung des Pluralismus Eine Innovation des Staatsdenkens der Weimarer und Wiener Republik Pluralismus bezeichnet eine gesellschaftliche Ordnung, die auf rechtlich anerkannter und geschützter Vielfalt von Anschauungen und Interessen basiert und diese Vielfalt zur Grundlage demokratischer Willensbildung im Staat nimmt. Für ein solches Denken fehlten im Deutschen Reich bis 1919 die rechtlichen und theoretischen Voraussetzungen. Die Reichsverfassung von 1871 kannte – anders als die meisten Länderverfassungen – keine Grundrechte, welche die Pluralität der Anschauungen hätten sichern können. Und ihr fehlte zugleich die Demokratie, die diese Vielfalt zur Grundlage des Staatswillens hätte nehmen können. Entsprechendes galt auch für die Staats(rechts‐) lehre. Sie basierte nahezu durchgängig auf der Trennung von politischem Staat und unpolitischer Gesellschaft und reduzierte damit das grundrechtliche Denken auf den gesellschaftlichen Bereich von Handel und Gewerbe. Der politische Bürger und die aktive Zivilgesellschaft waren in einem solchen Denken gar nicht vorgesehen gewesen. Im Gegenteil: Die tiefgründigen Bemühungen um die Differenzierung des Citoyen vom Bourgeois spalteten die Einzelnen in unterschiedliche Rollen. Vereinzelt ging man sogar so weit, die Rechte des Citoyen nicht aus seinen Grundrechten, sondern aus seiner Stellung als Staatsorgan herzuleiten. Dort erschienen sie eher von Amts- und Organrechten als von Freiheits- und Gleichheitsrechten geprägt. Dass es sich dabei um dieselben Menschen handelte und die grundrechtlichen Garantien der Landesverfassungen jedenfalls auch politisch relevante Verbürgungen wie Meinungs-, Vereinigungsund Versammlungsfreiheit statuierten, geriet angesichts der zugrunde gelegten Theorien leicht aus dem Blickfeld. Und ebenso blieb unberücksichtigt, dass zeitgenössische Verfassunggeber in ihren Debatten und Beschlüssen jenes Modell partiell längst hinter sich gelassen hatten. Der Konstitutionalismus und seine allgemeinen und besonderen Staatslehren passten zusammen. Und sie waren auch vor 1918 nahezu unangefochten. Zwar hatten sich einzelne Autoren gefunden, welche sich um eine Auflockerung jenes hermetischen theoretischen Prokrustesbetts bemüht hatten, doch waren sie damals Außenseiter geblieben. Pluralismus als Gesellschaftsmodell war von jenen Lehren Lichtjahre entfernt. Er bedurfte verfassungsrechtlicher Grundlagen, welche den dazu passenden Rahmen schufen. Und er bedurfte der theoretischen Grundlagen, welche die herkömmlichen Bahnen verließen und sich daran machten, die neuen, in Deutschland seit 1919 geltenden Verfassungsprinzipien auszubuchstabieren und theoretisch zu fundieren. Das konnte auf zwei möglichen Wegen geschehen. Der eine lag in der Erneuerung der Theorie, weg Recht und Politik, Beiheft 3 (2018), 5 – 6
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Vorwort
von den „allgemeinen“ Staatslehren hin zu konkreteren Staatsformen- und -rechtslehren und ihrer Neufundierung. Diesen Weg ging Hugo Preuß. Er hatte sich schon in der Monarchie um eine Öffnung dessen, was man gegenwärtig Verfassungstheorie nennt, bemüht. Doch war auch er nicht von Anfang an Republikaner und Demokrat: Dies wäre bis 1918 ohne rechtliche Grundlage und ohne politische Option geblieben. Aber ihm gelang es neben wenigen anderen (allen voran Max Weber), die theoretischen Prämissen so zu öffnen, dass sie für pluralistisches Denken anschlussfähig wurden. Als dann die Zeit der rechtlichen Neuordnung kam, war für ihn der Weg zum Pluralismus kürzer als für die meisten seiner Kollegen in Deutschland und in Österreich. Hugo Preuß’ Weg ist hier aufgezeigt. Der andere Zugang bestand darin, die alten Kategorien der Disziplin an den neuen Grundprinzipien des Staatsrechts auszurichten und neu zu fassen. Dies setzte die Bereitschaft voraus, zugunsten der neuen Verfassungen die tradierten und lange als unumstößlich geltenden Wahrheiten der Staats- und Rechtswissenschaft zu befragen und neu auszurichten. Für sie war die neue Verfassung dann nicht bloß ein neues Objekt für altes Denken, sondern forderte zugleich eine verfassungsgemäße Verfassungstheorie. Anders ausgedrückt: Im Jahr 1918 verging in Deutschland und in Österreich nicht bloß eine Verfassung, sondern auch ein altes Verfassungs- und Verfassungsrechtsdenken. Das war in den 1920er Jahren alles andere als unumstritten. Ein solches, von Vielen damals und später „positivistisch“ genanntes Denken fand sich etwa bei Leo Wittmayer. Das war nicht einfach Wiener Schule, die längst nicht in allen ihren Vertretern zu einem entschieden demokratisch-republikanischen Standpunkt fand. Aber es war ein anderer geistiger Weg, auf dem man über die Verfassung zu einer modernisierten Rechtswissenschaft gelangen konnte. So trafen sich in der Republik unterschiedliche Strömungen, welche den neuen Pluralismus entdecken, benennen, ausbauen und verteidigen konnten. Man musste nicht Positivist sein, um Pluralist zu werden. Umgekehrt war das neue Denken nicht allen Antipluralisten verschlossen. Man musste auch kein SPD-Anhänger sein, um zu solchen Neuerungen zu gelangen. Doch fällt eine gewisse Überrepräsentation von Sozial- und Liberaldemokraten auf. Der jüngere Karl Loewenstein konnte auf den Erkenntnissen der älteren Wissenschaftler unterschiedlicher Schulen aufbauen, bei ihm flossen rechtliche und theoretische Wurzeln ineinander. Seine Weimarer Arbeiten hierzu waren gewiss noch work in progress. Auch der Pluralismus wurde nicht an einem Tag erfunden. Es waren Viele, die damals daran mitarbeiteten, ohne ihn schon stets so zu nennen: Hans Kelsen, Richard Thoma, Hermann Heller, Gustav Radbruch, Gerhard Anschütz, Kurt Häntzschel, Karl Rothenbücher, Ludwig Waldecker, Arnold Brecht, Ernst Fraenkel u. a.m.: Ihre Beiträge hierzu werden erst in jüngerer Zeit gewürdigt. Unser Band zeigt Entwicklungen zum und des pluralistischen Denkens. Er fügt sich ein in den Forschungskontext, der in der ersten demokratischen Republik auf deutschem Boden nicht nur Risiken und Vorbelastungen, sondern auch Grundlagen und Chancen einer gelingenden freiheitlichen Demokratie sucht und findet. Wir stehen auch auf den Schultern dieser Riesen. „Ihre“ Zeit hat viel zu wenig von ihnen profitiert – sie bleiben eine Herausforderung für uns. Christoph Gusy
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Inhalt AUFSÄTZE Die verdrängte Revolution Christoph Gusy
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Hugo Preuß – das deutsche Volk und die Politik Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
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Hugo Preuß als Vordenker einer Verfassungstheorie des Pluralismus Andreas Voßkuhle
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Die Weimarer Verfassung zwischen Überforderung und Herausforderung Christoph Gusy
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„Weimar“ – ein Paradigmenwechsel. Vom „antidemokratischen Denken“ zur Avantgarde der Verfassungspolitologie pluralistischer Demokratie bei Preuß, Anschütz, Thoma, Kelsen, Heller – und Loewenstein Robert Chr. van Ooyen Die Entstehung der Ersten Republik Österreich 1918 – 1920 aus rechtshistorischer Sicht Christoph Schmetterer
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Staatslehre ohne „Staat“ – Demokratietheorie ohne „Volk“. Die normative Staatstheorie von Hans Kelsen als Verfassungstheorie pluralistischer Demokratie 115 Robert Chr. van Ooyen Leo Wittmayer: Ein Wiener Parteien- und Pluralismustheoretiker in den „Weimarer“ politischen Verfassungsdebatten Detlef Lehnert
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Autoren dieses Heftes
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Die verdrängte Revolution* Von Christoph Gusy
I. Die Republik eint, die Revolution spaltet Die Erinnerungspolitik hat die Weimarer Republik zu Recht hoch auf die Agenda gesetzt. Dabei scheint sich ein gewisser Konsens abzuzeichnen: Inzwischen werden nicht mehr allein oder ganz überwiegend deren Schwächen, sondern auch ihre Stärken und Leistungen hervorgehoben. Sie hat mehr hervorgebracht als Krisen, Kritik und Niedergang. Auch bei einer Betrachtung vom Ende her bleibt festzuhalten: Die Republik war mehr und anderes als Vorgeschichte zum NS-Staat; Hitlers Regierung nicht die letzte „legale“ Regierung der Republik. Und angesichts der unbestreitbaren Einzigartigkeit der NS-Verbrechen bleibt festzuhalten: Sie waren keine Folge der Weimarer Reichsverfassung (WRV), sondern die Folge von deren planmäßiger Zerstörung und tiefstem Niedergang. Republik und Verfassung zählten zu den frühen Opfern Hitlers und seiner Bewegung. Daneben bleibt festzuhalten: Die Wirkungen der WRV hörten auch nicht einfach um Jahr 1933 oder 1945 auf. Zu den Riesen, auf deren Schultern die deutsche Politik und Wissenschaft in der frühen Bundesrepublik standen, zählten nicht bloß die Weimarer Antidemokraten und Verfassungskritiker. Zu ihnen zählten ebenso die Demokraten und Republikaner, die verfassungsloyal an deren Ausbau, Legitimation und Verteidigung wirkten. Sie sind z. T. mit Verspätung wiederentdeckt, und sie haben die Basis gelegt für eine Staatsrechtslehre des demokratischen Rechtsstaats, die sich nach 1945 durchgesetzt hat. Deren Geschichte begann nicht erst im Jahr 1945, sondern längst davor, und an sie ist vielfältig, wenn auch nicht immer explizit angeknüpft worden. Offenbar sollte der staatsrechtliche Neubeginn nicht mit den Hypotheken einer gescheiterten Republik verknüpft werden. Inzwischen bestehen solche Tabus nicht mehr. Und damit ist der Weg für neue Vergangenheitskonsense geöffnet.1 Anders verhält es sich demgegenüber mit der Revolution vom 9. November 1918. Zwar dürfte feststehen: Ohne die Revolution hätte es die demokratische Verfassunggebung, die Weimarer Verfassung und die Parlamentarische Republik so nicht gegeben. Umgekehrt war aber auch die Konstituante mit ihrer bürgerlich-liberalen Grundordnung keine zwingende oder gar denknotwendige Folge der Revolution. Aus der Sicht vieler * 1
Zuerst in: RuP 2/2018, 135 – 158. Grundlegend: Ullrich, Der Weimar-Komplex, 2009. Schon davor Gusy (Hg.), Weimars lange Schatten, 2003; ders. (Hg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, 2000.
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Christoph Gusy
Zeitgenossen und vieler nachträglicher Beobachter hätte alles auch anders kommen können. Zu groß war die Zahl der Kämpfe, der Toten, der Instanzen und der Entscheidungen in der kurze Phase zwischen dem 9. November und dem 6. Februar 1919, als die Nationalversammlung in Weimar zusammentrat. Schon die doppelte Ausrufung der neuen Staatsform am 9. November 1918 zeigt: Erinnerung an die Revolution kann nicht gleichbedeutend sein mit Erinnerung an die Republik. Offenbar waren die Ziele der Revolutionäre zu unterschiedlich, wenn nicht gegenläufig. Und auch ihre Einschätzung im Nachhinein war wie kaum ein anderes Ereignis geeignet, zu spalten statt zusammenzuführen. Die abgebrochene Revolution, die unvollendete Revolution, die verratene Revolution: Hier wirkten die frühen Spaltungen aus der Zeit der revolutionären und nachrevolutionären Kämpfe nach. Dem kontrastieren und korrelieren die Thesen von der allzu zaghaften oder gar unterbliebenen Revolution: Aus der Sicht manches ausländischen Betrachters wird den Ereignissen von 1918 – im Unterschied zu denjenigen des Jahres 1933 – gar überhaupt die Einstufung als „Revolution“ abgesprochen. War da vielleicht gar keine Revolution? Angesichts so viel Streits lässt sich festhalten: Vergessen ist die Revolution von 1918 nicht.2 Aus heutiger Sicht wird sie gewiss überlagert durch die nachfolgenden Verfassungskämpfe, die Verfassunggebung und die Republik. Und sie wird überlagert in der öffentlichen Aufmerksamkeitskonkurrenz: Am 9. November gab es zu viele Ereignisse, welche Erinnerung beanspruchen, vom Hitlerputsch über den Novemberpogrom bis zum Mauerfall. Wo man sich an sie erinnert, scheint ihre Einschätzung hingegen derjenigen der Republik zu kontrastieren: Während die Republik immer mehr Teil „unserer“ Vorgeschichte wird, gerät die Revolution nach wie vor zur Revolution der anderen – und wird als solche verdrängt.
II. Im revolutionären Zeitalter: Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg 1. Frieden, Selbstbestimmung, Demokratie als Ziele der Revolutionen Die Zeit zwischen 1917 und 1923 ist das revolutionäre Zeitalter genannt worden. Genauer wird man sie wohl als Zeit der Revolutionen und Gegenrevolutionen bezeichnen müssen.3 Auch wenn das Bild vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg mit manchen Fragezeichen versehen wurde, bleibt es doch ein instruktives Bild. Es lenkt den Blick auf die Revolutionen als eine Folge der europäischen Urkatastrophe, die in Deutschland erst in jüngerer Zeit als solche beschrieben worden ist. Dem entspricht die Deutung 2
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Anders der Titel, aber nicht der Inhalt des Rückblicks von Gallus, Die vergessene Revolution, 2010. Zum Stand der Forschung Kolb/Schumann, Die Weimarer Republik, 8. Aufl., 2013, S. 166 ff. (Nachw.). Von einer „unerklärten Revolution“ spricht Platt, in: Braune/Dreyer, Republikanischer Alltag, 2017, S. 3 ff. Wichtig früher P. Brandt, Soziale Bewegung und politische Emanzipation, 2008, S. 43; 59. Aus jüngerer Zeit Barth, Europa nach dem Großen Krieg, 2016, S. 7 ff., 37 ff.; Wolfrum, Welt im Zwiespalt, 2017, S. 19 ff.; Kailitz (Hg.), Nach dem „Großen Krieg“, 2017; Jones, Am Anfang war Gewalt, 2017; Weinhauer (Hg.), Germany 1916 – 1923, 2015. Recht und Politik, Beiheft 3
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ihrer Folgen als erste große Nachkriegszeit des Jahrhunderts – einem Terminus, der in Deutschland bislang für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg reserviert war. Das Interessante an solchen „Nach-“Zeiten (Nachkriegszeit, Nach-Wende-Zeit, Postmoderne) ist eine besondere Form der Aneignung weniger der Vergangenheit als vielmehr der Zukunft. Das Vergangene stellt sich nicht der Zukunft entgegen. Die Zeit steht nicht still. Vielmehr beschreibt die Formel von der „Nach-Zeit“ eine Perspektivverschiebung: Die Entwicklung findet gleichsam aus der Perspektive des Rückspiegels statt; Aspekte der Vergangenheit schieben sich über die Sicht auf Gegenwart und die Zukunft, die Entwicklung weniger aus der Sicht ihrer Herausforderungen, sondern eher aus der Sicht der Vorbedingungen, Vorentscheidungen und Belastungen der Vergangenheit wahrgenommen. Zukunftsaneignung als nachgeholte Berichtigung des Vergangenen prägte auch den teils offenen, teils latenten Bürgerkrieg in Europa.4 Auch wenn die Ursachen in den einzelnen Staaten, in denen eine Revolution stattfand, unterschiedlich waren, so sind doch einige übergreifende Gesichtspunkte herausgearbeitet worden. Weithin stand im Vordergrund die Friedensfrage, also die Beendigung des Weltkriegs, welcher zu nie dagewesenen Opfern nicht nur der Soldaten, sondern auch der Zivilbevölkerung geführt hatten. Insbesondere nahm die Bereitschaft stark ab, Leben und Gesundheit in einem Waffengang zu opfern, dessen Sinn vielen nicht mehr erkennbar war. Zweifel am Sinn einer Fortführung der militärischen Auseinandersetzungen bestanden in zahlreichen Ländern, und zwar unabhängig davon, ob sie am Ende auf der Seite der Sieger oder Verlierer stehen würden. Neben die Frage nach Krieg und Frieden trat vielfach diejenige nach einem Selbstbestimmungsrecht der Völker.5 Diese damals eher diffuse, namentlich vom amerikanischen Präsidenten Wilson vertretene Position kam in Europa in zwei Dimensionen an. Da war zunächst die Frage nach der äußeren Selbstbestimmung, also der Unabhängigkeit von Nationalitäten, welche es noch nicht zu einem eigenen Nationalstaat gebracht hatten. Diese nachgeholte Nationalstaatsbildung erfasste insbesondere die Auflösung der Vielvölkerstaaten in Mittelund Osteuropa. Die Nationalitäten hatten sich längst herausgebildet, nun sollte die staatliche Unabhängigkeit folgen – auch um den Preis neuer Minderheitenfragen bis hin zu Umsiedlungen und Vertreibungen. Da war andererseits aber auch die Selbstbestimmungsfrage als Verfassungsfrage nach innen. In zahlreichen Staaten, auch in Deutschland, hatte sich der Krieg als Verfassungsfrage dargestellt. Das Notstandsregime hatte sich perpetuiert, die von den Konstitutionen des 19. Jh. angestrebte Machtbalancierung zwischen den Faktoren politischer Machtbildung war wegen des Kriegszustandes außer Funktion gesetzt. Als Probleme erwiesen sich insbesondere die Frage nach der Rückkehr zum Normalzustand und die Frage nach der dann anzustrebenden Verfassungsordnung, welche in den unterschiedlichen politischen Lagern sehr verschieden gesehen wurde. Militärs, kaiserliche Regierungen und Parlamentarier bastel4 5
Grundlegend demnächst Leonhard, Der überforderte Frieden, Versailles und die Welt 1918 – 1923. Zu den Konzepten Wilsons und dessen zahlreichen Wandlungen sowie seinen Missverständnissen Tooze, Sintflut, 2015, S. 251 ff., 273 ff., 291 ff.
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ten an gegensätzlichen Plänen. Und die Frage nach der Verwirklichung des einen oder anderen Plans war längst keine solche mehr, die in den Bahnen der alten Verfassungen entschieden werden konnte: Hierfür würden der Kriegsausgang, der Inhalt der Friedensverträge und die Haltung der bisherigen Regierungen eine entscheidende Rolle spielen. Kurz: Die Verfassungskrise stand nicht erst am Ende, sondern schon am Anfang des Weltkriegs.6 Sie sollte sich allerdings erst gegen dessen Ende mit voller Schärfe auswirken. Im engen Kontext mit der Verfassungsfrage stand schließlich diejenige nach der Demokratisierung. Hier tat sich eine neue Alternative auf: Einerseits konnte es bei den bisherigen Mechanismen der auf liberalen Ideen basierenden Verfassungen des Konstitutionalismus nicht einfach bleiben. Der Übergang zur demokratischen Staatsform war jedenfalls auf dem Kontinent keine bloße Fortsetzung der bisherigen Politik schrittweiser Verfassungsreformen, sondern etwas fundamental Neues: Die Gedanken der Volkssouveränität, der Gleichheit der Menschen als Bürger und ihrer politischen Mitwirkungsrechte am Staat hatten sich im Krieg als unabweisbar durchgesetzt: Sie waren in gewisser Weise der Preis für die politische Loyalität auch der bislang benachteiligten Bevölkerungsgruppen am großen Waffengang gewesen. Und jedenfalls dort, wo es keine Beute zu verteilen gab, war dieser Preis der einzige, der überhaupt zu erringen war. Andererseits war mit dem Projekt der Demokratisierung aber noch nicht diejenige nach der Ordnung dieser Demokratie beantwortet. Da die unmittelbare Demokratie als politisches Entscheidungsmodell in allen revolutionären Staaten ausschied, boten sich damals unterschiedliche Varianten dreier Grundformen an: Die parlamentarische Monarchie, die parlamentarische Republik und – als neues Modell – die Räterepublik. Sie wurde weithin mit der russischen Oktoberrevolution assoziiert. Und also solche kam sie in ganz Europa an. Sie sollte hier allerdings weniger ein Plan als vielmehr ein Schreckbild sein, welches mit allen schon damals ersichtlichen Mängeln der neuen russischen Staatsform assoziiert wurde. Heute wissen wir: Der schrillen und lautstarken Forderung nach Räten entsprach in keiner Weise die Breite ihrer Unterstützung, die stets nur von kleinen Minderheiten vorgetragen wurde und in keiner demokratischen Wahl eine Mehrheit auf sich vereinigen konnten. Wenn und wo sie sich kurzfristig durchsetzen konnten, gelang dies allenfalls mit Gewalt und gegen den Willen der großen Mehrheit der Betroffenen. Entgegen einer früheren bisweilen anzutreffenden Revolutions- und Räteromantik bleibt festzuhalten: In einem demokratischen Sinne waren hier die Räte zu keiner Zeit eine realistische Alternative, sondern ein Schreckbild, das gezeichnet und verzerrt wurde, um z. T. andere Demokratiemodelle durchzusetzen, z. T. die Demokratie überhaupt zu bekämpfen. Zugleich wissen wir aber auch: Dass dies so war, war den Zeitgenossen damals nicht stets und überall bewusst. In den Wirren von Waffenstillstand, Demilitarisierung, zeitweisen Aufständen und Revolten, fragwürdiger oder gekündigter politischer Loyalitäten und sich überschlagender Informationen erschien die Rätealternative als größer und gewichtiger, als sie seinerzeit war. Und auch deshalb handelten die damals Verantwortlichen anders, als 6
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Näher ausgeführt bei Gusy, ZNR 2017. Zu Zukunftsplänen im Weltkrieg Hagenlücke, Die deutsch-völkische Freiheitspartei, 1997. Recht und Politik, Beiheft 3
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sie es wohl getan hätten, wenn sie unsere heutigen Kenntnisse gehabt hätten. In der Erklärung dieser Diskrepanz, ihrer Ursachen und Wirkungen lag die wohl größte Herausforderung für die damalige Politik und die nachmalige Geschichtswissenschaft.7 Frieden, Selbstbestimmung nach innen und außen, als Verfassungsfragen also Demokratisierungsfragen waren zentrale Anliegen und Auslöser der Revolutionen. Dass damit auch sozialpolitische Absichten einhergingen, war seinerzeit allgegenwärtig. Die Lage der Menschen war damals von dem Erlebnis allseitigen Mangels wie auch der extremen Ungleichheit von dessen Verteilung geprägt. Besonders sinnfällig wurde dies beim Militär zwischen Mannschaften und Offizieren. Dass dafür neben der Situation des Krieges auch die Zuteilungsmechanismen im Staat der Anderen als ursächlich gesehen wurden, lag nahe. Dem entsprachen die Forderung und die Erwartung, durch Übernahme oder stärkere Beteiligung des Volkes am Staat diese Defizite in Zukunft beseitigen zu können. Die Frage nach der Demokratie hatte ihre starke sozialpolitische Dimension. Und was für diese galt, galt entsprechend für die Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit in der Demokratie und durch die Demokratie. 2. Evolution, Revolution, Gegenrevolution: Vom Kampf gegen die alten Mächte zum Kampf um die neue Macht Verlauf und Ergebnisse der Revolutionen in den unterschiedlichen Staaten hingen von mehreren Faktoren ab. Da war zunächst die Stärke der Revolutionäre selbst: Inwieweit waren sie als Machtfaktor ausgestattet und angesehen, welche Unterstützung vermochten sie zu mobilisieren? Dazu zählte nicht zuletzt die Frage, inwieweit es gelingen konnte, Mitglieder tradierter Eliten zu sich herüberzuziehen. Da war weiter die Frage nach der Haltung der Bevölkerung, insbesondere der relevanten gesellschaftlichen Gruppen. Wer gegen die Mehrheit handelte, hatte es jedenfalls mittelfristig schwerer als diejenigen, die sich auf eine jedenfalls hinnehmende Haltung berufen konnte. Wichtig war aber auch die Haltung der Gegner, also derjenigen, gegen die eine Revolution gemacht wurde, und deren Unterstützer. Hier war Härte nicht immer gleich Stärke; im Gegenteil: Dies ist am Beispiel der europäischen Monarchien untersucht. Wo die Monarchie auf Härte und Revolutionsabwehr setzte, wurde sie vielfach hinweggefegt. Wo sie hingegen flexibel und kompromissbereit agierte, hatte sie durchaus Chancen auf einen Fortbestand. Und was für Monarchen und Monarchien galt, kann auch für andere Institutionen oder Organe der alten Mächte angenommen werden: Je eher sie bereit waren, sich in die Erneuerungsprozesse positiv einzubringen, desto größer war ihre Chance auf einen Fortbestand, wenn auch unter gewandelten rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen. Erschwert wurde das Handeln aller Beteiligten durch den Umstand, dass sämtliche der genannten Faktoren nicht statisch waren, sondern von rasch wechselnden Bedingungen abhingen: Internationale Lage, etwa hinsichtlich der Waffenstillstands- oder Friedensbedingungen oder der fortdauernden Nahrungsmittelblockade gegen Deutschland; aber auch von innerstaatlichen Ereignissen wie 7
Zusammenfassend Winkler, Weimar 1918 – 1933, 1993, S. 13 ff., 33 ff.
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Wahlausgängen, politischen Allianzen sowie schwankenden Einstellungen und Handlungsweisen Beteiligter und Betroffener. Und hinzu trat eine sich partiell weit verselbständigende Informationslage, die teils verspätet, teils lückenhaft, teils widersprüchlich war und Handlungsmöglichkeiten sowie Gefährdungen oft erst spät und verzerrt erkennen ließ. Unter diesen Rahmenbedingungen entwickelte sich das Revolutionsgeschehen in zahlreichen Staaten – nicht nur in Deutschland – durchaus uneinheitlich und widersprüchlich. Als prägende Faktoren des Geschehens, welche über die unmittelbaren Revolutionsereignisse hinausgingen, lassen sich festhalten: Zunächst die Revolution selbst, also die in den zahlreichen Staaten mit je unterschiedlichen konkreten Zielrichtungen und Handlungsformen durchgeführten Versuche der Beseitigung bestehender Institutionen oder der Absetzung von Amtsträgern und deren Ersetzung durch neue Einrichtungen und Personen. Da waren aber vielfach auch Versuche einer Gegenrevolution, mit denen sich die alten Mächte entweder halten oder aber in gewandelter Form in das politische Geschehen zurückbringen wollten. Ihr Bestreben lag in der Gegenwehr gegen die Revolution und dem Versuch, die neuen politischen Rahmenbedingungen zugunsten der Revolutionsverlierer zu beeinflussen. Dass es dabei zwischen Anhängern der einen und der anderen Richtung zu bewaffneten Auseinandersetzungen kam, lag nahe und entsprach der Logik des revolutionären Kampfes um die Macht. Als weiteres Element darf die politische Radikalisierung beider Richtungen nicht außer Betracht bleiben. Sie entwickelten ihre jeweiligen Ziele, Organisationen, Binnenkommunikation und Handlungsformen, welche sich gegeneinander kehrten, in ihren Modi aber durchaus ähneln konnten. Sie neigten zudem dazu, sich über das revolutionäre Geschehen hinaus organisatorisch zu verfestigen und zu politischen Faktoren zu werden, die auch in der nachrevolutionären Ordnung Einflussmöglichkeiten suchten und fanden. Daran änderte der Umstand nichts, dass sie jeweils nur Minderheiten ansprachen, die Mehrheiten hingegen ihre Ziele und Methoden ausdrücklich nicht teilten. Dass die Zeit der Entstehung kommunistischer Bewegungen und Umsturzversuche auch die Zeit der Entstehung antikommunistisch-faschistischer Organisationen und Methoden war, ist wohl nicht mehr umstritten.8 Ungeachtet dessen, dass es sich dabei um Erscheinungen an den Rändern des gesellschaftlichen und politischen Spektrum handelte und die Mehrheiten sie überwiegend ablehnten, sollte ihr Aktionismus und die dadurch folgende mediale Überhöhung ihrer Aktivitäten auch über den Kreis der unmittelbar Beteiligten hinaus Aufmerksamkeit und partiell Sympathie erfahren. Ihre Zukunft sollte davon abhängig werden, wie sich alte und neue gesellschaftliche Eliten zu der neu entstehenden Ordnung und den sich bekämpfenden revolutionären Strömungen stellen würden. Dies war gewiss auch eine Frage und Folge von Revolutionsereignissen, -erlebnissen und -narrativen, die fortwirken sollten. Aber es war zumindest ebenso eine Folge der (nachrevolutionären) zukünftigen politischen Entwicklungen, die hier nicht mehr unser Thema sind. 8 14
Wirsching, Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg?, 2005. Recht und Politik, Beiheft 3
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III. „Es lebe die deutsche Republik“ – Der Weg nach Weimar Als Philipp Scheidemann den Sieg der Revolution verkündete,9 war zwar die Monarchie de facto und alsbald danach auch de jure beendet. Doch war gleichzeitig von der angekündigten Republik noch nicht viel zu sehen. Sie sollte sich erst noch konstituieren. In welcher Form und auf welche Weise dies geschehen würde, war zu diesem Zeitpunkt weder festgelegt noch absehbar. Bis hierhin hatte die Revolution also eine überwiegend negative, beendigende und überwindende Wirkung gehabt. Das Neue war noch nicht da, musste also noch kommen. Darin liegt keine Geringschätzung der Ereignisse, im Gegenteil: Dass sich Neues in Richtung Frieden, Republik, Selbstbestimmung des Volkes nach innen und außen entwickeln konnte, war wesentlich eine Folge der Revolution. Ohne sie hätte sich das politische und rechtliche Geschehen anders entwickelt. Man mag dies schon daran ablesen, dass in den Verfassungsdebatten 1917/18 die Frage nach Monarchie oder Republik keine Rolle gespielt hatte: Ganz selbstverständlich gingen alle Teilnehmer davon aus, dass jene Staatsform fortbestehen würde. Erst als sie in der Revolution beseitigt wurde, war ein bislang für konstant gehaltener Faktor von Staat, Politik und Verfassung abhandengekommen. Ohne Revolution wäre dies nicht passiert. Zugleich zeigte sich nun auch: Für eine Republik bestanden in Deutschland keine Pläne oder Blaupausen, die einer staatlichen und staatsrechtlichen Neuordnung zugrunde gelegt werden konnten. Von der Revolution bis zur Konstituante und erst recht zur Verfassung war es also ein weiter Weg.10 Aus der Rückschau mag überraschen: Die einzelnen Schritte hin zur Nationalversammlung sind erstaunlich gradlinig und konsequent gewesen. Es führte in gerader Weg von Entscheidungen vom Aufruf der Volksbeauftragten (12. 11. 1918) über den Auftrag an Hugo Preuß zur Aufnahme der Verfassungsarbeiten (15. 11. 1918) und die Entscheidung für eine aus allgemeinen Wahlen hervorgehende Nationalversammlung (25./26. 11. 1918) bis hin zum Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt (10. 2. 1919). Im Nachhinein erscheint der Weg folgerichtig und demokratisch. Er wurde stets von einer Zustimmung der (zumeist großen) Mehrheit im Volk getragen. Dies war nicht selbstverständlich, hatte doch die Mehrheit die Revolution nicht gemacht. Diese musste ihre Mehrheit erst suchen und finden. Überlagert wird diese Sichtweise allerdings von den Narrativen der Verfassungskämpfe als Begleitumstände aus der Sicht der Beteiligten, Zeitgenossen und vieler Historiker. Die einzelnen Schritte verschwimmen im Pulverdampf aus Revolution, Gegenrevolution und Bürgerkrieg. Hier lag das bekannte Problem der Republikgründung: Die massiven Widerstände der überstimmten Minderheiten, Parteien und Organisationen; die bewaffneten Machtkämpfe in Berlin und andernorts, die auch Verfassungskämpfe
9 Nach Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte IV, 3. Aufl., 1991, S. 2. 10 Einzelheiten bei Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (WRV), 1997, S. 9 – 81 (Nachw.). Recht und Politik, Beiheft 3
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waren;11 die Organisation bzw. Reorganisation gegenrevolutionärer Gewalt etwa in den rasch entstehenden Freikorps; nicht zuletzt die mangelnde Bereitschaft und Fähigkeit der neuen Inhaber der Regierungsgewalt, sich eine eigene Machtbasis nach innen zu verschaffen und so mit anderen als militärischen Mitteln die innenpolitische Stabilität wieder herzustellen: Der Konsequenz des Weges zur neuen Republik kontrastiert auffällig die Art und Weise seiner Begehung. Diese Ereignisse waren in hohem Maße geeignet, nicht allein die Revolution zu diskreditieren, die mit ihrem Erfolg anscheinend wenig anfangen konnte. Sie sollten auch längerfristig die laufende Verfassunggebung, die junge Verfassung und die durch sie begründete Republik beschädigen. Aus der Sicht demokratischer Verfassunggebung bleibt festzuhalten: Der Weg zur Republik war von zahlreichen Vorentscheidungen geprägt. Und in einem demokratischen Sinne waren diese von der Mehrheit des Volkes legitimiert. Dessen Durchsetzung gegen dissentierende, nicht selten bewaffnete Minderheiten von links und rechts erwies sich demgegenüber als Herausforderung, welche sich den Volksbeauftragten und den neuen Regierungen als unter den damaligen Umständen schwer lösbare und auch nicht durchweg gelöste Aufgabe stellte. Schon zeitgenössische Beobachter stellten mit Formulierungen etwa von der „Marneschlacht der Revolution“ (Eduard Bernstein) die Frage danach, ob der Weg in die Republik überhaupt noch die Fortsetzung der Revolution von 1918 oder ein ganz anderer, von ihr abweichender und ggf. gegen sie gekehrter gewesen sei. Von daher erklärt sich eine radikal ambivalente Sichtweise der Wirkung der Novemberereignisse für die Republikgründung: Sie war einerseits die Eröffnung des Weges zu ihr hin, die alte Verfassung war beendet und eine neue ermöglicht. Aber sie war noch keine neue Verfassunggebung: Für diese sollten sich die revolutionären und nachrevolutionären Ereignisse, der Weg vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg, als Belastung erweisen. Der November 1918 war also Chance und Risiko zugleich. Die Frage nach den staatsrechtlichen Wirkungen der Revolution kann daher nicht einfach mit der neuen Verfassung beantwortet werden. Sie war eine mögliche, aber keineswegs die einzig denkmögliche Folge: Ihr Erlass hing von zu vielen Zwischenschritten ab. Sie war weder in der Revolution so angelegt, wie sie später erlassen wurde; noch war sie deren gleichsam denklogische Folge. Insoweit sind beide voneinander zu unterscheiden. Umgekehrt hat die neue Verfassung einige Ideen der Revolutionäre aufgenommen und tradiert. Sie wirkten daher später als Inhalte der WRV fort. Worin können dann also die staatsrechtlichen Wirkungen über die Öffnung der Verfassungsfrage hinaus liegen? Sie lassen sich darin finden, wo die Revolution Rechtsfolgen setzte, die vor oder außerhalb der WRV fortgalten, also aus der Sicht der Republik vorkonstitutionelles oder parallel zur neuen Verfassung fortgeltendes Recht sein sollte. Hinzu sollten weitere Rechtswirkungen treten, welche als zwingende Vorgaben für die neue Verfassung erschienen, der Nationalversammlung also eher vor- als aufgegeben erschienen. Hierfür gibt es einen
11 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte V, 1978, S. 777 ff., verwendet in von 6 Paragraphentiteln das Stichwort „Kampf“ bzw. Konflikt. 16
Recht und Politik, Beiheft 3
Die verdrängte Revolution
klaren Indikator: Es lässt sich dort erkennen, wo revolutionäres Recht in Geltung war und von der Nationalversammlung vorausgesetzt oder außer Streit gestellt wurde.
IV. Das Staatsrecht der Revolution: Aufruf des Rats der Volksbeauftragten vom 12. 11. 1918 Die Revolution hat nicht bloß Recht beseitigt. Sie hat unmittelbar nach ihrem Erfolg neues Recht gesetzt. Der Aufruf des Rats der Volksbeauftragten (RdVB) vom 12. 11. 191812 war ein wichtiges staatsrechtliches Dokument, dessen Inhalt und Folgen schon damals Rechtswirkung beigelegt wurden. Es nahm für sich keine Verfassunggebung in Anspruch, sondern stellte eine „Konstituierende Versammlung“ in Aussicht. Doch setzte es insoweit Verfassungsrecht, als es der bislang geltenden RV 1871 in wichtigen Elementen die Fortgeltung absprach. Der RdVB ging so davon aus, dass er selbst nicht mehr an das alte Verfassungsrecht (und erst recht nicht an dessen Gesetzesrecht) gebunden war. Ganz elementar war die Inanspruchnahme rechtsetzender Gewalt außerhalb der Organe und Verfahren der RV 1871 und außerhalb des Kriegsnotstandsrechts. Ob darin eine Verneinung der Geltung der alten Verfassung oder nur der von dem Aufruf explizit oder implizit tangierten Bestimmungen liegen sollte, ist später unterschiedlich gedeutet worden.13 Während die Behörden sich bis auf weiteres am alten Recht orientierten, solange es nicht explizit aufgehoben wurde,14 findet sich umgekehrt bei den höheren Gerichten keine Entscheidung, welche sich auf die alte Verfassung beruft und den Wandel der Staatsform relativiert. Im Gegenteil: Schon früh, jedenfalls seit Inkrafttreten des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt, galt in den Urteilen nicht nur die neue Ordnung der Nationalversammlung, sondern auch diejenige der Volksbeauftragten als oder wie die legale Staatsgewalt und wurde als solche gegen Versuche zur Fortsetzung der Revolution geschützt.15 1. Friedensfrage und Republik: Zwischen Friedenspolitik und „Dolchstoß“ Von der soeben verkündeten Republik war in jenem ersten Dokument nicht explizit die Rede. Zwar war der Fortfall der Monarchie vorausgesetzt. Die Einleitungsformel sprach von der aus der Revolution hervorgegangenen Regierung; und die Verkündungsformel wich von der bislang üblichen ab. Da unterzeichneten keine Reichskanzler u. ä. mehr, sondern die sechs Volksbeauftragten. Darüber hinaus blieb der staatsrechtliche Status 12 RGBl 1918, 1303. 13 Für Kontinuität Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl., 1933, 762: Fortgeltung der RV 1871 nur insoweit, als sie der Revolution nicht im Wege stand. Im Übrigen komme dem Art. 178 WRV nur deklarative Wirkung zu; ähnlich Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte VI, 1993, S. 437. Anders Gusy, Weimar – Die wehrlose Republik, 1991, S. 96 f („staatsrechtliches Vakuum“). 14 Dies ist breit untersucht bei Kurz, Demokratische Diktatur?, 1992, auf der Grundlage der Annahmen Hubers. 15 Gusy, Wehrlose Republik (o. Fn. 13), S. 109 ff. (Nachw.). Recht und Politik, Beiheft 3
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quo bis auf die Ankündigung einer Konstituierenden Versammlung, die noch näher zu regeln sei. Es war also ein verfassungsrechtlicher Übergangszustand: Das Alte durch die Revolution ersichtlich vergangen, das Neue stand noch aus. Vorhanden war momentan eine Regierung, welche Rechtsetzungsrechte mit Gesetzeskraft beanspruchte. Die Republik war im Moment eine Staatsform ohne Alternative. Da der Monarch geflohen war und eine monarchische Alternative nirgends erkennbar war, blieb als Staatsform ohne Monarch allein die Republik. Das war damals der kleinste gemeinsame Nenner der Republikkonzepte – und sollte es auch später bleiben. Der politische Maximalismus („Sieg der Revolution“) mündete so in einen juristischen Minimalismus. Von den möglichen großen Inhalten blieb zunächst allein die offene Rechtsform. Die große Emphase der Ausrufung war in der Praxis rasch in Ernüchterung eingetreten. Und selbst sie war in dem frühen verfassungsrechtlichen Dokument nicht einmal ausgesprochen. Der ersichtliche Grund dafür lag in den Schlussbestimmungen. Offenbar sollte die Entscheidung über die neue Staatsform letztendlich von der Konstituante getroffen werden. Dass dabei irgendwelche Entscheidungsspielräume bestanden hätten, glaubten weder die Volksbeauftragten noch die Koalitions- und noch nicht einmal die Oppositionsparteien in der Nationalversammlung. Letztere trauerten in Weimar zwar der großen Vergangenheit nach, boten aber für die Zukunft keine monarchische Alternative an und stimmten deshalb nicht gegen die Republik, wohl aber gegen ihre Symbole und Einzelheiten ihrer Ausgestaltung. Noch nicht einmal die später vielfach in den Vordergrund geschobene Diskussionen zwischen Räte„republik“ und parlamentarischer „Republik“ konnten sich hier auswirken. Die Nationalversammlung sollte so die Verantwortung für eine Entscheidung treffen, die bei ihrem Zusammentritt längst entschieden war, und in der für sie keine Alternativen mehr erkennbar waren. Darin lag am ehesten eine Tendenz der Volksbeauftragten zur Minimalisierung ihrer eigenen Verantwortung und zugleich ihrer eigenen Stellung: Die Republik war da, aber noch nicht rechtsförmig. Und sie würde auch nicht von ihnen rechtsförmig gemacht werden. Staatsrechtlich würde die Revolution hinter der zukünftigen Republik ein Stück weit verschwinden. Doch war die Republik mehr als nur „Lückenbüßer“. Ihre Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit16 folgten damals aus innenpolitischen, mehr noch aus außenpolitischen Gründen. Die außenpolitische Selbstbestimmung bzw. das, was von ihr im Jahr 1918 noch übrig war, bedurfte eines handlungsfähigen Staates (auch) ohne Monarch. Hier ging es um Liquidation des Krieges durch Waffenstillstand und (später) Friedensvertrag. Dafür war nach außen eine neue handlungsfähige Regierung – notfalls ohne positivrechtliche Verfassung – notwendig. Verhandlungen, Vertragsschlüsse und deren Durchsetzung bedurften völkerrechtlich einer Regierung. Hier zeigen sich Zusammenhänge zwischen Friedenspolitik und Revolution. Einerseits scheint es im Interesse der Sieger des Weltkriegs gewesen zu sein, die Verantwortung für Kriegs- und Friedensfolgen in Deutschland nicht selbst übernehmen zu müssen. Andererseits bestand in 16 Zum folgenden Barth, Europa (o. Fn. 3). 18
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Deutschland aufgrund möglicherweise missverstandener oder verzerrter Interpretation von Äußerungen des amerikanischen Präsidenten Wilson der Eindruck, dass eine Regierung ohne Monarch bessere Friedensbedingungen erlangen könnte als die bisherigen Machthaber. Es ist hier nicht der Ort, die Geschichte jener Legenden, Selbst- und Fremdtäuschungen, Missverständnissen und enttäuschten Hoffnungen nachzuzeichnen. Aus der Sicht der Zeitgenossen haben die Siegermächte jedenfalls den revolutionären Wechsel der deutschen Staatsform nicht erkennbar „honoriert“. Ob sie dazu damals überhaupt in der Lage waren, erscheint wegen der wirtschaftspolitischen Interdependenzen der Siegerstaaten untereinander und der innenpolitischen Rückwendung der amerikanischen Exekutive auf den eigenen Kontinent allerdings überaus fraglich. Innenpolitisch sollte das vertretungsberechtigte Organ zugleich dasjenige werden, das mit der Verantwortung für den Frieden zugleich diejenige für Kriegsende, Kriegsniederlage und deren Folgen trug. Durch die Republik ohne Monarch sollte der Kriegsanfang von dessen Ende, die siegreichen Feldzüge von 1914 von den schmählichen Niederlagen von 1918, die Triumphe Hindenburgs und Ludendorffs von dem angeblichen „Dolchstoß“ der Heimat, der Arbeiter und der Revolutionäre abgekoppelt werden. Die historische Kontinuität zwischen Ursachen und Folgen blieb damals nicht zuletzt deshalb lange unerkannt, weil Militärs, Exekutiven, Wissenschaftler und die republikanischen Regierungen im Kampf gegen den Versailler Kriegsschuldartikel die Zusammenhänge zwischen Ursachen und Folgen teils verdrängten, teils unterdrückten, teils verschleierten.17 Die Kriegszieldebatte setzte sich als Kriegsverantwortungs- und Friedensdebatte fort. Es gelang den Revolutionären nie, aus dieser Zwangslage herauszutreten. Innenpolitisch erwies sich die Chance der Revolution als ihre schwerste Hypothek. Die Republik war innen- wie außenpolitisch notwendig. Und sie war Chance und Hypothek zugleich, wobei sie die Chancen selbst eröffnete, die Hypotheken hingegen überwiegend erbte. Die schon früh als Konkursverwalter der Monarchie verspotteten Volksbeauftragten gerieten in eine schier unlösbare Zwickmühle aus gegenläufigen innenpolitischen Erwartungen und außenpolitischen Handlungszwängen. Dass der „verweigerte Frieden“ keine Dauerlösung bleiben könnte, war schon damals einsichtigen Beobachtern im In- und Ausland deutlich. Dass daraus die Notwendigkeit einer Revision folgte, lag auf der Hand. Friedenspolitik sollte fortan Revisionspolitik werden. Und diese wiederum sollte sich als Bewährungsprobe der Republik erweisen: Würde sie, nachdem der Krieg ohne und gegen sie verloren war, den Frieden gewinnen können? Dies sollte sich als eine Schicksalsfrage der Zukunft erweisen. Die zu gründende Republik umwehte so ein Flair von namentlich außenpolitischer Notwendigkeit einerseits und innenpolitischer Verdrängung andererseits. Sie war Prämisse, nicht Inhalt und tragende Säule des Aufrufs und der in ihm angekündigten neuen Staatlichkeit. So zeigte sich eine gewisse Tendenz zur Selbstmarginalisierung von 17 Heinemann, Die verdrängte Niederlage, 1995. Recht und Politik, Beiheft 3
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Revolution und Volksbeauftragten. Ob dies damals allen Mitgliedern des Rates bewusst und von ihnen intendiert war oder aber allein dem Kurs der (M)SPD entsprach, ist für das Ergebnis wenig belangvoll. Dort folgten auf eine markige Einleitung von der Revolution und dem sozialistischen Programm einzelne wichtige Regelungen, welche die Friedensfrage aussparten: Dies lag nahe, da deren Regelung nicht allein von der deutschen Regierung abhing. Sie sparte aber auch die neue Staatsform aus, die mit der Revolution verkündet wurde, und schob so die staatsrechtliche Verantwortung der zukünftigen Nationalversammlung und Verfassung zu. Der Widerspruch zwischen hohen Erwartungen und politischen Realitäten war groß gewesen. Und diese Neigung zur Selbstmarginalisierung mag ein Grund dafür gewesen sein, dass die Bedeutung der Revolution später auch von Beobachtern marginalisiert wurde. 2. Selbstbestimmung des Volkes Die Idee der Selbstbestimmung des Volkes nach innen war gleichbedeutend mit der Frage nach der demokratischen Staatsform. Ebenso wie die Republik kam auch sie im Text des Aufrufs der Volksbeauftragten nicht explizit vor. Doch wurde sie in einer Reihe seiner Bestimmungen vorausgesetzt. a) Wahlrecht als Kernelement der Demokratie Der zweitlängste Absatz des Aufrufs befasst sich mit Zentralfragen der zukünftigen Staatswillensbildung. Dort war von Volksabstimmungen und Räten überhaupt nicht die Rede, wohl aber von Wahlen und Wahlrecht. Gewiss: Dies schloss andere als parlamentarische Vertretungskörperschaften nicht von vornherein aus. Mit der Fokussierung auf die Wahlen war jedoch ein wichtiger Schritt vorgezeichnet. Die neue Staatsform sollte offenbar auf Wahlen basieren. Das sollte nicht nur für alle öffentlichen Körperschaften gelten, sondern auch für die zukünftige „Konstituierende Versammlung“. Mit der Vorentscheidung über eine solche Konstituante war zugleich eine solche über deren Zusammensetzung getroffen. Nicht nur die verfassunggebende Körperschaft, sondern auch die aus ihr hervorgehende Verfassung sollte jedenfalls auch durch Wahlen legitimiert sein. Die neuen Wahlrechtsgrundsätze sollten nicht bloß Gegenentwürfe zu den früheren Verfassungen im Reich und in den Ländern sein. Sie konnten und sollten an die intensive Wahlrechtsdiskussion anknüpfen, die in den Verfassungskrisen des Weltkriegs geführt worden waren und partiell in den letzten Kriegstagen mit dem Ziel beschlossen worden waren, eine Revolution möglichst zu verhindern. Dabei waren sie aber nur sehr ansatzweise verwirklicht worden. Und jene Zielsetzung musste die Volksbeauftragten nicht hindern, an das demokratische Denken im Krieg,18 dessen Begründungen, Reformforderungen und Ziele anzuknüpfen. Dies geschah durch eine Reihe der im Aufruf explizit genannten Grundsätze. Zentral war dabei die allgemeine Wahl, also das Wahlrecht aller Erwachsenen. Dies war im Reich und in Preußen schon früher umgesetzt. 18 Dazu und zum folgenden grundlegend Llanque, Demokratisches Denken im Weltkrieg, 2001. 20
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Wichtig waren jedoch die Herabsetzung des Wahlalters und das neue Frauenwahlrecht. Beide bedeuteten einen Bruch mit der staatsrechtlichen Vergangenheit und eine Erfüllung zentraler Reformforderungen im Krieg. Sie waren unmittelbare Folgen der Revolution, ohne sie wären die Widerstände übermächtig geblieben. Nun sollte die Wahl wirklich eine „allgemeine“ werden. Darin lag ein revolutionärer Akt, dessen staatsrechtliche Bedeutung am ehesten vor der Folie der älteren Demokratisierungsdebatten aufscheint. Eine ihrer zentralen Gegenstände war die Differenzierung zwischen „Volk“ und „Masse“ gewesen. In der Tradition des Liberalismus des 19. Jh. waren Wahlrecht und dessen Beschränkungen zentral mit der Verantwortungsfähigkeit der Menschen im und für den Staat begründet worden. Diese folge aus unterschiedlich hohen Leistungen für die öffentlichen Hände, die oft mit der unterschiedlichen Steuerlast begründet und auf sie verengt wurde. Bürger sei der Teil der Menschen, welcher sich an den finanziellen Lasten des Staates beteiligte und gleichsam als Gegenleistung das Mitbestimmungsrecht bekam: No representation without taxation! Die Trennung zwischen Verantwortungsfähigen und Nicht-Verantwortungsfähigen war gleichbedeutend mit derjenigen zwischen „Volk“ und „Masse“, weniger mit derjenigen zwischen „citoyen“ und „bourgeois“. Die Erstreckung des Wahlrechts auf alle Erwachsenen war nicht bloß gleichbedeutend mit einer Ausweitung des Anerkennung von Leistungen aller Menschen im Staat, also der Ausweitung des Leistungsgedankens vom Steuerrecht auf den – im Krieg besonders wichtigen – Wehrdienst. Sie ging vielmehr darüber hinaus, weil sie das Wahlrecht gerade nicht an die Erbringung solcher Leistungen knüpfte, sondern stattdessen allen Menschen das Wahlrecht zusprach, also das Wahlrecht von dem Gegenleistungsgedanken für individuelle Leistungen an den Staat löste. Damit stellte sich für die Befürworter der neuen Staatsform die Frage nach dem vorausgesetzten Volksgedanken; genauer: diejenige nach der Verantwortungsfähigkeit nicht allein der bisherigen Wahlbürger, sondern aller Menschen als Bürger. Sie hatte die früheren Wahlrechtsdiskussionen weitgehend bestimmt. Und sie wurde durch Revolution und Volksbeauftragte nicht etwa beantwortet, sondern unter der Prämisse neuer politischer Machtverhältnisse neu gestellt. Die Annahme Max Webers, wonach das Volk im Krieg seine politische Bewährungsprobe bestanden habe, teilten noch nicht einmal alle Linksliberalen der Zeit. Dass hier Aufgaben der politischen Bildung und Erziehung der Menschen entstünden, war auch in gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Kreisen Gemeingut.19 Der damaligen Zeit ist später ein Misstrauen gegen Volk, volksgewählte Parlamente und deren Regierungen unterstellt worden. Hugo Preuß betonte als Grundelement des „echten“ Parlamentarismus den ursprünglich konstitutionellen Gedanken der Notwendigkeit von Gegengewichten gegen Volksvertretungen. In der Nationalversammlung überzeugte er damit allein die Anhänger seiner Partei und der bürgerlichen Oppositionsparteien. Namentlich die (M)SPD wandte sich gegen 19 Zahlreiche Abhandlungen hierzu bei Heller, in: Gesammelte Schriften I, 2. Aufl., 1992, S. 579 ff. Recht und Politik, Beiheft 3
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solche parlamentsbeschränkenden Maßnahmen und sah keinen Anlass zu Misstrauen gegen Volk und volksgewählte Parlamente. Wenn später die WRV im Geist der Ideen Preuß‘ ausgelegt wurde, so verfehlte dies wichtige Intentionen der Konstituante. Der ursprüngliche Streit fand seine Fortsetzung in den späteren Weimarer Debatten um die Differenz zwischen wahrem „Volkswillen“ bzw. „wahrer Demokratie“ einerseits und parlamentarischen Mehrheitsentscheidungen andererseits. Die keineswegs nur von Carl Schmitt vorgetragene Kritik knüpfte nur vordergründig an einzelne Mängel namentlich im Reichstag an. Sie suchte ihre Grundlagen in älteren Differenzierungen zwischen dem verfassten Volk als sanior pars der Menschen einerseits und der Gesamtheit der Menschen andererseits. Dass die Ideen der „wahren Demokratie“, des „wahren Volkswillens“ und der „Repräsentation“ damals antiparlamentarisch gegen die Intentionen des allgemeinen und gleichen Wahlrechts gewendet wurden, zeigt den wahrhaft zukunftsweisenden Charakter der Entscheidung der Volksbeauftragten besonders nachdrücklich. b) Allgemeines Wahlrecht für alle „männlichen und weiblichen Personen“ Deutschland war eines der ersten Länder, welches das Frauenwahlrecht einführte. An dieser Stelle war es den klassischen westliche Demokratien etwa in England und Frankreich weit voraus und folgte nur wenigen Vorbildern aus Neuseeland, Australien und Nordeuropa. Während der andernorts aktiven Suffragetten gegenwärtig öffentlichkeitswirksam gedacht wird, verlief die Geschichte der staatsrechtlichen Gleichberechtigung der Frauen in Deutschland vergleichsweise unspektakulär.20 Frühe Vorkämpferinnen wie Hedwig Dohm, Lily von Gizicky und Helene Lange sind wenig bekannt. Andere wie Rosa Luxemburg, Clara Zetkin oder Minna Cauer verbanden Wahlrechtsforderungen mit anderen politischen Zielsetzungen, was deren Durchsetzung nicht erleichtern sollte. Mit aller durch den Forschungsstand gebotenen Vorsicht lässt sich folgende Differenzierung erkennen. Wahlrechtsfragen waren im 19. Jh. ständiger politischer Zankapfel in Debatten um die Beseitigung von Beschränkungen oder Ungleichheiten, namentlich die Herabsetzung oder Beseitigung des Zensus oder ständischer Vorrechte. In England entstand die Frauenbewegung offenbar als bürgerliche Bewegung, welche die Gleichstellung der Frauen mit den Männern unter denselben Bedingungen forderte. Die Suffragetten waren in dieser Hinsicht eine Mittelschichtbewegung, welche primär die Ausweitung der bestehenden Wahlrechte auf die Frauen forderte. An ein allgemeines Wahlrecht aller Männer und Frauen war zum damaligen Zeitpunkt auch in England noch nicht zu denken. Frauenwahlrechte bedeutete dann primär Gleichberechtigung der Frauen mit den Männern in einem allgemeinen System der Ungleichheit. Der liberale Gedanke des ungleichen Wahlrechts wäre so verändert, aber nicht überwunden worden. In Deutschland verlief die Entwicklung im Kern tendenziell anders. Die For20 Hervorragende Darstellung bei Rosenbusch, Der Weg zum Frauenwahlrecht in Deutschland, 1998, S. 281 ff. u. pass. S.a. Schilling, in: Braune/Dreyer, Republikanischer Alltag, 2017, S. 87. Sehr früh damals Bebel, Die Frau und der Sozialismus, 1879. 22
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derungen nach Wahlrechtsänderungen waren primär solche nach allgemeiner Gleichheit, und das hieß in der Logik des 19. Jh. nach gleichem Männerwahlrecht. Das Frauenstimmrecht sollte als dessen Fortsetzung erscheinen, war so aber eher kontextualisiert als verselbstständigt. Auch wenn solche Tendenzen von parteipolitischen Bindungen und Fraktionierungen abhängig waren: In Deutschland konnte die Frauenbewegung so tendenziell eher Verbündete auch unter den Männern gewinnen. Zugleich war aber die Realisierung ihrer Forderungen schwieriger, weil sie nicht bloß die Reform des alten Wahlrechts, sondern dessen Überwindung voraussetzte. Allgemeines Wahlrecht und Frauenwahlrecht blieben staatsrechtliche Errungenschaften der Revolution. Die an sie geknüpfte Hoffnung, dass die politische Mitbestimmung der Frauen zu einem allgemeinen Abbau benachteiligender Rechtsnormen führen würde, sollte sich erst mit erheblicher Verspätung erfüllen. Die viel beschriebene unausgesprochene Erwartung der Volksbeauftragten, dass die revolutionstragenden Parteien aus Dankbarkeit unter Frauen besonders hohe Zustimmung erlangen würden, sollte sich nicht erfüllen. In der Republik zeigten sich die Wählerinnen bis etwa 1931 weniger anfällig für radikale Versprechungen als die Männer. c) „Proportionales Wahlsystem“ Neben dem allgemeinen und dem Frauenwahlrecht war die Verhältniswahl für alle gewählten Vertretungskörperschaften die zentrale Neuerung. Sie reagierte auf die Erfahrung, dass die Revolutionäre das Mehrheitswahlrecht der Monarchie als eine Quelle von Ungleichheit und Diskriminierung sahen. Offenbar waren jene Erlebnisse derart einschneidend, dass für sie der Übergang der Demokratie gleichbedeutend mit dem Übergang zum Verhältniswahlrecht war. Aus der Retrospektive sind dafür vornehmlich zwei Umstände erkennbar. Da war zunächst die bekanntermaßen extrem ungleiche Größe der Wahlkreise, welche namentlich die Städte und ihre Bewohner stark benachteiligten, das Land und seine Wähler hingegen stark bevorzugten. Dies konnte durchaus dazu führen, dass in der Stadt mehr als das Zehnfache der Stimmen gegenüber ländlichen Wahlkreisen erforderlich war, um ein Mandat zu erlangen. Vielleicht noch wichtiger waren dagegen Vorabkoalitionen bürgerlicher Parteien, welche in einer Reihe von Stimmbezirken „gemeinsame“ Kandidaten aufstellten, welche über ihre Frontstellung gegen die Arbeiterparteien oder religiöse Minderheiten hinaus kaum inhaltliche Übereinstimmungen aufwiesen. Wenn sie aufgrund der Logik des geringeren Übels eine Mehrheit erlangten, so war dies nicht mehr als ein Minimalkonsens inhaltlich unterschiedlicher, wenn nicht gegenläufiger Positionen und Interessen. Verstärkt wurde ein solcher Effekt, wo entweder im ersten Wahlgang für die Wahlkreise hohe Quoren bestanden, welche im späteren Wahlgang solche Minimalkoalitionen begünstigen; oder aber bei indirekten Wahlsystemen, wo derartige Gestaltungen auch noch unter den gewählten – damals allein – Wahlmännern möglich waren. Kurz: Das Mehrheitswahlrecht der Monarchie war für manche Manipulationen und Benachteiligungen der Arbeiterparteien ursäch-
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lich. Und als diese bei den Volksbeauftragten unter sich waren, zählte dessen Abschaffung zu ihren ersten Maßnahmen. Aus der Retrospektive mag es eher als Entscheidung gegen das alte und weniger als eine solche für das Verhältniswahlsystem erscheinen, mit dem damals Erfahrungen in Deutschland weitgehend fehlten. Für die Zeitgenossen blieb das Ziel ein möglichst gleiches und gerechtes Wahlsystem; eine Formulierung, die sich so allerdings weder im Text des Aufrufs noch in demjenigen der Art. 17, 22 WRV finden sollte. Die Weimarer Konstituante ging hinter den Aufruf zurück, indem sie lediglich die „Grundsätze der Verhältniswahl“ festschrieb; eine Relativierung, die einerseits bewusst vorgenommen worden war, andererseits in der zeitgenössischen Praxis jedenfalls bis 1930 unbeachtet bleiben sollte.21 In den Weimarer Debatten wurden schon damals auch Schwächen des neuen Wahlrechts klarsichtig beschrieben. Erfordernisse parlamentarischen Regierens, also die Notwendigkeit einer Mehrheitsbildung unter den Abgeordneten, wurden ebenso gesehen wie mögliche Gefahren aus Kleinstparteien und Fragmentierung der Volksvertretung. Dass solche Gefahren bestanden, sollte der Reichstag zeigen; dass sie nicht zwingend aus dem Wahlsystem folgen mussten, sollte der Preußische Landtag illustrieren. Republik und Demokratie fanden sich bei den Volksbeauftragten nicht explizit. Doch war letztere im Unterschied zur ersteren immerhin in wichtigen Einzelfragen geregelt. Auch hier scheint die Tendenz zur Selbstmarginalisierung des RdVB oder jedenfalls seiner Mehrheit auf: Sie schoben auch hier die Verantwortung für die zukünftige Staatsform auf. Zugleich wollten sie konkrete Errungenschaften der revolutionären Neuordnung festschreiben. Das erforderte hinsichtlich der Republik keine Festlegungen, da diese ohnehin alternativlos war. Weil aber die Demokratie unterschiedliche Ausgestaltungen zuließ, und diese nicht alternativlos waren, bedurfte es hier konkreter Einzelregelungen. Sie waren daher gleich in ihrem ersten Aufruf enthalten. Es ging ersichtlich um konkrete Festschreibungen und weniger um Symbole oder Prinzipien; eher um Inhalte als um das darauf zu klebende Etikett. 3. Freiheit und soziale Rechte Freiheit und soziale Verbesserungen zählten zu den zentralen Anliegen der Revolution und den fundamentalen Erwartungen an sie.22 Sie waren im Aufruf breit erwähnt und nahmen die meisten und längsten Einzelregelungen ein. Dabei ging es teils um Abwehrrechte (namentlich gegen den Belagerungszustand im Krieg), teils um Verbesserungen des Rechts unselbständiger Arbeit; teils um sozialpolitische Grundsätze für die Zukunft, unter denen der damals aktuelle Acht-Stunden-Arbeitstag eine zentrale Rolle einnahm. Einzelne Garantien sollten offenbar unmittelbar gelten („wird aufgehoben“). Andere waren als Zielbestimmungen bzw. Auftragsnormen an die Politik formuliert:
21 Zu Wahlsystem und Wahlrecht in der Republik Gusy, WRV a.a.O., S. 115 ff. (Nachw.). 22 S. o II. 1. 24
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Sie kombinierten die rahmenartige Festlegung von Anliegen mit dem Auftrag, diese durch zukünftige Politik anzustreben („wird hingearbeitet“). Aus heutiger Sicht mag auffällig sein: Besondere Organe, Instanzen und Verfahren zur Realisierung jener Garantien fehlten völlig. Verpflichtet waren die „Regierung“, an anderer Stelle „Reich, Länder und Gemeinden“. Nicht einmal die Gewerkschaften wurden explizit erwähnt, obwohl ihr Wirken in diesem Kontext den Volksbeauftragten bewusst war. Sie hoben nämlich Bestimmungen auf, welche deren Tätigkeit in der Vergangenheit behindert bzw. unterdrückt hatten. So weit, ihr Wirken ausdrücklich zu erwähnen, anzuerkennen oder zu fördern, ging der Aufruf jedoch nicht, obwohl genau dies ihr Anliegen gewesen war. Der Text war materiell, nicht institutionell angelegt. Das war kein Defizit, sondern lag in der Logik des demokratischen Denkens der Zeit. Seit Jahrzehnten war von der damaligen Opposition die Demokratisierung der Staatsgewalt durch allgemeines und gleiches Wahlrecht sowie durch Parlamentarisierung der Regierung nicht als Selbstzweck gefordert worden. Solchen Forderungen lag die Logik zugrunde: Wenn alle Bürgerinnen und Bürger in gleicher Weise an der Staatsgewalt beteiligt sein werden, dann werden diskriminierende oder unbegründete Freiheitsbeschränkungen ohnehin nicht mehr erlassen bzw. aufgehoben. Konkret: Wenn die Frauen das Wahlrecht erlangen, würden die Parlamente ungleiche Beschränkungen gegen Frauen ohnehin beseitigen und in Zukunft unterlassen. In einer gleichen und gerechten Demokratie nimmt danach das Volk seine Freiheit selbst in die Hand und schützt sie gegen ungerechtfertigte Beeinträchtigungen. Anders ausgedrückt: Demokratie ist die institutionelle Verlängerung der Freiheit in den Staat hinein; Demokratie ist die Staatsform der Freiheit. Und umgekehrt ist sie auf die Zustimmung der Bürger angelegt und muss daher deren Rechte und Interessen notwendigerweise einbeziehen. Rechtlich gesicherte Freiheit ist der Zustand der Demokratie. Heute würden wir vielleicht vorsichtiger formulieren: Demokratie und Freiheit sind vielleicht nicht zwingend komplementär. Aber die Freiheit ist demokratieaffin, und die Demokratie ist freiheitsaffin (D. Grimm). Das ist zunächst ein großer Gedanke,23 welcher in der Gegenwart am ehesten im angelsächsischen Rechtsdenken vermutet wird. Er ist in der deutschen Diskussion in den Hintergrund getreten. Hier erscheint Demokratie eher als Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit, Freiheitsschutz als Anliegen der Letzteren gegen Erstere. Und weil dies im majoritätsgeprägten Parlament selbst nur eingeschränkt möglich ist, geht es um Freiheitsschutz nicht nur durch, sondern auch gegen die Volksvertretung. Und dann bedarf es anderer als parlamentarischer Instanzen zum Schutz der Freiheit, etwa der (Verfassungs‐)Gerichte.
23 Hauptvertreter jener demokratischen Grundrechtsauffassung war damals übrigens kein Räteanhänger, sondern Thoma, in: Anschütz/Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrecht I, 1930, S. 186, 198 ff., insbes. S. 199 f. Zu seiner Position zum richterlichen Prüfungsrecht AöR 1922, 267, 276 ff. Recht und Politik, Beiheft 3
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An dieser Stelle dachten Politiker und demokratische Theoretiker damals offenbar anders als wir heute. Darüber ist in der Republik intensiv und tiefgründig diskutiert worden. Vielleicht am ehesten fand damals Hans Kelsen24 eine Lösung, die er auf dem Grundgedanken aufbaute: Beide Mechanismen der Freiheitssicherung ergänzen einander und müssen durch das Recht sinnvoll zugeordnet werden. Seine Position hat später, ohne dass er dafür zitiert wurde, manche Debatten geprägt. Diese setzten jedoch voraus, dass der Grundgedanke der Freiheitssicherung durch politische Mitwirkung der Grundrechtsträger als sinnvolle und notwendige Idee mitgedacht wird. Wenn man dies tut, so spart der Aufruf der Volksbeauftragten institutionelle Elemente der Freiheitsverwirklichung nicht aus. Im Gegenteil: Das Nebeneinander von sozialen und politischen Garantien und der gleichen und gerechten Wahl verweisen die Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit im Staat auf diejenigen, die dazu am meisten berufen sind. Das sind die Träger der Grundrechte selbst und ihre gewählten Vertreter.
V. Zwischen Anerkennung des Status quo und einsetzender Verdrängung: Die Revolution in der Nationalversammlung In der Nationalversammlung dominierte eine ausgeprägt ambivalente Haltung zur soeben stattgefundenen Revolution. Einerseits waren die Abgeordneten sich bewusst: Dass sie überhaupt zusammenkamen und als Konstituante tätig werden konnten, was eine Folge der Revolution. Ohne sie wäre es entweder zu gar keiner verfassunggebenden Versammlung oder aber einer Verfassunggebung in anderer Form gekommen. Dies illustrierte nachdrücklich das Wahlrecht, nach dem die Abgeordneten gewählt worden waren. Insoweit standen die Parlamentarier auf den Schultern ihrer revolutionären Vorgänger. Andererseits sollten sie aber auch über sie hinauswachsen: Die Aufgabe in Weimar bestand aus der Sicht wohl aller Gewählten nicht bloß darin, die Früchte des Novembers einzufahren. Vielmehr sahen sie sich vor einem eigenen Gestaltungsauftrag: Die neue Staatsform sollte nicht bloß in Rechtsnormen gegossen und perpetuiert, sondern inhaltlich geprägt und ausgestaltet werden. Dazu berechtigte nicht zuletzt der Umstand, dass wichtige Grundentscheidungen von den Volksbeauftragten vorausgesetzt oder offengelassen waren. Die angedeutete Selbstmarginalisierung der (Mehrheit der) Volksbeauftragten erwies sich als Bedeutungszuwachs für die Konstituante. Ein solches (Selbst‐)Verständnis der Nationalversammlung ließ sie über den Status quo ein Stück hinausdenken und hinauswachsen.
24 Kelsen, VVDStRL 5, 30, 53 ff.; zu seiner Position Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 1986, S. 129 ff. (Nachw.). 26
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1. Errungenschaften der Revolution als Basis In diesem Sinne wurden in Weimar zentrale Errungenschaften der Revolution einfach vorausgesetzt. An der eigenen Legitimation zur Verfassunggebung zweifelten auch die bürgerlichen Oppositionsparteien, welche das Ende der Monarchie lebhaft bedauerten, nicht. Die Einsetzung einer Konstituante, ihre Entstehung aus einer Wahl und das Verhältniswahlrecht standen außerhalb jeder Diskussion. Sie wurden als Grundlage der eigenen Tätigkeit nicht hinterfragt. Ganz entsprechend verhielten sich die Abgeordneten, wenn es um Fragen ging, welche durch die Volksbeauftragten bereits vorentschieden waren. Die Republik war im Jahre 1918 bloß vorausgesetzt, im Jahr danach wurde sie mangels Alternative kaum mehr diskutiert. Dass Deutschland eine Republik sei und bleiben würde, wurde von allen Parteien befürwortet oder zumindest hingenommen. Daran änderten auch verklärende Rückblicke auf die monarchische Vergangenheit, ihre Verfassung sowie Person und Wirken des ersten Reichskanzlers Bismarck nichts. Der später beobachtete „Bismarck-Mythos“25 wurde bei manchen Oppositionsrednern zum Kaiser- und Kaiserreichsmythos überhöht; und zwar umso mehr, je stärker Kriegsschuld, Kriegsausbruch und -verlauf ausgeblendet wurden. Ganz Entsprechendes galt auch für die Demokratie: Dass die Staatsgewalt vom Volk ausgehen sollte, dass sie zentral aus Wahlen hervorgehen und parlamentarisch ausgeübt werden sollte, war – wohl gleichfalls mangels ersichtlicher Alternativen – unumstritten.26 Ähnlich verhielt es sich mit weiteren Vorentscheidungen: Die allgemeine Wahl, die Herabsetzung des Wahlalters und das Frauenwahlrecht wurden vorausgesetzt und allenfalls noch im Detail diskutiert, etwa zum Wahlalter von 20 oder 21 Jahren. Die Abgeordneten waren selbst aus allgemeinen Verhältniswahlen hervorgegangen. An deren grundsätzlicher Funktionsfähigkeit, an der Notwendigkeit von Parlamenten und Parteien gab es keinen ersichtlichen Zweifel. Sollte es ein Misstrauen gegen das Volk gegeben haben, so bestand dieses eher bei Hugo Preuß und seinen Gegengewichtslehren, die aber bei der Majorität der Konstituante auf Widerspruch stießen. Am deutlichsten zeigt dies der Umstand, dass denkbare „Gegengewichte“ in der WRV auf dieselbe Legitimationsbasis wie die Parlamente selbst verwiesen, nämlich das Volk. Und selbst bei der Verhältniswahl, die von P. Naumann als Widerspruch zum parlamentarischen Regieren bezeichnet wurde, fand sich im Detail Kritik, aber keinerlei Tendenz, diese Errungenschaft der Revolution rückgängig zu machen. Die einzige Konsequenz der Kritik blieb, dass statt auf die „Proportionalwahl“ in Art. 21 WRV auf die „Grundsätze der Verhältniswahl“ verwiesen wurde. Dass darin eine gewollte Nuance lag, ist aber erst spät erkannt worden. Neben dem neuen Wahlrecht wurde auch die zu ihr angeblich im Widerspruch stehende Verantwortlichkeit der Regierung, die schon Ende Oktober 1918 beschlossen worden war, wortgleich in Art. 54 WRV integriert. Was die Volksbeauftragten vorgezeichnet hatten, wurde nun vorausgesetzt und konstitutionalisiert. Die Nationalversammlung rezipierte die rechtlichen Weichenstellun25 Zu ihm Gerwarth, Der Bismarck-Mythos, 2007. 26 Zur Entwicklung Bollmeyer, Der steinige Weg zur Demokratie, 2007. Recht und Politik, Beiheft 3
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gen als Errungenschaften der Revolution. Und wo sie nicht explizit rezipiert wurden, galten sie – wie beim später umstrittenen Acht-Stunden-Arbeitstag – neben der WRV fort. Hier funktionierte also die Arbeitsteilung zwischen Volksbeauftragten und Konstituante: Was erstere vorausgesetzt oder vorgezeichnet hatten, übernahm letztere in ihr Verfassungswerk. Sie stand in den Fußstapfen der Revolution und übernahm die staatsrechtliche Verantwortung für die Zukunft auch dort, wo es nichts mehr zu entscheiden gab. Was schon vorentschieden war, galt nun als Verfassungsrecht. Die Revolution und ihr Recht traten hinter die WRV zurück. 2. Die einsetzende Marginalisierung Parallel dazu setzte in zahlreichen Reden eine Tendenz zur Marginalisierung der Revolution ein. Eine schon in den Eröffnungsreden anklingende Sichtweise hob hervor, dass das Alte vergangen sei, Neues entstehe und die Zukunft zu gestalten sei. Wodurch dies alles ermöglicht wurde, nämlich die Revolution vom November 1918, bleib hingegen unausgesprochen. Positiv gewendet ließe sich annehmen, dass auch dies als selbstverständlich vorausgesetzt wurde. Dann wären eben nicht allein die (Vor‐)Entscheidungen der Volksbeauftragten, sondern auch die Entscheider selbst und die Revolution in das Arsenal der Errungenschaften aufgenommen worden. Dies wäre ein durchaus erstaunlicher Prozess: Denn schließlich hatten die Abgeordneten und Parteien der Konstituante die Revolution nicht gemacht. Umgekehrt waren die Revolutionäre in Weimar nur schwach vertreten. Eine derartige Übernahme nicht nur der Revolutionsergebnisse, sondern auch der Revolution selbst hätte deren Transfer in ganz neue Bevölkerungsschichten über den Kreis ihrer Träger hinaus bedeutet. Mehr spricht jedoch für die gegenteilige Annahme. Die Revolution und ihre Folgen waren in Weimar durchaus präsent. Das galt weniger für die abgeschlossene Verdrängung der Fürsten und ihrer Regierungen. Es galt wohl aber für die aus Revolution, Gegenrevolution und Radikalisierung resultierenden Zustände. Dass die Not groß war, die Kämpfe nicht aufhörten, Räterepubliken entstanden und endeten, Exzesse von Revolutionären und Übergriffe von Ordnungskräften die Medien, die politische Landschaften und die Informationen der Abgeordneten prägten, ist gut dokumentiert. Sie spiegelten sich wider in einer großen Zahl von Anfragen und Anträgen an die Reichsregierung: Die Aufgabe der Nationalversammlung war eben nicht nur Verfassunggebung, sie nahm vielmehr auch Gesetzgebung und parlamentarische Kontrolle der Regierungen wahr; von Regierungen, die selbst noch um die Erlangung der Kontrolle in Deutschland kämpften. Manche Weimarer Tagesordnungen waren von derartigen Vorfälle, Debatten und Anträgen geprägt. Dadurch wandelte sich die Wahrnehmung von der abgeschlossenen Revolution hin zu den fortdauernden Revolutionsfolgen. Hier waren sich nahezu alle Abgeordneten einig: Bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen wurden auch als Beeinträchtigung der Verfassunggebung wahrgenommen und als solche unisono kritisiert. Nur Abgeordnete der kleinen USPDFraktion übernahmen bisweilen ihre Verteidigung. Auffälliger war aber, dass die anderen Parteien für die kritisierten Zustände nicht bloß die revolutionären und gegen-
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revolutionären Minderheiten verantwortlich machten, sondern sich auch gegenseitig die Schuld an den Ereignissen zuschoben. Dies sollte zur Waffe der Oppositionsparteien nicht allein gegen die USPD, sondern auch gegen die Koalitionsregierungen werden. Und deren Träger machten die Gegner von links und rechts für die fortdauernden Unruhen verantwortlich. Während also die Revolution und ihre Errungenschaften stillschweigend vorausgesetzt wurden, gerieten ihre negativen Begleitumstände und Folgen in das Zentrum mancher Debatten. Sie überlagerten deren Erfolge inzwischen nahezu vollständig. Und je mehr im Zuge der fortschreitenden Verfassungsarbeit die Konstituante selbst die Verantwortung für die positiven Aspekte übernahm, desto eher blieben von der Revolution die negativen Begleitumstände übrig. Und sie wurden zum Gegenstand zahlreicher Erörterungen. So wurde die Revolution zwar nicht ungeschehen. Sie wurde aber aus nahezu allen Richtungen zur Revolution der Anderen, denen man die Schuld für Fehlentwicklungen zuschieben wollte. Damit war die Ambivalenz der Revolutionswahrnehmung komplett. Einerseits rezipierte die Konstituante stillschweigend die Errungenschaften der Revolution. Andererseits distanzierte sie sich vielstimmig von deren Folgen. Der Pulverdampf des Bürgerkriegs bewirkte eine politische Umwertung der Ereignisse. Die Basis, auf der die Abgeordneten standen, erschien nun aus der Sicht nahezu aller Parteien überwiegend negativ. 3. Die Revolution als Legitimationsdefekt der Weimarer Verfassung Dem entsprach auch eine verbreitete Wahrnehmung außerhalb der Nationalversammlung. Das damalige Engagement zahlreicher Politiker und Wissenschaftler für Kontinuität bedeutete den Versuch, die rechtlichen Wirkungen der Revolution und nicht selten auch der WRV zu relativieren.27 Zwar war dies nur eine, wenn auch starke Strömung in der an Krisen- und Untergangsdiagnosen reichen Zeit. Doch an einer Stelle war die Revolution sehr präsent: Nämlich bei der Diskussion um die Legitimation der WRV und deren angebliche Mängel. Hier wurde die Verfassung sehr wohl als ein Ergebnis der Revolution wahrgenommen. Und die Kritik an der Legitimation der ersteren setzte nahezu stets bei letzterer an. Die bekannten Formeln der Fundamentalopposition von der Republik als Folge von „Meineid und Hochverrat“ setzten nicht bei der Nationalversammlung und ihrer Wahl an, sondern beim Sturz der Monarchie. Gewiss: An deren rechtlichen Maßstäben war die Revolution illegal. Und da die Auflösung der alten Verfassung im Krieg und der Umstand, dass von ihr 1918 nur noch eine Legalitätskulisse übrig geblieben war, zu der im Krieg je länger je mehr kaum jemand zukehren wollte, damals weitgehend tabuisiert waren, gerieten die Republikaner bereits früh in die Defensive. Ihre zentrale Legiti-
27 Für die Weimarer Republik dargestellt bei Baldus, AöR 2002, 97. Zum Thema Revolution und Recht grundlegend Dreier, ZöR 2014, 805. Recht und Politik, Beiheft 3
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mationsbehauptung blieb die These von der erfolgreichen Revolution.28 Sie machte es den Gegnern leicht: Brauchten sie doch zur Delegitimation der Republik nicht einmal jene These zu bestreiten, sondern nur ihre Vorläufigkeit darzulegen. Die Legitimität der Revolution sei durch ihren Erfolg bedingt und daher bis zur nächsten erfolgreichen (Gegen‐)Revolution notwendigerweise vorläufig.29 Fortan fühlten sich radikale Kritiker dazu berufen, auf den Eintritt der Bedingung durch Vorbereitung einer erfolgreichen Gegenrevolution hinzuarbeiten. Folgenreich sollte werden: Da die Revolution zugleich die Basis der Wahl und des Auftrags der Nationalversammlung war, wurde sie in den Legitimationsdebatten – zum Teil gegenläufig zu ihrer sonstigen politischen und rechtlichen Marginalisierung – auch als Basis der neuen Verfassung selbst gesehen. So konnte auch die Revolutionskritik zur Verfassungskritik geraten. Wenn die Revolution als rechtliche Basis durch ihren Erfolg bedingt sei, so gelte dies auch für die Verfassung. Darin lag eine Art Geburtsfehlertheorie – man könnte sie eine „innere Dolchstoßlegende“ nennen. Sie konnte auch deshalb Aufmerksamkeit erlangen, da es der jungen Republik nur schwer gelang, sich für die WRV von der These der Erfolgsthese zu lösen: Wie die Revolution seien Republik und Verfassung legitimiert, weil sie erfolgreich gegründet und verfasst worden sei. Wie das Legitimationskriterium auf die Republik übertragen wurde, unterlag es dort vergleichbaren Defekten. In Kreisen politischer Gegner wurden so auch Republik und WRV mit dem Stigma der Vorläufigkeit behaftet. Die Revolution als Chance mutierte zur Revolution als Belastung. Hier entwickelte sich eine Geburtsfehlertheorie, welche aus angeblichen Mängeln der Geburt auf Mängel des Geborenen schließen wollte. Von diesem Makel suchten sich verfassungsloyale Theoretiker zu befreien. Sie gingen zu einer rechtlichen Trennung der WRV von der Revolution über. Die neue Verfassung basiere auf der für Deutschland neu entdeckten Theorie von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes.30 Das Volk habe durch hohe Beteiligung an den Januarwahlen, öffentliche Beratung und Verabschiedung des Verfassungswerks durch gewählte Volksvertreter, eine breite Mehrheit in der Nationalversammlung und seine Beteiligung am Staats- und Verfassungsleben seine verfassunggebende Gewalt nicht etwa verloren, sondern ausgeübt. Die WRV verfüge über eine eigenständige, von der vorangegangenen Revolution unabhängige Legitimationsbasis. Jene rechtliche Unterscheidung zwischen Geburtsvorgang und Geborenem war geeignet, jener Kritik zu begegnen. Doch waren solche Lehren in Deutschland noch neu. Verfassunggebung durch das Volk hatte es hier allenfalls 1848/49 gegeben, und sie war gescheitert. Daher musste die Lehre erst importiert und für die Verhältnisse der Republik anwendbar gemacht werden. Hier wurde 28 Sie fand sogar Eingang in die Rechtsprechung des RG; s. RGSt 53, 65; s.a. RGSt 56, 173, 174; 56, 259, 261. 29 So etwa noch Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte VI, 1981, S. 5 ff. 30 Zu ihr grundlegend Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, 1908; v. Wedel, Das Verfahren der demokratischen Verfassungsgebung, 1976; Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1986 (alle mwN). 30
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Die verdrängte Revolution
sie im Spektrum des republikanisch-demokratischen Denkens elaboriert. Doch gelang es ihr nie ganz, die Erfolgsthese zu verdrängen.31 Und damit gelang es auch nie vollständig, die Achillesferse der Vorläufigkeitsthese zu kurieren. Gewiss: Auch die neue Lehre war nicht unumstritten. Die wortmächtig vorgetragene Kritik namentlich Carl Schmitts, welcher die verfassunggebende Gewalt allein dem unmittelbaren Volk, nicht hingegen einer gewählten Volksvertretung zusprechen wollte, sah die Verfassunggebung vor der Nationalversammlung und nicht in ihr und ermöglichte so eine verbale neue, in der Sache aber lediglich anders gewendete Geburtsfehlertheorie.32 Damit war die Revolution von der Chance zum Handicap der Republik mutiert. In positiven Konnotationen fanden beide kaum mehr explizit zusammen. In negativer Hinsicht erschien bei loyalen Autoren das Gute in der WRV und das Übel in der Revolution; bei Gegnern die Revolution und die WRV als zwei voreinander abhängige Wurzeln allen Übels. Wie auch immer: Die Revolution erschien im günstigsten Fall unsichtbar und trat hinter die Republik und ihr Verfassungswerk zurück. Im ungünstigen Fall war sie die Wurzel allen Übels, für welches stets die Anderen verantwortlich warten. So wurde die Revolution, wenn sie überhaupt noch thematisiert wurde, zur Revolution der Anderen. Ihre Verdrängung war damit vorgezeichnet.
VI. Die Revolution als verfassungshistorischer Schritt zur Republik und Demokratie Die jüngere Forschung mahnt für die Republik ein höheres Komplexitätsniveau von Fragestellungen und Antwortversuchen an. Das kann auch auf ihre Entstehung als Folge der Revolution von 1918 angewandt werden. Sie hat eben nicht nur Risiken, sondern auch Chancen begründet. Und auch in ihr gibt es nicht bloß Schurken, sondern auch Helden. Die Diktatur des Militärs beseitigt, die Verfassungskrise der Monarchie beendet, die Chance für einen politischen und rechtlichen Neuanfang eröffnet zu haben: Alles dies waren große zukunftweisende Verdienste. Der Aufruf der Volksbeauftragten war ein richtiger und wichtiger Schritt im Hinblick auf die Herausbildung der demokratischen Republik in Deutschland. Und er eröffnete den Weg zur Wahl der Nationalversammlung und der Schaffung der ersten demokratischen Verfassung in Deutschland. Das war keine Kette von Niederlagen, sondern eine Erfolgsgeschichte. Sie hatte gewiss ihren hohen Preis. Dass er durch andere Weichenstellung hätte gemindert werden können, ist denkbar; dass er ganz hätte vermieden werden können, hingegen nicht. Zu gespalten waren nicht nur Träger und Gegner der Neuordnung, sondern auch die Träger der Revolution untereinander. Dass diese Spaltung nicht immer strikt an den Parteigrenzen entlang verlief, zeigte auch der Aufruf. 31 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. A., 1933, S. 5 ff., stellte beide Lehren nebeneinander (mit Nachw. zur neuen Lehre). 32 Dargestellt bei Henke, Die verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes, 1957, S. 11 ff. (theoretisch), 87 ff. (zur Republik). Differenzierend und dadurch zugleich distanzierend Böckenförde (o. Fn. 30), S. 10 ff. (Nachw.). Recht und Politik, Beiheft 3
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Als ein Verfasser wird Hugo Haase genannt. Dies mag das revolutionäre Pathos an seinem Anfang erklären. Danach zeigte er den Weg in Richtung grundrechtlich geordneten Parlamentarismus auf, ein erster Schritt auf dem Weg der Konstituierung der jungen Republik. Von hier aus können nicht nur die Vorbelastungen, sondern auch die Vorentscheidungen differenziert werden.33 Dass die politische Linke sich aufspalten würde, lag weniger in der Logik der Revolution als vielmehr in ihrer Vorgeschichte und der Entwicklung in Russland. Vor diesen Hintergrund lag der Versuch einer Einigung der SPD mit den Oppositionsparteien des Weltkriegs nahe. Er konnte die Revolution aus der Selbstisolation der sie tragenden Parteien gegenüber bürgerlichen Parteien und Wählern herausführen. Dass darin Kompromisse angelegt waren, lag nahe. Dass diese zu einer Belastung werden würden, sollte sich rasch erweisen. Und dass sie radikale Gegner der Revolution nicht befrieden würden, stellte sich im einsetzenden Bürgerkrieg alsbald heraus. So lässt sich das Ob nicht vom Wie der Revolution trennen. Aber sie war kein Schritt in den Abgrund, sondern ein damals naheliegender Schritt aus ihm heraus. Eine gerechte Würdigung ihrer Chancen und Risiken setzt vor allem voraus, dass sie aus der Verdrängung herausgeholt wird. Bis heute gibt es nicht einmal einen konsentierten Namen. Die „Novemberrevolution“ ist als Schimpfwort des NS-Jargons diskreditiert. Und die „deutsche Revolution“ ist geeignet, das Geschehen hier von demjenigen im revolutionären und gegenrevolutionären Ausland zu isolieren. Hier ist sie als Revolution von 1918 bezeichnet, als Parallele zu derjenigen von 1848. Aber das ist nur eine Annäherung der Bezeichnung. Die Unterschiede zwischen beiden Revolutionen sind nicht zu übersehen. Eine Übereinstimmung gibt es aber doch: Auch die Vorgängerin hat ihre historische und politische Neuentdeckung und Neubewertung erst mit großem zeitlichem Abstand erfahren.
33 Früher und wichtiger Ansatz bei Winkler, Die Sozialdemokratie und die Revolution 1918/19, 1979. 32
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Hugo Preuß – das deutsche Volk und die Politik* Von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
I. Neue Sehnsucht nach konservativem Staatsverständnis Es war vor gut 10 Jahren, als aufgrund einer Leseempfehlung des damaligen Bundesinnenministers, Wolfgang Schäuble, ein kleines Buch in Deutschland öffentliche Aufmerksamkeit erregte. „Selbstbehauptung des Rechtsstaats“, so der Titel dieses Buches, in dem sein Verfasser, der Kölner Rechtswissenschaftler Otto Depenheuer, unter anderem das gut ein Jahr zuvor ergangene Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz auf das Massivste kritisierte.1 Ein Urteil, das bekanntlich den im gerügten Gesetz zugelassenen Abschuss eines mit vermutlich terroristischen Absichten gekaperten und mit Geiseln besetzten Passagierflugzeuges als grundgesetzwidrig, genauer, als Verstoß gegen das Menschenwürdeachtungsgebot des Art. 1 Abs. 1 GG erklärte.2 Folgt man Otto Depenheuer, dann war diese Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts Ausdruck einer „Verfassungsintrovertiertheit“, die, wie er meint, mittlerweile, das heißt, im Lichte einer Reihe jüngerer Entscheidungen des Gerichts, in einen gegenüber den Gefährdungen des Staates blinden „Verfassungsautismus“ umzuschlagen drohe.3 Ich will mich nicht mit Verfassungsrecht, nicht mit einzelnen Argumenten dieser massiven Kritik befassen, die ich, nur so viel sei angemerkt, unter grundgesetzlichem Gesichtspunkt für unzutreffend und unter verfassungspolitischem Gesichtspunkt für gefährlich ansehe. Stattdessen möchte ich aber einen speziellen Aspekt der von Depenheuer geäußerten Kritik etwas näher beleuchten. Und zwar einen Aspekt, der einerseits eine gewisse Einsicht in die staatsphilosophischen und staatsrechtlichen Hintergründe vermitteln mag, vor denen der Autor seine verfassungsrechtliche Kritik formuliert. Der aber andererseits auch einen Anknüpfungspunkt zu Hugo Preuß zu liefern imstande ist. Zusammenfassend mündet die Kritik Depenheuers, in der er auch *
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Zuerst erschienen in: RuP 4/2010, 242 – 245. Erweiterte Fassung der Ansprache bei der Festveranstaltung zum 150. Geburtstag von Hugo Preuß in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am 26. Oktober 2010 in Berlin. Der Vortragsstil wurde beibehalten. Otto Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2. Aufl., 2007. BVerfGE 115, 118. Depenheuer (Fn. 1), S. 28.
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Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
einen um sich greifenden Hedonismus und die mangelnde Opferbereitschaft der Deutschen beklagt, in seine Forderung, dass es – statt der Fiktion eines rationalistischen und individualistischen per Gesellschaftsvertrag begründeten Staates anzuhängen – nun allerhöchste Zeit sei, auf ein, wie er sagt, älteres und weiseres, nämlich konservatives oder romantisches Staatsverständnis zurückzugreifen.4 Mit diesem ausdrücklichen Bezug auf ein konservatives oder romantisches Staatverständnis, das an die Stelle einer dem Vernunftrecht der Aufklärung entspringenden vertragstheoretischen Staatsbegründung gesetzt werden müsse, gibt sich Depenheuer als Protagonist einer Staatslehre zu erkennen, die in Deutschland eine ununterbrochen lange und nicht eben rühmliche Tradition hat.
II. Das Staatsverständnis des Obrigkeitsstaates In der deutschen Romantik und dem deutschen Konservatismus des 19. Jahrhunderts wurzelt diese Staatslehre insofern, als sie im Staat ein dem Individuum und jeglichem Recht vorgängiges Gebilde von eigener Machtvollkommenheit sieht.5 Dieser konservative, romantische Staat bezieht seine durch nichts einzuschränkende Omnipotenz aus dem Dunkel der Geschichte, aus der Macht des faktisch Gewordenen. Seine Autorität und Legitimität entspringt allein aus dem im historischen Verlauf Entstandenen oder – was wegen der göttlichen Fügung alles Gewordenen dasselbe ist – aus dem Wollen Gottes, selbstredend des christlichen Gottes. So ist der Staat für Leopold von Ranke „statt jene(s) flüchtige(n) Konglomerat(s), das sich … aus der Lehre vom Vertrag ergibt, ein Gedanke Gottes“.6 Und mit Friedrich Schlegel sind sich nicht nur alle Romantiker, von Novalis bis Friedrich von Gentz, sondern auch die in der damaligen Zeit führenden konservativen Staatstheoretiker, wie etwa Friedrich Julius Stahl darin einig, dass „alle Obrigkeit … von Gott (ist) und aller Gehorsam gegen die Gesetze und gegen die oberste Staatsgewalt auf dieser göttlichen Grundlage und Autorität beruht“. „Der Mensch ist“, so sagt es Adam Müller, „außerhalb des Staates nicht zu denken … (Dieser) ruhet ganz in sich; unabhängig von menschlicher Willkür und Erfindung kommt er unmittelbar und zugleich eben daher, woher auch der Mensch kommt: aus der Natur – aus Gott.“7
III. Preuß erkannte das Verhängnis des Obrigkeitsstaates Es ist meine These, dass dieses lang tradierte Staatsverständnis denjenigen Staat ideologisch fundiert, den Hugo Preuß im kritischen Blick hat, wenn er den deutschen, mehr noch den preußisch-deutschen Obrigkeitsstaat für die nicht erst im Ersten 4 5 6 7
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S. Depenheuer (Fn. 1), S. 87, Endnote 118. Vgl. etwa Wolfgang Reinhard, Geschichte des modernen Staates, 2007, S. 8 ff Leopold v. Ranke (Hrsg.), Historisch-Politische Zeitschrift, Zweiter Band, Abschnitt Politisches Gespräch, Berlin 1833 – 1836, S. 794. Adam Müller, zitiert nach Hans-Christof Kraus, Politisches Denken der deutschen Spätromantik, in: Bernd Heidenreich (Hrsg.), Politische Theorien des 19. Jahrhunderts, 1999/2000, S. 40. Recht und Politik, Beiheft 3
Hugo Preuß – das deutsche Volk und die Politik
Weltkrieg kulminierende Misere der deutschen Politik verantwortlich macht. Mit dieser These beziehe ich mich vor allem auf die Monografie, die Hugo Preuß unter dem Titel „Das deutsche Volk und die Politik“ im Jahre 1915, also zu einem Zeitpunkt veröffentlichte, als der Ausgang des Ersten Weltkrieges noch offen war.8 Im analytischen Nachvollzug der Wegmarken europäischer, vor allem deutscher Geschichte des 19. Jahrhunderts, vom Wiener Kongress, über die Märzereignisse von 1848, der Restaurationszeit bis hin zur Gründung des Kaiserreichs und schließlich dem Ersten Weltkrieg, geht Hugo Preuß dort im Wesentlichen einer Frage nach. Der Frage nämlich, wie es möglich war, dass sich das wegen seiner wissenschaftlichen, kulturellen und am Ende auch wirtschaftlichen Leistungen weltweit geachtete „Volk der Dichter und Denker“ plötzlich allseitiger Ächtung gegenüber sah und einen bis dato unbekannt grausamen Krieg gegen den sprichwörtlichen „Rest der Welt“ zu bestehen hatte. Unerwartet offenbar, denn, so formuliert Hugo Preuß, „das Schreckgespenst, das einst Bismarck oft die Ruhe des Schlafes raubte, ,le cauchemar des coalitions‘, (war) Wirklichkeit geworden in furchtbarerer Gestalt als die, in der es die Nerven des Staatsmannes von ,Blut und Eisen‘ erregte. Denn an eine solche Gruppierung der (feindlichen) Mächte … wie wir sie heute erleben, hat Bismarck (der doch als Großmeister der strategischen Bündnispolitik gegolten hatte) auch in seinen düsteren Ahnungen nicht gedacht.“9 Skeptisch räumt Hugo Preuß ein, dass die damals gängigen Erklärungen und Entschuldigungen für diese desaströse Isolierung Deutschlands, in deren „Mittelpunkt englische Scheelsucht, französische Rachsucht und russische Herrschsucht“ standen, zwar nicht unwahr waren, aber eben auch nicht die volle und vor allem nicht die ausschlaggebende Wahrheit zum Ausdruck brachten.10 Der Preuß’schen Analyse zufolge ist die Misere der deutschen Politik nur unzureichend diesen Erklärungen, zur Hauptsache aber der Sonderrolle zuzuschreiben, die zunächst die Mehrzahl der deutschen Staaten und nach 1871 das preußisch-deutsche Kaiserreich im Konzert der Weltmächte zu spielen gedachten und auch lange zu spielen in der Lage waren. Die eingenommene Sonderrolle, der Begriff des deutschen Sonderweges war damals noch ungeläufig, ging in dem sich ansonsten rasch demokratisierenden Umfeld von dem Dogma a priori aus, dass eine Großmacht zu einer kraftvollen äußeren Politik nur auf der Grundlage einer stramm konservativ-monarchischen Struktur im Innern befähig sei. Jegliche Liberalisierung und Demokratisierung im Innern, so das politische Dogma, müsse dagegen zugleich die äußere Macht des Staates schwächen.11 Das bis zum bitteren Ende des Ersten Weltkrieges reichende Festhalten an diesem gegen alle demokratisch-freiheitlichen Regime und Bewegungen des Westens gerichtete Dogma fand in der deutschen Innenpolitik des 8 Hugo Preuß, Das deutsche Volk und die Politik, (1915), Jena 1916; erneut abgedruckt in: Hugo Preuß, Gesammelte Schriften, herausgegeben von Deltef Lehnert und Christoph Müller, Band 1, Tübingen 2007, S. 383 – 532. 9 Preuß (Fn. 8), S. 14. 10 Preuß (Fn. 8), S. 16. 11 S. hierzu Preuß (Fn. 8), S. 45 f. Recht und Politik, Beiheft 3
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19. Jahrhunderts seinen Niederschlag in der strikten Abwehr jedweder Rückbindung und Einbeziehung des Volkswillens in die staatliche Machtausübung. Die hauptsächlich nach 1848 eingeleitete Konstitutionalisierung der Deutschen und später des preußischen Staates geriet zur Scheinkonstitutionalisierung, zur Farce, zu einem dem Volk verabreichten Sedativum, denn sie tat dem Alleinentscheidungs- und Omnipotenzanspruch des monarchischen Staates keinerlei Abbruch.
IV. Die gezielte Entpolitisierung des Volkes Auf der skizzierten ideologischen Basis des konservativ-romantischen Staatsgedankens blieb der deutsch-preußische Staat eine über der Gesellschaft und ihren Parteiungen stehende Ordnungsmacht, in der sich vorgeblich die höhere Einheit der Volksgemeinschaft konkretisieren sollte. Die Folge war, dass sich das deutsche Volk einschließlich der vormals liberal und fortschrittlich gesinnten Kräfte zunehmend entpolitisierte und, was Hugo Preuß besonders beklagt, zur politischen Selbstorganisation weder willens noch in der Lage war. Weil der Scheinkonstitutionalismus nach jahrzehntelanger Praxis nur die Möglichkeit des politischen Redens, nicht aber des schöpferischen politischen Entscheidens und Handelns bot, musste er je länger desto mehr auch auf wirklich politische Naturen eher abstoßend als anziehend wirken. Das Kaiserreich verpasste jeglichen Anschluss an die politische Entwicklung moderner Staatsformen und geriet in eine fundamentale, unversöhnliche Gegnerschaft zur gesamten freien, demokratischen Welt. Es ist bemerkenswert, dass Hugo Preuß für die Triftigkeit seiner Analyse neben vielen Argumenten ausgerechnet Bismarck als Kronzeugen dafür anrufen kann, dass der Scheinkonstitutionalismus und Scheinparlamentarismus vor allem des Kaiserreichs geradezu die Voraussetzung für die Bildung und Verfestigung eines historisch-blinden, in seinen Machtbefugnissen unbeschränkten rigid-obrigkeitsstaatlichen Regierungssystems in Deutschland gewesen ist. Denn ausgerechnet Bismarck, der diese Entwicklung unbedingt gewollt, geprägt und zu verewigen gesucht hat, bekennt freilich erst in seinem Ruhestand, dass „der reine Absolutismus ohne Parlament (den er ablehnt) immer noch das Gute (habe), dass ihm ein Gefühl für Verantwortlichkeit für eigene Taten bleibt. Gefährlicher hingegen (so fährt Bismarck in seinen Erinnerungen fort) sei der durch gefügige Parlamente unterstützte (Absolutismus), der keiner anderen Rechtfertigung als der Verweisung auf Zustimmung der Majorität bedarf“.12 Kurzum, der Preuß’schen Analyse zufolge, hatten in ihrer Mehrheit die Deutschen, hatte das deutsche Volk, den obrigkeitsstaatlichen Zustand der politischen Entmündigung internalisiert und, mehr noch, in einen dem Deutschsein wesenshaften Kulturzustand umgedeutet. Zur eindrucksvollen Unterstreichung der Triftigkeit dieser Analyse hätte Hugo Preuß gut und gerne auf den damals schon berühmten Thomas Mann verweisen können, der sich als Repräsentant, ja geradezu als Inkarnation des Deutschtums und der deutschen 12 Preuß (Fn. 8), S. 9. 36
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Hugo Preuß – das deutsche Volk und die Politik
Bürgerlichkeit empfand. Dessen „Betrachtungen eines Unpolitischen!“, in den letzten Kriegsjahren geschrieben und 1918 noch vor Kriegsende veröffentlicht, können geradezu als Standardwerk für das von Preuß beklagte und von der Politik des Obrigkeitsstaats evozierte deutsche Sonderbewusstsein gelten. So steht für Thomas Mann fest, dass „Politik, Demokratie an und für sich etwas Undeutsches, Widerdeutsches (ist)“.13 Denn, so zitiert Thomas Mann zustimmend Richard Wagner, „Der Geschmack eines Volkes an der Demokratie steht in umgekehrtem Verhältnis zu seinem Ekel vor der Politik.“14 Und so bedeutet für Thomas Mann auch „der Ruf nach Deutschlands ,Politisierung‘ durchaus nicht den Ruf nach Deutschlands Macht. … Er bedeutet vielmehr den Willen zur Revolutionierung und politischen Zersetzung Deutschlands.“15 Auch hätte Hugo Preuß auf die Rechtswissenschaft, etwa auf die Lehre Georg Jellineks von der Selbstverpflichtung des Staates hinweisen können. Einer Lehre, die den offensichtlichen Widerspruch zwischen konstitutioneller Bindung und faktischer Ungebundenheit des Obrigkeitsstaates dadurch aufzuheben gedachte, dass staatliche Machtbeschränkungen nur als staatliche Selbstbeschränkungen möglich und zu verstehen sind.
V. Preuß’ bleibender Erfolg: Die Staatsgewalt liegt beim Volke Wenn also – wie Georg Jellinek schreibt – „die Staatsgewalt irgendeiner der sich selbst auferlegten Verpflichtungen nicht nachkommt, so ist keine rechtliche Macht vorhanden, welche im Stande wäre sie zur Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten anzuhalten. Die Garantien dafür, dass der Staat eine in der Verfassung enthaltene Bestimmung zur Ausführung bringen … werde, sind und bleiben rein moralischer Natur“.16 Zu Recht kann also Hugo Preuß sagen: „Steht doch schon (die Wirklichkeit des Obrigkeitsstaats) in vollstem Widerspruch zu den formal geltenden Grundsätzen des Rechts und der Verfassung; denn diese fingieren die Identität von Staat und Volk, die sie doch nicht verwirklichen konnte. Daher die … großer Zahl feierlichster (rein deklaratorischer) gesetzlicher Aussprüche dessen, was nicht ist; und daher … der immanente Zwang für das Obrigkeitssystem, um seiner Selbsterhaltung willen stillschweigend, aber gar nicht unbewusst verfassungswidrig zu verfahren.“17 Wer wird bei solchen auf den deutschen Obrigkeitsstaat gemünzten Sätzen nicht auch an jenen konservativen oder romantischen Staat denken, den uns Otto Depenheuer als heute zeitgemäßen anempfiehlt?
13 Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, (Fischer-Taschenbuch) 2. Auflage, Frankfurt 2002, S. 277 f. 14 Mann (Fn. 13), S. 139. 15 Mann (Fn. 13), S. 276. 16 Georg Jellinek, Die rechtliche Natur der Staatsverträge, Wien 1880, S. 33. 17 Preuß (Fn. 8), S. 194. Recht und Politik, Beiheft 3
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Ein wichtiges Ziel von Preuß bei der Erstellung des ersten Entwurfs der Weimarer Reichsverfassung war es deshalb, einen freiheitlich demokratischen Verfassungsstaat zu etablieren. Einen Verfassungsstaat, zu dem demokratisches Bewusstsein und demokratische Kultur gehören. „Die Staatsgewalt liegt beim Volke“, führte Hugo Preuß bei der Vorlage seines Verfassungsentwurfs am 24. Februar 1919 vor der Nationalversammlung aus. Sein Bemühen hat mit der Weimarer Reichsverfassung, vor allem aber mit unserer Verfassung des Jahres 1949 und der gefestigten Demokratie im Deutschland des 21. Jahrhunderts nachhaltig Erfolg gehabt. Es gibt eben Einsichten und Überlegungen des vor 150 Jahren geborenen großen Liberalen Hugo Preuß, die heute noch Gültigkeit beanspruchen können. Rückgriffe auf ein konservatives, romantisches Verständnis vom Staat dürfen diese Errungenschaft ebenso wenig in Frage stellen wie Rückgriffe auf völkisch nationalistische Vorstellungen vom homogenen Staatsvolk.
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Hugo Preuß als Vordenker einer Verfassungstheorie des Pluralismus Von Andreas Voßkuhle* Am 28. Oktober 1860 wurde Hugo Preuß geboren. Sein 150. Geburtstag gibt uns Anlass, zurückzublicken auf das facettenreiche Leben und Wirken eines ungewöhnlichen Gelehrten, der wie kaum ein zweiter namhafter rechts- und gesellschaftswissenschaftlicher Autor des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts die Perspektiven über die Grenzen der Einzeldisziplinen hinweg geöffnet hat.1 So ist Hugo Preuß von Berufs wegen sowohl als brillanter Wissenschaftler, später auch als einflussreicher Politiker und als – wissenschaftlicher wie politischer – Publizist in Erscheinung getreten. Die von ihm vorgelebte Verbindung von Theorie und Praxis2 wurde dadurch begünstigt, dass er – in betontem Gegensatz zum damals vorherrschenden staatsrechtlichen Positivismus3 – für ein Rechtsdenken eingetreten ist, das seine Begriffe auch an der sozialen und politischen Wirklichkeit ausrichtet.4 *
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Zuerst in: Der Staat 2/2011, 251 – 267. Der Beitrag basiert auf einem Vortrag, den ich am 26. Oktober 2010 in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaft gehalten habe. Die Vortragsform wurde beibehalten. Für sehr wertvolle Vorarbeiten zu diesem Beitrag danke ich meinem Wissenschaftlichen Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht, Herrn Richter am Sozialgericht Dr. Michael Hornig. Vgl. auch Detlef Lehnert, Einleitung, in: Hugo Preuß, Gesammelte Schriften, Bd. 4, Politik und Verfassung in der Weimarer Republik, 2008, S. 70 m. w. N. Gleichwohl war Preuß zeitlebens ein „Außenseiter“ in der deutschen Staatsrechtslehre und ist es bis heute in gewisser Weise geblieben, so zutreffend Jens Kersten, Hugo Preuß. Zum 150. Geburtstag, JZ 2010, S. 1062. Vgl. bereits Ernst Feder, Hugo Preuß. Lebensbild, 1926, S. 5, der darauf hinweist, dass sich Wissenschaft und Politik bei Preuß als zwei Ausdrucksformen derselben Tätigkeit darstellten, von denen die eine die andere ergänzt und bestätigt habe. Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik, 2010, S. 19 f., spricht diesbezüglich allerdings von einem „sowohl notgedrungen gepflegten als auch ihm aufgedrängten ambivalenten Rollenverständnis“, welches der Geschlossenheit seines theoretischen Systems und dessen Rezeptionsfähigkeit abträglich gewesen sei. Vgl. Detlef Lehnert / Christoph Müller, Einführung: Perspektiven und Probleme einer Wiederentdeckung von Hugo Preuß, in: dies. (Hrsg.), Vom Untertanenverband zur Bürgergenossenschaft, 2003, S. 11 (28 ff.). Vgl. Marcus Llanque, Das Politikverständnis von Hugo Preuß, Carl Schmitt und Hermann Heller, in: Lehnert / Müller (Hrsg.), Vom Untertanenverband zur Bürgergenossenschaft, 2003, S. 189; Lehnert (Fn. 1), S. 67: Preuß ist noch vor Heller als früher Vertreter eines zu politikwissenschaftlichen Fragestellungen offenen Profils zu verstehen. Vgl. auch Dian Schefold,
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Andreas Voßkuhle
Dieser Beitrag will dazu beitragen, Hugo Preuß als einen Vordenker einer Verfassungstheorie des Pluralismus zu würdigen. Dazu möchte ich einleitend seine Rolle bei der Entstehung der Weimarer Reichsverfassung in den Blick nehmen (I.), bevor ich mich im Anschluss daran seinem wissenschaftlichen und publizistischen Wirken unter dem Gesichtspunkt des gesellschaftlichen und politischen Pluralismus widme (II.). Nach einer Bestandsaufnahme zur Bedeutung der Pluralismustheorie nach dem Zweiten Weltkrieg (III.) schließe ich mit einem kurzen Ausblick zu ihrer Zukunft (IV.).
I. Hugo Preuß – der „Vater“ der Weimarer Reichsverfassung 1. Historisch-biographische Perspektive Wenn man die Ereignisse zum Ende des Ersten Weltkrieges gewissermaßen als Zäsur begreift, dann war der linksliberale, bürgerliche5 Hugo Preuß bis 1918 aus dem Gelehrtendasein6 in den Status eines auf verschiedenen Ebenen auch publizierend hervortretenden Politikers hinübergewachsen.7 Mit der Berufung zum Staatssekretär des Reichsamtes des Innern durch den Rat der Volksbeauftragten (am 15. November 1918) wurde Hugo Preuß zum Hauptverantwortlichen für die auszuarbeitende neue Verfassung.8 Der spätere Reichspräsident Friedrich Ebert bewies mit dieser Personalentscheidung als Vorsitzender der Revolutionsregierung im Nachgang der Revolutionswirren ein ausgeprägtes politisches Ge-
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Hugo Preuß (1860 – 1925). Von der Stadtverfassung zur Staatsverfassung der Weimarer Republik, in: Heinrichs / Franzki / Schmalz / Stolleis (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 429; Günther Gillessen, Hugo Preuß. Studien zur Ideen- und Verfassungsgeschichte der Weimarer Republik (Diss. 1955), Nachdruck 2000, S. 62 f. So Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, 1914 – 1945, 1999, S. 81. Nach Schefold (Fn. 4), S. 445, war Hugo Preuß ein eher der linken – deutschfreisinnigen, sozialfortschrittlichen – Richtung zuzuordnender Liberaler. Mit insbesondere kommunalpolitischer Erfahrung als Mitglied der Berliner Stadtverordnetenversammlung und ab 1910 als Mitglied des Magistrats, vgl. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, 1800 – 1914, 1992, S. 363; zu diesem kommunalpolitischen Engagement auch Theodor Heuss, Einlei- tung, in: Hugo Preuß, Staat, Recht und Freiheit. Aus 40 Jahren deutscher Politik und Geschichte, 1926, S. 9 f.; Lehnert / Müller (Fn. 3), S. 41 f. Detlef Lehnert, Verfassungsdispositionen für die Politische Kultur der Weimarer Republik – Die Beiträge von Hugo Preuß im historisch-konzeptiven Vergleich, in: ders. / Megerle (Hrsg.), Pluralismus als Verfassungs- und Gesellschaftsmodell, 1993, S. 11 (38); vgl. auch Ernst Benda, Hugo Preuß und Gerhard Leibholz, in: FS Hans- Joachim Vogel, 1996, S. 43 (46 f.). Eine komprimierte Darstellung zum Prozess der Verfassungsgebung findet sich bei Schefold (Fn. 4), S. 444 ff.; vgl. auch Stolleis (Fn. 6), S. 363; ders. (Fn. 5), S. 82 f.; Gerhard Lingelbach, Verfassungsgebung 1919 in Weimar, in: Eichenhofer (Hrsg.), 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung – Was ist geblieben?, 1999, S. 23; Jörg-Detlef Kühne, Demokratisches Denken in der Weimarer Verfassungsdiskussion, in: Gusy (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, 2000, S. 115. Recht und Politik, Beiheft 3
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spür,9 indem er über die Grenze der sozialistischen Parteien hinausgriff und mit Hugo Preuß einen Mann an sich zog, dessen demokratische Gesinnung von niemandem der Linken angezweifelt werden konnte, dessen antisozialistische Grundhaltung aber auch in den „bürgerlichen“ Kreisen für Vertrauen werben musste.10 Gerade weil sich die meisten Staatsrechtler zwischen 1918 und 1919 nur schwerfällig von der Monarchie abwandten, ohne wirklich innerlich zur Republik zu finden,11 blieb selbstverständlich auch scharfe Kritik an der Berufung von Hugo Preuß zum Staatssekretär nicht aus; diese Kritik entzündete sich insbesondere an seinen Ideen einer politischen und organisatorischen Neugliederung des Reiches. So echauffierte sich beispielsweise Erich Kaufmann, ein Vertreter kraftvoller Machtpolitik durch ein von Preußen dominiertes „souveränes“ Reich, der Kollege Preuß verstünde nichts vom „Staat“; bei ihm handle es sich „eigentlich nur um einen verärgerten Kommunalpolitiker, der jetzt unter Überspringung der Arbeit am Staat gleich in ein oberstes Reichsamt berufen worden“ sei.12 2. Republikanisierung der politischen Kultur Bei der Verfassung von Weimar handelt es sich um das Ergebnis zahlreicher Kompromisse in praktischen und theoretischen Fragen,13 Erfolg und Misserfolg mussten also auch für Hugo Preuß nahe beieinander liegen.14 Nichtsdestoweniger kann der staatsorganisatorische Teil der Weimarer Reichsverfassung als Kristallisation zahlreicher Gedanken und Ideen gelten, die Hugo Preuß seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts entwickelt hatte.15 Ohne die Weimarer Reichsverfassung an dieser Stelle einer genaueren Analyse zu unterziehen, 9
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Nach Lehnert (Fn. 7), S. 15, hatten die Arbeiterparteien auch keine geeigneten eigenen Kandidaten; so auch Reinhard Rürup, Entstehung und Grundlagen der Weimarer Verfassung, in: Kolb (Hrsg.), Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, 1972, S. 218 (222 f.). Vgl. Heuss (Fn. 6), S. 19. Nach Rürup (Fn. 9), S. 223, mochte es nur konsequent erscheinen, die Vorarbeiten für die Verfassung dem am weitesten „links“ stehenden Staatsrechtler zu übertragen. So Stolleis (Fn. 5), S. 63; vgl. dazu auch Adolf Merkl, Die monarchische Befangenheit der deutschen Staatsrechtslehre (1920), in: ders., Gesammelte Schriften I / 2,1995, S. 3. So Erich Kaufmann, Grundfragen der künftigen Reichsverfassung, 1919, S. 2 f. Stolleis (Fn. 5), S. 86. Vgl. Stolleis (Fn. 5), S. 85. Dies gilt namentlich etwa für die Aufnahme eines ausführlichen Grundrechtekatalogs, dem Preuß skeptisch gegenüberstand und dessen Autorenschaft er letztlich ablehnte, vgl. Hugo Preuß, Deutschlands republikanische Reichsverfassung (1923), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, Politik und Verfassung in der Weimarer Republik, 2008, S. 307 (351). Ausführlich Groh (Fn. 2), S. 412 f.; Walter Pauly, Grundrechtslaboratorium Weimar, 2004, S. 52, 57. Dian Schefold, Einleitung, in: Hugo Preuß, Gesammelte Schriften, Bd. 2, Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie im Kaiserreich, 2009, S. 74; vgl. zusammenfassend auch Schefold (Fn. 4), S. 446 ff.
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möchte ich versuchen, das Staats- und Politikverständnis von Hugo Preuß zu skizzieren, das „seiner“ Verfassung ein besonderes Gepräge gegeben hat.16 Eine der Ursachen für die Katastrophe des Ersten Weltkriegs und die Implosion des Kaiserreichs in der Novemberrevolution erkannte Preuß darin, dass das Kaiserreich – aus Mangel an politischer Kultur17 – nicht in der Lage gewesen war, die militärischen Fähigkeiten in dauerhafte politische Vorteile zu verwandeln.18 Den Grund hierfür sieht Preuß in der unterschiedlichen Verlaufsgeschichte von Nationalbewusstsein und Staatlichkeit. Nationalstaat und Volksgeist gingen in Deutschland nicht Hand in Hand; vielmehr entwickelte sich der Staat zu einem paternalistischen Polizeistaat, der sein Volk sorgend behütete und hierfür patrimoniale und obrigkeitliche Strukturen errichtete.19 In seinem ursprünglichen Verfassungsentwurf appellierte Preuß folgerichtig an das „nationale Selbstbewußtsein eines sich selbstorganisierenden Staatsvolkes“.20 Damit beschwor er – in Abgrenzung zum gescheiterten Kaiserreich und begünstigt durch die revolutionäre Veränderung der politischen Verhältnisse – die radikale Abkehr vom gescheiterten Militär- und Obrigkeitsstaat.21 Wörtlich heißt es dazu bei Preuß: „Der neue Bau des Deutschen Reiches muß also ganz bewußt auf den Boden gestellt werden, den Bismarck bei seiner Reichsgründung ganz bewußt nicht betreten hat.“22 Fünf Tage nach Ausrufung der Republik am 9. November 1918 warnte er unter Zuspitzung auf die Alternativen „Demokratie oder Bol-
16 Eine ausführlichere Würdigung von Preuß’ Bedeutung und Leistung bei der Ausarbeitung der Weimarer Reichsverfassung findet sich beispielsweise bei Gillessen (Fn. 4), S. 103 ff.; Rürup (Fn. 9); Heuss (Fn. 6), S. 19 ff. Allgemein zur Weimarer Reichsverfassung vgl. nur Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997; eine Bestandsaufnahme der Übergangszeit findet sich auch bei Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Zusammenbruch der Monarchie und die Entstehung der Weimarer Republik (1985), in: Bracher / Funke / Jacobsen (Hrsg.), Die Weimarer Republik 1918 – 1933 – Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, 1987, S. 17. 17 Vgl. Detlef Lehnert, Verfassungsdemokratie als Bürgergenossenschaft, 1998, S. 122, unter Berufung auf Hugo Preuß, Sitzungsberichte des Preußischen Landtags (13. 12. 1921), Bd. 4, S. 5819: „Es war unser Stigma in der Vergangenheit, eine unpolitische Kultur zu haben. Und der Reflex einer unpolitischen Kultur ist vielfach eine kulturlose Politik […] Ein Lebensbedürfnis der neuen Zeit und eine wahrhaft nationale Notwendigkeit ist die Durchführung politischer Kultur und einer von kulturellem Geiste getragenen Politik.“ 18 So Llanque (Fn. 4), S. 213. 19 So Llanque (Fn. 4), S. 214. 20 Hugo Preuß, Denkschrift zum Entwurf des allgemeinen Teils der Reichsverfassung vom 3. Januar 1919, in: ders., Staat, Recht und Freiheit. Aus 40 Jahren deutscher Politik und Geschichte, 1926, S. 368 (370). 21 So Lehnert (Fn. 7), S. 15. Rückblickend stellt Preuß auch fest: „Die Reichsverfassung der Deutschen Republik vom 11. August 1919 ist der staatsrechtliche Niederschlag der Revolution vom 9. November 1918“, vgl. Preuß (Fn. 14), S. 307 (308). 22 Preuß (Fn. 20), S. 370. 42
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schewismus“23 vor einem „umgedrehten Obrigkeitssystem“24. Anstelle einer etwaigen proletarischen Diktatur über das Bürgertum (als Gegensatz zum bisherigen reaktionären Obrigkeitssystem von Oben) warb er eindringlich für die Vorzüge einer „auf Gleichberechtigung aller Volksgenossen ruhenden politisch-demokratischen Organisation“25. Damit plädierte Preuß für einen dritten Weg zwischen Status quo und Radikalumsturz. Die Weimarer Reichsverfassung sollte nach seiner Vorstellung einer pluralistischen Ordnung jenseits des Bürgerkrieges oder der Konfliktunterdrückung den Boden bereiten.26 Mit Blick auf die bevorstehende Arbeit an der Verfassung schreibt Preuß: „Im Rahmen der zu schaffenden demokratischen Verfassung sind die unausbleiblichen sozialpolitischen Kämpfe der Zukunft friedlich auszutragen.“27 Auch an anderer Stelle wird das horizontal balancierte und gerade nicht vertikal hierarchisierte Konstruktionsprinzip28 der Verfassung deutlich, wenn er die seiner Vorstellung zugrundeliegendeVerfassungstrias29 wie folgt beschreibt: „Demokratie, Parlamentarismus und Rechtsstaat sind die drei Grundgedanken, auf denen die Reichsverfassung der Deutschen Republik aufgebaut ist. Damit ist zunächst die politische Organisation gegeben; sie verleiht dem Bürger politische Rechte und legt ihm politische Pflichten auf. Doch zugleich schafft diese freie politische Organisation die heute unentbehrlichen Voraussetzungen für eine fortschreitende Entfaltung der Freiheit und Gerechtigkeit auf sozialem, wirtschaftlichem und kulturellem Gebiete. Mehr als die Voraussetzungen dafür kann keine, wie auch immer geartete Verfassung geben; ihre weitere Entwicklung
23 Hugo Preuß, Volksstaat oder verkehrter Obrigkeitsstaat? (Berliner Tagblatt vom 14. 11. 1918), in: ders., Staat, Recht und Freiheit. Aus 40 Jahren deutscher Politik und Geschichte, 1926, S. 365 (368). 24 Preuß (Fn. 23), S. 365. 25 Preuß (Fn. 23), S. 366. 26 Vgl. Lehnert (Fn. 7), S. 17, 23 („konzeptiver Ausgangspunkt einer modernen Pluralismustheorie“). 27 Preuß (Fn. 23), S. 368; rückblickend heißt es bei Hugo Preuß, Die „Unmöglichkeit“ des Notwendigen (Frankfurter Zeitung Nr. 253 vom 4. 4. 1920), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, Politik und Verfassung in der Weimarer Republik, 2008, S. 145 (147): „Die Demokratie steht und fällt mit der politischen Gleichberechtigung des einheitlichen Staatsbürgertums; vermag sie diese politische Synthese nicht gegenüber der sozialen Antithese von Kapitalisten und Proletariern unbedingt aufrechtzuerhalten, so ist sie unmöglich in der parlamentarischen wie in jeder anderen Form. Eine ,reine Arbeiterregierung‘ ist für sie ebenso tödlich wie eine Kapitalisten- oder Junkerregierung.“ 28 So Detlef Lehnert, Verfassungsprojekte: Hugo Preuß zwischen Hans Kelsen und Max Weber, in: Lehnert / Müller (Hrsg.), Vom Untertanenverband zur Bürgergenossenschaft, 2003, S. 151 (176). 29 Lehnert (Fn. 28), S. 177. Recht und Politik, Beiheft 3
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ist Sache des Gemeinlebens, das sich im Rahmen und auf der Grundlage der Verfassung gestaltet.“30 So verstanden ist die Weimarer Reichsverfassung (in ihrem staatsorganisatorischen Teil31) Ausdruck einer pluralistischen Betrachtungsweise ihres geistigen „Vaters“.32 Mit dieser Feststellung möchte ich mich nun dem Staats- und Politikverständnis von Hugo Preuß näher zuwenden.
II. Das Staats- und Politikverständnis bei Hugo Preuß 1. Staatstheoretischer Hintergrund: Umbildung des „Obrigkeitsstaates“ in einen „Volksstaat“ Mit der programmatischen Aussage „Der Volksstaat wendet sich gegen den Obrigkeitsstaat“33 ist der Grundgedanke des staatstheoretischen Konzepts bei Hugo Preuß prägnant beschrieben.34 Preuß geht von der Überlegung aus, dass erst die Überwindung des Obrigkeitsstaates Raum für den politisierten Staat schafft;35 sein Ziel ist die Etablierung eines freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates auf der Grundlage einer demokratischen Kultur.36 Insbesondere mit dem von ihm immer wieder betonten 30 Hugo Preuß, Deutschlands Staatsumwälzung. Die verfassungsmäßigen Grundlagen der deutschen Republik (1919), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, Politik und Verfassung in der Weimarer Republik, 2008, S. 101 (112) (kursive Hervorhebungen auch im Original). 31 Vgl. zu seinen Vorbehalten gegenüber dem Grundrechtsteil die Nachw. in Fn. 14. 32 In diese Richtung auch Lehnert (Fn. 28), S. 176, wenn er feststellt, dass Preuß ein demokratischer Fundamentalismus dergestalt, im Parlament nur ein Sprachrohr des Gemeinwillens und der öffentlichen Meinung und die Justiz auf Vollzugsaufgaben reduziert zu sehen, aus seiner pluralistischen Betrachtungsweise gänzlich fremd gewesen sei. Skeptisch hingegen Groh (Fn. 2), S. 257 ff., die der Preuß’schen Staats- und Demokratielehre dennoch immerhin „pluralistische Züge“ zuspricht (S. 265 f.). Stolleis (Fn. 5), S. 82 f., weist zu Recht darauf hin, dass sich Preuß’ Relativierung des Monopols der Rechtsetzung durch den souveränen Staat zugunsten eines in sich gestaffelten Pluralismus menschlicher Verbände angesichts der entgegenstehenden herrschenden Meinung schwerlich in Verfassungsnormen habe umsetzen lassen. Kritisch mit Blick auf die pluralistischen Tendenzen in der Weimarer Reichsverfassung beispielsweise Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 71 ff. 33 Hugo Preuß, Verwaltungsreform und Staatsreform in Preußen und Österreich (1912), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie im Kaiserreich, 2009, S. 732 (749). 34 Ausführlich zum Dualismus von Obrigkeitsregierung und Verfassungsstaat bei Hugo Preuß, Das deutsche Volk und die Politik (1915), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Politik und Gesellschaft im Kaiserreich, 2007, S. 384. 35 Vgl. Hugo Preuß, Vom Obrigkeitsstaat zum Volksstaat (1921), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, Politik und Verfassung in der Weimarer Republik, 2008, S. 157 (160). 36 Vgl. Lehnert (Fn. 7), S. 12. Vgl. aber auch Groh (Fn. 2), S. 41, derzufolge Preuß’ Demokratielehre im Vergleich zu denen anderer zeitgenössischer Staatsrechtslehrer „harmonistisch und normativ“ blieb: „Er beschwor mehr das Ethos der gemeinwohl-verträglichen Mitarbeit des 44
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„Prinzip der Differenzierung“ wendet sich Preuß gegen obrigkeitliche Staats- und Regierungsformen jeglicher Couleur.37 Er kritisiert den etatistischen Politikbegriff, der als spezifisch deutsche Blickverengung die Bürgerschaft und Obrigkeit voneinander trennt, von der Lüge staatlicher Interessensneutralität lebt und gleichzeitig verhindert, dass der Staat sich gegenüber dem Volk verantwortet.38 Preuß knüpft in diesem Zusammenhang unmittelbar an das Genossenschaftsdenken seines Lehrers Otto von Gierke an und wendet es ins Demokratische,39 indem er schreibt: „[E]s ist der genossenschaftliche Gedanke der Organisation von unten nach oben, auf dessen Grund die Republik und das demokratische Prinzip ruhen. Sie leiten keine Antwort von oben herab, sondern aus der Gemeinschaft der Genossen, der Bürger, aufsteigend von den engeren zu den weiteren Verbänden, von unten nach oben.“40 Als „Verfassungsdemokrat“ ging Preuß dabei nicht von einem homogenen Allgemeinwillen des Volkes aus,41 sondern setzte auf die Bürgergenossenschaft als eine pluralistische Einheit in Vielfalt.42 Bereits früh war er davon überzeugt: „Nur jene Dezentralisation, welche alle Kräfte zu freier Tätigkeit entfaltet und so eine Mehrzahl von Machtzentren schafft, ermöglicht wahre politische Freiheit […] Wo nur ein Machtzentrum existiert, gibt es keine Freiheit, sondern Despotie, […].“43 Damit
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Volkes an seinem Staat, als dass er die Prozeduren des gesellschaftlichen Interessenausgleichs analysierte.“ So Lehnert (Fn. 17), S. 115 ff., 118 f. Vgl. auch Lehnert (Fn. 7), S. 12 f. Vgl. Groh (Fn. 2), S. 41. Hugo Preuß, Die Bedeutung der demokratischen Republik für den sozialen Gedanken (1925), in: ders., Staat, Recht und Freiheit. Aus 40 Jahren deutscher Politik und Geschichte, 1926, S. 481 (489). Dies insbesondere entgegen der Vorstellung Rousseaus, vgl. Lehnert (Fn. 1), S. 12; Schefold (Fn. 4), S. 437. Zeitgenössisch kritisch gegenüber einem strukturell heterogenen Parlamentarismus zeigte sich z. B. Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. Aufl. 1926, S. 13 f., der eine solche Vorstellung als Ausdruck der Gedankenwelt des Liberalismus brandmarkte. So Lehnert (Fn. 1), S. 9, unter Bezugnahme auf Preuß (Fn. 33), S. 521; vgl. auch Lehnert (Fn. 7), S. 12, soweit dort auf das Verständnis des Gemeinwesens aus seinen vielgestaltigen „Teilgenossenschaften in der Organisation der nationalen Bürgergenossenschaft“ (Hugo Preuß, Die Entwicklung des deutschen Städtewesens. Erster und einziger Band: Entwicklungsgeschichte der deutschen Städteverfassung, 1906, S. 233) verwiesen wird. Vgl. auch ders., Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften. Versuch einer deutschen Staatskonstruktion auf der Grundlage der Genossenschaftstheorie, 1889, S. 162, wonach das begriffliche Wesen des Organismus gerade darauf beruht, dass er eine Einheit in Vielheit ist. Hugo Preuß, Die Sozialdemokratie und der Parlamentarismus (1891), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Politik und Gesellschaft im Kaiserreich, 2007, S. 176 (195). Vgl. hierzu Groh (Fn. 2), S. 260, die anmerkt, dass diese Ausführungen trotz ihres abstrahierenden Inhalts nur auf die Verwaltungsebenen des Staates zugeschnitten waren.
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verknüpft er sein Ziel der Etablierung einer (neuen) politischen Kultur44 in Deutschland mit der demokratisch-pluralistischen Idee der Bürgergenossenschaft45 und weiß sich dabei in der Tradition der „drei großen Quellströme der Entwicklung des modernen Verfassungswesens“46, der Entwicklungen in England, Amerika und Frankreich. 2. Die Habilitationsschrift als Zugang zum Werk von Hugo Preuß Ein in vielerlei Hinsicht wichtiger Schlüssel zu Hugo Preuß’ Werk bildet die Arbeit „Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften“47, mit der er sich 1889 habilitierte.48 Deren zentrales Thema ist die Art und Weise, wie öffentliche Gewalt im modernen Staat auf mehreren unterschiedlichen Ebenen ausgeübt wird. Preuß stellt – ganz in der Tradition Gierkes – zunächst einem individualistischen Begriff des Rechtssubjekts eine auf der Bildung menschlicher Verbände beruhende Lehre von der Genossenschaft entgegen.49 Der Verbandsgedanke erlaubt es Preuß, das Reich als mehrstufiges Gebilde zu begreifen, auf dessen verschiedenen Stufen jeweils eine eigenständige Willensbildung durch das Volk stattzufinden hat.50 Die unterschiedlichen Ebenen der öffentlichen Gewalt – Gemeinde(‐verbände), Gliedstaaten und Reich oder Bundesstaat – bilden ein System, das den Bürgern Entfaltung auf allen Ebenen ermöglicht.51 Auf diese Weise werden nicht nur kommunale und nationale Selbstverwaltung, sondern auch Rechtsstaat, Selbstverwaltung und Demokratie miteinander vereint. Die damit verbundene Herausbildung des Rechts aus der Gesellschaft bei gegenseitiger Bedingung von Staat und Recht wird für Preuß zur Grundform der Rechtsstaatlichkeit.52
44 Vgl. z. B. Hugo Preuß, Karl Schrader als Politiker (Die Hilfe Nr. 20 vom 15. 5. 1913), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Politik und Gesellschaft im Kaiserreich, 2007, S. 378 (379). 45 So Lehnert (Fn. 7), S. 13. 46 Hugo Preuß, Verfassungspolitische Entwicklungen in Deutschland und Westeuropa, hrsg. von Hedwig Hintze aus dem Nachlass des Verfassers, 1927, S. 432; vgl. auch ders., Reich und Länder. Bruchstücke eines Kommentars zur Verfassung des Deutschen Reiches, hrsg. von Gerhard Anschütz aus dem Nachlass des Verfassers, 1928, S. 35. 47 Preuß, Gebietskörperschaften (Fn. 42). 48 Vgl. Schefold (Fn. 4), S. 437, dort findet sich auch eine knappe, prägnante Zusammenfassung der wesentlichen Gedankengänge der Arbeit. 49 Nach Schefold (Fn. 4), S. 437, unter Verweis auf Preuß, Gebietskörperschaften (Fn. 42), S. 137 ff. 50 So Schefold (Fn. 4), S. 439. 51 So Schefold (Fn. 15), S. 22. 52 Nach Schefold (Fn. 15), S. 76; ders. (Fn. 4), S. 437, unter Verweis auf Preuß, Gebietskörperschaften (Fn. 42), S. 199 ff.; Lehnert (Fn. 17), S. 116 f., spricht davon, dass die Kategorienbildung von Preuß darauf zielte, ein politisches Gemeinwesen als eine sich nur ihren selbstgewählten Normen unterwerfende Bürgerschaft zu konzipieren. 46
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In einem entscheidenden Punkt ging Preuß dabei über Gierke hinaus, indem er von der Unvereinbarkeit des Souveränitätsbegriffs mit dem Konzept sich genossenschaftlich bildender politischer Verbände ausging53 und sich von der bis dahin wenig in Frage gestellten Souveränitätsdoktrin abwandte.54 Die Vorstellung einer Souveränität des Gesamtstaates war für Hugo Preuß ein Symbol obrigkeitlicher, nichtdemokratischer Herrschaft, die für ihn auf einer willkürlichen Setzung beruht und die demokratischgenossenschaftliche Substanz der übrigen Gebietskörperschaften entleert.55 Demgegenüber sind es bei Preuß maßgeblich die vielgestaltigen genossenschaftlichen „Zwischenbildungen“, die erst das Volk zum Staat organisieren können.56 Die ausdifferenzierte Organstellung aller Staatsgewalt und die „Charakterisierung des Staates als Organismus“57, der schon in den unteren und engeren Verbänden vorgebildet ist,58 zeichnen den Weg zu einem Verfassungsstaat vor. Herrschaft kann in einem derart mehrstufig gegliederten Staatswesen, das als personale Einheit zu verstehen ist, allein nach einer organschaftlichen – man könnte auch sagen: nach einer verfassungsdemokratischen59 – Ordnung stattfinden.60 Später – 1915 – heißt es dann bei Preuß, dass „der Staat nichts anderes ist als das durch die Verfassung organisierte Volk“61. Mit welchen „pluralistischen“ Instrumenten Hugo Preuß seiner Überzeugung, Politik und staatliche Entscheidungen „von unten nach oben“ zu ermöglichen, Geltung verschafft, lässt sich an zwei Beispielen näher verdeutlichen: der kommunalen Selbstverwaltung und der bürgerschaftlichen Partizipation durch Verbände, insbesondere durch politische Parteien. 53 Nach Schefold (Fn. 4), S. 437, unter Verweis auf Preuß, Gebietskörperschaften (Fn. 42), S. 129 ff., 174 f. 54 So Lehnert (Fn. 1), S. 12; vgl. auch Groh (Fn. 2), S. 260 ff.; Karsten Malowitz, Zwischen Kaiserreich und Republik: Hugo Preuß und Otto v. Gierke, in: Lehnert / Müller (Hrsg.), Vom Untertanenverband zur Bürgergenossenschaft, 2003, S. 123 (125 ff.); die Tatsache, dass es Preuß und nicht Gierke war, der mit dem Dogma der Staatssouveränität gebrochen hatte, führt auch dazu, den konkreteren Urheber moderner Pluralismus-Theorien eher in Preuß als in Gierke zu erkennen, vgl. Schefold (Fn. 4), S. 437; angedeutet auch bei Stolleis (Fn. 6), S. 363; Ernst Fraenkel, Pluralismus (1957), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5, Demokratie und Pluralismus, 2007, S. 383 (383 f.). Dagegen ist Groh (Fn. 2), S. 259, der Ansicht, Preuß sei in der Ausarbeitung einer pluralismustypischen Verbandstheorie hinter Gierke sogar zurückgefallen. 55 So Stolleis (Fn. 6), S. 363. 56 Vgl. Lehnert (Fn. 1), S. 12. 57 So Preuß, Gebietskörperschaften (Fn. 42), S. 137, 174 f.; zur allgemeinen Analyse des organischen und persönlichen Staatsbegriffs a.a.O., S. 137 ff. 58 So Preuß, Gebietskörperschaften (Fn. 42), S. 145. 59 Angelehnt an Lehnert (Fn. 1), S. 12. 60 So Schefold, (Fn. 15), S. 22 f. 61 Preuß (Fn. 33), S. 475. Recht und Politik, Beiheft 3
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3. Vom kommunalen self-government zur supranationalen Integration Die Leitmotive seiner Habilitationsschrift differenzierte Hugo Preuß in den folgenden Jahrzehnten weiter aus. Den in der städtischen Gemeinschaft entfalteten genossenschaftlichen Gedanken erklärt er zum Vorbild der Konstituierung auf allen Ebenen, so dass Selbstverwaltung und Bundesstaat nur mehr als Entfaltungen ein und desselben Prinzips erscheinen. Konsequent zu Ende gedacht, eignete sich das Mehrebenenprinzip des Genossenschaftsgedankens für Preuß sogar dazu, zwischenstaatliche Beziehungen als eine völkerrechtliche Gemeinschaftsordnung anzuerkennen, die ein dem innerstaatlichen Recht gleichwertiges supranationales Recht setzt.62 Um einen Rückfall in obrigkeitliche Denkstrukturen zu vermeiden, betont Preuß in späteren Schriften eine stärkere Gegenüberstellung von kommunaler und staatlicher Organisation. Dies führt zur Forderung nach der Verankerung einer leistungsfähigen und eigenverantwortlichen Selbstverwaltung63 auf den Ebenen von Gemeinde, Kreis und Provinz.64 Der (staatliche) Gesamtverband hat sich mit Blick auf die Gebietskörperschaften in seiner Fremdverwaltung idealerweise auf eine – unverzichtbare – Rechtsaufsicht zu beschränken.65 Letztlich ergänzen sich nach Preuß’ Vorstellung die zentrale Politikebene und die dezentrale Ebene der kommunalen Selbstverwaltung; sie stellen zwei notwendige, komplementäre Aspekte einer demokratischen Politik dar.66 Gerade die Mehrstufigkeit des Staatsaufbaus, das Modell des Volksstaates auf den Ebenen von Gemeinde, Gliedstaat und Gesamtstaat bis hin zur völkerrechtlichen
62 Schefold (Fn. 4), S. 440; vgl. auch ders. (Fn. 15), S. 25, 74; Lehnert / Müller (Fn. 3), S. 37. Nach Lehnert (Fn. 7), S. 25, war Preuß als Autor und Interpret des Art. 4 WRV („Die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts gelten als bindende Bestandteile des deutschen Reichsrechts“) perspektivisch ohnehin auf eine „die gesamte Menschheit umfassende Gemeinschaft“ orientiert, die „civitas maxima“ (nach Preuß, Reich und Länder [Fn. 46], S. 101); vgl. auch Hugo Preuß, Deutscher Frühling? (Berliner Börsen-Courier Nr. 153 vom 1. 4. 1923), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, Politik und Verfassung in der Weimarer Republik, 2008, S. 255 (256 f.). 63 Unter Bezugnahme auf die preußische Städteordnung des Freiherrn von Stein (1808) sowie der Vorbilder kommunaler Selbstverwaltung („selfgovernment“) in England und Frankreich vgl. beispielsweise Hugo Preuß, Die Lehre Gierkes und das Problem der preußischen Verwaltungsreform (1910), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie im Kaiserreich, 2009, S. 605 (607 ff.); ders., Verwaltung (1913), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie im Kaiserreich, 2009, S. 750 (755 ff.). 64 Bereits in seiner Habilitationsschrift bezeichnet Preuß das politische Selbstverwaltungsrecht als Gegner und Überwinder der Souveränitätsidee, vgl. Preuß, Gebietskörperschaften (Fn. 42), S. 118; allgemein auch Siegfried Grassmann, Hugo Preuß und die deutsche Selbstverwaltung, 1965. 65 Vgl. Schefold (Fn. 4), S. 442; ders. (Fn. 15), S. 61 f., 69. 66 So Lehnert / Müller (Fn. 3), S. 35. 48
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Gemeinschaft, kennzeichnet staatsorganisatorisch gesehen den Ausgangspunkt einer modernen Pluralismustheorie.67 4. Bürgerschaftliche Partizipation am Beispiel der Rolle politischer Parteien Bereits frühzeitig erkannte Hugo Preuß, dass der „Volksstaat“ auf neue gesellschaftliche Akteure angewiesen ist, die das „Gemeinwohl“ (bonum commune) bestimmen, das spätestens seit der Aufklärung die entscheidende Bezugsgröße rationalen staatlichen Handelns verkörpert.68 Nachdem die Ermittlung dieses Gemeinwohls keinen objektiven wissenschaftlichen Methoden zugänglich ist, kann nach seiner Überzeugung der Meinungsstreit darüber in einer freiheitlichen und ausdifferenzierten demokratischen Grundordnung nur „politisch“ entschieden werden.69 Die Form dafür bilden demokratische Wahl und Abstimmung sowie die Mitwirkung autonomer Gruppen.70 Eine zentrale Rolle für die Bestimmung des Gemeinwohls nehmen bei Preuß die politischen Parteien ein, die sich im Zuge der Industrialisierung im späten 19. Jahrhundert als bürgerschaftliche Vertreter bestimmter sozialer Milieus und politischer Interessen herausgebildet hatten. Sein Ausspruch „Parlamentarismus ist Parteiherrschaft“71 lässt es hier an Deutlichkeit nicht mangeln. Der Umstand, dass politische Parteien in der Verfassung der Weimarer Republik keine herausgehobene Stellung einnahmen,72 darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass nach 67 So Lehnert (Fn. 7), S. 23 sowie 25; vgl. auch Schefold (Fn. 15), S. 22 (Mehrebenentheorie als Abbild pluralistischer politischer Formationen). 68 Zum Begriff des Gemeinwohls vgl. beispielsweise auch Winfried Brugger, Gemeinwohl, Konkretisierung des Rechts und Auslegung der Gesetze, in: ders., Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus, 1999, S. 44; mit Blick auf Pluralismus und Antipluralismus ders., Theorie und Verfassung des Pluralismus. Zur Legitimation des Grundgesetzes im Anschluß an Ernst Fraenkel, in: ders. (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 1996, S. 273 (281 ff.). 69 Hierüber bestand unter den demokratischen Weimarer Staatrechtslehren Einigkeit, vgl. Groh (Fn. 2), S. 241. 70 Nach Lehnert / Müller (Fn. 3), S. 27; vgl. allgemein auch Ernst Fraenkel, Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie (1964), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5, Demokratie und Pluralismus, 2007, S. 256 (273). 71 Hugo Preuß, Unser Parlamentarismus und unsere auswärtige Lage (Berliner Tageblatt Nr. 171 vom 13. 4. 1921), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, Politik und Verfassung in der Weimarer Republik, 2008, S. 189 (190). 72 Gustav Radbruch hat in diesem Zusammenhang das Schlagwort der „Parteienprüderie“ geprägt, vgl. Gustav Radbruch, Rede auf der Verfassungsfeier der Reichsregierung 11. 8. 1928, in: Poscher (Hrsg.), Der Verfassungstag, 1999, S. 81 (83 ff.); vgl. ferner ders., Die politischen Parteien im System des deutschen Verfassungsrechts (1930), in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 14, Staat und Verfassung, 2002, S. 42 (46, 52), der die Ignorierung der Partei in der Reichsverfassung weniger in der Ideologie der Demokratie als in der überkommenen und auch im neuen Staat folgewidrig festgehaltenen Ideologie des Obrigkeitsstaates erkennt. Vgl. außerdem HansRecht und Politik, Beiheft 3
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Preuß’ Überzeugung eine parlamentarische Demokratie notwendigerweise einen parteienstaatlichen Charakter tragen muss.73 Noch zur Zeit des Kaiserreichs schreibt Preuß: „Ein Gemeinwesen kann sich nicht anders selbst regieren als durch Parteien; nur im Parteiregiment kann sich der Gemeinwille nach einer bestimmten Richtung positiv verwirklichen.“74 Über ihre Rolle als Interessenvertreter hinaus überträgt er den politischen Parteien Mitverantwortung für das parlamentarische Regierungssystem; sie seien „nicht mehr Selbstzweck, sondern […] Mittel parlamentarischer Regierungsbildung“.75 Auch der Opposition in Gestalt oppositioneller Parteien, die von den Vertretern des Obrigkeitsstaates als staatsfeindlich und unnational desavouiert wurde, weist er eine konstruktive und konstituierende Rolle zu: Im Parlamentarismus sei die Opposition ein integrierendes Element des Regierungssystems; sie bilde mit der jeweiligen Regierung den Willen der nationalen Gemeinschaft.76 Heute sind uns diese Vorstellungen vertraut und selbstverständlich. Damals, Anfang der 1920er Jahre, waren sie neu, mutig und weitsichtig. Aus heutiger Perspektive ist es deshalb sicher nicht zu kurz gegriffen, Hugo Preuß als einen bedeutenden Wegbereiter des Parteienpluralismus der parlamentarischen Demokratie zu bezeichnen.77 Zugleich sind die Grundelemente der Preuß’schen pluralistischen Verfassungstheorie freigelegt: Die Gesellschaft ist durch Heterogenität und Interessenvielfalt gekennzeichnet, die sich in politischen Parteien und anderen Verbänden ausdrückt. Mit
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Peter Schneider, Einleitung, in: Gustav Radbruch, Gesamtausgabe, Bd. 14, Staat und Verfassung, 2002, S. 1 (12 f.). Preuß selbst bedauerte dementsprechend die fehlende Würdigung der Parteien im Verfassungstext, vgl. Preuß, Reich und Länder (Fn. 46), S. 269: „Es herrscht also immer noch die Regel, dass Verfassungen und Gesetze die Voraussetzung ihrer Wirksamkeit, das Parteiwesen, mit keiner Silbe erwähnen.“ Vgl. hierzu Groh (Fn. 2), S. 243. Vgl. ferner Lehnert / Müller (Fn. 3), S. 27; vgl. auch Lehnert (Fn. 7), S. 28 f.; ders., Der Beitrag von Hans Kelsen und Hugo Preuß zum modernen Demokratieverständnis, in: Gusy (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, 2000, S. 221 (238 ff.); vgl. aber auch Schefold (Fn. 4), S. 451, der kritisch bemängelt, dass Preuß die Realität des sich schon im späten 19. Jahrhundert ankündigenden und in der Weimarer Nationalversammlung darstellenden Parteienstaats nicht wirklich in Rechnung gestellt habe. Preuß (Fn. 63), S. 759; vgl. hierzu Groh (Fn. 2), S. 242. Preuß (Fn. 71), S. 190; vgl. dazu auch Lehnert (Fn. 7), S. 30, sowie Groh (Fn. 2), S. 241 ff., insbes. 245 und 242 f., zu der von Preuß vorgenommenen Überführung der Parteien vom bürgerlichen zum öffentlichen Recht als wichtige Etappe im Bedeutungswandel der Parteien von einer bloßen gesellschaftlichen Gruppierung zum (Verfassungs‐)Organ. So Hugo Preuß, Parlamentarismus und auswärtige Politik (Berliner Tageblatt Nr. 474 vom 7. 10. 1925), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, Politik und Verfassung in der Weimarer Republik, 2008, S. 301 (303); vgl. auch ders., Die Improvisierung des Parlamentarismus (Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 549 vom 26. 10. 1918), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Politik und Gesellschaft im Kaiserreich, 2007, S. 718 (720). So Lehnert (Fn. 1), S. 67.
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Hilfe des demokratischen Verfassungsstaates formt sich diese Gesellschaft zu einer politischen Gemeinschaft, die genossenschaftlich strukturiert ist und deren Entscheidungsprozesse mehrstufig-föderal und durchlässig angelegt sind. Politische Einheit soll also gerade durch die umfassende Einbindung bürgerlicher Vielfalt hergestellt werden.
III. Die Pluralismustheorie nach dem Zweiten Weltkrieg Die Idee des Pluralismus fand in Deutschland zunächst gerade auch innerhalb der Wissenschaft wenig Anklang.78 Es waren insbesondere englische (z. B. Frederick William Maitland, 1850 – 1906) 79 und französische (z. B. Léon Duguit, 1859 – 1928) Staatstheoretiker, die entsprechende Überlegungen zu einer Neubegründung des demokratischen Denkens nutzten.80 Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kam es in Deutschland, inspiriert insbesondere durch wissenschaftliche Einflüsse aus dem angloamerikanischen Raum, zu einer – man muss schon sagen – (Wieder‐)Entdeckung der Ideen des Pluralismus.81 An dieser Stelle ist insbesondere der aus dem Nazi-Deutschland in die USA emigrierte und danach zurückgekehrte Ernst Fraenkel zu nennen,82 der die Pluralismustheorie in Deutschland – in Gestalt eines Neo-Pluralismus83 – erneut und in weiten Kreisen erstmals „hoffähig“ gemacht hat.84 Im Anschluss an Fraenkel sind den im Übergang des 78 Fraenkel (Fn. 54), S. 384. Schmitt (Fn. 32), S. 71 ff., erblickt in dem Zusammenspiel von Pluralismus, Polykratie und Föderalismus sogar die tiefere Ursache für die innere Aushöhlung und den Verfall der Weimarer Republik. 79 Weiterentwickelt z . B. in einer radikalen Version durch Harold J. Laski (1893 – 1950). Eine gemäßigtere Version, die sich im Weiteren bei den Neo-Pluralisten durchgesetzt hat, zu denen auch Ernst Fraenkel zu zählen ist, vertrat z . B. Ernest Barker, vgl. allgemein dazu Roland Lhotta, Pluralismus (J), in: Heun (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 2006; Winfried Brugger, Radikaler und geläuterter Pluralismus, Der Staat 29 (1990), S. 497. 80 Vgl. Lehnert / Müller (Fn. 3), S. 22; Anna Leisner-Egensperger, Vielfalt – ein Begriff des Öffentlichen Rechts, 2004, S. 34 f.; einen Überblick über die Entwicklung in England Helmut Quaritsch, Zur Entstehung der Theorie des Pluralismus, Der Staat 19 (1980), S. 29. 81 Vgl. beispielsweise Fritz Scharpf, Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, 1970, S. 29 ff.; zur Rezeption der Pluralismustheorien vgl. Robert Chr. van Ooyen, Der Staat der Moderne. Hans Kelsens Pluralismustheorie, 2003, S. 222 ff. 82 Zur Rolle Fraenkels vgl. Brugger (Fn. 68); vgl. auch Joachim Perels, Überwindung der NSHerrschaft durch Pluralismus – Ernst Fraenkel, in: ders. (Hrsg.), Recht und Autoritarismus, 2009, S. 307; Hubertus Buchstein, Verfassung, Demokratie und Pluralismus in den Weimarer Schriften von Ernst Fraenkel, in: Gangl (Hrsg.), Linke Juristen in der Weimarer Republik, 2003, S. 246. 83 Vgl. beispielsweise Fraenkel selbst in Ernst Fraenkel, Strukturanalyse der modernen Demokratie (1969), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5, Demokratie und Pluralismus, 2007, S. 314 (334 ff., 338); van Ooyen (Fn. 81), S. 243 ff.; in diesem Sinne auch die Bezeichnung als „geläuterter“ Pluralismus bei Brugger (Fn. 79), S. 501 f. 84 Den philosophischen Rahmen behandelt unter Einfluss der englischen Verfassungspraxis Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 1945; aus verfassungstheoretischem BlickRecht und Politik, Beiheft 3
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späten 19. zum frühen 20. Jahrhundert entwickelten Pluralismustheorien zwei Merkmale gemeinsam: der Widerstand gegen den Monopolanspruch des Staates auf die Loyalität seiner Angehörigen und die Forderung nach der prinzipiellen Gleichwertigkeit der Macht des Staates und der Macht der autonomen Gruppen innerhalb des Staates.85 Der Staat kann in dem pluralistischen Beziehungsgeflecht verschiedener „Souveränitäten“ Loyalität nur in dem Maße erwarten, in dem er sich durch Leistungserbringung Zustimmung zu verschaffen vermag.86 1. Das Menschenbild des Pluralismus Pluralismus und Anti-Pluralismus liegen grundlegend unterschiedliche Menschenbilder zugrunde: Der Pluralismus beruht auf dem optimistischen Vertrauen, dass ein freiheitlicher Staat in der Regel ausreichend stark ist, um heterogenen Kräften zu gestatten, sich frei in Gesellschaft und Staat zu bewegen.87 Pluralismus setzt damit vor allem auf Toleranz und Gewaltlosigkeit.88 Die pluralistische Theorie des Gemeinwohls erachtet gesellschaftliche Heterogenität als unvermeidlich, ja geradezu als Indiz eines in Freiheit pulsierenden Lebens.89 Meinungsverschiedenheiten zwischen verschiedenen Gruppen tragen aus Sicht der Vertreter des Pluralismus dazu bei, auf der – häufig auch tastenden und manchmal schwerfälligen – Suche nach konsensfähigen Kompromissen eine Vielfalt von Interessen und Anschauungen zur Wirkung kommen zu lassen und Alternativenreichtum zu erzeugen. Sie ermöglichen – gerade unter Ungewissheitsbedingungen über das Gemeinwohl – eine Generierung und Verarbeitung von Wissen durch eine Verbreiterung der Entscheidungsbasis; dadurch halten sie den großen Prozess von „trial and error“ lebendig, der entscheidend ist für eine gesellschaftliche Weiterentwicklung, und
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winkel vgl. auch Karl Loewenstein, Verfassungslehre, 1959, S. 367 ff.; Ulrich Scheuner, Konsens und Pluralismus als verfassungsrechtliches Problem, in: Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, 1976, S. 33; Hans Zacher, Pluralität der Gesellschaft als rechtspolitisches Problem, Der Staat 9 (1970), S. 161. So Fraenkel (Fn. 54), S. 383 f. Einen Überblick über die verschiedenen Strömungen gibt Klaus Schubert, Pluralismus versus Korporatismus, in: Nohlen (Hrsg.), Lexikon der Politik, Bd. I, 1995, S. 407. So van Ooyen (Fn. 81), S. 25. Nach Fraenkel (Fn. 70), S. 268; vgl. auch a.a.O. S. 280; vgl. ferner Peter Häberle, Die Verfassung des Pluralismus, 1980, S. 62 f. Vgl. Häberle (Fn. 87), S. 61; darauf beruht letztlich auch die Idee gewaltfreier Kommunikation bei Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 399 ff., 435 ff. So Fraenkel (Fn. 70), S. 259; vgl. auch Brugger (Fn. 79), S. 500. Damit wendet sich der Pluralismus auch mit Entschiedenheit gegen die Identitätstheorie Rousseaus mit ihrer Vorstellung eines einheitlichen und homogenen Volkswillens sowie der Fiktion einheitlicher Interessen zwischen Regierenden und Regierten; vgl. Fraenkel, a.a.O., S. 265; so auch Häberle (Fn. 87), S. 5. Recht und Politik, Beiheft 3
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ermöglichen – bei eingeschlossener Lernfähigkeit und Bereitschaft zur Selbstkorrektur – das Experimentieren mit Gedanken und sozialen Lebensformen.90 Anti-Pluralisten hingegen unterliegen dem pessimistischen Verdacht, der Staat müsse gegen abweichende und heterogene Kräfte in Staat und Gesellschaft Gewalt anwenden.91 Anti-pluralistische Gesellschaftsentwürfe mit ihrer Tendenz zur Unterdrückung abweichender Meinungen weisen deshalb immer auch eine Nähe zu totalitär-diktatorischen, autoritär-zentralistischen oder doktrinär-fundamentalistischen Verfassungsund Politikmodellen auf.92 2. Die Verbindung von Pluralismus- und Demokratietheorie Zu Beginn des 21. Jahrhunderts entspricht es dem Grundverständnis demokratischer Verfassungsordnungen, allen Gruppen und Verbänden Gelegenheit zu geben, sich zu bilden und miteinander in Wettbewerb um Macht und Einfluss zu treten.93 Die Zielwerte der Pluralismustheorie sind Mäßigung der Macht, Minderheitenschutz und die prozeduralisierte Suche nach Konsens. Sie stehen dabei immer auch in engem Zusammenhang mit den Fragen politischer Partizipation und damit im Zusammenhang mit der Demokratietheorie.94 Mit Blick auf ein demokratisch organisiertes Regierungssystem weist der Pluralismus weit über die Begründung zeitlich und sachlich begrenzter, von der Mehrheit des Volkes legitimierter Herrschaft des Parlamentarismus hinaus. Er ist darauf ausgerichtet, über einen freien und offenen politischen Prozess pluralistische Initiativen und Alternativen auch außerhalb des Parlaments zu ermöglichen. Hinter dieser Überlegung steht die Erkenntnis, dass nicht nur die Beteiligung von Minderheiten am politischen Prozess über die Rolle eines bloßen Überstimmtwerdens hinausgeht, sondern auch die Tätigkeit der politischen Eliten deliberativ an die Bürger rückgebunden bleiben muss. Nur dann wird die Beteiligung des ganzen Volkes am politischen Prozess auf den verschiedenen Ebenen eines pluralistischen Gemein-
90 Vgl. auch Reinhold Zippelius, Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, 2. Aufl. 1996, S. 226. 91 Nach Fraenkel (Fn. 70), S. 268; vgl. auch a.a.O. S. 280. 92 Vgl. auch Detlef Lehnert / Klaus Megerle, Vorwort, in: dies. (Hrsg.), Pluralismus als Verfassungsund Gesellschaftsmodell, 1993, S. 7; in diese Richtung auch Fraenkel (Fn. 70), S. 278, wenn er feststellt, dass sich der Neo-Pluralismus gegen den Totalitätsanspruch des Staates wendet; vgl. in diesem Zusammenhang auch Brugger (Fn. 68), S. 279 ff. 93 Vgl. Peter Häberle, Grundrechte in pluralistischen Gesellschaften – die Verfassung des Pluralismus, Die Verwaltung 26 (1993), S. 421; van Ooyen (Fn. 81), S. 96 ff.; zum Folgenden auch Reinhold Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 16. Aufl. 2010, § 26. 94 Vgl. Scharpf (Fn. 81), S. 54 ff.; vgl. beispielsweise auch Häberle (Fn. 87), S. 5; Oliver Gerstenberg, Bürgerrechte und deliberative Demokratie. Elemente einer pluralistischen Verfassungstheorie, 1997, S. 19 ff.; David Strecker, Warum deliberative Demokratie?, in: Schaal (Hrsg.), Das Staatsverständnis von Jürgen Habermas, 2009, S. 59. Recht und Politik, Beiheft 3
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wesens Realität gewinnen;95 dies gilt insbesondere im Zuge der fortschreitenden Fragmentierung gesellschaftlicher Interessen. Demokratische Ordnungen müssen einer Minderheit – als Alternative zur Mehrheit – immer die Chance eröffnen, selbst zur Mehrheit werden zu können.96 Dem Staat obliegt es dabei als einer Gruppe besonderer Art97, den pluralistischen Prozess der individuellen Meinungs- und politischen Willensbildung offenzuhalten (bzw. zu fördern), Konflikte zwischen den Gruppen zu schlichten sowie den Einzelnen gegen eine mögliche Gruppentyrannis zu schützen.98 Der demokratisch aufgebaute und gewaltengeteilt gestaltete Staat ist derjenige, der die Verfahren und Foren anzubieten bzw. offenzuhalten hat, in deren Rahmen Kompromisse zwischen den widerstreitenden Interessen ausgehandelt werden und der schließlich – in formal vorgegebenen Prozeduren – über Interessenkonflikte rechtsverbindlich entscheidet. 3. Toleranzgrenzen Die inhaltliche Offenheit darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass jede Pluralismustheorie, die nicht wie die Kelsen’sche Demokratietheorie auf einem Wertskeptizismus fußt, auch (Toleranz‐)Grenzen setzen muss für den Fall, dass antipluralistische Kräfte die den Pluralismus konstituierenden Elemente – Mäßigung der Macht, Minderheitenschutz und die prozeduralisierte Suche nach Konsens – praktisch in Frage stellen.99 Diese Aufgabe kommt in modernen Demokratien in erster Linie der Verfassung zu, deren Funktion nicht nur in der Gewährleistung privater Autonomiespielräume besteht, sondern immer zugleich auch in der Organisation und Institutionalisierung der verschiedenen Foren und Verfahren einer demokratischen Selbstgesetzgebung der Bürger.100 Gleichzeitig legt die Verfassung das inhaltliche Fundament fest, über das auch in einer pluralistischen Verfassungsordnung nicht mehr gestritten werden soll (sog. unstreitiger Sektor).101 Bei der Vertretung ihrer Partikularinteressen befinden sich die verschiedenen Individuen und Gruppen daher gerade nicht in einem auf Vielfaltssicherung ausgerichteten Spiel der Kräfte. Der unmittelbare Schutz der pluralen Gesellschaft und ihrer demokratischen Verfassungsordnung wird durch Gesetz festgelegt, das sich an den freiheitsrechtlichen Maßstäben der 95 Vgl. auch Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 135 f. 96 Häberle (Fn. 87), S. 5; vgl. auch Hesse (Fn. 95), Rn. 153 ff., 156. 97 Nach van Ooyen (Fn. 81), S. 24, ist der Staat „nur noch ein Verband unter vielen“. 98 Vgl. Fraenkel (Fn. 70), S. 256, 262; ders. (Fn. 54), S. 383 f. 99 Nach Häberle (Fn. 87), S. 62. 100 So beispielsweise Gerstenberg (Fn. 94), S. 7. 101 Vgl. Fraenkel (Fn. 70), S. 271; ders. (Fn. 83), S. 338 f.; insbesondere zur Begrifflichkeit des streitigen und unstreitigen Sektors vgl. auch Brugger (Fn. 68), S. 289 ff. Vgl. ferner Groh (Fn. 2), S. 264, die in der Betonung der Notwendigkeit des unstreitigen Sektors für eine stabile Demokratie Preuß’ vorrangigen Beitrag zu einer Pluralismustheorie erblickt. 54
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Verfassung messen lassen muss. So bleibt die pluralistische Ordnung auch an ihren Grenzen sich selbst treu.
IV. Neokorporatismus, regulierte Selbstregulierung, Netzwerktheorie, Internet-Society usw.: Hat die Pluralismustheorie ausgedient? Hier machen wir eine Zäsur. Auf den ersten Blick muten manche Grundannahmen der Pluralismustheorie aus heutiger Sicht etwas naiv und überholt an. Vor dem Hintergrund der politischen Praxis und gestützt auf zahlreiche empirische Studien haben insbesondere die politische Ökonomie sowie die Politik- und Sozialwissenschaften spätestens seit den 1960er Jahren die Schwächen des Pluralismuskonzepts herausgearbeitet. Die Kernkritikpunkte sind weithin bekannt: – Gut organisierte kleine Interessengruppen mit freiwilliger Mitgliedschaft neigen dazu, ihre speziellen Sonderinteressen auf Kosten des Gemeinwohls wahrzunehmen; – nicht alle Interessen sind organisiert und im Meinungskampf präsent (Beispiel: Kinder, Behinderte); – nicht alle organisierten Interessen verfügen über genügend materielle Ressourcen und ausreichendes Verweigerungspotential, um konfliktfähig zu sein und Entscheidungen zu beeinflussen; – die Einflussmöglichkeit von Verbänden hängt von vielfältigen nicht kalkulierbaren Faktoren ab (Zahl relevanter Konkurrenten, Zeitgeist, Koalitions- und Vernetzungsmöglichkeiten, persönlicher Zugang der Repräsentanten zu Entscheidungs- und Machtzentren); – die Chancen der Politiker, von der öffentlichen Meinung und insbesondere in den Wahlen akzeptiert zu werden, wird wesentlich davon mitbestimmt, in welchem Maß sie gegenwartsbezogene Sonderinteressen schonen und fördern. Nicht selten verdrängt unter diesen Bedingungen die kurzfristige Perspektive des nächstbesten Kompromisses eine momentan weniger populäre nachhaltige Vorsorge für die weitere Zukunft.102 An die Stelle der klassischen Pluralismustheorie sind daher andere Theorieansätze getreten, die versuchen, das Verhältnis zwischen Staat, Verbänden und Individuen angemessener zu konfigurieren. Zu nennen sind hier etwa: die Neokorporatismus- und Verbändeforschung, die Theorie der politischen Netzwerke, das Konzept der regulierten Selbstregulierung oder der Governance-Ansatz. Gleichzeitig nehmen die Stimmen zu, die angesichts der globalen Internet-Society Korporationen sowieso für zunehmend überflüssig halten – im Internet ist jedes Individuum netzunmittelbar.103
102 Vgl. Zippelius (Fn. 90), S. 225. 103 Vgl. nur Walter Reese-Schäfer, Politische Theorie heute, 2000, S. 104 ff. Recht und Politik, Beiheft 3
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Hat die Pluralismustheorie damit ausgedient? Können wir von Hugo Preuß heute nichts mehr lernen? Ein Blick in das Grundgesetz und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts belehrt uns eines Besseren. Dort ist die Idee des Pluralismus noch sehr lebendig. Erinnert sei hier nur an die starke Stellung der Parteien (Art. 21 GG), die extensiv interpretierten Kommunikationsrechte (Art. 5, 8 GG), den verfassungsrechtlichen Schutz der Vereinigungen (Art. 9 GG) und der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 GG) oder die vielfältigen Regelungen zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, die den pluralen Meinungsbildungsprozess offen halten sollen (Verwirkung von Grundrechten, Art. 18 GG; Parteienverbot, Art. 21 Abs. 2 GG, vgl. auch Art. 91 GG).104 Letztlich bleibt die pluralistische Verfassungskultur mit ihrem Vertrauen in die Selbstorganisation der Gesellschaft trotz aller damit verbundenen Probleme auf Dauer wohl die einzige Alternative zu einem totalitären Staat.105 Die Pluralität von Interessen und Meinungen ist – gerade im Zuge der fortschreitenden Fragmentierung von Einzelinteressen – in der heutigen Massendemokratie weiterhin „das“ politisch-kulturelle Strukturprinzip der Moderne. Die moderne Bürgergesellschaft begreift sich als eine Gesellschaft freier Assoziationen, die „mit dem guten alten Begriff der Genossenschaft“ vielleicht sogar besser beschrieben ist als mit Gesellschaft oder Gemeinschaft.106 Dies kommt auch dem Ideal von Hugo Preuß, dem genossenschaftlichen Gedanken der Organisation von unten nach oben, auf dessen Grund die Republik und das demokratische Prinzip ruhen,107 sehr nahe. Wir tun daher gut daran, ihn nicht zu vergessen!
104 Vgl. nur Reinhold Zippelius / Thomas Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008, § 53, Rn. 3 ff.; Brugger (Fn. 68), S. 297 ff. 105 Vgl. Zippelius (Fn. 90), S. 225 f.; in einem allgemeinen Verständnis auch Leisner-Egensperger (Fn. 80), S. 32 ff. 106 So Ralf Dahrendorf, Auf der Suche nach einer neuen Ordnung, 2003, S. 110 f. 107 Preuß (Fn. 40), S. 489. 56
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Die Weimarer Verfassung zwischen Überforderung und Herausforderung* Von Christoph Gusy Die Weimarer Republik gilt in der neueren Forschung als „überforderte Republik“. Wenn das so war: Hatte diese dann auch eine „überforderte Verfassung“? Oder war umgekehrt die Verfassung Teil jener Überforderung: Überforderte also die Verfassung der Republik eine wie auch immer zu denkende Republik ohne diese Verfassung? War die Verfassung damals also Teil der Lösung oder Teil des Problems? Und lassen sich daraus Lehren ziehen für die Bundesrepublik, in welcher eben nicht die WRV, sondern das Grundgesetz und zunehmend supranationales Recht die Grundordnung prägen?
I. Überforderungsthesen in der Weimarer Republik Dass die Weimarer Reichsverfassung (WRV) eine überforderte Verfassung1 gewesen sei, wurde schon in der Republik vielfach behauptet. Zwar fand sich damals eine andere Terminologie, doch in der Sache ging es den Kritikern damals um diesen Punkt: Die WRV werde den Anforderungen an Staatlichkeit und Staatsgewalt nicht hinreichend gerecht und sei deshalb überfordert. Unterschiedlich waren allerdings die politischen und rechtlichen Ausgangspunkte, Diagnosen und Konsequenzen jener Kritiker. In der Frühzeit der Republik sah sich die Verfassung mit ganz heterogenen, einander bisweilen nahezu ausschließenden Erwartungen und Kritikrichtungen konfrontiert. Dies entsprach der Diagnose von der schon in Monarchie und Weltkrieg zutiefst gespaltenen Gesellschaft,2 welche in Kriegsende, Kriegsniederlage, Versailler Friedensvertrag und WRV ihre eigene Spaltung nicht überwand, sondern unter gewandelten Vorzeichen fortsetzte und womöglich sogar noch vertiefte.3 So gespalten die Gesell* 1 2 3
Zuerst in: Der Staat 3/2016, 291 – 318. Zur überforderten Republik Ursula Büttner, Weimar – Die überforderte Republik, 2008. Vorzüglich herausgearbeitet bei Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora, 4. Aufl. 2014, S. 997 ff. (1000 ff.); s.a. Herfried Münkler, Der Große Krieg, 2014, S. 563 ff. (593 ff., 790 ff.). In dieser Richtung insbes. Leonhard (Fn. 2), S. 939 ff. (997 ff.), mit der gewiss zutreffenden Feststellung, dass in Kreisen von Kriegs- und Kriegsfortsetzungsbefürwortern die Niederlage als Notwehrfall angesehen wurde; ein Notwehrfall, der sich auch gegen Regierungen und Verfassungen richtete, welche sich freiwillig oder unfreiwillig auf den Boden der Niederlage und der Friedensverträge stellten. Für die Republik Heinrich August Winkler, Weimar 1918 – 1933, 1993, S. 285 ff.
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Duncker & Humblot, Berlin
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schaft, so gespalten waren die Erwartungen auch an die Verfassung, welche je nach Sicht der Parteien entweder die Rückgängigmachung der Revolution oder deren Fortsetzung oder den Ausbau der demokratischen Republik forderten. Und nach deren Inkrafttreten prägten die frühen Erwartungen an die Verfassung die Positionen zur Verfassung. Da die WRV weder eine Fortsetzung noch eine Rückgängigmachung der Revolution verhieß, war der sie tragende Kompromiss von beiden Seiten in der Kritik. Rechts und links wähnte man die Verfassung nicht auf der eigenen, sondern entsprechend einer gewissen Freund-Feind-Logik eher auf der anderen Seite. Wo nicht gleich der Notwehrfall gegen die junge Republik ausgerufen wurde, indem die neue Grundordnung als für die eigene Seite irrelevant und ungültig4 oder zumindest als zu bekämpfende und zu beseitigende Festlegung disqualifiziert wurde, richtete sich die Kritik eher gegen deren Legitimität. Diagnostiziert wurden überholte „geistige Grundlagen“5, eine angeblich einseitige Orientierung an Legitimations- gegenüber Effektivitätserwägungen durch ein Übermaß an Wahlen, Wahlrechtsgleichheit und Parlamentszersplitterung; schließlich eine unzureichende Ausgestaltung der Handlungsfähigkeit von Regierungen und Exekutiven, namentlich im Notstandsfall. Jene Kritik richtete sich gegen eine ganz junge Verfassung, deren Entfaltung durch Rechtsanwendung, Rechtswissenschaft6 und Rechtsprechung noch am Anfang stand, die also hinsichtlich ihrer Auslegung, Anwendung und Wirkungen noch ungefestigt war. Und sie hatte schon zu diesem frühen Zeitpunkt die höchsten Kreise der Republik und ihrer Organe erreicht, nämlich die Reichsregierung7 und die sie tragenden Parteien. In der mittleren Phase der Republik hätte die Annahme nahegelegen, die Konsolidierung der Verhältnisse und der „Schein der Normalität“8, der allerdings damals noch nicht als Schein erkannt war, würden zu einer gewissen Stabilisierung und Beruhigung der Verfassungsfrage führen. Nun kam die Zeit, in welcher sich die neue Ordnung beweisen und bewähren könnte. Tatsächlich trat dieser Effekt auch ein; allerdings ganz überwiegend in Kreisen der ohnehin verfassungsloyalen, der republikanischen bzw. „demokratischen“ Richtungen.9 Andernorts radikalisierte sich die Kritik, sie wurde his4 5 6 7 8 9
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In diesen Formenkreis zählt auch die Diskussion um die Legitimität der WRV; zu ihr Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (zit.: WRV), 1997, S. 382 ff. Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des Parlamentarismus, 1923; s.a. ders., Die Diktatur, 1921. Diese setzte im Wesentlichen im Jahre 1921 ein, s. näher Gusy (Fn. 4), S. 428 ff. Reichsregierung, Akten der Reichskanzlei – Die Kabinette Marx I, II, 1973, Nr. 375; weit. Nachw. bei Gusy (Fn. 4), S. 399. Heinrich August Winkler, Der Schein der Normalität, 1985. Aufschlussreich der Satz von Walter Jellinek, Die Nationalversammlung und ihr Werk, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. I, 1930, S. 137, zur WRV: „Wer heute ihren Rechtsbestand und ihre Fortdauer anzweifeln würde, würde sich lächerlich machen.“ Zur „demokratischen“ Richtung in der Weimarer Staatslehre Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik, 2010; Christoph Gusy (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, 2000. Recht und Politik, Beiheft 3
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torisiert und theoretisch vertieft. Im Richtungsstreit der Staatsrechtswissenschaft ging es nicht mehr um einzelne Normen oder Abschnitte der WRV, hier ging es um das Ganze. In der Konfrontation zwischen wahrer „Verfassung“ und tatsächlich geltendem positivem „Verfassungsrecht“ bzw. „Verfassungsgesetz“ blieb die Realität geradezu notwendig hinter den Idealen zurück. Die Kritik knüpfte an die genannten Diskussionen um das gespaltene Volk an und forderte von einer „geistigen Verfassung“ deren Überwindung, die Wiederherstellung des Volkes als Willens- und Handlungseinheit, die „Integration“ der Gesellschaft zum Volk und die Vorgabe einer Wertordnung, welche jene Anliegen hervorbringen oder befördern könne.10 Vor der Folie solcher Erwartungen erschienen die WRV und erst recht die von ihr verfasste Republik als Mängelwesen. Für sie charakteristisch seien politische Atomisierung der Gesellschaft, Parteienvielfalt und Parteienstreit, Parlamentszersplitterung und dadurch bedingt Schwächung der Handlungsbereitschaft und Handlungsfähigkeit des Staates. Darin lag eine Systematisierung und Vertiefung der frühen Verfassungskritik. Ihr ging es um jene fundamentale Spaltung im Volk, welche Republik und Verfassung vorgefunden hatten und die sich in der Wahrnehmung der Kritiker nach 1919 fortsetzte. Ihr wurde ein Einheitsideal entgegengestellt, welches teils historisch vorkonstitutionell, teils allein staatstheoretisch fundiert erschien. Sein „geisteswissenschaftlicher“ Charakter enthob die Kritiker der Notwendigkeit einer Darlegung, dass und inwieweit eine solche Einheit historisch je bestanden habe11 und ob sie damals im Volk und vom Volk oder eher von Bismarck12 gegen das Volk hergestellt worden war. Der Appell an vergangene Einheit und Größe erwies sich jedenfalls als wirkungsmächtig. Hinter seiner Durchschlagskraft traten konkrete Fragestellungen zurück: War es historisch berechtigt, die Republik und ihre Verfassung für jene Spaltung verantwortlich zu machen, welche sie vorgefunden und nicht etwa hervorgebracht hatte? Allenfalls hätte man der jungen demokratischen Republik vorwerfen können, dass es ihr nach knapp zehn Jahren noch nicht gelungen war, jene Erblasten unter den extrem schwierigen Bedingungen der Nachkriegszeit und der frühen 20er Jahre zu beseitigen. Und dann hätte sich die Frage danach gestellt, ob dies unter den Bedingungen einer demokratischen Staatsordnung, welche den Willen der Bürger und des Volkes zum Ausgangspunkt der Staatsgewalt und ihrer Willensbildung nimmt (Art. 1 Abs. 2 WRV), überhaupt hätte zulässig sein können. Und schließlich hätte sich die weitere Frage gestellt, mit welchen verfassungsrechtlichen Instrumenten dies unter den Bedingungen einer parlamentarischen Republik hätte 10 Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994, S. 119 (136 ff.). Überblick über die heterogenen Richtungen bei Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland III, 1999, S. 171 ff. 11 Inwieweit hier Erinnerungen oder Bezugnahmen auf das „Augusterlebnis“ 1914 eine Rolle spielen konnten, ist wegen der schwachen historischen Bezugnahmen der Kritiker schwer festzumachen. Zu den Ideen von 1914 Hermann Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, 1963, S. 171 ff.; Münkler (Fn. 2), S. 222 ff. (248 ff., 260 ff.). 12 Zum Bismarck-Mythos in der Republik Robert Gerwarth, Der Bismarck-Mythos, 2007, S. 61 ff. Recht und Politik, Beiheft 3
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möglich sein können. Gewiss: Eine Reihe jener Themen sind damals tatsächlich aufgeworfen worden. Dass die Kritik dennoch an Grundsätzlichkeit und Schärfe zunahm, erscheint vor dem Hintergrund der Realität von Normalisierungs- und Stabilisierungsansätzen paradox. Wichtiger aber war Anderes: Während der gleichzeitige Kampf der Kommunisten gegen die Verfassung mit legalen und illegalen Mitteln politisch isoliert, machtmäßig unterlegen und mit den Mitteln des zeitgenössischen Republikschutzes13 weithin beherrschbar erschien, sollte die „geisteswissenschaftliche“ Kritik wirkungsmächtiger werden. Dies zeigte sich, als ab 1925 ihre Anhänger in dramatischem Maße in politische und gesellschaftliche Führungspositionen gelangten. Dieser Prozess verlief weitgehend außerhalb der verfassungsrechtlich geregelten Bahnen und bewirkte seit 1930 eine bewusst und zunehmend offen herbeigeführte Zurückdrängung des Einflusses von Parlamenten, Parteien und demokratischen Verfahren. Dadurch wurde er zu einer maßgeblichen Triebfeder für die sukzessive Auflösung der Weimarer Republik,14 die danach nicht Angriffen von außen, sondern der Erosion ihrer sozialen, politischen und rechtlichen Grundlagen von innen heraus erliegen sollte. Die Spätphase der Republik war nicht von einer weiteren Vertiefung und Systematisierung der Überforderungsdiskurse geprägt. Deren Kennzeichen waren vielmehr politische Radikalisierung und dramatische Zunahme ihrer Anhängerschaft. Aus der Sicht der Linken wie der Rechten erschien die WRV als Verfassung der Anderen: Als normative Ordnung, welche sowohl gegen Kommunisten als auch gegen Nationalsozialisten gekehrt werden konnte und schon deshalb aktiv zu bekämpfen sei; als Verfassung, welche allein die jeweils andere Seite und insbesondere die Organe der dahinsinkenden Republik binden konnte und sollte; als Verfassung, auf welche sich jede Seite allein dann berief, wenn ihre Normen im Einzelfall die eigene Position stärkten, verbunden mit der Behauptung, die jeweilige Gegenseite könne sich auf eben jene Verfassung nicht berufen. Auffällig war die Aufladung politischer und rechtlicher Diskurse mit Eigentlichkeitsargumenten: Das „wahre“ Volk, der „wahre“ Volkswille, aber auch die zunehmende Gleichsetzung von Legitimität und Legalität. Nur, was aus der Sicht der einzelnen Autoren und Gruppierungen als legitim angesehen wurde, galt noch als legal. Der sog. Legalitätskurs der NSDAP wandelte sich ein weiteres Mal und zeigte jetzt ganz offen: Als „legal“ sollte fortan gelten, was im Interesse der Bewegung und ihres Führers sei, z. B. die Immunitätsgarantie für nationalsozialistische Reichstagsabgeordnete,15 rechtsstaatliche Garantie für nationalsozialistische Angeklagte und Straftäter und das durch Verfassungsnormen offenbar unbeschränkte und unbeschränkbare Recht spä-
13 Überblick bei Christoph Gusy, Weimar – Die wehrlose Republik?, 1991. 14 So der Titel des Standardwerks von Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, 5. Aufl. 1984. 15 Joseph Goebbels, Der Angriff vom 28. 5. 1928. Überblick zum Thema bei Klaus Rüffler, Vom Münchener Landfriedensbruch bis zum Mord vom Potempa: Der Legalitätskurs der NSDAP, 1994. 60
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terer nationalsozialistischer Regimes, ganz legal „Köpfen rollen“ zu lassen.16 Dass das Reichsgericht (RG) solche Ausführungen Hitlers als Beweis für die Legalität seiner Pläne und seiner Partei ansah, zeigt, wie weit die Auflösung der Republik bereits fortgeschritten war. Und was die radikalen Gegner forderten, probierten Staatsorgane und Verwaltungen im Umfeld von Reichspräsident und Regierungen. Hier fanden sich immer weiter reichende Pläne einer Ausdehnung der Notstandsbefugnisse aus Art. 48 WRV einerseits und einer Zurückdrängung der noch verbliebenen Restbestände parlamentarischer Kontrollkompetenzen andererseits. Der Notstandsfall wurde ausgeweitet auf Fälle, in welchen politische Pläne von Regierungen und Exekutiven auf Hindernisse im parlamentarischen Bereich stießen oder zu stoßen drohten. Zugleich wurden die rechtlichen Wirkungen der Notstandsbefugnisse stetig erweitert. Nahezu jede Verfassungsnorm des Parlaments-, Gesetzgebungs- und Haushaltsrechts wurde auf ihre Notstandsfestigkeit überprüft und als nicht „diktaturfest“ eingestuft.17 Parlamentarische Kontrolle von Exekutiven erschien immer mehr Politikern, Regierungsmitgliedern und Autoren gleichbedeutend mit einer „Gefahr für die öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ (Art. 48 Abs. 2 S. 1 WRV), jedenfalls dann, wenn sie Regierungspläne ernsthaft zu stören oder zu verzögern geeignet waren.18 Dem sollte mit dem Mittel der Auflösung des Reichstags entgegengewirkt werden; und zwar auch dann, wenn das Parlament von seinen verfassungsrechtlichen Aufgaben Gebrauch machte. Und die Kaskade von Auflösungen, welche von weiteren Auflösungsplanungen und -drohungen begleitet war, hatte längst nicht mehr die Wiederherstellung eines funktionsfähigen Parlamentarismus zum Gegenstand. Im Gegenteil: Dass sie keinerlei verfassungsrechtlichen Grenzen unterstellt erschien und nahezu unlimitiert wiederholt werden konnte, ließ sie gleichsam zum Instrument einer Beseitigung von Parlament und Parlamentarismus erscheinen. Hieran fehlte nur noch ein Mosaikstein, nämlich die Suspension der 60-Tage-Frist für Neuwahlen nach einer Auflösungsentscheidung in Art. 25 S. 2 WRV. Für kurze Zeit mochte es erscheinen, als sei genau diese Fristenbestimmung die einzige Regelung der Verfassung, welche nach 1930 noch nicht leerlief. Pläne, sie mithilfe der positiv-rechtlichen Notstandsklauseln oder eines überpositiven Staatsnotrechts gleichfalls zu relativieren, gab es damals nicht nur im Umkreis von Carl Schmitt.19 Dieser war inzwischen zum Stichwortgeber von Reichskanzlern und 16 Zu Hitlers „Legalitätseid“ vor dem Reichsgericht und dessen eigenartiger Billigung seines „Legalitätskurses“ Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte VII, 1984, S. 688 f. 17 Gusy (Fn. 13), S. 66 ff. 18 Zum Ganzen jüngst Anna-Bettina Kaiser, Die Verantwortung der Staatsrechtslehre in Krisenzeiten – Art. 48 WRV im Spiegel der Staatsrechtslehrertagung und des Deutschen Juristentages 1924, in: Schröder u. a. (Hrsg.), Zur Aktualität der Weimarer Staatsrechtslehre, 2011, S. 119. 19 Zu solchen Plänen näher Stefan Korioth, Rettung der Demokratie – Die Weimarer Staatsrechtslehre im Verfassungsnotstand 1932/33, in: Gusy (Fn. 9), S. 505 (519 ff., 524 ff. (Nachw.)); s.a. Christoph Gusy, Selbstmord oder Tod? Die Verfassungsreformdiskussion 1930 – 1932, ZfP 1993, S. 393. Recht und Politik, Beiheft 3
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Reichswehr geworden. Die Verfassungskritik der mittleren Phase war also in das Zentrum der Macht eingerückt. Und die von anderen Autoren befürworten „Kampfregierungen“ gegen Parlament und Parteien waren spätestens 1932 Realität geworden.20 Daraus leitete sich je länger je mehr eine eigenartige Wirkung ab: Die Verfassungskritik erlahmte, weil die Verfassung fast keine Rolle mehr spielte. Dass der Staatsgerichtshof (StGH) im Oktober 193221 die geltende Verfassung zum obersten und alleinigen Maßstab erklärte, welche nicht durch überpositives Verfassungsrecht beiseitegeschoben werden dürfe, wirkte in diesem Zusammenhang schon fast wie ein Nekrolog. Denn gleichzeitig zog er der unbegrenzten Auslegung ihrer Notstandsklauseln keine wirksamen Schranken; ein Unterfangen, das unter den Bedingungen von Ende 1932 ohnehin kaum noch Verwirklichungschancen gehabt hätte. Die daraufhin einsetzende Rückkehr zur Legalität war keine zur Legalität der WRV, sondern zum Zustand ihrer inneren Erosion, Auflösung, Zerstörung. Wichtig an dieser Entwicklung ist: Der Prozess der Ignorierung, Relativierung und sukzessiven Beseitigung der Verfassung war nicht allein auf deren radikale Gegner22 begrenzt. Ceteris paribus geschah in Regierungen, Administrationen und der Staatsrechtswissenschaft – wie soeben am Beispiel des Art. 48 WRV gesehen – kaum Anderes. Und dies waren nicht nur diejenigen Organe, welche an die WRV gebunden waren. Es waren auch diejenigen Stellen des Staates und im Staat, denen Durchsetzung und Schutz der Verfassung anvertraut waren. Der Niedergang der Verfassungskritik fand also parallel zum Niedergang der Reichs- und Länderverfassungen statt. An Überforderungsthesen bestand also in der Republik kein Mangel. Ihre Grundmelodien lassen sich etwa so zusammenfassen: Die Weimarer Verfassung sei nicht in der Lage gewesen, die allgemeinen Zwecke von Staat und Verfassungen zu erfüllen. Die Frage nach jenen Zwecken wurde nicht aus der konkreten Konstitution selbst, sondern abstrakt, überzeitlich, „geisteswissenschaftlich“ formuliert. Dies eröffnete die Möglichkeit eines Vergleichs von Idee und Wirklichkeit; eines Vergleichs, welcher notwendig zulasten der Wirklichkeit gehen musste. Trotz der so beanspruchten höheren Wahrheiten blieb der Diskussionshorizont vergleichsweise limitiert: Ist der damals viel beklagte Niedergang der geistesgeschichtlichen Lage des Parlamentarismus jedenfalls 20 Dieter Grimm, Verfassungserfüllung – Verfassungsbewahrung – Verfassungsauflösung, in: Winkler (Hrsg.), Die deutsche Staatskrise 1930 – 1933, 1992, S. 183. 21 StGH, zit. nach Lammers/Simons (Hrsg.), Die Rechtsprechung des StGH für das Deutsche Reich, Bd. V, 1933, S. 30 (60 ff.), zum Preußenschlag. Zu Vorbedingungen, Umfeld und einzelnen Wirkungen Christoph Gusy, Ernst Rudolf Huber und die Staatsgerichtsbarkeit im Jahr 1932, in: Grothe (Hrsg.), Ernst Rudolf Huber, 2015, S. 147 ff. (Nachw.). 22 Die Frage, inwieweit dazu auch einzelne Theoretiker der politischen Linken zählten, welche über die geltende Verfassung hinaus dachten (expl. Otto Kirchheimer, Weimar – und was dann? [1930], in: ders. [Hrsg.], Politik und Verfassung, 1964, S. 9) und diese am ehesten als Vehikel auf dem Weg zu einer zukünftigen anderen Staatsordnung qualifizieren wollten, könnte weitere Untersuchungen rechtfertigen. Solche Auffassungen waren jedenfalls in den frühen dreißiger Jahren nicht identisch mit der verfassungspolitischen Haltung der SPD. Dazu der Überblick bei Jürgen Bast, Franz Neumann, Totalitärer Pluralismus, 1999, S. 9 ff. (Nachw.). 62
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historisch längst als Mythos erkannt,23 so galt Ähnliches für andere Versagensdiskussionen, welche Vorbelastungen der Republik aus Monarchie und Krieg ex post als Mängel der Republik ausgaben und ihr die zentrale Verantwortung für deren Entstehung oder Fortdauer anlasteten. Ganz gleichgültig, wo dann konkrete Mängel festgestellt wurden: In der Konfrontation von „wahr“ und „falsch“, „echt“ und „unecht“, „tatsächlich“ und „scheinbar“ fielen Wahrheitsbehauptung und Überlegenheitsanspruch notwendig zusammen. Doch waren solche Behauptungen und deren lautstarke, z. T. schrille und zugespitzte öffentliche Propagierung nicht die einzigen Elemente ihrer damaligen Überzeugungskraft. Hinzu kam ihre Untermauerung durch konkrete Beispiele aus der politischen Realität, namentlich die Skandalisierung von Missständen, tatsächlichen oder vermeintlichen Defiziten. Gewiss blieb die Republik in mancherlei Weise hinter ihren eigenen Regeln und Ansprüchen zurück. Im Kontext jener Kritik wirkte ein kaum je thematisierter Rückschluss vom konkreten Missstand auf dahinter stehende angebliche Mängel in der Verfassung prägend. Dadurch wurden politische Realität und Verfassung einfach in eins gesetzt. Jeder Skandal, jedes Defizit konnte plötzlich als Mangel der republikanischen Staatsform erscheinen; und zwar ohne Rücksicht darauf, ob die Verfassung dafür überhaupt irgendeine konkrete Ursache gesetzt hatte oder überhaupt irgendetwas zur Vermeidung des Skandals hätte beitragen können. Für die Gegner stand fest: Missstände in der Republik sind Missstände der Republik und ihrer Verfassung! Die Macht solcher Thesen war damals so stark, dass in der politischen und in der Verfassungsdiskussion kaum dagegen anzukommen war. Dabei ist zugleich zu betonen: Solche Verfassungskritik war auch damals keineswegs Allgemeingut. Entgegen mancher nachträglicher Behauptung war „Weimar“ keine Republik ohne Republikaner. Und es gab in ihr auch eine verfassungsloyale Staats (rechts)wissenschaft. Sie hat viel unternommen, um die historischen, theoretischen, politischen und rechtlichen Grundlagen der demokratischen Republik und ihrer Verfassung herauszuarbeiten. Zu denjenigen Großen, auf deren Schultern Staatslehre und Staatsrechtswissenschaft der Bundesrepublik lange standen und vielleicht noch stehen, zählen auch die großen Weimarer Republikaner und Demokraten. Doch gerieten sie je länger je mehr in die Minderheit und in die Defensive. Das Ende ihres Einflusses kam nicht, weil ihre Lehren falsch oder widerlegt waren; es kam, als die Gegenauffassung in den Vorhof der Macht gelangte und die dort maßgeblichen Positionen und Begriffe prägte.
23 So übrigens schon damals Thoma (1925); jetzt Richard Thoma, Zur Ideologie des Parlamentarismus und der Diktatur, in: Dreier (Hrsg.), Rechtsstaat – Demokratie – Grundrechte, 2008, S. 161; s.a. Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929, S. 26 ff. Recht und Politik, Beiheft 3
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II. Überforderungsthesen nach dem Ende der Weimarer Republik In der Frühzeit der Bundesrepublik lernte man die Weimarer Verfassung ganz überwiegend aus der Sicht ihrer (ehemaligen) Gegner kennen. Fast alle ihre früheren Anhänger waren inzwischen verstorben, im Exil oder nicht mehr aktiv.24 Und wer seinerzeit nicht an Verfassungsleben oder -diskussionen beteiligt gewesen war, kannte die Republik ganz überwiegend aus ihrer Niedergangsphase. Schon deshalb lag es nahe, dass in jener Frühzeit die „Lehren von Weimar“ ganz überwiegend negative waren: Als Vorbedingung des Gelingens der jungen Bundesrepublik wurde damals angesehen, dass das neue Grundgesetz die angeblichen Fehler der Vergangenheit vermeiden würde.25 Rückblicke und Geschichtsbilder tradierten neben den Niedergangsszenarien auch wesentliche Teile der Weimarer Verfassungskritik. Sie setzte sich nun in z. T. abgewandelter Form fort, ohne aber ihre Grundrichtung völlig zu verändern. Nach wie vor galt die frühere Verfassung als Normenwerk, welches nicht in der Lage gewesen sei, die Basiskonflikte und Herausforderungen ihrer Zeit in angemessene Staats- und Rechtsformen zu gießen und so eine Demokratie zu schaffen, welche einen Grundkonsens zwischen den Gruppierungen und Interessen hätte schaffen können. Solche Kritik hatte inzwischen ein zusätzliches Argument: Nämlich das Scheitern der Republik, welches in vorderer Linie als Scheitern ihrer Verfassung verstanden wurde. Eine Verfassung, die ungeachtet der hohen Pläne und der politischen Bemühungen ihrer Urheber nicht einmal 14 Jahre lang in Kraft blieb und zudem von der NS-Diktatur abgelöst wurde, konnte nur eine schlechte Verfassung sein. Ein weiteres Mal gingen so die Kritik am politischen Leben der Republik und ihrer Verfassung Hand in Hand. Und wenn eine Verfassung schon damit überfordert schien, ihre eigene Geltung zu erhalten und zu stabilisieren, wie viel weniger konnte sie dann in der Lage sein, andere und weitergehende Verfassungsziele zu verfolgen? Solche nachholende Verfassungskritik hatte Konjunktur. Mit der Zahl der historischen Untersuchungen stieg die Zahl der nunmehr ausgemachten Ursachen für das Scheitern
24 Ausnahmen waren Richard Thoma und Ernst Friesenhahn; zu deren Wirken (auch) in der frühen Bundesrepublik Kathrin Groh, Richard Thoma (1874 – 1957), in: Häberle u. a. (Hrsg.), Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts, 2015, S. 147; Horst Dreier, „Unbeirrt von allen Ideologien und Legenden“ – Notizen zu Leben und Werk von Richard Thoma, in: Dreier (Fn. 23), S. XIII ff., LX ff.; Hans Meyer, Ernst Friesenhahn (1901 – 1984), in: Häberle u. a. ebd., S. 593. Sehr aufschlussreich ist insoweit das Werk von Willibalt Apelt, Geschichte der WRV, 2. Aufl. 1964, dessen Autor als republikanischer Beamter selbst in der Republik gewirkt hatte. In seiner Darstellung spielten Mängel der Verfassung praktisch keine Rolle. Ähnliches gilt für die Darstellung von Arnold Brecht, Vorspiel zum Schweigen, 1948. 25 So das zentrale Rezeptionsnarrativ bei Friedrich Karl Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 2. Aufl. 1962. Zu weiteren Gründen des ganz überwiegend negativen Bildes von der Republik und ihrer Verfassung Gusy (Fn. 4), S. 465 ff.; zu Entstehung und Wandel der Weimar-Bilder Gusy (Hrsg.), Weimars lange Schatten, 2003. 64
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der Republik steil an und ging über Fragen von Recht und Verfassung weit hinaus.26 Aus nahezu allen sozialen, ökonomischen, politischen und rechtlichen Kontexten wurden nun teils hausgemachte, teils importierte Faktoren herausgestellt, welche in einen kausalen Zusammenhang mit dem Ende der Republik bzw. dem Aufstieg des Nationalsozialismus gestellt wurden.27 Solche Forschungen erlangten im Hinblick auf die Überforderungsthesen eine ambivalente Wirkung. Einerseits waren sie geeignet, die Bedeutung der Verfassung als Scheiternsursache zu kontextualisieren und damit in gewisser Weise zu relativieren. Die WRV erschien nicht mehr als primäre oder wichtigste Ursache für den Niedergang, sondern stand neben anderen Faktoren, welche gleichfalls in ähnliche Richtungen wirkten. Zugleich trat aber auch ein umgekehrter Effekt ein: Aus der sich rasch differenzierenden Sicht der Zeitgeschichte traten zahlreiche Faktoren in das Blickfeld, welche zuvor weniger beachtet worden waren, zugleich aber direkt oder indirekt auch für Verfassung und Verfassungsfragen Relevanz aufweisen konnten. So konnten neu entdeckte Ursachen zugleich neue Formen der Verfassungskritik eröffnen. Daraus entstanden jene Diskussionen, welche die WRV aus ganz entgegengesetzten Richtungen kritisch beleuchteten. War sie wirklich so wehrlos gewesen gegen ihre gefährlichsten politischen Gegner, wie es das Bundesverfassungsgericht früh behauptete,28 oder war es umgekehrt ein Übermaß an bzw. ein Missbrauch des damaligen Notstandsrechts, welches das Ende der Republik jedenfalls beschleunigt hatte? Scheiterte die Republik an ihrem Verhältniswahlrecht oder wäre sie an einem Mehrheitswahlrecht noch früher gescheitert? War es ein Übermaß an Parlamentarismus, welches die Reichsregierungen schwächte, oder umgekehrt Defizite des hinkenden „Semi-Parlamentarismus“ (R. Thoma) der Republik, welche die Stabilität der Republik minderten,29 im nur wenige hundert Meter entfernten Preußischen Abgeordnetenhaus hingegen ein stabiles parlamentarisches System hervorbrachten? Und wenn kontrovers blieb, ob Hindenburg oder Brüning mögliche Retter oder aber Totengräber der Republik und ihrer Verfassung gewesen waren,30 so lenkte dies stets auch den Blick auf die institutionellen und damit konstitutionellen Rahmenbedingungen ihrer Ämter. Warum konnten sie sich im Rahmen der damaligen Verfassung so verhalten, wie sie sich verhielten; und wäre es möglich gewesen, mithilfe von Verfas26 Überblick bei Hagen Schulze, Scheitern der Weimarer Republik als Problem der Forschung, in: Erdmann/Schulze (Hrsg.), Weimar – Selbstpreisgabe einer Demokratie. Eine Bilanz heute, 1980, S. 23. 27 Auffällig war in diesem Zusammenhang allerdings das weitgehende Ausblenden komparatistischer Untersuchungen zu jener großen Zahl von Staaten, in welchen in der Zwischenkriegszeit vergleichbare Entwicklungen stattgefunden hatten. Mit einer leicht ironischen Tönung ließe sich sagen: Der deutsche Sonderweg wurde nicht erst jetzt entdeckt; er fing eigentlich in dieser Zeit erst an. 28 BVerfGE 5, 85 (138). 29 Auf die Rolle des Reichspräsidenten in der Republik – und damit im Unterschied zu Preußen, wo ein derartiges Amt fehlte – hat Winkler (Fn. 3), S. 306 ff., hingewiesen. 30 Sehr kritisch zu Rolle und Einstellung Hindenburgs jüngst Wolfram Pyta, Hindenburg, 2007. Recht und Politik, Beiheft 3
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sungsrecht ihr Handeln in eine andere Bahn zu lenken? Für den Rückblick auf die WRV bedeutete dies: Die Verfassungskritik wuchs über ihre tradierten Ursprünge hinaus und differenzierte sich dabei weiter aus. Und es blieb lange dabei: Die WRV galt als Meilenstein auf dem Weg aus der Republik und in die NS-Diktatur hinein. Zugleich wirkte die nun widersprüchliche Kritik als Herausforderung an tiefer schürfende Ursachenanalysen. Und sie eröffnete eine neue Runde in der Diskussion um die Frage: Welchen Beitrag können Recht und Verfassung zur Stabilisierung der von ihnen verfassten Staatsform überhaupt leisten? Ist deren Fortdauer zentral eine Rechts- oder eine außerrechtliche Frage? Und wie verhalten sich dazu Verfassungsrecht und Verfassungsanwendung? Die damit einhergehende Differenzierung der Fragstellungen eröffnete die Chance auf neue, weiter differenzierende Antworten. Doch verschwanden die alten Überforderungsdiskussionen dadurch nicht; im Gegenteil: Sie wurden partiell weiter verfolgt und sogar noch radikalisiert. Es sei nicht allein die Verfassung gewesen, welche damals überfordert gewesen sei; sie habe vielmehr selbst zu denjenigen Faktoren gezählt, welche den Staat überfordert hätten.31 Denn die WRV habe auf die spezifischen Bedürfnisse und Herausforderungen der Zeit zu wenig Rücksicht genommen. Sie habe eine Normalität von Staatlichkeit vorausgesetzt, welche im Jahre 1919 und danach so nicht bestanden hätte. In Relation zu den Anforderungen habe sie wie eine „Schönwetterverfassung“ gewirkt, welche für gute Zeiten konzipiert gewesen sei und in solchen Zeiten gute Wirkungen hätte hervorbringen können.32 Doch seien die Zeiten nicht gut gewesen. Und damit habe die WRV ihren Gegenstand verfehlt, das staatliche Leben in diejenigen Formen zu gießen, welche unter den konkreten historischen Bedingungen angemessen gewesen wären. Nun konnte es auf konkrete Mängel der Verfassung gar nicht mehr ankommen. Die Weimarer Verfassung erschien insgesamt als falsche Verfassung zur falschen Zeit. Ähnliche Untertöne hatte es auch vor 1933 schon gegeben. Jetzt konnte es nur noch sekundär darauf ankommen, ob ihr insgesamt oder im Detail konkrete Mängel nachgewiesen werden konnten. Und ebenso wenig relevant erschien die Frage, ob es für jene Zeit eine angemessene Verfassung hätte geben können. Und auch die Frage nach den Kriterien für eine solche Angemessenheit bzw. Unangemessenheit ließ sich ex post allenfalls hypothetisch beantworten, da sie damals geltende und angewandte Normen mit fiktiven anderen, damals eben nicht geltenden und angewandten Normen hätte vergleichen müssen. Angesichts des inzwischen erreichten differenzierten Standes der Ursachenforschung für das Ende von Weimar mit ihren zahlreichen, bisweilen widersprüchlichen Ursachendiagnosen erschien dies als kaum mögliches Unterfangen. Als wohl einziges klar ausmachbares Kriterium für die Ungeeignetheit der WRV blieb dann die Tatsache des Scheiterns der Republik: Die WRV erschien als fehlgeschlagene Verfassung einer fehlge31 Zum Folgenden namentlich Gerd Roellecke, Konstruktionsfehler der Weimarer Verfassung, DSt 35 (1996), S. 599 (602 ff.), der die dargestellten Befunde teils zusammenstellt, teils fortschreibt. Krit. zu solchen Diagnosen zutr. Horst Dreier, Rechtskolumne, Merkur 2009, S. 1151. 32 Solche Diagnosen gingen bisweilen einher mit der Feststellung, in guten Zeiten sei der Bedarf nach Verfassungen und Verfassungsrecht geringer als in schlechten Zeiten. 66
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schlagenen Republik. Dabei wurde die Kausalität von der Verfassungsordnung hin zum von ihr verfassten Staat gesehen.
III. Wirkungsbedingungen und -grenzen der Verfassung in der Weimarer Republik Inzwischen sind die langen Schatten der untergehenden Republik33 ihrerseits historisiert. Vor dem Hintergrund des aktuellen Forschungsstandes lohnt sich ihre erneute Befragung. Denn neben den umstrittenen Einzelfragen hinsichtlich möglicher Scheiternsursachen ist auch die Kausalitätsfrage bislang wenig gestellt, geschweige denn beantwortet. Scheiterte die Republik, weil ihre Verfassung scheiterte? Oder war es vielleicht umgekehrt, dass die Verfassung scheiterte, weil die Republik am Ende war? Denn die demokratische Republik war mehr als die Summe ihrer Verfassungsnormen. Und deshalb konnte auch ihr Misslingen nicht allein aus Verfassungsfragen, sondern auch aus anderen Bedingungen resultieren. Und in ein solches Misslingen konnte dann die Verfassung hineingezogen werden. Aus einer derartigen Sichtweise würde also die Auflösung der WRV nicht zu den Scheiternsursachen, sondern zu den Folgen des Scheiterns ihrer Republik zählen. Es lohnt sich, diesem Gedanken nachzugehen. 1. Weimar als Verfassungslaboratorium Zur Verfassunggebung der Republik hat sich u. a. der Begriff des „Verfassungslaboratoriums“ etabliert.34 Die Terminologie geht davon aus, dass in der Nationalversammlung wie auch in der von ihr geschaffenen WRV neuartige grund- und organisationsrechtliche Konzepte diskutiert und ausprobiert wurden; Konzepte, welche kaum auf etablierte Vorbilder zurückgreifen konnten und zudem für die Zukunft erhebliche Folgewirkungen zeitigen sollten. Für eine solche These spricht Vieles. Zu zahlreichen Rechtsfragen der neuen Verfassung wurden Gestaltungsideen aus Geschichte und Gegenwart, In- und Ausland, Theorie und Praxis eingebracht, erwogen und zueinander in Beziehung gesetzt. Dies geschah in anspruchsvoller Weise und erstaunlich zukunftsoffen: Was in EU-Verfassungsdiskussionen und deutschen Verfassungsreformdiskussionen bis in die jüngste Zeit thematisiert wurde und wird wie etwa Ausbau direktdemokratischer Elemente, Stärkung von Kontrollrechten, politische Partizipationsund soziale Grundrechte: Das meiste davon war schon in der Nationalversammlung diskutiert und in der WRV teils mehr, teils weniger explizit angelegt. Die damaligen Debatten griffen weit in die Vergangenheit zurück und in die Zukunft aus. Das „Verfassungslaboratorium Weimar“ brachte ein differenziertes Normenwerk hervor, das in seiner 33 Hans Mommsen, Der lange Schatten der untergehenden Republik. Zur Kontinuität politischer Denkhaltungen von der späten Weimarer zur frühen Bundesrepublik, in: Bracher/Funke/ Jacobsen (Hrsg.), Die Weimarer Republik 1918 – 1933, 1987, S. 552; Sebastian Ullrich, Der Weimar-Komplex, 2009. 34 Walter Pauly, Grundrechtslaboratorium Weimar, 2004, S. 25, allerdings ohne nähere Begriffsklärung. Recht und Politik, Beiheft 3
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Zielrichtung und seinen Wirkungsweisen aber nicht einfach „fertig“ war, sondern der Republik und ihren Organen teils vor-, zu einem noch größeren Teil aufgegeben war. Jenes Weimarer Verfassungslaboratorium blieb nicht allein. Die Nachkriegszeit war eine große Zeit der Verfassunggebung.35 Zeitgleich wurde in zahlreichen europäischen Staaten wie auch in den deutschen Ländern die eigene rechtliche Grundordnung zum Gegenstand teils von Neuschöpfungen, teils von erheblichen Revisionen älterer Konstitutionen genommen. Dabei entstanden unterschiedliche Ausgestaltungen: Monarchien standen neben Republiken, eher präsidiale neben eher parlamentarischen Ordnungen, unterschiedliche Wahlsysteme, differenzierte Grundrechtsgarantien, ansatzweise auch schon erste Versuche einer Verfassungsgerichtsbarkeit und damit die Idee einer Juridifizierung von Verfassungsrecht und Verfassungsdurchsetzung.36 Maßgebend dafür waren ganz unterschiedliche Rechts- und politische Traditionen, heterogene Erwartungen an und Zielvorstellungen für Verfassungen, Erfahrungen mit früheren, z. T. andersartigen Grundordnungen sowie konkrete Machtlagen einschließlich divergierender Einschätzungen der Bedürfnisse nach ihrer Legitimation, Organisation und Begrenzung. Der Heterogenität der Verfassungskonzepte korrespondierte eine Vielfalt an Ausgestaltungsvarianten im Detail, welche sich allenfalls ansatzweise auf vergleichbare Grundkonzepte zurückführen ließen. Und der Pluralität an Verfassungsnormen entsprach eine noch größere Vielfalt der gesetzlichen Ausgestaltungen, administrativen Umsetzungen und rechtswissenschaftlichen Auslegungen.37 Die große Verfassungsbewegung der Zeit bezog sich also eher auf das „Ob“ als auf das „Wie“ der neuen Konstitutionen. Und schon wegen der zeitlichen Parallelität der Entwicklungen in den Staaten war die Möglichkeit eines wechselseitigen Lernens erheblich eingeschränkt. Die vielen Verfassungslaboratorien brachten vielfältige Verfassungen hervor. Durchaus vergleichbarer war dagegen deren späteres Schicksal: 14 von ihnen scheiterten in der Zeit zwischen 1920 und 1938 rechtlich oder jedenfalls faktisch. Wo dies geschah, wurden regelmäßig demokratische Ordnungen durch autoritäre Diktaturen abgelöst. Diese standen (bei aller Unterschiedlichkeit im Übrigen) politisch auf der rechten Seite. Fast genauso verbreitet wie die Verfassungsbewegung der Nachkriegszeit war demnach die Verfassungskrise der Zwischenkriegszeit. Dies lädt zu vergleichenden Ursachen-, Ent35 Näher Gusy (Hrsg.), Demokratie in der Krise – Europa in der Zwischenkriegszeit, 2008, S. 15 ff. 36 Zum Weimarer StGH als Verfassungsgericht Horst Dreier, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Weimarer Republik, in: Simon u. a. (Hrsg.), Schutz der Verfassung: Normen, Institutionen, Höchst- und Verfassungsgerichte, Der Staat, Beiheft 22 (2014), S. 318. 37 Viel diskutiertes Beispiel waren seinerzeit Wahlrechtsfragen und die ganz heterogenen Konzepte von Verhältniswahlen. Schon seinerzeit wurde festgehalten, dass es eben nicht „die“ Verhältniswahl, sondern ganz unterschiedliche Modelle ihrer Ausgestaltung und Anwendung gab, und das bei Gleichheit der vorausgesetzten Zähl- und Rechenarten. Dazu schon in der Republik Hermann Heller (1929), Die Gleichheit in der Verhältniswahl nach der Weimarer Verfassung, in: Drath/Stammer u. a. (Hrsg.), Hermann Heller: Gesammelte Schriften, Bd. II, 1971, S. 319. 68
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wicklungs- und Folgeforschungen ein.38 Und tatsächlich scheint es neben je spezifischen nationalen Besonderheiten ansatzweise vergleichbare Deutungsmuster zu geben. Hier kamen mindestens drei Faktoren zusammen: (1) Als besonders krisenanfällig erwiesen sich Verfassungen junger Staaten, die eben neu gegründet, unabhängig geworden oder erhebliche Verschiebungen hinsichtlich ihrer Bevölkerung und ihres Gebiets erlebt hatten. (2) Dies galt namentlich dann, wenn diese jungen Staaten in der Vergangenheit keine, keine hinreichend ausgebauten oder keine eigenständigen demokratischen Ordnungen und Erfahrungen aufwiesen und so deren Konfliktwahrnehmungs-, -verarbeitungsund -lösungspotential einschließlich seiner Leistungsbedingungen und -grenzen noch nicht selbst hinreichend erprobt, erlebt und erfahren hatten. Die Gleichzeitigkeit von Souveränitätserlangung und Selbstbegründung als Staat, als Verfassungsstaat und als Demokratie scheint in der damaligen Zeit als Überforderung gewirkt zu haben. (3) Der Keim des Scheiterns war dabei insbesondere in solchen neuen Staaten gelegt, welche sich als Verlierer des Kriegs oder der Pariser Friedensverträge sahen; und zwar namentlich dann, wenn die neue staatliche Ordnung von ihren Gegnern in irgendeinen Zusammenhang mit Kriegsausgang und Friedensvertrag gerückt werden konnte. Ob ein solcher Zusammenhang tatsächlich bestand oder aber lediglich behauptet wurde, war für jenes Scheitern nahezu bedeutungslos. Fest steht jedenfalls: In nahezu allen europäischen Staaten, die bei Kriegsende auf der Verliererseite standen und in der Folgezeit demokratische Verfassungen erhielten, scheiterten diese Ordnungen bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs.39 Für unseren Diskussionszusammenhang kann daraus hergeleitet werden: Die (verfassungs‐)historische Komparatistik kann starke Hinweise dafür liefern, dass die Ursachen 38 Wichtig Andreas Wirsching, Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie, 2007. 39 Ebenso interessant wie in diesem Zusammenhang war demgegenüber die Ausnahme, nämlich die Tschechoslowakei, welche eigener Erforschung bedürfte; s. etwa Freia Anders, Verfassungswirklichkeit und Verfassungskritik in der Ersten Tschechoslowakischen Republik, in: Gusy (Fn. 35), S. 229 ff. Umgekehrt fällt die bemerkenswerte Instabilität der französischen Republik auf, welche über (allerdings ebenfalls krisenanfällige) republikanisch-demokratische Verfassungstraditionen verfügte, bei Kriegsende nicht auf der Verliererseite gestanden hatte und sich als eine Siegerin der Pariser Verträge verstehen konnte. s. näher Christoph Schönberger, Die Krise der parlamentarischen Demokratie in der Zwischenkriegszeit: Französische Dritte Republik und Weimarer Republik im Vergleich, in: Gusy, ebd., S. 263. Zur französischen Verfassungsentwicklung Thomas Raithel, Krise und Stabilisierung des Parlamentarismus in Frankreich 1918 – 1926, in: Wirsching (Fn. 38), S. 87; Thomas Nicklas, Konstitutionelle Metamorphosen. Verfassungsänderung und Systemstabilisierung in den fünf französischen Republiken, in: Neuhaus (Hrsg.), Verfassungsänderungen, 2012, S. 225; s.a. Jörn Leonhard, Die Grammatik der Gesellschaft: Perspektiven der Verfassungsgeschichten Frankreichs und Großbritanniens seit dem 19. Jahrhundert, in: Neuhaus (Hrsg.), Verfassungsgeschichte in Europa, 2010, S. 49. Reiches Anschauungsmaterial bei Andreas Wirsching, Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg?, 1999; Thomas Raithel, Das schwierige Spiel des Parlamentarismus, 2005. Recht und Politik, Beiheft 3
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für den Untergang zahlreicher europäischer Demokratien tiefer lagen als in den einzelnen nationalen Verfassungen und ihren konkreten Ausgestaltungen. Gleichgültig ob das Staatsoberhaupt etwas stärker oder schwächer, das Parlament etwas stabiler oder instabiler, die Grundordnungen etwas zentralistischer oder föderalistischer bzw. das Selbstschutzrecht der neuen Ordnungen etwas militärischer oder etwas ziviler ausgestaltet war: Allzu viele neue Verfassungen waren nicht in der Lage, sich selbst und die von ihnen errichtete politische Grundordnung zu stabilisieren. Die Wahl der einen oder anderen Rechtsform oder Regelungsinstrumente hatte auf das Ob des Scheiterns keinen maßgeblichen Einfluss, eher vielleicht noch auf das Wann und Wie. Zentrale Ursachen für das Ende junger Demokratien lagen nicht in ihren jeweiligen Verfassungen, sondern lagen diesen voraus. Sie konnten sich jeweils länderspezifisch auswirken und hier unterschiedliche politische Einwirkungsformen gebrauchen oder missbrauchen. Aber dass die Gegner der Demokratie vorhanden waren, dass sie so stark wurden und überhaupt die Gelegenheit erhielten, durch Nutzung rechtlicher oder pararechtlicher Instrumente die jeweiligen Staatsformen zu stürzen: Alles dies waren Erscheinungen, welche nicht durch die einzelnen Verfassungen hervorgebracht worden waren und auch nicht aus bestimmten Mängeln ihrer Ausgestaltung zu begründen sind.40 Von daher führt die Suche nach den Ursachen für das Scheitern der Republik nur begrenzt weiter, wenn dafür wesentlich auf einzelne Verfassungsnormen, deren rechtstechnische Ausgestaltung und ihre (fehlende) Absicherung gegen mögliche Umgehungen oder Missbräuche abgestellt wird. Gewiss: Solche rechtlichen Details mögen Wege und Formen des Niedergangs begünstigt haben; sie können ihn mehr oder weniger beschleunigt oder retardiert haben. Doch spricht viel dafür: Wenn in den betroffenen Verfassungen im Detail andere Regelungen getroffen worden wären, wären die jungen Staatsordnungen dennoch gescheitert, nur eben unter Instrumentalisierung oder Umfunktionierung anderer Wege und Regeln. Daraus folgt umgekehrt nicht, die Bedeutung der Verfassungen für das Ende der Demokratien vollständig zu negieren. Wohl niemand hat je behauptet, jenes Ende wäre ausschließlich und allein auf die Verfassungen und ihre möglichen Mängel zurückzuführen. Jedoch kann ein vergleichender Blick helfen, die Bedeutung der Verfassungen in den jeweiligen Niedergangsszenarien realistischer einzuschätzen.41 Zugleich stellt sich damit die Frage nach der möglichen Reichweite von Verfassungsrecht im Kampf um die Demokratie und gegen ihre Feinde. 40 Solche Fragen könnten aber nicht nur auf die Weimarer Republik, sondern auch auf die späteren Verfassungen in den jeweiligen Staaten gestellt werden. Dies könnte auch einen gewandelten Blick auf die Diskussion darüber werfen, ob die Stabilität der demokratischen Ordnung der Bundesrepublik eine zentrale Leistung des Grundgesetzes war oder aber sich das Grundgesetz aus anderen, verfassungsrechtsneutralen Gründen als stabil erwies. Solche Fragen stellen nicht das Grundgesetz als Erfolgsmodell, wohl aber die Gründe für diesen Erfolg auf den Prüfstand. 41 Und kaum etwas spricht dafür, dass auch eine andere Ausgestaltung ihrer Einzelregelungen gerade den Aufstieg der Nationalsozialisten sowie deren Sieg im Kampf um die Macht nicht hätte verhindern können. Genau dies – der Kontext vom Ende der Republik und ihrer Ablösung eben durch die Nationalsozialisten und nicht durch andere alternative Gruppierungen 70
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2. Die WRV im Verfassungslaboratorium Im Verfassungslaboratorium von Weimar war die Verfassunggebung in besonders hohem Maße experimentell, weil die staatsrechtliche Situation mit dem Ende der Monarchie in Deutschland und Preußen ebenso neu wie überraschend aufgetreten war. Für einen solchen Fall hatten aus früherer Zeit keine Pläne vorgelegen. Verfassungsreformpläne aus Kaiser- und Weltkriegszeit gingen sämtlich vom Fortbestand des Kaiserreichs und des Kaisertums aus. Als dieser politische Fixpunkt der Verfassungsdebatten plötzlich wegfiel, gab es hierfür keine elaborierten Planungen. Ältere Reformpläne verloren ihre Anwendbarkeit, neuere und darüber hinausdenkende mussten improvisieren.42 Ein einigermaßen stabilisierter Erkenntnis- und Diskussionsstand hierzu war nicht auffindbar. Die Vorarbeiten für die Verhandlungen der Nationalversammlung waren so wesentlich ein Lernprozess.43 In der Rückschau lässt sich festhalten: Dieser ist der Weimarer Konstituante gut gelungen. Die WRV war eine Verfassung aus einem Guss. Sie stand in vollem Umfang auf der Höhe der zeitgenössischen Verfassungsdebatten im Inland und im Ausland. Die Verfassungsdebatten im Verfassungsausschuss44 und im Plenum waren von großem Ernst, hohem Engagement und einer bemerkenswerten Sachkompetenz geprägt. Und die WRV war – manchmal in einer etwas traditionalistisch, manchmal fast manieriert anmutenden Sprache – rhetorisch stark. Die Widrigkeiten der Nachkriegszeit, Zeitdruck und hohe Beanspruchung der Nationalversammlung mit anderen Aufgaben als der Verfassunggebung schlagen sich in ihr nicht nieder.45 Was lässt sich daraus für unsere Fragestellung nach einer möglichen Überforderung der Verfassung herleiten? Die WRV war keine normative Fixierung einer politischen Richtung oder eines vorhandenen Verfassungskonzepts. Vielmehr war sie inhaltlich auf Zusammenführung ganz unterschiedlicher verfassungspolitischer Strömungen angelegt. Die
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oder Regime – beschreibt dasjenige, was von der Diskussion um den Deutschen Sonderweg übrig geblieben ist. Dazu Hans Boldt, Deutschland: Ein europäischer „Sonderfall“?, in: Gusy (Fn. 35), S. 354 (358 ff.) (Nachw.). Zu den Verfassungsplänen der unmittelbaren Nachkriegszeit Karin Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung, 2009. Zur Improvisation Theodor Eschenburg, Die improvisierte Demokratie, 1963. Dies lässt sich bereits am raschen Wandel der Entwürfe von Hugo Preuß studieren. Dazu Gusy (Fn. 4), S. 69 ff. Diese wurden dann nicht einfach verabschiedet, sondern von der Nationalversammlung selbst in vielen Teilen fortentwickelt. Der Lernprozess setzte sich also nach der Entwurfsphase fort. Zur Arbeit der Nationalversammlung fehlt bislang eine grundlegende Untersuchung. Zwischenstand bei Gerhard Lingelbach, Verfassungsgebung 1919 in Weimar, in: Eichenhofer (Hrsg.), 80 Jahre WRV – Was ist geblieben?, 1999, S. 23. Zu den Entwürfen noch Jasper Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß’ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar, 1991; Heiko Bollmeyer, Der steinige Weg zur Demokratie, 2007. Zu dessen Arbeit Karsten Bendix, Die Arbeit des Verfassungsausschusses, 2002. Gusy (Fn. 4), S. 78 ff.
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Eigenheit der Mehrheits-, Kompromiss- und Konsensbildung in der Nationalversammlung brachte es mit sich, dass sie Elemente verschiedener Strömungen integrierte und schon Zeitgenossen, erst recht aber der Nachwelt, als hochgradig kompromisshaft erschien. Dies hat ihre Akzeptanz bei den Abgeordneten partiell beeinträchtigt.46 Gegen manche Kritik ist hier gleich festzuhalten: Kompromisshaftigkeit ist in einer pluralistischen Demokratie nicht notwendigerweise ein Mangel, sondern vielfach unentbehrlicher Modus von Konsensfindung, Mehrheitsbildung und -erhaltung. Dass ein parlamentarisch beschlossenes Normenwerk einen Kompromiss darstellt, ist in der Demokratie kein Fremdkörper, sondern deren Lebenselixier. Die Aversion mancher zeitgenössischer Kritiker gegen Kompromisse und Kompromisshaftigkeit gingen denn auch regelmäßig von Demokratiekonzepten aus, denen Pluralismus, Mehrheitssuche durch Akzeptanzsuche und Konsensbildung eher fremd waren.47 Kompromisshaftigkeit allein macht jedenfalls unter den Bedingungen pluralistischer Demokratie ein Normenwerk nicht schlecht. Vielmehr muss eine derartige Qualifikation von anderen Kriterien als den Instrumenten der Mehrheitsfindung ausgehen. Ob ein Kompromiss gut oder schlecht ist, hängt dann entweder von inhaltlichen Kriterien oder davon ab, ob das Ergebnis die an es gerichteten Erwartungen erfüllen konnte oder nicht. Solche Erwartungen können von inhaltlichen Fragen durchaus unabhängig sein und sich etwa darauf beziehen, ob der Kompromiss Widerstände abbauen, die Akzeptanz Betroffener fördern oder jedenfalls eine Desintegration von Minderheiten verhindern konnte. Ganz in diesem Sinne war die WRV inhaltlich auf Inklusion heterogener Richtungen angelegt; eine Ausgestaltung, welche über die Konstituante hinauswirkte und auch später ganz unterschiedlichen Richtungen die Möglichkeit bot, sich auf ihren Boden zu stellen. Von diesem Angebot haben einzelne Opponenten Gebrauch gemacht, andere hingegen haben dies stets abgelehnt, wieder andere haben es zeitweise angenommen und zu anderen Zeiten verworfen. Ein zentrales Element jenes Angebots war ein vergleichsweise hohes Maß an inhaltlicher Offenheit der WRV. Einerseits enthielt sie wichtige Grundentscheidungen, die zwingend vorgegeben waren und hinsichtlich ihrer Abänderbarkeit bzw. Abschaffbarkeit hohe Hürden aufbauten (Art. 76 WRV).48 Zugleich war sie aber in zentralen Teilen 46 Daraus resultierte wohl auch die später viel thematisierte, vergleichsweise geringe Zustimmungsquote in der Schlussabstimmung; dazu Gusy (Fn. 4), S.77. 47 Wer den einheitlichen Volkswillen voraussetzt, braucht diese Mechanismen nicht und kann für die Betätigung jenes Volkswillens auf derartige Hilfsmittel verzichten. Dies war jedoch nicht das Demokratiekonzept der WRV. Näher Richard Thoma, Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der WRV, Bd. 1, 1929, S. 1 (8 ff., 12 ff.); ders., Erinnerungsgabe für Max Weber, Bd. 2, 1923, S. 39 ff. u. ö. (auch ders. [1923], Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff. Prolegomena zu einer Analyse des demokratischen Staates der Gegenwart, in: Dreier [Fn. 23], S. 91). 48 Zur Verfassungsänderung nach der WRV Christoph Gusy, Demokratische Verfassungsänderungen – Selbstschutz oder Selbstpreisgabe der Verfassung?, in: Neuhaus (Hrsg.), Verfassungsänderungen, 2012, S. 159; ders., Die Änderung der Weimarer Reichsverfassung, ZNR 1996, S. 44. 72
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offen für Ausgestaltungen, welche dem demokratischen Prozess aufgegeben waren. Jener Prozess, den die WRV eröffnete und organisierte, sollte zugleich wichtige Verfassungsentscheidungen ausgestalten, fortentwickeln und dadurch den Verhältnissen der Zeit anpassen. Das stark legitimationsorientierte Konzept der demokratischen Republik war so hinsichtlich seiner Gegenstände und Inhalte nicht allein Vorgabe, sondern auch Aufgabe. Dafür sprachen zahlreiche Aspekte. Zu Beginn war die neue Verfassung ein bloßer Text, dessen Auslegung und Anwendung noch wenig präjudiziert war. Wo jener Text an überkommene Formulierungen der deutschen Verfassungstradition anknüpfte, standen seine Formeln doch in z. T. erheblich gewandelten verfassungsrechtlichen Kontexten. Ob etwa die Vorschriften über Reichstag und Reichsregierung trotz zahlreicher Anleihen an ältere Konstitutionen unter den nunmehr neuen Bedingungen der demokratischen Republik den alten oder einen neuen Bedeutungsgehalt erlangen könnten, war keineswegs sicher und auch nicht sicher prognostizierbar. Tatsächlich traten in der Folgezeit eine eher an Kontinuität orientierte Praxis und manche eher auf Neuerung ausgerichtete Rechtswissenschaft partiell erheblich auseinander. Neben die Interpretationsoffenheit trat die Ausgestaltungsoffenheit der WRV. Der Prozess, den die Verfassung ausgestaltete, war umgekehrt in weitem Umfang in der Lage, seine eigenen Vorgaben auszugestalten und so auf seine normativen Grundlagen aus der Verfassung zurückzuwirken. Offen waren aber nicht allein vielerlei Fragen von Verfassungsverständnis und seiner Konkretisierung, sondern auch zahlreiche materiellrechtliche Vorentscheidungen der WRV. Viele wichtige Fragen, namentlich aus dem Zweiten Hauptteil, waren zwar thematisiert und leitbildhaft vorgegeben. Doch die zahlreichen Gesetzgebungsaufträge und Gesetzesvorbehalte zeigten auch hier deutlich an: Die WRV war auf Ergänzung, Ausgestaltung und Fortentwicklung durch den demokratischen Gesetzgeber angelegt. Hier lag der zentrale Auftrag zur Verfassungsentwicklung. Der demokratische Verfassunggeber vertraute auf denjenigen Prozess, der ihn selbst hervorgebracht hatte und den er in Art. 1 Abs. 2 WRV für die Republik vorgab: Nämlich die demokratische Rechtssetzung als Ort, Instrument und Verfahren der Ausgestaltung der Vorgaben aus der Verfassung. In dieser Arbeitsteilung aus Vorgaben der WRV und Aufgaben für den Gesetzgeber lag ein spezifischer Zug gerade des Weimarer Verfassungskonzepts. Die Nationalversammlung konnte so Wege vorzeichnen und vorgeben, die sodann vom demokratischen Gesetzgeber gegangen werden sollten. Darin musste gerade aus der Sicht mancher ex-post-Kritiker, welche wirtschaftliche und soziale Grundrechte als prinzipiell verfassungsungeeignet ansahen,49 eigentlich eine weise Selbstbeschränkung der Nationalversammlung gesehen werden: Sie wusste um ihre begrenzten Wirkungsmöglichkeiten in einer sozial und ökonomisch ebenso wechselhaften wie unsicheren Zukunft und beschränkte sich daher auf jene Grundzüge, welche die Legislative zum Handeln verpflichteten, ohne ihnen aber zweckwidrige verfassungsrechtliche Grenzen zu ziehen. Beide Elemente – verfassungsrechtliche Rahmenvorgaben einerseits bei gleichzeitiger Selbstbeschränkung der 49 Roellecke (Fn. 31), S. 612 f. Dagegen etwa Dieter Grimm, Die Bedeutung der WRV in der deutschen Verfassungsgeschichte, 2. Aufl. 1992. Recht und Politik, Beiheft 3
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Verfassung im Detail – machten gemeinsam das damalige Verfassungskonzept aus. Beide rechtssetzenden demokratischen Instanzen waren also auf Ergänzung, Kooperation und Fortschreibung angelegt. Und von jenen Aufträgen hat die Nationalversammlung als Gesetzgeber auch einigen Gebrauch gemacht. Dass später jene Arbeitsteilung gestört war, weil die Weimarer Koalition schon 1920 im Reichstag die Mehrheit einbüßte, lag nicht an der Verfassung, sondern am Wählerwillen, der wiederum in der Demokratie frei und nicht verfassungsrechtlich regulierbar oder kontrollierbar sein sollte. Es waren die zahlreichen Defizite bei der Ausgestaltung und Umsetzung,50 welche den Grundrechtsteil der Verfassung manchen Betrachtern als blass und eher schwächer gelungen erscheinen ließen.51 An der WRV selbst und an ihrem konkreten Inhalt lag das jedenfalls nicht. Die Verfassung der ersten deutschen Republik war in hohem Maße sowohl interpretationsoffen als auch ausgestaltungsoffen.52 Zu dieser Ausgestaltung war in allererster Linie die Gesetzgebung berufen, wie bereits die zahlreichen Gesetzgebungsaufträge und Gesetzesvorbehalte im Verfassungstext zeigten. Hinter ihm blieb der Auftrag zur Verfassungskonkretisierung durch die Justiz zurück. Dabei stellten die Schaffung des StGH sowie paralleler Instanzen in zahlreichen Ländern53 und die ihm – und nicht mehr wie zuvor Regierungsinstanzen – zugewiesenen Aufgaben der Verfassungsrechtsprechung bereits eine wesentliche Kompetenzverschiebung in Richtung justizieller Verfassungskonkretisierung und -durchsetzung dar. Namentlich unter der Geltung der RV 1871 war Rechtsprechung in Verfassungsfragen allenfalls als Vorfrage oder Annexaufgabe anderer Rechtsprechungsorgane erschienen. Verfassungsfragen waren im Reich Regierungsangelegenheiten gewesen. Insoweit stellten Schaffung, Aufgaben und Entscheidungspraxis des StGH den entscheidenden Schritt zur Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland dar.54 Noch weiter im Sinne einer justiziellen Verfassungsdurchsetzung war damals nur Österreich gegangen.55 Der Schritt zur Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland war also weitreichend und zurückhaltend zugleich: Die Begrenzung der Antragsmöglich50 Zu dadurch bewirkten Verschiebungen am Weimarer Grundrechtskonzept Gusy, Die Grundrechte in der Weimarer Republik, ZNR 1993, S. 163. 51 Für diese Beobachtung wird bisweilen Michael Dreyer, Die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung, in: Thüringer Landtag (Hrsg.), 80 Jahre Weimarer Verfassung, 1998, S. 56, zitiert. Anders akzentuiert etwa bei Eberhard Eichenhofer, Soziale Grundrechte – verlässliche Grundrechte?, in: ders. (Fn. 43), S. 207 ff. Grundlegend Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Zusammenbruch der Monarchie und die Entstehung der Weimarer Republik, in: ders. (Hrsg.), Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 306 (330 ff.). 52 Zu sonstigen möglichen Formen der Offenheit von Verfassungen am Beispiel des GG Wolfram Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987. 53 Zum Stand der Staatsgerichtsbarkeit Anfang der 30er Jahre Ernst Friesenhahn, Die Staatsgerichtsbarkeit, in: Anschütz/Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 523 (Nachw.). 54 Dieser ist lange Zeit hindurch kaum gewürdigt worden. s. nunmehr Dreier (Fn. 36). 55 Zur Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich in der Zwischenkriegszeit Hans Kelsen, Die Verfassung Österreichs, JöR 1927, S. 51 (64 ff.). 74
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keiten und der Prüfungsgegenstände reichte damals derart weit, dass aus der Sicht der auf dem Weg der Juridifizierung des Verfassungsrechts wesentlich weiter fortgeschrittenen Bundesrepublik der StGH kaum zur Kenntnis genommen wurde.56 Dass der Gerichtshof selbst seinen Auftrag tendenziell weit fasste, einige wichtige Erkenntnisse zur Verfassungsauslegung beitrug und in Teilbereichen bis in die Bundesrepublik fortwirkende Maßstäbe setzte, geriet darüber nahezu in Vergessenheit. Auch für ihn war die WRV auslegungsoffen, und er hat von seinen Möglichkeiten einigen Gebrauch gemacht.57 Doch blieben die Einflüsse der Staatsgerichtsbarkeit auf einzelne wichtige Segmente begrenzt: Zu limitiert waren ihre verfahrensrechtlichen Entscheidungsmöglichkeiten und zu kurz war die Entscheidungspraxis in der Republik. In der fachgerichtlichen Rechtsprechung blieben Verfassungsfragen bis auf einzelne Erkenntnisse zu Eigentumsfragen und Gleichheitsfragen damals nahezu ausgespart.58 Infolge der wichtigen, aber eben begrenzten Einwirkungsmöglichkeiten der Rechtsprechung blieben wesentliche Verfassungsfragen justizfrei und daher der Gesetzgebung, Verfassungsanwendung und -rechtswissenschaft zur Auslegung offen. Und dies galt gleichfalls für zahlreiche Ausgestaltungsfragen, denen kaum äußere Grenzen gezogen waren und die zudem nur in wenigen Fällen verselbständigten Kontrollinstanzen und -verfahren unterlagen.59 Was in der Republik geltendes Verfassungsrecht war, war so durch den Text der WRV nur ansatzweise festgelegt. Ihre auf Konkretisierung, Ausgestaltung und Ausführung angelegten Vor- und Aufgaben waren in hohem Maße Ergebnisse eines Zusammenspiels von unterschiedlichen Instanzen, Verfahren und Interpreten. Was sie betrieben und betreiben mussten, war vielfach auch Verfassungsentwicklung, -fortschreibung und -aktualisierung. Diesem Prozess waren am ehesten dann und dort Grenzen gezogen, wo einzelne konkrete Verfassungsrechtssätze unmittelbar anwendbare und kaum umstrittene Maßstäbe enthielten.60 Noch einmal sei hier festgehalten: Die einzelnen hier 56 Eine grundlegende rechtshistorische Untersuchung zum Thema fehlt jedenfalls bislang. Die vor der wichtigen Studie Dreiers (Fn. 23) bedeutsamste Untersuchung zum Thema von Wolfgang Wehler, Der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich – Die politische Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Zeit der Weimarer Republik, Diss. 1979, entstammt der Geschichtswissenschaft. 57 Am Beispiel der Rechtsprechung zu Wahlen, Parlamenten und Parteien Christoph Gusy, Die Lehre vom Parteienstaat in der Weimarer Republik, 1993, S. 32 ff., 46 ff. u. pass. 58 Gusy, ZNR (Fn. 48). 59 Wesentlich weiter als diese Grenzen gingen zeitgenössische Diskussionen über weitere Verfahren der Verfassungsdurchsetzung wie etwa das richterliche Prüfungsrecht, das materielle Gesetzesprüfungsrecht des Reichspräsidenten u. ä. Sie hätten tendenziell das parlaments- und gesetzgebungszentrierte Gewaltengefüge verändern können. 60 Eine solche Norm war Art. 25 WRV. Sie sollte das Recht der Reichstagsauflösung nicht nur eröffnen, sondern auch begrenzen. „Der Reichspräsident soll nicht die Möglichkeit haben, durch immer wiederholte Auflösungen aus demselben Anlass den Reichstag und die Wählerschaft mürbe zu machen.“ Ganz in diesem Sinne bezeichnete H. Preuß in der Nationalversammlung die Vorschrift als „klar“; Verh. des RT, Bd. 336, S. 251. Darin lag eine im Text wenig Recht und Politik, Beiheft 3
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genannten Elemente der Offenheit von Verfassung und Auslegungssituation trafen nicht nur auf die WRV, sondern auch auf nahezu jede andere Verfassung zu. In der Republik jedoch begründeten sie gerade in ihrer Summierung ein hohes Aus-, Mit- und Umgestaltungspotential der verfassungsanwendenden und -konkretisierenden Instanzen. Viel spricht dafür, dass das „Verfassungslaboratorium“ Weimar mit der Verabschiedung der WRV nicht einfach endete. Zwar endete spätestens mit dem Auseinandergehen der Nationalversammlung das verfassunggebende Organ. Doch stand damit das fortan geltende Verfassungsrecht noch keineswegs fest. Der Kampf um die Verfassung mutierte nun zu einer Auseinandersetzung über deren Verständnis, also deren Inhalte. Es ging nicht allein darum, vorgegebene Inhalte zu ermitteln; sondern mindestens auch darum, diese Inhalte erst auszugestalten. Zwar änderten sich mit dem Abschluss des Verfassungswerks die Instanzen und Verfahren. Aus dem Kampf um die Normen wurde nun der Kampf um ihre Deutung. Nun traten andere Akteure auf den Plan, es verschoben sich Organe und Verfahren. Hier bewirkte gerade die Offenheit der Verfassung wie auch ihrer Ausgestaltung, dass die Situation eine auch experimentelle blieb. So kam die WRV aus dem einen Labor hinaus und in ein neues hinein. Dann allerdings war die Republik insgesamt ein Verfassungslaboratorium. Die meisten Verfassungsnormen waren also im Jahre 1919 nicht einfach „fertig“. Was die Verfassung anordnete, war sowohl Ergebnis eines 1919 abgeschlossenen Verfahrens wie auch des nachfolgenden Verfassungslebens. Was also aus einer Verfassungsnorm „gemacht“ werden, wie sie auf Stabilisierung oder Destabilisierung der Republik wirken konnte oder würde, ließ sich aus der Perspektive der Verfassunggeber ebenso wenig absehen wie aus dem Text der meisten Regelungen der WRV. Auch aus diesem Grunde bietet es sich nicht an, die Frage nach dem Ende der Republik an der einen oder anderen Einzelnorm der WRV festzumachen. Deren Bedeutung ergab sich jedenfalls nicht allein aus ihrer Eigenschaft als Teil des Verfassungswerks, sondern zudem aus denjenigen Gehalten, die ihr später weniger entnommen als vielmehr beigelegt wurden. Was also zuvor vergleichend gezeigt werden sollte, dass nämlich das Scheitern zahlreicher Demokratien kaum mit Aussicht auf Plausibilität an einzelnen Verfassungsnormen festgemacht werden konnte,61 zeigt sich hier am Beispiel der WRV. Es kam nicht allein auf Verfassungstexte an; mindestens ebenso ausschlaggebend sollte sein, was daraus in der Folgezeit gemacht wurde. Noch einmal: Offenheit von Verfassungen und die Notwendigkeit der Schöpfung von Verfassungsrecht durch Verfassungsanwendung, -auslegung und Verfassungsrechtswissenschaft ist ein Kennzeichen nicht allein der WRV, sondern aller westlichen Verzum Ausdruck kommende Intention, die denn auch rasch hinweginterpretiert wurde und am Ende selbst gegen Missbrauch keinen Schutz mehr bot. Eindeutig und keinem Auslegungsspielraum zugänglich war dagegen die Frist für Neuwahlen nach der Auflösungsentscheidung. Hier waren die Grenzen von Offenheit und Ausgestaltbarkeit erreicht. 61 S. o. 1. 76
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fassungen. Doch stellten sich jene Herausforderungen in der Weimarer Republik in besonderer Weise. Die Traditionslosigkeit der demokratischen Republik und ihrer spezifischen Verfassungsanforderungen, die Neuheit mancher Verfassungstexte und insbesondere ihrer Regelungszusammenhänge, das besonders hohe Maß an Offenheit und Ausgestaltungsbedürftigkeit der WRV: Alles dies zusammen führte zu einer Potenzierung der Chancen, aber auch der Risiken aus jenen Aufgaben – Chancen, welche damals von zu Wenigen genutzt wurden, und Risiken, welche das Ende der Republik herbeiführen sollten. 3. Verfassungswandel im Verfassungslaboratorium Was also wurde aus der Weimarer Verfassung gemacht? Aus der Rückschau erscheint der Befund überraschend. Zwar dauerte die Republik nur 14 Jahre und die Geltungsdauer ihrer Verfassung war sogar noch ein wenig kürzer. Doch in dieser knappen Zeit zeichnete sich die WRV durch einen geradezu stürmischen Verfassungswandel und eine stürmische Verfassungsentwicklung aus. Selbst in der kurzen ersten deutschen Republik sah die Verfassung in verschiedenen Phasen ganz unterschiedlich aus. Man kann von mehreren Verfassungsschichten sprechen, welche zeitlich aufeinanderfolgend, aber z. T. asynchron sich wechselseitig bedingten, überlagerten oder ablösten. Aus der Sicht der Verfassungsauslegung und -anwender sah jedenfalls das Verfassungsrecht des Jahres 1932 erheblich anders aus als dasjenige des Jahres 1920. Namentlich die Nationalversammlung, ihre Ideen und Debatten, Pläne und Regelungsintentionen wirkten am Ende der kurzen Republik vielfach schon wie Leuchtfeuer, um nicht zu sagen Irrlichter, aus einer längst vergangenen und von manchen schon fast vergessenen Zeit.62 Dafür gab es signifikante Beispiele, welche für unser hier erörtertes Thema folgenreich werden sollten:63 (1) Der Wandel von der parlamentarischen zur Präsidialregierung:64 Dass dem Reichspräsidenten mit dem Ernennungsrecht nach Art. 53 WRV zugleich ein Auswahlrecht hinsichtlich der Person des Reichskanzlers zustehen sollte, war nach dem Text der Norm ebenso wenig selbstverständlich wie nach den Intentionen der Nationalversammlung, die auf Parlamentarisierung angelegt waren. Die Auswahl durch Ebert entstand in der Staatspraxis unter dem Druck hoher Anforderungen an die Regierungstätigkeit einerseits und einer sehr gering ausgeprägten Bereitschaft der Politiker, sich für das Amt zur Verfügung zu stellen. Zum Recht des Reichspräsidenten wurde es erst in der Konfrontation mit Ansprüchen der DNVP auf das Reichskanzleramt und deren Abwehr durch Ebert im Jahre 1924. Damals wurde es noch in Konsultation mit den Fraktionen ausgeübt. Zu einem völlig von parlamentarischer Mitwirkung losgelösten Ernennungsrecht, dem auch ein eigenes 62 Aufschlussreicher Rückblick bei Wilhelm Ziegler, Die deutsche Nationalversammlung 1919/20 und ihr Verfassungswerk, 1932. 63 Beispiele nach Gusy, in: Neuhaus (Fn. 48), S. 162 ff. 64 Darstellung bei Bernd Hoppe, Von der parlamentarischen Demokratie zum Präsidialstaat, 1998. Recht und Politik, Beiheft 3
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Absetzungsrecht entsprechen sollte, wurde es erst in den 30er Jahren. Dadurch vollzog sich intra constitutionem und ganz ohne Änderung des Textes der WRV ein staatsrechtlich relevanter Wandel, welcher die mit der noch neuen Verfassung angestrebte Parlamentarisierung rückgängig machte. Der Wandel sollte nicht allein die Legitimation der nur kurzzeitig amtierenden Regierung beeinträchtigen, sondern auch die persönlichen und sachlichen Alternativen erschöpfen und letztlich die Akzeptanz des parlamentarischen Regierens selbst verbrauchen. (2) Der Wandel des Ausnahmerechts zur Reserveverfassung vollzog sich gleichfalls ohne Textänderung des Art. 48 WRV. Die hier bereits genannten Stufen jenes Wandels65 ordneten je länger je mehr und spätestens seit 1930 den Normal- und den Ausnahmefall nicht mehr in ein Verhältnis von Regel und Ausnahme, sondern in zwei prinzipiell gleichgeordnete Legitimationstypen nebeneinander. Und die „Diktatur-“ Bestimmungen wurden immer weniger als Aufträge zur Stabilisierung bzw. Wiederherstellung republikanisch-demokratischer Normalität verstanden. Spätestens der seit 1930 bestehende permanente Ausnahmezustand war dazu geeignet, die „Normalverfassung“ als „Schönwetter-Republik“ zu diskreditieren und zu delegitimieren. (3) Die Parlamentsauflösung als Instrument der Parlamentszerstörung war gleichfalls ein Produkt intensiven Verfassungswandels. Der in seiner Intention, wenn auch nicht in seinem Text, recht eindeutige Art. 25 S. 1 WRV wurde je länger je mehr zu einem Instrument, andere konkrete Parlamentsrechte zu umgehen oder zu unterlaufen: Sei es das Misstrauensvotum des Art. 54 WRV, sei es das Aufhebungsverlangen gegenüber Notverordnungen nach Art. 48 Abs. 3 WRV. Dadurch wurden nicht nur spezielle Parlamentsrechte unter Rückgriff auf vage Generalklauseln unterlaufen. Auch der Zweck des Auflösungsrechts, nämlich eine funktionsfähige Volksvertretung zu erlangen, trat immer weiter in den Hintergrund und verschwand seit 1930 völlig. Zerstört wurde schließlich die demokratische Substanz von Parlament und Republik, als die schon für Zeitgenossen klar erkennbare Radikalisierung der Wähler umstandslos in eine Radikalisierung der Gewählten umschlagen konnte. Aus dem ursprünglich angestrebten Gleichgewicht von Präsident und Reichstag wurde so die einseitige Abhängigkeit des letzteren von ersterem, die in eine Zerstörung des Parlamentarismus münden sollte. Dies sind besonders signifikante Beispiele für eine weiter reichende Entwicklung. So ist etwa das wirkmächtige Bild vom Reichspräsidenten als „Ersatzkaiser“ in den Verfassungsberatungen ohne Bedeutung geblieben, hingegen von Außenstehenden, zumeist erst später und erst recht ex post, ohne Rücksicht auf den unverändert geblieben Verfassungstext als Inhalt der WRV ausgegeben worden. Hier liegen Voraussetzungen und legitimatorischer Zweck des Wandels offen zutage: Kein Zeitgenosse hätte die Präsidentschaft Eberts mit dem Prädikat des Ersatzkaisertums gleichsam „geadelt“. Die Formel passte allein zur Hindenburg-Zeit und konnte geeignet sein, dessen Kurs als 65 s. o. I. Überblick bei Gusy (Fn. 13), S. 50 ff. 78
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verfassungsgewollt darzustellen. Dies untergrub die Akzeptanz der demokratischen Republik. Für die kurze Dauer der Republik war jener Verfassungswandel dramatisch. Ihm korrespondierte dessen theoretische Fundierung und Deutung durch neue oder Rückgriffe auf ältere Verfassungsbegriffe bzw. Methoden der Staatsrechtswissenschaft. Jener Wandel verlief damals nicht unwidersprochen und war längst kein Konsens in Staatsrechtswissenschaft, Regierungen und Administrationen. Doch setzte sich ein solcher Widerspruch immer weniger durch. Die Berufung auf den immerhin auch 1932 noch recht neuen Verfassungstext und die Intentionen der Weimarer Konstituante galten in der Spätzeit als old fashioned, sachlich und politisch inadäquat. Von daher kann ex post kaum davon geredet werden, dass „die WRV“ oder die textliche Fassung einzelner ihrer Bestimmungen bestimmte Effekte hervorgebracht oder verhindert hätten. Um die normativen Gehalte des damaligen Verfassungsrechts adäquat erfassen zu können, erscheint es unabweisbar, auf die genannten Stufen der jeweiligen Verfassungsverständnisse und -anwendungen zurückzugreifen. Sie konnten zu ganz unterschiedlichen, bisweilen konträren Auslegungen und Praktiken führen.66 Dieser Wandel verlief in der kurzen Republik mit dramatischer Geschwindigkeit, einem geringen Maß an Vorhersehbarkeit von Richtung und Entwicklung sowie nahezu vollständig ungesteuert vom Verfassungstext und dem Willen der Verfassunggeber. Die Produkte des Verfassungslaboratoriums nach 1919 hatten also mit demjenigen bei Erlass der WRV immer weniger Gemeinsamkeiten. Man könnte so auch von ganz unterschiedlichen Verfassungslaboratorien sprechen. Für unsere Fragestellung bedeutet dies: Die „Mängel der WRV“ waren in besonders hohem Maße Mängel desjenigen Rechts, das aus der WRV gemacht worden war. Und sie waren damit je länger je mehr nicht solche des Textes, sondern solche der Interpretationen und Interpreten. Dies mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, traten doch zahlreiche jener Interpreten gerade mit der Behauptung an, Mängel der WRV bzw. ihres Textes ausbessern zu wollen. Wo jene Absicht tatsächlich bestanden haben sollte, kehrten sich allzu oft die Folgen ihres eigenen Tuns gegen die behaupteten Intentionen. In jedem Fall lag solchen Bemühungen die Distanzierung vom Text der WRVund nicht selten auch den Zielen ihrer Urheber in der Nationalversammlung voraus. Je weiter diese Distanzierung reichte, desto stärker entfernten sich die postulierten Auslegungen von den ausgelegten Normen. Die Behauptung, diese oder jene Norm der Verfassung habe das Ende der Republik herbeigeführt oder begünstigt, bedarf deshalb auch aus diesem Grunde der Relativierung: Sie müsste primär darlegen, welcher Auslegungsstand vorausgesetzt oder zugrunde gelegt wird und ob die kritisierte Norm im Verfassungstext überhaupt auffindbar war oder erst später zur Ursache des Missstands (um‐)
66 Daher resultiert der Befund, wonach die WRV mit denselben Instrumenten, mit welchen sie in der Frühzeit gegen ihre Gegner gerettet wurde, in der Spätzeit zerstört wurde; dazu Gusy (Fn. 4), S. 113. Recht und Politik, Beiheft 3
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interpretiert wurde. Denn die Weimarer Verfassung hatte keinen glückhaften Start,67 keine glückhafte Geltungszeit und erst recht kein glückhaftes Ende. Ex post erscheint die Diagnose von Mängeln der WRV als Ursache des Endes der Republik und ihrer Verfassung allzu oft als Fortsetzung der Verfassungskritik vor 1933.
IV. Verfassungsvoraussetzungen damals und heute Wie andere Verfassungsurkunden war auch die WRV nicht völlig frei von Mängeln. Aber es spricht nichts dafür, dass die WRV den Untergang der Republik verursacht hat. Und es spricht auch nicht viel dafür, dass sie den Untergang hätte verhindern können. In diesem Sinne scheint sie also eine überforderte Verfassung gewesen zu sein. Aber diese war nicht identisch mit den Intentionen der Nationalversammlung und auch nicht mit der von ihr verabschiedeten Verfassungsurkunde. Sie war vielmehr mindestens gleichermaßen das Produkt von Verfassungsauslegung, -anwendung und -praxis, die sich seit 1921 rasch entwickelt und partiell von ihrem Ausgangspunkt, der WRV, verselbständigt hat. Jene Praxis hat gewiss zu wenig dazu beigetragen, sie auszubauen, zu stabilisieren und dadurch zu retten. Wohlgemerkt: Das galt nicht für alle zeitgenössischen Anwender und Interpreten; wohl aber für zahlreiche von denen, die sich gegen Ende durchsetzten und manche politische Praktiken legitimierten, welche zunächst zum Leerlaufen der WRV und zahlreicher Länderverfassungen, sodann zum Ende der demokratischen und republikanischen Institutionen und der scheinbaren Legalisierung68 ihrer Übergabe an die Nationalsozialisten führte. Warum entwickelten sich Staatspraxis, Verfassungsauslegung und -anwendung damals so, wie sie sich entwickelten? Verfassungstheorie und -dogmatik werden niemals allein aus einem Text oder einer Urkunde entwickelt, sondern von außen an sie herangetragen und an ihren Maßstäben gemessen. Und damit geraten sie in Abhängigkeit nicht nur von rechtlichen, sondern auch von rechts- und verfassungskulturellen Erwartungen und Einflüssen,69 geistigen Zeitströmungen70 und politischen Voreinstellungen. Sie fließen jedenfalls in verfassungstheoretische Fragestellungen, Hypothesenbildungen und Argumente ein, welche offene Normen konkretisieren und die Auslegung von Einzelnormen der Verfassung anleiten sollen. In der Republik stand gerade die Verfassungstheorie – bzw. in der Sprache der Zeit: Verfassungslehre – auf einem Höhepunkt ihrer Entwicklung. Sie oder jedenfalls nicht unwesentliche Teile davon stellten Weichen, welche in den Untergang der Republik führten, diesen legitimierten bzw. nicht aufhielten. Dass solche Ansätze in der Zwischenkriegszeit Hochkonjunktur hatten und 67 Böckenförde (Fn. 51), S. 339, dort allerdings auf die Republik bezogen. 68 Zu den Implikationen der Legalitätsthese zusammenfassend Gusy (Fn. 4), S. 459 ff. 69 Zu Verfassung und Verfassungskultur der Zwischenkriegszeit Andreas Wirsching, Verfassung und Verfassungskultur in der Zwischenkriegszeit, in: Gusy (Fn. 35), S. 371. 70 Am Beispiel des Einflusses von Oswald Spengler auf die Rechtsprechung in der Republik Lutz Martin Keppeler, Oswald Spengler und die Jurisprudenz, 2014. Allgemein zur politischen Kultur Gunnar Folke Schuppert, Politische Kultur, 2008. 80
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sich als akzeptable Theorieentwürfe bei der Auslegung, Fortentwicklung und Umbildung der Verfassung Gehör verschaffen konnten, lenkt den Blick auf die Verfassungsvoraussetzungen demokratisch-republikanischer Konstitutionen, ihre Funktionsbedingungen und ggf. Gefährdungen. Dies sind zu einem erheblichen Teil jene Voraussetzungen, auf denen Verfassungsstaaten basieren, ohne sie selbst garantieren zu können (E.W. Böckenförde). Und es sind zu einem erheblichen Teil diejenigen Voraussetzungen, über deren Notwendigkeit, Gefährdung oder Fortfall gegenwärtig für Bundesrepublik und Grundgesetz neue Diskussionen geführt werden.71 Und hier kann sich der Kreis unseres Themas schließen: Lassen sich Faktoren, welche zur Überforderung der Weimarer Verfassung geführt haben, auch als Herausforderungen für die Gegenwart des 21. Jh. verstehen? An entsprechenden Fragen besteht aktuell kein Mangel.72 Unser Wissen über derart notwendige Verfassungsvoraussetzungen ist allerdings begrenzt.73 Fest steht: Verfassungs- und andere Rechtsnormen allein sind nicht ausreichend, um eine funktionierende demokratische Republik hervorzubringen, mit Leben zu erfüllen und zu stabilisieren.74 Ganz offensichtlich bedarf es dafür der Menschen, die bereit sind, Freiheiten auszuüben und die damit begründeten Unsicherheiten und Risiken hinzunehmen; der Organisationen und Parteien, welche bereit sind, das politische Leben zu organisieren, sich zur Wahl zu stellen und das Personal für Ämter und Mandate zu rekrutieren; der Personen, welche (mindestens) einen Teil ihrer Zeit und Arbeitskraft hierfür zur Verfügung zu stellen bereit sind; eines wirtschaftlichen Standards, der relevanten Teilen der Bevölkerung die ökonomischen Ressourcen und die freie Zeit zur Verfügung stellen kann, um sich zu informieren und so informiert und orientiert an Wahlen, Abstimmungen und damit der Legitimation der Staatsgewalt mitzuwirken; schließlich pluralistischer Medien, die hierfür die notwendigen Informationen liefern und die Meinungsbildung befördern.75 Alles dies kann durch Gesetze nicht herbeibefohlen werden; das Recht kann hierfür allenfalls förderliche Rahmenbedingungen schaffen. Aber was sind über diese elementaren Vorbedingungen hinaus die spezifischen gesellschaftlichen Vorbedingungen eines Funktionierens demokratischer Verfassungen? Hierfür werden etwa genannt: − ein Mindestmaß an sozialer Homogenität der Bevölkerung,76 welche nicht durch innere Spaltungen ethnischer, religiöser, sozialer oder ökonomischer Art an einer 71 Eindringlich und aktuell einerseits Jakob Augstein, Der Spiegel 46/2015, S. 24; Jan Fleischhauer, Der Spiegel 47/2015, S. 24. 72 Theoretisch geleitete Anfragen bei Ulrich Jan Schröder/Antje von Ungern-Sternberg (Hrsg.), Zur Aktualität der Weimarer Staatsrechtslehre, 2011. 73 Vergleichende Aspekte bei Christoph Gusy, Auf dem Weg zu einer vergleichenden europäischen Verfassungsgeschichte der Zwischenkriegszeit – ein Tagungsbericht in: ders. (Fn. 35), S. 417. 74 Zu Leistungsmöglichkeiten und Grenzen demokratischer Verfassungen Martin Morlok, Demokratische Verfassungen: Leistungsmöglichkeiten und Grenzen, in: Gusy (Fn. 35), S. 390. 75 Zum Ganzen Frank Decker u. a. (Hrsg.), Demokratie ohne Wähler?, 2013. 76 Dazu schon unter der WRV grundlegend Hermann Heller (1928), Politische Demokratie und soziale Homogenität, in: Drath/Stammer (Fn. 37), S. 421. Recht und Politik, Beiheft 3
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Teilnahme an der demokratischen Meinungs- und Willensbildung gehindert wird: Wo alle politischen Fragen allein unter dem Primat der jeweiligen Gruppeninteressen und -zugehörigkeiten, also einzelner gesellschaftlicher Frontstellungen, beurteilt werden, ist ein funktionierender demokratischer Prozess wohl kaum möglich; ein elementarer Basiskonsens über die Möglichkeit und Notwendigkeit friedlicher Konfliktaustragung nach Regeln. Wo relevante Personen, Eliten oder gesellschaftliche Gruppen77 auf gewaltsames Handeln eine höhere politische Prämie erhoffen können als durch friedliche Beteiligung am politischen Prozess, wird deren Einbindung in eine Demokratie zu einem kaum möglichen Unterfangen; ein elementarer Grundkonsens über jene Regeln. Man kann diese Verfassungskonsens, Grundwert- oder Basiskonsens, von wieder anderen gar „Verfassungspatriotismus“ genannte Haltung als Fundament dafür beschreiben, dass die Möglichkeit einer eigenen Teilnahme an der politischen Willensbildung zugleich die Möglichkeit der Teilnahme der Anderen an diesem Prozess bedingt und diese allseitige, rechtlich gleiche Mitwirkungsmöglichkeit anderen Formen politischer Aushandlung und Herrschaftslegitimation tendenziell überlegen ist – wenn nicht für jeden Einzelnen, sondern doch für das Volk insgesamt; eine hinreichende Responsivität des politischen Systems, welche Ein- und Mitwirkungsmöglichkeiten sowie Opposition nicht allein als Fassade bzw. geduldetes abweichendes Verhalten erscheinen lässt, nicht bloß als Möglichkeit des Anders-Seins und Anders-Lebens, sondern auch der tatsächlichen Mitwirkungschance an der Willens- und Entscheidungsbildung im politischen Prozess; Selbstbeschränkung und -begrenzung demokratischer Mehrheitsherrschaft als Anerkennung der eigenen Begrenztheit, Vorläufigkeit und Revisibilität durch neue Abstimmungsergebnisse, Mehrheitsbildungen und Änderungsmöglichkeit hinsichtlich getroffener Entscheidungen und eingeschlagener „Pfade“.
Forschungen über derartige Grundbedingungen werden bisweilen durch das Missverständnis gehemmt, dass solche Voraussetzungen von den Verfassungen selbst nicht garantiert werden können und daher kein Thema der Verfassungen und ihrer wissenschaftlichen Behandlung sein dürften. Doch wäre ein solcher Schluss voreilig: Wenn Verfassungen ihre eigenen Voraussetzungen nicht garantieren können, bedeutet dies noch lange nicht, dass sie sich darum nicht kümmern sollten oder gar dürften. Im Gegenteil: Ihre Pflege und Erhaltung ist ein Auftrag des Grundgesetzes.78 Doch ist diese Erkenntnis 77 Zur Haltung von Eliten, Verbänden und Parteien zur Demokratie Thomas Raithel, Die Haltung von Eliten, Verbänden und Parteien. Überlegungen zur Stabilität und Instabilität parlamentarischer Demokratien zwischen den Weltkriegen, in: Gusy (Fn. 35), S. 105. 78 BVerfGE 44, 125 (147 ff.); Christoph Gusy, Informationsbeziehungen zwischen Staat und Bürger, in: Hoffmann-Riem u. a. (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 23 Rn. 95 ff. (Nachw.). Vergleichbares geschah übrigens auch schon in der Weimarer Republik, wenn auch zu schwach und mit unzulänglichen Instrumenten. Exemplarisch Ralf Poscher, Der Verfassungstag, 1999; Klaus W. Wippermann, Politische Propaganda und staatsbürgerliche Bildung, 1976; s.a. Achim Bonte, Werbung für Weimar?, 1997. 82
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nicht ausreichend. Denn die Erfüllung jener Aufgabe setzt voraus, dass wir wissen, worin jene Grundlagen funktionierender Demokratie liegen, wie sie erhalten werden können und wie dies insbesondere mit demokratiekonformen Mitteln geschehen kann. Und dies alles beschreibt nicht nur Aufgaben des Staates, der Behörden und Gerichte, sondern aller demokratischen Parteien, Organisationen, Bürgerinnen und Bürger. Ein Blick in die Vergangenheit lehrt uns Distanz und Bescheidenheit. Wir wissen, dass es in Weimar an jenen Voraussetzungen gefehlt hat. Aber wir können daraus nicht einfach ableiten, was heute zu geschehen hat, um vergleichbare Entwicklungen möglichst schon im Ansatz zu vermeiden. Jede Zeit hat ihre eigenen Verhältnisse. Wo die Demokratie nicht mehr in der Mitte der Gesellschaft verankert ist und diese Mitte nicht mehr bereit oder in der Lage ist, sie wirksam zu schützen, sind andere Mittel erforderlich als in ruhigen Zeiten. Das Grundgesetz hält dafür die notwendigen Mittel bereit oder lässt sie jedenfalls zu – wie übrigens die Weimarer Verfassung auch.79 Sie richtig anzuwenden kann allerdings nicht durch den Blick in die Vergangenheit gelernt werden. Weimar, seine Verfassung und ihr Ende begründen eine besondere Verantwortung, aber keine Lösungen und erst recht keine Patentlösungen. Der Blick zurück kann nicht nur hilfreich sein, sondern auch ablenken. Die Herausforderungen von heute sind von heute, nicht von früher – auch Berlin ist nicht Weimar!80
79 S. z. B. Mathias Grünthaler, Parteiverbote in der Weimarer Republik, Diss. 1995. 80 Im Anschluss an den Titel des Werks von Fritz René Allemann, Bonn ist nicht Weimar, 1956. Recht und Politik, Beiheft 3
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„Weimar“ – ein Paradigmenwechsel* Vom „antidemokratischen Denken“ zur Avantgarde der Verfassungspolitologie pluralistischer Demokratie bei Preuß, Anschütz, Thoma, Kelsen, Heller – und Loewenstein1 Von Robert Chr. van Ooyen Im Verlaufe des „Weimarer „Richtungsstreits“ wurden zentrale Fragen von Politik, Verfassung und Gesellschaft in aller Radikalität erörtert – und zwar auf einem brillanten intellektuellen Niveau: Gesellschaft und Gemeinschaft, Sollen und Sein, Pluralismus und politische Einheit, Mythos und Moderne, Technik und Aura, Demokratie und Diktatur, Rationalismus und Irrationalismus, Recht und Politik, Staat und Recht, Gott und Staat, Legitimität und Legalität, Staatslehre und Verfassungslehre usw. – die Reihe der zu dieser Zeit erörterten Dualismen findet fast kein Ende. Sie umreißen das Grundproblem des Politischen als das von Freiheit und Ordnung bezogen auf den Kontext des Zeitalters der „entzauberten“ Moderne an der Bruchstelle von Prae- und Postmoderne. „Weimar“ war dabei nicht nur ein „Labor“ des Links- und Rechtsradikalismus, sondern auch der Theorie der Demokratie. Hierin liegt die Relevanz der seinerzeitigen Staatsdiskussion für den aktuellen Diskurs um Politik und Verfassung liberal-demokratischer, pluralistischer Gesellschaften. Und inzwischen hat sich in der Forschung daher ein regelrechter „Paradigmenwechsel“ vollzogen: Vor mehr als fünfzig Jahren erschien Sontheimers Habilitationsschrift zu den antidemokratischen Strömungen in Weimar, die inzwischen „Klassikerstatus“ hat.2 Durch die traumatische Erfahrung des Scheiterns der ersten deutschen Demokratie wurde „Weimar“ verständlicherweise lange unter dem Blickwinkel erforscht, was „schief“ gelaufen und welche „Lehren“ daher für die Bundesrepublik zu ziehen seien. Das betraf gerade auch die verfassungsrechtliche, -theoretische und -politische Diskussion hinsichtlich der „Fehlkonstruktionen“ in der Reichsverfassung und ihrer Verbesserungen
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Der Text erschien zuerst in: Journal der Juristischen Zeitgeschichte (JoJZG), 3/2016, 11 – 117; für den vorliegenden Band wurde er leicht modifiziert und redaktionell angepasst. Zugleich Besprechung zu: Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik. Von der konstitutionellen Staatslehre zur Theorie des modernen demokratischen Verfassungsstaats, Mohr Siebeck, Tübingen 2010. Vgl. Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik (1962), erweiterte Studienausgabe 1968, schließlich bei dtv, 1978.
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Duncker & Humblot, Berlin
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im Grundgesetz – Frommes Arbeit von 1960 steht hierfür beispielhaft.3 Dieses Forschungsparadigma hielt sich – auch wenn es vereinzelt frühe, liberal-demokratische (!) Kritiker gab4 – über Jahrzehnte, ging in der Staatsrechtslehre bisweilen einher mit apologetischem „Jubel“ über die neue, „wertgebundene“, den Demos und den Parlamentarismus zähmende Verfassung sowie mit (zumeist konservativen) Schuldzuweisungen an den „wertneutralen“ Positivismus, der Weimar „wehrlos“ der NS-Diktatur ausgeliefert habe. Solche schiefen Wahrnehmungen und Mythen sind inzwischen in der Forschung überholt: Weimar war nicht einfach „wehrlos“ – so schon der Nachweis von Gusy zu Beginn der 90er Jahre5 – und auch der Positivismus ist längst rehabilitiert: 1981 erschien Raths Arbeit über Positivismus und Demokratie bei Thoma,6 schließlich hatten dann zwei dicke, von Krawietz initiierte Sammelbände über Kelsen und Dreiers Arbeit über den Positivisten und Demokraten der Wiener und Weimarer Republik diesen Zusammenhang aufgezeigt.7 Denn in „einer demokratischen Staatsform ist Positivismus eine respektable Strategie“.8 Etwa zur gleichen Zeit arbeitete der Politikwissenschaftler Luthardt über die demokratietheoretischen Leistungen der Staatsrechtler im Umfeld der Weimarer SPD (unter Einschluss des der SPÖ nahestehenden Kelsen).9 Wiederum aus politikwissenschaftlicher Sicht wurden dann von Lehnert über Preuß und vom Autor selbst über Kelsen Monografien vorgelegt, in denen beide jeweils als bahnbrechende Vordenker einer pluralismustheoretisch ausgerichteten Demokratieund Staatstheorie interpretiert wurden.10 Und mit einem von Gusy herausgegebenen Tagungsband zeigte sich, dass die neue Sicht auf „Weimar“ als demokratischer Avantgarde sich längst Bahn gebrochen hatte:11 Denn nach den zahlreichen Publikationen über das antidemokratische Denken in Weimar – allein die Arbeiten zu Schmitt lassen sich wohl nur noch von ganzen Forscherteams überschauen – lag nun endlich ein umfangreicher Sammelband vor, in dem die viel zu selten diskutierten demokratischen Staatslehrer und demokratietheoretischen Ansätze breit erfasst wurden. Man mochte dabei darüber streiten, ob Smends 3 4 5 6 7
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Vgl. Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz (1960), 3. Aufl.,1999. Vgl. Loewenstein, Verfassungslehre (1959), Neudr., 3. Aufl., 2000. Vgl. Gusy, Weimar – die wehrlose Republik?, 1991. Vgl. Rath, Positivismus und Demokratie. Richard Thoma (1874 – 1957), 1981. Vgl. Krawietz/Topitsch/Koller (Hg.), Ideologiekritik und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 1982; Krawietz/Schelsky (Hg.), Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen, 1984; Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen (1986), 2. Aufl., 1990. Lepsius, Hans Kelsen und die Pfadabhängigkeit in der deutschen Staatsrechtslehre; in: Jestaedt (Hg.), Hans Kelsen und die deutsche Staatsrechtslehre, 2013, S. 255. Luthardt, Sozialdemokratische Verfassungstheorie in der Weimarer Republik, 1986. Vgl. Lehnert, Verfassungsdemokratie als Bürgergenossenschaft. Politisches Denken, Öffentliches Recht und Geschichtsdeutungen bei Hugo Preuß, 1998; van Ooyen, Der Staat der Moderne. Hans Kelsens Pluralismustheorie, 2003. Vgl. Gusy (Hg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, 2000.
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„Integrationslehre“ und auch Leibholzens „Parteienstaatslehre“ hier am richtigen Platze gewesen sind – waren doch beide mindestens zur Weimarer Zeit einem antipluralistischen Konzept der politischen Einheit als „Gemeinschaft“ verpflichtet, mit Nähe zu Schmitt und stellenweise fasziniert von der „Integrationsleistung“, vom im „Duce“ verkörperten „Volkswillen“ des italienischen Faschismus.12 Das aber wurde hier nicht nur kritisch aufgearbeitet, sondern war zudem dienlich für das Verständnis des Kontrastes zwischen dem in der Weimarer Theoriediskussion vorherrschenden Rousseauschen Demokratiebegriff, der sich in der „acclamatio“ des „plebiszitären Führerstaats“ und dem Substanzbegriff des „homogenen Volkes“ im „Freund-Feind-Pathos“ eines Schmitt auf „Leben und Tod“ zuspitzte, und der Nüchternheit „realistischer“, pluralistisch ausgerichteter Demokratietheoretiker, die die Bedeutung von Verfahren in einer „offenen Gesellschaft“ herausgestellt hatten. Und so wurde auch der „immer noch gegen die Weimarer Epoche erhobene(n) Vorwurf eines formalistischen Verfassungsverständnisses“ erheblich relativiert: Der „Glaube an Substanz“ und nicht der „reflektierte(r) Formalismus… von Kelsen bis Cassirer“ habe vielmehr „die Verfassung theoretisch und praktisch ausgehöhlt“.13 Die Forschungen zur Bedeutung dieser Weimarer – und Wiener – Demokratie- und Verfassungstheorien, die angesichts der Traditionsbestände der deutschen Staatslehre bahnbrechend waren, reißen seitdem nicht ab, sondern scheinen eher noch intensiviert. In den letzten Jahren erschienen weitere Bücher über: Kelsen, Preuß, Radbruch, Thoma und Heller,14 zu den „Linken Juristen“15 und den „Diskurs- und Rezeptionsstrategien“ der Weimarer Staatsrechtsdebatte,16 aber auch zu den „Jüngeren“ in Weimar wie etwa Fraenkel, Loewenstein und Kirchheimer;17 schließlich werden die Schriften von Kelsen, Preuß und auch Thoma neu editiert.18 Genau in diesen Kontext ist die von Gusy betreute und seitens der Juristischen Fakultät der Universität Bielefeld angenommene Habilitationsschrift von Groh einzuordnen – 12 Vgl. m.w.N. Benöhr, Das faschistische Verfassungsrecht Italiens aus der Sicht von Gerhard Leibholz, 1999; van Ooyen, Integration, 2014. 13 Möllers, Das parlamentarische Gesetz als demokratische Entscheidungsform; in: Gusy (Fn 11), S. 466 f. 14 Z. B. in den von Rüdiger Voigt hgg. „Staatsverständnissen“ Bd. 16 – Kelsen (Brunkhorst/Voigt); Bd. 33 – Heller (Llanque); Bd. 38 – Radbruch (Pauly); Bd. 46 – Preuß (Lehnert); auch van Ooyen: Hans Kelsen und die offene Gesellschaft, 2. Aufl. 2017; Ehs (Hg.), Hans Kelsen. Eine politikwissenschaftliche Einführung, 2009. 15 Vgl. Gangl (Hg.), Linke Juristen in der Weimarer Republik, 2003. 16 Vgl. Gangl (Hg.), Die Weimarer Staatsrechtsdebatte (Staatsverständnisse, Bd. 42), 2011. 17 Bd. 17 – Loewenstein (van Ooyen); Bd. 26 – Fraenkel (van Ooyen/Möllers); Bd. 37 – Kirchheimer (van Ooyen/Schale). 18 Vgl. Thoma, Rechtsstaat – Demokratie – Grundrechte, 2008; Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, 2008; Kelsen, Verteidigung der Demokratie, 2006; sowie die ebenfalls bei Mohr Siebeck verlegte Kelsen Gesamtausgabe, 2007 ff., und die Gesammelten Schriften von Preuß, 2007 ff. 86
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und lässt sogleich die Frage nach dem „Mehrwert“ jenseits eines gelehrten Zusammenstellens des Forschungsstands aufkommen. Dieser kann daher, so folgerichtig die Autorin, nur im systematischen Vergleich liegen. Groh beschränkt sich dabei auf die „,Big Five‘“19 der demokratischen Staatsrechtsler, also Preuß – Anschütz – Thoma – Kelsen – Heller. Die Einbeziehung Kelsens unter die „Weimarer Staatsrechtlehrer“ ist mit Blick auf den Wiener Staatsrechtler gut vertretbar, war Kelsen doch Mitglied der Staatsrechtslehrervereinigung und in den letzten Jahren der Republik noch an die Universität Köln gewechselt, nachdem die Christlich-Konservativen wegen der „Dispens-Ehen-Entscheidung“ eine (sich auch antisemitisch aufladende) regelrechte Kampagne gegen seine anstehende Wiederwahl als Richter am Verfassungsgerichtshof losgetreten hatten. Und gerade Kelsens Demokratie-, Rechts- und Verfassungstheorie ist es ja gewesen, an denen sich Heller, vor allem aber der deutschnationale Teil der Staatsrechtslehre rieben: Die Verfassungslehren von Smend und auch Schmitt sind regelrecht als „Anti-Kelsen-Theorien“ verfasst worden. Trotzdem ist kritisch zu ergänzen: Ein nicht ganz so enger Rahmen mit direktem Vergleich zumindest gerade zu den demokratischen Staatsrechtlern in der Wiener Republik hätte weitere, neue Perspektiven des „Sonderfalls“ Weimar erschlossen – denn sie alle, die österreichischen, schweizerischen Lehrer und auch die an der Deutschen Universität zu Prag bildeten den Kontext der „Deutschen Staatslehre“ und saßen daher auch, soweit sie Lehrstühle innehatten, in der Vereinigung.20 Sicherlich ist es legitim, sich dann auf diese fünf herausragenden Autoren grundsätzlich zu beschränken, ohne die Beiträge anderer zu einer modernen Theorie des demokratischen Verfassungsstaats ausführlich zu bearbeiten, auch wenn man sich hier das eine oder andere kleine Kapitel gewünscht hätte (zu „Demokratie bei Radbruch“ etwa ist 2007 eine ganze Monografie erschienen21). Immerhin werden Radbruch, Nawiasky und (sehr verdienstvoll) der heute selbst unter Experten kaum noch bekannte Wittmayer von Groh im fließenden Text ausdrücklich gewürdigt,22 und zwar gerade – man denke an Radbruchs fundamentalen Aufsatz im Handbuch von Anschütz/Thoma – im Kontext ihres Plädoyers für die pluralistische Parteiendemokratie und gegen den in der Staatslehre weit verbreiteten parteienfeindlichen Zeitgeist von „Gemeinschaft“ und „Integration“. Erinnert sei daran, dass die bis heute in der politischen Kultur Deutschlands problematische (hegelianische) Vorstellung vom Staat als über den Partikularinteressen stehendes Gemeinwohl ein anti-demokratischer Mythos – oder wie es SPD-Justizminister Radbruch seinerzeit erfrischend ausdrückte: die „Lebenslüge des Obrigkeitsstaates“ gewesen ist.23 Und dass Fraenkel ebenfalls nur am Rande auftaucht, lässt sich mit seiner viel größeren Bedeutung als „Neo-Pluralist“ erst nach 1949 vertreten. 19 20 21 22 23
Groh, S. 1. Vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, 1999, S. 186 f. Vgl. Klein, Demokratisches Denken bei Gustav Radbruch, 2007. Vgl. Groh, z. B. S. 233 ff. Radbruch, Die politischen Parteien im System des deutschen Verfassungsrechts; in: Anschütz/ Thoma (Hg.), HB des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, 1930, S. 289.
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Groh führt den Vergleich dann wiederum sehr breit angelegt gleich auf drei zentralen Ebenen, die auch die Gliederung der Arbeit in ihre Hauptteile vorgeben: Im ersten Teil „Staats- und Demokratielehren“ geht es vor allem auch um die unterschiedlichen methodischen Zugänge. Gerade die „positivistischen Staatsrechtslehrer“ entwickelten ein Verständnis für die „Interdependenz zwischen der praktischen Politik und ihrem konkreten verfassungsrechtlichen Rahmen“, hatten ein scharfes „Bewusstsein für die Notwendigkeit einer praktisch informierten Politikwissenschaft in einer Staatsrechtslehre, die begann, sich auch als Lehre des politischen Systems zu begreifen“.24 Und der „Anti-Positivist“ Hermann Heller schrieb sowieso eine „Staatslehre als Teil der politischen Wissenschaften“.25 Sie waren daher alle, so Groh treffend, zugleich Politikwissenschaftler,26 auch wenn Heller unter dem Begriff des Politischen und der „Souveränität“ natürlich etwas ganz anderes verstand als etwa der realistische Demokratietheoretiker und Radikal-Positivist Kelsen.27 Diese heute oft unterschlagene bzw. bei vielen Juristen/innen als auch Politologen/innen vergessene und den Weimarer Demokraten ganz deutlich vor Augen stehende Einsicht, dass man den Gegenstand „Verfassung“ interdisziplinär, nämlich als Verfassungspolitologie betrachten muss, kann nicht genug herausgearbeitet und betont werden. Hier liegt gerade bzgl. der vergleichenden Perspektive eine der Leistungen der Arbeit. Auch der Teil „Theorie und Praxis des Weimarer Regierungssystems“ ist sehr innovativ. Da ja alle fünf als „politikwissenschaftliche“ Verfassungsjuristen einen klaren Blick auf das politische System Weimars hatten, untersucht Groh hier die Dynamik der Wechselwirkung: „ob und wie… (diese) ihre Vorverständnisse, ihre Methodenwahl, ihre Staatstheorien und ihre Demokratielehren in die rechtliche Praxis und die Verfassungsrechtsdogmatik der Republik umsetzten“, „Zugeständnisse an die Notwendigkeit der praktischen Politik“ machten oder sogar Ausgangspositionen revidierten.28 Das wird im Detail bearbeitet anhand der Themen „Elitentheorie“, „Parteienstaat“, „Verbändepluralismustheorie“, „Parlamentarische Demokratie“ sowie „Grundrechtstheorie“. Im dritten Teil „Demokratische Verfassungstheorie“ erfolgt schließlich der Abgleich, inwieweit die fünf Klassiker „zu einer sowohl juristisch als auch politikwissenschaftlich kompatiblen Theorie des modernen demokratischen Verfassungsstaates haben liefern können“.29 Dabei stehen die Fragen des Vorrangs der Verfassung, des Verhältnisses von Staat und Verfassung (Stichworte: Souveränität / „Ausnahmezustand“) sowie schließlich die der Sicherung der Verfassung durch die Verfassungsgerichtsbarkeit im Vordergrund. 24 Groh, S. 7 f. 25 Heller, Staatslehre; jetzt in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, 2. Aufl., 1992, S. 92. 26 Vgl. auch van Ooyen, Relativismus, Positivismus und Demokratie: Kelsen, Thoma, Radbruch als politische Theoretiker der Wiener und Weimarer Republik – und ihre randständige Rezeption in der deutschen Staatslehre; in: Gangl (Fn 16), S. 239 ff. 27 Vgl. die hier bahnbrechende Schrift von Kelsen: Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., 1929; m.w.n: van Ooyen, Der Staat der Moderne (Fn. 10). 28 Groh, S. 8. 29 Ebd., S. 13. 88
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Insgesamt kommt Groh zu dem Ergebnis, dass alle fünf „das binäre Klassenstaatsdenken zugunsten pluralismustheoretischer Ansätze überwunden hatten“;30 „Theorien der Demokratie (formulierten), die auf einer pluralistischen, konfliktorientierten Basis standen“31 und das Funktionieren Weimars prinzipiell an die parlamentarische Demokratie koppelten. Kelsen habe dabei wie kein zweiter die antidemokratischen „Ideologien, Mythologien Staatstheologien“ durchschaut und kritisiert; zusammen mit Preuß zeichne ihn zudem das „stärker emanzipatorisch(e)“ Verständnis von Demokratie gegenüber den „Etatisten Anschütz und Thoma“32 aus. Im Unterschied zur seinerzeit verbreiteten Parteienfeindlichkeit (z. B. bei Triepel und Schmitt) plädierten sie alle für den parteienpluralistisch geprägten, kompromissorientierten Parlamentarismus auf der Grundlage des Verhältniswahlsystems, bei dem sie sich angesichts der Weimarer Praxis allenfalls in der Frage der Beschränkung der Vielzahl bzw. extremistischer Parteien unterschieden (Heller und Preuß). Hierbei wurden die Parteien „staatstheoretisch über die Schwelle privater Wahlvereine… in die Höhe des öffentlichen Rechts (gehoben)“ und zugleich politisch-funktionalistische Sichtweisen entwickelt, die „auch der heutigen Parteiensoziologie und den juristischen Parteienstaatslehren noch zugrunde liegen“.33 In der Frage des Korporatismus sei dagegen Skepsis verbreitet gewesen: Bei Preuß habe der organische, auf „natürliche Gemeinschaft“ ausgelegte Ansatz, bei Anschütz dessen etatistische Schlagseite eines „starken Staats“ ein vollständiges Durchdringen zum Verbändepluralismus verhindert; bei Thoma sei der Verbändepluralismus eher eine „Leerstelle“.34 Da er wie Anschütz Verbände vor allem durch eine stark rechtsstaatliche geprägte Sicht wahrgenommen habe, finde sich eher negative Kritik am Lobbyismus, der prinzipiell die demokratische Herrschaft gefährde – eine Position, die noch immer in Teilen der Staatsrechtslehre verbreitet ist. Nur Heller und Kelsen, so Groh, verarbeiteten daher schon zu dieser Zeit die Verbände pluralismustheoretisch positiv. Bei Hellers Fixierung auf Einheit und Souveränität dominiere jedoch der Staat, sodass dies zu Recht als „staatszentrierte(r) Verbändepluralismus“35 bezeichnet wird, während hier Kelsen wiederum der modernste Vordenker ist. In seiner „radikalen Pluralismustheorie“ sei der „Staat auf eine inhaltsoffene, rechtliche Verfahrensordnung (reduziert), die den möglichen Input gesellschaftlicher Interessen organisierte“: „Wer derart konsequent wie Kelsen den Staat als Selbststeuerungsmodus der Gesellschaft begriff und eine partizipartorische Demokratietheorie entwarf, der plädierte für eine radikale Verge-
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Ebd., S. 580. Ebd., S. 579. Ebd. Ebd., S. 581. Ebd. bzw. S. 270; vgl. auch S. 271. Ebd., S. 272.
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Robert Chr. van Ooyen sellschaftung des Staatswillensbildungsprozesses auf der Grundlage des freien Wettbewerbs nicht nur der politischen Parteien, sondern aller Interessengruppen im Staat“.36
Bei Anschütz und Thoma, so ließe sich ergänzen, findet sich daher speziell an dieser Stelle noch stärker die für deutsche Juristen/innen generelle typische Haltung; sie entstammt dem Konstitutionalismus des (obrigkeitsstaatlichen) Kaiserreichs und setzt sich in der Bundesrepublik fort, was etwa bis heute daran zu sehen ist, dass im Verfassungsrecht beim Rechtsstaat und den Grundrechten die differenziertesten und kompliziertesten Theorien diskutiert werden, während andererseits nach wie vor ein regelrechtes „Demokratietheorie-Defizit“ herrscht.37 So hat auch das Bundesverfassungsgericht erst 1985 mit dem „Brokdorf-Urteil“ eine an den Stand von Kelsen anschließende pluralistische Konzeption vorgelegt, die jedoch heute zugunsten des problematischen, weil an Schmitt orientierten „Legitimationsketten-Modells“ fast vergessen bzw. verdrängt worden ist.38 Im Bereich der Grundrechte dagegen aber hat Thoma dann doch diese Sicht stellenweise durchbrochen. Vor allem ihm sei bei den sog. Kommunikationsgrundrechten die Pionierarbeit gelungen, diese aus der „Ummäntelung als Verwaltungsrecht… herauszuschälen und als originäres Verfassungsrecht anzuerkennen, mehr noch: als staatskonstitutive Freiheiten zu funktionalisieren“.39 Heller (und auch Preuß) wiederum koppele mit seinem Begriff des sozialen Rechtsstaats die Grundrechte direkt an den Sozialstaat, um „gleiche Partizipationsbedingungen für alle am politischen System herzustellen“.40 Angesichts der Endphase Weimars rückten alle Staatsrechtler – mit Ausnahme Kelsens (!) – zwar in Richtung einer Stärkung der Exekutive zugunsten der Krisenbewältigung des parlamentarischen Systems; hier „wirkten sich im Wesentlichen ihre etatistischen Staatsbilder und elitentheoretischen Führungslehren aus“.41 Im Gegensatz zu den Republikgegnern sei das jedoch immer auf dem Boden der Verfassung und mit dem Zweck der Verteidigung der parlamentarischen Demokratie erfolgt.42 Das zeigte sich – so kann ergänzt werden – auch beim Vorschlag des jungen Fraenkel zur „Zähmung“ des „destruktiven“ Mißtrauensvotums, der später vom Parlamentarischen Rat mit Art. 67
36 Ebd., S. 276 f. bzw. S. 581. 37 Vgl. m.w.N.: van Ooyen, Die Staatstheorie des Bundesverfassungsgerichts und Europa, 7. Aufl., 2018. 38 Vgl. Doering-Manteuffel/Greiner/Lepsius (Hg.), Der Brokdorf-Beschluss, 2015; van Ooyen, Der Brokdorf-Beschluss (1985) und die andere Demokratietheorie des Bundesverfassungsgerichts; in: RuP, 4/2015, S. 225 ff. 39 Groh, S. 582. 40 Ebd., S. 583. 41 Ebd., S. 585. 42 Vgl. ebd. 90
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GG als einer der „Lehren“ von Weimar aufgegriffen werden sollte.43 Bei Heller allerdings sei das aufgrund seiner besonderen Betonung der Souveränität des Staates punktuell bis über den Rand der Verfassungslegalität hinaus gegangen, da er die „Lösung“ durch eine kommissarische Diktatur zur Rettung der Demokratie zumindest kurzfristig bis zum einschneidenden Erlebnis des „Staatsstreichs“ von Papens44 im „Preußenschlag“ angedacht habe. Im Prozess vor dem Staatsgerichtshof verteidigte ja dann Heller zusammen mit Arnold Brecht im Auftrag der SPD bzw. des Lands Preußen die demokratische Republik gegen Schmitt, der u. a. seitens der autoritären Präsidialregierung als Prozessvertreter bestellt worden war. Summa summarum ergebe sich die entscheidende Leistung der „Big Five“ in der Überwindung der konstitutionellen Staatslehre hin zu einer Theorie des demokratischen Verfassungsstaats; und zwar, weil sie nicht wie etwa exemplarisch Schmitt Liberalismus und Demokratie, Recht und Politik als vermeintliche unvereinbare Gegensätze gegeneinander ausspielten oder der Geltung der Verfassung den souveränen Staat mit der Entscheidung über den Ausnahmezustand vorausgehen ließen, sondern umgekehrt das alles zusammengedacht hätten: „Staat“ würde politisch überhaupt erst durch die Verfassung und ihre institutionellen Regelungen entstehen; ein staatlicher „Ausnahmezustand“ jenseits der Verfassung sei damit theoretisch unmöglich bzw. einfach zu klassifizieren als Verfassungsbruch. Und „Staats-Volk“ beinhalte daher auch keine „Substanz“ im Sinne ethnischer Homogenität, sondern sei rechtlich erst durch den Akt der Verfassungsgebung der Bürger/innen konstituiert. Gerade im rechtsstaatlichen Vorrang der Verfassung haben die „Big Five“ daher die Garantie demokratischer Verfahren sehen müssen: „Politischer Pluralismus, demokratische Republik und Verfassungsrechtsstaat verschmolzen miteinander“.45 Für dieses Konzept, das die für Weimar zentrale Frage nach der politischen „Einheit“ in der „Verfassungssouveränität“ einer pluralistischen Gesellschaft löste, stehe, so Groh, vor allem Kelsen: „Kelsen verkoppelte beide Sphären, die des Rechts und des Politischen, formal fest und gleichzeitig materiell flexibel durch demokratische Verfassung und parlamentarische Gesetzgebung. Hier traf er sich erstaunlicherweise mit Preuß. Preuß’ organische Staatstheorie zählt zwar… zu den sogenannten soziologischen Staatstheorien. Dennoch gelang es Preuß über seinen antilabandschen Versuch, den absolutistischen Begriff der konstitutionellen Staatssouveränität aus seiner Staatslehre zu eliminieren und durch einen rechtsstaatlich und demokratietheoretisch tauglicheren zu ersetzen, ebenfalls, einen frühen Begriff von Verfassungssouveränität zu entwickeln“.46
43 Vgl. Burchardt, Der Staat der Ungeduldigen. Ernst Fraenkel, die Weimarer Verfassungskrise und das konstruktive Misstrauensvotum; in: van Ooyen/Möllers (Hg.), (Doppel‐)Staat und Gruppeninteressen. Pluralismus – Parlamentarismus – Schmitt-Kritik bei Ernst Fraenkel, 2009, S. 143 ff. 44 Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, 5. Aufl.,1955, S. 491. 45 Groh, S. 591. 46 Ebd., S. 590. Recht und Politik, Beiheft 3
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Mit Blick auf Kelsen ist das natürlich nicht überraschend, hat er doch hieran anschließend sogar seine Theorie der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht – wie bei Schmitts „Hüter“ – als Gegensatz zur Demokratie, sondern explizit als deren wesentliches Element, nämlich des demokratischen Minderheitsschutzes konzipiert.47 Dass auch Preuß hier aufschließen konnte, obwohl die (konservative) organische Staatslehre in Deutschland bis heute die Souveränität des Staates hochhält – man denke nur an Kirchhofs „Staatenverbund“ in der europäischen Integration48 – erstaunt auf den ersten Blick tatsächlich. Ideengeschichtlich gibt es aber zwei Wege zur Verfassungstheorie pluralistischer Demokratie: einen über den Radikal-Relativismus der rechtspositivistischen, normativen Staatstheorie Kelsens, der mittelbar auch den Verbänden Raum lässt, und einen weiteren über den „realen“ Verbandspluralismus. Dieser aber, so Groh nachdrücklich skeptisch gegenüber der These Lehnerts, sei ausgerechnet durch Preuß wegen des „organischen“ Zugangs gerade nicht konsequent beschritten worden und sein Theorieansatz daher hier in der Betonung von gewachsener „Gemeinschaft“ statt selbstorganisierter „Gesellschaft“ (Tönnies) ambivalent geblieben.49 Nun, darüber wird man weiter trefflich streiten können. Gräbt man in der Geschichte der Pluralismustheorie tiefer und zieht auch die anglo-amerikanische hinzu,50 lässt sich noch ergänzen: In den USA beschrieb Bentley 1908 das amerikanische Regierungssystem wohl erstmals als politischen Prozess pluralistischer Gruppen;51 hier allerdings – „e pluribus unum“ – hat es von jeher pluralistische Traditionslinien bis zurück zu den Federalist Papers gegeben. In Deutschland war Preuß’ „Lehrer“ von Gierke zwar war schon insofern „Proto-Pluralist“, als er die Souveränität des Staats über die Figur der „realen Verbandspersönlichkeit“ beschränkte,52 indem er die gesellschaftlichen Gruppen als unabhängig vom Staat existierende, „gewachsene“ und „reale“ Größen begriff. So gedacht sind Verbände dann nicht länger „Geschöpfe“ des Staates, sondern „originär“ – und radikal zu Ende gedacht im letzten Schritt: „souverän“ – wie der Staat selbst. Gierke als Vertreter der organischen Staatslehre konnte diesen Schritt nicht gehen und hielt schließlich am Konzept staatlicher Souveränität fest; seine Arbeiten waren in der Rezeption aber bahnbrechend für die Entwicklung der englischen Pluralismustheorie. Und Laski, der englische Pluralismustheoretiker, bestritt dann radikal die Souveränität des Staates, indem er auf dem Hintergrund der philosophischen Konzeption von William James der monistischen Einheit „Staat“ den Pluralismus der Verbände ge-
47 Vgl. van Ooyen, Die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit in der pluralistischen Demokratie und die Kontroverse um den „Hüter der Verfassung“; Einführung zu Kelsen: Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, Neuausgabe, 2008. 48 Vgl. van Ooyen, „Volksdemokratie“ und nationalliberaler Etatismus; in: van Ooyen/Möllers (Hg.), HB Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl., 2015, S. 69 ff. 49 Groh, S. 257 ff. 50 Vgl. zum Folgenden m.w.N.: van Ooyen, Der Staat der Moderne (Fn. 10), S. 24 ff. 51 Vgl. Bentley, The Process of Government, Neuausgabe, 1995. 52 Vgl. von Gierke, Das Wesen der menschlichen Verbände, 1902. 92
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genüberstellte.53 Franz Neumann (wie Fraenkel Assistent bei Sinzheimer), der noch einmal, nämlich 1936 im Exil bei Laski promovierte, war denn auch später in England verblüfft über die Parallelen zwischen Kelsen und Laski,54 weil Laski ebenfalls den Begriff des Rechtsstaats ganz im Sinne von Kelsen, nämlich als Identität von Staat und Recht interpretiere, die abstrakt und nicht als Seinskategorie zu begreifen sei. Auf Parallelen verwies etwa zur gleichen Zeit der „Laski-Schüler“ Ebenstein, weil der „rechtliche Pluralismus der Wiener Schule… an die Theorie des politischen Pluralismus, wie sie jüngst von Figgis, Cole und Laski vorgetragen wurde, (erinnert)“55 – und gegen die Schmitt als anarchistische „Staatsauflösungstheorie“ Sturm gelaufen war. Grohs Arbeit ist im Detail kenntnisreich und im systematischen Vergleich der „Big Five“ innovativ. Erstaunlich aber ist, dass einer der großen „Herzensrepublikaner“ – und mit seinen gerade für das Thema dieser Studie bahnbrechenden Weimarer Arbeiten – fast völlig fehlt: Loewenstein. Sicherlich war er zu dieser Zeit „nur“ Privatdozent und sollte auch erst mit seiner an „political power and the governmental process“ ausgerichteten „Verfassungslehre“ viel später zur großen Berühmtheit im Fach auflaufen.56 Aber gerade dieser „Max-Weber-Schüler“ zeigte schon in Weimar mit seinen realitätsgesättigten, historischen Analysen zum Parlamentarismus in England und Frankreich zweierlei:57 Erstens, wie die in Deutschland als akademisches Fach noch nicht existente „politische Wissenschaft… methodologisch geartet war und zu welchen Resultaten es führen konnte, zu denen weder das öffentliche Recht, wie es damals gelehrt wurde, noch auch die Soziologie oder die Nationalökonomie von sich aus führen konnte“.58 Zweitens drang dieser den britischen Parlamentarismus tief bewundernde – schon dies war seinerzeit für die deutsche Staatslehre völlig untypisch – („staatssoziologische“) Positivist wie Kelsen noch in den 20er Jahren zu einem hart am pluralismustheoretischen Konzept der politischen Interessen ausgerichteten Begriff von Politik und Demokratie als Verfahren – also weg vom Substanz-, hin zum Funktionsbegriff und
53 Vgl. insb.: Laski, Studies in the Problem of Sovereignty, 1917. 54 Vgl. Neumann, Die Herrschaft des Gesetzes (engl. 1936), 1980, S. 203. 55 Ebenstein, Die rechtsphilosophische Schule der Reinen Rechtslehre, 1938, S. 129. Zu dieser Einschätzung gelangte er sogar, obwohl sich seine rechtstheoretische Arbeit gar nicht oder allenfalls ganz am Rande mit den demokratietheoretischen Schriften Kelsens beschäftigte. Ebensteins Arbeit erschien als Band 1 der von Weyr und Kelsen – zu dieser Zeit schon im Exil – in Prag herausgegebenen Reihe „Rechts- und Staatswissenschaftliche Studien“. 56 So auch der amerikanische Originaltitel von 1957; dt. „Verfassungslehre“ (Fn. 4). 57 Vgl. Loewenstein, Volk und Parlament nach der Staatstheorie der Französischen Nationalversammlung von 1789 (1922), 2. Neudr., 1990; die beiden Studien zur „Soziologie der parlamentarischen Repräsentation in England“ von 1923/24 sind wieder abgedruckt in: Loewenstein, Beiträge zur Staatssoziologie, 1961, S. 34 – 172. 58 So schon Hermens, Nachruf; in: ZfP, 1/1974, S. 3; vgl. auch van Ooyen, Ein moderner Klassiker der Verfassungstheorie; in: ZfP, 1/2004, S. 68 ff. Recht und Politik, Beiheft 3
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damit tief nach „Westen“ vor.59 Selbst Loewensteins i. e.S. juristisch-dogmatisch konzipierte Habilitation über die Verfassungsänderung60 spiegelt sein prozeduraler Verständnis von Demokratie, das unbedingte Festhalten an der Legalität der Verfassung und angesichts der beginnenden Endphase Weimars ihrer formellen Verfahren wider – und zwar gegen Schmitts Lehre von den materiellen Schranken gerichtet, denen das Grundgesetz mit seiner „Ewigkeitsklausel“ und im Laufe der Zeit die Staatsrechtslehre mit einer Fülle „normativer Zementierungen“61 folgen sollte. Gegenüber ihrem „langen Weg“ – oder besser: Umweg – „nach Westen“ (Winkler), den die deutsche Staatslehre erst ab den 50er Jahren62 u. a. durch die „Freiburger Schule“ um Hesse, Ehmke, Häberle antreten wird, war daher nicht nur Kelsen, sondern auch schon Loewenstein ein „abkürzender“ Pionier; beide waren in den 20er Jahren längst an dem Ort, an den Teile der deutschen Staatsrechtslehre bis heute nicht vollständig angekommen sind. Zu Loewenstein hätte man sich daher zumindest ein Kapitel gewünscht – und zwar gerade in vergleichender Perspektive, war er doch weder wie Heller „Anti-Positivist“ noch aber wie Anschütz, Thoma und vor allem Kelsen (politologisch denkender) Rechts-Positivist, sondern ein am soziologischen „Machtrealismus“ Webers geschulter „Rechts- bzw. Verfassungspolitologe“.
59 Vgl. Lang, Karl Loewenstein. Transatlantischer Denker der Politik, 2007; van Ooyen (Hg.), Verfassungsrealismus. Das Staatsverständnis von Karl Loewenstein, 2007; aktuell Lepsius: Karl Loewenstein (1891 – 1973); in: Häberle u. a. (Hg.), Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts, 2015, S. 411 ff. 60 Vgl. Loewenstein, Erscheinungsformen der Verfassungsänderung (1931), Neudr., 1968. 61 Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig?, 2008, S. 67. 62 Vgl. Günther, Denken vom Staat her, 2004. 94
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Die Entstehung der Ersten Republik Österreich 1918 – 1920 aus rechtshistorischer Sicht Von Christoph Schmetterer
I. Einleitung Als die Habsburgermonarchie im Ersten Weltkrieg unterlag, führte das in doppelter Hinsicht zu ihrem Ende. Einerseits führte die Niederlage zum Zerfall des Vielvölkerreiches, andererseits beendete sie die Herrschaft der Habsburger als Monarchen. Das Habsburgerreich hatte 1867 durch den sogenannten Ausgleich mit Ungarn jene staatsrechtliche Form erhalten, die es bis zu seinem Untergang 1867 behielt. Damals war aus dem Kaisertum Österreich die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn geworden, die aus zwei Reichshälften bestand; die ungarische Reichshälfte bestand aus dem heutigen Ungarn, der heutigen Slowakei, Kroatien und Siebenbürgen (heute ein Teil Rumäniens) und war ein durchzentralisierter Einheitsstaat, in dem nur Kroatien eine gewisse Autonomie hatte. Die österreichische Reichshälfte war hingegen als dezentralisierter Einheitsstaat in 17 Kronländer (Böhmen, Bukowina, Dalmatien, Galizien, Görz-Gradisca, Kärnten, Krain, Küstenland, Mähren, Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Schlesien, Steiermark, Tirol, Triest, Vorarlberg) gegliedert. Diese beiden Reichshälften waren durch die Herrschaft der Habsburger (in Personalunion als Kaiser in Österreich und als Könige in Ungarn) sowie durch eine gemeinsame Außenpolitik und eine gemeinsame Armee (die Realunion) miteinander verbunden. Beide Reichshälften waren Vielvölkerstaaten, wobei in Ungarn die Magyaren die Staatsnation bildeten, während die einzelnen Nationalitäten in der österreichischen Reichshälfte, die auch Cisleithanien genannt wurde,1 formell gleichberechtigt waren. Faktisch hatten die deutsche Sprache und damit die deutschsprachigen Österreicher aber eine gewisse Vorrangstellung.2 1
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Die Leitha war der Grenzfluss zwischen den beiden Reichshälften. Die österreichische Reichshälfte wurde informell zwar Österreich genannt, doch bis 1915 hatte sie keinen offiziellen Namen, sondern wurde tautologisch als „die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“ bezeichnet. (Der Reichsrat war das Parlament der österreichischen Reichshälfte.) Erst 1915 erhielt Cisleithanien auch offiziell den Namen Österreich. Zum Ausgleich von 1867 siehe: Brauneder, Die Verfassungsentwicklung in Österreich 1848 bis 1918, in: Rumpler/Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 VII, Verfas-
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Duncker & Humblot, Berlin
Christoph Schmetterer
Das Verhältnis der einzelnen Nationalitäten zueinander war ein Dauerthema bis zum Ende dieses Reiches, das für das 19. Jahrhundert als Epoche von Nationalismus und Nationalstaat untypisch war. Eine abschließende Lösung war auch deshalb kaum möglich, weil die Grenzen der historischen Kornländer keineswegs den Sprachgrenzen entsprachen und Siedlungsgebiete der einzelnen Nationalitäten auch nicht geschlossen waren. In Böhmen beispielsweise lebten Tschechen und Deutsche, sodass eine besondere Autonomie für Böhmen nur wenig geeignet gewesen wäre, den Konflikt zwischen Tschechen und Deutschen zu entschärfen.3 Zwischen 1867 und dem Ende Ersten Weltkrieg wurden – trotz vieler Reformüberlegungen4 –weder die staatsrechtliche Struktur der Monarchie noch jene der österreichischen Reichshälfte umgestaltet. Allerdings gelang es durch nationale Ausgleiche, das Nationalproblem in einzelnen Kronländern zu entschärfen. 1905 wurden in Mähren nationale Kataster eingeführt, 1910 in der Bukowina und 1914 wurde ihre Einführung in Galizien beschlossen – wegen des Ersten Weltkriegs kam es aber nicht mehr dazu.5 Durch den Krieg erhielt die nationale Frage eine Sprengkraft, die sie vorher nicht gehabt hatte. Vor dem Krieg war der Nationalitätenkonflikt zwar ein ständiges und in gewisser Weise wohl auch unlösbares Problem gewesen; eine unmittelbare Bedrohung für die Existenz der Monarchie war er aber nicht. Je länger aber der Krieg dauerte, umso wahrscheinlicher wurde, dass die Habsburgermonarchie nach dem Krieg nicht mehr in der Form existieren würde, in der sie in den Krieg gegangen war.6 Als im Herbst 1918 unweigerlich klar wurde, dass Österreich-Ungarn den Krieg verlieren würde, unternahm Kaiser Karl einen letzten Versuch, zumindest die österreichische Hälfte seines Reichs umfassend zu reformieren. Am 16. November 1918 erließ er sein „Völkermanifest“, in dem er erklärte, Cisleithanien solle „zu einem Bundesstaate werden, in dem jeder Volksstamm auf seinem Siedlungsgebiete sein eigenes staatliches
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sung und Parlamentarismus, 2000, S. 174 – 190; Olechowski-Hrdlcka, Die gemeinsamen Angelegenheiten der österreichisch-ungarischen Monarchie, 2001; zum Nationalitätenproblem siehe: Kann, Das Nationalitätenproblem in der Habsburgermonarchie, 1964. Tatsächlich hatte es 1871 mit den sogenannten Fundamentalartikeln sehr konkrete Pläne für eine besondere Autonomie gegeben, die letztlich aber scheiterten. Zum Nationalitätenkonflikt in Böhmen siehe: Höbelt, Böhmen, 2012, S. 133 – 163. Besonders bekannt ist wohl der Vorschlag im Werk des Rumänen Aurel Popovici, die Monarchie zu einem gleichnamigen Bundesstaat zu machen (Popovici, Die Vereinigten Staaten von Großösterreich, 1906). Der 1914 in Sarajevo ermordete Thronfolger Franz Ferdinand hatte zumindest eine gewisse Sympathie für diese Idee, und auch im Brünner Programm der österreichischen Sozialdemokratie von 1899 wurde die Umbildung der österreichischen Reichshälfte zu einem „Nationalitätenbundesstaat“ gefordert; zum Brünner Programm: Hans Mommsen, Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im habsburgischen Vielvölkerstaat 1, 1963. Zu diesen kronland-internen Ausgleichen siehe: Urbanitsch, Die nationalen Ausgleichsversuche in den Ländern Cisleithaniens, in: Fasora (Hrsg.), Der Mährische Ausgleich von 1905, 2006, S. 43 – 58. Zur Innenpolitik im Ersten Weltkrieg siehe: Höbelt, Stehen oder Fallen, 2015. Recht und Politik, Beiheft 3
Die Entstehung der Ersten Republik Österreich 1918 – 1920
Gemeinwesen bildet“. Der Kaiser rief die einzelnen Völker seines Reiches auf, durch „Nationalräte […] gebildet aus den Reichsratsabgeordneten jeder Nation“ an der Reform mitzuwirken. Tatsächlich wurden Versammlungen aus Reichsrats-Abgeordneten einzelner Nationalitäten gebildet, aber sie führten nicht zu einer Reform der Monarchie, sondern zu deren Ende.7
II. Der Staatsgründungsbeschluss Die Reichsratsabgeordneten, an die sich der Kaiser in seinem Manifest wendete, waren 1911 gewählt worden, als der Reichsrat zum zweiten Mal nach einem allgemeinen und gleichen Männerwahlrecht gewählt worden war.8 Im Frühjahr 1914 hatte Kaiser Franz Joseph den Reichsrat wegen des Nationalitätenstreits in Böhmen vertagt, sodass die österreichische Reichshälfte ohne Parlament in den Krieg gegangen war. Kaiser Karl beendete diesen Kriegsabsolutismus und berief den Reichsrat für Mai 1917 wieder sein.9 Allerdings waren die Mandate der auf fünf Jahre gewählten Abgeordneten zu diesem Zeitpunkt schon fast abgelaufen. Um eine Wahl, und vor allem einen Wahlkampf im Krieg zu vermeiden, wurde die Legislaturperiode durch ein Sondergesetz verlängert.10 Jene Reichsratsabgeordneten, die 1911 in überwiegend deutschsprachigen Wahlkreisen gewählt worden waren, folgten dem Aufruf des Kaisers und versammelten sich am 21. Oktober 1918 im niederösterreichischen Landhaus, das an sich der Sitzungsort des niederösterreichischen Landtags war. Allerdings konstituierten sie sich nicht als Nationalrat, sondern als „Provisorische Nationalversammlung“ und erklärten programmatisch: „Das deutsche Volk in Österreich ist entschlossen, seine künftige Staatsform selbst zu bestimmen, einen selbständigen deutsch-österreichischen Staat zu bilden und seine Beziehungen zu den anderen Nationen durch freie Vereinbarung mit ihnen zu regeln.“11 Diese Formulierung ließ Vieles offen: die Frage der Staatsform ebenso wie das Verhältnis der Deutschösterreicher zu den anderen Völkern der Donaumonarchie. Allein die Tatsache, dass diese Fragen explizit und öffentlich gestellt wurden, zeigt aber, 7 Das Völkermanifest wurde veröffentlicht in der: Wiener Zeitung, Nr. 240 vom 17. 10. 1918, Extra-Ausgabe; zum Völkermanifest siehe: Rumpler, Das Völkermanifest Kaiser Karls vom 16. Oktober 1918, S. 1966; Haberl, Das Nationalitätenproblem der Österreichisch-Ungarischen Monarchie und das Völkermanifest, phil. Dipl.Arb., Univ. Wien, 2011. 8 Zur Reichsratswahl 1911 siehe: Rumpler, Parlament und Regierung Cisleithaniens 1867 bis 1914, in: Rumpler/Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonaarchie 1848 – 1918 VII, S. 667 – 894, hier S. 889. 9 RGBl. 183/1917. 10 RGBl. 300/1917; zur letzten Session des Reichsrats 1917/18 siehe: Höbelt, Parteien und Fraktionen im cisleithanischen Reichsrat, in: Rumpler/Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonaarchie 1848 – 1918 VII, S. 894 – 1006, hier S. 996 – 1006. 11 Der Beschluss ist unter anderem publiziert in der: Arbeiter-Zeitung, Nr. 288 vom 22. 10. 1918, S. 2. Recht und Politik, Beiheft 3
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dass sich die Nationalversammlung auf ein Ende der Habsburgermonarchie vorbereitete. Die Provisorische Nationalversammlung bestand aus 208 Abgeordneten, die, mit Ausnahme von neun Mandataren, drei großen Fraktionen angehörten. Die stärkste Fraktion waren die Deutschnationalen mit 96 Abgeordneten; die Christlich-Sozialen hatten 65 Abgeordnete und die Sozialdemokraten 38. Trotz ihrer unterschiedlichen Größe wurden sahen sich diese drei Fraktionen bei der Konstituierung der Provisorischen Nationalversammlung als im Prinzip gleichberechtigt an – nicht zuletzt, weil absehbar war, dass sich die Mehrheitsverhältnisse seit der Reichsratswahl 1911 geändert hatten; insbesondere war zu vermuten, dass die Sozialdemokraten deutlich stärker werden würden. Dementsprechend wurden drei gleichberechtigte Präsidenten gewählt, ein Deutschnationaler (Franz Dinghofer), ein Christlich-Sozialer (Jodok Fink) und ein Sozialdemokrat (Karl Seitz). Außerdem wurde ein Vollzugsausschuss gebildet, der aus diesen drei Präsidenten und 20 weiteren Abgeordneten bestand. Dessen Aufgabe bestand primär darin, Anträge an die Nationalversammlung vorzubereiten. Die Initiative für Beschlüsse der Nationalversammlung lag also beim Vollzugsausschuss.12 In den nächsten Tagen zerfiel dann sowohl die österreichisch-ungarische Monarchie als auch deren österreichische Reichshälfte. Ungarn kündigte die Realunion in Reaktion auf das Völkermanifest zum 31. Oktober,13 am 28. Oktober rief der tschechoslowakische Nationalausschuss in Prag die Tschechoslowakei als Republik aus,14 und einen Tag später wurde in Agram der Staat der Slowenen, Kroaten und Serben (SHS-Staat) gegründet, in dem alle südslawischen Gebiete Österreich-Ungarns in Unabhängigkeit von der Habsburgermonarchie vereinigt wurden.15 Diese Ereignisse brachten die deutschösterreichische Nationalversammlung in Wien unter Zugzwang. Immerhin war der Weltkrieg noch nicht vorbei, wenn auch klar war, dass ein Waffenstillstand und damit das Eingeständnis der Niederlage nur noch eine Frage der Zeit war. Da sich die anderen Nationalitäten aus der Habsburgermonarchie „verabschiedeten“, wollten die Deutsch-Österreicher vermeiden „übrig zu bleiben“ und als Rest der alten Monarchie alleine die Last der Niederlage zu tragen. Am 30. Oktober gründete die Provisorische Nationalversammlung daher den neuen Staat Deutschösterreich, in dem sie einen „Beschluss […] über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt“ fasste.16 Dieser Beschluss war eine juristische Revolution. Die Nationalversammlung schuf eine neue Verfassungsordnung, ohne dabei die Regeln der bestehenden Verfassung, konkret der Dezemberverfassung von 1867 ein-
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Brauneder, Deutschösterreich 1918, 2000, S. 32 – 45. Brauneder, Deutschösterreich, S. 127 – 130. Brauneder, Deutschösterreich, S. 252 – 253. Brauneder, Deutschösterreich, S. 256. StGBl. 1/1918. Recht und Politik, Beiheft 3
Die Entstehung der Ersten Republik Österreich 1918 – 1920
zuhalten.17 Dabei war der Staatsgründungsbeschluss vom 30. Oktober 1918 keineswegs eine vollständige Verfassung – das war schon allein wegen der kurzen Vorbereitungszeit nicht möglich, obwohl die Nationalversammlung auf manche Vorarbeiten des Sozialdemokraten Karl Renner zurückgreifen konnte.18 Geregelt wurden nur die Gesetzgebung und die Spitze der Verwaltung. Die Provisorische Nationalversammlung war die „oberste Gewalt des Staates Deutschösterreich“ und übte die Gesetzgebung selbst aus.19 Für die Exekutive war hingegen der Staatsrat zuständig, der dem Vollzugsausschuss entsprach, der schon bei der Konstituierung der Provisorischen Nationalversammlung am 21. Oktober 1918 gewählt worden war.20 Der Staatsrat führte die Regierung aber nicht selbst, sondern durch Staatssekretäre, die an der Spitze der Staatsämter standen und zusammen die Staatsregierung bildeten.21 Diese erste Regierung Deutschösterreichs war eine Allparteienregierung, die aus fünf christlich-sozialen, jeweils drei sozialdemokratischen und deutschnationalen sowie zwei parteilosen Staatssekretären bestand.22 Die Staatssekretäre entsprachen also Ministern und die Staatsämter Ministerien. Diese Bezeichnungen wurden aber bewusst vermieden – wohl um deutlich zu machen, dass der neue Staat nicht die Fortsetzung der alten Monarchie war. Den Vorsitz in den Sitzungen der Staatsregierung übernahm Karl Renner, der die Kanzlei des Staatsrats leitete. Er nannte sich bald nicht mehr „Leiter der Staatskanzlei“, sondern „Staatskanzler“ und wurde so faktisch zum Regierungschef.23 Auch wenn sich der am 30. Oktober 1918 gegründete neue Staat Deutschösterreich ausdrücklich nicht als Rechtsnachfolger des alten Österreich sah, übernahm er doch dessen Rechtsordnung, soweit sie nicht ausdrücklich durch den Staatsgründungsbeschluss aufgehoben wurde. Deutschösterreich befand sich zum alten Österreich somit in einem Verhältnis der formalen Diskontinuität; materiell bestand aber weitestgehend Rechtskontinuität.24 Interessanterweise enthielt der Staatsgründungsbeschluss keine expliziten Aussagen über die Staatsform Deutschösterreichs. Die Worte Republik und Monarchie oder Synonyme dafür wurden strikt vermieden. Genauso strikt wurde jegliche Erwähnung des Kaisers vermieden. Dabei residierte Kaiser Karl am 30. Oktober immer noch in Schönbrunn. Eine der Bedingungen der Sozialdemokratie für die Teilnahme an der neuen deutschösterreichischen Staatsregierung war aber, dass die Gesetzgebung nur 17 Berchtold, Verfassungsgeschichte der Republik Österreich 1, S. 56 – 57. 18 Schefbeck, Verfassungsentwicklung 1918 – 1920, in: Österreichische Parlametarische Gesellschaft (Hrsg.), 75 Jahre Bundesverfassung, 1995, S. 59. 19 §§ 1 – 2 Staatsgründungsbeschluss. 20 §§ 3 – 6 Staatsgründungsbeschluss. 21 §§ 8 – 14 Staatsgründungsbeschluss. 22 Schefbeck, Verfassungsentwicklung, S. 61. 23 Höbelt, Die Erste Republik Österreich, 2018, S. 132. 24 § 16 Staatsgründungsbeschluss; dazu Brauneder, Deutschösterreich, S. 86 – 89. Recht und Politik, Beiheft 3
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durch die Nationalversammlung ohne Sanktionsrecht des Kaisers erfolgen sollte.25 Dem entsprach der Wortlaut des Staatsgründungsbeschlusses, in dem von einem Sanktionsrecht des Kaisers nicht die Rede war.26 Auch im Zusammenhang mit der Regierungsund Vollzugsgewalt sah der Staatsgründungsbeschluss keinerlei Kompetenzen des Kaisers vor.27 Der Staatsgründungsbeschluss richtete im neuen Deutschösterreich somit insofern ein republikanisches System ein, als ein Monarch nicht mehr vorgesehen war. Trotzdem bedeutete der 30. Oktober noch keine endgültige Entscheidung für die Republik. Schon in § 1 des Staatsgründungsbeschlusses wurde festgehalten, dass die Provisorische Nationalversammlung die oberste Gewalt nur „einstweilen“ und „vorbehaltlich der Beschlüsse der konstituierenden Nationalversammlung“ ausüben sollte. Es war also nicht Aufgabe der provisorischen Nationalversammlung eine endgültige Verfassung für Deutschösterreich auszuarbeiten und zu beschließen. Das sollte einer Konstituierenden Nationalversammlung vorbehalten werden; die wurde dann am 16. Februar 1919 tatsächlich gewählt und beschloss erst am 1. Oktober 1920 eine endgültige Verfassung. Die Entscheidung über die Staatsform fiel aber schon wesentlich früher.
III. Das Ende von Krieg und Monarchie Am 27. Oktober 1918 ernannte Kaiser Karl seine letzte österreichische Regierung mit Heinrich Lammasch, einem pazifistischen Professor für Straf- und Völkerrecht als Ministerpräsidenten. Zu diesem Zeitpunkt war absehbar, dass eine Reform der Monarchie im Sinne des Völkermanifests nicht möglich sein würde, weshalb die Regierung Lammasch schon vor ihrer Ernennung als „Liquidationsministerium“ gesehen wurde.28 Am 31. Oktober 1918, einen Tag nach dem Staatsgründungsbeschluss übergab Lammasch die Regierungsgeschäfte, soweit sie sich auf die deutschsprachigen Gebiete der österreichischen Reichshälfte bezogen, an den neuen deutschösterreichischen Staatsrat.29 Kaiser Karl wurde also immer mehr zu einem Kaiser ohne Reich, doch dieses sich auflösende Reich befand sich immer noch im Krieg. 25 Berchtold, Verfassungsgeschichte, S. 24. 26 § 2 Staatsgründungsbeschluss („Die gesetzgebende Gewalt wird von der Provisorischen Nationalversammlung selbst ausgeübt“) im Gegensatz zu § 13 Satz 2 des Grundgesetzes über die Reichsvertretung aus der Dezemberverfassung 1867 („Zu jedem Gesetze ist die Übereinstimmung beider Häuser und die Sanction des Kaisers erforderlich.“, RGBl. 141/1867). 27 § 3 Staatsgründungsbeschluss („Mit der Regierungs- und Vollzugsgewalt betraut die Provisorische Nationalversammlung einen Vollzugsausschuß, den sie aus ihrer Mitte bestellt. Der Vollzugsausschuß führt den Titel ›Deutschösterreichischer Staatsrat‘“) im Gegensatz zu Art 2. Satz des Staatsgrundgesetzes über die Ausübung der Regierungs- und Vollzugsgewalt aus der Dezemberverfassung 1867 („Der Kaiser übt die Regierungsgewalt durch verantwortliche Minister und die denselben untergeordneten Beamten und Bestellten aus..“, RGBl. 145/1867). 28 Neue Freie Presse, Nr. 19458 vom 26. 10. 1918, S. 1. 29 Berchtold, Verfassungsgeschichte, S. 26. 100
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Am 29. Oktober 1918 hatte Karl ein schriftliches Waffenstillstandsersuchen an das italienische Hauptquartier schicken lassen, wobei seine Vorstellungen von den möglichen Bedingungen unrealistisch optimistisch waren. Dementsprechend enttäuscht war der Kaiser, als Italien praktisch eine bedingungslose Kapitulation verlangte. Das wollte er nicht annehmen; also versuchte er die Entscheidung über den Waffenstillstand auf die Nationalversammlung abzuwälzen. Am 2. November lud der Kaiser die deutschösterreichischen Parteiführer zu einer diesbezüglichen Besprechung zu sich, doch Victor Adler, der todkranke Parteiführer der Sozialdemokraten lehnte es ab, die Verantwortung für diese Entscheidung zu übernehmen, in dem er erklärte, der Krieg sei vom Kaiser (allerdings Franz Joseph, nicht Karl) begonnen worden und solle nun auch von „jenen Faktoren“ beendet werden. Somit wurde der Waffenstillstand zwischen Österreich-Ungarn und der Entente dann am 3. November in der Villa Giusti von Viktor Weber von Webenau, einem General der österreichisch-ungarischen Armee, geschlossen, und nicht von Politikern des neuen Regimes30 – ganz im Gegensatz zum Deutschen Reich, wo die Oberste Heeresleitung, den Waffenstillstand von Politikern unterzeichnen ließ, was deren spätere Punzierung als „Novemberverbrecher“ ermöglichte. Im Deutschen Reich endete die Monarchie bereits am 9. November 1918. Im Oktober hatte sich herauskristallisiert, dass die Abdankung Wilhelms II. eine Voraussetzung für einen Waffenstillstand war, doch der zögerte so lange, diese Forderung zu erfüllen, dass sein letzter Reichskanzler, Prinz Max von Baden, am 9. November schließlich eigenmächtig die Abdankung Wilhelms verkündete. Noch am selben Tag wurde in Berlin die Republik ausgerufen – und zwar gleich zwei Mal, vom Sozialdemokraten Philipp Scheidemann und vom Linkssozialisten Karl Liebknecht. Auch die Monarchien in den Einzelstaaten des Deutschen Reiches endeten in diesen Tagen. Die Ausrufung der Republik in Deutschland hatte unmittelbare Auswirkungen auf Deutschösterreich. Einerseits eröffnete sie die Möglichkeit eine Republik Deutschösterreich in eine größere deutsche Republik einzugliedern, andererseits realisierte Kaiser Karl nun, dass auch in Österreich unweigerlich das Ende der Monarchie gekommen war. Am 10. November beschloss der Staatsrat, der Nationalversammlung einen Gesetzesentwurf vorzulegen, mit dem ausdrücklich die republikanische Staatsform Deutschösterreichs festgelegt werden sollte. Außerdem war in diesem Entwurf vorgesehen, Deutschösterreich zu einem Teil der Deutschen Republik zu deklarieren.31 Der Staatsrat informierte den Kaiser von diesen Plänen, und die Sozialdemokraten versuchten ihn zur Abdankung zu überreden. Dazu war Karl aber nicht bereit. In der Nacht vom 10. auf den 11. November wurde schließlich ein Kompromiss gefunden: Der Kaiser dankte zwar nicht ab, verzichtete aber auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften und erklärte, die Entscheidung über die künftige Staatsform Deutschösterreichs im Vorhinein anzuerkennen. Auch wenn Karl damit dem Wortlaut nach zwar 30 Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie, 2014, S. 1046. 31 Berchtold, Verfassungsgeschichte, S. 26, 36 – 37. Recht und Politik, Beiheft 3
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nicht abgedankt hatte, bedeutete diese Verzichtserklärung faktisch das Ende der Monarchie. Gleichzeitig mit der Verzichtserklärung entließ der Kaiser auch die Regierung Lammasch und ernannte – seinem Verzicht entsprechend – kein neues Kabinett.32 Am nächsten Tag beendete auch das altösterreichische Parlament seine Tätigkeit. Das Herrenhaus, die erste Kammer des Reichsrats, hatte schon am 30. Oktober, dem Tag des Staatsgründungsbeschlusses, seine letzte Sitzung abgehalten. Damals war pro forma noch die schriftliche Einberufung der nächsten Sitzung vorgesehen worden, doch diese Einberufung erfolgte nicht mehr.33 Das Abgeordnetenhaus, die zweite Kammer des Reichsrats, hielt seine letzte Sitzung am 12. November ab. Das Ziel dieser Sitzung war, die Tätigkeit des Abgeordnetenhauses zu beenden. Eine Selbstauflösung war in der Dezemberverfassung aber nicht vorgesehen. Nur der Kaiser hätte den Reichsrat auflösen können, aber der hatte schon am Vortag auf seinen Anteil an den Staatsgeschäften und damit auch auf diese Möglichkeit verzichtet. Also beschloss das Abgeordnetenhaus die Sitzung zu beenden, ohne einen Termin für die nächste Sitzung festzulegen, sodass die Sitzung am 12. November die letzte war.34
IV. Die Ausrufung der Republik Nachdem das Abgeordnetenhaus am Vormittag des 12. November 1918 seine letzte – übrigens nur wenige Minuten dauernde – Sitzung im Parlamentsgebäude an der Wiener Ringstraße abgehalten hatte, trat am Nachmittag die Nationalversammlung zusammen. Da das Parlamentsgebäude nun nicht mehr von Reichsrat der Monarchie besetzt war, tagte die Nationalversammlung nicht mehr im niederösterreichischen Landhaus, sondern im Parlamentsgebäude. Im Übrigen waren die beteiligen Personen in beiden Fällen weitgehend dieselben, denn die Provisorische Nationalversammlung bestand ja aus den deutschsprachigen Mitgliedern des Abgeordnetenhauses. Am 12. November 1918 beschloss nun die Provisorische Nationalversammlung das Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich, dessen Art. 1 lautete: „Deutschösterreich ist eine demokratische Republik. Alle öffentlichen Gewalten werden vom Volke eingesetzt.“ Art. 2 proklamierte: „Deutschösterreich ist ein Bestandteil der deutschen Republik.“35 Die Frage der Staatsform war im Staatsgründungsbeschluss zwar offengelassen worden, aber die Weichen in Richtung Republik waren schon damals am 30. Oktober gestellt 32 Zur Verzichtserklärung Kaiser Karls: Brauneder, Ein Kaiser abdiziert doch nicht bloß zum Scheine! – Der Verzicht Kaiser Karls am 11. November 1918, in: Richter/Dirbach (Hrsg.), Thronverzicht. Die Abdankung in Monarchien vom Mittelalter bis in die Neuzeit, 2010, S. 123 – 140. 33 Stenographische Protokolle des Herrenhauses des Reichsrats, XXII. Session, S. 1269. 34 Stenographische Protokolle des Abgeordnetenhauses des Reichsrates, XXII. Session, S. 4701. 35 StGBl. 5/1918. 102
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worden. Am 12. November wurde bezüglich der Staatsform das ausdrücklich festgelegt, was schon zwei Wochen zuvor implizit angelegt worden war. Bei der Frage des Anschlusses an Deutschland war das anders. Immerhin war am 30. Oktober noch nicht klar gewesen, dass auch Deutschland zur Republik werden würde. Ein Zusammenschluss einer deutschösterreichischen Republik mit einem monarchischen Deutschen Reich wäre aber kaum vorstellbar gewesen.36 Hingegen war schon Ende Oktober 1918 klar, dass Deutschösterreich nur als Teil eines größeren Verbunds in der vorgesehenen Weise würde existieren können. Der neue Staat beanspruchte ja nicht nur die Gebiete des heutigen Österreich, sondern alle mehrheitlich deutsch besiedelten Gebiete der österreichischen Reichshälfte der Monarchie. Das umfasste insbesondere auch die deutschsprachigen Gebiete von Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien. Diese Gebiete hatten aber nur eine sehr lose Verbindung zum restlichen Staatsgebiet Deutschösterreichs.37 In der Monarchie war das eine kompakte territoriale Einheit gewesen, weil diese Gebiete durch die tschechisch-sprachigen Teile Böhmens, Mährens und Schlesiens verbunden waren. Auch eine Vereinigung mit Deutschland hätte zu einen kompakten Territorium geführt, weil die deutschsprachigen Gebiete dieser drei Kronländer (mit Ausnahme einiger Sprachinseln) an das Deutsche Reich grenzten. Ein völlig unabhängiges Deutschösterreich aus allen deutschsprachigen Gebieten Cisleithaniens hätte hingegen eine territorial höchst ungewöhnliche, vielleicht sogar praktisch unmögliche Form gehabt. Dieses Problem war den Mitgliedern der Provisorischen Nationalversammlung im Oktober 1918 natürlich bewusst, doch damals gab es eben noch zwei Optionen: erstens ein gewisser Zusammenschluss mit den anderen Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie, insbesondere mit der neuen Tschechoslowakei, wenn auch ohne Habsburger und nicht als Monarchie, diese Möglichkeit wurde damals als Donaukonföderation bezeichnet; zweitens der Anschluss an Deutschland. Im Oktober 1918 sprach noch die Monarchie in Deutschland gegen die deutsche Option, doch Mitte November war auch Deutschland zur Republik geworden. Außerdem war klar geworden, dass die anderen Nachfolgestaaten kein Interesse an einer Donaukonföderation hatten.38 Damit blieb nur der deutsche Option. Der Wortlaut des Art. 2 des Gesetzes über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich war freilich missverständlich. Er erweckte nämlich den Eindruck, dass Deutsch-Österreich bereits am 12. November 1918 zu einem Teil Deutschlands wurde. Das geschah aber nicht. Vielmehr war der Anschlussartikel nur eine Art Absichtserklärung.
36 Berchtold, Verfassungsgeschichte, S. 35 – 37. 37 Zur territorialen Abgrenzung Deutschösterreichs: Berchtold, Verfassungsgeschichte, S. 86 – 111. Brauneder, Deutschösterreich, S. 193 – 202; Höbelt, Die Erste Republik Österreich, 2018, S. 15 – 27. 38 Berchtold, Verfassungsgeschichte, S. 35 – 36. Recht und Politik, Beiheft 3
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Sowohl der Staatsgründungsbeschluss als auch das Gesetz über die Staats- und Regierungsform waren Provisorien. Die Provisorische Nationalversammlung ergänzte diese punktuellen Regelungen zwar in den folgenden Wochen und Monaten durch einige weitere Gesetze über die grundlegende Organisation des neuen Staates,39 aber es war von Anfang an klar, dass die endgültige Verfassung Deutschösterreichs nicht von der Provisorischen Nationalversammlung ausgearbeitet und beschlossen werden sollte. Die Mitglieder der Provisorischen Nationalversammlung waren zwar nach einem allgemeinen und gleichen Männerwahlrecht gewählt worden, aber das lag sieben Jahre zurück, und so musste man davon ausgehen, dass die Mandatsverteilung in der Provisorischen Nationalversammlung nicht mehr den tatsächlichen Mehrheitsverhältnissen in der Bevölkerung entsprachen. Daher wurde in Art. 9 des Gesetzes über die Staatsund Regierungsform festgelegt, dass im Jänner 1919 die schon im Staatsgründungsbeschluss vorgesehene Konstituierende Nationalversammlung gewählt werden sollte.40
V. Die Entwicklung in den Ländern Die österreichische Reichshälfte der Monarchie war ein dezentralisierter Einheitsstaat. In den einzelnen Kronländern gab es Landtage, die für die Landesgesetzgebung zuständig waren, und von den Landtagen gewählte Landesausschüsse, deren Aufgabe die autonome Landesverwaltung war. Im Gegensatz zum Reichsrat wurden die Landtage bis zum Ende der Monarchie nach dem Kuriensystem gewählt,41 das Landtagswahlrecht war somit nicht gleich und in manchen Ländern auch nicht allgemein.42 Am 22. Oktober 1918, nur einen Tag nach der Konstituierung der Provisorischen Nationalversammlung trafen sich in Wien Vertreter der Landesausschüsse von Kärnten, Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Tirol und Vorarlberg und er-
39 Insbesondere: Gesetz betreffend die Übernahme der Staatsgewalt in den Ländern (StGBl. 24/ 1918), Grundgesetz über Richterliche Gewalt (StGBl. 38/1918), Gesetz über Umfang, Grenzen und Beziehungen des Staatsgebietes von Deutschösterreich (StGBl. 41/1918). 40 Art. 9 Gesetz über die Staats- und Regierungsform. 41 Die Landtage bestanden seit 1861 typischerweise aus vier Kurien, den Vertretern des Großgrundbesitzes, der Handelskammern, der Städte und der Landgemeinden. Großgrundbesitzer, Städte und Landgemeinden stellten jeweils rund ein Drittel der Abgeordneten, die Handelskammern nur eine kleine Zahl. Die Zahl der Stadtbewohner war um ein Vielfaches höher als jene der Großgrundbesitzer, und es gab noch wesentlich mehr Wähler in den Landgemeinden. Da diese drei Kurien aber etwa gleich viele Abgeordnete hatten, war der Großgrundbesitz massiv überrepräsentiert, die Landgemeinden relativ unterrepräsentiert. 42 Zum Föderalismus in der Monarchie allgemein siehe: Simon, Die Föderalisierung des Kaisertums Österreich nach 1860 und der Gedanke der Selbstverwaltung, in: Neuhaus (Hrsg.), Selbstverwaltung in der Geschichte Europas in Mittelalter und Neuzeit, 2009, S. 257 – 283; zum Wahlrecht zu den Landtagen siehe: Melik, Zusammensetzung und Wahlrecht der cisleithanischen Landtage, in: Rumpler/Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 VII, 2000, S. 1311 – 1352. 104
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klärten, „die in der deutschen Nationalversammlung vom 21. Oktober 1918 zur Tat gewordene Vereinigung aller Deutschen zu begrüßen“.43 Noch vor dem Staatsgründungsbeschluss forderte der Vollzugsausschuss der Provisorischen Nationalversammlung die Länder auf, Beitrittserklärungen zum neuen Staat Deutschösterreich abzugeben und provisorische Landesversammlungen anstelle der Landtage zu bilden. Die Stärkeverhältnisse in diesen Versammlungen sollten sich an den Reichsratswahlen von 1911 und nicht an der Zusammensetzung der Landtage orientieren, weil der Reichsrat im Gegensatz zu den Landtagen zuletzt nach einem demokratischen Wahlrecht gewählt worden war. In den nächsten Tagen und Wochen folgten alle sieben Länder, die an der Konferenz vom 22. Oktober 1918 teilgenommen hatten, dieser Aufforderung, wobei Niederösterreich und Tirol ihren Beitritt nur implizit erklärten. Die erste und die vorletzte Beitrittserklärung kamen aber von zwei Ländern, die keine Teilnehmer der Konferenz vom 22. Oktober waren, weil es sie damals noch gar nicht gab.44 Am 29. Oktober konstituierten sich die deutschböhmischen Reichsratsabgeordneten in Wien, wo sie sich als Mitglieder der Provisorischen Nationalversammlung aufhielten, als Landesversammlung des neuen Landes Deutschböhmen und erklärten dessen Beitritt zu Deutschösterreich. Die deutschsprachigen Gebiete Mährens und Schlesiens erklärten sich in einer Landesversammlung am 14. November zum neuen Land Sudetenland und traten ebenfalls der Republik Deutschösterreich bei.45 Die Beitrittserklärungen der Länder wurden später als Argument dafür gesehen, dass die Gründung Deutschösterreichs von den Ländern ausgegangen sei. Das ist insofern wenig überzeugend, als die Länder ihre Erklärungen erst abgaben, nachdem sie vom Vollzugsausschuss dazu aufgefordert worden waren.46 Im Oktober/November 1918 ging es nicht primär um die Frage, ob die Souveränität des neuen Staates beim Zentralstaat oder den Ländern lag, sondern darum, deutlich zu machen, dass die Gründung Deutschösterreichs auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker beruhte. Daher hatten die Beitrittserklärungen Deutschböhmens und des Sudetenlandes ganz besonderes Gewicht, weil deren Gebiete auch von der Tschechoslowakei beansprucht wurden.47
43 Brauneder, Deutschösterreich, S. 64 – 67. 44 Berchtold, Verfassungsgeschichte, S. 39 – 51; der Text der Beitrittserklärungen ist enthalten in: Kelsen, Verfassungsgesetze der Republik Deutschösterreich 3, 1919, S. 181 – 230. 45 Berchtold, Verfassungsgeschichte, S. 103. 46 Zur Deutung der Staatsgründung insbesondere unter einheitsstaatlichem bzw. bundesstaatlichem Aspekt siehe: Brauneder, Deutschösterreich, S. 272 – 286. 47 Schefbeck, Verfassungsentwicklung, S. 73. Recht und Politik, Beiheft 3
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VI. Die Konstituierende Nationalversammlung Am 16. Februar 1919 – also etwas später als bei der Ausrufung der Republik beschlossen worden war – wurde die Konstituierende Nationalversammlung für Deutschösterreich gewählt. Das Wahlrecht brachte in zwei wesentlichen Punkten eine Abkehr vom Wahlrecht der Monarchie. Einerseits wurde das Mehrheitswahlrecht durch ein Verhältniswahlrecht ersetzt, andererseits waren die Wahlen im Februar 1919 die ersten wirklich allgemeinen Wahlen in der österreichischen Geschichte, weil nun Männer und Frauen gleichermaßen wahlberechtigt waren.48 Eigentlich hätte die Konstituierende Nationalversammlung aus 255 Abgeordneten bestehen sollen. Da die Wahl aber nicht in allen von Deutschösterreich beanspruchten Gebieten durchgeführt werden konnte, wurden nur 159 Abgeordnete gewählt. In zwei Wahlkreisen (Mittel- und Untersteiermark, Deutsch-Südtirol) konnte die Wahl nur in einem kleinen Teil des vorgesehenen Gebietes abgehalten werden. Für diese Wahlergebnisse wurden weitere elf Abgeordnete entsprechend den regionalen Teilergebnissen durch Beschluss der Konstituierenden Nationalversammlung kooptiert. In den von Deutsch-Österreich beanspruchten Gebieten von Böhmen, Mähren und Schlesien konnten die Wahlen überhaupt nicht stattfinden. Auch für die Wahlkreise in diesen Gebieten wäre eine Ernennung von Abgeordneten durch den Staatsrat vorgesehen gewesen, doch weil es dort keine Anhaltspunkte für ein hypothetisches Wahlergebnis gab, wurde darauf verzichtet.49 Die Konstituierende Nationalversammlung bestand somit aus 170 Abgeordneten. Davon entfielen 72 Mandate auf die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, 69 auf die Christlich-Soziale Partei, 26 auf verschiedene deutschnationale Parteien und drei auf Kleinstparteien.50 Somit waren die Deutschnationalen die großen Verlierer der Wahl von 1919. In der provisorischen Nationalversammlung waren sie noch die stärkste Fraktion gewesen, nun landeten sie weit abgeschlagen auf dem dritten Platz – die Sozialdemokraten und Christlich-Soziale waren jeweils fast drei Mal so stark. Das hing einerseits damit zusammen, dass die Deutschnationalen ihre Hochburgen in Böhmen, Mähren und Schlesien hatten, also jenen Gebieten, in denen nicht gewählt werden konnte. Andererseits traten statt einer deutschnationalen Partei über zehn Listen des nationalen Lagers zur Wahl an, und diese Zersplitterung hatte den Wahlerfolg auch nicht gefördert. Die Sozialdemokraten waren von der drittstärksten zur stärksten Fraktion geworden,51 hatten mit drei Mandaten Vorsprung vor den Christlich-Sozialen aber nur eine knappe relative Mehrheit. Kurioserweise hatte die Sozialdemokratie nur bei den männlichen 48 StGBl. 114 und 115/1918; zum Wahlrecht der Konstituierenden Nationalversammlung siehe: Strejcek, Das Wahlrecht der Ersten Republik, 2009. 49 Berchtold, Verfassungsgeschichte, S. 140 – 144. 50 Höbelt, Erste Republik, S. 367. 51 Höbelt, Erste Republik, S. 95 – 98. 106
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Wählern eine absolute Mehrheit der Stimmen ganz knapp verfehlt. Somit brachte Frauenwahlrecht, für das sich die Sozialdemokraten ganz besonders eingesetzt hatte, eine deutliche Verschlechterung ihres Wahlergebnisses.52 Das passive Wahlrecht für Frauen nützten hingegen vor allem Sozialdemokratinnen. Immerhin zogen sieben von ihnen in die Konstituierende Nationalversammlung ein. Daneben gab es noch eine christlich-soziale Abgeordnete. Die Deutschnationalen und die drei Kleinstparteien stellten nur männliche Abgeordnete.53 Schon zwei Tage nach ihrem Zusammentreten beschloss die Konstituierende Nationalversammlung eine Änderung der provisorischen Verfassungsordnung. Der Staatsrat wurde abgeschafft und seine Kompetenzen gingen auf die Staatsregierung über. Die wurde nunmehr direkt von der Nationalversammlung gewählt, wobei das Proporzsystem mit der Drittelparität aller politischen Lager aufgegeben wurde.54 Die neue Regierung war dementsprechend auch keine Allparteienregierung mehr, sondern eine Koalition von Sozialdemokraten und Christlich-Sozialen, die zusammen über mehr als vier Fünftel der Parlamentssitze verfügten. Der Staatskanzler war weiterhin Karl Renner.55
VII. Der Vertrag von St. Germain Die Hauptaufgabe der Konstituierenden Nationalversammlung war die Verfassungsgebung. Während die deutsche Nationalversammlung, die einen Monat zuvor am 6. Februar 1919 in Weimar zusammengetreten war, bereits nach einem halben Jahr die Weimarer Reichsverfassung beschloss, gab es in Österreich erst über ein Jahr später, im Herbst 1920 eine Verfassung. Dass man in Wien zunächst die deutsche Verfassung abwartete, war nur logisch; immerhin sollte Deutsch-Österreich ja ein Teil des Deutschen Reiches werden. Vom Frühsommer bis zum Herbst 1919 war aber nicht die künftige Verfassung Deutschösterreichs, sondern der Friedensvertrag das zentrale politische Thema, wobei klar war, dass dort die Entscheidung über den Anschluss fallen würde. Im Mai 1919 reiste die österreichische Delegation unter Kanzler Renner zu den Verhandlungen nach St. Germain-en-Laye. Allerdings durfte sie an den Verhandlungen nicht teilnehmen, sondern war interniert und konnte sich lediglich schriftlich äußern.56 Es war also von Anfang deutlich, dass die Siegermächte die deutschösterreichische Delegation als Vertreter eines besiegten Landes betrachteten. Aus deutschösterreichi52 Höbelt, Erste Republik, S. 60. 53 Zur Einführung des Frauenwahlrechts siehe: Bader-Zaar, Demokratisierung und Frauenwahlrecht (1918/19), in: Fischer (Hrsg.), 100 Jahre Republik, 2018, S. 30 – 43. 54 StGBl. 180/1919; Präambel 3. Absatz. 55 Stenographische Protokolle der Konstituierenden Nationalversammlung, 5. Sitzung, 15. 3. 1919, S. 95 – 96. 56 Zur Geschichte der Verhandlungen: Berchtold, Verfassungsgeschichte, S. 177 – 187. Recht und Politik, Beiheft 3
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scher Sicht hingegen war die österreichische Reichshälfte der Monarchie in mehrere Staaten zerfallen und hatte damit zu existieren aufgehört.57 Deutschösterreich war nach seinem Selbstverständnis nur einer von mehreren dieser „Nachfolgestaaten“ und daher genauso wenig Rechtsnachfolger der Habsburgermonarchie wie die Tschechoslowakei oder Polen. Der Vertrag von St. Germain, der am 10. September 1919 unterzeichnet wurde, betrachtete die Republik Österreich dann aber doch als Rechtsnachfolgerin der Monarchie.58 Der Vertrag von St. Germain enthielt ebenso wie jener von Versailles, in dem der Krieg mit dem Deutschen Reich beendet worden war, ein Anschlussverbot.59 In beiden Verträgen war nicht ausdrücklich von einem Anschluss Österreichs an Deutschland die Rede, sondern ganz allgemein von der „unabänderlichen Unabhängigkeit Österreichs“. Es war aber klar, dass diese Bestimmungen darauf abzielten einen Anschluss zu verhindern. Eine Möglichkeit ließen die beiden Verträge aber doch. Das Anschlussverbot sollte nicht gelten, falls „der Rat des Völkerbundes einer Abänderung zustimmt“. Nicht nur in Bezug auf Deutschland, sondern auch bezüglich der anderen Nachbarstaaten wurden die österreichischen Grenzen im Vertrag von St. Germain endgültig definiert. (Die damals festgelegten Grenzen sind bis heute aktuell.) Italien erhielt – wie schon im Vertrag von London 1915 zugesagt – Südtirol bis zum Brenner, obwohl die deutsch-italienische Sprachgrenze deutlich südlicher verlief, sodass auch das praktisch ausschließlich deutschsprachige Südtirol zu Italien kam. Die Untersteiermark wurde dem SHS-Staat zugesprochen. Insgesamt gab es dort eine slowenische Mehrheit, doch es gab auch eine erhebliche deutschsprachige Bevölkerung, die vor allem in den größeren Städten die Mehrheit hatte. Kleinere Teile Kärntens wurden ebenfalls dem SHSStaat zugesprochen, doch für den Großteil der umstrittenen Gebiete konnte Österreich eine Volksabstimmung durchsetzen, und in der entschied sich die Bevölkerung (auch mit slowenischen Stimmen) mehrheitlich für den Verbleib bei Österreich.60 Den größten Verlust bildeten aber die deutschsprachigen Gebiete in Böhmen, Mähren und Schlesien, die zusammen mit einem schmalen Streifen im nördlichen Niederösterreich der Tschechoslowakei zugesprochen wurden. Mit den deutschsprachigen Gebieten Westungarns, dem späteren Burgenland, erhielt Österreich aber auch einen kleinen Gebietszuwachs, der allerdings erst 1921/22 tatsächlich durchgeführt wurde.61 57 In Bezug auf Ungarn war die Situation anders, weil sich der ungarische Staat auch nach dem Ersten Weltkrieg immer als Rechtsnachfolger der ungarischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie verstand. 58 StGBl. 303/1920. 59 Art. 80 Vertrag von Versailles, Art. 88 Vertrag von St. Germain 60 Der Grenzverlauf war in Art. 27 Vertrag von St. Germain geregelt; zur Kärtner Volksabstimmung siehe: Weinmann, Die südslawische Frage und Jugoslawien, in: Konrad/Maderthaner (Hrsg.), … der Rest ist Österreich. Das Werden der Ersten Republik 1, 2008, S. 119 – 138. 61 Auch hier gab es eine Volksabstimmung, deren sehr umstrittene Durchführung Mitte Dezember 1921 ergab, dass Ödenburg/Györ, der größte Ort des betroffenen Gebiets, bei Ungarn 108
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Der Verlust Südtirols und der deutschsprachigen Gebiete in der Tschechoslowakei entsprach nicht dem Selbstbestimmungsrecht der Völker. Deshalb und wegen des Anschlussverbots wurde der Vertrag in Österreich als ungerechtes Diktat empfunden.62 Trotzdem zog die Konstituierende Nationalversammlung am 21. Oktober 1919 – exakt ein Jahr nach der Konstituierung der provisorischen Nationalversammlung – die legislativen Konsequenzen aus dem Vertrag von St. Germain und beschloss ein neues Gesetz über die Staatsform.63 Dessen Art. 1 lautete: „Deutschösterreich in seiner durch den Staatsvertrag von St. Germain bestimmten Abgrenzung ist eine demokratische Republik unter dem Namen ,Republik Österreich‘. Die Republik Österreich übernimmt jedoch – unbeschadet der im Staatsvertrage von St. Germain auferlegten Verpflichtungen – keinerlei Rechtsnachfolge nach dem ehemaligen Staate Österreich, das ist den ,im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern‘.“ Art. 2 des Gesetzes über die Staats- und Regierungsform vom 12. November 1918 mit der Proklamation Deutsch-Österreichs zum Teil von Deutschland wurde ausdrücklich aufgehoben. Österreich akzeptierte also nolens volens die Bestimmungen des Vertrags von St. Germain, anerkannte aber nicht die Rechtsnachfolge als solche. Deshalb wurde der Vertrag in Österreich auch als Staatsvertrag bezeichnet und nicht als Friedensvertrag – schließlich war die Republik Österreich nach ihrer Auffassung nie im Krieg mit der Entente gewesen.
VIII. Die Entstehung des Bundes-Verfassungsgesetzes Dass der Friedensvertrag ein Anschlussverbot mit sich bringen würde, war schon absehbar, als Renner im Mai 1919 nach St. Germain fuhr. Er hatte daher schon kurz vor einer Abreise den Wiener Staatsrechtsprofessor Hans Kelsen damit beauftragt, eine definitive Verfassung für ein selbstständiges Österreich auszuarbeiten.64 Tatsächlich erstellte Kelsen bis zum Herbst 1919 zumindest fünf Entwürfe,65 die alle der gleichen Grundstruktur folgten, manche Bereiche aber unterschiedlich regelten, um unter-
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blieb; dazu: Rásky, Vom Schärfen der Unschärfe, in: Konrad/Maderthaner (Hrsg.), … der Rest ist Österreich, S. 139 – 158. Siehe zum Vertrag von St. Germain und seiner Aufnahme: Mikoletzky, St. Germain und Karl Renner, in: Konrad/Maderthaner (Hrsg.), … der Rest ist Österreich, S. 179 – 186. StGBl. 484/1919. Olechowski, Der Beitrag Hans Kelsens zur österreichischen Bundesverfassung, in: Walter/Ogris/ Olechowski (Hrsg), Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit, 2009, S. 211 – 230, hier S. 216. Erhalten sind sechs von Kelsen mit I bis VI nummerierte Entwürfe, von denen allerdings die Entwürfe I und IV bis auf den Staatsnamen („Deutschösterreich“ in Entwurf I und „Österreich“ in Entwurf IV), ident sind, sodass es nur fünf inhaltlich verschiedene Entwürfe sind. Kelsens Entwürfe sind publiziert bei: Schmitz, Die Vorentwürfe Hans Kelsens für die österreichische Bundesverfassung, 1981.
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schiedliche politische Wünsche berücksichtigen zu können. Jene Bereiche waren insbesondere die Frage, ob es ein eigenes Staatsoberhaupt geben sollte, die Konzeption der Ländervertretung im Bundesparlament und die Gestaltung der Grundrechte, die in vier Entwürfen dem altösterreichischen Vorbild folgte, sich in einem aber ganz deutlich am Grundrechtskatalog der Weimarer Reichsverfassung orientierte.66 Obwohl die Konstituierende Nationalversammlung ausdrücklich gewählt worden war, um eine Verfassung für Österreich zu beschließen, erklärte der Tiroler Landtag am 27. September 1919, dass „die Staatsverfassung der Republik Österreich nur auf föderativer Grundlage und darum nicht ohne Zustimmungen der Länder und deren hiefür erforderlichen Einigung auf das Verfassungsstatut aufgerichtet werden kann“.67 Der Landtag stellte somit das Monopol der Nationalversammlung auf die (Bundes‐) Verfassungsgebung in Frage und ließ von Stefan Falser, einem pensionierten Richter des Verwaltungsgerichtshofes, einen Verfassungsentwurf als Diskussionsgrundlage ausarbeiten. Dieser am 7. Oktober 1919 vorgelegte Entwurf Falser folgte stark dem Vorbild der schweizerischen Verfassung und war betont föderalistisch.68 Rechtlich war das vom Tiroler Landtag in Anspruch genommene Zustimmungsrecht zur Bundesverfassung sehr zweifelhaft, aber politisch konnten ihn Staatsregierung und Nationalversammlung nicht völlig unberücksichtigt lassen – zumal die anderen Länder die Tiroler Position jeweils mit bürgerlichen Mehrheiten übernahmen. Die Frage, ob die Länder einer Bundesverfassung zustimmen mussten, war somit nicht nur zwischen Zentralstaat und Ländern, sondern vor allem zwischen den Regierungsparteien umstritten. Die Sozialdemokraten mit ihrer Hochburg Wien waren insgesamt wesentlich zentralistischer als die Christlich-Sozialen, die sich auf bürgerliche Mehrheiten in den Ländern stützten konnten. Da die Größe der einzelnen Länder sehr unterschiedlich war und die sozialdemokratische Anhängerschaft im großen Wien konzentriert war, bedeutete jede Föderalisierung potentiell mehr Macht für die Christlich-Sozialen, während die Sozialdemokraten davon ausgehen mussten, durch eine Föderalisierung an Einfluss zu verlieren. Im Februar 1920 fand dann in Salzburg eine Länderkonferenz zur Diskussion der Verfassung statt.69 Die Grundlage war ein Entwurf, den der christlich-soziale Staatssekretär für Verfassungs- und Verwaltungsreform, Michael Mayr, erstellt hatte.70 Dieser Entwurf wurde als Privatentwurf Mayr bezeichnet, weil sich die Staatsregierung bis dahin nicht auf einen offiziellen Entwurf verständigen konnte. Im Inhalt und vor allem der Form baute der Privatentwurf Mayr auf Kelsens Entwurf II auf und versuchte 66 Olechowski, Beitrag Hans Kelsens, S. 218 – 220. 67 Berchtold, Verfassungsgeschichte, S. 201, Fn. 13. 68 Der Entwurf Falser ist (in zwei Fassungen) publiziert bei: Ermacora, Die Entstehung der Bundesverfassung 1920 4, 1990, S. 503 – 522. 69 Berchtold, Verfassungsgeschichte, S. 230 – 233. 70 Der Privatentwurf Mayr ist (als Vorentwurf) publiziert bei: Ermacora, Entstehung der Bundesverfassung 4, S. 290 – 413. 110
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gleichzeitig die Wünsche der Länder zu berücksichtigen, mit deren Vertretern der Staatssekretär im Dezember 1919 und im Jänner 1920 intensive Gespräche zur Verfassung geführt hatte.71 Nach der Salzburger Konferenz gab es im April 1920 eine weitere Länderkonferenz in Linz, für die Mayr seinen Privatentwurf überarbeitete. Diese zweite Fassung von Mayrs Entwurf wurde auch als Linzer Entwurf bezeichnet.72 Auch auf der Linzer Konferenz konnten die Differenzen zwischen den Parteien nicht endgültig ausgeräumt werden, aber es wurde immerhin deutlich, in welchen Bereichen bereits eine Einigung möglich war und wo noch eine Lösung gefunden werden musste.73 Nach der Linzer Konferenz begann ein Regierungskomitee die offenen Fragen auszuverhandeln und den Linzer Entwurf zu überarbeiten. Dabei wurden einige Fortschritte erzielt, doch dann zerbrach am 10. Juni 1920 die Koalition. Der Anlass hatte mit der Verfassung nichts zu tun, sondern lag in einer Auseinandersetzung über die Wahl von Vertrauensmännern in der Armee. Die Koalition wurde schließlich durch eine Allparteienregierung der drei Lager ersetzt, wobei gleichzeitig die Funktionsperiode der Konstituierenden Nationalversammlung verkürzt wurde. Die sollte nur mehr bis Anfang Oktober 1920 tagen, und schon für den 17. Oktober 1920 wurden Neuwahlen in Aussicht genommen.74 Wegen des Endes der Koalition kam eine Regierungsvorlage für die Verfassung nie zustande. Immerhin wurde am 8. Juli 1920 der Entwurf Renner-Mayr veröffentlicht, der den Stand der – nicht abgeschlossenen – Arbeiten bei Beendigung der Koalition dokumentierte.75 Am selben Tag wurde in der Nationalversammlung ein Unterausschuss des Verfassungsausschusses gebildet, um die Arbeiten fortzusetzen. Dessen Arbeitsgrundlage war aber nicht der Renner-Mayr-Entwurf, der eben nicht vollständig war, sondern der Linzer Entwurf. Den Vorsitz führten mit Otto Bauer und Ignaz Seipel jeweils ein prominenter Sozialdemokrat bzw. Christlich-Sozialer. Hans Kelsen beriet den Ausschuss als juristischer Experte. Der Unterausschuss schloss seine Arbeit bis Ende August 1920 ab und konnte dabei noch einige offenen Punkte (wie etwa die Wahl des Bundespräsidenten) lösen. Bei anderen umstrittenen Fragen zeichnete sich hingegen ab, dass eine Einigung zumindest im Moment nicht möglich war.76 Die Punkte, über die keine Einigung erzielt werden konnte, waren vor allem die Kompetenzverteilung, wobei die Einigung an den Kompetenzen im Abgabenwesen und
71 Berchtold, Verfassungsgeschichte, S. 220 – 230. 72 Der Linzer Entwurf ist (als Vorentwurf zweite Fassung) publiziert bei: Ermacora, Entstehung der Bundesverfassung 4, S. 290 – 413. 73 Berchtold, Verfassungsgeschichte, S. 238 – 241. 74 StGBl. 283/1919. 75 Der Renner-Mayr-Entwurf ist publiziert bei: Ermacora, Entstehung der Bundesverfassung 4, S. 414 – 481. 76 Berchtold, Verfassungsgeschichte, S. 247 – 254. Recht und Politik, Beiheft 3
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im Schulwesen scheiterte, und schließlich die Grundrechte.77 Bezüglich der Grundrechte löste man das Problem schließlich, indem man auf Neuregelungen verzichtete und einfach die Rechtslage der Monarchie übernahm. Die Bundesverfassung der Republik Österreich hat daher bis heute keinen eigenen Grundrechtskatalog; stattdessen sind die Grundrechte weiterhin in einem Gesetz aus der Dezemberverfassung der Monarchie verbürgt: dem Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger von 1867, das 1920 statt eines neuen Grundrechtskatalogs in das Verfassungsrecht der Republik übernommen wurde.78 Auch bei der Kompetenzverteilung wurde zunächst jene aus der Monarchie beibehalten, doch hier war der Rückgriff auf die alte Rechtslage von Vornherein nur eine Übergangslösung. Die Bundesverfassung enthielt nämlich einen neuen Kompetenzkatalog, doch weil noch keine Einigung über die Finanzverfassung erzielt werden konnte, beschloss man, die neue Kompetenzverteilung erst in Kraft zu setzen, wenn es auch eine neue Finanzverfassung gab. Das geschah dann 1925.79 Nachdem man die letzten strittigen Punkte durch den Verzicht auf deren Neuregelung gelöst hatte beschloss die Nationalversammlung am 1. Oktober 1920 das „BundesVerfassungsgesetz, womit Österreich als Bundesstaat eingerichtet wird“.80
IX. Die Bundesverfassung 1920 Die Republik Österreich bestand nach der Verfassung von 1920 zunächst aus sieben Bundesländern (Kärnten, Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Tirol, Vorarlberg),81 zu denen gleich am Beginn der Zwanzigerjahre zwei weitere kamen. Einerseits wurde die Hauptstadt Wien von Niederösterreich getrennt und so zu einem eigenen Bundesland;82 andererseits wurden die deutschsprachigen Gebiete Ungarns, die Österreich durch den Vertrag von St. Germain erhalten hatte, zum neuen Bundesland Burgenland.83
77 Berchtold, Verfassungsgeschichte, S. 254 – 259. 78 Art. 149 Abs. 1 Bundes-Verfassungsgesetz 1920. 79 § 42 Verfassungs-Übergangsgesetz (StGBl. 451/1920); in dieser Bestimmung war das Inkrafttreten der Kompetenzverteilung auch an ein Verfassungsgesetz über die Kompetenzverteilung im Schulwesen geknüpft; mangels entsprechender Einigung wurde bei der Verfassungsnovelle 1925 (BGBl. 268/1925) dann aber auf dieses Erfordernis verzichtet (§ 9, BGBl. 269/1925); zur Verfassungsnovelle 1925 siehe: Berchtold (Hrsg.), Die Verfassungsreform von 1925, S. 1992. 80 StGBl. 450/1920 = BGBl. 1/1920. 81 Art. 2 Bundes-Verfassungsgesetz 1920. 82 LGBl. für Wien 153/1921; LGBl. für Niederösterreich Land 346/1921. 83 BGBl- 85/1921. 112
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Die Gesetzgebung und die Verwaltung sind zwischen Bund und Ländern aufgeteilt, während die Gerichtsbarkeit ausschließlich Bundessache ist.84 Die Bundesgesetzgebung erfolgt durch ein Zweikammerparlament aus Nationalrat und Bundesrat, die Landesgesetzgebung durch Einkammer-Landtage. Der Nationalrat und die Landtage werden in allgemeiner, gleicher, geheimer und direkter Verhältniswahl gewählt, während der Bundesrat von den Landtagen beschickt wird. Ein Land hat im Bundesrat mindestens drei und maximal zwölf Sitze. Die Relation ergibt sich aus der Bevölkerungszahl der Länder. Die beiden Kammern des Bundesparlaments (das übrigens keinen gemeinsamen Namen hat) sind nicht gleichberechtigt. Der Bundesrat hat in der Regel gegenüber Beschlüssen des Nationalrats nur ein suspensives Veto, sodass die Länderkammer, über deren Zusammensetzung bei der Entstehung der Verfassung viel diskutiert worden war, in der Verfassungspraxis ziemlich bedeutungslos ist.85 Anders als von 1918 bis 1920 gibt es mit dem Bundespräsidenten ein eigenes Staatsoberhaupt, der nach den Regelungen von 1920 von der Bundesversammlung (dem Nationalrat und dem Bundesrat in gemeinsamer Sitzung) gewählt wurde und auf repräsentative Aufgaben beschränkt war, die er noch dazu nur auf Vorschlag und unter Gegenzeichnung der Bundesregierung ausüben konnte.86 An der Spitze der Bundesverwaltung steht die Bundesregierung, die nach der Stammfassung der Verfassung von 1920 vom Nationalrat gewählt wurde. Genauso kann der Nationalrat die Bundesregierung oder einzelne Bundesminister durch ein Misstrauensvotum absetzen. Der Bundeskanzler führt in der Bundesregierung den Vorsitz, ist aber nur primus inter pares. Er hat gegenüber den anderen Bundesministern weder Weisungsmöglichkeit noch Richtlinienkompetenz.87 An der Spitze der Landesverwaltung steht die Landesregierung unter dem Vorsitz des Landeshauptmannes, die vom Landtag gewählt wird.88 In Österreich gibt es drei gleichrangige Höchstgerichte: den Obersten Gerichtshof als letzte Instanz in Zivil- und Strafsachen,89 den Verwaltungsgerichtshof, der prüfen kann, ob individuelle Verwaltungsakte den Gesetzen entsprechen, 90 und schließlich den Verfassungsgerichtshof. Während Oberster Gerichtshof und Verwaltungsgerichtshof schon in der Monarchie mit denselben Kompetenzen existierten, war der Verfassungsgerichtshof zu einem guten Teil eine Neuschöpfung Hans Kelsens für die Republik. Aus der Monarchie übernahm der Verfassungsgerichtshof die Zuständigkeit für Ministeranklagen, die Verletzung von Grundrechten durch Verwaltungsbehörden und 84 Art. 10 – 15 Bundes-Versammlungsgesetz 1920. 85 Die Bundesgesetzgebung ist in den Art. 24 – 55, die Grundzüge der Landesgesetzgebung sind in Art. 95 – 100 Bundes-Versammlungsgesetz 1920 geregelt. 86 Art. 60 – 68 Bundes-Versammlungsgesetz 1920. 87 Art. 69 – 78 Bundes-Versammlungsgesetz 1920. 88 Art. 101 – 106 Bundes-Versammlungsgesetz 1920. 89 Art. 92 Bundes-Versammlungsgesetz 1920. 90 Art. 129 – 136 Bundes-Versammlungsgesetz 1920. Recht und Politik, Beiheft 3
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bestimmte Kompetenzkonflikte. Neu waren insbesondere die Zuständigkeiten zur Prüfung von Wahlen und zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von einfachen Gesetzen.91
X. Ausblick Die Bundesverfassung schuf in ihrer Stammfassung von 1920 ein betont parlamentarisches System. 1929 wurde sie novelliert, wobei die Position des Bundespräsidenten deutlich gestärkt wurde. Er sollte nun nicht mehr von der Bundesversammlung, sondern vom Volk gewählt werden. Außerdem wird die Bundesregierung seither nicht mehr vom Nationalrat gewählt, sondern vom Bundespräsidenten ernannt, der bei der Ernennung des Bundeskanzlers – im Gegensatz zu seinen anderen Kompetenzen – weder Vorschlag noch Gegenzeichnung benötigt. Der Bundespräsident hat seit 1929 auch das Recht, die Bundesregierung zu entlassen. Die Möglichkeit eines parlamentarischen Misstrauensvotums gibt es aber weiterhin. Das System der österreichischen Bundesverfassung ist also auch nach der Verfassungsnovelle von 1929 weiterhin ein parlamentarisches, das seither einen starken präsidentiellen Einschlag hat. Insofern brachte die Novelle von 1929 eine gewisse Annäherung der österreichischen Bundesverfassung an die Weimarer Reichsverfassung.92 Im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung wurde die österreichische Bundesverfassung auch nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in Kraft gesetzt. Das wurde schon bei der Unabhängigkeitserklärung Österreichs am 30. April 1945 beschlossen,93 wobei zunächst noch nicht ganz klar war, ob man zur radikal-parlamentarischen Stammfassung von 1920 oder zur Fassung von 1929 mit ihren präsidentiellen Elementen zurückkehren wollte. Schon am nächsten Tag fiel die Wahl aber auf die 1929 novellierte Variante, die – ihrerseits mittlerweile vielfach novelliert – bis heute die Grundlage der österreichischen Verfassung bildet.94 Somit war die Entwicklung in Österreich in gewisser Hinsicht gegenläufig zu jener in Deutschland. Dort wurde 1919 in der Weimarer Reichsverfassung eine parlamentarische Demokratie mit einem starken, vom Volk gewählten Präsidenten eingeführt, während der Bundespräsident nach dem Bonner Grundgesetz von 1949 von der Bundesversammlung, einem erweiterten Parlament, gewählt wird, und im Wesentlichen auf repräsentative Aufgaben beschränkt ist. Das hat große Ähnlichkeit mit dem österreichischen System von 1920, doch hier kehrte man 1945 eben nicht zu dieser Variante zurück, sondern entschied sich für die Variante von 1929, die dem Weimarer System ähnlicher ist. 91 Art. 137 – 148 Bundes-Versammlungsgesetz 1920. 92 BGBl. 392/1929; zur Verfassungsnovelle 1929 siehe: Berchtold, Die Verfassungsreform von 1929, 1979. 93 Art. I Proklamation über die Selbständigkeit Österreichs, StGBl. 1/1945. 94 Art. I Verfassungs-Überleitungsgesetz, StGBl. 4/1945. 114
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Staatslehre ohne „Staat“ – Demokratietheorie ohne „Volk“ Die normative Staatstheorie von Hans Kelsen als Verfassungstheorie pluralistischer Demokratie1 Von Robert Chr. van Ooyen
I. Einführung: Kelsen, Wien und die offene Gesellschaft der Moderne 1. Biografische Kurznotiz Hans Kelsen, 1881 in Prag in einer deutschsprachigen jüdischen Familie geboren, wächst ab 1883 in Wien auf.2 Nach juristischer Promotion (Wien 1906) und einem Studienaufenthalt bei dem führenden Staatsrechtslehrer Georg Jellinek in Heidelberg (1908), habilitiert er sich 1911 für Staatsrecht und Rechtsphilosophie in Wien. Wien – das ist zu dieser Zeit nicht irgendeine Stadt: Selten bündelt sich der „Geist“ einer Epoche wie durch ein „Brennglas“ an einem Punkt. Es ist das Wien des beginnenden 20. Jahrhunderts als einer der zentralen Orte, an dem die „Moderne“ sich einerseits neuerlich Bahn bricht: von der Begründung der Psychoanalyse durch Freud über den neopositivistischen „Wiener Kreis“ und Ludwig Wittgenstein, vom radikalen Umbruch in der Architektur noch vor dem Bauhaus durch – „Ornament ist Verbrechen“ – Adolf Loos über die neue Musik Alban Bergs und Arnold Schönbergs, von der liberalen Nationalökonomie des mit Kelsen befreundeten Ludwig von Mises schließlich bis zur
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Grundlage des vorliegenden Beitrags sind: van Ooyen, Der Staat der Moderne. Hans Kelsens Pluralismustheorie, 2003; van Ooyen, Hans Kelsen und die offene Gesellschaft, 2. Aufl., 2017. Vgl. hierzu insgesamt: Métall, Hans Kelsen. Leben und Werk, 1969; Dreier, Hans Kelsen (1881 – 1973): „Jurist des Jahrhunderts“?; in: Heinrichs/Franzki/Schmalz/Stolleis (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 705 ff.; Ladavac, Hans Kelsen (1881 – 1973). Biographical Note and Bibliography; in: EJIL 1998, S. 391 ff.; mit vollständiger Bibliographie der Werke Kelsens: Walter, Hans Kelsen – Ein Leben im Dienst der Wissenschaft, 1985; zu Exil und Emigration Stieffel/Mecklenburg, Deutsche Juristen im amerikanischen Exil (1933 – 1950), 1991; Söllner, Deutsche Politikwissenschaftler in der Emigration, 1996.
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Duncker & Humblot, Berlin
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„Reinen Rechtslehre“ der „Wiener Schule“ selbst.3 Kelsen versteht sich und ist Teil dieser Avantgarde der Moderne. Es ist aber andererseits auch das Wien der Jahrhundertwende, in dem der Antisemitismus gegen diese Moderne rebelliert.4 Gegen Ende des Krieges ist Kelsen als Rechtsberater des Kriegsministers tätig; zugleich hält er engen bis freundschaftlichen Kontakt zu den führenden Köpfen der österreichischen Sozialdemokratie und den Theoretikern des „Austromarxismus“, insbesondere zu Karl Renner, Max Adler und Otto Bauer.5 Als Staatskanzler der provisorischen Regierung Österreich beauftragt zunächst Renner, kurze Zeit später auch die verfassungsgebende Versammlung Kelsen mit der Ausarbeitung von Expertenentwürfen des Bundes-Verfassungsgesetzes von 1920, der im Kern bis heute in Österreich geltenden Verfassung.6 1919 erfolgt die Ernennung zum Ordinarius für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Wien und seit 1921 ist Kelsen zugleich als Richter an dem von ihm verfassungsrechtlich maßgeblich gestalteten neuen Verfassungsgerichtshof tätig. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass der Verfassungsgerichtsbarkeit in der demokratietheoretisch motivierten „Staatslehre“ Kelsens eine besondere Bedeutung zukommt (s. u.). Nicht zufällig entzündet sich gerade hieran die Kontroverse mit Carl Schmitt. Als Folge der Verfassungsreform von 1930 – und nicht zuletzt wegen einer regelrechten Kampagne von katholisch-konservativer Seite wegen der von Kelsen mitgetragenen sog. „Dispensehen-Entscheidung“7 – lehnt er eine erneute Kandidatur für das Richteramt ab8 und nimmt einen Ruf an das Institut für Völkerrecht der Universität Köln an.9 Durch das NS-Gesetz zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom
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Zu den Verbindungen Kelsens zum Wiener Kreis und zu Freud: Jabloner, Kelsen and his Circle: The Viennese Years; in: EJIL 1998, S. 368 ff.; Jabloner, Logischer Empirismus und Reine Rechtslehre, 2001; Adamovich, Kelsen und die Tiefenpsychologie. Stattgefundene und nicht stattgefundene Begegnungen; in: Walter/Jabloner (Hrsg.), Hans Kelsens Wege sozialphilosophischer Forschung, 1997, S. 129 ff. Vgl. Dvorák, Politik und die Kultur der Moderne in der späten Habsburger Monarchie, 1997; Hamman, Hitlers Wien, 6. Aufl., 2003. Vgl. Leser, Hans Kelsen und Karl Renner; in: Reine Rechtslehre und marxistische Rechtstheorie, SHKI, Bd. 3, 1978, S. 41 ff.; Somek, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie. Überlegungen zu einer Kontroverse zwischen Max Adler und Hans Kelsen; in: DZPh 2001, S. 397 ff. Kelsen, Die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920, Nachdr. der Aufl. von 1922, 2003; vgl. hierzu: Schmitz, Die Vorentwürfe Hans Kelsens für die österreichische Bundesverfassung, 1981 sowie Leser, Hans Kelsen und die österreichische Bundesverfassung; in: Österreichische Parlamentsgesellschaft (Hrsg.), FS 75 Jahre Bundesverfassung, 1995, S. 789 ff. Dabei ging es um die im katholischen Österreich politisch brisante Frage der Gültigkeit von Ehen im Falle erneuter Heirat. Hinzu kamen die persönlichen Angriffe zweier Uni-Kollegen (Baron Hold von Ferneck und Baron Schwind). Nach dem Deutsch-Österreichischen Abkommen wurde er als Professor so automatisch deutscher Staatsbürger Recht und Politik, Beiheft 3
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April 1933 erfolgt seine Amtsenthebung;10 Kelsen geht mit seiner Familie in die Schweiz und lehrt nun am Genfer Institut für Internationale Studien; spätestens seit seiner Kölner Zeit erweitert sich so der Schwerpunkt seiner Arbeit zunehmend um den Bereich des Völkerrechts, das er in theoretischer Hinsicht schon seit den 20er Jahren in seiner Rechtslehre verarbeitet.11 Für kurze Zeit lehrt er auch in Prag, muss dies aber aufgrund einer gegen ihn gerichteten, antisemitischen Studenten-Kampagne abbrechen. 1940 erfolgt die Emigration in die USA. Kelsen ist zu dieser Zeit schon fast 60 Jahre – infolge seiner „Reinen Rechtslehre“12 aber auch längst weltberühmt. Nach einer Lecturership an der Harvard Law School wechselt er 1942 zum Political Science Department der University of California / Berkeley, an dem er, inzwischen amerikanischer Staatsbürger, neben seinen zahlreichen Lehr- und Vortragstätigkeiten im Inund Ausland, verbleibt. 1973 stirbt Kelsen im Alter von 92 Jahren.
II. Die Identität von Staat, Recht und Verfassung „Von einem streng positivistischen… Standpunkte aus muß… jeder Staat Rechtsstaat… sein… Das ist der Begriff des Rechtsstaates, der mit dem des Staates ebenso wie dem des Rechtes identisch ist“.13
Kaum eine andere Stelle hat so sehr provoziert, zu Missverständnissen und verständnislosem Kopfschütteln geführt wie diese These der Identität von Staat und Recht, vom Machtstaat, der einfach mit dem „Rechts-Staat“ zusammenfällt. Was auf den ersten Blick bloß wie eine weitere Variation der Hobbesschen „auctoritas“ scheint, erhellt sich im Kontext einer zweiten zentralen und demokratietheoretischen Aussage: „Die Staatstheorie dieses Typus läßt sich in die Worte fassen: Der Staat, das sind wir“.14
1. Kritik an Naturrecht, Eigentumsbegriff und Geschichtstheologie des Marxismus Kelsen stieß auf drei antidemokratische Implikationen der Staats- und Rechtsphilosophie. Sie machen sich fest am Dualismus von Macht und Recht. Gilt das Recht, weil
10 Carl Schmitt, der seinen Ruf nach Köln Kelsen mitzuverdanken hatte, verweigerte als einziger der Juristenfakultät eine Eingabe an den Reichskommissar für das Preuß. Ministerium für Wissenschaft, Kelsen im Amt zu belassen; vgl. hierzu: Rüthers, On the Brink of Dictatorship – Hans Kelsen and Carl Schmitt in Cologne; in: Diner/Stolleis (Eds.), Hans Kelsen and Carl Schmitt: A Juxtaposition, 1999, S. 115 ff. und insgesamt Gross, Carl Schmitt und die Juden, 2000. 11 Vgl. Rub, Hans Kelsens Völkerrechtslehre, 1995; von Bernstorff, Der Glaube an das universale Recht, 2001. 12 1. Aufl., 1934; vollständig überarbeitete 2. Aufl., 1960; Kelsen, Reine Rechtslehre, Nachdr., 1992. 13 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, (1925), 2. Neudr., 1993, S. 9. 14 Kelsen, Staatsform und Weltanschauung, 1933, S. 23. Recht und Politik, Beiheft 3
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1. dem positiven Recht des Staats natürliche Rechte des Individuums vorausgesetzt sind oder 2. umgekehrt, weil der Staat „souverän“ das Recht überhaupt erst schafft, oder 3. sind Staat und Recht bloß „Überbau“ der ökonomischen Basis? Im Naturrecht („Vertragstheorie“) sah Kelsen nur eine weitere Variation absoluter Gerechtigkeitskonzepte seit Platon; diese dienten letztendlich zur Errichtung von Herrschaftsreservaten, die der staatlich-demokratischen Verfügungsgewalt entzogen würden.15 Keineswegs lehnte Kelsen Grundrechte ab – im Gegenteil. Ihre naturrechtliche Fundierung hingegen schien ihm eine „durch Generationen durchaus konservativ als Stütze von Thron und Altar bewährte Lehre“, die „als ,Magd der Theologie‘… zuerst die Sklaverei, dann die Leibeigenschaft, dann die koloniale Zwangsarbeit in Verbindung mit Menschenhandel und schließlich das Feudalsystem… als ,Gott- und naturgewollte Ordnung‘ verteidigt“ habe.16 Auch im „natürlichen“ Privateigentum sah Kelsen daher die Verschleierung von politischen Herrschaftsverhältnissen. Marx aber habe die Funktion des Dualismus von Staat und Gesellschaft zur Camouflage politischer Herrschaft durch Eigentum gar nicht durchschaut, da er diesen – und folglich auch den bürgerlichen Eigentumsbegriff – unreflektiert mitschleppe. In seiner politischen Ökonomie übernehme Marx „die Vorstellung, dass das Eigentum ein durch Arbeit oder ursprüngliche Aneignung begründetes Verhältnis eines Menschen zu einer Sache sei“. Eigentum jedoch sei „ein Verhältnis zwischen Mensch und Mensch“, denn es beinhalte die „Ausschließung aller anderen von einer einem einzigen dadurch gewährleisteten Interessensphäre“ – und damit eine öffentliche Angelegenheit, da es „keine Verwaltung von Sachen geben kann, die nicht Verwaltung von Menschen… das heißt aber Herrschaft“ wäre.17 Nicht anders als die bürgerliche Rechtstheorie18 verschleiere daher die marxistische nur die Machtverhältnisse, indem sie sie begrifflich wegzaubere. Kelsens zweiter Kritikpunkt setzt bei der ökonomischen Monokausalität des Marxismus an, der nur „Klassenherrschaft“ begreifen kann. Eine herrschaftsfreie Gesellschaft schloss Kelsen aus, da sie als Heilserwartung einer konfliktfreien Gemeinschaft den „neuen Menschen“ voraussetze. Gerade in der Marxismuskritik kommt seine politischanthropologische Prämisse des „Machtrealismus“ zum Ausdruck.19 Ob nun der ökonomische Antagonismus überwunden wäre oder nicht, das Problem von Herrschaft in einem nicht endenden, offenen Prozess der Geschichte bleibe – mögen diese Gruppen 15 Vgl. seine lebenslange Kritik an Platon: Kelsen, Die Illusion der Gerechtigkeit, 1985. 16 Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, 1928, S. 40. 17 Kelsen, Allgemeine Rechtslehre im Lichte materialistischer Geschichtsauffassung (1931); in: Kelsen, Demokratie und Sozialismus, 1967, S. 122, 125, 127. 18 Ebd., S. 89. 19 Kelsen, Sozialismus und Staat, 2. Aufl., 1923, S. 109 f. 118
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auch „nicht mehr Klassen heißen“.20 Sein „realistisches“ Menschenbild ist nicht rein pessimistisch zu verstehen; hierin liegt für Kelsen auch die Voraussetzung individueller und demokratischer Freiheit. Diese leugne der Marxismus, indem er den Menschen zum bloßen, den Produktionsverhältnissen ohnmächtig ausgelieferten Objekt degradiere.21 Herrschaft würde nicht als das Problem der Organisation von Freiheit und Macht zwischen Menschen begriffen, sondern mit eigener Existenz versehen, die sich als „System“ am Menschen in einem vermeintlich gesetzmäßigen geschichtlichen Prozess vollziehe. Der Marxismus beruhe daher auf einem erkenntnistheoretischen Methodensynkretismus, in dem das „Sollen“ als „Überbau“ aus dem sozio-ökonomischen „Sein“ abgeleitet würde.22 Schon an dieser Stelle wird angesichts der Substanzialisierung von Macht im Marxismus eine auffallende Parallelität zur Ontologisierung des Staats- und Volksbegriffs in den konservativen/nationalistischen Staatslehren offenkundig. Der Marxismus entpuppt sich für Kelsen als eine Variante der Ideologie von der homogenen politischen Gemeinschaft, als „Geschichtstheologie“, die mit der „Staatstheologie“ und der „politischen Theologie“ der „Volksgemeinschaft“ das Strickmuster und daher auch die Ablehnung von Pluralismus und parlamentarischer Demokratie gemeinsam hat. 2. Kritik an der hegelianisch geprägten „Staatstheologie“ der Souveräniät Gerade in der deutschsprachigen Staatslehre wurde der Staat vergöttlicht.23 Hegels politische Theologie war nach wie vor wirkmächtig. Selbst beim seinerzeit führenden liberal-konservativen Staatsrechtler Georg Jellinek wird der Staat daher als „ursprüngliche Herrschermacht“ substanzialisiert;24 der Staat ist nicht nur Schöpfer des Rechts, sondern ihm kommt die ontische Qualität einer prima causa zu. In Anlehnung an den Dualismus von Staat und Gesellschaft bei Hegel besteht er zudem aus zwei Seiten, einer soziologischen und einer rechtlichen. Beide sind über die „normative Kraft des Faktischen“ verbunden. Im Fortschrittsglauben befangen glaubte Jellinek, dass sich über diese Kraft die Vernunft im Laufe der Zeit durchsetze. Kelsen kritisierte die hiermit verbundenen, etatistischen und antidemokratischen Implikationen:25 1. die Möglichkeit des „Ausnahmezustands“, wie er dann auch für Carl Schmitt typisch ist; 2. die Überhöhung des Staates, der demokratischer Partizipation entzogen wird und schließlich
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Ebd., S. 80. Kelsen, Sozialismus und Staat, 1. Aufl., 1920, S. 55. Ebd., S. 2 ff. Kelsen, Gott und Staat (1923), in: Kelsen, Staat und Naturrecht, 2. Aufl., 1989, S. 29 ff. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., S. 180 f. Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff (1928), 2. Neudr. der 2. Aufl., 1981.
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3. die Ableitung des Rechts, des normativen Bereichs des Sollens aus dem gesellschaftlichen Sein. Gerade im letzten Punkt sah Kelsen die Gefahr politischer Ideologie, die mit dem Anspruch von Wissenschaftlichkeit auftritt, etwa um herrschende Machtverhältnisse „objektiv“ zu konservieren – oder gar pseudo-naturwissenschaftliche Gemeinschaftskonzepte des „Volkes“ zu fordern. 3. Staat ist Recht ist Verfassung Alle drei Lehren, das ältere Naturrecht, der moderne Marxismus und die herrschende sozio-juristische Staatslehre waren für Kelsen undemokratische „politische Theologien“, die Sollen und Sein vermischen. Er zog daher die radikale Konsequenz einer Staatslehre als „reine“ Rechtslehre: Weder erzeuge das Recht den Staat noch der Staat das Recht, vielmehr seien Staat und Recht identisch.26 Die Verfassung ist die Norm der Normen, weil sie die Normerzeugung durch Gesetze regelt. Das Problem des Geltungsgrunds, das Kelsen aus seinem wissenschaftlichen und demokratischen Impetus heraus immanent lösen wollte, wird damit jedoch allenfalls verschoben. Ein „Stufenbau“ der positiven Rechtsordnung, bei dem die Legalität einer Norm aus der nächsthöheren begründet wird, ergibt einen infiniten Regress. Kelsen führte daher axiomatisch die hypothetische „Grundnorm“ ein: Die Rechtsordnung gilt, weil die Grundnorm ihre Geltung bloß postuliert – andernfalls müsse man sich in Ermangelung einer erkenntnistheoretisch sauberen Lösung überhaupt von der Vorstellung verabschieden, dass es Recht geben könne. Popper verwandte später in seinem Kritischen Rationalismus eine analoge Begründung, indem er auf die „bewährte“ kritische Tradition zurückgriff, andernfalls man sonst nicht Wissenschaft, sondern „Theologie“ betreiben müsse. D. h.: Staatstheorie ist folglich Rechtstheorie und als solche Verfassungstheorie, also Lehre von der jeweils geltenden positiven Verfassung.27 Auch vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund war das für Kelsen naheliegend. Es ist der „Vielvölkerstaat“ der habsburgischen Donaumonarchie, der ihn zu Recht radikal fragen ließ, was die Menschen in einer „multikulturellen“ Gesellschaft im politischen Sinne überhaupt miteinander verbindet: „Nur insofern ein und dieselbe Rechtsordnung für eine Vielheit von Menschen gilt, bilden diese eine Einheit… Die Theorie des Staatsvolks ist eine Rechtstheorie“.28
Mit der normativen Begründung des Staats greift Kelsen eine alte Konzeption auf. Die Idee des Gemeinwesens als Rechtsgemeinschaft findet sich schon in der Politik des Aristoteles oder in Ciceros Republik. Selbst Kant definierte noch, dass „Staat (civitas) die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen (ist)“29. Kelsens 26 Ebd., S. 135; Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts (1928), 2. Neudr. der 2. Aufl., S. 30. 27 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, a.a.O. (Fn. 13), S. 45. 28 Ebd., S. 150 bzw. 149. 29 Cicero, De re publica, (Erstes Buch); Kant, Die Metaphysik der Sitten (§ 45). 120
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Begriff des Politischen ist demgegenüber aber verengt; als typischer Vertreter eines modernen Politikverständnisses in liberaler Prägung begreift er Politik „realistisch“ ausschließlich als Kampf um Macht, der sich wie bei Max Weber mit dem positivistischen Paradigma der Wertfreiheit wissenschaftlich und sozialtechnologisch erfassen lässt. Hieraus resultiert bei ihm die enge Verbindung von Wissenschaft, Demokratie, Freiheit und offener Gesellschaft. Ethische Fragen werden als beliebiges Meinen in die sittliche Autonomie des – atomistisch gedachten – Individuums verwiesen. Die Relativität der Werte bedingt, dass die Begründung der Gemeinwesens als „Staat“ nicht mehr aus der sittlichen Qualität des Rechts heraus möglich ist, die wie beim normativontologischen Verständnis der Antike auf ein eindeutig bestimmbares höchstes Gut der Gerechtigkeit und des hierauf bezogenen tugendhaften Lebens zielt. Sie lässt sich in einer modernen Gesellschaft nur noch auf das gründen, was die Gruppen als Regeln miteinander vereinbaren. Recht wird damit funktional verstanden als bloße Sozialtechnik. Daher wird für Kelsen die Einheit des „Staats“ zwar normativ begründet, im Gegensatz zur Antike aber (macht)realistisch reduziert auf das positive Gesetz. Diese politische Anthropologie ist der tiefere Grund, warum er mit der Ablehnung aller metarechtlichen Geltungsgründe des Rechts zugleich alle Legitimitätsfragen abschneiden und auf Legalitätsfragen reduzieren muss. So lässt sich vom Charakter des Rechts bei Kelsen nichts mehr aus seinem Zweck herleiten, sondern das Recht bestimmt sich allein durch die Beschreibung seiner Mittel, nämlich als Zwangsordnung – „Rechtsstaat“ und „Machtstaat“ fallen zusammen“.30 Mit Marx, Nietzsche, Freud und Weber teilt er das Bemühen, „die Werte als Masken… zu enthüllen“.31 Wie Freud auf seinem Gebiet begriff sich Kelsen als Teil einer (Wiener) Avantgarde, die den Menschen in (spät‐)aufklärerischer Intention durch „Demaskierung“ zu befreien suchte, um vom „Mythos der Horde“ endgültig zur zivilisierten Moderne vorzudringen: von der religiösautoritären Staatstheorie der „Primitiven“ über die „halbrationale“ Naturrechtslehre zur „vaterlosen Gesellschaft“, nämlich zum antimetaphysischen Wissenschaftsaxiom des Positivismus und der in Kelsens Verständnis hiermit korrelierenden Selbstregierung der Gesellschaft durch das Verfahren der Demokratie.32 4. Staatslehre ohne „Staat“ – Demokratietheorie ohne „Volk“ Die bahnbrechende Bedeutung der Theorie liegt in ihrem demokratischen Verständnis von Gesellschaft, die sich politisch allein durch die Verfassung als „gemeinsames Band“ konstituiert: Denn demokratietheoretisch betrachtet verbirgt sich hinter Kelsens Identitätsthese die Absicht, die Geltung des „staatlichen“ Gesetzes ausschließlich auf den Menschen zurückzuführen. Ohne Begründung des positiven Rechts durch „höhere“ Werte (göttliche Ordnung, Naturrecht), durch „souveräne“ Macht („Staatsrä30 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, a.a.O. (Fn. 17), S. 9; auch: Kelsen, Reine Rechtslehre (1960), Neudr. der 2. Aufl.,1992. 31 Voegelin, Die Größe Max Webers, 1995, S. 86. 32 Kelsen, Der Begriff des Staates und die Sozialpsychologie. Mit besonderer Berücksichtigung von Freuds Theorie der Masse; in: Imago, 1922, S. 97 ff. Recht und Politik, Beiheft 3
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son“, „normative Kraft des Faktischen“, Volkssouveränität“) oder durch ein Endziel der Geschichte („Klassenkampf“) gibt es auch keinen Herrschaftsanspruch von absoluter Geltung. Weil der Begriff des Rechts von der Gerechtigkeit abgelöst ist, Recht und Gesetz identisch zusammenfallen, kann es als bloße Form jeden beliebigen Inhalt annehmen, alle politischen Werte vom Gesetzgeber mit gleicher Legitimität hineingegossen werden, ohne sich tradierten Autoritäten, ohne sich überhaupt „nichtmenschlichen“ Mächten noch länger beugen zu müssen. Der positivistische Wertrelativismus der „Reinen Rechtslehre“ zeigt sich als bloße Folge einer modern-pluralistischen Sicht von Gesellschaft. Konstituiert sich diese allein über das von den Individuen bzw. den politischen Gruppen gemachte Gesetz, dann löst sich der Dualismus von Staat und Gesellschaft auf, da kein Herrschaftssubjekt von eigener Substanz mehr das „Gemeinwohl“ oder die „Gerechtigkeit“ gegenüber den „egoistischen“ Partikularinteressen für sich reklamieren kann.33 Und selbst ein souveräner „Volkswille“ als Rousseausche politische Einheit der Identität von Regierenden und Regierten ist bloß ein Mythos.34 Kelsens Lehre zielt daher „nicht auf Verabsolutierung, sondern umgekehrt auf Relativierung“ der auctoritas, indem sie den „Begriff der Souveränität als Ideologie bestimmter Herrschaftsansprüche auf(löst)“.35 Mit dem Ende der Souveränität gelangt der Blickwinkel dahin, wo er aus Sicht einer politischen Theorie hingehört – nämlich zum Menschen. Denn nur soweit Herrschaft auf das menschliche Maß zurückgeführt wird, kann im nächsten Schritt überhaupt die demokratische Teilhabe erörtert werden. Und von hieraus beantwortete Kelsen die zentrale Frage nach dem, was die Menschen politisch miteinander verbindet, in klassischer Weise. Es sind eben nicht substanzialisierte politische Einheiten wie „Staat“, „Nation“, „Volk“, „Klasse“ (neuerlich: „Kultur“), sondern angesichts der Vielheit der Interessen und Werte ist es nur das von diesen selbst gegebene Gesetz. Die als „Satzung“ eines bürgerlichen Vereins verstandene Rechtsordnung hält dann den formellen Rahmen bereit, der die Durchsetzung der Interessenkonflikte der politischen Gruppen in der Gesellschaft verfahrensmäßig regelt, andererseits zugleich jedoch selbst im Falle demokratischer Ordnung natürlich auch immer Ausdruck der herrschenden Machtverhältnisse ist.36 Kelsen schafft damit die Voraussetzung für eine moderne Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft: Der „Staat“ – oder auch das „Volk“ – als „realer Verband“ existiert gar nicht wie es die naive Vorstellung meint, sondern nur soweit man sich hierunter die Einheit der Rechtsordnung vorstellt. Eine stärkere „Entzauberung“ des Mythos als diese „Staatslehre ohne Staat“37 und Demokratietheorie ohne „Volk“ lässt sich kaum vorstellen. So ergibt sich:
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Kelsen, Allgemeine Staatslehre, a.a.O. (Fn 13), S. 79 f. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie (1929), 2. Neudr. der 2. Aufl., 1981, S. 15. Kelsen, Staatsform und Weltanschauung, a.a.O. (Fn. 14), S. 23. Kelsen, Allgemeine Rechtslehre im Lichte materialistischer Geschichtsauffassung, a.a.O. (Fn. 17), S. 85. 37 Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, a.a.O. (Fn. 25), S. 208.
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1. Die der modernen pluralistischen Gesellschaft adäquate Staatstheorie ist überhaupt keine Staatstheorie, sondern „nur“ eine Verfassungstheorie und 2. als solche keine Theorie über die gerechte Ordnung, sondern „nur“ eine des positiven Rechts – d.h. aber vor allem eine Theorie der „Legitimation durch Verfahren“ und Institutionen, weil der Inhalt des Rechts dem demokratischen Verhandlungsprozess völlig zur Disposition steht.38 3. Als Demokratietheorie ist sie eine Theorie des Wettbewerbs politischer Gruppen, die um die Durchsetzungsmacht ihrer Interessen auf der Grundlage der vereinbarten Spielregeln, d. h. der Verfassung, miteinander konkurrieren. Da der Wettbewerb um die Mehrheit die Minderheiten als notwendig voraussetzt, ist sie zugleich eine Demokratietheorie, die von der Freiheit und Chancengleichheit der Opposition her gedacht werden muss.39 4. Und aus dem Schutz der Minderheiten als Grundbedingung der Demokratie erklärt sich die besondere Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit als einem Hüter der Verfassung, der nicht den „Volkswillen“ hütet, sondern im institutionellen checks and balances über die Einhaltung der Spielregeln wacht. Im „Kelsen-Modell“ der Verfassungsgerichtsbarkeit ist daher die Normenkontrolle ein zentrales Recht der parlamentarischen Opposition.40 5. Für die Möglichkeit einer vollständigen demokratischen Freiheit muss Kelsen allerdings in Kauf nehmen, dass alles machbar ist. Die irrationale Entscheidung für die „plebiszitäre Führerdiktatur“ kann er normativ nicht ausschließen, sodass seine auf das menschliche Maß zurückgeführte Staatstheorie auch den Untergang der Demokratie einkalkulieren muss. 5. Demokratische Rechtsgenossenschaft in der europäischen Integration und modernen Zuwanderungsgesellschaft Sicherlich bleibt Kelsens kritischer Rationalismus seinem zeitgeschichtlichen Hintergrund verhaftet: Dieser unerschütterliche Glauben eines Spätkantianers an Rationaliät und Zivilisierung durch Verfahren, der nicht nur in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis zu seinem „realistischen“ Menschenbild und Politikbegriff als „irrationalem Kampf“ steht. Seine radikal-positivistische Reduktion muss nach den Diktaturen des 20. Jahrhunderts und ihres „dialektischen“ Zusammenhangs (Horkheimer/ Adorno) von Totalitarismus und Moderne befremden. Zeitgeschichtlich betrachtet stützte sie jedoch die jungen parlamentarischen Demokratien in Wien und Weimar. Eine der bis heute vielleicht bahnbrechendsten Leistungen aber ist sein Verständnis von 38 Am „weitesten und konsequentesten“ vorgedrungen, so Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 4. Aufl., 1997, S. 11. 39 Vgl. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, a.a.O. (Fn 34), S. 101. 40 Zum Zusammenhang von Demokratietheorie und Verfassungsgerichtsbarkeit bei Kelsen vgl ausführlich van Ooyen, Die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit in der pluralistischen Demokratie und die Kontroverse um den „Hüter der Verfassung“; in: Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, Neuausgabe 2008, Einleitung. Recht und Politik, Beiheft 3
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Bürger/in: Bürgerschaft erwirbt man nicht, weil man einem „Volk“ oder „Staat „angehört“, da diese gar keine Realgrößen des Seins, sondern nur etwas „Gesolltes“ sein können. So lässt sich das „Staatsvolk“ eben nur normativ, als die „Einheit der das Verhalten der normunterworfenen Menschen regelnden staatlichen Rechtsordnung“ begreifen.41 Dann aber ist man Bürger/in eines Landes, soweit man dauerhaft dessen Gesetz befolgen muss. D. h.: Bürgerschaft ist (demokratische) Rechtsgenossenschaft. Hieraus folgte nicht nur das allgemeine Wahlrecht für „Ausländer“. Wie leicht ließe sich gerade mit diesem Bürgerbegriff und der Theorie vom Stufenbau der Rechtsnormen auch die EU erfassen – viel adäquater jedenfalls als es mit der „Kein-Demos-These“ und dem Paradigma nationaler Souveränität im „Staatenverbund“ gelingt (s. auch Kap. III. 5.). Diskussionen, was eine europäische Verfassung und die Unionsbürgerschaft ausmachen, erweisen sich dann als Spiegelfechtereien. Denn durch die Normunterworfenheit ist hier schon längst eine – infolge direkter Parlamentswahlen – demokratische Rechtsgenossenschaft auf einer neuen „Verfassungsstufe“ begründet worden; ob man das jetzt Verfassungsvertrag“, „Verfassungsvertragsgesetz“ oder sonst wie nennt.
III. Renaissance: Neuere Forschung zu einer persona non grata der (bundes)deutschen Staatsrechtslehre Was lässt sich zum aktuellen Stand der Rezeption Hans Kelsens sagen? Gilt immer noch der jahrzehntelange Befund in der deutschen Staatsrechtslehre: viel Smend und auch Schmitt – wenig Kelsen, Radbruch und Thoma?42 Die alten, harten ideologischen Grabenkämpfe zwischen „Schmitt-“ und „Smend-Lager“43 – beide in ihrem Kampf gegen Kelsens Lehre einig – sind nahezu vorbei. Einfache historische Schuldzuweisungen bzgl. der Rolle des Positivismus in der NS-Diktatur („Gesetz ist Gesetz“), die sich in der Rechtswissenschaft lange hielten – und auch der Exkulpation des Faches dienten – sind von der Forschung überholt: Es war dann wohl doch eher die „unbegrenzte Auslegung“ (Bernd Rüthers) nicht-positivistischer Ansätze.44 Die „Rückkehr“ Kelsens45 geht einher mit der allgemeinen „Rehabilitierung des Rechtspositivismus“;
41 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, a.a.O. (Fn 34) S. 20, 16 bzw. 15; Kelsen, Allgemeine Staatslehre, a.a.O. (Fn 13), S. 149. 42 van Ooyen, Relativismus, Positivismus und Demokratie: Kelsen, Thoma, Radbruch als politische Theoretiker der Wiener und Weimarer Republik – und ihre randständige Rezeption in der deutschen Staatslehre; in: Gangl (Hrsg.), Die Weimarer Staatsrechtsdebatte, 2011, S. 239 ff.; van Ooyen, Integration, 2014. 43 Günther, Denken vom Staat her, 2004. 44 Vgl. z. B.: Wittreck, Nationalsozialistische Rechtslehre und Naturrecht, 2008. 45 Auch bzgl. Thoma und Radbruch – letzterer kein „Positivist“ aber „Relativist“ – finden sich inzwischen Arbeiten bzw. Werkausgaben, die deren Leistungen gerade mit Blick auf die Demokratietheorie herausstellen; vgl. Thoma, Rechtsstaat – Demokratie – Grundrechte, 2008 und Pauly, Rechts- und Staatsphilosophie des Relativismus, 2011. 124
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denn in „einer demokratischen Staatsform ist Positivismus eine respektable Strategie“.46 Herrschaft und Gesellschaft in Deutschland selbst werden zudem weiter „pluralisiert“ – ob im Prozess europäischer Integration durch „Lissabon“ oder ob als „neues“ Einwanderungsland. Das begünstigt Konzepte, die die Einheit normativ, durch das Gesetz begreifen, das in demokratischen Verfahren einer „offenen Gesellschaft“ beschlossen wird – e pluribus unum etwa war schon immer das Motto der USA und der „Vielvölkerstaat“ Österreichs genau die historische Folie, auf der die Staatstheorie Kelsens entstand. Gegenwärtig kann nach der ersten verhaltenen „(Wieder‐)Entdeckung“47 in den 80er Jahren daher vielleicht sogar von einer Kelsen-Renaissance gesprochen werden,48 wenngleich er im österreichischen Raum – davon zeugen allein die kontinuierlichen Publikationen des Wiener Hans-Kelsen-Instituts (HKI) – ohnehin immer präsent geblieben ist. Seit einigen Jahren lassen sich nun gleich mehrere Richtungen der Rezeption beobachten: 1. Texteditionen Untrügliches Zeichen hierfür sind die neuerlichen Editionen, die auch entlegene Schriften wieder leicht zugänglich machen. Das gilt gerade für die fast „verschollenen“ demokratietheoretischen Arbeiten;49 ebenso für die beiden grundlegenden Texte zur Theorie der Verfassungsgerichtsbarkeit. Letztere zählten zwar immer zum Klassikerkanon – längst spricht man beim Bundesverfassungsgericht von einem Gericht im Sinne des „Kelsen-Modells“ – wurden aber wohl im Unterschied zu Schmitts „Hüter“ viel seltener wirklich gelesen und sind in ihren demokratietheoretischen Implikationen meist überhaupt nicht zur Kenntnis genommen worden.50 Die 2006 gegründete Kelsen-Forschungsstelle gibt schließlich in Zusammenarbeit mit dem HKI das voluminöse Gesamtwerk heraus, das wie das der beiden anderen „neopositivistischen“ bzw. kritischnationalistischen Klassiker Max Weber und Karl R. Popper bei Mohr Siebeck verlegt wird.51
46 Lepsius, Hans Kelsen und die Pfadabhängigkeit in der deutschen Staatsrechtslehre; in: Jestaedt (Hrsg.), Hans Kelsen und die deutsche Staatsrechtslehre, 2013, S. 255; Schmidt (Hrsg.), Rechtspositivismus, 2014. 47 Dreier, Die (Wieder‐)Entdeckung Kelsens in den 1980er Jahren; in: Jestaedt (ebd.), S. 175. 48 „Normalisierung“ – so skeptischer Schönberger, Kelsen-Renaissance?; in: Jestaedt (ebd.), S. 210. 49 Vgl. Kelsen, Verteidigung der Demokratie, 2006. 50 Vgl. Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, 2008; vgl. van Ooyen, Einleitung, ebd. 51 Bisher sind fünf Bände zu den Schriften der Jahre 1905 – 1920 erschienen; http://www.hanskelsen.org. Recht und Politik, Beiheft 3
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2. Rechtshistorische Aufarbeitungen Zu Lebens- und Werkabschnitten finden sich inzwischen einzelne Arbeiten.52 Eine umfangreiche, quellengesättigte Biographie steht zwar noch aus, ist aber schon angekündigt.53 Der jahrzehntelange „Anti-Kelsen-Beiß-Reflex“ in der (bundes)deutschen Staatsrechtslehre ist endlich sogar selbst zum Gegenstand der fachgeschichtlichen, ideologiekritischen Eigenreflexion geworden.54 Und sich als „Kelsenianer“ zu „outen“, bedeutet wohl längst nicht mehr das „Aus“ der akademischen Karriere bei staatsrechtlichen Berufungsverfahren.55 Mit Kelsens Theorie gerät auch sein persönlichwissenschaftliches Umfeld in den rechtsgeschichtlichen Blick.56 Hier ist ein Band über die erste Generation der „Schüler“ einzuordnen, der von Robert Walter, Clemens Jabloner und Klaus Zeleny, allesamt renommierte Autoren in der Kelsenforschung des HKI, editiert worden ist. Die rund dreißig „Schüler“ vor 1933, also zu Kelsens Wiener und auch kurzen Kölner Zeit (1930 – 33), werden in Einzelbeiträgen biographisch erschlossen und ihr jeweiliger Beitrag zur Reinen Rechtslehre systematisch aufgearbeitet. Zum Teil sind diese „Schüler“ im Kontext der Reine Rechtslehre heute nicht mehr bekannt, zumal sie nach ihrer Zeit bei Kelsen andere berufliche/wissenschaftliche Wege einschlugen bzw. ihre akademischen Karrieren infolge der Vertreibung durch die NS-Diktatur sogar aufgeben mussten. Adolf Merkl, vielleicht Kelsens wichtigster „Schüler“ dieser Zeit („Stufenbaulehre“) und die (später) sehr berühmten Völkerrechtler Alfred Verdross sowie Hersch Lauterpacht werden ausdrücklich ausgespart, da in der Forschung schon hinlänglich bearbeitet; ebenso Kelsens Freund Franz Weyr, der als Haupt der „Brünner Schule“ in keinem Schüler-Verhältnis stand. Unter den Prominenten finden sich John Herz und Eric(h) Voegelin, die ganz in die Politikwissenschaft wechselten; Voegelin begründete schließlich eine eigene, z. T. ausdrücklich gegen Kelsens Neo-Positivismus gerichtete, neoklassische Schule.57 In einer vergleichenden Gesamtschau kommen die Herausgeber u. a. zu dem Ergebnis, dass der „Schüler-Kreis“ besonders infolge des Einzugsraums der Donaumonarchie schon zu dieser Zeit von Internationalität geprägt gewesen sei und Kelsen früh auch Frauen gefördert habe 52 Vgl. Lepsius, Die Staatslehre des Dante Alighieri in der Sicht Hans Kelsens; in: ZNR, 1 – 2/ 2015, S. 80 ff.; Walter/Ogris/Olechowski (Hrsg.), Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit, 2009; Ehs (Hrsg.), Hans Kelsen und politische Bildung im modernen Staat, 2007. 53 Und zwar vom Leiter des HKI: Olechowski u. a., Hans Kelsen. Biographie eines Rechtswissenschaftlers (i.V.). 54 Vgl. Jestaedt, a.a.O. (Fn 46). 55 Vgl. allgemein Häberle, Vermachtungsprozesse in nationalen Wissenschaftlergemeinschaften, insbesondere der deutschen Staatsrechtslehre; in: Schulze-Fielitz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, 2007, S. 159 ff. 56 Vgl. z. B. Paulson/Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen, 2005; Korb, Kelsens Kritiker, 2010. 57 Vgl. van Ooyen, Totalitarismuskritik gegen Kelsen und Schmitt: Eric Voegelins „politische Religionen“ als Kritik an Rechtspositivismus und politischer Theologie; in: ZfP, 1/2002, 56 – 82; Herz/Weinberger, Die Münchener Schule der Politikwissenschaft; in: Bleek/Lietzmann (Hrsg.), Schulen der deutschen Politikwissenschaft, 1999. 126
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(Margit Fuchs, Gisela Rohatyn, Helen Silving) – in der konservativen Männerdomäne der Deutschen Staatsrechtslehre mehr als ungewöhnlich. Klassische Schüler-Lehrerkonflikte seien mit Ausnahme des Streits mit Fritz Sander eher ausgeblieben, weil Kelsen „keineswegs zu einer rigiden Gefolgschaft (verpflichtete)“.58 3. Generelle (politik)wissenschaftliche Theorie-Erschließung Während die rechtswissenschaftliche Literatur lange Jahre äußerst überschaubar blieb, sodass Horst Dreier nach den beiden von Werner Krawietz in der Reihe „Rechtstheorie“ mitherausgegebenen Sammelbänden59 hier Pionierarbeit leistete,60 war bis zum Erscheinen der Arbeit zum Zusammenhang von Pluralismustheorie und normativer Staatstheorie „Kelsen“ in der Politikwissenschaft sogar nahezu eine tabula rasa.61 Inzwischen liegen einige weitere Arbeiten und auch eine grundständige Einführung vor, die die politische Theorie, insbesondere seine Demokratietheorie erneut allgemein erschließen.62 In diesen Kontext ist auch die juristische Dissertation von Lanz einzuordnen, die den schon von Dieter Rath mit Blick auf Richard Thoma63 und von Dreier für Kelsen herausgearbeiteten, grundsätzlichen Zusammenhang von „Positivismus, Wertrelativismus und Demokratie“ bestätigt.64 Infolge des von Christoph Gusy im Jahr 2000 publizierten Bands und dem hierin vollzogenen „Perspektivenwechsel“ gerät nicht mehr so sehr das anti-, sondern das demokratische Pionierdenken in der Weimarer bzw. Wiener Republik in das Blickfeld:65 Preuß, Anschütz, Thoma, Kelsen und Heller werden jetzt vor allem als Vordenker einer modernen Lehre des demokratischen Verfassungsstaats begriffen, die auch zwischen juristischen und empirisch-realistischen, politikwissenschaftlichen Zugängen mühelos „switchen“ können.66 Und nachdem die „Habermas-Schule“ mit „Faktizität 58 Walter/Jabloner/Zeleny, Der Kreis um Hans Kelsen, 2008, S. 22. 59 Krawietz/Topitsch/Koller (Hrsg.), Ideologiekritik und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 1982; Krawietz/Schelsky (Hrsg.), Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen, 1984. 60 Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 2. Aufl., 1990. 61 Vgl. van Ooyen, Der Staat der Moderne sowie van Ooyen, Hans Kelsen und die offene Gesellschaft, a.a.O. (Fn 1). 62 Vgl. Ehs (Hrsg.): Hans Kelsen, 2009; Römer, Die Demokratietheorie Hans Kelsens und das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (2002); jetzt in: Römer, Hans Kelsen, 2009, S. 147 ff.; auch Aliprantis/Olechowski (Hrsg.): Hans Kelsen, 2014. 63 Vgl. Rath, Positivismus und Demokratie. Richard Thoma (1874 – 1957), 1981. 64 Vgl. Lanz, Positivismus, Wertrelativismus und Demokratie bei Hans Kelsen, 2007 ( jur. Diss. Universität Potsdam). Gerade hinsichtlich der politisch-theoretischen Einordnung der Demokratietheorie Kelsens jedoch fällt die Arbeit hinter den bis dato erzielten politikwissenschaftlichen Stand der Forschung stellenweise zurück. 65 Vgl. Gusy (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, 2000. 66 Vgl. Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik, 2010; hierzu van Ooyen, Weimar – ein Paradigmenwechsel im vorliegenden Band. Recht und Politik, Beiheft 3
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und Geltung“ die Eigenständigkeit und Bedeutung des Rechts entdeckt hat, ist Kelsens Ideologiekritik und materialistische Rechtstheorie bald auch in der „Post-Kritischen Theorie“ diskutiert worden67 – und wurde selbst wiederum zum Gegenstand (rechts‐) theoretischer Arbeiten.68 Das zeigte die von Hauke Brunkhorst initiierte internationale Kelsen-Konferenz an der Universität Flensburg, die zu einem voluminösen Sammelband in den „Staatsverständnissen“ führte.69 4. Religionspolitologische Forschung70 „Hier irrte der Papst – Kelsen blieb bei seiner Lehre“,71 so kommentierte Horst Dreier Benedicts Rede im Deutschen Bundestag, in der dieser ausdrücklich kritisch auf Kelsen Bezug nahm. Mit der „Rückkehr“ der Religion und der Diskussion um die „vorpolitischen Grundlagen“ – sogar im direkten Dialog zwischen Jürgen Habermas und dem Papst72 – gerät daher auch das Verhältnis von Politik – Religion – Vernunft neuerlich in den Blick. Der Streit durchzieht schon die Ideologiekritik seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts: ob Feuerbach, Marx und Nietzsche oder ob Bakunins „Gott und der Staat“. In Weimar erfährt er mit der Kontroverse um Positivismus, politische Theologie sowie Souveränität von Staat und Volk durch Hans Kelsen und Carl Schmitt eine inzwischen klassische – und aktuell wieder beachtete – Neuauflage; später dann auch fortgeführt zwischen Kelsen73 und Eric Voegelin,74 der mit Hannah Arendt und Leo Strauss längst zu einem der Hauptvertreter einer an der Antike geschulten politischen Philosophie geworden war. Das macht zugleich die – ausführliche und lebenslange – 67 Vgl. Brunkhorst, Hans Kelsen und die Völkerrechtsrevolution des 20. Jahrhunderts; in: Brunkhorst, Legitimationskrisen, 2012, S. 277 ff.; Scheit, Kelsen für Anarchisten, Schmitt für Sozialdemokraten. Über die Theorien von Daniel Loick und Chantal Mouffe; in: Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie, 1/2015, S. 118 ff. 68 Meiners, Rechtsnormen und Rationalität. Zum Problem der Rechtsgeltung bei Hans Kelsen, Jürgen Habermas und Niklas Luhmann, 2015. 69 Brunkhorst/Voigt (Hrsg.), Rechts-Staat, 2008 (2. Aufl. i.V. für 2018). 70 Zu Begriff und Forschung der „Religionspolitologie“ vgl. insgesamt die Arbeiten des „VoegelinSchülers“ Claus-E. Bärsch. 71 Dreier, „Hier irrte der Papst – Kelsen blieb bei seiner Lehre“; in: FAZ vom 3. 11. 2011. 72 Vgl. Habermas/Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung, 2005. 73 Vgl. Kelsen, A New Science of Politics. Hans Kelsen’s Reply to Eric Voegelin’s „New Science of Politics“, 2004. 74 Vgl. van Ooyen, Totalitarismustheorie gegen Kelsen und Schmitt: Eric Voegelins „politische Religionen“ als Kritik an Rechtspositivismus und politischer Theologie; in: ZfP, 1/2002, S. 56 ff.; van Ooyen, Staatstheologie – politische Theologie – politische Religionen: Von Kelsen über Schmitt zu Voegelin; in: Hidalgo/Polke (Hrsg.), Staat und Religion, 2017, S. 331 ff.; Walther, Gott und Staat. Hans Kelsen und Carl Schmitt im Kampf um die Ent-(Re‐)Mythologisierung des Staates, in: Walther (Hrsg.), Politik und Religion, 2004, S. 247 ff.; Jabloner/ Olechowski/Zeleny (Hrsg.), Secular Religion. Rezeption und Kritik von Hans Kelsens Auseinandersetzung mit Religion und Wissenschaft, 2013, hierin insb. Dreier, „Secular Religion“ im Kontext von Kelsens Gesamtwerk, S. 1 ff. 128
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Kritik Kelsens an der griechischen Philosophie, vor allem an Platon interessant. Es ist das Verdienst des HKI, diesen Bereich einer Erörterung zu unterziehen.75 Kritisch bleibt jedoch anzumerken, dass der Tagungsband mit rund 50 Sn (= drei Beiträge) zu Kelsens Platon- bzw. Aristoteles-Interpretation zu „mager“ ausfällt. Auch wenn einige Linien der Platon- und Aristoteles-Rezeption bei Kelsen kritisch offen gelegt werden: Es fehlt insb. ein politikwissenschaftlich einordnender Vergleich zur Platon-Kritik bei Karl Popper sowie zu den Grenzen der Ideologiekritik des Positivismus und seines Bilds der Antike. Die „Wiener“ Kelsen und Popper sind beide die zentralen Vordenker der „offenen Gesellschaft“ und des Kritischen Rationalismus gewesen. Die Bezeichnung „(Rechts‐)Positivist“ ist zwar bei beiden insofern etwas ungenau, da sie das naturwissenschaftliche Paradigma nicht einfach „naiv“, unreflektiert auf rechts- bzw. sozialwissenschaftliche Bezüge übertragen haben. Kelsen und Popper sind sich als kritische Rationalisten darüber bewusst gewesen, dass ihr Verständnis von Positivismus auf Grundlagen fußt, die selbst gerade nicht wertfrei sein, sondern nur irrational begründet werden können. So ist die „Grundnorm“ bei Kelsen letztendlich einfach eine bloß noch axiomatisch vorauszusetzende Norm, die vom „Glauben“ an die Normativität des Rechts ausgehen muss – so wie bei Popper das Falsifikationsprinzip zu bloß (vorläufig) bewährten, nicht aber wahren Aussagen führt und an deren Rationalität insofern ebenso „geglaubt“ werden muss. Trotzdem blieben Kelsen und Popper der positivistischen Methodenreinheit, Wertfreiheit, Rationalität und ihrer für die Moderne typischen Fortschrittsgläubigkeit durch Vernunft verhaftet. („Nur“) auf dieser Basis sind sie scharfe Kritiker des Faschismus und Marxismus gewesen. In der griechischen Philosophie sahen sie daher beide fast synchron den „Urahn“ der vormodernen „Horde“, die von Platon über Hegel in der Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts als „Atavismus“, als Rückfall in die Barbarei, neu auflebt. Die Problematik dieser vereinfachenden Totalitarismuskritik von Kelsen und Popper wird angesichts der „Dialektik der Moderne“ von „links“ durch Max Horkheimer/Theodor W. Adorno und von „rechts“ in der Positivismuskritik Eric Voegelins aufgedeckt. Dieser Zusammenhang von Totalitarismus als der dunklen Seite der Moderne ist längst Stand der Forschung,76 sodass eine entsprechende Kritik der Ideologiekritik Kelsens und Poppers an Platon und Aristoteles nahe gelegen hätte. 5. Verfassungs- und Demokratietheorie des Grundgesetzes Schon 2002/03 wurde angeregt, Kelsens Theorie als Alternative für ein moderneres Verfassungsverständnis des Grundgesetzes herauszuarbeiten.77 Ein Teil der Forschung sieht inzwischen deren Anschlussfähigkeit gerade in ihrer Charakteristik einer postnationalen „Staatslehre ohne Staat“ (Kelsen), über die die besondere Form der euro75 Vgl. Walter/Jabloner/Zelny, Griechische Philosophie im Spiegel Hans Kelsens, 2005. 76 Vgl. m.w.N.: van Ooyen, Rückfall in die Barbarei? Leistungen und Grenzen der Offenen Gesellschaft von Karl Popper als Werk der Totalitarismustheorie; in: Schale/Thümmler (Hrsg.), Den totalen Staat denken, 2015, S. 201 ff. 77 Vgl. Römer a.a.O. (Fn 62); van Ooyen, Staat der Moderne, a.a.O. (Fn 1). Recht und Politik, Beiheft 3
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päischen Integration jenseits staatlicher Strukturen beschrieben werden kann – viel besser jedenfalls als durch die gerade auch vom Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts seit „Maastricht“ vertretene Theorie des national-liberalen Etatismus78 in der Lesart von Ernst-Wolfgang Böckenförde und Paul Kirchhof,79 die in der Tradition von Carl Schmitt steht. Über den europäischen Kontext hinaus gilt dies auch für die Herausforderungen von Zuwanderungsgesellschaften, deren Demokratiedefizite sich mit homogen verstandenen politischen Einheiten kaum bewältigen lassen werden. Kelsens pluralismustheoretisch fundierte „Demokratie ohne Volk“ scheint nun endlich auch bei deutschen Verfassungsgerichten ins Blickfeld zu rücken – zumindest bei einzelnen Richtern.80 Unbehagen mit der Demokratietheorie des „Legitimationsketten-Modells“ und seinen antipluralistischen „Homogenitätspostulaten“ des „Volks“ hat es hier ja schon früher vereinzelt gegeben81 – und auch, etwa im „Brokdorf-Beschluss“ von 1985, (vergessene), in der Tradition der Demokratietheorien Kelsens und Poppers stehende, alternative Konzepte des Ersten Senats.82 In einem aktuellen Spiegel-Interview bezeichnet Andreas Voßkuhle Kelsen sogar als den „wohl größte(n) Demokratietheoretiker des 20. Jahrhunderts“.83 Das ist eine Aussage, die noch vor zehn Jahren von einem Richter gerade des „staatstragenden“ Zweiten Senats wohl kaum zu hören gewesen wäre.
78 Vgl. van Ooyen, Die Staatstheorie des Bundesverfassungsgerichts und Europa, 7. Aufl., 2018; Ehs (Hrsg.), Hans Kelsen und die Europäische Union, 2008; Hwang, Demokratie im Mehrebenensystem: Integrationsfest oder integrationsoffen? Überlegungen zum Demokratiebegriff im Lissabon-Urteil des BVerfG im Lichte des Schmitt-Kelsen-Gegensatzes; in: RW, 2/2013, S. 166 ff.; Vollmeyer, Der Staat als Rechtsordnung. Hans Kelsens Identitätsthese und ihre Bedeutung für den europäischen Konstitutionalisierungsprozess, 2011. 79 Vgl. van Ooyen, Bundesverfassungsgericht und politische Theorie, 2015. 80 Vgl. im vorliegenden Band Voßkuhle, Hugo Preuß als Vordenker einer Verfassungstheorie des Pluralismus, ausgehend von Preuß mit Bezügen u. a. zu Kelsen, Popper, Fraenkel, Loewenstein, Hesse und Häberle; in diesem Kontext bemerkenswert auch das Sondervotum von Richterin Sacksofsky bei der Entscheidung „Ausländerwahlrecht“ des Staatsgerichtshofs Bremen; insgesamt vgl. van Ooyen, Ausländerwahlrecht, 2. Aufl., 2018. 81 Vgl. Lübbe-Wolff, Homogenes Volk – Über Homogenitätspostulate und Integration; in: ZAR, 4/2007, S. 121 ff.; schon zuvor Bryde, Die bundesdeutsche Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie; in: SuS, 3/1994, S. 305 ff. 82 Vgl. Bryde, Der Beitrag des Bundesverfassungsgerichts zur Demokratisierung der Bundesrepublik; in: van Ooyen/Möllers, Martin (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl., 2015, S. 497 ff.; van Ooyen, Der Brokdorf-Beschluss (1985) und die andere Demokratietheorie des Bundesverfassungsgerichts. Das Pluralismuskonzept des Ersten Senats (Kelsen und Popper/Hesse und Häberle) als Alternative zum LegitimationskettenModell (Schmitt und Böckenförde); in: RuP, 4/2015, S. 225. 83 Voßkuhle, „Das kann keinen Politiker freuen“. Interview; in: Der Spiegel, 47/2015, 37. 130
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Leo Wittmayer: Ein Wiener Parteien- und Pluralismustheoretiker in den „Weimarer“ politischen Verfassungsdebatten* Von Detlef Lehnert
I. Einleitung Wenn überhaupt ist der Name Leo Wittmayer auch in den mit Staatsrechts- und Demokratiedebatten der Weimarer Republik vertrauten Fachkreisen zumeist nur aus Fußnotenverweisen oder allenfalls einzelnen Zitatbezügen auf sein umfangreichstes Werk Die Weimarer Reichsverfassung (Tübingen 1922) bekannt. Dass auch seine andere, seltener zitierte Monographie aus der Weimarer Zeit Demokratie und Parlamentarismus (Breslau 1928) in Deutschland erschien und als pluralistisches Kontrastprogramm zu den im gleichen Jahr publizierten antipluralistischen Verfassungslehren von Rudolf Smend und Carl Schmitt gelesen werden kann, sollte nicht darüber hinwegtäuschen: Wittmayer galt bis in preußische Berufungsakten hinein als Vertreter einer „österreichischen Staatsrechtsschule“1, die noch nicht mit einer – jenen Autor erst zum NurPositivisten verengenden – Kelsen-Orthodoxie der „Reinen Rechtslehre“ gleichgesetzt wurde. Sogar ein führender Rechtshistoriker wie Michael Stolleis erwähnt Wittmayer im Lichte eines retrospektiv dominierenden „Kelseniasmus“ nicht zutreffend unter der Rubrik „betonte Positivisten“2. Das Gegenteil lässt sich nicht allein dem Erstlingswerk Wittmayers zu österreichischen Wahlreformfragen entnehmen, wo er den an Paul Laband anschließenden herrschaftszentrierten Lehren entgegenhält, dass sie „dem principiellen Übergang des westlichen Europa zu verfassungsmäßigen Regierungen nicht gefolgt sind“. Die vom frühen Laband- und Positivismus-Kritiker Otto v. Gierke ausgehende Genossenschaftslehre biete hingegen die „Möglichkeit, die juristisch unentbehrliche Staatspersönlichkeit mit dem gesellschaftlichen Charakter des Staates zu versöhnen“. Darin nähere sich, auch wenn Gierke selbst diese Konsequenz nicht ziehen wollte, „dieser * 1 2
Zuerst in: RuP 2/2018, 159 – 171. Acta Borussica, Neue Folge, 2. Reihe/Abteilung II, Bd. 9/1. Halbbd., Berlin 2016, S. 679 (die Bewerbung auf das staatsrechtliche Ordinariat in Königsberg 1921 betreffend). Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, München 1999, S. 163.
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Duncker & Humblot, Berlin
Detlef Lehnert
genossenschaftliche Staat unverkennbar dem Principe der Volkssouveränität“.3 Dies alles klingt ähnlich wie beim frühpluralistisch-demokratischen Berliner Exponenten der Gierke-Schule, dem späteren Weimarer Verfassungsbeauftragten Hugo Preuß, der politisch-materiell, aber gerade nicht fachmethodisch mit Kelsen parallel gesehen werden kann.4 Im eigenen Kommentarwerk erwähnte Wittmayer eines weiteren Geburtsösterreichers, nämlich Hans Nawiaskys Schrift „Die Grundgedanken der Reichsverfassung“ (München 1920) kritisch hinsichtlich der „Abneigung unserer Formalisten oder Positivisten gegen jede Einflechtung politischer, ethischer oder sonstiger nicht-juristischer Prinzipien“.5 Solche Abneigung war das Erbe jenes am ehesten noch von Gerhard Anschütz zu Weimarer Zeiten fortgeschriebenen Labandismus, von dem sich Wittmayer als Jurist anderer Prägung geradezu demonstrativ abhob: Er gab zwei seiner drei – außer der (französischen Gemeindeverwaltungsfragen gewidmeten) Habil.-Schrift und dem Weimarer Kommentarwerk erschienenen – Monographien den Untertitel „Eine politische Abhandlung“/ … „Untersuchung“.6 Dennoch gibt es zwischen den bis 1918 ihre Karrierestationen synchron absolvierenden Wiener Juristen Kelsen und Wittmayer und mit Preuß Verknüpfungspunkte: Wie Kelsen ist auch Wittmayer dem ebenso renommierten wie der Weimarer Republik positiv gegenübertretenden Tübinger Verlag Mohr (Siebeck) vom Wiener Großordinarius Eugen v. Philippovich, der als Mitgründer (1896) der „Sozialpolitischen Partei“ und Förderer des späteren Staatskanzlers Karl Renner hervorgetreten war, als begabter Nachwuchsautor empfohlen worden.7 Von Preuß war dabei ein Hinweis an den Verlag gelangt, einen dem Weimarer Neubeginn freundlichen Verfassungskommentar einzuwerben. Dieser Anstoßgeber konnte sich dann ausweislich einer in Wien publizierten Zeitungsrezension, trotz uns heute Wittmayer so wie Kelsen darin klarsichtiger als Preuß erscheinen lassenden Differenzen insbesondere bei der Konstruktion des Reichspräsidentenamtes, insgesamt zustimmend äußern.8 Mehr noch als beim Stadtrat und zeitweiligen Reichsinnenminister, sodann Landtagsabgeordneten Preuß und im Unterschied zum seit 1919 außeruniversitär nur in verfassungsrichterlicher Berufspraxis engagierten Kelsen lässt sich bei Wittmayer für die gesamte Republikzeit bis zur Frühpensionierung 1932 eine Doppelexistenz erkennen: als österreichischer Bundesbeamter, seit 1921 Ministerialrat und Abteilungsvorstand im Sozialministerium, und 3 4 5 6 7
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Wittmayer, Unser Reichsrathswahlrecht und die Taaffe’sche Wahlvorlage, Wien 1901, S. 166 – 168. Lehnert, Das pluralistische Staatsdenken von Hugo Preuß, Baden-Baden 2012. Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1922, S. 30 mit Anm. 68. Außer der in Fn. 3 genannten Frühschrift auch: ders., Deutscher Reichstag und Reichsregierung, Wien 1918. Mit Belegen zu Detailinformationen: Detlef Lehnert, Leo Wittmayer: Das Politische in den obrigkeitsstaatlichen und demokratischen Verfassungsordnungen, in: ders. (Hg.), Verfassungsdenker, Berlin 2017, S. 139 – 168. Preuß, Die Verfassung des Deutschen Reiches, in: Neue Freie Presse Nr. 20981 vom 7. 2. 1923, S. 3. Recht und Politik, Beiheft 3
Leo Wittmayer
doch überwiegend reichsdeutsche Parlamentarismus- und Verfassungsfragen behandelnder Fachautor.
II. Vom späten Habsburgerreich zur frühen Weimarer Republik Bereits gut 20 Jahre bevor Wittmayer im Weimarer Verfassungskommentar bemängelte, dass die Parteien „nur mit einer negativen Geste sprödester Abwehr“ erwähnt waren9 – nämlich dass gemäß Art. 130 WRV die Beamten „Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei“ seien –, lautete 1901 sein nach heutigen Begriffen politikwissenschaftlicher Befund: „Je gewaltiger die Collektivkräfte der zunehmend socialen Parteibildungen wurden, umso nachhaltiger wird ihre Wirkung auf Verfassungsrecht, Wahlrecht und Wahltechnik.“ Insofern sei „die ehrliche Anerkennung der Partei die wesentliche Grundlage eines ernstgemeinten socialen Wahlrechts“; denn es war zunehmend offenkundig, „daß gerade die Parteikräfte ein unentbehrliches Requisit des Verfassungsstaates bilden“.10 Gerade Parteien vermochten „der öffentlichen Meinung ihre Richtung zu geben“, und zwar konflikttheoretisch verstanden als wechselseitige Kontrollinstanzen: „In das System der Verantwortlichkeit schiebt sich ein neues wertvolles Glied, die Verantwortlichkeit der Einzelpartei verwirklicht durch die gegnerische“. Ferner griff Wittmayer hinter politische auf ökonomische Interessenformierung zurück, den Parteien einen „Zug der socialen Classenvertretung“ bescheinigend: „Der Notwendigkeit einer wirtschaftlichen Association entspricht hier auch die Notwendigkeit einer politischen Organisation.“11 Schon in Grundorientierung auf eine moderne Pluralismustheorie war für Wittmayer davon auszugehen, „daß sich das öffentliche Interesse, soweit es streitig sein kann, erst mit Hilfe eines wohlorganisierten Kampfes unter den Einzelinteressen ermitteln lasse“.12 Solches Gemeinwohlkonzept a posteriori im Unterschied von homogenisierenden Gemeinwillensfiktionen a priori näherte sich gedanklich bereits dem, was der politische Jurist Ernst Fraenkel zwar noch in Weimarer Zeiten tendenziell vorbereitete, aber erst Jahrzehnte später begrifflich so fasste.13 Dabei entstand nach Überzeugung Wittmayers auch „die gewisse Achtung des gegnerischen Interesses, zu welchem die sich bekämpfenden socialen Interessen einander 9 Wittmayer, Reichsverfassung (o. Fn. 5), S. 64. 10 Wittmayer, Reichsrathswahlrecht (o. Fn. 3), S. 2, 6 u. 4; aufschlussreich ebd., S. 10: Schon damals galt ihm Heinrich Triepel, Wahlrecht und Wahlpflicht, Dresden 1900, als Vertreter jener konservativen Lehrmeinung zu Parteien, „die ihre Anerkennung rundweg ablehnt“; ders., Die Staatsverfassung und die politischen Parteien, Berlin 1928, S. 29 nannte sie in Fortschreibung seiner kaiserzeitlichen Sicht eine „extrakonstitutionelle Erscheinung“. 11 Wittmayer, Reichsrathswahlrecht (o. Fn. 3), S. 9, 6 u. 5. 12 Ebd., S. 50. 13 Fraenkel, Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie (1964), in: ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, 6. Aufl. Stuttgart 1974, S. 197 – 221, hier S. 197 – 200. Recht und Politik, Beiheft 3
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nötigen und langsam erziehen“. Aus der prekären Soziallage und der größeren Kopfzahl begründet räumte er in sozialpolitischer Grundorientierung aber zusätzlich ein, „daß der Wähler der untersten Schichten im öffentlichen Interesse handelt, wenn er eine zwar ihn selbst betreffende, aber dringliche Socialreform beschleunigen hilft“. Wittmayers Fazit der Realanalyse lautete: „Das Wahlrecht ist ein Socialrecht, schon seiner Natur nach berechnet, gesellschaftlich ausgeübt zu werden.“ Das folgte schlüssig der materialgesättigten Bestätigung seiner Ausgangsthese: „Die Partei sammelt Leute von gleicher socialer Lebensstufe durch das Land“.14 Wittmayer insistierte 1920 in „Vorbetrachtungen“ zu seinem Buch über die Weimarer Verfassung auf dem von Anschütz zunächst formulierten, dann aber rasch zurückgezogenen Einwand15, „daß die plebiszitäre Präsidentschaft kein parlamentarisches Ministerium als faktischen Alleinträger der Regierungsgewalt neben sich dulde“. Ersichtlich urteilte Wittmayer vor dem Hintergrund der Verhältnisse in der „österreichischen Republik“, die sich zunächst „im Grunde folgerichtiger an Stelle eines Staatshauptes mit einem Präsidenten der Nationalversammlung in gehobener Stellung begnügte und den Staatskanzler gleich den übrigen Regierungsmitgliedern von der Nationalversammlung wählen läßt“. Für die verfassungsrechtliche Kostümierung mit „abgelegten Kleidungsstücken der Monarchie“ sah der Wiener Kritiker historisch-politische Hintergründe: „Der deutsche Reichspräsident trat im Grunde an die Stelle, welche die letzte tragisch verspätete Reform der deutschen Reichsverfassung im Spätherbst 1918 dem deutschen Kaiser zugewiesen hatte und dieser nicht mehr beziehen sollte.“ Demgemäß war für Wittmayer „der aus der Zeugkammer des verblichenen Kaisertums herüber bemühte Blitz der Reichstagsauflösung (Art. 25)“ das „zeit- und systemwidrigste Zugeständnis an die herrschaftliche Behandlung des Reichspräsidenten“.16 Im Hauptwerk von 1922 über die Weimarer Verfassung diente Wittmayer zum gedanklichen Ausgangspunkt für sein „politisch gesehenes Reichsstaatsrecht“ als die „eine große Tatsache … der revolutionäre Bruch mit der rechtlichen Vergangenheit“.17 Entsprechend negativ war sein Bild des preußisch-deutschen wie des österreichischen Kaiserreichs: Wittmayer sprach (gleich Preuß bezüglich Preußens) von einem „Scheinkonstitutionalismus“ und einer „Musterwerkstätte für unechten, verfälschten Konstitutionalismus“. Apodiktisch formulierte er, dass unter Geltung der Bismarckverfassung „so gut wie alles fehlte, um das kaum noch konstitutionelle Regiment im Wege der geräuschlosen Verfassungswandlung in eine rein und streng parlamentarische 14 Wittmayer, Reichsrathswahlrecht (o. Fn. 3), S. 51, 57, 186 u. 5. 15 Wittmayer verweist kundig auf die Argumentation von Anschütz in DJZ 24 (1919), S. 122 für den Einwand, dann aber den Rückzieher in einem weiteren Text ebd., S. 204. 16 Wittmayer, Kritische Vorbetrachtungen zur neuen Reichsverfassung, in: AöR 39 (1920), S. 385 – 436, hier S. 402, 407, 404 u. 408. 17 Ders., Weimarer Reichsverfassung (o. Fn. 5), S. VIII u. 2; er argumentierte mit den „tatsächlichen Machtverhältnissen“ (S. 33), dabei auch sonst (S. 11/Anm. 24) auf Lassalles bekannte Formulierung aus „Über Verfassungswesen“ (1862) verweisend. 134
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Regierungsweise zu überführen“. Dieses Urteil erstreckte sich für ihn sogar auf „die totgeborene Verfassungsreform vom 28. Oktober 1918“, denn: „Zwischen dem herrschaftlichen Bundesrat, wie ihn Bismarck ans Historische anknüpfend gedacht und geschaffen hatte, einem Parterre von Königen und den genossenschaftlichen Urkräften parlamentarischer Geschäftsführung war keine Wahlverwandtschaft herauszufinden.“18 Ein genuiner Bundesstaat nach Art der Schweiz oder der USA setzte nämlich eine (mit der preußischen Hegemonie unvereinbare) Gesamtstaatlichkeit über den Einzelstaaten voraus.19 Den demokratisch-revolutionären Akzent bekräftigte Wittmayer, indem für ihn das moderne Bundesstaatskonzept „tief im Republikanischen wurzelt und mit dem Bundesvolke als Souverän rechnet“. Mit Wahl der Weimarer Nationalversammlung seien nun die Länder „auf die Stufe höchst potenzierter Selbstverwaltungskörper herabgedrückt“20 – auch dies eine aus der erwähnten Verfassungsdenkschrift von Preuß entlehnte Formulierung.21 Sie traf faktisch wohl eher für den österreichischen Bundesstaat zu: In diesem waren Länder nach einer von Georg Jellinek entlehnten Terminologie auch zuvor nur „Staatsfragmente eines dezentralisierten Einheitsstaates“.22 Das nun in Weimar-Deutschland „demokratisch-republikanisch gelockerte Reichsgefüge“ sei aber nicht mehr „der unduldsamere … imperialistische Unitarismus“, sondern der neue „dezentralisierte Einheitsstaat“. Etwaige Kompetenzkonflikte sah Wittmayer auf die gerichtliche Streitentscheidung verwiesen, nämlich „daß die Verfassung … sowohl der Reichsregierung als der Landesregierung die Anrufung des Staatsgerichtshofs oder eines anderen Gerichtes ermöglicht, also beide Regierungen darin auf dem gleichen Fuß behandelt“. So hielt er in Fällen des Reichseingriffs es für „praktisch geradezu undenkbar, die Exekution vorzunehmen, ohne die gerichtliche Entscheidung abzuwarten, mag auch im Art. 48 eine Aussetzung des Verfahrens nicht ausdrücklich vorgesehen sein“.23 Das konnte sich aber entgegen dieser Lehrmeinung schon bald als Einfallstor autoritärer Staatspraxis erweisen. Dass Unitarismus und Selbstverwaltung kein Gegensatz sein müssten, vielmehr beide von Mediatisierung durch Länderstaatlichkeit beeinträchtigt wurden, hatte auch Preuß im Anschluss an Englandstudien des Wiener Staatsrechtlers Josef Redlich ähnlich ge-
18 Ebd., S. 398, 342, 303 u. 306 f. 19 Das betonte „als Theoretiker des Staatsrechtes“ auch schon ders., Die Verfassung Deutschösterreichs, in: Allgemeine österreichische Gerichts-Zeitung Nr. 47/48 vom 21. 12. 1918, S. 376 f. 20 Ders., Weimarer Reichsverfassung (o. Fn. 5), S. 113 u. 206. 21 Preuß, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Tübingen 2015, S. 142 („Denkschrift“ 1919: „höchstpotenzierter Selbstverwaltung“ u. S. 335 „Reich und Länder“ 1928: „höchstpotenzierte Selbstverwaltungskörper“). 22 Wittmayer, Österreichisches Verfassungsrecht, Berlin 1923, S. 2. 23 Ders., Reichsverfassung (o. Fn. 5), S. 232, 243 u. 256. Recht und Politik, Beiheft 3
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sehen.24 Preuß lobte dann auch in seiner Rezension im „trefflichen Werke“ von Wittmayer dessen Kritik der „pseudo-bundesstaatlichen Struktur der preußischen Hegemonie unter der Bismarckschen Verfassung“.25 Umgekehrt bezog sich Wittmayer auf die von Preuß vertretene Deutung einer „Versicherung auf Gegenseitigkeit im Fürstenbund“, wenn er „Preußen den ersten Partikularisten“ nannte und den Berliner Kollegen mit der verfassungspolitischen Absicht zitierte: „Der neue Bau des Deutschen Reiches muß … ganz bewußt auf den Boden gestellt werden, den Bismarck ganz bewußt nicht betreten hat“.26 „Die Demokratie als Grundprinzip des Verfassungsrechts“, wie der Titel eines Hauptteils des Weimar-Buches von Wittmayer lautet, setzte bestimmte politische Organisationsformen der Willensbildung voraus. In der mit Art. 22 normierten „Verhältniswahl“ sah er immerhin einen „Deckmantel für das noch immer verschämte Verhältnis der Reichsverfassung zur Partei“.27 Insoweit auch Kelsen zustimmend, bedeutete die „Proportionalisierung“ zugleich die „Relativität des seiner autoritären Bestimmtheit beraubten politischen Lebens“. Die „modernste Demokratie“ erfordere „größere Selbstverwaltung“ unterhalb des Nationalparlaments und „eine reichere Aktivbeteiligung der Staatsbürger an der Gestaltung des öffentlichen Lebens“. Das stellte Wittmayer sich jedenfalls im Großstaat nicht primär referendumsdemokratisch oder gar plebiszitär vor, sondern genossenschaftsdemokratisch vermittelt über Interessenorganisationen und vor allem die Massenparteien. Trotz gewollter Bewahrung einer „rechtsstaatlichen Kultur“ fand sich kein eigenes Bekenntnis zum fast durchweg mehr individualistischen „Liberalismus“ als „dem bloßen Stiefbruder der Demokratie“.28 Von dem „liberalen Staatsrechtler Leo Wittmayer“ angesichts „seiner Polemik gegen die Berufsständeidee“ zu sprechen29, trifft insoweit nicht den Kern seiner Position. Wie man es gerade in England beobachten könne, „entscheiden bereits die Wahlen das Schicksal der Regierung“. Also stünde das Parteileben „nur mit einem Fuße im Parlament“, doch „mit dem andern außer oder sogar über ihm“. Dort sei die „Einheit von Parlament und Regierung“ dafür maßgebend, dass „parlamentarische Regierung“ gleichermaßen Partei- und Kabinettsregierung bedeute. Eine solches verleugnende Formulierung wie in Art. 21 WRV, dass Abgeordnete „Vertreter des ganzen Volkes“ seien,
24 Preuß, Gesammelte Schriften, Bd. 2, Tübingen 2009, S. 242 – 252. 25 Ders., Verfassung (o. Fn. 8). Auch „Kelsen z. B. hatte das Buch gelobt“: Beleg bei Silke Knappenberger-Jans, Verlagspolitik und Wissenschaft: der Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) im frühen 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2001, S. 275/Anm. 331. 26 Wittmayer, Reichsverfassung (o. Fn. 5), S. 123 und 137 mit Anm. 68; Zitat Preuß von Anfang 1919 aus der „Denkschrift“ (o. Fn. 21), S. 136. 27 Ders., Reichsverfassung (o. Fn. 5), S. 38 und 64; er berief sich zur „ausschlaggebenden Bedeutung des Parteiwesens“ u. a. auf die „markigen Darstellungen Max Webers“ (S. 64) unter Bezugnahme auf dessen „Gesammelte politische Schriften“ (München 1921). 28 Ebd., S. 60, 74 u. 93. 29 So Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, München 2000, S. 174. 136
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kritisierte Wittmayer als überholtes „Dogma naiver Repräsentationsvorstellungen“.30 Ähnliche Überparteilichkeits-Fiktionen hinsichtlich des Reichspräsidenten kollidierten ersichtlich mit dem erst im Mai 1920 nachgelieferten Wahlgesetz:31 Diesem zufolge reichte im zweiten Wahlgang die einfache Mehrheit unter beliebig vielen und (siehe dann Hindenburg 1925) nicht einmal im ersten Wahlgang angetretenen Bewerbern. „Der deutsche Reichspräsident wird also aller Voraussicht nach zunächst der Vertrauensmann einer Minderheit“32, lautete Wittmayers vorausschauend höchst skeptisches Urteil zu versäumter Förderung einer klaren Zweilager-Alternative, wie sie für Österreich nach dem Ende der Gründungs- und Verfassungskoalition seit Herbst 1920 typisch war. So blieb in seinem Konzept einer Volkssouveränität, die gesellschaftliche Interessen parteienpluralistisch und nicht durch „künstliche berufsständische Gliederung“ organisierte, entgegen starker Präsidialmacht und Länderstaatlichkeit auch für juristische Vetomacht wenig Raum. Eine gewollte „Hochstellung des Parlaments … verträgt sich schlecht mit einem richterlichen Prüfungsrecht an den Gesetzen“, lautete Wittmayers Überzeugung. Diese ließ ihn mit Blick auf die besondere Vorgeschichte der KelsenRenner-Verfassung ausdrücklich davor warnen, „die Tragweite und Exportfähigkeit dieses österreichischen Musters zu überschätzen“.33 Die interessen- und parteipolitischen Grundkonflikte ließen sich für Wittmayer eben weder über Vorstellungen der Volkseinheit oder präsidiale Integration, noch Föderalisierung oder Justizialisierung wirksam neutralisieren, eher jeweils nur verschleiern. Vor dem Hintergrund einer „Auseinandersetzung der untereinander wetteifernden gesellschaftlichen Kräfte und Interessen“ könne der ausgedehnte Weimarer Grundrechtskatalog geradewegs als „interfraktionelles Parteiprogramm“ charakterisiert werden. Auch betonte Wittmayer den Erfahrungswert, wie sehr „das Schicksal einer Verfassung noch weit mehr als sonst durch den mit ihr im öffentlichen Bewußtsein verbundenen Sinn und Vorstellungsgehalt entschieden wird“.34 Oder wie Wittmayer in einem selbständig publizierten Vortrag des Folgejahres gegen politikferne Neutralitätsillusionen hinzufügte: „Demokratisierung bedeutet gerade umgekehrt Überantwortung aller öffentlichen Fragen an das freie Kräftespiel unter lebendigster Einwirkung aller Interessentenkreise.“ Einseitig direktdemokratische Konzepte fielen ebenso unter sein Verdikt gegen Tendenzen, wie „man die Volksabstimmung stillschweigend vom Parteileben isolieren und emanzipieren zu können glaubte“. Es sei letztlich nur ein „Wahn, den inneren Burgfrieden weitertreiben
30 Wittmayer, Reichsverfassung (o. Fn. 5), S. 313, 315 u. 68. 31 Schon ders., Kritische Vorbetrachtungen (o. Fn. 16), S. 400 merkte an, dass die „allgemeine Volkswahl“ des Präsidenten „seltsamerweise – offenbar um Zeit zu gewinnen – nicht einmal in den Grundzügen verfassungsrechtlich geregelt wird“. 32 Wittmayer, Reichsverfassung (o. Fn. 5), S. 368. 33 Ebd., S. 410 u. 415 f. 34 Ebd., S. 36 u. 41. Recht und Politik, Beiheft 3
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zu können, als dies die Staatsform der politischen Demokratie nach ihrer inneren Dynamik zuläßt“.35 In einem Aufsatz in der „Zeitschrift für Politik“, ungefähr zur Jahreswende 1923/24 geschrieben, bemängelte Wittmayer jene dem „Präsidenten erschlossenen Befugnisse, die durch den verhängnisvollen Modeausdruck ,Diktatur‘ in Theorie und Praxis eine Streckung erfahren, die nur zu gläubig hingenommen wird, weil sie einem militärisch disziplinierten Atavismus entgegenkommt“.36 Hierin argumentierte Wittmayer gewissermaßen als ein Anti-Schmitt in der Weimarer Staatsrechtsdebatte. Deutlich negativ fiel dann auch das Urteil in Wittmayers Rezension von Carl Schmitts Schrift Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (München 1923) aus. Dieser kreidete Wittmayer einen „Begriff von Demokratie“ an, der „auch zur Rechtfertigung jeder Art von Diktatur“ dienen könne. Es werde dort „ein großer Aufwand an Geist … vertan, bloß um auch den parlamentarischen Dingen im Grunde ihren Geist künstlich zu nehmen und auch den Parlamentarismus in leere Technik auslaufen zu lassen“.37
III. Beginnende Weimar-Skepsis, Österreich-Vergleich und Parlamentarismus-Studie In einem Vortrag über die „Zukunft der deutschen Demokratie“ vom September 1924, nach dem Rechtsruck der Maiwahlen und den von Wittmayer kritisch gesehenen „Bürgerblockbestrebungen“, klang im Rückgriff auf geschichtliche Erblasten zwar erste Skepsis an: dass in fortdauernden antidemokratischen „Reaktionserscheinungen“ gegen das etablierte „Zweiklassensystem“ sodann der „Parlamentarismus … weiter zurückgeworfen werden müßte als im Kaiserreich zugunsten einer abermaligen sozialen Verengerung der Nation“. Auch gebe es in Kollision mit der „gegenwärtigen sozialen Schichtung des neuen nach Westen gerückten Deutschland“ eine „Weimar feindliche Oberschicht“. In wohl doppelter Anspielung auf eine von Schmitt verwendete Terminologie und Mussolinis ,Marsch auf Rom‘ nahm Wittmayer ein sich ausbreitendes Diktaturgerede aber noch nicht wirklich ernst: „Ob souveräne, ob bloß kommissarische Diktatur, man hört doch viel zu wenig von Bestellungsform und Marschroute“. Zwar sei die politische Aufgabe in Deutschland schwierig genug: „Die Demokratie hat … eine der stärksten Bürgerschaften der Welt mit einer ihrer stärksten und fortgeschrittensten Arbeiterklassen zu versöhnen.“ Doch werde sich letztlich die „Parteiendemokratie“ wohl behaupten können, zumal nach Einschätzung Wittmayers „die neue geschichtliche Klasse sich in den letzten Jahrzehnten ungleich rascher entwickelt hat als
35 Wittmayer, Reichsverfassung und Politik, Tübingen 1923, S. 4, 8 u. 35. 36 Ders., Europäische Organisationsfragen der Weimarer Verfassung, in: ZfP 13 (1924), S. 214 – 247, hier S. 243. 37 In: AöR 47 (1925), S. 231 – 233, hier S. 232 f. 138
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die altgeschichtliche“.38 Gerade weil in Österreich das ein „Zweiklassensystem“ abbildende näherungsweise „Zweiparteiensystem“ bestand, beurteilte er die parlamentarisch-demokratische „Bestandsmöglichkeit des neuen kleinen Österreich“ immer noch etwas günstiger.39 In einem Vortrag aus dem März 1927 zu „Österreichs Verfassungsentwicklung“ unterstrich Wittmayer erneut die prägende Kraft der Parteienformationen: „Seine volle Wucht erhält aber der österreichische Parlamentarismus erst durch das bestehende Parteiensystem, das auf eine Art Zweiparteiensystem hinausläuft.“ Deutlicher als zuvor betonte er das einer „österreichischen Kompromißverfassung“ zugrunde liegende gesellschaftliche Fundament dieser politisch bipolaren Struktur: „Das heutige Österreich ist vielleicht noch reiner als Deutschland ausgesprochener Zweiklassenstaat, dessen Gleichgewicht auf dem Zusammenwirken mit der Arbeiterklasse beruht.“ Österreich sei auch deshalb ein „Parteienstaat par excellence … Der Parteienstaat steigert teilweise den Einfluß des Parlamentarismus, schränkt ihn aber gleichzeitig ein, indem auch außerparlamentarische Kräfte wirksam werden und den Gegensatz zwischen repräsentativer und unmittelbarer Demokratie teilweise ausgleichen.“40 Sogar die Verfassungsgerichtsbarkeit als nicht zuletzt auch ein „Kompetenzkonfliktsgerichtshof“ war nicht überparteilich, sondern als Teil des politischen Systems einzuschätzen: „Gerade daraus, daß die großen Parteien ihre Vertrauensmänner im Verfassungsgerichtshof sitzen haben, ergibt sich die große Belastungsfähigkeit des Gerichtshofes mit den heikelsten Aufgaben.“41 Wittmayers 1928 erschienenes Buch Demokratie und Parlamentarismus komprimierte die politische Verfassungslehre für ein breiteres Publikum. Seinen Ausgangspunkt, „daß Demokratismus und Parlamentarismus an sich verschiedene Phänomene sind“, bezog der frankophile Autor noch immer auf Großbritannien: „Lauterster Parlamentarismus herrscht in England, das trotz aller Hinneigung zum Demokratismus einer typisch vollendeten Demokratie doch noch immer nicht gleichgehalten werden kann“. Seiner Auffassung nach konnte „politische Demokratie“ bestimmte Elemente der „wirtschaftlichen Demokratie“ und „sozialen Demokratie“ mit „aufnehmen“. Dabei wurden auch „die gegebenen großen assoziativen politischen Kräfte zu gemeinsamem Denken 38 Wittmayer, Die Zukunft der deutschen Demokratie, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft (= ZgS) 79 (1924), S. 16 – 39, hier S. 35, 28 f., 31 f. u. 34 f. 39 Ebd., S. 39; auch in Österreich sah er „Bürgerblockpolitik“ am Werke, aber gemildert durch eine politisch-konfessionelle Differenz: „Der Katholizismus ist ja nicht bloß eine Kunst des Sterbens. Er ist auch eine große Kunst des politischen Lebens“ (S. 38 f.). 40 Zum Aufsatz weiterbearbeitet erschienen in: ZgS 83 (1927), S. 449 – 473, hier S. 455 – 457. Das weist zwar begrifflich in die Richtung einer in der zeitgleich entstandenen Habilitationsschrift Das Wesen der Repräsentation (1928, Buchfassung Berlin 1929) von Gerhard Leibholz formulierten These, wobei dieser als wesentlich von Smend beeinflusster Triepel-Schüler aber mehr staatsintegrationistisch als genuin parteienpluralistisch im Sinne einer Konfliktdemokratie argumentierte. 41 Ebd., S. 466 u. 468. Recht und Politik, Beiheft 3
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und Wollen in größeren Kollektiveinheiten verbunden“; es sei „in erster Linie die vollendete Demokratie, die diese Parteikräfte ausreift und den sog. Parteienstaat begründet, der jedem parlamentarischen Regime vorgelagert ist“.42 Dieses Entwicklungsstadium „vollendet sich in bezeichnender Weise in der bereits auf politischer Mitarbeit des viertes Standes, der Arbeiterklasse, beruhenden Demokratie“. Demzufolge begriff Wittmayer „moderne Massendemokratie“ als im Ursprung von antagonistischen Kräften herbeigeführtes Aushandlungssystem im Sinne eines Konfliktpluralismus: „Infolge der großen Verwicklung aller nach Ausgleich verlangenden Interessen im heutigen Staatsbetriebe führt eine wirksame Interessenvertretung von selbst dahin, daß zur Wahrung dieser Interessen Politik gemacht werden muß. Politik, also Streben nach Beseitigung einer größeren Anzahl mehr oder weniger zusammenhängender Interessenkonflikte durch Kompensation.“ Wo er den Gemeinwillen als „öffentliche Meinung“ fasste, blieb ihm wichtig, dass diese „sich erst im Kampf und Wettbewerb verschiedener Ansichten und Interessen durchsetzt“.43 Es klang bei Wittmayer in politisch-sozialer Analyse schon etwas nach Fraenkels erst in Folgejahren geprägten Stichworten der „kollektiven“ und „dialektischen Demokratie“44, wo es hieß: „Das Äußerste, was Demokratie neben der formalen staatsbürgerlichen Gleichheit bedingen kann, ist jene annähernde Klassenparität oder Halbparität, an der der einzelne nur seinen Kopfanteil hat. Dieser Anteil muß dazu beitragen, seine staatsbürgerliche Stellung zu festigen und ihm in seiner Klasse ein Mindestmaß gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Geltung zu verbürgen.“ Der Autor knüpfte an seine bereits in der Schrift von 1901 vertretene Sichtweise an, „daß auch der Wähler selbst Repräsentant und Funktion seiner sozialen Gruppe und Umgebung ist“. Er definierte ferner dabei moderne Massendemokratie als „Bürger- und Arbeiterdemokratie“ und sah diese als verbindendes Konzept von konflikt- und kompromissfähiger „sozialer Demokratie“, was sich dann auch „wirtschaftlich“ z. B. mit dem „Achtstundentag“ ausbuchstabieren ließ.45 Weder in rechtliche noch in geistig-politische Normativität für sich genommen setzte Wittmayer viel Zutrauen. Er baute vorrangig auf das Wirken von „breitesten Interessengruppen … an Stelle einer weltfremden Versittlichung der demokratischen Staatsform“. Denn auch „Demokratie ist nicht bloß geistiges Prinzip, sie ist zugleich in großen typischen Merkmalen bestimmte Organisation“. Das betraf zugleich die gesellschaftliche Basis moderner Politikformen: „Dadurch, daß die Parteiorganisationen die Massen ballen und formen, geben sie den parlamentarischen Fraktionen und der Volksvertretung das Hinterland.“ Dabei handelten manche seiner
42 Wittmayer, Demokratie und Parlamentarismus, Breslau 1928, S. 7, 10 und 12 f. 43 Ebd., S. 36, 50, 39 u. 24 f. 44 Dazu Buchstein, Von Max Adler zu Ernst Fraenkel, in: Christoph Gusy (Hg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000, S. 534 – 606, hier S. 582 – 590. 45 Wittmayer, Demokratie (o. Fn. 42), S. 41, 58 und 42. 140
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Thesen besonders von „Ländern mit straffer Parteiorganisation“ wie „Deutschland, Österreich, Tschechoslowakei“.46 Der „Parteienparlamentarismus“ sei „mit seiner einzigartigen, bevorzugten Öffentlichkeit … zugleich ein überaus wichtiger Minderheitsschutz“, also nicht allein Mehrheitsherrschaft. Ihren demokratischen Grundlagen entrückte Repräsentationslehren beurteilte Wittmayer kritisch: „Wer einen parlamentarischen Relativismus vertritt, identifiziert sich auch mit einem solchen der Volksherrschaft im allgemeinen.“47 Dabei sei es freilich „nicht undemokratisch“, wenn man wichtigste Verfassungsgrundlagen „dem normalen Mehrheitsprinzip entzieht“. Ein formales Demokratieverständnis blieb gegenüber Selbstrelativierung ungeschützt, aber Wittmayer formulierte dazu folgende Antithese: „Gerade Verfassungsänderungen, die die Abschaffung der parlamentarisch-demokratischen Staatsform als solcher betreffen, wie heute etwa schon eine Verengerung des Wahlrechts, können im Rahmen des demokratischen Parlamentarismus aus inneren Gründen nicht in Betracht kommen.“48 Hierin unterschied er sich vom relativistischen Beharren Kelsens auf nur demokratischen Mitteln auch gegenüber einer Mehrheit von Antidemokraten.49 So wie das Wahlrecht auf handlungsfähige Parteienformationen zielte, stand nicht Identitätsrepräsentation von Wählenden und Gewählten im Zentrum von Wittmayers Parlamentarismuslehre. Vielmehr handelt es sich zunächst um eine politische Organisationsleistung: „Die große Aufgabe des Parlaments, an der alle Problematik des demokratischen Parlamentarismus nachgeprüft werden kann, ist die Regierungsbildung.“ Der Blick nach Deutschland zeigte ihm aber, wie dort „eine alte bürokratische Überlieferung mit Hilfe der antiparlamentarischen Einstellung großer Parteien dank der einzigartigen persönlichen Stellung seines zweiten Reichshauptes, Hindenburg, ein Regierungssystem“ hervorbrachte, „das den Vergleich mit der mehr oder minder selbständigen Regierungs- und Vollzugsgewalt der bloß verfassungsmäßigen, halbparlamentarischen Einherrschaft kaum zu scheuen hat“.50
IV. Fazit: Wittmayer neben Kelsen, zwischen Preuß und Fraenkel Fraenkel gilt seit der mehrfach neu aufgelegten Textsammlung „Deutschland und die westlichen Demokratien“ (1964) hierzulande als der Klassiker der Pluralismustheorie. Aber gleichermaßen eine Monographie wie auch die Textsammlung aus den 1970er Jahren konzentrierten sich als frühen deutschsprachigen Vorläufer in knappster Form
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Ebd., S. 59, 65, 71 u. 56. Ebd., S. 70 u. 78 f. Ebd., S. 101. Kelsen, Verteidigung der Demokratie, in: Blätter der Staatspartei 2 (1932), S. 90 – 98, mit dem Fazit S. 98: „Eine Volksherrschaft kann nicht gegen das Volk bestehen bleiben“. 50 Wittmayer, Demokratie (o. Fn. 42), S. 87 und 104.
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auf Gierkes Verbands- und Genossenschaftslehre.51 Wegweisende Spuren legte Fraenkel für die „Weimarer Zeit“ selbst in Bezugnahme auf den „Einfluß meines Lehrers Hugo Sinzheimer“ und „meine Betätigung in der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung“ mit einem Buchtitel „Reformismus und Pluralismus“ (1973); dieser verweist auf die noch vom prägenden Klassenantagonismus ausgehenden Ursprünge seines Verständnisses einer dialektischen und kollektiven Demokratie.52 Der Gierke-Schüler Preuß ist erst nach einer Neubewertung der Weimarer Verfassung in den frühen 1990er Jahren als Pluralismustheoretiker entdeckt und als solcher inzwischen bis hinauf zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts gewürdigt worden.53 Überzeugend gelungen ist nach punktuellen Andeutungen seit den 1960er Jahren54 die Rekonstruktion von „Hans Kelsens Pluralismustheorie“55. Tatsächlich hat Kelsen für die Weimarer Zeit die klassische Pluralismusthese formuliert, es sei „nichts problematischer als gerade jene Einheit, die unter dem Namen des Volkes auftritt. Von nationalen, religiösen und wirtschaftlichen Gegensätzen gespalten, stellt es – seinem soziologischen Befunde nach – eher ein Bündel von Gruppen als eine zusammenhängende Masse eines und desselben Aggregatzustandes dar.“56 Ohne angesichts der Hinterlassenschaft des Habsburger Vielvölkerstaats – und der beide nicht unberührt lassenden Debatten um den „Anschluss“ (Deutsch‐)Österreichs an WeimarDeutschland sowie den katholischen und deutschnationalen Antisemitismus in Österreich – die nationalen und religiösen Faktoren zu verkennen, hat Wittmayer den „wirtschaftlichen Gegensätzen“ und ihren parteipolitischen Organisationsformen ein höheres Gewicht beigemessen. Darin kam er, wenngleich aus einer Traditionslinie linksliberaler bürgerlicher Sozialreformer ohne Klassenkampflehre, dem zu Weimarer Zeiten noch undogmatischen Marxisten und so zugleich Antagonismus-Theoretiker Fraenkel recht nahe.
51 Kremendahl, Pluralismustheorie in Deutschland, Leverkusen 1977, S. 84 – 87 (zu Sinzheimer S. 147 ff.); Nuscheler / Steffani, Pluralismus (1972), 3. Aufl. München 1976, S. 49 – 59 (GierkeText 1902). 52 Hamburg 1973: Anstelle einer Vorrede, S. 11 – 26, hier S. 17 und 25; als Überblick Robert Chr. van Ooyen/Martin H. W. Möllers (Hg.), (Doppel‐)Staat und Gruppeninteressen. Pluralismus – Parlamentarismus – Schmitt-Kritik bei Ernst Fraenkel, Baden-Baden 2009 (bes. von Brünneck S. 15 ff. und van Ooyen S. 59 ff.). 53 Lehnert, Hugo Preuß als moderner Klassiker einer kritischen Theorie der „verfaßten“ Politik, in: PVS 33 (1992), S. 33 – 54, hier S. 39 f. (vgl. auch oben Fn. 4); Vgl. Voßkuhle, Hugo Preuß als Vordenker einer Verfassungstheorie des Pluralismus, in: Kocka/Stock (Hg.), Hugo Preuß: Vordenker der Pluralismustheorie, Berlin 2011, S. 23 – 42. 54 Marcic, Gustav Radbruch und Hans Kelsen, in: Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, Göttingen 1968, S. 82 – 92, hier S. 90 mit Verweis auf die Kelsen wesentliche „Rechtsform“ als Grundlage der „pluralistischen und wertdisparitären Gesellschaft“. 55 So der Untertitel der einschlägigen Studie von Robert Chr. van Ooyen, Der Staat der Moderne, Berlin 2003. 56 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. erw. Aufl. Tübingen 1929, S. 15. 142
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Es ist mehr eine Generationsdifferenz unter diesen vier Juristen von (wohl mit zu pluralistischer Sichtweise disponierender) jüdischer Herkunft, dass Preuß (Jg. 1860) noch im klassischen Linksliberalismus in Opposition zu Bismarck politisch sozialisiert war und Kelsen (Jg. 1881) im Vorwort zu seiner Habil.-Schrift von 1911 sich einem Neuliberalismus verbunden erklärte, während Fraenkel (Jg. 1898) bereits in die Republikzeit hinein als Sozialdemokrat erwachsen wurde. Eine nicht allein theoretische, sondern auch politische Konvergenz ist dennoch unübersehbar: Kelsen wurde – schon wegen in Österreich fehlender Linksliberaler, aber zugleich eigener gemeinwirtschaftlicher Präferenzen – regelmäßiger Wähler der Sozialdemokratie; Preuß war im Sinne eines sozialliberalen „Munizipalsozialismus“ im Kaiserreich ein Befürworter des Gemein(de)eigentums an öffentlicher Infrastruktur wie Verkehrs- und Versorgungsbetrieben, er hielt 1925 eine seiner letzten Reden bei sozialdemokratischen Angestelltengewerkschaftern mit heftigen Attacken gegen „antidemokratischen und antisozialen Monopolkapitalismus“57; Fraenkel hat sich wohl auch unter dem Eindruck des New Deal der USA vom linken Reformsozialisten vor 1933 und linkssozialistischen Impulsen gegen das NS-Regime zum späteren pluralistischen Sozialliberalismus hin bewegt. Wittmayer (Jg. 1876) blieb als Ministerialbeamter unter seit Herbst 1920 christlichsozialen Bundesregierungen tagespolitisch zurückhaltender, ließ aber grundsätzlich an seiner Gegnerschaft zu den in Österreich allesamt nicht demokratischparlamentarisch orientierten bürgerlichen Parteien und ihren deutschen Entsprechungen keinen Zweifel.
57 Preuß, Gesammelte Schriften, Bd. 4, Tübingen 2008, S. 280 – 291, hier S. 291. Recht und Politik, Beiheft 3
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AUTOREN DIESES HEFTES Gusy, Christoph, Prof. Dr. jur., Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Staatslehre und Verfassungsgeschichte an der Universität Bielefeld. Lehnert, Detlef, Prof. Dr., Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, Präsident der Hugo-Preuß-Stiftung und Vorstandsvorsitzender der Paul-Löbe-Stiftung. Buchveröffentlichungen u. a.: Das pluralistische Staatsdenken von Hugo Preuß, Baden-Baden 2012; Hg. der Reihe „Historische Demokratieforschung“ (Böhlau, dann Metropol Verlag). Leutheusser-Schnarrenberger, Sabine, Bundesministerin der Justiz a.D. Ooyen, Robert Chr. van, Prof. Dr. phil., RD, Honorarprofessor für Politikwissenschaft an der TU Dresden, lehrt Staats- und Gesellschaftswissenschaften an der Hochschule des Bundes, Lübeck, und ist Mitglied der RuP-Redaktion, Berlin. Schmetterer, Christoph, Rechtsanwalt in Wien. Selbständige Publikationen: Kaiser Franz Josef I (Wien 2016). Voßkuhle, Andreas, Prof. Dr. jur. Dr. h.c. Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Selbstständige Publikationen (zuletzt): Die Verfassung der Mitte, München 2016 (zusammen mit Thomas Wischmeyer); Die Idee der europäischen Wertegemeinschaft, Thyssen Lectures, Köln 2018.
Recht und Politik, Beiheft 3 (2018), 144
Duncker & Humblot, Berlin