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German Pages 425 [444] Year 1995
Heinrich R. Schmidt Dorf und Religion
Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte Herausgegeben von Peter Blickle und David Sabean Band 41
Dorf und Religion Reformierte Sittenzucht in Berner Landgemeinden der Frühen Neuzeit
von Heinrich Richard Schmidt
87 Abbildungen, 25 Tabellen und 1 Daten-Diskette
Gustav Fischer Verlag Stuttgart · Jena · New York · 1995
Adresse des Autors: PD Dr. Heinrich R. Schmidt Lindhaldenstr. 8 CH-3076 Worb
Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Schmidt, Heinrich Richard: Dorf und Religion : reformierte Sittenzucht in Bemer Landgemeinden der Frühen Neuzeit / von Heinrich Richard Schmidt. - Stuttgart; Jena ; New York : G. Fischer, 1995 (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte ; Bd. 41) Zugl.: Bern, Univ., Habil.-Schr., 1994 ISBN 3-437-50391-X NE: GT
© Gustav Fischer Verlag · Stuttgart · Jena · New York · 1995 Wollgrasweg 49 · D-70599 Stuttgart (Hohenheim) Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Hechts Textverarbeitung, Neuhaus/Inn Druck und Bindung: Druckhaus "Thomas Müntzer". Bad Langensalza Printed in Germany
Meiner Frau Gabriele
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Geleitwort Die Reihe „Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte" wurde 1943 von Günther Franz und Friedrich Lütge im Verlag Gustav Fischer, damals Jena, begründet. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs führten die beiden Herausgeber gemeinsam mit Wilhelm Abel die Reihe im gleichen Verlag in Stuttgart fort. Bis 1980 sind 32 Bände erschienen, die nach dem Tod von Friedrich Lütge (1968) von Wilhelm Abel und Günther Franz betreut wurden. Nach einer mehrjährigen Unterbrechung - Wilhelm Abel war mittlerweile verstorben - wurde die Reihe 1988 mit Band 33 fortgesetzt, jetzt unter der Mitherausgeberschaft von Peter Blickle. Erfreulicherweise konnte der Band 37 im Impressum neben den Erscheinungsorten Stuttgart und New York wieder Jena aufnehmen. Die Agrargeschichte, der in Deutschland heute der universitäre institutionelle Rückhalt fehlt, über den sie während der Amtszeit von Günther Franz im Institut für Agrargeschichte an der Universität Hohenheim (LH) verfügte, hat sich stark gewandelt, zumal große Forschungsfelder der letzten Jahrzehnte, die Sozialgeschichte, die Geschichte des Widerstands oder die Alltagsgeschichte, immer auch eine Erforschung der ländlichen Gesellschaft und der agrarischen Welt waren. Eine wissenschaftstheoretische Standortbestimmung der Teildisziplin Agrargeschichte wird sicher in absehbarer Zeit erforderlich werden. Die Agrargeschichte ist nicht mehr nur die Agrarwirtschaftsgeschichte, die Geschichte des Bauernstandes und die Agrarverfassungsgeschichte, wie sie von Wilhelm Abel, Günther Franz und Friedrich Lütge geprägt und zwischen 1962 und 1970 in der "Deutschen Agrargeschichte" in nicht wiederholbarer Eindrücklichkeit handbuchartig dargestellt wurden. Die Agrargeschichte ist, wie die Geschichtswissenschaft selbst, stärker interdisziplinär und international geworden. Der letzte Band der Reihe, den Günther Franz noch vor seinem Tode am 22. Juli 1992 im Manuskript gelesen und befürwortend in die Reihe aufgenommen hat, ist der kürzlich als Band 40 erschienene Titel "Kirche und Dorf' von Rosi Fuhrmann. Er greift ein Thema auf, die bäuerliche Frömmigkeit, das Günther Franz seit seiner Habilitation 1930 interessierte. 50 Jahre hat Günther Franz die "Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte" verantwortet, betreut und gefördert und der Reihe mit Wilhelm Abel und Friedrich Lütge ein international anerkanntes Profil geben können. Mit dem jetzt vorliegenden Band 41 tritt Prof. Dr. David Sabean (University of California, Los Angeles) als Mitherausgeber in Erscheinung. Er hat Pionierarbeiten zur ländlichen Gesellschaft in Deutschland vorgelegt und repräsentiert in seiner Person den methodischen Pluralismus, dem die Forschung neue Einsichten verdankt. Mai 1995
Herausgeber und Verlag
Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 1993/94 von der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern als Habilitationsarbeit angenommen. Für den Druck wurde sie geringfügig überarbeitet. Sie ist das Ergebnis eines Forschungsprojekts, das der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung finanziert hat, der auch den Druck bezuschußt. Ihm sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Mein Dank gilt ferner den Mitarbeitern in den benutzten Archiven sowie den Kirchgemeinderäten und Pfarrern der beiden untersuchten Kirchgemeinden, besonders Wolfram Löbner, Stettlen, sowie Dr. Kurt Handke und Markus Nägeli, Vechigen. Dr. Marcus Bourquin vom Museum Schwab/Stadtarchiv Biel hat mir die Bieler Bestände in großzügiger Weise zugänglich gemacht. Durch intensive und kritische Lektüre haben einige Freunde und Kollegen wesentlich zur Verbesserung der Analyse und der Form beigetragen. Ich nenne hier in alphabetischer Reihenfolge Prof. Dr. Peter Blickle, der auch die Aufnahme in die Reihe der «Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte» ermöglicht hat, Dr. Renate Blickle, PD Dr. Martin Dinges, Dr. Heike Talkenberger, Dr. Hartmut Zückert, schließlich die Gutachter der Fakultät, neben Prof. Dr. Peter Blickle die Professoren Rudolf Dellsperger, Martin Körner und Christian Pfister. Nach einem Computerabsturz haben Markus Nägeli und Hansruedi Möri die Rettung vollbracht. Das Summary wurde von James und Mark Furner, M.A. ins Englische übersetzt und von Prof. Dr. David W. Sabean gegengecheckt. Schließlich und vor allem möchte ich aber meiner Familie Dank sagen, ohne die ich diese Arbeit entweder nicht begonnen oder nicht erfolgreich zu Ende gebracht hätte, meiner Mutter Erna, meinen Kindern Andrea und Thomas, besonders aber meiner Frau Gabriele. Sie hat nicht nur Deutungsversuche und Probleme der Arbeit mit mir diskutiert und als erste und immer wieder kritisch gelesen, was ich geschrieben habe, sondern mich auch durch ihre Liebe gestärkt. Ihr sei diese Arbeit gewidmet. Mai 1995
Heinrich R. Schmidt
IX
Abkürzungen CGM EGA KGA KGM SSRQ
Sta Biel STAB
= Chorgerichtsmanuale = Einwohnergemeindearchiv = Kirchgemeindearchiv = Kirchgemeinde = Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen. Die Rechtsquellen des Kantons Bern, 1. Teil: Stadtrechte, Bd. [Es folgt die Bandnummer. Näheres siehe unter «Gedruckte Quellen»] = Stadtarchiv Biel = Staatsarchiv Bern
Die verwendeten Zeitschriftensiglen entsprechen den Richtlinien der Historischen Zeitschrift.
Glossar In der Regel sind Abkürzungen in Quellen und schwerverständliche berndeutsche Wörter stets in eckigen Klammern direkt hinter dem Quellenwort erläutert - mit folgenden Ausnahmen: bz fl gsi, gsin kilche lb nit, nüt sig, sige ß vff, uff z, z', zu, zu
= Batzen (Geldwert) = Gulden (Geldwert) = gewesen = Kirche = Pfund (Geldwert) = nicht, nichts = sei = Schilling (Geldwert) = auf, an, bei = zu, in
Disketteninhalt Die ASCII-Dateien "liesmich.doc" und "readme.doc" (englisch) auf der Diskette erläutern Inhalt und Benutzung der Dateien. X
Inhalt Vorwort Abkürzungen Glossar Disketteninhalt
IX X X X
Α Sittenzucht zwischen Norm und Sozialstruktur
1
1 Normhorizont und Ziele der Berner Sittenzucht 1.1 Welt-und Gottesbild 1.2 Aufgaben der Sittenzucht
3 3 11
2 Szenarien der Sittenzucht - Vechigen, Stettlen 2.1 Räumliche Gliederung und Wirtschaftsweise 2.2 Demographische Entwicklung 2.3 Soziale Gliederung
15 16 21 26
3 Verfassung und Chorgericht 3.1 Gemeinde Verfassung 3.2 Chorgericht 3.2.1 Wahlnormen 3.2.2 Wahlpraxis 3.2.3 Soziale Struktur
41 41 45 46 51 57
4 Fragestellung und Methode 4. 1 Fragestellung 4. 2 Methode
59 59 61
Β Religion und Kirche
69
I Religion und Magie - Fluchen und Schwören
69
1 Forschungsüberblick 1.1 Definitionen 1.2 Rüchen als Gotteslästerung 1.3 Menschenfluch versus Gottes Fluch 1.4 Entwicklungstendenzen
69 69 71 75 76
2 Normen
77 XI
3 Szenarien
80
4 Religiöser Wandel - quantitative Analyse 4.1 Entwicklungstendenzen 4.2 Gotteslästerliches und Alltagsfluchen
85 85 87
5 Ergebnisse
93
II Kirche
95
1 Forschungsüberblick 1.1 Katechese und Kirchlichkeit - Verchristlichung? 1.2 Versittlichung? 1.3 Akzeptanz und Widerstand 1.4 Säkularisierung 1.5 Fazit
95 96 100 101 103 105
2 Normen 2.1 Katechese und Kirchlichkeit 2.1.1 Katechese und Bildung 2.1.2 Predigt und Abendmahl 2.1.3 Sabbatheiligung 2.2 Akzeptanz und Widerstand - unevangelische Bräuche
107 109 109 113 115 120
3 Szenarien 3.1 Katechese und Kirchlichkeit 3.1.1 Katechese und Bildung 3.1.2 Predigt und Abendmahl 3.1.3 Sabbatschändung 3.2 Akzeptanz und Widerstand 3.2.1 Kooperation und Unbotmäßigkeit 3.2.2 Unevangelische Bräuche und Religionsabweichungen
121 121 121 122 127 129 129 135
4 Religiöser Wandel - quantitative Analyse 4.1 Täterprofile 4.2 Entwicklungstrends 4.3 Die Rolle der Pfarrer
137 139 146 149
5 Religiöser Wandel - Pfarrerurteile 5.1 Katechese und Kirchlichkeit 5.1.1 Katechese und Bildung 5.1.2 Predigt und Abendmahl 5.1.3 Sabbatheiligung 5.2 Sitten 5.3 Akzeptanz und Widerstand
156 157 157 160 162 163 165
6 Ergebnisse
168
XII
C Sexualität
173
1 Forschungsüberblick 1.1 Entwicklungstrends 1.2 Eheanbahnung und Verlobung 1.3 Die Rolle des Dorfes - Brautschwangerschaften und Armenehen 1.4 Der Stellenwert der Liebe 1.5 Kinderschicksale
173 174 177 179 181 186
2 Normen 2.1 Eheanbahnung und Verlobung 2.2 Mündigkeitsalter und Armenehen 2.3 Paternitätsverfahren, Brautschwangerschaften und Kindsmord
188 189 195 197
3 Szenarien 3.1 Eheanbahnung und Verlobung 3.2 Die Rolle des Dorfes 3.3 Der Stellenwert der Liebe 3.4 Brautschwangerschaften und Armenehen 3.5 Paternitätsklagen und Kinderschicksale
202 202 207 209 210 214
4 Sozialer Wandel - quantitative Analyse 4.1 Entwicklungstrends 4.2 Eheanbahnung und Verlobung 4.3 Brautschwangerschaften und Armenehen 4.4 Kinderschicksale
217 218 221 229 230
5 Ergebnisse
236
D Ehe
241
1 Forschungsüberblick 1.1 Haus und Herrschaft 1.2 Die protestantische Ehekonzeption 1.3 Liebe in der Ehe 1.4 Konflikte in der Ehe - protestantische Ehegerichte
241 241 243 245 246
2 Normen 2.1 Der heilige Stand 2.2 Eheschließung und -Scheidung 2.3 Eheethik
251 251 253 254
3 Szenarien 3.1 Pazifizierung des Hauses
258 258 XIII
3.2 Liederliche Haushalter 3.3 Trunksucht 3.4 Ehebruch
259 260 262
4 Sozialer Wandel - quantitative Analyse 4.1 Entwicklungstrends 4.2 Ursachen von Ehestreit 4.3 Formen des Konfliktaustrages
265 268 273 279
5 Ergebnisse
284
Ε Nachbarschaft
291
1 Forschungsüberblick 1.1 Nachbarschaftsverhältnisse 1.2 Kontrahenten in Konflikten 1.3 Ursachen von Konflikten 1.4 Versöhnung 1.5 Entwicklungstendenzen
291 291 292 296 298 300
2 Normen 2.1 Nachbarliche Liebe als Nächstenliebe 2.2 Verstöße gegen die nachbarliche Liebe 2.2.1 Spiel und Wucher 2.2.2 Verletzungen der Ehre 2.3 Gegenseitigkeit und Barmherzigkeit
305 305 312 312 314 315
3 Szenarien 3.1 Privatheit und Nachbarschaft 3.2 Formen und Ursachen von Konflikten 3.3 Versöhnung
317 317 320 327
4 Sozialer Wandel - quantitative Analyse 4.1 Kontrahenten in Konflikten 4.2 Ursachen von Konflikten 4.3 Entwicklungstendenzen
332 333 339 344
5 Ergebnisse
347
F Ergebnisse und Interpretationen 1 Die Berner Sittenzucht - eine Zusammenfassung 1.1 Christlichkeit und Interesse - Grundfaktoren der Sittenzucht XIV
351 351 351
1.2 Einzelergebnisse 1.2.1 Religion und Kirche 1.2.2 Sexualität 1.2.3 Ehe 1.2.4 Nachbarschaft 1.3 Bedingungen der Deliktentwicklung
354 354 355 356 357 358
2 Das Konzept der Evolutionstheorien 2.1 Max Webers Rationalisierungstheorie 2.2 Norbert Elias' Theorie über den Prozeß der Zivilisation 2.3 Gerhard Oestreichs Sozialdisziplinierungskonzept 2.4 Die Akkulturationsthese der popular-culture-Forschung 2.5 Konfessionalisierung und Sozialdisziplinierung
360 360 362 363 364 366
3 Kritik der Evolutionstheorien 3.1 Norbert Elias und die Akkulturationstheorien 3.2 Max Weber 3.3 Sozialdisziplinierung 3.4 Schlußbemerkungen
367 367 370 371 375
4 Summary
377
G Quellen und Literatur
401
1 Quellen 1.1 Ungedruckte Quellen 1.2 Gedruckte Quellen
401 401 403
2 Literatur
403
3 EDV-Programme
420
Sachregister
421
XV
Α Sittenzucht zwischen Norm und Sozialstruktur In drei großen Theorien ist die europäische Kulturentwicklung der Frühen Neuzeit auf den Begriff gebracht worden. Danach vollzieht sich Europas Sonderentwicklung «erstens in der Rationalisierung ..., zweitens in der Zivilisation als Fortschritt des menschlichen Benehmens seit dem Spätmittelalter, drittens in der Sozialdisziplinierung als Wandlung des inneren Menschen im Rahmen der Staats- und Gesellschaftsbildung. Kernbereiche sind zum ersten die Vernunft, zum zweiten die Sitte und zum dritten die Moral.»1 Die Begriffe stammen von Max Weber («Rationalisierung»), Norbert Elias («Zivilisierung») und Gerhard Oestreich («Sozialdisziplinierung»). Sie haben sie aus der Analyse normativer Schriften von Reformatoren oder Staatstheoretikern gewonnen; sie wollen damit Prozesse bezeichnen, welche «von oben» in Gang gesetzt worden seien und die Mentalität der einfachen Menschen umgeprägt hätten.2 Doch wie sind die Impulse «unten» angekommen? Alle drei Theorien sind teleologisch. Doch folgt die Geschichte ihren von Historikern postulierten Zielen wirklich? Beschreiben Max Weber, Norbert Elias, Gerhard Oestreich Impulse oder Wirklichkeit? Ist es überhaupt zulässig, geschichtliche Kategorien aus normativen Ansprüchen zu entwickeln? Muß nicht von der gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgegangen werden? Zu Beginn zielte die Arbeit nur darauf zu klären, wie der Prozeß der Zivilisation3 abgelaufen ist. Da die Kirchen wesentlich zur Zivilisierung beigetragen haben, wie die Forschung annimmt, konnten die reformierten Sittengerichte in Bern das Exempel für diese Frage abgeben. Die Chorgerichte waren Hauptakteure der Verchristlichungsbemühungen des Staates und haben Quellen hinterlassen, die die Veränderungen näher beleuchten. Über sie sollte versucht werden, zu präzisieren und von unten her aufzubauen, also aus der gesellschaftlichen Verwirklichung neu zu begründen, was die Forschung schon wußte - nämlich daß die Zivilisierung eingetreten ist. Aber sind die normativen Ansprüche denn erfüllt worden? Sind die einzelnen Menschen und mit ihnen die Gesellschaft rationaler geworden, zivilisierter, disziplinierter? Was hat fördernd oder hemmend, um- oder ablenkend gewirkt? Im Laufe der Arbeit sind die Grundannahmen der Forschung fragwürdig geworden.
1 2 3
Schulze, W., Sozialdisziplinierung, S. 291. Ebd., S. 274. Der Einfachheit halber wird hier das «Sozialdisziplinierung» mitbezeichnet.
Phänomen
der
«Rationalisierung»
und
das
der
1
Von einer «Zivilisierung», «Rationalisierung» oder «Sozialdisziplinierung» kann nicht schon als existent ausgegangen werden. Die Leitfrage hat sich verallgemeinert, vereinfacht und geöffnet. Es scheint nun sinnvoller, nicht mit einem Vorurteil, stamme es auch von Weber, Elias oder Oestreich, an die Untersuchung gesellschaftlicher Wirklichkeit heranzugehen, sondern diese Konzepte erst am Ende zu diskutieren. Es wird also im folgenden um die banale, weil nicht schon theoretisch zugespitzte Frage gehen, wie sich Religion, hier in Gestalt der reformierten Sittenzucht, lokal, d.h. in den ländlichen Gemeinden des Staates Bern, im Alltag präsentiert. Wie verhalten sich die Männer und Frauen, sozialen Gruppen, Instanzen zu den Ansprüchen einer evangelischen Sittlichkeit, die sie zur Heiligung veranlassen möchte, ja diese Heiligung als Gottesdienst fordert? Welche Rolle spielt die Religion in ihrem Leben und insbesondere in den Konflikten vor und in der Ehe, in der Nachbarschaft und mit der Kirche? Wie wirkt das Sittengericht im Dorf? Das ist die auf den Punkt gebrachte Leitfrage der folgenden Arbeit. In jedem Kapitel wird stets nach dem Verhältnis der Sittennormen und der gesellschaftlichen Wirklichkeit gefragt. Im Kapitel Α soll versucht werden, das Weltbild zu rekonstruieren, das den spezifischen Normen für die einzelnen Tätigkeitsbereiche der Sittengerichte zugrundelag (Teilkapitel 1). Es geht dabei nicht darum, die reformierte Theologie, auch nicht die Berner reformierte Theologie zu beschreiben, sondern nur darum, die Sittenordnungen selber daraufhin zu befragen, welches Weltbild in ihnen enthalten ist. Anschließend wird der Handlungsraum, d.h. die Gesellschaft der untersuchten Orte, umrissen (Teilkapitel 2). In diesem Teil werden die demographischen, wirtschaftsgeschichtlichen und sozialstatistischen Grundtatsachen ermittelt, welche auf die Sittenzucht eingewirkt haben. Zwischen beiden Ebenen, den Nonnen und der Wirklichkeit, steht das Chorgericht, das die gegenseitigen Ansprüche vermittelt. Es vertritt die obrigkeitlichen Normen, sofern es christlich ist und der Obrigkeit treu, es vertritt das Dorf, in dem es verankert ist. Zwischen beiden Ebenen, dem Sollen und dem Sein, vermittelt es, indem es die Normen als Ansprüche an die Dorfbewohner übersetzt, andererseits aber auch die Interessen im Dorf zu Wort kommen läßt. Es nimmt die InteressenArtikulationen der Menschen auf, die vor ihm erscheinen und ihre eigenen Interessen in die Kulturnormen ihrer Schicht, ihres Geschlechts, ihrer Gruppe, des Dorfes übersetzen (Teilkapitel 3). Welcher analytische Zugang gewählt wird, welche Verfahren angewandt werden, welche Grunddaten-Mengen untersucht werden, erläutert Teilkapitel 4, bevor im Hauptteil die einzelnen Tätigkeitsfelder der Sittenzucht in den Blick kommen: Religion und Kirche (Kapitel B), Sexualität (Kapitel C), Ehe (Kapitel D), Nachbarschaft (Kapitel E). Erst am Ende der gesamten Untersuchung wird dann die Auseinandersetzung um die Deutung der erzielten Ergebnisse mit Weber, Elias, Oestreich geführt werden (Kapitel F).
Ί
1 Normhorizont und Ziele der Berner Sittenzucht 1.1 Welt- und Gottesbild Die Rechtsordnung, wie sie in normativen Berner Quellen formuliert wird, ist religiös begründet. Die beiden Tafeln der Zehn Gebote werden in den großen Sittenordnungen mit der Absicht ausformuliert, «daß die hohe und heilige Majestät Gottes von Uns seinem lieben Volck geehret, und unser Sünden-Wandel, mit Anstellung eines recht eyffrigen frommen Leb-Wesens gebesseret werde, seinen anzuwenden Gerichten und schwären Straffen dardurch vorzukommen, und seines seligmachenden heiligen Worts und aller seiner Wolthaten weiters in Fried und Ruhestand zu gemessen».4 Gott wird als Majestät in Kategorien der weltlichen gesellschaftlichen Ordnung konzipiert. Er hat Ehre, die durch den Gehorsam seiner Untertanen vermehrt und durch Ungehorsam geschmälert werden kann. Der Rat selber integriert sich und seine eigenen Untertanen in den Begriff des «Volkes» Gottes. Damit spielt er einmal auf die Konzeption des «auserwählten Volkes Israel» an. Zugleich überträgt er die staatsrechtliche Idee der Herrschaft auf das Verhältnis Gott-Menschen.5 Gott ist «der allregierende starcke gott» 6 . Er gilt nicht als ein Gesetzgeber, der seine Normen hinterlassen hat, ohne sich weiter um ihre Einhaltung zu kümmern, oder der deren Überwachung vollständig an seine Statthalter auf Erden übergeben hätte. Er droht Gericht und Strafen an für die Übertretung seiner Gesetze.7 Gott straft die Sünder individuell und kollektiv, im Diesseits und am Tage des Jüngsten Gerichtes. Eine individuelle Gottesstrafe im Diesseits tritt in den Ordnungen stark in den Hintergrund, ebenfalls die theologisch zentrale Idee der Vergeltung gegenüber jedem einzelnen am Jüngsten Gericht, die selten erwähnt wird.8 In der Praxis spielt die Idee der irdischen Strafe Gottes am Täter dage4
5
6 7 8
KGA Vechigen F 7/5: 4.6.1716 - «Grosse Mandat der Statt Bern wider allerhand im Schwang gehende Laster», S. 11-18, hier: S. 16. Nicht ganz wörtlich so auch das GroBe Mandat von 166: SSRQ VI, 2, Nr. 31s, S. 931-944: 18.3.1661 - Das «Grosse mandat der statt Bern, wider allerhand im schwang gehende laster», hier: S. 942. Dieses Gottesbild ist nicht spezifisch reformiert, sondern gemeinchristlich. Vgl. zur überkonfessionellen Geltung der grundlegenden Axiome in den Sittenordnungen die Ausführungen zur Vergeltungslehre weiter unten. SSRQ VI, 2, Nr. 31k, S. 868-913: 27.2.1628 - «Christenliche mandaten, Ordnungen und Satzungen ..., vermehret und uff gegenwärtige zyt gestellt und gerichtet», hier: S. 900 f. SSRQ VI, 2, Nr. 31o, S. 923-926: 23.7.1652 - Verbot des Fluchens und Schwörens, hier: S. 924. Weitere Belege in den nächsten Ausführungen. SSRQ VI, 2, Nr. 31ff, S. 983-988: 22.2.1763 - «Großes oder Mayen-Mandat», hier: S. 987: Jeder solle sich so verhalten, «daß er solches an dem tage deß gerichts verantworten könne.» Vgl. SSRQ VI, 2, Nr. 31o, S. 923-926: 23.7.1652 - Verbot des Fluchens und Schwörens, hier: S. 924: Sein Tun stehe in direktem Bezug zu «seiner Seelen ewige heil und Seligkeit».
3
gen eine große Rolle. In der für seinen Nachfolger bestimmten «Obtestatio» berichtet der Vechiger Pfarrer Müslin in den 1720er Jahren eine Reihe von «Exempla, da seit nur meinem hier-sein gottes gericht gegen eint und andern sich nit unbezeüget gelaßen hat»:9 Hans Schmutzen Bruder von Ätzriiti hat sich auf dem Nachhauseweg von einer Hure totgestürzt. Benedikt Läderach von Schönbrunnen ist im Branntweinrausch von der Heubühne gefallen. Christian Stettiers und Nikolaus Schallers Haus sind wegen einer herabgefallenen Tabakpfeife abgebrannt. «An solchen, die mit frantzosen-seüch und die mit hinfallender sucht behafftet, fehlet es hier auch nit etc.» Die Berner Obrigkeit argumentiert in ihren Ordnungen jedoch fast ausschließlich «kollektivistisch». Das Hauptaugenmerk gilt dabei den zeitlichen gegenwärtigen Strafen, die noch eine Buße und eine Umkehr zulassen. Gott verhängt10 «pestilentz, schwären und seltzamen kranckheiten»11, «ungewonte Witterung»12, Mißernten, «herbe thüreund bittere hungersnoth»13, «innerliche empörung und unrfih»14 oder «ender- und umbkehrung gantzer regimenten und landschafften»15, die «landt und leüth verderbenden und uffräßenden grussammen leidigen kriegsflammen»16. Durch sie schadet er den Ungehorsamen. Die kollektive Streuwirkung der angedrohten und vollzogenen Strafen verweist deutlich auf die Tatsache, daß nicht nur der einzelne Sünder, sozusagen in einer «Punktattacke», angegriffen wird, sondern das Land als solches. Gott sucht das sündige Land - wie Sodom und Gomorrha - heim (Motiv der Heimsuchung durch Gott17), er selbst legt ihm legitimerweise seinen Fluch auf.18 9 10 11
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16 17 18
4
KGA Vechigen Β 6 = Chorgerichtsmanual VII: Obtestatio Daniel Müslins an den Nachfolger, zw. 1723 und 1727, S. 288 f. Topisch gebündelt in SSRQ VI, 2, Nr. 31b, S. 840-850: 6.1.1587 - «Christenlich mandat», hier: S. 846. Auch in SSRQ VI, 2, Nr. 311, S. 914-921: 5.5.1643 - «Neüwe reformation», hier: S. 914. SSRQ VI, 2, Nr. 311, S. 914-921: 5.5.1643 - «Neüwe reformation», hier: S. 914. SSRQ VI, 2, Nr. 31a, S. 826-839: 16.12.1548/7.9.1550/20.4.1573 - Maimandat = «Das groß mandat der loblichen statt Bern», hier: S. 839, Anm. 4: 5.2.1578 - Ermahnung an jedermann (bzgl. Pest). SSRQ VI, 2, Nr. 311, S. 914-921: 5.5.1643 - «Neüwe reformation», hier: S. 914. SSRQ VI, 2, Nr. 31m, S. 921 f.: 6./7.6.1649 - Verbote «deß muhtwilligen wäsens an hochzeiten» etc., hier: S. 921. SSRQ VI, 2, Nr. 311, S. 914-921: 5.5.1643 - «Neüwe reformation», hier: S. 914. SSRQ VI, 2, Nr. 31m, S. 921 f.: 6./7.6.1649 - Verbote «deß muhtwilligen wäsens an hochzeiten» etc., hier: S. 921. SSRQ VI, 2, Nr. 311, S. 914-921: 5.5.1643 - «Neüwe reformation», hier: S. 914. SSRQ VI, 2, Nr. 31m, S. 921 f.: 6./7.6.1649 - Verbote «deß muhtwilligen wäsens an hochzeiten» etc., hier: S. 921 - Man bedenke, daß hier das schwere argumentative Geschütz in einer Ordnung gegen Üppigkeiten von Hochzeiten steht! SSRQ VI, 2, Nr. 311, S. 914-921: 5.5.1643 - «Neüwe reformation», hier: S. 914. Ebd., S. 920 f. SSRQ VI, 2, Nr. 31m, S. 921 f.: 6./7.6.1649 - Verbote «deß muhtwilligen wäsens an hochzeiten» etc., hier: S. 921. SSRQ VI, 2, Nr. 31s, S. 931-944: 18.3.1661 - Das «Grosse mandat der statt Bern, wider allerhand im schwang gehende lasier», hier: S. 931 f. (erstes Teilzitat) und 935 (zweites Teilzitat): «Damit nun diser segen nit in ein fluch, die gnad nicht in ein straff, und seine gutthaten nit in schwäre gericht verwandlet werdind, also das umb der menschen boßheit willen gottes grim über das land außfahre und brenne wie ein fewr das ohnaußlöschlich ist», ist sittliche Besserung nötig und «auß dieser ferneren betrachtung, daß die underlassung und ubertrettung dises verheissung-gebotts und außgetruckten willens gottes anders nichts dann fluch und Zerrüttung nach sich zeuhen thut.»
In der Praxis wird der Normhorizont mitunter direkt zitiert. So wird zur Erklärung eines Erdbebens festgehalten, daß «gott der allmechtig vonn vnser allersyths vilfaltigenn Sünden willen vns vff demselbigen tag mit synem zornn vnnd einem erschrockenlichen erdbidem heimgesucht vnnd vns darmit wellen zä uerstan geben, das wir vonn sündenn vnnd lästeren abiaßen vnd vnns allersyths wahrlich vnnd mit rüwendem hertzen zu imme bekherenn, ouch büß vnnd beßerung thün wellindt».19 Die Sünde steckt an, sie beschmutzt auch die Zuhörer. «Damit nun keiner durch vorsetzliches stillschweigen, da er sonst füeglich vor sein könte, sich deß anderen sünd theilhaftig mache, so ist unser emstiger will, meinung und bevelch, dz ein jeder seinen nechsten, den er so hört schweren, lesteren und fluchen, ... friindtlich davon abmahnen, oder je nach dem es der persohn, standts, orts oder anderer züfelligkeiten halb eine beschaffenheit hette, solches einem jewesenden kirchendiener oder chorrichter offenbaren solle.»20 Auch in der Praxis dient die Ansteckungstheorie zur Begründung für die Sittenzucht: Als der Wirt in Utzigen Kegeln erlaubt, wird ihm vorgehalten, wieviele «eigene und frembde Sünden er durch ein ungewißenhafftes ungebundenes unheiliges verbottenes wihrtsleben, unwesen und übelverhalten ihme selbst zu unmöglicher schwerer Verantwortung auf den tag Christi auf seine arme seel und auf sein gewißen ziehe, wie gottes zorn und gerechtigkeit ihne selbst und sein hauß nit minder als die, die so häüffig da an Sonntagen ihre vile große und schwere Sünden ungeschochen [= ungescheut] verüben sollen, nit ungestrafft und ungerichtet laßen könne ..., wie man, so er um eines so liederlichen leichten gewinlins wegen seine seele verliere, nit wolle schuldig sein etc. etc.»21 Die kollektive Verantwortlichkeit für die Sünden einzelner drückt vor allem auf die Obrigkeit, weil sie nicht nur für ihr eigenes Tun, sondern auch für ihre Untertanen wird Rechenschaft ablegen müssen. Im Fall des Kegelns fürchtet das Chorgericht, von Gott zur Verantwortung gezogen zu werden («schuldig» zu werden), wenn es nichts tut.22 Besondere Pflichten obliegen den Predigern: Wenn der Prediger seine Pflicht versäumt, «so wird wol der Gottlose vmb seines Gottlosen Wesens willen sterben, aber sein Blut will ich von deiner hand forde19 20
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STAB BIX 462 = Turmbücher, fol. 3-4, 10-11, 15-16: 1622, hier: fol. 15 f. SSRQ VI, 2, Nr. 31o, S. 923-926: 23.7.1652 - Verbot des Fluchens und Schwörens, hier: S. 925. «Damit auch keiner sich deß anderen sund durch stillschweigen theilhafftig mache,» heißt es auch im Großen Mandat 1661, «als soll ein jeder, so den andern hört schweren, listeren oder fluchen ... solches einem kirchen-diener oder chor-richter offenbaren.» - SSRQ VI, 2, Nr. 31s, S. 931-944: 18.3.1661 - Das «Grosse mandat der statt Bern, wider allerhand im schwang gehende laster», hier: S. 934. KGA Vechigen, CGM: 6.10.1726 SSRQ VI, 2, Nr. 3lk, S. 868-913: 27.2.1628 - «Christenliche mandaten, Ordnungen und Satzungen ..., vermehret und uff gegenwärtige zyt gestellt und gerichtet», hier: S. 869 f.: «alle oberkeiten und regenten ihrer Verwaltung vor gottes angesucht rechenschaft geben mussend und das blut ihrer anbefohlnen underthanen, dessen sy nit rechnung und achtung habend, von ihren hinden erforderet werden solle».
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ren.»23 Gottes Strafe wird hier als «Fluch» bezeichnet. Es scheint, als könne man die gesamte Strafe-Gottes-Konzeption als «Fluchtheologie» qualifizieren: «Gottes Fluch kommet vber sie.» (Maleachi 2, 1-3) «Vnd nun ihr Priester, diß Gebott gilt euch, wo ihrs nit hören noch zu Hertzen nehmen werden, das ist meinem Nammen die Ehr geben, spricht der Herr Zebaoth, so wird ich den Fluch vnder euch schicken vnd eweren Segen verfluchen, ja verfluchen wird ich ihn, weil ihrs nit wöllen zu Hertzen nemmen: Sihe ich will euch sampt ewerem Saamen beschälten vnd will euch den Kaat ewer Feyrtagen ins Angesicht werffen vnnd soll an euch kläben bleiben etc.» 24 Gottes Strafdrohung hat einen didaktischen Zweck. Der erzieherische, ins Gewissen zielende Appell der Obrigkeit verlangt nach Buße, Umkehr, Besserung.25 Es geht keineswegs nur um die äußerliche Abstrafung von Verbrechen oder Vergehen. Es geht um Sittenzucht, und der Aspekt der Sündhaftigkeit des Tuns steht im Mittelpunkt. Das «Groblernziel» lautet in dieser Didaktik der Strafe, Gott «zu förchten, und zehalten alle seine gebott unser lebenlang, uff das es uns wol ergange und unseren kinden ewiglich, Amen.» 26 Besserung wird auch Gott veranlassen, seine Strafdrohungen zurückzunehmen.27 «So wirt unzwiffen-
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KGA Vechigen F 7/1: 1638 - «Ordnungen der Predicanten» [Neudruck der Prädikantenordnung 1587], abschließende «Emstliche be schiltungen deß H. Geists». Ebd. Pfister, R„ Kirchengeschichte, Bd. 2, S. 535-538, Bd. 3, S. 101 f. Vgl. zum Motiv der Gottesstrafe für Zürich auch Wehrli, C., Reformationskammer, S. 17, 23-27, 176. Im 18. Jahrhundert verliert sich die Begründung mit Gottes Zorn. - Ebd., S. 27. SSRQ VI, 2, Nr. 311, S. 914-921: 5.5.1643 - «Neüwe reformation», hier: S. 921. Der Ruf zur Umkehr speist sich noch mehr als hundert Jahre nach der Reformation argumentativ aus der Naherwartung des Weltendes, wenn der Rat 1661 die Sünden in «disen letsten Zeiten» anspricht, «da der eifer zur gottseligkeit, zucht und ehrbarkeit leider so gar erkaltet, hingegen das riich- und gottlose unbußfertige sunden-wesen seinen vollen lauff so weit genommen, das die sunden-maß nunmehr bey nahem erfült.» - SSRQ VI, 2, Nr. 31s, S. 931-944: 18.3. 1661 - Das «Grosse mandat der statt Bern, wider allerhand im schwang gehende laster», hier: S. 931. SSRQ VI, 2, Nr. 31k, S. 868-913: 27.2.1628 - «Christenliche mandaten, Ordnungen und Satzungen ..., vermehret und uff gegenwürtige zyt gestellt und gerichtet», hier: S. 869: «wann aber leyder by disen letsten bösen zytten solche unsere vatterliche erinnerung ..., ja die thatpredigen gottes deß allmächtigen selbs von himmel herab, durch wunder und zeichen, erdbdimen [sie], füwr, strahl und hagel, ungewitter, erschrockenliche lüfft und wind, trSwung schwerdt und kriegs, und hiemit gäntzlicher ußrüttung (wo wir uns nit nochmalen ... zu ihme bekehren und ... enderung alles verruchten labens für die hand nemmen und würcken werdent) by dem mehren theil under uns nit so vil vermögen, dann das ... nit allein wider solche unsere ... mandaten ... fräffenlich und verächtlich gehandlet, darob mit schlechtem und läywem yffer gehalten und die übertretter nit gestrafft, sonders ... unordnung, mutwilligkeiten, Üppigkeiten, boßheiten ... ungeschücht getriben werdint» - Hervorhebung vom Verf. So auch SSRQ VI, 2, Nr. 31o, S. 923-926: 23.7.1652 - Verbot des Fluchens und Schwörens, hier: S. 924: In «disen leidigen letsten Zeiten» nutzen die Mandate nichts, auch die Predigten und selbst die «that- und straffpredigen gottes deß allmechtigen vom himmel herab» nicht. Fluchen nimmt überhand. Vgl. KGA Vechigen F 7/5: 4.6.1716 - «Grosse Mandat der Statt Bern wider allerhand im Schwang gehende Laster», S. 3. SSRQ VI, 2, Nr. 31a, S. 826-839: 16.12.1548/7.9.1550/20.4.1573 - Maimandat = «Das groß mandat der loblichen statt Bern», hier: S. 827: Gott hat «sin hand und rntten ußgestreckt, das nun ... in kein ander wäg ..., dann durch b&ßvertigkeit, beßrung und indrung des läbens ... abgewendt mag werden.»
lieh ... gottes zorn hiedurch gestillet und sine straffen... abgewerd und fürkhommen warden.»28 Mit der Buße wird das gesamte Kollektiv wieder «syn gnad und huld erlangen».29 Gott verheißt Belohnungen für die Getreuen: Vor den «Beschältungen» stehen in der Predigerordnung von 1587 und 1638 «Verheissungen zeitlicher und ewiger Belohnung». «Dieweil du behalten hast das Wort meiner gedult, will ich auch dich behalten vor der stunde der Versuchung, die kommen wird vber der gantzen Welt Kreiß zu versuchen die da wohnen auff Erden. Sihe ich kom bald, halt was du hast, auff das niemands dein Krön nemme. Wer vberwindt, den will ich machen zum Pfeiler in dem Tempel meines Gottes, vnd soll nicht mehr hinauß gehen, vnnd will auff ihn schreiben den Nammen deß newen Jerusalems, der Statt meines Gottes, die vom Himmel herab kompt von meinem Gott, vnd meinen Nammen den Newen» (Offenbarung 3, 10-12).30 Wegen des didaktischen Bezugs der Figur vom zornigen Gott kann der Rat wiederholt die gegenwärtigen Zornesäußerungen Gottes als die «that- und straffpredigen gottes deß allmechtigen vom himmel herab»31 bezeichnen. Die Vergeltungstheologie ist vorreformatorisch nachweisbar32 und bleibt überkonfessionell. Es finden sich in Bern z.B. genügend vorreformatorische Quellen, die genauso argumentieren.33 Allerdings sprechen sie deutlicher von 28 29
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SSRQ VI, 2, Nr. 31f, S. 856 f.: 2.4.1601 - Einschärfung der Sittenmandate; Kinderlehren, hier: S. 856 f. SSRQ VI, 2, Nr. 31iß, S. 866-868: 27.1.1621 - «Christenliche Ordnung ... wider den hoffahrt und pracht in kleideren, auch das lichtfertige fluchen und schweren», hier: S. 868. Noch 1763 trägt diese Vorstellung die Argumentation: SSRQ VI, 2, Nr. 3Iff, S. 983-988: 22.2.1763 - «Großes oder Mayen-Mandat», hier: S. 983 f. Vgl. SSRQ VI, 2, Nr. 31k, S. 868-913: 27.2.1628 - «Christenliche mandaten, Ordnungen und Satzungen ..., vermehret und uff gegenwärtige zyt gestellt und gerichtet», hier: S. 870. KGA Vechigen F 7/1: 1638 - «Ordnungen der Predicanten» [Neudruck der Prädikantenordnung 1587], abschließende «Ernstliche vermahnungen deß H. Geists». SSRQ VI, 2, Nr. 31o, S. 923-926: 23.7.1652 - Verbot des Ruchens und Schwörens, hier: S. 924. Casagrande, C. und Vecchio, S., P6ch6s, S. 180, 240, 227. Ich danke meinem Kollegen Beat Hodler für den Hinweis auf diesen Titel. Casagrande und Vecchio untersuchen die theologische Diskussion um das Jahr 1200. Die Ordnung der Sonn- und Feiertage von 1479 operiert damit: «Ir sechen den ... schaden, kumber und verlust, so wir lange zit durch die herten plag der pestilentz ... gelitten haben ..., [die wir] in keinen weg, dann durch andechtig uffruffen und vlyssige bett an den barmhertzigen behalter, unserrn herrn Jhesum Christum mit hertzenclicher betrachtung sines bittern lidens und sterbens wussen abzewenden». - SSRQ VI, 1, Nr. 9Ab, S. 89 f.: 27.10.1479 - Ordnung der Sonn- und Feiertage, hier: S. 89. Um Gottes Zorn zu stillen, sollten während der Messe die Männer mit zertanen Armen, die Frauen mit aufgehobenen Händen fünf Paternoster und fünf Avemaria beten, «damit got der allmechtig bewegt werd, sinen zorn und räch abzeläßen und uns allen frid und bekomlicheit zu sei und lib mitzeteilen.» - SSRQ VI, 1, Nr. 9Ab, S. 89 f.: 27.10.1479 - Ordnung der Sonn- und Feiertage, hier: S. 89. Auch andere Sittenordnungen gegen Kleiderluxus und Zutrinken begründen ihre Bestimmungen mit der Chance, Gottes Strafe abzuwenden. - SSRQ VI, 1, Nr. 9Ca, S. 104106: 7.4.1481 - «Verpott der üppigen kleideren und b6sen schwüren», hier: S. 104. SSRQ VI, 1, Nr. 9Cb, S. 106 f.: 8.11.1492 - Zutrinken verboten: Zutrinken wollen Schöffen und Rat nicht mehr dulden, weil es «furer nit geburt zu liden, gottz zorn und sträff zu miden und abzustellen». Das Verbot von Fluchen und Schwören klingt schon 1481 fast wörtlich wie die nachreformatorischen 7
einer «Belohnung», die auf gute Werke folgen wird.34 Dennoch wird sichtbar, daß der Berner Rat schon vor der Reformation Sittenzucht mit der im Diesseits wirksamen Sanktion Gottes abstützt. In den vorreformatorischen Ordnungen werden öfter rituelle «Gute Werke» (Wallfahrten etc.) gefordert, um Gott zu besänftigen, was nachreformatorisch nicht mehr vertreten werden kann und was sicher einen stabilen Unterschied zum Katholizismus darstellt.35 Auf die überkonfessionelle und gesamteuropäische Geltung dieser Konzeption weist insbesondere Delumeaus Arbeit über die «Angst im Abendland» hin.36 Die speziellen Untersuchungen37 zur Vergeltungslehre, in der Forschung unter dem Begriff «Providenz» geführt, konzentrieren sich in Gestalt von Keith Thomas38, Blair Worden39, Karl Metz?0 und Kaspar von Greyer?41 einmal auf den englischen Puritanismus und in der von Jean Delumeau*2, Elisabeth Beimas43 und Frangoise Hildesheimer44 auf Frankreich. Heinz-Dieter Kittsteiner,45 Markus Schär,46 besonders aber Sabine Holtz haben für den deutschen und schweizerischen Raum ebenfalls die dominante Stellung der Idee des strafenden Gottes in aller Deutlichkeit nachgewiesen.47 Holtz spricht im Zusammhang ihrer Ana-
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Ordnungen: «Und als nu die harten b6sen swur dem allmächtigen so hoch missvallen, das er deshalb in dem alten und nuwen testament gros plägen an land und lut gesetzt hat, därumb uns besunder not bedunckt, därinn triffenliche fursorg zu haben, harumb sSlich ubel, das leyder zu b0ser Übung under aller m&ncklichem ufferwachsen ist, zu gestillen, und der zorn gotts därmit zu sänfte und gnäd zu ziechen, so haben wir angesechen, gesetzt und geordnet». - SSRQ VI, 1, Nr. 9Ca, S. 104-106: 7.4.1481 - «Verpott der üppigen kleideren und bösen schwuren», hier: S. 105. SSRQ VI, 1, Nr. 9Cc, S. 108, Anm. 1: 4.4.1493 - Mandat gegen Schwören und kurze Kleider, hier das Begleitschreiben: «daran bewisend ir gott... söllich gut wol gevallen, das er uch darumb sundre belonung und merung alles des, so zu enthaltung uwer seien, er, lib und guts dient, wirdt geben». Die Duldung solcher Unsitten wird Gottes Strafe zur Folge haben. Zu den Guten Werken vgl. SSRQ VI, 1, Nr. 27x, S. 609-654: 9.2.1748 - «Neu-verbesserte Predikanten-ordnung deß sammtlichen ministerii der Teutschen landen hoch-loblicher Stadt Bem», hier: S. 612: «Die nothwendigkeit der liebe und guten werken als früchten der gerechtigkeit, des glaubens [soll] angepriesen und das christen-volk nach allen ständen zu allen Christ-anständigen pflichten angemahnet werden, damit alles nach der apostolischen regel zierlich und in guter Ordnung hergehe und die kirche in gott erbauet werde.» Auf das Fehlen einer Abwehrmagie gegen das Gewitter als Gottesstrafe im Protestantismus hat Kittsteiner hingewiesen: Kittsteiner, H.D., Gewissen, S. 36-38. Delumeau, J., Angst, S. 341. Vgl. ebd.: «Der Zusammenhang zwischen Verbrechen und göttlicher Strafe noch auf Erden wurde für die abendländische Mentalität immer mehr zur Selbstverständlichkeit.» Vgl. zu Frankreich auch Schmale, W., EntChristianisierung, bes. S. 20, 24 f. Ausführlich die Forschungsdiskussion in Schmidt, H.R., Ächtung, S. 73-83. Thomas, K., Decline, S. 78-112, Kapitel «Providence». Worden, B., Providence. Metz, K.H., Providence. Greyerz, K.v., Vorsehungsglaube. Zu England vgl. auch Spurr, J„ Peijury, z.B. S. 29 f. zum Zorn Gottes. Ich danke meinem Kollegen Andre Holenstein für den Hinweis auf diesen Titel. Delumeau, J„ Angst, S. 341. Beimas, έ., Blasphemes. Hildesheimer, F., Röpression. Kittsteiner, H.D., Gewissen. Schär, M., Seelennöte, S. 131-149 und 204-208, 221-271. Vgl. auch Habermas, R„ Wunder. Holtz, S., Alltag, S. 23, 53-70, 75-108, 270-283, 291 -306, 372-376.
lyse von Lehrpredigten Württemberger Theologieprofessoren von einer neuen «Werkgerechtigkeit».48 Auch Helga Schnabel-Schüle arbeitet die leitende Idee des rächenden Gottes für die lutherischen Sittenordnungen heraus.49 Wie Holtz betont sie die kollektive Streuwirkung der Strafaktionen Gottes.50 Skizzenhaft und auf die hier besonders interessierenden Aspekte zugespitzt lauten die Ergebnisse der Forschung: Die Vergeltungslehre51 ist zwar nicht konfessionsspezifisch, sondern schon hochmittelalterlich. Sie verliert erst im 18. Jahrhundert an Überzeugungskraft und löst sich im Zuge einer Mechanisierung des Weltbildes auf. Zuvor ist sie aber das beherrschend^ Motiv der Weltdeutung selbst innerhalb des Puritanismus. Sie hebelt mit ihrer Betonung der Buße, der Umkehr und der Chance, Gottes Huld wiederzugewinnen, die Prädestinationslehre aus. Damit wird die Webersche Engführung, gerade die doppelte Prädestination als Impuls für die Ausbildung einer «protestantischen Ethik» zu betrachten, in Frage gestellt. Besonders klar kommt dies bei Kaspar von Greyerz zum Ausdruck.52 Weder die Bundestheologie noch die Prädestinationslehre spielen in den Zeugnissen der puritanischen Laienfrömmigkeit eine herausragende Rolle, sondern die individuelle Spezialprovidenz, also Gottes Vergeltung im täglichen Leben, prägt die calvinistische Ethik.53 Die puritanische Selbstzucht, in Webers Worten die «innerweltliche Askese» der Puritaner, ist durch die Providenztheologie motiviert.54 Sie stärkt den Willen zur Heiligung, zur Umkehr aus der Sündhaftigkeit, zur Buße, weil sie Lohn dafür verheißt.55 Wer die Vergeltungstheologie zum Zentrum der Selbstdisziplinierung oder der Sittenzucht erklärt, fordert das herkömmliche, aus der Hochtheologie abgeleitete Verständnis des «typisch Reformatorischen» oder «typisch Reformierten» heraus, das sich um Begriffe wie «Rechtfertigung aus dem Glauben»,
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Ebd., S. 320 f. Auch sie betont wiederholt die Kollektivhaftung für die Sünden einzelner, z.B. ebd., S. 360. Schnabel-Schüle, H., Verbrechensprävention, bes. S. 51 f., 55-60. Ebd., S. 52, 56. Vgl. Holtz, S„ Alltag, S. 266, 360. Der in der vorliegenden Abhandlung bevorzugte Terminus «Vergeltung» wird in der Forschung selten gebraucht. Besonders die Arbeiten zur englischen Geschichte nennen das hier gemeinte Phänomen «Providenz», d.i. Vorsehung. Doch auch darunter verstehen die Autoren i.d.R. nicht den Gesamtkomplex der Vorsehung, der von der Schöpfung und vom allgemeinen weltgeschichtlichen Heilsplan Gottes (universelle Providenz) bis hin zur «speziellen» Providenz über Völker und einzelne Menschen (einschließlich der Prädestination zu Heil oder Verderben) geht, sondern eben nur diese spezielle individuelle Providenz, mit der Gott in das Leben des einzelnen Menschen eingreift, sei es strafend/belohnend oder erziehend/prüfend. Näheres Schmidt, H.R., Ächtung, S. 73-76. Sabine Holtz spricht ebenfalls von «Vergeltung», z.B. in Dies., Alltag, S. 165, 320. Bes. in Greyerz, K.v., Predestination. Ebd., S. 276. Ebd., S. 278. Zur Erosion der Prädestinationslehre durch die Providenztheologie, die Greyerz in diesem Aufsatz besonders deutlich herausarbeitet, z.B. S. 279, 281. Greyerz, K.v., Predestination, S. 280, 283: «Solange man an Gottes Eingreifen in die Welt glaubte und solange man dies als Lohn oder Strafe verstand ..., mußte man sich um individuelle und kollektive Heiligung bemühen, um Gottes MiSfallen zu vermeiden und seine Huld zu erringen.»
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«Prädestination», «Gottesbund» gruppiert. Er läuft Gefahr, daß ihm vorgeworfen wird, die konfessionellen Unterschiede zu verwischen und die protestantische Theologie zu verzerren. Dennoch muß deutlich gesagt und entschieden festgehalten werden, daß in englischen Selbstzeugnissen wie in Sittenordnungen des bemischen Reformiertentunis die Vergeltungslehre den zentralen theologischethischen Fokus darstellt und daß die übrigen Essentialia des Reformatorischen darin nicht deutlich angesprochen werden. Zweierlei muß abschließend festgehalten werden: 1. Strafe und Lohn beherrschen das theologische Weltbild der Berner Sittenzucht. Zwar überwiegt deutlich die negative Sanktionierung durch Strafen, die Gott für Übertretungen vorsieht, doch kommen auch Lohngedanken vor, die man so in einer reformierten Theologie nicht erwarten würde.56 Die Sittenzucht ist die staatlich angeleitete Ordnung einer beständigen kollektiven Buße. Sie dient dem Zweck, Gottes Huld zu erlangen, zu bewahren und zu mehren. Sie ist Selbstzucht der Untertanen Gottes, die dessen Strafruten fürchten und deshalb zu vermeiden suchen. Die Sittengerichte sind Bußinstrumente in diesem kollektiven Bemühen, dem obersten Herrn zu gehorchen. 2. Die Reformation vollzieht im wesentlichen eine Ethisierung der Guten Werke. Die Reformation säkularisiert die Gesellschaft nicht. Vielmehr kann die «Reformation als normative Zentrierung von Religion und Gesellschaft» verstanden werden, wie dies Berndt Hamm jüngst getan hat.57 «Die Entwicklung des 16. Jahrhunderts führt somit in der Wechselseitigkeit kirchlich-staatlicher Einflußgefälle zu einer - gegenüber dem Spätmittelalter - gesteigerten Verflechtung von politia und ecclesia».58 Die «Intensivierung aller Lebensbereiche des gesellschaftlichen corpus christianum vom Zentrum des biblischen Gotteswortes 56
Sta Biel 141 b, Nr. CLI, 61: nach 1617 - Chorgerichtsordnung, Einleitung (unfoliiert): Auch der Stadtrat von Biel, einer fast autonomen Stadt im Fürstbistum Basel, die in der folgenden Untersuchung mitberücksichtigt wird, geht von diesem Bild eines aktiv die Gesamthaftung der Gemeinschaft fordernden Gottes aus: Er stellt fest, daß «wir allenthalben sehen und hören, wie gott den unbußfertigen ... grausame ... straafen tröhet und wie er das schwert seines grims schon zucket und an viel andren ohrten mit krieg, thüre, pestilentz und sterben schon darin schlagt, da wir unß eines anderen nit zu versehen haben; dann so wir in gleichen fußstapfen der Sünden mit anderen leider stehen», äußert aber zugleich die «hofnung, so wir vermittelst solcher Ordnungen von sünd und lasier abstehen, und unß aller zucht und frommigkeit befleißen werden, [werde] unß gott der herr zu aller theillen in statt und land fried und Wohlstand geben und in allem guthem hie zeitlich und leiblich und demnach auch dort ewiglich erhallten.» Die Zomestheologie dominiert auch in Basler und Württemberger Ordnungen: Vgl. Simon, C., Untertanenverhalten, S. 67, 69 140. Schnabel-Schüle, H„ Fall, S. 11 f., 115 (zu Carpzov), 171, 180, 327 f., 333 und 484 (Verschwinden des Motivs am Ende des 18. Jahrhunderts), 349 (Verankerung im Volk), 480 f. Vgl. S. 251, wo sie das «frühneuzeitliche Rechtssystem, das um die Vorstellung des rächenden Gottes zentriert war», erwähnt.
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Hamm, B., Zentrierung. Ebd., S. 255.
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und des gemeinschaftsformenden Glaubens her ... bedeutet insofern Desakralisierung und Entzauberung der Welt und Verweltlichung von Religion, als nun die Absonderung einer herausgehobenen, umgrenzten Sakralität von der sakralitätsfernen Profanität der Laien- und Alltagswelt aufgehoben ist... Dies bedeutet aber gerade nicht Säkularisierung der Welt und der Religion im modernen Sinne, sondern Sakralisierung der Welt, Ausweitung der Heiligung auf alle Lebensbereiche, die nun zum Ort vollgültigen Gottesdiensts werden können und sollen. Die Aufhebung bzw. Ausweitung von Sakralität setzt bei den Personen an: Die Kleriker werden zu Laien gemacht und die Laien zu Priestern - im Sinne des Priestertums aller Gläubigen.»59 Organe des gesteigerten Heiligungsstrebens des reformierten Protestantismus sind seine Sittenzuchtgremien, deren Ziele, deren Praxis und deren Erfolge untersucht werden sollen.
1.2 Aufgaben der Sittenzucht Die Berner Sittengerichte wurden direkt mit der Reformation eingeführt. 60 Sie sollten auf «eesachen achten», die Einhaltung aller Satzungen «christlicher disciplin» überwachen und Übeltäter bestrafen, insbesondere sollten sie vorgehen gegen Gotteslästerer, Segner (Gesundbeter), Teufelsschwörer, Versäumer der Predigten und der Abendmahlsfeiern, solche, die ihren Eltern nicht gehorchen, Hurer und Ehebrecher, Kuppler, Trinker, Tänzer, Wucherer, Spieler, Müßiggänger, «üppig» Gekleidete, alle die auf Kirchweihen laufen, sich vermummen, Fastnacht61 feiern, nächtlichen Unfug anrichten, liederliche Wirte «und was sonst derglychen mehr ergerlicher lütten sind, die christenlicher zucht und erbarkeit zuwider handlend.»62
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Ebd., S. 262. Vgl. S. 263, 279. Auf die «reformierenden» Tendenzen, auch die lutherische Konfessionalisierung von der «normativen Zentrierung» her zu deuten, muß in einer Arbeit über ein reformiertes Kirchentum nicht eingegangen werden, weil hier kein Dissens aufscheint. Vgl. auch Feller, R., Sittengesetze. Der Biblizismus, der der oberdeutsch-schweizerischen Reformation eigentümlich ist, schuf sich im Chorgericht ein Instrument. So Guggisberg, K., Kirchengeschichte, S. 177. Vgl. Moser, D.-R., Fasnachtsfeier. SSRQ VI, 2, Nr. 31b, S. 840-850: 6.1.1587 - «Christenlich mandat», hier: S. 849 f.: «Die chorrichter söllend nit allein befilche haben, uff die eesachen zeachten, sonders in gmeyn ob allen unseren christlicher disciplin, gmeyner zucht und erbarkeyt Satzungen mit hSchstem flyß und ernst zehalten und die ubertiitter derselbigen, es syend wyb oder manns personen, zebeschicken, zu rechtfertigen und nach lut der Satzungen und mandaten zestraffen, als da sind gottslesterer, signer, tüffelsschweerer, mutwillige versumer und verachter der predigen deß heiligen göttlichen worts und heiligen sacramenten, ungehorsamme der eiteren, hurer, eebricher, kuppler, trunckne lüt, tlnzer, öffentliche Wucherer, spiler, unnütze mueßigginger, die so üppige kleyder tragend, uff kilchwyhnen louffend, in mummeryen und faßnacht butzen wyß umblouffend, faßnacht füwr machend, nichtliche unfugen anrichtend oder spaat in ziehen biß in die nacht verharrend, liederliche winckelwirt und was sonst derglychen mer ergerlicher lütten sind, die christenlicher zucht und erbarkeit zu wider handlend.» Vgl. auch SSRQ VI, 1, Nr. 27s, S. 604-606: 13.5.1721 - «Instruktion auff die
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Dem Leitfaden der Zehn Gebote63 folgen das zitierte Mandat von 1587, dann die «Großen Mandate» von 1661, 1695 64 , 1716 und 1763 (erneuert 1784).65 Die Gebote stellen die oberste Norm der Sittenzucht dar.66 Eine biblizistische Praxisfrömmigkeit, die gesellschaftlich nützliches Verhalten fördert, ist die Quintessenz reformierter Sittengesetzgebung. «Immer wieder ist jenem in den reformierten Kirchen und Sekten mit steigender Deutlichkeit sich herausarbeitenden Gedankengang von lutherischer Seite der Vorwurf der gemacht worden. Und ... sicherlich zu Recht, sobald die praktischen Konsequenzen für das Alltagsleben der reformierten Durchschnittschristen damit gemeint ist. Denn herren kirchen elteste und seelsorger der fünf quartieren hiesiger haubtstatt», hier: S. 604 f.: «Ins besonders aber soll sich dero gewalt erstreken auff alle liederliche haußhalter, unfleißige kirchengänger, solche, die ihre kinder ohne underweisung, und in der unerkandtnuß und verstokung verhärtet, verabsaumer der heiligen sacramenten, muthwillige Verächter deß göttlichen worths, ungehorsame gegen den eiteren, flucher, schwehrer, hfirer, ehebrecher, unnüze müeßiggänger, ergerliche zächer und trunkenböltz, ehelüth, so in zank und hader laben, liederliche dirnen, verdächtige einzüg, hurenwinkel und winkelwihrten und was dergleichen sind, haubtsächlich zu invigilieren». 63 Ähnliches kann zu Basel gesagt werden wie sicher zu allen reformierten Staaten. Unter Banndrohung gestellt werden hier - in traditioneller Zählung 1. Götzen- und Bilderanbeten, Wallfahren, päpstliche Bräuche üben, Wahrsagen, Zaubern, Teufelsbünde, Ketzerei und Wiedertaufe, 2. Fluchen und Schwören, 3. Fischen, Jagen, Arbeiten am Sonntag, die Predigt versäumen, die Sakramente nicht empfangen wollen, 4. die Eltern verachten oder bedrohen, die Kinder schlecht erziehen, der Obrigkeit Zins und Gülten nicht entrichten, die Kirche oder Gemeinde verachten, 5. Totschlag, offen Neid und Haß tragen, Pensionen empfangen, andere aufwiegeln, 6. Hurerei und Ehebruch, 7. Diebstahl, Wucher, Glücksspiel, Betrug, 8. Schmähen, Schmachbüchlein drucken, Meineid, Lügen zum Nachteil des Nächsten. Nach Köhler, W„ Ehegericht, Bd. 1, S. 290-292. 64 Das Mandat von 1587 enthält ebenfalls die Zehn Gebote als Leitlinie, jedoch nicht als Gliederungsprinzip. Es folgen aufeinander: Predigt- und Kirchgang (Viertes Gebot reformierter Zählung), Taufe, Abendmahl, Abgötterei/Papisterei (Erstes Gebot), Fluchen und Lästern (Zweites Gebot), Zaubern (Erstes/Zweites Gebot), Trunkenheit, Spiel (= Stehlen, Achtes/Zehntes Gebot reformierter Zählung), Tanzen, Kilten, Hurerei, Ehebruch, Eheschließung (Siebtes Gebot reformierter Zählung), Kleider. Es fehlt - wie übrigens stets in Bern - das Bilderverbot, dann das Sechstes Gebot (Töten) und das Neuntes Gebot (falsches Zeugnis). - SSRQ VI, 2, Nr. 31b, S. 840-850: 6.1.1587 «Christenlich mandat». Zum Bilderverbot: Guggisberg, K., Pfarrer, hier: S. 198. Vgl. ebd., S. 197. «Das Große Mandat von 1695 folgt in seiner Kampfansage gegen die Laster dem Dekalog.» 65 1587 ist das Mandat selber, wie oben erwähnt, - anders als die Aufzählung der Aufgaben der Chorrichter - nicht an der Reihenfolge der Gebote orientiert, was sich im 17. Jahrhundert ändert. Das Große Mandat von 1661 in SSRQ VI, 2, Nr. 31 s, S. 931-944 könnte deshalb ebensogut zugrundegelegt werden. Das «Große oder Mayen-Mandat» vom 22.2.1763 (erneuert 1784) folgt dem gleichen Schema des Dekalogs: SSRQ VI, 2, Nr. 31 ff, S. 983-988. Das Mandat von 1716 figuriert nicht in der Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen: Vgl. ebd., S. 943, wo auf dieses Mandat bezug genommen wird - inhaltlich im wesentlichen identisch ist danach das Mandat von 1695, das seinerseits auf dem von 1661 ruht. Es liegt z.B. in KGA Vechigen F 7/5: 4.5.1716 - «Grosse Mandat der Statt Bem wider allerhand im Schwang gehende Laster». Wörtliche Übereinstimmungen mit dem 1661er Mandat sind in der Tat häufig. 66 Zur Ablösung der Todsündenlehre durch die ethische Zentrierung auf die Zehn Gebote vgl. Bossy, J., Moral Arithmetic. Guggisberg, K., Pfarrer, S. 209 zum Fehlen des kirchlichen Bannes in Bern. Vgl. für die Rolle der Zehn Gebote in Württemberg Schnabel-Schüle, H., Fall, S. 297. 12
es hat vielleicht nie eine intensivere Form religiöser Schätzung des sittlichen Handelns gegeben».67 Die Heiligung des Lebens entlang der Richtschnur des göttlichen Wortes ist keine wünschenswerte, sondern eine notwendige Aufgabe, der sich die Obrigkeit als Zwangsanstalt annimmt. Alle Untertanen sollen «ihr ganzes leben nach dem heiligen willen gottes in gedanken, worten und werken also einrichten ..., daß ein jeder unter uns thitlich erweise, daß er mit Christo auferstanden und fruchtbar seye in guten werken.»68 Die Gemeinde für die Feier des Abendmahls würdig zu machen, steht im Zentrum der Kirchenzucht.69 Das Abendmahl ist der Ritus, in dem das Volk der Erlösungstat Christi gedenkt und sich zur Gemeinde Gottes konstituiert. An den Abendmahlssonntagen erneuert die Gemeinde Christi das «hochwürdige bundessiegel»70 mit ihrem Herrn. «Dwyl aber in diser dancksagung und nachtmall des herren ein grosse gfar, ouch verlurst [sie] der seel stat, wär sich diß unwürdig gebrachte»,71 ist die Absage an die Sünde Voraussetzung für die Teilnahme. Hier wird 1. Korinther 11, Vers 27-29 thematisiert: «Welcher nun unwürdig von diesem Brot isset oder von dem Kelch des Herrn trinket, der ist schuldig an dem Leib und Blut des Herrn. Der Mensch prüfe aber sich selbst, und also esse er von diesem Brot und trinke von diesem Kelch. Denn welcher unwürdig isset und trinket, der isset und trinket sich selber zum Gericht, damit, daß er nicht unterscheidet den Leib des Herrn.» Gottesuntertanenschaft und Sünde schließen einander aus.72 Im Abendmahl sollen sich die Glieder des Leibes Christi vereini67 68
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Weber, M., Die protestantische Ethik, S. 132. SSRQ VI, 2, Nr. 3Iff, S. 983-988: 22.2.1763 - «Großes oder Mayen-Mandat», hier: S. 987. Vgl. SSRQ VI, 1, Nr. 27x, S. 609-654: 9.2.1748 - «Neu-verbesserte Predikanten-ordnung deß sammtlichen ministerii der Teutschen landen hoch-loblicher Stadt Bern», hier: S. 612: «Die nothwendigkeit der liebe und guten werken als fruchten der gerechtigkeit, des glaubens [soll] angepriesen und das christen-volk nach allen ständen zu allen Christ-anständigen pflichten angemahnet werden, damit alles nach der apostolischen regel zierlich und in guter Ordnung hergehe und die kirche in gott erbauet werde.» KGA Vechigen F 7/5: 4.5.1716 - «Grosse Mandat der Statt Bern wider allerhand im Schwang gehende Laster», S. 16 f.: «Schließlich vermahnend wir einen jeden, daß er sein gantzes Leben in Gedancken, Worten und Wercken nach dem heiligen Willen und Wort Gottes, so uns taglich verkündet und reichlich mitgetheilt wird, anstelle.» Das Mandat von 1661, das ja sonst in vielem übereinstimmt, hat einen völlig anderen SchluB. Das Mandat von 1716 ist hier viel deutlicher und argumentiert «theologischer». Goertz, H.-J., Artikel «Kirchenzucht». Schilling, H., Kirchenzucht, S. 272-276: Kapitel «Die Reinheit der Abendmahlsgemeinde als Grundgedanke der Kirchenzucht.» Zur Schweizerischen Sittenzucht vgl. auch Staehlin, Α., Sittenzucht, Ziegler, P., Zürcher Sittenmandate. Wenig brauchbar die neue Arbeit von Ziegler, E., Sitte. SSRQ VI, 1, Nr. 27x, S. 609-654: 9.2.1748 - «Neu-verbesserte Predikanten-ordnung deß sammtlichen ministerii der Teutschen landen hoch-loblicher Stadt Bern», hier: S. 619. SSRQ VI, 1, Nr. 25 b, S. 496-501: 8.11.1534 - «Straff der töuffern und bäpstlem, hier: S. 498. SSRQ VI, 1, Nr. 23 c, S. 414-418: 10.4.1530 - «Bestätigung aller des gloubens und christenlicher erberkeyt halben vorußgangnen reformationen und mandaten», hier: S. 416. Vgl. Sta Biel 141 b, Nr. CLI, 61: nach 1617 - Chorgerichtsordnung, fol. 17: Die Sünde wird als Bruch des Huldigungsgelöbnisses verstanden und sondert den Täter aus der Christengemeinschaft aus. Biel stützt seine Bannpraxis auf Matthäus 5: «Dieweil sich nun ein jeder Christ gegen einer sondern persohn, die er verärgert und beleidiget hat, als ein reüwender erzeigen und umb verzeichung bitten soll (wie Mat: 5 enthallten), daß Gott ohn solche versühnung ihm kein opfer noch gottsdienst gefallen
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gen. Offenbare Sünder oder Haß Tragende haben sich durch ihre Sünde von der Gemeinschaft der Heiligen ausgeschlossen. Gehen sie zum Abendmahl, richten sie sich selbst. Den Bann hat es in Bern nicht gegeben, nur die Abmahnung vom Abendmahl für notorische und schwere Sünder.73 Durch den Eid, d.h. den Glauben an die ewige Verdammnis bei Nichteinhaltung der Gelübde, bindet der Rat von Bern die Chorrichter an seine Normvorgaben.74 Diese Chorrichter sind aber Mitglieder konkreter lebendiger Gemeinden. Sie wirken in einem sozialen, politischen und wirtschaftlichen Umfeld, das ihr Handeln mitbestimmt hat. Die Chorrichter dienen zwei Herren, ihrem Dorf und ihrer Obrigkeit.
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laßen noch annehmen will, auch Luc: 17 spricht, wann dein bruder wider dich gesündiget hat, so strafe ihn, und so es ihn reüet (sagt er), so verzeiche ihm; wie vielmehr soll solches beschechen, so etwann die ganze kirche dermaßen verärgert wird». Vgl. Matthäus 5, Vers 22-24: «Wer mit seinem Bruder zürnet, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Racha! der ist des Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr! der ist des höllischen Feuers schuldig. Darum, wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und wirst allda eingedenk, daß dein Bruder etwas wider dich habe, so laß allda vor dem Altar deine Gabe und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und alsdann k o m m und opfere deine Gabe.» Vgl. S S R Q VI, 2, Nr. 30b, S. 689-692: 26.2.1559 - Schultheiß und Rat an die Freiweibel, hier: S. 690: Durch die Chorrichter soll «mit denen, so in offnen lästeren läbend und verharrend, die im cantzelbuchli genamset sind, gehandlet werden, nämlich fründtlich, lieblich und christenlich, mit tugenlicher und emstlicher vermanung, sich zebesseren, von irem ergerlichen laben abzestan und inen ze rhatten, ob sy zu deß herren tisch gan oder biß uff kundtliche besserung stillstan sollend und doch das inen heimbsetzen oder gar keinen ußschliessen.» W e r trotz Warnungen in seinem Lasterleben verharrt, soll nach Bern gemeldet werden. Ebenso SSRQ VI, 2, Nr. 31s, S. 931-944: 18.3.1661 - Das «Grosse mandat der statt B e m , wider allerhand im schwang gehende lasten», hier: S. 937: Damit «unvertreglichkeit, bitterkeit, nyd, zom, rachgierigkeit und der unersettliche gutgeitz außgereuttet werde, so thund wir hiemit männiglich zur thugend der versuhnligkeit vermahnen, sonderlich auch dahin, das niemand auß tragendem neyd sich der niessung deß heiligen ... nachtmahls und der erinnerung seines heils in dem thewren verdienst Jesu Christi enteussere und dasselbe dadurch schwärlich verachte, sondern vielmehr allen keib [= Haß] und neyd bey Zeiten ablege und sich der ... brüderlichen liebe, versühnlichkeit und vemugsamkeit befleisse.» SSRQ VI, 1, Nr. 22g, S. 411: s. d. [um 1540] - «Der e e g o u m e m eyd»: «Es schwerend die eegoumer in miner g. herren statt und landen minen herren der stat B e m trüw und warheit zeleisten und schaden zewanden; demnach alle laster, Üppigkeiten, als hüry, eebruch, zutrinken, spilen. schweren, gottslestrungen, spöttlich ußleggen und Verachtung miner herren mandaten, und uff alles, so zu gemeiner crystenlicher zucht und erberkeit zewider fürgan mochte, sunderlich zeachten». S S R Q VI, 2, Nr. 30g, S. 719-747: 28.6.1634, erneuert 1667 - «Der statt Bern chorgerichts Satzung», hier: S. 743 = Der «ehe-richteren eyd»; zitiert auch bei Gugger, K., Köniz, S. 12 f.: «Schwerend die Eherichter und Rechtsprecher dess Ehegerichts, dess ersten der Stadt Bern Treuw und Wahrheit zu leisten, derselben Nutz zu fürderen und Schaden zu wenden, gemeine auffrechte Gricht, gleich dem Armen als dem Reichen zu führen: Ihre Urteil nach besag und vermög der Satzung und Ordnung dess Ehegrichts zu geben, männiglich unangesehen, und in solchem gar niemands zu verschonen, noch scheuhen, sich weder Feindschafft, Gunst, Neid, Hass, noch sonst nichts uberall bewegen lassen, sondern nach dem rechten Richtscheit Göttlichen Worts die Sachen, so f ü r sie kommen, zu erwegen, ermessen, und demnach zu entscheiden: Was auch unter ihnen geredt wird, und ein jeder ratet, heimlich zu halten, und niemands ausserhalb dem Gricht, es werde dann ihme befohlen, zu melden etc., und was einem jeden anzubringen, angezeigt wird, dasselbe forderlich an den Richter und Rechtsprecher langen zu lassen, und sich ohne Ehehafftig mercklich Ursachen, nit zu eussem, und in S u m m a alles das zu thun, so sich in solchem gebührt und die nothdurft erforderet, nach ihrem besten Verstand, und besonders ob dess Ehegerichtsatzung, in Straff des Ehebruchs und Hurey etc. dapferlich zu halten, alles ehrbarlich und ungefährlich.»
2 Szenarien75 der Sittenzucht - Vechigen, Stettlen Der Versuch, die Sittenzucht vor Ort zu beschreiben, verlangt eine Auswahl solcher Gemeinden, die möglichst aussagekräftiges und stichhaltiges Material dafür bieten. Die Kirchspiele sollten möglichst nahe zum Zentrum der Macht liegen, damit nicht abgelegene Randregionen, in denen ein erzieherischer Impuls weniger zu verspüren war, für «typisch» erklärt werden. Sie sollten zudem möglichst vollständige Manuale besitzen. Die beiden zum Stadtgericht Bern gehörenden Orte Vechigen und Stettlen erfüllen diese Bedingungen. Da beide einander direkt benachbart sind, sollten ansonsten schwer zu normierende Einflußgrößen für beide einigermaßen gleich sein. Weil aber für die Zeit vor 1570 in keiner einzigen Berner Landgemeinde Sittengerichtsbücher geführt worden sind und auch die städtischen Manuale des Oberchorgerichts - die Appellationsfälle und wichtige Entscheide für das gesamte Staatsgebiet enthalten - wegen ihrer ungeheuren Fülle nicht bearbeitet werden konnten, wurde statt dessen die heute zu Bern gehörende Stadt Biel, die für die Zeit von 1540 bis 1596 Sittengerichtsmanuale geführt hat, ergänzend herangezogen. Die folgende Skizze der wirtschafts-, sozial- und bevölkerungsgeschichtlichen Daten wird, soweit das die bernischen Quellen zulassen, möglichst detailliert auf die Eigenart der untersuchten Gemeinden Vechigen und Stettlen eingehen. Sie verfolgt zwei Ziele: einmal sollen die Unterschiede zwischen den Gemeinden möglichst deutlich herausgearbeitet werden. Es wird sich nämlich zeigen, daß sich auch die Zahl der Sittenverstöße unterscheidet. Erst eine genaue Kenntnis der sozialen Lage beider Gemeinden kann dazu beitragen, dieses Phänomen zu erklären. Zum zweiten soll der Wandel, der sich im 18. Jahrhundert vollzogen hat, erfaßt werden, denn ähnlich wie zwischen den Gemeinden besteht zwischen den Jahrhunderten ein gravierender Unterschied in der Häufigkeit von überlieferten Sittenverstößen. Dieser Unterschied kann aus einer veränderten 75
Der Begriff des «Szenariums» wird nicht aus modischen Gründen verwandt. Er beschreibt recht genau die Aufgabe, die die erzählenden und allgemein die nicht quantifizierenden Beschreibungen des lokalen Kontextes und einzelner Fälle, die sich in ihm abgespielt haben, besitzen: Das Szenarium ist «im Theater der Übersichtsplan über die Szenenfolge, auftretende Personen, Requisiten, technische Vorgänge, Verwandlungen des Bühnenbildes usw.» - so Meyers Großes Taschenlexikon, Bd. 21, S. 276: Artikel «Szenarium». Die handelnden Personen, ihr Selbstverständnis, die Requisiten, die Rahmenbedingungen oder Handlungszwänge, d.h. ihre Rollen, und die Wandlungen des Handlungsraumes im weiteren Sinne sind Gegenstand der «Szenarien». Die folgende Skizze zu Vechigen und Stettlen soll speziell den geographischen, wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Handlungsraum erhellen und die Gruppen und Schichten, die als Akteure auftreten werden, beschreiben. Es ist keinesfalls intendiert, die Geschichte selber als «Rollenspiel» oder «Theater» abzuqualifizieren. Was aus der historischen Wirklichkeit extrahiert und beschrieben sowie erzählt werden kann, ist aber nur ein «Abklatsch» dieser Wirklichkeit, d.h. eine nachempfundene Fiktion mit steigernden Elementen, Zuspitzungen wie in einem Theaterstück. Diesen Aspekt der Abstraktion beschreibt der Begriff recht treffend.
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Einstellung zur Kirche (Kapitel Β II), muß aber auch aus den sozialgeschichtlichen Umwälzungen des 18. Jahrhunderts erklärt werden.
2.1 Räumliche Gliederung und Wirtschaftsweise Zwei Gemeinden stehen exemplarisch für die Tätigkeit der Berner Sittenzucht: Vechigen und Stettlen. Beide liegen in unmittelbarer Nachbarschaft der regierenden Hauptstadt. Sie unterscheiden sich aber wesentlich in ihrer Größe. Während die Kirchgemeinde Vechigen rund 25 km2 umfaßt, sind es bei Stettlen lediglich 3,5 km2 (Abb. I).76
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Abb. 1: Lage und Fläche der untersuchten Gemeinden"
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Vgl. die Beschreibung in STAB Registerstock 577 = Regionenbuch 1783, S. 207-224: Vechigen und S. 225-231: Stettlen. Übernommen aus Schmalz, K.L., Bolligen, S. 68.
Landwirtschaftlich gesehen gehörten die beiden Gemeinden der Übergangszone von Feldgraswirtschaft und Getreidebau an.78 Stettlen war wegen seiner günstigeren tieferen Lage (unter 700 Meter ü.M.), wohl eher dem Typus der Getreidewirtschaft ohne großen Viehbesatz zuzurechnen.79 Vechigen erstreckt sich über mehrere Höhenzonen, im Utzigen- und Bergviertel werden Werte klar über 800 Meter erreicht, im östlichen Teil (Mänziwil, bei Littiwil, Dieboldshusen, Ätzrüti, Schönbrunnen) deutlich über 900 Meter. Im großen und ganzen wies die Gemeinde Vechigen damit eine ähnliche naturräumliche und landwirtschaftliche Struktur auf wie das benachbarte Konolfinger Amt und die ebenfalls gut untersuchte Gemeinde Bolligen.80 Zwar wurden in Vechigen anders als in Stettlen die Allmenden nicht völlig aufgelöst.81 An der Stettier Allmendauflösung nahm jedoch die Vechiger Dorfschaft Sinneringen teil, auch auf dem Dentenberg wurden schon im 17. Jahrhundert Allmendrechte am Wald geteilt.82 Vechigen war also in die AUmendteilungspolitik involviert.83 78
STAB Registerstock 577 = Regionenbuch 1783, S. 90-93 - Stadt- und Landgerichte: Bevölkerung und Fruchtbarkeit - Diese Landschaft ist stark bevölkert und wohlhabend wegen der Nähe zur Hauptstadt. Der Wiesenbau ist beträchtlich und nimmt noch zu, weil die Kiiher, die im Emmental und dem Oberland sommern, hier überwintern, besonders im Landgericht Seftigen und dem Amt Signau. Der Getreidebau ist ebenfalls beträchtlich. So auch das Urteil zum Vechigen und Stettlen benachbarten Amt Konolfingen: Frey, W., Agrarmodernisiemng, S. 14, 74, 82 (zur Übergangszone westlich der Linie Worb-Großhöchstetten-Zäziwil-Oberdiessbach), 85 (zu Worb, der Nachbargemeinde Vechigens als Beispiel für diese Übergangszone). Zu Bolligen, der westlichen Nachbargemeinde, vgl. Pfister, C. und Kellerhals, Α., Sternenberg. 79 Frey, W., Agrarmodernisiemng, S. 77 - Die Produktionsweise ist z.T. als Funktion der Höhenlage der anbaufähigen Flächen zu betrachten: «Zusammenfassend können wir festhalten: In den tieferen Lagen um 700-750m war der Getreidebau meist bedeutungsvoller als der Futterbau. Den Erträgen nach zu schließen, war hier die Viehhaltung als Resultierende der Höhe des Griinlandanteils manchmal sogar zu klein, um eine optimale Düngung der Äcker zu gewährleisten. In der Dorfschaft Ami [bei Biglen neben Vechigen] dagegen schien man ein optimales Acker-/ Grünlandverhältnis erreicht zu haben: trotz der Höhenlage (850 m) fanden sich hier die größten Getreideerträge der Kirchgemeinde. In der Regel gilt aber, daB der Getreidebau mit zunehmender Höhe zugunsten des Futteibaus und damit auch der Viehzucht zurückgedrängt wurde.» 80 Pfister, C. und Kellerhals, Α., Sternenberg. Zum Amt Konolfingen Frey, W., Agrarmodernisiemng. 81 Zu Bolligen: Schmalz, K.L., Bolligen, S. 86. Zu Vechigen: KG Α Vechigen Β 17, Dorfbuch 1801 = Kataster des Vechigen-Viertels - verzeichnet noch Allmendbesitz. So auch Grunder, E., Vechigen, S. 34 f. (die Allmenden in Vechigen) und 44 (Auflösung erst im 19. Jahrhundert). Ebenso der Pfarrbericht 1764 - STAB BDI 204 = Pfanberichte 1764: Vechigen, S. 54/4: «Die allmenten, deren noch etlich in der gemeind Vechigen sich befinden, trugen, wan sie gebauen oder mit dem waBer so sich daruff befindet, bewäBeret wurden, 3, 4 bis 5 mal mehr nutzen». Allerdings handelt es sich bei der 1801 noch verzeichneten Allmende in Vechigen meist um Wald. Zu Stettlen: Bom, O., Stettlen, S. 111: Die Dorfschaften Stettlen mit Sinneringen und Nesselbank veranstalten 1703 eine Allmendteilung. Ein Teil Vechigens, nämlich Sinneringen, hat damit an einer Allmendteilung Anteil. 82 Die Holznutzung auf dem Dentenberg wurde schon im frühen 17. Jahrhundert aufgeteilt, wohingegen der Viehtrieb für die Bauern und in geringem Umfang auch die dort ansässigen Tauner ausgenommen blieb. Die Tauner auf dem Dentenberg, denen die Bauern weitgehend die Allmendberechtigung bestritten hatten, wurden insgesamt nicht ausgeschlossen, aber klar zurückgestuft: Marti, P., Dentenberg. 83 Vgl. zu zwei Versuchen, den Allmendwald auf dem Dentenberg zu teilen, die schon vor 1700 erfolgreich waren, Marti, P., Dentenberg.
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Der Modernisieningsgrad der Wirtschaften84 und damit ihre Chance, zu agrarischer Intensivierung voranzuschreiten, war in Gebieten mit verteilten Allmenden offenbar größer, damit die Möglichkeiten, über individuelle Nutzung auch neue Produkte (Kartoffel) oder Kunstfutterpflanzen anzubauen, größer als in der Zelgenwirtschaft. In Vechigen setzte eine deutliche Ausweitung der Milchwirtschaft mit Grünlandbau um die Wende zum 19. Jahrhundert, forciert im 19. Jahrhundert ein. Nun waren (1886) schließlich nur noch 11% der Fläche für Getreideanbau reserviert.85 Die heute als «Agrarmodernisierung» bezeichnete Umbildung der traditionellen Landwirtschaft war aber in Stettlen offenbar früher erfolgt, ebenso wie in den benachbarten Gebieten des Amtes Konolfing
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Was die herrschaftlichen Abhängigkeiten betrifft,87 so hatte sich die Grundherrschaft in Bern schon vor der Reformationszeit in eine Rentengrundherrschaft verwandelt. Alte leibherrliche Bindungen waren durch Initiative des Berner Rates in seinem Hoheitsgebiet bis 1500 aufgelöst worden,88 so daß nur noch Lehenszinsen und Ehrschatz (Besitzwechselabgabe) die Güter belasteten, die als Erblehen faktisch zu zinsbelastetem Eigentum der Bauern geworden waren.89 Mit der Reformation ging der beträchtliche klösterliche Grundbesitz an die Stadt Bern über, so daß diese nun, neben dem Spital von Bern, zum Oberherrn und Bodenzinsempfänger der meisten Bauerngüter geworden war.90 Bodenzinsfreie oder auch zehntfreie Bauerngüter gab es in der Nähe der Stadt - anders als im Oberland - selten.91 Zins- und zehntfrei waren hier nur zwei Arten von Gütern: einmal die Taunergeschicke (Kleingüter), dann die herrschaftlichen Landgüter, die es gerade in der Nähe der Stadt zahlreich gab.92 Lehengüter mußten im Gegensatz zu den Taunergeschicken und den Herrengütern auch Fuhren leisten für Schanzarbeiten, für die städtischen Bauherren und den Schultheißen, besonders für Wege- und Straßenarbeiten.93 Zu den bäuerlichen Lasten kam schließlich der Zehnt, der neben den Primizen die wichtigste kirchliche Feudallast und insgesamt die höchste Einzelbelastung eines Bauerngutes darstellte.94
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Vgl. bes. Geiser, K., Bemische Landwirtschaft. Grunder, E„ Vechigen, S. 44 f. Pfister, C., Klimageschichte, Bd. 2, S. 106-125: Agrarmodernisierung. Frey, W., Agrarmodernisierung, S. 192-195. Dazu auch Häusler, F., Emmental, Bd. 2, S. 114-148: Abgaben. Vgl. bes. S. 116-118 (Bodenzins), 118-120 (Ehrschatz), 120 f. (Landgarbe für vorübergehend urbarisierte Allmendteile), 121-124 (Frondienste, abgelöst), 124-128 (Vogteiabgaben nur noch vereinzelt), 130-142 (Zehnt). Gmür, R„ Zehnt, S. 3-5. Ebd., S. 5-14. Schmalz, K.L., Bolligen, S. 62. Ebd., S. 63. Ebd., S. 64-67. Auch einzelne Bauerngüter waren bodenzinsfrei. Ebd., S. 66 f.: 1775 - Klageartikel der Lehenbauem gegen die Tauner wegen der Armenanlage. Gmür, R., Zehnt, S. 14-19 und passim.
Die Siedlungsstruktur Vechigens und Stettlens unterschied sich nicht unbeträchtlich. Während Stettlen hauptsächlich ein geschlossenes Dorf darstellte, und daneben (1780) noch 12 bzw. 23 (1783) zerstreute Bauernhöfe aufwies, waren in der Kirchgemeinde Vechigen neben Weilern (Vechigen, Sinneringen, Lindental, Utzigen mit jeweils über 20 Häusern, Radelfingen, Littiwil, Luterbach, Dieboldshusen und Bangerten mit 5 bis 12 Häusern95) zahlreiche Einzelhöfe charakteristisch.96 Nimmt man für Stettlen nach den Zählungen von 1764,97 1780 und 1783 rund 12 bis 23 Einzelhöfe auf total 52 bis 57 Häuser98 an, erreicht die Einzelhofquote damit rund 23-40%. In Vechigen existierten nach den Zählungen von 1723, 1780 und 1787 zwischen 41 und 44% Einzelhöfe.99 Stettlen war also etwas dichter bebaut und eher eine «normale» Dorfsiedlung als das dem «emmentalischen Modell» angenäherte Vechigen. Diese Unterschiede sind recht geringfügig. Dabei ist jedoch zu bedenken, daß die gesamte Gemeindefläche Stettlens wesentlich kompakter ist als die Vechigens. Die 1764 gezählten 415 95 96
97 98
99
Nach der Zählung 1723. Vgl. die nächste Anmerkung. KGA Vechigen Β 6 = Chorgerichtsmanual VII, S. 278-280: Bevölkerungszählung 1723. Für Stettlen spricht der Pfarrbericht 1780 aber auch von «zerstreuten Häusern» - STAB ΒΙΠ 209 = Pfarrberichte 1780, einmal die Zusammenstellung über das Schulwesen und dann der Pfanbericht über Stettlen selber. Vgl. Bietenhard, B., Langnau, S. 13. Vgl. zur Zählung von 1764 Pfister, C., Bevölkerungsentwicklung, S. 479 f. Die für Vechigen errechnete Zahl 6,7 Personen pro Haus (nach der Zählung von 1723) zugrundegelegt, ließen sich die 415 Personen 1764 in rund 62 Häuser umrechnen. Die 1764er Zahlen für Stettlen in STAB BXIII 599: 1764 - Cahier des Kirchspiels Stettlen (nennt 73 Feuerstellen). Zu 1780: STAB Bill 209 = Pfarrberichte 1780, einmal die Zusammenstellung über das Schulwesen und die Einwohnerzahlen zu Stettlen und dann der Pfarrbericht über Stettlen. 1780 werden 56 Häuser und 80 Haushaltungen gemeldet, wozu 12 entlegene Höfe zählen. Der Pfarrer zählt aber nicht genau. So nennt er 1780 «rund» 350 Einwohner, obwohl schon 1764 415 Einwohner gezählt worden waren [vgl. weiter Kapitel «Religion und Kirche»). Ein so massiver Bevölkerungsrückgang, der im übrigen keinerlei Spuren im Taufrödel hinterlassen hat, ist - so auch die Auskunft von Christian Pfister - sehr unwahrscheinlich. 1783 verzeichnet das Regionenbuch insgesamt 57 Häuser (die Angabe «etliche» beim Utzlenberg-Hof als «4» gezählt, für Nieder-Deisswil wurden 8 Häuser angenommen), wovon rund 23 einzeln liegen. Das Regionenbuch STAB Registerstock 577 = Regionenbuch 1783, S. 225-231: Stettlen. Vgl. Bom, O., Stettlen, S. 125-127 = Auszug aus dem Regionenbuch 1783. Zu der Berechnung: 1723 sind 214 Häuser insgesamt, davon 94 Einzelhöfe festgestellt worden. 1780 sind offensichtlich zu wenige Einzelhöfe gezählt worden. Rekonstruiert man diese aus den 1723er Daten, ergibt sich eine Gesamtzahl von 242 Häuser insgesamt mit rund 100 Einzelhöfen. 1783 sind 104 Einzelhöfe gemeldet. Das ergäbe total 252 Häuser. Im Mittel kommt man damit auf 247 Häuser. 1787: Es dürfte sich nach einer Interpolation aus den 1723er und der 1780 Daten um 257 Häuser insgesamt und dabei um 109 Einzelhöfe handeln. Die Quellen: 1723: KGA Vechigen Β 6 = Chorgerichtsmanual VII, S. 278-280: Bevölkerungszählung 1723. 1780: STAB ΒΠΙ 209 = Pfarrberichte 1780, einmal die Zusammenstellung über das Schulwesen und die Einwohnerzahlen zu Vechigen und Stettlen und dann der Pfarrbericht über Stettlen. Der zu Vechigen liegt leider nicht mehr vor. 1787: KGA Vechigen Η 6a = Zählung von Vikar Rytz ca. 1787 - Tabelle über das Kirchspiel Vechigen [nur Einzelhäuser; Dörfer pauschal als «Dorf» verzeichnet]. Zu Stettlen vgl. auch die Wiedergabe der 1764er Zählung in Born, O., Stettlen, S. 116-120: 73 Feuerstätten.
19
Einwohner verteilten sich auf eine Gesamtfläche von 3,5 km2, was eine Bevölkerungsdichte von 119/km2 ergibt. Vechigen kam bei 1569 Einwohnern und einer Fläche von 24,8 km2 auf 63 Personen/km2, zöge man großzügig die Hälfte der Gemeindefläche als Wald ab, bliebe eine Netto-Rate von 98 Einwohnern/km2. 1723 wurde die Zerstreutheit der Vechiger Siedlung vom Pfarrer kommentiert: Die Häuser befänden sich «in 6 unterschidlichen gründen, thalschafften und becirken von einandem weit abgelegen und worvon gar vile auf sehr mühsamen höhenen und unwägsämen gähen stützen oder sonsten in entfernten außorten, reinen, gräben und abwegen etc. hin und wider zerstreüet und gantz eintzig stehen».100 Neben den beiden bemischen Landgemeinden Vechigen und Stettlen wird in der folgenden Untersuchung auch die heute zum bernischen Staatsgebiet gehörende kleine Stadt Biel untersucht werden. Damit wird die Absicht verfolgt, auch das 16. Jahrhundert breit in die Untersuchung einzubinden, das in den ländlichen Chorgerichtsmanualen kaum berührt wird. Anders als für bernische Gemeinden liegen für Biel zwischen 1540 und 1596 brauchbare Sittengerichtsmanuale vor.101 Biel gehörte bis ins 19. Jahrhundert zum Fürstbistum Basel, besaß aber eine weitgehend autonome Position. Die Reformation und die Sittenzucht wurden durch die Stadt selbständig eingeführt, wobei eine enge Anlehnung an Bern gesucht wurde, was sich auch in der Übernahme bernischer Sittenordnungen als Vorlage für Bieler Redaktionen ausdrückt. Biel agierte aber dennoch weitgehend selbständig, z.B. wurde der in Bern aus staatspolitischen Gründen vehement bekämpfte Bann in Biel praktiziert. Biel erreichte etwa die Größe der Kirchgemeinde Vechigen. Über ihre soziale und wirtschaftliche Gliederung kann und muß hier nichts ausgeführt werden, weil die Seestadt lediglich dazu beitragen soll, eine Größenvorstellung über die Häufigkeit von Delikten in der unmittelbar nachreformatorischen Zeit zu gewinnen und damit die Vechiger und die Stettier Daten einzuschätzen. Schließlich wird auch aus einer älteren Arbeit zum Aargauer Sittengericht eine idealtypische Landgemeinde rückgerechnet. Wie für Biel kann aber auch für diesen Vergleichsmaßstab keine reale Gesellschaftsanalyse präsentiert werden; Biel und der Aargau dienen lediglich der Kalibrierung der Vechiger und Stettier Werte.102
100 KGA Vechigen, Β 6 = Chorgerichtsmanual VII, S. 280: Bevölkerungszählung 1723. 101 Vgl. Bourquin, W., Biel. Daneben Ders., Artikel «Biel». 102 Näheres siehe unter Kapitel 4.2 = «Methode».
20
2.2 Demographische Entwicklung Verläßliche Zählungen existieren für den Staat Bern erst im 18. Jahrhundert.103 Für Vechigen ist dabei allerdings die Lage besonders günstig. Aus den Jahren 1723, 1764, 1780, 1787 und 1798 liegen einigermaßen sichere Daten vor.104 Bevölkerungszahlen Vechigen 105 pro Einwohner Haus
pro Familie
300*
1435
6,7
4,78
27 Promille
326 *
1569
6,8*
4,81 *
40 Promille
323
1672
6,8
5,17
34 Promille
343 *
1736*
7,0*
5,13 *
32 Promille
257 *
363 *
1799*
7,0*
4,95 *
30 Promille
264
391 *
1881
7,1
4,81 *
36 Promille
Jahr
Häuser
1723
214
1764
232 *
1780
247 +
1783
252 *
1787 1798 1818
Familien
Natalität
2180
103 Vgl. Kellerhals-Maeder, Α., Sternlein, bes. S. 126-131. Vgl. zum 15. und 16. Jahrhundert die Darstellung inklusive der Tabellen von Ammann, H., Westschweiz. Zu Bem bes. S. 401 [Vechigen]403, 405-409, 415, 416 f., 444 f., 446, 447. Die Vier Kirchspiele zusammen (Bolligen, Stettlen, Vechigen, Muri) hatten 1558 239 Feuerstätten. Auf Vechigen sollten damit rund 80 Feuerstätten entfallen, auf Stettlen etwa 20. Nach Ammanns Umrechungsfaktor 5 ergäbe das für diese Zeit 400 Einwohner in Vechigen und 80 in Stettlen. Die Angabe aus Vechigen. - Ebd.., S. 401 - lautet, es gebe 56 reisbare Männer und ebensoviele Arme, also zusammen rund 120 Männer. Gesamt waren 1556 189, 1558 160 Reisbare aus den Vier Kirchspielen verzeichnet. Ebd., S. 409, 410 f.: Die Bevölkerungsdichte lag in der Regel im ländlichen Bern 1558 unter 20/km1. 104 Die Quellen: 1723: KGA Vechigen Β 6 = Chorgerichtsmanual VII, S. 278-280: Bevölkerungszählung 1723. Die Zahl der Familien wird aus den Angaben über die Hausväter (261) und Hausmütter (292) geschätzt. Es wird dabei angenommen, daß die Zahl größer als die größte Haushaltsvorsteher-Zahl sein müßte, also größer als 292. Die Zahl 1435 Einwohner ergibt sich aus den Angaben, 1335 seien gezählt, weitere über 100 nicht anwesend gewesen. 1764: STAB Bill 204 = Pfarrberichte 1764: Vechigen und BXIII 599 = Cahier des Kirchspiels Vechigen 1764. Die Zahl der Familien wird aus der Zahl der Ehen und der Witwen und Witwer wie 1723 geschätzt. Die Zahl der Häuser ist aus der Steigerung der Einwohner- und Familienzahl (8-9%) über die Zahl der Häuser 1723 errechnet. 1780: STAB Bill 209 = Pfarrberichte 1780: Vechigen. Die Zahl der Häuser ist aus den 1780er Angaben über die Häuser in Dörfern plus dem Mittelwert der Einzelhöfe, die 1723 (94) und 1783 (104) gemeldet werden, errechnet. 1783: STAB Registerstock 577 = Regionenbuch 1783, S. 207-223: Vechigen. Die Einzelhöfe (104) sind angegeben. Ihre Zahl wird zu der Zahl der Häuser in den Dörfern von 1780 addiert. Weitere Angaben sind nicht vorhanden. Doch wird die Zahl der Häuser und Einzelhöfe in den Rechnungen 1787 und 1798 verglichen.
21
Die Zahl der Einwohner106 pro Haus stieg allmählich von 6,7 auf 7,1 Personen.107 Die Zahl der Personen pro Haushalt/Familie lag bei rund 4,8. 108 Eine geringfügige Verdichtung der Wohnungssituation ist feststellbar, während die durchschnittliche Familiengröße stabil blieb.109 Schon 1723 stellte Pfarrer Daniel Müslin als Charakteristikum Vechigens fest, es gebe «offt zwey-, dreyfache behausungen».110 Das Problem einer verläßlichen Größenvorstellung für die Zeit vor dem Beginn des 18. Jahrhunderts ist schlüssig nicht zu lösen. Es lassen sich aber Näherungsverfahren finden: Aus den Taufziffern, die seit dem 16. Jahrhundert überliefert sind, kann nicht nur auf die Zahl der Geburten zurückgeschlossen werden,111 sondern grob läßt sich daraus auch die Größe der Einwohnerschaft schätzen. Durchschnittlich sind in Studien zur bernischen Demographie seit dem
105 106
107
108 109 110 111
22
1787: KGA Vechigen Η 6a = Zählung von Vikar Rytz ca. 1787 - Tabelle über das Kirchspiel Vechigen (nur Dörfer und Einzelhäuser). Die Einzelhäuser, die genannt werden (109), werden zu den Häusern in Dörfern, die 1780 gemeldet werden, addiert. Die Familien- und Einwohnerberechnung erfolgt über die Personenzahl pro Haus (7,0), die für 1783 errechnet wurde. 1798: STAB Registerstock 592 = Regionenbuch des helvetischen Kantons Bern 1798, Tabelle 4-6. Die Häuserzahl ist exakt angegeben, ebenso die Einwohnerzahl. Die Zahl der Familien ist aus der prozentualen Bevölkerungsvermehrung von 1764 auf 1798 (20%) aus der Familienzahl von 1764 errechnet. Es wurde nicht 1780 zur Basis genommen, weil die Angabe «323 Familien» angesichts der wesentlich zu niedrigen Einzelhofzahlen nicht verläBlich, d.h. zu niedrig gegriffen zu sein scheint. 1818: Grunder, E„ Vechigen, S. 43. Weitere Daten ebd.: 1831 = 2430, 1836 = 2502, 1846 = 2680, 1850 = 2692, 1856 = 2550, 1860 = 2525, 1870 = 2554, 1880 = 2970, 1888 = 2840, 1900 = 2860. Korrigierte Fehler (wie 1780) werden mit einem +, interpolierte Werte mit einem Sternchen (*) markiert. Zum Vergleich die Angaben zur fast gleich großen Nachbargemeinde Bolligen: 1757 < 300 Haushaltungen 1639 Personen 1764 329-359 Familien 1771 Personen. Nach Marti, P., Bolligen, S. 95 f. Die Zahl 329 meint die «wirklichen Ehen». Dazu kommt eine, hier näherungsweise auf 30 bezifferte Zahl von Witwen (68) und Witwem (25), die noch einer Familie vorstehen. Sie liegt damit geringfügig höher als in Jegenstorf 1764 (6,4 Personen): Pfister, C., Bevölkerung, S. 98. Die Häuser- und Einwohnerzahlen von 1723 und 1798 sind dabei nicht interpoliert. Für das luzemische Dorf Ebikon ermittelt Anne-Marie Dubler für 1690 6,2 Personen pro Haus bzw. 5,72 Personen pro Familie: Dubler, A.-M., Ebikon, S. 7. Damit enspricht sie dem Wert von Jegenstorf 1764: Pfister, C., Bevölkerung, S. 98: 4,8. Es steht zu vermuten, daß die Zahl 323 Familien für das Jahr 1780 nicht zutrifft. Sie ist offensichtlich vom Pfarrer zu niedrig gegriffen. KGA Vechigen Β 6 = Chorgerichtsmanual VII, S. 280: Bevölkeningszählung 1723. Pfister, C., Grauzone, bes. S. 30: Etwa 10-12% der Geborenen versterben ungetauft (1800-1875). Deshalb wird die Taufziffer mit 1,1 multipliziert.
16. Jahrhundert 33-37 Promille für die Natalität ermittelt worden."2 Die Berner Ziffern liegen damit in der Nähe derer, die Markus Mattmüller für die Gesamtschweiz in der Nach-Pest-Zeit (ab 1650) annimmt, aber unter denen für die Zeit davor.113 Im folgenden wird eine für die gesamte Laufzeit der Untersuchung vertretbare «mittlere» Natalität von 37 Promille zugrundegelegt, die sich mit den Berner Studien und den ermittelten Ziffern für Vechigen und Stettlen gut begründen läßt.114 Aufgrund der so geschätzten Bevölkerungszahlen wird auch die relative Delinquenz berechnet, d.h. die Zahl der Delikte auf 1000 Einwohner. Für verschiedene Zeiten unterschiedliche Natalitäten anzunehmen, wäre möglich, würde aber m.E. gerade für die Berechnung der relativen Delinquenz einen unvertretbaren Eingriff in die Daten darstellen.
112 Pfister, C., Klimageschichte, Bd. 2, S. 117: Natalität und Mortalität im Kanton Bern. Pfisters Graphik weist vor 1700 eine um 30 Promille schwankende Natalität aus, die nach 1750 bis 1800 ansteigt und im Durchschnitt etwa 35 Promille erreicht. Nach 1800 kehrt sich der Anstieg um. Bietenhard, B., Langnau, S. 39: Für Langnau ergibt sich für das gesamte 17. Jahrhundert die Taufrate von 33 Promille, d.h. eine Natalität von 37 Promille, für das 16. Jahrhundert vermutet er Taufraten zwischen 35 und 45 Promille. Frey, W., Agrarmodernisierung, S. 26-29: Die Natalität im Amt Konolfingen beträgt 1764-98 33 Promille. Ein Spitzenwert von 40 Promille wird 1799 erreicht, 34 Promille wird - im frühen 19. Jahrhundert - noch als ein hohes Niveau betrachtet. Vgl. auch S. 373, 376, 371: Im Amt Büren liegt die Natalität im 18. Jahrhundert bei 36 Promille. 113 Mattmüller, M., Bevölkerungsgeschichte, S. 52, 54, 56: Mattmüller referiert (ländliche) Taufziffem, die vor 1650 leicht unter 50 Promille, nach 1650 bei 40 Promille oder etwas tiefer liegen. Ebd., S. 138-142: Der gewogene Durchschnitt der Taufziffem von 17 Baselbieter Gemeinden im Jahr 1585 beträgt 54,1 Promille. Mattmüller folgert, die Taufziffem hätten im 16. Jahrhundert sicher über 50 Promille betragen. Ebd., S. 155-160 und S. 167-172, 184, 354, 394 f.: In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts liegt die Taufziffer bei 46 Promille, in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zwischen 37 und 38 Promille - mit weiter sinkender Tendenz: Ende des 17. Jahrhunderts erreicht sie 36,6 Promille. Im 18. Jahrhundert geht nach Mattmüller die Natalität in der Schweiz dann auf 30 Promille zurück. Zur Schweizer Demographie vgl. auch Bickel W., Bevölkerungsgeschichte, S. 77-87, Höpflinger, F., Bevölkerungswandel, Pfister, C., Bevölkerungsentwicklung und Schelbert, U., Schwyzer Pfarreien. 114 Dieser Wert liegt eher am oberen Ende der bemischen Natalitätsziffem. Es werden mit diesem Verfahren möglicherweise zu niedrige Bevölkerungszahlen ermittelt werden [denn 37 Geburten ergeben bei einer Natalität von 37 Promille nur eine geschätzte Bevölkerung von 1000 Personen, 33 Promille ergäbe 1121 Einwohner]. Ein steilerer als der wirkliche Bevölkerungsanstieg wird suggeriert. Das Verfahren rechtfertigt sich aber aus seinem sekundären Zweck. Primär soll es dazu dienen, eine wahrscheinliche BevölkerungsgröBe zu ermitteln. Sekundär soll es dazu dienen, die Zahl von Delikten, wegen denen Anklagen ergehen, relativ zur Bevölkerung zu setzen, d.h. die relative Delinquenz zu ermitteln. Aus einer Unterschätzung der BevölkerungsgröBe folgt nun eine höhere relative Delinquenz. Es wird also künstlich die Wahrscheinlichkeit erhöht, daB ein Trend, der im Laufe der Zeit sinkt, nun deutlicher sinkt als ohne die Unterschätzung der BevölkerungsgröBe zu Beginn der Trendrechnung. Steigt dagegen der Trend, dann tut er dies trotz der zu niedrigen Ausgangsbevölkerung, nicht wegen ihr. Da häufig, das muß an dieser Stelle vorweggenommen werden, ein bis 1735 steigender Trend ermittelt wird, geschieht dies trotz und nicht wegen der Berechnungsgrundlagen. Das Steigen des Trends wird also nicht künstlich herbeigeführt, sondern eher künstlich abgeschwächt. Dieses Verfahren wird als das ehrlichere und methodisch sauberere angesehen. Sollte die Natalität, wie von Mattmüller postuliert, auch in Bern vor 1650 über 40 Promille gelegen haben, träte allerdings für diese Zeit eine Verzerrung ein. Besonders die recht gesicherten Werte von Langnau auch für die Zeit vor 1700 stützen aber das hier praktizierte Verfahren.
23
KGh U e c h i g e n
ΐ
rihlungei
- Hochrechnungen
Abb. 2: Vechigen - Einwohnerhochrechnung
Die Einwohnerhochrechnung ist für Vechigen mit einer besonderen, bislang nicht behebbaren Schwierigkeit verbunden gewesen. Zwischen 1680 und 1740 sackte die Zahl der Taufen kurzfristig in einem solchen Maße ab, daß selbst die Werte von 1570 noch unterschritten wurden. Was dafür verantwortlich ist, kann nicht ermittelt werden. Da aber für 1723 eine verläßliche Zählung existiert, wird deren Ergebnis für die angesprochene Zeitspanne den aus den Taufrödeln gewonnenen Geburtenziffern vorgezogen. Für Stettlen ist die Situation insgesamt nicht so günstig wie für Vechigen, andererseits ist ein Problem wie das eben angesprochene hier nicht vorgekommen. Bevölkerungszahlen Stettlen 1 1 5 Jahr
Häuser
1606
20-23
1764
56*
1780
56
1783
56 *
1798
56*
1811
68
Familien
pro Einwohner Haus
pro Familie
Natalität
140 * 89* 80?
III
415
7,4*
350?
6,3 ?
438
7,8 *
606
8,9
4,66 * 4,38 ? "
51 Promille 6
47 Promille
41 Promille 5,46
115 Quellen: ca. 1606: KGA Stettlen, CGM 1595-1650, hinten: ca. 1606 - «Verzeichnis der Khinderen, Knecht und Mägdten in Stettlen». Insgesamt sind 68 Kinder, Knechte und Mägde angegeben. Nach der Vergleichszahl für Vechigen von 1723 (Kinder, Knechte und Mägde zusammen machen 58% der
24
Die realistischste Zahl für das 18. Jahrhundert stellt die Enquete von 1764 bereit. Die starke und zunehmende Verdichtung des Wohnraums wird aus dem Vergleich der Daten von 1764 mit denen von 1811 erkennbar. Sie übertrifft das Maß Vechigens klar. Stellt man der Bevölkerung, wie sie sich 1764 ergeben hat, die durchschnittliche Geburtenzahl 1744-1784 gegenüber (17 Geburten pro Jahr), ergibt sich zudem eine deutlich höhere Natalität als in Vechigen: 41 Promille.117 Die folgende Graphik geht wie für Vechigen von 37 Promille Natalität aus, sie überschätzt damit die Bevölkerungsgröße ein wenig.
Bevölkerung aus) ließe sich daraus eine Einwohnerzahl von 117 hochrechnen. Es sind zugleich die Häuser angegeben, in denen die Gezählten wohnen. Es lassen sich mindestens 20-23 Häuser unterscheiden. Das entspräche nach den Vergleichswerten von 1764 zwischen 150 und 170 Einwohnern. Der Mittelwert zwischen 117 und 150/170 ist ca. 140. Daher wird mit diesem Schätzwert operiert. 1764: STAB Bill 204 = Pfarrberichte 1764: Stettlen und BXII1 599: Cahier des Kirchspiels Stettlen 1764. «Wirkliche Ehen» sind 82. Es wird aber - wie für Vechigen 1723 deutlich - auch Witwen oder Witwer als Haushaltsvorsteher gegeben haben. Nach den Vechiger Daten von 1723 stehen etwa 15% der Familien nur einzelne Vorsteher vor. Zu den 82 ergänzt, sind das rund 94 Familien. Eine andere Rechnung ergibt einen niedrigeren Wert: 1764 werden in Vechigen 283 Feuerstätten gemeldet. Diese Zahl steht der errechneten wahrscheinlichen Familienzahl von 326 gegenüber. Die Zahl der Familien oder Haushalte ist also hier um 15,19% höher als die der Feuerstätten, was plausibel ist, teilen sich doch öfter mehrere Familien eine Feuerstatt. In Stettlen ergäbe das 84 Haushalte. Gemittelt kommt dann der oben angebenen Wert von (94+84)/2 = 89 zustande. 1780: STAB Bill 209 = PfarTberichte 1780: Stettlen. 1783: STAB Registerstock 577 = Regionenbuch 1783, S. 225-231: Stettlen. Vgl. Born, O., Stettlen, S. 125-127 = Auszug aus dem Regionenbuch 1783. Es sind nicht in allen Teilen (Deisswil, Utzlenberg) die Häuserzahlen genannt. Eine Schätzung kommt auf 56, die genau gleiche Zahl, die 1780 genannt wird. Bom gibt S. 116 f. auch einen Auszug aus der Zählung von 1764 - allerdings mit falschen Werten, weil er Witwen und Witwer nochmals addiert. Die Angaben zu den Verburgerten und den Hintersassen sind nicht auf die Quellen gestützt, sondern der falschen ersten Rechnung (ergibt 438 Einwohner) zuliebe angepaßt. 1798: STAB Registerstock 592 = Regionenbuch des helvetischen Kantons Bern 1798, Tabelle 3: Stettlen. Die angegebenen 26 Häuser können sich m.E. nur auf das Dorf selber beziehen. Der Pfarrbericht 1780 und das Regionenbuch 1783 hatten nämlich für das Dorf auch jeweils 26 Häuser verzeichnet. Deshalb wird mangels Alternativen die 1780/83er Zahl übernommen. 1811: Zählung des Pfarrers Dulliker 1808-1811 - nach Bom, O., Stettlen, S. 153-155. 116 Die Zahlen von 1780 scheinen für die Einwohnergröße eher unwahrscheinlich, das gleiche gilt tendenziell für den Wert von 1798. 1783 sind überhaupt nur Häuser zu schätzen. 117 Schätzt man die Entwicklung über die gleitenden Elfjahresschnitte der Taufen und der Einwohnerzahlen, schwankt die Natalität zwischen 40 und 51 Promille.
25
KGM
Stettlen
Abb. 3: Stettlen - Einwohnerhochrechnung
2.3 Soziale Gliederung Soziale Schichtung wird relevant, wenn sie die Lebenschancen und Lebensweisen prägt. Der Begriff der «sozialen Tragfähigkeit» ist entwickelt worden, um die Fähigkeit einer Gesellschaft zu benennen, allen Schichten ausreichende Lebenschancen bereitzustellen. Dabei ist nicht an die ökologische Fähigkeit, genügend zu produzieren, gedacht, sondern an das Verteilungsproblem. Über die «soziale Tragfähigkeit» der Landwirtschaft ist für den Kanton Bern in jüngster Zeit vor allem von Christian Pfister und seinen Schülern gearbeitet worden.118 Sie untersuchen, inwieweit eine Gesellschaft Veränderungen, etwa eine Bevölkerungsvermehrung, trotz der ungleichen Verteilung der Reichtümer in ihr ertragen kann. Denn auch wenn genügend Nahrung produziert wird, nutzt dies den Armen wenig, wenn sie selbst nicht in hinreichendem Maße daran partizipieren können. Diese Frage wurde im 18. Jahrhundert virulent und führte zu gesellschaftlichen Anpassungsleistungen wie der Protoindustrialisierung119 und der Agrarmodernisierung, durch die die Gesellschaft umgebaut wurde, um weiterhin sozial tragfähig zu bleiben,120 und zwar insbesondere für die ärmeren Schichten. 118 Pfister, C., Klimageschichte, Bd. 2, S. 106-125: Agrarmodernisierung. Pfister, C. und Kellerhals, Α., Stemenberg. Frey, W., Agrarmodernisierung. 119 Vgl. Mager, W., Protoindustrialisierung. 120 Pfister, C., Bevölkerungsentwicklung, S. 4 9 1 : «Motor des B e v ö l k e r u n g s w a c h s t u m s vor 1846 ist die A n h e b u n g der agrarischen Tragfähigkeit, sei e s durch Agrarmodernisierung, oder, w i e beis p i e l s w e i s e im Niedersimmental, durch A u s w e i c h e n des agrarischen Proletariats in eine arbeitsintensive Zwergwirtschaft».
26
Die Bevölkerungsvermehrung mit dem demographischen Takeoff stellte dabei eine besondere Herausforderung dar.121 Für die Gesellschaft der beiden in der Region Bern, in nächster Nachbarschaft zum Emmental, gelegenen Gemeinden Vechigen und Stettlen soll versucht werden, wenigstens annäherungsweise die Tragfähigkeit der Agrargesellschaft zu überprüfen. Dabei wird zunächst an die Bevölkerungsentwicklung angeknüpft, die eben diskutiert worden ist. Inwieweit verlief sie parallel zur agrarischen, insbesondere der Brotgetreideproduktion als der klassischen Nahrungsgrundlage? Abb. 4 (siehe weiter unten) stellt die Bevölkerungsentwicklung Stettlens und Vechigens auf der Basis des Jahres 1600 als Indexwerte dar, d.h. als prozentuale Abweichungen nach oben und unten von diesem Indexwert. Die Form der Kurven entspricht der der Rohwerte (Abb. 2 und 3).122 Ihr gegenübergestellt wird die Indexreihe der Zehnterträge von Brotgetreide der Region Bern bzw. des Emmentals.123 Bis 1800 bleibt eine hohe Korrelation zwischen beiden Reihen bestehen: Rangkorrelation (Spearman) zwischen Zehnterträgen und Einwohnerzahl vor 1800 Zehnten
Stettlen
Vechigen
0,69 *** 0,72 **•
0,46 *** 0,42 »*»
Region Bern Emmental
Armut war in beiden Gemeinden im 18. Jahrhundert ein schwerwiegendes Problem. 1764 meldete der Stettier Pfarrer Sprüngli,124 die Zahl der Armen in der Gemeinde sei «zimlich groß, wenn alle diejenigen Arm sollen geheißen werden, welche eintzig mit ihrer Hand Arbeit sich und die Ihrigen erhalten und nicht mehr besitzen als was sie Täglich verdinen: indem der grösste Theil in diese Class gehöret und kaum ein Dotzend Einwohner zu finden wären, die man vermögend heißen, noch viel wenigere aber, die man reich heißen könnte.»125 Für
121 Pfister, C„ Klimageschichte, Bd. 2, S. 105 f., 124 f. 122 Es werden in allen Fällen, d.h. auch bei den Zehnterträgen, gleitende Elfjahresschnitte dargeboten. 123 Eine Gegenüberstellung mit der etwas stärker steigenden Reihe des Emmentals bringt keine grundsätzlichen Abweichungen. Die Datengrundlage bildet die Rekonstruktion der Zehnterträge durch Pfister: Pfister, C., Klimageschichte, Bd. 2, Tabelle 2/72. Die Werte wurden in Elfjahresschnitte umgerechnet. 124 STAB Bill 204 = PfarTberichte 1764: Stettlen. Born, O., Stettlen, S. 116-120: Pfarrbericht 1764. Danach zitiert. 125 Born, O., Stettlen. S. 116-120: Pfarrbericht 1764, hier: S. 118.
27
Vechigen lautete das Urteil ähnlich.126 Dennoch unterschieden sich beide Gemeinden deutlich voneinander. Die Bevölkerung entwickelte sich in Stettlen, anders als in Vechigen, seit 1740 wesentlich rascher als die Nahrungsgrundlage in Form des Brotgetreides (Abb. 4a und 4b). Das heißt, daß diese Lebensgrundlage zumindest seit diesem Zeitpunkt strapaziert wurde. Stettlen besaß nicht nur eine höhere Bevölkerungsdichte und entwickelte sich rascher als Vechigen, sondern es verlor damit seine hergebrachte Ernährungsgrundlage in einem größeren Ausmaß. Kanton Bern I n f e d e r t e feuilterungszahlai • Zehnten
„I 1560
, , , 1580 1600 1620 1640 1660 1680 1700 1720 1740 1760 1780 11-Jahresschnitte (alle Jahre) Index; 1600=100 Zehnten Region 8E
1800 A b b . 4a
Kanton Bern
Index; 1600:100
Zehnter Emental
Abb. 4b
Abb. 4a und b: Vechigen, Stettlen - Bevölkerungsentwicklung und Zehnten in der Region Bern ( 4 a ) und im Emmental (4b) (Indexkurven)
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Alternative Versorgungsmöglichkeiten, wie sie etwa die Weberei bot, mußten aufgebaut werden, damit die Armen genug Nahrung finden konnten127 - besonders in Stettlen: «Die Erwachsenen finden Beschäftigung genug, entweder durch fleißigen Betrieb ihrer Künsten, sonderlich der Leinweberey, davon allein in dieser kleinen Gemeinde bey 15 Leinwebermeister sind, die das ganze Jahr genug zu thun haben; oder aber, wenn sie keine Kunst erlernt haben, durch Taglöhnem, dazu wegen der Nachbarschaft der Hauptstadt und verschiedener Herren-Güteren es nie an Gelegenheit fehlet.»128 Die Frauen und Kinder spannen, vor allem im Winter, webten auch selbst mitunter. Die Entwicklung ist in Stettlen in dieser Richtung weitergegangen. 1811 gab es schon 35 Weber, darunter neben 16 Leinenwebern noch 14 Woll- und Baumwollweber, 4 Strumpfweber und 1 Seidenweber.129 Mit zum. Anstieg der Weberei dürfte die Existenz einer seit 1757 in Deisswil bestehenden Bleiche, Walke und Mange beigetragen haben.130 Die Weberei war in geringerem Maß allerdings auch in Vechigen verbreitet.131 Die Gesellschaft vollzog also im 18. Jahrhundert einen strukturellen Wandel, der als Anpassungsleistung die Bevölkerungsvermehrung «sozial erträglich» machte, andererseits aber auch die traditionelle landwirtschaftliche Ordnung umwandelte und partiell durch eine semikapitalistische Ordnung ersetzte. Allgemeine Steuern, im Berndeutschen «Teilen» genannt, hat es während der Frühen Neuzeit in Bern nicht gegeben. Damit fehlt eine wichtige sozialgeschichtliche Quelle. Einzelne Orte wie Vechigen, nicht jedoch Stettlen, haben aber im 18. Jahrhundert besondere Armensteuern erhoben, die auf dem Vermögen ruhten und von der Gemeinde selbst eingezogen wurden. Hier kann also tiefer in die soziale Wirklichkeit und ihre Veränderungen vorgedrungen werden. 126 STAB BIH 204 = Pfarrberichte 1764: Vechigen, S. 54/2. Zur Annenproblematik vgl. allgemein auch die Kirchenrechnungen KG Α Vechigen Nr. D 7 = Armenvogtsrechnungen 1702-1729, Nr. D 2 = Witwen- und Waisenvogtsrechnungen 1696-1710, Nr. D 32 = Kirchenrechnungen 1690-1709, Nr. D 33 = Kirchenrechnungen 1725-1745 und im EGA die «Allmosenrechnung einer Ehrenden Gemeinde Vechigen», Bd. 1: 1746-1758 und Bd. 2: 1758-1764 sowie STAB BXII 200-203 = Armengut, Armenrechnungen Utzigen 1799-1850 und allgemein die Berichte: STAB BXII 129 = Berichte über das Armenwesen in den Ämtern Bern, Burgdorf, Büren 1798, STAB BXII 130 = Berichte über das Armenwesen im Emmental und Höchstetten 1798 und STAB BXII 329 = Amtsberichte über das Armenwesen 1808-1821. Siehe auch neuerdings Schmidt, H.R., Armut. 127 So auch Mattmüller. Bevölkerungsgeschichte, S. 190-195, 257, 400. 128 Born, O., Stettlen, S. 116-120: Pfarrbericht 1764, hier: S. 119. 129 Ebd., S. 157 - nach den Bericht des Pfarrers Gabriel Rudolf Dulliker von 1811 im KGA Stettlen. 130 Ebd., S. 116-120: Pfarrbericht 1764, hier: S. 156. 131 STAB Bill 204 = Pfarrberichte 1764: Vechigen, S. 54/3: «Die arbeit denn, darmit die armen in der gemeind ... beschäfftiget werden könnten, ist nicht allein der akerbau, ... sondern auch des handwerkes arbeit als Schneider, schuster, zimmerleut, maurer, weber (deren letstere viel in diser gemeind zu finden). Es haben aber hierzu die armen ein lehrgelt und zur anschaffung der materi und Werkzeug, behausung und webkeler einen vorschuß an gelt von nöhten, den niemand hergeben will, weilen verlurst deß vorgestrekten gelts zu besorgen, dann dise leut sind gewohnt, so vil zu verzehren, als sie immer erwerben mögen ... Die weibspersohnen finden mit spinnen, näyen, weben auch ihren verdienst, wan sie nur ihre arbeit gut machen thädten».
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Von 1747 bis 1764 liegen Armentellenrödel vor, die ausgewertet werden können.132 Dabei lehnt sich die Analyse an die Arbeiten von Benedikt Bietenhardm über Langnau und von Kellerhals und Pfister über Bolligen134 an. Zugleich eröffnet sie die Möglichkeit, zwei an sich ungleiche Verfahren, eine Steuerliste und eine Vorratsstatistik, miteinander zu harmonisieren und ihre Ergebnisse ineinander zu übersetzen. In Langnau und Vechigen wird die Armensteuer als Vermögenssteuer zu einem Fuß von 1/3000 angelegt. Es lassen sich nach statistischen Gesichtspunkten fünf Steuerklassen bilden:135 Klasse Klasse Klasse Klasse Klasse
1 - 500 Kreuzer Steuer und mehr 2 - 200-499 Kreuzer Steuer 3 - 100-199 Kreuzer Steuer 4 - 1-99 Kreuzer Steuer 5 - Vermögenslose
Abb. 5 stellt den Anteil der einzelnen Steuerklassen an der Gesamtzahl der Haushalte sowie an der Gesamtmenge steuerbaren Besitzes dar. Klasse 1 und 2 zusammen machen einen Bevölkerungsanteil von 21% aus, besitzen aber 73% des Vermögens in der Gemeinde. Abb. 6 stellt die Veränderungen zwischen den beiden untersuchten Armensteuererhebungen («Teilen») von 1747 und 1764 dar. Die besitzenden Klassen nehmen anteilsmäßig ab, während die Armen, besonders die Klasse 4, d.h. die Haushalte mit geringfügigem Vermögen, deutlich zunehmen. Die besitzlosen machen insgesamt zwischen 30 und 35% aller Haushalte aus.136 Zusammen mit den wenig Besitzenden erreicht diese Gruppe 1764 rund 70% der Haushalte. Christian Pfister geht in seine Analyse der Vorratsstatistik der Vechigen benachbarten Gemeinde Bolligen von 1757 von betriebswirtschaftlichen Annahmen aus. Die Angabe über angesätes Erdreich, die seine Quelle bietet (1376 Juchart = 532 ha)137 läßt sich über eine Modellrechnung in ein BetriebsflächenTotal (rund 1200 ha) umrechnen.138 Von einer Gemeindefläche (siehe Abb. 1) von 26,7 km2 wären rund 45% landwirtschaftlich genutzt worden. Das stimmt recht gut mit einer kartographischen Darstellung überein, nach der etwa die Hälfte des Geländes Wald, Bäche oder unwegsames bzw. bebautes Gebiet waren.139 Vechigen hat einen etwas größeren nutzbaren Flächenanteil, sagen wir 132 EGA Vechigen, «Allmosenrechnung einer Ehrenden Gemeinde Vechigen», Bd. 1: 1746-1758 und Bd. 2: 1758-1764. Neue Quellenfunde diskutiert in Schmidt, H.R., Armut. 133 Bietenhard, B„ Langnau, S. 253-261. 134 Pfister, C. und Kellerhals, Α., Sternenberg, bes. S. 170-191. 135 Die Klasse 5 wird durch Abzug der Steuerzahlenden von der Gesamtzahl der Familien errechnet. 136 Die Berechnung basiert auf der Anzahl der Haushalte, weshalb Knechte und Magde nicht erscheinen, die ebenfalls dieser Klasse zugerechnet werden könnten. 137 Nach dem älteren Umrechnungsfaktor 1 Juchart = 0,387 ha. 138 Pfister, C. und Kellerhals, Α., Sternenberg, bes. S. 172 f., 190. 139 Schmalz, K.L., Bolligen, S. 70 und 71.
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55% von den 24,8 km2, das wären dann 1360 ha Betriebsfläche.140 Wenn die Armensteuem auf Vermögen liegen, dann können näherungsweise die Anteile KGh Ü e c h i g e n Besitz der Steuerklassen 1747
Klasse 1 i
Abb. 5
Klasse 2
Klasse 3
Steuerklasse
Anteil Haushalte
Klasse 4 S
Klasse 5
steuerbarer Besitz
KGM U e c h i g e n 50 A
Anteinteuertjassei
'
'
*
'
-
45 '
Klasse 1
Abb. 6
Abb. 5, 6: Vechigen
Klasse 2
Klasse 3 S t e u e r k l a s s e
B T e l l e 1747
Klasse 4
Klasse 5
@ Teile 1764
Steuerklassen 1747 und 1764.
140 Möglicherweise ist die Fläche etwas zu hoch geschätzt im Vergleich zu Bolligen; der Anteil der Armen stiege dann rechnerisch noch an, wenn eine insgesamt kleinere Fläche «verteilt» würde. Nach der Auflösung der Allmenden im 19. Jahrhundert wird 1886 eine landwirtschaftliche Nutzfläche von 1692 ha ausgewiesen, auf der nun nur noch 15,2 ha für Weizen, 95 ha für Korn, 38 ha für Roggen, 3,8 ha für Gerste, 38 ha für Hafer, aber nun 85,5 ha mit Kartoffeln, mit Rüben 6,7 ha und mit gelben Rüben 2,8 ha, ingesamt also 190 ha für Getreide und 95 ha für Hackfrüchte, genutzt werden. Der Rest von rund 1400 ha dient nun der Milchwirtschaft - Gründer, E., Vechigen, S. 45.
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am Gesamtsteueraufkommen als Anteil am Gesamtbetriebsvermögen, dem Boden, in eben diesen Boden umgerechnet werden.141 Dörfliche Sozialschichten im Raum Bern nach
Betriebsflächen 142
Steuerklassen 143
Bolligen
Vechigen
Vechigen
17%
19%
10-14%
Klasse 1: 4%
4%
16%
23%
17-21%
Klasse 2: 14%
15%
Tauner (2,2-4,2 ha)
25%
11%
8-9%
Klasse 3: 14%
15%
Zwergbetriebe (0-2,1 ha)
29%
15%
25-29%
Klasse 4: 34%
33%
Landlose
13%
32%
32-35%
Klasse 5: 34%
33%
Konol-
Langnau
fingen, Amt Vollbauern (>10,8 ha) Selbstversorger (4,3-10,8 ha)
Die Steuerklassenanteile von Vechigen und Langnau stimmen fast exakt überein. Beim Vergleich der Bauernklassen von Bolligen und Vechigen ergeben sich dagegen gewisse Unterschiede. Besonders der Anteil der Vollbauern ist in Vechigen geringer, dafür nehmen die Zwergbetriebe einen doppelt so großen Anteil ein wie in der Nachbargemeinde. Das gilt in noch stärkerem Maße gegenüber dem Amt Konolfingen, das nicht so viele Landlose ausweist wie Vechigen. Überhaupt überwog die Zahl derer, die nicht von der Landwirtschaft leben konnten (die drei unteren Schichten der Betriebsflächenrechnung) in Vechigen
141 Vermögen, das sich nicht aus Landbesitz ergibt und ebenfalls besteuert wird, wird durch dieses Verfahren fälschlich in Bodenbesitz umgerechnet. Dies ist erträglich, vor allem weil damit Reichtum auch unabhängig von Bodenbesitz erfaßt wird, was gegenüber einer reinen Bodenflächenrechnung wie bei Bolligen sogar wünschenswert ist. Daß durch Personen mit Vermögen ohne Hofbesitz rechnerisch Boden «verbraucht» wird, wird durch die Annahme einer etwas höheren Gesamtfläche ausgeglichen. In Bolligen und Vechigen wird die Allmend, sofern vorhanden, nicht weiter berücksichtigt. 142 Die den Graphiken bei Pfister zugrundeliegenden Aussaatflächen werden in Gesamtbetriebsflächen umgerechnet. Die Werte gelten einmal für die Teile 1747, dann für die Teile 1764 (vgl. Abb. 7). Für das Amt Konolfingen werden die Werte von 1760 zugrundegelegt: Frey, W., Agrarmodemisierung, S. 289. 143 Für Vechigen werden die Werte aus den Daten von 1747 und 1764 gemittelt (grob gerundet). Zu Langnau siehe die Daten bei Bietenhard, B., Langnau, S. 257.
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KGh U e c h i g e n Bodenbesitz 1747/1764
A n t e i l an B e v ö l k e r u n g i 1747
g 1764
Abb. 7: Vechigen - Bodenbesitz 1747/1764
noch wesentlich stärker als in Bolligen oder im Amt Konolfingen.144 Die Urteile über Langnau und Bolligen können deshalb mit einer gewissen Berechtigung auf Vechigen und Stettlen übertragen bzw. sogar noch zugespitzt werden. So kann von einer «schleichenden Strukturkrise» im 18. Jahrhundert145 gesprochen werden, die gerade darin bestand, daß «das ganze Emmental ... seine Bevölkerung spätestens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht mehr aus der eigenen Agrarproduktion ernähren» konnte.146 Die weitaus meisten (in Vechigen rund 70%) lebten nur von der Hand in den Mund.147 Um überleben zu können, mußten sie als Handwerker, sei es traditioneller Branchen («Professionisten») 148 , sei es der Protoindustrie149 tätig werden oder als Tagelöhner auf den Gütern der größeren Bauern arbeiten. Die soziale Tragfähigkeit der ländlichen Gesellschaft war zwar nicht überschritten, aber in einem steigenden Maß sozialem Streß unterworfen.150
144 Außerdem wird erkennbar, daß mit gewissen Verzerrungen, aber doch annäherungsweise auch die aus statistischen Überlegungen gewonnenen Steuerklassen Bauernklassen abbilden. Jedenfalls wird mit der obigen Tabelle ein Umrechnungsschema dargeboten. 145 Bietenhard, B„ Langnau, S. 274. 146 Ebd., S. 295. 147 Pfister, C. und Kellerhals, Α., Sternenberg, S. 188 f. 148 Vgl. Rütte, H.v., Ländliches Gewerbe. 149 Zu den Professionisten = Handwerker ohne Protoindustrielle: Werder, E., Konolfingen. Zum Tuchgewerbe mit Zentren in Walkringen, Oberdiessbach, Münsingen, Worb, Biglen, Kurzenberg ebd., S. 416-443. Zu den Bevölkerungs-(Männer-)Anteilen in den Listen der Helvetischen Eidregister und der kantonalen Volkszählung 1856 vgl. Pfister, C., Agrarrevolution. 150 Pfister, C. und Kellerhals, Α., Sternenberg, S. 185 f.: «In allen übrigen Gemeinden scheinen soziale Kontraste auf, am deutlichsten in den stadtnahen Kirchgemeinden Bümpliz und Bolligen.»
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Für Stettlen gilt die Annahme eines wachsenden ökonomischen Stresses noch stärker. Hier wurden im Pfarrbericht von 1780 12 Höfe mit über 20 Juchart, also über 7,7 ha, gemeldet. Das sind bei 80 Familien 15%. In Vechigen betrug die Rate von Besitzern mit Betriebsflächen über 20 Juchart 1774 29%, 1764 25%. Die obere Spitze, vorausgesetzt, diese Angaben des Pfarrers stimmen einigermaßen mit der Wirklichkeit überein, war in Stettlen also noch viel schmaler als in Vechigen. Nimmt man die Vechiger Maße für die Durchschnittsgröße von Gütern über 20 Juchart als Vergleich, 17 ha, dann hielten sie allein 2,4 der 3,5 km2 Gemeindefläche, also rund 70%. Das ist genau der gleiche Wert wie in Vechigen (72,5%). Die großen Bauern in Stettlen waren also anteilsmäßig weit weniger zahlreich, verfügten aber über den Löwenanteil der Güterfläche.151 Stettlen wies ein noch viel deutlicheres soziales Gefalle auf als seine größere Nachbargemeinde. Die «Nicht-Reichen», d.h. die 68 Familien mit weniger als 20 Juchart, besaßen nach der obigen Rechnung im Durchschnitt nur 1,6 ha, in Vechigen verblieben dieser Gruppe 2,68 ha.152 Um zu einem weiter ausgreifenden und stabileren Urteil zu kommen, das nicht nur auf dem Ausschnitt von 20 Jahren beruht, wäre es wünschenswert, eine längerfristige Analyse der Landarmen· und Landlosenschicht zu besitzen. Auch wäre es von Nutzen, die Daten, die für Stettlen vorhanden sind, in solche wie die hier diskutierten Kategorien umzugießen. Denn für Stettlen existieren keinerlei Armensteuern, also gar keine verwertbaren sozialstatistischen Angaben über die Pfarrberichte hinaus. Erste Anzeichen, daß die Lage in Stettlen eher prekärer war als die in Vechigen, sind bereits vorgeführt worden. Die einzige in dieser Hinsicht weiterführende Information stellt die Heimatberechtigung dar. Es handelt sich hier zwar im Prinzip nur um eine politischrechtliche Kategorie, die sich hauptsächlich um Allmendberechtigung und Armenversorgung konzentriert. Die Hintersassen waren Nichtburger ohne oder mit geringem Anteil an der Allmend und ohne «soziales Netz» in ihrer Wohngemeinde.153 Der Hintersasse war ein «geduldeter Ungenosse».154 Nun ist es keineswegs von Anfang an klar, daß die Nichtburger zur Schicht der Landlosen und Landarmen gehören mußten. Es traten immer wieder Fälle auf, in denen sie große landwirtschaftliche Höfe besaßen, ohne Burger zu sein. Einheiraten auf Höfe ohne männlichen Erben können dafür verantwortlich sein.155 Soweit sie 151 In Stettlen halten also 15% der Bevölkerung 70% des Grundbesitzes, eine sehr steile Verteilung, in Vechigen sind es 25% mit 72% des Grundbesitzes. Im Amt Konolfingen haben um 1800 29% der Haushalte zusammen 75% des Kulturlandes besessen und können sich selbst versorgen, 55% haben zu wenig Land und 16% überhaupt keines. - Frey, W., Agrarmodernisierung, S. 303. 152 Und das, obwohl in Stettlen die gesamte Gemeindefläche als «Betriebsfläche» betrachtet worden ist. 153 Vgl. auch Frutiger, M., Freiherren, bes. S. 267 f. zu Einzugsgebühren und zur Sozialschichtung. 154 Feller, R., Geschichte Berns, Bd. 3, S. 153. Keinen Anteil haben sie auch in Jegenstorf: Pfister, C., Bevölkerung, S. 96. 155 Feller, R„ Geschichte Berns, Bd. 3, S. 153 f.
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sich - wie in einer Langnauer Haushaltsliste - sozial verorten lassen, gehörten sie jedoch am häufigsten zur gewerblich-protoindustriellen und zugleich zur armen Schicht im Dorf. 156 Da die Hintersassen zur Armentelle beitragen mußten, 157 kann der Anteil der Armen an den Nichtburgern auf diesem Wege ermittelt werden. Von allen Nichtburgern, die im Vechiger Eherödel von 1720 bis 1780 verzeichnet sind (268 Männer), 158 lassen sich 36 (13%) im Verzeichnis der Armentelle von 1747 oder 1764 wiederfinden, verkürzt man die Zeitspanne auf 1730 bis 1764, ergibt sich eine Rate von 14% (18 von 127). Von diesen wieder gehören 9, also die Hälfte, zu den Taunern und Zwergbauern, also den beiden unteren Besitz-Klassen. Lediglich die Hälfte der 14%, die man in den Armentellen findet, sind mit der Gleichung «Hintersassen = Arme» nicht zutreffend erfaßt. Legt man statt der Eherödel die Listen Vechiger und zur Herrschaft Utzigen gebührenpflichtiger Hintersassen zugrunde, ergeben sich etwas höhere Werte. Für das Jahr 1735, für das alle Hintersassen der Kirchgemeinde mit einer entsprechenden Steuerliste verglichen werden konnten, 159 ergibt sich eine Quote von knapp über zwei Dritteln steuerfreier, also sehr armer Hintersassen - gegenüber lediglich 20-25% bei den Burgern. 160 Man kann zusammenfassen: Hintersassen sind Arme, und zwar die Gruppe der Armen in der Gemeinde, die selbst nicht von den Beihilfen aus der Armensteuer profitieren kann. Die Nichtburgerrate ist deshalb ein ungefährer Indikator für die Schicht der Landlosen und Landarmen.161 Eine Bemerkung muß zu den Begriffen der «Nichtburger» und der «Hintersassen» noch gemacht werden. In allen Veröffentlichungen zur Berner Geschichte wird davon ausgegangen, daß alle Fremden in der Gemeinde, die hier länger bleiben wollten, ein Hintersäßgeld entrichten mußten,162 also alle in Hintersäßrödeln verzeichnet sind. 163 Das scheint mir nicht richtig zu sein. Ver-
156 Bietenhard, B., Langnau, S. 104-107, 2 5 8 : Im Dorfviertel, wo die meisten Hintersassen wohnen, ist der Anteil der Steuerklasse 5 besonders hoch. 157 Ebd., S. 104: «Die Hintersassen, die über Grundbesitz in der Gemeinde verfügten, wurden wie die Burger zur Leistung von Annentellen verpflichtet, was nach dem Anlagerodel um 1763 auf 26 von den 55 im Haushaltrodel erwähnten Hintersassen zutraf.» 158 S T A B Κ Vechigen = Tauf- und Eherödel. 159 Vgl. die während der Drucklegung dieses Buches entstandene Studie Schmidt, H.R., Armut. Sie benutzt auch im Alters- und Pflegeheim Utzigen kürzlich neu aufgetauchte Akten zur Armenversorgung und den Hintersassen. Dort auch näheres zur Teile von 1735. 160 Ebd., bes. Kapitel 4: «Arme Hintersassen». Vgl. Feller, R., Geschichte Berns, Bd. 3, S. 152-154. Feiler spricht hier von der «Schicht der besitzlosen Hintersassen». 161 So im Prinzip auch Pfister, C., Bevölkerung, S. 102: «Die Schicht der Bauern und jene der Burger deckte sich nicht ganz.» Hier wird - von der anderen Seite der Schichtung her - eine ähnliche Übersetzung von politisch-rechtlichen in soziale Kategorien versucht. Diese Rate der Steuerzahler unter den Hintersassen ist wesentlich niedriger als in Langnau, wo 4 7 % erreicht werden. - Bietenhard, B., Langnau, S. 104. Zu den Gemeindearmen weiter unten mehr. 162 Geiser, K., Geschichte des Armenwesens, S. 143-151. 163 Feller, R., Geschichte Berns, Bd. 3, S. 153 f. Bietenhard, B „ Langnau, S. 104-107. Pfister, C „ Bevölkerung, S. 96: Alle Hintersassen zahlen Hintersassengeld.
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gleicht man die Angaben aus verschiedenen Quellen, nämlich der Täufrödel, 164 der Heiratsrödel, der Gebührenlisten, die die Hintersäßgelder enthalten, und der Volkszählungen 165 miteinander (Abb. 8), dann wird sichtbar, daß nur ein Teil der Nichtburger Hintersassengeld gezahlt haben kann. Diese Hintersassen umfaßten nur etwa drei Viertel aller Nichtburger, 166 die heirateten oder Kinder taufen ließen - und, was hier als sicherstes Datum gelten muß: viel weniger Haushaltsvorstände als die Volkszählungsergebnisse ausweisen. Die Gründe lassen sich nur vermuten. Es ist z.B. denkbar, daß Hintermssengeld nur bei selbständiger Niederlassung (entsprechend etwa der heutigen Niederlassungsbewilligung) streng eingezogen wurde, also bei Haushäblich-Werdung. Nichtburger konnten aber auch als Einlieger («Inwohner») zur Miete oder gegen Arbeitsentgeld wohnen. 167
c
91 lit Ul Hl Ifl L dl
¥
c
11 +
s. Arrhae Ehescheidung -» s. Scheidung Ehestreit 246-251, 256f., 258-289, 357; 390-393 Eheversprechen -» s. Verlobung Ehre 207f., 314f., 317, 319, 320, 321 f., 325-327, 328, 340f„ 346, 347, 348 Eid 14, 70, 71, 73, 83, 93, 94, 352, 354; 398 -