Recht, Obrigkeit und Religion in der Frühen Neuzeit [1 ed.] 9783428556045, 9783428156047

Der vorliegende Band dokumentiert acht Referate einer Tagung, die die Johannes-Althusius-Gesellschaft zur Erforschung de

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German Pages 207 [208] Year 2019

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Recht, Obrigkeit und Religion in der Frühen Neuzeit [1 ed.]
 9783428556045, 9783428156047

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Historische Forschungen Band 118

Recht, Obrigkeit und Religion in der Frühen Neuzeit Herausgegeben von Heinrich de Wall

Duncker & Humblot · Berlin

Recht, Obrigkeit und Religion in der Frühen Neuzeit

Historische Forschungen Band 118

Recht, Obrigkeit und Religion in der Frühen Neuzeit

Herausgegeben von Heinrich de Wall

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: 3w+p gmbh, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0344-2012 ISBN 978-3-428-15604-7 (Print) ISBN 978-3-428-55604-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-85604-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Der vorliegende Band vereinigt die schriftlichen Fassungen von Referaten, die auf der Tagung der „Johannes-Althusius-Gesellschaft e.V., Gesellschaft zur Erforschung der Naturrechtslehren und der Verfassungsgeschichte des 16. bis 18. Jahrhunderts“ vom 26. – 29. 05. 2016 in Wittenberg gehalten wurden. Die Tagung stand unter dem Thema, das auch den Titel dieses Buches bildet, nämlich „Recht, Obrigkeit und Religion in der Frühen Neuzeit“. Es versteht sich von selbst, dass weder eine Tagung noch ein einzelnes Buch dieses weite Oberthema auch nur annähernd umfassen und ausloten können. Eine gewisse Konkretisierung ergibt sich aber bereits aus dem Kontext der Veranstaltung in der Reihe der in der Regel alle drei Jahre stattfindenden Tagungen der Johannes-Althusius-Gesellschaft, die einen besonderen Schwerpunkt auf die Lehre ihres Namensgebers und seines wissenschaftlichen Umfelds legt. Sie fügt sich damit ein in die durchweg in Sammelbänden veröffentlichten Tagungen, zuletzt „Recht, Konfession und Verfassung im 17. Jahrhundert“ (hg. v. R. v. Friedberg/M. Schmoeckel, 2015), „Reformierte Staatslehre in der Frühen Neuzeit“ (hg. v. H. de Wall, 2014), und „Konfessionalität und Jurisprudenz in der Frühen Neuzeit“ (hg. v. C. Strohm/H. de Wall, 2009). Die Tagungen führen Historiker, Kirchenhistoriker, Rechtshistoriker, Politikwissenschaftler und Theologen aus verschiedenen Ländern zusammen. Die fach- und länderübergreifende Diskussion auf den Tagungen der Johannes-Althusius-Gesellschaft erweist sich immer wieder als besonders anregend und gewinnbringend für alle Teilnehmer. Die Vielfalt der Forschungsperspektion und -ansätze spiegelt sich auch in diesem Band wider. Die Tagung 2016, die in diesem Band dokumentiert wird, konzentrierte sich in dem weiten, durch den Titel dieses Bandes umrissenen Themenkreis auf vier Themenfelder: 1. Religion und Konstitutionalisierung, 2. die Bedeutung der Reformation für Rechts- und Staatslehren der Frühen Neuzeit, 3. Völkerrecht und 4. Recht, Gehorsam und Religion. Die ersten beiden Beiträge dieses Bandes repräsentieren diesen letzten Themenkreis. Dennis Schönberger stellt in seinem Beitrag „Widerstand als Gehorsam? – Umrisse der politischen Widerstandsrechtslehre des Johannes Althusius in sozial- und ideengeschichtlicher Perspektive“ (S. 11–44) die Widerstandslehre Johannes Althusius’ in ihren historischen, theologischen, systematischen Zusammenhang und arbeitet ihren Charakter als – mit heutigen Begriffen – „verfassungsrechtlich geordnetes Verfahrensrecht“ heraus. Angela De Benedictis führt in ihrer gründlichen Quellenstudie „Gehorsam, Widerstand und Selbstverteidigung zwischen Recht und Religion. Das Beispiel von Libna in der reformierten Tradition“ (S. 45–76) die Bedeutung biblischer Beispiele

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Vorwort

und den Umgang mit ihnen in der frühneuzeitlichen Staatslehre, insbesondere in den Lehren reformierter Autoren vor Augen. Der Widerstand der Stadt Libna gegen König Joram, von dem im Alten Testament berichtet wird (2Kön 8,22, 2Chr 21,10), steht in der reformierten Staatslehre vielfach für einen legitimen Widerstand gegen die Obrigkeit: nicht nur in einer Kontroverse Althusius’ gegen William Barclay, einen Vertreter des „divine right of kings“, sondern auch im Umfeld der französischen Monarchomachen, wo er insbesondere bei der Bewertung der Belagerung der hugenottischen Stadt La Rochelle eine Rolle spielt. Völkerrechtliche Aspekte in frühneuzeitlicher Staatslehren werden in den Beiträgen von Lucia Bianchin (Trient) und Michael Becker beleuchtet. Bianchin widmet sich in ihren Beitrag „,Bellum iustum‘ und ,bellum civile‘ in der Staatslehre des Johannes Althusius“ (S. 77 – 96) speziell der Lehre des Althusius und weist dabei besonders darauf hin, dass Althusius auch den Bürgerkrieg, den er als das schlimmste Übel bezeichnet, in seine Überlegungen zum Krieg einbezieht. Michael Becker stellt in seiner Untersuchung „Krieg und Protestantismus. Protestantische Beiträge zum Völkerrecht“ (S. 97–118) der vielfach verbreiteten Ansicht, dass die evangelische Theologie vor Grotius keine Bedeutung für die Entwicklung des Völkerrechts gehabt hätte und dass dessen Lehre ein Beispiel für ein säkularisiertes Kriegsrecht sei, die These entgegen, dass „protestantische Theologen und Gelehrte die Genese des Völkerrechts gerade in religiös und konfessionell konnotierten Fragen“ (S. 103) mitgeprägt haben. An einer Fülle von Beispielen wird dieser Befund erhärtet und präzisiert. Gaëlle Demelemestre zeigt in ihrem Beitrag „Francis Connan’s theory of ius gentium as ius of humankind“ (S. 119–134) auf, dass der französische humanistische Jurist Francis Connan in seinen „Commentarii iuris civilis“ (1553 ff.) eine Systematisierung des Rechtsstoffs vorlegt, in der das Jus gentium das gemeinsame Recht (ius commune) der in Nationen gegliederten Menschheit ist. Mit diesem Ansatz hat Connan u. a. Francois Hotman, Jean Bodin und Johannes Althusius beeinflusst. Mathias Schmoeckel widmet sich der Frage nach konfessionellen Prägungen der Eigentumslehre („Jure civili omnia regis sunt“. Schutz des Privateigentums vor der Enteignung in der Frühen Neuzeit, S. 135–160). Nachdem er in früheren Arbeiten dazu bereits das Erbrecht untersucht hat, wendet er sich in der hier abgedruckten Untersuchung dem Enteignungsrecht zu. Er arbeitet dabei konfessionsspezifische Argumentationsweisen heraus, die seine in zahlreichen Schriften herausgearbeitete These von der Herausbildung konfessionell spezifischer Rechtslehren und damit der Spaltung des Rechts nach der Reformation erhärten. Aus politikwissenschaftlicher Sicht leuchtet Wolfgang E. J. Weber die insbesondere in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts geführte Diskussion um die von einigen Lutheranern in Anspruch genommene besondere Eignung der lutherischen Lehre für die Begründung der politischen Obrigkeit bzw. des absolutistischen Staats und ihre Nachwirkungen für die Bewertung der politischen Theologie des Luthertums aus („Nulla in mundo Religio tantum favet Magistratui Politico quantum

Vorwort

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Evangelica, quam Lutheranam vocamus“. Bemerkungen zur politischen Theologie des Luthertums in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, S. 161–188). Heiner Lück weist schließlich am Beispiel des Wittenberger Zweigs der lutherischen Gelehrtenfamilie Carpzov auf die Bedeutung familiärer Netzwerke für die Wissenschaftskultur der frühen Neuzeit, hier insbesondere für Juristen hin (Die Wittenberger Carpzovs – Biographien, Netzwerke und Wirkungen einer Gelehrtenfamilie, S. 189–205). Damit lässt er auch den Genius Loci Vitenbergensis deutlich werden, der die gesamte Tagung mitgeprägt hat. Der Herausgeber hat vielfältigen Dank abzustatten: Zunächst den Autoren für ihre Beiträge, ihre Sorgfalt, aber auch für ihre Geduld im Prozess der Publikation. Meinen Mitarbeiterinnen Sina Haydn-Quindeau und Dr. Renate Penßel danke ich für die Betreuung und Bearbeitung der Manuskripte. Dem Verlag Duncker & Humblot sei für die wie immer professionelle verlegerische Betreuung und die Aufnahme in die Schriftenreihe „Historische Forschungen“ gedankt. Schließlich bedanke ich mich bei der Dr. Alfred-Vinzl-Stiftung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, ohne deren großzügigen Zuschuss die Tagung nicht hätte stattfinden können. Erlangen, im Dezember 2018

Heinrich de Wall

Inhaltsverzeichnis Dennis Schönberger Widerstand als Gehorsam? – Umrisse der politischen Widerstandsrechtslehre des Johannes Althusius in sozial- und ideengeschichtlicher Perspektive . . . . . . .

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Angela De Benedictis Gehorsam, Widerstand und Selbstverteidigung zwischen Recht und Religion. Das Beispiel von Libna in der reformierten Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lucia Bianchin „Bellum iustum“ und „bellum civile“ in der Staatslehre des Johannes Althusius

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Michael Becker Krieg und Protestantismus. Protestantische Beiträge zum Völkerrecht . . . . . . . .

97

Gaëlle Demelemestre Francis Connan’s theory of ius gentium as ius of humankind . . . . . . . . . . . . . . . 119 Mathias Schmoeckel „Jure civili omnia regis sunt“. Schutz des Privateigentums vor der Enteignung in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Wolfgang E. J. Weber „Nulla in mundo Religio tantum favet Magistratui Politico quantum Evangelica, quam Lutheranam vocamus“. Bemerkungen zur politischen Theologie des Luthertums in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Heiner Lück Die Wittenberger Carpzovs – Biographien, Netzwerke und Wirkungen einer Gelehrtenfamilie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

Widerstand als Gehorsam? – Umrisse der politischen Widerstandsrechtslehre des Johannes Althusius in sozial- und ideengeschichtlicher Perspektive1 Von Dennis Schönberger, Gummersbach

A. Auswege aus der Postdemokratisierung mit Hilfe eines verfassungsmäßig verankerten ius resistendi Das Leben in einem demokratischen Rechtsstaat ist ein hohes Privileg, das es gerade heute zu verteidigten gilt, wenn wir uns die politischen Entwicklungen in Viktor Orbáns Ungarn, Wladimir Putins Russland oder Recep Tayyip Erdog˘ ans Türkei anschauen. Bei Putin ist auf einen paradoxen Sachverhalt zu verweisen. Obwohl er oft als „Autokrat“2 bezeichnet wird, bewundert man ihn doch für seine Stärke und Durchsetzungskraft und sieht in ihm einen charismatischen politischen Führer, auch wenn sein Führungsstil als undemokratisch, autoritär und egozentrisch eingeschätzt wird.3 Für die Politologen Claudia Ritzi und Gary Schaal korreliert diese Einschätzung mit einer veränderten Wahrnehmung politischer Führung. So gewinne eine leader democracy, die von beiden als postdemokratisch bezeichnet wird, zunehmend an Bedeutung.4 Eine starke Führerschaft berge aber Gefahren für die Responsivität und Legitimität der Demokratie in sich.5 In einer leader democracy verlagere 1

Der vorliegende Vortrag, ursprünglich unter dem Titel „Widerstand als Gehorsam? – Herrschaft und Herrschaftsgrenzen in der politischen Theorie des Johannes Althusius in sozialethischer Perspektive“ angezeigt, konnte im Mai des vergangenen Jahres krankheitsbedingt nicht gehalten werden, liegt nun aber dank der hilfreichen Anregungen von Herrn Karljürgen Reusch und Herrn Prof. Dr. Heinrich de Wall in einer leicht überarbeiteten Version vor. 2 Vgl. Malte Lehming, Was unterscheidet Putin von Erdogan? (http://www.tagesspiegel.de/po litik/was-unterscheidet-putin-von-erdogan-guter-autokrat-boeser-autokrat/19591910.html; zuletzt abgerufen am 19. 03. 2018). 3 Vgl. Claudia Ritzi/Gary S. Schaal, Politische Führung in der „Postdemokratie“, in: APuZ 23 (2010), S. 9. 4 Ritzi/Schaal, Politische Führung (Anm. 3), ebd. 5 Vgl. Ritzi/Schaal, Politische Führung (Anm. 3), S. 10: Die beiden unterscheiden vier Merkmale westlicher Demokratien zu Beginn des 21. Jahrhunderts: 1. den Relevanzverlust demokratischer Entscheidungen, 2. die Befreiung der Parteipolitik von Inhalten, 3. die Per-

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Dennis Schönberger

sich das Gewicht weg von der Legislative hin zur Exekutive: aus Wählern würden Konsumenten und politische und ökonomische Eliten stünden inaktiven und desinteressierten Bürgern gegenüber.6 „Für die Frage nach dem Zusammenhang von Postdemokratie und politischer Führung ist die Analogie zwischen Staat und Konzern von besonderer Bedeutung, die das Paradigma des ökonomischen Neoliberalismus auf der politischen Ebene konsequent zu Ende führt. Daraus folgt unter anderem, dass der Erfolg einer Demokratie an ökonomischen Kennzahlen abgelesen werden kann. […] Wenn der Staat wie ein Unternehmen geführt werden soll, dann transformiert der Staats- bzw. Regierungschef zum Chief Executive Officer (CEO).“7

Demokratische Regierungen handeln sich immer häufiger den Vorwurf des demokratischen Paternalismus ein, der Bürger „zu ihrem Besten“ auf Kosten ihrer politischen Selbstbestimmung bevormundet.8 Folglich lässt sich sagen, dass in Zeiten der Postdemokratisierung der Rechtsstaat zugunsten des Machtstaats zwar nicht verdrängt, aber doch zurückgedrängt wird. Wir fragen: Wie verhält es sich angesichts dieses Befundes mit dem politischen Widerstandsrecht? Ist es im demokratischen Rechtsstaat nicht gegenstandslos geworden? Die einen sagen, dass es nur in Diktaturen ein Widerstandsrecht geben kann. Andere aber fragen: „Sind eigentlich Rechtsstaaten davor geschützt, dass durch sie schwerwiegendes Unrecht hervorgerufen wird?“ Hier kann Widerstand geradezu für ein „Lebenselixier der Demokratie“ gehalten werden.9 Die Ethiker Wolfgang Huber und Hans-Richard Reuter halten das Widerstandsrecht im demokratischen Rechtsstaat für obsolet und argumentieren, dass die naturrechtliche Widerstandslehre analog zur bellum iustum-Theorie als vormodern zu bezeichnen sei und gesellschaftlichen Verhältnissen entstamme, in denen es noch ein gemeinsames Verständnis dessen gegeben habe, was als bonum commune zu gelten habe. Feste institutionelle Kontrollen zur Begrenzung der Herrschermacht hätten gefehlt, sodass Widerstand entweder dem Volk als Ganzem oder bestimmten, durch Amt und Stand herausgehobenen Gruppen zugefallen sei. Für demokratische Rechtsstaaten sei die Anerkennung universeller Menschenrechte als Legitimationsprinzipien konstitutiv und durch Aufbau institutioneller Kontrollmechanismen seien Vorkehrungen getroffen, die den politischen Prozess für die je bessere Verwirklichung des Gerechten offen hielten, sodass sich die Widerstandsrechtsfrage möglichst gar nicht erst stelle.10 Bezüglich der Konsequenzen des Widerstandsrechts ergebe sich, dass es auf ein „zusätzliches Staats- und Verfassungsschutzinstrument gegen einen Staatsstreich von oben und von unten“ hinauslaufe, sodass der Ausnahmefall des Widerstandsrechts sonalisierung von Wahlkampfstrategien aufgrund der Synergien zwischen politischen und ökonomischen Akteuren und 4. die faktische (nicht rechtliche) Entmachtung der Bürger als Demos. 6 Vgl. Ritzi/Schaal, Politische Führung (Anm. 3), S. 10 – 12. 7 Ritzi/Schaal, Politische Führung (Anm. 3), S. 13 (Hervorhebung im Original). 8 Vgl. Ritzi/Schaal, Politische Führung (Anm. 3), S. 14. 9 Wolfgang Huber/Hans-Richard Reuter, Friedensethik, Stuttgart/Berlin/Köln 1990, S. 301. 10 Vgl. Huber/Reuter, Friedensethik (Anm. 9), S. 303 (Hervorhebung D.S.).

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eine „bürgerkriegsähnliche Situation“ und einen Rückfall in den Naturzustand, in dem letztlich die Entscheidungsmacht denjenigen zufiele, die über die stärkeren physischen Mittel verfügten, hervorrufe.11 Eine solche Zurückweisung des Widerstandsrechts im demokratischen Rechtsstaat übersieht, dass es schon im frühneuzeitlichen Staat institutionalisierte Kontrollen zur Begrenzung herrscherlicher Macht gab und dass diese nicht nur natur-, sondern auch positivrechtlich begründet wurden. Christopher Daase hat zu Recht bemerkt, dass die calvinistischen Monarchomachen, von denen im weiteren Verlauf noch öfters die Rede sein wird, schon im 16. Jahrhundert ein säkularisiertes Widerstandsrecht gelehrt hätten, das seinen Ausgang beim mittelalterlichen Ständestaat und damit beim Gedanken eines doppelten Bundes genommen hätte.12 Bei den Anhängern Johannes Calvins (1509 – 1564) sei sogar eine Radikalisierung des Widerstandsrechts zu beobachten: Diese hätten aus Sorge um das Ständerecht und die individuelle Glaubensfreiheit institutionelle Schranken monarchischer Zentralgewalt errichtet.13 Aus verfassungsrechtlicher Sicht kann das ius resistendi schon darum nicht zurückgewiesen werden, weil es in Art. 20 Abs. 4 des Grundgesetzes explizit zur Sprache kommt. In rechtsstaatlichen Demokratien gilt das Widerstandsrecht als Ausnahmefall. Während in totalitären Systemen nur die Möglichkeit des Martyriums bleibt und Gewaltanwendung als Grenzfall erscheint, beschränkt sich, so Martin Honecker, Widerstand auf das Recht auf freie Meinungsäußerung, Kritik, Protest und Demonstration.14 Hinsichtlich der ersten beiden Kriterien bleibt festzuhalten, dass der Prozess der Postdemokratisierung in einigen Ländern so weit vorangeschritten ist, dass sich ein konstitutionell verankertes Widerstandsrecht geradezu aufdrängt.15 „Das im Grundgesetz verankerte Widerstandsrecht ist […] eine dauerhafte Erinnerung daran, dass die Grenzen der staatlichen Machtausübung nicht nur so lange gelten, wie die Kontroll- und Korrekturmechanismen funktionieren. Mag das Recht zur Auflehnung im Ernstfall schwach sein; durch seine bloße Existenz bedroht es jeden, der auch nur mit dem Gedanken an die Beseitigung unverletzlicher verfassungsrechtlicher Grenzen spielt.“16

Auch wenn die protestantischen Ethiker Huber, Reuter und Honecker sich in ihren sozial-, friedens- und rechtsethischen Entwürfen nicht zum Problem der Postdemokratie äußern, verweisen sie in ihren Beurteilungen des Widerstandsrechts doch auf die zentralen Fragen nach der Legitimität und Souveränität der Machthaber und auf 11

Huber/Reuter, Friedensethik (Anm. 9), S. 304. Vgl. Christopher Daase, Was ist Widerstand? Zum Wandel von Opposition und Dissidenz, in: APuZ 27 (2014), S. 4. 13 Vgl. Daase, Widerstand (Anm. 12), ebd. (Hervorhebung D.S.). 14 Martin Honecker, Grundriss der Sozialethik, Berlin/New York 1995, S. 376. 15 Ein konstitutionell verankertes Widerstandsrecht gibt es weltweit nur in Deutschland und Portugal. 16 Wolfgang Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, 3. Aufl., Gütersloh 2006, S. 488. 12

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die verfassungsrechtlichen Bedingungen und Grenzen von Herrschaftsgewalt. Eine Kriteriologie bezüglich der Ausübung des Rechts auf Widerstand bietet das römischkatholische „Kompendium der Soziallehre der Kirche“: Widerstand ist da geboten, wo Grundrechte schwerwiegend und dauerhaft verletzt werden und wo andere Mittel erschöpft sind. Durch den Widerstand darf keine noch schlimmere Unordnung entstehen und es muss eine realistische Aussicht auf Erfolg bestehen. Es darf schließlich keine bessere Lösung als die des Widerstandes (ius resistendi activum) abzusehen sein, auch wenn zu bedenken bleibt, dass passives Widerstandsrecht (ius resistendi passivum) aktivem vorzuziehen ist.17 Eine solche Kriteriologie wird auch im Anschluss an die Untersuchung der Widerstandsrechtslehre des Althusius vorliegen. Wichtig ist, dass Widerstand ein Relationsbegriff ist, dessen Gegenbegriff Herrschaft ist: „Herrschaft stiftet zwar Ordnung und setzt Recht“, die Herrschenden sind „aber zugleich an die Ordnung und das Recht gebunden“: „Wo sie gegen Recht und Ordnung verstoßen, verlieren sie das Recht zu herrschen und die Beherrschten die Pflicht zum Gehorsam. In der Konsequenz ist Widerstand zulässig, wenn nicht sogar geboten“, so Daase.18 Wenn nun das Recht zum Widerstand von der Herrschaftsausübung der Regierenden abhängt, ergibt sich daraus, dass sowohl die Beziehung zwischen Herrscher und Beherrschten, als auch das Verhältnis von Widerstand und Herrschaft zu analysieren ist. Eine sozial- und ideengeschichtliche Rekonstruktion des ius resistendi ist dazu nötig. Der Fokus liegt auf der Widerstandsrechtslehre des reformierten Juristen Johannes Althusius (1557/63 – 1638), der zum einen ein ständisches Widerstandsrecht entwickelt hat und zum anderen als „Systemvollender“19 monarchomachischer Widerstandslehren gilt. Inwiefern sein Konzept dazu geeignet ist, nicht nur fürstlichen Absolutismus, sondern auch führeraffinen Postdemokratismus in seine verfassungsgemäßen Schranken zu weisen, mag am Schluss kurz erläutert werden. Nicht zu vergessen ist hierbei allerdings, dass die theologischen Begründungsmuster seines ius resistendi einer eingehenderen Kritik bedürfen (III).

B. Die Althusianische Widerstandsrechtslehre in ihrem historischen und systematischen Zusammenhang Als Althusius 1604 im ostfriesischen Emden ankommt, um dort seine Arbeit als Syndikus aufzunehmen, tobt in der Stadt ein heftiger Ständekampf. Er bildet den engeren zeitgeschichtlichen Horizont seiner Widerstandslehre, die schon in der ersten 17 Vgl. Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden (Hrsg.), Kompendium der Soziallehre der Kirche, Freiburg i.Br. 2006, S. 289. 18 Daase, Widerstand (Anm. 12), S. 3. 19 Stefan Bildheim, Calvinistische Staatstheorien. Historische Fallstudien zur Präsenz monarchomachischer Denkstrukturen im Mitteleuropa der Frühen Neuzeit (Europäische Hochschulschriften 3), München 2000, S. 371.

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Auflage der „Politica“20 (1603) angelegt, aber erst 1610 in der zweiten sowie 1614 in der dritten, heute als verbindlich angesehenen Auflage der „Politica“ systematisch entwickelt ist. Der weite Horizont seiner Überlegungen ist die Niederländische Revolution. John Witte hat bemerkt, dass Althusius’ Werk weniger für seine Zeitgenossen, als vielmehr für die Zeit(en) nach ihm geschrieben worden ist, denn Althusius generiert eine Synthese verschiedenster Rechts- und Politiktraditionen und zielt damit auf eine „Totaltheorie“ der Rechts- und Politikwissenschaft, denn als Anführer einer „Reformation der Rechte“ haben seine Schriften nachhaltigen Einfluss auf niederländische und „calvinistische“21 Denker gehabt.22 Bevor nun auf seine Widerstandsrechtslehre einzugehen ist, ist kurz auf diesen doppelten Zeitgeschichtsbezug zu rekurrieren. Im Mittelpunkt stehen neben den historischen Ereignissen die Begründungsmuster des ständischen Widerstandes. I. Die Niederländische Revolution und die Genese eines ius resistendi activum In Ostfriesland kulminierte der Dualismus von Landesherr und Landständen zu einem Zeitpunkt, zu dem sich diese Auseinandersetzungen fast überall zugunsten der Landesherrn zu entscheiden begannen. Emdens periphere Lage begünstigte die Einflussnahme auswärtiger Mächte wie der niederländischen Generalstaaten, Englands und Dänemarks.23 Im 16. Jahrhundert war Emden zu einem wichtigen wirtschaftlichen Zentrum aufgestiegen. Das hing mit der Niederländischen Revolution zusammen. Ein Hauptargument für diese Revolution war, dass Philipp II. sich nicht an Verträge halte, sodass die niederländischen Provinzen Holland und Zeeland sich auf die Rechte der Natur wie Selbstverteidigung und Vaterlandsfreiheit beriefen.24 Anfangs arbeiteten die Stände noch mit dem König zusammen: „Charakteristisch für den calvinistischen Kooperationswillen in dieser Phase des Konflikts [sc. eines Bildersturmes, in dessen 14 tägigen Verlauf es in Tournai, Valenciennes, Gent, Antwerpen etc. zu Kirchenplünderungen und Bilderstürzen kam] ist nun, daß noch im Oktober 1566, also knapp zwei Monate nach den Unruhen, die Antwerpener Calvinisten Philipp II. drei Millionen Gulden anboten, damit er ihnen so lange freie Religionsausübung gewähre, bis von einem freien Konzil die Religionsfrage geklärt worden sei. Aber auch die Opposition unter Wilhelm von Oranien, die vom deutschen Exil aus das Terror-Regime 20 Wir halten uns hier an folgende Ausgabe der „Politica“: Johannes Althusius, Politica methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata, 2. Neudruck der 3. Auflage, Herborn 1614, Aalen 1981 (abgekürzt: Althusius, Politica). 21 Da für Eberhard Busch, Reformiert. Profil einer Konfession, Zürich 2007, S. 12 die Begriffe „calvinistisch“, „Calvinist“ und „Calvinismus“ „polemische Fremdbezeichnungen“ sind, werden sie im Folgenden in Anführungszeichen gesetzt. 22 John Witte, Die Reformation der Rechte. Recht, Religion und Menschenrechte im frühen Calvinismus (Theologische Anstöße 8), Neukirchen-Vluyn 2015, S. 150 – 156. 23 Vgl. Katharina Odermatt, Die Biographie und ihre Deutungsmuster, o.O. o. J., S. 16 (unveröffentlichtes Manuskript). 24 Witte, Reformation der Rechte (Anm. 22), S. 143 f. (Hervorhebung D.S.).

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Dennis Schönberger des Herzogs von Alba durch bewaffnete Intervention zu stürzen versuchte, schloß nicht von vornherein eine Versöhnung mit dem König aus. In seiner ,Warnung an die Einwohner der Niederlande‘ vom 1. September 1568 betont Wilhelm von Oranien, er und seine Anhänger hätten es immer als ihr höchstes Ziel angesehen, nur Gott, dem König und dem Land treu zu dienen. Eine Vertrauenskrise sei nur entstanden, weil sich der König in Spanien mit Beratern umgeben habe, die ihm aus eigensüchtigen Motiven ein völlig falsches Bild von seinen loyalen Untertanen vermittelten.“25

Erst Wilhelm von Oranien rechtfertigte den bewaffneten Widerstand gegen die „verbrecherischen Praktiken der Verfälscher des königlichen Willens“, denn „sowohl der König als auch die Untertanen des Landes“ hatten sich „durch einen formalen Vertrag und einen feierlichen Eid verpflichtet“, dass sie „die alten Rechte und Privilegien aufrechterhalten und schützen“. Untertanen waren Herrschern so lang verpflichtet, wie diese die Bedingungen jenes Vertrages einhielten.26 Diese Argumentationsmuster finden sich in Manifesten und Pamphleten wieder, die nach dem erfolgreichen Aufstand Hollands und Zeelands veröffentlicht werden. Ein neues Element tritt 1574 in einem Manifest der Stände von Holland und Zeeland hinzu: Sie „unterscheiden zwischen dem König als Person, dessen Souveränität zweifelhaft geworden ist, weil er als Kreatur der Inquisition erscheint, die ihn an der Verwirklichung seiner wahren Pläne hindert und sehen den König als Institution, die, von ihrem konkreten Träger gelöst, Souveränität im Dienste des Schutzes der in der Verfassung verankerten Privilegien, Rechte und Freiheiten ausübt“.27 Adriaen de Jonghe (1511 – 1575) argumentiert: „Die Völker haben ihre Macht den Königen übertragen, um von diesen nach den Normen der Gerechtigkeit regiert zu werden. Diese Prämisse vorausgesetzt, besitzen die Stände das Recht zusammenzutreten.“ „Die legitime Macht der Könige ruht […] in der Ständeversammlung, die im Gemeinwesen denselben Platz einnimmt wie das Konzil in der Kirche.“28 Diese Reflexionen leiteten und legitimierten die politische Praxis der oppositionellen Kräfte der nördlichen Provinzen: „Im Juli 1575 erörterten sie zum ersten Mal den Vorschlag, ob es nicht notwendig sei, sich einen neuen Souverän als Garanten der Verfassung zu suchen, nachdem Philipp II. zum Tyrannen geworden war. Am 13. Oktober 1575 beschließen sie einstimmig die Loslösung von der spanischen Krone und bieten gleichzeitig Elisabeth I. von England die Souveränität an, die freilich ablehnte. Dieser in den aufständischen Provinzen zu beobachtende Prozeß der Radikalisierung, in dessen Verlauf sich bei den Ständen die Auffassung durchsetzte, die Souveränität müsse zwar mit einem Herrscher geteilt werden, aber so, daß die Stände den entscheidenden Anteil an ihr kontrollieren, wurde nach dem Zusammenbruch der spanischen Zentralgewalt in den Niederlanden 1576 zunächst zurückgenommen […].“29 25

Richard Saage, Herrschaft, Toleranz, Widerstand. Studien zur politischen Theorie der Niederländischen und der Englischen Revolution. Mit einem Vorwort von Walter Euchner, Frankfurt am Main 1981, S. 29. 26 Saage, Herrschaft (Anm. 25), S. 29 f. 27 Vgl. Saage, Herrschaft (Anm. 25), S. 30. 28 Saage, Herrschaft (Anm. 25), S. 30 f. 29 Saage, Herrschaft (Anm. 25), S. 31.

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Die Loyalität gegenüber dem König konnte auf Dauer die tiefgreifenden Interessenunterschiede innerhalb der Generalstände nicht verdecken. Eine Polarisierung der Generalstände in zwei Lager war die Folge: Die von Wilhelm von Oranien geführten antispanischen Kräfte auf der einen und das loyale katholische Lager, das, „vom feudalen wallonischen Hochadel geleitet, eine vollständige Versöhnung mit dem König anstrebte“, auf der anderen Seite.30 Angesichts dieser Polarisierungen begannen die Argumente des oranischen Lagers und der Generalstände deutliche Umrisse anzunehmen: Don Juan habe die Stellung der Generalstände missverstanden, denn deren Funktion sei die Repräsentation des Volkes: „Sie zu erfüllen, seien sie nicht nur von Menschen, sondern auch von Gott eingesetzt worden. Die Generalstände leiten aus dem göttlichen Ursprung der Verfassung und aus ihrem repräsentativen Charakter ab, daß der Souverän auch in der Entscheidung über Krieg und Frieden von ihnen abhängig sei.“31 Damit wurde der Rahmen des passiven Widerstandes auf der Ebene der Legitimation durchbrochen. Wie Richard Saage richtig betont, waren die Generalstände unter dem Einfluss der Calvinisten im oranischen Lager dazu übergegangen, „die ,Joyeuse Entrée‘ im Medium der Theorien der calvinistischen Monarchomachen zu interpretieren“.32 Nicht als „Haupt“33, wohl aber als Systemvollender der Monarchomachen nimmt Althusius die in den Generalstaaten kursierenden Argumente auch für den Emder Ständekampf auf. II. Althusius im Emder Ständekampf: Gehorsamsverweigerung und Scheitern eines Widerstandsrechts Der Emder Ständekampf lässt sich insofern in den Rahmen der Niederländischen Revolution einordnen, als dass er mikrokosmisch das abbildet, was sich makrokosmisch in den Generalstaaten ereignet: Der Handel mit den großen Häfen Antwerpen und Amsterdam brach zusammen und verlagerte sich nach Emden. In dieser Zeit flüchteten viele „Calvinisten“ in die Stadt und trugen zur Festigung des reformierten Bekenntnisses bei. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts begann das Ringen um eine möglichst weitgehende Unabhängigkeit vom landesherrlichen Grafenhaus; der Konflikt wurde durch die konfessionelle Zweiteilung der Grafschaft verschärft: Der Osten und das Grafenhaus hatten das lutherische Bekenntnis angenommen und im Westen unter der Führung Emdens hatte sich der „Calvinismus“ durchgesetzt. Die Spannungen zwischen Grafenhaus und Stadt eskalierten in der Emder Revolution

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Saage, Herrschaft (Anm. 25), S. 32. Saage, Herrschaft (Anm. 25), S. 33. 32 Saage, Herrschaft (Anm. 25), ebd. 33 Dieter Wyduckel, Althusius und die Monarchomachen, in: Bonfatti, Emilio/Duso, Giuseppe/Scattola, Merio (Hrsg.), Politische Begriffe und historisches Umfeld in der Politica methodice digesta des Johannes Althusius (Wolfenbütteler Forschungen 100), Wiesbaden 2002, S. 136 – 138. 31

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(1594 – 1596).34 In ihr agierte eine Widerstandsbewegung, die eine antigräfliche Front bildete und eine ständisch-politische wie konfessionell-kirchliche Opposition besaß: „Die ständische Bewegung erhielt durch den Calvinismus entscheidende Impulse, wie umgekehrt der Calvinismus in dem von alters her in Ostfriesland lebendigen genossenschaftlichen Denken in Politik und Kirche einen günstigen Nährboden fand.“35 Nach Absetzung des Grafen wurde eine neue Ratsverfassung eingeführt und ein Syndikatsamt errichtet. Das rief Generalstaaten und Kaiser auf den Plan, wobei die Generalstaaten sich als Schutzmacht Emdens sahen und einen Vertrag veranlassten, der der Stadt eine neue Ratsverfassung und sämtliche überlieferte Privilegien bestätigte. Trotz zahlreicher Verträge kehrte in die Grafschaft zu Beginn des 17. Jahrhunderts kein Frieden ein. Emdens Politik war durch zunehmende Radikalisierung gekennzeichnet und Graf Enno III. betrieb einen Handelskrieg gegen die Stadt.36 Der ständische Konflikt mit dem Grafenhaus bildet den sozialgeschichtlichen Hintergrund, vor dem Althusius wirkt und zu einer konzeptionellen Weiterentwicklung seiner „Politica“ gelangt: Zusammen mit Ubbo Emmius (1547 – 1625) entwirft er zwischen 1605 und 1609 mehrere Streitschriften gegen das ostfriesische Grafenhaus. Gründe sind wirtschaftliche Probleme, rechtliche Argumente und ständische Privilegien, die es zu verteidigen gilt. Unter den Streitschriften hervorzuheben sind die „Vindiciae iuris populi contra usurpationem iniquam“ (1608), wo zu Gehorsamsverweigerung gegenüber dem Grafen aufgerufen und dieser des Vertragsbruchs bezichtigt wird. Die Bedeutung des Mandatsvertrags zwischen Herrscher und Volk auf der einen, Herrscher Gott und Volk auf der anderen Seite, ist im Folgenden noch genauer zu untersuchen. Das Anliegen dieser apologetischen Schrift ist in ihrer Bedeutung für die „Politica“ nicht zu unterschätzen und muss darum kurz erläutert werden. Zum Verständnis der Gehorsamsverweigerung ist die clausula Petri zentral: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5,29). Die Struktur des biblischen Gehorsamsbegriffs besteht in der „gehorsame[n] Ausrichtung auf den Namen und die Wahrheit Jesu“, die frei macht „von blindem G[ehorsam] gegenüber menschlichen Autoritäten“.37 Althusius und Emmius teilen diese Überzeugung, als sie sich gegen das Grafenhaus stellen. Althusius’ Widerstandsrechtslehre enthält mehrere Verweise auf die clausula Petri. In anderen Kapiteln der „Politica“ lassen sich aber gegenläufige Aussagen finden, die als Zustimmung zum Untertanengehorsam gelesen werden können. In der Genese seines Hauptwerks sind inhaltliche Diskontinuitäten zu vermerken, was mit der Entstehungssituation der „Politica“ zu tun hat, deren Ausgangspunkt die Herborner Hohe Schule ist, an der Althusius Philosophie und Recht liest und als Berater der nassauischen Grafen tätig ist, während er in Emden als Syndikus arbeitet und für die Unabhängigkeit der Stadt eintritt. Diese Umstände sind für 34

Vgl. Odermatt, Biographie (Anm. 23), S. 16. Bildheim, Calvinistische Staatstheorien (Anm. 19), S. 251. 36 Vgl. Odermatt, Biographie (Anm. 23), S. 16 f. 37 Jan Milicˇ Lochmann, Art. Gehorsam 1 – 3.6, in: EKL 2 (1989), S. 34. 35

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die Frage nach dem Untertanengehorsam wichtig. In „De promissione obsequiorum & homagio“ heißt es: „Obsequiorum & obedientiae promissio, quae electionem & inaugurationem sequitur, est, qua membra regni, seu populus per ephoros suos, & ephori suo nomine, magistratui demandatam administrationem Reip[ublicae] suscipienti, & pie ac juste imperaturo, officiumque suum facturo, promittunt in iis, quae nun pugnant cum lege Dei, & jure regni, fidem, obedientiam, obsequium, & quaecunque ad regni administrationem illi necessaria sunt futura.“38

Was den Eid der Untertanen gegenüber dem Magistrat angeht, heißt es wenige Zeilen später: „Juramentu hoc, quod magistratus primum subditis jurat, & deinde subditi magistratui praestant […] vocatur proprie homagium, ab bloO quod est simul, & ûciom sacrum, quasi commune sit sacrum, seu commune juramentum. Qui juramentum hoc praestiterunt, vocantur subditi fideles, Germanice liebe/getreue und gehorsame unterthanen.“39

Althusius geht in der Frage nach der Reichweite des Untertanengehorsams noch einen Schritt weiter und meint: „Obedientia est obsequium, quod aequis magistratus est praestandum […]. Licet magistratus impius & sceleratus sit homo.“40 Selbst einem gottlosen und kriminellen Herrscher gebührt Gehorsam, obwohl Althusius mit Verweis auf Röm 13,2 beteuert, dass ungerechte Herrscher unter der göttlichen Strafandrohung stehen. Damit ergibt sich alles in allem ein doch recht zwiespältiges Bild. Nichtsdestotrotz bleibt Althusius der Ansicht, dass einem Tyrann jede Art der Gefolgschaft aufzukündigen und dieser aus seinem Amt zu entfernen ist, treu und schreibt: „Quod si vero Magistratus summus fidem datam non servet, neque secundum promissionem administret regnum, tum hujus fidei violatae & ruptae vindex est regnum, seu ejus nomine proceres & ephori, atque tum concessum est populo, formam priorem politiae & Reipub. suae mutare, abrogare, & novam constituere.“41

Wenn Althusius so weit geht, dass er argumentiert, dass das Volk nach Beseitigung des Tyrannen die frühere Form seiner Verfassung des Gemeinwesens ändern, abschaffen und neu begründen kann, ist eine konstitutionelle Stoßrichtung auszumachen, die über die mittelalterliche Tradition hinausgeht. Das hängt damit zusammen, dass Althusius aus der spätmittelalterlichen Tradition ein weiteres, vom neutestamentlichen Befund unterschiedenes Verständnis von Gehorsam bekannt ist: die Ge38

Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XX, § 1. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XX, § 5 (Hervorhebung im Original). 40 Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XX, § 11: „Nam vitia personae non tollunt officium illius & qui magistratum contemnit, Deum spernit. […] Impiis tamen mandatis magistratus obedientia non est praestanda“ (Althusius, a.a.O., §§ 11 – 12). Gottlosen Weisungen ist jedoch nicht Folge zu leisten. 41 Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XX, § 20. Er verweist an dieser Stelle auf Kap. XXXVIII und auf die Fragen, auf welche Weise, wann und von wem einem Tyrannen Widerstand zu leisten ist. 39

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horsamslehre des hl. Ignatius von Loyola (1491 – 1556), dessen Einfluss auf die katholische Theologie des 17. und 18. Jahrhunderts äußerst bedeutsam war (Synthese aus dem mönchischen Ordensgehorsam und aus dem Kirchengehorsam). Dazu so viel: Die institutionalisierte Illustration des Gehorsamsbegriffs des Ignatius von Loyola erscheint im „vierten Ordensgelübde“42, durch das Ignatius sich eine neue Verlebendigung des christlichen Daseins und Denkens, eine starke Betonung des Amtspriestertums und der Hierarchie und eine Angleichung der hierarchischen Struktur an ein mystisch-religiöses Gehorsamsideal erhoffte. Dabei kommt es erstmalig zur Unterscheidung zwischen Verstandes- und blindem Gehorsam: Wenn er vom Gehorsam als von einer Grundeinstellung des Willens spricht, vertritt Ignatius einen „ekklesiologisch-mystische[n] Standpunkt“, wonach der „Obere“ ein „indirekter Vertreter Christi“ ist. Damit gelangt er zu drei Graden von Gehorsam: der erste Grad umfasst die einfache Ausführung von Befehlen, der zweite das Sich-zu-eigen-Machen des Willens des Oberen durch den Unteren und der dritte die Unterwerfung des eigenen Intellekts unter den des Oberen, was einer asketischen Dimension des Gehorsams (Demut) entspricht (vollkommen).43 Althusius hat einen Gehorsamsbegriff entwickelt, der der Skylla des blinden Gehorsams und der Charybdis eines anarchischen Ungehorsams entgeht. Gehorsam ist ein situativer Begriff, der da aufgekündigt werden muss, wo (verabsolutierte) Macht an die Stelle von Recht tritt. Das ist in der Tyrannis der Fall, bei der Gewalt über Recht (Hab 1,3) geht. Althusius setzt adligem Despotismus, der Machtmissbrauch und Rechtsunsicherheit evoziert, ein Verständnis von Herrschaft entgegen, dass Herrscher als Diener und nicht als absolute Souveräne begreift. Was Althusius’ Auseinandersetzung mit dem Grafenhaus anbelangt, ist festzuhalten, dass Enno III. 1607, obwohl die Finanzhoheit über Ostfriesland seit einem Jahr bei den Ständen liegt, eigenmächtig Steuern ausschreibt. Zur gleichen Zeit werden 600 Seeleute auf spanische Galeeren verschleppt, weil die Spanier Emden als Verbündeten der Generalstaaten betrachteten. Althusius bemüht sich um Anerkennung der Neutralität der Stadt und um die Freigabe der konfiszierten Schiffe. Der Graf dagegen forderte die Entlassung der Garnison als Gegenleistung für sein Bemühen, Emden gegen spanische Truppen zu schützen und den Neutralitätsanspruch bei fremden Mächten zu unter42

1540 bestätigte Papst Paul III. (1468 – 1549) die Regel des Jesuitenordens, wonach jeder Jesuit wie folgt zu leben hatte: (1.) hatte er gegenüber dem Papst und seinen Nachfolgern unter dem Banner des Kreuzes Gott Kriegsdienste zu leisten, (2.) Christus und Papst als Haupt und Stellvertreter Christi auf Erden zu dienen sowie Gott und den Zweck des Jesuitenordens vor Augen zu haben, (3.) ein Keuschheits- und Armutsgelübde abzulegen und ohne Zögern auszuführen, was der gegenwärtige oder spätere Papst zum Nutzen der Seelen und zur Ausbreitung des Glaubens befahl, (4.) den Glauben durch Predigten und Dienst am Wort auszubreiten, Türken, Ungläubige, Häretiker, Schismatiker und bestimmte Gläubige zu missionieren, Kinder und Ungebildete geistlich zu unterweisen, Gläubige im Beichthören zu trösten, Geweihte zum Breviergebet anzuhalten, auch wenn sie keine kirchlichen Prüfungen oder Einkünfte hatten und (5.) zufrieden mit dem Nutzungsrecht der Stiftungen zu sein, so Heiko A. Obermann (Hrsg.), Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen III, übers. v. Volker Leppin, 5. Aufl., Neunkirchen-Vluyn 2004, S. 250 f. 43 Alberto Bondolfi, Art. Gehorsam 4 – 5, in: EKL 2 (1989), S. 32 ff.

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stützen. Der städtische Magistrat wollte die Garnison aber nicht aufgeben, da er sie zur Verteidigung gegen die Spanier und zur Suppression innerstädtischer Unruhen brauchte. Althusius glaubt, die Politik Emdens mithilfe der Generalstaaten weiterführen zu können, muss aber erkennen, dass seine Hoffnungen schwinden, weil die Niederländer und die Spanier Waffenstillstandsverhandlungen aushandeln.44 Der zwölfjährige Waffenstillstandsbeschluss von 1609 verändert die geopolitische Lage Emdens grundlegend. Enno III. will für den Herbst 1609 einen Landtag in Aurich einberufen, jedoch lässt der Emder Magistrat die Landtagsausschreibung abreißen und durch eine Apologie ersetzen, die den Landtag als rechtswidrig darstellt. Es kommt zu einer offenen Drohung durch das Anrücken von 600 Mann vor die Emder Garnison. Dabei stürmen Truppen Ennos Stammburg und verschleppen von dort Akten, was sich als katastrophal für das Ansehen Emdens herausstellt: Der Waffenstillstand zwischen Spanien und den Generalstaaten sowie eine persönliche Annäherung zwischen Johan van Oldenbarneveldt (1547 – 1619)45, dem Landesadvokaten der holländischen Stände, und Graf Enno III. verschlechtern Emdens Position zusehends.46 Die Begrenzung des politischen Handelns Emdens wurde 1610 daran deutlich, dass sich die Generalstaaten mit Spanien auf eine konziliante Politik einigten; Althusius’ und Emmius’ Forderungen nach einem Widerstandsrecht scheiterten am Widerspruch der Generalstaaten. 1611 kam es zur Beendigung des Ständekampfs und zu einem Kompromiss unter der Führung der Generalstaaten.47 Dabei wollte Althusius das ständische Widerstandsrecht zum integrativen Bestandteil des positiven Rechts in Ostfriesland erheben. Er scheiterte.48 In dem Kontext sind seine Ausführungen zu einer ständisch konzipierten Widerstandsrechtslehre zu verstehen, die wir im Folgenden genauer unter die Lupe nehmen werden. Methodisch schwebt uns dabei ein an ideengeschichtlichen Zentralaspekten orientierter Durchgang vor. 1. Herrschaft als Auftrag zur Verwaltung des Gemeinwesens Althusius’ Konzeption eines ius resistendi liegt in seiner systematischen Endgestalt in Kapitel 38 der „Politica“ vor und begreift dieses Kapitel als Gegenbild zu den 37 vorangehenden Kapiteln. Hier unterscheidet Althusius zwischen dem Wesen tyrannischer Herrschaft und den Mitteln, tyrannische Herrschaft zu beseitigen. Bevor die Widerstandslehre zu analysieren ist, soll darum vorher das Verständnis von Herrschaft herausgearbeitet werden. Laut „De natura & affectione Imperii duplici“ (Kapitel 24) ist den Untertanen Herrschaft verhasst, da sie seitens der Herrschenden in Zügellosigkeit, Sorglosigkeit, 44

Vgl. Odermatt, Biographie (Anm. 23), S. 20 f. Vgl. Friso Wielenga, Geschichte der Niederlande, Stuttgart 2016, S. 61 – 63. 46 Vgl. Odermatt, Biographie (Anm. 23), S. 21. 47 Vgl. Odermatt, Biographie (Anm. 23), S. 23. 48 Bildheim, Calvinistische Staatstheorien (Anm. 19), S. 260.

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Stolz, Zerrüttung und Untergang umschlagen kann49, während sie bei den Untertanen auf Widerwillen und Ungehorsam stößt50. Althusius ist der Überzeugung, dass Herrschaft je nach ihrer Eigenart und Größe wandelbar und zweiseitig ist.51 Wir haben es in diesem Definitionsversuch von „imperium“ nicht mit einer statischen Größe, sondern mit einer dynamischen Bestimmung zu tun: „Una subditis grata & laudabilis: altera exosa, invisa & gravis: utriusque notitiam habere & causas scire, magistratus maxime interest, ut illam, quantum potest, consectetur: hanc contra summe fugiat & vitet.“52 Althusius deutet ,imperare‘ als ,benevolentia‘ und ,clementia‘: „Gratum, acceptum & laudabile imperium subditis redditur a magistratu, quando benevolentia & reverentie affectum apud subditos excitat & fovet, vel opinionem de se praeclaram apud subditos sibi conciliat & retinet.“53 Zuneigung verschafft sich der Herrscher bei seinen Untertanen dadurch, dass er Milde, Menschenfreundlichkeit und Nachsicht übt und sich bemüht, sich um das Gemeinwesen verdient zu machen und so bedeutet Milde eine ausgleichend ruhige Herrschaftsweise: Untertanen können weder absolute Knechtschaft noch Freiheit ertragen, denn sie sind daran gewöhnt zu gehorchen, was nicht mit Knechtsdienst zu verwechseln ist, sodass sich gemäßigte Unterordnung und Freiheit, Ruhe und Treue einstellen.54 Bei der temperantia schließt Althusius an Johannes Calvin (1509 – 1564) an.55 Althusius ist darum bemüht, herrscherliche Strenge und Milde in Einklang zu bringen, was die folgenden Ausführungen belegen: „Sed ne indulgentia & clementia hac populus abutatur, necesse est, ut cum majestate & metu oboedientiae temperetur. Desiderat enim populus suam libertatem cum potestate principali temere confundere & aequare. […] Ideoque non reverentia ex terrore, neque ex humilitate amor captandus est. Nimia enim libertas non est libertas, sed soluta licentia. In poena a sceleratis sumenda, ut opinione lenitatis magistratus conservet, observabit, ut tarde ad eam veniat; nam civitatis mores malos magis parcitas animadversionum corrigit. Deinde ad eam nunquam veniat, nisi quoties id fieri publica utilitas suadet. Tertio, ut ad exemplum eam, non ad ultionem referat. Quarto, ad dolorem, non delectationem & gaudium actum hunc poenae referat. Quinto, ut poenae justae & meritae, sedundum leges & morem infernatur. Sexto, sine respecto personarum, ne iisdem de causis alii plecantur, alli non, vel mitius. Septimo, suppliciorum exsecutionem allis mandet, ipsemet illorum non sit spectator. Non tamen semper rigide puniat. Nam severitas amittit assiduate aucoritatem; & nescio quo obnitendi vitio saepe committantur, quae saepe vindicantur, ut dicit Senec[a] 1.de clem. Temperatus timor est, qui cohibet, assiduus & acer in vindicam excitat, & auget inimicorum numerum.“56 49

Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXIV, §§ 4 – 5. Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXIV, § 6. 51 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXIV, § 7. 52 Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXIV. § 14. 53 Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXIV, § 15. 54 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXIV, §§ 17 – 18. 55 Vgl. Dennis Schönberger, Gemeinschaft mit Christus. Eine komparative Untersuchung der Heiligungskonzeptionen Johannes Calvins, John Wesleys und Karl Barths (Forschungen zur Reformierten Theologie 2), Neukirchen-Vluyn 2014, S. 235 – 238. 56 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXIV, §§ 21 – 23 (Hervorhebung im Original): „Damit das Volk aber Nachsicht und Milde nicht missbraucht, muss es mit Erhabenheit und 50

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Um gerechte Herrschaft zu gewährleisten, tritt neben die Zurückhaltung der Herrscher die maßvolle Furcht der Untertanen. Althusius sieht zwischen rechtmäßiger Strafgewalt und politischer Fürsorge keinen Widerspruch, da Herrschaft Auftrag ist57 und Herrscher treue Verwalter und Verteidiger der Rechte des Reiches sind58. Das zeigt, dass Souveränität nicht beim Herrscher, sondern beim Volk liegt und dass bestimmte Volksvertreter Träger souveräner Gewalt sind. Die Einsetzung des Herrschers ist ein Rechtsakt und die Beziehung zwischen Herrscher und Untertanen ein Auftragsverhältnis.59 „Das war“, so Dieter Wyduckel, „konsequent gedacht, ließ es sich vor allem auf die These von der ursprünglichen Herrschaftsgewalt des Volkes Furcht zum Gehorsam geführt werden. Denn das Volk verlangt unbesonnen danach, seine Freiheit mit der Herrschaftsgewalt zu vermengen und beide anzugleichen, vgl. Dig. 1.18.19. Deshalb darf man Ehrerbietung nicht durch Zwangsherrschaft zu erreichen suchen, noch Liebe durch Erniedrigung. Allzu große Freiheit ist nämlich keine Freiheit, sondern zügellose Beliebigkeit. Um den guten Ruf der Milde zu erhalten, wird der Magistrat darauf achten, sich nicht vorschnell zur Bestrafung von Verbrechern zu entschließen. Denn bei der Auferlegung von Strafen kann Zurückhaltung schlechte Sitten der Bürgerschaft eher bessern. Ferner soll er nur dann zu einer Bestrafung kommen, wenn der öffentliche Nutzen dies ratsam erscheinen lässt. [… Übersetzung fehlt] Dennoch wird der Magistrat nicht immer unnachgiebig strafen. Denn Strenge verliert durch häufige Wiederholung an Autorität und vielleicht gehen aus dem Bestreben, dem Verbrechen Widerstand zu leisten, häufig neue Taten hervor, die wiederum oft bestraft werden, wie Seneca, De clementia, 1 sagt. Eine maßvolle Furcht ist es, die in Schranken hält, eine ständige und heftige hingegen reizt zur Widersetzlichkeit und mehrt die Zahl der Feinde.“ (Übersetzung aus Johannes Althusius, Politik. Übersetzt von Heinrich Janssen. In Auswahl herausgegeben, überarbeitet und eingeleitet von Dieter Wyduckel, Berlin 2003). 57 Guiseppe Duso, Herrschaft als gubernatio in der politischen Lehre des Johannes Althusius, in: Bonfatti, Emilio/Duso, Guiseppe/Scattola, Merio (Hrsg.), Politische Begriffe und historisches Umfeld in der Politica methodice digesta des Johannes Althusius (Wolfenbütteler Forschungen 100), Wiesbaden 2002, S. 13 – 33 kommt es darauf an, Althusius‘ Herrschaftsverständnis vom modernen, durch Max Weber geprägten Machtbegriff zu lösen, um die ideengeschichtliche Besonderheit des Begriffs in seinen unterschiedlichen Facetten hervorzuheben: Der Zusammenhang zwischen Herrschaft und Souveränität und der Begriff von Herrschaft als politische Macht „sind dem Denken Althusius’ nicht nur fremd, sondern geradezu im Widerspruch zu seiner Vorstellung von Politik und zwischenmenschlichen Beziehungen entstanden. […] Wenn man den Bereich der Herrschaft – im Sinne des Verhältnisses von Befehl und Gehorsam – als universalen Bereich des menschlichen Handelns versteht, verewigt und erweitert man etwas, das eigentlich nur innerhalb der Vorgaben der neuzeitlichen politischen Wissenschaft sinnvoll ist“ (Duso, a.a.O., S. 14 f.). „Das imperium, auf das wir bei Althusius‘ Schriften stoßen, bleibt unverstanden, wenn man es mittels des modernen Herrschaftsbegriffs auslegt. Um es zu verstehen, muss man den Bezug des imperium auf die gubernatio anerkennen […]“ (Duso, a.a.O., S. 16 f.). Die „Politica“ hebt in der Herrschaftsfrage auf die komplexe und vielfältige Wirklichkeit der ständischen Gesellschaft ab (vgl. Duso, a.a.O., S. 17). „Die diversitas ist das wesentliche Element des sozialen Lebens, so wie sich in der musikalischen Metapher die Melodie aus verschiedenen Noten zusammensetzt. In diesem Zusammenhang ist auch das Wesen des imperium zu verstehen, dessen Bedeutung aus den im 1. Kapitel der Politica oft verwendeten Verben regere und gubernare erhellt [wird]“ (Duso, a.a.O., S. 20). 58 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXIV, §§ 35. 59 Vgl. Wyduckel, Monarchomachen (Anm. 33), S. 139 f.

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rückbeziehen und übertrug das dem römischen Recht entlehnte Mandatsverhältnis in die Sphäre politischer Herrschaft.“60 Wie wir in „De natura & affectione Imperii duplici“ bisher sehen konnten, geht Althusius konzeptionell über die älteren Monarchomachen hinaus, indem er eine funktionale Verbindung von Herrschaftsgewalt, Recht und Gemeinwesen herstellt. Laut Wyduckel, der voraussetzt, dass die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates zu verstehen ist, sind bei Althusius Ansätze eines konstitutionellen Denkens auffindbar, das auf die Begründung und Begrenzung herrschaftlicher Gewalt zielt.61 Einschränkend merkt er jedoch an: „Die diesbezüglichen Regeln sind […] nicht hinreichend deutlich von den einfachen Gesetzen geschieden, so dass nur mit gewissen Vorbehalten von einer spezifisch verfassungsrechtlichen Ebene die Rede sein kann.“62 Eine weitere Möglichkeit, sich als Herrscher seinen Untertanen gegenüber verdient zu machen, ergibt sich noch daraus, dass der Magistrat darum eingesetzt wurde, um dem Volk zu nutzen. Er ist „tutor ob pupillum, pastor ob gregem, non contra“63. Mit Verweis auf den spanischen Juristen Fernando Vázquez de Menchaca (1512–1569) betont Althusius, dass ein Hirte um seiner Herde willen da ist und also nicht umgekehrt, was laut Vásquez die gemeinsame Ansicht aller Theologen, Philosophen und Juristen sei, denn das Reich bestehe nicht des Königs, sondern der König des Reiches wegen.64 Abgeschlossen wird Althusius’ Verständnis vom Wesen der Herrschaft dadurch, dass er von einer dreifachen Bindung des Magistrats ausgeht: seiner Bindung an den Dekalog, an die bürgerlichen Gesetze des Reiches und an die Souveränitätsrechte: „[Ad] quas, tanquam ad cynosuram, normam et regulam, omnia negotia administrationis suae referre debet, uti diximus in cap.2 l.sub.num.17. Unde magistratus lex viva, exsecutor, custos & minister legis dicitur, qui nihil nisi lege jubente velit, faciat, vel omittat, ut recte dicit Vasq.c.14.d.lib.1.“65

Die Bindung des Herrschers an Gottes Gesetz dient dazu, absoluter Herrschaftsgewalt zu wehren, denn diese ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich über die natürlichen und die göttlichen Gesetze stellt. Althusius verweist hierzu auf Augustinus: „Was anders sind also Reiche, wenn ihnen Gerechtigkeit fehlt, als große Räuberbanden“66 und sagt zu Dtn 17,15 – 2067: „Non est bonus princeps supra leges, sed leges 60

Wyduckel, Monarchomachen (Anm. 33), S. 140. Vgl. Wyduckel, Monarchomachen (Anm. 33), ebd. 62 Wyduckel, Monarchomachen (Anm. 33), S. 141. 63 Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXIV, § 43. 64 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), ebd. 65 Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXIV, § 48 (Hervorhebung im Original). 66 Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat. Vollständige Ausgabe in einem Band, übers. v. Wilhelm Thimme, München 2011, S. 173 (Buch 4, Kapitel 4). 67 Die Königswahl in Altisrael gründet in Gottes Erwählung und Erwählung meint hier wie auch sonst im AT Erwählung zum Dienst. Der König agiert in Dtn 17,15 – 20 als ein primus inter pares. 61

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supra bonum principem, optimque; principis nota illa, ex legum praescripto velle vivere […]. Et secundum leges de administraturum Remp[ublicam] in electione promisit quam fidem violare non potest.“68 Wie der Magistrat weder von den allgemeinen noch von den natürlichen und bürgerlichen Gesetzen entbunden ist, so stimmen die bürgerlichen Gesetze mit dem Dekalog überein, zumindest was die zweite Tafel angeht, in der es um zwischenmenschliche Gerechtigkeit geht, worauf die natürlichen Gesetze aufbauen.69 Die Vorstellung vom imperium als Auftrag, vom Magistrat als Mandatar und der Bindung an den Dekalog lässt sich derart zusammenfassen: „principi non esse concessum, aliquid contra jus naturale, & gentium & Reip[ublicae] suae leges civiles facere, quia nulla potestas est ad malum, sed tantum ad bonum; non ad nocendum, sed ad consulendum, juvandum, & ad meram subditorum utilitate, non ad regentium libidinem vel commodum.“70 Damit erscheint der Herrschaftsvertrag in einem neuen Licht, denn mit der Übertragung der majestas an das Gesamtvolk wird das Verhältnis Herrscher–Untertanen als verfassungsmäßig festgelegter Anstellungsvertrag interpretiert und die Stellung des Herrschers zur Amtsfunktion. „Von daher wird erstmals bei Althusius deutlich sichtbar, daß öffentliche Gewalt allemal anvertraute Amtsbefugnis ist und der […] Satz – ,das Volk ist nicht des Königs willen, sondern der König um des Volkes willen‘ – enthält […] einen prinzipielleren Stellenwert.“71 Ob Althusius ein „bedeutender Vertreter des Rechtsstaats“72 war, ist zwar fraglich, aber der Durchgang durch sein Herrschaftsverständnis erhärtet die These, dass er als Systemvollender monarchomachischer Widerstandslehren73 zu bezeichnen ist. Kommen wir nun zu seiner Widerstandsrechtslehre i. e.S. 2. Althusius und die monarchomachische Tradition Althusius’ Widerstandsrechtslehre ist das umfangreichste Kapitel der „Politica“. Der Grund für die Analyse dieses Kapitel ist, dass dieses Lehrstück als „Summa“ verschiedener monarchomachischer Ansätze verstanden werden kann.74 Althusius hat die Lehren der Monarchomachen u. a. unter dem Eindruck der Niederländischen Revolution aufgenommen und in eine entfaltete Theorie des aus Genossenschaften und Ständen bestehenden Verfassungsstaates integriert.75 Daraus ergibt sich folgende 68

Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXIV, § 48. Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXIV, § 49. 70 Althusius, Politica (Anm. 20), ebd. 71 Bildheim, Calvinistische Staatstheorien (Anm. 19), S. 82. 72 Bildheim, Calvinistische Staatstheorien (Anm. 19), S. 83. Honecker, Grundriss der Sozialethik (Anm. 14), S. 371 sieht das genauso. Anders urteilt dagegen Christoph Strohm, Art. Widerstand/Widerstandsrecht II: Reformation und Neuzeit, in: TRE 35 (2003), S. 757. 73 Bildheim, Calvinistische Staatstheorien (Anm. 19), ebd. 74 Vgl. Wyduckel, Monarchomachen (Anm. 33), S. 139. 75 Strohm, Art. Widerstand/Widerstandsrecht II (Anm. 72), S. 757. 69

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Zweiteilung: Zuerst ist der monarchomachische Hintergrund der Widerstandsrechtslehre zu beleuchten, danach steht eine Analyse dieser Lehre an. Entscheidend ist, dass Althusius den Schriften der Monarchomachen viele widerstandsrechtliche Anregungen entnimmt, die er in eigenständiger Weise verarbeitet und fortbildet. „Ganz besondere Wertschätzung bringt Althusius dabei Theodor Beza entgegen, dem er wie sonst keinem […] Frömmigkeit und Gelehrsamkeit zuschreibt und gegenüber der Kritik des Jesuiten Johannes Beccaria [1508 – 1580] verteidigt.“76 Ausgangspunkt für das Verfassen monarchomachischer Schriften ist neben der gewaltsamen Rekatholisierung Englands durch Maria Tudor die Bartholomäusnacht von 1572. Infolgedessen kommt es in der monarchomachischen Literatur zu einer Weiterentwicklung des ius resistendi, wobei theologische Begründungen in Gestalt der Föderaltheologie und des Rückgriffs auf Rechtstexte durch Juristen eine große Rolle spielen.77 Beza (1519 – 1605) entwickelt sein Widerstandsrechtsverständnis dezidiert von einem theologischen Ausgangspunkt her: Gott ist erstens die höchste Autorität, darum handeln Herrscher nie in ihrem eigenen Namen, sondern im Namen Gottes, zweitens ist Gott mehr zu gehorchen als den Menschen, was zeigt, dass Beza der Souveränität Gottes die clausula Petri als zweite Säule seines Widerstandsverständnisses hinzustellt.78 Seine Argumentation beschränkt sich auf die Auslegung römischer und mittelalterlicher Rechtstexte sowie auf das Vorbild zahlreicher historischer Verfassungsmodelle. Eine theoretische Weiterentwicklung gegenüber Monarchomachen wie François Hotman (1524 – 1590) stellt bei Beza der Gedanke dar, dass, wenn die Stände gegen einen Tyrannen versagen sollten, inferiores magistratus zum Widerstand verpflichtet sind.79 Dieser Gedanke ist für Althusius’ Widerstandsrechtslehre zentral. Die wirkungsvollste monarchomachische Schrift ist der 1579 in Basel erschienene Traktat „Vindiciae contra tyrannos sive de principis in populum populique in principem legitima potestate“, der Althusius’ Verständnis von Widerstand maßgeblich beeinflusst hat. Im Zentrum dieser Schrift steht der Herrscher, der gegen die wahre Religion, gegen die Kirche und gegen Gottes Gebote handelt, wobei zwischen idolatrischer Religionspolitik und Rechts- und Gemeinwesen zerstörender Herrschaftsweise unterschieden wird. Die unter Rückgriff auf römisches und mittelalterlich-feudales Recht konzipierte Widerstandsschrift der „Vindiciae contra tyrannos“ argumentiert mit einem doppelten Bund: einem pactum religiosum mit Gott und einem pactum civile zwischen Gott, Volk und Herrscher, was auf eine „weitgehend säkulare Grundlegung des Widerstandsrechts bzw. der Widerstandspflicht“ zielt.80 Althusius hat den Begriff „monarchomachi“ nicht geprägt, das war der schottische Jurist William Barclay (1546 – 1608), mit dem er sich am Schluss des Widerstands76

Wyduckel, Monarchomachen (Anm. 33), S. 146. Vgl. Strohm, Art. Widerstand/Widerstandsrecht II (Anm. 72), S. 755. 78 Vgl. Strohm, Art. Widerstand/Widerstandsrecht II (Anm. 72), ebd. 79 Vgl. Strohm, Art. Widerstand/Widerstandsrecht II (Anm. 72), S. 754. 80 Strohm, Art. Widerstand/Widerstandsrecht II (Anm. 72), S. 757. 77

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rechtskapitels intensiv auseinandersetzt und zu dessen Schrift „De regno et regali potestate“ (1600) Horst Dreitzel anmerkt, dass sie die „dreifache Frontstellung des französischen Absolutismus“ thematisiere: gegen den Ständestaat, gegen die direkte oder indirekte Macht des Papstes und gegen den Anspruch religiöser Bewegungen auf Unabhängigkeit von der Königskirche“.81 Bevor wir zur Kontroverse Althusius–Barclay kommen, analysieren wir Althusius’ Widerstandsrechtskapitel und gehen dabei besonders auf die Träger und auf die Begründung des Widerstandsrechts ein. 3. Die ephoral-ständische Gestalt der Althusianischen Widerstandsrechtslehre In den ersten vier Paragraphen des Widerstandsrechtskapitels behandelt Althusius das Wesen der Tyrannis. Die Paragraphen 5 – 27 können als Entfaltung der Erkenntnis des Wesens der Tyrannis bezeichnet werden. Während Althusius in den Paragraphen 1 – 4 eine Definition der Tyrannis gibt und zwei Arten von Tyrannen unterscheidet, differenziert er in den Paragraphen 5 – 27 zwischen zwei Arten tyrannischer Regierung. Die Paragraphen 28 – 70 umfassen neben der dreifachen Differenzierung zwischen der politischen, rechtlichen und religiösen Ebene des Widerstandes die Unterscheidung öffentlicher und privater Widerstand sowie 13 Gründe, wieso einem Tyrannen zu widerstehen ist. Die Paragraphen 71 – 134 bilden den Schluss des Widerstandsrechtskapitels. Sie behandeln die Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Herrschaft und leiten in Auseinandersetzung mit William Barclay, Johannes Beccaria (1508 – 1580), Jean Bodin (1529/30 – 1596), Bartholomäus Keckermann (1572 – 1608), Henning Arnisaeus (1575 – 1636) und Alberico Gentili (1552 – 1608) zur Frage nach Grenzen herrschaftlicher Gewalt über. Leitend ist für Althusius der Gedanke, dass Macht per definitionem nicht vor Recht geht, sondern der fürstliche Absolutismus um Gottes und der Menschen willen nicht geduldet werden darf: Während die Antimonarchomachen in Kriegszeiten auf den über den Gesetzen stehenden Monarchen setzen, favorisiert Althusius die Bindung aller Herrschaftsgewalt an das positive und überpositive Recht und weist Ephoren die Kompetenz der Machtkontrolle und des Widerstandes gegen einen zum Tyrannen gewordenen Herrscher zu.82 Was aber bedeutet Widerstand? Politischer Widerstand bedeutet in einem weiten Sinne „die durch die Mitglieder eines Gemeinwesens um der Gerechtigkeit willen praktizierte Aufkündigung der Folgebereitschaft gegenüber den Inhabern der Staatsgewalt oder ihren Anordnungen“. Althusius’ Widerstandsrecht lässt sich darum als „konservatives Abwehrrecht gegen eine rechtswidrig ausgeübte Staatsgewalt“ beschreiben, das auf die Erhaltung 81 Horst Dreitzel, Die Monarchomachen, in: Holzhey, Helmut/Schmidt-Biggemann, Wilhelm (Hrsg.), Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 4: Das Heilige römische Reich deutscher Nation. Nord- und Ostmitteleuropa, Basel 2001, S. 617. 82 Wolf-Dieter Hauschild, Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 2: Reformation und Neuzeit, 4. Aufl., Gütersloh 2010, S. 580 f.

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„des guten alten Rechts“ zielt, das von Revolutionen abzugrenzen ist.83 Althusius kommt es darauf an, die Stärke des Rechts gegen das Recht des Stärkeren zu verteidigen.84 Das lässt sich anhand der ersten vier Paragraphen belegen, in denen er die Tyrannis wie folgt definiert: „Tyrannis igitur est justae & rectae administrationi contraria, qua fundamenta & vincula universalis consociationis obstinate, perseveranter & infanabiliter contra fidem datam & praestitum juramentum, a magistratu summo tolluntur & evertuntur.“85 Sie ist verabsolutierte Herrschaft und steht in krassem Gegensatz zur Verfassung, denn sie stellt einen dauerhaften und unheilbaren Widerspruch einerseits zum Treuegelöbnis und andererseits zur Eidesleitung durch den obersten Magistraten dar. Sie ist Amtsmissbrauch. Was aber bedeutet Treuegelöbnis und Eidesleistung des Magistrats? Ein Blick in die mittelalterliche Widerstandsrechtstradition ist von Nöten. Krönungseide banden Herrscher zu (Selbst-)Verpflichtungen, deswegen hatten diese seit dem Spätmittelalter bei Regierungsantritt auf die eidliche Selbstbindung und auf die förmliche Verbriefung von Freiheitsrechten des Landes zu achten. Die Absetzung des Herrschers hing jedoch nicht nur von Rechtsbrüchen ab, sondern auch von Ungeschick bei Kriegsführung und bei politischen Entscheidungen, wobei der Vorwurf mangelnder Leistung die funktionale Beurteilung des Herrschers anzeigt.86 Althusius teilt die Auffassung, wenn er Herrscher Amtsträger nennt und Herrschaft als Aufgabe ansieht. Ein Tyrann ist ein Diener, der sich selbst zum Herrn gemacht hat. Was das Treugelöbnis angeht, wird also deutlich, dass die Beziehung Herrscher–Untertanen ein Vertrag gegenseitiger Bindewirkung war.87 Im mittelalterlichen Lehens- und Landrecht wird diese Beziehung nicht durch „autoritären Gehorsam“, sondern durch wechselseitige Treueverpflichtung bestimmt: Lehensverträge und Krönungsgelübde binden den Herrscher ans Recht.88 Begeht der Herrscher eine Rechtsverletzung, tritt das vereinbarte Recht auf Widerstand in Kraft, wobei das positivrechtlich verankerte Widerstandsrecht im frühen Mittelalter noch durch ein 83 Hans-Richard Reuter, Art. Widerstand/Widerstandsrecht III: Ethisch, in: TRE 35 (2003), S. 768. 84 Als Beispiel einer solchen Auffassung kann die „Geschichte des Peloponnesischen Krieges“ des Thukydides gelten: „Eindringlich schildert er die Grausamkeit des Krieges, der die Natur des Menschen besonders klar hervortreten lässt und sich als ,gewalttätiger Lehrer‘ erweist. Das Echo seiner Vorstellung von einer gleichbleibenden menschlichen Natur, die von einem Willen zur Macht regiert wird, hallt indes über Jahrtausende nach und findet sich in den meisten Machttheorien wieder, nicht zuletzt bei Nietzsche.“ In Thukydides’ Anthropologie steht die Macht im Zentrum: „Zur menschlichen Natur gehört […] aber auch das Mehr-habenWollen, die Pleonexie […], die sich in der Politik als Mehr-Macht-haben-Wollen niederschlägt“ (Andreas Anter, Theorien der Macht zur Einführung, Hamburg 2012, S. 19 f.). 85 Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, § 1. 86 Jürgen Miethke, Art. Widerstand/Widerstandsrecht I: Alte Kirche und Mittelalter, in TRE 35 (2003), S. 740. 87 Vgl. Miethke, Art. Widerstand/Widerstandsrecht I (Anm. 86), S. 741. 88 Triuwe ist als Pflicht gegen denjenigen definiert, der diese mit Recht verlangen kann. Dem, dem man Treue schuldet, darf man nicht schaden. Dies entspricht einer defensiven Bestimmung der Triuwe (vgl. Miethke, Art. Widerstand/Widerstandsrecht I [Anm. 86], ebd.).

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christliches Naturrecht sanktioniert wird.89 „Im […] Investiturstreit […] wird das germanische Verständnis vom Widerstandsrecht vom Papst dazu verwendet, kirchliche Ansprüche durchzusetzen“, wobei zwischen einer positivrechtlichen einerseits und einer naturrechtlichen Begründung andererseits unterschieden werden muss. Adel und Kurfürsten strebten danach, ein ständisches Widerstandsrecht positivrechtlich verbürgt zu halten, so dass königliche Herrschaft verfassungsmäßig beschränkt war. Dem antiken Modell der Ephoren folgend, wurde Königsmord verboten und ein Rechtsstaat dualistischer Struktur bevorzugt.90 Grundlagen der naturrechtlichen Begründung des Widerstands war die Idee der Volkssouveränität und des Herrschaftsvertrages: So wurde nicht länger auf die Norm der iustitia rekurriert, nach der der König als Rechtswahrer galt, sondern auf den Willen des Volkes. Setzte die positivrechtliche Begründung beim Herrscher (majestas personalis) an, ging die naturrechtliche Begründung auf das Volk (majestas realis) zurück. Im 14. Jahrhundert treffen beide Begründungen aufeinander und führen zur reichsrechtlichen Verankerung eines Widerstandsrechts der Stände.91 Im 15. Jahrhundert gesellen sich die das Widerstandsrecht weiterführenden Ideen der Monarchomachen hinzu, denen Althusius, wie erwähnt, wesentliche Impulse zur Ausgestaltung seiner eigenen Widerstandsrechtskonzeption verdankt. Althusius deutet die gegenseitigen Treuegelöbnisse zwischen Volk und Magistrat bei dessen Amtseinführung als Gesetze zum Schutz der Gemeinschaft. Das Besondere am Tyrannen ist, dass er sich als Feind der Gesellschaft erweist, was die Kriegsmetaphern, die Althusius an dieser Stelle benutzt, belegen: Der Versuch, die Gesellschaft zu destruieren, zeigt, dass ein solcher Magistrat ein Diener ist, der sich selbst zum Herrn macht. Folglich ist er weder Gottes Diener (Röm 13,1) noch Mandatar, plant er doch letztlich die Gesellschaft umzuwandeln, indem er versucht, Frömmigkeit und Gerechtigkeit zu beseitigen. Ob der Magistrat Monarch oder Aristokrat ist, ist für Althusius gleichgültig, entscheidend ist die verbrecherische Auflösung der heiligen Eide. So greift der Herrscher die höchsten Güter der Gemeinschaft wie Frieden, Ordnung, Tugend, Gesetz und Adel an und verkehrt sie in ihr Gegenteil: in Geiz, Hochmut, Untreue und Grausamkeit. Wir können einen dreifachen Fokus bei der Erörterung des Wesens der Tyrannis festhalten: zum einen die Verletzung, Änderung oder Aufhebung der wahren Religion (religiös), zum anderen die Missachtung des Eides (rechtlich). Überdies verweist Althusius auch auf Beseitigung der Reichsständeordnung und Behinderung der Reichsstände an ihrer Amtsausübung (politisch).92 Interessant ist sein Urteil über 1Sam 15,21, wo David zwar verbrecherisches Handeln vorgeworfen wird, Althusius David aber trotz des Vorfalls mit Uria und Batseba die Herrscherwürde nicht aberkennt. Seine Unterscheidung zwischen Person und Amt verdeutlicht, dass da, wo die Person verdorben ist, auch ihr Amt verdorben 89

Vgl. Honecker, Grundriss der Sozialethik (Anm. 14), S. 359. Vgl. Honecker, Grundriss der Sozialethik (Anm. 14), S. 360. 91 Vgl. Honecker, Grundriss der Sozialethik (Anm. 14), S. 360 f. 92 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, §§ 2 – 4. 90

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ist, was umgekehrt nicht zwingend gilt. Kriterium dieser Einschätzung ist das Verständnis der Person des Magistrats als Mandatar. Die Paragraphen 5 – 27 können in drei Abschnitte unterteilt werden: zuerst die Kapitel 5 – 9, dann die Kapitel 10 – 20 und zuletzt die Kapitel 21 – 27. Während die Paragraphen 5 – 9 zwei Arten tyrannischer Herrschaft differenzieren und die allgemeine Tyrannis betrachten, behandeln die Kapitel 9 – 20 die besondere Tyrannis. Abgeschlossen wird das Ganze durch die Beschreibung der Tyrannis aufgrund der schlechten Verwaltung öffentlicher Güter (21 – 27). Die erste Art tyrannischer Herrschaft besteht darin, dass sie die Fundamentalgesetze des Gemeinwesens destruiert, während die zweite Art Religion und Recht untergräbt: Bei der ersten Art verletzt, ändert oder hebt der oberste Magistrat die Fundamentalgesetze betreffs der wahren Religion auf. Hier argumentiert Althusius gebotsethisch. In der zweiten Art wird der oberste Magistrat dem Volk untreu, weil er die Heiligkeit des Eides missachtet und die Ordnung der Reichsstände beseitigt. Dort argumentiert Althusius verfassungsrechtlich.93 Die Paragraphen 8 – 9 haben die allgemeine Tyrannis zum Thema. Sie ist der Totalgegensatz zur universalen Gemeinschaft: In einer allgemeinen Tyrannis ist der oberste Magistrat nicht nur ein Feind von Kirche und Gesellschaft, die er beide zu vernichten gedenkt, sondern auch absoluter Monarch, dessen Herrschaft zur Auflösung der Gesellschaft führt. Er hat sich unumschränkte Macht angeeignet. In der allgemeinen Tyrannis wird auf Absolutismus rekurriert. Es wird klar, dass Althusius’ Widerstandsrechtslehre mehr umfasst als das, was unter dem Ausdruck eines zivilen Ungehorsams firmiert.94 Die monarchische Suppression von Religions- und Gewissensfreiheit, die Althusius in der allgemeinen Tyrannis vor Augen steht, speist sich aus der spezifischen Situation Emdens auf der einen und aus griechisch-römischem sowie biblischem Denken auf der anderen Seite.95 Von der allgemeinen unterschieden ist die besondere Tyrannis, die als Feind der Geschäfts-, Güter- und Rechtsverwaltung gilt und sich den Untaten eines absoluten Herrschers widmet. Mit Verweis auf den Dekalog führt Althusius 20 unterschiedliche Vergehen des absoluten Regenten auf. Es bedarf hier keiner Auflistung dieser Vergehen, wichtig ist nur, dass diese als Ausweis dafür zu werten ist, welch hohe rechtliche und ethische Ansprüche an den Magistrat gestellt werden.96 Die Paragraphen 21 – 27 thematisieren die Tyrannis aufgrund schlechter Verwaltung öffentlicher Güter, wozu der Missbrauch öffentlicher Güter für eigene Zwecke zählt, die Veräußerung von Dörfern, Städten, Reichsprovinzen, die Schädigung öffentlicher Güter zur Selbstbereicherung, die Verschwendung von Reichsvermögen sowie die Entmutigung von Privatleuten durch 93 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, §§ 5 – 7. Mit Hilfe von Dtn 13,14 – 15 belegt Althusius das auch im weltlichen Bereich geltende Verbot der Fremdgötterverehrung (1. Gebot). 94 Honecker, Grundriss der Sozialethik (Anm. 14), S. 354 unterscheidet klar zwischen Widerstand gegen Unrechtsregime, die die staatliche Ordnung zu beseitigen suchen, und zivilem Ungehorsam, der rechtstaatlichen Demokratien entsprungen ist. 95 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, §§ 8 – 9. 96 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, §§ 10 – 20.

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Brechen ihres Willens, Einschränkung ihrer Widerstandsoptionen durch Enteignung, Waffengewalt und das Säen von Zwietracht.97 Limitiert werden Widerstandsoptionen nicht nur durch Demütigung, Verfolgung und Unterdrückung gerechter, wichtiger und unschuldiger Männer (vir bonus), sondern auch durch die Beraubung des Volkes durch den Fiskus. Folglich ist ein gerechter Verwalter ein treuer Verwalter, ein Tyrann aber ein Dieb, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Untertanen unmündig und unfrei zu machen. Diese Form kollektiver Versklavung freier Bürger, gepaart mit der Förderung von Zwietracht, zählt zu den primären Kennzeichen tyrannischer Herrschaft, in der der Magistrat nicht länger als treuer Verwalter des Gemeinwesens auftritt, sondern als Sklaventreiber.98 Nicht ohne Grund verweist Althusius in den Paragraphen 25 – 27 auf Ex 1 – 2, vergleicht er doch die Lage der Reformierten im Reich mit der der Israeliten in Ägypten. In den Paragraphen 28 – 70 haben wir es mit einem umfangreicheren Textbestand zu tun. Hier lassen sich drei Abschnitte ausmachen, die thematisch voneinander abgegrenzt werden können. Während die Paragraphen 28 – 45 nach der Notwendigkeit und Begründung des Widerstandsrechts fragen und auf zwölf Gründe zum Widerstand verweisen, fragen die Paragraphen 46 – 64 nach den Voraussetzungen des Widerstands und rekurrieren auf die Personen, den Zeitpunkt, die Art und Weise und auf Umfang und Dauer des Widerstandes. Die Paragraphen 65 – 70 fragen nach Widerstandsmöglichkeiten von Privatleuten. Analytisch bietet sich im Folgenden die „Typologie möglicher Formen des Widerstandes“ an, die a) die Frage nach den Handlungsmodi des Widerstandes (aktiv oder passiv), b) die Frage nach den Mitteln des Widerstandes (gewaltfreier oder gewaltsamer Sturz einer exzessiven Unrechtsherrschaft durch direkte Tötung des Machthabers), c) die Frage nach den Rechtfertigungsgründen des Widerstandes (sittlich, religiös [Pflicht: geboten], rechtlich-vorstaatlich [Naturrecht und Moral gestützt] oder positiv [Gewohnheits- oder Verfassungsrecht]), d) die Frage nach den Trägern des Widerstandes (Amtsträger oder Einzelpersonen) und e) die Frage nach dem politischen Kontext des Widerstandsrechtes (entweder Unrechtsstaat oder Rechtsstaat – dann einschränkende moralische Kriterien für Widerstandshandlungen) behandelt.99 Zu e): Beginnen wir mit dem Politik-Kontext. Zum einen ist der monarchische Absolutismus, zum anderen die besondere gesellschaftliche Situation in Emden im Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert zu nennen. Um 1600 ist eine zunehmende Konfessionalisierung der europäischen Außenpolitik zu konstatieren. Im international ausgerichteten Denken des „Calvinismus“ kommt es zu einer „heilsgeschicht97

Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, §§ 21 – 24. Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, § 25. 99 Reuter, Art. Widerstand/Widerstandsrecht III (Anm. 83), S. 768 f.

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lich-apokalyptischen Deutung des europäischen Mächtesystems“: Der 80-jährige Krieg wird als Kampf der „Kinder des Lichts gegen die Kinder der Finsternis“ gedeutet.100 Damit „ergibt sich […] für das frühe 17. Jahrhundert das Bild einer […] intensiven Sakralisierung der außenpolitischen Semantik des europäischen Calvinismus.“101 Der Einfluss apokalyptisch-heilsgeschichtlicher Denkmuster auf die staatlichen Akteure des internationalen Systems darf nicht unterschätzt werden, weil diese Denkmuster in Ostfriesland besonders ausgeprägt sind.102 Sie haben bei Althusius Spuren hinterlassen, was am Konfessionalismus der „Politica“ abzulesen ist, die „Ungläubigen“ mit religiöser Intoleranz begegnet.103 Dabei bleibt zu beachten, dass aus den am stärksten verfolgten Kirchen die bürgerlichen Elemente weichen mussten und Widerstandsgruppen in der landsässigen Bevölkerung anzutreffen waren.104 Damit ist die Frage nach dem Politik-Kontext beantwortet: Es geht um den in eine Tyrannis umgeschlagenen Ständestaat, der als Unrechtsregime anzusehen ist. Spanien dient Althusius hier als Beispiel. Zu d): Hinsichtlich der Frage nach den Trägern des Widerstandsrechts kommen nur Amtsträger in Frage. Diese werden als Optimaten bzw. Ephoren bezeichnet. Ihre Aufgabe besteht darin, einem tyrannischen Magistrat zu widerstehen und ihn notfalls abzusetzen oder hinzurichten. Voraussetzung ist, dass der oberste Magistrat die Souveränitätsrechte verletzt oder tyrannisch wird. „Administratores universalis hujus consociationis sunt duorum generum: sunt enim ephori, vel magistratus summus.“105 Die Ephoren sind das Fundament des Gemeinwesens, weil ihre Widerstandsrechtspflicht Privatleute von der Last des Urteilens und Strafens befreit.106 Die Untertanen übertragen die Strafmacht den Ephoren, die das Volk und dessen Rechte repräsentieren.107 Die mittelalterliche Translationstheorie, wonach das Volk als solches Souveränitätsrechte besitzt, diese dem Herrscher aber überträgt unter der Bedingung, dass er sie im Fall der Unwürdigkeit wieder entzogen bekommt, steht im Hintergrund.108 Dass für Althusius nicht Private Träger des Widerstandsrechts sein können, 100

Heinz Schilling, Johannes Althusius und die Konfessionalisierung der Außenpolitik – oder: Warum gibt es in der Politica keine Theorie der internationalen Beziehungen?, in: Carney, Frederick/Schilling, Heinz/Wyduckel, Dieter (Hrsg.), Jurisprudenz, Politische Theorie und Politische Theologie. Beiträge des Herborner Symposiums zum 400. Jahrestag der Politica des Johannes Althusius 1603 – 2003, Berlin 2004, S. 62. 101 Schilling, Konfessionalisierung (Anm. 100), S. 62. 102 Vgl. Schilling, Konfessionalisierung (Anm. 100), S. 63. 103 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXI, § 76. 104 Christopher Frey, Ethik des Protestantismus von der Reformation bis zur Gegenwart, 2. Aufl., Gütersloh 1994, S. 79. 105 Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XVIII, § 47. 106 Saffo Testoni Binetti, Ephori, in: Malandrino, Corrado/Wyduckel, Dieter (Hrsg.), Politisch-rechtliches Lexikon der Politica des Johannes Althusius. Die Kunst der heilig-unverbrüchlichen, gerechten, angemessenen und glücklichen symbiotischen Gemeinschaft, Berlin 2010, S. 213. 107 Binetti, Ephori (Anm. 106), ebd. 108 Walter Kreck, Grundfragen christlicher Ethik, 2. Aufl., München 1979, S. 333 f.

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hängt damit zusammen, dass „quod enim ad universos spectat, hoc singuli per se & separatim, reliquis, vel maxima illorum parte dissentiente, sibi usurpare non possunt. Licebit tamen parti uni regni, vel singulis ephoris, aut regni statibus, sese subducere a magistratus sui tyranni subjectione, & se defendere.“109 Um es mit Worten Friedrich Dürrenmatts zu sagen: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“110 Das trifft vor allem dann zu, wenn rechtmäßige Herrschaft in eine Tyrannis umschlägt. Als „Zügelungsinstanz der Autorität“111 und präventive Kontrollmacht, die Vorkehrungen zum Schutz nicht nur des Staates, sondern auch der Kirche112 zu treffen hat, sind die Ephoren schon in den „Vindiciae contra tyrannos“ als Volksvertreter verstanden, die das Reich vor einer Tyrannis bewahren. Da das Volk vor jedem Vertrag existiert, sind die Ephoren das Volk. Auf diese „moderne […] Konzeption der Ephoren“ bezieht sich Althusius.113 Ephoren sind das Rückgrat des politischen Systems und Althusius definiert „im Voraus Ziel und Grenzen der öffentlichen Verwaltung, um die Rolle der Ephoren in sie einzupassen“.114 Zu ihren Aufgaben zählen die Wahl und Kontrolle des obersten Magistrates, der als Wächter, Verteidiger und Rächer der Freiheit und Rechte des Volkes (innerhalb der Grenzen seiner Macht) verstanden wird, sodann die Verwaltung des Staats im Fall der Unfähigkeit des obersten Magistrates oder in Zeiten eines Interregnums, die Abberufung des obersten Magistrats, falls er sich als tyrannisch erweist und die Verteidigung Gottes und seiner Rechte.115 Sie werden zwar vom Volk gewählt (direkt), Gott aber setzt sie in ihr Amt ein (indirekt).116 Zu c): Was die Gründe des Widerstandsrechts bei Althusius angeht, speist es sich aus sittlichen, religiösen und rechtlichen Argumenten. Dabei stützt er sich auf Aussagen des Natur-, Gewohnheits- und Verfassungsrechts. Er nennt zwölf Gründe, wieso Widerstand gegen die Tyrannis eines obersten Magistrates nötig ist: Der erste Grund ist der Mandatsvertrag zwischen Volk und Magistrat, in dem der Magistrat sich verpflichtet, beide Tafeln des Dekalogs und die Reichsgesetze einzuhalten.117 Der zweite Grund gilt der Legalität der Gehorsamsverweigerung gegenüber dem Magistrat aufgrund der Herrschaftsgrenzen.118 Der dritte Grund verweist auf 109

Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, § 53. Friedrich Dürrenmatt, Die Physiker. Eine Komödie in zwei Akten, Zürich 1998, S. 92 (21 Punkte zu den „Physikern“). 111 Binetti, Ephori (Anm. 106), S. 206. 112 „Deinde ephori status, seu ordines ejusmodi regni sunt duorum generum. Sunt enim ecclesiastici, vel seculares. Ecclesiastici sunt, qui ex personis ecclesiasticis sunt constituti, & rerum ecclesiasticarum curam gerunt. Seculares, qui rerum publicarum scientiam & curam habent. Atq[ue]; hi rursum sunt nobiles, vel pebeii.“ (Althusius, Politica [Anm. 20], Kap. XVIII, §§ 108 – 109). 113 Binetti, Ephori (Anm. 106), S. 207. 114 Binetti, Ephori (Anm. 106), S. 208. 115 Binetti, Ephori (Anm. 106), S. 209 f. 116 Vgl. Binetti, Ephori (Anm. 106), S. 211. 117 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, § 31. 118 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, § 32. 110

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die Dualität des Mandatsvertrages: die Pflichten des Magistrats gegen Gott haben Vorrang vor denen gegenüber dem Volk: Gott ist Herr über beide, der Magistrat Hüter der Gesetze.119 Der vierte Grund geht von der Übertragung der potestas vom Volk auf Ephoren aus, die Recht und Vollmacht haben, den Magistrat einzusetzen, gewählt zu werden und Tyrannen abzusetzen: Ephorenmacht geht vor Herrschaftsmacht.120 Der fünfte Grund vergleicht die Pflichten des Volkes gegenüber dem Magistrat mit Pflichten von Kindern gegenüber ihren Eltern und stellt fest: die Pflichten gegen jenen sind nicht größer als gegen diese.121 Der sechste Grund differenziert zwischen einem tyrannus ex parte exercicii und einem tyrannus ex defectu tituli (Usurpator): beim tyrannus ex parte exercicii wird aus einem rechtmäßigen Herrscher ein unrechtmäßiger. Der tyrannus ex defectu tituli ist eo ipso Fremdherrscher und damit automatisch eine Privatperson.122 Althusius’ duales Souveränitätsverständnis (duplex majestas), das im siebten Grund diskutiert wird, besagt: dem Magistrat und den Ephoren obliegt die Einhaltung der Gebote des Dekalogs; es ist deshalb sträflich, wenn sie Tyrannen nicht bekämpften, laden sie dadurch doch doppelte Schuld auf sich: gegenüber Gott und gegenüber den ihnen Anbefohlenen.123 Der achte Grund ist dem Wesen des Mandatsvertrags gewidmet: der Herrscher bekommt Regierungsgeschäfte übertragen, um dem Volk zu dienen, weiß er doch um das göttliche und natürliche Gesetz als richterliche Instanz seiner potestas: „Summa [sc. potestas] non est, quia legem divinam naturalemque superiorem agnoscit omnis humanum potestas […] ibi: Minister Dei est tibi in bonum, Si minister Dei est, ergo contra Domini sui mandatis praescriptum nihil facere potest […]. Absoluta vero 119 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, §§ 33 – 34. Hier begegnen wir der häufig benutzten Metapher vom Magistrat als „beseeltem Gesetz“. Sie umschreibt die einem jeden Herrscher von Natur zukommende Würde. Althusius zieht die Metapher zum Vergleich zwischen Herrscher- und Hirtenamt heran, das im Bewachen und Versorgen besteht, sodass er sich an der Spitze des Staates nur einen gewählten, gerecht-fürsorgenden und rechtschaffenden Magistrat vorstellen kann. 120 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, § 35: Althusius untermauert seine These von der konstitutionell verankerten Überordnung des Ephorats biblisch: Anhand von 1Kor 7,15, wo es um Ehescheidung zwischen „Gläubigen“ und „Ungläubigen“ geht, versucht er zu zeigen, dass die libertas christiana da an ihre Grenzen stößt, wo sie durch „Ungläubige“ unrechtmäßig tangiert wird. Dennoch bleibe Gottes Berufung an „Gläubige“ und „Ungläubige“ gleich: sie sollen im Frieden Christi zusammenleben; Ehescheidung ist immer nur ultima ratio. Die Vor- und Überordnung des Willens Gottes vor und über dem menschlichen Wollen unterstreicht er unter Rückgriff auf Lk 14,26, wo es um den „Ernst der Nachfolge“ geht und Jüngerschaft den Bruch mit der Familie nach sich zieht: wo der Glaube auf christusförmige Nachfolge verzichtet, da wird der Gehorsam gegenüber Gott aufgekündigt. Ähnlich äußert Althusius sich zu Mt 10,37, wo die „Aufforderung zu furchtlosem Bekenntnis“ im Zentrum steht und Christi Ehre der Ehre gegen Eltern und Geschwister übergeordnet wird. Den Synoptikern entnimmt Althusius die Gewissheit, dass das Recht zum Widerstand nicht ständischer Eigenmächtigkeit zuzuschreiben ist, sondern seinen Grund im Dekalog und in der „Goldenen Regel“ hat. 121 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, § 36. 122 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, § 37. 123 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, § 38.

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summa, & legibus omnibus soluta potestas, tyrannis dicitur […]. […] In quo quidem nec Bodinus a nobis dissentit. Nam imperio juris divini & naturalis summam, quam vocat, potestatem non eximit. Quaestio igitur nobis est de civili lege & jure, an huic etiam imperium & fasces, qui summam dicitur habere potestatem. Negat Bodin[us] & plurimi alii cum eodem. Erit igitur ex horum sententia summa potestas, quae civili lege non est definita, sed illa soluta: quod ego non dixerim. Nam lege civili potestatem solvere, est etiam aliquatenus naturalis & divinae legis vinculis eandem exuete. Nulla enim est, nec esse potest, lex civilis, quae non aliquid naturalis & divinae aequitatis immutabilis habeat admistum. Nam si haec prorsus discedit a sententia juris naturalis & divini non lex dicenda est, sed nomine hoc prorsus indigna […]. Imo quaecunque volumus ut faciant nobis homines, haec & nos iisdem facere teneri ex summi legislatoris sententia […] & Caesaris, seu Imperatoris […].“124

Der Textauszug wendet sich kritisch gegen Bodin, der die von allen Gesetzen losgelöste Herrschaftsgewalt nicht als Tyrannis interpretiert, sondern auf Gott selbst zurückführt. Althusius hält dem Absolutismus Bodins die dual gestaltete Souveränität entgegen: die potestas absoluta kennt nicht nur keine verfassungsmäßigen Schranken, sie ist auch gottlos (Röm 13,1 – 7125) und absurd126. Dem Mandatsvertrag liegt 124 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. IX, § 21: „Die Höchste (Macht) ist sie deshalb nicht, weil jede menschliche Gewalt das göttliche und natürliche Gesetz als ein Höheres anerkennt, [..] wo es heißt, dass die Obrigkeit Dienerin Gottes zu deinem Guten ist. Wenn sie aber Dienerin Gottes ist, kann sie gegen das Gebot des sie einsetzenden Herrn nichts ausrichten. […] Eine absolute, höchste und von allen Gesetzen losgelöste Gewalt aber wird Tyrannis genannt […].[…] Darin jedenfalls hat auch Bodin keine von uns abweichende Meinung. Denn er nimmt die von ihm so genannte höchste Gewalt von der Herrschaft des göttlichen und natürlichen Rechts nicht aus. Unsere Frage ist nun, ob er auch die Befehls- und Strafbefugnis desjenigen, von dem man sagt, er habe die höchste Gewalt, dem bürgerlichen Gesetz und Recht unterwirft. Das aber verneint Bodin, und sehr viele andere mit ihm. Danach ist die höchste Herrschaftsgewalt durch das bürgerliche Gesetz nicht begrenzt, sondern vielmehr von ihm gelöst. Diese Meinung kann ich aber gerade nicht teilen. Denn die Herrschaftsgewalt vom bürgerlichen Gesetz lösen bedeutet, sie in einem gewissen Grade auch von den Bindungen des natürlichen und göttlichen Gesetzes freizustellen. Es gibt nämlich kein bürgerliches Gesetz, noch kann es ein solches geben, das nicht etwas von der natürlichen und unveränderlichen göttlichen Billigkeit enthält. Weicht ein derartiges Gesetz aber völlig von der Aussage des natürlichen und göttlichen Rechts ab, dann darf man es nicht Gesetz nennen, es ist vielmehr dieses Namens gänzlich unwert. […] Wir sollten im Gegenteil in Übereinstimmung mit dem höchsten Gesetzgeber und dem Kaiser oder obersten Herrscher alles, von dem wir wollen, dass es die Menschen uns gegenüber tun, auch ihnen zuteil werden lassen.“ (Übersetzung aus Johannes Althusius, Politik. Übersetzt von Heinrich Janssen. In Auswahl herausgegeben, überarbeitet und eingeleitet von Dieter Wyduckel, Berlin 2003). 125 Röm 13,1 – 7, so Ernst Wolf, Sozialethik. Theologische Grundfragen, Göttingen 1975, S. 285 – 288, schleppe eine Traditionslast mit, die über die Reformationszeit zurückgreife: Während es in dieser Zeit, zumindest im lutherischen Bereich, keine spezifisch „reformatorische Auslegung von Röm 13“ gegeben habe, wurde „Röm 13 im Sinne [einer] scholastischen Tradition […] ontologisch interpretiert […]“. Wolf betont, dass „allen diesen in herkömmlicher Isolierung und Belastung von Röm 13,1 – 7 erfolgten Auslegungen gegenüber“ darauf hinzuweisen sei, dass Paulus „hier an dieser Stelle keine tiefsinnigen Aussagen über das Wesen des Staats“ mache noch machen wolle, „sondern daß er hier im paränetischen Zusammenhang eine Weisung für das Verhalten der Christen im Bereich vorgefundener faktischer staatlicher Wirklichkeit seiner Zeit und noch dazu in der üblichen politisch-technischen Terminologie“ gebe. Paulus rede in Röm 13,1 – 7 „in den Grundbegriffen des Obrigkeitsden-

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die stillschweigende Bedingung einer Verheißung Gottes zugrunde, die schon den alttestamentlichen Königen galt und in die die Herrschaftsausübung des obersten Magistrats gegenüber seinen Untertanen quasi eingezeichnet ist.127 Der neunte Grund bezieht sich auf den Notfall der Selbstjustiz, der eintritt, wenn Richter de iure oder de facto fehlen.128 Wo es sich um einen notorisch ungerechten Herrscher handelt, so der zehnte Grund, ist Widerstand rechtmäßig.129 Unter einem Tyrannen herrscht Zügellosigkeit und Zerstörung, so Althusius im elften Grund.130 Der zwölfte beschäftigt sich mit geistlichen und weltlichen Beispielen der Anwendung des Widerstandsrechts: Althusius hebt Maria Tudor (Schottland) und Philipp I. (Niederlande) hervor.131 Abschließend läßt sich sagen: Das Mandat zum Widerstand fällt in den Zuständigkeitsbereich der Ephoren, die als wahre Souveräne zu betrachten sind.132 Althusius verweist hier sowohl auf natur- und positivrechtliche Begründungsmuster als auch auf historische und biblische Exempel. Zu b): Nun wollen wir uns der Frage nach den Mitteln des Widerstandes zuwenden, denen vier Voraussetzungen zugrunde liegen, die auf die Person, den Zeitpunkt, die Art und Weise und Umfang und Dauer des Widerstandes bezogen sind.133 Wie erwähnt, sind es die Ephoren, die in Sachen Widerstand weisungs- und urteilsbefugt sind. Aber wen hat Althusius vor Augen, wenn er von Ephoren spricht? Zum einen kens seiner Zeit und Umwelt“ und „wohl auch mit einem gewissen Hintergrund rabbinischer Theologie“; er rede so, „um schlicht zu Loyalität zu ermahnen“, so Wolf weiter. Die Loyalitätsforderung, die Paulus aufstellt, sei „nicht absolut, aber doch durch den Hinweis auf die ,agape‘ betont“. „Die ,agape‘ ist der Grund; und der eschatologische Aspekt bezeichnet die Grenze jeder christlichen Loyalitätsforderung.“ Resümierend heißt es: „Im Neuen Testament […] können so Röm 13 zusammen mit 1Kor 6 und Apk 13 nebeneinanderstehen, weil hinter diesen gegensätzlichen Aussagen über den Staat als Ordnung Gottes und über den Staat als Dämon der Glaube steht, daß der auferstandene Christus gesetzt ist über alle Herrschaft und Macht. […].“ Kornelis Heiko Miskotte, Das Geheimnis der Geschichte. Der totalitäre Staat im Licht der Offenbarung des Johannes, Kamen 2011, S. 206 f. betont, dass Apok 13 nicht ohne Röm 13, Röm 13 nicht ohne Apok 13 zu lesen sei. Der Staat ist für ihn Gottes „Liturg“, was „eine besondere Auszeichnung“ bedeute. Althusius schließt sich dieser Ansicht vollauf an, aber nicht ohne Hinweis darauf, dass, wo der Staat aufhört, Gottes Dienerin zu sein, er sich in eine Chaosmacht verwandelt hat, die Gott den gebührenden Gehorsam schuldig bleibt und den Untertanen unrechtmäßige Gewalt antut. 126 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, § 39. 127 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, § 40. 128 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, § 41. 129 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, § 42. 130 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, § 43. 131 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, §§ 44 – 45. 132 Den Ephoren kommt laut Wilhelm Schmidt-Biggemann, Althusius’ politische Theologie, in: Dahm, Karl Wilhelm/Krawietz, Werner/Wyduckel, Dieter (Hrsg.), Politische Theorie des Johannes Althusius, Berlin 1988, S. 228 – 230 die Definitionshoheit über die Tyrannis zu. Als Bewahrer der göttlichen Schöpfungsordnung entscheiden sie über den Ausnahmezustand, ohne dabei außerhalb des göttlichen Gesetzes oder aber der verfassungsgemäßen Rechte zu stehen. 133 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, § 46.

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die Ephoren des Reiches, das heißt die Kurfürsten und zum anderen jeden Einzelnen qua Wahl.134 Widerstand bedarf keiner Einzelkämpfer, sondern eines gemeinschaftlichen Engagements, weshalb Althusius auf die „Holländer, Seeländer, Friesen, Gelderner“ und ihren Kampf „gegen die Gewalt und Tyrannis des Spaniers“135 hinweist. Was den Zeitpunkt resistenten Handelns betrifft, haben die Ephoren dann einzuschreiten, wenn der Tyrann bekannt, hartnäckig und nicht anders loszuwerden ist.136 Voraus geht dem eine mehrfache Ermahnung des Tyrannen sowie die Einberufung eines Generalkonvents aller Volksstände, die bei einem wiederholt erfolglosen Anlauf und bei Gefahr in Verzug den Tyrannen auszuschalten haben.137 Althusius’ Widerstandrechtslehre kann somit als geordnetes Verfahrensrecht angesehen werden. Art und Weise des Widerstandes erfolgen in Wort und Tat in den Grenzen des zugewiesenen Territoriums: im Wort, wenn die rechte Gottesverehrung getrübt ist, in der Tat, wenn ein Angriff auf die Rechte des Reiches unternommen wird; militärisch ist erst dann gegen einen Tyrannen vorzugehen, wenn dieser sich als Feind des Vaterlandes erwiesen hat, also nicht länger pater patriae ist. Der Griff zu den Waffen ist ein Notstand, was zeigt, dass Althusius zwar nicht für einen prinzipiell gewaltlosen Widerstand138 eintritt, aber Abstufungen widerständigen Handelns einführt.139 Hilfreich ist hier das für den Kontext der NS-Terrorherrschaft entwickelte Schema der Stufen abweichenden Verhaltens von Detlev Peukert, der zwischen der generellen und der partiellen Systemkritik einerseits sowie privatem und öffentlichem Handlungsraum andererseits unterscheidet und somit zu folgenden Stufen gelangt: Nonkonformität (1. Stufe), Verweigerung (2. Stufe), Protest (3. Stufe) und Widerstand (4. Stufe).140 Dem Stufenschema zufolge lässt sich das Widerstandsrechtsverständnis Althusius’ beim tyrannus ex defectu tituli auf Stufe 4 ansiedeln, da generelle Kritik am System und privater Handlungsraum im Blick sind, während beim tyrannus ex parte exercicii nur da von genereller Systemkritik gesprochen werden kann, wo dieser sich über die menschlichen (die Fundamentalgesetze) und göttlichen Gesetze (den Dekalog) hinweggesetzt hat. Der Handlungsraum ist per se als öffentlicher zu beschreiben, handelt es sich bei den Ephoren doch um berufene Amtsträger. Alle Stufen kommen in Betracht, abhängig davon, wie weit die Tyrannis fortgeschritten und das ius resistendi verfassungsrechtlich zum Einsatz gebracht worden ist. Was 134

Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, § 47. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, § 55. 136 Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, § 56. 137 Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, §§ 57 – 60. 138 Althusius wendet sich gegen das Problem der unterlassenen Hilfeleistung (vgl. ders., Politica [Anm. 20], Kap. XXXV, § 6). Er übt zudem Kritik am täuferischen Pazifismus. Aus Lk 3,14 ff. und Mt 8 und Apg 10 sei keine Geringschätzung des Soldatenstandes zu entnehmen. Die Exegese der Anabaptisten verfahre unverantwortlich, da sie einem Scheinfrieden das Wort rede: Röm 13,5 stelle klar, dass es Aufgabe des Staates sei, Gott zu dienen, Rechtsbrecher zu strafen und Unterdrückten zu Hilfe zu eilen (vgl. Althusius, ebd.). 139 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, §§ 61 – 62. 140 Detlev Peukert, Die Edelweißpiraten. Protestbewegung jugendlicher Arbeiter im Dritten Reich, 2. Aufl., Köln 1983, S. 236 135

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Umfang und Dauer des Widerstandsrechts angeht, wird von Althusius ein Dreischritt vorgeschlagen: zuerst ist der tyrannische Magistrat durch die Ephoren aus seinem Amt zu entfernen, erst dann ist er zu töten und durch einen neuen Magistrat zu ersetzen.141 Letzteres wird als ultima ratio betrachtet und deckt sich mit der Beobachtung, dass Althusius im Gegensatz zu einigen der Monarchomachen den Tyrannenmord nur in sehr engen Grenzen gestattet (Verbot eines Privatkrieges). Zu a): Wir beschließen Althusius’ Überlegungen zu den Voraussetzungen des Widerstandsrechts anhand der Grenzen dieses Rechts, wie sie in den Paragraphen 65 – 70 aufgeführt sind. Hier wird deutlich, wieso Althusius den Ephoren eher aktiven, den Untertanen nur passiven Widerstand gestattet. Der Fokus der Paragraphen 65 – 70 liegt auf Untertanen und Privatleuten, denen Althusius das Recht zum Widerstand gegen einen tyrannus ex parte exercicii mit Hilfe von Mt 26,51 – 54, Röm 13,1 sowie 1Sam 26,9 abspricht: Das Recht zum Schwertgebrauch ist den Untertanen laut Jesu Weisung nicht gestattet, denn Gewalt bewirkt Gegengewalt (circulus vitiosus). Selbst David habe das Verbot des Königsmordes befolgt und Saul geschont. Privatleute müssen Tyrannen erdulden.142 Widerstandsrechtlich sind sie zu Passivität verdammt. Althusius ergänzt, dass es die Möglichkeit zur Flucht gibt und dass, wenn Gefahr für Leib und Leben besteht, Widerstand denkbar ist, aber nur in enger Absprache mit den Ephoren.143 Flucht wird also als Gehorsamsverweigerung und damit als Vorstufe aktiven Widerstandes (Stufe 2) gedeutet. Obwohl den Untertanen aktiver Widerstand gegen einen tyrannus ex parte exercicii verboten ist, bleibt ihnen das Recht zur Selbstverteidigung. Widerstand gegen einen tyrannus ex defectu tituli ist explizit erlaubt und zwar nicht nur unter Verweis auf die Rechte der Natur, sondern auch unter Verweis auf die heiligen Eide und die Liebe zum Vaterland: Der Usurpator ist ein Privatmann. Alle Untertanen haben die Pflicht ihn abzuwehren: „At tyranno absque titulo regnum invadenti, etiam privata autoritate sine alterius jussu, omnes et singuli patriae amantes optimates & privati resistere & possunt & debent. […] Observandum vero hic, quando juste magistratus officio ab ephoris est privatus tum jus consequendi regni, ejusdem familiae salvum servandum esse, quando scil. ex lege regni fundamentali, ipsius submoti familiae & posteris ex contractu pactove successio in regno competit & debitur.“144

Althusius’ selbstinitiative Beteiligung an der Verteidigung des Gemeinwesens durch Vaterlandsliebe fordert die Bedeutung derselben für das Widerstandsrecht: die defensio in casu neccesitatis jure ist strafrechtlich erlaubt. In dieser extensiven Bedeutung verteidigen die Untertanen das Vaterland und einzelne Provinzen

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Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, § 63. Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, § 65. 143 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, § 67. 144 Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, §§ 68 – 69.

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gegen tyrannische Herrscher. Zudem wird jeder Provinz ein Verteidigungsrecht zugestanden.145 Die Paragraphen 71 – 134 beschließen die Althusianische Widerstandsrechtslehre durch vertiefende Erwägungen zum Verhältnis zwischen dem Magistrat und den Ephoren und durch Althusius’ intensive Auseinandersetzung mit verschiedenen Staatstheoretikern, die die Meinung verbindet, ständische Widerstandsrechte zurückzudrängen. Nähere Betrachtung erfährt der mit der Brille des Althusius gelesene Entwurf von William Barclay, da Althusius sich intensiv mit ihm befasst und die Kontroverse um Souveränität und rechte Herrschaft hier am heftigsten tobt. Im Gespräch mit Barclay deutet sich die ganze Problematik des fürstlichen Territorialabsolutismus an. Althusius unterstreicht, nachdem er die Vor- und Nachteile eines Magistratswechsels abgewogen hat146, erneut, dass das Recht zum Widerstand allein in den Händen der Ephoren liegt.147 Zurückgewiesen wird die nicht nur von Barclay, sondern auch von Gentilis, Beccaria und Arnisaeus geteilte Meinung, dass es ein unantastbares väterliches Recht des Herrschers gebe, das dessen Macht begründe. Interessant ist, wie Althusius auf die erste Tafel des Dekalogs, auf die rechte Gottesverehrung Bezug nimmt und argumentiert, dass die Selbstvorstellung Jahwes in Ex 20,2 als Präambel des Dekalogs zu werten ist.148 Zudem hält Althusius gegen Barclay, Gentilis, Becca145 Vgl. Robert von Friedeburg, Widerstandsrecht, Untertanen und Vaterlandsliebe: Die ,Politica‘ des Johannes Althusius von 1614 und ihre Rezeption in einem ständisch-fürstlichen Konflikt (1647 – 1652), in: Carney, Frederick/Schilling, Heinz/Wyduckel, Dieter (Hrsg.), Jurisprudenz, Politische Theorie und Politische Theologie. Beiträge des Herborner Symposiums zum 400. Jahrestag der Politica des Johannes Althusius 1603 – 2003, Berlin 2004, S. 269 – 271. 146 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, §§ 71 – 75. 147 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, § 76. 148 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, § 77. Der Einfluss des Dekalogs auf die europäische Rechtsgeschichte ist bislang noch wenig erforscht. Nach reformierter Zählung weisen die ersten vier Gebote auf die erste Tafel des Dekalogs hin, während die Gebote fünf bis zehn auf die zweite Tafel rekurrieren. Zur ersten Tafel gehören das Fremdgötterverbot (1. Gebot), das Bilderverbot (2. Gebot), das Namensmissbrauchsverbot (3. Gebot) und das Sabbatgebot (4. Gebot). Zur zweiten Tafel gehören das Elterngebot (5. Gebot), das Mordverbot (6. Gebot), das Ehebruchsverbot (7. Gebot), das Diebstahlverbot (8. Gebot), das Falschzeugnisverbot (9. Gebot) und das Begehrensverbot (10. Gebot). Hinsichtlich des 1. Gebots sei an dieser Stelle ergänzend angemerkt, dass die Fremdgötterkritik des 1. Gebotes, auf die in Althusius der „Politica“ häufig hinweist, als „charakteristischste und folgenreichste Form von Religionskritik im Alten Israel“ angesehen werden kann: Im Kontext der „Thronfolgeverträge des neuassyrischen Großkönigs Asarhaddon mit Vasallenstaaten, wie sie aller Wahrscheinlichkeit nach auch mit Juda geschlossen wurden“, stellt dem mit ihm „geschlossenen Loyalitätseid in kontrastiver Rezeption einen mit JHWH geschlossen Vertrag Israels entgegen“, dessen „Inhalt ein frühes Corpus der dtn. Gesetze“ ist. Damit wird die Beziehung zwischen JHWH und Israel als exklusiv definiert und auf einen neuen Begriff gebracht, der vielfach mit „Bund“, treffender aber mit „Vertrag“ übersetzt wird und der die „Geburt der Bundesvorstellung“ markiert. Besonders ihre politischen Implikationen sind nicht zu unterschätzen: „Das spezifisch Judäische der JHWH-Religion dieser Zeit [sc. 722 v.C.] ist nicht die Bundestheologie als solche, sondern die Revolte gegen die assyrische Herrschafts- und Königsideologie

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ria und Arnisaeus fest, dass der oberste Magistrat nur in einem übertragenen Sinn als pater patriae gelten könne und eine Analogie nichts beweise, sondern nur erläuternden Charakter habe, wie schon die Logik lehre.149 Für Althusius ist Herrschaft nicht natürlich. Sie gründet in Wahl und Krönung. Jetzt bezieht er Erwägungen zum Tyrannenmord in sein Widerstandsrechtsverständnis ein und kennzeichnet den Tyrannenmord als ultima ratio, der folgende Kriterien zugrunde liegen: Die Tyrannis muss erstens öffentlich und zweitens unheilbar sein. Der Tyrann muss drittens die Fundamentalgesetze und Souveränitätsrechte missachten und viertens die bürgerliche Gesellschaft150 beseitigen. Er muss fünftens gegen seine eigene Familie wüten und ihm kann sechstens auf keine andere Art und Weise widerstanden werden.151 Als Begründer des Gottesgnadentums wird Barclay von Althusius scharf angegriffen. Es gehe bei Souveränität, so Althusius, nicht darum, dass ein Untergebener keine Befehlsgewalt über seinen Oberherren habe, wie Barclay meint, sondern darum, dass Souveränität nicht vollständig in einer Person aufgehe; dies sei gottlos. Der einzige Oberherr über Monarchen und Ephoren sei Gott.152 Ein Vergleich Barclays, der zur Unterstützung seiner Lehre vom Gottesgnadentum dienen soll, ist, dass analog der Verhältnisse Ehemann-Ehefrau, Herr-Knecht, Heerführer-Soldat es dem pater familias zwar erlaubt sei, Familienmitglieder zu strafen, aber nicht umgekehrt: diese Form einer paternalistischen Grundlegung des Gottesgnadentums wird mit dem Argument zurückgewiesen, dass ein Vater durchaus die Gewalt über seine Kinder verlieren könne, nämlich da, wo er unmenschlich und kriminell handle.153 Interessant ist, dass Althusius hierzu auf Mk 12,17 verweist: „So gebet dem Kaiser, was des Kaiser ist, und Gott, was Gottes ist!“, was so verstanden werden könnte, dass die Untertanen ihrem Monarchen doch völlig unterworfen sind. Dazu muss man sich aber klarmachen, dass Jesu Antwort in Mk 12,17 „Gegenstand lebhafter Meinungsverschiedenheiten“154 ist: Die äußere Rechte sieht sie antizelotisch (antirevolutionär) und die äußerste Linke verleiht ihr einen zelotischen Akzent – die Steuer wird bejaht und kaiserliche Autorität anerkannt, dieser „aber gleichzeitig die Grenze gewiesen, die mit der göttlichen Autorität gesetzt ist. Der Nachdruck liegt entschieden auf Gott, dem jeder hörig zu sein hat. Im eschatologischen Homittels der Bundestheologie“, so mit Recht Alexandra Grund, Verfehlter Gottesdienst, andere Götter, Kultbilder. Grundfragen der Religionskritik des Alten Testaments, in: Hofheinz, Marco/Meyer zu Hörste-Bührer, Raphaela (Hrsg.), Theologische Religionskritik. Provokationen für Kirche und Gesellschaft (Forschungen zur Reformierten Theologie 1), NeukirchenVluyn 2014, S. 47. Althusius weiß zwar um die politischen Implikationen der reformierten Föderaltheologie, eine solche bietet er jedoch nur in Ansätzen. 149 Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, § 78. 150 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. I, § 2. 151 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, §§ 78 – 79. 152 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, § 81. 153 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, §§ 85 – 89. 154 Joachim Gnilka, Das Evangelium nach Markus (Mk 8,27 – 16,20), EKK II/2, 5. Aufl., Neukirchen-Vluyn 1999, S. 153.

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rizont der Botschaft wird man die Vergänglichkeit irdischer Herrschaft der bleibenden Dauer der Gottesherrschaft gegenübergestellt sehen. So ist die Antwort Jesu keine praktische Regel, die für jede Frage, die in der Beziehung des Menschen zur staatlichen und göttlichen Macht auftaucht, flugs eine Antwort lieferte. Gott hat aber stets die höheren Ansprüche. Wo die imperiale zur göttlichen Macht in Konkurrenz treten sollte, kann die Entscheidung nur zugunsten Gottes getroffen werden. Die Auskunft unterscheidet sich in gleicher Weise vom zelotischen Standpunkt der Auflehnung wie vom apokalyptischen des politischen Desinteresses oder dem der Duldung. Sie bürdet dem Menschen die Verantwortung der Entscheidung auf, wo es gilt, die berechtigte staatliche Forderung anzuerkennen oder die verletzte göttliche Autorität zur Geltung zu bringen.“155

Althusius’ Argumentation ist nicht kasuistisch, sie integriert vielmehr verantwortungs- und situationsethische Elemente. Einem Kaiser gebührt zwar Gehorsam, ein Despot verspielt diesen aber wieder. Die Ephoren geben dem Gemeinwesen also das zurück, was ihm gebührt, nämlich den Schutz des (reformierten) Gottesdienstes, der christlichen Religion und der Rechte des Gemeinwesens. Wie könne da gesagt werden, so Althusius suggestiv, dass die Ephoren unrechtmäßig handelten?156 Barclay stützt die Ephorenkritik auf 1Petr 2,18, Eph 6,5 und 1Tim 6,1: Sklaven hätten im Neuen Testament ihren Herren bedingungslos zu gehorchen, was Jesu Lehre entspreche. Althusius entkräftet das Argument mittels historischer (Bibel-)Kritik und meint, dass zwischen der apostolischen und der gegenwärtigen Zeit eine historische Distanz bestehe, die nicht ohne Weiteres überbrückt werden könne und dass das Neue Testament keine Magistrate kannte. Zudem argumentiert er, dass die Adressaten der Briefe die Kirche und nicht Privatleute seien.157 Barclay unterscheide nicht zwischen gerechtem und ungerechtem Gehorsam, wo doch Eph 6,4 – 9 verdeutliche, dass Christen ungerechter Gehorsam verboten sei. Althusius will nicht biblizistisch ein Widerstandsrecht konstruieren. Die Heilige Schrift liefert ihm eher Hinweise darauf, dass Widerstand in bestimmten Fällen erlaubt, ja geboten sein kann. Folglich ist widerständisches Handeln da als Akt des Gehorsams zu begreifen, wo aus Dienern Gottes (Röm 13,2) Despoten werden. Gerechte Herrschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie um Gottes Gesetz weiß und Sorge trägt um göttliche und menschliche Gerechtigkeit, die duale Souveränität achtet, Gott allein ehrt und mitmenschlich handelt.158 Diese Kriterien helfen Althusius, Barclays Polemik gegen die Monarchoma-

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Gnilka, Evangelium nach Markus (Anm. 146), S. 153 f. Mk 12,17 ist wirkungsgeschichtlich bedeutsam, Gnilka macht zu Recht darauf aufmerksam, dass bei den Reformatoren die Sicht „zugunsten der staatlichen Autorität eher noch verstärkt“ wird und empfiehlt, dass die bislang unbewältigte Aufgabe in der Auslegungsgeschichte dieser Perikope nur darin bestehen kann, „den Christen zum verantwortungsbewußten, aber in seinem Gottesglauben mündigen Glied seines Staates zu erziehen. Wird diese Aufgabe in friedlichen Zeiten nicht geleistet, haben Tyrannen und Freibeuter immer wieder ein leichtes Spiel“, so Gnilka, a.a.O., 154 f. 156 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, § 97. 157 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, § 99. 158 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, § 102.

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chen zurückzuweisen.159 Er widerspricht auch der Vorstellung, dass Menschen höhere Ämter wegen persönlicher Vollkommenheit besäßen und meint, dass es bei Perfektibilität weniger um die Herrschaftsform (Monarchie, Polyarchie) und mehr um die Herrschaftsausübung gehe.160

C. Ertrag Wir kamen von der Frage her, wie es um politischen Widerstand im demokratischen Rechtsstaat bestellt ist und fanden heraus, dass das Recht auf Widerstand keine „bürgerkriegsähnliche Situation“ (Huber, Reuter) hervorruft, sondern als konstitutionell verbürgtes Abwehrrecht Zivilcourage und Rechtstaatlichkeit stärkt. In Zeiten einer in höchstem Maße besorgniserregenden Postdemokratisierung, die einhergeht mit dem Ruf nach „starken Führern“ und mit der Konsummentalität vieler Bürger, erlebt die „Lehre“ vom politischen Widerstandsrecht insofern eine Renaissance, als dass mit ihrer Hilfe machtstaatliche Politik aufgedeckt wird. Leitend dafür war Artikel 20 Abs. 4 des Grundgesetzes und damit der Vorrang des Rechts vor der Macht. Das Phänomen der Postdemokratisierung stellte uns vor zwei zentrale, das ius resistendi mitumfassende Fragen: zum einen die Frage nach der Legitimität und Souveränität der Herrscher und zum anderen die Frage nach den verfassungsrechtlichen Bedingungen und Grenzen von Herrschaft. Da für Johannes Althusius das Recht vor und über der Macht steht, untersuchten wir seine Widerstandsrechtslehre. Als Schwerpunkte dieses Lehrstücks waren die Gedanken vom doppelten Bund, vom Mandatsvertrag und von der Ephorensouveränität auszumachen. Auch wenn Althusius nicht als „Theoretiker des Rechtstaates“ (Winters) und nicht als Vorreiter der Demokratie gelten kann, kann er doch als Verfechter eines ständischen Widerstandsrechts betrachtet werden. Althusius ist scharfer Kritiker des fürstlichen Territorialabsolutismus. Mochte seine regnum-Lehre auch zwiespältig ausfallen, wo ein Staatsdiener zum Kriminellen und ein Mandatar zum Despoten wird,161 da endet die Loyalität gegenüber den Machthabern und ist bürgerlicher Ungehorsam in Gestalt ephoralen Widerstandes von Nöten. Das konstitutionell verankerte Recht auf Widerstand wird also da als Gehorsamsakt verstanden, wo gubernatio und administratio aufhören, wo also aus Dienern Gottes (vgl. Röm 13) Tyrannen (vgl. Apok 13) werden. Die Ephoren werden also benötigt, um menschliche und göttliche Gerechtigkeit wiederherzustellen und Tyrannen notfalls zu vertreiben. 159

Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, §§ 105 – 112. Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXXVIII, § 123. Einer Tyrannis, so Althusius das Widerstandsrechtskapitel abschließend, ist immer und am besten präventiv zu begegnen, darum heißt es in § 134: „praevenire melus sanc est, quam praeveniri, & postquam res desiit esse integra & fanabilis, remedium adhibere. Hoc in casu, qui propulsare potest inijuram & vim, nec facit, aeque reus ac si intulisset, existimatur […].“ 161 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. XXIV, §§ 21 – 29. 160

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Althusius’ ius resistendi kann als verfassungsrechtlich geordnetes Verfahrensrecht162 gedeutet werden, das alle Mittel ausschöpft, um ein Gemeinwesen vor Ungerechtigkeit und Gottlosigkeit zu schützen. Besonders wichtig sind die konstitutionellen Sicherungsmechanismen (Mandatsvertrag als Anstellungsvertrag) und der Dekalog, der Herrscher und Beherrschte an Gottes Wort und Willen bindet und verabsolutierte Herrschaft beschränkt. Für Althusius ist das Gemeinwesen nur da gut regiert, wo alle Glieder des Gemeinschaftskörpers, der Monarch bildet hier keine Ausnahme, sich zusammenschließen, um das gesellschaftliche Leben zu begründen, zu pflegen und zu erhalten.163 Dieses Leben gelingt nur, wenn die Souveränität nicht länger in der Hand einer Person liegt, sondern aufgeteilt wird (doppelte Souveränität), die Souveräne ihre Eide einhalten (Fundamentalgesetze) und Gott ehren, statt sich als gottgleich auszugeben und ihre Bürger Rechtsunsicherheit und Zwangsherrschaft auszuliefern. Die Gesetzestreue der Herrscher ist Ausdruck ihrer Treue zu Gott. Einem ungerechten und gottlosen Herrscher ist kein Bürger Gehorsam schuldig, wie Althusius mittels der clausula Petri nicht müde wird zu betonen. Auch wenn Althusius’ „Politica“ eine konfessionelle Stoßrichtung aufweist und sich hinter den Kampf der freien Niederlande gegen das spanische Herrscherhaus stellt, bleibt Althusius’ Widerstandsrechtslehre alles in allem doch konservativ und kann nur teilweise als säkularisiert bezeichnet werden. Das hängt damit zusammen, dass die „Politica“ einen methodologischen Dreiklang enthält, der rechtliche, theologische und politische Argumente vereint, um so das ständisch gegliederte Gemeinwesen zu verteidigen. Auch wenn Althusius den Fürsten eine breite Allgemeinbildung ihrer Untertanen ans Herz legt, darf nicht vergessen werden, dass er nicht als Verfechter freier Meinungsäußerung gelten kann. Aber stellt wirklich nur die Ephorenherrschaft einen Ausweg aus den Absolutismen Tyrannis (entartete Königsherrschaft) und Ochlokratie (entartete Volksherrschaft164) dar? Steht Althusius nicht letztlich für eine streng „calvinistische“ Variante politischer Theologie, die das Ephorat über alles setzt? Er schafft ein dualistisches Gleichgewicht zwischen Ständen und Regenten, religiöse Bevormundung der Bürger, gepaart mit politischer Zensur, lehrt er jedoch auch, daher kann sein Recht zum Widerstand nur bedingt als Waffe zur Bekämpfung postdemokratischer Tendenzen betrachtet werden. Althusius’ ius resistendi sollte vielmehr als heuristisches Instrument verstanden werden, das absolutistische Staatstheorien transparent macht und auf ihre konstitutionelle Unordnung hin kritisiert, um so

162 Das Widerstandsrecht kann bei Althusius keinesfalls als „Revolutionsrecht des Volkes begriffen werden“, denn es ist „ein der Erhaltung des bestehenden dienendes, keineswegs aber ein auf Veränderung zielendes Recht“, so Peter Jochen Winters, Die „Politik“ des Johannes Althusius und ihre wichtigsten zeitgenössischen Quellen, Freiburg i.Br. 1963, S. 49. 163 Althusius, Politica (Anm. 20), Kap. I, § 1. 164 Vgl. Heinz Antholz, Althusius als Syndicus Reipublicae Embdanae. Ein kritisches Repetitorium, in: Dahm, Karl-Wilhelm/ Krawietz/Werner, Wyduckel, Dieter (Hrsg.), Politische Theorie des Johannes Althusius, Berlin 1988, S. 86.

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den politisch (auch heute) sicherlich nie zu Ende gehenden Weg frei zu machen zu einer Herrschaft gegenseitiger Machtkontrolle.

Gehorsam, Widerstand und Selbstverteidigung zwischen Recht und Religion. Das Beispiel von Libna in der reformierten Tradition* Von Angela De Benedictis, Bologna

A. Einleitung Am Ende des XXXVIII. Kapitels der „Politica methodice digesta“, das der Tyrannis und ihrer Gegenmittel gewidmet ist, fügt Althusius einen Paragraphen (den Paragraphen 110) mit dem Titel „Ob sich einzelne Städte gegen ihren Magistrat erheben dürfen“ (Civitates singulae, an contra magistratum suum insurgere possint) ein, in dem auf Grundlage von 2Kön 8,22 die Stadt Libna als Musterbeispiel vorgestellt wird: „Weiter schließt Barclay in Kapitel 22 die Entscheidung der Frage an, ob einzelne Städte sich gegen ihren Magistrat erheben dürfen. Er verneint dies. Denn die einzelnen Städte werden im Vergleich mit und in Ansehung des ganzen Reichs als Private angesehen, Dig. 50.16.16. Ich bin dagegen der Meinung, dass man hier unterscheiden muss. Denn diese Städte sind entweder einem der Ephoren auf unmittelbare Weise und einem König auf mittelbare Weise untertan, oder umgekehrt nur einem König unterstellt und erkennen keinen anderen Oberherrn an. Im ersteren Fall wollen sie sich entweder der Herrschaft des Königs entziehen und sind dazu nicht imstande, sondern können gegen die Gewalt und das Unrecht des Königs nur die Hilfe ihres unmittelbaren Magistrats erbitten oder vor dem mittelbaren Oberherrn über die Ungerechtigkeit des unmittelbaren Magistrats Klage erheben, wie ich in Kapitel VIII gegen Ende dargelegt habe, siehe auch Gail, Practicarum observationum lib. 1, obs. 17; Vázquez, Illustrium controversiarum lib. 1, c. 8. Sie können sich aber auch für den Fall, dass der erbetene Schutz nicht geleistet wird, einem anderen, Mächtigeren unterstellen, Wesenbeck, Consilia, cons. 48 n. 13; Mynsinger, Responsorum juris cent. 6, obs. 2; Gigas, De crimine laesae majestatis, ilb. 1, qu. 56; Decianus, Tractatus criminalis, lib. 7, c. 49 n. 27 u. ff., oder sich gegen einen notorisch ungerecht handelnden Magistrat durch Widerstand und Ungehorsam verteidigen, Mynsinger, a.a.O., cent. 5, obs. 18; Farinaccius, De crimine laesae majestatis, qu. 23, §§ 86 u. ff. Wenn im zweiten Fall eine Stadt unmittelbar dem König untersteht und keinen anderen Magistrat anerkanerkennt, wird sie sich nicht nur gegen die Tyrannis des Königs verteidigen und diese abwehren, sondern sich auch dessen Herrschaftsgewalt nach dem Beispiel der Stadt Libna, 2. Kön. 8, 22,

* Übersetzt von Dr. Antje Foresta.

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Angela De Benedictis entziehen können, wie ausführlicher in den §§ 50 u. ff. dargelegt ist. Dort habe ich mehrere Beispiele eines derartigen erlaubten Aufstandes aus der Heiligen Schrift angeführt.“1

Die Kontroverse zwischen Althusius und William Barclay bezüglich der Beispielhaftigkeit Libnas wird zudem bereits im vorangehenden Paragraphen 106 „Richtigstellung von Beispielen, die Barclay aus der Heiligen Schrift anführt, aber schlecht auslegt“ (Exempla ex sacris allata a mala interpretatione Barclaii vindicantur) ausführlich dargelegt, und zwar auch auf Grundlage von 2Kön 8,16 – 22, 2Chr 21,10, Jos 21,13 und unter Bezugnahme auf Apg 4,29, also auf den im Vergleich zu den Menschen gegenüber Gott zu leistenden vorrangigen Gehorsam. „Idem Barclajus libro 4. de regno et regali potestate late contra nostram sententiam de tyrannide regis punienda et corrigenda disputat. In c. 7 dicti libri 4. exemplorum ex sacris literis allatorum, vim et robur enervare conatur. … Sed et Libnenses a rege Judae Jehoram recte defecerunt , quia ille in viis regum Israelis et Achabi tyranni amulasse dicitur, 2 Reg. c. 8.16. 17. et seqq. Vel, quia ille Jehovam dereliquerat, ut dicitur 2. Chron. c. 21. 10. Libna vero urbs sacerdotum fuit in Judeae territorio, Josuae cap. 21. 13. Eandem quoque ob causam Edomaei a Juda defecerunt, d. Reg. c. 8. 16. et seqq. Sic quoque quidam homines pii ex Israelitis ad Judam defecerunt a rege Israelis, ob ipsius apostasiam et cultum Dei corruptum atque abolitum, 2. Chron. c. 19. 9. qui Deo potius, quam magistratui obedire voluerunt, Actor. cap. 4“.2

1 Deutsche Übersetzung des lat. Originaltextes, entnommen aus: Johannes Althusius, Politik, übersetzt von Heinrich Janssen, in Auswahl herausgegeben, überarbeitet und eingeleitet von Dieter Wyduckel, Berlin 2003) S 411 – 412. Der lat. Originaltext lautet: „Porro in c. 22 Barclajus subjungit decisionem quaestionis, An civitates singulae contra magistratum insurgere possint. Quod negat. Nam civitates singulae comparatione et respectu Reipublicae totius, loco privatorum habentur, l. eum qui 16. de verb. signif. Qua in re ego distinguendum censeo. Nam, aut illae uni ex ephoris immediate, et regi mediate sunt subditae: aut illae uni ex ephoris immediate, et regi mediate sunt subditae: aut contra immediate regi subsunt, nullum alium superiorem recognoscentes. Priori casu aut volunt se subducere ab imperio regis, et non possunt, sed auxilium sui immediati magistratus, contra vim et injuriam regis implorare possunt, vel sui immediati magistratus injuriam coram mediate superiore accusare possunt; prout disserui cap. 8. in fin. et Geil. lib. 1. obs. 17. Vasq. illust. quaest. lib. 1. cap. 8. vel in casu, non praestitae defensionis petitae, se alii potentiori submittere possunt. Wesenbeck. cons 48. num. 23. Mynsing. cent. 6. obs. 2. Gigas de crim. laes. majest. lib. 1. quaest. 56. Decian. lib. 7. cap. 49. num. 27. et sequentib. in crimin. Vel notorie inique procedentem magistratum, se resistendo vel non parendo defendere possunt. Mynsing. cent. obs. 18. Farinac. quaest. 23. num 86. et sequentibus. Posteriori casu, quando civitas immediate regi subest, nullum alium magistratuum recognoscens, poterit se non solum contra regis tyrannidem defendere, eamque propulsare, sed etiam se ab ejusdem imperio subducere, exemplo civitatis Libnensis, 2. Reg. cap. 8. 22. prout latius edissero in hoc c. 38. §. speciales ephori. n. 50. et seqq. Ejusimodi rebellionis licitae exempla plura ex sacris attuli“, Johannes Althusius, Politica methodice digesta ac exemplis sacris et prophanis illustrata, Herbornae Nassoviorum 1614, S. 928 – 929. Aus reinen Platzgründen verzichte ich darauf, die inzwischen stattliche und bekannte Bibliographie zum XXXVIII. Kapitel der Politica und zu ihrer Interpretation zu zitieren. 2 Althusius, Politica (Anm. 1), S. 925 – 926. In diesem Fall wurde nur der Titel des Paragraphen ins Deutsche übersetzt: Althusius, Politik (Anm. 1), S. 410: „Richtigstellung von Beispielen, die Barclay aus der Heiligen Schrift anführt, aber schlecht auslegt“.

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Noch zuvor wird Libna bezüglich der Aufgabe der speziellen Ephoren als Beispiel einer Stadt zitiert, die auf legitime Weise der Tyrannis Widerstand geleistet hatte, woran Althusius selbst am Ende des Paragraphen 110 erinnert, indem er auf die dem Paragraphen 50 folgenden Paragraphen verweist. Von Libna ist in der Tat im Paragraphen 53 „Ein Einzelner von mehreren Ephoren kann den Herrscher nicht seines Amtes berauben“ (Unus ex ephoris pluribus, non potest regem officio suo privare) die Rede, und zwar am Beispiel eines einzelnen Ephoren oder einzelnen Teils oder Stands des Reichs, der sich zum Zweck der Verteidigung der Untertänigkeit unter den zum Tyrannen gewordenen Magistraten entzieht: „Sed nec uni ex tribus ephoris vel statibus regni, reliquis non consentientibus, licet, quod universis, nimirum magistratui adimere imperium, eumque privatum declarare, vel interficere, vel extra territorii sui, seu regionis sibi adsignatae fines illi resistere, vel eum persequi. Quod enim ad universos spectat, hoc singuli per se et separatim, reliquis, vel maxima illorum parte dissentiente, sibi usurpare non possunt. Licebit tamen parti uni regni, vel singulis ephoris, aut regni statibus, sese subducere a magistratus sui tyranni subjectione, et se defendere. Argumentum hujus rei sumo ex 2. Reg. c. 8. 22. ubi Libna defecit a rege Joram, et sese defendit contra vim et injuriam illius. Intelligendum vero hoc est, modo id non extra territorii sui fines et supra jurisdictionem suae limites fiat, extra quos non habet jus persequendi summum magistratum“.3

Weiter ist Libna das aus der Heiligen Schrift entnommene Beispiel, das zusammen mit Fällen aus der jüngeren Geschichte im nachfolgenden Paragraphen 54 „Bei Untätigkeit der anderen Ephoren darf auch ein Einzelner der Tyrannis Widerstand leisten“ (Cessantibus aliis ephoris collegis, unus potest tyrannide resistere) angeführt wird: „Iniquissimus vero esset, ut si alii, vel universi status regni, nolint sibi consulere, ii qui sapiunt, non possint sibi prospicere et se tueri contra vim et injuriam. Sit ergo aliqua civitas, sint aliqui magistratus inferiores, sint aliqui qui videant magistratus superioris sui vim et tyrannidem; si illi remedium negligant, vel moniti non velint adesse, sed perire, alii vero secus, neque tamen aliter possint auxilium a legitimo civium conventu impetrare ad coercendam tyranni libidinem: tum licet illis bona conscientia sese subducere ab imperio tyranni, non autem illud illi penitus abrogare, quod universi licet, non uni, vel singulis. l. non est 176. de reg. jur. Sic Libna uti diximus, defecit a suo rege, quod ille deseruerat Deum, 2. Chron. c. 21. et Reg. c. 8. 22. Sic Helvetii sese subduxerunt ab imperio Ducis Austriaci, cui imperium non abrogarunt in reliquos. Sic Hollandi, Selandi, Frisii, Geldri et reliqui ordines confederatarum Belgii provinciarum se ab imperio Hispani subduxerunt. Sic quoque reliquae tribus a Rubenitis ob idolatriam defecturae erant. Jos. c. 22. 15. et seqq. et jubentur illos opprimere qui alienos deos defecerunt, Deut. c. 13. 14. 15, adde Reg. c. 23. 15. c. 8. 21. 22. Judic. c. 6. 35. et seqq“.4 3

Althusius, Politica (Anm. 1), S. 906 – 907. In der deutschen Übersetzung des Paragraphen wurde der Absatz mit dem Hinweis auf Libna ausgelassen: Althusius, Politik (Anm. 1), S. 399. 4 Althusius, Politica (Anm. 1), S. 907; Althusius, Politik (Anm. 1), S. 399 – 400. Die Beispiele der Schweizer und der Vereinigten Provinzen werden auch im Paragraphen 52 „Den

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Guten Gewissens hatte sich Libna selbst der Herrschaft des Tyrannen entzogen, auch wenn sie ihrerseits sie ihm nicht vollständig entziehen konnte, da dies nur allen gemeinsam rechtmäßig möglich war, nicht einem allein oder einzelnen. Zu diesem letzten Prinzip legt Althusius eigens ein Gesetz aus den Digesten bei („l. non est 176. de reg. jur.“, D. L, 17, 176).5 William Barclay trat für die Notwendigkeit ein,6 die aufständischen Städte der Majestätsbeleidigung7 anzuklagen. Auf Grundlage des bisher Gesehenen ergibt besonderen Ephoren können sich andere Untertanen anschließen (Speciali huic ephori se aliis subditi adiungere possint)“ angeführt: „Huic autem speciali ephoro, quin se alii subditi quoque conjungere ejusque defensioni subijcere possint, dubium non est. Exemplum praebent historiae Helveticae. Primo enim pauci quidam ordines, oppida, civitates et pagi se opposuerunt tyrannidi Austriacorum principum: Postea hisce se plures alli adjunxerunt. Sic nostra memoria quidam Ordines et Status Belgici se tyrannidi regis sui opposuerunt, quibus se purimi, imo omnes fere reliqui ordines postea conjunxerunt sub conditionibus certis, quas gubernatrix Margareta nomine regis confirmavit, rex vero postea nunquam servare voluit, ut refert Emmanuel Meteranus in histor. suis.“; Althusius, Politica (Anm. 1), S. 906; Althusius, Politik (Anm. 1), S. 399. 5 „Non est singulis concedendum, quod per magistratum publice possit fieri: ne occasio sit maioris tumultus faciendi. Infinita aestimatio est libertatis & necessitudinis“. Zur Frage der Beziehung zwischen Gewissen und Recht vgl. den neueren Band Michael Germann/Wim Decock (Hrsg.), Das Gewissen in den Rechtslehren der protestantischen und katholischen Reformationen / Conscience in the Legal Teaching of the Protestant and Catholic Reformations, Leipzig 2017, insbesondere die Beiträge von Lucia Bianchin, Gewissen und staatliches Recht im Öffentlichen Recht der Frühen Neuzeit, S. 155 – 178; Angela De Benedictis, Gewissen und Widerstand. Eine Polemik gegen die Widerlegung von „De iure magistratuum in subditos“ im Kapitel XXXVIII der „Politica“ von Althusius, S. 126 – 154. 6 Die außerdem schon ausführlich im Kapitel XVIII „Über die Aufgabe der Ephoren“ behandelt wurde: Althusius, Politik (Anm. 1), S. 164 – 191. Die Kontroverse über die Interpretation biblischer Stellen wurde von Heinrich Janssen, Die Bibel als Grundlage der politischen Theorien des Johannes Althusius, Frankfurt am Main/Bern/New York/Paris 1992, S. 99 – 111, in Angriff genommen. Zur Auseinandersetzung des Althusius mit Barclay vgl. die Überlegungen von Diego Quaglioni, L’iniquo diritto. „Regimen regis“ e „ius regis“ nell’esegesi di I Sam. 8, 11 – 17 e negli „Specula principum“ del tardo Medioevo, in: De Benedictis, Angela (hrsg. in Zusammenarbeit mit Annamaria Pisapia), Specula principum, Frankfurt am Main 1999, S. 209 – 242 (242); Lucia Bianchin, Politica e scrittura in Althusius. Il diritto regale nell’interpretazione di I Sam. 8, 11 – 18 e Deut. 17, 14 – 20, in: Campos Boralevi, Lea/ Quaglioni, Diego (Hrsg.), Politeia biblica, Firenze 2002, S. 409 – 430: 417 – 430; Dieter Wyduckel, Konfession und Jurisprudenz bei Althusius, in: Strohm, Christoph/de Wall, Heinrich (Hrsg.), Konfessionalität und Jurisprudenz in der frühen Neuzeit, Berlin 2009, S. 167 – 197 (177 – 182); Dieter Wyduckel, Presentazione dell’edizione italiana della „Politica“ di Johannes Althusius con testo latino a fronte e tesi sul tema „Althusius e la seconda Riforma“, in: Malandrino, Corrado/Savarino, Luca (Hrsg.), Calvino e il calvinismo politico, Torino 2011, S. 205 – 216 (213 – 214). 7 William Barclay, De regno et regali potestate adversus Buchanum, Brutum, Boucherium, & reliquos Monarchomachos, libri sex, Parisii 1600, Liber IIII, Caput XXII, S. 320 – 323: „Brutina iuris inscitia. Dilutum ex Romana historia argumentum. Eius in ambiguitate verbi, Imperator, calliditas. De populi insurrectione ductu Magnatis alicuius, quam proponit, exagitata & reprehensa sententia“. Auf S. 322 widerspricht Barclay zu den Vindiciae contra tyrannos: „Praeterea statuere ut unus magistratus, unave regni civitas caeteris omnibus nec

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sich, dass Althusius in der Auseinandersetzung mit Barclay seine spezifische Unterscheidung immer auf Grundlage der üblichen juristischen Bezüge auf das Corpus iuris civilis gestützt hat, auf Traktate, Kommentare und consilia. All diese beschäftigen sich, wie wir sehen werden, mit demselben Problem, dem der universitates delinquentes, d. h., um es mit dem bekannten Aufsatz von Walter Ullmann zu sagen, mit „the delictal responsibility“8 von Korporationen wie Gemeinden und Städten. Die grundlegende Bedeutung dieses Problems wird in der juristischen Lehrmeinung des ius commune seit dem 12. Jahrhundert fortlaufend bezeugt, und damit auch im „pensiero giuspolitico della prima età moderna in tema di sovranità e obbedienza“.9 Und das gilt oft auch im Zusammenhang mit dem Beispiel der Stadt Libna. Es lohnt sich, die juristischen Autoritäten zu überprüfen, die Althusius heranzog, um seine Position gegen diejenige Barclays zu untermauern. Als er über die Städte spricht, die direkt einem der Ephoren und indirekt dem König unterstehen (und dabei auf das verweist, was er bereits am Ende des VIII. Kapitels behandelt hatte, welches der Verwaltung des Provinzrechts gewidmet ist, und zwar im Paragraph 92, der die Pflicht eines Provinzregenten bei der Verteidigung der Untergebenen betrifft),10 stützt er sich sowohl auf Andreas Gail („Geil. lib. I. ob-

consentientibus nec conniventibus, imo contradicentibus, Regis se imperio subducere, & eum bello persequi possit, non solum iuris disciplinae repugnat, quae civitates singulas, in comparatione & respectu totius reipublicae, privatorum loco habet & neutiquam permittit, ut unus ex pluribus eiusdem dignitatis socii, invitis caeteris, aliquid innovet. Qua ratione unius Tribunorum intercessio reliquorum omnium in re nova introducenda conatus irritos & inanes faciebat. Sed naturali etiam aequitati, atque adeo communibus regni commodis, & publicae tranquillitati adversatur, quae nunquam non assiduis rebellis evertentur, si & cuilibet Magistratuum fas esse multitudinem cogere, atque armare in Principem insolita atque tyrannica imperantem: & ipsa multitudo necessitate constringeretur ad eiusmodi Magistratus vocem, tanquam ad Dei ipsius classicum canentis, concurrere, ut autor hic falso nititur nobis persuadere“. Über Barclay Paul-Alexis Mellet, Les Traités monarchomaques. Confusion des temps, résistance armée et monarchie parfaite (1560 – 1600), Genève 2007, S. 37 – 44; Wyduckel, Konfession und Jurisprudenz bei Althusius (Anm. 6), S. 177 – 182. 8 Walter Ullmann, The delictal responsibility of medieval corporation, in: The Law Quarterly Review (1948), S. 76 – 96. 9 Diego Quaglioni, „Universi consentire non possunt“. La punibilità dei corpi nella dottrina del diritto comune, in: Nubola, Cecilia/Würgler, Andreas (Hrsg.), Suppliche e „gravamina“. Politica, amministrazione, giustizia in Europa (secoli XIV–XVIII), Bologna 2002, S. 409 – 425 (420). 10 Althusius, Politica (Anm. 1), VIII, De juris provincialis administratione, § 92, Praefecto provinciae non faciente officium in defendendis sui subditis, tum illi alii se submittere possunt, S. 165: „Quod si talis provinciae praeses tempore necessitatis suos subditos non protegit, vel auxilia illis ferre recusat, tum illi se alli submittere possunt. Gigas de crim. laesae majest. lib. 1. quaest. 56. Toming. consil. 13. n. 43. et seqq. Felin. in c. cum non liceat. n. 12. 8. consid. de praesript. Decianus lib. 7. crim. c. 49. n. 27. et seqq. Wesenb. consil. 48. n. 23. Alcit. in l. placet. n. 11. C. de sacros. eccles. Myns. cent. 6. obs. 2. Alberic. Gentil. de jure belli lib. 1. cap. 23. Socin. consil. 39. Paul. Castrens. in l. ex hoc iure. de iustit. et jur. num. 18.“ Vgl. Althusius, Politik (Anm. 1), Die Verwaltung des provinzialen Rechts, S. 109.

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serv.17I“11) als auch auf Fernando Vázquez Menchaca („Vasq.ill. quaest. lib. I, cap. 8“12), um zu verfechten, dass „sie gegen die Gewalt und den Missbrauch durch den König ihren unmittelbaren Magistraten um Hilfe anrufen können“. Matthaeus Wesembeck, Joachim Mynsinger, Girolamo Gigante und Tiberio Deciani werden hingegen verwendet, um die Möglichkeit der Städte zu bekräftigen, sich einem anderen Magistraten oder Oberen zu unterstellen:„Wesenb. cons. 48, num. 23I.“13 ; „Mynsing. cent. 6. obs. 2.“14; „Gigas de crim. laes. maiest. lib. I, quaest. 56.“15; „Decian. lib. 7. cap. 49. num. 27 & sequen. in crimin.“16. Die Lehre vom rechtmäßigen Widerstand von Städten, die sich gegen einen Magistrat verteidigen können, der notorisch unbillig handelt, wird erneut sowohl von Mynsinger („Mynsing. cent. 5. obs. 18.“17) als auch von einem anderen italienischen Kriminalisten geboten („Farinacc. quaest. 23. n. 86 & sequentibus“18).

11 Andreas von Gail, Practicarum observationum tam ad processum iudiciarium … quam causarum decisiones pertinentium libri duo, Coloniae Agrippinae 1580, I, Observatio XVII, „Domini saevitia in subditos quomodo mandatis poenalibus coerceri possit“, S. 28 – 29. 12 Fernando Vázquez Menchaca, Controversiarvm Illustrivm Aliarvmqve Vsv frequentium Libri Tres, Francofurti ad Moenum 1572, I, Cap. VIII, 18: „Civem male tractatum a domino, princeps superior eximere potest etiam non requisitus“, S. 30. 13 Matthaeus Wesembeck, Responsorum sive consiliorum … pars prima, I, Francofurti 1600, Cons 48, De iure patronatus, & visitatione, 23. Protectionem ab alio, quam superiore, permissum est universitati quaerere, S. 764: „Nam alias permissum est communitati alicui se dare in protectionem alterius, etiamsi alioqui sit sub aliquo episcopo, ut contra iniustam vim defendatur. Etenim talis defensio etiam subditis permissa est, ut eam undecumque quaerere possint, nec per id intelligitur imminui iurisdictio superioris“. 14 Joachim Mynsinger von Frundeck, Singularium Observationum Imperialis Camerae Centuriae VI, Helmstadium 1599, Centuria VI, Observatio II, S. 448: „Confederationes & ligae an & quando iure sint permissae?“, 4 – 5: „Ius permittit confederationes, si fiant ad aliquem bonum: ut puta ad defensionem tam rerum, quam personarum“; 6. „Societates et ligae inter civitates vel principes, initae ad defensionem, sive superiorem agnoscant, sive non, iure sunt licitae“; 8. „Sunt enim tum licitae [contra Supremum Principem] si quis timeat se de facto spoliatum iri“. 15 Girolamo Giganti, Tractatus de crimine laesae maiestatis, Lugduni 1557, I, Quaestio LVI, S. 103: „Subditi Imperatore eos negligente defendere, nec valentes ipsi eorum viribus se tueri, possunt se submittere altero domini potentiori qui eos defendat“. 16 Tiberio Deciani, Tractatus criminalis, Venetiis 1590, VII, Cap. XLIX, „De excusationibus reorum“, S. 185, nn. 27 – 29: „Principi deneganti iustitiam, resisti potest, sicut et domino vassallus frangenti fidem frangat. Item principe subditos non defendente, alteri se supponere possunt“. 17 von Frundeck, Singularium Observationum (Anm. 14), Centuria V, Observatio XVIII, S. 351: „Magistratui, an & quando liceat resistere?“, 1. „Iudici extraiudicialiter, & de facto procedenti, licite resisti potest, sive gravamen sit reparabile, sive non, et hoc communiter teneri“. 18 Prospero Farinacci, Praxis Et Theoricae Criminalis Libri Duo, Francofurti 1606, Liber Primus, Titutlus Quartus (De carceris et carceratis), Quaestio XXXII, S. 508, n. 88: „Iudici et eius officialibus iniuste exequenti resisti potest“.

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Öffentliches kaiserliches Recht des 16. Jahrhunderts, Zweite Scholastik und die Schule von Salamanca19 sowie die „italienische“20 kriminalistische Doktrin sind also die Quellen, deren Althusius sich bedient, um eine bereits lange Diskussionstradition über die universitas delinquens fortzuführen, die er zudem in gewisser Weise erneuert, indem er parallel die Beispielhaftigkeit der Stadt Libna einführt. Bei Althusius ist Libna Subjekt öffentlichen Rechts, das sich wie alle anderen Städte der Vergangenheit und der älteren oder jüngeren Gegenwart der Obrigkeit rechtmäßig entziehen kann, indem sie rechtmäßig einen Krieg gegen den König/Magistrat führt (also re-belliert), welcher zum Tyrannen geworden ist. So wurde es auch bereits bei Stephanus Junius Brutus gesehen, der für den Syndicus von Emden eine positive Bezugsautorität ist, während er für Barclay ein „Monarchomach“ war, der bekämpft werden musste. Althusius greift – und das ist die Arbeitshypothese, die ich zu beweisen versuche – jene Beispielhaftigkeit Libnas auf, die die hugenottischen „Monarchomachen“ Barclays als erste aus der Lektüre des Alten Testaments herausgegriffen hatten und dabei übrigens mit der Analogie zwischen öffentlichem Recht und Altem Testament argumentierten. Eine Beispielhaftigkeit, die über die Vermittlung von Althusius auch später im Lauf des 17. Jahrhunderts von englischen und schottischen Autoren in Werken, die sich mit der legitimen Selbstverteidigung beschäftigen, hervorgehoben wird. Aus dieser kulturellen Tradition versuche ich im Folgenden einige Passagen aufzuspüren, die ich bislang ausfindig machen konnte.

B. Libna als Problem unmittelbar nach dem Massaker der Bartholomäusnacht Jeder Leser zweier berühmter „monarchomachischer“ Traktate, die den „Vindiciae contra tyrannos“ bzw. dem „Le Reveille-Matin“ (1574) und dem „Du droit des magistrats“ (1575) vorangehen, kann nachprüfen, dass Libna bereits hier als Beispiel dient.21 Auf der anderen Seite führt uns die nunmehr klassische Historiographie über die „Drei Triumviri“22 zu dem, was man gegenwärtig für den Beginn der Geschichte der 19

Wyduckel, Konfession und Jurisprudenz bei Althusius (Anm. 6), S. 171 – 172. Angela De Benedictis, Majestätsverbrechen und Verfassungsfrage: Althusius und die italienischen Juristen, in: von Friedeburg, Robert/Schmoeckel, Mathias (Hrsg.), Recht, Konfession und Verfassung im 17. Jahrhundert. West- und mitteleuropäische Entwicklungen, Berlin 2015, S. 11 – 27. 21 Wie bereits von Mellet, Les Traités monarchomaques (Anm. 7), S. 141, für das Du droit des magistrats angezeigt. 22 Ralph E. Giesey, The Monarchomac Triumvirs: Hotman, Beza, and Mornay, in: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance, XXXII (1970), S. 41 – 56; Mellet, Les Traités monarchomaques (Anm. 7), S. 64 – 72. 20

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Beispielhaftigkeit Libnas halten kann: im Wesentlichen zu den Beziehungen zwischen den Reformatoren Peter Martyr Vermigli, François Hotman und Heinrich Bullinger sowie zu der entscheidenden Phase der Belagerung der hugenottischen Stadt La Rochelle nach dem Massaker der Bartholomäusnacht. Denn zu Beginn steht Libna für La Rochelle. Wir können das bei Robert Dareste23 zu Hotman, Donald R. Kelley24 zu Hotman sowie zuerst Marvin Walter Anderson25 und dann Robert M. Kingdon26 zu Vermigli nachlesen. Folgt man einer der Quellen, der Kingdon große Aufmerksamkeit gewidmet hat, nämlich Simon Goulart27, dann kann man sogar feststellen, dass Libna bereits in einem der Texte auftaucht, die unmittelbar aus der Belagerung von La Rochelle hervorgingen, dem „Discours des jugements de Dieu contre les tyrans: recueilli des histoires sacrees & profanes, & nouvellement mis en lumiere“ von 1573. In einer Folge von Analysen, die notwendigerweise Quellen und Historiographie zu eben diesen Quellen miteinander verbindet, betrachten wir nun den Diskurs, der gegenwärtig den absoluten Beginn der Beispielhaftigkeit Libnas im politisch-juristischen Denken darzustellen scheint, in dem die „Politica“ des Althusius einen zentralen Moment darstellt. Im Jahr 1876 veröffentlichte Robert Dareste fast vollständig einen von ihm vom Lateinischen ins Französische übersetzten Brief von Hotman an Bullinger vom 12. Dezember 1572.28 Das Problem war jede mögliche Selbstverteidigung La Rochelles gegen die Tyrannen und Folterknechte. Eine Selbstverteidigung – so schrieb Hotman – auch gegen die von einigen Papstanhängern aus Lyon mit Briefen verbreiteten Nachrichten, in denen sie verkündeten, dass das Volk von La Rochelle überall die königlichen Embleme entfernt und die eigene „ancienne indépendance“ – so übersetzte Dareste „pristina libertas“ – eingefordert habe. Freilich, kommentierte Hotman, sei die Forderung zum Beschluss freigegeben worden.29 Dareste fasste anschließend eine Passage des Briefs von Hotman zusammen: „Hotman examine alors la question de savoir si la Rochelle a le droit de se séparer de la France, et il n’est pas éloigné de le lui reconnaître. Il y a d’abord l’exemple de la ville de 23 Robert Dareste, François Hotman. Sa vie et sa correspondance (I), in: Revue historique, I (1876), 2, S. 1 – 59. 24 Donald R. Kelley, François Hotman. A Revolutionary’s Ordeal, Princeton 1973. 25 Marvin Walter Anderson, Peter Martyr. A Reformer in Exile (1542 – 1562). A chronology of biblical writings in England and Europe, Niewkoop 1975. 26 Robert M. Kingdon, The political thought of Peter Martyr Vermigli. Selected texts and commentary, Genève 1980. 27 Robert M. Kingdon, Myths about the St. Bartholomew’s Day Massacres 1572 – 1576, Cambridge 1988, vor allem S. 51 – 69. 28 Dareste, François Hotman (Anm. 23), S. 57 – 59. 29 Dareste, François Hotman (Anm. 23), S. 57 – 58. Dank einer digitalisierten Kopie des in der Zentralen Bibliothek Zürich, Ms. A 44, c. 703 aufbewahrten Originals des Briefes konnte ich nachprüfen, dass Hotman tatsächlich von „pristina libertas“ gesprochen hat.

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Lobna (Rois et Paralipomènes). En second lieu, la Rochelle ne s’est donnée à la France qu’à la condition qu’on ne la contraindrait point à recevoir garnison. Or, ce n’est pas une garnison qu’on veut donner aux Rochelais, ce sont des bourreaux“.30

Indem er sofort danach den Originaltext des Briefes aufgriff, gab Dareste den von Hotman zwischen La Rochelle und den Schweizern gezogenen Vergleich bezüglich des Rechts, sich der Herrschaft zu entziehen, wieder: „Je ne vois pas de quel droit on blâmerait le fait des Rochelois, alors qu’on loue le courage des Suisses qui ont revendiqué leur indépendance“; ebenso das Gerücht, dass die Einwohner La Rochelles daran dächten, sich mit den Engländern zu verbünden, wenn nicht gar sich ihnen zu unterwerfen („Cependant le bruit court que les Rochelois songent à s’allier ou plutôt à se donner aux Anglais“). Es folgte die Bitte Hotmans an Bullinger: „Si vous pouviez écrire en Angleterre en leur faveur, je crois que vous rendriez un grand service à nos malheureux frères“.31 Die Antwort des Theologen Bullinger an den Juristen Hotman32 löste das gestellte Problem eigentlich nicht, nämlich ob es für die Einwohner La Rochelles rechtens war, ihre urprüngliche Freiheit zu verlangen und sich vom Joch des Königs zu befreien, so wie die Schweizer es getan hatten. Es war schwierig für Bullinger, über eine solche Frage zu urteilen. Auf der einen Seite war der Theologe der Ansicht, nicht über die entsprechenden Kompetenzen zu verfügen. Er wolle nicht, dass ein gewagter Ratschlag seinerseits ihn zum Verantwortlichen für das Massaker und die Tötung zahlreicher Menschen mache. Er sei nicht in der Lage zu sehen, auf welche Weise die Bürger La Rochelles ihren Abfall vom Magistrat verteidigen könnten, so tyrannisch er auch sein mochte, da sie dafür kein ausdrückliches Mandat seitens des Herrn hätten. Auf der anderen Seite seien die apostolische Doktrin und Beispiele der Schrift zu diesem Betreff bekannt und eindeutig (aber Bullinger führte sie nicht aus). Es sei schrecklich, sich einem Fürsten zu unterstellen, der wegen Grausamkeit und Heimtücke infam sei und der in jeglicher Weise die wahre Religion auslöschen und jene falsche einführen wolle. Eine wahrhaft schwierige Frage. Guten Gewissens konnte Bullinger lediglich den Herrn darum bitten, die frommen Menschen zu erleuchten, damit sie nichts gegen das Richtige und Gerechte tun, und darum, die Unterdrückten aus den Händen blutrünstiger und gottloser Männer zu befreien.33 30

Dareste, François Hotman (Anm. 23), S. 58. Dareste, François Hotman (Anm. 23), S. 59. 32 Wiedergegeben von André Bouvier, Henri Bullinger, Neuchâtel 1940, S. 536 – 538 (Appendice a la troisième partie, XIX. De la résistance au magistrat impie). 33 Bouvier, Henri Bullinger (Anm. 32): „… cupis meam audire sententiam de Rupellanis. An eis liceat se Helvetiorum more vindicare in pristinam libertatem, iugo regis abiecto? Ego vero in husiusmodi negotiis iudicium meum non libenter interpono, quod circumsiantiae rerum mihi pernspectae non sint, quod difficile sit iudicare in eius modi causis, praesertim imperito ut mihi, quod item nolim esse author cladium et interitus multorum hominum, se illi meo obsequentes consilio inconsulto, ruant in perniciem. … Nunquam enim Helvetii sub domo Austriaca servierunt. Semper liberi fuerunt. … et quidem ut genti liberae sub imperio, ac non sub domo Austriaca. … Ita ut sudore et sanguine multo constiterit nos libertas patriae nostrae. Quam multi iam proh dolor dividendum Regi Francorum, et dudum prodiderunt. 31

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Das Bullinger vonseiten Hotmans gestellte Problem – ein Dilemma, über das in La Rochelle selbst diskutiert wurde – war ein „most interesting and crucial point of public law“. So kommentierte etwa ein Jahrhundert nach Dareste Donald R. Kelley den Brief Hotmans an Bullinger34 und beurteilte Libna („the Hebrew city which took up arms against the tyrannical king Joram, son of Ahab“) als „revolutionary archetype“35. Auch wenn die von Kelley wiedergegebenen Passagen aus dem Brief weitaus weniger umfassend sind als die bei Dareste publizierten, gestattet es insbesondere eine davon zu beobachten, wie Hotman damals, am Ende des Jahres 1572, Libna mit La Rochelle identifizierte. Der hugenottische Jurist tat dies anhand des Kommentars zu 2Kön 8,22, den der reformierte Theologe Peter Martyr Vermigli während seiner Vorlesungen in Zürich 1562 angefertigt hatte und welcher postum 1566 veröffentlicht wurde: „For there seems to be the clear precedent of the city of Libna, in the Book of Kings, which Doctor Martyr himself noted“.36 Um „a crucial point of public law“ handelte es sich mithin in der Tat auch für Vermigli. Für den Theologen, der bis zur Mitte der fünfziger Jahre „asserted the right of lesser magistrates to challenge unfaithful rulers“ und vermittels des Kommentars zu Ri 12.6 „quite explicit about resistance against wicked rulers“37 gewesen war, hatten gerade die Züricher Vorlesungen und der Kommentar zu 2Kön 8,22 eine Gelegenheit geboten, um seine „political views of lesser magistrates“38 weiterzuentwickeln. Eine unmittelbare Lektüre einiger Passagen aus Vermiglis Text „Malachim. Id est, Regum Libri Duo Posteriores“ erlaubt sowohl die Verifizierung dessen, was bereits bei Kelley bezüglich der Gründe festgestellt wurde, aufgrund derer Libna sich der Dominus coherceat eos et liberet ab hostibus cruoris, sanguinis at auri insatiabilibus impiis et audacibus. Nisi vero Dominus Rupellanis et aliis qui se nunc Regi obiicunt potenti gratia sua succurvenit, ut quondam Ezechiae et Hierosolymitanis contra Regem Assyriorum Senacheberium, egre suis eluctubantur viribus. Nec dum videre possum quomodo defectionem suam defendere possint, qui a magistratu suo licet tyrannico, sine expresso Dei mandato, aut argumentis alioqui irrefragabilibus deficiunt. Notissima est hic Apostolica doctrina ut et plurima Scripturae exempla manifesta sunt. Interim vero horrendum est ei se dedere Principi, qui ex crudelitate perfidiaque infamis est, et religionem veram extinctam falsam restitutam modis omnibus cupit. Difficilior ergo est quaestio illa quae tu mihi proponis, quam ego ad eam sana conscientia repondere possim. Dominum oro ut et ipse iustos periclitantium illuminet ne quid contra aequum et iustum tentent, et maioribus se implicent periculis, et liberet oppressos e manibus sanguinariorum et impiorum hominum“. 34 Kelley, François Hotman (Anm. 24), S. 228. 35 Kelley, François Hotman (Anm. 24), S 228. 36 Kelley, François Hotman (Anm. 24), S. 228. Es lohnt sich daran zu erinnern, dass auch Kathleen A. Parrow, From Defense to Resistance: Justification of Violence during the French Wars of Religion, in: Transactions of the American Philosophical Society, 83 (1993), No. 6, S. 256, Kelley nachfolgend unterstrichen hatte, wie allgemein „the ethical and practical issues which both Huguenot and Catholic resistance writers faced paralleled those which Roman law writers had raised concerning self-defense and sovereignty, and their arguments frequently reflected an understanding of this similarity with the addition of a religio-biblical element“. 37 Anderson, Peter Martyr (Anm. 25), S. 391. 38 Anderson, Peter Martyr (Anm. 25). S. 401.

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Herrschaft der Judäer und des Joram entzogen hatte, als auch der Nähe dieser Gründe zu den Auffassungen Vermiglis zu den niederen Magistraten, wie von Anderson unterstrichen wurde. Zusammengefasst: Da die Menschen von demjenigen abrücken können, der wegen Götzendienst und Rebellion gegen Gott von Gott abrückt, müssen die Untergebenen [desjenigen, der von Gott abrückt] ihm nicht gehorchen. In der Tat hatte dieser den Pakt mit Gott gebrochen. Königreiche und Republiken brechen wegen Götzendienst und falscher Religion zusammen. Aus genau diesem Grund hatte sich die Stadt Libna Joram entzogen. Die Bürger Libnas hatten es nicht akzeptiert, Götzendiener zu sein, und sie mussten es auch nicht akzeptieren.39 Man muss sich also nicht wundern, wenn nach dem Massaker der Bartholomäusnacht der Kommentar Vermiglis in einer Situation herangezogen wurde, in der die „political pressures forced many to seek arguments from scripture in self-defense“.40 Aus der Antwort Bullingers wissen wir, dass Hotman bei seiner Suche nicht bestärkt wurde. Dennoch trugen bereits wenige Monate nach dem Briefwechsel zwischen dem Juristen und dem Theologen die dramatischen Ereignisse der „heroic communities“ Sancerre und La Rochelle – wie sie von Robert M. Kingdon bezeichnet wurden – dazu bei, „to move attention from individual martyrs for the Reformed faith [Coligny and many other individual Protestants] to entire communities of martyrs“.41

39 Petrus Martyr Vermigli, Malachim. Id est, Regum Libri Duo Posteriores, Tiguri 1566, 261r-v: 223. „Rursum defecit Edom ab imperio Iehudah usque ad diem hanc: tunc defecit Libnah eo tempore. … Ioramus itaque re infecta discessit, & poenam talionis luit. Nam qui per idolatriam a Deo suo defecerat, subditorum vicissim passus est rebellionem. Et qui deo parere noluit, subditorum obedientia destituitur: quique devinum foedus violavit, non iniuuria foedus humanum experitur rescindi. Nec Deus amplius ad aillum tuendum et iuvandum tenebatur, cum ille condictionem pacti minime implevisset. … Hoc iterum exemplum monemur idololatria & perpetuo cultu regna & respublicae labefactari atque imminui: solida vero pietate augeri & confirmari. Iosephus hunc locum tractans ait, Edomaeos occidisse Proregem Iudaeum, qui ut missus erat a Rege uda, ita illi tributum solvebat: & addit, eos Regem sibi constituisse, qui nullo pacto a Iuda penderet. Nedum autem Idumaei a Ioramo defecerunt, sed etiam Libna praeclarissima civitas, Sacerdotalis alioquin. Et Edomaeis, qui a Davide usque ad ea tempora cultum veri Dei, ut quidam volunt, retinebant, foedere se coniunxit. Id an verum sit, in medium relinquo. Cum autem defecerit, causa non hoc loco, sed in Paral. Describitur: nimirum ob Regis impietatem, qui suos subditos nitebatur cogere ad idolatriam: quod ipsi Libnenses pati noluerunt. Et merito: Principibus enim parendum est, verum atque ad aras. Et cum illam terram inhabitandam a Deo eo foedere habuissent, ut ibi illum iuxta eius verbum colerent, iure eius idolalatriam admittere non debuerunt. Ioramus ergo re infecta de Edomaeis, & Libnensium defectione perculsus, & a Palestinis atque Arabibus tanta, quam diximus, clade affectus, demum infoeliciter obijt, & regio funere caruit, quamvis in civitate Davidis fuerit sepultus“. 40 So Anderson, Peter Martyr (Anm. 25), S. 409, der sich ausdrücklich auf den Brief Hotmans an Bullinger bezieht. 41 Kingdon, Myths about the St. Bartholomew’s Day Massacre (Anm. 25), S. 51.

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Daher rührt, wie im Folgenden zu sehen sein wird, der ,Erfolg‘ des exemplum Libna. Weiter oben wurde auf die Bedeutung der Sammlung von Simon Goulart, „Memoires de l’estat de France, sous Charles neufiesme. Contenans les choses plus notables, faites et publiées tant par les Catholiques que par ceux de la religion“, angespielt, von der hier der zweite, 1578 in Genf veröffentlichte Band interessiert.42 Hier spielen die Ereignisse von Sancerre und La Rochelle nach der Bartholomäusnacht im Jahr 1573 die Hauptrolle; zudem werden die Fragen wiedergebeben, die von den Einwohnern der beiden hugenottischen Städte diskutiert worden sind.43 Dann wird der Text der „France Gaule“44 eingefügt; der des „Du droit des Magistrats“45 (auf den ich bezüglich Libnas länger zurückkommen werde), und der des „Discours des jugements de Dieu contre les tyrans: recueilli des histoires sacrees & profanes, & nouvellement mis en lumiere“ (1573)46, auf den oben angespielt wurde und in dem bereits ein Bezug auf Libna erscheint, der scheinbar vollständig im „Malachim“ von Vermigli übernommen worden ist47. Die Identifikation der beiden französischen Städte aus der gegenwärtigen Zeit mit der Stadt, über die die heiligen Geschichten sprechen, erfährt eine ausführlichere Argumentation in einigen Seiten des „Le Reveille-Matin“ (1574)48, bei dem sich ein kurzes Innehalten lohnt. Im zweiten Dialog begegnen sich der Historiker und der Politiker und unterhalten sich über den gegenwärtigen Zustand Frankreichs und zum Teil auch über den Englands; über die Macht des Königs, die Tyrannis, die freiwillige Sklaverei und über andere besonders wichtige Fragen im Angesicht der Zeiten. Dem Historiker, der hervorhebt, wie die Einwohner La Rochelles als Rebellen und Aufständische verurteilt werden, antwortet der Politiker, dass man vor einem jeden Richter das Gegenteil beweisen könne. Dem Historiker, der das Argument vertiefen möchte, antwortet der Politiker weiterhin mit der französischen Geschichte, die von den acht von den Ständen abgesetzten Königen Frankreichs erzählt. Dabei beschäftigt er sich auch mit den Ereignissen in La Rochelle. Die Stadt habe sich, nachdem sie sich der Untertänigkeit 42 Simon Goulart, Memoires de l’estat de France, sous Charles neufiesme. Contenans les choses plus notables, faites et publiées tant par les catholiques que par ceux de la religion, Second Volume (http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-3394). 43 Goulart, Memoires (Anm. 42), 239r–268r. 44 Goulart, Memoires (Anm. 42), 375v–483v. 45 Goulart, Memoires (Anm. 42), 482v–522r. 46 Goulart, Memoires (Anm. 42), 554r–629v. 47 Goulart, Memoires (Anm. 42), 560v–561r. Über Goulart s. vor allem Mellet, Les Traités monarchomaques (Anm. 7), S. 72 – 75; Cécile Huchard, D’encre et de sang. Simon Goulart et la Saint-Barthélemy, Paris 2007. 48 Le réveille-matin des François, et de leurs voisins, composé par Eusèbe Philadelphe, cosmopolite, en forme de dialogues, A Edimbourg, par l’imprimerie de Iacques Iames, 1574 (Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France).

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der Engländer entzogen habe, dem König von Frankreich zu gewissen Bedingungen unterworfen, über die bereits Jean Froissard in seiner Geschichte gesprochen habe. „Toutes les autres villes de la France pareillement sont soumise sous des conditions & avec speciaux privileges, qu’on leur a iuré & promis, Puis que celuy a qui elles sont soumises, n’observe ce qu’il a promis, & qu’il n’y a point de moyen d’avoir un juge, pourquoy ne leur sera-il loisible de se distraire de telle suiection? Et de se faire à un besoin justice à eux-mesmes de tant de concussions, extorsions, violences, paillardises, cruautez, trahisons & autres telles infametez, desquelles les brigans & volleurs abusans du sacré nom du Roy, de Pieté & de iustice, commetent en leur endroict. Ioram fils de Iosaphat ayant succedé à son pere au royaume de Iuda, introduisit les dieux entrangers & le service des Idoles parmi le peuple. Lobna ville sacerdotale en Iuda voyant cela, se retirera de luy pour ne plus estre sous la main de Ioram: pource, ce dit l’Escripture, qu’il avoir delaisse Dieu le Seigneur de ses peres 2. Chron. 21. Il n’y a nulle doute qu’entre nous les loix divines ne doiuent estre en plus grand poix & estime que les humaines“.49

Wie La Rochelle und andere Städte Frankreichs, für die es rechtens sei, sich den Herren zu entziehen, denen man sich unterworfen habe, wenn diese die versprochenen und beim Akt der Unterwerfung unter Schwur zugesagten Privilegien nicht achteten, so habe sich Libna Joram entzogen, der dem Volk fremde Götter aufgezwungen habe und die Pflicht, diese anzubeten. Angesichts solcher Argumente kann der Historiker nur der Tatsache beipflichten, dass die Bürger La Rochelles sich gegen den Tyrannen verteidigt hätten und daher nicht die Bezeichnung als Aufständische verdienten. Im Gegenteil, alle diejenigen, die ihnen nicht bei der Verteidigung zur Hilfe kämen, seien überaus schlechte Mitbürger und Landsmänner sowie schlechte Nachbarn: „Mon Dieu que ie suis aise de t’avoir ouy avancer & deduire tant de bonnes & belles raisons pour la iustification de nos freres. Elles ne sont que trop suffisantes pour prouuer, qu’il a esté loisible à la Rochelle & autres villes & provinces oppresses du reng desquelles on peut mettre toute la France, au quatre coins & au milieu, de l’obeisìssance & suiection du tyran: & pour le moins de se deffendre contre l’invasion de ses satellites, concussion de ses officiers, oppression de ses gabelliers, violeneces & infametez de sa cour. … En tant s’en faut qu’en se deffendant, ou retirant de tyran, on acquiere le nom de seditieux, qu’au contraire ceux-là son tresmauvais concitoyens, compatriotes, & mauvais voisins, qui ne s’adioignent a eux“.50

49 Le réveille-matin (Anm. 48), S. 92. Vgl. Mellet, Les Traités monarchomaques (Anm. 7), S. 73, jedoch ohne Bezug auf Libna. 50 Le réveille-matin (Anm. 48), S. 93 – 94. Leider war es mir nicht möglich, die neueste zeitgenössische Edition, die im Dezember 2016 gedruckt wurde, einzusehen, Le Reveillematin des François, Édition de Jean-Raymond Fanlo, Marino Lambiase, Paul-Alexis Mellet, Paris 2016, um zu überprüfen, ob die Herausgeber die Abschnitte hervorgehoben haben, auf die ich die Aufmerksamkeit gelenkt habe.

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C. Das gute Gewissen der niederen Magistrate: Libna im Du droit des Magistrats Um sich gegen die Unterdrückung durch den Tyrannen zu verteidigen, kann sich La Rochelle im „Le Reveille-Matin“ seinem Herrscher entziehen, so wie Libna es getan hatte. Wie zu sehen war, erfährt zwischen 1572 und 1574 die anfänglich Ende 1571 und Anfang 1573 von Hotman und Bullinger diskutierte Frage schließlich eine deutliche Identifikation in der hugenottischen Reflexion. In den beiden nachfolgenden Meisterwerken „Du droit des magistrats sur leurs subjets“ (1575) („De iure magistratuum“ 1576) Bezas aus dem Jahr 1576 und den „Vindiciae contra tyrannos“ von1579 („De la puissance legitime du Prince sur le peuple, et du peuple sur le Prince“ (1581)) schwindet der Bezug auf den speziellen gegenwärtigen Fall La Rochelle. Libna und ihre Bürger bleiben als Beispiel der Typologie von Untergebenen, denen die rechtmäßige Möglichkeit bzw. Pflicht zugestanden wird, dem Tyrannen zu widerstehen. Diesen beiden Eckpfeilern des hugenottischen Denkens soll jetzt die Aufmerksamkeit gewidmet werden. Das gute Gewissen51 ist das Kriterium, das im „Du droit des magistrats“ die Untergebenen anleitet, die gegen einen zum Tyrannen gewordenen Herrscher agieren können und müssen. Dies können die niederen Magistrate tun, oder diejenigen, die die Aufgabe haben, die Herrschaft des Magistrats zu beschränken und zu bremsen, also der zweite und dritte Typ von Untergebenen.52 Unter den niederen Magistraten53 befinden sich auch die Regenten der Städte des republikanischen und des kaiserlichen Roms; in der police Israels die Anführer der 51 Zur Frage vgl. jetzt den kürzlich erschienenen Band Germann/Decock (Hrsg.), Das Gewissen (Anm. 5). 52 Du droit des magistrats sur leurs subjets: traitté tres necessaire en ce temps pour advertir de leur devoir, tant les magistrats que les subjets, publié par ceux de Magdebourg l’an M.D.L. & maintenant reveu & augmenté de plusieurs raisons & exemples, 1575, S. 26 – 27: „II reste maintenant à deduire vne question fort demenee de nostre temps, & non sans cause: assauoir, Ce que peuuent faire les subiets en bonne conscience, quand leurs Magistrats souuerains autrement legitimes deuiennent Tyrans tous manifestes: & si tel cas aduenant, l’authorité des souuerains changéz en Tyrans manifestes est sacree & inuiolable iusques là, qu’il faiile que les subiets l’endurent sans aucune resistance: & posé le cas qu’on puisse resister si on en peut venir iusques aux armes. Ie respon qu’il ya trois sortes de subiets: car les vns sont personnes du tout priuees, & sans aucune charge d’estat: Les autres sont Magistrats aussi, mais au dessus du souuerain, & par consequent subalternes ou inferieurs: Tiercement, il en y a d’autres, lesquels encores qu’ils n’aient la puissance souueraine & ordinaire à manier, toutesfois sont ordonnez pour seruir comme de bride & de frein au souuerain Magistrat. Et comme ces especes sont diuerses, ainsi en faut-il respondre diuersement“. Ich verwende hier die französische Originalausgabe, um die Lektüre des Textes zu erleichtern, wie ich es auch im Folgenden für die „Vindiciae contra tyrannos“ tun werde, bei denen ich Auszüge aus der ersten französischen Übersetzung wiedergeben werde. 53 Zur Frage der niederen Magistrate verweise ich hier für alle auf Mellet, Les Traités monarchomaques (Anm. 7), S. 140 – 145.

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zwölf Stämme, die Anführer der Tausend, der Hundert und der Fünfzig sowie die Ältesten des Volks; in den zahlreichen christlichen Reichen der gegenwärtigen Zeit auch die Wahlbeamten der Städte wie Bürgermeister, Konsuln, Hauptmänner, Schöffen und andere, deren Ämter, auch wenn sie zu Erbämtern geworden waren, dennoch nicht das Wesen der Rechte und der Autoritäten jener Beamter verändert hatten.54 Wenn das Gewissen eines jeden Absicherung braucht, ist die heilige Geschichte in der Lage, sichere und unanfechtbare Beispiele zu liefern.55 Zu diesen Beispielen gehört neben jenem Davids, der auf unrechte Weise von Saul angegriffen wird und sich auf rechte Weise mit Waffen verteidigt und schließlich aus Keïla (2Sam 2,1; 1Sam 23,9; 1Sam 25,28) flieht, auch das überaus klar ersichtliche Beispiel Libnas, das mit einer Spezifikation herausgehoben wird im Vergleich zu dem, was die vorangehenden hugenottischen Texte aus der jüngeren Lektüre von 2Chr 22,10 aufgegriffen hatten. Auch die Idumäer hatten sich der Unterwerfung unter Joram in derselben Zeit entzogen, in der Libna dies getan hatte. Doch während Erstere einzig von dem Wunsch angetrieben waren, ihre Freiheit wiederzuerlangen, hatte die Priesterstadt dies hingegen getan, um zum wahren Gott zu gelangen, um dem ewigen Gott zu gehorchen, den Joram verlassen hatte. „Nous auons vn autre exemple tres-euident en la cité de Lobna, domicile assigné aux Sacrificateurs, qui se retira de l’obeissance de Ioram sixieme successeur de Dauid. La raison de ce fait adioustee en l’histoire, assauoir d’autant que Joram auoit abandonné l’Eternel Dieu de leurs peres, & la qualité de la ville qui estoit sacerdotalle nous monstrent clairement que ce fait eft bien autre, que la reuolte des Idumeens, qui aduint sous le mesme Roy, & en vn mesme temps. Car les Idumeens (comme il eft vrai semblable) ne se retirerent pas de la suiection d’Israël pour adherer au vrai Dieu, qu’ils ne suiuirent iamais de bon cueur, ains seu54 Du droit des magistrats (Anm. 52), S. 31 – 32: „Ie vien maintenant aux Magistrats inferieurs & qui sont comme en degré subalterne, entre le souuerain & le Peuple, entendant par ce nom non pas les officiers de la maison d’vn Roy, & plustost affectez à vn Roy qu’à vn Royaume: mais ceux-là qui ont les charges publiques, & de l’estat, soit touchant l’administration de iustice, soit du fait de la guerre, appelléz pour ceste cause en vne monarchie Officiers de la couronne, & plustost du Roiaume que du Roy, estant ces deux choses bien differentes. Tels estoient à Rome les Consuls, les Preteurs, le Gouuerneur de la ville, les Gouuerneurs des Prouinces attribuées au Peuple & au Senat, du temps mesmes des Empereurs, & autres semblables officiers de la Republique ou de l’Empire, qui pour ceste cause du temps mesmes des derniers Empereurs sont appelez magistrats du peuple Romain: tels estoient en Israël les Chefs des douze Tribus, les Capitaines des milliers, les centeniers & Cinquanteniers, & Anciens du peuple: Laquelle police establie sous Moise n’a point esté abolie du temps que l’estat Aristocratique fut changé en Monarchique: ains a esté rengee, & exactement distrubuee sous Salomon. Tels sont auiourdhui les officiers de plusieurs roiaumes Chrestiens, entre lesquels il est raisonable de conter les Ducs, Marquis, Comtes, Vicontes, Barons, Chastellains qui ont iadis esté estats & charges publiques, qui se commettoient par ordre legitime, & qui depuis pour eftre deuenues dignitez hereditaires, n’ont pourtant changé la nature de leur droit & authorité: comme aussi il faut comprendre en ce nombre les officiers electifs des villes, tels que font les Maires, Viguiers, Consuls, Capitoux, Scindiques, Escheuins, & autres semblables“. 55 Du droit des magistrats (Anm. 52), S. 38: „Mais venons à l’histoire sacree, qui nous fournira d’exemples certains & irrefragables pour asséurer la conscience d’vn chacun“.

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Angela De Benedictis lement esmeus de la haine des Israëlites, & du desir de recouurer leur liberté. Mais les Sacrificateurs de Lobna (ou pour le moins les seigneurs de ceste ville là apres Dieu, si on veut dire que les Sacrificateurs s’en fussent retirez au parauant) firent preuue de leur pieté, quand ne pouuans obeir à Dieu & au Tyran, ils se retirerent de l’obeissance d’icelui pour demourer auec Dieu“.56

Sowohl das Beispiel Davids als auch das Libnas sind ausreichend, um das Gewissen jener niederen Magistrate abzusichern, die dazu gezwungen sind, die Waffen gegen einen Tyrannen zu erheben, nachdem sie alle anderen möglichen Heilmittel ausprobiert haben. Man weiß, dass sie auf diese Weise nicht nur keinen Aufstand veranstalten, sondern ihn sogar verhindern, so wie es die schweizerischen Gemeindemagistrate getan hatten, die die Freiheit erlangt hatten, die sie heute noch genießen. „Ces deux exemples, outre les raisons que dessus, sont si certains & authentiques, qu’à mon advis, ils suffisent pour asseurer la conscience des Magistrats inferieurs, estans contraints apres auoir essaié tous autres remedes, de s’emploier iusques aux armes, seulement pour conseruer les leurs contre une manifeste Tyrannie, & non pour faire sedition, mais pour l’empescher: Comme aussi il est notoire que du temps de nos ayeux la Tyrannie de ceux qui dominoient sur les Suisses a fait ouuerture à leurs Magistrats municipaux à la liberté; de laquelle ils iouissent au iourdhui“.57

Auch was die dritte Art von Untertanen58 betrifft, bildet Libna eines der vier grundlegenden Beispiele, wenn man die Monarchie Israels und die doppelte Verpflichtung von König und Volk gegenüber Gott sowie den gegenseitigen Schwur zwischen König und Volk (den Ständen jenes Volks) untersucht. „Voire mais, dira quel qu’un, Le Peuple (c’est à dire, Les Estats de ce peuple) avoient ils droit de reprimer la personne qu’ils avoient choisi pour dominer, s’il ne faisot son devoir? Ie di, qu’oui, & trouue de ceci quatre exemples: car si, comme il a esté ci dessus monstré, il a esté loisible à Dauid de se défendre contre la tyrannie de Saül, & à Lobna de se retirer de l’obeissance de Ioram (qui toutesfois n’ont esté que Magistrats inferieurs) Ie conclu à bon droit que les Estats du Roiaume ont eu droit de passer beaucoup plus outre“.59

Sich mit Waffen gegen religiöse Verfolgung auf Grundlage des guten Gewissens zu verteidigen, ist sicher eine Frage, die beträchtliche Zweifel aufwirft, auf die eine Antwort gefunden werden muss.60 Auf den ersten Zweifel (wenn die Religion das Gewissen betrifft, das nie gezwungen werden kann, dann folgt daraus, das es nicht mit Waffen abgesichert werden kann, sondern nur mit der Predigt des Wortes 56

Du droit des magistrats (Anm. 52), S. 40 – 41. Du droit des magistrats (Anm. 52), S. 41 – 42. 58 Du droit des magistrats (Anm. 52), S. 42: „Nous auons maintenant à parler de la troisieme espece de subiets, lesquels (encores qu’à la verité & en certain esgard ils soient sous-mis à l’obeissance du souuerain) toutesfois en vn autre esgàrd & en cas de necessité sont establiz Protecteurs des droits de la souueraineté, pour retenir le souuerain en son deuoir, & mesmes le reprimer & chastier, si besoin est“. 59 Du droit des magistrats (Anm. 52), S. 42. Die anderen beiden Beispiele sind die Jojadas gegen Athalja und Jerusalem gegen Amazja. 60 Du droit des magistrats (Anm. 52), S. 115. 57

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Gottes und mit Gebeten und Geduld) ist zu antworten, dass es erlaubt ist, sich mit diesem Mittel aufzulehnen, wenn ein sichtbarer Gebrauch der Tyrannis vorliegt, der dem Gewissen den Götzendienst aufzwingen will; denn der Zustand der Religion ist der wichtigste von allen.61 Auf den zweiten Zweifel, der von dem Fall derer illustriert wird, die das Martyrium erlitten haben, ohne den Oberen Widerstand geleistet zu haben, welche die Edikte zugunsten der Christen gebrochen haben, führt die Antwort ein weiteres Mal das Beispiel Libnas an (zusammen mit dem Jerusalems gegen Amazja und dem Konstantins gegen Maxentius): „Que tout ce qui est licite, n’est pas toutesfois tousiours expedient, & ie ne di pas aussi qu’il soit tousiours necessaire, que la Religion authorisée par les Edits, soit maintenue par les armes contre la Tyrannie manifeste. Mais que cela se peust faire en bonne conscience par ceux qu’il appartient, quand Dieu en donne les moiens, tesmoin l’exemple de Lobna contre Ioram, & de Ierusalem contre Amasias & de la guerre de Constantin (à la requeste de ceux de la ville de Rome) contre Maxence, donc i’ai ci-dessus parlé. Et conclu par cela que non seulement il faut tenir pour Martirs ceux qui auront vaincu sans resistance, & par la seule patience, la Tyrannie des persecuteurs de Verité: mais ceux aussi, qui suffisamment authorisez des Loix, & de ceux qu’il appartient, emploient leurs personnes pour la deffence de la vraie Religion“.62

Es handelt sich um eine mit einigen wichtigen Gründen bekräftigte Antwort. Sosehr das, was rechtmäßig ist (die durch königliche Edikte genehmigte Religion durch Waffengebrauch gegen die Tyrannis derer, die diese Edikte nicht respektieren, erhalten), nicht notwendig ist; sosehr viele Märtyrer bezeugt haben, dass man die Tyrannis der Verfolger der Wahrheit auch ohne Widerstand zu leisten besiegen kann); so sind trotzdem auch diejenigen Märtyrer, die zur Verteidigung der wahren Religion von Waffen und Bewaffneten Gebrauch machen, da sie ausreichend von den Gesetzen dazu autorisiert sind.

D. Für Beispiele kämpfen, nach dem Recht urteilen: Libna im De la puissance legitime du Prince sur le peuple, et du peuple sur le Prince Die Rolle der Städte und der Bürger, die als Teil des Reichs (und somit als wesentliche politische Subjekte) die wahre Religion angesichts der Bedrohungen seitens der Fürsten und der Könige/Kaiser verteidigen, indem sie je nach Fall dem einen und/oder dem anderen widerstehen, ist eindeutig eine zentrale in den „Vindiciae contra tyrannos“, das wie bekannt zwei Jahre nach der ersten Edition (1579) auf Latein ins Französische übersetzt wurde als „De la puissance legitime du Prince sur le peuple, et du peuple sur le Prince. Traité tres-utile & digne de lecture en ce temps, 61 62

Du droit des magistrats (Anm. 52), S. 115 – 116, 122 – 123. Du droit des magistrats (Anm. 52), S. 123 – 124.

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escrit en Latin par Estienne Iunius Brutus, & nouvellement traduit en François“ (1581). Es handelt sich um das in der zweiten Frage („S’il est loisible de resister à un Prince qui opprime ou ruine un estat public, & iusques où ceste resistance s’estend. Item à qui, comment, & de quel droit cela est permis“) angegangene Problem, das Brutus in Betracht zieht, denn anlässlich der gegebenen Zeiten verdient es, beachtet und ausgiebig diskutiert zu werden. „Mais il se presente ici une autre question, la quelle merite d’estre consideree & amplement debatue pour la circonstance du temps. Posons le cas que quelque Roy vueille abolir la Loy de Dieu ou ruiner l’Eglise: que tout le peuple ou la plus grande part y consente: que tous les Princes, ou le plus grand nombre d’iceux, face semblant de rien: que ce pendant une petite poignée de peuple, asavoir quelqu’un des Princes & quelques Magistrats vueillent conserver la Loy de Dieu entiere & inviolable, & seruir purement au Seigneur: que sera-il loisible de faire, si le Roy veut contraindre ceux-ci d’estre idolatres, ou leur veut oster l’exercice de la vraye Religion?“63

Bei jenem kleinen Teil des Volks – manch ein Fürst, manch ein Magistrat – der das Gesetz Gottes vollständig und unantastbar bewahren möchte, handelt es sich nicht um Privatpersonen, die als solche nicht als Teil eines Gesamtkörpers angesehen werden können, sondern sie sind ebenso sehr jede Stadt oder Provinz, die Teil des Gesamtkörpers ist, wie der Magistrat, der jene Stadt oder Provinz regiert. „Nous ne parlons point ici des privez & particuliers considerez un par un, & qui ne sont estimez parties du corps entier, comme les aix, les cloux, les cheuilles ne sont parties d’un basteau: ni les pierres, cheurons, la blocaille, ne sont parties d’une maison: mais nous parlons de quelque ville ou Province, qui face vne portion du royaume, comme la proue, la pouppe, la carene & autres telles parties sont le basteau: le fondement, le toict, les murailles sont la maison. Nous parlons aussi du Magistrat qui gouverne ceste ville ou Prouince. S’il faut combatre par exemples , encores que nous en ayons peu en main, à cause de la nonchalance des hommes quand il est question de maintenir le service de Dieu: toutesfois si en avons nous quelques uns, que nous proposons, pour estre posez & receus selon qu’ils le meritent“.64

Unter den wenigen verfügbaren Beispielen für die Bekämpfung all jener, die die Ausübung der wahren Religion behindern wollen, befindet sich die Stadt Libna, die sich dem Gehorsam gegenüber Joram entzogen hat, weil jener Fürst den Gott seiner Väter verlassen hat. „Lobna, ville des Sacrificateurs, se soustrait de l’obeissance de Ioram, Roy de Iuda, & quitte ce Prince, pource qu’il avoit abandonné le Dieu de ses peres, lequel ceste ville vouloit seruir, & peut-estre craignoit aussi qu’on ne la contraignist de sacrifier à Baal“.65 63

De la puissance legitime du Prince sur le peuple, et du peuple sur le Prince. Traité tresutile & digne de lecture en ce temps, escrit en Latin par Estienne Iunius Brutus, & nouvellement traduit en François, 1581 (http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-6435), S. 66. 64 De la puissance legitime du Prince (Anm. 63), S. 67. 65 De la puissance legitime du Prince (Anm. 63), S. 67.

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Brutus weiß, dass Zweifel an der Zulässigkeit des Beispiels Libnas bestehen (wie auch an den anderen beiden beigefügten Beispielen aus dem Alten Testament: die Makkabäer und Deborah). Doch wenn diese Beispiele keine gültigen Beweise für den zu zeigenden Zweck darstellen, gibt es trotzdem Tatsachen, die es zum selben Zweck gestatten, auf Grundlage des Rechts zu urteilen. „Mais dautant que Debora semble avoir eu une vocation extraordinaire: que l’Escriture n’aprouve pas en termes expres le fait de ceux de Lobna, encores qu’en se taisant elle semble le trouver bon: & que l’histoire des Machabees n’a pas eu grande autorité en l’Eglise anciene: & que lon dit communement qu’il faut prouver son dire par loix & tesmoignages, non point par exemples: examinons par le fait ce qu’il faut iuger selon le droit en la matiere dont est question“.66

Es handelt sich um das dem promissorischen Eid innewohnende Recht: sowohl das des Königs zum Erhalt der Kirche, als auch das des Volks Israel, das als Körper betrachtet wird, der Gott dasselbe Versprechen macht. Und das Volk Israel wird von den christlichen Städten und ihren Magistraten gebildet. „Nous auons dit, que le Roy iuroit de garder la Loy de Dieu, & promettoit, autant que ses moyens se pourroyent estendre de maintenir l’Eglise: que le peuple d’Israel, consideré / en vn Corps, faisoit la mesme promesse à Dieu, stipulant par le Souuerain Sacrificateur. Or nous disons maintenant que toutes les villes, & tous les magistrats d’icelles villes, qui sont parts & portions du royaume, promettoyent chascun d’eux pour son regard, & en termes expres faire le mesme: ce que toutes villes & communautez Chrestiennes ont fait aussi, encores que ç’ait esté sans parler“.67

Die Beweise finden sich sowohl in der heiligen Geschichte, vor allem in Könige und Chroniken („Pour preuve de ce que dessus ie prie le lecteur de feuilleter diligemmet l’Histoire saincte, specialment és livres des Rois & és Chroniques“68), als auch im gegenwärtigen Gebrauch, wie er im deutschen Reich von Prälaten, Grafen, Baronen und Abgesandten der kaiserlichen Städte anlässlich der Kaiserkrönung gepflegt wird. Wenn hier Prälaten, Grafen und Barone dem Kaiser nicht die Treue halten, dann liegt es an den Städten, diese Briganten niederzuschlagen. Sie haben nicht nur das Recht dazu, sondern auch die Pflicht, denn anders würden sie den gegenüber dem Kaiser geleisteten Schwur nicht einhalten. Sie wären ebenso schuldig wie die Briganten. „Pour esclairer encores mieux cela, prenons un exemple de ce qui est auiourd’huy en vsage. En l’Empire d’Alemagne, quand il faut couronner l’Empereur, les Electeurs & Princes de l’Empire, tant laics qu’Ecclesiastiques, s’y trouuent en personne, ou y enuoyent leurs ambassadeurs. Les Prelats, Comtes, Barons, & tous les deputez des villes Imperiales y viennent aussi, auec mandement special. Lors ils font hommage à l’Empereur, ou pour eux-mesmes, ou pour ceux qu’ils représentent, auec & sous certaines conditions. Or maintenant, presupposons qu’vn de ceux-là qui a fait hommage volontairement tasche puis apres de degrader 66

De la puissance legitime du Prince (Anm. 63), S. 69. De la puissance legitime du Prince (Anm. 63), S. 69 – 70. 68 De la puissance legitime du Prince (Anm. 63), S. 71.

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Angela De Benedictis l’Empereur, pour se mettre en sa place: que les Princes & Barons denient à leur Souuerain le secours & tribut qu’ils luy doiuent, & que mesmes ils s’entendent auec l’autre qui conspire pour se emparer du throne Imperial: estimez-vous que ceux de Strasbourg ou de Nuremberg, qui ont obligé leur foy au legitime Empereur n’ayent droit de reprimer & forclorre ce brigand-là? Mais au contraire, s’ils ne le font, s’ils ne donnent fecours à l’Empereur en telle neccessité, pensez-vous qu’ils ayent satisfait à leur promesse? veu que celuy qui n’a conservé son goueurneur, lors qu’il auoit moyen de ce faire, doit estre tenu aussi coulpable que celuy qui a commis la violence“.69

Es lohnt sich zu unterstreichen, dass das von Brutus ausdrücklich in den marginalia des Textes beigefügte Gesetz („L. 3. l. omne delict. §. ult. D. de re mil.“) im Zusammenhang mit dem letzten, oben zitierten Abschnitt aus einem Gesetz (Omne delictum) aus dem Buch XLIX der Digesten mit dem Titel De re militari (D. 49.16.6) besteht, insbesondere für die beiden letzten Paragaphen 8 und 9.70 Brutus stützt sich also auf ein Prinzip des öffentlichen Rechts aus dem Corpus iuris civilis, um die Rolle der Städte als konstitutive Teile des politischen Körpers zu bestätigen (in diesem Fall des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation), wofür er weiterhin das Beispiel der Stadt Libna zur Identifikation nutzt. „Si ainsi est (comme chascun le reconoit assez) est-il pas loisible à ceux de Lobna & de Modin, & leur deuoir leur enioint-il pas d’en faire autant , si les autres Estats du royaume ont delaissé Dieu, au seruice duquel ils conoissent estre obligez de se ranger?“71

Und das vom Feudalrecht gebildete öffentliche Recht wird von Brutus erneut bezüglich des zweiten der beiden Schwüre, die das doppelte Bündnis des Volks mit Gott darstellen, verwendet: das des Gehorsams gegenüber dem König, der das Volk regiert und führt. Ein alles andere als bedingungsloser Gehorsam; ganz im Gegenteil wird dem Volk erlaubt, dem König zu widerstehen, der ihm befiehlt, Gott von sich selbst [dem Volk] zu entfernen. „Mais si le Roy passe outre, & enuoye des lieutenans qui nous contraignent d’estre idolatres, & s’il nous commande de chasser Dieu du milieu de nous, fermerons nous pas la porte au Roy & à ses officiers plustost que chasser hors de nostre ville le Seigneur Dieu qui est le Roy des Rois? Que les bourgeois & citoyens des villes, Que les Magistrats & gouuerneurs du peuple de Dieu demeurant és villes considerent ici qu’ils ont traité deux alliances & fait deux sermens. La premiere & la plus anciene auec Dieu, à qui le peuple a iuré d’estre son peuple: la seconde & prochaine ensuiuante avec le Roy, à qui le peuple a promis obeis69

De la puissance legitime du Prince (Anm. 63), S. 72 – 73. „Omne delictum est militis, quod aliter, quam disciplina communis exigit, committitur: veluti segnitiae crimen vel contumaciae vel desidiae. 8. Qui praepositum suum non protexit, cum posset, in pari causa factori habendus est: si resistere non potuit, parcendum ei. 9. Sed et in eos, qui praefectum centuriae a latronibus circumventum deseruerunt, animadverti placuit“. Sowohl mit Blick auf dieses und andere Gesetze der Digesten, die im folgenden zitiert werden, als auch mit Blick auf die Rubriken der Libri feudorum, die weiter vorne wiedergegeben werden, ist es Pflicht darauf hinzuweisen, dass die Jurisprudenz des allgemeinen Rechts, von der der Autor der Vindiciae Gebrauch machen konnte, überaus zahlreich war (so wie es nach ihm Althusius tun würde, der allerdings unmittelbar und genau diese Jurisprudenz zitierte). 71 De la puissance legitime du Prince (Anm. 63), S. 72 – 73. 70

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sance comme à celuy qui est gouuerneur & conducteur du peuple de Dieu. Ainsi donc, comme si vn Viceroy coniurant contre son souuerain, encores que il eust receu vne tresgrande autorité, s’il nous sommoit de luy liurer le Roy qu’il tiendroit assiegé dans l’enclos de nos murailles, il ne faudroit pas luy obeir, ains luy resister par tous moyens selon la teneur de nostre serment de fidelité: semblablement, estimons que c’est vne meschanceté du tout detestable, si à l’appetit d’vn Prince, qui est vassal & seruiteur de Dieu, nous chassons Dieu habitant au milieu de nous, ou le liurons, entant qu’en nous est, és mains de ses ennemis“.72

Die Ähnlichkeit des Vizekönigs, dem die Untergebenen auf Grundlage des Treueschwurs nicht gehorchen, sondern Widerstand leisten sollen, falls er gegen den herrschenden König beider [des Vizekönig und der Untergebenen] sich verschworen haben sollte, wird hier von Brutus mit einem Verweis auf das zweite der Libri feudorum eingeführt, insbesondere auf die Rubriken De forma fidelitatis und De nova forma fidelitatis (in den marginalia zum Text zitiert als: „10. Collat. de forma fidei. & c. 1. de nova fide l. form.“). Doch würde diese Gehorsamsverweigerung aus Gründen der Religion, sollte sie auch nur einmal akzeptiert werden, nicht der Rebellion Tür und Tor öffnen? Würden die Städte, die sie anwendeten, nicht des Verbrechens der Rebellion angeklagt werden können? „Vous direz, peut-estre, Que les villes apartienent au Prince. Et moy, ie respon, que les villes ne consistent point en monceau de pierres, ains en ce que nous appellons peuple: Que le peuple est peuple de Dieu, auquel il est obligé premierement, & secondement au Roy. Quant aux villes, combien que les Rois ayent puissance sur icelles, toutesfois le domaine en apartient aux citoyens & bourgeois. Car tout ce qui est en vn royaume est bien sous la domination du Roy, mais non pas de son patrimoine. Dieu à la verité est seul Seigneur proprietaire de toutes choses , & c’est de luy que le Roy tient son domaine, & le peuple son patrimoine. C’est donc à dire, repliquerez vous, que pour le fait de la Religion il sera loisible aux suiets se reuolter de l’obeissance du Roy. Si lon accorde vne fois cela, sera- ce pas ouurir la fenestre à rebellion?“73

Die negative Antwort des Brutus auf den Einwand wird auf Grundlage der Apg 5,29, des Augustinus und ein weiteres Mal eines Gesetzes aus dem Corpus iuris civilis formuliert. „Or escoutez ici patiemment, & considerez la chose de pres. Ie pourrois respondre en vn mot, s’il faut de deux choses en faire l’vne, qu’il conuient plustost se destourner du Roy que de Dieu: ou, auec saint Augustin, au quatriesme liure de la Cité de Dieu, chapitre quatriesme, & au liure dixnefuiesme, chapitre vingtvniesme, Que là où il n’y a point de iustice, iln’ya point de Republique. Qu’il n’y a point de iustice, quand l’homme mortel veut arracher l’homme d’entre les mains de Dieu, pour le rendre esclaue du Diable, puis que iustice est vne vertu qui 72

De la puissance legitime du Prince (Anm. 63), S. 74 – 75. Zu den Beziehungen zwischen Feudalrecht und öffentlichem Recht, Gerhard Dilcher/Diego Quaglioni (Hrsg.), Gli inizi del diritto pubblico. 3. Verso la costruzione del diritto pubblico tra medioevo e modernità / Die Anfänge des öffentlichen Recht. 3. Auf dem Wege zur Etablierung des öffentlichen Rechts zwischen Mittelalter und Moderne, Bologna/Berlin 2011. 73 De la puissance legitime du Prince (Anm. 63), S. 74 – 75.

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Angela De Benedictis rend à chascun ce qui luy apartient: & que ceux qui se soustrayent de telles dominations se garantissent de la tyrannie des malins esprits, & abandonnent vne multitude de brigands, non pas la Republique. Mais, pour reprendre le propos de plus haut, ceux qui se porteront comme dit a esté ci dessus, ne semblent nullement estre accusables du crime de reuolte. Ceux là quittent le Roy ou la Republique, qui d’vn cœur ennemi se soustrayent de l’obeissance du Roy ou de la Republique: au moyen dequoy ils sont tenus pour aduersaires, & souuent sont beaucoup plus à craindre que tous autres ennemis. Mais ceux dont nous parlons n’ont rien qui aproche de cela“.74

Sie können auf keine Weise der Rebellion angeklagt werden. Die Begründung, die Brutus liefert, ist beinahe buchstäblich die Übersetzung eines Gesetzes aus dem Buch IV der Digesten, das in den marginalia des Textes zitiert wird, „L. 5. D. de cap. minut.“ (Dig. 4.5.5.1): „Qui deficiunt, capite minuuntur (deficere autem dicuntur, qui ab his, quorum sub imperio sunt, desistunt et in hostium numerum se conferunt): sed et hi, quos senatus hostes iudicavit vel lege lata: utique usque eo, ut civitatem amittant“. Das Verbrechen der Rebellion kann nicht dem zur Last gelegt werden, der einem Fürsten den Gehorsam verweigert, welcher seine Grenzen überschreitet und gegen den Herrn Krieg führt, welcher wiederum sowohl über ihn als auch über das Volk herrscht. In einem solchen Fall den Gehorsam zu verweigern, ist kein feindlicher Akt, es bedeutet nicht, ein Feind des Fürsten zu sein. „Premierement ils ne refusent point d’obeir, moyennant qu’on leur commande ce qu’ils peuuent de droit, & que ce ne soit chose contre l’honneur de Dieu. Ils payent volontiers les tailles, peages, dons, & charges ordinaires, moyennant que cela n’abolisse point le tribut qu’ils doyent à Dieu. Ils obeissent à Cesar, tandis qu’il commande en qualité de Cesar; mais quand Cesar passe ses limites, quand il veut vsurper une domination qui n’est pas siene, quand il tasche d’enuahir le throne de Dieu, quand il fait la guerre au Seigneur Souuerain de luy & du peuple, eux estiment que ce n’est pas raison d’obeir lors à Cesar. En apres, à proprement parler, ils ne sont point d’actes d’hostilité. C’eft estre ennemi, quand on irrite, quand on prouoque autruy, quand de gayeté de cœur on dresse & commence les parties de la guerre. Eux ont esté agacez, assaillis par armes descouuertes & par trahifons: la mort les enuironnant de toutes parts ils prenent les armes , & parent aux coups qu’on leur tire. Vous n’auez pas paix auec les ennemis quand vous voulez: car si vous posez les armes, si vous cessez de guerroyer ils ne se desarmeront pas pourtant pour se reposer du premier coup. Mais quant à ceux-ci, desirez la paix & vous l’auez: cessez de frapper, ils quittent la place & les armes: cessez d’assaillir Dieu, ils ne voudront plus combatre. Voulez vous leur tirer les armes des poings? abstenez vous seulement de les frapper. Puis qu’ils ne iettent pas les coups ains les reçoyuent, rengainez l’espee, ils ietteront incontinent le bon clier à terre: ce qui est cause que bien souuent ils sont surprins par embusches & perfidie, comme les exemples de nostre temps le monstrent assez“.75

Es ist kein Feind des Fürsten, wer aufhört, den Fürsten zu bekämpfen, welcher aufgehört hat, Gott anzugreifen. Das zeigen in vollem Umfang die Beispiele aus der Gegenwart, und es wird ein weiteres Mal an dem Beispiel Libnas illustriert: „Pour reuenir à ceux de Lobna: ils semblent auoir suiui l’expedient susmentionné: 74 75

De la puissance legitime du Prince (Anm. 63), S. 75 – 76. De la puissance legitime du Prince (Anm. 63), S. 76 – 77.

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car apres le restablissement du seruice de Dieu, nous voyons qu’ils sont mis au nombre des suiets du Roy Ezechias“.76 Die Städte bzw. ihre Magistrate, die zuerst von Gott und erst dann von den Fürsten eingesetzt worden sind, können also auf Grundlage des Rechts verhindern, dass der Götzendienst ihre Mauern durchschreitet. Wenn sie das nicht tun, beflecken sie sich mit dem Verbrechen der göttlichen Majestätsbeleidigung. „Concluons donc pour la fin de ce propos que tout le peuple, par l’autorité de ceux qui ont ses droits entre les mains, ou par plusieurs d’eux, peuuent & doyuent reprimer le Prince qui commande choses contre Dieu. Item, que tous, ou du moins les principaux des prouinces & villes, sous l’autorité des principaux Magistrats, establis premierement de Dieu, puis du Prince, peuuent selon le droit empescher que l’idolatrie n’entre en l’enclos de leurs murailles, & y maintenir la vraye Religion: dauantage peuuent estendre les confins de l’Eglise, qui n’est qu’vne: à faute dequoy, s’ils le peuuent faire ils, sont criminels de lese Maiesté diuine“.77

E. Libna als Teil der „History of Self-Defence“ Die Bedeutung der „Politica“ des Althusius, insbesondere des Kapitels XXXVIII, für die Frage der Selbstverteidigung im englischen und schottischen Denken des 17. Jahrhunderts ist nun seit Längerem wiederholt von den Forschungen Robert von Friedeburgs hervorgehoben worden.78 Aufgrund der anderen verfassungspolitischen Struktur Englands und Schottlands im Vergleich zum Reich wird die Verantwortung zur Selbstverteidigung hier nicht nur den niederen Magistraten zugestanden, sondern im Fall ihrer Abwesenheit auch Einzelpersonen, wie das biblische Beispiel des Phineas zeigt (das übrigens schon in mindestens einer deutschen Schrift aus den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts79 verwendet wurde und auch im Traktat des John Ponet „A Short Treatise of Politique Power“ aus dem Jahr 155680 genannt wird). Die von Robert von Friedeburg auf die Polemik zwischen dem Juristen James Steuart und dem Bischof Andrew Honeyman infolge des Pentland Rising von 166681 gelenk76

De la puissance legitime du Prince (Anm. 63), S. 81. De la puissance legitime du Prince (Anm. 63), S. 81. 78 Robert von Friedeburg, ,Self-defence‘ and sovereignty: the Reception and Application of German Political Thought in England and Scotland 1628 – 1691, in: History of Political Thought, XXIII (2002). No. 2., S. 238 – 265, sowie in nachfolgenden Beiträgen. 79 Der Hinweis bezieht sich auf den Ratschlag des Johannes Wick von 1534 (von Friedeburg, ,Self-defence‘ [Anm. 78], S. 240), der kürzlich ausführlich von Patrizio Foresta, Ad futurum concilium. Concilio, diritto naturale e diritto di resistenza nella riflessione giuridica e teologica agli esordi della Riforma protestante, in: Saccenti, Riccardo/Sulas, Carlo (Hrsg.), Legge e Natura. I dibattiti teologici e giuridici fra XV e XVII secolo, Roma 2016, S. 173 – 228, analysiert wurde. 80 von Friedeburg, ,Self-defence‘ (Anm. 78), S. 241. 81 Sowohl zum spezifischen Kontext als auch zur Rolle Steuarts und Honeymans verweise ich auf die Analysen bei von Friedeburg, ,Self-defence‘ (Anm. 78). 77

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te Aufmerksamkeit erlaubt es gerade anhand der unmittelbaren Lektüre der drei grundlegenden Schriften der Kontroverse zu überprüfen, wie das Beispiel Libnas weiterhin gut vertreten ist und diskutiert wird und schließlich eine klar abgegrenzte Rolle in einer Art Allgemeingeschichte der Selbstverteidigung einnimmt. Es lohnt sich jedenfalls hervorzuheben, wie bereits in den tumultösen vierziger Jahren des 17. Jahrhunderts Libna im Werk von Samuel Rutherford „Lex, Rex. The Law and the Prince“ (1644)82 dem Diskurs über die Rechtmäßigkeit des Verteidigungskriegs ebenso zweckdienlich ist, wie dies für David gilt. Und wenn sich hier der Diskurs auf die Beweise gründet, die die Heilige Schrift liefert, so ist in der englischen Übersetzung der „Vindiciae“ (1648)83 der Apparat in den marginalia komplett der lateinischen Ausgabe von 1579 und der französischen von 1581 entnommen und zeigt vollständig die Relevanz der juristischen Beweise, bei denen ich mich zuvor kurz aufgehalten habe84. Doch kommen wir zum ,Krieg der Schriften‘ infolge des Pentland Rising. James Steuart verfasst zusammen mit James Stirling das Pamphlet „Naphtali“, das jedoch im Jahr 1667 anonym veröffentlicht wird, um die presbyterianische Sache zu

82 Samuel Rutherford, Lex, Rex. The Law and the Prince. A Dispute for the just Prerogative of King and People, London 1644. In der Question XXXII (Whether or no the lawfulness of defensive warres hath its warrant in Gods word, from the example of David, Elisha, the eightly Priests who reisted Uzziah, &c.?), S. 149, unter Bezug auf den Kommentar Vermiglis, wo auch die Diskussion mit den „Royalists“ und die Gründe für den Gegenschlag wiedergegeben werden: „We see also 2 Chron. 21.10. That Libnah revolted from under Iehoram, because he had forsaken the Lord God of his fathers. It hath no ground in the text that Royalists say, that the defection of Lybnah is not justified in the text, but the cause is from the demerit of wicked Iehoram, because he made defection from God, Libnah made defection from him, as the ten tribes revolted from Rehoboam for Solomons idolatry, which before the Lord procured this defection, yet the ten tribes make defection for oppression. I answer, where the literall meaning is simple and obvious, we are not to go from it. The text sheweth what cause moved Libnah to revolt, it was a town of the Levites, and we know they were longer sound in the truth then the ten tribes, 2. Chron. 13.8 9, 10. Hos. 11.12. Lavater saith Iehoram hath pressed them to idolatry, and therefore they revolted. Zanch. Cor. à Lap. saith, this was the cause that moved them to revolt, and it is cleare ver. 13. he caused Judah and the inhabitants of Jerusalem to go a whoring from God, and no doubt tempted Libnah to the like“. Neuere Überlegungen zur Frage des Widerstands in Lex, Rex bei Ryan McAnnaly-Linz, Resistance and Romans 13 in Samuel Rutherford’s Lex, Rex, in: Scottish Journal of Theology, 66 (2013), Nr. 2, S. 140 – 158 (jedoch ohne Bezug auf Libna). 83 Vindiciae contra Tyrannos: A Defence of Liberty against Tyrants. OR, Of the lawfull power of the Prince over the people, and of the people over the Prince, London 1648. 84 Der zeitgenössische Herausgeber der englischen Übersetzung der „Vindiciae“ hat auf die Wichtigkeit der juristischen Beweise bestanden (George Garnett, Law in the „Vindiciae, contra tyrannos“: A Vindication, in: The Historical Journal, 49 (2006), No. 3, S. 877 – 891), auch auf polemische Weise gegen Studien, die deren Rolle abgeleugnet haben (Anne McLaren, Rethinking Republicanism: „Vindiciae, contra tyrannos“ in Context, in: The Historical Journal, Vol. 49 (2006), No. 1 (Mar., 2006), S. 23 – 52).

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rechtfertigen und um die Regierung im Amt über den Rückgriff auf den National Convenant von 1638 zu delegitimieren.85 In „Napthtali“ wird wiederholt das gerechte Privileg86 und das „Right of Self-Defence, mutual Assistance and Reformation“,87 unterstrichen, welche „necessary Defence and resistance in case of persecution for lawfull non-obedience“ seien.88 Unter den Prinzipien und Gründen aus dem Alten Testament, auf deren Grundlage der rechtmäßige Ungehorsam nicht als Rebellion verurteilt werden kann, finden sich auch die Aktionen Libnas gegen Joram. „But if all these things do not satisfy, Let, 1. the reason of Gods delivering of the Kingdom to the People and not to the King, with the Law it self, Deut 27. ver. 14. (which the maner of the Kingdom and in effect of Tyranny, foretold by the Lord and Samuel 1 Sam. 10. v. 10. by way of dissuasive, did no wayes repeal) 2. The import of the Contract and Covenant betwixt Prince & Subject, with the unquestionjable interpretation and execution thereof, extant in the records of all Times and Nations; 3. The deed of the People in opposing Saul in favours of Ionathan·1 Sam. 14. v. 45. and of the ten Tribes in rejecting of Rehoboam, 1 King cap. 12. (which though v. 19. it be termed Rebellion, yet is it no more thereby condemned, then good Hezekiah, who is said 2 King 18. ver. 7. to have rebelled against the King of Assyria) and of Libna in revolting from under Iehoram, 2 Cron. 21. 10· 31 4. The Prophecies, Manner, & Practise of the most part of the late blessed Reformations. And lastly let the peculiar Right and Constitution of this Kingdome by King and Parliament be considered and solidly answered; And then will wee also subscribe to the condemnation of our Reformers and crave pardon for this digression. Upon these grounds and principles did our Noble Ancestours vigorously bestir themselves, and proceed in the Work of God“.89

Die Antwort Bischof Honeymans auf das „insolent and infamous libel, entituled, Naphtali“ stammt von 1668.

85 Ich fasse hier äußerst knapp zusammen, was ausführlich bei von Friedeburg, ,Self-defence‘ (Anm. 78), diskutiert wurde. 86 Naphtali, or, The wrestlings of the Church of Scotland for the kingdom of Christ contained in a true and short deduction thereof, from the beginning of the reformation of religion, until the year 1667: together with the last speeches and testimonies of some who have died for the truth since the year 1660 [1667], A true and short deduction of the Wrestling of the Church of Scotland for the Kingdom of Jesus Christ from the beginning of the Reformation of Religion, unto the Year 1667, S. 7: „they were so far from resigning themselves, and abandoning that First, and most just Priviledge of Self-defence to the arbitriment even of the lawful Powers, and of that Authority which they did acknowledge, that they not only owned it and stood to it; but did account themselves so much the more obliged to their own Preservation and esteemed the same so much the more endeared to them, that the seeking forth of the Glory of God, in the maintainance of the blessed Gospel and the propagation and continuance thereof, seemed so necessarily to depend thereon“. 87 Naphtali (Anm. 86), S. 25. 88 Naphtali (Anm. 86), S. 30. 89 Naphtali (Anm. 86), S. 30 – 31.

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Honeyman greift das Argument des in „Napthali“ verwendeten „contract and covenant betwixt King and people“ scharf als aufständlerisch an.90 Für den Bischof gibt es noch weitere Beweise für den Aufstand des Autors des Büchleins, und sie bestehen gerade im Gebrauch der Heiligen Schrift als „protection for sedition“.91 Honeyman diskutiert drei Beispiele aus „Naphtali“: das Volk, das sich im Fall Jonathans gegen Saul stellt (1Sam 14,45); die drei Stämme, die sich Roboam entziehen (1Kön 12); die Revolte von Libna. Bei Libna verweilt Honeyman und stellt die biblische Überlieferung infrage. „As to the revolt of Libnah, 2 Chron. 21.10. this is reported in Scripture as a fact, but is not justified and approven, although it be said, they revolted, because Jehoram had forsaken the Lord God of his fathers. This imports not the impulsive cause of the revolt, or motive which they had before their eyes, (for, in that same verse and period, it is said, The Edomites also revolted from him, because he had forsaken the Lord God of his fathers: and the Edomites loved not the true Relijgion). But the meritorious cause on Jehorams part of that piece of judgement coming on him, is pointed at; as oft-times God punisheth mens sins by the sinful actions of other men against them; the instruments are sinful, but his justice is holy. But let the Libeller tell us in good earnest, if he thinks that the laying aside of the Presbyterian frame, is the forsaking of the Lord God of our fathers, and a sufficient cause for any one Town in the Kingdom to revolt from the King, (though he do not persecute them nor force them to his way, as there is no evidence that Libnah was thus used) shall a Kings swerving in that one point, or if there be greater infidelity, be sufficient ground of defection from him? Cave dixeris. Libnah was a City of the Priests, Josh. 10. (perhaps much of the temper of this sort of men) but their revolt was sinful, because with the secession from the Common-wealth, they fell off from the Church of God, from Jerusalem, the Temple, and publick Worship and place of it, which was (as yet) owned by God, notwithstanding many corruptions: the revolt is only recorded as done, not as well done“.92

Die Kontroverse zu Libna, die bereits von einem kurzen Hinweis in den „Vindiciae“ bezeugt ist („que l’Escriture n’aprouve pas en termes expres le fait de ceux de Lobna, encores qu’en se taisant elle semble le trouver bon“)93, reicht für James Steuart jedoch nicht aus. Er wiederholt die vollständige Gültigkeit des Beispiels in der Gegenantwort auf Honeyman, die erneut anonym erscheint als „Jus populi vindicatum“ (1669). Der schottische Jurist nimmt dies im dritten Kapitel94 vor, das eigens den „instances of opposition and resistence made unto the Soveraigne, or his bloody Emissaries, 90 Andrew Honeyman, A survey of the insolent and infamous libel, entituled, Naphtali, 1668, S. 65. 91 Honeyman, A survey (Anm. 90), S 65. 92 Honeyman, A survey (Anm. 90), S 67. 93 De la puissance legitime du Prince (Anm. 63), S. 69. Vgl. supra, S. 63. 94 James Steuart, Jus populi vindicatum or the Peoples right, to defend themselves and their covenanted Religion vindicated, 1669, Chap. III. A fourth Argument Vindicated, taken from Scripture-instances (S. 46 – 59). Es handelt sich um einen Teil, der von der gründlichen Analyse bei von Friedeburg, ,Self-defence‘ (Anm. 78) nicht berücksichtigt wurde, der vom Jus

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by private subjects, without the conduct or concurrence of their Representatives, recorded in scripture, and which we finde not condemned by the Spirit of the Lord“95 gewidmet ist. Wer jene Aktionen der Opposition und des Widerstands verurteilen sollte (die unter anderem mit dem Beispiel des David gegen Saul, des Abel gegen Joab und des Propheten Elija gegen die von Amazja ausgesandten blutrünstigen Emissäre versehen sind), müsse umso mehr „other instances of greater opposition, made to the rage and tyranny of Princes, which we finde recorded in scripture, and not condemned“, verurteilen.96 Noch mehr müsse er dann die Revolte von Libna verurteilen. Bei diesem Punkt hält sich Steuart mit einer langen Abschweifung auf, die größtenteils eine Diskussion aufgreift, die Althusius bereits bekannt war. Ihre Bedeutung (bei der es sich vielleicht lohnen würde, wenn Bibelexperten mit den notwendigen Kenntnissen sich damit beschäftigten) rechtfertigt meiner Ansicht nach eine vollständige Wiedergabe. „They should far more condemne the revolt of the city of Libnah 2 Chron. 21. 10. This wicked King Iehoram when he was risen up to the Kingdom of his father, strengthened himself, and slew all his brethren with the sword, and diverse also of the Princes of Israel v. 4. and walked in the wayes of the Kings of Israel, like as did the house of Ahab, for he had the Daughter of Ahab to wife, & he wrought that which was evil in the eyes of the Lord v. 6. and he made him high places in the mountaines of Iudah and caused the inhabitants of Ierusalem to commit fornication, and compelled Iudah there to v. 11. 13. and because he had thus forsaken the Lord God of his fathers, did the city Libnah revolt from under his hand. Commentators cleare this to have been the reason as Cornel. a. lap. in loc. propter impietatem Regis defecit ab eo Libna. Sancitus on 2 King 8. 22. Lobnah recessit ne esset sub manus illius, derelijquer at enim dominum patruum suorum. & Pet. Martyr on 2 King. 8. v. 22. [Causa in Paralip. describitur, ob Regis impietatem qui suos nitebatur cogere ad idololatriam, quod ipsi Libnen ses pati noluerunt, & merito: principibus enim parendum est, verum usque ad aras, & cum illam terram inhabitandam a deo, eo foedere, habuissent, ubi illum juxta ejus verbum colerent, jure ejus idololatriam admittere, non debuerunt,] Thus he approveth of their revolt in this case. What sayes our Surveyer to this [This (sayes he) imports not the impulsive cause of the revolt, or motive which they had before their eyes (for, in that same verse & period, it is said the Edomites also revolted from him, because he had forsaken the Lord God of his Fathers, and the Edomites loved not the true Religion) but the meritorious cause on Jehorams part is poynted at.] Answ. The text it self and Commentators, to whom we may add Iackson on 2 King 8. & the Dutch Annot. Ibid. give this as the impulsive cause, and only motive vvhich they had before their eyes. 2. Any who read the text vvill see his reason very unsound; for v. 8. it is said, that in his dayes the Edomites revolted from under the dominion of Iudah, and made themselves a King; and no word of this, as the impulsive cause there of; & v. 10. mention again is made of their revolt upon occasion of Iehorams seeking by force, to reduce them under his Populi vor allem die Kapitel 5 – 8 liest, in denen die Rezeption von Althusius deutlicher zu sehen ist. 95 Steuart, Jus populi vindicatum (Anm. 94), S. 49. 96 Steuart, Jus populi vindicatum (Anm. 94), S. 50 – 53, mit starker Betonung auf die Opposition der zehn Stämme gegen Roboam.

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Angela De Benedictis dominion; and then in a new period, mention is made of Libnah’s revolt, with the cause and only motive thereof; Because he had forsaken the Lord God of his Fathers. Then he asks if his adversary [thinks that the laying aside of the presbyterian frame, is the forsaken of the Lord God of our Fathers, 55 and a sufficient cause for any one Towne in the Kingdom, to revolt from the King, (though he do not persecute them, nor force them to his way, as there is no evidence that Libnah was so used) shall a Kings swerving in that one point, or if there be greater infidelity, be sufficient ground of defection from him?] Ans. I nothing doubt, but all such as have imbraced this present course of apostasie are guilty of a grievous revolt, having impudently and avowedly departed form a sworne Covenant, from a covenanted & sworne Religion, reformed in Doctrine, Worshipe, Discipline, & Government; and have in a great part forsaken the God of our Fathers, that covenanted God whom our Fathers, and we both owned, and imbraced as our God; and is sufficient cause for any City, or Company of men, so far to revolt from the King, as to refuse to concurre with him, in this horrible defection and course of perjury, and resist his unjust violence pressing and compelling them to a sinful compliance. 2. As it is more then probable, that Libnah was no better used, then were the people of Iudah, by this Tyrannous King, and is asserted by the Dutch Annot. on 2 Chron. 21:10. So whatever this lyer suggesteth, it is notour that the King hath persecuted and doth persecute and force honest people, to follow his way, and apostatize with him, contrare to their consciences and sworne allegiance unto God, and if he add this clause as an exception, then (seing the truth of the thing is notour) he fully accords, that there is sufficient cause given, for any Town in the Kingdome to revolt, which is more then we desire. At length he tells us. That their revolt was sinfull. But when not only this revolt is recorded as done, but such and impulsive cause and motive is added by the Spirit of the Lord, without the least hint of any expression condemning the same, we dare not be so bold, as is this Surveyer; Nor are we so foolish as to receive his word, contraire to the testimony of so many expositors“.97

Für Steuart liefert Libna ein „strong argument“, dessen Vorläufer er ausdrücklich klarstellen wollte: „For if it be lawful for a part of the people, to revolt from a tyrannous Prince, making defection from the true and received Religion, and forceing his subjects to a sinful defection and complyance with him in his apostasy: It must also be lawful for a part of the people to defend themselves by force against the Emissaries of a King departing from his faith and foresaking the Religion, which He hath sworne to owne and maintaine, sent forth by him, or any under him, to force, by cruel oppression and violence, them to a compliance with his sinful way. And the antecedent is cleare in this place“.98

Es ist ziemlich deutlich ersichtlich, erscheint mir, wie in dem für Libna gültigen „strong argument“ die Argumentationsweisen wiederhallten, die bereits von den 97 Steuart, Jus populi vindicatum (Anm. 94), pp. 53 – 55. Die internen Verweise im Text auf „Cornel. a Lapid.“, „Sancitus“, „Dutch Annot.“ entsprechen jeweils Cornelius a Lapide, Commentarius in Iosue, Iudicum, Ruth, IV. Libros Regum, et II. Paralipomenon, II, Venetiis 1701 (ich konnte nur diese Ausgabe überprüfen), 2 Paralip. 21, 10, S. 273a; Gaspar Sánchez, In quatuor libros Regum et duos Paralipomenon commentarii, Antverpiae, Verdusius, 1624 (4 Regum 8, 22: S. 1447a–1447b): Hinweis auf lib. 2 Paralip. cap. 21, vers. 10 e 13 (S. 1691a), Thedore Haak, The Dutch Annotations Upon the whole Bible, London, Printed by Henry Hills, 1657, II. Chronicles, Chefs. XXI. Der Hinweis auf Petrus Martyr Vermigli ist bereits bekannt (vgl. supra, S. 55). 98 Steuart, Jus populi vindicatum (Anm. 94), S. 55.

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„Vindiciae“ ins Feld geführt und später von Althusius auch in ihrer spezifischen juristischen Dimension wieder aufgegriffen wurden: „… it be lawful … making defection …“ sogar für einen einzelnen Teil des Volkes – wie die Städte – „to defend themselves“. Dass die Beispielhaftigkeit Libnas eine gesicherte Tatsache darstellt, wird später von einer Schrift bestätigt, die elf Jahre nach dem „Jus populi“ erschien, sich scheinbar auf kein konkretes Ereignis bezog und aus dem Problem der Selbstverteidigung ein eigenständig behandeltes Thema machte, indem sie deren Geschichte rekonstruierte. Anonym wird „The History of Self-Defence, in Requital to the History of Passive Obedience“99 verfasst, um zu zeigen, dass das „great principle of Self-defence“ „the only Bulwark against Slavery and Tyranny“ zugunsten all derer ist, die von den „Non-resistance Men“ als „Rebellious, Seditious, Enemies to Kings, &c.“ werden.100 In ihrer Verurteilung – so liest man in der „History“ – verwenden die „Non-resistance Men“ unter anderem einen Passus aus der Heiligen Schrift, in dem der Prophet Samuel zu Saul, der dem Befehl Gottes nicht gehorchte, als dieser ihm befahl, die Amalekiter zu vernichten, sagt: „Rebellion is as the sin of witch-craft“.101 Jeder könne sehen, kommentiert die „History“, wie schwach und abgenutzt die Verwendung dieses Abschnitts „as an Argument for Non-resistance“ sei. Denn „the Rebellion here immediatly spoken of was not that of Subjects against Prince (tho’ none will deny that which is really Rebellion is undoubtedly a great sin) but that of King Saul against God: So that is very far-fetched when used as an Argument against whatever those Gentlemen are pleased to Interpret Rebellion“.102 Unter den verschiedenen Beispielen, die das große Prinzip der „Innocent self-defence“ illustrieren und beweisen, nämlich das „Common Interest of Mankind“, gibt die „History“ auch dasjenige Libnas wieder und greift dabei im Wesentlichen Zeile für Zeile auf, was bereits im „Jus populi“ steht. Es gibt nur kleine Abweichungen von geringer Bedeutung.103

F. Zusammenfassung Ein weiterer, noch nicht zitierter Paragraph aus dem Kapitel XXXVIII der „Politica“ des Althusius, mit der ich begonnen habe, erlaubt meiner Auffassung nach 99 The History of Self Defence, in requittal to the history of passive obedience, London 1680. Auf die Schrift wurde hingewiesen von Robert von Friedeburg, Self-Defense and Religious Strife in Early Modern Europe. England and Germany, 1530 – 1680, Aldershot 2002, S. 10. 100 The History of Self-Defence (Anm. 99), S. 2. 101 The History of Self-Defence (Anm. 99), S. 5. 102 The History of Self-Defence (Anm. 99), S. 5. 103 The History of Self-Defence (Anm. 99), S. 8 – 9.

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eine kurze Zusammenfassung dessen, was ich bis hier versucht habe, anhand einer Anthologie der Abschnitte zu Libna zu zeigen. Es handelt sich um den Paragraphen 49 „Diejenigen, die sich weigern, mit ihrer Hilfe, mit Geld und Rat denjenigen, der Widerstand leistet, zu unterstützen, gelten als Landesfeinde und Deserteure“ (Detrectantes, ope, pecunia, vel consilio resistentem iuvare, habentur pro hostibus et desertoribus). Ri. 20; Danaeus, Politices christianae, lib. 6 (c. 5), tit. De magistratibus inferioribus qui oppressam patriam neglexerant et prodiderunt; Calvin, Institutio, lib 4, c. ult. Deshalb müssen alle zusammen ebenso wie die Einzelnen gegen einen Tyrannen vorgehen wie gegen ein öffentliches Feuer, im Wettstreit Wasser schöpfen, auf die Dächer steigen und die Flammen fern halten, damit nicht das ganze Gemeinwesen entflammt wird, jedoch nur dann, wenn der Tyrann aktiv tätig wird und die Tyrannis ausübt, Junius Brutus, Vindiciae contra tyrannos, qu. 3.“104

Von den drei Autoritäten, auf die Althusius sich stützt (Daneau, Calvin, Junius Brutus), lohnt es sich vor allem beim ersten und beim letzten kurz innezuhalten. Der Abschnitt Daneaus legitimiert einen Verteidigungskrieg, der von niederen Magistraten gegen den zum Tyrannen gewordenen obersten Magistrat geführt wird, und zwar auf Grundlage bekannter Stellen aus dem ersten Buch Samuel und dem ersten Buch Chroniken, die auf der Notwendigkeit bestehen, dass am Widerstand alle bewaffneten Bürger des Vaterlands teilnehmen: „9. Inferior igitur magistratus in bello adversus Summum, qui tyrannus evasit, ob tutelam suam & suorum, id est, sibi commissorum subditorum suscepto, potest ab iis, quos tuetur, commeatum, pecuniam, milites, & alia bello gerendo necessaria exigere: ac denegantes pro hostibus habere, & bello persequi. 1. Sam. 25. vers. 13.; 10. Quum inferior magistratus Summo (quia tyrannus, legumque Regni fundamentalium manifestus & pertinax violator evasit) resistit, omnes Cives patriae amantes, & qui salvam Rempublicam volunt, debent sese inferiori isti magistratui adiungere: atque iidem illi, partam victoriam, sunt in dignitatibus Regni adipiscendis praeferendi caeters, & iis imprimis, qui cessarunt, & ibi sese non adiunxerunt. 1. Chron. 12. ver. 1.18.21“.105

104 Dt. Übersetzung, entnommen aus: Althusius, Politik (Anm. 1), S. 398. Lat. Originaltext: „Judic. c. 20. Danae. lib. 6. polit. Christ. de magistratibus inferiorib. qui oppressam patriam neglexerunt et prodiderunt. Calvin. lib. 4. Inst. c. ult. Ergo contra tyrannum, tamquam ad incendium publicum, omnes et singuli currere debent, certatim aquam haurire, tecta scandere et flammam arcere debent, ne tota Respublica conflagret, tum scilicet, quando est in actu et tyrannidem exercet. Jun. Brut. quaest. 3. arg. l. 3. l. omne. §. ult. de re militari“, Althusius, Politica (Anm. 1), S. 905. 105 Lambertus Danaeus, Politices Christianae libri septem, [Genevae] 1596, Liber Sextus, § De Magistratibus, inferioribus, S 460. Zu Daneaus ist natürlich auf die Monographie von Christoph Strohm, Ethik im frühen Calvinismus. Humanistische Einflüsse, philosophische, juristische und theologische Argumentationen sowie mentalitätsgeschichtliche Aspekte am Beispiel des Calvin-Schülers Lambertus Danaeus, Berlin/New York 1996, mindestens zu verweisen.

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Der Abschnitt des Brutus, den Althusius hier aufruft, befindet sich in der III. Question der „Vindiciae“ (S’ils est loisible de resister à un Prince qui opprime ou ruine un estat public, & iusques où ceste resistance s’estend. Item à qui, comment, & de quel droit cela est permis), in der im Wesentlichen erneut Probleme angeführt werden, die die Religion betreffen und in der II. Question behandelt wurden. Um an die Pflicht aller („omnes et singuli“) zur Rettung der Respublica zu erinnern, wiederholt Althusius aus Junius Brutus jenes Gesetz aus den Digesten („L. 3. l. omne delict. §. ult. D. de re mil.“), auf das der Autor der „Vindiciae“ bereits zurückgekommen war – woran ich oben106 erinnert habe –, um die Rolle der Städte als konstitutive Teile des politischen Körpers (in diesem Fall des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation) zu bestätigen, wofür er weiterhin das Beispiel der Stadt Libna identifizierte. In der III. Question bekräftigt der Bezug auf dieses Gesetz das Prinzip, das sowohl Althusius als auch Daneau bestätigen, und beweist ein weiteres Mal, dass „celui qui reprime le destructeur de la patrie & de la discipline publique n’esmeut pont de sedition, ains au contraire l’abolit“.107 Vor Althusius (hier insbesondere Junius Brutus und Daneau, aber auch die Tradition, auf die sie sich berufen), bei Althusius und nach Althusius im schottischen Denken, das ihn rezepiert, wird gut deutlich, dass der Widerstand gegen den ex exercitio zum Tyrannen gewordenen Magistraten/princeps rechtmäßig ist, da es sich um Selbstverteidigung gegen Unterdrückung handelt. Es ist wird gut deutlich, dass der Widerstand als Selbstverteidigung weder Aufstand noch Rebellion ist. Es wird klar, dass der der Magistrat/princeps ein Tyrann ist, der die Anschuldigung des crimen laesae maiestatis im Tatbestand des Aufstands und der Rebellion gegen diejenigen verwendet, die auf rechtmäßige Weise gegen die Unterdrückung Widerstand leisten, d. h. gemäß dem Recht und der Heiligen Schrift. Wer ebenfalls zur Selbstverteidigung Widerstand leisten kann, sind jene öffentlichen (und nicht privaten) Subjekte, welche die Städte als Teile des Reichs darstellen. Dafür ist Libna ein Beispiel.

106

Vgl. Supra, S. 64. De la puissance legitime du Prince (Anm. 63), S. 211. Zum Abschluss meines Beitrags möchte ich Gaëlle Demelemestre für ihren Hinweis auf die französische Übersetzung des XXXVIII. Kapitels der Politica des Althusius und den dazugehörigen einführenden Kommentar danken: Marie-Hélène Belin, Souveraineté et droit de résistance, in: Revue Philosophie, 4 (1984), S. 3 – 11 (Johannes Althusius, De la Tyrannie et ses remèdes, S. 13 – 68). Bei der Abfassung des Beitrags konnte ich den ganz neuen Band von Lucia Bianchin, Diritto, teologia e politica nella prima età moderna. Johannes Althusius (1563 – 1638), Foligno 2017, leider nicht berücksichtigen. 107

„Bellum iustum“ und „bellum civile“ in der Staatslehre des Johannes Althusius Von Lucia Bianchin, Trient Obwohl die Lehre des Althusius in der jüngeren Vergangenheit Gegenstand zahlreicher Studien war – in den letzten fünfzehn Jahren sowohl in Italien, vor allem nachdem sein Hauptwerk ins Italienische übertragen wurde,1 und jetzt auch in Frankreich, wo eine französische Ausgabe der „Politica methodice digesta“ in Arbeit ist2 – sind doch noch verschiedene Aspekte der Staatslehre des Althusius einer eingehenderen Analyse würdig. Dazu zählt das bedeutende Kriegsthema, das in den letzten Jahren von der deutschen Geschichtsschreibung auch und insbesondere unter Bezugnahme auf die calvinistische Tradition,3 der Althusius angehörte, vertieft wurde. 1

Johannes Althusius, La politica elaborata organicamente con metodo e illustrata con esempi sacri e profani, hrsg. und eingel. von Corrado Malandrino, übers. von Corrado Malandrino, Francesco Ingravalle, Mauro Povero, unter Mitarb. von Cornel Zwierlein, 2 Bde., Turin 2009. Unter den wichtigsten Studien in Italien in den letzten Jahren siehe Ingravalle, Francesco/Malandrino, Corrado (Hrsg.), Il lessico della „Politica“ di Johannes Althusius. L’arte della simbiosi santa, giusta, vantaggiosa e felice, Florenz 2005, dt. Übers. Malandrino, Corrado/Wyduckel, Dieter (Hrsg.), Politisch-rechtliches Lexikon der „Politica“ des Johannes Althusius. Die Kunst der heilig-unverbrüchlichen, gerechten, angemessenen und glücklichen symbiotischen Gemeinschaft, Berlin 2010; Diego Quaglioni, Quale modernità per la politica di Althusius?, in: Quaderni fiorentini, 39 (2010), S. 631 – 668; Corrado Malandrino/Luca Savarino (Hrsg.), Calvino e il calvinismo politico dalle origini cinquecentesche all’età contemporanea. Atti del Convegno internazionale Torino-Torre Pellice, 7 – 9 maggio 2009, Turin 2011; und zuletzt Corrado Malandrino, Johannes Althusius (1563 – 1638). Teoria e prassi di un ordine politico e civile riformato nella prima modernità, Turin 2016. 2 Hrsg. von Gaëlle Demelemestre; von derselben Autorin siehe schon Les deux souverainetés, Le tournant Bodin – Althusius, Paris 2011; dies., Introduction à la „Politica methodice digesta“ de Johannes Althusius. Extraits traduits et commentés, Paris 2012; dies., La „Politica“ de Johannes Althusius. Une entrée dans la modernité. Actes du Colloque du 29 novembre 2016 à Paris, Centre Pantheon-Assas, im Druck. 3 Zum Kriegsthema in der reformierten Tradition siehe Christoph Strohm, Ethik im frühen Calvinismus. Humanistische Einflüsse, philosophische, juristische und theologische Argumentation sowie mentalitätsgeschichtliche Aspekte am Beispiel des Calvin-Schülers Lambertus Danaeus, Berlin/New York 1996, S. 166 – 194. Siehe auch Eva-Maria Faber, Verantwortung für den Frieden bei Johannes Calvin, in: Brieskorn, Norbert/Riedenauer, Markus (Hrsg.), Suche nach Frieden: Politische Ethik in der Frühen Neuzeit, I, Stuttgart 2000, S. 83 – 118; Heinrich Richard Schmidt, Religion und Krieg im Reformiertentum, in: Holzem, Andreas (Hrsg.), Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in der Kriegserfahrung des Westens, Paderborn 2009, S. 415 – 438; Marco Hofheinz, Die Reflexion der Lehre vom gerechten Krieg in der reformierten Tradition: Johannes Calvin, in: Werkner, Ines-Jacqueline/ Ebeling, Klaus (Hrsg.), Handbuch Friedensethik, Wiesbaden/Berlin/Heidelberg 2016, S. 271 –

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Doch auch in diesem spezifischen Kontext wissenschaftlicher Forschung scheinen mir Althusius’ Überlegungen zum Krieg relativ unbeachtet geblieben zu sein. Sie stellen tatsächlich einen zentralen Aspekt seiner Staatslehre dar; einen Aspekt, der allerdings verzweigt und komplex ist und den der deutsche Jurist, vielleicht auch ein wenig unzusammenhängend oder in jedem Fall in Bruchstücken, an unterschiedlichen Stellen in seinem Werk dargelegt hat. Verschiedene Studien handeln einige im Werk des Althusius enthaltene Kriegsthematiken am Rande ab.4 Ich halte es jedoch für zweckmäßig, den Versuch einer einheitlichen Rekonstruktion der Thematik zu unternehmen, mit dem Ziel, die Gedanken Althusius’ zum Krieg nicht nur was den zwischenstaatlichen, sondern auch was den innerstaatlichen oder Bürgerkrieg betrifft, näher zu bestimmen. Diese zwei Aspekte seiner Staatslehre scheinen mir nämlich eng miteinander verbunden zu sein.

A. Die Sorge für die Waffen in Friedenszeiten und in Kriegszeiten Althusius beschäftigt sich mit dem Kriegsthema im letzten Teil der Politica methodice digesta, im siebten und letzten Punkt der Analyse der zivilen Staatsverwaltung, die er mit „administratio specialium publicorum negotiorum civilium“, also „Verwaltung der besonderen öffentlichen bürgerschaftlich-politischen Angelegenheiten“ bezeichnet.5 284; Mathias Schmoeckel, Die Reformation als Grundlage des modernen Völkerrechts, in: Germann, Michael/Decock, Wim (Hrsg.), Das Gewissen in den Rechtslehren der protestantischen und katholischen Reformationen – Conscience in the Legal Teachings of the Protestant and Catholic Reformations, Leipzig 2017, S. 226 – 269. 4 Siehe Virgilio Ilari, L’interpretazione storica del diritto di guerra romano fra tradizione romanistica e giusnaturalismo, Mailand 1981, S. 69. Vgl. auch Ramón Hernández Martín, La lezione sugli Indios di Francisco de Vitoria, Mailand 1999, S. 88 – 89; Merio Scattola, Krieg des Wissens – Wissen des Krieges. Konflikt, Erfahrung und System der literarischen Gattungen am Beginn der Frühen Neuzeit, Padua 2006, S. 30 ff.; Schmidt, Religion und Krieg (Anm. 3), S. 422 – 424; Corrado Malandrino, Alberico Gentili nella „Politica“ di Althusius, in: Ferronato, Marta/Bianchin, Lucia (Hrsg.), „Silete theologi in munere alieno“. Alberico Gentili e la Seconda Scolastica. Atti del Convegno Internazionale Padova, 20 – 22 novembre 2008, Padua 2011, S. 129 – 147; und zuletzt Dennis Schönberger, Reformierte und Krieg – ein verdrängtes Thema? Ideengeschichtliche Perspektiven auf einen gewaltlimitierenden Umgang mit der „Lehre“ vom gerechten Krieg im Anschluss an den reformierten Juristen Johannes Althusius, in: Kuhn, Thomas K./Stricker, Nicola (Hrsg.), Erinnert. Verdrängt. Verehrt. Was ist Reformierten heilig? Vorträge der 10. Internationalen Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, Neukirchen-Vluyn 2016, S. 161 – 178. 5 Im Rahmen der „Verwaltung der besonderen öffentlichen bürgerschaftlichen-politischen Angelegenheiten“ hat Althusius im XXVIII. Kapitel bereits eine erste Aufteilung zwischen einerseits der „bürgerschaftlichen Verwaltung des allgemeinen Rechts“, welche „die Verwaltung der Mittel, die sich auf die Aufrechterhaltung von Recht, Frieden, Eintracht und Disziplin unter den Untertanen und Reichsbewohnern beziehen“ betrifft, und andrerseits der „bürgerschaftlichen Verwaltung des besonderen Rechts“ vorgenommen, die er im XXXII. Kapitel als

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Der Diskurs über den Krieg und die ihm zugrundeliegende komplexe Verflechtung juristischer und politischer Fragen6 wurde in drei Problembereiche untergliedert: die Sorge für die Waffen in Friedenszeiten (XXXIV. Kapitel) und in Kriegszeiten (XXXV. Kapitel) sowie die Durchführung und Leitung des Krieges (XXXVI. Kapitel). Vorausgesetzt wird, dass die Sorge für die Waffen für die Aufrechterhaltung des Staates eine unabdingbare Aktivität ist. Der Oberste Magistrat muss daher „stets kampfbereite Waffen zur Hand haben, um sein Reich und Gemeinwesen gegen Untergang und Verderben verteidigen zu können und zwar auch dann, wenn sich plötzlich eine Notlage ergibt oder unvorhergesehen eine feindliche Macht hereinbricht“.7 Das der Sorge für die Waffen in Friedenszeiten gewidmete Kapitel dreht sich um den Grundsatz „si vis pacem, para bellum“8 in seinen verschiedenen praktischen Ausprägungen. Während das wirksamste, dem Staat zur Verfügung stehende Mittel der Friedenssicherung bekanntlich das ist, gut bewaffnet und in der Lage zu sein, feindliche Angriffe von außen abzuwehren, ist die Schaffung eines eigenen effizienten Heeres, das eine gefestigte militärische Disziplin pflegt, gleichzeitig eines der Mittel, die am besten geeignet sind, das Volk in Eintracht zu einigen sowie der moralischen Korruption und den schädlichen Auswirkungen des Müßiggangs der Untertanen vorzubeugen.9 Und somit wird letztendlich auch der großen Gefahr des „civilis dissensio“, also des zivilen Ungehorsams, entgegenwirkt.10 „Verwaltung der Mittel, die der Sorge für ein angemessenes gesellschaftliches Leben oder der Abwehr und Vermeidung von Unannehmlichkeiten dienen“, definiert hat. Die „Verwaltung des besonderen Rechts“ beinhaltet insbesondere die „Aufsicht und die Sorge für: erstens den Handelsverkehr; zweitens die Münze; drittens die Sprache; viertens Ämter und Privilegien; fünftens die öffentliche Sicherheit; sechstens die Komitien; siebtens die Waffen“. Vgl. Johannes Althusius, Politica methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata; cui in fine adjuncta est Oratio panegyrica, De necessitate, utilitate et antiquitate scholarum. Editio tertia, duabus prioribus multo auctior, Herborn 1614 (Reprint Aalen 1961), Kap. XXVIII, § 1, S. 567, Kap. XXXII, § 1, S. 666. Die deutschen Zitate sind aus Johannes Althusius, Politik. Übersetzt von Heinrich Janssen. In Auswahl herausgegeben, überarbeitet und eingeleitet von Dieter Wyduckel, Berlin 2003, übernommen. Vgl. ebd., Kap. XXVIII, § 1, S. 280, und Kap. XXXII, § 1, S. 323. 6 Diego Quaglioni, Guerra e diritto nel Cinquecento: i trattatisti del ius militare, in: Liotta, Filippo (Hrsg.), Studi di storia del diritto medioevale e moderno, 2, Bologna 2007, S. 191 – 210, schreibt so: „Esercizio delle armi e diritto non sono in alcun modo separabili, e la storia delle ragioni della guerra coincide perciò con la storia del nucleo essenziale del diritto comune pubblico, che nella sua complessa strutturazione di ius commune in utroque foro caratterizza la lunga durata del diritto pubblico europeo“. Diesbezüglich vgl. auch Norberto Bobbio, Per una teoria dei rapporti tra guerra e diritto, in: Scritti in memoria di Antonino Giuffré, I, Mailand 1967, S. 89 – 98. 7 Althusius, Politik (Anm. 5), Kap. XXXIV, § 1, S. 351. 8 Auf den in Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXIV, § 9, S. 762 – 763, ausdrücklich verwiesen wird: „Nemo praeterea provocare audet, aut facere injuriam ei regno, aut populo, quem intelligit expeditum atque promptum ad vindicandum. Quicunque igitur pacem desiderat, praeparet bellum“. 9 Vgl. ebd., Kap. XXXIV, §§ 5 – 10, S. 761 – 763, und hierzu insbes. § 10, S. 763: „Consultum denique est, homines in otio viventes et in turpi inertia et voluptatibus diffluentes, e

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Althusius, in diesen Seiten weitgehend aus den Politicorum sive civilis doctrinae libri sex (1589) von Justus Lipsius11 (insbesondere aus dem Buch V, das dem Krieg und der prudentia militaris gewidmet ist) schöpfend, baut seine Abhandlung nach diesem Schema auf: „die Sorge für die Waffen und ihre Verwaltung in Friedenszeiten“ besteht „erstens in der Auswahl der Soldaten, zweitens in der Einsetzung der Militärpräfekten und in der Bestimmung ihrer Pflichten, drittens in der Bereitstellung des Kriegsgeräts“.12 Der erste Punkt, d. h. die Auswahl der Soldaten („militum delectus“), betrifft die Auswahl kriegsgeeigneter Männer unter den Untertanen des Reichs („ex subditis in toto regno apti et idonei viri ad bellum“) und deren Organisation zu einer effiziente Miliz nach Kriterien, die auch an die Natur und die Charakteristiken des Landes gebunden sind.13 Im XXXIV. Kapitel, das die Prämisse zu den beiden nachfolgenden, dem Krieg selbst gewidmeten Kapiteln darstellt, werden hauptsächlich der Ruf der Soldaten zu den Waffen („vocatio militum“), die Bewertung und Katalogisierung der Soldaten („militum vocatorum probatio“), ihre Zuweisung an verschiedene Stellen und Abteilungen („militum distributio“) und der Schwur, der ihre Rekrutierung segnet, abgehandelt.14 civitate ad bellum emittere, et veluti pravis et corruptis humoribus plenum corpus vacuare. Ideo bella scopas regionum asperrimas, quibus sentina hominum malorum expurgatur, quidam dixerunt“. 10 Vgl. ebd., Kap. XXXIV, § 9, S. 762: „Subditi quoque rebelles et deficientes, vi et armis ad subjectionem sunt revocandi“, mit Verweis auf zahlreiche Bibelzitate (Gen. 14, 4 – 5; Ri. 20; 21; 2. Sam. 2 – 4; 18; 19; 20), auf Bocer (De jure, I, 29), Covarruvias (Relectio zu Liber Sextus, lib. 5, tit. 12: De regulis juris, reg. ,peccatum‘, p. 2, § 9), Petrus Gregorius Tholosanus (De Republica, 11, 1 ff. und 3), Bodin (De Republica, 5, 5) und Camerarius (Operae, 2, 2 ff.). Siehe hierzu auch ebd., Kap. XXXIV, § 10, S. 763: „Armorum igitur curam in Republica summus magistratus minime negligere debet, si vult pacem, concordiam, tranquillitatem, imo Rempublicam conservare, ne illa civili dissensione turbetur, vel irruptione ab extraneis hostibus invadatur, et sub jugum alienum redigatur. […] Sunt denique tales milites in pace decus, et in bello praesidium, uti ex Tacito refert Lipsius“, mit Verweis auf Ammirato (Discursus, 20, disc. 9) und auf Tacitus (Germania, XIII), durch Lipsius (Politicorum, V). 11 Vgl. Justus Lipsius, Politicorum sive civilis doctrinae libri sex qui ad principatum maxime spectant, in: Justus Lipsius, Opera omnia, Nunc primum, Aliorum ejusdem auctoris tractatuum hactenus desideratorum adjectione locupletata & copioso rerum indice, illustrata. Wesel 1675 (Reprint: Hildesheim 2003), IV. Vgl. jetzt auch die italienische Übers. Giusto Lipsio, Opere politiche, I: La politica, hrsg. von Tiziana Provvidera, Turin 2012, t. 2, hier bes. Buch V, Kap. 1 – 2, S. 489 – 496. 12 Althusius, Politik (Anm. 5), Kap. XXXIV, § 12, S. 352. 13 Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXIV, § 13, S. 764 f. Vom Kriegsdienst befreit sind nur die Vasallen, denen ein Lehen zugewiesen wurde und die der Oberste Magistrat angehalten ist, „frei von den Kriegsanstrengungen aufrechtzuerhalten“, mit einem diesbezüglichen Verweis zu Petrus Gregorius Tholosanus. Zur Aushebung der Soldaten stimmen im Wesentlichen die Beobachtungen von Althusius mit denen von Lipsius, Politicorum (Anm. 11), Buch V, Kap. 8 – 12, überein. 14 Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXIV, §§ 13 ff., S. 764 ff. Viele dieser Themen werden auch im nachfolgenden Kapitel aufgegriffen: vgl. ebd., Kap. XXXV, §§ 20 und 60 – 89.

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Der zentrale Gedanke, um den sich die gesamte Vorphase der Bereitstellung einer Armee und des kriegsdienlichen Materials dreht, ist der, dass ein Staat selbst die Kraft haben muss, sich zu schützen, und dass er sich so wenig wie möglich auf Hilfe von außen verlassen darf.15 Ein Landheer ist einem ausländischen Söldnerheer unbedingt vorzuziehen, weil es verlässlicher ist, in der Schlacht mutig und entschieden handelt, schneller einberufen werden kann und die Staatskasse weit weniger belastet, wie eine große Anzahl antiker und moderner Quellen (von Livius, Tacitus und Vegetius bis zu Scipione Ammirato, Francesco Patrizi, Gregorius Richter, Jean Bodin, Lambert Daneau und Justus Lipsius) belegen.16 Generell handelt es sich bei diesen, was die Kriegsproblematik betrifft, um die zusammen mit Peter Martyr Vermigli, Giovanni Botero, Covarruvias, Petrus Gregorius Tholosanus, Joachim Camerarius, Heinrich Bocer, Elias Reusner und Georg Obrecht, am häufigsten von Althusius verwandten Quellen.17 Der zweite, vorstehend angeführte Punkt, die Einsetzung der Militärpräfekten („militum praefecti constitutio“), betrifft vor allem die schwierige Wahl eines Generalpräfekten und schließlich die der unteren besonderen Präfekten.18 Zusammen mit den Soldaten sind die Präfekten die Personen, die in Kriegszeiten am meisten benötigt werden: „ohne sie ist die Masse der Soldaten wie ein Körper ohne Geist, ein Schiff ohne Steuermann“, behauptet Althusius unter Verweis auf Polybios und Bocer.19 Der Generalpräfekt sollte „aus den Ephoren des Reiches oder unter den am besten geeigneten Söhnen des Obersten Magistrats“ berufen werden.20 Seine besonderen Qualitäten sind die Kenntnis des Kriegshandwerks, Tugend, Glück, Charisma und Freigebigkeit.21 Zu den Aufgaben des Generalpräfekten gehört es, Soldaten auf theoretischer Ebene in der Kampfkunst und den Militärwissenschaften, in denen er besonders bewandert sein muss, auszubilden.22 Auf der praktischen 15

Vgl. ebd., Kap. XXXIV, § 7. Vgl. insbesondere Lipsius, Politicorum (Anm. 11), Buch V, Kapp. 9 – 10, wo dieser Begriff eingehend entwickelt und besprochen wird. 17 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXIV, §§ 6, 7, 17, S. 772 und 765; aber auch Kap. XXXV, § 66, S. 806, wo er auf Gregor Richter, Bodin, Patrizi und Vegetius verweist. 18 Ebd., Kap. XXXIV, § 27 ff., S. 768 f. Zur Wahl der Präfekten und ihren Tugenden vgl. Lipsius, Politicorum (Anm. 11), Buch V, Kap. 14 – 15. Eine wichtige Quelle ist auch, in diesem Zusammenhang, Lambertus Danaeus, Politices christianae libri septem. In quibus ea ex Dei verbo primum, post autem ex alijs quoque scriptis collecta sunt, quae ad optimam Reipubl. administrationem pertinent: quae definitionibus explicata, exemplisque variis confirmata, tandem certis, brevibusque aphorismis in singulis libris sunt comprehensa, Genf 1596, Buch VII, über die „magistrati armati, qui in Republica Christiana sunt necessarij“, S. 473 ff. 19 Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXV, § 27, S. 792 (meine Übers.). 20 Althusius, Politik (Anm. 5), Kap. XXXIV, § 28, S. 353. 21 Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXIV, § 29, S. 769: „Requisita hujus sunt, scientia rei militaris, virtus, felicitas, autoritas, liberalitas“. Vgl. auch ebd., Kap. XXXV, § 29, S. 793: „In imperatoris electione consideratur praecipue 1. scientia rei militaris. 2. auctoritas. 3. felicitas, quae sunt tres notae et tejl^qia boni ducis“, mit Verweis auf Bocer, De Jure, 1, 7 und Melchior Junius, Politicae Quaestiones, p. 2, q. 71. 22 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXV, § 30 ff., S. 793 ff. 16

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Ebene hat er ihre Ausbildung durch militärische Übungen,23 die sowohl den Körper als auch den Geist der Soldaten schulen, voran zu treiben.24 Der dritte und letzte Punkt, die Schaffung der Voraussetzungen für den Krieg („apparatus ad bellum“),25 umfasst schließlich die Zurverfügungstellung folgender, für einen Krieg unabdingbarer Materialien: 1. Geld, das „zur Kriegführung so notwendig ist, dass es mit Recht als ihr Kernpunkt und lebendiger Geist bezeichnet wird“;26 2. Waffen, d. h. alle Arten von Werkzeugen, mit denen Krieg geführt, Gewalt zugefügt und abgewehrt wird;27 3. Lebensmittel, d. h. „alles, was zur Erhaltung des menschlichen Lebens notwendig und nützlich ist, wie Brot, Getreide, Fleisch, Wein, Bier, Kleidung und anderes Ähnliches“, 28 die alle absolut notwendig sind, denn „kein Mensch kann gleichzeitig mit dem Feind und mit der Natur kämpfen“;29 4. Verteidigungsanlagen oder Wehranlagen, d. h. „Orte, die für die Verteidigung ausgerüstet sind, Bollwerke, Wehranlagen […], Burgen […], Städte und Orte, die mit Wällen, Wassergräben, Mauern oder anderen Bollwerken gegen jeden Angriff von außen ausgerüstet sind“;30 5. Bündnisse, d. h. Pakte und Verträge mit den Nachbarvölkern, damit in Kriegszeiten eine gegenseitige Hilfestellung gewährleistet ist.31 Was die Legitimierung dieser Kriegsvorbereitung betrifft, so hegt Althusius keinerlei Zweifel: die Heilige Schrift und die weltliche Geschichte (von Platon und Xenophon bis Livius, Seneca und Tacitus) stimmen darin überein, dass „Städte, die Waffen ganz und gar vernachlässigen und sich völlig dem Frieden und der Ruhe hingeben […] leicht von Auswärtigen zugrunde gerichtet werden“.32 Gewiss, es ist den kirchlichen Würdenträgern nicht gestattet, Waffen zu tragen;33 aber für alle 23

Ebd., Kap. XXXIV, §§ 31 – 32, S. 769 f. Dieses Thema war zuvor schon in § 2 eingeführt worden. 24 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 5), XXXIV, § 32 ff., S. 770 ff. Diesbezüglich siehe auch ebd. Kap. XXXV, §§ 27 – 59, wo dem Thema der „belli gubernatores“ noch viel Raum gewidmet wird. 25 Althusius, Politica (Anm. 5), XXXIV, § 38, S. 772 f. Vgl Lipsius, Politicorum (Anm. 11), Buch V, Kap. 6. 26 Althusius, Politik (Anm. 5), Kap. XXXIV, § 39, S. 353. Die Maxime „pecunia nervus belli“ befindet sich schon in den klassischen Autoren. Was die Rechtstradition betrifft, benutzte sie schon Ulpian (D. 48, 18, 1 [20]). Zur Geschichte des Schicksals dieser Maxime im deutschen Raum während des gesamten modernen Zeitalters siehe Michael Stolleis, Pecunia nervus rerum. Zur Staatsfinanzierung in der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1983. Vgl. jetzt auch Lucia Bianchin, ,Census‘ e censura, fiscalità e polizia nella prima età moderna, in: Politica e Religione. Annuario di teologia politica / Yearbook of Political Theology, „Censo, ceto, professione. Il censimento come problema teologico-politico“, 2015, S. 141 – 190. 27 Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXIV, § 40, S. 774. 28 Althusius, Politik (Anm. 5), Kap. XXXIV, § 44, S. 353. 29 Ebd., Kap. XXXIV, § 43, S. 353. 30 Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXIV, § 45, S. 776. 31 Ebd., Kap. XXXIV, § 49 ff., S. 779 ff. 32 Althusius, Politik (Anm. 5), Kap. XXXIV, § 3, S. 351. 33 Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXV, § 74, S. 808 f.

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anderen Menschen steht Gott zu ehren und militärische Disziplin zu üben nicht im Widerspruch; im Gegenteil: „Vorsorge, Rechtsprechung, Gesetze, Religion, Macht und Stärke aller Gemeinwesen werden unter dem Schild militärischer Disziplin bewahrt“.34 Gott selbst legitimiert den Griff zu den Waffen und zwar nicht nur in Kriegs-, sondern auch in Friedenszeiten, sowohl als Form der Verteidigung gegen Aggressionen, Gewalt und bestehende Unterdrückung als auch gegen äußere wie innere Feinde, Verbrecher, Räuber und Aufrührer. Althusius erinnert daran, dass Bodin schrieb, dass wir in Wirklichkeit keine Lehrmeister brauchen, um die Notwendigkeit zu erkennen, dass wir uns sowohl in Kriegszeiten wie in Friedenszeiten vor Feinden, Räubern, Gewalt und Übergriffen schützen müssen. Dies lehrt uns bereits unser natürlicher Instinkt, „eine natürliche Ordnung, die durch alle göttlichen und menschlichen Gesetze bekräftigt wird“:35 „Neque ab ullis magistris, inquit Bodinus, accepimus, aut didicimus, sed ab ipsa natura hausimus et expressimus, ut caedes, incendia, rapinas, libidinem a vita, fortunis, corporibus arceamus; ac Deus ipse jubet a templis sacrilegia, ab oppidis direptionem, ab agris vastitatem, depelli, et omni ratione salutem expediri, neque id tantum, sed etiam hostes ac latrones consectari ac perdere, quae naturae disciplina omnibus divinis et humanis legibus confirmatur. Hoc vero fieri non potest, sine armis et militibus et absque disciplina militari, quae ideo excolenda est, non solum ad tutelam rerum, fortunarum, liberorum, cognatorum, parentumque nostrorum, sed etiam ad improborum et latronum offensionem et exitium; utrumque periculum tempore pacis et belli expectandum est, quamvis certius hoc, quam illo, quo contra improborum civium conjurationes et coetus seditiosos armis opus est.“36 34

Althusius, Politik (Anm. 5), Kap. XXXIV, § 3, S. 351. Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXIV, § 4, S. 761; vgl. auch Althusius, Politik (Anm. 5), Kap. XXXIV, § 4, S. 351. Der Begriff befindet sich auch bei Luther: vgl. Schmoeckel, Reformation als Grundlage (Anm. 3), S. 238 ff. Diese Textstelle, wo Gottes Willen und Naturgesetz im Wesentlichen übereinstimmen, ist ausschlaggebend, um Althusius’ Naturrechtslehre (anfangs von Otto von Gierke verherrlicht und in den folgenden Studien abgeschwächt) genau zu verstehen. Vgl. hierzu Otto von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik, Aalen 1981 (7. Aufl.), und Carl Joachim Friedrich, Johannes Althusius und sein Werk im Rahmen der Entwicklung der Theorie von der Politik, Berlin 1975, S. 76 ff. In jüngster Zeit, siehe u. a. Merio Scattola, Johannes Althusius und das Naturrecht des 16. Jahrhunderts, in: Carney, Frederick S./Schilling, Heinz/Wyduckel, Dieter (Hrsg.), Jurisprudenz, Politische Theorie und Politische Theologie. Mit einer Einleitung von Dieter Wyduckel, Berlin 2004, S. 371 – 396. 36 „Und das haben wir, sagt Bodin, nicht von irgendwelchen Lehrmeistern übernommen oder gelernt, sondern aus der Natur selbst hergeleitet und ihr nachempfunden, dass nämlich Mord, Brand, Raub und Begierden von unserem Leben, unserem Geschick und unseren Körpern fern zu halten sind. Gott selbst befiehlt, religiösen Frevel von den Gotteshäusern, Plünderung von den Städten und Verwüstung vom Lande abzuwehren und das Wohlergehen auf jegliche Weise zu fördern, aber nicht nur dies, sondern auch, Feinde und Räuber zu verfolgen und zu verderben. Diese natürliche Ordnung wird durch alle göttlichen und menschlichen Gesetze bekräftigt. Dies aber kann nicht ohne Waffen und Soldaten und ohne militärische Disziplin vonstatten gehen, die von daher nicht allein zum Schutz des Besitzes und des Vermögens unserer Verwandten, Kinder und Eltern, sondern auch zum Schaden und Verderben 35

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B. Die Durchführung und Leitung des Krieges I. Das Recht zum Krieg (Jus ad bellum) Die Problematik der Legitimierung wird im XXXV. Kapitel37 erörtert, in dem Althusius sich mit dem großen Problem der Aufnahme eines Krieges („susceptio belli“)38 und mit den Bedingungen für die Legitimität von Kriegen39 befasst. In diesem Rahmen, der traditionell mit dem Ausdruck „jus ad bellum“ (Recht zum Krieg) bezeichnet wird, werden die Prinzipien des Rechts zum Kriegseintritt festgelegt. Andererseits legt das so genannte „jus in bello“ (Recht im Krieg) die Kriterien einer gerechten Kriegsführung fest. Angesichts einer verfestigten Meinung in der Rechtsund Staatslehre40 erachtet auch Althusius das Vorliegen einiger Voraussetzungen für erforderlich: dazu gehört zunächst einmal das Bestehen eines „gerechten“ Kriegsgrundes („justa causa belli“) und das Vorliegen einer gerechten Absicht („recta intentio“) desjenigen, der den Krieg aufnimmt. Hinzukommen muss, dass der Krieg durch eine rechtmäßige Autorität („legitima potestas“) angeordnet wird, welche die Notwendigkeit dieses extremen Mittels, die voraussichtlichen Vor- und Nachteile, die einzusetzenden gerechten Mittel („debitus modus“) und jeden anderen des Übelwollenden und Räuber zu pflegen ist. Auf beides muss man sowohl in Friedens- als auch in Kriegszeiten gefasst sein, wenn auch mehr in diesen als jenen, wo es der Waffen gegenüber Verschwörungen ruchloser Bürger und aufständischen Zusammenrottungen bedarf.“, Althusius, Politik. Übersetzt von Heinrich Janssen (Anm. 5). 37 Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXV („De cura et administratione armorum tempore belli, et primum de belli susceptione“), S. 780 – 813. 38 Die Kriegsdefinition, mit der das Kapitel XXXV, § 1, beginnt, ist die folgende: „Bellum est actio hostilis, ad injuriam depellendam, vel vindicandam a magistratu vi armisque contra hostes, pacis retinendae, vel consequendae causa legitime suscepta et administrata. Uti definit Obrecht. adde Covarruv. in c. peccatum, parte 2. § 10. de reg. jur. in 6. Bocer, lib. 1. de jur. belli cap. 1.“. 39 Die Aufnahme des Krieges wird von Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXV, § 4, wie folgend definiert: „Susceptio belli est primum illius membrum, quo legitima belli fundamenta, et initia justa sternuntur et examinantur. Ejusmodi vero sunt causa belli justa, et apparatus bellicus necessarius“. 40 In der breiten Literatur über das Thema des gerechten Krieges siehe Frederick H. Russell, The Just War in the Middle Ages, Cambridge 1975, und die entsprechende Buchbesprechung von Diego Quaglioni, in: La cultura, XVI (1978), S. 497 – 500. Unter den jüngsten Untersuchungen zum Thema siehe Merio Scattola (Hrsg.), Figure della guerra. La riflessione su pace, conflitto e giustizia tra Medioevo e prima età moderna, Mailand 2003 (rist. 2015); Luisa Bussi, Echi dello jus belli romano nella dottrina canonistica della guerra giusta, in: Ius Antiquum, 1 (13), 2004, S. 130 – 164; Pietropaoli Stefano, ,Jus ad bellum e jus in bello‘. Genealogia di una grande dicotomia del diritto internazionale, in: Quaderni fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno, 38 (2009), S. 1169 – 1213; Aldo Andrea Cassi, Lo ,ius in bello‘ nella dottrina giusinternazionalista moderna. Annotazioni di metodo e itinerari d’indagine, ebd., S. 1141 – 1168, Luigi Lacchè (Hrsg.), ,Ius gentium, ius communicationis, ius belli‘. Alberico Gentili e gli orizzonti della modernità: atti del convegno di Macerata in occasione delle celebrazioni del quarto centenario della morte di Alberico Gentili (1552 – 1608), Macerata, 6 – 7 dicembre 2007, Mailand 2009.

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Aspekt des Krieges selbst, gegeneinander abzuwägen hat. Schließlich bedarf es einer Kriegserklärung („denuntiatio belli“).41 Besonders wichtig hierzu, unter den althusischen Quellen, erscheint Lambert Daneau, Calvins ehemaliger Schüler und theologische Stütze von Althusius, der in seinen Politices Christianae libri septem (1596), Buch VII, Kap. 442 den Versuch unternimmt, eine Theorie des gerechten Krieges auf Grund der Quellen der Heiligen Schrift, des römischen Rechts und der mittelalterlichen zivilistischen Lehre neu zu formulieren, ohne dennoch dahin zu kommen, der kanonistischen Lehre ihren Beitrag zum Aufbau eines im Rahmen des öffentlichen Gemeinrechts gereiften Kriegsrechts abzusprechen.43 Ausdrücklich Daneaus, Lipsius und Obrecht zitierend, definiert Althusius den „gerechten“ Kriegsgrund als „einen Kriegsgrund, der auf das Recht gestützt ist“: Er kann der „Verteidigung“ oder der „Bestrafung“ geschuldet sein, je nachdem, ob er auf die Abwehr des Unrechts oder die Bestrafung des Unrechts ausgerichtet ist, das „Gott, dem Gemeinwesen, einem Untertan oder der Kirche“ zugefügt wurde.44 Der reformierte Jurist hält insbesondere in fünf Fällen einen „gerechten“ Kriegsgrund für gegeben: „1. Die Verteidigung der Freiheit und der eigenen Rechte sowie die Abwehr zugefügter Gewalt; 2. Die Verteidigung der reinen Religion; 3. Die Rückforderung von Dingen, die unrechtmäßig geraubt wurden; 4. Die Verweigerung der Gerechtigkeit; 5. Die Konspiration mit dem Feind und der Aufstand“.45 In jedem 41

Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXV, § 4 ff., S. 783 ff. Danaeus, Politices christianae (Anm. 18), Buch VII, Kap. 4 („De bello, quid sit, quotuplex, et quando iustum“), S. 490 – 504. 43 Vgl. Strohm, Ethik (Anm. 3), S. 193 – 194. Strohm hebt insbesondere den starken Einfluss hervor, den der Neostoizismus von Justus Lipsius auf den reformierten Theologen ausübte. Vgl. bes. ebd., S. 178: „Die zentralen Aussagen zur Wehrpolitik im siebten Buch der ,Politica‘ stimmen im Wesentlichen mit denen des fünften Buches der ,Civilis doctrina‘ überein. Die militärische Gewalt als reale Grundlage des Staates, die Aushebung der Truppen vor allem unter Einheimischen, die Notwendigkeit eines stehendes Heeres, die strikte Durchgliederung und Organisation und vor allem die strenge Disziplin als Grundlage des Militärwesens sowie in Verbindung damit Ansätze eines Kriegsrechts sind die hauptsächlichen und gemeinsamen Themen bei Danaeus und Lipsius“. Auch über das Thema des gerechten Krieges beweist Danaeus eine bemerkenswerte Nähe zur Lehre des flämischen Humanisten: vgl. Lipsius, Politicorum (Anm. 11), Buch 5, Kap. 3 und 4. 44 Althusius, Politik (Anm. 5), Kap. XXXV, § 5, S. 356 f. Vgl. den vollständigen Text in Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXV, § 5, S. 783 f., wo der Autor erklärt: „[…] Sed hae causae facile redigi possunt ad duas, quarum prior est defensoria, altera vindicatoria. Illa injuriam propulsat, haec vindicat injuriam illatam Deo, vel Reipublicae, vel subdito, vel ecclesiae“. 45 Althusius, Politik (Anm. 5), Kap. XXXV, § 5, S. 356 f. Vgl. hierzu ausführlicher Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXV, § 5, S. 783: „Causa belli justa esse censetur, quae jure nititur et summi magistratus autoritate. Causa belli, quae jure nititur, est: 1. defensio libertatis et jurium suorum et propulsatio vis illatae. 2. religionis purae defensio. 3. repetitio rerum per injuriam ablatarum. 4. justitiae denegatio. 5. conspiratio cum hoste et rebellio“; mit Verweis auf Danaeus, Politices christianae, 6, 3; Lipsius, Politicorum, 5, 4; Junius Brutus, Vindiciae contra tyrannos, q. 3; Covarruvias, Relectio in c. peccatum, p. 2, § 10; Bocer, De jure, 1, 5; 42

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Fall muss Krieg die ultima ratio sein: Auch das Vorliegen eines gerechten Kriegsgrundes reicht zur Rechtfertigung der Aufnahme eines Krieges nicht aus, wenn nicht vorher jeder mögliche Versuch zur friedlichen Beilegung der Streitigkeit unternommen wurde.46 Das Ziel jeden Krieges muss in jedem Fall der Frieden sein. Diese grundsätzliche, von Althusius auf diesen Seiten mehrfach dargelegte Bedingung wurde von ihm bereits im XVI. Kapitel, das dem „Schutz der universalen Gemeinschaft“ gewidmet ist, in den Abschnitten 16 und 17 erläutert. Hier finden wir auch eine erste, von der bereits zitierten Liste abweichende Aufstellung von „gerechten Gründen dafür, einen Krieg zu führen“.47 Diese Aufstellung besteht aus sieben Punkten, ist von ihrem Inhalt her umfangreicher und diversifizierter und stimmt nicht mit der „offiziellen“ Liste im XXXV. Kapitel über den Krieg überein. Der Unterschied ist in Wirklichkeit nicht immer so wesentlich, wie es auf den ersten Blick scheinen mag: es handelt sich größten Teils um eine andersartige, analytischere und verworrene, „unfertige“ Gliederung derselben Thematik. Diese erste Aufstellung ist auch deshalb interessant, weil der Gedankengang von Althusius so besser nachverfolgt werden kann und Teile, die ihn tiefer zu beschäftigen scheinen und die in der anderen, kürzeren Liste nicht erwähnt werden, rekonstruiert werden können. Die erste Aufstellung (im XVI. Kapitel) führt im Gegensatz zur zweiten Aufstellung (im XXXV. Kapitel) zwei weitere „gerechte“ Kriegsgründe an: „wenn ein fremdes Volk den Durchgang durch seine Provinz verweigert, ohne dass eine billigensPetrus Gregorius Tholosanus, De Republica, 11, 1 – 2; Reusner, Stratagematographia, 1, 10; Vermigli, Loci, loc. De bello. 46 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXV, § 8, S. 785 f. 47 Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XVI, § 17 („Causae justae belli gerendi quae et quot sint“), S. 246 ff.: „Belli gerendi causa justa est tum, quando prius omnibus remediis aliis tentatis, pax, vel justitia aliter haberi non potest. Deut. c. 20. 10. Num. c. 20. c. 21. Jud. c. 11. 14. 15. 17. 18. Esa. c. 1. 11. Causae vero belli indicendi et gerendi justae sunt septem: Prima, est repetitio rerum per violentiam ab alio populo ablatarum. Judic. c. 11. 14. et seqq. 1. Sam. c. 30. 8. 18. 19. Genes. c. 14. 14. 15. 16. 1. Sam. d. cap. 30. ubi Martyr. 2. Sam. cap. 2. Judic. cap. 15. 3. 2. Reg. c. 14. 25. Secunda est defensio et propulsatio vis illatae ab alio. Martyr. d. loc. Judic. d. c. 11. 14. et seqq. 1. Sam. c. 14. 47. et seqq. 1. Sam. d. cap. 30. 2. Sam. cap. 10. 6. 7. 8. 9. Covarr. in c. peccatum. de reg. jur. in 6. part. 2. relect. § 9. 1. Sam. cap. 23. 2. 34. 5. Tertia causa est, libertatis, privilegiorum et jurium suorum, pacis et tranquillitatis conservandae, et verae religionis defendendae necessitas. Quarta causa est, quando peregrinus populus transitum innoxium per suam provinciam denegat. Num cap. 20. et cap. 21. ex nulla causa probabili: Deut. cap. 2. 25. 26. et seqq. Bocer. de jur. bell. c. 17. Covar. d. loc. Rosenth. d. c. 21. Quinta causa est, quando subditi adversus suum principem et dominum insurgunt, fidem datam non servant, nec ei obedire volunt, etiamsi saepius admoniti fuerint. 2. Reg. cap. 20. Judic. 20. 2. Sam. c. 20. 6. 2. Reg. c. 17. 4. 2. Chron. c. 36. 13. Gen. c. 14. 5. 6. 2. Sam. c. 2. c. 3. Bocer. et Covar. d. loc. Sexta causa est contumacia, quando quis princeps, vel alius dominus aut civitas, judiciorum rigorem saepius attentatum contumaciter spreverit, ut justitia aliter defendi et administrari non possit: Judic. d. c. 20. et c. 21. Tholos. d. lib. 11. c. 21. Justa denique causa belli est, quando federa ab altera parte non impleta sunt, 1. Reg. c. 22. 3. et seqq. et quando fides promissa praestandi, non servatur: 2. Reg. c. 18. 17. et seqq. et quando tyrannis in subditos exercetur. de qua in re cap. 38. diximus“.

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werte Begründung vorläge“ (vierter Grund) und „wenn Bündnisse von der anderen Seite nicht erfüllt werden“ (siebter Grund).48 Der erste Grund befasst sich mit einem Randthema und der zweite Grund ist, so könnte man sagen, in der zweiten Aufstellung impliziert. Interessant ist, dass Althusius der mangelnden Erfüllung von Bündnissen in der ersten Aufstellung eine besondere Analyse widmet, die im Übrigen ziemlich umfangreich und einzigartig ist. Die mangelnde Erfüllung von Bündnissen – so erläutert er – rechtfertigt einen Krieg nicht nur dann, wenn der Bündnispartner der Feind ist, sondern auch dann, wenn der Magistrat „ein Treueversprechen nicht einhält“ und „die Untertanen tyrannischer Herrschaft ausgesetzt sind“.49 Vergleicht man die beiden Aufstellungen, dann besteht ihr bedeutender Unterschied tatsächlich nicht so sehr in der unterschiedlichen Gliederung der „gerechten“ Gründe gegen den Feind Krieg zu führen, als vielmehr darin, dass die erste Aufstellung auch den „gerechten“ Gründen eines Krieges zwischen den beiden wichtigsten gesellschaftlichen Parteien, nämlich dem Magistrat und den Untertanen, einen eigenständigen Raum zugesteht und große Beachtung schenkt. Dieser Problemkomplex wird hingegen in der zweiten Aufstellung mit einem kurzen Hinweis auf die Rebellion abgefertigt.50 Auf der anderen Seite kann der Umstand, dass Althusius die „gerechten Gründe“ eines Bürgerkriegs in der ersten Aufstellung abhandelt, vermutlich damit erklärt werden, dass sie in einem anderen Zusammenhang dargelegt wurden, in einem Kapitel, das der Aufrechterhaltung des Gemeinwesens gewidmet ist und nicht, wie im Falle der anderen Aufstellung, der herkömmlichen Kriegsproblematik. Tatsächlich befassen sich in der ersten Aufstellung neben dem siebten auch der fünfte und der sechste Punkt (also drei von sieben) mit „gerechten Gründen“ für die Aufnahme eines Bürgerkrieges. Um mit den Gründen fortzufahren, die der Herrschende zu vertreten hat, kommen wir zum sechsten Punkt, d. h. die „contumacia“ (Arroganz) sowohl „eines Herrschers als auch einer Stadt“. Wie Althusius erläutert, liegt sie am offensichtlichsten vor, wenn die Autorität der Richter verachtet und die Justizverwaltung wiederholt angegriffen wird, so dass sie in ihren Handlungen gelähmt ist.51 Im Wesentlichen kommt es hier zu dem Problem der „verweigerten Gerechtigkeit“ (dem vierten „gerechten Kriegsgrund“ der zweiten Aufstellung)52, das 48

Vgl. oben, Anm. 46, Nr. 4 und 7. Vgl. oben, Anm. 46, Nr. 7. Zum Verhältnis von Gewissen und Widerstandsrecht siehe den Sammelband Angela De Benedictis/Karl-Heinz Lingens (Hrsg.), Wissen, Gewissen und Wissenschaft im Widerstandsrecht (16.–18. Jh.), Frankfurt a.M. 2003, und hier insbesondere den Beitrag von Christoph Strohm, Das Verhältnis von theologischen, politisch-philosophischen und juristischen Argumentationen in calvinistischen Abhandlungen zum Widerstandsrecht, ebd., S. 141 – 174, mit Bezug auf Althusius auf S. 167 ff. Siehe hierzu noch Diego Quaglioni, Tyrannis, in: Malandrino/Wyduckel (Hrsg.), Politisch-rechtliches Lexikon (Anm. 1), S. 353 – 364; Angela De Benedictis, Gewissen und Widerstand. Eine Polemik gegen die Widerlegung von „De jure magistratuum in subditos“ im Kapitel XXVIII der „Politica“ von Althusius, in: Germann/Decock (Hrsg.), Das Gewissen (Anm. 3), S. 126 – 154. 50 Vgl. oben, Anm. 46, Nr. 7, und. Anm. 44, Nr. 5. 51 Vgl. oben, Anm. 46, Nr. 6. 52 Vgl. oben, Anm. 46, Nr. 6, und. Anm. 44, Nr. 4. 49

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hier aus einer ungewöhnlichen, für Althusius typischen Perspektive angegangen wird. Bei den hierzu zitierten Quellen handelt es sich nicht zufällig nicht um Rechtsquellen, sondern, mit Ausnahme eines Verweises auf das Hauptwerk des französischen Kanonisten Petrus Gregorius Tholosanus, um Bibelstellen. Umgekehrt stellt auch ein schweres Verschulden der Untertanen einen „gerechten Grund“ für einen Bürgerkrieg dar (der fünfte Grund der ersten Aufstellung). Ein solcher liegt insbesondere dann vor, „wenn die Untertanen sich gegen ihren Herrscher und Herren erheben, die gegebene Treue nicht halten und ihm nicht gehorchen wollen, obwohl sie mehrfach ermahnt worden sind“.53 Auch in diesem Fall stützt sich die These von Althusius vor allem auf eine lange Reihe von Bibelstellen, die nur durch einen Verweis auf Bocer und Covarruvias ergänzt werden.54 Im Vergleich zum großen Teil der zeitgenössischen Kriegslehren, die sich nur mit dem Krieg gegen fremde Völker beschäftigten, stellt die Beachtung, die Althusius auch den „gerechten Gründen“ für die Aufnahme eines Bürgerkrieges schenkt, in jedem Fall eine Besonderheit seiner Kriegstheorie dar. II. Die legitime Autorität Ein weiterer besonderer Aspekt der Kriegstheorie von Althusius betrifft eine andere wesentliche Voraussetzung des „gerechten Krieges“: die Genehmigung seitens der legitimen Autorität. Aus der Staatslehre von Althusius und seiner Aufteilung der Regierungsaufgaben zwischen dem Obersten Magistraten und den Ephoren, als den Vertretern des Reichs,55 ergibt sich folgerichtig, dass auch die Genehmigung der Autorität, einen Krieg aufzunehmen, sich anders und artikulierter gestaltet als in der vorherrschenden Rechtstradition.

53 Vgl. oben, und. Anm. 46, Nr. 5. Vgl. hierzu auch die dt. Übers. in Althusius, Politik (Anm. 5), Kap. XVI, § 17, S. 153. 54 Zur Rolle der Bibelzitate bei Althusius vgl. Heinrich Janssen, Die Bibel als Grundlage der politischen Theorie des Johannes Althusius, Frankfurt a.M. 1992; und Lucia Bianchin, Politica e Scrittura in Althusius. Il diritto regale nell’interpretazione di I Sam. 8, 11 – 18 e Deut. 17, 14 – 20, in: Campos Boralevi, Lea/Quaglioni, Diego (Hrsg.), Politeia biblica, Florenz 2003 (Il pensiero politico, 35, 2002), S. 411 – 432. 55 Vgl. Saffo Testoni Binetti, Ephori, in: Malandrino/Wyduckel (Hrsg.), Politisch-rechtliches Lexikon (Anm. 1), S. 201 – 216. Hierzu siehe auch Saffo Testoni Binetti, Efori. Antichi e moderni nei dibattiti sul potere di controllo, Soveria Mannelli 2013; Thomas O. Hüglin, State and Church in the Political Thought of Althusius, in: Malandrino/Savarino (Hrsg.), Calvino e il calvinismo politico (Anm. 1), S. 217 – 227, und Robert von Friedeburg, Von den ,Ephoren‘ als Institut ständischer Mitbestimmung zur Fundamentalverfassung des Gemeinwesens: Die Entwicklung von Calvin bis hin zu Althusius, Besold und Boxhorn um die Mitte des 17. Jahrhunderts, in: de Wall, Heinrich (Hrsg.), Reformierte Staatslehre in der Frühen Neuzeit, Berlin 2014, S. 79 – 98.

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Zunächst einmal kann es sich bei der legitimen Autorität nach Althusius und in Anlehnung an eine typisch deutsche Rechtstradition,56 die nach Virgilio Ilari57 auf den Juristen Scipione Gentili58 zurückgeht, nur um den Kaiser handeln. Althusius hätte sich also auf den einzigen Punkt der Staatstheorie von Scipione Gentili bezogen, in dem der Jurist aus San Ginesio (der italienischer Herkunft, aber naturalisierter Deutscher war) sich von der sicherlich international bekannteren Kriegstheorie seines Bruders Alberico Gentili distanziert hat. Weiterhin stellt sich die Genehmigung durch die legitime Autorität im Gedankengang von Althusius als die Vereinigung der „Autorität des Obersten Magistrats“ mit dem „Konsens der Stände des Reiches“ dar, mit der Folge, dass ein Krieg ohne beider Zustimmung als radikal „illegitim und ungerecht“ anzusehen wäre.59 56 Zum Souveränitätsbegriff im Reich ist immer noch grundlegend die Analyse von Helmut Quaritsch, Souveränität. Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jh. bis 1806, Berlin 1986. Diesbezüglich siehe auch Dietmar Willoweit, Grundlagen der Territorialgewalt, Köln 1975; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, I. Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600 – 1800, München 1988, bes. S. 70 – 185; Horst Dreitzel, Politische Philosophie, in: Holzey, Helmut/SchmidtBiggemann, Wilhelm (Hrsg.), Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Bd. 4, Basel 2001, S. 609 – 866; Dieter Wyduckel, ,Jura regalia‘ und ,jus majestatis‘ im Alten Reich. Ein Beitrag zu den Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen des Öffentlichen Rechts, in: Dilcher, Gerhard/Quaglioni, Diego (Hrsg.), Gli inizi del diritto pubblico europeo, 2. Da Federico I a Federico II. – Die Anfänge des öffentlichen Rechts, 2. von Friedrich Barbarossa zu Friedrich II, Bologna – Berlin 2008, S. 363 – 386; Robert von Friedeburg, The Reception of Bodin in the Holy Roman Empire and the Making of the Territorial State, in: Lloyd, Howell A. (Hrsg.), The Reception of Bodin, Leiden-Boston 2013, S. 293 – 322, mit Bezug auf Althusius auf S. 306 f. 57 Vgl. Ilari, L’interpretazione storica (Anm. 4), S. 69, mit Verweis auf Pierre Mesnard, L’essor de la philosophie politique au XVIe siècle, Paris 19692, S. 567 – 616. 58 Vgl. Angela De Benedictis, Scipione Gentili, in: Dizionario Biografico degli Italiani, LIII, Roma 1999, S. 268 – 272; Wolfgang Mährle, Academia Norica. Wissenschaft und Bildung an der Nürnberger Hohen Schule in Altdorf (1575 – 1623), Stuttgart 2000, S. 443 – 478; Christoph Strohm, Calvinismus und Recht. Weltanschaulich-konfessionelle Aspekte im Werk reformierter Juristen in der Frühen Neuzeit, Tübingen, 2008, S. 356 – 366; Lucia Bianchin, Il diritto pubblico nel rinnovamento della tradizione dottrinale: il „De iurisdictione“ di Scipione Gentili (1601), in: Dilcher, Gerhard/Quaglioni, Diego (Hrsg.), Gli inizi del diritto pubblico europeo, 3. Verso la costruzione del diritto pubblico tra medioevo e modernità / Die Anfänge des öffentlichen Rechts, 3. Auf dem Wege zur Etablierung des öffentlichen Rechts zwischen Mittelalter und Moderne, Bologna-Berlin 2011, S. 425 – 447; Lucia Bianchin, Gentili, Scipione, in: Dizionario Biografico dei Giuristi Italiani (XII–XX secolo), Bologna 2013, I, S. 969 – 970; und zuletzt Cornel Zwierlein, Scipione and Alberico Gentili on conspiracies around 1600 (Beitrag zur XVIa Giornata Gentiliana, San Ginesio, 16 – 17 settembre 2016). 59 Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXV, § 7: „Summi magistratus autoritas in bello suscipiendo, et consensus ordinum regni, ut colligitur ex 1. Reg. c. 20. 7. 2. Reg. c. 19. 2. ad bellum gerendum necessaria adeo sunt, ut sine iis, illud susceptum illegittimum et injustum dicatur. Argum. Rom. c. 13. Bocer. de jur. bell. c. 4. Pet. Greg. lib. 11. cap. 1. et seqq. de Republ. et Geil. lib. 1. de pace pub. cap. 1. num. 4. 5. 6. per tit. C. ut arm. usus inscio princip. interdicit. l. 3. ad L. Jul. majest. l. nemini. C. de re milit. Judic. cap. 4. 6. 7. 2. Sam. cap. 2. ubi Petr. Martyr. Elias Reusner. art. stratag. lib. 1. cap. 6.“.

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III. Das Recht im Krieg (jus in bello) und die militärische Disziplin Nachdem er das Problem des Aufrufs zum Krieg gelöst hat, befasst Althusius sich im XXXVI. Kapitel mit der „gestio et administratio belli“ und somit mit dem „jus in bello“. Die Durchführung und Leitung des Krieges wird hier mit der „Durchführung eines rechtmäßig unternommenen Krieges durch den Vollzug kriegerischer Handlungen“ definiert.60 Kriegerische Handlungen sind all jene Handlungen, die „darauf abzielen, die Kraft und Stärke des Feindes zu brechen und den Sieg zu erringen“.61 Die mit diesem weiten Problemfeld in Zusammenhang stehenden Fragen, werden von dem reformierten Juristen, der Methode Ramus getreu, in zwei große Kategorien gegliedert und angegangen: einmal geht es um Fragen, welche die „militärische Disziplin“ betreffen, denen der gesamte erste Teil des Kapitels gewidmet ist,62 und dann um die „Kriegsschäden, die dem Feind zugefügt oder die abgewehrt werden“, welche im zweiten Teil des Kapitels abgehandelt werden.63 Hier wird jedes Unglück verursachende Verhalten (Brände, Zerstörung von Dörfern, Plünderungen, Tötungen usw.) eingehend geprüft, das ein Heer unter bestimmten Bedingungen im Verlauf der Kämpfe oder nach Beendigung der Schlacht, im Falle des Siegens oder des Unterliegens (von der Behandlung von Gefangenen, über die Verteilung der Beute und bis hin zu den Bedingungen eines guten Friedens) rechtmäßig dem Feind gegenüber an den Tag legen kann.64 Wir treffen im XXXVI. Kapitel somit in der Hauptsache eine stark idealisierte Idee der militärischen Disziplin an, die Althusius offensichtlich von Lipsius und Daneau übernimmt65 und die sich hier an den in Kriegszeiten vorherrschenden Bedürf60

Althusius, Politik (Anm. 5), Kap. XXXVI, § 1, S. 364. Ebd., Kap. XXXVI, § 2, S. 364. 62 Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXVI, §§ 3 – 25, S. 816 – 824. 63 Ebd., Kap. XXXVI, §§ 26 – 69, S. 825 – 837. 64 Ebd. Hier finden wir den größten Teil des im Werk von Althusius vorhandenen Bezugs auf Alberico Gentili, De iure belli libri tres (1598). Siehe jetzt auch die it. Übers. Alberico Gentili, Il diritto di guerra (De iure belli libri III, 1598), hrsg. und eingel. von Diego Quaglioni, Mailand 2008. Althusius bezeichnet Alberico Gentili im Übrigen im XXXVIII. Kapitel („De tyrannide ejusque remediis“) seiner „Politica“, § 77 ff., ausdrücklich als einen seiner größten Gegner in der Staatslehre. Vgl. hierzu Malandrino, Alberico Gentili (Anm. 4), S. 129 – 147, und Angela De Benedictis, „Contrarium ego assero“. Althusius vs. Gentili nella „Politica methodice digesta“, in: Dilcher/Quaglioni (Hrsg.), Die Anfänge des öffentlichen Rechts, 3. (Anm. 58), S. 379 – 397; Strohm, Calvinismus und Recht (Anm. 58), S. 452 – 460; Christoph Strohm, „Silete theologi in munere alieno“. Konfessionelle Aspekte im Werk Alberico Gentilis, in: de Wall (Hrsg.), Reformierte Staatslehre (Anm. 55), S. 195 – 223; und Giovanni Min nucci, „Silete theologi in munere alieno“. Alberico Gentili tra diritto, teologia e religione, Bologna 2016. 65 Vgl. Lipsius, Politicorum (Anm. 11), Buch V, cap. 8 e 13, und hier Anm. 42. Hierzu siehe noch die eingehenden Forschungen von Günter Abel, Stoizismus und frühe Neuzeit. Die Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Feld von Ethik und Politik, Berlin/New York 1978; und Gerhard Oestreich, Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte 61

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nissen orientiert. Die auf diesen Seiten beschriebene Militärdisziplin sieht vor allem vor, dass die Soldaten den Gebrauch der Waffen66 und die verschiedenen Arten militärischer Arbeitsleistungen üben. Notwendigerweise muss erlernt werden, beharrlich zu schuften, zu rennen, Gewichte zu tragen, Sonne, Kälte, Hunger, Durst und Staub zu ertragen; alles Dinge, die den Soldaten abhärten.67 Sie müssen weiterhin in jeder Art von kriegerischer Handlung, die sich, je nach der Kriegsstrategie, die der Präfekt anwenden möchte, als notwendig erweisen kann, zur militärischen Ordnung erzogen werden. Wesentlicher Bestandteil der militärischen Disziplin ist weiterhin eine umsichtige Verteilung verschiedener Belohnungen („honoraria militaria et privilegia“) und Ehren („laudes et encomia militum“) an die Soldaten durch den Präfekten, um diese zu Tugend, Standhaftigkeit und Kühnheit („admonitio ad virtutem, fortitudinem et justam iram“) anzuspornen.68 Ebenso wichtig ist eine weise Ausübung von Zwang („coercitio“) seitens des Präfekten und insbesondere die ausgewogene Verhängung von Militärstrafen, die notwendig sind, um die Sitten der Soldaten zu zügeln und ihnen Selbstbeherrschung, Bescheidenheit und Enthaltsamkeit aufzuerlegen (es folgt eine Aufzählung der zahlreichen Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens, in denen diese Tugenden auszuüben sind, um die Kraft und Ordnung im Heer zu erhalten).69 Dem Präfekten muss es durch einen umsichtigen Gebrauch von „coercitio“ weiterhin gelingen, die Eintracht des Heeres zu sichern. Sie spielt eine entscheidende Rolle und Althusius warnt, „fehlt es unter den Soldaten an Eintracht, dann helfen andere Vorschriften wenig. […] Wie das Sprichwort sagt, durch Eintracht wachsen kleine Dinge, durch Zwietracht zerfallen die größten“.70 Der Befehlshaber hat daher Streitigkeiten im Heer, die mit der Zeit immer gefährlicher werden, unverzüglich zu lösen und zu beseitigen. Hiermit werden zahlreiche Passagen wiederaufgenom-

Aufsätze, Berlin 1969; ders., Strukturprobleme der frühen Neuzeit, Berlin 1980; ders., Antiker Geist und moderner Staat bei Justus Lipsius (1547 – 1616); ders., Der Neustoizismus als politische Bewegung, Göttingen 1989; ders., Neostoicism and the Early Modern State, Cambridge 1982 (Reprint 2008), alle hrsg. von Brigitte Oestreich (und Helmut G. Koenigsberger). Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang der Beitrag von Gerhard Oestreich, Justus Lipsius als Theoretiker des neuzeitlichen Machtstaates, in: Historische Zeitschrift 181 (1956), S. 31 – 78, auch in Oestreich, Geist und Gestalt (vgl. oben), S. 35 – 79. 66 Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXVI, § 5, S. 816 f. 67 Ebd., Kap. XXXVI, § 6, S. 817 f. 68 Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXVI, § 8, S 819. Zur Verteilung der Belohnungen vgl. ebd., §§ 18 – 23, S. 822 ff. 69 Ebd., Kap. XXXVI, § 9, S. 819. Zur Aufzählung der Vorschriften vgl. ebd., §§ 9 – 15, S. 819 ff., und zur Aufzählung der Militärstrafen vgl. §§ 24 – 25, S. 824 f. 70 Ebd., Kap. XXXVI, § 15, S. 821 (meine Übers.).

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men, die im XXXI. Kapitel („de studio concordiae conservandae“), das der Pflicht gewidmet ist, die Eintracht im Staat aufrechtzuerhalten, weiter ausgeführt werden.71

C. Der Krieg gegen den äußeren Feind und der gegen die inneren Feinde Die Antwort auf die Frage, wie sowohl im Heer als auch im Staat die Eintracht aufrechterhalten werden kann, ist im Wesentlichen die Disziplin. Im Übrigen erläutert Althusius zu Beginn seiner Analyse der Durchführung und Leitung des Krieges: „militärische Disziplin besteht in der von Präfekten im Krieg betriebenen strengen Schulung des Soldaten in Kraft und Tapferkeit“.72 Dieselbe Aufgabe hat der Oberste Magistrat gegenüber seiner politischen und religiösen Gemeinschaft zu erfüllen, der er ein frommes und gerechtes Leben zu sichern hat.73 Das gerechte und fromme Leben einer Gemeinschaft ist, wie der Sieg im Krieg, ein kollektives Ergebnis, das nur durch die Anstrengung und Disziplin des Einzelnen erreicht werden kann: manche sind von sich aus tugendhaft und diszipliniert, den anderen muss Tugend und Disziplin gelehrt und auferlegt werden. Ob die Definition von „militärischer Disziplin“ nun der traditionellen Rechtslehre entnommen wird oder der modernen politischen Wissenschaft, so Althusius (der hierzu zahlreiche auctoritates anführt), die Schlussfolgerung ist ein und dieselbe: die militärische Disziplin sichert die Ehre und die Stabilität des Kaiserreichs; jeder (persönliche und noch mehr kollektive) Triumpf leitet sich von ihr ab, denn „die Natur an sich erzeugt wenige starke Männer, aber Anstrengung und gute Bildung lassen viele dazu werden“.74 71 Ebd., Kap. XXXI, S. 640 – 662. Für eingehendere Erwägungen zu diesem zentralen Kapitel der politischen Theorie Althusius siehe Lucia Bianchin, Dove non arriva la legge. Dottrine della censura nella prima età moderna, Bologna 2005, S. 262 – 271; und Anna Maria Lazzarino Del Grosso, Concordia (Harmonia), in: Malandrino/Wyduckel (Hrsg.), Politischrechtliches Lexikon (Anm. 1), S. 157 – 174. 72 Althusius, Politik (Anm. 5), Kap. XXXVI, § 3, S. 364. 73 Vgl. Strohm, Calvinismus und Recht (Anm. 58), S. 25 – 38, 189 – 226 und S. 452 – 460; Maria Antonietta Falchi Pellegrini, Summus Magistratus (monarchicus, polyarchicus), in: Malandrino/Wyduckel (Hrsg.), Politisch-rechtliches Lexikon (Anm. 1), S. 323 – 337; Mario Miegge, Governo e collegialità in Calvino, in: Malandrino/Savarino (Hrsg.), Calvino e il calvinismo politico (Anm. 1), S. 9 – 21. 74 Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXVI, § 3, S. 816: „Disciplina militaris, est severa conformatio militis, ad robur et virtutem, a duce belli instituta. L. 12. officium. de re milit. Deut. c. 23. 9. 14. c. 20. ut Lips. describit et Boter. lib. 9 c. 10. qui hanc vocant praecipuum decus, et stabilimentum Imperii, et vinculum tenacissimum, ex cujus sinu omnes triumphi manarunt. Nam paucos viros fortes natura procreat, bona institutione plures reddit industria. JurisConsultus dicit, eam consistere in danda et observanda ratione vivendi, d. l. 12. de re milit. Alii malunt dicere, consistere hanc in labore, in negotiis, in fortitudine, in periculis, in temperantia, in cupiditatibus, in industria, in agendo, in celeritate, in conficiendo“. Vgl. insbes. hier Lipsius, Politicorum (Anm. 11), Buch 13, Kap. 5.

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Auf dem Nährboden einer juristischen und politischen Lehre, die in den Werken von Lipsius und Obrecht gipfelte (die zu den Quellen gehören, welche auf den betreffenden Seiten am häufigsten zitiert werden), wird die militärische Disziplin auf diese Weise auch in der Lehre Althusius’ zum Modell einer gesellschaftlichen Disziplin, die für die Aufstellung einer Ordnung und deren Erhaltung im Gemeinwesen und im zivilen Leben von ebensolcher Wichtigkeit ist wie im Feldlager und im militärischen Leben. Der Krieg gegen den äußeren Feind und der gegen die inneren Feinde (die Aufständischen und die Aufrührer, aber auch gegen Räuber und Übeltäter, die schlechten Sitten und die Laster der Bürger) folgen ein und derselben Logik: die Macht des Staates stützt sich auf die Tugend der Einzelnen, so dass die Unterstützung der Tugend und sogar deren Auferlegung Teil des grundlegenden öffentlichen Interesses ist. Und dies umso mehr, wenn der Zweck des Staates und der Herrschaft des Obersten Magistraten (die Verwirklichung eines gerechten und frommen Lebens) einer Verpflichtung entspricht, die nicht nur gegenüber den Untertanen eingegangen wurde, sondern auch gegenüber Gott.75 Die Disziplin wird somit zum Schlüssel einer guten Verwaltung nicht nur des Krieges, sondern auch der res publica in ihrer Gesamtheit.76 Dies kann auch ohne Zweifel dem dem Krieg gewidmeten Teil des Werkes von Althusius entnommen werden, in dem das Leitmotiv der unbedingten Nützlichkeit der Disziplin und der militärischen Ordnung in seiner ganzen Tragweite dargelegt wird und wo sich Erwägungen zur militärischen Ordnung häufig mit Erwägungen zur zivilen Ordnung abwechseln. Wie wir bereits erwähnt haben, sind zahlreiche Vorschriften gegen Luxus, auf die mehrfach verwiesen wird und die häufig von strengen Erwägungen Senecas (was eindeutig ein Beweis für den hohen Einfluss des Neostoizismus von Lipsius auf die Lehre Althusius ist) oder von Ermahnungen mittels verschiedener Beispiele aus der Geschichte oder der Bibel begleitet werden, Bestandteil der militärischen Disziplin.77

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Diesbezüglich siehe Corrado Malandrino, Foedus (Confoederatio), in: Malandrino/ Wyduckel (Hrsg.), Politisch-rechtliches Lexikon (Anm. 1), S. 217 – 231; ders., La teologia federale calvinista e il federalismo nel pensiero di Althusius, in: Malandrino/Savarino (Hrsg.), Calvino e il calvinismo politico (Anm. 1), S. 161 – 191; und Mauro Povero, Il pensiero di Bullinger e Calvino sul foedus o testamentum Dei, ibid., S. 65 – 119. 76 Vgl. Cornel Zwierlein, Respublica (Regnum, Politeia), in: Malandrino/Wyduckel (Hrsg.), Politisch-rechtliches Lexikon (Anm. 1), S. 305 – 321; und Heinrich de Wall, Reformierte Staatslehre in der frühen Neuzeit – Einleitende Bemerkungen, in: de Wall (Hrsg.), Reformierte Staatslehre (Anm. 55), S. 9 – 20. 77 Wiederholt wird zum Beispiel der emblematische Vorfall im Leben Hannibals angeführt, der das römische Heer in Cannae zwar „mit Waffen schlug, ja, aber durch Laster“ besiegt wurde und dann „zermürbt durch die Verweichlichung in Kampanien“ der Niederlage entgegenging. Vgl. Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXVI, § 10, S. 819, mit Verweis auf Petrus Gregorius Tholosanus, De Republica, Buch 11, Kap. 9, n. 11, S. 664 – 665. Diese Episode stammt aus Seneca, Epistulae, LI, 5.

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Zwischen den Handlungen des Militärpräfekten und denen des Obersten Magistraten auf ihren jeweiligen Schlachtfeldern, die auf die Aufrechterhaltung der Ordnung, des Friedens und der Eintracht ausgerichtet sind, bestehen (von den Tugenden, die beide nutzbringend einsetzen müssen, hin zu Hilfsmitteln, mit denen sie sich ausstatten, und schließlich sogar bis hin zur Verwendung von Denunzianten und Spionen78) zahlreiche Analogien.

D. Der Bürgerkrieg Die Parallelen zwischen den beiden Wirkungskreisen offenbaren sich schließlich insbesondere in den Überlegungen von Althusius zum Bürgerkrieg, die wir zum Teil im XXXI. Kapitel über die Aufrechterhaltung des Friedens und der öffentlichen Eintracht antreffen und zum Teil im XXXVI. Kapitel über die Durchführung und Leitung des Krieges. Althusius gelangt über zwei, zum Teil unterschiedliche Gedankengänge zu diesem Schluss. Im Kontext des XXXI. Kapitels folgert er dies durch die Analyse von Mitteln gegen einen Aufruhr. Grundthema des gesamten Kapitels ist, dass der Oberste Magistrat, um Frieden und Eintracht aufrecht zu erhalten, mit allen Mitteln versuchen muss, einerseits der Bildung von einander feindlich gesinnten Parteien innerhalb des Staates und andererseits Aufruhr oder Aufständen vorzubeugen und, wenn dies nicht möglich ist, diese zu unterdrücken.79 Der Aufruhr besteht insbesondere aus der Auseinandersetzung mit dem Magistrat, der Feindschaft und in extremen Fällen der Revolte einer gegen ihn vereinten Menschenmenge.80 Diese Form des Dissidententums ist potentiell weitaus gefährlicher und gewaltsamer als die vorhergehende, weil eine sehr viel höhere Anzahl an Andersdenkenden an ihr beteiligt ist und es sich hierbei um echte Rebellen handelt, die sich nicht untereinander hassen, sondern sich alle gegen den Herrscher einig sind. Dies erhöht das Risiko einer bewaffneten Revolution, denn, wie allgemein bekannt ist, feuert die Anwesenheit einer großen Menschmenge die Seelen an und lässt die Herzen eines jeden Untertanen grausam werden, so dass es zu dem kommt, was Althusius mit den Worten Virgils als „ignobile vulgus“81 bezeichnet. Angesichts der größeren Gefahr, die ein Aufruhr für das Gemeinwesen bedeutet, geht die Untersuchung dieses Phänomens und seiner zahlreichen Aspekte besonders in die Tiefe. 78 Vgl. Althusius, Politica (Anm. 5), XXIII, 33, S. 458; XXX, 30 – 31, S. 639 f.; XXXI, 53, S. 655. 79 Hierzu übernimmt Althusius viele Anregungen, Gedanken und Argumente von Lipsius, Politicorum (Anm. 11), Buch VI, das ganz dem Bürgerkrieg gewidmet ist. 80 Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXI, § 11 („Seditio quid“), S. 645: „Seditio est discordia unitae multitudinis in magistratu; vel subditus et violentus motus contra magistratum“. Vgl. Lipsius, Politicorum (Anm. 11), Buch VI, Kap. 4. 81 Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXI, § 11, S. 645. Zum Volksbegriff bei Althusius vgl. Francesco Ingravalle, Populus, in: Malandrino/Wyduckel (Hrsg.), Politisch-rechtliches Lexikon (Anm. 1), S. 293 – 303.

„Bellum iustum“ und „bellum civile“ in der Staatslehre des Johannes Althusius

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Mit einem Verweis auf Bodin und Lipsius erwägt Althusius zwei besondere Mittel gegen einen Aufruhr: das erste besteht in der Schließung eines Paktes oder eines Kompromisses, auch mittels eines Schiedsverfahrens, und das zweite im Beginn eines Bürgerkriegs.82 Bei dem ersten Mittel handelt es sich ohne Zweifel um das bessere, da es die Beseitigung und Beilegung des Aufruhrs gestattet, ohne dass zu den Waffen gegriffen werden muss. Es gibt jedoch Fälle, in denen ein Bürgerkrieg notwendig ist, und zwar dann „wenn der Aufruhr bereits ausgebrochen und stark ist und wenn die Regierung verstoßen wurde“.83 In dem dem „jus in bello“ gewidmeten XXXVI. Kapitel wird am Ende des Teils über die Durchführung und Leitung des Konflikts und der Kämpfe ein ganzer Abschnitt der Führung von Bürgerkriegen gewidmet. Bürgerkriege entstehen – wie Althusius erläutert, indem er eine Passage, die wir bereits in der Aufstellung der gerechten Kriegsgründe im XVI. Kapitel angetroffen haben, eingehender wieder aufnimmt – „durch die Schuld der Herrscher und durch die Schuld der Untertanen: durch die Schuld des Herrschers, wenn er eine Tyrannei über die Untertanen ausübt; durch die Schuld der Untertanen, wenn diese aufrührerisch, eigenwillig und rebellisch sind oder unter ihnen angesiedelten, einander feindlich gesinnten Parteien zulaufen, wie dies im Bürgerkrieg zwischen Pompejus und Cäsar der Fall war“.84 Bürgerkriege sind im Übrigen das schlimmste Übel. Wie Althusius kommentiert, „nichts ist trauriger oder unheilvoller als der Bürgerkrieg, den man mit jedem Recht als ,Meer der Katastrophen‘ bezeichnen kann“. Er hetzt unbarmherzig Väter gegen Söhne auf, führt zu den gräulichsten Ungerechtigkeiten, leert ganze Städte durch Mord und Flucht und zerstreut die Güter der armen Bürger. Er stellt den Umsturz jeglicher Ordnung dar, denn alle haben vor Augen, dass „es in einem Bürgerkrieg keine Disziplin und keinen Gehorsam gibt und den Soldaten mehr erlaubt ist, als ihren Anführern“. Auch der Sieg ist „bitter und erbärmlich“.85 82 Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXI, § 71, S. 659, mit Verweis auf Bodin, De republica, Buch IV, Kap. 7. 83 Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXI, § 72, S. 659 f., mit Verweis auf Lipsius, Politicorum, Buch VI, Kap. 4. 84 Althusius, Politik (Anm. 5), Kap. XXXVI, § 45, S. 366. Siehe hierzu auch den vollständigen Text in Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXVI, § 45 („Bella civilia ex culpa principis, vel subditorum orta, quomodo gerenda“), S. 819 f.: „Bella civilia oriuntur ex culpa principis vel subditorum. Vide Lips. lib. 6. c. 1. 2. et seqq. politic. Ex culpa principis nimirum, qui tirannidem in subditos exercet, de qua tyrannide infra c. 38. Ex culpa subditorum, qui sunt seditiosi, contumaces et rebelles, Geil. lib. 2. de pac. public. cap. 17. Exemplum hujus vide 2. Reg. c. 20. et Judic. c. 20. Vel qui inter se factiones alunt, uti bellum civile fuit inter Pompeium et Caesarem. Exempla plura recenset Elias Reusn. stratag. lib. 1. c. 12. c. 13. et c. 14. Sed bella haec civilia non crudeliter, sed inter mox reconciliandos cives sunt gerenda: nec in victos veluti in hostes extraneos est saeviendum, 2. Sam. c. 2. 22. et 26. 2. Chron. c. 28. 10. 2. Sam. c. 3. 8. et multa ad tempus toleranda, vel dissimulanda, d. 2. Sam. cap. 3. 8. 13. 20. Et pax, fedus, vel reconciliatio facile admittenda, d. cap. 3. et c. 5. 2. Sam. Judic. c. 20. Et amnestia sancienda et !lmgsijaj_a, ne bellum recrudescat, 2. Sam. c. 3“. 85 Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXI, § 73, S. 660.

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Der Bürgerkrieg zeichnet sich mithin durch Eigenarten aus, denen gemäß er anders zu führen gilt als Kriege gegen äußere Feinde. Zunächst einmal ist es gut, dass der Herrscher nicht persönlich daran teilnimmt, sondern seinen Generälen jede notwendige Hilfe zukommen lässt.86 Außerdem hat er viel Milde und Geduld aufzubringen, zu versuchen, all diejenigen Verschwörer, die nicht auf der Rebellion beharren, für sich zu gewinnen,87 ihnen immer die Möglichkeit der Reue zu geben,88 immer bereit zu sein, mit den Untertanen einen Pakt zu schließen und sich verpflichten, diesen einzuhalten, auch wenn ihm das schwerfallen sollte.89 Zusammen mit Bodin und Lipsius belegen eine Reihe von Bibelstellen im Diskurs von Althusius, dass Bürgerkriege „nicht mit Grausamkeit geführt werden dürfen, sondern um die Bürger schnell wieder zu versöhnen. Außerdem darf man gegen die Besiegten nicht wie gegen ausländische Feinde grausam vorgehen. Für einen gewissen Zeitraum sollten viele Dinge toleriert oder über sie hinweg gesehen werden, der Frieden, das Einvernehmen und die Versöhnung mit Leichtigkeit angenommen, die Amnestie und die Vergebung gutgeheißen werden, um einen Neuausbruch des Krieges zu verhindern“.90 Die Entscheidung Althusius’, in diese Überlegungen auch das Problem des Bürgerkrieges einfließen zu lassen, scheint mir mithin ein ureigener, sehr interessanter Aspekt der Kriegstheorie Althusius’ im weiten Panorama der Kriegsliteratur zu sein, die in Europa zwischen dem Ende des sechzehnten und der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts entstanden ist.

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Ebd., Kap. XXXI, § 74, S. 660. Ebd. 88 Ebd., Kap. XXXI, § 72, S. 559. 89 Ebd., Kap. XXXVI, § 62, S. 861. 90 Althusius, Politik (Anm. 5), Kap. XXXVI, § 45, S. 366; vgl. den vollständigen Text in Althusius, Politica (Anm. 5), Kap. XXXVI, § 45, S. 819 f. 87

Krieg und Protestantismus. Protestantische Beiträge zum Völkerrecht Von Michael Becker, Stuttgart „Les Réformateurs étoient trop occupez de Controverses Théologiques, pour penser sérieusement à une Science comme celle dont il s’agit; quand même ils auroient eu d’ailleurs moins du levain de l’École, qu’ils n’en conservent, et les talens ou les connoissances nécessaires pour une telle entreprise.“1

Diese Einschätzung des Beitrags protestantischer Theologie zur Genese und Ausdifferenzierung des frühmodernen Kriegsrechts stammt von dem Rechtsprofessor Jean Barbeyrac (1674 – 1744). Seiner 1724 publizierten französischen Übersetzung von Hugo Grotius’ epochalem Werk „De iure belli ac pacis libri tres“ (1625) stellte er eine umfangreiche Geschichte der bisherigen Auseinandersetzung mit völkerrechtlichen Fragen voran:2 Aufgrund vorrangiger theologischer Streitigkeiten hätten evangelische Theologen gar nicht die Gelegenheit gehabt, systematische Gedanken zum Kriegsrecht zu entwickeln, obwohl es ihnen weder an Eignung noch der nötigen Kenntnis gefehlt habe. Die protestantische Theologie spielte somit nach Barbeyrac keine nachhaltige Rolle bei der Formierung des Kriegsrechts. Stattdessen wird der niederländische Jurist Hugo Grotius (1583 – 1645) als eigentlicher Gründervater des modernen Völkerrechts vorgestellt. Mit dieser Sichtweise steht Barbeyec keineswegs alleine, sondern folgt vielmehr der Lesart protestantischer Juristen der Frühaufklärung, die in Grotius einen Avantgardisten sahen, der nach seinem Bruch mit der scholastischen Tradition das Naturund Völkerrecht auf ein solides Fundament gesetzt habe.3 Dieser geradezu Verklä1 Jean Barbeyrac, Le droit de la guerre et de la paix; par Hugues Grotius. Nouvelle traduction, Bd. 1, Amsterdam 1729, iij. 2 Zu Jean Barbeyrac vgl. Jon Peider Arquint, Art. „Barbeyrac, Jean de (1674 – 1744)“, in: Stolleis, Michael (Hrsg.), Juristen. Ein biographisches Lexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 2001, S. 62; Philippe Meylan, Jean Barbeyrac (1674 – 1744) et les débuts de l’enseignement du droit dans l’ancienne académie de Lausanne. Contribution à l’histoire du droit naturel, Lausanne 1937; Sieglinde C. Othmer, Berlin und die Verbreitung des Naturrechts in Europa. Kultur- und sozialgeschichtliche Studien zu Jean Barbeyracs Pufendorf-Übersetzungen und eine Analyse seiner Leserschaft. Mit einem Vorwort von Gerhard Oestreich (VHKB 30), Berlin 1970. 3 Zu nennen sind an dieser Stelle v. a. Samuel von Pufendorf (1632 – 1694) und Christian Thomasius (1655 – 1728). Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600 – 1800, München 1988, 195 f. 282 – 284; Merio Scattola, Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des „ius na-

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rung des Niederländers ist es zuzuschreiben, dass die Würdigung der grotianischen Natur- und Völkerrechtslehre zulasten nicht nur vorangehender protestantischer Autoren, sondern auch römisch-katholischer Gelehrten noch im 19. Jahrhundert Gemeingut der protestantisch dominierten Rechtsgeschichte war.4 Obwohl sich nach wie vor gute Gründe anführen lassen, dem niederländischen Juristen einen Ehrenplatz, vielleicht gar eine Gründerrolle in der Völkerrechtsgeschichte zuzuweisen, so ist es wenig erstaunlich, dass die auf Grotius verengte Historiographie schon im 19. Jahrhundert erste Kritiker auf den Plan rief. Carl von Kaltenborn lenkte 1848 den Fokus nicht nur auf die spanische Theologie des 16. Jahrhunderts, sondern stieß zudem einen Paradigmenwechsel in der Völkerrechtsgeschichte an, der im 20. Jahrhundert seine volle Wirkung entfaltete. In den Mittelpunkt des Interesses gelangten nun die Arbeiten römisch-katholischer Theologen und Juristen, deren Anfänge ins frühe 16. Jahrhundert und mitten in die Kontroverse um die Rechtmäßigkeit der spanischen Eroberungen in der Neuen Welt zurückreichen.5 Die sog. ,Schule von Salamanca‘ bzw. ,spanische Spätscholastik‘6 mit ihren turae“ im 16. Jahrhundert (Frühe Neuzeit, 52), Tübingen 1999, S. 1 f.; Eckart Klein, Samuel Pufendorf und die Anfänge der Naturrechtslehre, in: Doerr, Wilhelm (Hrsg.), Semper apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386 – 1986. Festschrift in sechs Bänden, Bd. 1: Mittelalter und frühe Neuzeit 1386 – 1803, Berlin 1985, S. 414 – 439. Der nur eine Dekade nach Grotius’ Tod geborene Staatsrechtler Thomasius rühmt in seinem Werk Fundamenta juris naturae et gentium (1705) den naturrechtlichen Zugang zur Völkerrechtslehre, die Grotius von der „disciplina pulvere scholastico commaculata et corrupta“, also von dem Ballast der scholastischen Tradition des Naturrechts, gereinigt habe: „Uti enim Grotius hanc utilissimam disciplinam pulvere scholastico commaculatam et corruptam, ac tantum non exanimatam primus iterum suscitavit ac purgare incepit; ita res ipsa loquitur, quod Pufendorffius eam egregie et decore ornaverit, et contra adversarios varios mascule defenderit.“ Vgl. Scattola, Naturrecht (wie Anm. 3), S. 2; Christian Thomasius, Fundamenta juris naturae et gentium ex sensu communi deducta, in quibus ubique secernuntur principia honesti, justi ac decori, cum adjuncta emendatione ad ista fundamenta institutionum jurisprudentiae divinae, Halle/Leipzig 1718, S. 4. 4 Karl-Heinz Ziegler, Die Bedeutung von Hugo Grotius für das Völkerrecht – Versuch einer Bilanz am Ende des 20. Jahrhunderts, in: ders., Fata iuris gentium. Kleine Schriften zur Geschichte des europäischen Völkerrechts (Studien zur Geschichte des Völkerrechts, 15), BadenBaden 2008, S. 287 – 302 (= ZHF 23 [1996], S. 129 – 151); ders., Völkerrechtliche Aspekte der Eroberung Lateinamerikas, in: ders., Fata iuris gentium. Kleine Schriften zur Geschichte des europäischen Völkerrechts (Studien zur Geschichte des Völkerrechts, 15), Baden-Baden 2008, S. 253 – 285 (= Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 23 [2001], S. 1 – 29). 5 Die Entdeckung des amerikanischen Kontinents durch Christopher Columbus im Jahre 1492 stellte das Abendland und Spanien im Besonderen vor immense politische, rechtliche und ethische Herausforderungen, die im Laufe des 16. Jahrhunderts rege diskutiert wurden. Theologen wie Silvester Mazzolini Prierias (1456 – 1523/1527) und Thomas Cajetan (1469 – 1534) äußerten sich in ihren Summa-Kommentaren ebenso zur Problematik wie der Franziskaner Alfonso de Castro (1495 – 1559) in seiner Schrift Adversus omnes haereses (1534) und erörterten das Problem eines religiös motivierten Kriegs gegen die nicht-christliche indigene Bevölkerung Amerikas, die Jurisdiktionsgewalt des Papsts und des Kaisers in der Neuen Welt sowie allgemein die Eigentumsrechte der amerikanischen Ureinwohner. Thomas Cajetan, Secunda secundae partis summae totius theologiae d. Thomae Aquinatis doctoris angelici cum commentarijs, Venedig 1594, ad STh II–II q. 40 a. 1, f. 101r–102r; Alfonso de Castro, Ad-

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Protagonisten Francisco de Vitoria (1483/93 – 1546), Domingo de Soto (1494/1495 – 1560), Domingo Bañez (1528 – 1604) und Diego de Covarruvias y Leyva (1512 – 1577) wies mit ihrer naturrechtlichen Grundlegung des Kriegs- und Völkerrechts, ihrer Ablehnung des Religionskriegs und der Jurisdiktionsgewalt des Papsts und Kaisers in der Neuen Welt sowie mit der grundsätzlichen völkerrechtlichen Anerkennung der indigenen Völker Amerikas dem frühneuzeitlichen Kriegs- und Völkerrecht neue, zukunftsweisende Wege.7 In ihre Fußstapfen trat ab der zweiten Hälfte uersus omnes haereses libri XIIII. in quibus recensentur et reuincuntur omnes haereses, quarum memoria extat, quae ab apostolorum tempore ad hoc vsq[ue] seculum in ecclesia ortae sunt, Köln 1543, f. 59r–60r; Silvester Mazzolini Prierias, Summae Sylvestrinae, quae summa summarum, merito nuncupatur, pars prima, Venedig 1581, bellum 1, f. 65r–69v. Die Betonung der Bedeutsamkeit von Autoren wie Silvester Mazzolini Prierias, Thomas Cajetan oder Alfonso de Castro begegnet insbesondere bei Heinz-Gerhard Justenhoven/ Joachim Stüben (Hrsg.), Kann Krieg erlaubt sein? Eine Quellensammlung zur politischen Ethik der Spanischen Spätscholastik (ThFr 27), Stuttgart 2006, S. 344 – 441. 6 Beide Termini sind in der Forschung präsent, aber dennoch problematisch. So suggerieren sie ein weitgehend monolithisches Gebilde, das den historischen Umständen keineswegs gerecht wird. Harald Maihold kritisiert an dem Begriff „Schule“ die Prämisse, dass hierdurch eine einheitliche Lehre vorausgesetzt werde. Dem widersprächen jedoch erhebliche Differenzen zwischen einzelnen Vertretern der spanischen Theologie, die nicht nur unterschiedlichen theologischen Traditionen wie dem Dominkaner- und Jesuitenorden angehörten, sondern auch in gewichtigen theologischen Fragen von einander abwichen (Harald Maihold, Strafe für fremde Schuld? Die Systematisierung des Strafbegriffs in der Spanischen Spätscholastik und Naturrechtslehre [Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas, 9], Köln/ Weimar/Wien 2005, S. 47 f.). Insbesondere in der grundlegenden theologischen Frage der Gnade konnte zwischen Jesuiten und Dominikanern in Spanien kein endgültiger Konsens erzielt werden (ebd., S. 47). Aber auch der Begriff der „spanischen Spätscholastik“ weist einige Probleme auf. Zwar schwingt in dem Begriff zu Recht eine gewisse Kontinuität zur mittelalterlichen Scholastik mit, deren Methode die Vertreter der spanischen Theologie verpflichtet seien und die ihr eine Vermittlerrolle zwischen mittelalterlicher Tradition und Früher Neuzeit zuweise (ebd., S. 41 – 47). Dennoch sei der Terminus zugleich durch die Charakterisierung als „spät“ negativ konnotiert, werde doch mit den späten Vertretern einer Geistesströmung nicht selten Verfall und starres Epigonentum assoziiert. Dass diese Konnotationen irreführend seien und der Modernität und den Leistungen der spanischen Theologie nicht gerecht würden, habe die jüngere Rechtsgeschichte in zahlreichen Einzelstudien nachweisen können (ebd., S. 41 f.). 7 Grundlegend für die Erforschung des römisch-katholischen Kriegsrechts ist die Arbeit „Francisco de Vitoria and his law of nations“ des Völkerrechtlers James Brown Scott, die als erster Band der Reihe mit dem bezeichnenden Titel „The Spanish origin of International law“ erschien und statt Grotius nun Vitoria den Ehrentitel des „founder of the modern law of nations“ verlieh (James B. Scott, Francisco de Vitoria and his law of nations [The Spanish origin of international law, 1], Oxford 1934, S. 163). In der Folge entstand eine mittlerweile unüberschaubare Fülle von Literatur zum Natur- und Völkerrechtsgedanken der spanischen Spätscholastik, deren Umfang gerade in den letzten Dekaden spürbar zugenommen hat. Für einen Forschungsüberblick vgl. Scattola, Naturrecht (Anm. 3), S. 4 Anm. 11. Hinzuweisen ist ferner auf neuere Monographien und Sammelwerke zur spanischen Spätscholastik: Annabel S. Brett, Liberty, Right and Nature. Individual Rights in Later Scolastic Thought (Ideas in Context, 44), Cambridge 1997; Norbert Brieskorn (Hrsg.), Francisco de Vitorias „De Indis“ in interdisziplinärer Persepktive. Interdisciplinary views on Francisco de Vitoria’s „De Indis“ (PPR 2, 3), Stuttgart/Bad Cannstatt 2011; Kirstin Bunge/Anselm Spindler/Andreas Wagner

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des 16. Jahrhunderts die jesuitische Auseinandersetzung mit dem Kriegsrecht um Francisco de Suárez (1548 – 1617), Luis de Molina (1535 – 1600), Pierre Grégoire (1540 – 1597) und Adam Contzen (1571 – 1635), die sich in zunehmendem Maße den politischen Herausforderungen des konfessionellen Antagonismus in Europa zuwandte.8 In eine ähnliche Richtung wiesen juristische Praktiker wie Pierino Belli (1502 – 1575) und Baltazar de Ayala (1548 – 1584).9 (Hrsg.), Die Normativität des Rechts bei Francisco de Vitoria. The normativity of law according to Francisco de Vitoria (PPR 2, 2), Stuttgart/Bad Cannstatt 2011; Daniel Deckers, Gerechtigkeit und Recht. Eine historisch-kritische Untersuchung der Gerechtigkeitslehre des Francisco de Vitoria (1483 – 1546) (SThE 35), Freiburg i.Br. 1991; Frank Grunert (Hrsg.), Die Ordnung der Praxis. Neue Studien zur spanischen Spätscholastik (Frühe Neuzeit, 68), Tübingen 2001; Berenice Hamilton, Political thought in sixteenth-centruy Spain. A study of the political ideas of Vitoria, De Soto, Suárez, and Molina, Oxford 1963; Nils Jansen, Theologie, Philosophie und Jurisprudenz in der spätscholastischen Lehre von der Restitution. Außervertragliche Ausgleichsansprüche im frühneuzeitlichen Naturrechtsdiskurs (GRW 19), Tübingen 2013; Heinz-Gerhard Justenhoven, Francisco de Vitoria zu Krieg und Frieden (ThFr 5), Köln 1991; Maihold, Strafe (Anm. 6); Kurt Seelmann, Theologie und Jurisprudenz an der Schwelle zur Moderne. Die Geburt des neuzeitlichen Naturrechts in der iberischen Spätscholastik (Würzburger Vorträge zur Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie, 20), Baden-Baden 1997; Anselm Spindler, Die Theorie des natürlichen Gesetzes bei Francisco de Vitoria. Warum Autonomie der einzig mögliche Grund einer universellen Moral ist (PPR 2, 6), Stuttgart 2015; Johannes Thumfart, Die Begründung der globalpolitischen Philosophie. Francisco de Vitorias Vorlesung über die Entdeckung Amerikas im ideengeschichtlichen Kontext (Kaleidogramme, 44), Berlin 2012. 8 Allgemein zu politischen Vorstellungen im Bereich der Societas Jesu vgl. Harro Höpfl, Jesuit Political Thought. The Society of Jesus and the State, c. 1540 – 1630 (Ideas in Context, 70), Cambridge 2004, passim. Francisco de Suárez’ Vorstellung des Kriegs- und Naturrechts wendet sich eine Vielzahl neuerer Arbeiten zu: Oliver Bach/Norbert Brieskorn (Hrsg.), „Auctoritas omnium legum“. Francisco Suárez’ „De legibus“ zwischen Theologie, Philosophie und Jurisprudenz. Francisco Suárez’ „De legibus“ between Theology, Philosophy and Jurisprudence (PPR 2, 5), Stuttgart/Bad Cannstatt 2013; Kristin Bunge (Hrsg.), Kontroversen um das Recht. Beiträge zur Rechtsbegründung von Vitoria bis Suárez. Contending for law (PPR 2, 4), Stuttgart/Bad Cannstatt 2013; Markus Kremer, Den Frieden verantworten. Politische Ethik bei Francisco Suárez (1548 – 1617) (ThFr 35), Stuttgart 2008 (mit Forschungsbericht); Victor M. Salas (Hrsg.), A companion to Francisco Suárez (Brill’s companions to the Christian tradtition, 53), Leiden u. a. 2015 (Berücksichtigung der gesamten Bandbreite von Suárez’ Werk, nicht nur der naturrechtlichen Aspekte); Daniel Schwartz (Hrsg.), Interpreting Suárez, Cambridge 2012; Pauline C. Westerman, The Disintegration of Natural Law Theory. Aquinas to Finnis (Brill’s Studies in Intellectual History, 84), Leiden/New York/Köln 1998. Grundlegend zu Adam Contzen ist noch immer Ernst-Albert Seils, Die Staatslehre des Jesuiten Adam Contzen, Beichtvater Kurfürst Maximilian I. von Bayern (Historische Studien, 405), Lübeck 1968 (dort auch ausführlich zum Kriegsrecht S. 92 – 100, 156 – 168) und Robert Bireley, Maximilian von Bayern, Adam Contzen S. J. und die Gegenreformation in Deutschland 1624 – 1635 (Schriften der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 13), Göttingen 1975, S. 25 – 42. 9 Neben einigen neueren Beiträgen (Rinaldo Comba/Gian Savino Pene-Vidari [Hrsg.], Un giurista tra principi e sovrani. Pietrino Belli a 500 anni dalla nascita. Atti del convegno di studi, Alba, 30 novembre 2002, Alba 2004; Cosimo Cascione, Diritto romano e diritto internazionale. Qualche osservazione sul Tractatus di Pietrino Belli, in: Studi in onore di Remo Martini, Bd. 1 (Collana di studi Pietro Rossi. Nuova Serie, 30), Mailand 2008, S. 469 – 478

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Durch eine Vielzahl moderner Texteditionen und eine kaum zu überblickende Phalanx von Forschungsarbeiten wird der römisch-katholische Beitrag zum frühneuzeitlichen Völkerrecht immer feingliedriger erschlossen.10 Demgegenüber steht das [dort auch weitere Literatur zu Belli]), ist grundlegend für Pierino Belli noch immer die Studie Efisio Mulas, Pierino Belli da Alba, precursore di Grozio, Turin 1878. Zu Baltazar Ayala vgl. Jaime Peralta, Baltasar de Ayala y el derecho de la guerra, Madrid 1964; Diego Quaglioni, From rebellion to military law. Balthazar Ayala’s De iure et officiis bellicis ac disciplina militari (1582), in: De Benedictis, Angela/Härter, Karl (Hrsg.), Revolten und politische Verbrechen zwischen dem 12. und 19. Jahrhundert. Rechtliche Reaktionen und juristisch-politische Diskurse (StEG 285), Frankfurt/M. 2013, S. 135 – 146. 10 Die Hauptschriften Vitorias, Ayalas, Bellis, Suárez’ und weiterer Theologen wurden als Faksimile-Ausgaben in der Reihe „Classics of international law“ oder in kritischen Editionen im „Corpus Hispanorum de pace“ zugänglich gemacht. Parallel hierzu wurden die wichtigsten Manuskripte wie Vitorias Vorlesungen zur Summa theologiae in kritischen Ausgaben ediert (Francisco de Vitoria, Comentarios a la Secunda secundae de santo Tomás, hrsg. von Vicente Beltran de Heredía, 6 Bde. [BTE 2 – 6, 17], Salamanca 1932 – 1952). Von nicht geringerer Bedeutung, insbesondere für die Perzeption der spanischen Spätscholastik in wissenschaftlichen Disziplinen außerhalb der Rechtsgeschichte, sind die in den letzten Dekaden erschienenen Auswahleditionen und Übersetzungen in verschiedene Sprachen. So liegen mittlerweile nicht mehr nur die Hauptschriften der spanischen Autoren in Übersetzung vor, sondern auch Quellensammlungen zu Vitoria, Suárez und weiteren Theologen. Etliche Werke wurden bereits im Rahmen der „Classics of international law“ ins Englische übersetzt (Francisco de Vitoria, Baltazar de Ayala, Pierino Belli). Daneben finden sich Übersetzungen ins Spanische (Francisco de Vitoria, De actibus humanis. Sobre los actos humanos, hrsg. und übers. von Augusto Sarmiento [PPR 1, 8], Stuttgart/Bad Cannstatt 2015; ders., Relectio de Indis o Liberdad de los Indios. Edicion critica, hrsg. von Luciano Pereña und José Manuel Perez Prendes, eingel. von Vincente Beltrán de Heredía, Reginaldo Agostino Iannarone, Teofilo Urdanoz, Antonio Truyol und Luciano Pereña [CHP 5], Madrid 1967), ins Französische (ders., Leçons sur les Indiens et sur le droit de guerre, hrsg. und übers. von Maurice Barbier [ClPP 3], Genf 1966), ins Deutsche (ders., De iustitia. Über die Gerechtigkeit. Teil 1, hrsg. und übers. von Joachim Stüben, mit einer Einl. von Thomas Duve [PPR 1, 3], Stuttgart/Bad Cannstatt 2013; ders., Über die staatliche Gewalt. De potestate civili, hrsg. und übers. von Robert Schnepf [Collegia. Philosophische Texte], Berlin 1992; ders, De Indis recenter inventis et de jure belli Hispanorum in barbaros. Vorlesungen über die kürzlich entdeckten Inder und das Recht der Spanier zum Kriege gegen die Barbaren 1539, hrsg. von übers. von Walter Schätzel [Die Klassiker des Völkerrechts, 2], Tübingen 1952; Francisco Suárez, De legibus ac deo legislatore, hrsg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn und Gideon Stiening, 2 Bde. [PPR 1, 6 – 7], Stuttgart/Bad Cannstatt 2014; ders., De pace – De bello. Über den Frieden – Über den Krieg, hrsg. und eingel. von Markus Kremer [PPR 1, 2], Stuttgart/Bad Cannstatt 2013; ders., Abhandlung über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber, hrsg. und übers. von Norbert Brieskorn [Haufe-Schriftenreihe zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, 15], Freiburg/Berlin/München u. a. 2002; Juan Ginés de Sepúlveda/Bartolomé de las Casas, Apologia, eingel. und übers. von Angel Losada, Madrid 1975; Bartolomé de las Casas, Tratados, mit einem Vorwort von Lewis Hanke und Manuel Giménez Fernández, hrsg. von Juan Pérez de Tudela Bueso, übers. von Agustín Millares Carlo und Rafael Moreno, 2 Bde. [Biblioteca Americana. Cronistas de Indias, 42], Mexiko-Stadt 1965). Andere Schriften wurden im Zuge von Auswahleditionen übersetzt. Verschiedene Abschnitte der Summa-Vorlesungen liegen mittlerweile in Auszügen in englischer (Francisco de Vitoria, Political Writings, hrsg. von Anthony Pagden und Jeremy Lawrence, Cambridge 92007) und deutscher Übersetzung vor (ders., De lege. Über das Gesetz, hrsg., eingel. und ins Deutsche übers. von Joachim Stüben, mit einer Einleitung von Norbert Brieskorn [PPR 1, 1], Stuttgart/Bad Cannstatt 2010;

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vorgrotianische Kriegs- und Völkerrecht im Protestantismus noch weitgehend im Schatten des niederländischen Gelehrten und der spanischen Theologen. Lediglich Michael Stolleis und Axel Gotthard gewähren einen schematischen Einblick in die Vielfalt der Kriegsrechtsliteratur im Bereich des Protestantismus.11 Dessen Anfänge reichen zurück in das Jahr 1585, als mit den „De legationibus libri tres“, einem Werk zum Gesandtenrecht, die erste völkerrechtliche Monographie aus der Feder eines protestantischen Juristen, Alberico Gentili (1552 – 1608), entstand. Nur wenige Jahre später begann er mit der Abfassung der wirkmächtigen „De iure belli libri tres“ (1598). In dieselbe Zeit reichen auch erste Arbeiten zum Kriegs- und Völkerrecht zurück, die im Gebiet des Heiligen Römischen Reichs entstanden: Zu den wichtigeren zählen die Tübinger Rechtsprofessoren Heinrich Bocer (1561 – 1630) und Christoph Besold (1577 – 1638), die Monographien und eine Vielzahl an Dissertationen zu völkerrechtlichen Fragen herausbrachten. Einige Wirkung entfaltete auch der ehemalige Wittenberger Juraprofessor und spätere fürstliche Rat Eberhard von Weyhe (1553–ca. 1630) mit seinen heute relativ unbekannten, aber in der zeitgenössischen Literatur überaus präsenten „Meditamenta pro foederibus“. Aus der Perspektive des Historikers widmete sich der Jenaer Geschichtsprofessor Elias Reusner (1555 – 1612) in seinem „Thesaurus bellicus“ (1609) dem Kriegsrecht, bevor der Straßburger Gelehrte Matthias Bernegger (1582 – 1640) mit irenischer Gesinnung in seiner „Tuba pacis“ gegen konfessionelle Polemik und die Vorstellung des heiligen Kriegs anschrieb. Neben den Monographien wurde das Kriegs- und Völkerrecht zunehmend auch in juristischen, politischen und theologischen Dissertationen behandelt und in Schriften zur Politiklehre und Policeywissenschaft erörtert.

ders., Vorlesungen. Völkerrecht, Politik, Kirche, hrsg. von Ulrich Horst, Heinz-Gerhard Justenhoven und Joachim Stüben, 2 Bde. [ThFr 7 – 8], Stuttgart/Berlin/Köln 1995 – 1997). Ferner liegen Textsammlungen zu unterschiedlichen Themengebieten und Autoren vor: zu Vitorias völkerrechtlichen Überlegungen (Francisco de Vitoria, Die Grundsätze des Staats- und Völkerrechts bei Francisco de Vitoria, ausgewählt, eingel. und kommentiert von Antonio Truyol Serra, Zürich 21957; Francisco Suárez, Ausgewählte Texte zum Völkerrecht, hrsg. von Josef de Vries [Die Klassiker des Völkerrechts, 4], Tübingen 1965; Bartolomé de las Casas, Werkauswahl. Deutsche Werkauswahl in vier Bänden, hrsg. von Mariano Delgado, 4 Bde., Paderborn/München/Wien u. a. 1994 – 1997). 11 Stolleis, Geschichte I (Anm. 3), S. 186 – 197. Axel Gotthard befasst sich in seiner voluminösen Studie „Der liebe vnd werthe Fried“ mit Grundfragen der Friedens- und Kriegskonzepte der Frühen Neuzeit, wobei der Schwerpunkt seiner Darstellung auf der Genese von Neutralitätsvorstellungen liegt. Mit Blick auf die im vorliegenden Beitrag untersuchte Frage des Anteils protestantischer Gelehrsamkeit bei der Ausdifferenzierung des frühmodernen Völkerrechts zeigt Gotthard, dass nicht nur die Neutralitätsfrage, sondern auch das Verständnis des Kriegs auf das spannungsvolle Nebeneinander säkularisierender bzw. rationalisierender Tendenzen und Resakralisierungsbestrebungen zurückgeführt werden kann. Axel Gotthard, Der liebe vnd werthe Fried. Kriegskonzepte und Neutralitätsvorstellungen in der Frühen Neuzeit (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht, Bd. 32), Köln/ Weimar/Wien 2014, S. 126 – 135, 185 – 197.

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Trotz dieser stattlichen Anzahl von Arbeiten ist das Kriegsrecht im Bereich des Protestantismus von wenigen Ausnahmen abgesehen kaum erforscht.12 Im Gegensatz zu den Hauptwerken Grotius’ und Gentilis existieren meist keine modernen Übersetzungen ihrer Werke und nicht einmal moderne Nachdrucke, geschweige denn wissenschaftliche Editionen.13 Und selbst bei Grotius oder Gentili, denen in der rechtshistorischen Forschung ausführliche Studien gewidmet wurden, werden konfessionelle Aspekte und Prägungen selten in Betracht gezogen. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall, wenn namhafte Gentili und Grotius-Interpreten in deren Werk vornehmlich frühe Beispiele eines scheinbar säkularisierten Kriegsrechts wahrnehmen, das in Opposition zum theologischen Kriegsrechtsdiskurs getreten sei.14 Diesem Befund stelle ich die These entgegen, dass protestantische Theologen und Gelehrte die Genese des Völkerrechts gerade in religiös und konfessionell konnotierten Fragen in spezifischer Weise mitgeprägt haben. Im Folgenden wird dies am Beispiel der Darstellung des Bündnisrechts in theologischen, juristischen und geschichtswissenschaftlichen Werken gezeigt. Die politischen und religiösen Konflikte im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts stellten alle Parteien vor die Herausforde12

Lediglich für Matthias Bernegger liegt neben einer ausführlichen Biographie (Karl Bünger, Matthias Bernegger. Ein Bild aus dem geistigen Leben Strassburgs zur Zeit des Dreissigjährigen Kriegs, Straßburg 1893) eine Dissertationsschrift zur Tuba pacis vor, die wesentliche Fragen thematisiert (Waltraut Foitzik, Tuba pacis. Matthias Bernegger und der Friedensgedanke des 17. Jahrhunderts, Diss. Universität Münster 1955). Zum Kriegsrecht bei Heinrich Bocer, Christoph Besold, Elias Reusner oder Eberhard von Weyhe liegen mit Ausnahme kursorischer Erwähnungen keine Beiträge vor. 13 Eine Ausnahme ist die von Cajetan Cosmann besorgte deutsche Übersetzung der „Synopsis politicae doctrinae“ von Christoph Besold, die im Jahr 2000 in der „Bibliothek des deutschen Staatsdenkens“ erschien (Christoph Besold, Synopse der Politik, übers. von Cajetan Cosman, hrsg. von Laetitia Boehm [Bibliothek des deutschen Staatsdenkens, 9], Baden-Baden 2000). 14 Carl Schmitt nimmt in Gentilis Werk einen markanten Gegensatz zum theologischen Kriegsrecht, insbesondere bei Vitoria, wahr, der sich nicht nur in der strikten Ablehnung von Religionskriegen und dem Eintreten für Toleranz nach dem Vorbild Jean Bodins (1529/30 – 1596) manifestiere, sondern auch in dem viel zitierten Ausruf „Silete theologi in munere alieno!“, der auf die Emanzipation der Jurisprudenz von der Theologie ziele, deutlich werde. Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Berlin 5 2011, S. 129 – 131. In dieselbe Richtung weist auch Richard Tuck, The Rights of War and Peace. Political Thought and the International Order From Grotius to Kant, Oxford 1999, S. 16 – 50. In noch deutlicherer Form zeigt sich diese Problematik in der Grotius-Forschung. Denn anders als bei Gentili, der sich zwar auch zu konfessionellen Themen äußerte und theologische Schriften hinterließ, ist die theologische Prägung des Niederländers kaum von der Hand zu weisen. Dennoch spielen theologische und konfessionelle Aspekte in der rechtshistorischen Diskussion kaum eine Rolle. Symptomatisch ist die Einschätzung Peter Haggenmachers, des Verfassers von „Grotius et la doctrine de la guerre juste“, der etwa den Bibelstellenverweise außer der Affirmation der aus der ratio naturalis abgeleiteten Rechtsnormen keine größere Bedeutung beimisst (Peter Haggenmacher, Grotius et la doctrine de la guerre juste [Publications de l’Institut Universitaire de Hautes Études Internationales Genève], Paris 1983, S. 58).

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rung, die eigenen politischen und konfessionellen Interessen gegebenenfalls auch mit militärischen Zusammenschlüssen und formellen Bündnissen durchzusetzen und das Erreichte abzusichern. Als unproblematisch galten Bündnisse mit Staaten und Herrschern, die der eigenen Konfession angehörten. Erst als sich Bündnisse mit Anhängern einer anderen Konfession oder gar einer anderen Religion anboten, kam die Frage auf, ob derlei Bündnisse unter theologischen und juristischen Gesichtspunkten überhaupt legitim waren. Auf diese Frage geben die Schriften sowohl der römisch-katholischen als auch der protestantischen und lutherischen Gelehrten unterschiedliche Antworten. Unter methodischem Gesichtspunkt sind nachfolgend vor allem zwei Sachverhalte zu beachten. Zum einen unterscheidet die Rechtssystematik des 16. und 17. Jahrhunderts in der Regel zwischen interkonfessionellen Bündnissen, seien dies nun Bündnisse der protestantischen Konfessionen untereinander oder mit den Katholiken, und interreligiösen Bündnissen, die mit Angehörigen einer nicht-christlichen Religion, allen voran den Türken, abgeschlossen wurden. Aus diesem Grund werden beide Bündnisarten in den nachfolgenden Ausführungen separat behandelt. Zum anderen ist zu prüfen, ob sich inhaltliche Differenzen oder Kontinuitäten zwischen den protestantischen und römisch-katholischen Schriften auf theologische und konfessionelle Begründungen zurückführen lassen oder ob nach alternativen Erklärungen zu suchen ist. In einigen Fällen mag es zwar verlockend erscheinen, inhaltliche Differenzen der konfessionellen Orientierung des Verfassers zuzuschreiben. Jedoch ist eine solche monokausale Deutung zu vermeiden, weshalb weitere Erklärungsoptionen erwogen werden.

A. Interreligiöse Bündnisse aus der Perspektive römisch-katholischer Autoren Am Anfang der Auseinandersetzung um die Frage der religionsübergreifenden bzw. interreligiösen Bündnisse im 16. Jahrhundert stehen die systematischen Arbeiten der Thomas-Kommentatoren Silvester Mazzolini Prierias und Thomas Cajetan sowie des Pariser Professors John Mair (1467/1468 – 1550), auf die die nachfolgende Kriegsrechtsliteratur rekurrierte. Anders als in den übrigen Fragen des Kriegsrechts äußert sich Cajetan jedoch zum Problem der interreligiösen Bündnisse nur indirekt und spricht in seinem Kommentar zur Quaestio de bello (zu Thomas v. Aquins Summa Theologiae [= ad STh], II–II q. 40 a. 1) lediglich von Bündnissen mit auswärtigen Völkern (extranei).15 Prierias hingegen behandelt die interreligiösen Bündnisse explizit in seiner „Summa summarum“ (1514) im Zuge der erlaubten Kriegs15

Cajetan, Secunda secundae (Anm. 5), ad STh II–II q. 40 a. 1, f. 102r : „In eod[m] ar[ticulo] circa iustitia[m] causae belli, aduerte q[uod] quia amici, socij vnum ce[n]sent, ideo iusta ca[usa] indice[n]di bellum est pro vltione sociorum: nec minus potest socios, et extraneos ad bellum gerendum princeps inuitare, quam ad exercendam iustitiam intus ministros extraneos conducere.“

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handlungen.16 Bündnisse mit Anhängern anderer Religionen seien nur in einem gerechten Krieg möglich, wenn eine Notwendigkeit (necessitas) vorliege und der Krieg sich überdies nicht gegen Christen richte.17 Durch diese Beschränkung der Bündnisfähigkeit bleiben faktisch nur Defensivallianzen zwischen christlichen und fremdgläubigen Herrschern übrig. Mair fasst den Rahmen demgegenüber weiter, indem er nicht nur interreligiöse Bündnisse im Kampf gegen einen nicht-christlichen Herrscher billigt, sondern überdies die Möglichkeit in Betracht zieht, andersgläubige Herrscher auch im Kampf gegen Christen zur Hilfe zu rufen. Allerdings seien in diesem Fall Vorkehrungen zu treffen, dass die fremden Völker nicht dem Christentum (respublica Christiana) schadeten.18 Damit sind im Wesentlichen die Grenzen der römisch-katholischen Position abgesteckt, die im Laufe des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts vertreten wurden. Die mit Vorbehalten versehene, aber doch grundlegende Anerkennung interreligiöser Bündnisse ist auch in der dominikanischen und jesuitischen Kriegsrechtslehre gängige Lehrmeinung, und wird von Autoren wie Domingo Bañez,19 Francisco de Suárez20 und Martin Becanus21 vertreten. Dasselbe gilt auch für die juristische Kriegsrechtsliteratur. Pierino Belli findet in seinem „De re militari et bello tractatus“ (1563) eine restriktivere Position, indem er ein Bündnis mit nicht-christlichen Völkern gegen einen christlichen Kriegsgegner ablehnt.22 Der italienische Jurist Tiberio 16

Prierias, Summa summarum (Anm. 5), bellum 1 q. 8, f. 68r. Prierias schärft insbesondere ein, dass ein Bündnis mit den Osmanen gegen einen christlichen Herrscher nicht statthaft sei, solange sich das osmanische Reich mit den Christen im Krieg befinde: „Et idem etiam tenet Io. de Nea. in quolibet. concludens q[uod] modo non liceret Sarracenorum et Turcarum auxilijs vti contra fideles, du[m] guerra durat cu[m] eis.“ (ebd.). 18 John Mair, In quartum sententiarum quaestiones vtilissimae suprema ipsius lucubratio[n]e enucleatae: denuo tamen recognitae: et maioribus formulis impressae […], [Paris] s.a., 15,21, f. 121v : „Epilogando dico q[uod] fidelis potest quaerere opem ab infideli contra infidele[m]: que[m]admodu[m] Machabaei, et nostri Christiani implorarunt ope[m] Ta[m]berlanis Persarum regis pugnacissimi contra Pazaiten Turcaru[m] principe[m]. possunt etia[m] fideles in aliquo eue[n]tu implorare opem infidelium contra fideles, cauendo ne id cedat in iactura[m] reipu[blicae] christianae. hoc est voca[n]do eos in pauco numero: sic vt possemus eos opprimere si forte contra christianos insurgerent: et p[ro]uidendo ne eorum aduentus fieret perniciosus quo ad sequelam: ita vt aperiretur eis via in limitibus nos inuadendi: et cogendo eos ne contra fidem blasphemarent: vt Iudaeos nobiscu[m] cohabitantes cogimus.“ 19 Domingo Bañez, Scholastica commentaria in secundam secundae angelici doctoris s. Thomae. Quibus, quae ad fidem, spem, et charitatem spectant, clarissime explicantur, Vendig 1587, ad STh II–II q. 40 a. 1, Sp. 1906 – 1908. 20 Francisco Suárez, Opus de triplici virtute theologica, fide, spe, et charitate, in tres tractatus pro ipsarum virtutum numero distributum, Paris 1621, disp. 13, sect. 7,25, Sp. 1055. 21 Martin Becanus, Analogia veteris ac novi testamenti, in qua primum status veteris, deinde consensus, proportio, et conspiratio, illius cum novo explicatur, Lüttich 1718, 18,6, 367 – 369. 22 Ebd., f. 44v : „At secundo casu, cum res est inter fideles, omnino abstinendum puto a tali foedere et auxilio. Quod probatur illismet auctoritatibus quae sunt supra in contrarium adductae, Aessa enim Regem increpuit, pro inuocato auxilio illo. Hanam Propheta dixitque ei, 17

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Deciano fasst seine Position hingegen weiter, indem er konstatiert, dass solche Zusammenschlüsse auch gegen Christen möglich seien.23 Von Protestanten als Kriegsgegnern ist im Kontext interreligiöser Bündnisse hingegen nicht explizit die Rede. Dass sich solche Bündnisse, zumindest in der Theorie, auch gegen evangelische Christen richten konnten, zeigt jedoch nicht nur die Bemerkung Decianos, der interreligiöse Bündnisse auch in innerchristlichen Konflikten Anwendung finden lässt, sondern auch die kirchenrechtliche Bewertung der Protestanten, die katholischerseits meist als Häretiker und somit abgefallene Christen galten. So betont Baltazar de Ayala, dessen Ausführungen sich auf Alfonso de Castros wirkmächtiges Werk „De iusta haereticorum punitione“ (1547) stützen, dass es sich bei Häretikern um abgefallene Christen handele, über die sowohl der Papst als auch der Kaiser weiterhin Jurisdiktionsgewalt ausübten und die daher bekriegt werden dürften.24

B. Betonung des defensiven Charakters interreligiöser Bündnisse bei lutherischen Autoren In der lutherischen Theologie werden interreligiöse Bündnisse selten extensiv erörtert. Martin Luther hatte zu der Frage nicht explizit Stellung bezogen, sondern lediglich zum konfessionell motivierten Zusammenschluss der evangelischen Reichsstände im Schmalkaldischen Bund, der allerdings weniger ein Problem des Bündnisrechts, sondern des Widerstandsrechts war. Ein Bündnis mit einer fremdgläubigen Macht wie dem osmanischen Reich dürfte für ihn ohnehin undenkbar gewesen sein. Desgleichen schweigen auch andere Theologen wie Philipp Melanchthon oder der württembergische Theologe Christoph Binder, der eine ausführliche Thesenreihe zum Kriegsrecht hinterlassen hat, zur vorliegenden Thematik. Eine Ausnahme bildet lediglich Johann Gerhard, der dem Thema ein Kapitel in seinen „Loci communes“ widmet.25 Der Jenaer Theologe grenzt sich sowohl von einer strikten Ablehnung interreligiöser Bündnisse ab als auch von einer vorbehaltslosen Anerkennung von Bündnissen mit Angehörigen anderer Religionen. Stattdessen wirbt er für eine stulte egisti, et propterea ex hoc tempore in te bello consurgent, vt habetur Paral. ij. c. xvj. Achaz vero pessimus Regum fuit, neque ei profueru[n]t, inuocata auxilia, imo ab illismet quos sibi inuocauerat est spoliatus, vt habetur Paralip. ij. c. xxviij. Debe[n]t igitur Christiani Reges habere in corde, quod Regi optimo Iosaphat Propheta respo[n]dit, impio pr[a]ebes auxilium.“ 23 Deciano begründet die Möglichkeit von interreligiösen Bündnissen auch gegen christliche Herrscher mit Verweis auf den mittelalterlichen Gelehrten Oldradus de Ponte (ebd., f. 63v). 24 Baltazar de Ayala, De iure et officiis bellicis et disciplina militari, Douai 1582, 1,2,30, 39: „Vnde haereticis, qui a fide Christiana defecerunt, iustum bellum infertur, qua de re pulchre Alphons. a Castro lib. 2. de iusta haeret. punit.“ 25 Johann Gerhard, Locorum theologicorum cum pro adstruenda veritate, tum pro destruenda quorumvis contradicentium falsitate, per theses nervose, solide et copiose explicatorum […], Bd. 6, Frankfurt/M./Hamburg 1657, 2,6,4, 292 – 295.

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differenzierte Position, die dem Kriegsrecht bei römisch-katholischen Autoren nahe kommt und die Bewertung interreligiöser Zusammenschlüsse an ihrer Gefahr für das Christentum misst.26 Zunächst unterscheidet Gerhard zwischen Defensivbündnissen (defensionis causa) und solchen, die einem Angriff gegen Dritte (in oppugnando aliquo tertio) dienen. Während ein defensives Bündnis selbst mit nicht-christlichen Völkern eingegangen werden dürfe, sei dies bei Offensivbündnissen anders:27 Während eine Allianz gegen Andersgläubige unproblematisch ist, ist ein Bündnis gegen Christen hingegen tabu.28 Im Zentrum der theologischen Bewertung interreligiöser Bündnisse steht die Sorge, dass durch den Kontakt mit anderen Religionen für das Christentum ein Schaden entstehen könnte. Wird diese Gefahr durch vertragliche Bestimmungen oder die politischen Rahmenbedingungen vermieden, sei ein militärisches Bündnis unter Umständen möglich.29 Eine solche Position, die einerseits interreligiöse Bündnisse in Verteidigungssituationen ermöglicht, andererseits um eine Begrenzung eventueller negativer Folgen bemüht ist, scheint im Luthertum konsensfähig gewesen zu sein, da sie sich auch in der juristischen Kriegsrechtsliteratur findet. Dies gilt insbesondere für den Tübinger Juristen Heinrich Bocer, der interreligiöse Bündnisse in „De iure pugnae“ im Kontext der Ausführungen zum Verhältnis von christlichen und nicht-christlichen Völkern thematisiert. Konkret behandelt er die Frage, ob ein andersgläubiger Herrscher von Christen unterstützt werden dürfe bzw. ob ein Christ sich der Hilfe Ungläubiger bedienen dürfe.30 Obwohl Bocer in dem Abschnitt keine lutherischen Autoren zitiert, ähnelt seine Position den späteren Ausführungen Gerhards. Ebenso wie der Jenaer Theologe schlägt er eine differenzierte Lösung vor, die allerdings auch einen neuen Aspekt in die Diskussion einbringt. Zwar fragt auch Bocer, gegen wen sich ein Bündnis richte, und warnt davor, sich mit Andersgläubigen gegen Christen zu-

26 Ebd., 293: „Posteriori igitur huic sententiae sed certis distinctionibus et conditionibus limitatae accedimus.“ 27 Ebd.: „Distinguendum inter foedera de non offendendo ac quae defensionis causa instituta sunt et inter ea, quae in oppugnando aliquo tertio mutuas operas exigunt. Illa etiam cum infidelibus et diversae religionis addictis inire licet, haec vero non facile permittenda.“ 28 Ebd., 293 f.: „Distinguendum inter foedus initum cum infidelibus contra infideles alios et inter foedus initum cum infidelib[us] contra fideles. Prius dicimus licitum, posterius illicitum. Potest fidelis contra infidelem alium jungere arma cum infideli c. Imperatores. causa. 11. q. 3. ergo etiam potest auxilium infidelis contra alium infidelem implorare; sed si bellum contra fidelem sit suscipiendum, auxilio infidelis uti, et Foedus cum eo inire neutiquam debet.“ 29 Ebd., 294: „Distinguendum inter foedera, quae politicas duntaxat conditiones adjunctas habent, et ex quibus nullum metuendum est verae religioni periculum aut praejudicium, et inter ea, quae in fraudem verae religionis panguntur.“ 30 Heinrich Bocer, De iure pugnae, hoc est, belli et duelli, tractatus methodicus; in quo de omnis generis luctatione, eiusque iure ex varijs iuris nostri locis, et interpretum monimentis plurimum diligenterque disseritur, Tübingen 1591, 1,7, 28 – 31.

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sammenzuschließen.31 Anders als bei Gerhard, der die Gefahren für das Christentum im Blick hat, steht bei Bocer aber eine pragmatische Argumentation im Vordergrund, denn der Tübinger Jurist fragt in erster Linie nach der Zuverlässigkeit des Bündnispartners. Wenn nämlich die Treue der Ungläubigen außer Frage stünde, so sei auch ein Bündnis unproblematisch.32 Diese Position fand auch Eingang in das Werk weiterer lutherischer Gelehrter. So plädiert Bocers Tübinger Kollege Christoph Besold ebenso für defensive Bündnisse mit Andersgläubigen, allerdings ohne explizit auf lutherische Autoren zu rekurrieren. Lediglich an einer Stelle kommt der Tübinger Jurist auf die „Loci communes“ Gerhards zu sprechen.33 Obwohl somit davon ausgegangen werden kann, dass Besold die einschlägigen Abschnitte im Werk Gerhards und Bocers, auf den er sich im Kriegsrecht oft bezieht,34 kennt, ist es auffällig, dass die Verweise auf die „Meditamenta pro foederibus“ Eberhard von Weyhes35 oder Schriften von römisch-katholischen Autoren wie Martin Becanus, Johannes Molanus und Tibero Deciano weitaus 31 Ebd., 30 f.: „Sed et his argumentis nihil obstantibus tenendum est, Christianos viros et milites stipendia licite merere etiam sub Principe non Christiano, sed tantum pro defensione Reipublicae, non etiam contra verae religionis assertores.“ 32 Ebd., 28 f.: „Ego aut[em] distinguendu[m] puto inter infideles, de quoru[m] virtute, fide et co[n]stantia in promißis certo co[n]stat; et eos infideles, quoru[m] fides dubia est. Quod si perspecta sit fides infideliu[m], hoc est, dictorum conventorumq[ue] constantia et veritas ipsorum manifesta sit, et de ea minime dubitetur, foedus cum ijs Christianos, vt in communi periculo sibi inuicem opem ferant, inire posse, et ex ijs milites licite conscribere, omnino arbitror […]. Eos ergo infideles, quorum veritas, constantia, et virtus nobis perspecta est, sine peccato milites conscribere possunt Christiani principes, et eorum auxilio ad sui defensionem vti.“ 33 Christoph Besold, Dissertatio politico-juridica, de foederum jure: ubi insimul de patrocinio et clientela; ac item de neutralitate disputatur succincte, Straßburg 1622, 4,6, 35. 34 Für Erwähnungen Heinrich Bocers siehe zum Beispiel Christoph Besold, Politicorum libri duo. Quorum primus, reipublicae naturam et constitutionem, XII. capitibus absolvit: alter vero, de republica in omnibus partibus gubernanda, IX. sectionibus tractat, Frankfurt/M. 1620, 2,7, 35 f. 35 Eberhard von Weyhe nimmt in den beiden Bänden seiner „Meditamenta pro foederibus“ ausführlich Stellung zum Bündnis mit Ungläubigen, wenngleich, der Anordnung seines Werks entsprechend, in eher unsystematischer Weise. Dennoch sind auch dort die zentralen Elemente des Defensivbündnisses und der Erforderlichkeit nachweisbar, die auch die lutherischen Autoren einschärfen. Einen besonderen Stellenwert nimmt der Krieg gegen das osmanische Reich in seinen Darstellung ein und das Lob solcher Bündnisse, die sich gegen die Türken richten (Eberhard von Weyhe, Meditamenta pro foederibus, ex prudentum monumentis discursim congesta. In quibus variae et difficiles attinguntur politicae questiones, Bd. 1, Hanau 1601, 264). Hieraus den Schluss zu ziehen, dass der Wittenberger Jurist Bündnisse mit nichtchristlichen Herrschern ablehnt, wäre jedoch verfehlt. Denn Weyhe billigt nicht nur einen Waffenstillstand mit den Türken selbst, sondern auch ein Bündnis mit dem Perserkönig (ebd., 156). Sogar ein Bündnis mit einem erklärten Feind der Religion sei möglich, wenn die Notwendigkeit dies zwingend erfordere (ebd., 192). Ähnlich wie im altgläubigen und lutherischen Kriegsrecht wird allerdings ein Krieg gegen Christen aus solchen Bündnissen ausgeschlossen (ders., Meditamenta pro foederibus, ex prudentum monumentis discursim congesta. In quibus variae et difficiles attinguntur politicae questiones, Bd. 2, Frankfurt/M. 1609, 44).

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relevanter sind. Es ist daher zu konstatieren, dass sich zwischen lutherischen Theologen und Juristen zwar eine beträchtliche Nähe in der Frage der interreligiösen Bündnisse feststellen lässt. Allerdings lassen sich ein Abhängigkeitsverhältnis oder konkrete Verbindungslinien, die über die Ähnlichkeit der Positionen hinausgehen, nur schwer belegen.36 Es scheint aus diesen Gründen ratsam, die inhaltlichen Parallelen zwischen theologischen und juristischen Schriften nicht monokausal auf konfessionelle Aspekte zurückzuführen, sondern zu bedenken, dass die Positionen eher einen konfessionsübergreifenden Konsens darstellten, der mit Ausnahme einiger reformierter Gelehrte mehrheitlich geteilt wurde.

C. Ablehnung interreligiöser Bündnisse in der reformierten Theologie Im reformierten Protestantismus hingegen wurde die Frage interreligiöser Bündnisse kontroverser diskutiert. Dort existierte nämlich eine einflussreiche Strömung, die Bündnisse mit fremdgläubigen Völkern kategorisch ausschloss. Diese Eigenheit des reformiert geprägten Bündnisrechts wird bereits von den Zeitgenossen zur Kenntnis genommen, da sich insbesondere lutherische Gelehrte von den reformierten Schriften in dieser Frage distanzierten. Am Anfang der Reihe reformierter Theologen, die sich für die Ablehnung interreligiöser Bündnisse aussprechen, steht Petrus Martyr Vermigli mit seinem Kommentar zu Ri 4,17, der auch unter dem locus de bello Eingang in die „Loci communes“ fand.37 Seine Ausführungen blieben grundlegend für nachfolgende reformierte Autoren, die sich mit dem Bündnisrecht befassten. Dies ist der Fall bei dem Herborner Theologen Wilhelm Zepper, der sich an Vermigli orientiert, in Einzelfragen aber auch von diesem abweicht und zu einer differenzierteren Position findet. In der „Legum Mosaicarum forensium explanatio“ arbeitet er mit einer Differenzierung, die in den bislang untersuchten Schriften im Hintergrund stand. Nachdem bisher vornehmlich hinsichtlich des Kriegsgegners oder offensiver und defensiver Kriege unterschieden wurde, differenziert Zepper hinsichtlich des Charakters eines Bündnisses. Denn neben militärischen Zusammen36 Bei manchen Autoren ist dies durchaus der Fall. Christian Liebenthal verweist in dem einschlägigen Abschnitt explizit auf Johann Gerhard: „Infideles quod attinet, qui extra Ecclesiae pomeria versantur et jat’ 1nowµm infideles dicuntur, ut sunt: Turca, Saracaeni, Iudaei etc. non immerito quaeritur, utrum foedus cum iis salva conscientia iniri possit. Et sane innumera hac de quaestione, is utramq[ue] partem, tela invenies, jam ante cu[m] Franciscus I. Gallorum in medium prolata, de quibus vide Schonborn lib. 4. polit. c. 36. Hoen. polit. 13. th. 51. Gerhard. tom. 6. de Magistr. polit. sect. 4 n. 154.“ (Christian Liebenthal, Juris foederis delineatio iuridico-politica, in qua de foederibus tam religiosis, quam politicis, et quatenus et in quantum cum infidelibus contrahi foedera possunt, disceptatur, Gießen 1624, n. 93, 24). 37 Petrus Martyr Vermigli, In librum Iudicum […] commentarij doctissimi, cum tractatione perutili rerum et locorum, Zürich 1571, ad Ri 4,17, f. 66v–67r ; ders., Loci communes. Ex variis ipsius authoris scriptis, in vnum librum collecti, et in quatuor classes distributi […], Heidelberg 1603, 4,16, 943 f.

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schlüssen gebe es auch bloße Verträge oder Handelsbündnisse. Während nichts gegen zivile Bündnisse spreche, werden militärische Bündnisse weiterhin mit deutlichen Worten abgelehnt. Als wesentliche Ursache hierfür wird die Gefahr der Idolatrie (idololatria) genannt, die mit gemischtreligiösen Armeen einhergehen könnte, da Ungläubige im Falle eines Sieges ihre Götter anrufen und den wahren Gott beleidigen könnten.38 Diese Grundtendenz, die bei weiteren reformierten Theologen nachweisbar ist,39 wirkt auch in die juristische Kriegsrechtsliteratur hinein. Einen prominenten Unterstützer fand sie in Alberico Gentili, dessen Position in dieser Frage bei modernen Historikern für Irritationen sorgt.40 Ihren Ausgang nimmt die Argumentation bei dem bereits erwähnten Juristen Tiberio Deciano, der sich in seinen „Responsa“ für die Rechtmäßigkeit interreligiöser Bündnisse ausgesprochen hatte.41 Nach einer abwägenden Diskussion der einschlägigen Argumente42 nimmt Gentilis Gedankengang schließlich eine überraschende Wende, da er nun seine grundsätzliche Skepsis und Ablehnung gegenüber solchen Bündnissen betont. Die angeführten Gründe sind theologischer Natur, zumal er explizit auf Vermigli als wichtige Autorität verweist.43 Den Ausschlag für die Positionierung scheint einerseits die Befürchtung gegeben zu 38 Wilhelm Zepper, Legum Mosaicarum forensium explanatio […], Herborn 1614, 4,16, 306 f.: „Distinguendum igitur est inter federa. Quaedam enim communes habent expeditiones, et auxilia mutua cum idololatris et impijs, qualia fuerunt Asae, Josaphati, Amasiae. Illa illicita sunt et idololatrica. Semper enim in tali exercituum commixtione, aliquid mali et impietatis affricatur populo Dei. In talibus castris impii idola sua invocant, illis victorias adscribunt, per illa jurant: quibus rebus vehementer Deus offenditur, ac idcirco non est illis propitius, qui illis se adjungunt. Quod si idololatras, ut canes, et Dei hostes despicimus, qua fronte lis nos conjungimus? Quod si vero Deo fidem sperabimus? Benhadadus sane Syrus fedus cum rege Israelis violat, Asae muneribus corruptus. Alia deinde federa sunt de finibus et limitibus, commerciis item, ut nimirum finitimi pacifice et tranquille inter se agant; de commerciis item, rebusq[ue] ad vita[m] necessariis, vel importandis, vel exportandis inter se paciscantur. Atque haec licita sunt. Vult enim D. Paulus, ut, quantum in nobis est, pacem cum omnibus habeamus, Rom. 12. vers. 18. […].“ 39 Dies ist etwa der Fall bei David Pareus, In Genesin Mosis commentarius, in: ders., Operum theologicorum tomus primus continens scripta exegetica siue commentarios in s. scripturae libros canonicos veteris et noui testamenti, Genf 1642, 3 – 462, ad Gen 14,15, 230. 40 Noel Malcolm weist im Rahmen seiner Untersuchung zu Gentilis Wahrnehmung des osmanischen Reichs darauf hin, dass Gentilis Position zu interreligiösen Bündnissen mit dem im Sinne Richard Tucks verstandenen humanistischen Ansatz in Widerspruch stehe: „The strongest example of this, and in many ways the most puzzling feature of Gentili’s whole pattern of argument about the Ottomans, arises in De iure belli, Book 3, Chapter 19, which is entitled ,Whether it is right to enter into an alliance with people of a different religion‘.“ (Noel Malcolm, Alberico Gentili and the Ottomans, in: Kingsbury, Benedict/Straumann, Benjamin [Hrsg.], The Roman Foundations of the Law of Nations: Alberico Gentili and the Justice of Empire, Oxford 2010, S. 127 – 145, 138). 41 Tiberio Deciano, Responsorum volumen tertium […], Vendig 1602, resp. 20, f. 63r–v. Zu Decianos Darstellung vgl. auch Malcolm, Ottomans (Anm. 40), S. 141 f. 42 Alberico Gentili, De iure belli libri tres, Hanau 1598, 3,19, 657 – 659. 43 Ebd., 659: „Ceterum ita maneo cum doctissimo nostri seculi theologo: qui negat, cum infidelibus arma recte coniungi vmquam.“

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haben, dass die christliche Religion durch einen fremden Glauben Schaden nehmen könne.44 Andererseits könnte die religiöse Heterogenität das Vertrauensverhältnis zwischen den Bundesgenossen belasten.45 Die weitreichende Wirkung der reformierten Position ist auch daran ersichtlich, dass selbst lutherische Gelehrte wie der Historiker Elias Reusner ihr folgen. So findet sich in Reusners „Thesaurus bellicus“ weitgehend die reformierte Position in der Gestalt, die Zepper ihr verliehen hatte. Zwar verweist der Historiker nicht explizit auf reformierte Autoren, jedoch zeigt die Auswahl und Reihenfolge seiner Bibelbelege sehr deutlich, dass ihm die einschlägigen Abschnitte von Zeppers „Legum Mosaicarum forensium explanatio“ als Vorlage dienten.

D. Irenik und interkonfessionelle Bündnisse Neben dem kontroversen Problem der interreligiösen Bündnissen lassen sich protestantische Akzente auch in der zweiten Bündniskonstellation wahrnehmen, den interkonfessionellen Bündnissen. Bei römisch-katholischen Autoren spielen solche Bündnisse kaum eine Rolle; wo sie dennoch erörtert werden, fällt die Lehrmeinung meist ablehnend aus.46 Unter protestantischen Autoren hingegen ist die Frage durchaus präsent. Eine Tendenz, die sich in nahezu allen protestantischen Arbeiten beobachten lässt, ist die Verbindung der politisch-juristischen Argumentation mit den theologischen Überlegungen aus dem Bereich der konfessionellen Irenik zwischen Reformierten und Lutheranern. Deutlich wird dies in besonderer Weise in der Abhandlung „Quaestio num et quae foedera cum diversae religionis hominibus et praecipue a Lutheranis cum Calvinianis salva iniri possint conscientia“ (1618), die der lutherische Theologe Johannes Tarnow zu Beginn des Dreißigjährigen Kriegs publizierte. Der Rostocker Gelehrte bezieht sich darin auf die in scharfem Ton geführte Kontroverse um einen kirchlichen Zusammenschluss von Reformierten und Lutheranern, die vornehmlich zwischen kurpfälzischen und Tübinger Theologen ausgetragen wurde.47 Es mag daher ratsam sein, zunächst den Verlauf dieser Kontroverse kurz zu rekonstruieren. 44 Ebd., 660 f.: „Fallitur Duarenus cum aliis, qui licitu[m] Christiano scribunt, iurare per Maumethem, si illi res cum Turca, qui aliud iusiurandum contemnat. Non licet per idola iurare itaq[ue] nec per Maumethem: qui est idolum.“ 45 Ebd., 661 f. 46 Eine Ausnahme stellt die Schrift „De fide haereticis servanda“ des flämischen Theologen Johannes Molanus (Jan Vermeulen) (1533 – 1585) dar, der explizit gegen interkonfessionelle Bündnisse mit Protestanten plädiert. 47 Es ist fraglich, ob Johann Tarnow die von David Pareus angestoßene Kontroverse um eine Vereinigung von Lutheranern und Reformierten im Reich kannte. Zwar kennt er den schärfsten Gegner Pareus’, den Tübinger Theologieprofessor Leonhard Hutter (Johann Tarnow, Quaestio num et quae foedera cum diversae religionis hominibus et praecipue a Lutheranis cum Calvinianis salva iniri possint conscientia […], Rostock 1618, Cv. C4v), jedoch erwähnt er keine der relevanten Schriften. Trotzdem scheint es notwendig, die Ausführungen

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Zentrale Impulse für die Bemühungen, den Protestantismus nicht nur politisch in der 1608 gegründeten Union zu vereinen, sondern überdies das Bündnis durch eine auf kirchliche Verständigung und Einheit zielende Irenik zu festigen, kamen aus der reformierten Kurpfalz, die sich seit der Konversion Kurfürst Friedrichs III. (Reg. 1559 – 1576) zum Calvinismus in einer prekären reichsrechtlichen Situation befand.48 Um sich unter den Schutz des Augsburger Religionsfriedens stellen zu können, bemühten sich die kurpfälzischen Theologen um eine Annäherung an das Luthertum. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Kontext die Schrift „De libro concordiae“ (1581), in deren Epilog sich ein Programm zur Etablierung der Einheit zwischen Reformierten und Lutheranern mittels einer gesamtprotestantischen Synode findet.49 In die gleiche Richtung weist auch das „Irenicum sive de unione et synodo Evangelicorum“ (1614) des Heidelberger Theologen David Pareus, der für die Einheit innerhalb des Protestantismus wirbt. Der von gemeinsamen Glaubensüberzeugungen und gegenseitiger religiöser Toleranz50 getragene innerprotestantische KirTarnows vor diesem Hintergrund zu lesen, da er nicht nur das Problem politischer Bündnisse reflektiert, sondern mit besonderem Interesse auch die Möglichkeit einer kirchlichen Einigung prüft. 48 Zur Einführung des Calvinismus in der Kurpfalz vgl. Armin Kohnle, Die Universität Heidelberg als Zentrum des reformierten Protestantismus im 16. und frühen 17. Jahrhundert, in: Font, Márta (Hrsg.), Die ungarische Universitätsbildung und Europa, Pécs 2001, 141 – 61, 141 – 146; Volker Press, Die „Zweite Reformation“ in der Kurpfalz, in: Schilling, Heinz (Hrsg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der „Zweiten Reformation“. Wissenschaftliches Symposium des Vereins für Reformationsgeschichte 1985 (SVRG 195), Gütersloh 1986, S. 104 – 129; ders., Calvinismus und Territorialstaat. Regierung und Zentralbehörden der Kurpfalz 1559 – 1619 (KiHiSt 7), Stuttgart 1970; Christoph Strohm, Der Übergang der Kurpfalz zum reformierten Protestantismus, in: Wennemuth, Udo (Hrsg.), 450 Jahre Reformation in Baden und Kurpfalz (Veröffentlichungen zur badischen Kirchenund Religionsgeschichte, 1), Stuttgart 2009, S. 87 – 107. 49 Zacharias Ursinus, De libro concordiae quem vocant, a quibusdam theologis, nomine quorundam ordinum Augustanae confessionis, edito, admonitio Christiana, Neustadt 1581, 12, 415 – 455. 50 Im zwölften Kapitel des „Irenicum“ wendet sich David Pareus dieser Frage zu, die er unter dem Begriff des pius syncretismus und der mutua tolerantia behandelt. Nachdem er zu Beginn des Kapitels erneut eingeschärft hat, dass die Einberufung einer gesamtprotestantischen Synode mit dem Ziel, die Lehrdifferenzen beizulegen und die Kircheneinheit herbeizuführen, stets im Vordergrund stehen müsse, erörtert er, wie in der Zwischenzeit (interim) verfahren werden solle (David Pareus, Irenicum sive de unione et synodo euangelicorum concilianda liber votivus paci ecclesiae et desiderijs pacificorum dicatus, Heidelberg 1614, 12, 65 f.). Denn für den Fall, dass die Synode in absehbarer Zeit nicht realisierbar sein sollte, müssten Vorkehrungen für einen modus vivendi unter den Protestanten gefunden werden. Dieser besteht nach Pareus in einer gegenseitigen Toleranz (invicem tolerare), bis die vollkommene Glaubenseinheit erreicht wird (unum sentire) (ebd., 66). Beispiele für eine derartige Toleranz findet Pareus in der Bibel, die ebenfalls dazu aufrufe, die Schwächeren im Glauben zu erdulden (Röm 15,1) (ebd., 67 f.). Pareus nimmt den Einwand vorweg, dass die Tolerierung solcher Lehren, die von der eigenen Überzeugung abweichen, die Gefahr der Beliebigkeit berge. Allerdings stellt der Heidelberger Theologe klar, dass der Vorwurf des Samaritanismus, wie er diese Beliebigkeit nennt, nicht auf seine Vorstellung von Toleranz zutreffe, da er keine allgemeine Toleranz im Sinn hat, sondern nur gegenüber den Lutheranern, welche nur die

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chenfriede wird nach Pareus als Voraussetzung für eine politische Kooperation der Protestanten betrachtet, um der Bedrohung durch die römische Kirche Widerstand leisten zu können.51 Im Luthertum wurde solchen Vorstößen der pfälzischen Reformierten eher Skepsis entgegen gebracht. Das Problem bestand allerdings weniger in der Frage, ob militärische Bündnisse mit den Reformierten erlaubt seien, sondern vielmehr darin, dass die pareische Irenik auf eine theologische Einigung unter reformierten Vorzeichen ziele. Dies ist daher auch einer der Hauptkritikpunkte, die der erbittertste Gegner von Pareus’ „Irenicum“, der Tübinger Theologe Leonhard Hutter, ins Feld führt. Er kritisiert an dem Vorschlag, dass Pareus die theologischen Differenzen zwischen beiden Konfessionen bewusst herunterspiele und Einheit in Fragen suggeriere, in denen noch kein Konsens erreicht worden sei. Insbesondere wendet er sich gegen das Konzept des Syncretismus, in dem er eine schleichende Calvinisierung des Luthertums befürchtet. Neben der Problematik einer theologischen Einigung führt Hutter ins Feld, dass Pareus unter dem Deckmantel eines politischen Bündnisses die Union des Protestantismus zum Schaden des Luthertums betreibe.52 Tarnows Position deckt sich in verschiedener Hinsicht mit den Ausführungen Hutters, der dort mehrfach zitiert wird. Denn ebenso wie bei dem Tübinger Theologen wird der Kern der Bündnisfrage in der Überlagerung von politischen und konfessionellen Interessen wahrgenommen. Wohl aus diesem Grund steht am Beginn von Tarnows Ausführungen zunächst die Differenzierung zwischen politischen, kirchlichen und gemischten Bündnissen.53 Kirchliche und gemischte Bündnisse lehnt Tarnow Frage des Abendmahls von den Reformierten wirklich trenne (ebd., 66 f.). Denn mit Ausnahme dieses Glaubensartikels stimmten die Protestanten in allen grundlegenden Glaubenssätzen überein, sodass Toleranz hier möglich sei (ebd., 67). 51 Zur pareischen Irenik vgl. Adolf Gustav Benrath, Irenik und Zweite Reformation, in: Schilling, Heinz (Hrsg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der „Zweiten Reformation“. Wissenschaftliches Symposium des Vereins für Reformationsgeschichte 1985 (SVRG 195), Gütersloh 1986, S. 349 – 358, hier: S. 352 – 355; Günter Brinkmann, Die Irenik des David Pareus. Frieden und Einheit in ihrer Relevanz zur Wahrheitsfrage (StIren 14), Hildesheim 1972; Howard Hotson, Irenicism in the Confessional Age. The Holy Roman Empire, 1563 – 1648, in: Louthan, Howard P./Zachman, Randall C. (Hrsg.) Conciliation and Confession. The Struggle for Unity in the Age of Reform, 1415 – 1648, Notre Dame 2004, S. 228 – 285, hier: S. 232 – 245; Hans Leube, Kalvinismus und Luthertum im Zeitalter der Orthodoxie, Bd. 1: Der Kampf um die Herrschaft im protestantischen Deutschland, Leipzig 1928, S. 59 – 73; Hans-Joachim Müller, Irenik als Kommunikationsreform. Das Colloquium Charitativum von Thorn 1645. Mit 15 Abbildungen (VMPIG 208), Göttingen 2004, S. 35 – 45. 52 Zur Kritik der Lutheraner, allen voran Leonhard Hutters, aber auch weiterer Theologen wie Friedrich Balduin, Polycarp Leyser, Johann Georg Sigewart oder Johann Himmelius, vgl. Müller, Irenik (Anm. 51), S. 43 – 45 (mit entsprechenden Quellenverweisen). 53 Tarnow, Quaestio num et quae foedera (Anm. 47), f. A3r : „Desumitur ab obiectis, seu rebus, de quibus initur contractus. Illarum respectu foedera sunt in triplici differentia. Vel enim concernunt religionem solam, et dicuntur Ecclesiastica; Vel pacem publicam externam respiciunt, quo referimus omnia pacta, quae ad necessitatem usumq[ue] incolarum et peregrinantium in mercib[us] importandis exportandisq[ue] terra mariq[ue] servandis finib[us], de se-

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strikt ab und votiert gegen jede kirchliche Annäherung an den Calvinismus.54 Einem rein politischen Bündnis hingegen steht dem Rostocker Theologen zufolge nichts im Wege.55 Die Kontroverse um die kurpfälzische Irenik kann als exemplarisch für zwei divergierende Zugänge zur Frage der interkonfessionellen Zusammenschlüsse gelten. Während kritische Stimmen vornehmlich aus dem Bereich des Luthertums zwar ein politisches Bündnis mit einer anderen christlichen Konfession für möglich halten, jedoch eindringlich vor jeglicher kirchlichen oder theologischen Annäherung oder gar Einigung warnen, melden sich reformierte, aber auch, wie zu zeigen ist, lutherische Gelehrte zu Wort, um – zumindest vordergründig – durch Rezeption irenischer Anliegen und durch Rekurs auf gängige Topoi der Irenik die Grundlage für einen politischen Zusammenschluss der Konfessionsparteien zu legen. Im Ergebnis steht somit bei beiden Richtungen die Zulässigkeit politischer Bündnisse, lediglich der Argumentationsweg ist ein anderer: Denn Forderungen nach religiöser Toleranz, einem Grundkonsens in christlichen Dogmen und religiöser Einheit, die für lutherische Theologen wie Leonhard Hutter oder Johann Tarnow gleichbedeutend mit religiösem Synkretismus sind, wird von irenisch gesinnten Autoren gerade als die Voraussetzung für interkonfessionelle Bündnisse gewertet. In jedem Fall zeigen die Auseinandersetzungen, dass konfessionelle Irenik eine wichtige Rolle in der Bündnisfrage spielte. Das zeigen auch die Ausführungen von Gelehrten und Juristen, bei denen irenische Topoi meist wohlwollend zur Begründung interkonfessioneller Bündnisse herangezogen werden. Deutlich wird dies bei dem Straßburger Polyhistor Matthias Bernegger. Der Historiker plädiert in seiner „Tuba pacis“ für einen Zuammenschluss von Protestanten und gemäßigten Katholiken, zumindest jedoch zwischen Calvinisten und Lutheranern. Grundlage eines solchen Zusammenschlusses ist ein irenisches Programm, das Bernegger am Ende der Schrift entfaltet und dessen Zielsetzung über ein politisches Zweckbündnis hinausgeht.56 Der lutherische Historiker bezieht sich auf die Irenik des Konvertiten Marcus Antonius de Dominis, der zeitweilig der römischen Kirche den Rücken gekehrt hatte und in England lehrte. In der 1617 veröffentlichten Schrift „De republica ecclesiastica“ untersucht der Theologe die Ursachen der zeitgenössischen Kirchencuritate possessionum, contractuum, navigationum, itinerum etc. Et deniq[ue] huc pertinent omnes illi contractus publici, qui sunt de rebus mere politicis, eo fine instituti, ut pax civilis, et civium bona externa seu fortunae sarta tectaq[ue] conserventur, et propterea vocantur foedera mere Politica. […] Vel tandem partim religionem, partim res politicas simul respiciunt earumq[ue] assertionem et libertatem concernunt. Unde a quibusdam appellantur Mixta.“ 54 Ebd., f. B3v : „Hisce ita praecognitis, quando quaeritur de foedere mere ecclesiastico, aut Mixto, Negative respondemus, his seqq. ex Scriptura deductis nixi fundamentis.“ Zu den Gründen und Argumenten siehe ebd., f. B3v–C2r. 55 Ebd., f. C4v : „Concludimus igitur, foedera mere politica esse licita, etiam cum simpliciter impijs, et non blasphemis (hi enim prorsus vitandi sunt, et nihil cum illis habendum consortij) contracta, modo sint de re licita, et modo legitimo inita, ne quid damni inde patiatur religio pura.“ 56 Matthias Bernegger, Tuba pacis occenta Scioppiano belli sacri classico, Trier 1623, 362.

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spaltung und richtet einen eindringlichen Appell sowohl an die protestantischen als auch römisch-katholischen Herrscher Europas, sich für den kirchlichen Frieden einzusetzen. Denn das unnötige kirchliche Schisma sei nicht nur die Ursache von Krieg in Europa, sondern auch des Vordringens des osmanischen Reichs im Osten, das gegen die derart geschwächte Christenheit leichtes Spiel habe.57 Zur Heilung der konfessionellen Gegensätze schwebt dem Konvertiten ein Kirchenfrieden vor, der von der Prämisse ausgeht, dass sowohl der Protestantismus als auch die römische Kirche gleichermaßen Teil der wahren Kirche sind.58 Nach der Klage über die negativen Auswirkungen konfessioneller Differenzen im Gemeinwesen gelangt der Konvertit zu der Erkenntnis: „Pax Ecclesiae erit pax et robur etiam Reipublicae.“59 Das Programm für den Kirchenfrieden dient nicht nur einem theologischen Zweck, sondern zugleich der Stärkung des politischen Gemeinwesens. Bernegger zitiert de Dominis irenisches Programm, um die zerstrittenen Konfessionsparteien zu gegenseitiger Toleranz aufzurufen, welche den konfessionellen Gegner auf der Grundlage der Bibel und gegenseitiger Liebe erträgt und auf theologische Verurteilungen verzichtet. Der Straßburger Gelehrte hat mit seiner Irenik zwar auch gemäßigte Katholiken im Sinn, richtet sich jedoch in erster Linie an die Protestanten, zwischen denen eine friedliche konfessionelle Koexistenz eher realistisch sei.60 Falls dies nicht umsetzbar sei, sei wenigstens ein politischer Frieden geboten,

57 Marcus Antonius de Dominis, De republica ecclesiastica pars tertia: continens libros VII. VIII. IX. X, Hanau 1622, 7,12,135, 322: „Hae enim religionis vanissimae dissentiones turbarum causa sunt ingentium, bella ciuilia inter Christianos excitant, Rempublicam etiam ipsam ciuilem pace, et tranquillitate sua frui non permittunt; et quod malum omnium temporalium summa et coronis est, Turcam excitant, vt hoc quod reliquum est nostrae Europae, in quod vehementer inhiat, totum deuoret, et absorbeat. Christianorum dissentiones fuerunt semper Turcarum increme[n]ta.“ 58 Ausgangspunkt für die Toleranz ist de Dominis Deutung der Ekklesiologie. Der römischkatholische Bischof und Konvertit sieht keinen grundsätzlichen Gegensatz zwischen Protestanten und Katholiken. Vielmehr sind beide Teil der allgemeinen und daher katholischen Kirche. Grundlage dieser Einheit ist der Lehrkonsens in fundamentalen Fragen des Glaubens. Dennoch ist sich de Dominis wohl der Unterschiede und der Gegensätze zwischen den einzelnen Konfessionen bewusst, weshalb er dazu aufruft, dass abweichende Ansichten der anderen Konfession grundsätzlich geduldet werden müssen, um die Einheit und den Frieden zu wahren („Vnica excepta, et ea clara, animique obfirmati haeresi, vbi catholici inter se, etiam in aliqua graui difficultate dissentiunt, tolerare se mutuo debent, ne fiat schisma, iuxta Pauli documentum; supportantes inuicem in charitate, soliciti seruare vnitatem spiritus in vinculo pacis.“ [De Dominis, De republica ecclesistica [Anm. 57], 7,12,114, 317]). Jede Form der Kontroverse und Polemik zwischen den unterschiedlichen Konfessionen führt hingegen zu einem Schisma innerhalb der allgemeinen Kirche und einem Schaden, der letztlich dem Antichristen den Weg bereite („Quicunque igitur a simili tolerantia abhorrent, illi ab vnione catholica abhorrent, et in schisma ruunt. Si absit tolerantia dissidia in dies fiunt amarulentiora, et talia quae viam Antichristo praeparent.“ [ebd., 7,12,117, 318]). 59 De Dominis, De republica ecclesistica (Anm. 57), 7,12,134, 322. 60 Bernegger, Tuba pacis occenta Scioppiano belli sacri classico (Anm. 56), 362 f.

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um der Bedrohung durch Spanien, die Jesuiten und das Papsttum begegnen zu können.61 Irenik ist somit die zentrale Voraussetzung für Berneggers Programm eines interkonfessionellen Bündnisses gegen die auswärtigen Feinde des Reiches. Eine ähnliche Verquickung von Bündnisrecht und theologischer Irenik lässt sich auch bei Eberhard von Weyhe, Christoph Besold oder Hugo Grotius nachweisen.

E. Fazit Nach den Ausführungen sind nun die Grundlagen gelegt, um die eingangs formulierte These zum Beitrag protestantischer Autoren bei der Genese des modernen Völkerrechts zu präzisieren. Zunächst ist der Befund festzuhalten, dass protestantische Autoren in etlichen Fragen dem zeitgenössischen Konsens folgten, der auch von römisch-katholischen Theologen und Juristen getragen wurde. Gerade bei lutherischen Gelehrten ist bei den interreligiösen Bündnissen eine bemerkenswerte Kontinuität zu altgläubigen Standpunkten wahrnehmbar. Spürbarer sind eigenständige Akzente demgegenüber im Bereich des reformierten Protestantismus, dessen restriktive Auslegung religionsübergreifender Bündnisse selbst unter namhaften Juristen Anhänger fand. Diese geradezu „resakralisierende“ Lesart des Bündnisrechts entfaltete im weiteren Verlauf des 17. Jahrhunderts allerdings keine nachhaltige Wirkung. Anders liegt der Fall bei dem dritten Befund, nämlich der Verbindung von konfessioneller Irenik und politischen Überlegungen bei der Frage interkonfessioneller Bündnisse. Gerade reformierte Theologen werten die theologische Irenik als Grundlage auch politischer Bündnisse zwischen den Anhängern verschiedener Konfessionen. Obwohl dieses Anliegen auf lutherischer Seite nicht geteilt wird, ist es in unterschiedlicher Ausprägung in der gelehrten Kriegsrechtsliteratur präsent. Das Bestreben, Barrieren durch konfessionelle Annäherung abzubauen, ist vielfach Ausgangspunkt für die Forderung auch nach politischen Zusammenschlüssen. Irenik wird zu einem Faktor, der den konfessionellen Antagonismus im Bereich des Bündnisrechts entschärft und somit auch säkularisierendes Potential birgt. Am konsequentesten gelingt dies im Werk von Hugo Grotius, der sich in seinen theologischen Schriften einerseits immer wieder für eine Annäherung der christlichen Konfessionen einsetzte und andererseits in „De iure belli ac pacis“ sowohl interreligiöse als auch interkonfessionelle Bündnisse gestattet und erheblichen Einfluss auf die nachfolgende Völ-

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Ebd., 369: „Quae si et vota mea, et mea, vel potius summorum virorum quorum interpretem egi, consilia monitaque, frustra sunt; omninoque placet, in Religione porro funiculum contentiosum ducere: saltem ut Politica Pace coalescant ad tempus, impendente illo magno metu, qui aequaliter tangit omnes, Protestantibus, et ut hominibus, brutorum; et ut Christianis, Gentiliu[m] exempla persuadere debent.“

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kerrechtsentwicklung ausübte. Wenngleich irenisches Gedankengut keineswegs auf den protestantischen Bereich beschränkt ist, so ist die Präsenz einer irenischen Grundhaltung gerade für die juristische und gelehrte Kriegsrechtsliteratur im Protestantismus charakteristisch.

Francis Connan’s theory of ius gentium as ius of humankind By Gaëlle Demelemestre, Paris Francis Connan (1508 – 1551) was a French jurist belonging to the legal humanism school of thought that developed in France in the 16th century. This school renewed jurisprudence in seeking to restore both the letter and the spirit of the body of civil laws inherited from the Romans.1 Following the works of Guillaume Budé, Andreas Alciati and Ulrich Zasuis, these French jurists changed the manner of interpreting and using the texts by taking into account the historical character of law and reverting to ancient philosophers to nourish their analyses.2 This new approach of law was deliberately opposed to the tradition of mos italicus used by medieval commentators, accused of having introduced errors and distortions into the Roman body of law and of having left a mutilated corpus containing contradictory propositions.3 For the French jurists of the 16th century, working under this nascent practice of mos gallicus – the French manner of interpreting the law –, the point was to re-establish the inherent meaning of the corpus, as well as the order and consistency of the legal distinctions made by the Romans.4 Francis Connan belongs to the systemic, or dogmatic, branch of this school of thought, and was animated by the desire to re-order all the Roman legal distinctions and to present them in a systematic fashion.5 The protagonists of this project aimed to create a genuine science of law, presented in a deductive manner proceeding from its founding principles. In his famous opus “Commentariorum iuris civilis”6, Connan achieved this task in presenting a systematic order of the principles of law. He

1 Xavier Prévost, Mos gallicus jura docendi, La réforme humaniste de la formation des juristes, in: Revue historique de droit français et étranger 89 (2011), p. 491 – 492. 2 Jean-Louis Thireau, Humaniste (jurisprudence), in: Alland, D./Rials, St. (dir.), Dictionnaire de la culture juridique, Paris 2003, p. 798. 3 Francisco Carpintero, “Mos italicus”, “mos gallicus” y el Humanismo racionalista. Una contribucion a la historia de la metodolia juridica, in: Ius commune 6 (1977), p. 108 – 109. 4 Ibid., p. 135. 5 Vincenzo Piano Mortari, La sistematica come ideale umanistico dell’opera di Francesco Connano, in: Olschki, Leo S. (ed.), La storia del diritto nel quadro delle scienze storiche, Firenze 1966, p. 525 – 527. 6 Francis Connan, Commentariorum iuris civilis tomus prior et posterior, Paris 1553. This reference will henceforth be abbreviated as “Commentaries”.

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was the first to incorporate Roman laws into a new, scientifically founded, system.7 It is within this system that he defends the idea that men are part of a community of law whose prescriptions must be identified by jurists so that it may be reappropriated by separate nations. Connan calls this law the ius gentium. Unlike the Romans and the exegetes of the mediaeval period, he does not only describe it analytically, but he makes it a key component of his legal system. For him, it consists of the common law of humanity divided into nations. In this paper, I would like to explain this thesis and develop its practical implications. But due to the fact that this theorization is made within a more general project of rational systematization of law, we need to take Connan’s intellectual background into account for any understanding of it, and as such I will begin with a brief outline of the context he was working in.

A. The plan of a systematic ordering of law I. A historical and comparative prospect Like his contemporaries, Connan considers the body of Roman civil law as the most complete exposition of the principles of law. But, in line with the philological approach initiated by Guillaume Budé, he points out that the distinctions made in Roman law are presented in a disparate fashion, that they do not follow a deductive order, and in consequence that the whole does not emerge as a coherent system.8 To rediscover the spirit of Roman law thus becomes for him a question of rebuilding the system on new foundations, the task he undertook in his “Commentaries”. He intends to re-establish the concepts of Roman law through precisely defining its first principles and rationally deducing its different branches.9 This project is clearly in line with the spirit of one of Cicero’s lost works to which humanists often refer, “De iure civili in artem redigendo”, where Cicero offered a systematic description of Roman law.10 Diverging from the scientia, which presents 7

Christoph Bergfeld, Franciscus Connanus. Ein Systematiker des römischen Rechts, Köln, Graz 1968, p. 43. 8 “Quo tempore qui se literarum studiis dedere voluerunt, cum propter temporum caliginem per rectum cursum eas tenere non potuissent, aberrarunt ab via et ratione docendi, feceruntque sibi nouas artes, aut certem antiquas ita peruerterunt, ut in ipsorum arte nihil minus doceretur, quam ars cuius se profiebantur magistros.“, Connan, Commentaries (Anm. 6), fo. 1. 9 Ibid. 10 Cicero proposed to introduce philosophical and moral notions to transform jurisprudence in a more rooted and coherent science of law. Cicero explains this project in De Oratore, I, XVII. On the legal humanism’s references to the natural-law tradition, and especially to Cicero, see Merio Scattola, Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des ‘ius naturae’ im 16. Jahrhundert, Tübingen 1999, S. 22 – 28; Jean-Louis Thireau, Cicéron et le droit naturel au XVIe siècle, in: Revue d’Histoire des Facultés de Droit et de la Science Juridique 4, 1987.

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an ensemble of laws and axioms for general purpose, according to Cicero the law must be approached as an ars with its origin in concrete experience. Connan borrows the idea of treating the law as an ars to initiate his systematic presentation.11 He relies on “right reason” (recta ratio) to establish the correlations between things and enable man to position himself in relation to them. But he adopts an historical and comparative standpoint towards it. He presents the legal order of Roman society as a historical phenomenon from which can be extracted quite a paradigm of law if it is reorganized by “right reason”. As a result of abiding by right reason, Connan will profoundly transform the Roman categorization of law. II. The ontological dimension of Connan’s project: the law as expressing the normativity of the world Indeed, for him the system of law is not simply a rational sequencing of legal knowledge. In his attempt to access the vera iuris definitio, Connan wishes to shed light on the rational logic governing the order of temporal realities. It is a question of casting aside the rational frame that is implicit in the created world. Indeed, he considers that the foundation of law is divine reason, or divine wisdom. As he says, Anaxagores taught that the divine spirit governed the universe by natural and rational law. The law demonstrates the divine spirit, who – as the Ancients had said – puts nature into motion and brings it to its end. Only now that the true God has made himself known, it must be said that it is Christ, the spirit and wisdom of the Father, who is at the origin of the cosmic order which the law restores.12 Connan’s epistemological scheme is coupled with a considerable ontological ambition. In the first book of his “Commentaries”, he clarifies the founding principles of law and leans on right reason to find the law that features the rational frame of temporal reality. And for him, the law is not simply an order superimposed upon reality; it describes much more fundamentally the natural normativity of the world.13 As Bergfeld analyses it, his work showed “a belief in the ordering power of reason, which, if conducted in the right way, also develops the right concepts that render the meaning of the whole accessible”14. By casting aside the rules of law which unite men, the jurist can access the rationality of the natura naturata in a more direct way than by any other kind of knowledge.

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Bergfeld, Franciscus Connanus (Anm. 7), p. 65. “Hanc divinam mentem Anaxagoras mundi rerumque omnium causam et principium caeli et terrae principem appellat et dominam. Nos qui vera religione imbuti sumus, Christum filium Dei vocamus.”, Connan, Commentaries (Anm. 6), I, 2, fo. 6. 13 “Ius igitur non opinione sola est, neque alicuius hominum sectae inventio, sed aeterna quaedam et perpetua praeceptio, cuius ipsa natura dux est et magistra.”, Ibid., I, I, fo. 4. On this point, see Piano Mortari (Anm. 5), p. 525. 14 Bergfeld, Franciscus Connanus (Anm. 7), p. 49. 12

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The logical analysis of reality through right reason does not produce objects exterior to it, but conversely allows access to its essence, as if the nobis notior adequately translated the naturae notior. Thus, the systematic exposition of law allows access to the inherent order of creation. Connan’s intention to systematize the law went beyond legal knowledge in the strictest sense, since the ordering of law for him enabled the expression of the normative ontology of the world. Another important point that Connan borrows from the Stoics is the idea that man, because he is a rational being, is endowed with the innate principles of law.15 The systematic exposition of law is made possible by the fact that equity, fairness and goodness are innate notions to human reason. Men are thus in possession of the first principles that enable them to act fairly. Natural reason has the ability to find the first principles for making inferences, to classify facts within the different categories of law, and to accurately analyse the forms of legal obligation.

B. Ius gentium as the law of men divided into nations Ius gentium was originally a branch of Roman law. But it remained highly problematic. The difficulty of applying its Roman and medieval interpretations lay firstly in the divergent opinions concerning its nature (natural or civil), secondly in its subjects of reference (homines or gentes), and thirdly in its failure to take into account the historicity of law. It seemed therefore unsuitable for the changes that affected societies and the global community in the 16th century. Connan’s contribution would be to re-forge the concept into a tool to regulate relations between men without passing through national legislation. Let’s see how he forges the idea of ius gentium as the common law of mankind divided into nations. I. The typology of ius gentium Connan addresses the issue of ius gentium in the first book, chapters 4 to 7 of his “Commentaries”.16 He begins by specifying who the subjects of law are. And his ordering of law according to “right reason” leads him to profoundly transform the Roman theory, through criticizing Ulpian’s triadic structure of law. Indeed, according to Ulpian, a distinction has to be made between the natural law, which applies to all living creatures, the law of nations which governs all gentes, and 15 “At de natura quicquid proficiscitur, aeternum est, et uerum: quod autem veritate nititur, quia plus uno verum esse non potest, semper unum et idem est, et ubique idem, nunquam sibi repugnans, nunquam contrarium, nullo temporis cursu mutabile.”, Connan, Commentaries (Anm. 6), I, 1, fo. 2. 16 Ibid., I, 4 – 7, fo. 8 – 26.

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the civil law of individual societies.17 But in applying a rational study to these concepts, Connan refuses to extend the sphere of natural law to the whole of living creatures, like Ulpian and some theorists of the medieval period that followed had done: “It is indeed meaningless to believe that beasts and men are united into a community of law, because the former have no community, nor any semblance of belief or education. Indeed, it is through their reason that men have the ability to be pious and disciplined and ultimately share in all of the other virtues […]. There can be no community of life between beasts, or between them and men, and there is thus no community of law between them.”18

Natural law is thus the entirety of norms that apply specifically to men. This essential recentralization of law around human beings will be taken up by almost all the jurists after Connan, who concludes that, as Tullius and Paulus thought, one must consider law as a bipartite structure, namely the ius naturale and the ius civile. Then he characterizes ius naturale as “ars aequi et boni”19, the art of what is equitable and good, or fair. This law is rooted in the principle of equity: “Don’t do to another what you don’t want for yourself.” One must note that it is strictly a legal prescription (ius), not a moral one (law). The normativity expressed by natural law governs the whole creation. It is characterized by its necessary character and its identical and invariable expression. It is a normative order written into the absolute. But, says Connan, it is too general to take into account all relations that can link men. Beyond this natural order, the organization of human society requires the establishment of other rules allowing men to regulate their interactions. One has then to distinguish between the general law, expressed by the ius naturale “stricto sensu”, and another, the special law (ius speciale), called by Connan human law (ius humani), which is of two kinds: the natural civil law (or ius gentium), and the legitimate civil law.20 Typologically, Connan says that the ius gentium “is an innate, [and] quasi civil, law”21. The ius gentium aut populorum, as he calls it, is quasi civile because it is extracted by men. It is then a mediate law, evolving with due passage of time, which distinguishes it from ius naturale “stricto sensu”. But it is not exactly ius civile. For Connan, there are indeed two different kinds of human law: the ius gentium aut populorum that has to do with the utility of all peoples 17 “Natural Law is that which nature has taught to all animals, for this law is not peculiar to the human race, but applies to all creatures which originate in the air, or the earth, and in the sea. Hence arises the union of the male and the female which we designate marriage; and hence are derived the procreation and the education of children; for we see that other animals also act as though endowed with knowledge of this law.”, Dig. I, 1, 1, 3 (Ulpian), s. auch Inst. I,2,1. 18 Connan, Commentaries (Anm. 6), I, 6, fo. 17 – 18. 19 Ibid., I, 5, fo. 14. 20 Ibid., I, 6, fo. 18. 21 “Non dixit esse ius civile, sed quasi civile. Nam ius gentium aut populorum rectius appellaretur, quasi quo totius humani generis populus uteretur.”, ibid., fo. 18 – 19.

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and takes care of all the necessities of human life, and the legitimate – or peculiar – civil law (ius civile “stricto sensu”), rooted in the agreement between the legislator and its subjects and proper to a certain nation which varies according to the different societies.22 The peculiar civil law covers the interests particular to a city-state and is decided by its leader. The ius gentium, for its part, comes from a discursive and rational judgment between men, and this is why, as Connan says, “all of humankind uses it”23. It is established by men because of its benefits for the people.24 But it is not depending on agreement between a legislator and its subjects, because this law is rational, implemented in human reason, so that each man can have access to it if he exercises his judgment correctly. And “yet”, he writes, “it is part of natural law”25. Indeed, ius gentium shares with natural law the fact of relying on a community of law more fundamental than the city, based on human reason, whose principles are innate. But its principles are neither absolute nor immediately known, nor invariable. They do not aim for equity in itself, but for what is related to utility for all peoples. Ius gentium can then change with the evolution of needs. Furthermore, these rules are not immediately given. They have first to be drawn by the different peoples, clarified, and presented in a legal form. Then their beneficiaries must decide, intentionally, to recognize them and ensure their normative value. Their binding power is acquired through the rational dialogue engaged in by peoples conscious of the fundamental importance of a legal regulation of their interactions.26 If ius gentium is quasi ius civile, we can also deduce that it is also quasi ius naturale, because it shares elements common with natural law. II. The political and juridical totus orbis founded on natural sociability and right reason Connan is then able to turn more precisely to the subject of the law of peoples. Where does ius gentium lie in this respect? 22

Ibid., fo. 18. Ibid., fo. 19. 24 “[I]us gentium […] in communem omnium utilitatem commode factum esse comprobetur”, Connan, Commentaries (Anm. 6), fo. 16; “nam ista ius fieri, et pro communi hominum salute, necessario, unicuique insitum est, et pervasum ab naturae”, ibid., fo. 17. 25 Ibid., I, 5, fo. 14. 26 “Quod ergo de iure gentium diximus, sic accipiendum est, ut non quicquid ab uno populo excogitatum est et repertum, id si ab omnibus inde populis imitatione potius et exemplo quam naturali ratione fiat, ius gentium appelletur : sed quod postquam cognitum est, statim ab omnibus certo quodam naturae iudicio, non modo ut factum, sed etiam ut probe, iuste, et in communem omnium utilitatem commode factum esse comprobetur.”, Connan, Commentaries (Anm. 6), I, 6, fo. 17. 23

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“For the law of nations, or law of peoples, it goes without saying that it is not men forming a particular city who are considered under it, but that it is used by the assembled nations. Indeed, the political character is implanted in man, and he does not lead a solitary life, but seeks union and friendship with others, with whom he shares discussions and may, by all possible exchanges, procure the services and support necessary for his existence. This is what is proper to the law of nations […]”27.

Ius gentium is rooted in natural sociability, and its purpose is the common utility of men. It is clear here that Connan is referring to natural sociability as theorized by ancient philosophers. Men cannot live for themselves, they need each other and their nature leads them to desire the company of others, whom Aristotle called animal politikon. And this frame, says Connan, can’t be closed by the walls of the city: “Given that nature makes man a being of desire, he tends more towards the society of peoples than a particular civil society”28. Again, Connan introduces a notion that became a theme through the ancient Stoics, and more precisely through Cicero, who conceived the universe as a civitas maxima, a large city-state common to all men, the lineaments of which are sustained by a natural universal law uncovered by reason. For Cicero, men found themselves united by “the alliance of all humankind (omne genus hominum sociatum inter se)”29, in the manner that “the Earth is like a universal city or city-state of men and of gods; each of us is a part of this world […]”30. However, the Stoic cosmopolitism theorized by Cicero developed a moral representation of the civil society of mankind.31 The unity of nature between men is essentially understood as generating a set of rights and duties between men. Connan translates this idea into political and juridical categories: “Those that are involved [under the ius gentium] are all governed by a singular and same law. [Indeed], [l]et us then start with the fact that men are connected by reason, and that right reason, called law, is common to them. Their common participation in the law means that in addition they are part of a community of law: those who take part in this law are also given a city-state. What follows is that this universal world can also be considered a 27

Ibid. “Cum sic, inquit [Paulus], hominis natura generate sit, ut habeat quiddam innatum quasi civile atque populare, quod Graeci politikon vocant. Quae Ciceronis interpretatione veram mihi videtur tradere rationem exponendi Aristotelis, ut ius politikon dicamus, non civile, quando ea vox Latinis ius legitimum sonat, sed ius gentium, aut populorum: quod scilicet homines non in civitatem, sed in populum congregati utuntur. Nam politikon istud quod insitum est homini, facit, ut ne vitam agat in solitudine, sed quaerat aliorum coetus et familiaritates, quibuscum sermones conferre, et ab quibus commerciorum usu caetera vitae adiumenta habere possit, quod proprium est iuris gentium, non ut legum se poenis obligari, et includi civitatum muris cupiat, ad quas res nos attraxit inuitos necessitas. Ut haec hominis natura hominum appetens, popularis sit potius quam civilis appelanda : cuius qui sunt participes, sunt autem omnes, uno et eodem iure gubernantur.”, Connan, Commentaries (Anm. 6), fo. 18. 29 Cicero, De legibus, I, XI, 31. 30 Cicero, De finibus, III, XX, 67. 31 On this point, see Thireau, Cicéron et le droit naturel (Anm. 10), p. 58. 28

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city […]. It is a single and complete authority to which mortals obey, which comes from human reason: this world is almost the Earth common to all, and must be a city-state”32.

According to Connan ius gentium is founded on the “cognatio inter omnes homines”33. The natural characteristic of ius gentium comes from the fact that since its first features are innate to the spirit of each individual, it is impossible to ignore it: “[Ius Gentium] is so called because its principles are innate, implanted in all men, and only in men. No one indeed may claim not to have certain knowledge of it if he exercises intelligently his judgment. This is why it takes its name from principles which are common to all peoples […].”34.

Men are part of a community of law which has its roots in “right reason”, which connects them beyond borders; meanwhile, this communicatio iuris is not interhuman in abstracto, but mediatised by their belonging to particular societies – which makes it a historical, and then evolutionary body of rights. The “earth common to all (totus orbis)” shared by all peoples has its foundations in the ius gentium and can then be described in the politically organized design of the city-state, of which the essential components are men divided into nations.

C. The ius gentium’s area of competences Connan’s theory of ius gentium unearthes a legal perspective that he shares with his contemporary, the Dominican monk Francisco de Vitoria. Without knowing each other and belonging to different cultures, both Connan and Vitoria at the same time forged the doctrine of ius gentium as law of mankind divided into gentes, partly natural, partly positive, and based on “right reason”.

32 “Ut haec hominis natura hominum appetens, popularis sit potius quam civilis appellanda : cuius qui sunt participes, sunt autem omnes, uno et eodem iure gubernantur. Nam ut hinc ordiamur, inter quos ratio, inter eosdem et recta ratio communis est, quae lex uovatur. Porro quibus est legis communio, iuris quoque communio est : at qui eodem iure participant, eiusdem habentur civitatis. Ex quo sit ut hic universus mundus una civitas existimetur esse. Et haec nostra urbs, omniaque quae in ea sunt […]. Cum enim unius et eiusdem imperiis cuncti mortales obtemperent, hoc est rectae rationi : mundus hic quasi communis omnium urbs et civitas sit oportet.”, Connan, Commentaries (Anm. 6), I, 6, fo. 18. 33 Ibid. 34 “Ius hoc gentium hominis est quam homo, plenus rationis et consiliis, et iam hominum societate implicatus. […] Eius autem quod gentium appellatur, insita sunt et ingenita principia omnibus quidem, sed tamen solis hominibus. Nemo enim non eius habet aliquam notitiam, si adhibere velit intelligendi consilium. Itaque nomem suum inuenit ex eo quod commune sit omnium gentium […].”, Connan, Commentaries (Anm. 6), fo. 14.

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I. Vitoria’s theory of the “public” ius gentium For Vitoria, men have a “natural right of partnership and communication”35 which confers upon them the ability to enter unconditionally into relationships with one another. Vitoria defends the idea that all men are members of the same community of law which connects them irrespective of their various regimes of membership: “The law of nations does not have the force merely of pacts or agreements between men, but has the validity of a positive enactment. The whole world, which is in a sense a commonwealth (totus orbis), has the power to enact laws which are just and convenient to all men; and these set up the law of nations. No kingdom may choose to ignore this law of nations, because it has the sanction of the whole world”36.

Its normativity has a binding force superior to that of separate nations because this totus orbis is more fundamental than they are. Indeed, it does not consider man from the angle of his particular life within a specific community, but from that of man in himself, sui generis. Ius gentium connects men as members of humanity. The strength of the legislation emanating from the human community divided into nations is thus more powerful than any one of its parts. From human solidarity arises a global community founded on the essential needs of the human being. It is endowed with an absolute authority, for the good of humanity, and has an inherent public authority able to choose a representative. Thus, the princes would have the right to punish another prince who brings harm to his people, because in so doing the latter violates the integrity of the human community. Likewise, if a war is beneficial to one State, but brings harm to the totus orbis, it justifies the intervention of other powers to prevent it.37 Indeed, as Vitoria states in this section, “any commonwealth is part of the world as a whole”. Vitoria’s attention focuses on the geopolitical implications of ius gentium. Its matter is to ensure the stability of the global community. He describes the capabilities that the ius gentium gives to princes and individuals to preserve the peace or attain a fulfilling human life.

35

Francisco de Vitoria, ‘On the American Indians’, in: Pagden, A./Lawrance, J. (eds.), Political Writings, Cambridge 1991, q. 3, a. 1 (§ 1), p. 278. 36 Vitoria, ‘On civil Power’, in: Political Writings (Anm. 35), q. 3, a. 4 (§ 21), p. 40. 37 Ibid., q. 1, a. 9 – 10 (§ 12 – 13), p. 21. For a developed argumentation of this point, see Wagner, De Indis: Die Philosophie, die Politik und das internationale Recht, in: Brieskorn, Norbert/Stiening, Gideon (Hrsg.), Francisco de Vitorias ‘De Indis’ in interdisziplinärer Perspektive, Stuttgart 2011, p. 162 – 164; Kristin Bunge, Das Verhältnis von universaler Rechtsgemeinschaft und partikularen politischen Gemeinwesen: Zum Verständnis des totus orbis bei Francisco de Vitoria, in: Bunge, Kristin/Spindler, Anselm/Wagner, Andreas (Hrsg.), Die Normativität des Rechts bei Francisco de Vitoria, Stuttgart 2012, p. 201 – 228.

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II. Connan’s theory of the “civil” ius gentium Connan has the same object in sight. We saw above that, for Connan, the authority of the totus orbis assured the binding force of ius gentium – an idea he shares with Vitoria. Meanwhile, rather than elaborating on its international public dimension, he formulates it in terms of international civil law. He develops more specifically its inter-human consequences. Connan sees its central importance in the different links of obligation conditioning inter-human relationships. One of his important reconfigurations of Roman law lies in his extension of situations governed by the law. To specify which kind of law would be applied in a given situation, the Romans had elaborated a threefold classification: people, things, and actions (personae – res – actiones). Connan dedicated the second book of his Commentaries to people, and the third and fourth books to things. Surprisingly at first, he needs five books to deal with actions. Indeed, he modified the scope of the third legal class by expanding the range of situations fit to be described as actiones. In Roman law, actiones meant obligationes in the strictest sense. The obligatio resulted from a tort or a contract, a form in which no absolute rights were implicitly contained. Connan changes the definition of actiones, giving it the general new meaning of law-creating legal acts.38 He thus extends the category of actiones to any situation that gives rise to a duty, like the acquisition of property and loans, marriage, last wills, and inheritance rights. In Connan’s meaning, those “civil acts” must be considered as part of ius gentium. They constitute its inter-personal or “private” dimension. They consist of all of the forms of contract to which men have recourse in their daily life, and that have been progressively established through the trade undertaken by different societies. Connan gives the example of the invention of money, which was introduced during the Trojan War to facilitate exchanges and, having shown its benefit, was subsequently adopted by all other peoples.39 The merchant contract had in this way instituted a new binding relationship between the members of different peoples. Likewise, the testamentary contract as a matter for peculiar civil law had shown its weaknesses when the heirs apparent (or goods inherited) were no longer localized in their native country. It had to be reformulated to feature among the norms of the law of nations, which now linked all inhabitants of the Earth.40 In doing so, Connan enlarges greatly the category of civil actions governed by law, the actiones being not only the legal actions, but also all legal facts in general.41 Ius

38

Connan, Commentaries (Anm. 6), I, 5, fo. 14. Ibid., I, 6, fo. 17. 40 See I, 6, fo. 16 for the argumentation, and the whole book IX dedicated to testaments. 41 As noted by Piano Mortari, “Connano dà un senso assai largo all’espressione actions, non comprende sotto di esse solo le azioni giuridiziarie ma I fatti giuridici in generale, tutto il vasto campo contrattuale, anche la sfera di attic he come il matrimonio e il testament sono 39

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gentium comprises all the obligations and possibilities voluntarily imposed or offered to men living in civilized societies (pacts, contracts, transactions, donations, stipulations, marriage, and so forth), with the exception of those which explicitly come under peculiar civil law. Connan considers the actio as a procedural right granted for the protection of “subjective” rights resulting from res. Connan thus provides the first exhaustive account of legal connections linking men when they interact within the one same nation or with foreigners. III. Interim conclusion: historical perspective If we were to briefly summarize Connan’s theory of ius gentium, we could say that different peoples originating from different human communities established between themselves a common law, which ensured their freedom and allowed them to contract legally according to their utility. It materialized in the form of different obligations or different private contracts, such as testaments or commercial transactions. The law of nations covers the entirety of legal connections linking different peoples. However, this legal space does not dismiss the ensemble of positive institutions or rules communally adopted by human societies. It is not relative to simple commonalities between the legislations of different peoples, as found, for example, in the ideas of Luis de Molina, Francisco Suarez42 or Gabriel Vazquez, who argued that ius gentium was intrinsically a positive right.43 For Connan, it is, much more fundamentally, a matter of a rationally justified connection. It is established between men as rational beings. In the first instance, Connan explicitly describes its principles as being innate to men. The norms of ius gentium are extracted by men, but they follow the guide of right reason; human laws are not necessarily contingent. Secondly, their nature is essentially rational, since man must exercise his reason to articulate them. These rules must first be drawn by the different peoples, clarified, and presented in a legal form. Then the peoples must decide, intentionally, to recognize them and ensure their normative value. The theory of ius gentium developed by Connan is from end to end an actualization of the principle of rationality inherent in humanity, in the specific scope of the riconducibili alla loro creazione, al volere degli uomini che vivono in una società civile.” (Anm. 5, p. 528). 42 Francisco Suarez distinguishes two kinds of ius gentium. The first (ius inter gentes) is “universal, by virtue of international habits and customs, insofar as the peoples maintain, in their mutual relations, a form of association and exchange” (Tractatus De legibus ac Deo Legislatore in decem libros distributis [1612], Neapoli, 1877, II, IXI, 5, p. 155). It is an international law, which means that it only relies the states to each other, not the peoples. The second kind of law of nations (ius intra gentes) is “a law of nations that is only common because multiple individual nations agree to recognise a particular law” (ibid.). It only corresponds to a certain number of civil law rules that are ostensibly the same in all societies. 43 On this point, see Annabel Brett, Changes of State. Nature and the limits of the city in early modern natural law, Oxford 2011, p. 83 – 89.

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different interactions that bind men together. Its binding power is acquired through the rational dialogue engaged in by peoples conscious of the fundamental importance of a legal regulation of their interactions.44

D. General conclusion Connan’s “Commentarii iuris civilis” is a perfect illustration of the systematization of law achieved through legal humanism. Connan is the first to present the legal principles in a systematic way. Furthermore, the extension of the scope of situations governed by law allows him to apprehend all parts of reality, a capacity reinforced by its ontological status, which confers on the law the property to describe the order of temporal reality in itself. His method initiates a new legal doctrine dominated by reason. It is in the rational nature of man that the legal axiomatic takes root, and no longer in the nature of things. In the systematic project Connan realizes, there is the idea that it is possible to formalize the law of mankind and to go back to a fundamental legal unity because it falls within a unitarian rationality. In regard to the tradition of law, “There is a radical change of standpoint here, insofar as what is considered is the idea of the rational nature of law, and consequently the idea that reason is the instrument which ultimately enables to judge the rational character of the order adopted for its presentation”45. This new methodological rule means that practically all human interactions can thus find themselves translated into the vocabulary of law, and because right reason is a human attribute, every man can have access to it and know how to behave fairly with one another. The impact of Connan’s interpretation of ius gentium was immense in his time. It inspired a large majority of subsequent jurists, such as François Hotman (who explicitly recognized his influence), and its richness is illustrated by the different approaches it has opened up. Some of them went further along this line of research (François Douaren, François Baudoin and Hugues Doneau), meanwhile abandoning the idea of ius gentium as “quasi civil law” to fall back entirely on natural law.46 Others have delved deeper into the idea of ius gentium as common law to all nations,

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“Quod ergo de iure gentium diximus, sic accipiendum est, ut non quicquid ab uno populo excogitatum est et repertum, id si ab omnibus inde populis imitatione potius et exemplo quam naturali ratione fiat, ius gentium appelletur : sed quod postquam cognitum est, statim ab omnibus certo quodam naturae iudicio, non modo ut factum, sed etiam ut probe, iuste et in communem omnium utilitatem commode factim esse comprobetur”, Connan, Commentaries (Anm. 6), I, 6, fo. 17. 45 Marie-Dominique Couzinet, Histoire et méthode à la Renaissance. Une lecture de la Methodus ad facilem historiarum cognitionem de Jean Bodin, Paris 1996, p. 115. 46 Scattola, Das Naturrecht (Anm. 10), p. 163 – 179; Brett, Changes of State (Anm. 43), p. 82.

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such as Bodin47 forging the idea of ius universalis, and Althusius, who praised him for having so successfully established the difference between “aequum naturale” and “legitimum aequum”48. For Bodin, as for Althusius, universal law expresses the rational power and imposes itself, immutable, beyond the contingency of time and place, as the necessary rule of the organization of societies. For this understanding they are both indebted to Connan.

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„Jure civili omnia regis sunt“. Schutz des Privateigentums vor der Enteignung in der Frühen Neuzeit Von Mathias Schmoeckel, Bonn

A. Einleitung In meiner Untersuchung zum „Recht der Reformation“ vertrat ich die These, dass das Recht der Frühen Neuzeit weit über Kirchen- und Eherecht hinaus konfessionell bedingt und unterscheidbar war. In meinen weiteren Versuchen, die Grenze dieser These auszutesten, beschäftigte ich mich zuletzt mit dem Recht, frei Testamente aufzusetzen, was ich in vollem Umfang zuerst bei Martin Luther beobachtete.1 Dabei zeigte sich, dass die Juristen der verschiedenen Konfessionen die dogmatische Zuordnung des Erbrechts zum Eigentum in jeweils eigener Weise vornahmen: - Bei den Katholiken wurde das Eigentum zum ius civile gerechnet, also nicht nur ursprünglich zum römischen Recht, sondern auch zum jederzeit veränderlichen Recht jeden Staates. - Bei den Lutheranern wurde das Eigentum der Gestaltungsmacht der Fürsten dadurch entwunden, indem es zum Teil des ius gentium erklärt wurde, also einem Recht, das alle Nationen miteinander verbindet und damit nicht unilateral verändert werden kann. - Bei den Calvinisten schließlich wurde mit gleicher Geschlossenheit das Eigentum als Teil des ius naturae gewertet. Damit war es Teil der Schöpfung und allein von Gottes Willen abhängig, jedenfalls aber unabänderlich für Menschen. Obgleich sich hier konfessionell geprägte Muster erkennen lassen und eine solche Einordnung schon fast als Lackmustest für die religiöse Einstellung gewertet werden kann, zeigen sich im Hinblick auf die Bedeutung des Erbrechts für die Gesellschaft und den Staat ganz unterschiedliche Wahrnehmungen, die weniger von der Konfession, sondern eher von der Wirtschaftsordnung einer Nation abhingen. Während Kaufmannsgesellschaften das freie Testament schätzten, sahen aristokratische Ord1 Verf., Das Recht der Reformation, Tübingen 2014; ders., Luther’s Last Will and the Triumph of Testamentary Freedom, in: Rönning, Ole-Albert/Vogt, Helle/Sigh, Helle Møller u. a. (Hrsg.), Donations & Inheritance – Strategies, Relations and Historical Development from Late Roman Period until Modern Times, Oslo 2017, 179 – 221.

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nungen darin eher eine Gefahr für den Verbleib des Reichtums in der Familie. Sachsen und Frankreich standen dann nebeneinander und gegenüber einer Front von Lübeck und England. So zeigen sich doch deutliche Grenzen des konfessionellen Einflusses bzw. der Bedeutung der Dogmatik. Es lohnt sich daher, im Bereich der Zivilrechtsordnung noch etwas weiter zu fragen, ob man weiter konfessionell bedingte Unterschiede in der Betrachtung des Eigentums feststellen kann. Nie wird das Eigentum dabei so wichtig wie in der Frage, wann man es dem Einzelnen wegnehmen darf. Die Zulässigkeit der Enteignung könnte also ein passendes Thema darstellen, um weiter nach dem konfessionellen Einfluss zu suchen. Dafür spricht, dass ich in einer früheren Untersuchung zeigen konnte, dass die dogmatische Entwicklung der Enteignungslehre bis zum Ausklang der hochmittelalterlichen Lehre, etwa bei Felinus Sandaeus (1444 – 1503), noch nicht zu einer festen dogmatischen Lehre zur Enteignung gelangt war.2 Sicher gab es die Vorstellung, dass der Fürst nur mit gutem Grund und evtl. gegen eine Zahlung das Eigentum eines Untertan an sich nehmen durfte. Von einer einheitlichen Lehre über mehrere Autoren hinweg kann jedoch keine Rede sein. Weder gab es eine genaue Beschreibung für die Voraussetzungen für den Eingriff noch für die Entschädigungsleistung. Schon die Frage, wer enteignungsberechtigt sei, der Kaiser oder bereits jegliche Obrigkeit, wurde ganz unterschiedlich dargestellt. Eine einheitliche Lehre entwickelte sich der allgemeinen Auffassung nach erst nach und nach mit Grotius. Vorbild für die Rechte des Königs war die Darstellung in 1Sam 8. Dort warnte Samuel das Volk Israel, das einen König einforderte, davor, was es tatsächlich von diesem zu erwarten habe: nämlich vor allem die Wegnahme der Kinder für das Heer sowie von Hab und Gut. Tatsächlich war auch im römischen Rechtskreis die allgemeine Vorstellung vorhanden, dass alles (Land) dem König gehöre.3 Mit der Konstitution „Bene a Zenone“ von Justinian schien sich diese Vorstellung zu wiederholen.4 Gerade die Autoren der Frühen Neuzeit griffen 1Sam 8 immer wieder auf und versuchten, ihre Lehre mit einer passenden Interpretation dieser Stelle zu verbinden.

2 Verf., Omnia sunt regis: Vom allgemeinen Eigentum des Königs zur Enteignung des Bürgers. Ein Überblick zur Geschichte der Enteignung bis zum 18. Jahrhundert, in: Depenheuer, Otto/Shirvani, Foroud (Hrsg.) (im Erscheinen); Gigliola di Renzo Villata, Diritto canonico, richezza e povertà nell’opera di Felino Sandei, in: v. Mayenburg, David u. a. (Hrsg.), Der Einfluss des kanonischen Rechts auf die europäische Rechtskultur, Bd. 5: Das Recht der Wirtschaft, (Norm und Struktur, 37.5), Köln/Weimar/Wien 2016, S. 145 – 171 (153). 3 Seneca, De beneficis 7, 4.2, in: ders., Moral Essays III, ed. Basore, J. W., vol. 3, London/ Cambridge Mass.1958, S. 464: „Iure civili omnia regis sunt, et tamen illa, quorum ad regem pertinet universa possessio, in singulos dominos discripta sunt, et unaquaque res habet possessorem suum.“ 4 C. 7.37.3 (a.531): „cum omnia principis esse intellegantur“.

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Die frühneuzeitliche Argumentation im Umgang mit 1Sam 8 wurde bereits umfassend in der Dissertation von Anette Weber-Möckl dargestellt.5 Mit detaillierter Auswertung frühneuzeitlicher Schriften wurde zwar nicht die Enteignung, aber die daraus folgende Herrschaftsauffassung dargestellt. Gerade die juristischen Fragen ließ diese historische Untersuchung damit außen vor. Umso deutlich führte uns Robert von Friedeburg in der letzten Tagung in Wittenberg vor Augen, welche Herrschaftsauffassung für die lutherischen Fürsten dominierte. Ich knüpfe an diese Werke an, dennoch gilt mein Augenmerk der Enteignungslehre. Damit in Verbindung steht unmittelbar das Thema der Tagung, nämlich die Frage nach dem Widerstandsrecht. Dieses bildet gleichsam die Kehrseite meiner Fragestellung. Soweit ein Enteignungsrecht besteht, handelt der Fürst nicht widerrechtlich. Er ist kein Tyrann und es stellt sich nicht die Frage nach einem legitimen Widerstand. Zum Zweck der klareren konfessionellen Zuordnung beschränke ich mich weitgehend auf Autoren des 16. bis etwas über die Mitte des 17. Jahrhunderts hinaus. Zunächst sollen dabei die Profile der drei beherrschenden protestantischen Theologien dieser Zeit vorgestellt werden, um die Juristen in das konfessionelle Bild einordnen zu können.

B. Vorgaben der Reformatoren I. Luther Nur der Vollständigkeit halber sei kurz daran erinnert, dass der Fürst nach den Vorstellungen Luthers eine umfassende Macht über sein Volk hatte.6 Der Fürst sei als Gesetzgeber und Richter dafür verantwortlich, die Straftäter abzuwehren und zu bestrafen. Doch den Menschen sah er als verderbt an, der Rechtsordnung schrieb er keinerlei Aufgabe zur Verbesserung der Menschen zu. Daher konnte er den Fürst mit einem Storch gleichsetzen, der durch das Fressen der Frösche für die Ruhe im Teich sorge.7 „Fresch muessen storck haben.“

Übergriffe des Fürsten sollten die Bevölkerung in Schach halten. Der König war nötig, doch bot er keine Gewähr für Gerechtigkeit. Nur der Glaube konnte für Luther zur Gerechtigkeit führen. Konsequenterweise konnte auch eine hoheitliche Regierung keinen äquivalenten Ersatz bieten. Somit war der Wunsch nach weltlicher Ob5 Anette Weber-Möckl, „Das Recht des Königs, der über euch herrschen soll“. Studien zu 1Sam 8, Berlin 1986, S. 11 ff. Für die frühere Zeit vgl. Diego Quaglioni, L’iniquo diritto. „Regimen regis“ e „ius regis“ nell’esegesi di I Sam.8,11 – 17 e negli „specula principum“ del tardo Medioevo, in: De Benedictis, Angela (Hrsg.), Specula principum, (Ius Commune Sonderhefte, 117), Frankfurt a.M. 1999, S. 209 – 242. 6 Verf., Das Recht der Reformation (Anm. 1), S. 146 ff. 7 Luther, Von welltlicher Uberkeytt wie weyt man yhr gehorsam schuldig sey [1523], WA 11, S. 245 – 280, 268 Z.18.

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rigkeit keine Sünde.8 Doch 1Sam 8 war für Luther der adäquate Ausdruck dessen, was der Mensch von ihr zu erwarten hatte.9 Wer also den König mit Gottes Herrschaft gleichsetze, sei verdammt.10 Zu den Charakteristika und Rechten des Königs gehöre es genau, sich das Leben und Eigentum der Untertanen nach Belieben zu nehmen.11 Von einer Gewährleistung des Eigentums konnte hier nicht im Ansatz die Rede sein. II. Melanchthon Melanchthon setzte sich als erster der Reformatoren mit der Fragestellung auseinander.12 Er wies dem Fürsten immerhin die Aufgabe zu, über beide Tafeln Mose zu wachen. Daher sei es seine Aufgabe, Gottes Befehle auszuführen und Missständen in der Gesellschaft sowie der Kirche abzuhelfen.13 Mit dem 7. Gebot gehörte auch die Aufsicht über die Eigentumsordnung zu den Aufgaben des Fürsten. Die 10 Gebote waren für Melanchthon direkt von Gott verkündete, daher göttliche Gesetze, während er aus der Natur Normen wie „neminem laedere“ ableitete.14 Daraus folgerte Melanchthon u. a. die Notwendigkeit des Privateigentums im Gegensatz zum Gemeineigentum.15 Eigentum zu haben und ordentlich zu brauchen, wurde damit „ein recht, gottgefellig werk“.16 Melanchthon warnte die Menschen gleichzeitig, die Gleichheit der Menschen und die Gebote der Mildtätigkeit einzuhalten. Doch mit der Anerkennung dieser Freiheitssphäre des Menschen ging einher die Wertschätzung der Gesetze, die

8 So Martin Luther, Weihnachtspostille 1522: Das Euangelium am tage der heyligen drey kuenig, WA 10.I.1, S. 599 Z.20. 9 Martin Luther, Predigten 1522, WA 10. III: Am fyerden Sonnentag, als Jhesum überfielen die sünder, S. 219 Z.17. 10 Martin Luther, Vorlesungen über die Kleinen Propheten [1524/26], WA 13, S. 453 Z.10 f. 11 Martin Luther, Predigten [1529], WA 29, S. 599a Z.17. 12 Dazu s. Verf., Omnia sunt regis (Anm. 2). 13 Philipp Melanchthon, De officio principum, quod mandatum Die praedipiat eis tollere abusus Ecclesiasticos [1539], CR 16, 85 – 105 = Über das Amt der Fürsten, Gottes Befehl auszuführen und kirchliche Mißbräuche abzustellen, in: Beyer, M. u. a. (Hrsg.), Melanchthon deutsch, Leipzig 1997, Bd. 2, S. 199 – 225. 14 Philipp Melanchthon, Loci Communes 1521, ed. Pöhlmann, H.G., Gütersloh 1997, 3.22, 104 und 3.71, S. 118. 15 Melanchthon, Loci Communes 1521 (Anm. 14), 3.30, 106; zu diesem Kontext s. auch Isabelle Deflers, Lex und Ordo. Eine rechtshistorische Untersuchung der Rechtsauffassung Melanchthons, (Schriften zur Rechtsgeschichte, 121), Berlin 2005, S. 257 f. 16 Philipp Melanchthon, Heubtartikel Christlicher Lere, ed. Jentt, R./Schilling, J., Leipzig 2012, „vom gottlichen Gesetz“, S. 220 Z.5 f.

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solche Institutionen begründeten, sowie die Betonung der Pflicht der Herrscher, diese Gesetze zu beachten. Das führte Melanchthon 1542 sehr programmatisch aus.17 „Deus enim vult et ipsos gubernatores teneri legibus, non vult caecas eorum cupiditates dominari, vult legibus civium vitam, corpora, fortunas, connubia munita esse.“

Das Eigentum der Bürger sah Melanchthon im göttlichen, natürlichen und Landesrecht begründet.18 Insofern sei es auch klar vom Eigentum des Landesherrn getrennt. Das Eigentum der Untertanen sei wie die Strafe oder das Gericht ein Teil der göttlichen Ordnung. Die Fürsten sollten daher auch berücksichtigen, dass sie sich nicht das Eigentum der Untertanen nehmen dürften, weil sie sonst gegen das 7. Gebot verstoßen würden.19 Er führte darauf biblische Beispiele unangemessener Bereicherung durch Könige auf Kosten der Untertanen an. Den Räuber Ahab und die Mörderin Jesabel habe Gott daher erschlagen lassen (1Kön 22.34 – 38). Dagegen ließe sich jedoch 1Sam 8 anführen, wonach es gerade das Recht der Könige sei, Leib und Gut der Untertanen zu fordern. Doch folgerte er aus dieser Stelle nur, dass solche Forderungen des Staates alleine zum Schutz des Gemeinwesens zulässig seien. Also zur Verteidigung gegen die äußeren Feinde und in ähnlichen Fällen müsse jeder sein Leben riskieren und Vermögen hingeben.20 Dies entsprach der allgemeinen Pflicht der Untertanen, der Obrigkeit Tribut und Steuer zu schulden.21 Doch eigentlich war der Mensch dem Fürsten im Ganzen unterworfen, also mit Vermögen und seinem Leib, also der Arbeitspflicht und v. a. der Pflicht zur Mitwirkung im Kriege.22 Der Mensch schulde der Obrigkeit Ehrerbietung. Dazu gehöre es, die Herrschaft als Werk und Regiment Gottes zu achten und einzuhalten.23 Dafür sei Gott zu danken. Schließlich müsse man Geduld mit der Obrigkeit haben und dürfe sich nicht gegen sie empören.24 Man müsse den Fürsten ihre Fehler solange verzeihen, wie sie nicht zu Tyrannen würden.25

17 Philipp Melanchthon, De aequitate et iure stricto [1542], CR 11, S. 550 – 555, 554 (= übers. von Michael Beyer, Billigkeit und strenges Recht, in: Melanchthon Deutsch, Bd. 1, Leipzig 1997, S. 170 – 177, 175). 18 Melanchthon, Heubtartikel Christlicher Lere (Anm. 16), „von Weltlicher oberkeit“, S. 468 Z.19. 19 Melanchthon, Heubtartikel Christlicher Lere (Anm. 16), „von Weltlicher oberkeit“, S. 468 Z.24 – 26. 20 Melanchthon, Heubtartikel Christlicher Lere (Anm. 16), „von Weltlicher oberkeit“, S. 468 Z.7 – 13. 21 Melanchthon, Heubtartikel Christlicher Lere (Anm. 16), „von Weltlicher oberkeit“, S. 468 Z.17. 22 Melanchthon, Heubtartikel Christlicher Lere (Anm. 16), „von Weltlicher oberkeit“, S. 469 Z.22 – 24. 23 Melanchthon, Heubtartikel Christlicher Lere (Anm. 16), „von Weltlicher oberkeit“, S. 469 Z.31 ff. 24 Melanchthon, Heubtartikel Christlicher Lere (Anm. 16), „von Weltlicher oberkeit“, S. 470 Z.30 ff, 471, 10 ff.

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III. Calvin Wie bei Melanchthon findet sich die Behandlung der weltlichen Obrigkeit am Ende der Ausführungen, hier der „Institutio christianae religionis“. Calvin baute auch inhaltlich auf Melanchthon auf, ging jedoch noch einen Schritt weiter. Er betonte, dass jede Obrigkeit von Gott stamme26 und daher Gehorsam der Untertanen verlangen dürfe. Dies gelte auch für den ungerechten Herrscher. Doch in der für ihn typischen Manier entwickelte er einen Pflichtenkanon, der beide Seiten verpflichtete. Auch die Obrigkeit sollte Pflichten gegenüber ihren Untertanen haben.27 Jedem sollte schließlich entsprechend der eigenen Stelle die daraus wachsende Verantwortung gegenüber Gott zukommen.28 Zu den Pflichten der Obrigkeit gehöre die Verteidigung beider Tafeln Mose, also auch der zweiten Tafel. Dazu gehöre unter dem 7. Gebot die Pflicht, das Hab und Gut der Menschen zu achten. Nach dem Prinzip, dass die Grundlage von allem eine gute Regierung sei,29 musste der Fürst hier mit Moderation vorgehen. Wie schon Melanchthon entwickelte Calvin das Verhältnis von Untertan und Fürsten anhand der Themen Krieg, Steuer und Eigentum. Selbstverständlich stehe dem Fürsten neben dem Recht zur Kriegsführung auch das Recht der Steuererhebung zu.30 Doch sie dürften das Eigentum der Untertanen sich nicht persönlich zuführen, vielmehr müsse es Eigentum des ganzen Volkes werden.31 Dabei dürften die Fürsten nicht die Armen berauben und sich nichts mit Gewalt nehmen.32 Die Fürsten sollten bedenken, dass Reichtümer des ganzen Volkes nur Hilfsmittel für die öffentliche Not sein sollten. Ihnen käme daher eine Rechenschaftspflicht für die eingenommenen Güter zu. Aus den gegenseitigen Pflichten des neuen Bundes mit Gott resultierten nicht nur eigene, individuelle Pflichten, sondern als Kehrseite auch individuelle Freiheitsrechte,33 die allerdings mehr in einem theologischen als einem rechtlichen Sinne zu verstehen sind.

25 Melanchthon, Heubtartikel Christlicher Lere (Anm. 16), „von Weltlicher oberkeit“, S. 472 Z.2 ff. 26 Jean Calvin, Institutio christianae religionis [1559], in: ders., Opera selecta, ed. Barth, P./Niesel, G, 3. Aufl. München 1974, Bd. 5, IV.20 n.4, S. 474 , dazu näher Josef Bohatec, Calvins Lehre von Staat und Kirche mit besonderer Berücksichtigung des Organismusgedankens, Breslau 1937 (2. Reprint Aalen 1968), S. 93 ff. 27 Calvin, Institutio christianae religionis [1559] (Anm. 26), IV.20 n.29, S. 499. 28 Klar bei Jean Calvin, Institutions de la vie chrestienne [1541], c.XVII, vol.4, S. 295. 29 Calvin, Institutions de la vie chrestienne [1541], c.XVII, vol.4, S. 295. 30 Calvin, Institutio christianae religionis [1559] (Anm. 26), IV.20 n.11 und 13, S. 483/485. 31 Calvin, Institutio christianae religionis [1559] (Anm. 26), IV.20 n.13, S. 485. 32 Calvin, Institutio christianae religionis [1559] (Anm. 26), IV.20 n.9, S. 479 f. 33 Bohatec, Calvins Lehre von Staat und Kirche (Anm. 26), 94, S. 97; als Grund- und Freiheitsrechte bei John Witte Jr., The Reformation of Rights. Law, Religion, and Human Rights in Early Modern Calvinism, Cambridge 2007, S. 57 f.

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Dabei maß Calvin dem individuellen Umgang mit Eigentum große Bedeutung zu. Der materielle Erfolg oder Misserfolg selbst sollte nichts über den Menschen aussagen. Vielmehr sollte sein Umgang mit Macht und Besitz beweisen, ob dieser der christlichen Lehre entsprechend zu leben vermochte. Besitz und Verantwortung waren daher vor allem eine Aufgabe und eine Last, die der Staat dem Einzelnen nicht nehmen durfte. Die Zuweisung durch Gott dürfe der Mensch nicht in Frage stellen, gerade weil der Rechtsinhaber sich der damit verbundenen Prüfung stellen sollte.34 Die gegenseitigen Rücksichtpflichten der Untertanen gegenüber den Härten der Regierung und der Obrigkeit gegenüber den Belangen der Bevölkerung entwickelte er näher in seinen späten Predigten zu 1Sam 8.35 Hier stellte er u. a. seine Auffassung dar, dass die Könige nur als Vertreter Gottes zu den ersten Dienern des Staates ernannt würden. Indem das Volk den König erhalte, verliere es mit der Freiheit ein unschätzbares Gut.36 Doch natürlich gehörte es zu den vordringlichen Rechten des Königs, über die Person und das Eigentum seiner Untertanen disponieren zu können. IV. Römisch-katholische Juristen Auf der Seite römisch-katholischer Autoren sollen nicht nur spanische und flämische, sondern auch jene Autoren gesammelt werden, die sich nicht der Reformation anschlossen. Wegen der regionalen Besonderheiten ist es angezeigt, hier nach den Ländern vorzugehen. In Italien finden sich allenfalls kurze Hinweise auf das Enteignungsrecht der Fürsten, das kaum angezweifelt wird. Maro Antonio Natta von Asti (†1568) stellte fest, dass das Eigentum nicht nach Natur- oder Völkerrecht begründet sei, sondern dem ius positivum angehöre, worüber der Fürst seine iura imperii ausübe.37 Recht lapidar stellte bereits Philippus Decius (1454 – 1535) fest, dass der Fürst bzw. der Staat ex causa sich das nehmen dürfe, was „mein“ sei.38 Der Venezianer Marco Antonio Peregrini (1530 – 1616) hielt dagegen fest, dass sich der Fürst private

34 Dazu näher – mit weiteren Nachweisen – Verf., Die Gewährleistung der Freiheit des Einzelnen als Staatszweck nach Calvin, in: de Wall, Heinrich (Hrsg.), Reformierte Staatslehre in der frühen Neuzeit, (Beiträge zur Politischen Wissenschaft,), Berlin 2013, S. 21 – 50. 35 Jean Calvin, Homilia 27 zu I Sam 8, (Opera Calvini, 29), CR 57, 534 – 546; hierzu bereits Gisbert Beyerhaus, Studien zur Staatsanschauung Calvins, Berlin 1910 (Reprint Aalen 1973), 122 f.; erneut David W. Hall, The Genevan Reformation and the American Founding, Lanham etc. 2003, S. 109 ff. 36 Jean Calvin, Homilia 27 zu I Sam 8, Opera 29 CR 57, Braunschweig 1857, 544: „inaestimabile bonum“; hierzu s. bereits näher Hall, The Genevan Reformation (Anm. 35), S. 109 ff. 37 Marco Antonio Natta, Consilia sive Responsa, Lyon 1558, cons. 367, 47 ff. n.7 f. Zu ihm vgl. Stefano Rampone, Ricerche sul diritto successorio nei ,Consigli‘ del giurista Marco Antonio Natta, Turin 1991 (war mir leider nicht zugänglich). 38 Philippus Decius, De Regulis iuris, Köln 1598, S. 93 n.3.

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Dinge für den Staat nur dann zunutze machen dürfe, wenn er dafür zahle.39 Als Herr im Staat habe er wie ein verkörperter Gott die Rechte über seine Untergebenen. Gleichwohl dürfe er ihr Eigentum nicht ohne Grund nehmen, es sei ein ius quaesitum, das zwar durch Zivilrecht erworben, dennoch durch ius gentium geschützt sei.40 Man sieht daran, wie unterschiedlich doch die Wertungen ausfallen konnten. In Freiburg verlangt Ulrich Zasius (1461 – 1535) nur, dass eine „urgens publica utilitas“ vorliege und die Situation zugunsten der Enteignung eindeutig sein müsse, weder die plenitudo potestatis des Fürsten noch gesichertes Wissen um die Umstände reiche dafür aus.41 Andreas Gaill (1426 – 1587) vertrat dagegen die Auffassung, dass der Fürst bereits ex certa scientia die höchste Macht zur Enteignung besitze, denn er habe alles Recht „in seiner Brust“.42 Während hier von der möglichen Kompensationspflicht gar nicht gehandelt wurde, sah der Kanonist Anaclet Reiffenstuel (1641/2 – 1703) nur die Möglichkeit eines Zwangskaufs, sofern es für einen Straßenbau, eine Schule oder einen Palast notwendig war.43 In Frankreich führte die Lehre Bodins dazu, dass die Macht des Fürsten stärker in den Vordergrund gestellt wurde. Er sah in der fehlenden Bindung überhaupt erst die Voraussetzung einer wahren königlichen Staatsmacht.44 Natürlich sollte auch nach Bodin das Naturrecht die Fürsten zur Beachtung des Eigentums ihrer Untertanen zwingen.45 Hinsichtlich der Enteignung schloss sich Bodin der Lehre der Konsiliatoren seit Bartolus an, indem er einige Voraussetzungen forderte.46 Für das Wegnahmerecht müsse es einen Grund geben, der „juste & raisonnable“ sein müsse und der Form des Kaufs, Tauschs oder der legitimen Konfiskation entspreche.47 Etwas lapidarer, aber auch wenig originell, stellte Charles DuMoulin (1500 – 1566) daher fest, der Fürst habe kein Enteignungsrecht, wenn nicht der Fall einer Notwendigkeit vorliege.48 Pierre Grégoire von Toulouse (1540 – 1597) betonte die Stellung des Königs 39

Marcus Antonius Peregrini, De iuribus et privilegiis fisci …libri septem, Köln 1588, S. 10 n.27. 40 Peregrini, De iuribus et privilegiis fisci, Colonia Agrippina 1663, lib.5, n.59, S. 620. 41 Ulrich Zasius, Responsorum iuris, siue Consiliorum duos complectens libros, Lyon 1600 (Reprint Aalen 1966), (Opera, 6) vol.2 cons.10, S. 411 n.7. 42 Andreas Gaill, Practicarum observationum, Köln 1721, Lib.2 obs.56 n.15, 397; Lib.2 obs.55, S. 394 n.5. 43 Anaclet Reiffenstuel, Jus canonicum universum, Macerata/Venedig 17866, Bd. 3, III.17 § 2, S. 197 n.34. 44 Jean Bodin, Les six livres de la Republique, Paris 1583 (Reprint Aalen 1961), livre I Chap. VIII: De la souveraineté, 122 ff., S. 128 f. 45 Jean Bodin, De la souveraineté (Anm. 44), S. 10 und 156. 46 Ausführlich Ugo Nicolini, La proprietà, il principe e l’espropriazione per pubblica utilità. Studi sulla dottrina giuridica intermedia, Milano 1952, 244 ff.; Kenneth Pennington, The Prince and the Law 1200 – 1600, Berkeley 1993, S. 153 ff., 281. 47 Bodin, Les six livres (Anm. 44), S. 156 f. 48 Carolus Molinaeus, Commentarii in Pariesiensis totius Galliae supremi Parlamenti consuetudines, Genf 1613, Tit.1 des fiefs, § 1 Gl.5 in verb. Le Fief, n.66, S. 93.

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als vicarius Dei, bei dem die Kenntnis allen Rechts vermutet wurde. Das ursprünglich dem Kaiser zustehende Recht der Enteignung sei darin begründet, dass der öffentliche dem privaten Nutzen vorginge.49 Dagegen betonte Pierre Charron (1541 – 1603) schließlich nur die moralische Pflicht, dass der Fürst seine eigenen Gesetze und Versprechungen einhalten müsse wie der Vater in seiner Familie.50 Francisco de Vitorias (1483 – 1546) Eigentumslehre wurde schon öfter analysiert. So soll er den Bruch mit der älteren Lehre herbeigeführt haben, indem er sich stärker auf die Denkfigur des subjektiven Rechts stützte.51 Er verwies immerhin zunächst auf das ursprüngliche Gemeineigentum aller Menschen.52 Mit Begründung des privaten Eigentums dürfe das Eigentum jedoch nur noch mit dem Konsens des Betroffenen oder durch Befehl des Königs in Fällen extremer Not durchgeführt werden.53 1Sam 8 spielte in diesen Lehren keine Rolle. Vielmehr verwies de Vitoria nur auf 1Sam 10.1, wonach der König nicht als Priester ernannt worden sei. Es wäre daher eine Anmaßung, selbst den Kaiser als Würdenträger der Kirche zu betrachten und nicht nur als deren Sohn.54 In seltener Ausführlichkeit beschäftigte sich Bartolomé de las Casas (1484/5 – 1566) mit dem Thema. Er setzte sich dabei besonders mit der Konstitution „Bene a Zenone“ auseinander.55 Stärker als die von ihm analysierte Literatur wollte er das Recht des Fürsten, das Eigentum der Untertanen zu nehmen, beschränken. Hostiensis liege daher falsch, wenn er das Eigentum ganz dem Herrscher zuordnen wolle.56 „Omnia sunt principum“ bedeute vielmehr, dass die Fürsten ihre Untertanen und deren Sachen regieren dürften (ad gubernandum), nicht jedoch, dass sie sich

49 Petrus Gregorius Tholosanus, Syntagma iuris universi, atque legum pene omnium gentium, Frankfurt 1599, lib.7 c.20 n.40 ff., 34 – 55.56 ff., oder lib.9 c.1 n.7 ff., oder princeps omnes leges scire praesumitur, 47.20.13, 981 oder Princeps vicarius Dei, 35.1.1., 635 oder Principis ius de rebus subditorum disponere 25.10.2, 502 = Ius proprie Imperatoris est, res aliorum pro nutu & arbitrio distrahere: vel nullo […] vel modico dato pretio […]. 50 Pierre Charron, De la sagesse [1604], Paris 1986, III.16, n.3. 51 Paolo Grossi, La proprietà nel sistema privatistico della Seconda Scolastica, in: Grossi, P. (Hrsg.), La seconda scolastica nelle formazione del diritto privato moderno, Milano 1973, S. 117 – 222; Raúl González Fabre, Justicia en el mercado. La fundamentación de la ética del mercado según Francisco de Vitoria, Caracas 1998, S. 379; Daniel Deckers, Gerechtigkeit und Recht. Eine historisch-kritische Untersuchung der Gerechtigkeitslehre des Francisco de Vitoria (1483 – 1546), Freiburg i.B./Wien 1991, S. 240. 52 Francisco de Vitoria, Commentarios a la Secunda secundae de Santo Tomàs, ed. R.P. Vicente Beltrán de Hereidia OP, Salamanca 1934, zu IIa IIae qu.62 art. 1, n.18, S. 74. 53 de Vitoria, Commentarios (Anm. 52), zu IIa IIae qu.62 art. 1, n.27, S. 81. 54 Francisco de Vitoria, De potestate ecclesiae I, ed. Horst, U./Justenhoven, H.-G./Stüben, J., (Theologie und Frieden, 7/8), Bd. 1, Stuttgart 1995, n.10, S. 174. 55 Bartolomé de las Casas, De regia potestate, (Corpus Hispanorum de Pace, 8), ed. Pereña, L., Madrid 1984, prima pars, qu. I § III n.1 ff., S. 23 ff. 56 de las Casas, De regia potestate (Anm. 55), prima pars, qu. I § III n.9, S. 29.

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diese nehmen oder anderen geben dürften.57 Erst recht dürfe der Fürst nichts davon verschenken.58 Fernando Vazquez de Menchaca (1512 – 1569) differenzierte zwischen dem ursprünglichen Rechtszustand bei der Schöpfung und dem späteren nach dem Sündenfall. Dadurch unterscheide sich insbesondere das ursprüngliche ius gentium vom späteren. Nur teilweise gehöre dieses daher zum Naturrecht, teilweise aber auch zum positiven Recht.59 Ebenso möglich sei es daher, dass ein Gesetz das Allgemeineigentum aller bestimme, während es meistens jedoch die Trennung in Privateigentum erlaube.60 Die Fürsten unterstünden jedoch allgemein dem Gesetz: während der Kaiser nur dem Natur- und Völkerrecht unterstehe, das Zivilrecht jedoch abändern könne, seien die übrigen Fürsten auch an das Zivilrecht gebunden.61 Daraus folge, dass sie auch nur dann das Eigentum der Untertanen an sich bringen dürften, wenn sie dafür einen Grund hätten.62 Ein ursprüngliches Recht der Fürsten auf die Sachen ihrer Untertanen sei unhaltbar.63 Allerdings sah er hierin eine Streitfrage.64 Der Fürst sei nicht Herr der Untertanen und der Sachen,65 denn sie seien zum Wohl der Untertanen (ad civium utilitatem) geschaffen worden. Natürlich stehe dem Fürst die plenitudo potestas zu, die nicht viel anderes sei als die ordinaria potestas. Daher könne er dann auf die Sachen der Untertanen zugreifen, wenn (1.) causa publicae utilitatis vel necessitatis dies verlange sowie (2.) wenn congrua & moderata recompensatio gewährt werde. Damit bewegte sich auch die spanische Schule auf den Pfaden, die von Bartolus und Felinus Sandaeus begründet wurden. Während Menchaca die Lehre schon fast vollständig verdichtete, konzentrierte sich Diego de Covarrubias (1512 – 1577) wieder nur auf den gerechten Grund als Voraussetzung der Enteignung.66 Die Wegnahme müsse dem Allgemeinnutzen dienen. Der Fürst habe dagegen kein eigenes Disposi-

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de las Casas, De regia potestate (Anm. 55), prima pars, qu. I § III n.12, S. 32 zu Thomas von Aquin, Quodlibet 12 art. 15 ad 1. 58 de las Casas, De regia potestate (Anm. 55), Concl. II § XI n.1, S. 53. 59 Fernando Vasquez de Menchaca, Controversias fundamentales y otras de más frecuento uso, ed. Rodríguez Alcalde, F., Bd. 4, Valladolid 1934, II c.89, n.26, 424; dazu Kurt Seelmann, Die Lehre des Fernando Vazquez de Menchaca vom Dominium, Köln/Berlin/Bonn/München 1979, S. 107. 60 Vasquez de Menchaca, Controversias fundamentales (Anm. 59), n.27, S. 425. 61 Vasquez de Menchaca, Controversias fundamentales (Anm. 59), II c.26 n.15, Bd. 2, S. 130. 62 Vasquez de Menchaca, Controversias fundamentales (Anm. 59), II c.26 n.16, Bd. 2, S. 131. 63 Seelmann, Die Lehre des Fernando Vasquez de Menchaca (Anm. 59), S. 132 ff. 64 Vasquez de Menchaca, Controversias fundamentales (Anm. 59), I c.5, n.15, S. 165. 65 Vasquez de Menchaca, Controversias fundamentales (Anm. 59), I c.5, n.28, S. 175. 66 Didacus Covarrubias, Variarum ex iure pontificio regio Venedig 1580, III.6 n.6, S. 449.

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tionsrecht wie ein Eigentümer über die Sachen seiner Untertanen.67 Luis de Molina (1535 – 1600) betonte, dass der Fürst nicht Eigentümer sei, dennoch als Regent durch Gesetze und Gerichte selbst ohne Schuld Eigentum wegnehmen dürfe, wenn dies für das Allgemeinwohl nötig sei.68 Francisco Suárez (1548 – 1617) folgte Menchaca in der Differenzierung von ursprünglichem und sekundärem Natur- und Völkerrecht. Dadurch erst sei das Privateigentum entstanden.69 Wie die anderen spanischen Autoren rang er mit der Frage, ob den Fürsten überhaupt ein Enteignungsrecht zustehe. Dies bejahte er letztlich mit dem Hinweis auf deren Aufgabe, das Allgemeinwohl zu besorgen.70 Bei Menchaca wurden wie bereits bei Felinus Sandaeus viele Elemente des Enteignungsrechts gesammelt, indem nicht nur der dringende Grund, sondern auch die Kompensationspflicht miteinander verbunden wurden. Die späteren Autoren begriffen dies allerdings nicht als dogmatische Leistung und übernahmen diese Verbindung daher nicht, sondern konzentrierten sich weiterhin auf die Frage der grundsätzlichen Zulässigkeit. Von einer dogmatischen Entwicklung ist daher nicht viel zu erkennen. Aber auch inhaltlich finden wir namhafte Unterschiede. Obgleich das Eigentum überwiegend dem Zivilrecht zugesprochen wurde, galt es oft auch als Teil des ius gentium. Nicht zu vergessen ist, dass insbesondere die spanischen Autoren den Königen gerade deswegen überhaupt eine Macht zugestanden, weil diese evtl. durch den Kaiser – wie bei Menchaca gesehen – oder jedenfalls durch den Papst beschränkt war. Als der einzige, der berechtigt war, das ius divinum immerhin zu interpretieren,71 bildete letzterer die natürliche Kontrollinstanz aller Fürsten Europas. Das blieb zwar meist Theorie, doch einige Fälle veranschaulichten, dass diese immerhin realen Druck erzeugen konnte. Die plenitudo potestatis der Fürsten war in dieser Lehre also stets durch die Macht des Papstes begrenzt. Für die deutschen und französischen Autoren ist die Annahme einer solchen Beschränkung königlicher Macht dagegen zweifelhaft. Nationale Unterschiede sind also einstweilen deutlicher als konfessionelle Gemeinsamkeiten. Letztere werden jedoch erkennbar im Vergleich zu den folgenden protestantischen Autoren.

67 Diego de Covarrubias y Leyva, Variarum Resolutiones iuridicarum ex iure pontificio, regio, et caesareo, libri III, in: ders., Opera Omnia Qvae Hactenvs Extant, Frankfurt 1573, III c.6, 365 n.6. 68 Luis de Molina, De iustitia et iure, Genf 1733, vol. 1, Disp.25, S. 68 n.1. 69 Francisco Suárez, Defensio Fidei III: Principatus politicus, (Corpus Hispanorum de Pace, 2), ed. Pereña, L., Madrid 1965, II.14, S. 27. 70 Näher Joachim Giers, Die Gerechtigkeitslehre des jungen Suárez, Freiburg 1958, S. 139. 71 Vasquez de Menchaca, Controversias fundamentales, I c.5 , n.19, S. 170.

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V. Calvinistische Juristen der Frühen Neuzeit So findet sich in den „Vindiciae contra tyrannos“ eine viel klarere Ablehnung des Satzes „omnia sunt principis“. Der König sei auch an das Gesetz gebunden als dessen Hüter, Diener und Bewahrer.72 Er sei daher auch nicht der Herr über die Sachen seiner Untertanen.73 Der Unterschied zum Privateigentum des Fürsten und zum Besteuerungsrecht wird betont, der Herrschaftstitel vermittle eben kein allgemeines Eigentum.74 1Sam 8 wird daher gewürdigt, um zu zeigen, dass dieses keine biblische Bestätigung eines allgemeinen Wegnahmerechts sei, sondern vielmehr als Warnung zu verstehen sei. Zwar seien die Fürsten an das Recht gebunden, dennoch meinten sie oft, das tun zu dürfen, was sie wollten. Bereits Samuel habe demgegenüber kein unbeschränktes Enteignungsrecht der Könige vertreten. Vielmehr sei der König stets ernannt unter der Bedingung, die Gesetze zu wahren.75 Verstoße er dagegen, sei das Volk seinerseits von den Pflichten ihm gegenüber befreit. Gerade dieses Junktim mit dem Widerstandsrecht macht den Unterschied etwa zu Menchaca deutlich. Der in Wittenberg lehrende Niederländer Matthaues Wesenbeck (1531 – 1586), der meist eher calvinistische Positionen vertrat, betonte demgegenüber die Machtfülle des Fürsten. Allerdings dürfe diese nicht zum Schaden eines anderen genutzt werden, sofern dieser nicht zustimme oder eine iusta causa vorliege.76 Eher sollte der Reichtum der Fürsten zum Wohl des Volkes eingesetzt werden.77 Es scheint, dass Wesenbeck der Rechtsmacht nicht widersprach und nur auf der moralischen Ebene zu einem moderaten Umgang mahnte. Eine Auseinandersetzung mit 1Sam 8 lieferte Hermann Vultejus (1555 – 1634). Diese Beschreibung des Königrechts bedeute nicht, dass ein guter König solche Rechte usurpieren solle.78 Denn der König stehe nicht über dem Gesetz, vielmehr stehe das Gesetz über dem König. Das Eigentum vermittle proprietas und possessio und sei durch ius civile ebenso wie durch ius naturale begründet.79 Dennoch finde man das Recht des Königs, wie es in 1Sam beschrieben sei, auch im römischen Recht. Dies bestätige die Position des Königs als legibus solutus.80 Daraus folge nicht, dass der König ohne Bindungen sei. An seine Gesetze und Verträge solle er 72 Stephan Junius Brutus, Vindiciae contra tyrannos, in: Dennert, J. (Hrsg.), Beza, Brutus, Hotman. Calvinistische Monarchomachen, (Klassiker der Politik, 8), Köln/Opladen 1968, 61 – 202, qu.3, S. 132. 73 Brutus, Vindiciae contra tyrannos (Anm. 72), qu.3, S. 144. 74 Brutus, Vindiciae contra tyrannos (Anm. 72), qu.3, S. 155/157. 75 Brutus, Vindiciae contra tyrannos (Anm. 72), qu.3, S. 159. 76 Matthaeus Wesenbeck, Tractatuum et responsorum qua vulgò consilia iuris appellantur, pars prima, ed. Coler, .M., Wittenberg 1633, cons.45 n.46, S. 1192 f. 77 Wesenbeck, Tractatuum et responsorum (Anm. 76), n.47. 78 Hermann Vultejus, In institutiones iuris civilis a Iustiniano compositas commentarius, Marpurgum 1605, S. 23 n.5. 79 Vultejus, In institutiones iuris civilis (Anm. 78), S. 25 n.10 sowie S. 150 n.16. 80 Vultejus, In institutiones iuris civilis (Anm. 78), S. 24 n.6 f.

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sich halten. Vultejus diskutierte hier, welche Gesetze einzuhalten seien trotz der plenitudo potestatis des Fürsten. Im Ergebnis aber war es bloß die bona fides, die der König zeigen und bewahren sollte, indem er sich an solche Bindungen hielt. Es waren im Ergebnis also keine juristischen Bindungen, die den König von der Enteignung abhielten. Dennoch versuchte er unter dem Begriff der constitutio jene Normen zusammenzufassen, die selbst der Fürst nicht missachten dürfe.81 Während die Calvinisten in Frankreich unter Henri IV staatstreu wurden und das Widerstandsrecht einschränkten,82 lässt sich diese monarchomachische Tendenz in anderen Teilen Europas weiter beobachten. Johannes Althusius (um 1563 – 1638) stärkte das Eigentumsrecht gegenüber der möglichen Enteignung. Indem er alle Macht auf die Bildung von Konsoziationen zurückführte, stellte er auf die ursprünglich und notwendig konzedierten Rechte ab. Mit der Begründung der Regierung sei ihr nur jene Macht übertragen worden, wie es die Gesetze zur Verwaltung und Regierung dieser Gemeinschaft bestimmten. Die proprietas werde nach diesen Gesetzen den Regierenden aber keineswegs übertragen. Sie ruhe vielmehr weiterhin im Schoß dieser Gemeinschaft.83 Die Gesellschaft sei geschlossen worden, um die Güter der Mitglieder zu schützen, sei es vor Diebstahl, sei es vor Überschwemmungen und anderen Naturkatastrophen.84 Die bona subditorum seien dem Magistrat überantwortet worden zum Schutz und zum Erhalte, nicht dagegen, damit dieser sie an sich nehmen könne. Das käme nur in zwei Fällen in Betracht, nämlich entweder aufgrund der Schuld der Untertanen oder im Falle der publicae salutis necessitas.85 Bei der Begründung dieser Aussage rang Althusius allerdings einerseits mit 1Sam 8.10, andererseits mit dem Spruch des römischen Rechts: „iure civili omnia regis sunt“. Den Fürsten stehe jedoch nur ein allgemeines, universelles Besitzrecht zu, welches das Eigentum der Untertanen nicht in Frage stelle. Umfangreich holte Althusius daher aus und wies darauf hin, dass schon die alten Ägypter die Güter ihrer Untertanen nur im Wege des Zwangskaufs oder -tauschs erwerben konnten. 1Sam 8 konnte daher gerade mit Blick auf das alte Israel nicht als unbegrenztes Enteignungsrecht verstanden werden.

81

Vultejus, In institutiones iuris civilis (Anm. 78), S. 24 n.8 f. Vgl. Verf., Gewissensfreiheit und Widerstandsrecht bei Charron und Montaigne, in: De Benedictis, Angela/Lingens, Karl Heinz (Hrsg.), Wissen, Gewissen und Wissenschaft im Widerstandsrecht (16.–18. Jh.), (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 170), Frankfurt a.M. 2003, S. 111 – 139. 83 Johannes Althusius, Politica methodice digesta, 3. Aufl. Herborn 1614 (Reprint Aalen 1961), XVIII n.28 f, S. 285: „sola potestas, secundùm justas leges administrandi & regendi corpus & jura universalis hujus consociationes; proprietatem verò horum jurium & superioritatem tales gubernatores minimè habent, sed penes corpus politicae hujus consociationis illa manent.“ 84 Althusius, Politica methodice digesta (Anm. 83), c.37 n.108 und 110, S. 874 f. 85 Althusius, Politica methodice digesta (Anm. 83), c.37 n. 111, S. 875. 82

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Wegen einer Straftat oder wegen der Unfähigkeit des Körpers oder Geistes, die eigenen Güter zu verwalten, könne der Staat das Eigentum der einzelnen an sich nehmen.86 Der zweite Fall des Enteignungsrechts, die necessitas & salus Reipublicae, begründete er mit dem Vorrang des allgemeinen vor dem privaten Wohl. Sogar die Gesellschaft werde bereits geschlossen, weil alle darin konsentierten, was der Allgemeinheit nütze.87 Gelegentlich (quandoque) sei es notwendig, einen Preis (pretium) zu zahlen. Doch damit verdeutlichte Althusius, dass diese Kompensation nicht in jedem Fall notwendig sei. Mit der Verankerung der Herrschaftsgewalt im Gesellschaftsvertrag lieferte Althusius eine tiefergehende Begründung für die Beschränkung des Enteignungsrechts. Schon der Zweck der Gemeinschaft liege im Schutz der Güter jedes einzelnen. Doch eine nähere dogmatische Konkretisierung für die Voraussetzungen und Rechtsfolgen des Enteignungsrechts leistete er jedoch damit nicht. Diese Dogmatisierung wird gemeinhin Hugo Grotius (1584 – 1645) zugeschrieben. In seiner Schrift „De iure praedae“ demonstrierte er, abgeleitet aus dem Recht der Selbsterhaltung, die Bedeutung des Eigentums als Grundlage der Versorgung.88 Das elementare Bedürfnis aller Menschen half ihm, ein entsprechendes Naturrecht aller Menschen zu etablieren. Der Abschluss des Gesellschaftsvertrags sollte insoweit nur dazu dienen, den Schutz des Eigentums zu intensivieren, indem er wie bei Althusius auch der zentralen Instanz zu überantwortet wurde.89 Gegenüber dieser prinzipiellen Verankerung des Eigentums entwickelte Grotius eine Lehre, wann dieses Recht den Menschen wieder weggenommen werden könne.90 König und Volk hätten eine Befehlsgewalt, die aus dem imperium summum folge, weswegen sie in bestimmten Fällen das dominium wieder wegnehmen dürften.91 Sinn des Gesellschaftsvertrags sei es gerade, dauerhaft die Rechte und Interessen der Mitglieder zu sichern. Erst durch den Konsens der Beteiligten könnten die Gesellschaft wieder aufgelöst oder die gesicherten Rechte genommen werden.92 Nur im Fall äußerster Not könne ein solches Auflösungs- oder Wegnahmerecht entstehen.93

86

Althusius, Politica methodice digesta (Anm. 83), c.37 n. 112 und 114, S. 876. Althusius, Politica methodice digesta (Anm. 83), c.37 n. 115, S. 877. 88 Hugo Grotius, De iure praedae commentarius, ed. Hamaker, H.G., Den Haag 2006, lex IV, S. 14. 89 Hugo Grotius, De iure belli ac pacis, ed. de Kanter-van Hettinga Tromp, B.J.A., Aalen 1993, II.14.6, S. 381. 90 Grotius, De iure belli ac pacis, II.14.8, S. 383. 91 Hugo Grotius, De iure bellic ac pacis, ed. De Kanter-van Hettinga Tromp, B.J.A./ Feenstra, R., Leiden 1939 (Reprint Aalen 1993), II.6.3, S. 262. 92 Grotius, De iure bellic ac pacis (Anm. 91), II.6.4, S. 262. 93 Grotius, De iure bellic ac pacis (Anm. 91), II.6.5, S. 263. 87

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Selbstverständlich dürfe der Fürst prinzipiell die Güter seines Volkes weder ganz noch teilweise wegnehmen. Verpflichtungen könnten zwar grundsätzlich nur zivilrechtlich begründet werden, also mit dem Konsens des Betroffenen. Nur in leichten oder gar unerheblichen Fällen bzw. bei geringwertigen Gütern könne er so ohne den consensus populi vorgehen, oder wenn dies de necessitate et utilitate publica erforderlich sei.94 Damit gestand Grotius hier zwei wesentliche Ausnahmen zu: Der König dürfe in das Recht seiner Untertanen eingreifen, wenn dies als Strafe erfolge oder „ex vi supereminentis dominii“.95 Man erkennt die Vorlage von Althusius. Doch während die Erwägung des Strafzwecks ähnlich ausfiel, konnte Grotius das herrschaftliche Enteignungsrecht präziser beschreiben. Die Enteignung war erst dann rechtens, wenn nicht bloß ein übliches Herrschaftsrecht vorliege, sondern eines, das „supereminens“ sei. Damit gemeint waren höherrangige Rechte als das, was nach gewöhnlichem Recht galt.96 Zur Annahme des überragenden Herrschaftsrechts stellte Grotius zwei Voraussetzungen auf: Zum einen musste der Zugriff auf privates Gut einer utilitas publica entsprechen, zum anderen sollte dafür eine angemessene Entschädigung (compensatio) geschuldet werden. Dieses Herrschaftsrecht könne nur gegenüber Untertanen, jedoch nie gegenüber Fremden ausgeübt werden. Gegenüber den eigenen Untertanen könne der König seine Herrschaft nur geltend machen, wenn eine publica utilitas vorliege.97 Der Gesellschaftsvertrag begründe kein Recht gegen den König; nehme er ein Recht zurück, könne er daher auch nicht dagegen verstoßen. Gehe er aber ohne Grund vor, handele er sündhaft.98 Leicht konnte man daraus schließen, dass er dann zum Tyrannen wurde.99 Der Heidelberger Jurist Johann Theodor Sprenger (†1668) präzisierte daher, dass der kluge Fürst wie ein Arzt mit einem Skalpell die privaten Luxusgüter entferne, die sich zu deren Nachteil entwickelten. Im Übrigen könne nur weggenommen werden, was von allen gut geheißen werde.100 Man erkennt nur den Fortschritt des Grotius gegenüber Sandaeus und Menchaca. Eigentlich waren die Güter der Untertanen naturrechtlich und gesellschaftsvertraglich gesichert. Dies begründete auch Althusius weitergehend naturrechtlich. Doch für die hoheitliche Enteignung wurden erstmals die Tatbestandsvoraussetzungen 94

Grotius, De iure bellic ac pacis (Anm. 91), II.6.11, S. 265. Grotius, De iure belli ac pacis (Anm. 91), II.14.7, S. 383. 96 Grotius, De iure belli ac pacis (Anm. 91), I.1. n.6, S. 32, definiert eminens mit „quae superior est iure vulgari“. 97 Grotius, De iure belli ac pacis, II.14.8, S. 383. 98 Grotius, De iure belli ac pacis, II.14.9, S. 383. 99 So Caspar Ziegler, In Hugonis Grotii de iure belli et pacis libros notae, Frankfurt a.M. 1686, 375 zu Grotius, De iure belli ac pacis, II.14.7. 100 Johann Theodor Sprenger, Bonus princeps, Heidelberg 1655, c.8, S. 21: „Princeps populi medicus indictionum scalpello privatorum luxuriantes fortunas, quas in perniciem sui succrescere videt, prudenter circumcidit“. 95

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und Rechtsfolgen präzisiert und im Rechtsinstitut miteinander verschmolzen. Mit dem Begriff des ius superemins wird deutlich, dass ein ganz besonderes Eingriffsinteresse der Öffentlichkeit vorliegen musste. Dieser dogmatische Ansatz behandelte die Enteignung also restriktiver als alle Vorgänger. Damit vermied er zugleich die mehr als vagen Begriffe der utilitas, necessitas und salus publicae. Zusätzlich wurde mit der Entschädigungspflicht die weitere Tatbestandsvoraussetzung dauerhaft verankert. Daraus ergab sich für die Rechtsfolgen, dass die Rechtmäßigkeit bzw. Willkür der Enteignung auch von den Untertanen erkannt oder zumindest vorgetragen werden konnte. Diese Transparenz konnte die leichtfertige Behauptung eines Enteignungsrechts verhindern. Den Calvinisten war meist nicht nur die Argumentation mit dem Gesellschaftsvertrag, sondern auch die Abwehr von Vorstellungen eines umfassenden Königsrechts nach 1Sam 8 zu eigen. Man erkennt daran die Vorgaben aus dem Werk Calvins. Dennoch wirkte Grotius’ Enteignungslehre, als ob sie nur die Vorgaben von Bartolus bis Menchaca dogmatisierend zusammenfasste, insoweit also keineswegs konfessionsspezifisch geleitet sei. Erst der Vergleich mit lutherischen Juristen macht deutlich, wie präzise die Vorgaben Calvins hier nachwirkten. VI. Lutherische Juristen Die Reihe lutherischer Juristen kann man mit Joachim Mynsinger von Frundeck (1514 – 1588) beginnen lassen, der im Dienst der Herzöge von Württemberg stand. Recht lapidar bemerkte dieser, dass der Fürst die Geschäfte der Untertanen führen könne entweder im Falle der Notwendigkeit oder der publica utilitas.101 Alberico Gentili (1552 – 1608), der eine formative Phase in Wittenberg verbrachte, lehrte über die Staatsmacht, dass diese nicht nur Kaiser und Papst, sondern allen Fürsten zustehen sollte, welche unumschränkt in ihren Territorien herrschten.102 Der Fürst sei der Gott im Land, dem die absolute Macht zustehe. Schon nach Seneca gehöre alles Gut dem Fürsten, nach Bodin hatten sie das Recht dominationis supremae.103 Sie seien keineswegs allein zum Nutzen der Untertanen geschaffen. Vielmehr hätten sie alles zu tun, was für die plenitudo potestas erforderlich sei. Darin sei letztlich auch das Wohl der Untertanen eingeschlossen. Sie stünden nur unter Gott und würden durch seine Gesetze gehalten; nur ihm, nicht den Bürgern gegenüber, seien sie daher rechenschaftspflichtig.104 Eine große Rolle spielte für Gentili 1Sam 8. Er beurteilte sogar die Literatur danach, ob diese darauf einging oder nicht.105 Diese Stelle 101 Joachim Mynsinger von Frundeck, Singularium Observationum imperialis camerae, Wittenberg 1658, Cent.4 obs.9, S. 272. 102 Albericus Gentilis, Regales disputationes tres, Hannover 1605, De potestate regis absoluta, disputatio I, S. 7. 103 Gentilis, Regales disputationes tres (Anm. 102), 10 „Princeps est Deus in terris“, S. 12 – 14. 104 Gentilis, Regales disputationes tres (Anm. 102), S. 16 f. 105 Gentilis, Regales disputationes tres (Anm. 102), S. 20.

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wurde also unmittelbar als Quelle zur Beschreibung der königlichen Macht angesehen, der damit letztlich kaum Schranken gesetzt waren. So unterschied Gentili zwischen der normalen Art zu regieren (ordinarie) und der außergewöhnlichen Weise (extraordinarie). In letzteren Fällen könne sich seine Macht sogar zu der eines Tyrannen entwickeln, ohne seine Rechtmäßigkeit zu verlieren.106 Er stimmte Vasquez de Menchaca zwar zu, dass die königliche Macht nicht gegeben wurde, um den Bürgern Schaden oder Unrecht anzufügen.107 Doch eine päpstliche Kontrollmacht konnte er gerade eben nicht zugestehen, so dass der König ohne Kontrollinstanz blieb. Dies werde eben gelegentlich von der Notwendigkeit und dem Wohl des Staates erfordert, weil das öffentliche Wohl dem der Privaten vorzuziehen sei.108 Alle würden in der Gesellschaft letztlich übereinstimmen über das, was für das öffentliche Wohl erforderlich sei. Gentili lehrte damit, was man ungefähr bei den übrigen lutherischen Autoren findet. Sie unterscheiden sich eher nur in der Länge ihrer Aussagen. Wenn Friedrich Prukmann (1562 – 1630), Kanzler von Brandenburg, mitunter lapidar sagte, dass der Fürst im Fall des Konsenses das Eigentum des Untertanen nehmen dürfe, darf das nicht als abschließende Darstellung verstanden werden,109 denn anderswo formulierte er viel allgemeiner und sagte, dass der Fürst stets mit Grund sich das Eigentum einverleiben dürfe.110 In Dominicus Arumaeus‘ Kompendium zum öffentlichen Recht veröffentliche Daniel Otto eine Abhandlung über das öffentliche Recht des Reichs. Grundsätzlich hielt er zunächst fest, dass der Kaiser kein Recht habe, sich fremde Sachen anzueignen. Weder das göttliche noch das natürliche Recht berechtige ihn dazu. Doch gestand er die Ausnahme zu, wenn wegen der publica utilitas eine solche Enteignung erforderlich sei.111 Problematisch erschien ihm eher, ob jeder Fürst des Reichs dieses Recht habe oder nur der Kaiser als Inhaber der plenitudo potestatis. Da der Fürst die Gesetze schaffe, stehe er über ihnen. Das bedeute jedoch nicht, dass er sie ignorieren könne. Vielmehr handle er besser, wenn er sich danach ausrichte.112 Ferner stützte er 106

Gentilis, Regales disputationes tres (Anm. 102), S. 25. Gentilis, Regales disputationes tres (Anm. 102), S. 27. 108 Gentilis, Regales disputationes tres (Anm. 102), S. 115, 876 f. 109 Fridericus Pruckman, Tractatus de regalibus, sive explicatio brevis et methodica c. I. quae sint regalia, in usibus feudorum, Berlin 1687, § venatione c.4 n.40. 110 Fridericus Pruckmann, Tractatus methodici, et accuratissimi, de differentiis fere omnibus, quae tàm ratione judiciorum & contractuum, quàm ultimarum voluntatum, & maleficorum, Ius Romanum, inter utrumque, sexum, masculorum, & femellarum, introduxit, Leipzig 1610, cons.49, n.175, S. 772; ebenso ders. in seiner viel spezielleren Untersuchung: Friedrich Pruckmann, Paragraphus soluta potestas, Wittenberg 1592, c.4 membrum 2, effectus 3, S. 412 n.4: „caussae utilitatis publicae“. 111 Daniel Otto, De iure publico imperii romani methodicè conscriptus, in: Arumaeus, D. (Hrsg.), Discursuum academicorum de iure publico, Jena 1623, Bd. 5, fol.41 – 217v, c.8, fol.86r. 112 Otto, De iure publico imperii (Anm. 111), fol. 84r. 107

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sich auf Alberico Gentili und unterschied die ordentliche Macht von außergewöhnlichen Umständen, so dass in bestimmten Fällen vom allgemeinen Recht abgewichen werden könne. Hier verwies er auf eine „ratio praeeminentia“.113 Allerdings sah er diese Macht mit Sorgen. Allzu leicht werde der allgemeine Nutzen mit dem Willen und der Begierde des Herrschers verwechselt. Man könne eher die Fülle des Sturms bestimmen als die Macht der Herrscher.114 Eigentlich handele es sich um eine Erfindung des Teufels. Christoph Besold (1577 – 1638) übernahm noch in seiner lutherischen Phase die Vorgaben von Gentili und unterschied die potestas ordinaria, nach den Gesetzen und der öffentlichen Ordnung zu herrschen, von der potestas extraordinaria, um auf anomale Situationen reagieren zu können.115 Der Fürst solle sich grundsätzlich an die Gesetze und Regeln halten, also iure ordinare regieren. Doch nicht für alle Fälle könnten Gesetze geschrieben werden, so dass der Ausnahmezustand erforderlich sei. Zu Gunsten der „Ragion vel Ragionamento de Stato“ oder dem öffentlichen Wohl müsse von den üblichen Gesetzen abgewichen werden können. So könne man sogar von Naturrecht dispensieren.116 Der König könne durch seine höchste Macht so den Inhalt des Naturrechts neu bestimmen, doch sollte er nur selten davon Gebrauch machen.117 Mit Hinweisen auf Melanchthon und Johann Gerhard argumentierte er, dass diese Machtfülle generell das Recht der Könige besonders in Notzeiten sei. Daraus folge, dass die Bürger ihnen alles geben müssten.118 Ein eigenes Kapitel widmete Besold der Interpretation von 1Sam 8.119 Der italienische Jurist Marta habe in seinem „Tractatus de iurisdictione“ behauptet, dass diese Auffassung nur bis zur Zeit von Samuel gelten könne, nachher jedoch solch enteignende Könige als Tyrannen aufgefasst werden müssten.120 Mit vielen Literaturstimmen setzte sich Besold auseinander, so etwa auch Althusius, demzufolge Samuel hier nur von den ungerechten Fürsten spreche, womit das Volk Israel zu rechnen habe. Mit dem berühmten Strafrechtler Tiberius Deciani aus Udine (1509 – 1582) favorisierte Besold eine teleologische Auslegung, um die causa finalis der allegierten Stelle zu ermitteln.121 Durch einen nüchternen Blick auf die Herrscher seiner Zeit versuchte Besold zu demonstrieren, dass mit solchen ungerechten Herrschern zu rechnen 113 Otto, De iure publico imperii (Anm. 111), fol. 86v: „qua ratione praeeminentiae suae Princeps dispensat contra jus commune“. 114 Otto, De iure publico imperii (Anm. 111), fol. 86v. 115 Christoph Besold, Dissertatio politico-iuridica de maiestate in genere, Straßburg 1625, S. 56. 116 Besold, Dissertatio politico-iuridica (Anm. 115), S. 60, 63, 65. 117 Besold, Dissertatio politico-iuridica (Anm. 115), S. 68, 71. 118 Besold, Dissertatio politico-iuridica (Anm. 115), S. 72. 119 Besold, Dissertatio politico-iuridica (Anm. 115), c.8, S. 76 ff. 120 Besold, Dissertatio politico-iuridica (Anm. 115), S. 79 dagegen Argumentation von Marta, tractatus de iurisdictione, P.1 cap.35 n.1. 121 Besold, Dissertatio politico-iuridica (Anm. 115), S. 79 zu Tiberius Decianus, Responsio 41 incip. Sequendo ordinem dubiorum, sub n.21 lib.1.

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sei. Insbesondere verwies er auf die Türken, Tartaren, Moskoviter oder Afrikaner. Gerade die Türken würden mit dem Einfangen der christlichen Jungen für ihre Janitscharentruppe die Aussage von Samuel bestätigen, dass Fürsten sogar die Kinder wegnehmen könnten.122 Es könne nicht daran gezweifelt werden, dass die Könige ihre Macht zu solchen Sünden missbrauchen könnten.123 Ähnlich differenzierte Henning Arnisaeus (um 1575 – 1636) zwischen dem, was die Gesetze erlaubten, und dem, was anständig sei.124 Den Widerspruch von 1Sam 8 zu dem Königsgesetz in Dtn 17(,14 ff) löste er mit dem Hinweis auf, dass Samuel sein Volk habe abschrecken wollen. Eigentlich müsse der König so handeln, wie es im Königsgesetz laute,125 also Moderation in seinen Lastern zeigen und mit einem Gesetz herrschen. Benedict Carpzov argumentierte wieder umfangreicher und erklärte, dass die Fürsten im Verhältnis zu ihren Untertanen von nichts und niemanden beschränkt würden.126 Sie seien legibus solutus und stünden als Fürsten ihrer Länder über den Gesetzen.127 Daher könnten sie aufgrund ihrer plenitudo potestatis das private Recht und Eigentum der Untertanen, das auf dem ius civile beruhe, wegnehmen,128 selbst wenn er dabei gegen die natürliche Billigkeit verstoßen sollte.129 Eine ganz andere Argumentation und Gedankenwelt finden wir dann bei Samuel Pufendorf (1632 – 1694). Umfassend bestimmte er, wann der Fürst auf die Güter seiner Untertanen zugreifen dürfe, nämlich z. B. durch Gesetze gegen Luxus, bestimmte Spiele und Verschwender,130 ebenso aber durch das Steuerrecht.131 Dieses wird mit einem Salär für den Fürsten, zur Deckung der Kosten für die Landesverteidigung 122

Besold, Dissertatio politico-iuridica (Anm. 115), S. 86 n.9. Ähnlich Georg Franzkius/Erhard Lobarth (Proponent), Discursus quadragesimussecundus de potestate principis, in: Arumaeus, D. (Hrsg.), Discursuum academicorum de iure publico, Jena 1623, Bd. 4, fol.252, 251 n.74: publica utilitate suadente könne der Fürst das Haus der Untertanen zerstören u. ä. 124 Henning Arnisaeus, De jure majestatis libri tres, Straßburg 1673, l.2 c.1 n.4, S. 110: „Quam multa enim sunt, quae per leges licent; nec tamen honesta sunt“. 125 Arnisaeus, De jure majestatis (Anm. 124), S. 111. 126 Benedict Carpzov, Opus definitionum forensium, Frankfurt/Leipzig 1644, p.3 const.31 def.13 n.3, S. 1224: „Princeps in jure quaerendo subditis suis omnino prajudicare potest.“ 127 Carpzov, Opus definitionum (Anm. 126), p.2 const.12 def.16 n.2, S. 483 sowie p.3 const.4 def.41 n.6, S. 845. 128 Carpzov, Opus definitionum (Anm. 126), p.3 const.28 def.16 n.5, 1201 : „[…] Principem de plenitudine potestatis possit alicui priuato jus suum ex ratione juris civilis partum pro lubitu auferre“. 129 Carpzov, Opus definitionum (Anm. 126), p.4 const.11 def.12 n.6, S. 1334. 130 Samuel Pufendorf, De iure Naturae et gentium, VIII.5.3, Amsterdam 1744, 417 f = idem, ed. J. Barbeyrac, Basel 1732 (Reprint Caen 1987), S. 442 f. 131 Zu dieser Materie, die sonst meist nicht im Rahmen der Enteignung behandelt wurde, vgl. Andreas Schwennicke, „Ohne Steuer kein Staat“. Zur Entwicklung und politischen Funktion des Steuerrechts in den Territorien des Heiligen Römischen Reichs (1500 – 1800), (Ius Commune Sonderhefte, 90), Frankfurt a.M. 1996. 123

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und die Regierung begründet.132 Natürlich darf sich der Souverän neben den Steuern auch der Güter der Untertanen bedienen, weil nicht immer ex ante durch Steuern der Bedarf genau abgedeckt werden kann, zumal die Steuer so unaufdringlich, weich und ruhig wie möglich erhoben werden soll.133 Als dritter und letzter Teil des Souveränitätsrechts übernahm Pufendorf Grotius‘ Begriff des „domaine éminent“. Dabei gab er zu, dass dieser Bereich umstritten sei in der Literatur, aber doch eher der Begriff als die Sache selbst.134 Die für das Allgemeinwohl errichtete Souveränität autorisiere den Herrscher in ausreichendem Maße, sich aller Sachen der Untertanen zu bedienen, wie es die Umstände erforderten. Er selbst bestimme dabei, was für den Moment erforderlich sei. Aus der aequitas naturalis folge, dass jeder für das gemeinsame Wohl beisteuern müsse. Grundsätzlich solle dabei die Last gleichmäßig verteilt werden. Doch nicht immer könne man die Lasten pro rata von den Bürgern einfordern, unter Umständen müsse man schnell bestimmte Gegenstände zur Verfügung haben, um der Not zu begegnen oder Feinde abzuwehren, wenn etwa die notwendige Sache einem gehöre. Bei einer Belagerung müsse man an bestimmten Orten Befestigungen errichten oder Häuser, die der Verteidigung im Wege stehen, vernichten. Bei allgemeinem Hunger könne man Händler zwingen, private Reserven freizugeben. Die Allgemeinheit dieser Erwägung sei jedoch kein Grund, der Sache eine begriffliche Präzisierung als „dominium eminens“ anzuerkennen“. Der jedenfalls terminologische Bezug zu Grotius ist deutlich. Der Souverän dürfe sich der Sache des Untertanen bedienen, jedoch nur unter der Voraussetzung, dass der Eigentümer entschädigt werde (dédommagé). Natürlich könne man beim Fall der Notwendigkeit des Staates zwischen verschiedenen Graden unterscheiden, konzedierte er Johann Heinrich Boecklers (1611 – 1692) Kommentar zu Grotius.135 Man dürfe den Fall der Not jedenfalls nicht zu großzügig anwenden. Nach dem Maßstab der aequitas müsse man dann jedenfalls die Lasten ausgleichen. Niemand könne allerdings die Untertanen allgemein von solchen Lasten befreien, denn als Bürger sei man daran gebunden, für das allgemeine Wohl seinen Beitrag zu leisten. Zur Höhe der Entschädigung bemerkte Pufendorf, dass immerhin so viel zu leisten sei, wie der Staat vermöge, sofern der Schaden nicht vorhersehbar gewesen sei und daher der Bürger – z. B. wegen dieses spekulativen Akts – den Schadensersatz nicht verdiene. Ferner falle eine Entschädigung aus, wenn alle Bürger gleichermaßen betroffen seien bzw. Verluste erlitten hätten; man könnte hier etwa an die allgemeine Last der Bürger nach einen großen Krieg denken. Davon unterschied Pufendorf schließlich noch den Fall der öffentlichen Güter, über die der Fürst frei verfügen dürfe.136 132

Pufendorf, De iure Naturae et gentium (Anm. 130), VIII.5.4, 420 = Barbeyrac, S. 445. Pufendorf, De jure naturae et gentium (Anm. 130), VIII.5.5, 421= Barbeyrac, S. 446. 134 Pufendorf, De jure naturae et gentium (Anm. 130), VIII.5.7, 425 = Barbeyrac, S. 447. 135 Johann Heinrich Boeckler (Boeclerius), In Hugonis Grotii Ius Belli Et Pacis, Ad Illustrißimum Baronem Boineburgium Commentatio, Straßburg 1663/1664, I c.1 85 ff: De Dominio eminente Disquisitio, § 6, S. 85, 87. 136 Pufendorf, De jure naturae et gentium (Anm. 130), VIII.5.8, 427= Barbeyrac, S. 450. 133

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Pufendorf schloss sich also sowohl in der Diktion als auch in der Struktur Grotius an, auch wenn Pufendorf in der lutherischen Tradition von der freien Verfügungsgewalt des Monarchen, Grotius dagegen in der Nachfolge Calvins eher von der Bindung des Monarchen ausging. Die Enteignung war für beide dann zulässig, wenn der Grund hinreichend wichtig und die Entschädigung angemessen war. Pufendorf verdeutlichte weiterhin, dass es sich nicht um einen regulären Schadensersatz handeln könne, sondern nur eine „billige Entschädigung“ evtl. in Geld geleistet werden müsse.137 Neun Jahre nachdem Pufendorf 1672 sein „De jure naturae et gentium“ veröffentlicht hatte, publizierte Caspar Ziegler (1621 – 1690) in Wittenberg 1681 seine Untersuchung über die Majestätsrechte. Und obwohl er auch als Kommentator von Grotius hervortrat, finden wir hier noch einmal die ältere lutherische Welt wieder. Die königliche Macht wurde anhand von 1Sam 8 erläutert.138 Auch dem ungerechten König sei das Volk Gehorsam schuldig. 1Sam 8 beweise gerade, dass dem König sogar das zu geben sei, was er eigentlich nicht verlangen dürfe. Dabei konzedierte er, dass außer in Fällen dringender Notwendigkeit oder der salus publica der Fürst solche Forderungen nach dem Recht und guten Gewissens nicht stellen dürfe.139 Die Moderation, welche man im Königsgesetz von Dtn 17 finde, sei lediglich als Ermahnung der Fürsten zu verstehen, wie sie regieren sollten. 1Sam 8 dagegen sei die Warnung der Bürger vor einem König und dessen möglichen Gewaltexzessen. Dabei konzedierte Ziegler, dass es in der Literatur äußerst strittig sei, ob der Fürst das Eigentum der Bürger an sich nehmen dürfe. Er ging auf Grotius ein und zeigte, dass durch das fürstliche „ius praeeminens“ das allgemeine Recht (ius commune) aufgehoben werde, solange der Schaden des Bürgers nicht erheblich sei.140 Die Literatur habe mit ihren divergierenden Ansichten für eine große Konfusion in dieser Rechtsfrage gesorgt. Daher sei festzuhalten, dass die plenitudo potestatis des Fürsten diesen allgemein dazu berechtige, in gewöhnlicher und ungewöhnlicher Weise zu regieren. Alle Entscheidungen seien von seiner Macht umschlossen und diese Macht stamme von Gott. Im Übrigen könne man drei Regeln präzisieren.141 1. Außer im Fall der Notwendigkeit und der salus publica solle der König die Güter seiner Untertanen nicht wegnehmen. 2. Allerdings dürften die Bürger keinen Widerstand leisten, wenn er diese Güter dennoch verlange.

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Samuel Pufendorf, De jure naturae et gentium libri octo, Amsterdam 1698, VIII.5.7, S. 873 f.; in der Übersetzung von Barbeyrac: Basel 1732 (Reprint Caen 1987), S. 449. 138 Caspar Ziegler, De juribus majestatis tractatus academicus, Wittenberg 1681, I c.4, S. 85. 139 Ziegler, De juribus majestatis (Anm. 138), n.11 f, S. 92 f. 140 Ziegler, De juribus majestatis (Anm. 138), n.13, S. 93. 141 Ziegler, De juribus majestatis (Anm. 138), n.14, S. 94.

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3. Wenn der König in casu necessitatis & utilitatis das Eigentum verlange, müsse er den Schaden des Bürgers ersetzen. Die ratio politica verlange, dass derjenige, der den Nutzen von der Sache dann trage, diesen Ausgleich leiste. Beachtet man noch Zieglers Hinweis in seinem Kommentar zu Grotius, dass der Fürst beim Eingriff in die privaten Rechte seiner Bürger in der Form eines Gesetzes handeln müsse,142 wird die Zweideutigkeit seiner Lehre sichtbar. Einerseits versuchte er, Grotius und Pufendorf weiterzudenken und die Voraussetzung der Enteignung als Rechtsinstitut weiter zu präzisieren. So übernahm er die Begriffe von Grotius und lehrte, dass das Eigentum als Teil des Naturrechts auch von den Fürsten beachtet werden müsse. Andererseits führte er durch die Betonung der Gehorsamspflicht auch bei ungerechten Entscheidungen der Fürsten die alte lutherische Lehre weiter, welche in der Enteignung letztlich kein Rechtsinstitut, sondern allenfalls moralische Bedenken sahen, die im Rahmen einer Politiklehre untersucht werden könnten. Im Ergebnis blieb Ziegler bei der Auffassung, dass aus der Staatsmacht die Macht folge, sich des Eigentums der Untertanen zu bedienen.143 Dabei versuchte Ziegler, das allgemeine mit dem privaten Wohl zu vereinen. Er mahnte nicht nur die Fürsten, das öffentliche Wohl zu suchen und nicht vorschnell zu Lasten der Privaten zu agieren. Er empfahl den Fürsten auch einen Berater, was nicht als Einschränkung der Entscheidungsmacht missverstanden werden dürfe.144 In viele Bereiche wie etwa Verträge und Geschäfte solle sich der Fürst überhaupt nicht einmischen.145 Der diese Geschäfte begründende Konsens sei Teil des ius naturale und Verträge seien durch das ius gentium geschützt. Daher dürfe der Fürst hier sogar nicht eingreifen. Dennoch blieb klar, dass die publica utilitas sich durchsetzen konnte, sogar gegenüber unwilligen Bürgern. Wer für die causa publica sein Gut hingegeben habe, solle sich nicht um sein Wohl oder seinen Preis kümmern, denn es sei nobel, allen zu nützen. Mit einer Fülle von Fällen versuchte Ziegler die Lage näher darzustellen.146 Doch es gelangen ihm weder eine Beschreibung des casus necessitatis, der utilitas publica noch die Bemessung der Ersatzpflicht. Sogar die Entscheidung über die Frage, ob der Private oder die Öffentlichkeit letztlich den Schaden zu tragen habe, wies er letztlich dem Fürsten zu.147 Erst mit Wolff kann man erkennen, dass sich die Lehre von Grotius durchzusetzen begann.148 Das „vorzügliche Eigenthum“ des dominium eminens begründe das Recht 142

Ziegler, In Hugonis Grotii (Anm. 99), S. 376, zu Grotius, De iure belli ac pacis, II.14.9. Ziegler, De juribus majestatis (Anm. 138), n.26, S. 101: „cum verò Regna alia sint in pleno jure proprietatis, & in patrimonio imperantis, dubium non est, alienari illa ab imperante posse“. 144 Ziegler, De juribus majestatis (Anm. 138), n.18, S. 96. 145 Ziegler, De juribus majestatis (Anm. 138), n.21, S. 98. 146 Ziegler, De juribus majestatis (Anm. 138), n.15 ff, S. 95 ff. 147 Ziegler, De juribus majestatis (Anm. 138), n.22, S. 99. 148 Christian Wolff, Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, Halle 1754 (Reprint Meisenheim/Glan 1980), § 1065, S. 775. 143

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des Fürsten über das Eigentum der Bürger. Aufgrund des ius eminens habe der Staat das Recht, als ein Recht der Not über Sachen und Personen zu verfügen, denn die allgemeine Wohlfahrt bilde das Hauptgesetz eines Staates.149 Wolff vertiefte damit das Verständnis der Bürgerseite und erklärte, worin eingegriffen werden dürfe.

C. Schluss Hier zeigt sich, wie notwendig eine überkonfessionelle Analyse ist, denn nur so lassen sich konfessionelle Profile und die Grenzen einer solchen Betrachtungsweise beobachten. Der Überblick über Juristen des 16. und 17. Jahrhundert lässt also erneut ein konfessionelles Profil der verschiedenen Positionen deutlich werden. Zwar konnte für den Zweck dieser Untersuchung weder „alles“ gelesen werden noch ließ sich aus allen herangezogenen Texten eine klare Aussage zur Enteignung gewinnen. Insofern lässt sich aus den Beobachtungen keine Zwangsläufigkeit für einzelne Autoren ableiten, wie es evtl. zunächst nach den Betrachtungen zum Testament wirkte. Insbesondere lässt sich keine ganz trennscharfe konfessionelle Position zur Natur des Eigentums als Materie des ius civile, gentium oder naturale feststellen, wie das im Erbrecht sichtbar wurde. Sogar für das Sachenrecht, hier konkret im Eigentumsrecht, wird damit letztlich die Spaltung der Rechtsordnung erkennbar, die durch die Reformation verursacht wurde. Gerade in der Interpretation von 1Sam 8 zeigen sich die konfessionellen Einstellungen. Die Positionen der römisch-katholischen Autoren waren nicht ganz einheitlich. Hier finden sich nicht zuletzt auch noch Autoren wie Decius, die kaum von der Reformation erfasst wurden. Die französischen Autoren sind dagegen in konfessioneller Hinsicht oft wenig eindeutig zuzuordnen. Insgesamt jedoch findet man hier kaum Auseinandersetzungen zu 1Sam 8. Die Enteignung wird als außergewöhnliche Macht des Fürsten meist kurz bestätigt. Ihm wird nur aufgegeben, diese Macht für das Gemeinwohl einzusetzen. Ein Widerstandsrecht wird hier im Ansatz nicht entwickelt. Eher kam eine päpstliche Kontrolle in Betracht. Zumindest die spanischen Juristen wiesen immer wieder auf diese Möglichkeit und diese Konsequenz der Stellung des Papstes hin. Bei den calvinistischen Autoren spielte von vornherein der Gesellschaftsvertrag die zentrale Rolle. Damit wurde zwar weniger das Eigentum selbst als die Forderung begründet, das notwendige Gut der Bürger durch die zentrale Macht beschützen zu lassen. Könige und Magistrate waren beide gleichermaßen Gott gegenüber verpflichtet, sich für den Schutz der Untertanen und ihrer Rechte einzusetzen. Die Vernachlässigung der Schutzpflicht war nicht nur Ungehorsam gegenüber Gott, sondern warf ebenso unmittelbar die Frage auf, ob die Untertanen weiterhin gehorsam bleiben mussten. Das Widerstandsrecht schuf damit den Forderungen der Bürger nach Schutz

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Wolff, Grundsätze des Natur- und Völkerrechts (Anm. 148), § 976, S. 699.

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ihres Eigentums den notwendigen Rückhalt. Es trat funktionell an die Stelle der päpstlichen Kontrolle. Bei den Lutheranern wurde wie bei den Calvinisten mit 1Sam 8 argumentiert. Während die Calvinisten das jedoch als Warnung abzutun versuchten, lasen die Lutheraner diese Stelle entweder als das von Gott gegebene Recht der Könige oder als status quo, den Gott hinzunehmen bereit war. Daraus folgte in jedem Fall die Pflicht der Untertanen, diese Wegnahmen wie von Samuel angekündigt zu dulden. Fürsten durften daher Ungerechtes tun, ohne dass dadurch das Widerstandsrecht der Untertanen begründet wurde. Zur Not rekurrierten die lutherischen Juristen auf die mittelalterliche Lehre der potestas extraordinaria. Diese wurde jetzt als eine Art Staatsnotstand verstanden, um das Zugriffsrecht des Fürsten zu begründen. Schon allgemein hat Robert von Friedeburg darauf hingewiesen, wie die Fürsten in lutherischen Territorien wie ein Unwetter oder eine Umweltkatastrophe von den Untertanen mit Geduld und Gottergebenheit ertragen werden mussten.150 Die konfessionellen Grenzen begannen sich offenbar in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu verringern bzw. aufzulösen. Dies wurde z. B. schon bei Pufendorf deutlich. Noch weniger klar ist, ob die theologischen Vorgaben der Literatur die Staatspraxis beeinflussen konnten. Ob calvinistisch erzogene Fürsten wie Friedrich II. von Preußen wirklich aus religiösen Gründen vorsichtiger darin waren, die Güter ihrer Untertanen zu enteignen, wird man bezweifeln können. Hier spielte die Staatsverfassung mindestens neben der Konfession eine zentrale Rolle. Die unterschiedlichen Situationen der Herrschaften lassen es jedoch als wenig profitabel erscheinen, verschiedene Fälle aus Gebieten mit unterschiedlicher Konfession zu vergleichen. Es kommt in Betracht, dass die praktische Handhabung stärker von den wirtschaftlichen und politischen Interessen der Staaten beeinflusst war, wie sich dies bei den Testamenten bereits zeigte. Wenn die französische Rechtsgeschichte einerseits die Bedeutung der Enteignung für den Ausbau von Städten und Infrastruktur betont,151 Blackstone für die englische Tradition anderseits den rechtmäßigen Eingriff ins Privateigentum nur durch ein Gesetz bei voller Entschädigung sieht,152 dann mag der heutige Leser darin allgemeine Prägungen der Nationen wiedererkennen, die sich nicht nur mit der konfessionellen Tradition, sondern ebenso aus wirtschaftlichen und kulturellen Prägungen ergeben können. In Ergänzung zu meinem „Recht der Reformation“ zeigt sich, dass nicht nur epistemologische Gründe zur Ausbildung konfessionell spezifischer Rechtslehren führ150 Robert von Friedeburg, Der gewissenlose Fürst in der lutherischen Kritik des Dreißigjährigen Krieges, in: Germann, Michael/Decock, Wim (Hrsg.), Das Gewissen in den Rechtslehren der protestantischen und katholischen Reformationen. Conscience in the Legal Teachings of the Protestant and Catholic Reformations, (Leucorea-Studien, 31), Leipzig 2017, S. 287 – 296. 151 François Monnier, La notion d’expropriation au XVIIIe siècle d’après l’exemple de Paris, Journal des savants 3.1 (1984), S. 223 – 258. 152 William Blackstone, Commentaries on the Laws of England, Bd. 1, Oxford 1765 (Reprint Chicago/London 1979), I.1, S. 135.

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ten, sondern dass andere Gründe ebenso dazu beitrugen. Hier war es die Einbettung der Herrschaften entweder in ein vom Papst kontrolliertes Gemeinwesen der Christenheit oder die Frage, wer die Aufgabe der Kontrolle der Fürsten übernehmen sollte. Vertrauten die Lutheraner zunächst allein auf Gott, um den lutherischen Fürsten zu schützen, zeigte sich in calvinistischen Territorien viel früher und klarer die Bereitschaft, Widerstand gegen den Fürst zu begründen und auszuüben. So reagierten die Konfessionen zunächst ganz unterschiedlich auf die politischen Herausforderungen ihrer Zeit. Natürlich entsprechen diese Lehren dem, was allgemein als Pflichten der Untertanen gelehrt wurde. Die Enteignungsfrage verschärfte dabei nur die Fragestellung, ebenso aber auch die Antworten.

„Nulla in mundo Religio tantum favet Magistratui Politico quantum Evangelica, quam Lutheranam vocamus“. Bemerkungen zur politischen Theologie des Luthertums in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Von Wolfgang E. J. Weber, Augsburg

A. Einleitung Die Einschätzung der politischen Wirkungen des Luthertums als Förderung vor allem von Obrigkeitshörigkeit, quietistischer Anpassungsbereitschaft und politikabgewandter Innerlichkeit gilt jüngsten Frühneuzeitforschungen zufolge als inzwischen „wiederholt korrigiert“, also entkräftet.1 In der Tat haben zumal lutherische Profan- und Kirchenhistoriker mittlerweile beeindruckende ideengeschichtliche und empirische Befunde unterschiedlichen Zuschnitts erarbeitet, die die „langgestrickte Legende von der angeblichen lutherischen Passivität“ weitgehend obsolet erscheinen lassen.2 Der Nachweis intensiver Obrigkeitskritik, hoch entwickelter Widerspruchs- und Widerstandsargumentationen, eigener, auf konsensgestützte Herrschaft abstellender Politiktheorie sowie politikkritischer christlich-ethischer Verhaltenslehren darf gleichwohl als ergänzungsfähig oder sogar ergänzungsbedürftig angesehen werden. Denn einerseits beziehen sich diese partiell empirisch angereicherten Forschungsbefunde nur auf bestimmte Ausschnitte des ideengeschichtlichen Gesamtgeschehens, konkret vor allem das 16. und frühe 17. Jahrhundert, während die Untersuchung der übrigen Epochen und Phasen noch weitgehend aussteht, 1

Luise Schorn-Schütte, Gottes Wort und Menschenherrschaft. Politisch-theologische Sprachen im Europa der Frühen Neuzeit, München 2015, S. 31; Anja Kürbis (Hrsg.), Perspectum. Ausgewählte Aufsätze von Luise Schorn-Schütte zur Frühen Neuzeit und Historiographiegeschichte anlässlich ihres 65. Geburtstags, München 2014 (die einschlägigen Beiträge); vgl. jetzt auch Christopher Spehr u. a. (Hrsg.), Weimar und die Reformation. Luthers Obrigkeitslehre und ihre Nachwirkungen, Leipzig 2016, Teil II und III, S. 107 – 190. Eine umfassende Dokumentation des Forschungsstandes ist im vorliegenden Beitrag nicht angestrebt. 2 Jörg Baur, Die Leuchte Thüringens. Johann Gerhard (1582 – 1637). Zeitgerechte Rechtgläubigkeit im Schatten des Dreißigjährigen Krieges, in: Baur, Jörg. (Hrsg.), Luther und seine klassischen Erben. Theologische Aufsätze und Forschungen, Tübingen 1993, S. 335 – 356, (341), zitiert nach Chang Soo Park, Luthertum und Obrigkeit im Alten Reich in der frühen Neuzeit. Dargestellt am Beispiel von Tilemann Heshusius (1527 – 1588), Berlin 2016, S. 29; diese Studie ist eine bei L. Schorn-Schütte in Frankfurt a.M. entstandene Dissertation.

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sieht man vom Sonderfall der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ab.3 Andererseits fehlen noch gezielte Gegenproben, also die Beantwortung der Frage, ob und wenn ja welche obrigkeits- bzw. staatsaufrüstenden Ideen und Argumente lutherischen Mündern und Federn entflossen, als es epochen- oder phasenspezifisch um eben diese Aufrüstungen ging. Frühneuzeitlich ist an dieser Stelle naturgemäß zuerst an die gemeinhin noch immer absolutistisch genannte Epoche zwischen dem Westfälischen Frieden und der sogenannten Aufklärung zu denken. Inhaltlich verdient darüber hinaus erforscht zu werden, ob in diesen Aufrüstungsphasen zwischen Kritik und Affirmation angesiedelte Debatten entstanden, die ein entsprechendes Eigenoder Selbstbewusstsein des Luthertums indizieren. Damit ist der Horizont der folgenden Bemerkungen wenigstens ungefähr abgesteckt.

B. Zu den historisch-ideengeschichtlichen Rahmenbedingungen Vergewissern wir uns zunächst der wichtigsten Rahmenbedingungen, denen die von uns gesuchten und gefundenen lutherischen Beiträge unterlagen.4 Der Westfälische Frieden 1648 erweiterte die Staatsbildungschancen der deutschen Fürsten beträchtlich, indem er das reichstypische Modell föderaler Doppelstaatlichkeit bestätigte und weiter ausbaute. Gleichzeitig festigte er durch die Heranziehung ausländischer Garantiemächte die seit langem bestehende Kommunikation der Reichseliten mit den übrigen europäischen Eliten, so dass deren Intentionen und Erfahrungen mit der je eigenen monarchischen oder republikanischen Staatsaufrüstung nochmals verstärkt in das Reich gelangten. Zu diesem Ideentransfer ist zumal der Import des Machiavellismus und Staatsräsondenkens zu zählen, die der Wahrnehmung und dem Umgang mit den politischen Problemen der Zeit maßgeblich zugrunde lagen. Unmittelbar noch wichtiger für das Reich waren die verfassungsrechtliche Anerkennung des Reformiertentums als zweite protestantische Großkonfession und dadurch die 3

Vgl. neben Schorn-Schütte, Gottes Wort, und Spehr, Weimar (Anm. 1) vor allem Robert von Friedeburg/Mathias Schmoeckel (Hrsg.), Recht, Konfession und Verfassung im 17. Jahrhundert: West- und mitteleuropäische Entwicklungen (Historische Forschungen Bd. 105), Berlin 2015 (die einschlägigen Beiträge), sowie Luise Schorn-Schütte (Hrsg.), Das Interim 1548/50. Herrschaftskrise und Glaubenskonflikt, Gütersloh 2005, [Sektion 4] Widerstandsdebatten im Umkreis des Interims, S. 389 – 509; ferner zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Manfred Gailus (Hrsg.), Nationalprotestantische Mentalitäten: Konturen, Entwicklungslinien und Umbrüche eines Weltbildes, Göttingen 2005. 4 Aus der Literatur, die den nachstehenden Ausführungen zugrunde liegt, seien wenigstens genannt: Robert von Friedeburg, Luther’s Legacy: The Thirty Years War and the Modern Notion of ,State‘ in the Empire, 1530 s to 1790 s, Cambridge 2016; Johannes Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648 – 1763 (Gebhard. Handbuch der deutschen Geschichte Bd. 11), Stuttgart 2006; Heinz Schilling, Konfessionalisierung und Staatsinteressen 1559 – 1660 (Handbuch der Geschichte der internationalen Beziehungen 2), Paderborn 2007; Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999 u. ö.

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Ermöglichung von dessen territorial, regional und lokal weiterer Festigung oder gar kulturell offensivem Vordringen. Der wichtigste Vorgang in diesem Zusammenhang war die Immigration tausender Hugenotten nach Aufhebung des Toleranzedikts von Nantes 1685.5 Schließlich sind als militärisch-politisch wahrnehmungssteuernde und einschätzungsprägende Ereignisketten der anhaltende Krieg gegen das Osmanische Reich und die Abwehr der expansionistischen Bestrebungen Ludwigs XIV. 1667 – 1697 im Westen zu nennen. Die zeitgenössische Staatsbildung vollzog sich in den deutschen Territorien vornehmlich als politiktheoretisch begleiteter und optimierter Verwaltungsausbau, mit der Folge epochaler Verdichtung der Erfassung und Kontrolle des Landes sowie beschleunigten Wachstums politisch-administrativer Zentralen, erkennbar u. a. in der Vermehrung der Staatsbedienten und deren gezielte Verpflichtung auf den frühmodernen Staat. Hinzu kam – auch um diese neuen Beamten bezahlen zu können – der Kameralismus als Wirtschaftsförderpolitik zwecks Erhöhung der Staatseinnahmen, wieder begleitet und gefördert durch eine eigene Wissenschaft, die ab dem Beginn des 18. Jahrhunderts die alte Politikwissenschaft verdrängende Kameralistik (Staatswirtschaftslehre). Kameralistische Befeuerung erfuhren auch die Politik der Bevölkerungsvermehrung (Peuplierung) und die Erziehung der Bevölkerung zur Produktivität.6 Im europäischen Vergleich weniger bedeutsam – sieht man vom preußischen Ausnahmefall ab – blieb dagegen die militärische Aufrüstung, auch wenn sie im kleineren Maßstab durchaus stattfand. Schließlich gehörte zur Staatsbildung auch in den deutschen Territorien die endgültige Institutionalisierung des Hofes nicht nur als Regierungszentrale, sondern auch als Mittelpunkt und Wachstumspol der politischen Kultur. Was das Luthertum anbelangt, so unterlag dieses wie alle anderen anerkannten Kirchen ebenfalls dem Druck des Staates, sich möglichst reibungslos in das staatliche System einzufügen und im staatlichen Sinne zu funktionieren. Damit war nicht nur die Her- und Sicherstellung fraglosen und im Bedarfsfall schnellen Gehorsams gemeint, sondern auch die Förderung der bereits angesprochenen wirtschaftlichen Produktivität als Grundlage stetiger und wachsender Steuerleistung, im Notfall auch von Militärdienst. Der lutherische Mainstream, die sogenannte Orthodoxie, hatte sich gleichzeitig nicht nur wachsender reformierter Konkurrenz und der üblichen Abspaltungen zu erwehren, sondern auch der pietistischen Bewegung zur Erneuerung leben-

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Ulrich Niggemann, Immigrationspolitik zwischen Konflikt und Konsens. Die Hugenottenansiedlung in Deutschland und England (1681 – 1697), Köln u. a. 2008; Michael Lausberg, Hugenotten in Deutschland. Die Einwanderung von französischen Glaubensflüchtlingen, Marburg 2007. 6 Marcus Sandl, Ökonomie des Raumes. Der kameralwissenschaftliche Entwurf der Staatswirtschaft im 18. Jahrhundert, Köln u. a. 1999.

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diger Laienfrömmigkeit sowie rationalistisch-frühaufgeklärter, von ihr als atheistisch wahrgenommener Herausforderungen.7

C. Von Luther zum Westfälischen Frieden: Ein Blick auf die Vorgeschichte Martin Luthers Kombination der Zwei-Reiche- und der Drei-Stände-Lehre machte ein Zentrum seines reformatorischen Anliegens aus, das Verhältnis von Diesseits und Jenseits und die Ermöglichung der jenseitigen Erfüllung durch das richtige oder gute diesseitige Leben bibelgerecht zu bestimmen. Obwohl grundsätzlich getrennt, waren weltliches Reich bzw. weltliches Regiment, zuständig für die diesseitig-äußeren Belange, und geistliches Reich bzw. geistliche Obrigkeit (Prediger, Pastoren), zuständig für Glauben und Seele, mithin aufeinander bezogen. Worauf es ankam, war damit eine gute Obrigkeit oder ein gutes Regiment bzw. eine gute politisch-herrschaftliche Ordnung, die ihrer genuinen Aufgabe der Herstellung und Sicherung von äußerer Ordnung, Sicherheit und Frieden gegen Chaos, Unsicherheit, Gewalttätigkeit und Krieg nach ihren eigenen, vernünftigen Gesetzen nachkam: Erstens „zu zwingen die bösen und zu schützen die frommen“; zweitens in Kooperation mit der Hausobrigkeit (den Hausvätern) und mit der geistlichen Obrigkeit umfassend, auch unter Einbezug der „sitten und gewonheite, geberden, stende, unterscheidene empter, person, kleider etc.“ dafür zu sorgen, dass „land und leut wol stehen ym friden und zunehmen an gütern, haus, hoff, weib, kind, gesind und was mehr weltlich ist“, um damit die Voraussetzungen für wahre Christlichkeit ständig zu verbessern.8 Um dieser Aufgabe nachkommen zu können, mussten weltliche Ordnung und Obrigkeit auf den vollen Gehorsam der ihr Zugehörenden bzw. Untertanen zählen können. Diese Gehorsamspflicht galt aber auch grundsätzlich, da erstens das weltliche Reich und seine hierarchische Ordnung Gottes Wille entsprachen und damit vorbehaltlos akzeptiert werden mussten, und zweitens daher jeder Verfall der weltlichen Ordnung als satanisch bedingt und jede Förderung dieses Verfalls etwa durch Ungehorsam als Sünde betrachtet werden mussten: „Denn es ist keyn gewallt on von Gott; die gewallt aber, die allenthalben ist, die ist von Gott verordnet. Wer nu der gewalt widderstehet, der widderstehet Gottis ordnung; wer aber gottis ordnung widerstehet, der wirt yihm selb das Verdamnis erlangen“.9 Ausdrücklich war deshalb auch anders7

Vgl. angesichts des Fehlens einer aktuellen systematischen Gesamtdarstellung die einschlägigen Aufsätze bei Wolfgang Sommer, Frömmigkeit und Weltoffenheit im deutschen Luthertum, Leipzig 2013. 8 Zuletzt zusammenfassend und auf den Punkt gebracht, mit allen nötigen Nachweisen Marcus Sandl, Politik im Angesicht des Weltendes. Die Verzeitlichung des Politischen im Horizont des reformatorischen Schriftprinzips, in: Peçar, Andreas/Trampedach, Kai (Hrsg.), Die Bibel als politisches Argument. Voraussetzungen und Folgen biblizistischer Herrschaftslegitimation in der Vormoderne (Historische Zeitschrift, Beiheft 43), München 2007, S. 243 – 272, hier 258 und 263 f.; die Zitate stammen von Luther. 9 Sandl, Verzeitlichung (Anm. 8), S. 256.

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gläubige oder gar tyrannische Herrschaft zu erdulden, es sei denn, diese versuchte mit Gewalt Glaubensverrat und Gewissensbruch zu erzwingen, welchem heilsbedrohenden Zugriff sich die Gläubigen nur durch Exil oder Märtyrertod entziehen durften. Mit der Benennung der genuinen Aufgaben der weltlichen Ordnung bzw. des weltlichen Regiments war allerdings die Möglichkeit eröffnet, „politische Kategorien [zu] etablieren, die es erlaubten, zwischen einem guten und einem schlechten Regiment zu unterscheiden und gleichzeitig Maßstäbe der Herrschaft zu entwickeln, die sich aus dem Kontext ihres konkreten Aufgabengebiets ergaben“.10 Wem die Formulierung und erforderlichenfalls Fortentwicklung der christlichen Bewertungskategorien grundsätzlich oblag, war bekanntermaßen die geistliche Obrigkeit, die diese Funktion allerdings wie alle ihre Funktionen mehr oder weniger deutlich im Rekurs auf die Gemeinschaft der Gläubigen, also die Einzelgemeinden und die Gemeindeverbünde, auszuüben hatte. Die Maßstäbe und Mittel vernünftig-klugen Regierens zu finden und einzusetzen, fiel dagegen in die Kompetenz der dazu Berufenen, d. h. der Regierenden, die insoweit über einen eigenen Verantwortungs- und Gestaltungsbereich verfügten. Die „Interventions- und Regulierungskompetenz der evangelischen Geistlichkeit“, also die Applizierung der christlichen Bewertungsmaßstäbe auf die konkrete Politik, konnte allerdings unterschiedlich ausgelegt werden. Luther selbst fasste sie angesichts seiner Erfahrungen mit Bauernkrieg und „falschen Propheten“ sehr eng auf: „Du darfst die Obrigkeit nicht schelten, wenn du zuzeiten von Fürsten und Tyrannen unterdrückt wirst, und dass sie ihre Gewalt missbrauchen, die sie von Gott haben, sie werden wohl müssen Rechenschaft davon geben. Der Missbrauch eines Dings macht darum das Ding nicht böse, das an ihm selbst gut ist“.11 Seine Helfer und Nachfolger neigten wegen der existenziellen Gefährdungen, denen sie ihren einzig wahren, endlich wieder gefundenen Glauben im Vorfeld und Verlauf der Religionskriege bis hin zum Dreißigjährigen Krieg ausgesetzt sahen, dagegen zu erweitertem Verständnis. Daraus erwuchs einerseits diejenige doch überraschend massive Obrigkeitsermahnung, -kritik, -beratung und -anweisung, auf die die jüngere Forschung so gerne abhebt, und erwärmten manche Pastoren und Theologen sich für mehr oder weniger weit gehende Widerstandslehren, regelmäßig unter Bezug auf bundes- und vertragstheologische Argumente und Gewissensvorbehalte.12 Andererseits erwiesen sich viele von ihnen als geneigt, den Eigenbereich und die eigenen Regeln vernünftig-klugen Regierens und der Festigung der weltlichen Ordnung stärker anzuerkennen als ihre Vorgänger. Das aber bedeutete nichts anderes als eine Öffnung gegenüber dem frühmodernen politischen Denken neuaristotelischen und staatsräso10

Sandl, Verzeitlichung (Anm. 8), S. 258. Sandl, Verzeitlichung (Anm. 8), S. 267; Reinhold Rieger, „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. Frei im Glauben, gehorsam der Obrigkeit? Martin Luthers Freiheitsverständnis zwischen Glaube und Politik, in: Staatliche Kunstsammlungen Dresden/Syndram, Dirk /Wirth, Yvonne/Zerbe, Doreen (Hrsg.), Luther und die Fürsten. Selbstdarstellung und Selbstverständnis des Herrschers im Zeitalter der Reformation. Beiträge zur wissenschaftlichen Tagung vom 29 bis 31. Mai 2014, Dresden 2015, S. 35 – 45, (35). 12 Vgl. die in Anm. 1 aufgeführten Beiträge. 11

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nalen, über das Klugheitspostulat vermittelten Zuschnitts, freilich ausschließlich in Varianten, die um die berüchtigten machiavellistisch-satanischen Komponenten bereinigt waren. Die Einübung in die herrschaftstheoretisch-funktionalistische Betrachtung von Religion und Kirche, die mit dieser Öffnung verbunden war, vermittelte offenbar maßgeblich auch ein Gegenreformator, nämlich Giovanni Botero. In dessen epochemachendem Hauptwerk Della Ragion di Stato von 1589 konnten auch die lutherischen Pastoren und Politiker unter anderem lesen: „Unter allen Gesetzen gibt es keines, das für Fürsten günstiger ist, als das christliche. Denn dieses unterwirft ihnen nicht nur die Körper und, wo es sich ziemt, auch den Besitz der Untertanen, sondern auch deren Bewusstsein (animi) und die Gewissen und bindet so nicht nur die Hände, sondern auch die Gefühle (affetti) und Gedanken. Zudem verlangt das christliche Gesetz, dass man nicht nur maßvollen, sondern auch schurkischen Fürsten gehorcht und alles erduldet, um nicht den Frieden zu stören. Und nichts entbindet den Untertanen von seiner Gehorsamspflicht, es sei denn ein Verstoß gegen das Gesetz der Natur oder Gottes“.13 Als wahrhaft und eigentlich christliches Gesetz bzw. christliche Religion fassten die lutherischen Leser natürlich ihre eigene, die lutherische, auf. Die funktionalistische Perspektive förderte die Tendenz, den Kampf gegen die Papstkirche nicht nur als Kampf um die christliche Wahrheit zu führen und als entscheidenden Vorzug des Luthertums eben dessen Wahrheit zu benennen, aus der sich Begünstigung durch Gott und die einzige Chance ewiger Erlösung für die Gläubigen ableiten ließ. Vielmehr wurden jetzt, im ausgehenden 16. Jahrhundert, auch in dieser konfessionellen Perspektive zunehmend politisch-weltliche bis handfest materielle Vorteile einbezogen, um die weltlichen Entscheidungsträger für sich zu gewinnen oder – angesichts erster Fälle fürstlicher Rückkehr zur römischen Kirche – in den eigenen Reihen zu halten: finanziellen Gewinn durch Verstaatlichung kirchlichen Besitzes und kirchlicher Einkünfte; Ausdehnung herrschaftlicher Kompetenz und Festigung weltlicher Herrschaft durch Abbau kirchlicher Privilegien und Übernahme kirchlicher Kompetenzbereiche wie z. B. das Bildungswesen; Ausschaltung des Papsttums und der Bischöfe als politisch-herrschaftliche Rivalen. Aus der mehr oder weniger ungeordneten Aufzählung derartiger Punkte sollten wenig später, vorangetrieben durch die Herausforderungen des Dreißigjährigen Krieges, zusammenhängende Argumentationen entwickelt werden. Gerade die Kriegs- und Krisenerfahrung führte allerdings auch dazu, dass die Frage danach, welche Konfession politisch vorteilhafter sei, durch die Problematik überlagert und teilweise in den Hintergrund gedrängt wurde, ob ein Herrschaftsge13 Volker Reinhardt, Christliche Staatsräson? Giovanni Botero, Machiavelli und die Moral der Politik, in: ders. u. a. (Hrsg.), Der Machtstaat. Niccolò Machiavelli als Theoretiker der Macht im Spiegel der Zeit, Baden-Baden 2015, S. 91 – 108, Botero-Zitat mit Nachweis S. 95. Die Untersuchung und Feststellung eines Verstoßes gegen das Gesetz Gottes oder das göttliche Naturgesetz ist naturgemäß den Eliten reserviert. Vgl. allgemeiner auch Cornel Zwierlein/ Annette Meyer (Hrsg.), Machiavellismus in Deutschland. Chiffre von Kontingenz, Herrschaft und Empirismus in der Neuzeit, München 2010.

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biet oder Staat konfessionell besser unitarisch oder pluralistisch, gegebenenfalls mittels des Instruments der Religions- oder Bekenntnisfreiheit, zu gestalten sei. Die Antwort fiel erwartungsgemäß regelmäßig zugunsten des unitarischen Konfessionsstaates aus, weil wesentlich der konfessionelle Gegensatz für Aufruhr und Bürgerkrieg verantwortlich gemacht wurde. Im Übrigen verdient festgehalten zu werden, dass die Begriffsbildung politica christiana als Bezeichnung für die um die Zwei-Reiche- und Drei-Stände-Lehre herum entwickelten lutherischen politischen Vorstellungen eigentlich erst um diese Zeit, im ausgehenden 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts, als entsprechender Quellenbegriff auftaucht. Ihn bereits für den Anfang der Reformation zu verwenden, ist deshalb eher irritierend, weil er eine fortgeschrittene Autonomie des Politischen signalisiert, die in dieser frühen Phase noch überhaupt nicht gedacht war.14

D. Beiträge und Argumentationsverdichtungen bis um 1680 Die systematischen und kompendiösen Politiken (opera politica systematica et compendiosa), die das parallel zur fortschreitenden Verselbständigung des weltlich-politischen Bereichs entstehende akademische Fach Politikwissenschaft (Politica) konstituierten,15 plädierten regelmäßig entschieden für den einheitlichen Konfessionsstaat. Sich dabei eindeutig und konkret auf eine bestimmte, nämlich die von den Autoren jeweils selbst vertretene Konfession festzulegen, unternahmen im Wesentlichen allerdings nur die Vertreter der jetzt zeitgenössisch so bezeichneten Untergruppe der politica christiana. Als Hauptargument für die Konfessionswahl wurde von ihnen erwartungsgemäß noch immer die innere Wahrheit oder Richtigkeit des jeweiligen Bekenntnisses und damit verbunden die beste Aussicht auf den Erwerb der Gunst Gottes für den betreffenden Staat und dessen Angehörige angeführt. Vergleiche der politischen Vorzüge und Nachteile der diversen Konfessionen finden sich erst ansatzweise, und zwar auch deshalb, weil die zeitgenössischen Politikdenker die Befriedung und dauerhafte Stabilisierung der bestehenden Staaten anstrebten, nicht aber deren unweigerlich mit neuerlichem Umsturz und Konflikt verbundenen Neuentwurf am grünen Tisch. Die politisch-konfessionelle Komparatistik wurde demzufolge in erster Linie von außen, der Konfessionspolemik und der politischen Polemik, befeuert. Unmittelbar mit der konfessionellen Wahrheitsfrage hing z. B. die Debatte darüber zusammen, welcher allgemeine Huldigungs- oder spezifische Gehorsamseid 14 Luise Schorn-Schütte, Politica Christiana in the sixteenth and seventeeth Centuries, in: von Friedeburg, Robert (Hrsg.), Politics, Law, Society, History, and Religion in the Politica (1590 s–1650 s). Interdisciplinary Perspectives on an Interdisciplinary Subject, Hildesheim 2013, S. 59 – 85. 15 Merio Scattola, Della Virtù alla Scienza. La fondazione e la trasformazione della disciplina politica nell‘ et‘moderna, Mailand 2003; Wolfgang Weber, Prudentia gubernatoria. Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen Politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1992.

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den Untertanen mit Gottes Hilfe wirklich restlos verpflichte.16 Calvinisch und lutherisch war der unermüdlich wiederholte Verweis auf erfolgreiche Ausschaltung des Machtfaktors Papstkirche. Römische und lutherische Autoren verdammten den Calvinismus wegen dessen monarchomachischen und ,demokratischen‘, d. h. umstürzlerisch-anarchistischen Tendenzen, die sie insbesondere bei der Hinrichtung König Karls I. von England 1649 am Werke und bestätigt sahen. Lutherische Absolutismusbefürworter wie der Helmstedter Politologe Henning Arnisaus systematisierten diesen Ansatz.17 Insbesondere Jesuiten versuchten den Protestantismus insgesamt als ewig neuerungssüchtig, unruhig und unausrottbar rebellisch darzustellen, hoben aber gegenüber den Fürsten auch als Vorteil ihrer Kirche hervor, dass nachgeborene Söhne standesgemäß mit kirchlichen Ämtern und Einkünften und Töchter klösterlich versorgt werden könnten. Dass sich die Konfessionen wechselseitig machiavellischer Hinterlist und satanischer politischer Praktiken bezichtigten, war spätestens seit den 1570er Jahren üblich.18 Seit etwa 1650 verdichtete sich dieser Argumentationskomplex und setzte sich akademisch fest. Die von dem Philosophen Peter Muccius und einem von dessen Studenten 1648 publizierte gleichnamige Leipziger akademische Abhandlung definierte den neuen Fachbegriff Religio politica als „cultus Numinis a Principe introducendus in rempubl. debito modo conservandus ad ejus salutem“ und plädierte im Anschluss an das entsprechend ausgelegte Reichsrecht („Ejus est Religio, cujus est Regio“) damit erneut für den unitarischen, vom monarchischen Souverän bestimmten Kon16

Exermplarisch Heinrich Schmiedel, Die gantze Lehr Vom Eydschweren: inn welcher angezeiget wird: 1. Ob schweren an ihm selber recht oder unrecht sey. 2. Was der Eyd sey 3. Von mancherley Form und Weiß zu schweren 4. Welcher Eyd zu halten oder nicht zu halten sey. 5. Was für ein grosse Sünd der Meyneyd sey/ unnd wie hefftig den Gott pflegt zu straffen; In sieben Predigten verfasset/ und gehalten zu Nürnberg, Nürnberg: Külßner 1602; oder, in Kombination von Lehrgedicht und Bibel- sowie Lutherzitat Friedrich Sommer, Homagium oder Huldigung. Vom Ampt der Untertanen auß den Worten des Herren Christi […], Königsberg in Preußen: Schmidt 1611; aus dem süddeutschen Raum und der Epoche um 1700 [N.N.] Ein schöne Außlegung deß Eyd-Schwurs, was ein jeder Finger bedeut und außweißt; allen frommen Christen für die Augen gestellt und beschrieben, Augspurg: Steudner [ca. 1700]. Vgl. aus der Literatur grundlegend die Beiträge bei Paolo Prodi (Hrsg.), Glaube und Eid. Treueformeln, Glaubensbekenntnisse und Sozialdisziplinierung zwischen Mittelalter und Neuzeit, München 1993; eine spezifische Studie zur lutherischen Variante im 17. Jahrhundert scheint zu fehlen. 17 Henning Arnisaeus, De Autoritate Principum in Populum semper inviolabili, seu quod nulla ex causa subditis fas sit contra legitimum Principem arma movere, commentatio publica; opposita seditiosis quorundorum scriptis, qui omnem Principum majestatem subiiciunt censurae Ephorum & populi, Frankfurt: Thim 1611 und 1612, Straßburg: Zetzner 1635 und 1648, Straßburg: Dolhopf 1673. 18 Zwierlein/Meyer, Machiavellismus (Anm. 13); Cornel Zwierlein, Machiavellismus/Antimachiavellismus, in: Jaumann, Herbert (Hrsg.), Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit, Berlin/New York 2010, S. 903 – 951; ders., ,Convertire tutta l’Alemagna‘ – Fürstenkonversionen in den Strategiedenkrahmen der römischen Europapolitik um 1600: Zum Verhältnis von ,Machiavellismus‘ und ,Konfessionalismus‘, in: Lotz-Heumann, Ute u. a. (Hrsg.), Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit, Gütersloh 2007, S. 63 – 105.

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fessionsstaat, bei indirekter und wenig explizierter, aber erkennbarer Bevorzugung des Luthertums.19 Sechs Jahre später befasste sich an der gleichen Universität eine von Jakob Thomasius geleitete, kurze Dissertation im lutherischen Geist mit der politisch-gesellschaftlichen Aufgabe der societas paterna, also des status oeconomicus, identifiziert im Wesentlichen als Einführung in Hierarchie und Gehorsam, Sittenzivilisierung und Erziehung zur Arbeitsfreude.20 Mehr öffentliche Rezeption fand der wiederum ein Jahr später, also 1655, im benachbarten Magdeburg erstmals vorgelegte De Religione politica Liber unus des Politik-, Ethik- und Rechtsprofessors an der Ritterakademie Lüneburg und dann der Universität Helmstedt Daniel Clasen. Er wandte sich in der Hauptargumentation scharf gegen jede politische Instrumentalisierung von Glauben und Kirche, deren Ziel nicht das „bonum temporale, sed Spirituale“ sei, und zweifelte dabei die Tauglichkeit des auf höherer Abstraktionsebene angesiedelten Begriffs religio an. Gleichzeitig stellte er in bis dahin unerreichter Fülle die Versuche der diversen Politici zusammen, Glauben und Kirche in den Dienst für Herrschaft und Staat zu nehmen. Deren Interesse beziehe sich nur auf die Folgen des Glaubens und Kultus für das Verhalten, aber nicht auf deren Wahrheit und Inhalt, weshalb sie religio lediglich als „medium civile“ betrachten und nach deren Effektivität in diesem Rahmen beurteilen. Dagegen lehnt Clasen derartige „neutralitas“ in Glaubensfragen und erst recht den damit verknüpften „atheismus“ dezidiert ab: worauf es vielmehr ankomme, sei eben „vera fides“ bzw. „vera christianitas“. Clasen versucht also den höheren, jenseitigen Zweck der religio zu retten und bevorzugt in deren Konkretisierung unmissverständlich die lutherische Christentumsversion, für deren zumindest indirekte Bewerbung er vielfach auch wieder durchaus auf politisch-soziale Vorzüge zurückgreift, darunter die Her- und Sicherstellung wahren, tiefsten Gehorsams bei den Untertanen. Allerdings historisiert er seine Befunde; ausnahmsweise und vorübergehend sind auch konfessionsplurale, sogar nichtchristliche Verhältnisse möglich – die üblichen Beispiele und tendenziell Vorbilder sind die Niederlande und das Osmanische Reich – Verhältnisse, die keinesfalls plötzlich und gewaltsam geändert werden sollten oder könnten, ohne wieder in das schlimmste Übel, den religiösen Bürgerkrieg, zurückzufallen. Clasens Werk wurde 1681 und 1702 neu aufgelegt; es bestimmte also auch noch die Hauptdiskursphase um 1685 mit.21 Zu den nach Clasens Beitrag publizierten einschlägigen Werken zählte Friedrich Brecklings, des ursprünglich lutherischen, spiritualistischen Pastors und Theologen, Religio libera Persecutio relegata, Tyrannis Exul & Iustitia Redux von 1663 (gedruckt in Amsterdam), der in seine Argumentation für Bekenntnisfreiheit zentral 19 Peter Muccius (Praes.), Simon Weiß (Resp.), Religio politica, Leipzig: Coler 1648, [unpag.] Cap. LXXX und erste Disputationsthese. 20 Jakob Thomasius (Praes.), Johannes Jordan (Resp.), Dissertatio politico-oeconomica De Societate Paterna, Leipzig: Coler 1654. 21 Daniel Clasen, De Religione politica Liber unus, Magdeburg 1655; Ernst Feil, Religio Bd. 3. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs im 17. und frühen 18. Jahrhundert, Göttingen 2001, S. 128 – 133 (mit Nachweis der Zitate).

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die Einsicht keineswegs nur Luthers einbaute, dass der Glaube bzw. die Gewissen nicht mit Gewalt zu zwingen seien.22 Die Jenenser Disputatio politica de religione in genere von 1666, betreut von dem späteren Pastor und Pädagogen Peter Härtel, setzte religionsvergleichend an, ließ das Christentum wieder unverkennbar in der lutherischen Version als Sieger hervorgehen und mündet in einen entsprechend perspektivierten, explizit ergänzungsfähigen, freilich nicht gerade innovativen 6-Punkte-Katalog politisch-sozialen Nutzens der Religion: „ex ea fluit summa & quanta excogitari potest subditorum in magistratus veneratio“; „fluit summa de subditis imperantium cura“; „fluunt promtae rerum actiones“; „fluit mutua imperantium & obsequentium inter se fides confirmata“; „fluit summa concordia & pax subditorum“; „fluit impulsus ad publicas privatasque virtutes“.23 Keine akademische Abhandlung, sondern ein scharfer politisch-polemischer und deshalb pseudonymer, umso stärker öffentlichkeitswirksamer Beitrag war der bekannte fiktive Brief De Statu Imperii Germanici Samuel Pufendorfs von 1667, der einen besonders freimütigen politisch-konfessionellen Vergleich enthielt. Die inhaltliche Wahrheit der diversen Konfessionen sei politiktheoretisch nicht zu prüfen, sehr wohl aber, „quatenus via salutis aeternae, circa quam sacerdotes laborant, ad rationes nostras politicas quadret“. Dabei ging es Pufendorf in erster Linie um die „tranquillitas civilis vitae“ und deren Voraussetzungen. Das Ergebnis wird gleich vorweggenommen: „In Lutheranorum religione nihil licuit animadvertere, quod principiis doctrinae civilis repugnaret“. „Die Landesfürsten haben die Gewalt in Kirchensachen, die geistlichen Güter sind zum großen Nutzen für den Staat gewaltig verkleinert worden […]; dem Volk ist eingeschärft, die Obrigkeit als Stellvertreter Gottes auf Erden zu achten; schließlich hat man das Vollbringen guter Werke [d. h. die Erbringung von Leistungen und Arbeit] allen rechtschaffenen Menschen zur Pflicht gemacht. Auch ist es zu billigen, dass einige nichtsbedeutende Zeremonien und ein gewisser Schmuck des öffentlichen Gottesdienstes beibehalten wurden, um einfachere Leute, über deren Fassungskraft der nackte religiöse Gedanke hinausgeht, zur Andacht zu stimmen. Die religiösen Mysterien hat man nicht mit dem Schauder vor einem abergläubischen Wunderglauben versehen, sondern man mutet dem menschlichen Geist soviel Scharfsinn zu, die göttliche Weisheit und Macht als solche zu denken, die viel Erhabeneres schaffen kann, als der Mensch sich vorzustellen vermag. […] Außerdem, wie keine Religion den deutschen Fürsten nützlicher sein könnte, so gibt es generell keine geeignetere für die monarchische Verfassung“. Der Calvinismus dagegen erwärme die Herzen kaum, erzeuge ständiges Nachsinnen über 22

Friedrich Breckling, Religio libera Persecutio relegata, Tyrannis Exul & Iustitia Redux: Hochnötige Erinnerung an die Hohe Obrigkeiten in Deutschland/ Engeland/ Dennemarck/ Schweden/ und andern Fürstenthümern/ Ländern und Stätten Europae über einige Gewissens Fragen Von der Gewissens Freyheit/ und andern hochnötigen Sachen der Obrigkeit Ampt und Persohn anbelangend, Freystatt [d.i. Amsterdam] 1663; Brigitte Klosterberg (Hrsg.), Friedrich Breckling (1629 – 1711): Prediger, „Wahrheitszeuge“ und Vermittler des Pietismus im niederländischen Exil, Halle 2011. 23 Peter Härtel (Praes.), Conrad Daum (Resp.): Disputationum politicarum prima De religione in genere, Jena: Werther 1666, [unpag.] § 24.

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Glaube und Religion, was u. a. zum kriegerischen Fanatismus reize, und „begünstigt die Entstehung demokratischer Freiheit (libertas democratica)“, also im vorherrschenden zeitgenössischen Verständnis wieder: Anarchie.24 Die römisch-katholische Religion schließlich „sorgt sich weniger darum, die Menschen zur Rechtschaffenheit (probitas) anzuleiten, als vielmehr um die gewaltige Vermehrung von Reichtum, Macht und Ansehen der Geistlichkeit. […] Auch hat man den Gottesdienst mit so zahlreichen und glänzenden Zeremonien ausgestattet, damit das damit überschüttete und betäubte Volk sich nicht durch Überlegung auf die Suche nach echter Frömmigkeit begibt. […] Das „geistliche Reich“ ist höchst „kunstvoll zusammengefügt. Man kann wahrlich sagen, es habe seit Erschaffung der Welt keinen so gut geordneten und auf starken Wurzeln ruhenden Körper gegeben. Einmal ist dieser Staat nach dem Bild der striktesten Monarchie geformt. Das Oberhaupt der Geistlichen hat eine der göttlichen gleiche Autorität. Der unfehlbare Stellvertreter Gottes verfügt ohne die Möglichkeit der Berufung oder des Einspruchs über die Schlüssel zum Himmel und zur Hölle.“ Diese höchste Würde „wird nur durch Wahl übertragen, damit im Gegensatz zu Degenerationserscheinungen bei einer königlichen Dynastie der päpstliche Stuhl dem Würdigsten und über jugendliche Leidenschaften Erhabenen offensteht […]. Allen Mitgliedern des geistlichen Staates [ist] der Zölibat vorgeschrieben, damit sie sich nie von privaten [d. h. familiären] Interessen leiten lassen. […] Kein weltlicher Fürst erhält einen solchen Gehorsam seiner Untertanen wie der Papst. […] Nach alledem glauben viele, dass auf das geistliche Reich zutreffe, was im Buche Hiob im mystischen Sinne vom Leviathan überliefert ist“. Später wird Pufendorfs Anhänger und Verwandter Adam Rechenberg († 1721) nicht ohne eine gewisse Bewunderung die päpstliche Herrschaft als Totat (totatum) bezeichnen.25 Insgesamt ist trotz mancher einzelner herrschaftlicher Vorzüge die römische Konfession aus Pufendorfs Sicht politisch zumal für das deutsche Reich und seine Fürsten damit nicht nur als untauglich, sondern auch als im höchsten Maße gefährlich bis entschieden destruktiv entlarvt. Die von ihm selbst noch nicht ausdrücklich benannte Konsequenz war u. a. die Bestrebung, die katholischen Habsburger durch eine evangelische (lutherische) Kaiserdynastie zu ersetzen.26 Unmittelbar an Pufendorfs Ansatz knüpfte eine Reihe von Dissertationen an, die der bereits erwähnte Adam Rechenberg, der mehrfach mit der Leipziger Gelehrtenelite verschwägerte Philosoph, Politikwissenschaftler, Historiker und dann Theologe, betreute oder zumindest präsidierte. Die 1667 zusammen mit Johann Gregor Behnisch vorgelegte Abhandlung De Cultu Principi a subdito exhibendo befasste sich 24 Samuel von Pufendorf. Die Verfassung des deutschen Reiches, Herausgegeben und übersetzt von Horst Denzer (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens 4) [dt.-lat. Ausgabe], Frankfurt a.M./Leipzig 1994, S. 251 – 254. 25 Pufendorf, Verfassung (Anm. 24), S. 255 – 261; Adam Rechenberg (Praes.), Johann Doppert (Resp.), De Totatu Hildebrandino Dissertatio historica, Leipzig: Fleischer 1693. 26 Vgl. grundlegend dazu Heinz Duchhardt, Protestantisches Kaisertum und Altes Reich. Die Diskussion über die Konfession des Kaisers in Politik, Publizistik und Staatsrecht, Wiesbaden 1977.

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mit der Ehrenbezeugung, die der Untertan seinem Fürsten, sei er Angehöriger der eigenen Konfession, anderer Konfession oder sogar wilder Tyrann, ganz im lutherischen Geist „ex jure divino, naturali & gentium, animo, ore, opere & gestu, in Dei gloriam, patriae salutem, & conscientia tranquillitatem“ aufrichtig und unverfälscht schulde. Obwohl diese Ehrbezeugung nicht in Anbetung, luxuriöse Übertreibung oder schändliche Unterwürfigkeit wie bei heidnischen asiatischen Völkern umschlagen darf und ihr auf der Gegenseite eigentlich Zuneigung und Respekt des Fürsten zusteht: sie ist für das dauerhafte Wohlergehen des Staates genauso wichtig wie die Gesetze. Was empfohlen wird, ist also eine körperlich-psychisch und geistig umfassende Einübung in die absolute Monarchie.27 Die nächste, ebenfalls 1667 mit Johann Gabriel Drechsler veranstaltete, kürzere Abhandlung widmete sich dagegen einem an der Nahtstelle zwischen Souverän, dessen obersten Helfern und den Untertanen angesiedelten Beamten im sich formierenden Fürstenstaat, dem Principis Secretarius. Neben Aufmerksamkeit, Schreibfreude – „in dicendo argutus, in respondendo promptus, & accipiendo cautus“ – und Befähigung zum angemessenen Herrschaftsstil, zu dem der untertänige Duktus beim Abfassen von Petitionen zählt, als technischen Berufsfertigkeiten, verlangen die lutherischen Autoren von ihm erwartungsgemäß uneingeschränkte fidelitas, in deren Logik auch die Abfassung betrügerischer Texte steckt.28 Das dahinter stehende allgemeine Grundproblem, ob nämlich derartige Treue auch für den Gehorsam gegenüber unchristlichen, unmoralischen oder gar verbrecherischen Anweisungen des Fürsten gilt, greifen Rechenberg und seine Studenten ebenfalls auf, und zwar mit ziemlich eindeutigem Ergebnis (De ministerio quod crimen est). Nutzen verbale Hinweise und Mahnungen gegenüber dem jeweiligen Vorgesetzten und letztlich dem Souverän nichts, bleibt neben der Niederlegung des Amtes freilich nur dann, wenn sie ohne Schaden für Fürst und Staat erfolgen kann, nur noch eine äußerlich nicht erkennbare reservatio mentalis oder conscientiae übrig, die an der Pflicht zur Umsetzung der Anweisung nichts ändert. Zumal öffentliche Kritik ohnehin strikt untersagt ist. Auch falsche Beschuldigungen und Anklagen von Beamten seitens des Souveräns bis hin zu unrechtmäßigen Verurteilungen sind im Namen der Treue, der Ehrerbietung und des Schutzes von Staat und Herrschaftsordnung als von Gott verhängtes Schicksal hinzunehmen. Der neue Beamte und hohe Minister ist damit voll in das System des frühmodernen absolutistischen Staates integriert.29 Lutherische Novitätsfurcht, Fürstenimmunisierung und Staatsschutz kommen auch, wiewohl auf hohem Differenzierungsniveau und in einem Horizont historischer Einsicht, in Rechenbergs Traktat De Novitate in Republica noxia 27 Adam Rechenberg (Praes.), Johann Gregor Behnisch (Resp.), De Cultu Principi a subdito exhibendo, Leipzig: Hahn 1667. 28 Adam Rechenberg (Praes.), Johannes Gabriel Drechßler (Resp.), Principis Secretarium, Leipzig: Hahn 1667. 29 Adam Rechenberg, Disputatio moralis De conscientia recta, Leipzig: Hahn 1670 (auch gegen vorschnelle Inanspruchnahme von Gewissensvorbehalt); Adam Rechenberg (Praes.), Joachim Loth von Schönberg (Resp.), De ministerio quod crimen est Disquisitio politica, Leipzig: Wittigau 1674; Adam Rechenberg (Praes.), Wolfgang Haubold (Resp.), De Moderatione Iudicii circa controversias Status publici, Leipzig: Hahn 1679.

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von 1679 zum Ausdruck.30 Noch dezidierter den älteren Typus des mittleren oder kleinen patriarchalischen lutherischen Fürstenstaates hatte dagegen der zur gleichen Zeit zur gleichen Problematik schreibende Jurist, Kanzler von Schwarzburg-Rudolstadt und Kirchenlieddichter Ahasver Fritsch (+ 1701) vor Augen, dessen eifriger Feder u. a. verschiedene Abhandlungen zu sündigen politischen Rollenträgern entflossen (Princeps peccans, Aulicus peccans, Minister peccans, usw.). Er beanspruchte als weitgehend autodidaktischer Theologe und praktischer, vom Pietismus erfasster Christ eine Kompetenz obrigkeitlicher Ermahnung, Beratung und Kritik, die er aus der brüderlich-christlichen Beistands- und Besserungsverpflichtung ableitete. Zudem verfügte er über praktische politisch-administrative Erfahrung und den zeitgenössisch vollen politiktheoretischen Kenntnisstand. Das belegt nicht zuletzt die gegen Beamtenkorruption und staatsschädigende Patronage gerichtete Schrift Der beschämte Geschenck-Fresser von 1684. Aber auch bei Fritsch ist die Argumentationslinie der Ein- und Unterordnung in der lutherischen Variante ausgeprägt, und bei ihm bleibt weltlicher Ungehorsam noch immer selbstverständlich auch Sünde.31

E. Zum Hauptdiskurs seit 1685 Ende 1685 legte der aus Württemberg stammende Philosoph, Theologe und spätere Kirchheimer Stadtpfarrer und Superintendent Andreas David Carolus († 1707) nirgends anders als hier in der Leucorea eine erste systematische politikwissenschaftliche Untersuchung zum uns hier interessierenden Komplex vor. Die zusammen mit Adam Caspar Bauer verfasste, 16 Seiten umfassende De Religione Lutherana disquisitio politica sieht den „Lutheranismus“ hinsichtlich seines Verhältnisses zu Politik und Staat bzw. „ad Supremam Legem, Reipubl. Salutem“ zeitgenössisch von fundamentaler Kritik, Krisen und Ängsten geplagt.32 Zu Recht, denn neben spektakulären Fürstenkonversionen zurück zur römischen Kirche bedrohte ihn der ebenfalls bereits erwähnte Zustrom der aus Frankreich verstoßenen Hugenotten und der auch dadurch beschleunigte Aufschwung des Calvinismus in Brandenburg-Preußen, im vorliegenden Kontext insbesondere der Angriff der hobbesianisch-absolutistischen calvinischen Politiktheorie des europaweit vernetzten Historikers, Politikwissenschaftlers, Theologen und achtmaligen Rektors Johann Christoph Beckmann († 1717) von der 30 Adam Rechenberg (Praes.), Sebastian Gottfried Bennewitz (Resp.), De Novitate in Republica noxia, Leipzig: Hahn 1679. 31 Ahasver Fritsch (Praes.), Friedrich von Werthern (Resp.), Princeps peccans: sive Tractatus de peccatis principum. Altera editio, Osterode: Fuhrmann 1679; Ahasver Fritsch (Praes.), Ulrich von Hutten (Resp.), Aulicus Peccans, Sive Tractatus De Peccatis Aulicorum, Osterode: Fuhrmann 1682; Ahasver Fritsch (Praes.), Ulrich von Hutten (Resp.), Minister Peccans, Sive Tractatvs De Peccatis Ministrorum Principis Jena: Gollner 1675; Ahasver Fritsch, Der beschämte Geschenck-Fresser, Jena: Bielcken 1684. 32 Andreas David Carolus (Praes.), Adam Caspar Bauer (Resp.), De Religione Lutherana, Disquisitio politica, Wittenberg: Wilke 1685, [Vorrede] A2r; auf die Kontroversen, mit denen sich die Abhandlung befasst, können wir hier nicht eingehen.

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Universität Frankfurt an der Oder, die von den herrschenden Hohenzollern bis zur Gründung der Universität Halle zur stillen Calvinisierung des Landes bestimmt worden war.33 Im dritten Kapitel sehen sich die Autoren deshalb zu einer Zusammenstellung der geltenden lutherischen Politikauffassung in 20 Punkten veranlasst: 1. Evangelium non aboleat Politias; 2. Inter Regnum Spirituale & Regnum Civile realis detur distincio, non tamen contraria oppositio; 3. Potestas politica sit ordinationis Divinae; 4. Jus Principum eminens in Vicariatu Dei fundatur; 5. Leges Politicae obligent in conscientia; 6. Competens Rectorib. Rerump. Potestas quoad directionem externam se in Sacras etiam Res & Personas extendat; 7. Magistratus Ordini Ecclesiastico neque directe, neque indirecte, subordinetur; 8. Subditi pro magistratu preces ad Deum fundere, eique vectigalia, tributa &c., exsolvere teneantur; 9. Subditi venerationem & obedientiam Magistratui, heterodoxo etiam infideli, imo Tyrannico, illibatam debeant, usque ad aras; 10. Sed neque Maiestati ad diversam invitos adigere Religionem volenti ulla vi resistere sine DEI offensione possint; 11. Ipsa vicissime Religio vi & armis propaganda non sit; 12. Concretive tamen acceptam, quatenus est in subjectis, injuriarum & defensionis capacibus, urgente summa & inevitabili necessitate defendi a Principe, Juri non repugnet; 13. Neque Ecclesiae, neque ejus Ministris, quocunque nomine veniant, jura Majestatis, vel Jurisdictionis etiam civilis, competere queant; 14. Ecclesiae Ministri negotiis & consultationibus mere Politicis immiscere se non debeant; 15. Fides haereticis quoque & infidelibus servanda sit; 16. Omni fraude, aequivocatione, reservatione mentali dolosa &c. conscientiae laedatur; 17. Pacem & concordiam omni studio colere oporteat; 18. Salva tamen Conscientia, observatis observandis, bella Princeps gerere possit; 19. Scelera quaedam crimina capitale etiam supplicium exposcant; 20. Tum Principi & Magistratui, tum Consiliariis, tum Subditis vera Pietas & infucata Dei reverentia curae cordique esse debeat, &c.34

Von geistlicher Obrigkeitskritik gar noch in expansiver Auslegung, Widerstandsrecht, Einmischung in die Politik, politischer Partizipation, Politisierung ist mithin nicht die Rede, vielmehr geht es um den Nachweis der vollen Tauglichkeit für den frühmodernen Staat, unzweifelhaft im Schatten der Ansiedlung der Hugenotten als besonders willfährige und leistungsfreudige Neuuntertanen. Das verdeutlicht auch die anschließende „justa retorsio“ des Luthertums, auf die hier im Einzelnen nicht mehr eingegangen werden kann, erwähnt sei nur die umständliche und nicht unbedingt überzeugende Widerlegung des Vorwurfs, das Luthertum sei für die „familiae illustrium“ ungünstig oder schädlich, weil er sie wie gesagt um geistliche Pfründe bringe und – angesichts der herrschenden barocken politischen Repräsentationskultur – zum Luxusverzicht bzw. zur Armut zwinge.35 33

Marianne Tatz-Jacobi, Erwünschte Harmonie. Die Gründung der Friedrichs-Universität Halle als Instrument brandenburg-preußischer Konfessionspolitik, Berlin 2004; Cornel Zwierlein, J. Chr. Beckmann 1641 – 1717, in: Noack, Lothar/Splett, Jürgen (Hrsg.), Bio-bibliographien. Brandenburgische Gelehrte der Frühen Neuzeit: Mark Brandenburg 1640 – 1713, Berlin 2001, S. 36 – 60; Wolfgang E. J. Weber, Wissenschaft im Übergang. Johann Christoph Bec[k]mann (1641 – 1717), in: Blänkner, Reinhard (Hrsg.), Europäische Bildungsströme. Die Viadrina im Kontext der europäischen Gelehrtenrepublik der Frühen Neuzeit (1506 – 1811), Schöneiche bei Berlin 2008, S. 121 – 152. 34 Carolus/Bauer, De Religione (Anm. 32) [B1v]. 35 Carolus/Bauer, De Religione (Anm. 32) [B1v]- B2[r] und [B2v]-[B3v].

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Im Vordergrund der sich nunmehr entfaltenden Debatte stand die Frage, welche der beiden evangelischen Konfessionen den Untertanengehorsam am besten gewährleiste. Beckmann hatte im calvinischen Frankfurt mit seinem Respondenten Daniel Falck bereits 1684 eine Abhandlung De turbamentis vulgi publiziert, der er noch im selben Jahr die dritte Auflage der Dissertatio de Pietate Subditorum erga Principem (Respondent: Andreas Gregor Oborski) beifügte, beides hochabsolutistische Plädoyers, die dem Fürsten nicht lutherische oboedientia passiva, sondern calvinische oboedientia activa versprachen und die angeblichen ,demokratischen‘, also wieder: anarchischen Tendenzen vergessen machen, als Extremfälle oder höchstens Kinderkrankheiten des politischen Calvinismus wegdiskutieren und im Gegenteil als absolutismusfördernde Elemente (Intensivierung der Beratung und Einschwörung bzw. Zustimmung) ausweisen sollten. Praktisch-produktiven Gehorsam aus lutherischpietistischem Geist mit der Aussicht baldiger erheblicher Verbesserung sowohl des ökonomischen als auch des geistlichen und weltlichen Standes und von deren jeweiligen Obrigkeiten, also des Staates insgesamt, propagierte daraufhin ebenfalls 1685 der uns bereits bekannte Ahasver Fritsch in seinem über 100 Seiten umfassenden Druck Subditus peccans, sive de peccatis Subditorum, verlegt in Nürnberg.36 In der nächsten Runde verlagerte sich der Schwerpunkt. Johann Christoph Beckmann versuchte 1686 mit der Dissertatio De Jure Principum recipiendi exules fidei socios das Recht des absoluten Monarchen zu untermauern, konfessionelle Immigration auch dann zuzulassen, wenn sie einer Minderheit zugutekam, eine klare Legitimierung des preußisch-brandenburgischen Hugenottenaufnahmeedikts von 1685. Entsprechend antwortete die kurze Wittenberger Sententia[…] de Stabilito imperio per Coactionem Conscientiarum in negotio Religionis, ex Rationibus Politicis examinata[…] von Nathanael Falck und Leonhard Sturm. Aus der Situation der Bedrohung des Luthertums durch calvinische oder einer calvinischen Minderheit in ihrem Staat zugeneigte Fürsten geschrieben, bekräftigt sie einerseits erneut die religiöse Unmöglichkeit und politische Gefährlichkeit, Glauben bzw. Glaubenswechsel mit Gewalt erzwingen zu wollen, und wendet sie sich andererseits wiewohl verhalten kritisch gegen alle zeitgenössisch zunehmenden Versuche von Fürsten, indirekt, vor allem durch gezielte Förderung oder Unterdrucksetzung bestimmter Konfessionen sowie durch erzwungene Unionsbildungen, unitarische Konfessionalität herstellen zu wollen. Hilfsweise wird dabei sogar auf Religionstoleranz abgestellt, die am Beispiel der Niederlande belegbar durchaus zum Aufblühen eines Staates beizutragen vermag, die allerdings wieder nur eine zeitlich begrenzte Zwischenlösung sein könne.37 Noch deutlicher wird Falcks 1688 mit Johann Georg Leutmann unternom36 Johann Christoph Becmann (Praes.), Daniel Falck (Resp.), Dissertatio De Turbamentis Vulgi, Frankfurt a. d.O./Coburg 1684 [erschienen 1699]; Johann Christoph Becmann (Praes.), Andreas Gregor Oborski (Resp.), Dissertatio De Pietate Subditorum erga Principem, Frankfurt a. d.O.: Zeitler 1679, Zweitauflage Frankfurt a. d.O.: Scipio 1684; Ahasver Fritsch, Subditus Peccans, Sive Tractatus De Peccatis Subditorum Nürnberg: Endter 1685; 37 Johann Christoph Becmann (Praes.), Christian Friedrich von Bartholdi (Resp.), Dissertatio De Jure Principum Recipiendi Exules Fidei Socios, Frankfurt a. d.O./Coburg: Pfo-

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mene Erörterung De eo, quod licitum est Subditis in causa oppressae Religionis, ex Politicis. Sie setzt vor allem an Pufendorfs Argumentation an, dass gegen Hobbes bestimmte Naturrechte und bürgerliche Vertragsrechte, seien sie ausdrücklich kodifiziert oder gewohnheitsrechtlich gültig, auch von den Fürsten als Fundamentalgesetze geachtet werden müssten und gegen deren Aufhebung oder Zerstörung „gloriosa subditorum inobedientia“ nicht nur erlaubt, sondern bei Gefahr der Staatszerrüttung sogar geboten sei. Als derart geschützt wird in der gegebenen historischen Situation erwartungsgemäß das Luthertum angesehen, dessen Abschaffung auf verbotene und ohnehin erfolglose gewaltsame Glaubenserzwingung mit eben der unweigerlichen Folge von Staatszerfall hinausliefe. Mit der weiteren Unterscheidung zwischen „natürlicher Religion“, auf die sich der naturrechtliche Schutz beziehe, und einer bestimmten Konfession halten sich die Verfasser nicht weiter auf. Die angesprochene gloriosa inobedientia wird zudem zur Beschreitung des Rechtswegs und zur „resistentia“, also zur passiven Verweigerung, verdünnt, die auch noch quasi calvinisch von den „magistratus inferiori“ und den Vertretern der geistlichen Obrigkeit, den von derartigem konfessionellen Umsturz ja unmittelbar in ihren Rechten betroffenen Pastoren, Dekanen usw. zu unternehmen seien, aber nicht vom einfachen Gläubigen.38 Die entscheidende Kontroverse bahnte sich 1687 mit dem Erscheinen des über 200 Seiten starken Traktats Interesse principum circa religionem evangelicam an. Dessen Verfasser, der dänische Hofprediger und Theologieprofessor, also Angehörige der geistlichen Obrigkeit Hector Gottfried Masius (+1709), schrieb ebenfalls aus der Situation calvinischer Bedrohung lutherischen Staatskirchentums heraus, weil auch sein König, Christian V., dem die Abhandlung gewidmet ist, Hugenotten aufzunehmen im Begriff war. Nachdem sich diese Bedrohung jedoch erst abzeichnete, konzentrierte er sich darauf, die einmaligen Vorzüge des Luthertums für den absolutistisch-monarchischen Staat darzulegen statt die aus dem Calvinismus rührenden Gefahren auszumalen.39 tenhauer 1686 [erschienen 1699]; Nathanael Falck (Praes.), Leonhard Sturm (Resp.), Sententia[…] De Stabilito Imperio per Coactionem Conscientiarum in negotio Religionis, Ex Rationibus Politicis Examinata […], Wittenberg: Henckel 1686. 38 Nathanael Falck (Praes.), Johann Georg Leutmann (Resp.), De eo, quod licitum est Subditis in causa oppressae Religionis, ex Politicis, Wittenberg: Henckel 1688. 39 Hector Gottfried Masius, Interesse principum circa religionem evangelicam, Kopenhagen: Liebe 1687; eine aktuelle Biographie fehlt. Aus der Literatur wichtig Frank Grunert: „Händel mit Herrn Hector Gottfried Masio“. Zur Pragmatik des Streits in den Kontroversen mit dem Kopenhagener Hofprediger, in: Goldenbaum, Ursula (Hrsg.), Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1697 – 1796, Bd.1, Berlin 2004, S. 117 – 174, und zur Kontroverse vornehmlich unter der Perspektive der Thomasius-Forschung (s. im vorliegenden Text weiter unten) nach wie vor einschlägig Frank Grunert, Zur aufgeklärten Kritik am theokratischen Absolutismus. Der Streit zwischen Hector Gottfried Masius und Christian Thomasius über Ursprung und Begründung der summa potestas, in: Vollhardt, Friedrich (Hrsg.): Christian Thomasius (1655 – 1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung, Tübingen 1997, S. 51 – 78.

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Im aktuellen Jahrhundert sei das, was alles Sinnen, Bestreben und Handeln bestimme, das „Interesse, ut vocant, sive commodi alicuius & utilitatis ratio“. Mit anderen Wort, die aus Machiavellismus und Staatsräsonlehre stammende Kategorie zur Kennzeichnung kalkulierten diesseitigen Bedürfnisses hat nach diesem Zeugnis die Gesellschaft bereits voll erfasst. Das zentrale diesseitige Interesse der Fürsten sei aber die Sicherheit ihrer Herrschaft, und sie garantiere keine andere Konfession besser als die lutherische: „Quaecunque enim dogmata vel Romanenses vel aliae sectae nostris adversa adoptarunt, adeo tuta non sunt Magistratui civili, ut ubique vel manifestum periculum involvant, vel saltem timori, suscipioni & diffidentiae locum relinquant“. Oder noch entschiedener: „Nulla in mundo Religio tantum favet Magistratui Politico quantum Evangelica, quam Lutheranam vocamus“.40 Die folgenden acht unterschiedlich umfangreichen Kapitel kombinieren theologische, philosophische, politikwissenschaftliche und historisch-empirische Beweisführungen in überbordender Fülle, vielen Wiederholungen und keineswegs ohne Widersprüche und Fehler. Lob für lutherische Lösungen steht neben scharfer Polemik gegen die Papstkirche, den Calvinismus und eine Vielzahl anderer, wie bereits vermerkt als Sekten bezeichneter Konfessionen (Täufer, Weigelianer, Socinianer etc.) und ihre Schreiberlinge. Im Kern konzipiert die ausschweifende Darlegung eine entschieden absolutistische Variante der lutherischen Politiktheorie, wie sie explizit feststellt: „Absoluto Dominio nulla etiam Religio praeter Lutheranam sincere favet“. Die dafür angeführten Erörterungen und Beweisführungen sind nur in ihrer Auswahl, Zuspitzung und repetitiven Bekräftigung originell: „Magistratus suam quoque dignitatem ac imperandi securitatem Religioni in acceptis refert“; „Illa est optima omnium Religio, quae nexum inter parentes ac Imperantes sanctum ac inviolantum servat“, die diesseitige Gemeinschaft also auch als Heilsgemeinschaft für das Jenseits auffasst; „Christiana Religio sola est, quae Magistratum Civilem ejusque vitam & auctoritatem vere tuetur“; „Christianae Religioni adversantur, qui a Lutheris in Articulo de Magistratu Politico dissentiunt, nam quaecunque Religio de Magistratu perperam sentit, verae Religionis Christianae Titulum non meretur“; die Monarchen sind direkt von Gott eingesetzt, können und dürfen nicht vom Volk abhängig sein oder gar abgesetzt werden, wie die diversen reformierten Richtrungen behaupten; „Nulla Religio tam pie tamque honorifice de Magistratu Politico sentit, quam Religio Lutherana“; „Magistratu deponi non posse nec subditos juramento fidelitatis solvi“; schließlich „Veram unionem Ecclesiasticam maximopere optandam esse, cum discordia & divisio Christianae Ecclesiae nil nisi scandala pariat, & Atheismos ansam suppeditet, vix autem sperari posse“.41 Auf diese leidenschaftliche Verteidigung des lutherischen Absolutismus antwortete zunächst die calvinische Seite, markant wieder vertreten durch Johann Christoph 40 Masius, Interesse (Anm. 39), Zitate aus der Widmung an den König 3[r], 3[v] und Epitome [*** 3r]. 41 Epitome [***3r]-[****4r]. Auf die in verschiedenen Hinsichten höchst interessante Entfaltung der einzelnen Behauptungen und Argumente in den jeweiligen Kapiteln S. 1 – 184 kann vorliegend nicht eingegangen werden.

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Beckmann. Nämlich 1690 zusammen mit Clemens Berg und Justus Christian Rötcher mittels der akademischen Abhandlung Securitas Doctrinae reformatae religionis de Magistratu politico (147 S.) sowie pseudonym parallel als öffentliche Stellungnahme mit Huberti Mosani Bericht von der Reformirten Lehre Von der weltlichen Obrigkeit sambt einer Ablehnung […] (115 S.).42 Masius versuchte diese im Vergleich zu seinem Duktus weniger polemischen Korrekturversuche umgehend 1690 mit der über 500 Seiten starken Schrift Das gründlich verthädigte Treue Luthertumb, entgegengesetzet der Schule Calvini zu entkräften. Ihr wiederum stellte Beckmann den Ferneren Bericht von der Reformirten Lehre von der weltlichen Obrigkeit entgegen, auf die der Kopenhagener Lutheraner mit gleich zwei weiteren Schriften antwortete: Unverzögerte Generale-Wiederlegung Des Fernern Berichts/ Welchen Joh. Christoph. Becman unter dem Nahmen Huberti Mosani gegen Masii Treues Lutherthumb herausgegeben: Als ein Prodromus der Specialen Wiederlegung,bestehend in dreyen Theilen, Als I. Eine Beantwortung der nichtigen Exceptionen des Mosani. II. Eine Rettung des theuren Lutheri und anderer Lutherischen Lehrer. III. Eine fernere Uberweisung dessen, was die Lutheraner und in Specie Masius in dieser Controversie behauptet, unter dem Titul: Pietas Calviniana erga Summum Magistratum und Erinnerungs-Schreiben an Hubertum Mosanum.43 Den Schwerpunkt der Auseinandersetzung machte jetzt die Frage nach Gottesgnadentum und Volkssouveränität aus: ob man von einer unmittelbaren oder mittelbaren Einsetzung der Obrigkeit bzw. Monarchen durch Gott ausgehen müsse – auch Masius behauptete allerdings keine Einsetzung des jeweils konkreten Herrschers unmittelbar durch Gott –, ob und wenn ja wie eine Beteiligung des Volkes einzuräumen sei, welche Reichweite und Verbindlichkeit den herrscherlichen Anweisungen als Anweisungen des Stellvertreters oder Beauftragten Gottes zukomme, usw. Praktisch gab der Lutheraner keinen Fußbreit nach: Untertanengehorsam ist unmittelbar von Gott gewollt; die Untertanen bleiben zur gottähnlichen Verehrung, uneingeschränkten Gehorsam und absoluten Kritiklosigkeit gegenüber der Obrigkeit verpflichtet, gegen sie gibt es keine anderen Waffen als Seufzen, Tränen und Bitten, auch die Ermahnungs-, Warnungsund Beratungskompetenz der Geistlichen bleibt beschränkt, Verstöße gegen Obrigkeitsanweisungen sind daher durchwegs Sünde. Auf der anderen Seite scheut der Hofprediger nicht davor zurück, dem Monarchen wieder den konkreten Vorteil derartig lutherischer Untertanenkultur vor Augen zu führen: die Sicherheit der Herr42

Johann Christoph Beckmann (Praes.), Clemens Berg, Justus Christian Rötcher (Resp.), Securitas Doctrinae reformatae religionis de Magistratu politico, Frankfurt a. d.O.: Coepsel 1690; Johann Christoph Beckmann, Huberti Mosani Bericht von der Reformirten Lehre Von der weltlichen Obrigkeit sambt einer Ablehnung […], Frankfurt a. d.O.: Zeitler 1690. 43 Hector Gottfried Masius, Das gründlich verthädigte Treue Luthertumb, entgegengesetzet der Schule Calvini Kopenhagen: Erythropil 1691; Johann Christoph Beckmann, Fernerer Bericht von der Reformirten Lehre von der weltlichen Obrigkeit, Frankfurt a. d.O.: Schrey und Meyer [1691]; Hector Gottfried Masius, Unverzögerte Generale-Wiederlegung Des Ferneren Berichts […], Kopenhagen 1691; M.D.E.P.P. [H. G. Masius], Erinnerungs-Schreiben an Hubertum Mosanum, wie er die Sache angreiffen müsse, wo er Doct. Masii Treues Lutherthumb beantworten wolle, Kopenhagen: Schmedtge 1691.

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schaft nicht nur für den jeweils einzelnen Herrscher, sondern auch für dessen Familie, also die Dynastie. Seinen Traktat über das Interesse Principum hatte er sogar mit der Feststellung enden lassen: „simplex cunctaque ista complexum unum omnium votum est; Principis salus.“44 Größere Beachtung in der Frühneuzeitforschung hat der Tatbestand gefunden, dass Masius auch in Christian Thomasius einen vehementen Kritiker fand. Der angeblich ,einzige deutsche Gelehrte ohne Misere‘ (Ernst Bloch 1968) lieferte schon 1688 in seinen Monatsgesprächen einen ersten Verriss, auf den Masius umgehend mit einer polemischen Entgegnung, unter dem Pseudonym Peter Schipping, revozierte, verbunden mit dem Versuch, Thomasius bei dessen Landesherrn, dem sächsischen Kurfürsten, unmöglich zu machen. Diese Intervention trug denn auch entscheidend mit dazu bei, dass der Philosoph schließlich Leipzig verließ und im März 1690 in das nahe kurbrandenburgische Halle übersiedelte, das als neue Universität in der akademischen Welt verstärkt auf sich aufmerksam machen musste. Wie sehr Thomasius den Kopenhagener Orthodoxen verabscheute, macht die kritisch-polemische Widmung seiner Monatsgesprächesammlung für das Jahr 1689, erschienen 1690, eben an Masius deutlich. Dieser konnte darauf seinerseits eine offizielle Verbrennung dieses einen hohen dänischen Beamten herabwürdigenden Druckes in Dänemark erwirken, während Interventionsversuche jetzt beim kurbrandenburger Fürsten erfolglos blieben. 1691 ließ Thomasius eine kritische Schrift gegen derartige Buchverbrennungen im Allgemeinen erscheinen, Masius replizierte 1692. Schon 1690 waren aber auch wieder Adam Rechenberg und im Hintergrund Samuel Pufendorf auf den Plan getreten. Während Thomasius und Masius sich so zunehmend auf das Feld der Wissenschaftskritik und publizistischen Debatte begaben, bezogen sich Rechenberg und Pufendorf vor allem auf die reformierte Politiktheologie. Dort rangen sich Beckmann und seine Anhänger zwar zunehmend dazu durch, den Staat und dessen Strukturen nicht mehr als unmittelbar gottbewirkt, sondern als von Gott nachträglich gebilligtes Menschenwerk anzusehen. Aber im zentralen Punkt der Untertanenpflicht bleiben sie wie die lutherische Seite hart: „Voluntas Dei est, ut absoluta subjecti oboedientia simus“.45 Auch weitere reformierte und lutherische, heute vergessene Beiträge dieser Jahre hoben weiter auf diesen zentralen legitimationstheoretischen Aspekt ab. Daneben betonten sie aber auch wieder eher praktische Vorteile der jeweiligen protestantischen Konfession: das Fehlen einer auswärtigen Obrigkeits- bzw. Gehorsamkeitsanspruchsinstanz wie im Falle der römischen Kirche das Papsttum; wahre Förderung des bonum commune bzw. jetzt der allgemeinen Glückseligkeit gegenüber römischer Ausbeutung zugunsten des Klerus; die Erziehung zur Arbeit im Kontrast zum faulen römischen Mönchtum und Klerus bzw. katholischer Faulheit an zu vielen kirchlichen 44

Masius, Interesse principum (Anm. 39), S. 184. Zusammenfassend und mit den Nachweisen Grunert, Zur aufgeklärten Kritik (Anm. 39), S. 66 – 77, Zitat S. 66; Peter Schipping, Abgenöthigtes Gespräch, Von dem Bande der Religion und Societät, Worinnen D. Masii Interesse Principum cirac religionem evangelicam Gegen eines neulichen Scribenten Ernsthaffte Gedancken verthädiget wird, o.O. 1689. 45

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Feiertagen; zivilisatorisch-moralische Bildung (ad virtutes et mores) einschließlich Förderung nationaler Literatur („Ecclesia Lutherana politioris litteraturae patrona“) gegen römische Dekadenz; usw.46 Thomasius und bereits vor ihm Pufendorf fingen demgegenüber an, die Grundthese von der besonderen Eignung oder Nichteignung einer bestimmten Konfession oder sogar Religion für Staat und Gesellschaft prinzipiell anzuzweifeln. Woran sie festhielten, war lediglich die Auffassung, dass eine auf das natürliche Glaubensbedürfnis der Menschen abgestellte Religion, also die natürliche Religion, nötig sei; der Atheismus bzw. Atheist blieb also verfemt. Gehorsam oder Fügsamkeit der Untertanen – bzw. zunehmend deutlicher: der Bürger – leiteten sie lieber aus der Vertragstheorie, aus der zunehmend empirischer werdenden Staatszieltheorie (allseitige Glückseligkeit, Zufriedenheit, vernünftig geordnetes Leben in Rechtsstaatlichkeit und bescheidenem Wohlstand) und schließlich nüchtern der Effektivität der Staatsund Herrschaftsdurchsetzung ab: Gehorsam als Ergebnis der Vermeidung von Kosten und zwecks Erwerb von Gewinn/Belohnung. Die Regeln der Staatsklugheit und des sittlich-klugen Zivillebens, deren es dazu bedurfte, positionierten sie daher je länger desto mehr außerhalb konfessioneller Rahmungen. Dass mit der Integration und Zurückdrängung des absolutismuskritischen Potentials des Luthertums oder zumindest der lutherischen Geistlichkeit eine auch bedenkliche Freisetzung der Staatsgewalt verbunden war, kam ihnen zunächst noch nicht in den Sinn. Erst später erfolgte wenigstens ansatzweise der nächste Schritt, nämlich statt bevorzugt über Staats- und Herrschaftsaufrüstung (wieder) auch über deren Limitierung und die Schaffung von Freiheitsräumen nachzudenken. Das gab Gelegenheit, erneut auf das Konzept oder besser die Ideologie angeblich lutherischer Freiheit zurückzugreifen, eine Komponente, die zuvor so gut wie verschwunden gewesen war. Als 1694/95 der ehemalige englische Botschafter in Kopenhagen Robert Molesworth zu dem Schluss kam, dass das staatlich-absolutistische Luthertum in Dänemark zu nichts anderem geführt habe als dass „the Danes do now really love Servitude“, war es so bereits unvermeidlich, dass Wittenberg darauf antwortete. Friedrich Strunzs und Abraham Siegerts Abhandlung An Religio Lutherana mater sit et nutrix tyrannidis Politicae? von 1703 verwies auf die angeblich stets hochgehaltene lutherische Erziehung zur Gewissensprüfung und den lutherischen Gewissensvorbehalt. Ihre Argumentation konnte diese relativierenden Komponenten zwar nicht wirklich überzeugend für alle Lutheraner, nicht nur deren Elite, reklamieren. Sie lenkt den Blick aber immerhin auf die Individualisierung als denjenigen Prozess, den es im Hinblick auf das Verhältnis von Luthertum und weltlicher Obrigkeit oder Staat ebenfalls noch genauer unter die Lupe zu nehmen gilt.47

46 Friedrich Andreas Hallbauer (Praes.), Friedrich Horstmann (Resp.), Ecclesia Lutherana politioris litteraturae patrona, Jena: Werther 1717; in Hinsicht dieser Aspekte ergänzungsfähig ist jetzt Spehr, Weimar und die Reformation (wie Anm. 1). 47 Robert Molesworth, An Account of Denmark, as it was in the year 1692, o.O. 1694, (244); bis 1752 fünf weitere engl. Ausgaben; franz. Etat du Royaume de Danemark, sive

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F. Seitenblick: Die (Selbst-)Aufgabe des öffentlichen Strafamts Nach unserem politisch-theologisch-ideengeschichtlichen Durchgang wird es Zeit, auch noch einen Seitenblick auf die Praxis der lutherischen Obrigkeitskritik oder eben -affirmation zu werfen. Als zentraler Bereich hat dabei das sogenannte Strafamt der Pastoren zu gelten, also deren Recht und Pflicht nach Luther, im Rahmen des reformatorischen Verchristlichungswerkes nicht nur privat, sondern auch gemeindeöffentlich, konkret durch Strafpredigten in der Kirche, alle Laster und Sünden aller Gemeindeangehörigen abzumahnen und abzustrafen. Luther selbst wollte diese Pflicht zwar so ausgeübt wissen, dass daraus keine Respektlosigkeit, Widerwillen oder gar Aufruhr und Aufstand gegen die Inhaber der weltlichen Gewalt erwuchsen, die ja über eigene göttlich gewollte Legitimität verfügten. Unter seinen Nachfolgern war aber im Zuge des eingangs angesprochenen Wandels die Neigung erheblich gewachsen, der wahren Kirche und Christlichkeit auch durch schärfere Strafamtspraxis gegenüber bedrohlichen Obrigkeiten zur Durchsetzung und dauerhaften Absicherung zu verhelfen. Wie stellte sich die Entwicklung in der hier interessierenden zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts dar? Der rund 20 Seiten starke amtliche Bericht von dem Straff-Ampt. Wie dieselbe von Lehrern und Predigern so wol offentlich als absonderlich gegen ihre Pfarr-Kinder zu führen sey. Zum Synodal-Beschluss im Fürstenthumb Gotha gehörig, publiziert 1645, kombinierte prozessuale Präzision und Formalisierung mit materieller Entschiedenheit. Von allzu schneller und „allzu scharffer procedur in öffentlichen Bestraffungen der sündhafften oder auch diesfalls verdächtigen und berüchtigten Personen ohne vorangehende privat-Erinnerungen (zu mahlen wenn der sachen nicht gewiss ist) die Gemüther derselben desto mehr exaspiret, verbittert und zu eigener Rache, Lästern, Schmähen und anderm unchristlichen Beginnen durch des Teuffels Antrieb gereitzet werden“, wird dringend abgeraten. Darüber hinaus muss generell wieder deutlicher werden, dass alle Straftätigkeit aus Liebe zum Gemeindemitglied erfolgt, wozu auch eben gehört, persönliche Gefühle und Ab- oder Zuneigungen nicht zum Ausdruck kommen zu lassen. Eingeschärft werden daher Langmut, „Lindigkeit“, Zuneigung und Fürsorge trotz gleichzeitiger Konsequenz und entschiedener Strafbereitschaft, aber auch, persönliche Vorbildhaftigkeit wiederzugewinnen oder beizubehalten. „In specie“ werden genaue Prüfung der anzeigenden und angezeigten Personen oder eines relevanten Gerüchtes, der Vorwürfe oder Anklagen, der Umstände der behaupteten Laster oder Sünden, deren Gewichtigkeit usw. nach genauem Verfahrenskatalog angemahnt. Auf Geschwätz von Gesinde, Kindern und Halberwachsenen, „so bey dem Pfarrer- aus- und einzugehen pflegen, ja auch zu weilen von der Pfarrer eigenen Weibern und Kindern“ ist wenig zu geben. Im Gegenteil, der Pastor muss gegebenenfalls dazu mahnen, wenn der Anzeiger „keine Gewissheit habe, sein Maul zu halten“. Personen schlechten Rufs ist noch weniger Glauben zu schenken, Statum Regni Daniae, Amsterdam 1695; Friedrich Strunz (Praes.), Abraham Siegert (Resp.), An Religio Lutherana mater sit et nutrix tyrannidis Politicae? Wittenberg: Meyer 1703.

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Gerüchte sind immer kritisch zu prüfen und gegebenenfalls energisch zu bekämpfen. Bestätigt sich ein Anfangsverdacht und ergibt eine Befragung des Verdächtigen unter vier Augen eine „spontanea confessio“, muss zunächst auf eine stille Umkehr hingearbeitet werden. Leugnet der Beschuldigte dagegen hartnäckig und verlangt er die Offenlegung der Namen der Beschuldiger, „so hat sich der Pfarrer deswegen bescheidentlich zu entschuldigen, mit Bericht, es stehe ihm nicht an und lasse es sein Ampt nicht zu, ein solches zu thun und hierdurch ferner Unheil zu erwecken, sondern nur hertzlich und trewlich zu vermahnen, welches denn in aller geheimbd von ihm als Seelsorger und Beichtvater geschehe.“ Glaubwürdiges Abstreiten der Vorwürfe soll das Verfahren „nach der allgemeinen Regel“ beenden, „de occultis non judicat Ecclesia“, auch um Beschädigung der Autorität des Pfarrers infolge Aufgedecktwerdens falscher Anklage zu vermeiden. Wenn Beschuldigte sich als „hefftig widersetzlich und zornig erweissen und entweder wider die ihr eingebildete Angeber, oder von Pfarrern selbst mit Lästern und rachsüchtigen Dräwungen sich herauslassen würden“, so sind diese erneut ernstlich zu ermahnen und ist im anhaltenden Misserfolgsfall auf die Weiterleitung der Angelegenheit an die nächsthöhere Instanz hinzuweisen. Dort hat sich der betreffende Pastor, wenn die Sache trotzdem weiter geht, auch entsprechenden Rat und Hilfe zu holen, bevor die vorgesehenen nächsten Schritte – Untersuchung durch das zuständige Kirchengremium, Strafbeschlussfassung, Strafexekution erforderlichenfalls mit weltlicher Hilfe, schließlich Übergabe an die weltliche Strafjustiz – beschritten werden.48 Innerkirchlich soll der einzelne Pastor mithin auf die Befassung mit eindeutig nachgewiesenen Fällen und zur Geduld und Behutsamkeit verpflichtet sowie durch Weiterleitung des Falls in die Kirchenhierarchie möglichst aus der Schusslinie gebracht werden, gleichzeitig wird die weltliche Gewalt insgesamt stärker, aber erst im sorgfältig geprüften Notfall, einbezogen. Das erfährt auch durch die rechtswissenschaftliche Stellungnahme, die bezeichnenderweise am Ende zitiert wird, Bekräftigung. Was aber nicht passieren soll, ist die indirekte, schleichende Aufgabe der Kirchenzucht: „Bescheiden sein nennet jetzt die Welt [angebracht], fein gemach und leis treten, die Warheit nicht deutlich heraus reden, sondern auff allerley Umbstände und circumstantias sehen, ob es diesen oder jenen möchte offendiren, entrüsten oder erzürnen.“ Daran ist zwar richtig, dass die geistlichen Buß- und Strafherren nicht ungeachtet des jeweiligen konkreten Falls lediglich als Wüteriche, Polderer und strenge Züchtigerer auftreten sollen. „Will es denn [aber] nichts helffen„so sollen sie frewdig und muthig seyn, und nimandes schonen, und das Gesetz deutlich predigen und den Gottlosen das Gewissen eng machen, bis sie sich bekeren oder gar Heyden werden.“49 Mit Theodor (Dietrich) Reinkingks Biblische Policey legte die bereits erwähnte lutherische Politica christiana, das bibelgestützte, konfessionelle Politikdenken, ein maßgebliches, nach der Erstausgabe 1651, also noch unter dem Eindruck des Dreißigjährigen Krieges, in zahlreichen 48

Bericht von dem Straff-Ampt. Wie dieselbe von Lehrern und Predigern so wol offentlich als absonderlich gegen ihre Pfarr-Kinder zu führen sey. Zum Synodal-Beschluß im Fürstenthumb Gotha gehörig, Gotha: Schall 1645, S. 7,9,11 und 13 – 17. 49 Bericht von dem Straff-Ampt (Anm. 48), S. 21 – 23.

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Auflagen bis 1701 verbreitetes, auch in der Publizistik der Pastoren gerne zitiertes Grundlagenwerk vor. Darin lesen wir zum Strafamt der Pastoren ebenfalls durchaus Entschiedenes: Der geistliche Stand muss selbstverständlich „acht haben auf weltliche Händel und der weltlichen Obrigkeit actiones“. Die Bibel bietet zahlreiche Beispiele für die „eyffrigen, scharffen Schloß- oder Hoff-Predigt[en]“, die dabei nötig werden können. Konkret und aktuell: Wenn die weltliche Obrigkeit „einen unnöthigen Krieg erheben oder sich demselben ohne Noth immisciren wollte, ist (der Prediger) nicht allein befugt, sondern Ampts halben schuldig, darvon mit christlichen schrifftmäßigen Erinnerungen abzumahnen und solches auch nach gestalteten Sachen in öffentlichen Predigten. […] Imgleichen wann andere Laster als Hurerey, Ehebruch, Todtschläge, Balgereyen, Wucher, Schinderey, Auffruhr und dergleichen Seuchen bey Herren-Höfen, in den Städten und auff dem lande vorgehen und nicht ernstlich bestraffet werden, als denn müssen die Prediger ihre Stimme erheben wie eine Posaune, getrost ruffen und auch nicht schonen Esai. c. 58.“ Und weiter im Hinblick auf diejenigen Prediger, die dennoch schweigen: „Dergleichen Mund-Prediger und Placentiner finden sich viel, die gar kein beliebens haben, den hasenkopff zu streiffen, lassens gehen, wie es geht, aber male. […] Isaia [sagt:] Alle ihre Wächter sind blind, sie wissen alle nichtes (das ist, sie wollens nicht wissen und sehen), stumme Hunde sind sie, die nicht straffen können, es sind aber starcke Hunde vom Leibe,“ als wegen ihrer Herrschernähe wohl genährte. Dennoch gilt aber auch wieder, dass „in Bestraffung der weltlicher Obrigkeit behutsam [zu] verfaren [ist], damit ihre Obrigkeitliche Authorität bey den Unterthanen nicht verkleinert und dieselben etwa zu Auffruhr veranlasset werden.“50 Zuerst 1648, dann wieder 1658 meldete sich der Brandenburger Pastor und Superintendent Valentin Fromme (1601 – 1679) zu Wort, dessen Darlegung Vom Straff-Ampt der Prediger Ob sie dasselbige mit gutem Gewissen unterlassen können, wie es zu führen und wer zu straffen sey; was für Einrede dawider und wie sich Christliche Zuhörer, wenn sie gestrafft werden, verhalten sollen durch Voranstellung einer Vorrede des Dekans der Theologischen Fakultät der Universität Wittenberg von 1647 autoritative Geltung erfuhr: Wer keine Gelegenheit hat, auf die einschlägigen Äußerungen Luthers oder anderer Gelehrte zurückzugreifen, solle sich dieses Bandes bedienen.51 Auch Fromme sieht sich erwartungsgemäß in „böse Zeiten“ gesetzt, in denen „alle Laster dermassen überhand genommen, dass Untugend für Tugend, Unzucht und Schande für Ehre, und was Sünde ist für keine Sünde fast mehr will gehalten werden. Redet ein Prediger dawider, wie er denn Gewissenshalben nicht schweigen kann, so hat er den Teuffel und alles Ungemach auff dem halse, und wird ihm das Leben so schwer gemacht, das er wünschen möchte aus der Welt zu seyn.“ In dieser Lage helfe nur, wieder wie Lu50

Dietrich Reinking, Biblische Policey, Frankfurt a.M.: Bencard 1701, S. 66 – 70. Valentin Fromme, Vom Straff-Ampt der Prediger Ob sie dasselbige mit gutem Gewissen unterlassen können, wie es zu führen und wer zu straffen sey; was für Einrede dawider und wie sich Christliche Zuhörer, wenn sie gestrafft werden, verhalten sollen, Wittenberg: Hake 1648, zweite Auflage Wittenberg: Seelfisch 1658 [hier benutzt], Vorrede des Dekans Jacob Martini [unpag.]. 51

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ther zu „Zorn und Eyffer“ zurückzukehren, denn, so sagt Luther, „wenn ich wol tichten, schreiben, beten und predigen will, so muss ich zornig seyn, da erfrischet sich mein gantz Geblüte, mein Verstand wird gescherfft und alle unlustige Gedancken und Anfechtungen weichen.“ Allerdings darf der Prediger sich dennoch nicht von diesem Zorn überwältigen lassen. Insbesondere das Strafamt muss vielmehr ordnungsgemäß, angemessen und in allem Ernst ausgeübt werden, einerseits, um sich selbst ein ruhiges Gewissen zu verschaffen und dieses Amt so umso konsequenter ausüben zu können, andererseits um Respekt für dieses Amt zu erwerben und zu erhalten, weil „wol nicht leichtlicher ein Unwille zwischen Lehrern und Zuhörern entstehen mag als wegen des Straffens.“ Richtig ausgeübt, kann er auch vor Belangung durch die zivile Gerichtsbarkeit wegen dieser Amtstätigkeit sicher sein; zuständig für die Prediger ist grundsätzlich nur das Konsistorium, in Ausnahmefällen auch das allerhöchste Landesgericht, aber nicht die örtlichen Untergerichte, die diejenigen Personen betreffen, die sich durch die Straftätigkeit unmittelbar betroffen fühlen könnten. Fromme versteht sein „Tractätlein“ im Übrigen zugleich als „eine Lehrschrift, eine Widerlegungsschrift, eine Trostschrift, eine Ermahnungs-Schrifft und Warnungs-Schrifft“. Es soll also nicht nur informieren und beraten, sondern auch das schwere Strafamt für die Pastoren erträglich, psychisch verarbeitbar machen.52 Die Kapitel der drei Teile des immerhin rund 280 Seiten starken Bandes sind teils eher konventionell, teils unkonventionell konzipiert. Sie handeln im ersten Durchgang von den theologisch-kanonischen Grundlagen des Strafamtes, von dessen Trägern, also den Pastoren, davon, dass das Amt unverzichtbar ist, ferner der Art und Weise richtiger Amtsausführung und von den Personen, die gestraft werden. Dann folgt eine ausführliche Darlegung wieder der „Exceptiones oder Einreden“, die gegen die Strafpraxis üblicherweise vorgebracht werden und wie sie zu widerlegen sind. Schließlich wechselt Fromme die Perspektive um darzulegen, aus welchen Gründen sich die Gläubigen „gerne“ von den Predigern bestrafen lassen sollen. Wirklich Neues findet sich nur begrenzt, aber Manches tritt plastischer zutage. „Straffen“ ist bei den Betroffenen wie bereits vermerkt höchst unbeliebtes, aber unverzichtbares „Züchtigen, Bessern“. Wer als Prediger das Strafen vernachlässigt oder gar aussetzt, „verkehret gegen die Ordnung Gottes“. Das Strafamt hat also nicht zuletzt angesichts des dramatischen Niedergangs der Christlichkeit „heutigen Tages“ ein größeres Gewicht im Spektrum der Amtsverpflichtungen erhalten und muss eindeutiger als zuvor der Absolution und Trostspendung vorausgehen. Gerade deshalb ist es aber auch bei den „Politici und Weltleuten“, die im weltlichen Regiment sitzen, so verhasst. „Wil man [doch] den Predigern jetzunder [auch noch] vorschreiben, ziel und maß geben, wie sie ihr Ampt in der Kirchen zu führen sollen, und nehmen die Amptleut nicht selten klagen der Unterthanen wider die Pastores an, die von der Cantzel herfliessen, da sie doch wissen sollten, daß ihnen solches nicht gebühret.“ Oder noch deutlicher gesagt, „weltliche Regenten“ wollen „die Arcam foederis, das ist die Lade des Bundes [Gottes und des auserwählten Volkes] selber tragen, nicht zwar, daß sie begehrten 52

Fromme, Vom Straff-Ampt (Anm. 51), Vorrede des Autors an die Kollegen [unpag.].

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selbst zu predigen, sondern daß sie den Predigern das Maul stopfen und gebieten wollen, was sie predigen oder nicht predigen sollen.“53 Wer sich in der historischen Situation des sich mächtig entfaltenden absolutistischen Staates durchsetzen konnte, waren indessen eben die Politici und Weltleute, während sich die Pastoren anpassen mussten und bei dieser Gelegenheit auch den sanften oder ,linden‘ Luther wieder entdeckten. Lassen wir der Einfachheit halber einen späten lutherischen Theologen und Kirchenrechtler, den heute fast nur noch als Kirchenhistoriker beachteten Helmstedter und Göttinger Theologen bzw. Universitätskanzler Johann Lorenz von Mosheim (1693 – 1755), die Entwicklung in seinem Allgemeines Kirchenrecht der Protestanten von 1760 bilanzierend beschreiben: Die Geistlichen haben kein Recht zur Einmischung in Angelegenheiten der weltlichen Obrigkeit bzw. des Staates. Vielmehr steht ihnen (lediglich) „das Recht zu lehren“ zu. „Mit diesem Rechte ist [unzweifelhaft zwar auch] das Strafen verbunden“. Diese Kompetenz „darf aber nicht zu hart und strenge erklärt werden. Strafen heißt hier einen überzeugen und überführen, daß er wider sein eigenes Bestes handelt. Dieses Recht haben die Geistlichen, aber das räumet ihnen keine äußerliche Gewalt über die Gemeinden ein. Im bürgerlichen Verstande heisset strafen, einem ein Uebel zufügen, weil er das Gesetz gebrochen hat. Diese gemeine Bedeutung hat die Römische Kirche, nach ihrem Begriffe von der Kirche, angenommen. Man ist lange in unserer Kirche bey diesem Begriffe geblieben. Man glaubte daher, man müsse die Sünder tapfer durchziehen, recht keifen und schmähen. […] Zu Lutheri Zeiten hatte das Wort strafen neben seiner scharfen Bedeutung [aber auch schon] die gelinde, da es so viel bedeutet, als iemand überzeugen, daß er irre, oder Unrecht gethan hat. In dieser alten Bedeutung hat Luther das Wort genommen. Allein man hat diese alte Bedeutung nach und nach vergessen, und mit dem Worte nur noch die andere scharfe verbunden, nämlich, jemand ein Uebel zuzufügen, das er mit seiner Sünde verdienet. Man meinete also, der Heilige Geist habe im Neuen Testamente befohlen, daß wir die Sünder hart anreden, ihnen durch Strafreden Uebel zufügen, und sie vor der Welt beschämen sollen. [Das ursprüngliche griechische Wort) heißet [aber] nichts anders als iemand seines Unrechts, seiner Sünde, seines Aergernisses, das er gegeben hat, überführen. Das kann mit Liebe und Sanftmut geschehen. Math. XVIII.15. Joh. III.20 VIII.9.46.XVI.8. Allein unsere Geistlichen übeten das Strafamt durch schelten und keifen. Daher fiengen die Rechtsgelehrten an, dieses Strafamt zu bestreiten, und gar zu läugnen […] So wie wir das Strafamt erkläret haben, wird Niemand etwas daran aussetzen, und in diesem Verstande ist es auch göttlichen Rechtens. […] Was wir noch davon zu bemerken haben, betrieft die Ausübung desselben. In der Römischen Kirche war es üblich, daß die groben Sünder öffentlich vor der Gemeinde gestraftet würden. Man nannte sie bey Nahmen, und wenn das nicht helfen wollte, so erfolgte die Excommunication. Diese päpstliche Gewohnheit herrschete im sechzehenden Jahrhunderte noch in unserer Kirche. In dem siebzehenten Jahrhunderte wurden wir klüger. Wir fingen an von der Kantzel, die Sünder zu bestrafen, aber 53

Fromme, Vom Straff-Ampt (Anm. 51), S. 2,11, 13, 37 und 45 f.

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wir nannten die Sünder nicht. Inzwischen bezeichnete man sie doch so, dass jeder wußte wer gemeinet war. Die Rechtsgelehrten haben sich daher widersetzet, und es ist insbesondere gestritten worden, ob das Strafamt auch auf die Obrigkeit gehe? […] Allein wir haben mit der Zeit, die Rechte der Geistlichen besser kennen lernen. Wir wissen itzo die Schrift besser auszulegen. Das öffentliche persönliche Strafamt ist gar nicht in der Schrift gegründet, und der Prediger hat nicht das Recht, seine Landesherrschaft öffentlich und persönlich zu strafen. Das kommt aber nicht daher, weil er sein Landesherr ist; sondern weil den Geistlichen dieses Recht garnicht, auch nicht in Ansehung des gemeinesten Christen zukommt. Das öffentliche Strafamt gehet nur auf die allgemeinen Sünden und Fehler überhaupt. Dieses gehöret auf die Kantzel. Allein die besondern Sünden gehören zu dem besonderen Strafamte, und dieses muß auch nur in der Stille geübet werden.“ Denn – und damit macht sich das aufgeklärte Vernunft- und Nützlichkeitsdenken bemerkbar – „Was keinen Nutzen bringt und zu vielem Bösen Anlaß geben kann, das kann Christus und die Apostel nicht befohlen haben. (…) Durch die besondere [d. h. private, persönliche] Bestrafung kann weit mehr gutes gestiftet werden. Die Schaam welche bey den öffentlichen persönlichen Bestrafen entstehet, setzet das Gemüth des Sünders meistentheils außer Stande, den Vorstellungen nachzudenken. Die Reue, die daraus entstehet, ist nicht so wohl eine Reue über die Sünde, als ein Aergerniß, daß dieselbe ruchbar worden. […] Durch das öffentliche persönliche Strafamt zogen sich die Geistlichen Feinde zu, schadeten sich und richteten Streit und Empörungen an. Wenn aber insbesondere das öffentliche persönliche Strafamt gegen die Landesobrigkeit gerichtet ist, so fällt der Schaden noch mehr in die Augen. Es wird bey den Untertanen ein Unwille erweckt. Es wird das Ansehen der Obrigkeit geschmälert“, mit schweren Folgen für das Staatswesen und dessen Aufgabe, ein dem ewigen Leben im Jenseits günstiges Leben im Diesseits zu ermöglichen.54 Die Ambivalenz des Strafamts war damit aufgelöst, allerdings zugunsten des absolutistischen monarchischen Staates.

G. Fazit Die Unterstellung primärer Förderung von Obrigkeitshörigkeit, quietistischer Anpassung und politikabgewandter Innerlichkeit ist historisch-epochal und historischmateriell zu umfassend angelegt, als dass sie durch auf die ersten zwei Drittel des 16. Jahrhunderts fokussierte ideengeschichtliche Studien widerlegt oder auch nur 54

Johann Lorenz von Mosheim, Allgemeines Kirchenrecht der Protestanten, Helmstedt: Weygand 1760, S. 312 – 319. Als „das letzte Beyspiel der Ausübung des öffentlichen Strafamtes an der Obrigkeit“ führt Mosheim S. 315 f. die Abmahnung und den Abendmahlausschluss des Herzogs Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel durch seine Hofgeistlichen an, als der Herzog „die Kayserin beredete, catholisch zu werden.“ Die anschließende Amtsenthebung der Geistlichen sei nach dem Gesagten völlig richtig gewesen. Auch die von anderer Seite sozusagen als Kompromiss vorgeschlagene Verhängung nur eines „kleinen Banns“ über den Herzog sei nicht in Frage gekommen.

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grundsätzlich relativiert werden könnte. Unsere hier unternommene ergänzende Untersuchung lutherischer politisch-ideengeschichtlicher Beiträge des 17. Jahrhunderts bedarf daher ebenfalls weiterer analytischer Auffächerung, u. a. im Hinblick darauf, wie die politische Theologie einerseits auf die lutherische Elite, andererseits auf den einfachen Gläubigen wirkte. Was sie gezeigt hat, ist aber meines Erachtens immerhin Folgendes: Die lutherische Regimentslehre war flexibel genug, sich in erheblichem Maße den politischen Bedürfnissen der Gründer und Betreiber des absolutistischen Staates anzupassen. Das betraf sowohl die entscheidende Frage des Untertanengehorsams als auch das gegen Obrigkeitspersonen gerichtete Strafamt. Die Regimentsdebatte beschränkte sich auch keineswegs auf mehr oder weniger abstrakte politischtheologische Argumentationen, sondern pries gegenüber den Herrschenden auch – zumal im Predigtzusammenhang – handfest-konkrete Vorteile lutherischer konfessioneller Option an. Die reformierte Herausforderung des Hugenottenjahres 1685 und ihres Umfeldes trieb viele Autoren noch zur Steigerung zeitgemäßen lutherischen politischen Angebots. Entsprechend wurde der Vorwurf, das Luthertum erziehe zur Untertanengesinnung (Servitude, Servilität), schon wenig später, in der Morgenröte der Aufklärung, erhoben. Das Besondere am Luthertum auch im politiktheoretisch-politischen Bereich könnte daher u. a. nach dem großen Historiker Thomas Nipperdey eher als eine vergleichsweise schnelle und weitgehende Orientierung am oder gar Auslieferung an den Zeitgeist beschrieben werden.55 Im engeren Sinne politisch-kulturell am Wichtigsten scheint dem Kulturhistoriker allerdings die ziemlich umfassende (Verhalten, Reden, Mentalität) Einübung in die Ehrfurcht (im breitesten Verständnis) vor der Obrigkeit zu sein.

55 Thomas Nipperdey, Luther und die moderne Welt, in: ders., Nachdenken über die deutsche Geschichte, München 1990, S. 36 – 51, besonders S. 50: „Lutherische Protestanten sind daher anfällig für den Zeitgeist“.

Die Wittenberger Carpzovs – Biographien, Netzwerke und Wirkungen einer Gelehrtenfamilie Von Heiner Lück, Halle (Saale)

A. Allgemeines zur Familie Carpzov Die Relevanz von Familienverbindungen für die Erforschung von Universitätsund Wissenschaftsgeschichte ist seit längerem bekannt. In jüngster Zeit hat vor allem der Tübinger Universitäts- und Bildungshistoriker Matthias Asche nicht nur darauf hingewiesen, sondern diesen Zusammenhang mit eindrucksvollen Studien ideen- und materialreich untersetzt.1 Der Begriff der frühneuzeitlichen „Familienuniversität“ hat, wenn auch in An- und Ausführungsstriche gesetzt, in die universitätsgeschichtliche Forschung Eingang gefunden.2 Einige Familien der Frühen Neuzeit, über die es hinreichende Quellen gibt und die zahlreiche Angehörige des Gelehrtenstandes mit nennenswerten wissenschaftsgeschichtlichen Wirkungen hervorgebracht haben, eignen sich besonders für solche Betrachtungen. Dazu gehört auch die hier in einem Ausschnitt vorzustellende bekannte Juristen- und Theologenfamilie Carpzov. Der spinnennetzartige Wirkungsmechanismus des Carpzov-Clans fasziniert die Forschung nicht erst seit heute. Daher ist es nicht zufällig, dass sich bereits mehrere Studien mit den Carpzovs als Familie in ihrer Ausbreitung und ihren Verzahnungen mit anderen Familien beschäftigten. So hat Harald Schieckel in einer bekannten und grundlegenden Miszelle den Stammvater dieser Gelehrtendynastie, Benedict I. Carpzov (1565 – 1624), und von diesem ausgehend die Nachkommen, unter denen bedeutende Juristen und Theologen waren, in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen gestellt.3 2007 hat der Leipziger 1 Matthias Asche, Kontinuität des Humanismus. Bildungs- und Lebensentwürfe in gelehrten späthumanistisch-barocken Netzwerken. Erträge und Forschungsperspektiven eines Osnabrücker Editionsprojekts für die frühneuzeitliche Kulturgeschichtsforschung, in: Historisches Jahrbuch 128 (2008), S. 439 – 468. 2 Ders., Über den Nutzen von Landesuniversitäten in der Frühen Neuzeit – Leistung und Grenzen der protestantischen „Familienuniversität“, in: Herde, Peter/Schindling, Anton (Hrsg.), Universität Würzburg und Wissenschaft in der Neuzeit. Beiträge zur Bildungsgeschichte. Gewidmet Peter Baumgart anläßlich seines 65. Geburtstages, Würzburg 1998, S. 133 – 149. 3 Harald Schieckel, Benedict I. Carpzov (1565 – 1624) und die Juristen unter seinen Nachkommen. Verwandtschaftliche Verflechtungen bekannter Gelehrtenfamilien, in: ZRG GA 83 (1966), S. 310 – 322.

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Kirchenhistoriker Günther Wartenberg die Familie Carpzov im Rahmen einer Tagung über den Leipziger Theologen Johann Benedict II. Carpzov (1639 – 1699) behandelt.4 Und auch Mathias Schmoeckel hat sich des Carpzov’schen Familiengeflechts angenommen.5 Diese Studien verfolgen ganz unterschiedliche Anliegen und setzen somit bestimmte Schwerpunkte. Es fragt sich, warum man darauf hier und heute noch einmal zurückkommen möchte. Die Antwort ist einfach und wenig aufregend. Sie lautet: Wittenberg war mit seiner Universität und seinem Stadtbürgertum der Ausgangspunkt für die Entfaltung dieser Familie. Von daher scheint es legitim, hier in Wittenberg über die Carpzovs erneut zu sprechen und zwar mit der besonderen Sicht auf die Universität und die Stadt Wittenberg.6 Das ist auch der Grund für die Konzentration auf die „Wittenberger Carpzovs“ im Sinne der Überschrift. Gemeint sind damit Mitglieder der Familie, welche in besonderer Weise mit der Universitätsstadt an der Elbe verbunden waren. Hierzu zählen: Benedict I. – Professor der Rechte in Wittenberg; Benedict II. (1595 – 1666) – in Wittenberg zum Dr. iur. utr. promoviert, dann Professor der Rechte in Leipzig; dessen Bruder Konrad (1593 – 1658) – Professor der Rechte in Wittenberg; Christian (1605 – 1642), ein weiterer Bruder der Vorgenannten; August (1612 – 1683) – Professor der Rechte in Wittenberg; Samuel Benedict (1647 – 1707) – Professor der Poetik in Wittenberg – und Friedrich Benedict (1702 – 1744) – Professor der Rechte in Wittenberg. Die bedeutenden Wittenberger Carpzovs waren, von dem Poeten und späteren Theologen in Dresden Samuel Benedict einmal abgesehen, sämtlich Juristen. Die theologische Fraktion der Familie bestand aus mehreren Professoren an der Leipziger Universität, nämlich: Johann Benedict I. (1607 – 1657) – Professor der Theologie in Leipzig; Johann Benedict II. – Professor der Theologie in Leipzig [und als solcher ein entschiedener Gegner von Christian Thomasius (1655 – 1728)]7; Johann Benedict III. (1672 – 1733) – Professor der Theologie in Leipzig; Johann Benedict IV. (1720 – 1803) – Professor der Theologie in Leipzig. Als Rechtsprofessoren und

4 Günther Wartenberg, Die Carpzovs. Eine mitteldeutsche Gelehrtenfamilie in der Frühen Neuzeit, in: Michel, Stefan/Straßberger, Andres (Hrsg.), Eruditio – Confessio – Pietas. Kontinuität und Wandel in der lutherischen Konfessionskultur am Ende des 17. Jahrhunderts. Das Beispiel Johann Benedikt Carpzovs (1639 – 1699) (Leucorea-Studien 12), Leipzig 2009, S. 63 – 72. 5 Mathias Schmoeckel, Das Märchen vom Usus modernus Pandectarum und die sächsische Rechtswissenschaft der Frühen Neuzeit, in: Schäfer, Frank L./Schmoeckel, Mathias/Vormbaum, Thomas (Hrsg.), Ad Fontes! Werner Schubert zum 75. Geburtstag (Rechtsgeschichte und Rechtsgeschehen 20), Berlin 2015, S. 1 – 32, hier S. 9 – 14. 6 Zu Wittenberg als frühneuzeitlicher Kulturmetropole vgl. auch Heiner Lück, Wittenberg, in: Westphal, Siegrid/Adam, Wolfgang (Hrsg.), Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit. Städte und Residenzen im alten deutschen Sprachraum, Bd. 3, Berlin/Boston 2012, S. 2202 – 2248. 7 Vgl. dazu auch Detlef Döring, Christian Thomasius und die Universität Leipzig am Ende des 17. Jahrhunderts, in: Lück, Heiner (Hrsg.), Christian Thomasius (1655 – 1728). Gelehrter Bürger in Leipzig und Halle (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philol.-hist. Kl. 81/2), Stuttgart/Leipzig 2008, S. 71 – 97.

Die Wittenberger Carpzovs

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-praktiker wirkten in Leipzig der alle Carpzovs überragende Jurist Benedict II.8 sowie August Benedict Carpzov (1644 – 1708). Im Folgenden soll das Familiengeflecht der genannten Wittenberger Carpzovs etwas näher vorgestellt werden, was freilich nur mit biographischen Angaben in einer hinreichenden Ausführlichkeit erfolgen kann. Da es um die Familie geht, soll vorab etwas zum Namen und zu dem damit zusammenhängenden Wappen der Carpzovs gesagt werden. Der Familienname kommt offensichtlich aus dem Slawischen. Der aus einem deutschen Lehnwort (mhd. karpfe, ahd. karpf(o) ,Karpfen‘) gebildete slawische Personenname Karp, ,Karpfen‘ wird dem zugrunde liegen. Daraus entstand durch Suffigierung mit den Suffixen -c- und -ov- der Familienname Carpzov. Die verschiedenen Sprech- und Schreibweisen mit stimmlosem -ov und stimmhaftem -ow stehen gleichermaßen richtig nebeneinander. Die stimmhafte Variante -ow wird konsequenterweise auch stimmlos ausgesprochen.9 Vielleicht waren die Vorfahren tatsächlich slawischer Herkunft, was bei den frühesten Nachweisen der Familie in der Mark Brandenburg nicht ungewöhnlich wäre. Der erste urkundliche Beleg nennt einen Hermann von Carpzowe in einer Urkunde der Markgrafen von Brandenburg 1272.10 Die Familie wird zu den alten Ministerialgeschlechtern der Altmark, die sich seit dem 13. Jh. zunehmend nach ostelbischen Orten nannten, gehört haben. Dazu würde der Ort „Karpzow“11 passen. Belegen lässt sich dieser Zusammenhang freilich nicht. Der Karpfen ist dann auch das Wappentier der Familie geworden. Letzteres zeigt Schilfstengel über einem im Wasser schwimmenden Fisch, der gewiss einen Karpfen darstellt.

8 Zu ihm vgl. Heiner Lück, Benedict Carpzov (1595 – 1666) und das „römisch-sächsische Recht“. Zu seinem 350. Todestag am 31. August 2016, in: Zeitschrift für europäisches Privatrecht 24 (2016), S. 888 – 927; ders., Am Schnittpunkt von Strafrechtsgeschichte und Rechtsikonographie. Das Carpzov-Epitaph im Neuen Paulinum der Universität Leipzig, in: Zabel, Benno/Kretschmer, Bernhard (Hrsg.), Leidenschaftliches Rechtsdenken. Interdisziplinäre Beiträge zum 70. Geburtstag von Wolfgang Schild, Würzburg 2018, S. 17 – 32; ders., Carpzov, Benedict, in: Arend, Stefanie u. a. (Hrsg.), Frühe Neuzeit in Deutschland 1620 – 1720. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon (VL 17) (im Druck). 9 Frau Dr. Inge Bily (Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig) danke ich für die sprachwissenschaftliche Beratung. 10 Wolfgang Schößler, Regesten der Urkunden und Aufzeichnungen im Domstiftsarchiv Brandenburg, Teil 1: 948 – 1487, Weimar 1998, Nr. 65. 11 Heute Ortsteil von Buchow-Karpzow der Gemeinde Wustermark (Ldkr. Havelland/ Brandenburg). Vgl. auch Hans K. Schulze, Adelsherrschaft und Landesherrschaft. Studien zur Verfassungs- und Besitzgeschichte der Altmark, des ostsächsischen Raumes und des hannoverschen Wendlandes im hohen Mittelalter (Mitteldeutsche Forschungen 29), Köln/Graz 1963, S. 177.

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B. Familienmitglieder der Carpzovs in Wittenberg I. Benedict I. Carpzov (1565 – 1624) Am Anfang der Gelehrtendynastie Carpzov steht Benedict I. Carpzov (1565 – 1624). Er, der als Stammvater gelten kann, stammt aus Brandenburg an der Havel, wo sein Vater Simon Carpzov (†1580) als studierter Jurist Bürgermeister war. Dort wurde Benedict I. am 22. Oktober 1565 geboren. Weitere Vorfahren Benedicts I. sind in der Mark Brandenburg nachweisbar. Aus der mütterlichen Linie derer von Lind(en)holz begegnen mehrere Vorfahren und Verwandte als Juristen, die zumeist an der Universität Frankfurt/Oder („Viadrina“) studiert hatten.12 Von diesen ragt Johannes Lindholz (†1535) hervor, welcher zunächst an der Artistischen, dann aber seit 1509 an der Juristischen Fakultät der Viadrina als Professor der Dekretalen lehrte und ein hohes Ansehen genoss.13 Von den Juristen ist ferner der kurbrandenburgische Rat und Präsident des Konsistoriums Joachim Lindholz zu nennen. Benedict erhielt seine Schulbildung in Brandenburg und Braunschweig. Danach bezog er die Universitäten Frankfurt/Oder und Wittenberg. In Wittenberg wurde Benedict 1590 zum Dr. iur. utr. promoviert, worauf 1592 die Aufnahme in die dortige Juristenfakultät folgte. Seit 1599 hatte er die Professur für die Institutionen, die niedrigste von den fünf statutenmäßigen (ordentlichen) Professuren, inne. Zuvor, im Jahre 1594, war er zum Kanzler der Grafen von Reinstein und Blankenburg, die vorwiegend im Harz ihre Besitzungen hatten, bestellt worden. 1601 erlangte er durch das übliche Aufrücken eine höhere Professur (Codex14 oder Pandekten15). In dem darauf folgenden Jahr 1602 trat er das Amt des Kanzlers der sächsischen Kurfürstenwitwe Sophie (1568 – 1622), welche in Colditz mit einer Wittumsregierung residierte,16 an. An diese Fürstin scheint Carpzov eine besondere landsmannschaftliche Bindung gehabt zu haben, war diese doch eine geborene Prinzessin von Brandenburg. Nach ihrem Tod 1622 kehrte Carpzov, welcher 1610 zum Mitglied des kursächsischen Appellationsgerichts zu Dresden ernannt worden war, nach Wittenberg zurück. Diverse

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Schieckel, Benedict I. Carpzov (Anm. 3), S. 311. Über ihn vgl. Michael Höhle, Universität und Reformation. Die Universität Frankfurt (Oder) von 1506 bis 1550 (Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte 25), Köln/Weimar/Wien 2002, S. 77 – 82. 14 So Johann Friedrich Jugler, Beyträge zur juristischen Biographie I, Leipzig 1773, S. 272. 15 So Walter Friedensburg, Geschichte der Universität Wittenberg, Halle a. d. S. 1917, S. 438. 16 Zu der Kurfürstin Sophie und ihrem Wittum vgl. auch Maike Günther, Schloß Rochlitz als Residenz und Witwensitz. Das Projekt einer Dauerausstellung, in: Schattkowsky, Martina (Hrsg.), Witwenschaft in der Frühen Neuzeit. Fürstliche und adlige Witwen zwischen Fremdund Selbstbestimmung (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 6), Leipzig 2003, S. 65 – 83, hier S. 79 – 82. 13

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Spruchkonzepte der Wittenberger Juristenfakultät belegen die Mitwirkung und Anwesenheit Benedicts I. im Spruchkollegium.17 Benedict war mit einer prominenten und wohlhabenden Wittenbergerin verheiratet. Es handelt sich um Anna Fluth († 4. 12. 1599), eine Urenkelin des berühmten Malers, Apothekers, Verlegers und Ratsherrn Lucas Cranach d. Ä. (1472 – 1553). Dessen Tochter Anna hatte den Apotheker und Ratsherrn sowie mehrfachen Wittenberger Bürgermeister Caspar Pfreundt (um 1517 – 1574) geheiratet. Aus der Ehe ging u. a. eine Tochter Anna hervor, welche mit dem Apotheker und Ratsherrn Konrad Fluth den Ehebund einging. Konrad Fluth wohnte wahrscheinlich im Haus, das heute als Markt 4 ausgewiesen ist.18 An der nördlichen Außenwand der Wittenberger Stadtpfarrkirche St. Marien hat sich ein Epitaph für Anna Fluth erhalten. Die Inschrift lautet in deutscher Übersetzung: „Dem Andenken der vortrefflichen Frau Anna Fluth, des hochberühmten Herrn Benedict Carpzov, des Rechtsgelehrten und ordentlichen Professors weiland Gattin, welche, nachdem sie zwei Kinder des stärkeren Geschlechts, des anderen ebenso viele geboren hatte, bei der Geburt des fünften zugleich mit diesem starb, im 9. Jahr der Ehe, im 26. ihres Lebens, im Jahre 1599 am 4. Dezember, Dieses Grabmal ließ ihr der zurückgelassene und dankbare Gatte setzen.“19 Nach Annas Tod heiratete Benedict ein zweites Mal, und zwar Christine Selfisch (1585 – 1661). Sie war eine Tochter des bedeutenden Wittenberger Reformationsdruckers, Buch- und Papierhändlers Samuel Selfisch (1529 – 1615)20 und dessen zweiter Ehefrau Margarethe Rubin († 1595)21. Stadttopographisch war Christine schon längere Zeit Carpzovs Nachbarin, denn die Selfischs wohnten seit 1563/64 im Haus Markt 3.22 Diese Ehe mit der Tochter eines namhaften Repräsentanten des Buchdruckgewerbes in Wittenberg bedeutete nichts Geringeres als die Herstellung bzw. 17 Heiner Lück, Die Spruchtätigkeit der Wittenberger Juristenfakultät. Organisation-Verfahren-Ausstrahlung, Köln/Weimar/Wien 1998, S. 135. 18 Insa Christiane Hennen, „Cranach 3 D“: Häuser der Familie Cranach in Wittenberg und das Bild der Stadt, in: Lück, Heiner u. a. (Hrsg.), Das ernestinische Wittenberg: Spuren Cranachs in Schloss und Stadt (Wittenberg-Forschungen 3), Petersberg 2015, S. 312 – 361, hier S. 342. 19 Gottfried Naumann, Bene valeas quisquis es. Möge es dir wohlergehen, wer immer du auch seist. Lateinische Inschriften in der Lutherstadt Wittenberg, Lutherstadt Wittenberg 2011, S. 78. 20 Zu seiner herausragenden Rolle in der Wittenberger Buchdruck- und Buchhandelsgeschichte vgl. Uwe Schirmer, Buchdruck und Buchhandel im Wittenberg des 16. Jahrhunderts. Die Unternehmer Christian Döring, Hans Lufft und Samuel Selfisch, in: Oehmig, Stefan (Hrsg.), Buchdruck und Buchkultur im Wittenberg der Reformationszeit (Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 21), Leipzig 2015, S. 69 – 189, hier S. 84 – 189. Zum Epitaph S. Selfischs in der Wittenberger Stadtkirche vgl. Doreen Zerbe, Reformation der Memoria. Denkmale in der Stadtkirche Wittenberg als Zeugnisse lutherischer Memorialkultur im 16. Jahrhundert (Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 14), Leipzig 2013, S. 616 – 623. 21 Zu ihrem Grabdenkmal vgl. Zerbe (Anm. 20), S. 621. 22 Hennen (Anm. 18), S. 330 f., 342.

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Fortsetzung einer Verbindung zum Wittenberger wohlhabenden Bürgertum, was freilich auch schon in der ersten Ehe mit Anna Fluth angelegt war. Es sei hier daran erinnert, dass Wittenberg im 16. Jh. der bedeutendste Druckort im Heiligen Römischen Reich war.23 Nachdem Benedict 1624 gestorben war, heiratete seine Witwe den Wittenberger Rechtsprofessor Friedrich Praetorius (1594 – 1642). Das Einheiraten in die Universität bzw. aus der Universität heraus (Professoren) in das Wittenberger Patriziat war typisch für die Rekrutierung einer bestimmten Elite in der Kleinstadt Wittenberg, die Universitätsstadt, Residenz, Kirchenmetropole sowie Sitz mehrerer kurfürstlicher Rechtsprechungsinstitutionen (Hofgericht, Schöffenstuhl, Konsistorium, Juristenfakultät) war. Aus diesen Verbindungen resultierten oft ein planmäßiger repräsentativer Hausbau und vermögensbildender Grundstückserwerb, welche die Struktur des Stadtbildes bestimmten. Die Familie Carpzov war begütert – nicht nur vom Barvermögen her, sondern auch mit enormem Grundbesitz, etwa in Kaltenborn bei Colditz und in Pratau bei Wittenberg. Benedict I. wurde nach seinem Tod am 26. November 1624 in der Wittenberger Schlosskirche, unweit des Grabes von Martin Luther, beigesetzt. Die Verfasser von Nachrufen haben diesen räumlichen Umstand stets als besonders enge geistig-religiöse Verbindung zum Reformator gedeutet.24 Über Benedicts akademische Stationen, die peregrinatio academica, sowie über seine Bekanntschaften als 23jähriger gibt ein erhaltenes Stammbuch aus den Jahren von 1585 bis 1589 genauestens Auskunft.25 Das Stammbuch ist ein Glücksfall für die Wissenschafts- und Gelehrtengeschichte.26 Es enthält Einträge aus Leipzig, Nürnberg, Ingolstadt, Tübingen, Straßburg, Speyer, Heidelberg und Wittenberg. Ihre Verfasser waren Personen, mit denen Benedict Carpzov Kontakt und gewiss auch geistigen Austausch hatte.27 Unter kirchen- bzw. konfessionsgeschichtlichen Gesichtspunkten ist das Stammbuch vor allem deshalb interessant, weil es in die Regierungszeit des Kurfürsten Christian I. (1586 – 1591), der Kursachsen calvinistisch zu reformieren versuchte, fällt. So nimmt es nicht wunder, dass darin prominente Repräsentanten kursächsischer procalvinistischer Politik, darunter auch die Wittenberger Professoren Eberhard von Weyhe (1553–nach 1633), Petrus Wesenbeck (1546 – 23

Lück, Wittenberg, in: Adam/Westphal (Anm. 6), S. 2233. Zu Wittenberg als Druck- und Buchhandelszentrum vgl. auch Heiner Lück, Wittenberg, in: Corsten, Severin u. a. (Hrsg.), Lexikon des gesamten Buchwesens, 2. Aufl., Bd. VIII, Stuttgart 2014, S. 301 – 303. 24 Schieckel, Benedict I. Carpzov (Anm. 3), S. 314. 25 British Museum London, Deptm. of Manuscr., Egerton 1,204. Vgl. dazu Harald Schieckel, Der Freundes- und Bekanntenkreis eines deutschen Juristen im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts. Das Stammbuch des Benedict Carpzov aus seinen Studien- und Reisejahren 1585 – 1589, in: ZRG GA 87 (1970), S. 290 – 305. 26 Zu dieser Quellengattung vgl. Nicole Domka u. a. (Hrsg.), „In ewiger Freundschaft“. Stammbücher aus Weimar und Tübingen (Tübinger Kataloge 83), Tübingen 2009. 27 Alphabetische Auflistung mit Erläuterungen bei Schieckel, Freundes- und Bekanntenkreis (Anm. 25), S. 301 – 305.

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1603), Johann Major (1533 – 1600), Andreas Rauchbar (1559 – 1602) und Caspar Alteneich28 (um 1527 – 1605), begegnen. Das Schwergewicht dieser Persönlichkeiten zeigte sich wenig später darin, dass etwa von Weyhe zum Hofrat und Rauchbar gar zum Vizekanzler ernannt wurden. Damit waren sie engste Mitarbeiter des Kanzlers Nikolaus Krell (1551 – 1601),29 des führenden calvinistischen Kopfes am kurfürstlichen Hof.30 Nach dem Tod Christians I. haben die genannten Personen im Zuge der Restauration des orthodoxen Luthertums in Wittenberg ihre Professorenstellen verloren bzw. aus eigenem Entschluss verlassen. Aus den Reihen auswärtiger namhafter Gelehrter finden sich im Stammbuch der bekennende Calvinist und Heidelberger Rechtsprofessor Julius Pacius (1550 – 1635), der spätere Tübinger Rechtsprofessor Heinrich Bocer (1561 – 1630) sowie der spätere Baseler Griechischprofessor Heinrich Jeckelmann (1565 – 1633). Auch der ehemalige Wittenberger Theologieprofessor Christoph Pezel (1539 – 1604), der schon in den 1570er Jahren als „Kryptocalvinist“ aufgefallen und deshalb 1574 entlassen worden war,31 ist mit einem Eintrag vertreten. Den Anhängern der calvinistischen Lehre stehen nicht ganz so viele Einträge von Lutheranern gegenüber (u. a. die Wittenberger Professoren Polycarp Leyser d. Ä. [1552 – 1610] und Georg Mylius [1548 – 1607]). Schlüsse in bezug auf Carpzovs kirchenpolitische Gesinnung lassen sich daraus nicht ziehen.32 Aus dem hohen Adel sind die Herzöge von Braunschweig-Lüneburg Ernst (1564 – 1611) und August (1568 – 1636) vertreten. Zum Zeitpunkt der Eintragung bekleideten sie das Ehrenrektorat der Universität Wittenberg.33 Das schroffe Urteil von Theodor Muther „Geschrieben hat Benedict C. außer unbedeutenden Dissertationen nichts“34 scheint zuzutreffen. Aus Tochterlinien unter den Nachkommen Benedicts I. sind Verbindungen zu den Wittenberger Professorenfamilien von Augustin von Leyser (1683 – 1752) und Augustin Strauch (1612 – 1674) entstanden.35

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Auch Alteneych, Aldeneich, Altenaich. Thomas Klein, Der Kampf um die Zweite Reformation in Kursachsen 1586 – 1591 (Mitteldeutsche Forschungen 25), Köln/Graz 1962, 119 – 122. 30 Über ihn Klein (Anm. 29), S. 20 – 36, sowie Hartmut Krell, Das Verfahren gegen den 1601 hingerichteten kursächsischen Kanzler Dr. Nicolaus Krell (Europäische Hochschulschriften II/4362), Frankfurt am Main 2006. 31 Ulrike Ludwig, Philippismus und orthodoxes Luthertum an der Universität Wittenberg. Die Rolle Jakob Andreäs im lutherischen Konfessionalisierungsprozeß Kursachsens (1576 – 1580) (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 153), Münster 2009, S. 99 f. 32 So wohl zutreffend Schieckel, Benedict I. Carpzov (Anm. 3), S. 315; Schieckel, Freundes- und Bekanntenkreis (Anm. 25), S. 298. 33 Schieckel, Benedict I. Carpzov (Anm. 3), S. 291. 34 Theodor Muther, Carpzov, Benedict, in: ADB 4 (1876), S. 11. 35 Schieckel, Benedict I. Carpzov (Anm. 3), S. 316 f. 29

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Aus der ersten Ehe Benedicts I. stammen die Söhne Konrad und Benedict II. Beide wurden in Wittenberg geboren, der eine 1593 und der andere 1595. Von ihnen soll der weniger bekannte Konrad etwas näher vorgestellt werden. II. Konrad Carpzov (1593 – 1658) Konrad Carpzov kam am 11. Juli 1593 in Wittenberg zur Welt. Gemeinsam mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder Benedict II. verbrachte er mehrere Jahre der Kindheit in Colditz, wo die Brüder im Elternhaus („Kanzleihaus“, heute Markt 21) gediegenen Unterricht erhielten. Beide studierten zunächst an der Artistischen Fakultät der Universität Wittenberg (1610), um dann an den Juristenfakultäten Wittenberg, Leipzig (1615) und Jena (1616) das Studium der Rechte zu absolvieren. In Wittenberg wurden Konrad und Benedict II. unter dem Vorsitz ihres Onkels Wolfgang Hirschbach (1570 – 1620) am 3. Dezember 1618 zu Lizentiaten der Rechte promoviert.36 Am 16. Februar 1619 erfolgte wiederum für beide Brüder die Promotion zum Doktor beider Rechte an der Universität Wittenberg.37 Die Dissertation, welche den Regalien gewidmet war, hat in der Geschichte der Rechtswissenschaft Spuren hinterlassen.38 Die Arbeit wurde in die von Dominicus Arumaeus (1579 – 1637) herausgegebene Sammlung „Discursus academici de jure publico“39 aufgenommen. Während Benedict II. sodann seine peregrinatio academica antrat, ging der Bruder Konrad nach Pommern, wo er als herzoglicher Hofrat wirkte. 1621 nahm Konrad einen Ruf auf die Professur für Institutionen an der Wittenberger Juristenfakultät an. Damit war auch die Beisitzerfunktion im Hofgericht, im Schöffenstuhl und im Konsistorium verbunden. Hinzu kam das Assessorat am kursächsischen Appellationsgericht zu Dresden. Diesen Karriereschritt hat Konrad wohl zu einem großen Teil sei36 Mit Hirschbachs Dissertatio Politico-Iuridica De Regalibus Quam SS. Tritinatis auxiliante gratia Ex decreto authoritate Amplissimi JCtorum Collegii in Academia Witebergensi celeberrime Sub Praesidio … Dn. Wolfgangi Hirschbachii I. U. D. … Pro Licentia in utroque iure consequenda publico examini subiiciunt Conradus & Benedictus Carpzovii Witebergenses FF. germ. In Auditorio Maiori d. 3. Decemb. Horis matutinis & pomeridianus. Wittebergae Gormannus MDCXVIII (auch Ienae Johannis Beithmannus MDCXIX [62 Bl., 48]). Vgl. auch Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600 – 1800, München 1988, S. 168, sowie zum Verhältnis von Autor, Präses u. Respondenten Gertrud Schubart-Fikentscher, Untersuchungen zur Autorschaft von Dissertationen im Zeitalter der Aufklärung (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philol.-hist. Kl. 114/5), Berlin 1970. 37 Eintrag zum 16. Februar 1619 im Dekanatsbuch der Juristischen Fakultät (Universitätsarchiv Halle, Rep. 1 / XXXXIII, Nr. 1, fol. 185r). Zu den Disputationen zur Erlangung akademischer Grade vgl. auch Heiner Lück, Disputation, in: Cordes, Albrecht/Lück, Heiner/ Werkmüller, Dieter (Hrsg.) und Ruth Schmidt-Wiegand als philologischer Beraterin, Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2. Aufl., Bd. 1, Berlin 2008, Sp. 1089 f. 38 Umfassende Würdigung bei Dieter Wyduckel, Wittenberger Vertreter des Ius Publicum, in: Lück, Heiner/de Wall, Heinrich (Hrsg.), Wittenberg. Ein Zentrum europäischer Rechtsgeschichte und Rechtskultur, Köln/Weimar/Wien 2006, S. 291 – 359, hier S. 308 – 316. 39 Teil III, Jena 1621.

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nem Vater zu verdanken.40 1623 (?) rückte er in die Codex-Professur auf.41 Aus seiner Tätigkeit im Spruchkollegium der Wittenberger Juristenfakultät haben sich neun Faszikel mit Spruchkonzepten (Gutachten und Urteile), sog. Urteilsbücher, erhalten: 1625 (87), 1626 (85), 1627 (135), 1629 (136), 1631 (85), 1632 (106), 1634 (125), 1637 (40), 1638 (42). Damit stehen mindestens und eindeutig 841 Gutachten- und Urteilskonzepte aus der Feder Konrad Carpzovs der Forschung zur Verfügung (jene in den gemischten Urteilsbüchern nicht mitgerechnet).42 Zur Lehrtätigkeit Konrad Carpzovs wird berichtet, dass er wie auch sein Fakultätskollege Jeremias Reusner (1590 – 1652) die sog. systematische Methode des akademischen Vortrags bevorzugte. Offenbar wurde er von der kurfürstlichen Regierung dahingehend zurechtgewiesen, die althergebrachte sog. legistische Methode, welche die Abhandlung der einzelnen Codex- und Digestenstellen in der in den Quellen überlieferten Abfolge beinhaltet,43 zu beachten.44 Im Jahre 1622 wurde Konrad Carpzov Mitglied der Bibliothekskommission, in welcher je ein Repräsentant der vier Fakultäten vertreten war. In dieser Eigenschaft oblag ihm u. a. die Aufsicht über die Bibliothek im Gebäude der Juristenfakultät und des Schöffenstuhls (collegium iuridicum).45 Nach 1625 wurde Konrad Carpzov Eigentümer eines Hauses (heute Collegienstraße 81) in Wittenberg, wo die Familie bis mindestens 1644 nachweisbar ist.46 1626 wird das Haus der Witwe von Benedict I. Carpzov „auf dem Elsterende“47 erwähnt.48 Konrad blieb aber nicht auf der Wittenberger Professur. 1638 ging er als Kanzler und Geheimer Rat nach Halle. Als solcher diente er Herzog August von SachsenWeißenfels (1614 – 1680), welcher als Administrator des säkularisierten Erzstifts Magdeburg auf der hallischen Moritzburg residierte. Dieses hohe Amt übte Konrad

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Friedensburg, Geschichte (Anm. 15), S. 441. Ebd., S. 441 f. 42 Vgl. Lück, Spruchtätigkeit (Anm. 17), S. 243 f. 43 Zum Lehrbetrieb an der juristischen Fakultät vgl. Heiner Lück, Zwischen modus legendi und modus vivendi. Ein Beitrag zur Geschichte des Rechtsunterrichts an der Universität Wittenberg im Reformationsjahrhundert, in: Kiehnle, Arndt/Mertens, Bernd/Schiemann, Gottfried (Hrsg.), Festschrift für Jan Schröder zum 70. Geburtstag am 28. Mai 2013, Tübingen 2013, S. 443 – 467. 44 Vgl. Friedensburg, Geschichte (Anm. 15), S. 441 f. 45 Ulrike Ludwig, Bibliotheken und Büchersammlungen an der Universität in Wittenberg – Standorte und Benutzung im 16. Jahrhundert, in: Oehmig (Anm. 20), S. 261 – 302, hier S. 292. 46 Hennen (Anm. 18), S. 350. 47 Gemeint ist das „Elsterviertel“ als Areal für die Schoss-/Steuererhebung. 48 Walter Friedensburg (Bearb.), Urkundenbuch der Universität Wittenberg (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt, Neue Reihe, 4), Teil 2 (1611 – 1813), Magdeburg 1927, Nr. 631 (S. 65). 41

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bis zu seinem Tod, also zwei Jahrzehnte lang, aus.49 Konrad war seit 1622 in erster Ehe mit Maria Lentke (1603 – 1631), einer Tochter des Magdeburger Bürgermeisters Moritz Lentke, verheiratet. Deren Mutter war Tochter eines Wittenberger Griechisch-Professors (Nikolaus Todaeus).50 Seine zweite Ehefrau war seit 1632 Christine Elisabeth Cramer von Clausbruch (1609 – 1671) auf Meuselwitz.51 Sein jüngerer Bruder, der berühmte Benedict II., hatte einige Jahre zuvor (1627) deren Schwester Regina (†1637) geheiratet. In Bezug auf die familiären Verflechtungen ist zu Meuselwitz noch interessant, dass 1633 der Theologe Johann Benedict I., ein Halbbruder von Konrad und Benedict II., Pfarrer in Meuselwitz war. Von dort aus ging er nach Leipzig, um seine Karriere als Theologieprofessor zu verwirklichen.52 Als solcher erlangte er eine gewisse Popularität als einer der Erzfeinde von Christian Thomasius. Über die Kanzlertätigkeit Konrads für und in Halle ist einiges bekannt. So war es für die Stadt nahezu lebenswichtig, die Salzproduktion und den Salzhandel nach den Kampfhandlungen in und bei Halle gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges wieder in Gang zu bringen. Es ist u. a. Konrads Verdienst, dass eine neue Pfännerordnung (1644) und erstmals eine Holzordnung (1647) ausgearbeitet und in Kraft gesetzt wurden.53 1644 erlangte Konrad das hallische Bürgerrecht.54 Das war die Voraussetzung, um Grundstücke und Häuser zu erwerben. Carpzov erwarb ein Haus an der Westseite des heutigen Marktes („Marktschlösschen“),55 das er gewiss zu einem seinem Stand und Amt entsprechenden Wohnhaus ausbauen ließ. Er wurde 1639 von den Schweden gefangen genommen, kurz darauf jedoch wieder freigelassen. 1640 sorgte er für die Wiederaufnahme der Regierungsgeschäfte in Halle. Der Sitz der Regierung, die Moritzburg, war übrigens durch ein Feuer während der Belagerung durch die Schweden 1637 erheblich beschädigt worden.56 49 Zur Beurteilung seiner Kanzlertätigkeit Andrea Thiele, Residenz auf Abruf? Hof- und Stadtgesellschaft in Halle unter dem letzten Administrator des Erzstifts Magdeburg, August von Sachsen (1614 – 1680) (Forschungen zur hallischen Stadtgeschichte 16), Halle (Saale) 2011, S. 427 („Amtsträgerprosopographie“). 50 Zu ihm vgl. Heinz Kathe, Die Wittenberger Philosophische Fakultät 1502 – 1817 (Mitteldeutsche Forschungen 117), Köln/Weimar/Wien 2002, S. 129, 169. 51 1676 wurde das Gut Meuselwitz von Veit Ludwig von Seckendorff (1626 – 1692) erworben. 52 Manfred Wilde, Die Zauberei- und Hexenprozesse in Kursachsen, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 288. 53 Thiele (Anm. 49), S. 71, 435 f. 54 Einzelheiten bei Thiele (Anm. 49), S. 245 f. 55 Ebd., S. 260, 463. Das Haus wurde nach dem Tod der Witwe Carpzov 1675 von dem Hofmarschall Georg Job Marschall von Bieberstein übernommen (ebd., S. 463). Zur Bau- und Besitzgeschichte vgl. auch Andrea Dolgner/Dieter Dolgner/Erika Kunath, Der historische Marktplatz der Stadt Halle/Saale, Halle/Saale 2001, S. 90 – 95. 56 Zur Regierung auf der Moritzburg darf ich noch eine kleine persönliche Anmerkung machen. Die Bauern meines Heimatdorfes Nauendorf am Petersberg waren nach alter Gewohnheit verpflichtet, aus Zerbst Bier für die Regierung zu holen (vgl. Heiner Lück, Nauen-

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In einem Schreiben vom 2. Januar 1654 heißt es, dass er, Konrad Carpzov, dem Erzstift 25 Jahre lang, den kurfürstlichen Häusern 34 Jahre lang, treu gedient habe und sich nun zurückziehen wolle. Daraufhin erhielt er, wohl zu seiner Entlastung, einen Vizekanzler zugeordnet. Konrad hatte neun Kinder; fünf davon verstarben im Kindes- oder Jugendalter; vier Kinder erreichten das Erwachsenenalter und wurden Angehörige der Pfännerschaft, also des hallischen Patriziats.57 Konrad Carpzov starb am 12. Februar 1658 in Halle. In der dortigen Domkirche fand er seine letzte Ruhestätte.58 Diese privilegierte Grablege war offenbar den höchsten Amtsträgern der erzstiftischen Regierung vorbehalten.59 Es findet sich dort aber weder ein Epitaph noch ein sonstiger Hinweis. Lediglich zwei Epitaphe für Kinder aus der zweiten Ehe Konrads sind vorhanden.60 III. Christian Carpzov (1605 – 1642) Christian Carpzov wurde am 20. April 1605 in Colditz geboren.61 Er ist ebenfalls ein Halbbruder von Konrad und Benedict II. und entstammt der zweiten Ehe seines Vaters, Benedicts I., mit Christine Selfisch. Nach dem Studium der Rechte in Wittenberg, Leipzig, Jena, Heidelberg und Straßburg erfolgte die Promotion zum Dr. iur. utr. in Straßburg (Druck der Dissertation 1630). Bei der öffentlichen Disputation soll der berühmte Jacobus Gothofredus (1587 – 1652) anwesend gewesen sein und sich über den Vortrag des Kandidaten positiv geäußert haben. Christian ging zurück nach Wittenberg, befasste sich hier mit rechtspraktischen Sachen, wohl als Advokat, und hielt wahrscheinlich auch private juristische Vorlesungen. 1632 erhielt er einen Ruf auf eine Juraprofessur an der Viadrina, den er auch annahm. Er starb in Frankfurt an der Oder am 20. Dezember 1642. Bemerkenswert ist in diesem familiären Kontext die Eheschließung mit Anna Maria Essenbrücher, einer Kaufmannstochter aus Cölln an der Spree – also wiederum ein Einheiraten in die gehobene Kaufmannsschicht. Im Schrifttum ist er nur schwach vertreten. Jugler führt neun Titel an, zumeist Disputationen.62 dorf in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Meinem Heimatdorf und Geburtsort zum 800. Jubiläum der urkundlichen Ersterwähnung, in: Heimat-Jahrbuch Saalkreis 13 (2007), S. 29 – 38, hier S. 30, 35). So hat vielleicht auch Konrad Carpzov Bier getrunken, das die Nauendorfer Bauern von Zerbst nach Halle transportiert haben… 57 Thiele (Anm. 49), S. 427. 58 Johann Christoph von Dreyhaupt, Pagus Neletici et Nudzici, Oder Ausführliche diplomatisch-historische Beschreibung des zum ehemaligen Primat und Ertz-Stifft, nunmehr aber … Herzogthum Magdeburg gehörigen Saal-Creyses …, Bd. 2, Halle 1755, S. 601. Vgl. auch Thiele (Anm. 49), S. 249. 59 Thiele (Anm. 49), S. 249. 60 Franz Jäger (Bearb.), Die Inschriften der Stadt Halle an der Saale (Die Deutschen Inschriften 85), Wiesbaden 2012, S. 386 f. 61 Jugler (Anm. 14), S. 304 – 306. 62 Ebd., S. 305 f.

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Zu seinem Privatleben wird berichtet, dass er eine Abneigung gegenüber seiner Frau empfand, so dass dieselbe „nicht wenige Gedult bey ihm auszuüben genöthiget worden ist“. Ein Zeitgenosse erwägt den Umstand, dass Carpzov in seiner Ehefrau eine Hexe gesehen habe.63 Belastbar ist das freilich nicht. Auch im Umgang mit anderen Personen soll er „ein sehr verdrüßlicher, ja fast unerträglicher, Mann gewesen seyn“.64 Näheres zu dem, was er eigentlich in Wittenberg gemacht hat, ist nicht bekannt. Friedensburg erwähnt ihn in seiner Universitätsgeschichte65 nicht. IV. August(in) Carpzov (1612 – 1683) Der zweiten Ehe Benedicts I. entsprang auch August(in) Carpzov (1612 – 1683). Der am 4. Juni 1612 in Colditz geborene August wurde nach dem Studium der Philosophie und Rechtswissenschaft in Wittenberg, Leipzig und Jena Jurist. 1636 nahm ihn sein älterer Halbbruder Konrad mit zum Kurfürstentag in Regensburg, wo Kaiser Ferdinand III. (reg. 1636 – 1657) gewählt wurde. Kurz darauf wurde August Advokat am Hofgericht zu Wittenberg. 1638 erwarb er den juristischen Doktorgrad an der Wittenberger Juristenfakultät. Er besaß alle Voraussetzungen, um eine Professur zu bekleiden. Eine solche soll ihm auch angeboten worden sein, doch hat er diese – auf Anraten von Freunden, wie es heißt – ausgeschlagen.66 Er machte sich einen Namen als ranghoher Verwaltungsfachmann und Diplomat. So diente er seit 1644 kurzzeitig den Grafen von Stolberg als Rat. Danach erlangte er am Hof der Herzöge Friedrich Wilhelm II. (1603 – 1669) und Friedrich Wilhelm III. von Sachsen-Altenburg (reg. 1669 – 1672) höchste Ämter: Hofrat, Geheimer Rat, Kanzler, Konsistorialpräsident, Aufseher der Kammer in Coburg. Den Herzog vertrat er u. a. bei den Friedensverhandlungen in Münster und Osnabrück.67 Da Sachsen-Altenburg 1672 an Sachsen-Gotha gefallen war, musste August nach Gotha umziehen. Seine sächsisch-altenburgischen Ämter hatte er niedergelegt. In Gotha wirkte er als Gothaischer Geheimer Rat von Haus aus neben dem bedeutenden Veit Ludwig von Seckendorff (1626 – 1692).68 Als herzogliche Räte gaben A. Carpzov, von Seckendorff u. a. ein Votum zu einer politisch vorteilhaften Entscheidung über die anstehende zweite Eheschließung ihres Dienstherrn Friedrich I. von Sachsen-Gotha-Altenburg (reg. 1672/ 75 – 1691) ab.69 63

Ebd., S. 305. Ebd., S. 304. 65 Friedensburg, Geschichte (Anm. 15). 66 Ebd., S. 446, erwähnt ihn zu 1642 jedoch als Professor der Institutionen. 67 Schieckel, Benedict I. Carpzov (Anm. 3), S. 312. 68 Zum Geheimen Rat in Kursachsen vgl. Christian Heinker, Die Bürde des Amtes – die Würde des Titels. Der kursächsische Geheime Rat im 17. Jahrhundert (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 48), Leipzig 2015, insbes. zum Gothaer Hof mit dem prägenden von Seckendorff S. 129 f. 69 Roswitha Jacobsen, Die Brüder Seckendorff und ihre Beziehungen zu Sachsen-Gotha, in: dies./Ruge, Hans-Jörg (Hrsg.), Ernst der Fromme (1601 – 1675). Staatsmann und Reformer. 64

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August kümmerte sich um Coburg, das zu Sachsen-Altenburg und dann zu Sachsen-Gotha gehörte. Seit 1680 war August in Coburg ansässig. Bei ihm in Coburg wohnte zuletzt auch seine Mutter, die zweite Ehefrau des Benedict I. Carpzov.70 An rechtswissenschaftlichen Schriften hat er nur wenige (Disputationen aus seiner Universitätszeit) hinterlassen. Wiederum typisch war seine Einheirat in eine Kaufmannsfamilie. Im Jahre 1650 schloss er mit Sabina Elisabeth Anckelmann (1633 – 1696), der dritten Tochter des Kaufmanns Joachim (III.) Anckelmann und der Catharina Volckmar,71 die Ehe. Diese Anckelmanns waren eine bedeutende und sehr wohlhabende Hamburger und Leipziger Kaufmannsfamilie. Die Linien ihrer Abkömmlinge lassen sich bis zum heutigen niederländischen König Willem-Alexander (reg. seit 2013) verfolgen. August Carpzov starb am 19. November 1683 in Coburg. V. Samuel Benedict Carpzov (1647 – 1707) Zu den „Wittenberger Carpzovs“ muss auch Samuel Benedict gezählt werden.72 Er war am 17. Januar 1647 als Sohn des Theologieprofessors Johann Benedict I. Carpzov in Leipzig geboren worden. Nach dem Besuch der Nikolaischule nahm er das Studium an der Leipziger Universität auf. 1664 wurde er zum Baccalaureus und 1666 zum Magister der Philosophie promoviert. Zur Fortsetzung seiner Studien zog er 1668 nach Wittenberg. Dort widmete er sich insbesondere der Kirchengeschichte und Moralphilosophie, die von Ägidius Strauch (III.) (1632 – 1682)73 gelesen wurden. Zwei Jahre später (1670) erlangte er die Professur für Poetik an der Philosophischen Fakultät, bei der er zuvor bereits als Adjunkt tätig war.74 Das Fach, für das er berufen worden war, lag jedoch nicht im Zentrum seines wissenschaftlichen Interesses. Vielmehr beschäftigte er sich intensiv mit theologischen Fragen, offenbar angeregt durch den bedeutenden Wittenberger Theologieprofessor Abraham Calov (1612 – 1686), in dessen Haus Samuel Benedict auch wohnte. Ferner war er mit Aegidius Strauch (III.), ebenfalls Professor an der Theologischen Fakultät der Leucorea, befreundet. 1674 ging er als Dritter Hofprediger nach Dresden. Nachdem er 1680 zum Superintendenten ernannt worden war, intensivierte er seine theologischen Studien in Wittenberg, worauf er dort 1681 zum Lizentiaten und zum Dr. theol. promoviert wurde. Ebenfalls 1681 erfolgte seine Bestallung als Mitglied des OberkonsisWissenschaftliche Beiträge und Katalog zur Ausstellung (1601 – 1675) (Veröffentlichungen der Forschungsbibliothek Gotha 39 = Palmbaum Texte. Kulturgeschichte 14), Bucha bei Jena 2002, S. 95 – 116, hier S. 111, 115 (Endnote 95). 70 Schieckel, Freundes- und Bekanntenkreis (Anm. 25), S. 299. 71 Bernhard Pabst, Die Familie Anckelmann in Hamburg und Leipzig: Gelehrte, Rats- und Handelsherren, Hennef 1999, S. 109 – 115; hier auch Etymologie des Namens und Beschreibung des Wappens der Anckelmanns. 72 Zu seiner Biographie vgl. Julius August Wagenmann, Carpzov, Samuel Benedict, in: ADB 4 (1876), S. 25 f. 73 Kathe (Anm. 50), S. 173 – 176. 74 Ebd., S. 189 f.

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toriums. In dieser Funktion75 hatte Samuel Benedict einen Anteil an der Berufung Jakob Speners (1635 – 1705) als Oberhofprediger nach Dresden im Jahre 1686. Auf dessen Stelle folgte er nach Speners Weggang 1692. Samuel Benedict heiratete in Wittenberg am 3. März 1674 Anna Maria Ostermann (1657 – 1729). Die gebürtige Wittenbergerin war die Tochter des Professors Johann Erich Ostermann (1611 – 1668), welcher an der Philosophischen Fakultät die Griechischprofessur innehatte. Aus der Ehe gingen acht Kinder hervor, von denen fünf bereits im Kindesalter starben. Samuel Benedict Carpzov starb am 31. August 1707 in Dresden. VI. Friedrich Benedict II. Carpzov (1702 – 1744) Friedrich Benedict II. gehört der fünften Carpzov-Generation, gerechnet ab Benedict I., an. Er wurde am 21. Oktober 1702 in Zittau geboren. Der Vater, Johann Benedict III. (1675 – 1739), war Syndicus des Magistrats der Stadt Zittau. Nachdem er 1729 wegen Unregelmäßigkeiten in der Amtsführung mit dem ganzen Rat 1729 abgesetzt worden war, trat der Vater 1731 die Kreisamtmannsstelle in Wittenberg an. Friedrich Benedict II. hatte mit dem Dresdner Oberhofprediger Samuel Benedict einen ziemlich bekannten Großvater. Nach dem Jurastudium in Wittenberg und Leipzig ließ sich Friedrich Benedict II. 1726 als Notar76 in Zittau nieder. Seit 1727 war er Amtsadvokat in der Lausitz und seit 1731 Advokat im Kurfürstentum Sachsen. 1735 erfolgte die Promotion zum Dr. iur. utr. in Wittenberg. Einen Ruf an die Universität Göttingen lehnte er 1739 ab. Hoffnungen auf eine gut dotierte Professur in Wittenberg erfüllten sich nicht. 1742 erhielt er eine Professur für Natur- und Völkerrecht an der Wittenberger Juristenfakultät, die jedoch nicht mit einer Besoldung ausgestattet war. Mit scharfer „Satire“ – heißt es – soll er sich bei vielen Kollegen unbeliebt gemacht haben. Friedrich Benedict II. starb 1744, offenbar unverheiratet und kinderlos, nachdem er schon länger an Schwindsucht gelitten hatte. Jugler schreibt 1773 über ihn: „Der Bau und die Stellung seines Leibes hatte nichts, das gefallen konnte, wenn man ihn zuerst sahe, oder mit ihm sprach; und die einem Lehrer so nöthige Deutlichkeit, Lebhaftigkeit und gute Art, mit jungen Leuten umzugehen, fehlte ihm ganz und gar bey aller Gelehrsamkeit, welche ihm nicht abzusprechen ist. Deshalb hatte er sehr wenige Zuhörer.“ Gleichwohl konstatiert derselbe Autor: „Fast alles, was er heraus-

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Zur Biographie und zu seinem Wirken in diesem Amt vgl. Wolfgang Sommer, Die lutherischen Hofprediger in Dresden – Grundzüge ihrer Geschichte und Verkündigung im Kurfürstentum Sachsen, Stuttgart 2006, S. 239 – 249 [Samuel Benedikt Carpzov als Oberhofprediger in Dresden zur Zeit der Regierung von Kurfürst Johann Georg IV. und von Kurfürst und König Friedrich August I. (1692 – 1707)]. 76 Zur Geschichte des sächsischen Notariats vgl. die Skizze von Heiner Lück, Zur Geschichte des Notariats in Sachsen, in: Schmoeckel, Mathias/Schubert, Werner (Hrsg.), Handbuch zur Geschichte des deutschen Notariats seit der Reichsnotariatsordnung von 1512, Baden-Baden 2012. S. 569 – 587.

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gegeben hat, verdienet gelesen zu werden.“77 Jugler bespricht zehn Schriften, darunter diverse Disputationen/Dissertationen. Thematisch überwiegen strafrechtliche Titel.78 Ein Epitaph für Friedrich Benedict Carpzov befindet sich in der Stadtpfarrkirche zu Wittenberg. Die Inschrift lautet in deutscher Übersetzung: „Dem größten Gott und dem immerwährenden Gedächtnis des Friedrich Benedict Carpzov, Doktor beider Rechte, Notar und öffentlicher ordentlicher Professor, Außerordentlicher Beisitzer der Juristischen Fakultät an der Wittenberger Universität, welcher, geboren am 21. Oktober 1702 und gestorben am 5. Oktober 1744, 41 Jahre und 11 Monate lebte. Dem äußerst würdigen und pflichtgetreuen Sohn ließ dieses Grabmal errichten die tiefbetrübte Mutter Johanna Christiana aus dem Geschlecht der Beinhardt79, Sei gegrüßt und möge es dir wohlergehen, wer du auch seist.“80 Friedrich Benedicts Schwester Eleonora Sophia Carpzov (1704 – 1756) war mit dem Zittauer Juristen und Ratsherrn Dr. iur. utr. Johann Friedrich Ettmüller (1697 – 1748) verheiratet. Wir kehren nun noch einmal in das 17. Jh. zurück. Unabhängig von den verwandtschaftlichen und durch Eheschließung hergestellten Beziehungen war der Druckund Verlagsort Wittenberg ganz wichtig für die Carpzovs, freilich auch für andere Gelehrte – und das auch noch im 17. Jh. Es sei nur daran erinnert, dass die berühmte „Practica Nova imperialis Saxonica rerum criminalium…“ des Benedict II. zuerst in Wittenberg (bei Zacharias Schürers Erben und Georg Müllers Erben81 1635) erschienen ist. Und auch das Werk von Samuel Stryk (1640 – 1710), dessen Titel „Usus modernus pandectarum“ einer ganzen Epoche der europäischen Rechtswissenschaft den Namen gab, ist in Wittenberg erstmals verlegt worden.82 Freilich haben auch viele andere Gelehrte ihre Werke in Wittenberg drucken lassen. Die Familie Carpzov stellte insofern nur eine relativ kleine Kundengruppe der Wittenberger Buchdrucker- und Verlegerszene. Auf’s Ganze gesehen sollen von Benedicts I. Nachkommen über 150 Juristen gewesen sein bzw. eine juristische Bildung gehabt haben. Hinzu kommen ca. 90 Juristen, die in die Carpzov-Familie eingeheiratet haben.83 Es bleibt also noch viel zu tun 77

Jugler (Anm. 14), S. 323. Ebd., S. 323 – 327. 79 Es muss richtig heißen „Reinhardt“; gemeint ist Johanna Christina Reinhardt. 80 Naumann (Anm. 19), S. 16. 81 Zu ihnen vgl. Christoph Reske, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Auf der Grundlage des gleichnamigen Werkes von Josef Benzing (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 51), 2. Aufl., Wiesbaden 2015, S. 1099. 82 Specimen usus moderni pandectarum…, Wittenberg 1690 – 1692. 83 Zahlen nach Schieckel, Benedict I. Carpzov (Anm. 3), S. 317; vgl. auch Harald Schieckel, Die Familie Carpzov. Bilanz einer 50-jährigen Erforschung der Geschichte einer bedeutenden Gelehrtenfamilie und ihrer Nachkommen in 15 Generationen, in: Archiv für Familienforschung 7 (2003), S. 289 – 296. 78

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für die Forschung, die sich der Familienverhältnisse als Schlüssel für die Erkenntnisgewinnung auf den Feldern der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, praktische Dimensionen eingeschlossen, annimmt – zumal noch nicht einmal alle Nachkommen Benedicts I. ermittelt worden sind. Ob sich daraus wirklich „das Bild einer sozialen und geistigen Inzucht mit allen Vorzügen und Nachteilen“84 ergibt, wird sich dann erweisen.

C. Schluss An Stelle einer Zusammenfassung, die das oben Ausgeführte komprimiert wiederholen würde, sollen abschließend noch zwei Kuriosa, die mit den Carpzovs zusammenhängen, mitgeteilt werden. Zum einen betrifft das eine Redewendung, die heute in Halle noch sehr geläufig ist. Diese beinhaltet die Gewissheit, dass es in Halle „Halloren“, „Hallenser“ und „Halunken“ geben würde. Dieses geflügelte Wort soll auf Samuel Benedict Carpzov zurückgehen, der damit angeblich den 1690 von Leipzig nach Halle verzogenen Christian Thomasius diffamieren wollte (als „Halunken“ freilich). Und in der Tat gab es einige, freilich nicht gravierende, Auseinandersetzungen zwischen dem frisch in Halle eingetroffenen Thomasius und dem dortigen Rat.85 Die zweite, im Unterschied zur ersten quellenmäßig sicher belegbare, Begebenheit betrifft Martin Luther und das Aussterben der Familie Carpzov im Mannesstamm. Im Besitz der Familie Carpzov befand sich nämlich das handschriftliche Original des Testaments von Martin Luther aus dem Jahre 1542.86 Nach dem Tod des letzten Eigentümers aus der Familie Carpzov ist der Nachlass in Helmstedt versteigert worden. Es handelt sich um den Leipziger bzw. Helmstedter Theologieprofessor Johann Benedict IV. Carpzov (1720 – 1803), welcher der letzte männliche Sprössling der Carpzov-Dynastie war. Ein ungarischer Antiquitätensammler namens Miklós Jankovich (1772 – 1846) erwarb für 40 Dukaten das wertvolle Schriftstück nebst etlichen Luther- und Melanchthonbriefen bei der Versteigerung.87 Seit 1831 wird Lu-

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Ebd. Vgl. dazu Gero von Wilcke, Die Familie des Thomasius (Cranach-Nachkommen), in: Archiv für Sippenforschung mit praktischer Forschungshilfe, 53. u. 54. Jg., Limburg/Lahn 1987 – 1988, S. 45 – 64, hier S. 61, 64; Erich Neuß, Christian Thomasius’ Beziehungen zur Stadt Halle, in: Fleischmann, Max (Hrsg.), Christian Thomasius. Leben und Lebenswerk, Halle 1931 (Reprint Aalen 1979), S. 453 – 478, hier S. 455 – 462. 86 Vgl. dazu Heiner Lück, Luthers Testamente, in: Kohnle, Armin (Hrsg.), Luthers Tod. Ereignis und Wirkung (Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 23), Leipzig (im Druck). 87 Tibor Fabiny, Martin Luthers letzter Wille. Das Testament des Reformators und seine Geschichte, Bielefeld/Berlin 1983, S. 40 – 45. 85

Die Wittenberger Carpzovs

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thers Testament im Evangelischen Landesmuseum zu Budapest aufbewahrt. Von dort aus hat es 2017 zu Ausstellungszwecken seine Reise nach Wittenberg angetreten. Wie Luthers Testament hatte auch die wirkungsmächtige Carpzovfamilie von Wittenberg vor mehr als 400 Jahren ihren Ausgang genommen.

Autorenverzeichnis Becker, Michael, Dr., Studienrat in Stuttgart Bianchin, Lucia, Prof. Dr., Università degli Studi di Trento, Facoltà di Giurisprudenza De Benedictis, Angela, Prof. Dr., Università di Bologna, Dipartimento di Storia Culture Civiltà Demelemestre, Gaëlle, Prof. Dr., Centre national de la recherche scientifique / ENS Lyon – Institut d’Histoire des Représentations et des Idées dans les Modernités (UMR 5317) de Wall, Heinrich, Prof. Dr., Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Hans-Liermann-Insitut für Kirchenrecht Lück, Heiner, Prof. Dr., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Europäische, Deutsche und Sächsische Rechtsgeschichte Schmoeckel, Mathias, Prof. Dr., Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Deutsche und Rheinische Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht Schönberger, Dennis, Dr., Universität Siegen, Seminar für Evangelische Theologie Weber, Wolfgang E. J., Prof. Dr., Universität Augsburg, Institut für Europäische Kulturgeschichte