Dimensionen der Politik: Aufklärung – Utopie – Demokratie: Festschrift für Richard Saage zum 65. Geburtstag [1 ed.] 9783428519705, 9783428119707

Richard Saage ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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German Pages 601 Year 2006

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Dimensionen der Politik: Aufklärung – Utopie – Demokratie: Festschrift für Richard Saage zum 65. Geburtstag [1 ed.]
 9783428519705, 9783428119707

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Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 142

Dimensionen der Politik: Aufklärung – Utopie – Demokratie Festschrift für Richard Saage zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von Axel Rüdiger und Eva-Maria Seng

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

AXEL RÜDIGER und EVA-MARIA SENG (Hg.)

Dimensionen der Politik: Aufklärung – Utopie – Demokratie

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 142

Dimensionen der Politik: Aufklärung – Utopie – Demokratie Festschrift für Richard Saage zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von

Axel Rüdiger und Eva-Maria Seng

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-11970-3 978-3-428-11970-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Politik und Geschichte: Ein Essay für Richard Saage Axel Rüdiger und Eva-Maria Seng . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Aufklärung Not in a Corner – Öffentlichkeit in der englischen Revolution Jürgen Diethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das Behemoth-Problem. Ein Beitrag zur Titelwahl des Leviathan von Thomas Hobbes Aicke Bittner und Johannes Thon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Giambattista Vicos Gemeinsinn als Vermittler zwischen Universalismus und kultureller Differenz Matthias Kaufmann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kulturtransfer auf „eurasisch“. Das Chinabild von Johann Heinrich Gottlob von Justi und die Rezeption des Kameralismus im Japan der Meiji-Zeit Eun-Jeung Lee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Legitimationstheoretische Reflexionen vor dem Hintergrund des Kolonialismus in den Eigentumstheorien John Lockes und Immanuel Kants Susann Held . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Kant und der verhandelte Friede Frank R. Pfetsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Staat und Revolution: Politische Ökonomie und Staatswissenschaft bei Christian Daniel Voß (1796–98) Axel Rüdiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Aufklärung und Moderne Helmut Reinalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

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Inhaltsverzeichnis

„Bürger einer abwesenden Polis“ („citoyens d’une cité absente“): Thierry Maulnier als Theoretiker der ‚Nationalen Revolution‘ in der Zeitschrift Combat (1936–1939) Heinz Thoma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

II. Utopie Leben ohne Utopie? Iring Fetscher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Atlantis – Die Suche nach der versunkenen Insel Herfried Münkler. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Toleranz für Calvinisten, Deisten und Muslime: Claude Gilberts Histoire de Calejava (1700) als deistische Utopie Hans-Günter Funke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755. Die Idee der „besten aller möglichen Welten“ und das Problem der Utopie Andreas Heyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Der Kult der Arbeit als Ausgangspunkt für das neue menschliche Gemeinwesen der Zukunft. Émile Zolas „Le Travail“: Ein Urbild des Städtebaus im 20. Jahrhundert Eva-Maria Seng . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Dystopie, Leben und Roman in der postkolonialen Literatur: Coetzees „Life and Times of Michael K“ Hans Ulrich Seeber. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Motive der Raumfahrtfiktionen Walter Euchner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Zum Verhältnis von Utopieproduktion und Demokratietheorie – am Beispiel des Feminismus Barbara Holland-Cunz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Ist die politische Utopie wirklich tot? Werner Christie Mathisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

Inhaltsverzeichnis

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Utopie und Mythos – Zur Differenzierung ihrer Begrifflichkeit Kurt Lenk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Über den Zusammenhang von Zivilreligion und normativer Integration Gerhard Göhler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371

III. Demokratie Moralismus im Zeitalter der Heuschrecke. Vom Verlust kritischen Denkens in den öffentlichen Debatten über den Kapitalismus Franco Zotta. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Die Demokratie der antiken Athener als Lebensform Andreas Mehl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Dem Volke, was des Volkes ist. Die Erfindung des politischen Populismus im Wiener Fin-de-Siècle Wolfgang Maderthaner. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Harold J. Laski – Die sozialen Voraussetzungen der Demokratie Peter Haensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 „Mobilisierung der Demokratie“. Betrachtungen zum Demokratie-Konzept von Waldemar von Knoeringen Helga Grebing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Vom problematischen Umgang der Rechtswissenschaft mit ihrer NS-Vergangenheit. Gedanken zu Ernst Forsthoff Miriam Saage-Maaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 Ist Gerechtigkeit teilbar? Gedanken zu Demokratietheorie und interkultureller Solidarität Bettina Roß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Können Kommunitarier die Weltgesellschaft denken? Walter Reese-Schäfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Die Demokratie-Kompetenz der Konfliktfähigkeit – lässt sie sich messen? Sibylle Reinhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501

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Inhaltsverzeichnis

Über einige Probleme des Regierens heute – Aus Anlass des Wahlergebnisses vom 18. September 2005 Udo Bermbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 Schwächen der Demokratie Danilo N. Basta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 Chancen und Gefahren für die Demokratie im 21. Jahrhundert Janusz Sztumski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 Zeitungen – Zeitkritik – historisch-politische Forschung Peter Steinbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 Richard Saage: Publikationsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 Autorenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595

Politik und Geschichte: Ein Essay für Richard Saage Axel Rüdiger und Eva-Maria Seng Wenn man das Arbeitszimmer von Richard Saage in Halle betritt, fällt der Blick zunächst auf einen großen dunklen Schreibtisch. Schaut man sich, einmal eingetreten, etwas um, so kann der Besucher bald drei charakteristische Orientierungspunkte bemerken, zwischen denen sich Sichtachsen aufspannen, in deren Kreuzungspunkt sich der Arbeitsplatz des Professors befindet. An der Tür, zur der man herein und heraus muss, hängt eine alte Darstellung der Französischen Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte. Die einzelnen Artikel sind auf zwei Altarflügeln ausgebreitet, welche durch einen römischen Liktorenstab zusammengehalten werden. Dieser ist mit jener roten phrygischen Jakobinermütze gekrönt, die von den Thermidorianern später verboten wurde. Darüber befinden sich in griechischer Schlichtheit vereint die Göttinnen der Freiheit und der Vernunft. Beide haben sich soeben ihrer Ketten entledigt und blicken gemeinsam den Aufgang der Sonne entgegen. Wandert der Blick von hier aus nach links, so erkennt man eine Luther-Reproduktion der Büchergilde Gutenberg. Die dunkle, massige Gestalt Luthers nimmt darin nahezu das ganze Bild ein. Es scheint, als ob sie alles Überflüssige aus dem Rahmen dränge. Trotz dieser dominanten Präsenz ist Luther keineswegs allein auf dem Bild. Auf seiner Soutane wird bei genauerem Hinsehen die hagere Figur des gekreuzigten Jesus sichtbar. Der Blutstrahl, welcher sich im weiten Schwalle aus seiner Wunde an der rechten Brust ergießt, trifft auf einen aufgeschlagenen Text – es ist die übersetzte Bibel –, den Luther demonstrativ und fast ein wenig halsstarrig in den Händen hält. Das Blut verteilt sich in feinen Linien auf dem Buch, so dass man meinen könnte, die Buchstaben wären mit Blut geschrieben. Doch auch der Gekreuzigte ist nicht allein. Die Brust Luthers ist nicht der Schauplatz der abstrakten Passion eines einsamen, aber charismatischen Heilandes, wie ihn so viele klassische Abbildungen präsentieren. Dieser Jesus steht mitten im Handgemenge – ja in der Schlacht. Der Kontext, aus dem dieser verwundete Jesus gleichsam hervortritt, verweist in der Tat auf den Bauernkrieg – auf den verzweifelten Kampf der Bauern und Plebejer gegen ihre geharnischten Unterdrücker zu Pferde. Es ist dieses Geschehen, was in den Zeilen aus geronnenem Blut festgehalten wird.

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Wendet man sich um, so entdeckt man auf der gegenüberliegenden Wand ein Ensemble aus utopischer Vision und ästhetischem Ausdruck, – Vassily Kandinskys „Im Blau“ von 1925, begleitet von einem Plakat der Gruppe „Konstruktivistische Internationale schöpferische Arbeitsgemeinschaft“ (kurz K. I.). Es trägt den Untertitel „Utopien für eine europäische Kultur 1922 bis 1927“. Scharfe Dissonanzen werden hier zu einer spannungsreichen Assoziation verbunden: abstrakte Ordnungsmuster in den leuchtendsten Farben, kreative Rationalität und lebensbejahende Sinnlichkeit in einer eigentümlichen Synthese. Blicken wir nun auf das auch hier entstandene wissenschaftliche Werk Richard Saages, so finden wir eine Reihe von Büchern, die sich zu einem Werk zusammensetzen lassen. Da ist zunächst das Kant-Buch von 1973; ein Handstreich im Handgemenge.1 Sowohl der Text als auch die heftige Diskussion, die er auslöste, demonstrieren den Unterschied zwischen einer sich explizit als politisch verstehenden Ideengeschichte und einer abstrakten Rechtsphilosophie. Die Rechtsphilosophie in den kontingenten Niederungen von Politik und Gesellschaft – eine Provokation für deutsche Juristen ebenso wie ihre Philosophen: Soziologismus, Materialismus, Anarchie! – Mehr Demokratie fordern! Ein demokratietheoretisches Forschungsprogramm in der politischen Ideengeschichte, welches angetreten war, die Reliquien des alten Rechtsstaates etwas näher unter die ideologiekritische Lupe zu nehmen. Die tradierte Verachtung der Philosophie für die polis konnte hierin nur eine philosophia plebeia – wie schon Cicero im Anschluss an Platon und Aristoteles spottete – sehen. Tatsächlich findet die philosophische Idee mit Hilfe dieser unstandesgemäßen Perspektive ihren Bezugsrahmen in dem spannungsgeladenen Verhältnis von Geschichte, Politik und Gesellschaft. Sie ist eine Rechtsphilosophie im sozio-politischen Kontext der Zeit. Die Ideologiekritik kann somit in der Politik und im Eigentumskonzept den Schlüssel zur Transzendentalphilosophie des Deutschen Idealismus erkennen. Sogar der abstrakte Universalismus der reinen Vernunft kann dadurch als politische Kategorie analysiert werden. Saage hat das später wohl eher verharmlosend kritische Hermeneutik genannt. Die Theorie des Besitzindividualismus entdeckt in der Anwendung des apriorischen Universalitätsprinzips von Kant auf die Staats- und Rechtsphilosophie eine verleugnete kontingente Subjektivierungsform, die einen privilegierten Zugang zum Politischen ermöglicht und dadurch letztlich die postulierte apriorische Universalität untergräbt. Mit Kant über Kant hinaus, so schon das Motto von Fichte, welchem sich wohl auch Saage anschließen würde.2 Die Unhintergehbarkeit des emanzi1

Richard Saage: Staat und Gesellschaft bei Immanuel Kant, Stuttgart 1973. Vgl. ders.: Aspekte der politischen Philosophie Fichtes, in: NPL, XV. Jg. (1970), S. 354–376. 2

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patorischen Anspruchs, wie sie die bürgerliche Emanzipationsbewegung in der Theorie und Praxis der Französischen Revolution hervorbrachte, muss demnach Gebot und Maßstab jeder zukünftigen Politik sein. Alles in allem finden wir hier schon Momente, die für Saages späteres Werk wichtig blieben. Die Sozialwissenschaft kann ihre privilegierte Erkenntnisperspektive, die sie ohne Zweifel auch philosophisch reflektieren muss, nicht auf Kosten, sondern nur unter Berücksichtigung von Politik und Historizität rechtfertigen. Idee und Begriff lösen sich also nicht gänzlich in Politik und Geschichte auf, sondern verfügen über einen nicht aufgehenden Rest, welcher ihren normativ-überschießenden Gehalt repräsentiert. In der Tat darf also eine sozialwissenschaftlich vorgehende Ideengeschichte weder die begriffliche Anstrengung gegen die Geschichte noch die Geschichte gegen den Begriff ausspielen. Um politische Ideen als normative Operatoren beschreiben zu können, müssen sie vor allem auf diejenigen praktischen sozialen Bewegungen zurückbezogen werden, in denen sie als politische Leit- und Kampfbegriffe fungieren oder fungierten. Mit diesem Anspruch werden alle Konzepte einer rein philosophischen Geistesgeschichte der Politik zurückgewiesen. Umgekehrt wären soziale Gruppen mit einer eigenen politischen Identität ohne diese spezifisch normative Komponente der sozialen Kämpfe allerdings auch gar nicht möglich. Saage hat diesen Zusammenhang immanent in seinen großen Studien zur revolutionären Pamphletistik in den niederländischen, englischen und amerikanischen Revolutionen ebenso entwickelt wie in seinen Schriften zur sozialistischen Theorie und der Arbeiterbewegung.3 Bevor die kontraktualistischen Naturrechtstheorien bei den Klassikern der politischen Philosophie systematisiert und logifiziert wurden, hatten sie bereits eine politisch-praktische Geschichte in den sozialen Bewegungen der bürgerlichen Emanzipationsbewegungen, und auch die sozialistische Theoriebildung kann nicht abgelöst werden von den praktischen Problemen der Arbeiterbewegung. Gerade die Ablösung der theoretischen Systeme von ihren praktischen Kontexten durch eine lediglich immanent vorgehende politische Philosophie führt unter der Hand zu einer Entpolitisierung der Ideengeschichte, weil sie damit praktische als szientifische Probleme behandeln muss. Um daher nicht auf die Dublette von Technik und Ethik reduziert zu werden, bedarf die politische Philosophie notwendig der historischen und sozialen Reflexion.

3 Siehe hierzu: ders.: Herrschaft, Toleranz, Widerstand. Studien zur politischen Theorie der Niederländischen und der Englischen Revolution, Frankfurt/Main 1981; ders.: Probleme der Sozialgeschichte der amerikanischen Revolution, in: NPL, XIX Jg. (1974).

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Erweist sich Saage daher von Beginn an als ein politischer Theoretiker im doppelten Sinne, insofern er nicht nur die Politik zum Gegenstand seiner Theoriebildung erhebt, sondern diese dadurch auch noch selbst zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen macht, so vertieft sich dieser Eindruck mit der Debatte, welche seine Beschäftigung mit dem Faschismus auslöste.4 Auch hier interessiert er sich wieder weniger für die ökonomischen und psychologischen Hintergründe des Faschismus es geht ihm vielmehr um seine spezifisch politische Dimension. Ein solcher Ansatz schien kurz nach dem „Deutschen Herbst“ auch mehr als geboten, da die Vergangenheitsbewältigung zwischen den Antagonismen von Terror und Polizei zerrieben zu werden drohte. Mit dem bonapartismustheoretischen Ansatz beerbte er das politische Reflexionspotential des originären Marxismus und konnte damit die vorherrschende Distinktion von ökonomischem Determinismus und individualisierendem Psychologismus überwinden. Die Bonapartismustheorie, wie sie von dem österreichischen Sozialisten Otto Bauer im Anschluss an Marx zur Analyse des Faschismus entwickelt wurde, führt die Autonomie des Politischen auf dessen nominalistische Dimension zurück, die den sozialen Konflikten jedoch nicht äußerlich, sondern vielmehr immanent ist. Marx’ Diktum aus dem 18. Brumaire, nicht nur die politische Aussage vom sozialen Interesse zu unterscheiden, sondern die Aussage in ihrem praktischen Verhältnis sowohl zu den sozialen Interessen als auch zu den übrigen politischen Aussagen zu untersuchen, erweitert die Ideologiekritik zu einer politischen Theorie repräsentativer Hegemonie. Der normative Überschuss, den alle politische Diskurse benötigen, um im Kampf um die Repräsentation des imaginären Allgemeinen der Gesellschaft erfolgreich zu sein, erlaubt es, unter Verwendung eines exklusiven Freund-Feind-Denkens ganz unterschiedliche soziale Interessenlagen kurzzuschließen und gemeinsam in einem ideologischen Projekt zu artikulieren. Der Erfolg des Faschismus als einer im Kleinbürgertum verwurzelten sozialen Minderheitsposition kann aber – darauf hat Saage immer wieder hingewiesen – nur hinreichend erklärt werden durch die Berücksichtigung ihre sozialen Verflechtung mit der materiellen Institution der Verwaltung. Als soziale Schnittstelle zwischen Herrschenden und Beherrschten fungiert sie als ein kultureller Multiplikator, welche partikulare Wert- und Ordnungsvorstellungen mit der Autorität der Öffentlichkeit ausstattet. Von besonderer Bedeutung hierfür war es, dass die Verwaltung des Nationalstaates Bürgerlichkeit als eine imaginäre Ethnie oder „Rasse“ interpretierte und damit biologistische und altadelige „Blut und Boden“-Theoreme miteinander verband. Der damit herausgearbeitete praktische Zusammenhang zwischen politischen Ideen, sozialen Bewegungen und staatlichen Institutionen war Saage 4

Ders.: Faschismustheorien: Eine Einführung, München 1976.

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auch bei seinen zeitdiagnostischen Wortmeldungen zur Renaissance des Freund-Feind-Denkens im deutschen Konservatismus seit den 1970er Jahren behilflich.5 An der Seite von Iring Fetscher, Helga Grebing und Walter Euchner – seinen wohl wichtigsten intellektuellen Bezugspersonen – verteidigt er die Demokratisierung der Bundesrepublik in der sozial-liberalen Ära. Der in der Zeit des Nationalsozialismus diskreditierte Konservatismus hatte sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf dem Boden der modernen wissenschaftlich-technischen Zivilisation als eine postideologische und technokratische Elitetheorie jenseits von rechts und links neu erfunden. Soziologen wie Freyer, Gehlen und Schelsky ersetzten das alte Rittergut durch den modernen auf Arbeitsteilung beruhenden kapitalistischen Betrieb als symbolische Form politisch-administrativer Ordnung. Das aus rein sachlichen Gründen in Anspruch genommene politische Monopol technokratischer Experten baute hierin auf einem komplett entpolitisierten Gesellschaftsmodell auf. Die neue funktionalistische Idylle, die sich von den alten politischen Hierarchien der „stratifikatorischen Differenzierung“ zu Gunsten einer „funktionalen Differenzierung“ (Luhmann) verabschiedet hatte, wurde seit den späten 1960er Jahren aber von den neuen sozialen Bewegungen gestört, welche eine Politisierung und Demokratisierung von Gesellschaft und Staatsverwaltung auf die Tagesordnung setzten. Insbesondere letzteres wog für den Konservatismus schwer, bedrohte dies doch unmittelbar die materiellen Stützpunkte für seinen politischen Hegemonieanspruch. Der „linksintellektuelle Sozialklerus“ (Schelsky) sickerte nicht nur in die alte Verwaltung ein, sondern begann die institutionelle Struktur derselben zu verändern. Die neue „linke Hand des Staates“, wie Bourdieu diese später nannte, stellte damit den Alleinvertretungsanspruch der „rechten“ in Frage. Eine materielle Verankerung des Sozialstaatspostulats in der Staatsverwaltung, so die sich als soziologische „Aufklärung“ gerierende Polemik der Konservativen gegen den linken „Sozialklerus“, könne jedoch nur zu einer sozialpolitischen Überdehnung von Staatlichkeit führen. Der Technokrat als Hüter von starkem Rechtsstaat und einer sich am Markt vermeintlich selbstorganisierenden Wirtschaftsverfassung müsse sich der staatlichen Verweichlichung und Destruktion durch den pseudostaatlichen Wohlfahrtsstaat entgegenstellen. Dies bildete den Hintergrund für die Rehabilitation von Carl Schmitts Freund-Feind-Schema und der damit vebundenen Grammatik der Härte. Dem sozial-liberalen Modell des welfare state Keynesianischer Prägung stellte sich die konservative Artikulation eines Neoliberalismus gegenüber, 5 Ders.: Rückkehr zum starken Staat? Studien über Konservatismus, Faschismus und Demokratie. Frankfurt/Main 1983; ders.: Arbeiterbewegung, Faschismus, Neokonservatismus, Frankfurt/Main 1987.

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der sich auf das „harte“ workfare-Prinzip von Schumpeter und Hayek stützte. Das konservative Plädoyer für die Rückkehr zu einem starken Staat präsentierte seine Attacke auf die neue Sozialverwaltung als allgemeine Bürokratiekritik und verband diese geschickt mit einem Individualisierungsmodell, welches den wirtschaftsliberalen homo oeconomicus mit dem alten Subsidaritätsprinzip verschmolz. Aus dieser Optik betrachtet, erscheint der Sozialstaat nicht mehr als Bedingung für die Möglichkeit von politischer Subjektivität des Bürgers („citoyen“), sondern als Hindernis für die wirtschaftliche Subjektivierungsform des Unternehmers („bourgeois“). Diese vordergründige Entpolitisierung und Ökonomisierung der Sozialstaatsdebatte seit den späten 1970er Jahren, die hintergründig mit einer Monopolisierung des Politischen bei den technokratischen Administratoren des arbeitsteilig organisierten politischen Systems verbunden war, ist bis heute von allen neoliberalen Strategen übernommen worden. Es zeigt sich an der Vergegenwärtigung dieser Debatten, wie wichtig sowohl die kurzfristigen als auch die längerfristigen historischen Perspektiven für die Politikwissenschaft sind. Die heutigen Auseinandersetzungen um die Zukunft des Sozialstaates lassen sich nicht abstrakt allein aus den Problemen einer ahistorischen Theorie oder Empirie der Gegenwart verstehen. Ganz im Gegenteil ist die Tendenz zur Enthistorisierung nur als eine politische Strategie der fortgesetzten Entpolitisierung zu verstehen. Obwohl sicherlich die meisten an Luhmann geschulten Systemtheoretiker wissen, wie konsequent die Systemtheorie an den technokratischen Konservatismus Schelskys anschließt, so gibt es doch wohl auch manche Eleven, die über die theoretische Fassade ihre politischen Inhalte aus dem Auge verlieren. Parallel hierzu werden dieselben Tendenzen jedoch auch in der Ideengeschichte deutlich, wie die wütenden Attacken gegen Saages sozialwissenschaftliche Interpretation der Kantischen Rechtsphilosophie zeigen. Gegen die politische Entdifferenzierung von Recht, Wirtschaft und Sozialem formierte sich ein Block aus Konservativen und Marktliberalen, die sich einer weiteren Demokratisierung der Bundesrepublik in den Weg stellten. Ein ernstzunehmender Weg, der technokratischen Kritik des Sozialstaats entgegenzutreten, war zweifellos der Versuch seiner ethischen Begründung. Doch erwies sich dies im Kontext der „neuen Unübersichtlichkeit“ bald als eine Falle, da sowohl die systemtheoretische Verfahrenstechnik als auch die diskurstheoretische Verfahrensethik in der Entpolitisierung sozialer Entscheidungen übereinkommen. Losgelöst von den sozialen Bewegungen, unterscheidet sich etwa die deliberative Demokratietheorie nur noch hinsichtlich der Rechtfertigung politischen Expertentums, nicht mehr aber in der Sache an sich. Vor diesem Hintergrund muss auch die Hinwendung Saages zu einem neuen Forschungsprogramm gesehen werden – den politischen Utopien und ihrer Geschichte. Mit der Krise der Arbeiterbewegung sowie

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der klassischen Sozialdemokratie und dem organisierten Auftauchen der Frauen- und Ökologiebewegung als ernstzunehmendem politischen Faktor stellte sich die Frage nach alternativen politischen Orientierungsmustern in der Tat auf ganz neue Weise. In zahlreichen Einzelstudien und Gesamtdarstellungen reflektierte Saage sowohl die Krise der klassischen Emanzipationstheorien, die sich auf ein homogenes politisches Subjekt (Staat, Partei, Klasse) stützten, und arbeitete zugleich die historische Dimension heterogener und postmaterieller Emanzipationsprojekte innerhalb der utopischen Tradition heraus.6 Mit dem Unterscheidungsmuster von archistischen und anarchistischen Utopien konnte er den dynamischen Charakter dieser Gattung politischer Theoriebildung herausarbeiten, die keineswegs statisch, sondern in einem beständigen Prozess von Kritik und Selbstkritik immer neue Erscheinungsformen annahm. Neben den naturrechtlichen Modellen waren es die politischen Utopien, welche legitimatorische Voraussetzungen für den Weg in den Rechts- und Sozialstaat der Moderne schufen. Beide ideengeschichtliche Entwicklungsstränge beeinflussten und überschnitten sich dabei vielfach.7 Auch im 20. Jahrhundert fungierten die politischen Utopien als sensible und zuverlässige Seismographen zur Kritik von herrschaftlicher Zumutung. Die „schwarzen“ Dystopien von Samjatin, Huxley oder Orwell thematisierten früher als andere politische Theorien die totalitären Tendenzen sowohl im klassenlosen Stalinismus als auch im fordistischen Konsumkapitalismus. Schließlich reflektierten die postmateriellen Utopien früh die ökologische Krise der Weltzivilisation und die Eindimensionalität moderner Gesellschaftspolitik anhand von völlig neuen Differenzierungsformen politischer Subjektivität. Zur so genannten „Postmoderne“ hat Saage jedoch immer ein distanziertes Verhältnis bewahrt. Die Kritik an den großen Erzählungen und die radikale Zerlegung der Welt hat er als eine Denunziation und Verleugnung des Politischen abgelehnt. In Abgrenzung zur hyperkritischen Attitüde des postmodernen Theoretikers, ohne eigenes politisches Projekt, definierte sich Saage immer als Rationalist im klassischen Sinne. Da der radikale Relativismus und die willkürliche Beliebigkeit ebenso wie die technische und ethische Reduktion der Politik in eine allgemeine Entpolitisierungsstrategie münden, bleibt die Postmoderne, wie auch Frederic Jameson schon früh ge6 Die wichtigsten sind: ders.: Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt 1991; ders.: Vermessungen des Nirgendwo. Begriffe, Wirkungsgeschichte und Lernprozesse der neuzeitlichen Utopien, Darmstadt 1995; ders.: Utopieforschung. Eine Bilanz, Darmstadt 1997; ders.: Innenansichten Utopias. Wirkungen, Entwürfe und Chancen des utopischen Denkens, Berlin 1999; sowie ders.: Utopische Profile, 4 Bde., Münster/Hamburg/London 2001–2004. 7 Vgl. hierzu insbesondere: ders.: Vertragsdenken und Utopie. Studien zur politischen Theorie und zur Sozialphilosophie der frühen Neuzeit, Frankfurt/Main 1989.

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zeigt hat, anschlussfähig an das konservativ-liberale Projekt gegen den demokratischen Sozialstaat. Nur da, wo etwa der Poststrukturalismus in Analogie zur resolutiv-kompositorischen Methode der naturrechtlichen Aufklärung ihrer radikalen Analyse ein politisch-synthetisches Moment hinzufügt und sich mit den neuen sozialen Bewegungen verbindet wie etwa im Werk von Pierre Bourdieu und den neuen hegemonietheoretischen Ansätzen des Radikaldemokratismus, sind die dringend benötigten Impulse für die Reformulierung kritischer Theorie und Praxis im 21. Jahrhundert zu erwarten. Anfang der 1990er Jahre wechselte Richard Saage als akademischer Lehrer von Göttingen auf eine Professur nach Halle an der Saale. Politische Lehre am Schauplatz einer demokratischen Revolution – das war eine Herausforderung ersten Ranges. Nach Lage der Dinge musste er für eine solche Aufgabe jedoch als prädestiniert gelten. Die Legitimationsgrundlagen der DDR waren in den 80ern weniger durch die Staatsverschuldung als vielmehr durch die offene Zurückweisung genuin sozialistischer Werte geschwunden. Die aktive Opposition sympathisierte erklärtermaßen mit dem rot-grünen Projekt der bundesdeutschen Opposition als sozialistischer und basisdemokratischer Alternative. Ebenso wichtig war vielleicht jedoch auch die stillschweigende Opposition großer Teile der staatstragenden Verwaltung, die ihre sozialistischen Werte immer weniger bei der eigenen Staatsführung als bei hessischen „Turnschuhministern“ und saarländischen Ministerpräsidenten repräsentiert sahen, die in Wackersdorf, Mutlangen oder Gorleben in aller Öffentlichkeit demokratische Zivilcourage bewiesen hatten. Die Aufblähung des Maßnahmestaates durch die Staatssicherheit war nur ein Indikator dafür, dass sich die Herrschenden nicht mehr auf ihre eigene Zivilverwaltung verlassen konnten. Als es aber im Zusammenhang mit der Ausreisewelle und den ersten Massenprotesten zu einer ernsthaften revolutionären Politisierung mit konkreten demokratischen Forderungen kam, blieb die Reaktion der alternativen bundesdeutschen Öffentlichkeit überraschend lau. Verhängnisvoller Weise degradierten die intellektuellen Meinungsführer die beginnende Revolution zu einer bloß „nachholenden Revolution“ (Habermas), die über keinerlei eigenständiges Politisierungspotential verfüge und deshalb lediglich den bundesdeutschen Status quo bestätigen könne. Die Demonstration der Demokratie als Selbstbestimmung des Volkes im Osten fand im Westen keine hinreichende Unterstützung. Auch deshalb wurde der Strukturwandel der revolutionären Öffentlichkeit vom selbstbewussten Produzenten des politischen Diskurses zum Konsumenten eines nationalistischen Taumels rund um die D-Mark hier gleichsam innerhalb von 5 Tagen zwischen dem 4. und dem 9. November 1989 entschieden. Unter den Bedingungen der offenen Grenze hätte nur eine demokratische Intervention der bundesdeutschen Öffentlichkeit das Abwürgen der ostdeutschen Revolution durch die konzertierte Aktion der Thermidorianer aller Lager verhindern

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können. Diese blieb jedoch aus. Das Bundeskanzleramt konnte den gesamtdeutschen Demos auf diese Weise ganz leicht den politischen Mantel der Geschichte vor der Nase wegschnappen. Die Einheit Deutschlands ist aus diesem Grunde kein politisches Ereignis im originären Sinne geworden, sondern ein Verwaltungsakt, der gegen die eigentliche Intention des Grundgesetzes lediglich den Geltungsbereich desselben erweiterte. Das Provisorium des Kalten Krieges wurde auf Dauer gestellt, so dass es in Deutschland bis heute kühl geblieben ist. Als Saage in Halle eintraf, waren die bundesdeutschen Verwaltungsstrukturen bereits auf die neuen Bundesländer übertragen worden. Trotz eines schon damals bestehenden dringenden Reformbedarfs der administrativen Strukturen der Bundesrepublik fehlte der deutschen Einheit jeglicher politische Impuls, um hieran etwas zu ändern. Wie die übrige Verwaltung war auch die Universitäts- und Wissenschaftsverwaltung einschließlich des traditionellen disziplinären Kanons a priori transferiert worden. In der Revolution hochgradig politisierte Studierende saßen nun oft sprachlos vor spezialisierten Verwaltungstechnikern und deliberierenden Ethikern. Dankbar wurde daher jedes Lehrangebot angenommen, in dem der Begriff der Politik noch groß buchstabiert wurde. Irritationen und Konflikte zwischen Ost und West blieben allerdings auch hier nicht aus, das lag in der Natur der Sache. Saage war in Halle auch homo academicus, das brachte das professorale Amt mit sich. Als Institutsdirektor oder Dekan ließ er sich von der Universität in die Pflicht nehmen. Die Legitimität der neuen alma mater halensis wie auch der neugegründeten Politikwissenschaft in Halle gründete sich in radikaler Distanzierung von der ideologischen Vernutzung der Universitätswissenschaft in der DDR vor allem auf die Rehabilitation der Wissenschaftlichkeit und die Freiheit der akademischen Erkenntnisperspektive von Staat und Politik. Die gesellschaftspolitische Rolle der Politikwissenschaft besteht gerade darin, dass sie dem Bürger einen unvoreingenommenen Blick auf den Staat und die Parteien jenseits ihrer bloßen Selbstbeschreibung anbieten kann. Die Universität Halle hat dies unter Anknüpfung an ihre große Tradition als Aufklärungsuniversität im 18. Jahrhundert unter dem Motto „Aufklärung und Erneuerung“ zusammengefasst. Doch auch hier setzte mit der schleichenden, aber scheinbar unaufhaltsamen Entpolitisierung der gesamtdeutschen Gesellschaft nach der Einheit bald wieder ein Verfallsprozess ein. In SachsenAnhalt existiert mittlerweile ein Landeshochschulgesetz mit „Ermächtigungscharakter“, das bereits in zentrale Bereiche der Hochschulautonomie eingegriffen hat. Die desaströse Steuerpolitik – die delikater Weise von einer rot-grünen Regierung eingeführt wurde – engt den institutionellen wie mentalen Spielraum der Universitätswissenschaften immer mehr ein. Dabei werden die Abwehrkräfte der Universitäten immer schwächer, da sich ein

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Großteil des wissenschaftlichen Personals einschließlich der Universitätsleitungen entweder nicht mehr oder noch nie über den Charakter der eigenen Institution im Klaren war, so dass mit der institutionellen Grundlage auch die gesellschaftspolitische Rolle der modernen Wissenschaft fragwürdig wird. Die von einem technokratischen Politikstil inszenierte „harte“ Realität richtet sich über den alten „Sozialklerus“ hinaus immer mehr auch gegen den intellektuellen „Kulturklerus“ der Republik. Wird Schelsky posthum also obsiegen? Ist die Rückkehr zum starken Staat also unser Schicksal? Nach dem Scheitern des rot-grünen Politikprojektes, für welches eine ganze Generation in West wie in Ost gestritten hatte, scheint es tatsächlich, als werde der konservativ-liberale Block am Ende die Oberhand behalten. Entpolitisierung und Entdemokratisierung sind womöglich zu keinem Zeitpunkt der Geschichte der Bundesrepublik so rasant vorangetrieben worden wie unter Rot-Grün. Die ebenso postideologische wie postpolitische Rede der Technokraten jenseits von rechts und links droht ganze Parteien umzukrempeln und auch über die Hörsäle Eingang in die Proseminararbeiten der Erstsemester zu finden. Eine fortschreitende allgemeine Entpolitisierung könnte auch die Erinnerung an die demokratische Revolution von 1989 in Ostdeutschland nahezu tilgen, die dann schließlich lediglich im Gedächtnis verhaftet bleibt als eine von der damaligen Bundesregierung angeführte unpolitische Konsumrevolte, die nichts als die nationale Einheit zum Zweck hatte. Doch jede Krise stellt auch immer eine neue Chance dar. Und die Schriften Richard Saages – mögen sie auf manchen jungen „Realisten“ auch noch so old-fashioned wirken – bieten dafür eine unverzichtbare Grundlage, gerade weil sie die politischen Konflikte der 70er und 80er Jahre aufbewahren. Was wäre wichtiger für die Gegenwart als ein hegemoniales Projekt einer anarchistischen Utopie, welche die geronnene Herrschaft wieder in politische Schwingungen versetzen würde; eine reformatio mundi, welche den technokratischen Fundamentalismus ebenso wie den religiösen durch einen demokratischen Legitimitätsglauben ersetzt, der nicht an den Grenzen des Nationalstaates endet; oder eine neue Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte, welche die Würde des Menschen mit der des Weltbürgers identifiziert. Freiheit, Gleichheit und Solidarität! Wir haben das Buch in drei Abteilungen eingeteilt, die wir für geeignet halten, die Texte der Autoren mit dem Werk von Richard Saage ins Verhältnis zu setzen. Es handelt sich hierbei um die Komplexe: Aufklärung, Utopie und Demokratie. Dieses zugegeben willkürliche Verfahren halten wir dennoch für geeignet, die Texte mit dem Werk von Richard Saage ins Verhältnis zu setzen. Das heißt selbstverständlich nicht, dass die Beiträge nur eindimensional angelegt wären. Das Gegenteil ist der Fall.

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Zum Schluss gilt es allen Beteiligten für ihre Unterstützung zu danken. Ohne das Engagement der Autoren wäre dieser Band nicht zu Stande gekommen. Der Hans-Böckler-Stiftung verdanken wir einen großzügigen Druckkostenzuschuss, und der Verlag Duncker & Humblot hat uns unter der sorgfältigen herstellerischen Betreuung von Herrn Lars Hartmann in sein Publikationsprogramm aufgenommen. Allen Beteiligten sei auf diesem Wege noch einmal herzlich gedankt. Hierin eingeschlossen ist selbstverständlich auch die umsichtige Redaktion von Herrn Dipl.-Pol. Peter Haensch, die weit über das normale Maß hinausgegangen ist. Für die im Text evtl. enthaltenen Darstellungen und Abbildungen sind die Autoren selbst verantwortlich. Halle a. d. Saale, 17. April 2006

I. Aufklärung

Not in a Corner – Öffentlichkeit in der englischen Revolution Jürgen Diethe „Eine politisch fungierende Öffentlichkeit entsteht zuerst in England mit der Wende zum 18. Jahrhundert. Kräfte, die auf die Entscheidungen der Staatsgewalt Einfluß nehmen wollen, appellieren an das räsonierende Publikum, um Forderungen vor diesem neuen Forum zu legitimieren. Im Zusammenhang mit dieser Praxis bildet sich die Ständeversammlung in ein modernes Parlament um, ein Prozeß, der sich freilich über das ganze Jahrhundert hinzieht [. . .] Der traditionelle Gegensatz zwischen landed und moneyed interest, der sich in England, wo die jüngeren Söhne der Landaristokratie schnell zu erfolgreichen Kaufleuten aufsteigen und die Großbourgeoisie oft genug Grundbesitz erwirbt, ohnehin nicht zu einem scharfen Klassengegensatz ausgeprägt hatte, wird nun von einem neuen Interessengegensatz überlagert: von dem zwischen den restriktiven Interessen des Kommerz- und Finanzkapitals auf der einen und den expansiven Interessen des Manufaktur- und Industriekapitals auf der anderen Seite.“1

Mit dieser Platzierung des Entstehens bürgerlicher Öffentlichkeit in die Epoche um 1700 greift Habermas in seiner klassischen Formulierung aus dem Strukturwandel der Öffentlichkeit einerseits der historischen Entwicklung vor (denn viele der Phänomene entwickelten sich, zumindest über London hinaus, erst im späten 18. oder frühen 19. Jahrhundert), andererseits ignoriert er das zumindest vorübergehende, aber nicht spurlose Auftreten einer hoch entwickelten Öffentlichkeit in der englischen Revolution in der Mitte des 17. Jahrhunderts, die sowohl Elemente einer bürgerlichen wie auch einer „plebejischen“ Öffentlichkeit2 enthielt. Beide Begriffe sind mit Vorsicht zu behandeln, entsprachen ihnen in der sozialen und ökonomischen Umbruchsphase der Revolution doch noch keine scharf definierten historischen Phänomene. Es wäre in diesem Zusammenhang vielleicht angemessener, von einer „revolutionären Öffentlichkeit“ zu sprechen, die in ihren verschiedenen Ausformungen und Interessenlagen Aspekte beider Formen einschließen würde. Dabei dürfen wir davon ausgehen, dass die bürgerliche Öffentlichkeit in England in ihrer Frühphase weitgehend ein Phänomen der – für damalige Verhältnisse – Riesenstadt London war, die nicht nur die 1

Habermas 1971, S. 76. „[. . .] die im geschichtlichen Prozeß gleichsam unterdrückte Variante einer plebejischen Öffentlichkeit [. . .]“ (Habermas 1971, S. 8). 2

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Herausbildung eines literarischen und politischen Marktes ermöglichte, sondern mit einer in Europa unübertroffen lese- und schreibfähigen Bevölkerungsmasse die Voraussetzungen für den Aufbau einer literarischen Infrastruktur (Druckereien, Zeitungen, Buchhandlungen etc.) bot, die in den viel kleineren Provinzstädten ökonomisch einfach nicht tragfähig war.3 In der englischsprachigen frühneuzeitlichen Historiographie wurde der Strukturwandel der Öffentlichkeit erst mit großer Verspätung rezipiert, als nämlich 1989 eine englische Übersetzung erschien. Dann wurde die Bedeutung des Buches jedoch sehr schnell erkannt, und es fand auch ein verbreitetes Echo in der Literatur.4 Die Tatsache, dass Habermas die Ansätze zu einer politischen Öffentlichkeit um die Mitte des 17. Jahrhunderts nicht erkannte, wurde dabei übereinstimmend angesprochen. Diese ersten Ansätze im Kontext der englischen Revolution entstanden bereits in den Jahren vor 1640, auf religiösem wie auch politisch-konstitutionellem Territorium. Dies war nur möglich, weil, wie gesagt, die Drucktechnik und die Distributionsmittel zumindest in der Großstadt London einen dafür ausreichenden Reifegrad erreicht hatten. Einer der Auslöser der öffentlichen Debatte war die Auseinandersetzung mit der Krone und ihrem politischen Instrumentarium und mit der anglikanischen Staatskirche unter Erzbischof Laud, die unter normalen Umständen, wie in den 1620er Jahren, im Parlament stattgefunden hätte, aber andere Wege suchen musste, weil es in den „elf Jahren der Tyrannei“ kein Parlament gab: Karl I. hatte es aufgelöst, kein neues einberufen und ein Experiment in Absolutismus gewagt, ohne viel Geschick und mit völlig unzureichenden Mitteln. Die Gravamina des Landadels (wie gegen das sogenannte Schiffsgeld) und der puritanischen Alternativkirchen gelangten somit zwangsläufig an die Öffentlichkeit – was allerdings auch voraussetzt, dass die Existenz einer solchen Öffentlichkeit mit politischem Gewicht überhaupt vorausgesetzt wurde – mit Recht, wie sich zeigen sollte.5 3 Es gibt eine Reihe ausgezeichneter neuer Darstellungen zu diesem Komplex. Siehe besonders Freist 1997 und Raymond 2003. 4 Zwei Beispiele für die kritische Auseinandersetzung mit Habermas: Raymond 1999 und Calhoun 1992. 5 Die Literatur zu den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts ist schier endlos, und ihre Interpretation ist periodisch „modischen“ Schwankungen unterworfen. Während marxistische Autoren wie Christopher Hill oder auch Historiker wie Lawrence Stone (Stone 1972) in der Vorgeschichte die Ursachen der englischen Revolution identifizierten, leisteten die so genannten Revisionisten (wie Conrad Russell, Kevin Sharpe, Anthony Fletcher, John Morrill, Mark Kishlansky) wichtige Detailarbeit, sahen aber keine langfristigen Ursachen und betonten die Kontingenz der historischen Entwicklung (eine gute Einführung ist Tomlinson 1983). Diese Tendenz hat seither wieder eine Gegenbewegung ausgelöst, siehe die kritische Studie von Alastair MacLachlan (MacLachlan 1996).

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Natürlich war es unmöglich, die Verbreitung dieser Schriften auf politisch „sichere“ Kreise zu beschränken. Es ist verständlich, dass die Zeitgenossen nur unklare Vorstellungen von der Reichweite derartiger Schriften hatten, denn über die exakte Verbreitung der Lese- und Schreibfähigkeit, die hier natürlich eine entscheidende Rolle spielte, herrschte ebenso wenig Klarheit wie zum Beispiel über das konkret ausgeübte Wahlrecht, das oft sehr viel breiter war als die gesetzlichen Regeln annehmen lassen und als die Zeitgenossen selbst erkannten6. Man sollte annehmen, dass das „vielköpfige Ungeheuer“, also die Unterschichten, in der Kalkulation keine Rolle spielte, doch die Verbreitung von Pamphleten, durch Nacherzählen oder Vorlesen in Tavernen, griff viel tiefer, als auf den ersten Blick ersichtlich sein mag. Das dürfte zwar nicht für juristisch-konstitutionelle Streitfragen gegolten haben (der Streit um das Schiffsgeld wird nur diejenigen erregt haben, denen die Veranlagung für eine solche Steuer drohte); aber religiöse Fragen waren von existentiellem Interesse für die gesamte Bevölkerung, und es sollte nicht lange währen, bis Religion und Politik zu einem Komplex zusammenflossen.7 Die revolutionäre Dynamik von London wurde zum entscheidenden Faktor in der ersten Phase der Revolution, als aus der Rebellion des Parlaments die kompromisslose Konfrontation mit dem König und schließlich der Bürgerkrieg wurden – zwischen 1640 und 1642 entwickelte sich eine Radikalisierung, die erst nach dem Ende des ersten und ein weiteres Mal nach dem Ende des zweiten Bürgerkriegs, 1647 und 1649, überboten wurde und die die späteren Entwicklungen auch gedanklich befruchtete.8 Die Führung der revolutionären „Partei“ im Unterhaus unter John Pym, die nur über eine knappe Mehrheit verfügte, sah sich wegen ihrer prekären Position im Machtgleichgewicht veranlasst, eine gefährliche Strategie einzuschlagen: sie appellierte, wenn auch indirekt, an die revolutionäre Öffentlichkeit. Das Kernstück war die Veröffentlichung der Grand Remonstrance vom Dezember 1641, offiziell einer Petition des Parlaments an den König, die eine lange Liste der Gravamina gegen den König enthielt und bereits das Modell einer konstitutionellen Monarchie entwarf. Pyms Fraktion war politisch eigentlich eher gemäßigt, konnte sich aber nur im Bündnis mit den radikalen Kräften in London durchsetzen, die ihrerseits 1642/43 vorübergehend die Stadtregierung in die Hand bekamen.9 Mit den „new mer6

Dazu am besten Hirst 1975. Das wurde schon bei den puritanischen Reformern Ende der 1630er Jahre deutlich, die hart mit dem Regime zusammenstießen. Die frühen Schriften des künftigen Levellers John Lilburne legen davon beredtes Zeugnis ab. 8 Das detailreichste Buch dazu ist Fletcher 1985. 9 Siehe dazu Brenner 1993, S. 316–459. 7

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chants“, wie sie Brenner bezeichnet, gewannen aber auch die Gruppen an Einfluss, die nicht nur in der Englischen Revolution, sondern in der gesamten Geschichte der radikalen Bewegungen in den angelsächsischen Ländern deren Basis stellen sollten: Ladenbesitzer, Händler sowie nominell unabhängige kleine Produzenten und Arbeiter. Indem das Parlament mit der Veröffentlichung seiner konstitutionellen Dokumente eine Öffentlichkeit herstellte, wurden genau diese Gruppen, unter denen die Lese- und Schreibfähigkeit doch relativ weit verbreitet war10, in den politischen Prozess hineingezogen, und das schlug sich nicht zuletzt in einer Welle von Petitionen und Demonstrationen nieder, deren Intensität erst nach dem Ende der beiden Bürgerkriege, 1647 und 1649, wieder erreicht wurde. Brian Manning hat in einer freilich nicht unumstritten gebliebenen Darstellung gezeigt, dass der Aktivismus dieser zeitgenössisch als „middling sort of people“ charakterisierten Gruppen nicht nur weit über London hinausgriff, sondern auch direkt eingesetzt wurde, um in vielen Fällen den örtlichen Landadel zur Parteiergreifung im beginnenden Bürgerkrieg zu zwingen, zumeist aufseiten des Parlaments.11 Wie sich später immer wieder bei „Mob“-Aktionen zeigen sollte, waren dies disziplinierte Aktionen mit kontrollierter Gewalt12, was für Planung und Koordination spricht. Von einer revolutionären Öffentlichkeit zu sprechen, ist allerdings im Hinblick auf die erste Phase der Revolution nur punktuell möglich. Zwar hatte das Parlament den radikalen Schritt getan, die Angelegenheiten des Staates und der Konstitution aus dem arkanen Bereich herauszunehmen, und sie waren zum Thema öffentlicher Diskussion und auch Aktion geworden. Doch der Staat versuchte, das in den nächsten Jahren wieder rückgängig zu machen, wie die Behandlung der künftigen Leveller-Führer John Lilburne und Richard Overton zeigte, und die Konventikel der radikalen protestantischen Kirchen, die das Organisationsforum der aktivsten Kreise der „middling sort of people“ waren, die im Sprachgebrauch auch oft mit dem Volk als ganzem identifiziert wurden, waren nicht Organe der Öffentlichkeit und konnten das nach ihrem Eigenanspruch auch gar nicht sein. Es waren die Levellers,13 die in der kritischen Phase der englischen Revolution den ernsthaftesten Versuch unternahmen, eine revolutionäre Öffentlichkeit herzustellen. Sie entstanden aus einer Gruppe hochbegabter Pam10

Cressy 1980. Manning 1978, v. a. Kap. 1–5. 12 Siehe dazu die Studien von George Rudé (vor allem Rudé 1964) und zahlreiche Untersuchungen von EP Thompson. Es gab eine berühmte Ausnahme in Colchester, die allerdings durch die lokalen Umstände erklärbar war: Walter 1999. 13 Die ausführlichsten Darstellungen sind immer noch Frank 1955 und H. N. Brailsford 1961. Zur politischen Theorie der Levellers im deutschen Sprachraum: Brocker 1995, S. 91–174 und zum demokratischen Anspruch der Levellers: Saage 11

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phletisten und politischer Aktivisten, in erster Linie John Lilburne, Richard Overton und William Walwyn, denen es gelang, Teile des Londoner Sektenmilieus zu mobilisieren und für ihre politische Theorie zu gewinnen, die ein neues konstitutionelles Modell für die gesamte Gesellschaft versprach, deren Erkenntnisinteresse aber an der „middling sort of people“14 festgemacht werden kann. Die politische Theorie entwickelte sich aus dem aktiven Engagement mit dem religiösen Hintergrund,15 der gesellschaftlichen Basis und einer intellektuellen Tradition, die vom englischen Common Law bis zum klassischen Humanismus reichte, und aus der politischen Auseinandersetzung mit einem sich wandelnden Übergangsregime, das bemüht war, eine Verfassungsordnung festzuschreiben, wie sie sich – ebenso provisorisch wie unhaltbar – in den ersten Jahren der Revolution entwickelt hatte. John Lilburne,16 theoretisch unter den künftigen Leveller-Führern am wenigsten kohärent, aber ein hochbegabter und zielsicherer Propagandist, hatte es bereits 1638 verstanden, wie man die Öffentlichkeit engagiert und den eigenen Fall zur gemeinsamen Sache hochstilisiert.17 Der Kaufmann William Walwyn wird allgemein und wohl mit Recht als der Mann gesehen, der im Hintergrund organisatorisch die Fäden zog. Als die Gruppe 1645 zusammengekommen war, hatte sie mit dem traditionellen Mittel der Petition schon bald das Werkzeug gefunden, mit dem sich größere Menschenmengen anhand von Einzelfragen mobilisieren ließen, die fast stets in einen breiteren politischen Kontext gestellt wurden: die Petition wurde in relativ hoher Auflage gedruckt (bis zu 10.000 Exemplare), sie wurde in einer Demonstration zum Parlament getragen, und nach der wohl nicht unerwarteten Zurückweisung durch das Parlament folgten weitere Pamphlete, die sich über die ungerechte Behandlung beklagten. In den kritischen Phasen der Revolution, vor allem im Herbst 1648 nach dem Ende des zweiten Bürgerkriegs und vor dem Prozess gegen den König, steigerte sich dies zu organisierten Petitionskampagnen aus London und den Provinzen an das Parlament sowie aus den Armeeregimentern an die Armeeführung und ebenfalls an das Parlament. Zum Teil identische Formulierungen machen die Koordination deutlich. Aus der Notwendigkeit, diese Aktivitäten zu organisieren und be1981, S. 212–231. Es gibt zahlreiche moderne Quelleneditionen, wie Wolfe 1944; Haller/Davies 1964; Morton 1975; Sharp 1998. 14 Die Bedeutung dieses Begriffes ist erst in den letzten Jahren in der Forschung erkannt worden, siehe z. B. Barry/Brooks 1994. 15 Siehe besonders Tolmie 1977. 16 Die beste Biographie ist Gregg 1961. 17 Lilburne war in den Fall der puritanischen Prediger Prynne, Bastwick und Burton verwickelt und wurde zu einer Auspeitschung und zum Pranger verurteilt. Er litt schwer, inszenierte die Bestrafung aber als Schauspiel, das er selbst in zwei Pamphleten beschrieb, u. a. „A Worke of the Beast“ (1638), in: Haller 1933/34, Bd. 1, S. 1–34.

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sonders auch zu finanzieren, war bei den Levellers eine Organisation entstanden, die in verblüffender Weise einer modernen Partei ähnelte, mit regelmäßigen Treffen und freiwilligen Mitgliedsbeiträgen, die nach dem Einkommen gestaffelt waren, und mit aktiven Bemühungen, die Organisation über London hinaus auszudehnen.18 Die Petition war für die Levellers ein so wichtiges Werkzeug, dass sie sie auch dann nicht aufgaben, als sie dem Langen Parlament die Legitimität abgesprochen hatten, weil es gegen sein Mandat („trust“) verstoßen habe, sogar für die Auflösung der gesamten Verfassung verantwortlich gewesen sei, England sich daher im Naturzustand befand und mit Hilfe eines Gesellschaftsvertrages neu verfasst werden musste – das Agreement of the People war, wie der Name schon sagt, beides, Gesellschaftsvertrag und Verfassung.19 Dennoch setzten die Levellers die Petition weiter ein, obwohl das Agreement natürlich als ein viel radikalerer revolutionärer Akt konzipiert war. Im Anspruch sollte es national zirkulieren und von der gesamten erwachsenen (männlichen) Bevölkerung unterzeichnet werden, was wiederum die Herstellung einer nationalen Öffentlichkeit bedeutet hätte, denn, wie unrealistisch und utopisch das auch immer erscheinen mag, einer erfolgreichen Realisierung des Gesellschaftsvertrages hätte natürlich eine umfassende Informationskampagne und Debatte vorausgehen müssen. Gewiss, das war unter den Bedingungen des 17. Jahrhunderts und unter den gegebenen Machtverhältnissen unmöglich; doch schon die Tatsache, dass es im Ansatz gedacht wurde, ist ein Anzeichen für die rapide Entwicklung der Öffentlichkeit in der englischen Revolution. Dabei spielten nicht zuletzt die zahlreichen Zeitungen eine Rolle, die vor dem Hintergrund einer völlig wirkungslos gewordenen Zensur wie Pilze aus dem fruchtbaren Boden des Londoner literarischen Marktes geschossen waren und durchweg wöchentlich erschienen, insgesamt über 300, die meisten von ihnen allerdings sehr kurzlebig.20 Alle machten sie mit: Das reichte von offiziösen Mitteilungsblättern des Parlaments bis zu zahlreichen mehr oder weniger skurrilen Propagandablättern der Royalisten. Mit The Moderate hat18 Die Einzelheiten stammen aus einem feindseligen Bericht, wurden in einer Reihe von Pamphleten der Levellers aber bestätigt: British Library, Thomason Tracts E426(18) The Triumph stain’d. Being an Answer to Truths Triumph. By George Masterson, Preacher of the Gospel at Shoreditch near London. (10.2.1648). 19 Siehe z. B. Hill 1975, S. 66: „The Levellers thought that the state had broken down in the course of the civil war; until it was legitimately re-founded a state of nature existed in which the sword was the only remaining authority. But military force could justly be used only to hand power back to the people. This was the purpose of the Agreement of the People, the Levellers’ new social contract refounding the state [. . .]“. 20 Dazu siehe Frank 1961 und Sommerville 1996.

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ten auch die Levellers eine Zeitung, die sie über weite Strecken unterstützte.21 Die ernsthafteren Blätter enthielten Parlamentsberichte, Berichte aus der Armee, Korrespondentenberichte aus den Provinzen (oft von mehrere Zeitungen gedruckt; es muss also „Agenturen“ – vielleicht das Parlament oder der Lizenzbeamte – gegeben haben) und Auslandsberichte, die ursprünglich überhaupt der Zweck der ersten Zeitungen waren. Manche Zeitungen streuten redaktionelle Kommentare ein, oft stand auf der ersten Seite ein zum Teil substantieller Leitartikel, während bei den Royalisten häufig ein Gedicht die Berichterstattung eröffnete. Und die ersten professionellen Journalisten betraten die Szene, vor allem Marchamont Nedham, dessen Talent nur noch von seiner politischen Wandlungsfähigkeit übertroffen wurde.22 Wie bei allen Pamphleten darf man davon ausgehen, dass die Reichweite sehr viel größer war als die Auflage von zumeist vielleicht einigen hundert, maximal tausend Exemplaren.23 Schriften wanderten von Hand zu Hand, wurden von Händlern auch außerhalb Londons verbreitet und wurden vorgelesen, wie das auch noch im 19. Jahrhundert bei den Chartisten der Fall war.24 Trotz aller Ansätze ist es im 17. Jahrhundert natürlich nicht möglich, von einer, vielleicht gar nationalen Öffentlichkeit zu sprechen. Die Levellers waren auch durchaus in der Lage, mehrgleisig zu fahren. Neben den Londoner Revolutionskirchen war die New Model Army das wichtigste Forum und gleichzeitig Vehikel für die revolutionäre Öffentlichkeit. Die Vorgänge, die 1647, zwischen dem Ende des ersten und dem Beginn des zweiten Bürgerkriegs, die Struktur der Armee umkrempelten, sind hinlänglich bekannt: die Konfrontation zwischen der presbyterianischen Parlamentsmehrheit und der Armee, die Protestbewegung und Selbstorganisation der Soldaten, der zunehmende Einfluss der Levellers auf die Armee und die Neukonstitution der Armee mit dem Generalrat, in dem auch Mannschaftsvertreter präsent waren.25 Die Armee war damit ein Staat im Staat geworden, in dem die „Agitatoren“ in einer Situation, in der seit dem Ende der Kampfhandlungen das Arkanum der Befehlssituation vorübergehend überflüssig geworden war, gegen die Offiziere die Öffentlichkeit hergestellt hatten – letztere zogen mit, weil es politisch keine Alternative gab. Gleichzeitig benötigten sie aber die weitere Öffentlichkeit, um ihre existentiellen Forderungen durchzusetzen, 21

Howell/Brewster 1970 und Diethe 1983. Frank 1980 und Worden 1994. 23 Sommerville 1996, S. 43. 24 Thompson 1984, S. 51–52. 25 Zur Geschichte der Armeebewegung am besten Woolrych 1987; außerdem mit ähnlichen Einschätzungen Gentles 1992 und Kishlansky 1979. 22

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die nur durch das Parlament (Soldrückstände, Indemnität etc.) oder gegen das Parlament (konstitutionelle Reform) durchgesetzt werden konnten. Für die Levellers war die Armee, wie gesagt, gleichzeitig Forum und Werkzeug für ihre weitergehenden politischen Zwecke, die in einer signifikanten Phase zumindest teilweise mit denen der Soldaten zusammenfielen. Die berühmten Putney Debates26 waren der Punkt, an dem die Levellers durch die Präsenz von John Wildman und Maximilian Petty sowie durch die Themensetzung mit der Veröffentlichung des Agreement of the People am direktesten im Öffentlichkeitsforum der Armee aktiv wurden. Der Zufall der Überlieferung hat uns ein in der Frühneuzeit sicher einmaliges Schauspiel erhalten, bei dem Mannschaften und Generäle zwar nicht auf gleichem Fuß, doch bemerkenswert offen über Fragen der Staatsordnung debattierten. Dies war die revolutionäre Öffentlichkeit der Armee in Aktion, ein Vorgang, der auch nicht dadurch an Bedeutung verliert, dass freimütige Auseinandersetzungen über soziale Grenzen hinweg innerhalb der Revolutionskirchen sicher nicht ungewöhnlich waren und die Zeitgenossen kaum eine scharfe Unterscheidung zwischen religiösen und politischen Fragen vornahmen. Doch die säkulare Ausrichtung der Putney Debates hatte schon eine Bedeutung sui generis. Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass die Ereignisse in Putney eine breitere Öffentlichkeit so gut wie nicht erreichten. Es gab zwar Pamphlete, die auf die Debatten Bezug nahmen,27 doch die Berichte in den Zeitungen waren ausgesprochen mager. Man könnte versucht sein, zu argumentieren, dass die Levellers weniger erfolgreich waren, wenn sie im Verborgenen agierten, sich also auf traditionelle politische Manöver einließen. Dies ist natürlich einmal eine Frage der Definition von Erfolg: erfolgreich waren die Levellers letztlich ohnehin nicht, jedenfalls nicht im machtpolitischen Sinn, während ihr ideologischer Einfluss erheblich war. Aber zum anderen lassen sich schon gewisse Unterscheidungen treffen. So gelang es Lilburne vor den Putney Debates, eine neue Gruppe von Agitatoren in den Vordergrund zu schieben (die „New Agents“), weil er meinte, die von der Truppe gewählten Repräsentanten seien von der Armeeführung korrumpiert worden. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die New Agents je gewählt wurden; abgesehen davon, dass sie offiziell das Agreement of the People vorlegten, spielten sie in Putney keine Rolle. Auch bei der Meuterei von Ware hielten sich die Levellers im Hintergrund – hier allerdings hatten sie wohl auch keine Alternative. 26 Die zugänglichste Ausgabe ist Woodhouse 1938. Alle einschlägigen Monographien enthalten Zusammenfassungen der Debatte, spezifisch zu Wahlrecht und Eigentum in der deutschen Forschung Saage 1981, S. 190–208. 27 Siehe Woodhouse 1938, wo eine Reihe derartiger Pamphlete nachgedruckt wird.

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Während die Situation nach dem zweiten Bürgerkrieg 164828 in mancher Hinsicht Parallelen zum Vorjahr aufwies, fand vieles doch weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Natürlich war eine heftige Kampagne im Gang, in der Levellers und Armeeführung auch lange an einem Strang zogen, doch die wirklichen Verhandlungen wurden hinter verschlossenen Türen geführt, zum Schaden der Levellers als der Gruppe ohne Machtmittel – so konnte Lilburne weder der Basis noch der Öffentlichkeit verständlich machen, warum er z. B. den Prozess gegen den König ablehnte, zuallermindest in der geplanten Form; er versuchte eine Rechtfertigung erst im Nachhinein.29 Die Freunde der Levellers, wie The Moderate, stimmten entweder nicht mit ihm überein oder kannten seine Position nicht. Lilburne hatte natürlich recht – er wollte einen Tyrannen gegen den anderen ausbalancieren, weil er Cromwell und seinem Schwiegersohn, Henry Ireton, nicht traute,30 und als der König tot war, hatten die Levellers in der Tat keinen Hebel mehr, und ihre Rolle war ausgespielt. Doch dies war Episode in einer Zeit, da die Öffentlichkeit noch stark in die politischen Ereignisse verwickelt war. Der Prozess gegen den König wurde absichtlich als öffentliches Tribunal inszeniert, um zu zeigen, dass man den Monarchen nicht in einer dunklen Ecke meuchelte, wie der „Königsmörder“ (also Unterzeichner des Todesurteils) Thomas Scot am 7. Februar 1659 im Parlament erklärte: „We did not assassinate, or do it in a corner. We did it in the face of God, and of all men.“31 Aber auch Karl I. hatte mittlerweile begriffen, dass es ihm nutzte, die Öffentlichkeit zu involvieren, die, wie selbst die Levellers erkannten, aus emotionalen und traditionellen Gründen (aus falschem Bewusstsein, wie die Levellers bemerkten) mehrheitlich royalistisch war. In seiner Verteidigung stellte sich Karl als derjenige dar, der die wahren Interessen des Volkes vertrat, und bei der Hinrichtung war er sich ausreichend des zuschauenden Volkes bewusst, um sich 28

Die beste Darstellung ist immer noch Underdown 1971. BL E560(14) [John Lilburne] The Legall Fundamentall Liberties of the People of England Revived, Asserted, and Vindicated. Or, An Epistle written the eighth day of June 1649, by Lieut. Colonel John Lilburn [. . .] (18.6.1649), auszugsweise in Haller/Davies 1964, S. 399–449. 30 „[. . .] although we should judge the King as arrant a Tyrant as they supposed him, or could imagine him to be; and the Parliament as bad as they could make them; yet there being no other balancing power in the Kingdome against the Army, but the King and Parliament, it was our interest to keep up one Tyrant to balance another, till we certainly knew what that Tyrant that pretended fairest would give us as our Freedoms; that so we might have something to rest upon, and not suffer the Army (so much as in us lay) to devolve all the Government of the Kingdom into their wills and swords [. . .]“, in: Haller/Davies 1964, S. 416. 31 The Diary of Thomas Burton, 7 February 1658/1659, British History Online, http://www.british-history.ac.uk/report.asp?compid=36901. 29

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warm anzuziehen (es war der 30. Januar), damit er nicht vor Kälte zitterte und den Eindruck erweckte, er fürchte sich.32 Die Öffentlichkeit war zum Parameter geworden, der das Verhalten der Akteure bestimmte; der Charakter der Politik hatte sich grundlegend geändert. Natürlich wurde weiter im Geheimen verhandelt und intrigiert – das hat sich auch nie geändert; doch dass man es für nötig hielt, sich zu rechtfertigen, sich der Unterstützung zumindest der eigenen Anhänger zu versichern, war ein wahrhaft revolutionärer Wandel. Die Levellers spielten als Machtfaktor ab 1649 im Wesentlichen keine Rolle mehr, spätestens als die etablierten Baptistenkirchen („Particular Baptists“) sich offiziell von ihnen distanzierten.33 Auch die Organisation verfiel, während das Führungsquartett im Tower inhaftiert war (darauf weist ein im Galgenhumor gehaltener Aufruf von Richard Overton hin34). Und doch hatten die Levellers nicht ihre Fähigkeit verloren, große öffentliche Spektakel zu inszenieren – im Gegenteil, nie taten sie es besser als bei der Beisetzung des Soldaten Robert Lockyer am 29. April 1649, der nach einer relativ unbedeutenden Meuterei zwei Tage vorher standrechtlich erschossen worden war: „Mr. Lockyer, der am letzten Freitag bei St. Pauls erschossen wurde, wurde an diesem Tag von Smithfield durch den Stadtkern zum neuen Friedhof gebracht, in einem Begräbnis von höchst bemerkenswerter Art, wenn man bedenkt, daß er keinen höheren Rang als den eines einfachen Soldaten hatte. Zwischen fünf und sechs Uhr nachmittags kam der Verstorbene in Begleitung vieler Tausend Bürger [. . .]. Rund tausend gingen vor der Leiche, in Fünfer- und Sechserreihen, dann die Leiche, mit sechs Trompeten, die ein trauriges Soldatenlied bliesen, wie es in diesen Fällen üblich ist (freilich außerordentlich bei diesem Mann). Das Pferd des Soldaten wurde am Ende dieses Regiments geführt, ganz in Trauerkleidung und von einem Lakai geleitet, eine Ehre, die einem Oberkommandierenden entspricht. Die Leiche war auf beiden Seiten mit Bündeln von Rosmarin geschmückt, wobei je eine Hälfte mit Blut getränkt war, und das Schwert des Verstorbenen lag daneben. Einige Tausende folgten in Marschordnung, und die Frauen gingen am Schluß. Den Einwohnern der Stadt fiel außerdem auf, daß die meisten Teilnehmer des Zuges meergrüne und schwarze Bänder am Hut trugen oder schwarze Bänder an die Brust geheftet hatten. Als der Leichnam den neuen Friedhof erreichte, hatten sich schon einige Tausend Höhergestellte (die meinten, sie würden Gefahr laufen, wenn sie öffentlich durch die Stadt marschierten) dort versammelt, eben32

Eine handliche Zusammenfassung von Prozess und Hinrichtung aus zeitgenössischen Quellen in Lockyer 1959; der Hinweis auf das Extra-Hemd auf S. 126. 33 Tolmie 1977, S. 181–184. 34 BL E562(26) [Richard Overton] Overton’s Defyance of the Act of Pardon: Or, The Copy of a Letter to the Citizens usually meeting at the Whale-Bone in Lothbury behinde the Royal Exchange; And others commonly (though unjustly) Styled Levellers. Written by Richard Overton Close prisoner in the Tower of London. (2.7.1649, Thomason: 4.7.1649).

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falls mit den gleichen Farben meergrün und schwarz. Einige verspotteten sie unter dem Namen Levellers, als sie vorbeizogen, doch ihre Höflichkeit verbat ihnen, darauf zu reagieren. Andere sagten, König Karl hätte nicht halb so viele Trauergäste gehabt, als er beerdigt wurde, wie dieser Soldat [. . .].“35

Rechtsreform war eines der wichtigsten Themen im Forderungskatalog der Levellers, vordringlich gerichtet auf die Popularisierung des obskuren und teuren Rechtssystems mit den Überbleibseln des normannischen, will heißen: französischen Rechts und den vielen eingebauten Ungerechtigkeiten. Lilburnes letzte Großtat, wenn man so will, war sein Hochverratsprozess Ende Oktober/Anfang November 1649. Die Öffentlichkeit erfuhr davon nicht mehr durch die regulären Zeitungen, denn die waren mittlerweile alle verboten, einzig die illegale royalistische Presse war noch aktiv und berichtete genüsslich über den Tanz, den Lilburne mit dem Gericht aufführte. Clement Walker veröffentlichte unter seinem Pseudonym Theodorus Verax Ende November einen ausführlichen Bericht.36 Doch für den Prozess selbst gelang es Lilburne, die Öffentlichkeit herzustellen – das Gericht kam seiner Forderung nach, die Tore zu öffnen, und mit der lautstarken Unterstützung des eigenen Anhangs konnte er die Geschworenen als gleichsam eigener Anwalt von seiner Unschuld überzeugen. Es war der erste öffentliche Prozess dieser Art und der erste Freispruch in einem Hochverratsfall.37 So öffentlich wie der Prozess stattgefunden hatte, so öffentlich wurde er gefeiert, mit Freudenfeuern an vielen Stellen Londons, und für die Geschworenen ließen die Levellers eine Gedenkmünze schlagen. Dennoch war dies mehr oder weniger das Ende der Levellers. Wie erwähnt, hatte das neu etablierte Regime der englischen Republik bereits die Zeitungen schließen lassen, die in seiner Reichweite waren, darunter auch den Moderate. Die revolutionäre Öffentlichkeit hatte bis auf weiteres ausgedient. In den 1650er Jahren scheiterten alle neuerlichen Versuche, die Öffentlichkeit aufzurütteln – es war typisch für die Umstände, daß selbst ehemalige Levellers, wie John Wildman oder der zum Oberst aufgestiegene Agitator Edward Sexby, sich auf zum Teil abstruse Verschwörungen mit den Royalisten einließen, die sogar den spanischen Erbfeind involvierten.38 Erst 1659, in den turbulenten letzten Monaten der Republik kurz vor der Restauration der Monarchie, lebte die revolutionäre Öffentlichkeit noch einmal kurzzeitig auf, doch die blutige Rache an den überlebenden „Königsmördern“ in einer Serie geradezu „stalinistischer“ Prozesse machte deutlich, 35

BL E552(20) The Moderate (42), 24.4.-1.5.1649, S. 483. BL E584(9). Ausführliche Beschreibungen in den einschlägigen Monographien, so Brailsford 1961, S. 582–604, Gregg 1961, S. 293–302. 37 Robertson 2005. 38 Zu Sexby siehe Holstun 2000, S. 308–327. 36

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dass dieses Regime nicht mit sich spaßen ließ, trotz aller Abhängigkeit von seinen parlamentarischen Zahlmeistern. Literatur Barry, Jonathan/Brooks, Christopher (Hg.), The Middling Sort of People. Culture, Society and Politics in England, 1550–1800, Basingstoke/London 1994 (zitiert: Barry/Brooks 1994). Brailsford, H. N. (Hg. Christopher Hill), The Levellers and the English Revolution, Stanford 1961 (zitiert: Brailsford 1961). Brenner, Robert, Merchants and Revolution. Commercial Change, Political Conflict, and London’s Overseas Traders, 1550–1653, Princeton 1993 (TB London/New York 2003) (zitiert: Brenner 1993). Brocker, Manfred, Die Grundlegung des liberalen Verfassungsstaates. Von den Levellern zu John Locke, Freiburg/München 1995 (zitiert: Brocker 1995). Calhoun, Craig (Hg.), Habermas and the Public Sphere, Cambridge, Mass. 1992 (zitiert: Calhoun 1992). Cressy, David, Literacy and the Social Order. Reading and Writing in Tudor and Stuart England, Cambridge 1980 (zitiert: Cressy 1980). Diethe, Jürgen, „The Moderate: Politics and Allegiances of a Revolutionary Newspaper“, in: History of Political Thought, Vol. IV, 2 (1983), S. 247–279 (zitiert: Diethe 1983). Fletcher, Anthony, The Outbreak of the English Civil War, London 1985 (zitiert: Fletcher 1985). Frank, Joseph, The Levellers. A History of the Writings of Three Seventeenth-Century Social Democrats: John Lilburne, Richard Overton, William Walwyn, Cambridge, Mass. 1955 (zitiert: Frank 1955). – The Beginnings of the English Newspaper 1620–1660, Cambridge, Mass. 1961 (zitiert: Frank 1961). – Cromwell’s Press Agent: a Critical Biography of Marchamont Nedham, 1620–1678, Lanham Md. 1980 (zitiert: Frank 1980). Freist, Dagmar, Governed by Opinion. Politics, Religion and the Dynamics of Communication in Stuart London 1637–1645, London/New York 1997 (zitiert: Freist 1997). Gentles, Ian, The New Model Army in England, Ireland and Scotland, 1645–1653, Oxford/Cambridge, Mass. 1992 (zitiert: Gentles 1992). Gregg, Pauline, Free-born John. A Biography of John Lilburne, London 1961 (zitiert: Gregg 1961). Habermas, Jürgen, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Öffentlichkeit, 5. Aufl., Neuwied/Berlin 1971 (zitiert: Habermas 1971).

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Das Behemoth-Problem Ein Beitrag zur Titelwahl des Leviathan von Thomas Hobbes Aicke Bittner und Johannes Thon Omne bonum a Deo, omne malum ab homine.1

Um den Charakter der gegenwärtigen Staaten aufzuzeigen und den unmöglichen freiwilligen Verzicht der Souveräne auf Macht zugunsten eines Ewigen Friedens zu verbildlichen, vergleicht Jean Jacques Rousseau in seinen Schriften über den Abbé Saint Pierre den Staat mit dem Menschen: Ist der Mensch von Natur aus genügsam, friedliebend und bescheiden, so mutiert der Staat zum menschlichen Monster: „Der Staat hingegen ist ein künstlicher Körper und hat darum kein bestimmtes Maß; die ihm eigene Größe ist nicht definiert, er kann sie jederzeit steigern; solange es Stärkere als ihn gibt, fühlt er sich schwach. Seine Sicherheit, seine Erhaltung erfordern, daß er mächtiger werde als alle seine Nachbarn. Er kann seine Kräfte nur auf ihre Kosten vergrößern, nähren und üben; und braucht er seinen Unterhalt nicht außerhalb seiner selbst zu suchen, so sucht er doch unentwegt nach neuen Gliedern, die ihm eine unerschütterliche Festigkeit verleihen sollen.“2

Die Natur dieses künstlichen Körpers ist also anderer Art als die des Menschen. Seine vermeintlich nach innen stiftende Ruhe ist durch den beständigen Kampf nach außen und der Behauptung gegenüber anderen Staaten erkauft: In der Natur aller gegenwärtigen Staaten liegt es, so Rousseau, durch dieses permanente „bellum omnium contra omnes“ die eigene Existenz zu sichern. Würde sich ein Staat nicht mehr verteidigen, selbst wenn er „sich noch so gern auf sein Inneres beschränken wollte [. . .] wird er doch klein oder groß, schwach oder stark, je nachdem, ob sein Nachbar 1

„Alles was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen. Er zwingt einen Boden, die Erzeugnisse eines anderen zu züchten, einen Baum, die Früchte eines anderen zu tragen. Er vermischt und verwirrt Klima, Elemente und Jahreszeiten. Er verstümmelt seinen Hund, sein Pferd, seinen Sklaven. Er erschüttert alles, entstellt alles, er liebt die Missbildung, die Monstren. Nichts will er so, wie es die Natur gemacht hat, nicht einmal den Menschen. Er muss ihn dressieren wie ein Zirkuspferd. Er muss ihn seiner Methode anpassen und umbiegen wie einen Baum in seinem Garten.“ (Rousseau 1963, S. 107). 2 Rousseau 1989a, S. 53–54.

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sich ausdehnt oder zusammenschrumpft, an Stärke gewinnt oder einbüßt“3. In der Endkonsequenz würden sich andere Staaten diesen einen aufteilen und einverleiben. Die innere Ordnung bleibt also solange nach Rousseau für den Einzelnen provisorisch, solange im Außenverhältnis der Staaten untereinander keine befriedende Ordnung herrscht. Diese Ordnung kann sich jedoch unter den gegenwärtigen Staaten nicht etablieren, da die einzelnen Souveräne durch ihr verfolgtes Eigeninteresse einen notwendigen Machtund Souveränitätsverzicht und damit die Genese einer notwendigen Instanz zur Einhaltung einer solchen Ordnung unmöglich machen. Der rousseausche Gedanke, dass dieser gordische Knoten nur durch einen neuen – hier entgegen dem klassischen Rousseau der „kleinen Republiken“ – gleichsam globalen Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag zerschlagen werden kann, der das wahre Interesse der Vertragsschließenden repräsentiert, kann uns hier nur am Rande interessieren, wenngleich die instrumentelle Funktion des pactum unionis und pactum subjectionis eine recht deutliche Konkretisierung erfährt. Rousseau scheitert letztlich an sich selbst: Inwiefern nämlich das Problem gelöst werden kann, einerseits die anzustrebende volonté générale in einem Weltstaat zu organisieren und andererseits ein noch größeres Ungeheuer zu verhindern, wird heute noch diskutiert und wird von Rousseau an dieser Stelle bewusst ausgeklammert. Der in diesem Zusammenhang abermals kritisierte Hobbes hält freilich einen Machtverzicht der Souveräne per definitionem für unmöglich, da er gegen den Staatszweck, die Überwachung der Einhaltung des Vertrages auch mit Gewalt, verstößt und infolgedessen der durch den Staat zu verhindernde Bürgerkrieg neu ausbrechen würde. Das rousseausche Ansinnen würde nach Annahme der hobbesschen Anthropologie und Theorie also kein Weltbürgerstaat, sondern einen Weltbürgerkrieg hervorbringen. Doch ein anderer Aspekt soll hier betont werden: Zwar lehnt Rousseau den hobbesschen Staat als „widerlich“ und nicht rechtens ab, da der ihn begründende Vertrag in Wirklichkeit ein Vertrag der Reichen, eine Irreführung, Lüge und Verfälschung der wahren Interessen des Volkes und der Einzelnen ist, mit dem die im Naturzustand entstandenen sozialen Unterschiede zu Gunsten der Wohlhabenden durch das Recht des Stärkeren manifestiert werden sollen4. Andererseits folgt Rousseau in der Kritik der gegenwärtigen Staaten nicht nur der hobbesschen Analyse der Leviathane untereinander, sondern übernimmt – bewusst oder unbewusst – das Bild, welches Hobbes vom Staat erschaffen hat: Der wünschenswerte Staat nach Hobbes und der zu kritisierende Staat nach Rousseau ist ein riesenhaftes Ungeheuer, das im beständigen Kampf mit Anderen in der Macht zwischen 3 4

Ebd., S. 54. Vgl. den Vertrag der Reichen in: Rousseau 1989b.

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Abbildung 1: Oberer Teil des Titelbildes des „Leviathan“ von Thomas Hobbes, London 1651

den Menschen und Gott selbst steht. Es ist der „mortall god“ – der sterbliche Gott, dessen Allumfaßtheit man sich nicht entziehen kann, obwohl er selbst nicht göttlich ist. Im Gegenteil, das Produkt menschlichen Handelns entzieht sich seinem Erschaffer gleichsam selbst und stellt sich gegen ihn: Einmal vorhanden, gibt es kein Entrinnen. Er ist nur sterblich in der Auseinandersetzung mit seinesgleichen. Es ist immer wieder gerätselt worden, warum Hobbes selbst seinem Staat den Namen „Leviathan“ gab bzw. ob dieser zwar eindrucksvolle, aber doch verhältnismäßig freundliche Riese des Titelkupfers tatsächlich das Ungeheuer aus Hiob 40–41 abbilden soll. In einer gewissen Engführung auf die innere Konstruktion des Leviathan wird immer wieder ein vermeintlicher Widerspruch betont: Will Hobbes die Vorzüge des Staates gegenüber dem maßlosen und ungezügelten Naturzustand herausstellen und somit die Omnipotenz des Staates plausibel erklären und positiv rechtfertigen, so hat er mit der provozierenden Titelwahl und Darstellung für seine Zeitgenossen und deren Nachfolger ein „Schreckgespenst“ entworfen, das die grundsätzlich negative Rezeption seines Werkes wenn nicht gar verursacht, so doch auf jeden Fall verstärkt hat. Die Versuche, aus der gleichen Perspektive diesen Widerspruch zu erklären, endeten oft selbst in Widersprüchen: Einerseits wurde etwa ein „Mythos

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von hintergründiger Sinnfülle“5 beschworen, der seinem eigenen Anspruch nicht gerecht werden kann, andererseits wurde (auch deswegen) bezweifelt, ob dieser Kupfer überhaupt den Anspruch hat, dieses Ungeheuer tatsächlich abzubilden6, da „sich an der Gestalt des ‚Staatswesens‘ keinerlei Relikte einer archaischen Animalität“7 mehr erkennen lassen könnten. Bis heute ist demzufolge keine eindeutige Klärung erreicht. Dieser Beitrag soll im neuerlichen Rückgriff auf biblische und altorientalische Texte einen weiteren Versuch darstellen, die eigentümliche Titelwahl zu plausibilisieren. Die Andeutung durch den rousseauschen Text soll das Problem verdeutlichen: Die beschriebene argumentative Engführung auf die innere Konstruktion des Leviathan innerhalb der Forschung lässt sich nur von der folgenreichen Festlegung des biblischen Gegenspielers, des Behemoth, auf den Bürgerkrieg erklären: Durch Hobbes Alterswerk, welches 1668 – also erst siebzehn Jahre nach dem Leviathan – fertiggestellt wurde und erst 1682 erschien, wurde die Identifizierung des Behemoth mit dem Naturzustand ideengeschichtliches Gemeingut. Staat und Bürgerkrieg gelten seit je her in der Hobbes-Forschung als zwei Seiten einer Medaille. Das eine Ungeheuer symbolisiert die Gewalt des Naturzustandes, das andere die des Staates. So plausibel und ertragreich dieser Ansatz mit Blick auf den Titelkupfer und die Aussagen im Text zu sein scheint, wirft er jedoch immer wieder das berechtigte Problem auf, warum die Individuen bei angenommener gleich bleibender Schlechtigkeit der Zustände nun dem Staat den Vorzug geben sollen. Die richtige Entgegnung wäre sicherlich, dass nur im Staat das Leben des Einzelnen gesichert, im Naturzustand jedoch bedroht ist. Ein solcher Deutungsversuch des Behemoth als Bürgerkrieg zerstört aber die innere Stimmigkeit des Bildes, welches sich dann nur noch durch den konkreten Inhalt der Theorie mehr schlecht als recht offenbart8. 5 Schmitt 1982, S. 9. Schmitt hat als einer der Ersten versucht, die Titelwahl durch den Rückgriff auf altorientalische, christliche und jüdische Quellen zu erhellen, ist aber durch die im Folgenden zu benennende Innenperspektive der Betrachtung und vor allem durch antisemitische Vorurteile zu keinem schlüssigen Ergebnis gekommen. (Vgl. hier insbesondere die falschen Annahmen des Antisemiten Eisenmenger, denen sich Schmitt vorbehaltlos anschließt.) 6 Exemplarisch: Brandt 1982, S. 209: Neben einigen Analogien, die auch hier angesprochen werden schließt Brandt: „Ob nun diese Übereinstimmung der bildlichen Darstellung zufällig oder beabsichtigt ist, ob also eine Kongruenz in der Interpretation des Autors bzw. der Autoren des Bildes begründet ist oder nur durch den Interpreten hergestellt wird (und damit für die nähere objektive Bestimmung des Titelblattes wertlos ist), diese Frage kann nur die weitere Erforschung des kulturellen Ambiente beantworten, in dem die Darstellung entstanden ist.“ 7 Mazza 1999, S. 75. 8 In diesem Sinne Brandt 1982, S. 213: „Erst die Einheit von Wort und Bild bildet die intendierte Theorie, erst die Ergänzung des Namens durch die imaginatio, erst Wort und Bild gemeinsam ermöglichen Mitteilung und Verstehen. Die emble-

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Unsere These ist hingegen, dass Hobbes bei der Konzeption des Leviathan den Behemoth noch nicht, wie bislang angenommen, mit dem Bürgerkrieg oder Naturzustand identifiziert, sondern diesen in einem Kriegszustand der Staaten untereinander als ein Pendant zum Leviathan im Außenverhältnis, als einen anderen feindlichen rationalen Staat gleicher Architektur und Macht, mitgedacht hat. Erst später – spätestens beim Verfassen des Behemoth – ist er von seiner ursprünglichen Konzeption abgerückt und gab diesem die Bedeutung, die heute üblich ist und missverständlicherweise auch immer zur Deutung des Leviathan herangezogen wird. Wenn Hobbes jedoch 1656 – also vier Jahre nach dem Erscheinen des Leviathan und sechs Jahre vor Fertigstellung des Behemoth – „Behemoth against Leviathan“ als Titel für eine mögliche Widerlegung seiner Theorie vorschlägt9, so wird er auch hier nicht den Naturzustand, sondern einen anderen Entwurf, einen anderen Staat gemeint haben. Die nahe liegende Analogie, den Vergleich und Kampf der Staaten untereinander und die Versinnbildlichung dieser freigewordenen extremen Kräfte durch Ungeheuer und Riesen darzustellen, ist, wie bei Rousseau10 gezeigt, nicht unüblich, relativ weit verbreitet und nachvollziehbar. Die hobbessche Anleihe im Kontext der Bibel, Leviathan und Behemoth als Staaten von ungeheurer Macht in einem Kriegszustand zu versetzen, verdeutlicht jedoch noch mehr: Der permanente Kampf zwischen den Staaten wird zum existentiellen, aber immer unentschiedenen Kampf der Ungeheuer Leviathan und Behemoth in Theorie und Praxis. matische Darstellung auf dem Titelblatt figuriert als paradigmatische Durchführung der notwendigen Versinnlichung des Wortcorpus.“ 9 Wir sind dem Hinweis von Schmitt 1982, S. 33 gefolgt und sehen die Annahme im Text (Hobbes 1841, S. 26–27) bestätigt: So verteidigt sich Hobbes gegen Bramhall: „Now this Leviathan he calleth ‚Monstrum horrendum, informe, ingens, cui lumen ademptum.‘ Words not far fetched, nor more applicable to my Leviathan, than to any other writing that should offend him. For allowing him the word monstrum, (because it seems he takes it for a monstrous great fish), he can neither say it is informe; for even they that approve not the doctrine, allow the method. Nor that it is ingens; for it is a book of no great bulk. Nor cui lumen ademptum; for he will find very few readers that will not think it clearer than his scholastic jargon. And whereas he saith there are two of our own Church (as he hears say) that are answering it; and that ‚he himself,‘ if I desire it, ‚will demonstrate that my principles are pernicious both to piety and policy, and destructive to all relations,‘ &c.: my answer is, that I desire not that he or they should so misspend their time; but if they will needs do it, I can give them a fit title for their book, Behemoth against Leviathan.“ 10 Möglicherweise hat Rousseau sich auch von Hobbes inspirieren lassen. Eine direkte Übernahme – trotz der ausdrücklichen Kritik an Hobbes – ist jedoch nicht nachweisbar. Wie zu zeigen sein wird, griff Hobbes selbst offenbar auf eine ältere Tradition zurück, den Staat oder das Gemeinwesen mit Riesen und Ungeheuern zu vergleichen.

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Dass mit der Darstellung des Leviathan auf dem Titelkupfer gleichwohl deutliche Bezüge auf die Innenkonstruktion des Leviathan verbildlicht sind, soll dabei keinesfalls in Abrede gestellt werden: Das riesenhafte Ungeheuer, welches den ihn zusammensetzenden Einzelnen und der Gemeinde Schutz bietet, die Zusammenführung des regnum und sacerdotium in den Händen des dargestellten Staats usw. sind klar erkennbare Allegorien und bereits dementsprechend aussagekräftig dargestellt worden.11 Trotzdem diese Deutungen mit den inhaltlichen Aussagen des Textes übereinstimmen, kann der Titelkupfer selbst nicht eindeutig klären, warum Hobbes den Staat mit diesem biblischen Ungeheuer, dem Leviathan bezeichnete12. Daher wollen wir zunächst im hobbesschen Text nach Spuren suchen: An drei verschiedenen Stellen gibt Hobbes Begründungen für seine Titelwahl. An allen drei Stellen fallen sie jedoch unterschiedlich aus und erhellen die Wahl nur unwesentlich mehr als durch den Kupferstich selbst. In der Einleitung stellt Hobbes eine Analogie zwischen der Schöpfung des Menschen durch Gott und der Schaffung des Staates durch die Menschen her. Ist der Mensch zwar selbst nur ein Geschöpf Gottes, so kann er mit „Automaten (Maschinen, die sich selbst durch Federn und Räder bewegen, wie eine Uhr) [. . .] die Kunstfertigkeit mit der Gott die Welt gemacht hat [. . .] durch die Kunstfertigkeit des Menschen“13 nachahmen. Der Gipfel dieser mechanischen Verstandesleistung wird jedoch in der Schaffung des künstlichen Menschen selbst erreicht: „Die Kunst geht noch weiter, indem sie auch jenes vernünftige, hervorragendste Werk der Natur nachahmt, den Menschen. Denn durch Kunst wird jener große Leviathan geschaffen, genannt Gemeinwesen oder Staat, auf lateinisch civitas, der nichts anderes ist als ein künstlicher Mensch, wenn auch von größerer Gestalt und Stärke als der natürliche, zu dessen Schutz und Verteidigung er ersonnen wurde. [. . .] Endlich aber gleichen die Verträge und Übereinkommen, durch welche die Teile dieses politischen Körpers zuerst geschaffen, zusammengesetzt und vereint wurden, jenem ‚Fiat‘ oder ‚Laßt uns Menschen machen‘, das Gott bei der Schöpfung aussprach.“14

Dieses Zitat beschreibt zunächst den menschlichen Ursprung und künstlichen Charakter des Staates, allerdings entgegen der Betonung in Hiob 11

Vgl.: Brandt 1982, Bredekamp 1999, Mazza 1999 u.v. a.m. Insofern ist Brandt, Recht zu geben, der vermutet, dass der Titelkupfer sich in gewisser Weise von der Titelwahl verselbständigt haben könnte: „[. . .] zwei Fragen wurden nicht beantwortet. Einmal: welches ist der exakte Grund für die Wahl des biblischen Leviathan als eines Symbols für den Herrscher, des Meeresungeheuers für den Friedensfürsten? Zum anderen: welches ist der genaue Grund für die Verrätselung des Titelblatts? Beides bleibt so anigmäisch wie vor der Dechiffrierung des verborgenen Tiefsinns.“ (Brandt 1982, S. 215–216). 13 Hobbes 1996, S. 5. 14 Ebd., S. 5. 12

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40–41, dass Leviathan und Behemoth göttlichen Ursprungs sind. Lediglich die äußere Erscheinung dieses künstlichen Körpers – „von größerer Gestalt und Stärke als der natürliche“ Mensch – kann noch direkt mit dem biblischen Leviathan verglichen werden: Das Kapitel 29, in dem der Leviathan nicht genannt wird, steht in einem ähnlichen Zusammenhang zum Bibelzitat. Es beschreibt die Krankheiten, an denen der Staat zu Grunde gehen kann und korrespondiert mit der Beschreibung von einzelnen Körperteilen und Krankheiten des biblischen Leviathan in Hiob 4015. Die Tatsache jedoch, dass gerade die Unfähigkeit Hiobs betont wird, dem Ungeheuer beizukommen, wird Hobbes hier in Konzentrierung auf die Körperanalogie auf eine direkte Erwähnung des Leviathan verzichtet haben lassen. Während also hier der menschliche Schöpfungsgedanke die Künstlichkeit, die Körperlichkeit und den Ursprung des Staats verdeutlichen soll, wird in der zweiten Begründung (Kap. 17) vor allem der Charakter und die Qualität dieses künstlichen Körpers betont: „Dies ist mehr als Zustimmung oder Übereinstimmung: Es ist eine wirkliche Einheit aller in ein und derselben Person [. . .] Ist dies geschehen, so nennt man diese zu einer Person vereinte Menge Staat, auf lateinisch civitas. Dies ist die Erzeugung jenes großen Leviathan oder besser, um es ehrerbietiger auszudrücken, jenes sterblichen Gottes, dem wir unter dem unsterblichen Gott Frieden und Schutz verdanken. Denn durch diese ihm von jedem einzelnen im Staate verliehene Autorität steht ihm soviel Macht und Stärke zur Verfügung, die auf ihn übertragen 15 Vgl. Hiob 40: „Ich will nicht schweigen von seinen Gliedern, wie groß, wie mächtig und wie wohlgeschaffen er ist. Wer kann ihm den Panzer ausziehen, und wer darf es wagen, ihm zwischen die Zähne zu greifen? Wer kann die Tore seines Rachens auftun? Um seine Zähne herum herrscht Schrecken. Stolz stehen sie so wie Reihen von Schilden, geschlossen und eng aneinandergefügt. Einer reiht sich an den andern, dass nicht ein Lufthauch hindurchgeht. Es haftet einer am andern, sie schließen sich zusammen und lassen sich nicht trennen. Sein Niesen lässt Licht aufleuchten; seine Augen sind wie die Wimpern der Morgenröte. Aus seinem Rachen fahren Fackeln, und feurige Funken schießen heraus. Aus seinen Nüstern fährt Rauch wie von einem siedenden Kessel und Binsenfeuer. Sein Odem ist wie lichte Lohe und aus seinem Rachen schlagen Flammen. Auf seinem Nacken wohnt die Stärke, und vor ihm her tanzt die Angst. Die Wampen seines Fleisches haften an ihm, fest angegossen, ohne sich zu bewegen. Sein Herz ist so hart wie ein Stein und so fest wie der untere Mühlstein. Wenn er sich erhebt, so entsetzen sich die Starken, und vor Schrecken wissen sie nicht aus noch ein. Trifft man ihn mit dem Schwert, so richtet es nichts aus, auch nicht Spieß, Geschoß und Speer. Er achtet Eisen wie Stroh und Erz wie faules Holz. Kein Pfeil wird ihn verjagen; die Schleudersteine sind ihm wie Spreu. Die Keule achtet er wie einen Strohhalm; er spottet der sausenden Lanze. Unter seinem Bauch sind scharfe Spitzen; er fährt wie ein Drehschlitten über den Schlamm. Er macht, dass die Tiefe brodelt wie ein Topf, und rührt das Meer um, wie man eine Salbe mischt. Er lässt hinter sich eine leuchtende Bahn; man denkt, die Flut sei Silberhaar. Auf Erden ist nicht seinesgleichen; er ist ein Geschöpf ohne Furcht. Er sieht allem ins Auge, was hoch ist; er ist König über alle stolzen Tiere.“

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worden sind, dass er durch den dadurch erzeugten Schrecken in die Lage versetzt wird, den Willen aller auf den innerstaatlichen Frieden und auf gegenseitige Hilfe gegen auswärtige Feinde hinzulenken.“16

Hier ist vor allem die Zweiteilung des Aufgabenbereichs des Leviathan zwischen „innerstaatlichem Frieden“ und „Hilfe gegen auswärtige Feinde“ interessant: In der übermäßigen Tendenz des Werkes, aus der Innenperspektive den Zweck des Leviathan zu betonen, wird hier der zu organisierende Schutz nach außen zu einer zweiten Hauptaufgabe des Leviathan. Am Ende von Kap. 28 begründet Hobbes letztmalig seine Wahl mit Verweis auf den Bibeltext: „Bisher habe ich die Natur des Menschen, der von seinem Stolz und seinen anderen Leidenschaften dazu getrieben wurde, sich einer Regierung zu unterwerfen, im Zusammenhang mit der großen Gewalt seines Herrschers besprochen, den ich mit dem Leviathan verglichen habe. Dabei entnahm ich diesen Vergleich den beiden letzten Versen des einundvierzigsten Kapitels des Buches Hiob, worin Gott, nachdem er die große Gewalt des Leviathans beschrieben hatte, ihn den König der Stolzen nennt. Auf Erden, sagt er, ist seinesgleichen niemand; er ist gemacht, ohne Furcht zu sein. Er verachtet alles, was hoch ist, er ist ein König über alle Kinder des Stolzes.“17

Die Furcht und der Stolz – nach Kap. 6 die Vorstellung eigener und fremder Fähigkeiten und Mächte – treibt die Menschen nach Hobbes dazu sich zu vereinen und sich einem Staat zu unterwerfen18. Ist diese Eigenschaft ursprünglich dem Naturzustand eigentümlich, so ist sie gleichzeitig Grund für die Bildung des Staates. Insofern hat es durchaus Sinn, dass Hobbes diese Formulierung aus Hiob 41,26 auf sein System bezieht, wenngleich die Titelwahl nun noch mehr verwirrt. Der Überblick über die drei Textpassagen, in denen Hobbes den Leviathan namentlich benennt, fällt nüchtern betrachtet in Bezug auf die Titelwahl kaum weniger dürftig aus, als die bislang bekannten Deutungen des Kupfers. Lediglich im letzten Zitat geht er direkt auf den Bibeltext ein, in dem er seinen Staat im Rückgriff auf die Untertanen mit dem biblischen Leviathan als „König der Stolzen“ vergleicht. Ansonsten werden die Künstlichkeit, die Körperlichkeit und die Unwiderstehlichkeit des Staates betont. Stimmen zwar die Bezüge zum Text und Titelblatt überein, so ergibt sich immer noch kein plausibles Motiv, warum der Leviathan als Bild für den Staat gewählt wurde – andere Bilder hätten dies ebenso gut ausdrücken können. Betrachtet man zudem den religionsgeschichtlichen Kontext und vor allem die möglichen negativen Assoziationen durch die christliche Tradition, die mit diesem Unge16 17 18

Hobbes 1996, S. 134. Hobbes 1996, S. 244. Hobbes 1996, Kapitel 13 ff.

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heuer verbunden sind, dann fragt man sich, wie Hobbes seinen rationalistischen Entwurf so stark negativ belasten konnte. Bleibt also nur noch, in diesem Kontext selbst nach Spuren zu suchen, die die Titelwahl plausibler erscheinen lassen könnten. I. Altorientalischer und alttestamentlicher Befund19 Im Alten Testament gibt es eine ganze Reihe von möglichen Verweisen20 auf den Leviathan, bzw. auf solche Figuren, die innerhalb der Rezeption ihm zugeordnet wurden. Alle diese Stellen dienen generell zur Illustration von Gottes Macht: Er ist einer der größten seiner Geschöpfe (Genesis 1,21)21, er hat ihn einerseits am Anfang der Welt besiegt (Psalm 74,13 f.), andererseits wird er ihn an deren Ende töten (Jesaja 27,1). Er ist sein Spielzeug (Psalm 104,26), für den Menschen jedoch ist er bedrohlich (Hiob 3,8) und unbezwingbar (Hiob 40 und 41). So wird der Leviathan vage als ein großes Meeresungeheuer neben Behemoth, Rahab, Tannin und anderen vorgestellt. Diese relative Unbestimmtheit des Leviathan und der Anderen scheint auf Adaptionen älterer Mythen im Text des Alten Testaments hinzuweisen, auf die an dieser Stelle exemplarisch eingegangen werden soll.

Abbildung 2: Zwei Götter kämpfen mit einem siebenköpfigen Drachen. Rollsiegel von Tell Asmar, Akkad-Zeit, aus: Pritchard 1954, Nr. 691

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Aus nahe liegenden Gründen wird es sich nicht verhindern lassen, Argumentationsstränge zu verfolgen, die auch anderswo (vgl. exemplarisch Schmitt 1982) schon aufgenommen wurden. Trotz ähnlichen Materials wird die Deutung jedoch eine grundsätzlich andere sein. 20 Alle Verweise: Lipinski 1984; Rebiger 2002. 21 Der „Walfisch“ wird oft mit dem Leviathan in Zusammenhang gebracht (s. u.).

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Während in der einschlägigen Literatur lange Zeit der Kampf Marduks mit Tiamat aus dem babylonischen Epos Enuma Elisch22 und verwandte Motive (so z. B. auch Abb. 2) als entsprechende Parallelen herangezogen wurden23, liegen seit neueren Textfunden in Ugarit auch sprachlich näher verwandte Texte vor24: In diesen Texten wird von einem beständigen Kampf zwischen dem Wettergott Baal und dem Meeresgott Jam berichtet. Diesem Mythos lag der Gedanke zugrunde, dass die irdische Ordnung insgesamt immer wieder vom Chaos – von Jam – bedroht ist, der seinen Ort im Meer hat.25 Nach altorientalischen Vorstellungen ist die bewohnbare Erde als kleine Insel mitten in der großen chaotischen Salzwasserflut entstanden und seitdem von diesem Urmeer ringsum umgeben und ständig davon bedroht. Analog zu dieser Vorstellung gliedert sich die Erde in konzentrischen Kreisen aufsteigender Zivilisationsstufen: Von der Wildnis zum besiedelten Land, von den Fremdvölkern zum Herrschaftsbereich des Großkönigs, vom Land zur Stadt. Im Zentrum der Stadt steht der Tempel, in dem sich Himmel und Erde berühren. Von diesem zentralen Kultort aus ist die Stabilität der Zivilisation und damit der ganzen Erde als gesichert gedacht. Die Herrschaft des Königs ist also Teil der kosmischen Ordnung. Er fungiert als Stellvertreter und Statthalter der herrschaftsbegründenden Gottheit und ist unmittelbar mit ihm verbunden26. Jener aber steht im vorliegenden Motiv in einem immer wiederkehrenden Kampf gegen den Meeresgott Jam und verteidigt die dem Chaos abgerungene Ordnung. In Ugarit wird bei diesem Kampf auch von den Jam zugeordneten Ungeheuern ltn und tnn gesprochen.27 So spricht an einer Stelle Mot zu Baal: „Du hast wahrlich Lotan, die flüchtige Schlange geschlagen, du hast vernichtet die gewundene Schlange, die mächtige mit sieben Köpfen [. . .].“28

Dieser Text über das Ungeheuer ltn findet einen fast wörtlichen Anklang in Jesaja 27.1 (s. u.), wo vom Leviathan gesprochen wird. Kämpfte jedoch hier der Gott Baal gegen das dem Gott Jam zugeordnete Ungeheuer Lotan, so ändert sich dieses Verhältnis erheblich: Im Alten Testament ist der Kampf des Leviathan keine wirkliche Infragestellung Gottes mehr. Im Gegenteil: In der jüdischen Rezeption lässt Gott die Ungeheuer zum Teil gegeneinander kämpfen. Sie repräsentieren so weiterhin zerstörerische Kräfte, andererseits sind sie aber Gott untergeordnet. 22 23 24 25 26 27 28

Übersetzt in: Texte aus der Umwelt des Alten Testaments III, 565–602. Gunkel 1895, S. 16–170. Vgl. auch dessen Rezeption durch Schmitt. Kaiser 1962, S. 54–77. Vgl. Bauks 2001. Vgl. etwa: Assmann 1992, S. 50 f. und Bauks 2001, S. 438. Kaiser 1962, S. 74–76; Jirku 1966, S. 28–33. Übersetzung nach TUAT III, 1174.

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Abbildung 3: Das Niederstechen von Nilpferd und Krokodil durch den König symmetrisch nebeneinandergestellt, aus: Keel 1978, S. 153

Die vom Textbefund in die Hobbes explizit Bezug Motivs vergleichbar. Dort die Herrschaft des Königs werden müssen29.

Hiob 40 und 41 beschriebenen Ungeheuer, auf nimmt, sind eher mit ägyptischen Varianten des sind es allegorisch Krokodil und Nilpferd, die bedrohen und deshalb unter Kontrolle gehalten

Kontrovers wurde daher seit langem diskutiert, ob mit den Namen Behemoth und Leviathan nicht einfach die Tiere Nilpferd und Krokodil beschrieben werden oder ob es sich auch hier um mythische Ungeheuer handelt, die Wasser und Land repräsentieren30. Für unseren Zusammenhang ist es durchaus interessant, dass in dieser älteren Metaphorik des Kampfes Land gegen Wasser auch in der Bibel Völker, die gegen Zion/Jerusalem anstürmen, wie eine Wasserflut beschrieben werden:31 „Ha, ein Brausen vieler Völker, wie das Meer brausen sie, und ein Getümmel mächtiger Nationen, wie große Wasser tosen sie! Ja, wie große Wasser werden 29

Vgl. Gunkel 1895, S. 65–67, Kaiser 1962, S. 151 und Keel 1978, S. 131–154. Vgl. etwa Groß 1990, S. 138–144, der die Bezeichnungen mit Nilpferd und Krokodil übersetzt und dennoch einen metaphorischen Hinweis auf Schöpfung bzw. Chaoskampf darin sieht. 31 Vgl. Bauks 2001, S. 448 f., Janowski 2001, S. 12. 30

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die Nationen tosen. Aber er wird sie schelten, da werden sie in die Ferne fliehen und werden gejagt wie Spreu auf den Bergen vom Winde und wie wirbelnde Blätter vom Ungewitter.“ (Jesaja 17,12–13)

Auch hier wiederholt sich der Kampf der Naturgewalten als Bild für die äußere Bedrohung des ausgewählten Volkes. Die Völkerwelt wird als bedrohliches, unbekanntes Chaos wahrgenommen, dessen ungestüme Massen von Gott wie von einem Herbststurm weggeblasen werden. Auch der Leviathan und der Behemoth könnten in diesem Kontext gedeutet werden. In den beiden Kapiteln Hiob 40 und 41 – auf die sich Hobbes ausdrücklich bezieht – antwortet Gott auf Hiobs verzweifelte Anklage, die Ungerechten nicht gestraft zu haben. Behemoth und Leviathan werden nun stellvertretend für die Hochmütigen und Gottlosen herangeführt, um Hiobs eigene Ohnmacht vor Augen zu führen. „Siehe da den Behemoth, den ich geschaffen habe wie auch dich! Er frißt Gras wie ein Rind. Siehe, welch eine Kraft ist in seinen Lenden und welch eine Stärke in den Muskeln seines Bauchs! Sein Schwanz streckt sich wie eine Zeder; die Sehnen seiner Schenkel sind dicht geflochten. Seine Knochen sind wie eherne Röhren, seine Gebeine wie eiserne Stäbe. Er ist das erste der Werke Gottes; der ihn gemacht hat, gab ihm sein Schwert. Die Berge tragen Futter für ihn, und alle wilden Tiere spielen dort. Er liegt unter Lotosbüschen, im Rohr und im Schlamm verborgen. Lotosbüsche bedecken ihn mit Schatten, und die Bachweiden umgeben ihn. Siehe, der Strom schwillt gewaltig an: er dünkt sich sicher, auch wenn ihm der Jordan ins Maul dringt. Kann man ihn fangen Auge in Auge und ihm einen Strick durch seine Nase ziehen? Kannst du den Leviathan fangen mit der Angel und seine Zunge mit einer Fangschnur fassen? Kannst du ihm ein Binsenseil an die Nase legen und mit einem Haken ihm die Backen durchbohren? Meinst du, er wird dich lang um Gnade bitten oder dir süße Worte geben? Meinst du, er wird einen Bund mit dir schließen, daß du ihn für immer zum Knecht bekommst? Kannst du mit ihm spielen wie mit einem Vogel oder ihn für deine Mädchen anbinden? Meinst du, die Zunftgenossen werden um ihn feilschen und die Händler ihn verteilen? Kannst du mit Spießen spicken seine Haut und mit Fischerhaken seinen Kopf? Lege deine Hand an ihn! An den Kampf wirst du denken und es nicht wieder tun!32“

Leviathan und Behemoth stehen also hier einerseits für die gottlosen Ungerechten, für andere Völker neben dem auserwählten. Andererseits führen sie dem Menschen vor Augen, dass es Wesen als Geschöpfe Gottes gibt, die dem Menschen weit überlegen sind. „Non est potestas Super Terram quae comparetur ei.“ – Auf Erd gibt’s seinesgleichen Niemand. Gott also 32 Vgl. auch Fn. 16. Der dort zitierte Bibeltext schließt an den hier erwähnten nach der folgenden Passage an: „Siehe jede Hoffnung wird an ihm zuschanden; schon wenn einer ihn sieht, stürzt er zu Boden. Niemand ist so kühn, dass er ihn zu reizen wagt. – Wer ist denn, der vor mir bestehen könnte? Wer kann mir entgegentreten und ich lasse ihn unversehrt? Unter dem ganzen Himmel ist keiner.“

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argumentiert mit seiner doppelten Überlegenheit: Hiob ist weder in der Lage über Gott zu richten („Willst du mein Urteil zunichte machen und mich schuldig sprechen, dass du recht behältst?“ Hiob 40,8), noch hat er die Macht selbst, für die verlangte Gerechtigkeit zu sorgen und die Frevler zu strafen („Ja, schau alle Hochmütigen an und beuge sie und zertritt die Gottlosen in Grund und Boden!“ Hiob 40,12). Ausdrücklich wird auch bestritten, dass man mit dem Leviathan einen Bund schließen kann (Hiob 40, 28). Das entspricht genau der Argumentation von Hobbes, dass die Untertanen den Vertrag untereinander, nicht aber mit dem Souverän schließen. Im Bibeltext werden also beide Ungeheurer eingeführt, um Hiobs Glauben an Gott zu prüfen: In der Einsicht der Unterlegenheit und Unabwendbarkeit von Übeln gewaltigen Ausmaßes. Diese zweite argumentative Funktion der Tiere liegt im Bibeltext der Bezeichnung sterblicher Gott am nächsten. Einzig Gott allein ist in der Lage, diese Ungeheuer zu bezwingen33. Eine Entsprechung zu Hiob 40 in diesem Kontext scheint in Hesekiel 29, 3–6 vorzuliegen: „So spricht der Herr: Siehe ich will an dich, Pharao, du König von Ägypten, du großer Drache, der du in deinem Strom liegst und sprichst: ‚Der Strom ist mein, und ich habe ihn mir gemacht‘ Aber ich will dir einen Haken ins Maul legen und die Fische in deinem Strom an deine Schuppen hängen und will dich aus deinem Strom herausziehen [. . .] Ich will dich und alle deine Fische aus dem Strom in die Wüste werfen; du wirst aufs Land fallen und nicht wieder aufgelesen und gesammelt werden, sondern ich gebe dich den Tieren auf dem Land und den Vögeln des Himmels zum Fraß. Und alle die in Ägypten wohnen, sollen erfahren, dass ich der HERR bin“

Nur durch Gott kann der Kampf entschieden werden: Den Tieren auf dem Land ist der Drache des Wassers ausgeliefert.34 Im Wesentlichen verschwimmen aber die konkreten Bezeichnungen der Ungeheuer im alten Testament und sind nicht mehr klar voneinander zu trennen: Als Beispiele seien der den Jam/Baal-Mythos scheinbar reproduzierende Vers Jesaja 27,1 erwähnt „Zu der Zeit wird der Herr heimsuchen mit seinem harten, großen und starken Schwert den Leviathan, die flüchtige Schlange, und den Leviathan, die gewundene Schlange, und wird den Drachen (tannin) im Meer töten.“ und der Psalm 74,13 „Du hast das Meer gespalten durch deine Kraft, zerschmettert die Köpfe der Drachen (tanninim) im Meer. Du hast dem Leviathan die Köpfe zerschlagen und ihn zum Fraß gegeben dem wilden Getier.“ Die Begriffe Schlange und Drache lassen sich also nur schlecht auf bestimmte Formen eines Ungeheuers (mit oder ohne Beine bzw. Flügel) zurückführen. Auch der griechische 33 34

Vgl. Delitzsch 1879, S. 297. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Hesekiel 32,2-8.

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Ausdruck drakon, auf den unser Drache zurückgeht, wurde oft synonym zu Schlange verwendet. Ein letzter Bezug – mit Blick auf den menschengestaltigen Leviathan von Hobbes und die einhergehende Identifizierung von Völkern oder Reichen – findet sich in Daniel 7. Dort steigen nacheinander vier Ungeheuer aus dem Meer, die vier aufeinanderfolgende Weltreiche darstellen. Diese Meeresungeheuer werden dann in Daniel 7,13f. von einem vom Himmel steigenden Menschengestaltigen abgelöst, dem von Gott die ewige Herrschaft übergeben wird. Diese Vision korrespondiert mit Daniel 2, wo Nebukadnezar eine große menschengestaltige Statue gesehen hat, deren verschiedene Teile auf die vier Reiche gedeutet werden. Das Chaoskampfmotiv der altorientalischen Texte ist offensichtlich der Hintergrund, vor dem die biblische Verwendung des Bildes verstanden werden muss. Die alttestamentlichen Texte setzen jedoch deutlich einen eigenen Akzent: Der Monotheismus lässt durch die Allmacht Gottes die Ungeheuer gebändigt erscheinen. Sie dienen lediglich zur Illustration der Größe Gottes, eine ernsthafte Bedrohung stellen sie für ihn nicht mehr dar.35 In dem Moment, wo auch ehemalige Götter wie Sonne, Mond und Sterne lediglich als Geschöpfe Gottes beschrieben werden (Genesis 1,15 f.), zeugen Drachen, Krokodile, Schlangen oder Wale zwar von der unbegreiflichen Macht Gottes, aber eben in dem Verständnis, dass sie seine Geschöpfe sind. Daher sind sie im biblischen Bedeutungskontext auch nicht mehr klar voneinander zu trennen. Die Namen changieren und werden oft synonym gebraucht. Wesentlich ist allerdings, dass sie nicht mehr gegen den einen Gott kämpfen – wie es etwa noch bei Lotan gegen Baal und anderswo der Fall war, sondern Gewalten sind, die sowohl eine natürliche als auch eine fremde Bedrohung darstellen können, und sei es, um das ausgewählte Volk durch Gott zu prüfen. Der im hebräischen Wortlaut liwya¯ta¯n (d.i. „Walfisch“) bis heute überdauerte Begriff bewahrt jedoch eine eigentümliche Konnotierung: Oft wird der Leviathan – möglicherweise in Anlehnung an den ägyptischen Urobus – als sich kreisförmig krümmender Fisch dargestellt (siehe Abb. 4). Daneben findet sich schon in der apokryphen Literatur um die Zeitenwende die parallele Vorstellung, dass Gott aus den Leibern von Leviathan und Behemoth ein messianisches Festmahl für die Frommen bereitet (2 Baruch-Apokalypse 29,4): „Und offenbaren wird sich der Behemoth aus seinem Land, und der Leviathan wird emporsteigen aus dem Meer; und die beiden gewaltigen Seeungeheuer, die ich am fünften Tag des Schöpfungswerkes geschaffen und bis auf jene Zeit aufbehalten habe, werden alsdann zur Speise für alle die sein, welche übrig sind.“ 35

Vgl. Lipinski 1984, S. 526 f. und Bauks 2001, S. 435.

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Abbildung 4: Leviathan als großer gewundener Fisch (Nordfrankreich, spätes 13. Jh., aus: Gutmann 1968, S. 223)

Im Wesentlichen bleiben die Gestalten im Judentum lebendiger, da sie nicht – wie im Christentum praktiziert – mit einer Teufelsgestalt gleichgestellt und damit immer auch reduziert wurden. II. Die christliche Rezeption Die christliche Rezeption ist von übersetzten Texten geprägt. Teils werden die Bezeichnungen der Ungeheuer als Namen stehengelassen, teils werden sie übersetzt (Walfisch, Drache, Ungeheuer). Der Leviathan wird als Fisch, Schlange oder Drache dargestellt36. Ikonographisch ist die Identifikation von Drache und Paradiesschlange mit dem Satan folgenreich geworden37. Sie findet sich im Neuen Testament in Offenbarung 12, 3 und 7–9: „Und es erschien ein anderes Zeichen am Himmel, und siehe, ein großer, roter Drache, der hatte sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Häuptern sie36 37

Lucchesi/Palli 1971, S. 93 f. Vgl. Kiessling 1970.

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Abbildung 5: Paradiesschlange, die aus dem Drachen häutet (Albani-Psalter Hildesheim um 1130, Sündenfall, aus: Knapp 1999, S. 93)

ben Kronen, und sein Schwanz fegte den dritten Teil der Sterne des Himmels hinweg und warf sie auf die Erde. [. . .] Und es erhob sich ein Streit im Himmel: Michael und seine Engel stritten wider den Drachen. Und der Drache stritt und seine Engel und siegten nicht, auch ward ihre Stätte nicht mehr gefunden im Himmel. Und es ward gestürzt der große Drache, die alte Schlange, die da heißt Teufel und Satan, der die ganze Welt verführt. Er ward geworfen auf die Erde, und seine Engel wurden mit ihm dahin geworfen.“

Auffällig sind die Adaptionen aus dem Alten Testament: „Der große Drache, die alte Schlange“ ist eine Aufnahme einer der schon oben zitierten Formulierungen aus Jesaja 27,1 „Leviathan, die gewundene Schlange“. „Die alte Schlange“ verweist jedoch schon auf die Verführung durch die Schlange im Paradies und illustriert recht gut die Ununterschiedenheit der verschiedenen Ungeheuer im christlichen Kontext.

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Abbildung 6: Paradiesschlange aus dem Halberstädter Dom, die hier zum „Fürsten der Welt“ wird (Eigenaufnahme m. frd. Genehmigung der Domverwaltung Halberstadt)

Wenn jedoch im christlichen Kontext der Leviathan zum Drachen und von dort aus als Schlange mit dem Teufel gleichgesetzt wird, verwundert die Hobbessche Titelwahl zunächst umso mehr. Das Beispiel aus Halberstadt (siehe Abb. 6) – die bekrönte Schlange – zeigt jedoch, dass unter dem Eindruck der Differenzierung zwischen civitas dei und civitas terrena letztere auch als civitas diaboli gedeutet wird. Augustinus hatte die irdische Herrschaft als dem Teufel verwandte Macht wirkungsmächtig im Gottesstaat38 beschrieben und durch diese Radikalisierung die Bedrohung in gewisser Weise auch wieder relativiert. Gerade im Zusammenhang mit dem Sündenfall geht er darauf ein: „Seinen guten Grund also hat es, wenn hienieden im Gottesstaat und den Angehörigen des in der Welt pilgernden Gottesstaates in erster Linie die Demut ans Herz gelegt und an dem König dieses Staates, an Christus, sie in erster Linie gefeiert wird, während das dieser Tugend entgegengesetzte Laster, die Selbsterhebung, immer wieder als der Hauptfehl seines Widersachers, des Teufels, in der Heiligen Schrift hervorgehoben wird. Hierin liegt in der Tat der große Unterschied, der die beiden Staaten, die wir meinen, voneinander scheidet, die Genossenschaft der frommen Menschen und die der gottlosen, jede mit den zugehörigen Engeln, in denen zuerst in die Erscheinung trat hier die Liebe zu Gott, dort die Liebe zu sich selbst.“

Für Hobbes, für den der Stolz eine wichtige Triebkraft zur Bildung der Staaten darstellte (siehe oben), ein möglicher Anknüpfungspunkt? Trotz der weitergehenden Verwischung der ursprünglich möglicherweise getrennten 38

Augustin 1911, S. 331.

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Abbildung 7: Der Leviathan wird gefangen und aufgeschnitten, um die Seelen der Verschlungenen zu retten (Fresko des Kreuzgangs im Dom zu Brixen um 1400, vgl. Lucchesi Palli 1971)

Ungeheuer verschiedener Mythen bleibt neben der allgemeinen Identifizierung mit dem Teufel auch im christlichen Kontext die Deutung der Seeungeheuer auf die Völker bestehen: So schreibt zum Beispiel Luther zu Psalm 74,14 f. folgende Randnotiz39: (Drachen) Tyrannen, als Pharao und seine Fürsten. Also auch die Walfische.

Der Walfisch erhält jedoch als ein weiteres, altes (vgl. Genesis 1,21) und neues Tier in der christlich-ikonographischen Tradition eine besondere Ausprägung, indem er zur Darstellung der Hölle in zweierlei Art diente: Von einer neutestamentlichen Deutung von Jona auf Christus her rührt die eine Identifizierung des Walfischs mit der Hölle: In Matthäus 12,40 weissagt Jesus über seinen Tod und Auferstehung: „Denn wie Jona drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches war, so wird der Menschensohn drei Tage und drei Nächte im Schoß der Erde sein.“ Die Szenen, wie Jesus aus dem Grab steigt und wie Jona vom Fisch an Land gespuckt wird, sind deshalb in mittelalterlichen Bilderzyklen oft nebeneinandergestellt. Diese Konstellation scheint sich im anderen Zweig insofern verselbständigt zu haben, dass nun der Eingang zur Hölle oft als Meeresungeheuer mit aufgerissenem Maul dargestellt wird.40 Wir kommen damit zum letzten Bild, welches uns Aufschluss auf Hobbes’ Motivation gegeben haben mag. 39

Luther 1956 zu Ps. 74, 14, S. 341. Dafür Sachs, Badstuebner, Neumann 1988, S. 320; dagegen: Lucchesi Palli 1971, S. 75. 40

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Abbildung 8: Teufel und Menschen füllen den Höllenschlund aus. (Möglicherweise spielt diese Darstellung daneben auf die Überlieferung an, Gott würde den Leviathan mit einer Angel fangen, deren Haken das Kreuz mit Christus als Köder ist.) (Albani-Psalter Hildesheim um 1130, Höllenfahrt Christi, aus: Knapp 1999, S. 106)

In manchen Abbildungen ist dieser Höllenschlund vollgestopft mit den dem Gericht Verfallenen,41 so dass sie die Hölle auch flächig ausfüllen (siehe Abb. 8). Darin liegt ein wichtiger Vergleichspunkt zwischen Höllendarstellungen und dem Titelbild des Hobbeschen Leviathan. Wenn diese Deutung korrekt ist, dann müssen bildliche Analogien mit positiverem Hintergrund, wie sie von Bredekamp und anderen angeführt wurden, zur Skepsis mahnen. Analogien wie die Schutzmantelmetaphorik gehen allein von Ähnlichkeiten bildlicher Darstellungen von Herrschaft aus, 41

Vgl. Sachs/Badstuebner/Neumann 1988, S. 139.

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sie beziehen aber Hobbes’ Argumentationen im Text des Leviathan nicht wirklich mit ein und widersprechen ihr teils sogar42: Breitet die Madonna ihren schützenden Mantel über das mittelalterliche Gemeinwesen aus, so werden dabei häufig Stände und Hierarchien mit abgebildet. In der vorgeschlagenen Höllenschlundmetaphorik ist dies lediglich, soweit wir sehen, zur Diffamierung des politischen Gegners während der Reformation der Fall. Ansonsten begegnen wir den Sündern oft nackt – ein Zeichen ihrer Gleichheit vor dem Teufel und vor Gott. Treten bei Hobbes die Freien und Gleichen aus dem Naturzustand in den Staatszustand über, wäre in der konkreten Darstellung als auch in der Vorstellungswelt des biblischen Leviathan eine Analogie zum Höllenschlund offenkundiger43. III. Schluss Neben den drei Textstellen im Leviathan des Hobbes, die direkt auf das biblische Ungeheuer des Titels eingehen, deutet nichts darauf hin, dass Hobbes den Behemoth als Naturzustand oder Bürgerkrieg dem Leviathan entgegenstellt. Auch in der historisch-ikonographischen Geschichte der Ungeheuer Leviathan und Behemoth gibt es kaum einen schlüssigen Ansatz für diese These. Zwar finden wir in Bezug auf den Leviathan Erklärungen über den Fürst dieser Welt und Anregungen wie die Höllenschlundmetaphorik, aber keinen Hinweis darauf, dass der Leviathan (staatliche) Ordnung und der Behemoth (natürliches) Chaos44 repräsentieren. Hobbes waren selbstverständlich die altorientalischen Texte, die wir herangezogen haben, unbekannt. Er wird in erster Linie den Bibeltext für sich gelesen haben.45 Dennoch kann man davon ausgehen, dass ihm auch die neutestamentlich-christliche und jüdische Weiterentwicklung und Bewahrung der Motive bewusst gewesen sein muss, die die Deutung der Ungeheuer als Völker zuließ. Aus diesem Material lässt sich ein Kampf unter 42

Vgl. Bredekamp 1999, S. 81–82. So schreibt selbst Bredekamp 1999, S 76: „So wurde der alttestamentliche Leviathan in einer Bibel-Annotation der Westminster Assembly von 1645 als ‚not a single creature, but a coupling of divers together‘ imaginiert.“ Ein Befund, der sich mit unseren Untersuchungen durchaus decken könnte. Bredekamp argumentiert jedoch jenseits der offenkundigen Linie Leviathan – Walfisch – Jonas – Hölle: „Diese Vorstellung lehnte sich aber an dämonische Mischwesen an, und an keiner Stelle war daran gedacht, dass Teile des Leviathans aus den Einzelelementen zahlloser Menschen gebildet sein könnten.“ – Eine Interpretation, die fraglich erscheint. Der Leviathan ist zwar immer ein Mischwesen, wird aber eben auch mit der Hölle in Verbindung gebracht (s. o.). 44 Vgl. nochmals dazu: Schmitt 1982, S. 34–35. 45 Charakterisierung von Hobbes als rationalistischer Bibelkritiker bei Reventlow 1980; ders. 2001. 43

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Ungeheuern nachzeichnen, dessen Ausgang einzig von Gott abhängt. Die Ausschließlichkeit von Natur- und Staatszustand können diese zwar auch verdeutlichen, den Übergang von einem zum anderen aber nur schlecht erklären. Daher ist gerade durch die beschriebene gleiche Qualität der Ungeheuer, ihres immerwährenden unentschiedenen Kampfes und durch die Verbindung dieser mit fremden bzw. anderen Völkern untereinander eine neue Deutung vorzuschlagen: Der Behemoth ist stellvertretendes Symbol eines jeden anderen der Leviathane, genauso mächtig, genauso stark und mit dem gleichen Anspruch auf alles. „Behemoth against Leviathan“46: In einem immerwährenden Kampf muss er sich seinen Nachbarn gegenüber behaupten – jeder Verzicht käme einer Niederlage gleich. So bleiben Leviathan und Behemoth die menschengeschaffenen Ungeheuer, die immer unentschieden gegeneinander um ihre Existenz kämpfen. Dass Hobbes dies auch auf seine politische Theorie bezog, wird im Schreiben gegen Bramhall offenbar (vgl. Fn. 10). Hobbes unterlässt es, den Behemoth ausdrücklich zu nennen, um nicht den Eindruck des nur einen Gegenspielers zu provozieren. Die Außenbeziehungen des Staates (seiner Theorie und letztlich seiner Selbst) hat Hobbes aber gleichwohl beschrieben: Die Staaten befinden sich wie einzelne Freie und Gleiche im Naturzustand zueinander – ein Grund mehr, warum der Behemoth selbst nicht dieser Zustand sein kann. Denn wenn die Leviathane untereinander doch im Schlund und Bauch des Behemoth wären, dann hätte Behemoth, entgegen der traditionellen Metaphorik, plötzlich gesiegt47. Literatur Assmann, Jan, Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel, hg. v. Heinrich Meier, Bonn 1992 (zitiert: Assmann 1992). Augustin, Des Heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte Schriften, Band I, hg. v. Johannes Nepomuk Espenberger, Kempten/München 1911 (zitiert: Augustin 1911). Bauks, Michaela, „Chaos“ als Metapher für die Gefährdung der Weltordnung, in: Bernd Janowski/Beate Ego (Hg.): Das biblische Weltbild und seine altorientalischen Kontexte, Tübingen 2001, S. 431–464 (zitiert: Bauks 2001). 46

Vgl. Fn. 10. Die Vertreter der Realismustheorie der Internationalen Beziehungen haben sich auf dieses Außenverhältnis bei Hobbes besonders bezogen. Man kann daher zu Recht Hobbes nicht nur als Begründer des modernen Staats, sondern gerade im Rückgriff auf die Verwendung von Leviathan und Behemoth im Leviathan auch als einen wichtigen Vorläufer der Internationalen Beziehungen im neuzeitlichen Sinne betrachten (Vgl. Harald Kleinschmidt 1999). 47

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Aicke Bittner und Johannes Thon

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Giambattista Vicos Gemeinsinn als Vermittler zwischen Universalismus und kultureller Differenz Matthias Kaufmann Es gehört, in den letzten Jahrzehnten wieder verstärkt zu den Gepflogenheiten zahlreicher Intellektueller aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, aber auch aus Literatur und Feuilleton, „dem Liberalismus“ vorzuwerfen, er sei „differenzblind“.1 Der Liberalismus könne in seinem unterschiedslosen Universalismus die individuellen und gruppenspezifischen Besonderheiten der von seinen deskriptiven Analysen und normativen Urteilen Betroffenen nicht in der angemessenen Weise berücksichtigen. Dadurch, dass man relevante Unterschiede in den Lebensbedingungen und in den Wertesystemen der Menschen ignoriere, mutiere die vermeintlich gerechte liberale Gleichbehandlung aller Betroffenen zur manifesten Ungerechtigkeit. So wurde etwa von Feministinnen geltend gemacht, die vom Liberalismus garantierte Privatheit der Familie schütze in Wahrheit die althergebrachten familieninternen Hierarchien. Bereits die Bevorzugung der Gerechtigkeit als wichtigstes Kriterium moralischer Einschätzung sei ein Resultat männlicher Dominanz, da Frauen Werten wie Zuwendung und Fürsorge größere Bedeutung einräumten. Ein weiterer Schwerpunkt, der mitunter mit dem eben genannten kollidiert, ist die Forderung nach Berücksichtigung gruppenspezifischer, insbesondere kultureller, religiöser und nationaler Besonderheiten.2 Durch ungenügende Beachtung der religiösen Überzeugungen und der kulturellen Differenzen, etwa im Hinblick auf Rationalitätskonzeptionen, wandle sich der angeblich gerechte Universalismus in eine Bevorzugung der Majoritätskultur in der nördlichen Hemisphäre, wenn nicht in einen eurozentrischen Imperialismus. Da wir nicht ohne weiteres bereit sind, zugunsten regionaler Moralkodizes auf zentrale Bestandteile der universalistischen Moralität zu verzichten – Gegenstand der Kontroverse sind für gewöhnlich die Rechte der Frauen und Kinder –, scheinen wir in eine Dilemmasituation zu geraten. Verschiedene vorgeschlagene Auswegstrategien wurden ihrerseits kritisch beurteilt.3 1 2

Vgl. etwa Taylor 1997, S. 31. Vgl. Comaroff 2004.

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Mitunter ist in derartigen Situationen ein Blick auf historische Texte hilfreich, die sich – häufig aus ganz anderen Motiven – mit vergleichbaren theoretischen Fragen befassen. Nun kann uns die Auseinandersetzung mit Texten der Philosophie- und Ideengeschichte gewiss keine vorgefertigten Antworten auf aktuelle Problemlagen bieten. Dazu sind die Texte der entsprechenden Autoren zu stark von den Fragestellungen ihrer Zeit bestimmt und im Vergleich zur heutigen Situation häufig unterkomplex. Dennoch kann gerade die Analyse derartiger Texte und der strukturellen Ähnlichkeiten und Unterschiede in den diskutierten Fragestellungen fruchtbare Anstöße für die Gegenwartsdiskussion liefern. Einer der ersten Autoren, denen man – inmitten des rationalistischen achtzehnten Jahrhunderts – einen wachen Sinn für kulturelle Differenzen, für den eigenständigen Wert mythischer Darstellungen und Überlieferungen, aber auch für historische Transformationen von Gesellschaften in Richtung größerer Humanität attestiert, ist der neapolitanische Philosoph Giambattista Vico (1669–1744). Vico versucht, durch das Oxymoron der „ewigen idealen Geschichte“ seinen Weg zwischen den allgemeinen idealen Prinzipien ewiger Wahrheiten und den konkret beobachtbaren, historisch bedingten sozialen Strukturen, anhand derer wir allenfalls so etwas wie Gewissheiten über den Plan der Vorsehung ermitteln können, zu charakterisieren. Eine besondere Bedeutung für die Vermittlung zwischen allgemeingültigen Prinzipien und dem historisch Kontingenten spielt dabei der Begriff des Gemeinsinns, des sensus communis. Ich werde zu zeigen versuchen, dass dieses Konzept durchaus für die heutige Debatte interessante Aspekte enthält. Zunächst bedarf es allerdings zumindest eines überblicksförmigen Einstiegs in Vicos eigenwillige Gedankenwelt. I. Die „ewige ideale Geschichte“, die Vorsehung und die Erkenntnismethoden Laut Giambattista Vico gibt es einen in etwa festgelegten Entwicklungsplan, dem sämtliche Völker im Verlauf ihrer je eigenen Geschichte folgen. Durch diese „ewige ideale Geschichte“, nach der die „Geschichte aller Völker in der Zeit abläuft“ (7),4 gibt die Vorsehung gewissermaßen einen Rahmen vor, dem sich die je eigene Geschichte eines Volkes anpasst, der jedoch auch Raum lässt für ein erhebliches Maß an kulturellen Besonderhei3 Vgl. z. B. Shachar 2001 mit dem Vorschlag der „joint governance“, kritisch dazu Benhabib 2002, S. 122 ff. 4 Die in Klammern angegebenen Zahlen entsprechen den Paragraphen der dritten Auflage der Scienza Nuova von 1744. Bei der Übersetzung folge ich Vittorio Hösle und Christoph Jermann in: Vico 1990.

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ten. Diese „ewige ideale Geschichte“ vollzieht sich jeweils in drei Schritten, die sämtliche Bereiche kultureller Entwicklung umfassen. Genannt werden insbesondere die Sprache, die Schriftzeichen, generell Formen der Darstellung und der Kommunikation. Für unseren Kontext ist naturgemäß die mehr oder minder parallele Entwicklung des Rechts und der sittlichen Überzeugungen besonders wichtig. In all diesen Bereichen unterscheidet Vico eine „göttliche“ von einer „heroischen“ und einer „menschlichen“ Phase. Werden in der ersten Zeit die Regelungen verschiedenster Art als unmittelbare Anordnungen der Götter gedeutet, so handelt es sich im heroischen Zeitalter um Beschlüsse und Weisungen der Gründergestalten, die minuziös befolgt werden. Menschliche Regelungen unterschiedlicher Art, von der Sprache über die Schrift zu Recht und Moral schließlich, sind die Resultate der für alle Menschen gleichen, vollständig entwickelten Vernunft. Man kann die Entwicklung des Menschengeschlechts auch als eine solche aus einer frühen, kindlichen und sehr rohen Form des Menschseins hin zur Vernunft und zur Milde beschreiben, die freilich nicht nur Vorteile mit sich bringt: „Die Natur der Völker ist zunächst roh, dann streng, darauf gütig, später zart, schließlich zügellos.“ (242) Die Entwicklungsgeschichte der Sitten und des Rechts zeichnet Vico insbesondere im vierten Buch seiner Scienza nuova, seiner Neuen Wissenschaft nach. Beides, Sitte und Recht, ist Reflex der verschiedenen menschlichen Naturen. Deren erste ist „aufgrund einer mächtigen Täuschung der Phantasie, die am kräftigsten ist in den hinsichtlich des Denkvermögens Schwächsten, eine poetische, das heißt schöpferische, es sei uns erlaubt zu sagen: eine göttliche, die den Gegenständen das Sein beseelter Substanzen von Göttern verlieh und es ihnen verlieh nach ihrer eigenen Idee. Es war dies die Natur der theologischen Dichter, welche die ältesten Weisen aller heidnischen Völker waren [. . .]“ (916). Die zweite, „heroische“ Natur wird von denen bestimmt, die sich „für Kinder Jupiters“ halten und auf diesen Heroismus ihren „natürlichen Adel“ zurückführen, da sie im Unterschied zu den Wilden um sie herum die Institutionen der Ehe und des Begräbnisses kennen und ferner, weil sie den Schwachen an ihren Altären Schutz vor den starken wilden Bestien gewährten, als welche man sich viele der ersten Menschen vorzustellen hat (917). „Die dritte war eine menschliche Natur, intelligent und deshalb bescheiden, gütig und einsichtig, eine Natur, die als ihre Gesetze das Gewissen, die Vernunft und die Pflicht anerkennt“ (918). Diesen Naturen korrespondieren dann Sitten, Recht, Regierungen, Sprache und Schriftzeichen. Es ist von äußerster Wichtigkeit, das jeweilige Recht in einem Volk der Natur der Menschen entsprechend zu halten. Zwi-

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schen den verschiedenen Naturen gibt es freilich zahlreiche Übergangsphänomene. Insbesondere die heroische Natur, das heroische Recht etc. besitzen als Ganzes typischerweise transitorischen Charakter. Auf der einen Seite gibt es noch viele Ähnlichkeiten mit der „göttlichen“ Phase eines Volkes. Diese Phase kennzeichnet Vico dadurch, dass die gewaltigen, wilden und vernunftlosen, dafür aber mit großer Emotionalität und großer Phantasie versehenen Bestien, zu denen die Menschen nach der Sintflut mutiert waren, durch Naturereignisse, insbesondere Blitzschläge verschreckt werden (377, 689). Unter diesem Eindruck ziehen sie sich mit ihren gewaltsam errungenen Frauen in Höhlen zurück, wo sie Familien gründen, zu denen auch Gruppen von Schwachen gehören, die sie vor anderen Bestien schützen und die daher ihre Knechte, famuli, werden. Der Familienvater in diesem Sinne ist dabei also Herr und zugleich Priester, da alle mit der Bedürfniserfüllung zusammenhängenden Kausalbeziehungen unmittelbar auf das Wirken von Göttern zurückgeführt werden. So sammelte Varro für die Lateiner dreißigtausend Götter, „die für ein umfangreiches Wörterbuch der Götter hinreichen mussten, so dass die Stämme Latiums all ihre menschlichen Bedürfnisse damit ausdrücken konnten, die in jenen einfachen Zeiten sehr wenige sein mussten, weil sie nur in den zum Leben notwendigen bestanden“. Ähnlich war es bei den Griechen und anderen Völkern und ist es zu Vicos Zeit bei anderen Völkern, die „aus jedem Ding, das ihr geringes Fassungsvermögen übersteigt, Götter machen“ (437). Diese enge Bindung von Sitten, Recht und Gerichtsbarkeit an den Willen der Götter erhält sich noch einige Zeit in der heroischen Epoche, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sich mehrere dieser Familienclans zu Städten und größeren politischen Einheiten zusammenschließen (950). Ebenso „wie der mächtige Lauf eines königlichen Stromes noch sehr lange im Meer sowohl die Richtung seiner Strömung als auch die Süße seines Wassers bewahrt“, blieb in der heroischen Zeit jene Denkweise bewahrt, der zufolge die „Götter all das täten, was in Wirklichkeit die Menschen taten“ (629). Die Heroen, d.h. die führenden Gestalten der Epoche nannten sich denn auch Götter oder jedenfalls Abkömmlinge von Göttern, was sie von den Sklaven und Plebejern unterschied, die sie Menschen nannten (427), die zumindest in den ersten Generationen jener Epoche noch keine Institutionen wie die Ehe kannten und denen die Zärtlichkeit für ihre Kinder fremd war, weil sie sie ohnehin als Sklaven abzugeben hatten (994). Ein weiteres Kennzeichen dieser Epoche ist der Kampf der zusammenfindenden und sich teilweise zusammenschließenden Plebejer um Rechtssicherheit, konkret um Ackergesetze und das Recht, an Auspizien teilzunehmen. Vico interpretiert den gesamten griechischen Götter- und Heldenhimmel als metaphorische Darstellungen von Landgewinnung – so die Tötung des nemeischen Löwen durch Herkules – und von Klassenkämpfen, um ein anachronisti-

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sches Wort zu benutzen, bei denen etwa Apoll als Gott des Adels und Vulkan als Plebejer gilt (647 ff.). Die paradigmatische Gestalt dieser Entwicklungs-Epoche ist für Vico Achill, „der alle Vernunft in seine Speerspitze setzt“ (923). So sind die Sitten „jähzornig und ehrsüchtig“ (920) und das natürliche Recht beruhte auf der Gewalt, „die aber bereits eingedämmt war durch die Religion, die alleine die Gewalt in Schranken halten kann, wo menschliche Gesetze nicht da sind“ oder nicht genügend Bindungskraft besitzen (923). Umgekehrt wird bei diesen, „da sie noch nicht der Vernunft fähig waren“, auch über die Vernunft der Religionen durch das Kriegsglück entschieden (ebd.) und alle Kriege sind auch Religionskriege (958). Das Modell, anhand dessen Vico einen guten Teil seiner „Beweise“ entwickelt, ist die Geschichte, insbesondere die Frühgeschichte des römischen Rechts. Die Rechtsverbindlichkeit wird in der heroischen Zeit an die buchstabengetreue Umsetzung etwa von Regeln oder auch von Eidesformeln geknüpft (939, 966 ff.). Vico nennt als Beispiele unter anderen den Schwur des Agamemnon, der ihn zwingt die geliebte Tochter zu opfern (968), aber auch die Erklärung von Kaiser Konrad III., die Frauen von Weinsberg dürften die Stadt verlassen und mitnehmen, was sie tragen könnten, der Wort hielt, als sie ihre Männer heraustrugen (972). Ein wesentlicher Weg der Rechtsfindung war in jenen frühen Zeiten, aber auch in den Phasen der nach der Antike wiedergekehrten Barbarei das Duell, weil man noch daran glaubte, Gott werde der besseren Sache zum Recht verhelfen (961 ff.). Die Strafen, die man verhängte, waren in der Zeit der Familien wie in der der Adelsrepubliken von äußerster Grausamkeit (1021). Je mehr sich die Plebejer kraft ihrer Masse in den heroischen Regimen Rechte zu erkämpfen vermögen, desto mehr entwickeln sich diese zu menschlichen Regierungs- und Rechtsformen (1006), d.h. zu freien Demokratien oder zu Monarchien, in denen das „natürliche Recht der menschlichen Völker“ zum Tragen kommt, „auf dessen Grundlage sich die Philosophen und Moraltheologen dazu erhoben, das natürliche Recht der voll entfalteten ewigen Vernunft zu begreifen“ (633). Bei den menschlichen Regierungen werden „aufgrund der Gleichheit der intelligenten Natur selbst, welche die eigentliche Natur des Menschen ist, alle einander gleich [. . .] mittels der Gesetze“ (927). Dies gilt interessanterweise sowohl für die freien Demokratien, wo „alle oder doch die Mehrzahl die rechtmäßigen Gewalten der Stadt bilden, kraft welcher [. . .] sie selbst Herren der Volksfreiheit sind, als auch in den Monarchien, in denen die Monarchen alle Untertanen durch ihre Gesetze gleich machen und sich, da sie allein alle Macht der Waffen in der Hand halten, von ihnen nur hinsichtlich ihrer politischen Natur abheben“ (ebd.).

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Die Rechtfertigung monarchischer Herrschaft erfolgt bei Vico also in Zeiten voll entwickelter Vernunft gerade nicht über das Gottesgnadentum der Herrscher, sondern durch den Verweis auf ein Gewaltmonopol, das angeblich in der Hand eines Einzelnen liegen muss, „da in den freien Republiken alle auf ihr Privatinteresse sehen, denen sie ihre öffentlichen Waffen dienstbar machen zum Verderben ihrer eigenen Völker“ (1008). Gegenüber dem „Gären in den freien Republiken“ kommen die Völker in der Monarchie „endlich zur Ruhe“ (1025). An dieser Stelle ist seine Argumentation also der eines Thomas Hobbes sehr nahe, auch in dem Punkt, dass nur die Monarchie es vermöge, „dem Recht nach die Mächtigen den Schwachen gleichzustellen“ (953). Im Vergleich zu Hobbes betont Vico allerdings ansonsten sehr viel stärker die gesellige Natur des Menschen. Wenn die Grundlagen menschlicher Herrschaft und menschlichen Rechts, dass nämlich alle gleich sind und alle an der Vernunft teilhaben, erst einmal etabliert sind, ist zwar ein Wechsel von der Demokratie zur Monarchie und umgekehrt möglich, nicht aber der Weg zurück zur Aristokratie. Dieser ist „nach der Natur des Politischen fast unmöglich [. . .] Denn die plebejischen Menschen, wenn sie erst einmal erkennen, dass sie von gleicher Natur sind wie die Adligen, ertragen es natürlicherweise nicht, diesen im Zivilrecht (civil ragione) nicht gleichgestellt zu sein“ (1087). Der Weg der Menschheit führt von den Familienmonarchien über die Adelsrepubliken und die freien Republiken zu den Monarchien der gleichen Bürger (1026). Die Rechtsprechung dieser Epoche ist milde, achtet auf die Gleichheit der Rechtsfälle und passt die Gesetze der konkreten Situation an (940). Die mentalen und sozialen Grundlagen derartiger menschlicher Regierungsarten – „Gefallen an Annehmlichkeiten, Zärtlichkeit für die Kinder, Liebe zu Frauen, Lebensfreude“ – sind jenen entgegengesetzt, die den Heroismus hervorgerufen haben (951). Eine Ausnahmesituation tritt ein, wenn durch die Verderbnis eines Volkes ein Rückfall in die Barbarei erfolgt. Dieser Rückfall hat den Vorteil, dass die wieder primitiv gewordenen Herrscher auch wieder anfällig werden für Gottesfurcht. Dann können auch wieder heroische Regierungs- und Rechtsstrukturen entstehen. Dies ist ein Mittel, dessen sich die Vorsehung bedienen kann, um die Menschen aus der Dekadenz zurückzuführen. Eine Bemerkung zur Rolle der Vorsehung wird hier unvermeidlich: Gegenüber der von Benedetto Croce vertretenen Auffassung, die in der Vorsehung eine Art Weltvernunft am Werke sah,5 wurde einerseits auf der katholischen Ausrichtung Vicos insistiert,6 andererseits darauf hingewiesen, dass Vicos Lehre alles andere als in Übereinstimmung mit dem zeitgenössischen orthodoxen 5 6

Vgl. Croce 1927, Kap. X. Vgl. Bellofiore 1962, Kap. VIII-X.

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Katholizismus gewesen sei.7 Inzwischen scheint die Auffassung zu überwiegen, dass Vico ein gläubiger Katholik war, der die Vorsehung zumindest in ihrer „immanenten“ Version, die man in der Sekundärliteratur von der „transzendenten“ Vorsehung abkoppelt,8 als etwas sehr Reales ansah, als bestimmendes Element aller menschlichen Entwicklungen. Dennoch bleibt m. E. unübersehbar, dass sie darüber hinaus auch so etwas wie eine funktional erklärende Rolle übernimmt. Dies zeigt sich bereits an der zentralen Stelle bei der „Erklärung des Bildes“ am Anfang des Werkes. Dort heißt es, Gott habe „die menschlichen Dinge derart geordnet und eingerichtet, dass die Menschen, [. . .] darauf erpicht, fast immer ganz Verschiedenes und häufig genug geradezu ganz Entgegengesetztes zu tun [. . .], gerade auf diesen ihren verschiedenen und entgegen gesetzten Wegen durch ihren Vorteil selbst dahin gebracht wurden, als Menschen mit Gerechtigkeit zu leben [. . .] und auf diese Weise ihre gesellige Natur zu bestätigen“ (2). Auch an zahlreichen anderen Stellen wird betont, wie die Vorsehung dafür sorgt, dass Menschen sich trotz völlig anderer Motive sozialverträglich, ja zum Nutzen der Gemeinschaft verhalten (132, 629, 1108, 953). An einigen Stellen kommt er der Beschreibung nahe, die Autoren wie Gehlen vom segensreichen Wirken der Institutionen inklusive der „Trennung des Motivs vom Zweck“ geben.9 Es scheint mir daher nicht abwegig, dieser Vorsehung auch so etwas wie eine funktionale Erklärungsleistung für historische Strukturen und Entwicklungen zuzusprechen, die Vico dem auf die causa efficiens fixierten cartesischen mainstream, aber auch dem „blinden Zusammenwirken der Atome“ bei den Epikuräern und der „tauben Kette von Ursachen und Wirkungen“ bei den Stoikern entgegensetzt (342). Institutionen, so würde die Erklärung in verkürzter Form lauten, lassen sich verstehen, wenn man die Leistung versteht, die sie für die Ordnung menschlichen Zusammenlebens möglicherweise entgegen der ursprünglichen Intention der Akteure erbringen. Wenn Vico daher das „Vorgehen der göttlichen Vorsehung“ als zentralen Gegenstand seiner neuen Wissenschaft bezeichnet, die „zu einer rationalen politischen Theologie der göttlichen Vorsehung“ (2, una teologia civile ragionata della provvedenza divina) wird, so scheinen mir einmal diese funktionalen Erklärungsmuster, zum anderen aber auch die große Bedeutung göttlichen Rechts, göttlicher Regierung, göttlicher Sprache etc. im Mittelpunkt zu stehen, weniger exegetisch begründete Stellungnahmen zu politischen Fragen. Diese Wissenschaft muss eben deshalb „ein Beweis der Vorsehung als geschichtliche Tatsache“ sein, weil sie eine „Geschichte der Ordnungen“ zu sein hat, welche die Vor7 8 9

Vgl. Pompa 1990, S. 61. Ebd., S. 58. Gehlen 1975, S. 31.

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sehung „ohne menschliche Absicht oder Vorkehrung, ja häufig gegen deren eigene Pläne, dieser großen Gemeinde des Menschengeschlechts gegeben hat“ (342). Wendet man Vicos Lehre, dass einfache Völker auf Götter zurückgreifen, wenn ihnen die Möglichkeit einer plausiblen Kausalerklärung fehlt, auf seine eigene Theorie an, so wird man seine Rede von der göttlichen Vorsehung als Ersatz für eine Erklärung mittels des funktionalen Nutzens menschlicher Institutionen unabhängig von den Intentionen der darin handelnden Menschen und die durch diesen Nutzen bewirkte Stabilität deuten können. Wie können wir jedoch die „ewige ideale Geschichte“ erkennen, warum können wir überhaupt Geschichte erkennen? Letzteres liegt nach Vico daran, dass wir die Geschichte selbst gemacht haben. Das für Vicos Erkenntnislehre konstitutive Prinzip, wonach wir (nur) erkennen können, was wir selbst gemacht haben, weshalb auch das Wahre und das Gemachte zusammenfallen, jedenfalls wechselseitig ersetzbar sind, kann als bereits in der Renaissance verbreiteter Grundsatz angesehen werden. Bei Thomas Hobbes findet sich auch schon die Übertragung in den Bereich der politischen Philosophie.10 Vico nimmt allerdings an diesem Grundsatz markante Veränderungen vor. Das erste innovative Element in Vicos Umgang mit diesem Prinzip besteht darin, dass er es als gemeinsame Grundlage göttlichen und menschlichen Erkennens ansieht und gerade deshalb annimmt, dass nur Gott die Natur vollständig erkennen kann. Die zweite, vielfach als fundamentaler angesehene Innovation betrifft die Weisen des Machens. Während Hobbes nämlich die Vertauschbarkeit von Wahrem und Gemachtem gerade deshalb auf den Bereich des Staatswesens übertragen kann, weil er den Staat als künstlichen großen Menschen, als Maschine, also als etwas rational Hergestelltes ansieht, wird für Vico die Geschichte gemäß seinem mitunter als Vico-Axiom bezeichneten Prinzip zwar von Menschen hervorgebracht, nicht jedoch in einem Akt rationalen Herstellens.11 Zu den vielfältigen Aktivitäten, mit denen der Mensch seine Geschichte erschafft, gehören vielmehr die Entwicklung der Zeichen und der Sprachen, nicht nur in ihrer kommunikativen, sondern gerade auch in ihrer welterschließenden und ihrer poetischen Form, die Herausbildung politischer Organisationen und die Erschaffung von Rechtssystemen. Die Methoden, mit denen Vico das derart von Menschen Gemachte, dessen wir uns gerade deshalb zu vergewissern vermögen, während die Natur uns letztlich verschlossen bleibt, zu erforschen versucht, bestehen denn 10 11

Thomas Hobbes: Leviathan, The Introduction. Vgl. Karl Löwith 1986. Vgl. Fellmann 1976.

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auch in philologischer Forschung, Etymologie, Untersuchung der frühen Mythen als Berichten über die frühe Geschichte, Numismatik als Lehre bestimmter nicht-sprachlicher Zeichen und der Erforschung der Metaphern, die er als extrem verdichtete, enkodierte Mythen betrachtet. Die Wahrheit des Mythos und der Poesie wird daher nicht als unzulängliche Vorstufe der wissenschaftlichen, rationalistischen Wahrheit angesehen. Im Gegenteil: Da die „ersten Mythen“ aufgrund der Einfachheit ihrer poetischen Erschaffer „nichts Falsches erdichten konnten“, mussten sie „notwendig [. . .] wahre Erzählungen“ sein (408).12 Zugleich legt Vico indessen Wert auf die jene vielfältigen Detailforschungen einigende Konzeption einer allen Nationen gemeinsamen Struktur historischer Entwicklung, die durch die Vorsehung vorgegebene „ewige ideale Geschichte“, die zu erforschen nicht mehr allein der Philologie, sondern auch der Philosophie, insbesondere der Metaphysik zusteht (138, 331). In der von Menschen gemachten Geschichte, d.h. in den verschiedenen Geschichten der einzelnen Völker, entdeckt der menschliche Geist die ewige ideale Geschichte, welcher er sich in seiner Erkenntnis jedoch stets nur annähern kann, da sie ihrerseits von Gott gemacht wurde.13 Deshalb lässt sich das Vorgehen der Scienza nuova als „rationale politische Theologie“ charakterisieren. II. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Sitten Doch sind die Veränderungen und Variationen der Formen menschlichen Zusammenlebens, denen man mittels der Philologie nachspürt, nur eine Seite der Neuen Wissenschaft. Die andere zeigt sich in den anderen Bestandteilen des Oxymorons von der „ewigen idealen Geschichte“ (349). Da wir die Geschichte, die wir selbst gemacht haben, nach Vicos Grundaxiom auch selbst erkennen können, erschließen sich einer mit metaphysischen und philologischen Mitteln arbeitenden menschlichen Vernunft auf der Höhe ihrer Entwicklung auch die Strukturen dieser Geschichte als „Geschichte der menschlichen Ideen“. Diese scheint Vico nun nicht mehr in die Relativität fallen lassen zu wollen, da ihre „Beweise von göttlicher Art“ sind (349). Ob sich dieser Rückgriff auf „göttliche“ Beweise als Hinweis darauf deuten lässt, dass Vico sich des Umstandes bewusst ist, dass sein Rückgriff auf die Vorsehung ähnlich gedeutet werden könnte wie das Heranziehen von Göttern zur Kausalerklärung bei schlichten Völkern, bleibt notwendig ein Gegenstand der Spekulation. Weil jedenfalls das Kriterium, das seine neue Wissenschaft gebraucht, „dies ist, dass das, was von allen 12 13

Vgl. Cacciatore 2002, S. 109–139. Vgl. Ebd., S. 81 ff.

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oder der Mehrzahl der Menschen als gerecht empfunden wird, die Regel des geselligen Lebens sein muss“ ergibt sich, dass ihre Prinzipien „die Grenzen der menschlichen Vernunft sein müssen. Und wer auch immer sich ihnen entziehen will, der sehe zu, dass er sich nicht der ganzen Menschheit entziehe“ (360). Als Prinzipien seiner Wissenschaft nennt Vico „göttliche Vorsehung, Mäßigung der Leidenschaften durch die Ehe und Unsterblichkeit der menschlichen Seele mit den Bestattungen“ (ebd.). Abgesehen davon, dass man heute wohl deskriptiv zugestehen würde, dass derartige Institutionen in den meisten, wenn nicht allen menschlichen Gesellschaften in der einen oder anderen Form vorhanden sind, wäre man vielleicht vorsichtiger, ihre normative universelle Gültigkeit zu akzeptieren. Vielleicht lässt sich eine gewisse Parallele zu Harts Minimalinhalt des Naturrechts ziehen, wo auch aus kontingenten anthropologischen Fakten gewisse Schlüsse auf „Eckdaten“ wie man heute sagen würde, jedes Rechtssystems gezogen werden. Hart schließt aus der Verletzlichkeit der Menschen und daraus, dass sie keine Engel und keine Teufel sind auf die Notwendigkeit und Möglichkeit einer Rechtsordnung zu ihrem Schutz, aus der Begrenztheit der Ressourcen auf die Notwendigkeit einer Eigentumsordnung etc.14 Parallel ergibt sich bei Vico die Notwendigkeit religiöser Überzeugungen zur Einschüchterung der Starken, die Notwendigkeit einer Regelung des Geschlechterverhältnisses, die Notwendigkeit eines Ackergesetzes, die Notwendigkeit eines angemessenen Umganges mit dem Begräbnis und dem Leben nach dem Tod. Dennoch kämen heute als universelle Prinzipien wohl eher Menschenrechte, Fairnessprinzipien und Ähnliches zum Tragen. Nun muss man allerdings bedenken, dass die von Vico genannten Prinzipien für alle Menschheitsepochen gelten. Für spätere Zeiten sind seine Rechtsgrundsätze von den unseren gar nicht so weit entfernt: Als im späteren Verlauf der Menschheitsentwicklung „sich unsere menschliche Vernunft ganz entfaltet hatte“, kam das „Gewisse“ im Hinblick auf das Gerechte, mit dem sich die Menschheit normalerweise begnügen muss, „ans Ziel im Wahren der Ideen bezüglich des Gerechten, die mittels der Vernunft bestimmt werden nach den letzten tatsächlichen Umständen“ (1045). Die „natürliche Billigkeit der voll entfalteten menschlichen Vernunft“ (326), die „Anwendung der Weisheit auf die Dinge des Nutzens [. . .] wie sie der Natur der zivilisierten Völker entspricht“ (327), regelt dann das milde Recht mit den genannten Prinzipien der Rechtsgleichheit und -angemessenheit (327, 940), in einer Welt, die auch die väterliche Kinderliebe kennt (994, 996). Aus dieser Schule des milden Rechts sind nach Vico die Philosophen hervorgegangen (327). 14

Vgl. Hart 1994, S. 192 ff.

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Daraus, dass das dem Menschen erkennbare Gewisse zum Wahren geworden ist, würde auf den ersten Blick freilich folgen, dass wir am „Ende der Geschichte“ angekommen wären, um einen Gegenwartsausdruck zu verwenden, und es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis alle Völker das milde Recht übernommen haben. Die Beschwerde über die „Anmaßung der Gelehrten“, die glauben, dass „das, was sie wissen, vom Anfang der Welt an bestens begriffen worden sei“ (330), weshalb man sich bei der Suche nach der neuen Wissenschaft nicht einfach an die Philosophen halten dürfe, ändert nichts daran, dass nach dem Auffinden der Prinzipien und der Entwicklung des milden Rechts ein unüberschreitbarer Höhepunkt erreicht ist. Inmitten „der unzähligen Mannigfaltigkeit der Sitten der Völker“ wird durch den Zweck der Erhaltung des Menschengeschlechts ein Zweck vorgegeben (344). Eine genauere Betrachtung zeigt jedoch, dass auch hier noch ein gewisses Maß an kultureller und historischer Wandelbarkeit vorhanden ist. Dies wird dadurch erklärbar, dass die Wahrheit des milden Rechts und die mit ihr verbundene Einstellung gerade darin liegt, dass es sich an die je konkreten Gegebenheiten und politischen Verhältnisse unter Wahrung der Milde und der Gleichheit vor dem Recht anpassen kann (940). Es geht in Vicos Analyse nicht nur um die „Kasuistik der Tugenden und Laster“, auch nicht um eine „Analyse der Sitten“, sondern stets auch um eine dazugehörende „alleredelste Staatslehre“, also um die angemessene politische und rechtliche Umsetzung des milden Rechts in sich wandelnden sozialen Bedingungen,15 weil die „Ideen bezüglich des Gerechten [. . .] mittels der Vernunft bestimmt werden nach den letzten tatsächlichen Umständen“ (1045). Zu diesen Umständen gehören eben nicht zuletzt auch die Lebenseinstellungen der betroffenen Menschen. Und es gehört die Weise dazu, wie sie diese Lebenseinstellungen und die ihnen zu Grunde liegenden Erkenntnisse und Überlegungen auszudrücken vermögen. Dies aber geschieht für lange Zeit in der Entwicklung der unterschiedlichen Völker nicht etwa durch rationale, methodisch kontrollierte Geschichtsschreibung oder Argumentation, sondern in Form der Poesie, durch Mythen und phantastische Erklärungsmuster. Wichtiger und vor allem ursprünglicher als die reine Vernunft ist 15 Cacciatore 2002, S. 168 ff. Diese Besonderheit Vicos zeigt sich bereits vor der ersten Fassung der Scienza Nuova von 1725 in seiner Inauguralrede zur Eröffnung des Studienjahres von 1708, wo zur Ermittlung dessen, „was im Leben zu tun ist“, nicht so sehr nach einem „gradlinigen Lineal des Verstandes“ wie nach einer „geschmeidigen Norm“ gerufen wird (De nostri temporis studiorum ratione, deutsch: Vico 1947, S. 60 f.) Bezugspunkt ist interessanterweise der knappe Hinweis des Aristoteles auf das variable Lineal von Lesbos, das erläutern soll, warum es über manche Dinge keine Gesetze geben kann, sondern jeweils neue Beschlüsse geben muss (EN V 14, 1137b, S. 29 ff.).

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für den Menschen im Umgang mit der Welt nach Vico denn auch das ingenium, die schöpferische Kraft, die er nicht als Gabe herausragender Geister versteht, sondern als den Menschen und Völkern generell zu eigene, ja sogar für den Menschen spezifische Fähigkeit der Welterschließung und Weltgestaltung.16 So wichtig das Ingenium und die Phantasie für Vico sind, so weit ist er von einem romantischen Geniekult entfernt, der häufig mit ihm in Verbindung gebracht wird. Es gibt sehr wohl eine poetische Weisheit, gerade in den alten Völkern. Doch wird diese Weisheit „als Orientierungsfähigkeit des menschlichen Wesens im Machen und im Handeln in der Welt der Natur wie in der Geschichte verstanden“.17 Und zu diesem Zweck ist erst einmal die bodenständige Weisheit der Völker mindestens genauso geeignet wie die geheime Weisheit der Gelehrten. III. Der Gemeinsinn Angesichts des von Vico konstatierten Wandels der menschlichen Natur, der politischen Strukturen und des Rechts nimmt es wenig Wunder, dass auch die sittlichen Überzeugungen der Menschen zahlreichen Veränderungen unterworfen sind. Allerdings, dies wurde bisher eher angedeutet als ausführlich dargelegt, gibt es bei den sittlichen Überzeugungen nochmals so etwas wie eine „Binnendifferenzierung“. Vico unterscheidet das „ewige Recht“, das der Weisheit zugängliche Wahre über den menschlichen Nutzen (324), das von der Philosophie als voll entfalteter Vernunft ermittelte Wahre „der Ideen bezüglich des Gerechten“ (1045), vom „Gemeinsinn“, senso comune, den man in erster Annährung als kollektive moralische Intuition verstehen kann. „Dieser Gemeinsinn ist ein Urteil ohne jede Reflexion, allgemein empfunden von einem ganzen Stand, einem ganzen Volksstamm, einem ganzen Volk oder dem ganzen Menschengeschlecht.“ (142) Wie man sieht, wäre es in mancher Hinsicht besser, an dieser Stelle von mehreren „Gemeinsinnen“ zu sprechen. Denn einerseits gilt zwar, dass der menschliche Wille sich „nach dem gemeinsamen Sinn aller Menschen für die menschlichen Bedürfnisse oder Vorteile“ bestimmt (141). Er gibt ferner Anlass, die Gleichförmigkeit gewisser Ideen menschlichen Zusammenlebens in den verschiedensten Völkern zu beobachten, auch in solchen, die keinerlei Kontakt miteinander hatten und damit konstante Elemente menschlicher Ordnungsstrukturen zu entdecken (144 f.). Andererseits besteht die Besonderheit des Gemeinsinns eben darin, dass er unter Berücksichtigung der Gemeinsamkeiten in Bezug auf die Existenz von Religion, Ehe, Asyl und Ackergesetzen mit „allen menschlichen Möglichkeiten“ kombinierbar ist 16 17

Vico 1979, S. 127. Cacciatore 2002, S. 123.

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(630). Denn in dem Moment, wo Staaten entstehen, besteht für sie bereits ein „zubereiteter Stoff“, dies sind „eigene Religionen, eigene Sprachen, eigene Vermählungen, eigene Namen (oder auch Sippen oder Häuser) [. . .] und zuletzt eigene Gesetze; und weil eigen, deswegen völlig frei, und weil völlig frei, deswegen für wahre Staaten konstitutiv“ (ebd.). Es ist demnach gerade die Vielfalt, in welcher die Menschen die grundlegenden Prinzipien ihres Zusammenlebens herausbilden, die trotz des Wirkens der göttlichen Vorsehung ihren freien Willen beweist. Und es sind diese „Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes“, innerhalb deren die Prinzipien der menschlichen Welt gefunden werden müssen und können, die „sicherlich von Menschen gemacht worden ist“ (331). Der Weg zur Entdeckung dieses je eignen Gemeinsinnes der verschiedenen Völker besteht in der gewissermaßen philosophisch kontrollierten Anwendung philologischer Methoden, da „die Sprache eines alten Volkes, das seine Unabhängigkeit bewahrt hat, bis es seine Vollendung erreichte, [. . .] ein bedeutendes Zeugnis der Sitten der ersten Zeiten der Welt“ ist (152). Dies gilt interessanterweise für die lateinische und gerade auch für die deutsche Sprache (153). Bedeutsame Quellen sind zudem volkstümliche Überlieferungen und Bräuche (tradizioni volgari, 149), die auf echte öffentliche Lebensvollzüge (pubblici motivi di vero) zurückgehen, ferner volkstümliche Redensarten (parlari volgari, 151). Eine wesentliche Aufgabe der Neuen Wissenschaft Vicos besteht darin, unter den durch Sprach- und Sittenwandel bewirkten Verfälschungen den ursprünglichen Sinn dieser Wendungen wiederzufinden. Innerhalb einer politischen Einheit hat nun der Gemeinsinn die praktische Funktion einer moralischen Orientierungs- und Entscheidungshilfe, der Stabilisierung der moralischen Gewissheiten und der Vermeidung von sozialschädlichen Exaltiertheiten. Wie Vico in der bereits erwähnten Inauguralrede, die er in seiner Eigenschaft als Rhetorikprofessor zu Beginn des Studienjahres zu halten hatte, nämlich der aus dem Jahre 1708 mit dem Titel De nostri temporis studiorum ratione, festhält, fällt dem Gemeinsinn, nicht etwa einer cartesisch inspirierten Naturwissenschaft, eine Schlüsselrolle bei der Erziehung der Jugend zu: „Das erste, was sich in den Jugendlichen herausbildet, ist der Gemeinsinn, damit sie, wenn sie Reife und damit die Zeit der Praxis erlangt haben, nicht in merkwürdige und ungewöhnliche Handlungen verfallen“.18 Durch eine einseitige Ausrichtung an der Naturwissenschaft verliert sich der Sinn der Menschen für das „Wahrscheinliche“, heute würde man wohl sagen: Plausible. Diesen Sinn gilt es jedoch zum Wohl der politischen Einheit zu kultivieren.19 18

Vico 1947, S. 43; vgl. Cacciatore 2002, S. 204. Tessitore 2002, S. 15. Zum Gemeinsinn bei Vico vgl. auch Cacciatore 2002, Kap. 6; Livi 1992; Modica 1983, S. 201 ff. 19

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Da es unter anderen Intuitionen den Gemeinsinn der Menschheit gibt, also auch intuitive Überzeugungen, die gerade allen Menschen gemein sind, gelangt Vico auch auf diesem Weg keineswegs zu einem Relativismus. Der Gemeinsinn hat bereits in Vicos Naturrechtslehre die Aufgabe, „zwischen einer Metaphysik des natürlichen Konsenses und einer Ethik des freiwilligen Konsenses zu vermitteln“.20 IV. Was nützt uns Vico? Inwiefern kann nun ein Autor, der mit seinen Äußerungen über den schwachen Verstand früherer Kulturen sicherlich nicht politisch korrekt einzustufen ist und außerdem eine etwa bei vielen Ethnologen und kulturvergleichenden Soziologen äußerst suspekte Theorie geschichtlicher Entwicklung vertritt, für das eingangs genannte Problem irgendeinen Fingerzeig geben? Die Besonderheit Vicos besteht darin, dass er die poetische, mythische und metaphorische Form der Äußerung politischer, ethischer und rechtlicher Auffassungen ohne Schwierigkeiten respektieren und ernst nehmen und ihren Inhalt zum Gegenstand politischer Diskussion machen kann. Es gibt auch keinerlei Grund zum Zweifel an der praktischen Relevanz der poetischen Weisheit. Insofern gibt es bei Vico keine grundsätzliche Ausgrenzung bestimmter Positionen als „irrational“, weil sie in mythischer Form vorgetragen sind. Gleichwohl, selbst wenn Menschen normalerweise nur Zugang zu dem haben, was gewiss, nicht zu dem, was wahr ist, gibt Vico den Wahrheitsanspruch nicht auf. Er gesteht der menschlichen Vernunft in Form der „geheimen Weisheit“ der Gelehrten durchaus eine besondere Rolle in der politischen Landschaft zu und sieht das milde Recht als klar überlegen gegenüber seinen archaischen Konkurrenten. Wie lässt sich nun dieser Wahrheits- und Geltungsanspruch mit dem Ernstnehmen poetischer Weisheit verbinden? Statt einer umfassenden Antwort sei hier nur angedeutet, dass einige von Vicos Thesen, wenn man sie der heutigen Zeit entsprechend formuliert, durchaus von Interesse sein mögen. So wird man zunächst zugestehen müssen, dass der Gedanke menschlicher Gleichheit in den für das Recht und die Moral relevanten Bereichen in kaum einer uns bekannten Kultur ursprünglich vorhanden ist, dass es heute indessen schwer fiele, ja wohl unmöglich wäre, eine substanzielle Ungleichheit von Rechten anhand moralisch irrelevanter Umstände wie soziale Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, 20

Cuffari 1987, S. 255. Auch auf den besonderen Charakter von Vicos Metaphysik, die in ihrer Gebundenheit an die Historie „der menschlichen Schwäche angemessen ist“ (Tessitore 2002, S. 15), wurde verschiedentlich hingewiesen.

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Religionszugehörigkeit zu legitimieren. Insofern wird man von einer Entwicklung der moralischen Überzeugungen und der Rechtsauffassungen sprechen können, die vermutlich nur schwer wieder umzukehren sein wird. Dort, wo Menschen aus derartigen Gründen an der Ausübung ihrer Rechte gehindert oder sogar geschädigt werden, wie etwa im Afghanistan der Taliban, sprechen wir eher von Barbarei als von einer alternativen Form von Moral und Recht, wobei das „wir“ inzwischen einen Großteil der Muslime in der Welt umfasst. Die wachsenden Gemeinsamkeiten in den moralischen Intuitionen sind weniger überraschend, als es auf den ersten Blick erscheinen mag: Sämtliche Moralsysteme müssen, um ihre gruppenerhaltende und stabilisierende Funktion zu erfüllen, gewisse Grundsätze des Verletzungsschutzes, aber auch der Gerechtigkeit enthalten.21 Insofern gibt es vielleicht tatsächlich so etwas wie einen Gemeinsinn der Menschheit. Da ferner der Gemeinsinn eines Volkes nichts Statisches ist, sondern sich wandeln kann und zumeist auch wandeln wird, besteht in allen menschlichen Gemeinschaften prinzipiell die Möglichkeit, dass sich der regionale Gemeinsinn in essentiellen Fragen dem allgemein menschlichen Gemeinsinn annähert, insbesondere dann, wenn durch ein hohes Konfliktpotential das Überleben gefährdet ist. Bei Vico geschieht diese Annäherung der regionalen Gemeinsinne an den Gemeinsinn der Menschen eben nicht durch Angleichen der empirischen Überzeugungen an ein a priori ermitteltes Wertsystem, sondern durch das Ermitteln gemeinsamer Prinzipien in den tatsächlichen Intuitionen unterschiedlicher Kulturen, so dass die Herausbildung eines Gemeinsinnes der Menschheit eben kein Export bestimmter Werte von einer „hohen“ in eine „niedere“ Kultur wäre, sondern das gemeinsame Projekt unterschiedlichster Kulturen, die sich allesamt wandeln müssen. Auch dies erscheint als wichtiger Punkt in der Diskussion um den angeblich „westlichen“ Ursprung der Menschenrechte und ihre angebliche Funktion als Waffe einer neuen Version des Imperialismus. Wenn man diese Entwicklung als Arbeit an einem gemeinsamen Projekt versteht, verliert dieser Vorwurf erheblich an Plausibilität: Dass sich einige Rechtsysteme früher als andere unter dem Druck sahen, die Gleichheit der Menschen und auf ihr basierende Rechtszuschreibungen anzuerkennen, macht aus diesen moralischen und rechtlichen Grundsätzen keinen Bestandteil regionaler Folklore, der dann anderen Teilen der Welt in Form einer Zwangsmissionierung aufgezwängt würde.

21

Vgl. z. B. Gehlen 1972.

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Literatur Bellofiore, Luigi, La dottrina della provvidenza in G. B. Vico, Padua 1962 (zitiert: Bellofiore 1962). Benhabib, Seyla, The Claims of Culture. Equality and Diversity in the Global Era, Princeton UP 1962 (zitiert: Benhabib 2002). Cacciatore, Giuseppe, Metaphysik, Poesie und Geschichte. Über die Philosophie von Giambattista Vico, Berlin 2002 (zitiert: Cacciatore 2002). Comaroff, John L., Criminal justice, cultural justice: The limits of liberalism and the pragmatics of difference in the new South Africa, in: American Ethnologist 31 (2004), S. 188–204 (zitiert: Comaroff 2004). Croce, Benedetto, Die Philosophie Giambattista Vicos, Tübingen 1927 (zitiert: Croce 1927). Cuffari, Grazia, Vico il senso comune e l’ermeneutica, in: Cultura & Libri IV (1987), S. 251–260 (zitiert: Cuffari 1987). Fellmann, Ferdinand, Das Vico-Axiom: Der Mensch macht die Geschichte, Freiburg/München 1976 (zitiert: Fellmann 1976). Gehlen, Arnold, Moral und Hypermoral, Frankfurt/Main 1972 (zitiert: Gehlen 1972). – Urmensch und Spätkultur, 3. Aufl., Frankfurt/Main 1975 (zitiert: Gehlen 1975). Hart, Herbert Lionel Adolphus, The Concept of Law, 2. Aufl., Oxford 1994 (zitiert: Hart 1994). Livi, Antonio, Vico: senso comune e consenso sociale, in: ders.: Il senso comune tra razionalismo e scetticismo (Vico, Reid, Jacobi, Moore), Milano 1992, S. 63–78 (zitiert: Livi 1992). Löwith, Karl, Vicos Grundsatz verum et factum convertuntur. Seine theologische Prämisse und deren säkulare Konsequenzen, in: Ders.: Gott, Mensch und Welt in der Philosophie der Neuzeit, Stuttgart 1986, S. 195–227 (zitiert: Löwith 1986). Modica, Giuseppe, La filosofia del „senso comune“ in Giambattista Vico, Caltanissetta-Roma 1983 (zitiert: Modica 1983). Pompa, Leon, Vico. A study of the „New Science“, 2. Aufl., Cambridge 1990 (zitiert: Pompa 1990). Shachar, Ayelet, Multicultural Jurisdictions: Cultural Differences and Women’s Rights, Cambridge UP 2001 (zitiert: Shachar 2001). Taylor, Charles, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, 2. Aufl., Frankfurt/Main 1997 (zitiert: Taylor 1997). Tessitore, Fulvio, Senso comune, teologia della storia e storicismo in Vico, in: ders.: Nuovi contributi alla storia e alla teoria dello storicismo, Roma 2002, S. 7–33 (zitiert: Tessitore 2002). Vico, Giambattista, Wesen und Weg der geistigen Bildung, Godesberg 1947 (zitiert: Vico 1947).

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– Liber metaphysicus: De antiquissima italorum sapientia liber primus, (1710), aus d. Latein. u. Italien. ins Dt. übertr. von Stephan Otto u. Helmut Viechtbauer, München 1979 (zitiert: Vico 1979). – Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, übers. v. Vittorio Hösle und Christoph Jermann, Hamburg 1990 (zitiert: Vico 1990).

Kulturtransfer auf „eurasisch“ Das Chinabild von Johann Heinrich Gottlob von Justi und die Rezeption des Kameralismus im Japan der Meiji-Zeit Eun-Jeung Lee Mitte des 18. Jahrhunderts ließ sich die geistige Welt in Europa von den Nachrichten aus China, vor allem über sein geradezu ideal erscheinendes Herrschaftssystem hinreißen. Deshalb beschäftigten sich viele politische Denker der frühen Aufklärung mit China und seiner Staatsphilosophie. Die systematischste und vergleichende Untersuchung des chinesischen Staatswesens und seiner Philosophie stammt aus der Feder von Johann Heinrich Gottlob von Justi. Sie ist eine regelrechte Lobeshymne auf China und seine politische Philosophie. Justi gilt als „ein Mann von einem Abenteurer in manchen Punkten nicht verschieden und doch ein Mann der Wissenschaft“1 und zugleich als „der große Systematiker und Vollender des Kameralismus“2. Indes ist in Europa kaum bekannt, dass die Rezeption des Kameralismus während der Meiji-Zeit in Japan beim Aufbau des staatlichen Finanzwesens eine wichtige Rolle gespielt hat. Dieser zeitversetzte gegenseitige Kulturtransfer zwischen Ostasien und Europa, und Europa und Ostasien ist erstaunlicherweise bisher kaum untersucht worden.3 Im Rahmen der „Orientalismus-Debatte“ und der Kritik an „westlichen Perzeptionen des Anderen“ der letzten zwanzig Jahre wurde oft vergessen, dass die „Rezeption“ und „Perzeption“ des Anderen nicht allein eine westliche Angelegenheit war und ist. Das Andere wurde und wird stets „selektiv“ wahrgenommen und gelegentlich wird sogar versucht, von ihm zu lernen. Dies ist die Grundlage von Kulturtransfers. Die Begegnung Justis mit dem Konfuzianismus und 1 Frensdorff 1901, S. 527, bezieht sich hier auf das wechselvolle Leben von Justi. Justi wirkte für jeweils nur kurze Zeitspannen in unterschiedlichen Funktionen in verschiedenen Ländern. Seine Wirkungsstätten als Universitätsprofessor, Policeydirektor, Berater von Regierungen und Privatpersonen, Aufseher über Fabriken, freier Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber von Zeitschriften lagen in Sachsen-Eisenach, Sachsen, Österreich, Hannover, Hamburg, Dänemark und Preußen. 2 Dittrich 1974, S. 708. 3 Die Arbeiten von Menzel (Menzel 1956) und Ferber (Ferber 2002) gehören zu den wenigen Ausnahmen.

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die spätere Rezeption des Kameralismus in Japan bieten gutes Anschauungsmaterial für einen, in diesem Fall sogar doppelten eurasischen Kulturtransfer. I. Justis Kenntnis vom Konfuzianismus Justi bezog die meisten seiner Information über China aus gedruckten Quellen. Vermutlich hatte Justi während seines Aufenthalts in Wien, wobei er als Lehrer am Theresianum 1750 und 1753/54 gearbeitet hatte, häufiger Kontakt zu den Mitgliedern der jesuitischen Chinamission. Inwiefern diese Kontakte Justis Interesse an China erweckt bzw. beeinflusst haben, lässt sich ohne Justis verschwundenes Privatarchiv kaum noch feststellen. Seit der Konfiskation des Archivs 1768 durch die preußische Regierung – wegen angeblicher Veruntreuung von Staatsgeldern4 – ist es verschollen.5 Ein in den „Historischen und juristischen Schriften“ abgedruckter Artikel Justis6 zeigt, dass ihn Wiener Jesuiten mit Informationen über Ereignisse in China versorgt hatten. Überdies machen seine Veröffentlichungen deutlich, dass Justi, auch wenn er seinen Jesuitenkollegen in der Kommission häufig kritisch gegenüberstand, sich hauptsächlich auf ihre Chinadarstellungen stützte.7 Der früheste Hinweis auf Justis Beschäftigung mit dem politischen Denken der Chinesen und ihrer politischen Praxis datiert aus den frühen fünfziger Jahren.8 1754 publizierte er zwei Artikel über das chinesische Verwaltungssystem: „Die Nothwendigkeit einer genauen Belohnung und Bestrafung der Bedienten eines Staats“, und „Vortrefliche Einrichtung der Sineser in Ansehung der Belohnung und Bestrafung vor die Staatsbedien4 Justi war zwischen 1760 und 1768 als Berghauptmann mit der Gesamtaufsicht über das Berg- und Hüttenwesen in allen preußischen Staaten tätig. In dieser Position wurde Justi 1768 der Veruntreuung von Staatsgeldern beschuldigt und verhaftet. Die wahren Umstände seiner Verhaftung wurden jedoch nicht geklärt. Bis zu Justis Tode war der Prozess gegen ihn noch nicht abgeschlossen. Justi selber beteuerte stets seine Unschuld (Frensdorff 1903, S. 435–459). Später äußerte Horst Schmidt die These, Justi sei das Opfer seiner fortschrittlichen Überzeugungen geworden und die Beschuldigung der Untreue habe als Vorwand gedient, um einen konsequenten Ideologen der bürgerlichen Umgestaltung Deutschlands aus dem Wege zu räumen (Schmidt 1962, S. 275). 5 Schmidt 1961, S. 276. 6 Justi 1760a, S. 16–17. 7 Vgl. Menzel 1956, S. 302. 8 Aus dieser Zeit stammen auch Justis Studien über die Seiden- und Porzellanproduktion, „Explicit instruction in the cultivation of silkworms and the winning of silk for the Imperial-Royal hereditary lands“ und „Von denen Materien zu dem unächten Porcellan“. Die erste hatte Justi 1754 in Neue Wahrheiten abgedruckt und die andere wurde in seinen „Gesammelte chymische Schriften“ Bd. I, S. 321–332 abgedruckt.

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ten“.9 Seine Informationen über China schöpfte Justi dabei aus drei Quellen: du Haldes Buch „Description géographique, historique, chronologique, politique, et physique de l’Empire de la Chine et de la Tartaire Chinoise“10, die „Sammlung aller Reisebeschreibungen“11 und „Neuere Geschichte der Chineser, Japaner, Indianer . . . als eine Fortsetzung von Rollins’ älterer Geschichte“12 Unter ihnen war das Werk von du Halde am wichtigsten. Justi übernahm häufig ganze Seiten davon. Justi war bewusst, dass sich die Berichte von Jesuiten und Kaufleuten über China voneinander unterschieden. Montesquieu hatte sich in seiner Beurteilung Chinas vor allem auf die Berichte von Kaufleuten berufen. In seiner Vorrede machte Justi klar, dass er im Gegensatz zu Montesquieu der Ehrlichkeit der europäischen Händler nur wenig traute: Es ist wahr, es fehlet sehr viel, daß die Europäischen nach Sina handelnden Kaufleute eine eben so schöne Abschilderung von dem Regierungszustande dieses Reiches gemacht hätten, als du Halde und andere Jesuiten. Unsere Kaufmanns Nachrichten sind denen Sinesischen Mandarinen gar nicht vortheilhaftig. Sie beschreiben solche als geizige, ungerechte und tyrannische Obrigkeiten, welche dem Gemählde gar nicht ähnlich sind, welches die Jesuiten von ihnen gemacht haben. Wenn die Frage bloß darauf ankommt, ob die Jesuiten oder die Europäischen Kaufleute in ihren Nachrichten von Sina mehr Glauben verdienen; so bedenke ich nicht einen Augenblick, mich vor die Jesuiten zu erklähren.13

Denn [. . .] die Jesuiten, insonderheit diejenigen, die nach Sina gesendet werden, (sind) Leute von Einsicht und Urtheilungskraft [. . .], die Begriffe von guten Regierungs9 Beide wurden später in „Gesammelte politische und Finanzschriften“, Erster Band abgedruckt. Der zweite Artikel war die Übersetzung eines Auszugs von Claude Lamberts 1749 in Paris veröffentlichter Arbeit „Recueil d’observations curieuses“. 10 Justi zitiert die deutsche Übersetzung „Ausführliche Beschreibung des chinesischen Reiches und der grossen Tartarey“ (Rostock 1747–1750). 11 Nach Menzel gab es damals zwei Werke mit ähnlich klingenden Titeln: Das eine war die zwischen 1747 und 1774 in Amsterdam in 21 Bänden erschienene „Sammlung aller Reisebeschreibungen oder Allgemeine Historie der Reisen zu Wasser und zu Lande“, das andere die 1747 in Frankfurt/Main veröffentlichten „Allgemeine Reis-Geschichten oder neue Sammlung von allen Reis-Beschreibungen“. Es ist nicht möglich, anhand der Angaben Justis zu identifizieren, welches der beiden Werke er benutzt hatte (Menzel 1956, S. 304). 12 In den Jahren zwischen 1755 und 1771 wurde in Paris von François Marie de Marsy die 22bändige „Histoire moderne des Chinois, des Japonais, des Indiens, des Persans, des Turcs, des Russes, etc. pour servir de suite a l’histoire ancienne de M. Rollins“ herausgegeben. Eine deutsche Übersetzung ist in „Allgemeines Bücher-Lexicon oder vollständiges alphabetisches Verzeichnis der von 1700 bis zu Ende 1800 erschienenen Bücher“ (Leipzig 1812) nicht aufgeführt (Menzel 1956, S. 304). 13 Justi 1762, Vorrede.

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verfassungen haben, und sie also auch zu beurtheilen im Stande sind“, während „dieses [. . .] gemeiniglich unsern Europäischen Kaufleuten, oder vielmehr ihren Factorn und Bedienten, die nach Sina reisen, gar sehr (fehlet). Sie beurtheilen alles nach ihren Eigennutz; und dieser stimmet nicht allemal mit denen besten Europäischen Regierungsverfassungen überein; wie sollte er sich mit denen Sinesischen vertragen können, die gegen unsere Europäischen Kaufleute so stränge sind?14

Die Holländer, die überhaupt als erste den Darstellungen der Jesuiten widersprachen, taten es nur deshalb, „weil sie glaubten, daß diese allein Schuld daran wären, daß ihnen ihr oft wiederholter Gesuch eines freyen und uneingeschränkten Handels in Sina abgeschlagen wurde“.15 Für Justi waren die Berichte der Jesuiten den Darstellungen der Kaufleute weit überlegen. Deshalb kritisierte er auch an Montesquieu, „daß er die Nachrichten der Jesuiten wegen dieser Kaufmanns Erzählungen in Zweifel gezogen hat“.16 Mit seiner ausführlichen Beschreibung der vorbildlichen Praxis der chinesischen Herrschaft wollte Justi gleichzeitig die Öffentlichkeit vor einer sich schnell verbreitenden Überheblichkeit der Europäer warnen, welche sich damals in den sich auf die kaufmännischen Reiseberichte stützenden Gelehrtenschriften niederzuschlagen begann; dies war schon an Montesquieus Buch deutlich zu beobachten gewesen. Seine Warnungen fasste er in deutliche Worte: So allgemein dieser Nationalstolz allen Völkern ist; so treiben wir Europäer diese hohe Einbildung von uns selbst doch viel höher als alle andere Nationen des Erdbodens. Unser Vorzug scheinet uns gar nicht zweifelhaftig. Wir setzen uns kühn über alle andere Völker der übrigen Welttheile hinaus. Sie sind in unsern Augen nichts als ungeschickte, rohe und unwissende Barbaren, wenn wir ihnen noch die Ehre erzeigen, daß wir sie nicht gar unter die Wilden zählen [. . .] Wir führen uns als Herren des ganzen Erdbodens auf, wir bemächtigen uns ohne Bedenken der Länder aller Völker in allen drey übrigen Welttheilen; wir schreiben ihnen in ihren Landen Gesetze vor; begegnen ihnen als unsern Sklaven; und wenn sie sich im geringsten zu widersetzen unterstehen; so rotten wir sie ganz und gar aus; und was das sonderbareste ist; wir thun dieses alles, ohne daß einmal jemand in Europa einfällt, daß wir dadurch himmelschreyende Ungerechtigkeiten begehen.17

Justi fuhr fort: Das Unglück, welches wir Europäer durch dergleichen Betragen in allen drey Welttheilen verursachet haben, kann nicht überdacht werden, ohne die menschliche Natur erzitternd zu machen. Wir haben ganz America entvölkert [. . .] Wenn wir in Asien nicht eben so viel Unheil und Barbareyen verübt haben; so ist dieses 14 15 16 17

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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gar nicht unserer Mäßigung und Menschenliebe, sondern der Klugheit und Macht so vieler darinnen befindlichen großen Reiche zuzuschreiben, welche die Europäische Herrsch- und Habsucht in Schranken zu halten gewußt haben.18

Unter diesen Reichen hob sich das chinesische Reich mit seinen vortrefflichen Staatseinrichtungen ganz besonders hervor. II. Das Konfuzianismusbild in der Staatstheorie Justis Im Mittelpunkt des Denkens von Justi stand die Gestaltung des Lebens im Staat. Justi betrachtete den Staat als einen aus moralischer Absicht künstlich geschaffenen Gesamtzusammenhang, der mit seinen natürlichen Bedingungen in permanenter Wechselwirkung steht. Eine Wissenschaft, die sich mit dem Staat befasst, muss daher stets aus diesem Gesamtzusammenhang heraus agieren, denn sie kann nur dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn sie dieses Faktum auch selbst reflektiert. Das heißt für Justi, dass das systematische Lehrgebäude der „Regierungswissenschaft“, wie er die Staats- bzw. politische Wissenschaft bezeichnet, den sozialen Lebenszusammenhang in seiner Totalität erfassen muss, um ihn steuern zu können.19 So verband Justi in seiner Staatstheorie metaphysische Philosophie und Naturrecht mit den positiven Wissenschaften der Politik und der Wirtschaft zu einem einheitlichen System. 1762 entwickelte er in „Vergleichungen der Europäischen mit den Asiatischen und andern vermeintlich barbarischen Regierungen“ die philosophische Grundlage seiner Staatstheorie. Dieses Buch ist zugleich seine systematischste und umfangreichste Abhandlung über China, speziell der politischen Philosophie und der Regierungseinrichtungen Chinas. Er sah in China ein vorbildliches Herrschaftsmodell. So baute er das konfuzianische Herrschaftssystem Chinas als Beispiel für gute staatliche Einrichtungen in seine Staatstheorie ein.

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Justi 1762, S. 321–322. Damit erteilte Justi nicht nur der spekulativen Metaphysik eine Absage; vielmehr kritisierte er zugleich den rein empirisch agierenden Kameralismus, der sich zu seiner Zeit an den Universitäten breit machte. Dieser konnte nach Justi deshalb niemals zu den Prinzipien von Wirtschaft und Politik vordringen und so entweder seine Ziele nicht erreichen oder in bewusst positivistischer Absicht nur überkommene Herrschaftsordnungen legitimieren. Die Aufgabe der kameralistischen Lehrstühle an den Universitäten bestand nach Justi in der Ausbildung von „Universalcameralisten“ für die Regierungs- und Verwaltungsbürokratie, welche über richtige Grundsätze und die Einsicht in das Ganze verfügen sollten. In diesem Zusammenhang meint Rüdiger (Rüdiger 1994, S. 10), Justi nur als Begründer der Verwaltungslehre als besonderer Disziplin zu bezeichnen, wäre zu kurz gegriffen. Justi sei vielmehr „der Begründer der modernen Politikwissenschaft in aufklärerischer Absicht“ in Deutschland. 19

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1. Herrschaftssystem der Chinesen a) Triebfeder der Monarchie Nach Justi sind „die unumschränkte Gewalt, welche die Gesetze dem Kaiser geben“, und „die Nothwendigkeit, welch sie ihm zugleich auflegen, sich derselben mit Mäßigung zu bedienen“ die zwei Stützen des chinesischen Herrschaftssystems.20 Dort ist die ganze Gewalt in der Person des Kaisers vereint: Er hat alle Ämter des Staates zu vergeben. Er entscheidet nicht nur über die Ernennung und Versetzung, sondern auch über die Belohnung und Bestrafung der Staatsbediensteten und Hofangehörigen. Diese unumschränkte Gewalt erstreckt sich über alle Stände, nicht nur über die Lebendigen, sondern auch über die Toten, und selbst über den Sprachgebrauch. Der Kaiser kann sogar selbst seine Nachfolger wählen, „nicht nur aus den Prinzen des königlichen Hauses, sondern auch aus seinen Unterthanen“.21 Solch eine unumschränkte Macht kann nicht ohne üble Wirkungen auf die Regierung bleiben, und die habe es auch in China zuweilen gegeben.22 Jedoch hat man durch die Gesetze zugleich so vielem vorgebeugt, dass ein Regent sein Ansehen nicht lange missbrauchen kann, wenn er nur im geringsten seine Ehre und „das gemeine Beste“ beherzigt. „Von Seiten des Nachruhms hat er dreyerley zu bedenken, welches ihn bewegen kann, seinen Leidenschaften Schranken zu setzen.“23 Erstens „haben die alten Gesetzgeber, von Anfang der Monarchie, dieses als einen Grundsatz einer guten Regierung festgestellet; daß diejenigen, welche regieren, eigentlich die Väter des Volks sind, nicht aber Herren, die man auf den Thron gesetzet, um von Sclaven bedienet zu werden“. Deshalb wiederholen die Lehrer und Weltweisen der Chinesen in ihren Büchern, der Staat sei eine Familie, und „der, welcher fähig wäre, seine Familie zu regieren, sey auch fähig den Staat zu regieren. Wenn sich also der Fürst nur im geringsten von diesem Grundsatz entfernet: so mag er tapfer, klug und gelehrt seyn, er wird dennoch nicht sehr geachtet werden. Das alles wird fast für nichts gerechnet, aber sein Ruhm nimmt ab oder wächset, nachdem er die Eigenschaft, ein Vater des Volks zu seyn, erhält oder verliehret.“24 Letztlich verdienen die Könige in China „allein nur aus dem Gesichtspuncte als wahre Väter und Wohlthäter ihres Volkes“ eine tiefe Verehrung des Volkes. „Ein wahrer Weiser kennet keinen verächtlichern Menschen, als einen 20 21 22 23 24

Justi 1762, S. 10. Ebd., S. 16. Ebd., S. 19. Ebd., S. 19. Justi 1762, S. 19–20.

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Souverain, welcher die Pflicht auf sich nimmt, Millionen Menschen glücklich zu machen, und dennoch nichts thut, als seine Lüste und Leidenschaften zu vergnügen.“25 Zweitens ist es einem jeden Mandarinen, also auch den Privatgelehrten erlaubt, den Kaiser auf Fehler und Gebrechen seiner Regierung hinzuweisen und ihn an die guten Beispiele der alten Könige zu erinnern. Solange sie diese in der richtigen Form einreichen, hat der Kaiser sie zu lesen und den Fehler zu korrigieren, wenn er sich den Namen eines guten Regenten und die Liebe seiner Untertanen erhalten will. Nötigenfalls wird dieser Vorgang wiederholt.26 Drittens fasst man eine Geschichte der Regierung des jeweiligen Kaisers ab, diese aber auf eine Art, welche die Kaiser zur Mäßigung bewegt, „wenn ihnen ihre Ehre, und ihr Ruhm nur im geringsten lieb ist“. Dafür ist ein eignes Collegium von Gelehrten vorhanden, das alle guten und bösen Handlungen des Monarchen genau aufschreibt und sie der Nachwelt hinterlässt. Daraus wird schließlich die Geschichte seiner Regierung verfertigt. Dies ist ein sehr wirksames Mittel zur Mäßigung der Monarchie, denn, „wenn ein Monarch versichert ist, daß seine unüberlegten und bösen Handlungen der Nachwelt ohne Schmeicheley und Bekleisterung erzählet werden; so müßte er einen sehr unedelen und niederträchtigen Geist haben, wenn er nicht dadurch aufgemuntert werden wollte, sich als ein löblicher und guter Regent zu bezeigen“.27 Dies sind die drei „schönen und wirksamen Triebfedern“, durch die die chinesische Monarchie bewogen wird, die unumschränkte Gewalt lediglich zur gemeinsamen Glückseligkeit anzuwenden. Für Justi ist unbestreitbar, „daß eine solche Regierung gut ist, und dem Character vernünftiger Geschöpfe sowohl auf Seiten des Monarchen als der Unterthanen Ehre macht“.28 Auch deshalb ist Justi überzeugt, dass die Chinesen „die Natur so wohl der bürgerlichen Verfassungen, als des Menschen sehr wohl kennen“. Denn die Chinesen überlassen „zwar ihrem Monarchen alle unumschränkte Gewalt, die zur Tätigkeit und wahren Stärke der Staaten so nöthig ist, [geben] ihm aber Bewegungsgründe und Triebfedern an die Hand [. . .], diese Gewalt nicht zu mißbrauchen, sondern sich gütig, gerecht, weise und als ein wahrer Vater seines Volkes zu bezeugen“. Dadurch haben sie eine vorteilhaftere Regierungsform eingerichtet als die Europäer, die sich überhaupt nicht um solche Triebfedern kümmerten.29 25 26 27 28 29

Ebd., S. 25. Ebd., S. 20. Ebd., S. 37. Ebd., S. 24. Justi 1762, S. 40.

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Damit wendet sich Justi gerade gegen Montesquieu, der China abschätzig als despotischen Staat betrachtete, dessen Prinzip allein die Furcht ist.30 Nach Ansicht Justis ist nicht die Furcht, sondern vielmehr die Ehre das Herrschaftsprinzip im chinesischen Reich. Zwar erwiesen die Chinesen ihrem Kaiser ebenso große Ehrfurcht, wie sie als Kinder ihren Eltern Ehrfurcht und Gehorsam entgegenbringen; und dazu würden sie auch erzogen werden. Aber die Staatsmaxime, die das Volk verpflichtet, dem Kaiser kindlichen Gehorsam zu bezeigen, setzt stets voraus, dass er seine Untertanen mit väterlicher Zärtlichkeit regiert. Deshalb muss [. . .] ein Regent, der mit einigem Ansehen herrschen will, [. . .] sich in diesem Stücke nach den Vorurtheilen der Chineser richten; wenn seine Aufführung nicht damit einstimmt; so fällt er in eine Verachtung; und wenn das Volk erst anfängt seinem Monarchen die gebührende Hochachtung zu entziehen; so pflegt es bald das Joch des Gehorsams abzuwerfen. Die Chinesische Geschichte giebt von solchen Revolutionen tausend Exempel.31

Die chinesische Geschichte zeigt nach Justi aber gleichzeitig sehr viele bewunderungswürdige Beispiele der „Mäßigung“ unter ihren Kaisern. Ein leuchtendes Beispiel dafür ist Kaiser „Taitsong I.“ (Taizong) der Tang Dynastie, dem „die Sineser noch heutiges Tages die allerausnehmendeste Hochachtung vor sein Andenken“32 bezeugen. b) Vortreffliche Einrichtungen des Staates Für Justi ist die chinesische Staatsverfassung „die vernünftigste und weiseste“ auf der ganzen Erde. Denn die Chinesen haben ihre „Staatsmaschine“ so sorgfältig eingerichtet, dass es automatisch zur guten Regierung kommt. Hier wird Justis mechanische Auffassung vom Staat nochmals deutlich. Nach ihm funktioniert jede Institution effizient und automatisch, wenn ihre Ordnung weise eingerichtet ist. Unter den verschiedenen Einrichtungen des chinesischen Staates hebt Justi insbesondere das Beamtenauswahl- und -beförderungssystem hervor. In den zwei Kapiteln der „Vergleichungen“, die sich ausschließlich mit diesem Thema beschäftigen, werden die Ansichten, die Justi in zwei früheren Artikeln dazu vertreten hat, noch sorgfältiger ausgearbeitet. Dabei stützt er sich im Wesentlichen auf die Darstellung von du Halde. Die chinesische Staatsverfassung zeichnet sich dadurch aus, dass sie durch ein weislich eingerichtetes Straf- und Belohnungssystem, welches nicht auf der Willkür, sondern auf festen und unverbrüchlichen Gesetzen 30 31 32

Vgl. Montesquieu 1992, S. 179. Justi 1762, S. 45–46. Ebd., S. 147.

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beruht, und durch eine vortreffliche Ordnung und genaue Aufsicht in allen Angelegenheiten die Staatsbedienten bzw. Mandarine dazu bewegt, „daß sie sich in allen ihren Handlungen als Väter des Volkes betrachten, und sich auf diese Art bezeigen“33. Zur vortrefflichen Praxis des chinesischen Verwaltungssystems zählt Justi z. B., dass sich der Kaiser alle drei Jahre ein Verzeichnis geben lässt, in dem die Namen sowie die guten und bösen Eigenschaften aller Mandarine enthalten sind, um diese dann zu belohnen oder zu bestrafen34; oder dass in Peking eine besondere Zeitung regelmäßig erscheint, die alle inneren Landesangelegenheiten zum Gegenstand hat, damit „gutes oder schlechtes Verhalten, die Lobsprüche oder Verweise, die Belohnungen oder Strafen, die sie [die Staatsbedienten, E.-J. L.] erlangen, öffentlich aller Welt bekannt gemacht werden“.35 Dazu gehören auch Gesetze, wonach kein Mandarin in seinem Heimatort oder in denselben Bereichen der Verwaltung, wo einer von seiner Verwandten bereits arbeitet, versetzt oder geschickt werden darf36; oder der Umstand, dass sowohl am Hofe als in den Provinzen „alle Staatsbedienten und Unterkönige Collegia zur Seiten [haben] [. . .], mit deren Beyrath und Beystimmung sie die Angelegenheiten besorgen müssen“.37 Jedes Kollegium hat aber seinerseits einen Aufseher, „der ohne Theilnahme an den Geschäften [. . .] auf alle Handlungen des Collegii eine genaue Aufmerksamkeit hat“.38 Allerdings könnten alle diese Einrichtungen nicht gewährleisten, dass die Staatsbediensteten guten Willens sind. Dazu ist es nötig, „daß die ganze Nation mit Grundsätzen und Triebfedern der Gerechtigkeit, des rechtschaffenen Wesens, der wahren Ehre, der Liebe des Vaterlandes und des gemeinschaftlichen Bestens erfüllt ist“. Dies kann zwar „durch eine vortreffliche Erziehung der Jugend, durch wohl eingerichtete Schulen, und durch den Flor der Wissenschaft“ erreicht werden. Aber die Gesetze und Anstalten zu Erziehung und Unterricht der Jugend allein reichten nicht aus, da Erziehung und Unterricht aufgrund der Nachlässigkeit und Ausschweifungen der Jugend und des Mangels an natürlichen Gaben nicht wirken können. Deshalb ist es unumgänglich, so Justi, „daß junge Leute, ehe man sie den geringsten Schritt in die Bedienungen des Staats thun läßt, einer strängen Prüfung unterworfen werden“. In einem weise eingerichteten Staat kann niemand von dieser Prüfung ausgenommen werden, wobei auch Stand und Geburt keine Rolle mehr spielen dürfen. Denn es ist doch kein Grund vorhanden zu vermuten, dass Leute von ansehnlicher Geburt sich „alle diejenige nützliche 33 34 35 36 37 38

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S. S.

416. 49. 60. 445–446. 53. 59.

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Erkenntniß, Fähigkeiten und Geschicklichkeiten erworben haben, die zu denen Bedienungen des Staats erfordert werden“.39 Eben ein solches System ist in China tatsächlich vorhanden und China ist unter allen Staaten der einzige, welcher sicher sein kann, dass alle seine Staatsbedienten die erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und Geschicklichkeit besitzen. Es ist dort unmöglich, ein Staatsamt zu bekleiden, „ohne sich alle drey Grade der gelehrten Würden erworben zu haben“. Die strengen Prüfungen machten es unmöglich, dass jemand mit Hilfe anderer sein Unwissen verbergen oder sich durch alle Prüfungen hindurch schleichen kann.40 Mithin kennt die chinesische Staatsverfassung keinen erblichen Adel. Dort gehört der Sohn eines obersten Staatsministers so gut unter den Pöbel wie der Sohn eines Mistsammlers, wenn er sich nicht durch Studieren seine Würde verdient hat. In China macht allein der persönliche Adel „die allergrößte Triebfeder“ aus, sich durch Fleiß und Geschicklichkeit hervorzutun. Damit hat der Staat auch eine Quelle mehr zur Belohnung von Verdiensten.41 Die strengen Prüfungen haben noch einen weiteren großen Vorteil. Denn in China weiß jeder, dass es unmöglich ist, „auf eine andere Art als durch einem emsigen Fleiß und durch ein unermüdetes Studieren zu ansehnlichen Bedienungen zu gelangen“. Folglich bemühten sich alle, auch die Jugend, sich mit Fleiß die Lehre ihrer zahlreichen kanonischen Bücher anzueignen.42 In diesem Zusammenhang meint Justi, seien die Chinesen fast das einzige Volk in der Welt, „wo sich die Regierung alle Mühe gegeben hat, die Unterthanen von ihren Pflichten genugsam zu unterrichten“. Vor allem deshalb, weil ihre kanonischen Bücher, welche man „King“ (Jing) nennt, neben der Geschichte des Reichs sonst gar nichts anderes als die „Pflichten der Regenten und der Unterthanen, und der Mitbürger gegen einander“ beinhalten und sie nicht nur von denjenigen studiert werden, die in Staatsämter gelangen wollen, sondern selbst in den niedrigsten Schulen kurze Züge aus ihnen gelehrt werden.43 Es gehört in China zu den Hauptaufgaben der Mandarine, im Auftrage des Kaisers die Bevölkerung über Moral und Pflicht zu unterrichten, welche in den kanonischen Büchern enthalten sind, um die Tugend der Untertanen zu befördern und ihre Liebe zu Tugend überhaupt zu erwecken.44 39 40 41 42 43

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S.

463–465. 467. 155. 468. 194 f.

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Dabei folgen sie nach Justi der Lehre des Konfuzius, der sagte, [. . .] einen Proceß zu entscheiden, [. . .] hat allerdings was zu sagen. [. . .] Aber ich wollte, daß es jemand dahin brächte, daß gar keine Processe zu entscheiden wären. Was hat man nun zu thun, wenn man es dahin bringen will? Man muß über den Gebräuchen halten, das Volk unterweisen, ihre Leidenschaften regieren, und sie gegen Uebereilungen verwahren; man muß sie im Gebrauch der Vernunft immer mehr bevestigen; man muß die Bande, welche die Natur verknüpfet hat, so zu reden fester zusammen ziehen, und ihnen eine aufrichtige Liebe unter einander beybringen.45

Es wäre doch umsonst, „wenn mans unter dem Pöbel auf die Härtigkeit der Gesetze und Strafen ankommen lässet. Nichts als eine vernünftige Unterweisung, wenn sie von einem guten Exempel belebet wird, kann eine solche Wirkung haben.“46 Justi stimmt dieser Lehre von Konfuzius ohne weiteres zu, und sagt, es kommt alles darauf an, das Volk in seinen Pflichten zu unterrichten und es zur Tugend zu erziehen. Das Beispiel des Regenten und der Obrigkeit erzielt dabei die beste Wirkung, letztlich ist es wirksamer als alle Gesetze. „Denn die Unterthanen werden nie Gesetze in großen Betracht ziehen, von welchen sie den Regenten und ihre Obrigkeiten selbst das Gegentheil ausüben sehen.“47 Insofern steht für Justi fest, dass insbesondere die Regenten „das beste Herz, den besten Willen und die vortrefflichsten Gemüthseigenschaften erlangen sollen“. Sie müssen dazu von Jugend an erzogen werden, denn „eben so wenig können sie mit Erkenntniß und Weisheit erfüllt seyn, wenn sie nicht in ihrer Jugend den vollkommensten Unterricht genießen“. Gerade deshalb meint Justi, dass „das Wohl und Weh der Völker, die einer erblichen Monarchie unterworfen sind, hauptsächlich von der Erziehung der Prinzen ihrer Monarchen abhängt“.48 In China habe man aber schon eingesehen, so Justi, „wie nothwendig eine [. . .] vortreffliche, in den Grundgesetzen des Staats festgelegte, und von dem bloßen Willen der Monarchen unabhängige Erziehung der Prinzen ist“. Dort bekommt der Thronfolger bereits in seiner ersten Jugend Lehrmeister zur Seite, die ihrerseits für ihre Tugend bekannt und daher in der Lage sind, ihm die Lehre zu erteilen. Ohnehin sagte Konfuzius, „daß man dasjenige als etwas natürliches thue, wozu man von Jugend auf angehalten worden“.49 Für Justi ist diese sorgfältige Erziehung des Thronfolgers gera44 45 46 47 48 49

Ebd., Ebd., Ebd. Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 431. S. 197 f. S. 204 f. S. 335. S. 336–339.

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dezu das Geheimnis des einzigartigen chinesischen politischen Lebens, dass nämlich die uneingeschränkte Monarchie ihre Macht nicht missbraucht. Deshalb sind unter den chinesischen Kaisern so viele bewunderungswürdige Beispiele der Mäßigung zu finden. Dies ist auch der Grund dafür, dass „die Landleute in Sina weder unter allzugroßen Abgaben, noch andern Arten der Bedrückung seufzen“. Justi fährt fort, „so darf man sich nicht wundern, daß dieses alles seine Wirkung thut, und der Ackerbau daselbst mehr in Flohr ist, als in allen andern Staaten des Erdkreyses“.50 Im Gegensatz zu China sind in Europa die Abgaben mit so wenig Gerechtigkeit und Gleichheit eingerichtet, dass die reichsten und mächtigsten von allen Abgaben frei sind, während die ganze Last des Staates auf die „Landleute“ fällt. Ihnen lassen die Steuern und Abgaben kaum das trockene Brot übrig. Dies widerspricht doch allen vernünftigen Begriffen von der Natur der bürgerlichen Verfassung.51 Es wäre deshalb wünschenswert, wenn die europäischen Regierungen die vortreffliche chinesische Praxis nachahmen würden. Damit meint Justi nicht nur das Abgabensystem, sondern beinahe alle Elemente des chinesischen Herrschaftssystems, die er in seiner Schrift dargestellt hat. Denn alle Vergleiche Justis von Europa und China fallen zugunsten Chinas aus. Darin liegt zugleich Justis Kritik an den Verhältnissen seiner Zeit in Europa. Seine Kritik äußert er direkt und unmissverständlich: Die „weisen Europäer“ kümmern sich, anders als die Chinesen, nicht um die Triebfedern der Regenten. „Wir wissen keine andern Mittel, als daß wir entweder unser Schicksal unter einer unumschränkten Gewalt mit einer dummen Gelassenheit erwarten, oder daß wir aus unsern Königen Schattenbilder machen, und dem Staate dadurch zugleich alle Thätigkeit und Stärke benehmen.“52 Die europäischen Staatsverfassungen sorgten sich nicht darum, „denen Staatsbedienten auf andere Art genugsame Triebfedern und Beweggründe an die Hand zu geben, mit ernstlichen Vorsatz an der Wohlfahrt des Staats und der Glückseeligkeit der Völker zu arbeiten.“ In Europa sei man von dem chinesischen Grundsatz, „daß niemand zu Staatsbedienungen zuzulassen sey, dessen Gelehrsamkeit nicht die strengsten Prüfungen ausgestanden habe, soweit entfernet, daß eine gründliche Gelehrsamkeit, die man mit dem verächtlichen Namen der Pedanterey belegt, vielmehr an vielen Höfen eine der größten Hindernisse ist, zu ansehnlichen Bedienungen zu gelangen.“53 Nicht die Gelehrsamkeit, sondern die „Gunst“ ist entscheidend. Deshalb weiß man in Europa schon im voraus, „wenn eine Familie in Gunst stehet, [. . .] daß 50 51 52 53

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S.

305. 278. 40. 459.

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ihre Söhne und Verwandten zu ansehnlichen Bedienungen gelangen werden, wenn sie auch noch so ungeschickt wären“.54 Den Europäern würden aber selbst strenge Prüfungen nicht helfen können, solange diesen keine allgemeine Veränderung in der Erziehung der Bevölkerung vorausgeht. Denn nichts ist so mangelhaft in Europa wie der Unterricht sowohl der Regenten als auch der Untertanen in ihren Pflichten. Die Hälfte aller Untertanen wachsen auf, ohne daß sie in den Schulen das geringste von diesen Pflichten hören, die ihnen so gar den Namen nach unbekannt blieben. Man schränket allen Unterricht auf die Religion ein; gerade, als ob es nicht eben so nothwendig wäre, gute Bürger zu erziehen. Dieser Fehler aller Europäischen Völker ist in den Augen der wahren Vernunft so groß und sichtbar, daß er allein zureichend ist, ihnen die Eigenschaft vernünftiger und gesitteter Nationen abzusprechen.55

2. Konfuzianische Herrschaftspraxis als Reformmodell Justis Auseinandersetzung mit dem konfuzianischen Herrschaftssystem Chinas war stets von scharfer Kritik an den europäischen Zuständen seiner Zeit begleitet. Damit gewinnen seine „Vergleichungen“ eine besondere Bedeutung, nämlich als ein Katalog von Reformvorschlägen für Europa, die eine radikale Veränderung des damaligen politischen Lebens beinhalteten. Justi zog in seiner Staatstheorie nicht eine bestimmte Regierungsform einer anderen als die beste vor. Für ihn waren alle Regierungsformen theoretisch gleich gut. So beschrieb er in seiner Staatstheorie zunächst alle möglichen Regierungsformen, einschließlich der gewaltenteilenden, vermischten Regierungsformen, und ihre Prinzipien neutral, wobei er gewisse Vor- und Nachteile der jeweiligen Regierungsformen nicht unerwähnt ließ. Allerdings stellte er fest, dass in der Praxis bei allen Regierungsformen Missbrauch staatlicher Macht vorkommen kann und auch vorkommt. Deshalb meinte er, komme es weniger auf die Regierungsform als solche, sondern in aller erster Linie darauf an, dass eine Regierung gut eingerichtet ist, um den Endzweck des Staates maximal zu erfüllen. Wenn Justi sich dennoch überwiegend mit der – sei es der europäischen oder der chinesischen – Monarchie beschäftigte, tat er es hauptsächlich deshalb, weil er die zeitgenössische Wirklichkeit im Blick hatte. Den weitaus größten Teil seiner staatstheoretischen Darlegungen machten ohnehin die reformorientierten Überlegungen der politischen und sozialen Verhältnisse aus. Die „Vergleichungen“ waren im Grunde eine an die Zeitumstände angepasste Version der Reformvorschläge Justis.56 Der von Justi vorgeschlagene 54 55

Ebd., S. 488. Ebd., S. 205.

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dritte Weg bestand zwar darin, auf eine Gewaltenteilung zu verzichten und den Regenten stattdessen durch verschiedene Maßnahmen zur Selbstbeschränkung zu veranlassen. Dabei ist aber nicht zu übersehen, dass Justi unter dem Vorwand einer Verteidigung der Monarchie Überlegungen über Möglichkeiten der Mäßigung ihrer Macht anstellte. Er hoffte dadurch, Veränderungen der tatsächlichen Machtstrukturen in seiner Gesellschaft zu bewirken. Dies dürfte das eigentliche Motiv, die „Vergleichungen“ auf der Grundlage der Monarchie abzufassen, gewesen sein. Er wollte „das Regelungsstreben des Absolutismus ‚von innen‘ [. . .] binden“, ohne das Herrschaftssystem als Ganzes direkt in Frage zu stellen.57 Die „Vergleichungen“ präsentierten sich daher in ihrem wichtigsten Teil als eine Art Nachschlagewerk, das Auskunft darüber gab, auf welche Weise sich die Regenten nichteuropäischer Staaten, vor allem in China, „aus eigener Bewegung“ mäßigten.58 Indessen finden sich in den letzten Jahren einige Arbeiten, die den reformerischen Charakter der Theorie Justis nicht mehr in Frage stellen.59 Ihnen zufolge arbeitete Justi stets mit zwei Modellen: einem vom gemäßigt-reformerischen Typus, das die bestehende Gesellschaftsordnung nicht direkt in Frage stellte und auf praktische Umsetzbarkeit bedacht war und einem anderen, das einen Gegenentwurf zu den bestehenden Verhältnissen anbieten sollte.60 Das chinesisch-konfuzianische Herrschaftssystem gehörte demnach zum ersten Typus und war als solches eng mit seiner Theorie verbunden. Es lässt sich nicht mehr feststellen, ob und inwieweit Justis Kenntnisse von China sein politisches Denken mitgeprägt haben, oder ob ihm China lediglich als nützliches Mittel zur Bestätigung bestimmter Überzeugungen diente, die er in der Auseinandersetzung mit der politischen Philosophie Europas gewonnen hatte. Ohne seinen verschwundenen persönlichen Nachlass ist es so gut wie unmöglich, die Entwicklung seiner Interessen und 56

Obert 1992, S. 55. Wilhelm 1991, S. 426. 58 Obert 1992, S. 249. 59 Damit findet eine Neubestimmung des ideengeschichtlichen Standortes Justis, nämlich eine Umbewertung in liberaler Richtung statt (Dreitzel 1987; Wilhelm 1991; Rüdiger 1994; Obert 1992). So meint Dreitzel, Justis besondere Stellung in der Entwicklung der politischen Theorien in Deutschland liege, neben seinen Anregungen für die Wissenschaftsentwicklung, vor allem darin, dass er von seinem liberalen Grundprinzip aus mit z. T. widersprüchlichen Formulierungen grundlegende Vorschläge für alle Richtungen des Liberalismus im 18. Jahrhundert machte, also sowohl für den Reformabsolutismus wie für die konstitutionelle Monarchie, für den anthropologischen Liberalismus ebenso wie für den wirtschaftlichen, für die liberale Konzeption der Außenpolitik ebenso wie für die Selbstverwaltung (vgl. Dreitzel 1991, S. 273). 60 Wilhelm 1991, S. 436. 57

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seines Denkens während der verschiedenen Perioden seines Lebens zu überprüfen. Hinzu kommen ungewöhnliche Schwierigkeiten bei der Identifizierung von Justis Quellen. Er war nämlich der Meinung, dass er es nicht nötig habe, diese anzugeben: Ich habe auch in diesem Buche [Grundsätze der Policeywissenschaft, E.-J. L.] meiner einmal angenommenen Gewohnheit gefolget, nämlich, daß ich keine Schriftsteller anführe, die vor mir von eben dieser Sache geschrieben haben. Ein dogmatischer Schriftsteller muß die Wahrheit überzeugend vortragen; und wenn er dieses leistet; so bedarf es keines Ansehens älterer Scribenten. Dergleichen Citationen schmecken meines Erachtens ein wenig nach Pedanterey, wenn es nicht historische Nachrichten anbetrifft, oder wenn nicht die Widerlegung und andere besondere Umstände die Anführung nothwendig machen.61

So lässt sich nicht einmal sagen, ob Justi bestimmte Ideen, wie z. B. die staatliche Förderung der Seidenproduktion oder die Gründung einer staatlichen Getreidekammer, aus chinesischen Erfahrungen gewonnen hatte.62 Abgesehen von diesen Schwierigkeiten hat Justi die chinesische politische Philosophie offensichtlich zur Untermauerung seines politischen Denkens eingesetzt. Er meinte nämlich, in dieser Philosophie die Bestätigung jener zeitlosen Prinzipien der politischen Weisheit gefunden zu haben, welche in der europäischen Geschichte von den Herrschenden zu häufig missachtet worden waren. Die Radikalität seiner Gesellschaftskritik und die Breite der von ihm erhofften Strukturmaßnahmen lassen kaum Zweifel darüber bestehen, dass Justi sich unter Zuhilfenahme des chinesischen Beispiels eine tiefgreifende – eigentlich systemüberwindende – Reform wünschte. Zuletzt nun die Frage, inwiefern Justis Rezeption der chinesischen politischen Philosophie theoretische wie praktische Wirkungen zeigte. Er gilt ja in der Mitte des 18. Jahrhunderts als einer der bekanntesten und am meisten gedruckten deutschen Schriftsteller und Gelehrten, dessen Werke eine weite Verbreitung fanden.63 Es ist nicht zu bezweifeln, dass Justi in seiner Zeit im deutschsprachigen Raum eine wohlbekannte Persönlichkeit war und auf das Denken seiner Zeitgenossen und die Politik erheblich Einfluss ausgeübt hat. Die in den einschlägigen Lexika des 18. Jahrhunderts enthaltenen Beschreibungen von Justis Leben und Werken belegen seinen hohen Bekanntheitsgrad.64 Schei61

Justi 1756, Vorrede. Menzel 1956, S. 310. 63 Vgl. Schmidt 1961, S. 274; Engelhardt 1981, S. 46. 64 In Zedlers Universallexicon fand Justi keine Erwähnung. Dies lag aber daran, dass der Band bis zum Buchstaben „J“ bereits 1735 erschienen war. Auch die in 62

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demantel berichtete in der „Vorerinnerung“ zur neuen Ausgabe von Justis „Natur und Wesen der Staaten“, dass Justis Werk in den privaten Büchersammlungen verschiedener Regenten zu finden sei.65 Damit war freilich Justis Aussage bestätigt, dass seine Schriften sich „in den Händen aller Staatsleute“ befänden.66 Mithin bezeichnete man Justi als den „Prophet[en] des preußischen Regierungssystems“.67 Gerade was das Regierungssystem und die staatlichen Einrichtungen anbelangt, hatte sich Justi von China sehr beeindruckt gezeigt und ihren vorbildhaften Charakter in seinen Schriften gepriesen. Menzel meint sogar, dass Justis Schriften über das staatliche Verwaltungssystem ganz überwiegend durch die damaligen Berichte über den chinesischen Staat inspiriert worden seien. „It is here, in the field of administrative techniques, that China exerted a direct influence on Justi. The expansion and systematization of cameralistic studies which played such an important part in the preparation of civil servants, especially in Prussia, may thus be traced to Justi’s admiration for Chinese civil service examinations.“68 Diese Einschätzung Menzels ist sehr plausibel. In diesem Zusammenhang wäre es sinnvoll, die Beziehung zwischen dem chinesischen und dem Aufbau des preußischen Verwaltungssystems in der Mitte des 18. Jahrhunderts und die vermittelnde Rolle Justis näher zu untersuchen. Zumindest bei der Einführung des öffentlichen Wettbewerbs zur Rekrutierung des englischen Civil Service (1855) ist der Einfluss des chinesischen Vorbildes nachweisbar.69 Umgekehrt hat Katalin Ferber den Einfluss des deutschen Kameralismus auf den Aufbau des modernen Staates in Japan nach der Meiji-Restauration (1868) aufgezeigt.

den Jahren 1751 bis 1754 erschienenen Ergänzungsbände reichten nur bis „Cap“. In anderen Lexika wurde Justi jedoch durchaus als bedeutender Gelehrter behandelt; z. B. „Versuch einer academischen Gelehrten-Geschichte von der Georg-August Universität zu Göttingen“ (1765/1788), „Lexicon oder kurzgefaßte Lebensbeschreibung aller jetzt lebenden Rechts-Gelehrten“ (1766), „Allgemeine Gelehrten-Lexicon“ (1787), „Historisch literarisches Handbuch berühmter und denkwürdiger Personen, welche in dem 18. Jahrhunderte gestorben sind“ (1797). 65 Justi 1771, S. XIX. 66 Justi 1758, Vorbricht. 67 Mayer 1895, S. 38. 68 Menzel 1956, S. 310. 69 Siehe dazu Teng 1942/43.

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III. Kameralismus in Japan Die Rezeption des Kameralismus in Japan im 19. Jahrhundert verdankt sich der besonderen politischen wie wirtschaftlichen Lage des Landes. Nach der Meiji-Restauration (1868) schickte die neue Regierung Japans ausgewählte Personen nach Deutschland, um die dortigen Gesetze und die Verfassungstheorie zu studieren. Zu ihnen gehörten Kawashima Shiun (1847–1911), der Lorenz von Steins Arbeiten herausgab und später die Urfassung der Meiji-Verfassung entwarf, und Ito¯ Hirobumi, der spätere Ministerpräsident Japans; ebenso Nitobe Inazo (1862–1933), der Autor des berühmten Samurai-Romans „Bushido“, der 1890 in Halle promoviert hatte. Als sie in Deutschland ankamen, waren sie mit einer neuen geistigen Strömung konfrontiert, die den Kameralismus weitgehend überwunden hatte, und die Trennung von Staat und Gesellschaft bereits vollzogen war. Lehmbruch dazu: [. . .] when Japanese authors of that time attempted to render basic ideas of Western political thought, they experienced considerable difficulties in finding an adequate Japanese equivalent for the concept of ‚society‘. But this should not be interpreted as an expression of fundamental differences due to some immutable cultural uniqueness of Japan. On closer look, there were some remarkable affinities between the social and political thought of Meiji Japan and that of ‚ancient Europe‘ (Alteuropa). But whereas this older view of the world had been largely abandoned in modern Germany, Japanese borrowings from contemporary German theory were projected back into an older intellectual framework with references.70

Die Mitglieder der japanischen Delegation sahen in der Beziehung zwischen dem Herrscher und seinen Untertanen in Meiji-Japan und der kameralistischen Erklärung des Verhältnisses von Herrscher und Untertanten wichtige Gemeinsamkeiten beider Länder.71 Die kameralistische Auffassung, dass sich das Staatsoberhaupt um das Wohl des Volkes zu sorgen habe, war der traditionell japanischen patriarchalischen Beziehung zwischen dem Herrscher und Untertanen nicht fremd. Zudem war der Kameralismus als praktische Wissenschaft dem traditionellen japanischen Konzept der Wirtschaft keizai sehr ähnlich, denn das Wort keizai bedeutete nichts anderes als „government administration (in the interesst of) helping the people“. Die deutschen Kameralisten wie Justi hatten von der griechischen oikos ausgehend ein einheitliches Konzept von Haushalt und Staatsfinanzen entwickelt. Sie betrachteten, ähnlich wie in der japanischen Auffassung von der Wirtschaft, soziale Akteure als aktive Diener des staatlichen Wohles, aber zugleich auch als passive Befehlsnehmer der staatlichen Ordnung. 70 71

Lehmbruch 2001, S. 62–63. Ferber 2002, S. 137.

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Demnach hängt das Wohl des Staates von der „guten Regierung“ ab. In dieser Weise erklärte der japanische Minister für Finanzen, Okubo Toshimichi, 1874 die staatliche Verantwortung, das Land wirtschaftlich voranzubringen: The strength of a country depends on the wealth of the people. The wealth of the people depends on how much they produce. How much they produce depends on whether they apply themselves diligently to industry but, more basically, it has always depended on the strength of guidance and encouragement provided by governments and administrations.72

An Okubos Auffassung ist erkennbar, dass das politische Denken in Meiji-Japan vor allem im Hinblick auf die Rolle der Regierung immer noch stark von der traditionell konfuzianischen Sichtweise geprägt war. Dabei betrachtete man die weise Regierung und die sparsame Gesellschaft als der Schlüssel zur wirtschaftlichen Prosperität des Landes. Allerdings hatte der Konfuzianismus angesichts des drastischen politischen, gesellschaftlichen sowie wirtschaftlichen Wandels schon längst an Bedeutung eingebüßt. An seine Stelle setzten die führenden Beamten nunmehr den deutschen Kameralismus, der sich von der konfuzianischen Staatsauffassung nicht wesentlich unterschied, sie reimportierten sozusagen letztere. Die regierende Elite Meiji-Japans, die sich für eine Transplantation ausländischer, insbesondere westlicher Theorien nach Japan entschieden hatten, hatten also nicht nur die Ähnlichkeit zwischen Bismarck-Deutschland und Meiji-Japan im Sinn, sondern auch das Potential des Kameralismus im japanischen Kontext gesehen. So studierten u. a. in Berlin, Halle, Leipzig, Wien japanische Studenten den Kameralismus. Dieser sollte zur neuen Grundlage der staatlichen Wirtschafts- und Strukturpolitik, wie z. B. beim Aufbau des Postsystems werden.73 Fazit Der Kulturtransfer hatte nie einseitig stattgefunden und findet heute auch nicht einseitig statt. Er ist aber stets ein „selektiver Akt“. Nicht alle wahrgenommenen Elemente der fremden Kultur wurden und werden transplantiert. Die Auswahl der Elemente hängen vom politischen, sozialen und wirtschaftlichen Kontext, in dem sich die staatlichen und privaten Entscheidungsträger bewegen, ab. Der beidseitige Kulturtransfer zwischen dem Westen und dem Osten, wie er hier im Hinblick auf den Kameralismus und den Konfuzianismus dargestellt wurde, ergab sich aus der Feststellung von Gemeinsamkeiten zwischen den eigenen Vorstellungen und den als fremd 72

Crawcour 1997, S. 73. Über den Aufbau des Postsystems in Japan im 19. Jahrhundert und den Einfluss des Kameralismus siehe Ferber 2002. 73

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wahrgenommenen Erscheinungen in anderen Ländern. Dies ist allerdings nicht dahingehend zu interpretieren, dass sowohl der Kameralismus als auch Konfuzianismus eine autoritäre Herrschaftslehre vertreten und ihre Anziehungskraft daher rühren würde. Im Falle Justis zeigt sich deutlich, dass er aus seiner Rezeption des Konfuzianismus Reformverschläge für den preußischen bzw. europäischen Staat entwickelt, die die Herrscher zu mehr Verantwortung für das Ganze führen sollten. Nach Katalin Ferber spielten in Japan die Budgetprobleme der Meiji-Regierung bei der Rezeption des deutschen Kameralismus eine wichtige Rolle.74 Das hier dargestellte Beispiel der wechselseitigen Rezeption von Konfuzianismus und Kameralismus in Deutschland und Japan ist kein Einzelfall. Ähnliche Verläufe beim Kulturtransfer lassen sich auch in anderen Bereich finden, wie z. B. in der Übernahme des chinesischen Staatsexamensystems für die Auswahl von Beamten durch England im 19. Jahrhundert – ein System das einige Jahrzehnte später in der Meiji-Zeit in Japan nach englischem Vorbild eingeführt wurde. Es gibt erstaunlich wenig Untersuchungen über die Geschichte des wechselseitigen Kulturtransfers zwischen dem Osten und dem Westen. Hierin liegt wohl eine wichtige und schöne Aufgabe für künftige Wissenschaftler. Literatur Crawcour, Sydney/Ko¯gyo¯, Iken, Maeda Masana and His View of Meiji Economic Development, in: Journal of Japanese Studies, Vol. 23 (1997), No. 1 (zitiert: Crawcour 1997). Dittrich, Eberhard, Johann Heinrich Gottlob von Justi, in: Neue Deutsche Biographie Bd. 10, 1974, S. 707–709 (zitiert: Dittrich 1974). Dreitzel, Horst, Justis Beitrag zur Politisierung der deutschen Aufklärung, in: Hans Erich Bödeker/Ulrich Herrmann (Hg.): Aufklärung als Politisierung – Politisierung der Aufklärung, Hamburg 1987, S. 138–177 (zitiert: Dreitzel 1987). – Monarchiebegriff in der Fürstengesellschaft, Köln u. a. 1991 (zitiert: Dreitzel 1991). Engelhardt, Ulrich, Zum Begriff der Glückseligkeit in der Kameralistischen Staatslehre des 18. Jahrhunderts (J. H. G. v. Justi), in: Zeitschrift für historische Forschung, Jg. 8 (1981), S. 37–79 (zitiert: Engelhardt 1981). Feber, Katalin, ‚Run the State Like a Business‘: The Origin of Deposit Fund in Meiji Japan, in: Japanese Studies, Vol. 22 (2002), No. 2, S. 131–151 (zitiert: Feber 2002). Frensdorff, Ferdinand, Die Vertretung der ökonomischen Wissenschaften in Göttingen vornehmlich im 18. Jahrhundert, in: Festschrift zur Feier des hundertfünfzig74

Ferber 2002, S. 138.

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Eun-Jeung Lee jährigen Bestehens der königlichen Gesellschaft der Wissenschaft zu Göttingen – Beiträge zur Gelehrtengeschichte Göttingens, Berlin 1901, S. 497–565 (zitiert: Frensdorff 1901).

– Über das Leben und die Schriften des Nationalökonomen J. H. G. von Justi, in: Nachrichten von der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, 1903, S. 355–503 (zitiert: Frensdorff 1903). Justi, Johann H. G. von, Grundsätze der Policeywissenschaft in einem vernünftigen, auf den Endzweck der Policey gegründeten, Zusammenhange und zum Gebrauch academischer Vorlesungen abgefasset, Göttingen 1756 (zitiert: Justi 1756). – Die Chimäre des Gleichgewichts von Europa, Altona 1758 (zitiert: Justi 1758). – Der Grundriß einer Guten Regierung in fünf Büchern, Frankfurt/Leipzig 1759 (zitiert: Justi 1759). – Die Grundfeste zu der Macht, Bd. I., Königsberg 1760 (reprint 1965) (zitiert: Justi 1760). – Historische und juristische Schriften, Bd. I., Frankfurt (Main) 1760 (zitiert: Justi 1760a). – Vergleichungen der europäischen mit den asiatischen und andern vermeintlich barbarischen Regierungen, Berlin/Stettin/Leipzig 1762 (reprint, Hg. Jörn Garber, Scriptor Verlag 1978) (zitiert: Justi 1762). – Physicalische und politische Betrachtungen über die Erzeugung des Menschen und Bevölkerung der Länder, Imirna 1769 (zitiert: Justi 1769). – Natur und Wesen der Staaten als die Quelle aller Regierungswissenschaften und Gesetze, mit Anmerkungen hrsg. v. Heinrich Godfried Scheidemantel, Mitau 1771 (Neudruck 1969) (zitiert: Justi 1771). Lehmbruch, Gerhard, The Institutional Embedding of Market Economies: The German „Model“ and its Impact on Japan, in: Wolfgang Streeck/Kozo Yamaura (Hg.): The Origin of Nonliberal Capitalism: Germany and Japan in Comparison, Ithaca 2001 (zitiert: Lehmbruch 2001). Mayer, Otto, Deutsches Verwaltungsrecht, I. Bd., München/Leipzig 1895 (zitiert: Mayer 1895). Menzel, Johanna M., The Sinophilism of J. H. G. Justi, in: Journal of History of the Ideas, 17 (1956), S. 300–310 (zitiert: Menzel 1956). de Montesquieu, Charles, Vom Geist der Gesetze, in neuer Übertragung, 2 Bde., eingel. und hrsg. v. Ernst Forsthoff, 2. Aufl., Tübingen 1992 (zitiert: Montesquieu 1992). Obert, Marcus, Die naturrechtliche „politische Metaphysik“ des Johann Heinrich Gottlob von Justi (1717–1771), Frankfurt (Main)/Bern/New York/Paris 1992 (zitiert: Obert 1992). Rüdiger, Axel, Der Staat als Maschine. Zur politischen Systemtheorie von Johann Heinrich Gottlob von Justi (1717–1771), in: Johann Beckmann-Journal. Mitteilungen der Johann Beckmann-Gesellschaft e. V., 8. Jg. (1994), S. 3–40 (zitiert: Rüdiger 1994).

Kulturtransfer auf „eurasisch“

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Legitimationstheoretische Reflexionen vor dem Hintergrund des Kolonialismus in den Eigentumstheorien John Lockes und Immanuel Kants Susann Held I. Die Rechtslehre Kants, die der Philosoph in seinen letzten Lebensjahren veröffentlichte, konnte bei weitem nicht an den Ruhm der kritischen Philosophie anknüpfen. Der Ruf als Alterswerk eines senilen Geistes, welcher der „Metaphysik der Sitten“1 vorauseilte, stützte sich im Wesentlichen auf das Diktum Schopenhauers vom „[. . .] schwachen Erzeugnis eines gewöhnlichen Erdensohnes [. . .]“2. Doch auch die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Gerhard Buchda entdeckten Unstimmigkeiten in der Textabfolge der kantischen Originaltexte, besser bekannt als „Buchdascher Texteinschub“, dienten nicht dazu, die Popularität der Kantischen Rechtsphilosophie zu steigern.3 Vor dem Hintergrund dieser überwiegend negativ gefärbten Rezeptionsgeschichte der „Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre“ erfolgte die Rehabilitation dieser Schrift erst zu Beginn der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. In diesem Kontext ist neben Reinhard Brandts Studie „Eigentumstheorien von Grotius bis Kant“, welche die signifikantesten Besitzlehren der Neuzeit als Kompendien bündelt, insbesondere auf die Dissertation Richard Saages hinzuweisen, der die politische Theorie Kants unter besonderer Beachtung des besitzindividualistisch geprägten Staats- und Gesellschaftsbegriffs in ideologiekritischer Weise analysiert. Obgleich diese Studie, welche die politische Philosophie Kants nicht nur vor dem Hintergrund der metaphysischen Rechtslehre, sondern auch im Hinblick auf die „[. . .] zeitverhafteten Akzidenzien [. . .]“4 beleuchtet, für teils heftige Kontroversen in der Kant-Forschung sorgte, rückte die Rechtsmetaphysik des Königsberger Philosophen aufgrund der Reflexionen Saa1 2 3 4

Kant 1998. Schopenhauer 1991, S. 588. Vgl. Buchda 1929. Zotta 1994, S. 13.

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ges in den Fokus der interdisziplinären Ideengeschichte. Im Anschluss an Saages Dissertationsschrift erlebte die politische Theorie Kants sowohl in demokratietheoretischer, als auch in rechtsphilosophischer Hinsicht eine Renaissance. Insbesondere das Primat der Besitzlehre und die damit unmittelbar in Zusammenhang stehende Frage nach dem Potential der bürgerlichen Ideologie Kants rückte in den Brennpunkt des wissenschaftlichen Diskurses. Die besitzindividualistische Hermeneutik des Modells der Rechtslehre Kants, welche die Eigentumstheorie im Zentrum der Staatslehre verortet, wird im Rahmen von Saages Studie auch immer unmittelbar mit der empirischen Realität verknüpft. Obgleich Kant eine empirische Untermauerung seiner politischen Theorien kategorisch ablehnt5 und die Prinzipien der Rechtslehre – welche die Basis des öffentlichen Rechts darstellen – ausschließlich durch die Vernunft, also a priori, bestimmt werden, finden die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Modalitäten im Preußen des 18. Jahrhunderts in der transzendentalen Besitzlehre Kants ihre Reflexion. In diesem Zusammenhang weist Saage auch auf die Problematik der Eigentumstheorie als legitimationstheoretische Basis des Kolonialismus hin: „Dieses Kriterium ist für Kant deswegen so wichtig, weil er seine Theorie der ursprünglichen Aneignung nicht nur als ideologischen Rechtsgrund für den Kolonialismus missbraucht sehen will: er wendet sich ausdrücklich in kritischer Intention gegen diese.“6 Obgleich, wie bereits erwähnt, die Studie Saages in der rechtsphilosophischen und der politologischen Forschung ein großes Echo auslöste, blieb die Frage nach der Kohärenz zwischen Besitzlehre und Kolonialismus bislang unbeachtet. An dieser Stelle möchte der vorliegende Aufsatz anknüpfen. Um dabei das Spannungsfeld der legitimationstheoretischen Entgrenzung von Eigentumstheorien zu skizzieren, werden im Folgenden die Besitzlehren John Lockes und Immanuel Kants vor dem Hintergrund der Kolonialismusproblematik beleuchtet. II. Der Begriff des Kolonialismus wird definiert als „[. . .] die Kontrolle eines Volkes über ein fremdes unter wirtschaftlicher, politischer und ideologischer Ausnutzung der Entwicklungsdifferenz zwischen beiden [. . .]“7. Un5

Die Bestimmungen seiner kritischen Philosophie finden folglich in der Rechtslehre ihre Erweiterung in den Bereich des Politischen. 6 Saage 1994, S. 61. 7 Reinhard 1996, S. 1.

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terschieden werden muss vor dem Hintergrund der politischen Theorien Lockes und Kants zwischen zwei Grundtypen von Kolonien. Locke konzentriert sich im Rahmen seiner legitimationstheoretischen Argumentation innerhalb der „Two Treatise of Government“8 ausschließlich auf den Typus der Siedlungskolonien. Der Historiker Reinhardt sieht in dieser Kategorie den „[. . .] Urtyp von Kolonien [. . .]“9, der infolge einer „[. . .] fortschreitenden Besiedlung und Urbarmachung [. . .]“10 des fremden Bodens auf eine vollständige Assimilierung dieses Landes zielt. Die Verdrängung und Unterwerfung der Ureinwohner bzw. „Vorbewohner“11 steht dabei im Zeichen der wirtschaftlichen und demographischen Expansion des in jeder Hinsicht überlegenen europäischen Nationalstaates. Kant hingegen fokussiert in der Rechtslehre und der Abhandlung über das Völkerrecht „Vom ewigen Frieden“12 in erster Linie die Kategorie der „Herrschaftskolonie“13. Diese zeichnet sich durch wirtschaftliche und politische Kontrolle des Landes aus, ohne dabei jedoch infolge einer Besiedlung die Vorbewohner zu verdrängen. Bei diesem Typus der Koloniebildung steht die Herrschaftsausübung über die ursprünglichen Bewohner im Vordergrund. Diese werden in diesem Sinne hauptsächlich, wie insbesondere am „[. . .] hispano-amerikanischen Typ [. . .]“14 ersichtlich, zur Ausbeutung der natürlichen Ressourcen – und später im Rahmen des Imperialismus auch zur Ausbeutung der menschlichen Arbeitsressourcen – missbraucht. Die Fokussierung Lockes und Kants auf verschiedene Typen kolonialer Herrschaft lässt sich durch den empirischen Hintergrund beider Philosophen erklären, welcher im folgenden im unmittelbaren Zusammenhang mit der Besitzlehre analysiert werden soll. III. Dass Lockes Eigentumstheorie im Rahmen des naturrechtlich-kontraktualistischen Arguments die Grundlage für die Legitimation politischer Herrschaft bildet, muss an dieser Stelle nicht gesondert betont werden. Doch neben diesem Primat der Herrschaftsbegründung liefert die Arbeitstheorie der „Two Treatise of Government“ auch die naturrechtliche Legitimation zur Expansion des englischen Nationalstaates in überseeische Gebiete, die der 8

Locke 1995. Reinhard 1996, S. 2. 10 Ebd., S. 2 f. 11 Ebd., S. 3. 12 Kant 1998a. 13 Reinhard 1996, S. 3. 14 Ebd. 9

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empirischen Situation Englands im 17. Jahrhundert geschuldet war. Die politische Philosophie Lockes entstand in einer Zeit, in der englische Auswanderer begannen, den Osten Nordamerikas zu besiedeln. Während der Regierungszeit Elisabeth I. hatten sich die Bemühungen der Engländer, in die von Spanien und Portugal dominierte Kolonialwelt einzudringen, verstärkt. Im Jahr 1578 unterzeichnete die Regentin einen Freibrief, der den Engländern erlaubte, in Amerika zu siedeln, mit der Folge einer englischen Kolonialgründung an der nordamerikanischen Küste in der Nähe von Neufundland. Die erste Siedlungskolonie wurde schließlich 1620 von den Pilgervätern, einer Gruppe puritanischer Separatisten, die in ihrem Mutterland sowohl von der Kirche als auch von der Krone verfolgt wurden, im heutigen Bundesstaat Massachusetts gegründet. Diese Siedler hatten zuvor im „Mayflower Compact“ vertraglich die Bildung einer Regierung fixiert.15 Auch Locke war rund 40 Jahre nach den ersten englischen Siedlungen in Nordamerika in die britische Kolonialpolitik involviert: 1663 hatte Karl II. von England die englische Kolonie Carolina acht Personen, den sogenannten Lord Proprietors, die ihn bei der Besteigung des englischen Throns unterstützt hatten, als Eigentum übergeben. Einer von ihnen war Anthony Ashley Cooper, später der first Earl of Shaftesbury, der zusammen mit seinem Sekretär John Locke die „Fundamental Constitutions“ schrieb, eine Gesetzessammlung, die für die Kolonie vorgesehen war. Diese Gesetze wurden allerdings später von der Versammlung der Kolonisten abgelehnt.16 Vor diesem Hintergrund erschienen Lockes Bemühungen, der Expansion des englischen Nationalstaates in die überseeischen Gebiete, im Rahmen seiner Besitzlehre zu einer naturrechtlichen Legitimation zu verhelfen, verständlich. Lockes einfache Formel zur Schaffung von individuellem Eigentum basiert auf der These, dass die natürlichen Ressourcen zur Nutzbarmachung aus dem von Gott gegebenen Gemeineigentum herausgelöst werden müssen. Diese individuelle Nutzung kann laut Locke nur über den vertragsfreien Weg der Arbeit erfolgen. Im Prozess der Arbeit wird folglich ein herrenloser äußerer Gegenstand mit Geistes- und Körperkraft „gemischt“ und somit zum Privateigentum des Menschen. Arbeit wird demzufolge als honoriges Prinzip des Eigentumserwerbs begriffen. Einzig die naturrechtlichen Limitierungen, die spoilation-proviso (Verderblichkeitsschranke) und die sufficiency-proviso (Gleichwertigkeitsschranke) begrenzen die Aneignung der natürlichen Ressourcen auf ein Maß, welches sich an der Befriedigung der individuellen Grundbedürfnisse orientiert. Locke fasst diesen Status wie folgt zusammen: „Dieses Maß beschränkte den Besitz jedes Menschen auf 15 16

Vgl. hierzu: Konetzke 1991, S. 633 f. Vgl. hierzu: Arneil 1996, S. 118 ff.

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einen sehr bescheidenen Anteil, nämlich auf das, was er sich aneignen konnte, ohne irgendjemandem einen Schaden zuzufügen.“17 Locke beschreibt in diesem Sinne die Sozietät der Individuen in der ersten Phase des Naturzustandes, die an anderer Stelle von ihm auch das „goldene Zeitalter“18 genannt wird. Er betont, dass die Menschen an diesem Punkt der gesellschaftlichen Entwicklung „[. . .] eher Gefahr liefen, zugrunde zu gehen, wenn sie sich von ihren Gefährten trennten und in die damals weite Wildnis der Erde zogen, als Not zu leiden, weil es nicht genügend Land gab, das bebaut werden konnte [. . .]“19 Locke schlägt nun einen argumentativen Bogen zur empirischen Realität Europas im 17. Jahrhundert: „Und dasselbe Maß kann man, so bevölkert die Welt auch erscheinen mag, noch heute anerkennen, ohne irgendjemanden einen Schaden zuzufügen.“20 Infolge dieses von temporären Modalitäten unabhängigen Geltungsanspruchs des Arbeitseigentums verdeutlicht Locke dessen naturrechtliche Legitimationsbasis. Durch diese Argumentationsweise setzt er das naturrechtliche Prinzip des Eigentumserwerbs geschickt in Zusammenhang mit einem der größten Probleme des sich wandelnden Wirtschaftssystems in England: die Verknappung an Landgrundstücken. Insbesondere durch den florierenden Wollhandel, Englands wichtigstem Produktionszweig für den Export, spitzte sich diese Situation zu. Infolge der großen Nachfrage und des sich daraus ergebenden Preisanstiegs für Wollprodukte im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts wurde die Schafzucht ökonomisch weit attraktiver, als die traditionelle landwirtschaftliche Nutzung des Bodens. Durch Einhegungen (enclourses)21 wurde versucht, der Marktnachfrage an Schafwolle entgegenzukommen.22 Vor allem der ländliche Kleinadel profitierte von diesen auf rein rationalem Nutzenkalkül aufgebauten Landeinhegungen.

17

Locke 1995, S. 221. Interessanterweise bindet Locke, der sich in seinem Selbstverständnis als Vertreter des modernen Naturrechts begreift, mit dem Terminus des „goldenen Zeitalters“ einen Topos des traditionellen Naturrechts in seine Argumentation ein. 19 Locke 1995, S. 221. 20 Locke 1995, S. 221 f. 21 Der Terminus „Einhegungen“ bezeichnet die Umwandlung von Ackerland in Weideland für die Schafzucht. 22 Die Folge der Einhegungsbewegung war (bedingt durch die wenig arbeitskraftintensive Schafzucht) ein Ausschluss der Kleinbauern aus dem Produktionsprozess und eine damit einhergehende beispiellose Verelendung der Landbevölkerung, sowie eine Verödung weiter Landstriche. Der wohl prominenteste Kritiker der Einhegungen war der Lordkanzler Heinrichs VIII. Thomas Morus. In seiner „Utopia“ beschreibt er das Leid der entwurzelten Kleinbauern mit den Worten „‚Das sind eure Schafe‘, sagte ich, ‚die so sanft und genügsam zu sein pflegten, aber jetzt wie man hört, so gefräßig und bösartig werden, daß die sogar Menschen fressen, Felder, Gehöfte und Dörfer verwüsten und entvölkern.“ (Morus 1992, S. 26). 18

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Die Einbindung der empirischen Situation im Blickwinkel behaltend, argumentiert Locke weiter – und konkretisiert an dieser Stelle erstmals die territorialen Visionen der Expansion in vermeintlich „unbesiedelte“23 Gebiete, dass unter Berücksichtigung der Aneignungsschranken eine – auch in moralischer Hinsicht – mit dem Naturrecht konvergierende Okkupation stattfindet: „Wenn wir einmal annehmen, ein Mensch oder eine Familie würde sich in jenem Zustand befinden, in dem sich die Menschen befanden, als die Welt zuerst von den Kindern Adams oder Noahs bevölkert wurde, und irgendein unbewohntes Stück Land im Inneren Amerikas besiedeln, so könnte der Besitz den sie [. . .] erwerben, nicht sehr groß sein und selbst heute die übrigen Menschen nicht benachteiligen. Es würde ihnen auch keinen Grund geben, sich zu beklagen oder sich durch die Anmaßung dieses Menschen geschädigt zu fühlen, obwohl sich das Menschengeschlecht heute bis in alle Winkel der Welt verbreitet hat und die anfänglich kleine Anzahl unendlich überstiegen hat.“24 Locke kokettiert an dieser Stelle bewusst mit dem Topos der unproduktiven Einöde Amerika der einem Appell an den Arbeitsethos seiner Landleute zur Urbarmachung aller Brachflächen gleichkommt. Die Verleihung des Rechtstitels infolge der Bearbeitung eines Gebietes und die darin enthaltene physische Begrenzung impliziert für Locke, dass die Teile Amerikas, die nicht im europäischen Sinne kultiviert, d. h. bepflügt und bepflanzt sind, nicht als Eigentum der Ureinwohner gelten können. Locke unterstreicht diesen europäischen Maßstab der Landnutzung: „So viel Land ein Mensch bepflügt, bepflanzt bebaut, kultiviert und soviel 23 In der neueren historischen Forschung gibt es mittlerweile einen Ansatz, der die Geschichte des Süd- und Nordamerikanischen Kontinents dahingehend infrage stellt, dass die Ureinwohner vor der Entdeckung durch Columbus 1492 nicht dem Schema des Jägers und Sammlers entsprachen, sondern in einer relativ weit entwickelten Kulturlandschaft existierten. Vgl. hierzu: Mann 2005. Nach Manns Forschungen sollen vor der Entdeckung Amerikas dort annährend so viele Menschen gelebt haben, wie zu diesem Zeitpunkt in Europa. Ihre Siedlungen sollen urbane Züge getragen haben und die „[. . .] angeblichen Wilden besaßen Teiche, Tiergehege und Obstgärten [. . .]“. Wie bereits weitläufig bekannt, dezimierte sich die Anzahl der Ureinwohner drastisch aufgrund der durch die weißen Eroberer eingeschleppten Krankheitserreger: „1616 sank ein Schiff der Franzosen vor [. . .] Cape Cod. Die Indianer nahmen die wenigen Überlebenden auf, verteilten sie auf die Dörfer – und holten sich auf diese Weise einen infektiösen Fremdling in ihre Mitte. Die Seuche, vermutlich Hepatitis, breitete sich rasend schnell unter den Ureinwohnern aus. Von 1616 bis 1619 wurden ungefähr 90 Prozent von ihnen ausgelöscht. [. . .] Millionen Indianer wurden Opfer tödlicher Keime, noch bevor sie jemals in ein Bleichgesicht geblickt hatten. Demzufolge waren weite Teile Nord- und Südamerikas längst entvölkert, als die ersten weißen Siedler dort ankamen. [. . .] Der Mythos von der menschenleeren Wildnis Amerikas war geboren.“ (Blech 2005, S. 217–218). 24 Locke 1995, S. 222.

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er von dem Ertrag verwerten kann, soviel ist sein Eigentum.“25 Dass die Ureinwohner jedoch ihr Land nicht entsprechend der europäischen „Norm“ nutzen, sondern vielmehr „[. . .] gezielt Haine voller Früchte und Jagdgründe schufen, in denen sie Hirsche und Bisons hielten [. . .]“26 und durch Brandrodung „[. . .] den Wald immer weiter zurückdrängten und so viele jener Prärien schufen [. . .]“27 die den europäischen Eroberern den Eindruck des Brachliegens vermittelten, übersieht Locke bewusst oder unbewusst. Nach Lockes Logik ist das weite Land des amerikanischen Kontinents in großen Teilen unbearbeitet, was dazu berechtigt, dort zu siedeln und die ungenutzten Bodenflächen zu kultivieren ohne geltendes (Eigentums-)Recht zu verletzen. Die Aneignung dieser Brachflächen wird von Locke nicht als Übergriff, Besetzung oder gar Diebstahl gewertet, sondern legitimiert sich durch den höheren Zweck der Wertsteigerung: „Ja, die Ausdehnung von Grund und Boden ist ohne die Bearbeitung von einem so geringen Wert, daß sogar, wie man versichert, in Spanien ein Mensch ungestört auf einem Stück Land pflügen, säen und ernten darf, auf das er keinen anderen Rechtsanspruch hat, als daß er es für sich nutzt. Im Gegenteil, die Einwohner fühlen sich demjenigen sogar zu Dank verpflichtet, weil er durch seinen Fleiß auf dem vernachlässigten und folglich brachliegenden Land den notwendigen Getreidevorrat vergrößert hat.“28 Lockes Theorem verbindet somit den aus dem göttlichen Arbeitsgebot resultierenden Eigentumsbegriff mit der Möglichkeit einer extremen Landexpansion. Der eng gefasste Arbeitsbegriff, der im wesentlichen den Maßstab der Bodenkultivierung reflektiert und somit Ausdruck einer konkreten gesellschaftlichen Interessenlage ist, ermöglicht frei nach dem biblischen Credo „[. . .] und füllet die Erde und macht sie euch untertan [. . .]“ (Mose 1, 28) die Ausbreitung in vermeintliche Brachflächen. Interessanterweise installiert Locke die naturrechtliche Legitimationsbasis der Expansion in seiner politischen Theorie noch vor der Einführung des Geldes im zweiten Stadium des Naturzustandes. Aufgrund der dann folgenden Geldeinführung verlieren die Aneignungsschranken spoilation-proviso und sufficiency-proviso ihren Geltungsanspruch, da durch die Tauschfunktion des Geldes einerseits nichts mehr ungenutzt verderben kann und sich andererseits die Individuen mit ihrer Zustimmung zur Geldeinführung auch mit der ungleichen Verteilung der Landgüter abgefunden hatten. Aus dieser Entwicklung resultiert, dass nicht mehr die moralisch-naturrechtlichen Normen, sondern ausschließlich die Gesetze des Marktes die Verteilung des 25 26 27 28

Ebd., S. 219. Blech 2005, S. 218. Ebd. Locke 1995, S. 222.

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Bodens bestimmen. Setzt man dieses Fazit der Lockeschen Eigentumslehre in Relation zur empirischen Situationen der Expansion des englischen Nationalstaates in die nordamerikanischen Gebiete, so stellt sich dieses Theorem als rechtliche, ökonomische und moralische Legitimation des Kolonialismus dar. IV. Im Unterschied zu Locke war Immanuel Kant zu keinem Zeitpunkt seines Lebens persönlich in die Problematik der Kolonialisierung involviert. Dies verwundert nicht, da Deutschland erst rund achtzig Jahre nach seinem Tod nennenswerte Erfolge in der Kolonialpolitik verzeichnen konnte. Während die Nord- und Ostseeanrainer Holland, Belgien, Dänemark und England bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts infolge des Niedergangs des hanseatischen Handels29 die überseeischen Gebiete unter sich aufteilten, blieben die deutschen Staaten derartigen Bestrebungen fern.30 Zwar gelang es einzelnen Händlern lukrative Verträge mit den Kolonialherren (wie etwa zwischen den Fuggern und Spanien) zu schließen, aber charakteristisch für die deutschen Staaten während des 16. und 17. Jahrhunderts war ihre Machtlosigkeit zur See. Erst während der Regentschaft Kaiser Wilhelms II. (und entgegen den Bestrebungen des Reichskanzlers Bismarck) konnte das Deutsche Reich, insbesondere im afrikanischen und mittelpazifischen Raum, Kolonien erwerben.31 Resultat dieser Entwicklung war der Aufstieg Deutschlands zur Imperialmacht. Doch obgleich dieser Prozess keinen Berührungspunkt mit dem Leben Kants hat, findet sich in seiner politischen Theorie und speziell in seiner 1795 erschienenen Schrift über das Völkerrecht „Zum ewigen Frieden“32 eine deutliche Stellungnahme zum Habitus der europäischen Kolonialherren in denen von ihnen dominierten Gebieten. Er verurteilt ausdrücklich das „[. . .] inhospitale Betragen der gesitteten, vornehmlich handeltreibenden Staaten unseres Weltteils [. . .]“33 Nur selten finden sich in Kants Werk Passagen, in denen die Emotionen ihres Autors so deutlich zum Vorschein kommen wie zur Thematik der Kolonisation: „[. . .] so geht die Ungerechtigkeit, die sie in dem Besuche fremder Länder und Völker (welches ihnen 29 Seit 1630 bestand die Hanse nur noch aus den deutschen Staaten Lübeck, Hamburg und Bremen. In dieser Form existierte sie dann nur noch 39 Jahre. Vgl. hierzu: Hammel-Kiesow 2000, S. 104 ff. 30 Vgl. hierzu: Fieldhouse 1998. S. 322 f. 31 Eine übersichtliche und informative Darstellung dieser Entwicklung findet sich bei: Graichen/Gründer 2005, S. 23–52. 32 Kant 1998a. 33 Kant 1998a, S. 214.

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mit dem Erobern derselben für einerlei gilt) beweisen, bis zum Erschrecken weit. Amerika, die Negerländer, die Gewürzinseln, das Kap etc. waren, bei ihrer Entdeckung, für sie Länder, die keinem gehörten, denn die Ureinwohner rechneten sie für nichts. In Ostindien (Hindustan) brachten sie, unter den Vorwande bloß beabsichtigter Handelsniederungen, fremde Kriegsvölker hinein, mit ihnen aber Unterdrückung der Eingeborenen, Aufwiegelung der verschiedenen Staaten desselben zu weit ausgebreiteten Kriegen, Hungersnot, Aufruhr, Treulosigkeit, und wie die Litanei aller Übel, die das menschliche Geschlecht drücken, weiter lauten mag.“34 Die Ambivalenz dieser Passage ist offensichtlich: Einerseits thematisiert Kant an dieser Stelle das Leid der Individuen, welches ihnen durch Pilgerväter und Konquistadoren zugefügt wurde. Andererseits hinterfragt er die legitimationstheoretische Basis der Expansionsbestrebungen der europäischen Nationalstaaten. 1. Kants Anteilnahme am Schicksal der Ureinwohner in den von den Europäern eroberten Gebieten spiegelt deutlich eine, durch die philosophischanthropologische Zivilisationskritik des 18. Jahrhunderts beeinflusste, Aufarbeitung der völkerrechtlichen Verbrechen der Kolonialherren in den von ihnen eroberten Gebieten wieder. Die Reflexion des Genozids, der vor allem in Amerika, Afrika und Südasien von den Eroberern begangen worden war35, geht im wesentlichen auf das Motiv des „edlen Wilden“ zurück, welches „[. . .] im Anschluss an Bougainvilles Reisebericht [. . .]“36 und Rousseaus Sentimentalismus in den gebildeten Kreisen und intellektuellen Salons Europas zu einem der Leitmotive des aufgeklärten Diskurses avancierte. Dieser „[. . .] Topos des Edlen Wilden unterstellt eine prinzipielle Dichotomie von Natur und Zivilisation/Kultur, deren Entwicklung er als Depravation entwirft. Dem am Ursprung des Geschichtsprozesses angesiedelten Edlen Wilden werden naturgegebene ethisch-moralische Qualitäten, eine Sinnlichkeit und Vitalität zugeschrieben, von denen sich der rational geleitete Zivilisierte weit entfernt habe.“37 Die interkulturelle Begegnung, die einseitig vom „zivilisierten“ Europa erzwungen wurde, und deren Realität sich meilenweit vom romantischen Topoi der frühen Reisebeschreibungen des frühen 17. Jahrhundert differenziert, lässt sich als „Clash of Civilizations“ charakterisieren, denn nur in wenigen Fällen waren die Ureinwohner bereit, sich in devoter Haltung von den Eroberern „[. . .] christianisieren und kolonialisieren [. . .]“38 zu lassen. In den meisten Fällen leisteten die Ureinwoh34 35 36 37 38

Kant 1998a, S. 214 f. Vgl. hierzu: Heinsohn 1998, S. 181. Kaufmann/Haslinger 2002, S. 14. Ebd., S. 14 f. Ebd., S. 16.

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ner nach einer anfänglichen, vom gegenseitigen Handel mit den Eroberern geprägten Phase erbitterten Widerstand: „Angewidert nahmen die Indianer im heutigen Neuengland zur Kenntnis, dass die Weißen ihren Rotz in Tücher schnäuzten, die sie dann wie Pretiosen mit sich herumtrugen, und dass manche von den Eindringlingen sich niemals badeten. Die [. . .] Indianer [. . .] trieben zunächst eifrig Handel mit den Seefahrern aus Europa. Jedoch erlaubten es die Alteingesessen den Fremden nicht, Siedlungen auf dem Festland zu gründen. Die wenigen Versuche, etwa im heutigen Maine, wurden blutig unterbunden.“39 Kants kritische Äußerungen reihen sich in die zivilisationskritische Strömung, welche die koloniale Expansion Europas begleitete ein und müssen in diesem Zusammenhang als Bindeglied zwischen der Anthropologie und der Moralphilosophie verstanden werden. 2. Im Unterschied zum Entwurf Lockes verweigert Kant im Rahmen seiner Besitzlehre der europäischen Kolonialpolitik jegliche Legitimationsgrundlage. Der Grund hierfür liegt in der inneren Struktur seiner Okkupationstheorie. Diese basiert auf der These, das Eigentum eben nicht nur im Sinne von Besitz, also der empirischen physischen Innehabung eines Gegenstandes, sondern auch in einer nichtempirischen und rein intelligibelrechtlichen Bindung besteht. Manfred Kühn verdeutlicht diese Differenzierung zwischen der intelligiblen Rechtssphäre und dem rein empirischen Innehaben eines Objektes: „Wenn ich ihnen also mein Auto leihe, dann besitzen sie es, es ist aber immer noch mein Eigentum. Zwar ist es möglich, eine Sache rechtmäßig zu besitzen, aber es ist auch möglich sie zu besitzen, ohne ein Recht dazu zu haben. Wenn sie also mit dem Auto durchbrennen und es nicht mehr zurückbringen, dann besitzen sie es, aber sie haben kein Recht darauf. Das Besitzrecht hat der Eigentümer, und nur der Eigentümer kann dieses Recht übertragen oder aufgeben.“40 Dieser rein rechtliche Eigentumstitel wird in Kants Konstruktion, die von einem ursprünglichen Gemeinbesitz41 ausgeht, infolge der gesellschaftlichen Anerkennung verliehen. Das Privateigentum wird folglich „[. . .] durch eine kollektive volonté générale vermittelt gedacht [. . .]“42 und ausschließlich „[. . .] im Intelligiblen verankert [. . .]“43 39

Blech 2005, S. 217. Kühn 2003, S. 460. 41 Kant 1998, S. 371: „Das Recht in einer Sache ist ein Recht des Privatgebrauchs einer Sache, in deren (ursprünglichem oder gestifteten) Gemeinbesitz ich mit allen anderen bin. Denn das letztere ist die einzige Bedingung, unter der es allein möglich ist, daß ich jeden anderen Besitzer vom Privatgebrauch der Sache ausschließe [. . .]“. 42 Saage 1994, S. 55. 43 Ebd. 40

Legitimationstheoretische Reflexionen in den Theorien Lockes und Kants 111

Doch um dieser Verleihung des Rechtstitels eine materielle Basis zu verleihen, benötigt auch die transzendentale Besitzlehre Kants ein empirisches Objekt. Kant hatte den empirischen Eigentumstitel mit dem Prinzip der ersten Erwerbung verknüpft. Demnach kann die ursprüngliche Erwerbung eines äußeren Gegenstandes als einseitige Aneignungshandlung nur unter der Prämisse der Herrenlosigkeit (res nullius) dieser Sache vollzogen werden. Ausgehend vom starren Substanzbegriff Kants – demnach sind alle äußeren (eigentumsfähigen) Gegenstände nur Akzidenzien, die zur Erde gehören – muss die erste Erwerbung am Boden stattfinden. Hier lässt sich demzufolge der erste Kritikpunkt verorten: Die Kolonialherren können kein ursprüngliches Eigentumsrecht an Gebieten der Expansion geltend machen, da die Prämisse der Herrenlosigkeit nicht erfüllt wird. Lässt sich im Kontext der Lockeschen Besitzlehre aufgrund des eng gefassten Arbeitsbegriffs eine solche erste Erwerbung zugunsten der Ureinwohner nicht nachweisen, gelingt es Kant, zu belegen, dass die Kolonialherren keine ursprüngliche Erwerbung vollzogen haben. Neben der Prämisse der Herrenlosigkeit des Bodens muss derjenige, der beabsichtigt dieses Land für sich zu beanspruchen, das Kriterium der zeitlichen Priorität erfüllen: Nur wenn er der Erste ist, der dieses Land im Rahmen eines willkürlichen Aktes (der sich durch die vier Momente der Aneignung, Apprehension, Bezeichnung und der Zueignung durch den vereinigten Willen definiert) zu seinem Eigen machen will, wenn also noch kein anderer Eigentumsrechte an diesem Boden erworben hat, ist es möglich, dieses Land zu okkupieren. Diese erste Erwerbung wird zur Bedingung für die Nutzung dieses Bodens. Demnach hatten die Ureinwohner der Kolonien den Boden in ihrer Gewalt, und diese Gewalthabe wurde durch die (in der Idee) vereinigte Willkür dieser Eingeborenengesellschaft rechtlich sanktioniert, was somit der intelligiblen Sphäre des Rechtsbegriffs entspricht. Aus diesen Proprietätsverhältnissen kann demnach auf eine relativ stabile Rechtsfigur des Eigentums (wie im Rahmen des Naturzustandstheorems) vor der Kolonialisierung geschlossen werden. Die Kolonialherren könnten demnach allenfalls den Boden physisch besitzen,44 ein ursprüngliches Eigentumsrecht, wie Locke es in seiner Theorie deduziert, steht ihnen jedoch aufgrund der mangelnden Priorität der Aneignung nicht zu. Dieser Argumentation entspricht folgende Passage aus der „Metaphysik der Sitten“: „Zuletzt kann noch gefragt werden: Ob, wenn uns weder die Natur noch der Zufall, sondern bloß unserer eigener Wille in Nachbarschaft mit einem Volk bringt, welches keine Aussicht zu einer bürgerlichen Verbindung mit ihm verspricht, wir nicht in der Absicht, diese zu stiften und diese Menschen (Wilde) in einen recht44 Nota bene! Der Begriff des Besitzes wird von dem des Eigentums bereits im römischen Recht unterschieden. Vgl. hierzu: Hausmaniger 1991, S. 183–251.

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lichen Zustand zu versetzen (wie etwa die amerikanischen Wilden, die Hottentotten, die Neuholländer), befugt sein sollten, allenfalls mit Gewalt oder (welches nicht viel besser ist) durch betrügerischen Kauf, Kolonien zu errichten und so Eigentümer ihres Bodens zu werden und ohne Rücksicht auf ihren ersten Besitz Gebrauch von unserer Überlegenheit zu machen; zumal es die Natur selbst (als die das Leere verabscheut) so zu fordern scheint und große Landstriche in anderen Weltteilen an gesitteten Einwohnern sonst menschenleer geblieben wären, die jetzt herrlich bevölkert sind, oder gar auf immer bleiben müßten, und so den Zweck der Schöpfung vereitelt werden würde? Allein man sieht durch diesen Schleier der Ungerechtigkeit (Jesuitismus), alle Mittel zu guten Zwecken zu billigen, leicht durch; diese Art der Erwerbung des Bodens ist also verwerflich.“45

Kants Theorie der prima occupatio verdeutlicht also, dass die Expansion der europäischen Nationalstaaten jeglicher legitimationstheoretischer Grundlage entbehrt. Der rechtlose Charakter (im Sinne des rechtlichen Besitzanspruches) des Kolonialismus, bei dem es sich im kantischen Verständnis um eine erzwungene Duldung und nicht um Hoheitsrechte handelt, wird insbesondere durch die Titulierung der Kolonialherren als „Besucher“46 betont. V. Vor dem Hintergrund der Kolonialisierungsproblematik wird die Differenz zwischen den Eigentumslehren Lockes und Kants deutlich. Locke entgrenzt infolge des Arbeitsbegriffes das Eigentum zugunsten des an die sozioökonomischen Realitäten gebundenen Besitzbürgers, welcher durch den Handel mit den Ressourcen der Kolonien dem Prinzip der frühkapitalistischen Wirtschaftsweise entspricht. Kant bindet den Umfang des ursprünglichen Eigentums – mit Hinweis auf die dem Kolonialismus inhärente Rechtlosigkeit – unauflösbar an die Priorität der Zeit. Das Prinzip der ersten Erwerbung ist universell und daher auch in den Kolonien gültig: Der ursprüngliche Rechtstitel des Eigentums gebührt demzufolge den Ureinwohnern. Ökonomische Überlegungen werden in Kants Argumentation, die den Rechtsbegriff fokussiert, vollkommen ausgegrenzt. Die Eigentumstheorie des bürgerlichen Zeitalters beinhaltet folglich nicht das Primat der theoretischen Legitimationsgrundlage politischer Herrschaft, sondern reflektiert zahlreiche Facetten des empirischen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zeitgeschehens, wie in diesem Fall die höchst differenzierten Thesen zur kolonialen Ausdehnung des europäischen Nationalstaates. 45 46

Kant 1998, S. 377. Kant 1998a, S. 214 f.

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Literatur Arneil, Barbara, John Locke and America – The Defence of English Coloialism, New York 1996 (zitiert: Arneil 1996). Blech, Jörg, Dreckige Eroberer, in: „Der Spiegel“, Nr. 42/2005, S. 217–218 (zitiert: Blech 2005). Buchda, Gerhard, Das Privatrecht Immanuel Kants. (Der erste Teil der Rechtslehre in der Metaphysik der Sitten). Ein Beitrag zur Geschichte und zum System des Naturrechts, Jena 1929 (zitiert: Buchda 1929). Fieldhouse, David K., Die Kolonialreiche seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1998 (zitiert: Fieldhouse 1998). Graichen, Gisela/Gründer, Horst, Deutsche Kolonien – Traum und Trauma, Berlin 2005 (zitiert: Graichen/Gründer 2005). Hammel-Kiesow, Rolf, Die Hanse, München 2000 (zitiert: Hammel-Kiesow 2000). Hausmaniger, Herbert, Römisches Privatrecht, Wien 1991 (zitiert: Hausmaniger 1991). Heinsohn, Gunnar, Lexikon der Völkermorde, Hamburg 1998 (zitiert: Heinsohn 1998). Kant, Immanuel, Metaphysik der Sitten, in: Wilhelm Weischedel (Hg.): Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, Bd. 4, Darmstadt 1998, S. 303–634 (zitiert: Kant 1998). – Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: Wilhelm Weischedel (Hg.): Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, Bd. 6, Darmstadt 1998, S. 191–251 (zitiert: Kant 1998a). Kaufmann, Stefan/Haslinger, Peter, Einleitung, in: Monika Fludernik/Peter Haslinger/Stefan Kaufmann (Hg.): Der Alternitätsdiskurs des Edlen Wilden. Exotismus, Anthropologie und Zivilisationskritik am Beispiel eines europäischen Topos, Würzburg 2002 (zitiert: Kaufmann/Haslinger 2002). Konetzke, Richard, Überseeische Entdeckungen und Eroberungen, in: Golo Mann/ August Nitschke (Hg.): Propyläen Weltgeschichte, Berlin 1991, Bd. 6, S. 633 f. (zitiert: Konetzke 1991). Kühn, Manfred, Kant – eine Biographie, München 2003 (zitiert: Kühn 2003). Locke, John, Zwei Abhandlungen über die Regierung, hrsg. v. Walter Euchner, übers. v. Hans Jörn Hoffmann, Frankfurt (Main) 1995 (zitiert: Locke 1995). Mann, Charles C., 1491 – New Relations of the Amerikans Before Columbus, New York 2005 (zitiert: Mann 2005). Morus, Thomas, Utopia, in: Ernesto Grassi (Hg.): Der utopische Staat, Hamburg 1992 (zitiert: Morus 1992). Reinhard, Wolfgang, Kleine Geschichte des Kolonialismus, Stuttgart 1996 (zitiert: Reinhard 1996).

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Saage, Richard, Eigentum, Staat und Gesellschaft bei Immanuel Kant, Baden-Baden 1994 (zitiert: Saage 1994). Schopenhauer, Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung, hrsg. v. Ludger Lütkehaus, Zürich 1991 (zitiert: Schopenhauer 1991). Zotta, Franco, Kant und der Besitzindividualismus, Vorwort zu Saage 1994, BadenBaden 1994 (zitiert: Zotta 1994).

Kant und der verhandelte Friede Frank R. Pfetsch Dieser Beitrag ist dazu bestimmt, Kants Friedensschrift aus der Sicht verhandlungstheoretischer Überlegungen zu interpretieren und zu modifizieren. Es zeigt sich erstens, dass Grundgedanken von Erkenntnissen neuzeitlicher Verhandlungstheorie in seinem philosophischen Entwurf enthalten sind, dass zweitens seine Abhandlung keineswegs ein utopischer Entwurf ohne Realitätsbezug ist, und es zeigt sich schließlich drittens, welche Aktualität dieser Schrift zur Neugestaltung internationaler Beziehungen zukommt. Zwar handelt Kants Schrift vom ‚ewigen Frieden‘, doch ist seine Abhandlung nicht ohne die Behandlung des Krieges möglich. Ein Zustand des Friedens resultiere aus einem Zustand des Krieges. Bevor daher vom Frieden die Rede sein wird, muss vom Krieg gesprochen werden, der – wie wir sehen werden – erst den Frieden möglich macht. „Ehe wir diese Gewährleistung [des Friedens] näher bestimmen, wird es nötig sein, vorher den Zustand nachzusuchen, den die Natur für die auf ihrem großen Schauplatz handelnden Personen veranstaltet hat, der ihre Friedenssicherung zuletzt notwendig macht“ [und dies ist der Zustand des Krieges].1

I. Die Rolle des Krieges für den Frieden Kants Ausführungen zum Krieg waren durchaus ambivalent und können nur in Verbindung mit seiner Geschichtsphilosophie erfasst werden. In Kants Schrift zu dem „mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte“ aus dem Jahre 1786 ist über den Krieg Folgendes zu lesen: „Man muss gestehen: dass die größten Übel, welche gesittete Völker drücken, uns vom Kriege [. . .] zugezogen werden. Hierzu werden alle Kräfte des Staates, alle Früchte seiner Kultur, die zu einer noch größeren Kultur gebraucht werden könnten, verwandt [. . .]“2 Und unter dem Thema ‚Fortschritt‘ vermerkt er, dass der Krieg „der Quell aller Übel und Verderbnis der Sitten“3 sei. Kant fügt jedoch für sein Jahrhundert hinzu: „Auf der Stufe 1 2 3

Kant 1979, S. 42. Zit. nach Eisler 1969, S. 311 f. Ebd., S. 158.

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der Kultur also, worauf das menschliche Geschlecht noch steht, ist der Krieg ein unentbehrliches Mittel, diese noch weiter zu bringen; und nur nach einer (Gott weiß wann) vollendeten Kultur würde ein immerwährender Friede für uns heilsam und auch durch jene allein möglich sein.“4 Krieg ist somit einerseits „etwas von der Vernunft und Ethik Verwerfliches“, andererseits hat er „für den Fortschritt in der Geschichte einen Nutzen“5. Friede ist somit nicht unbedingt ein wünschenswerter Zustand in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, und er kann erst auf einer bestimmten, aber unbestimmt gebliebenen Entwicklungsstufe der Kultur als möglich und erforderlich angesehen werden. Erst durch den Krieg gelangt der Mensch naturgeschichtlich in gesetzliche Verhältnisse. Denn Krieg bewirkt erstens, dass „die Menschen in allen Erdgegenden [. . .] daselbst leben können“, zweitens, dass „durch Krieg [. . .] [Menschen] selbst in die unwirtbarsten Gegenden getrieben [werden], um sie zu bevölkern“; schließlich werden sie dadurch (!) genötigt, „in mehr oder weniger gesetzliche Verhältnisse zu treten“6. Der Krieg zwingt mit anderen Worten die Menschen dazu, aus einem anarchischen Zustand heraus zu treten und vertragliche Verhältnisse anzunehmen.7 Somit fällt dem Krieg die Rolle zu, Hebamme des Friedens im Inneren von Staaten zu werden, indem die ‚Natur‘ ihr Ziel erreicht, nämlich einen gesetzlichen Zustand im Rahmen einer republikanischen Ordnung zu schaffen. Doch auch im Äußeren kommt dem Krieg eine friedenschaffende Funktion zu. Erst die Bedrohung durch Krieg von außen zwingt die Staaten, sich zu einem Friedensbund zusammen zu schließen. Im Inneren wie im Äußeren benutzt nach Kant die Natur das Mittel des Krieges, um die egoistischen Neigungen der Menschen in die richtigen Bahnen zu lenken. Diesen Prozess muss man sich aber nicht wie eine „prästabilierte Harmonie“ (Leibniz) angelegt denken, sondern vielmehr wie einen systemimmanent wirkenden Ausgleichsmechanismus der Natur. Wichtigstes Movens dafür ist der Krieg selbst, dessen verheerende Wirkungen so gegeneinander arbeiten, dass sie sich untereinander in Schach halten: „Auf die Art garantiert die Natur durch den Mechanismus in den menschlichen Neigungen [zum Bösen] selbst, den ewigen Frieden; freilich mit einer Sicherheit, die nicht hinreichend ist, die Zukunft desselben (theoretisch) zu weissagen, aber doch in praktischer Absicht zulangt, und es zur Pflicht macht, zu diesem (nicht bloß schimärischen) Zwecke hinzuarbeiten.“8 4 5 6 7 8

Ebd., S. 312. Ebd., S. 312. Kant 1979, S. 42. Vgl. Höffe 2000, S. 227 ff. Kant 1979, S. 50.

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Kants Engagement ist aber echt, wenn er sagt, dass man vor der Wirklichkeit des Krieges nicht kapitulieren darf, und das rechtlich Gesollte (des Friedens) darf nicht aufgegeben werden. Eine „pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung“9, schreibt Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft, sei in der praktischen Philosophie illegitim. II. Kants Friedensbedingungen Kant hat in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ Bedingungen aufgestellt, die in negative, auf die Beseitigung von Hindernissen zum Frieden gerichtete, so genannte sechs Präliminarartikel und in drei positive, auf innerstaatliche und internationale Strukturgegebenheiten gerichtete, Definitivartikel unterteilt sind. Auf welchen epistemologischen Voraussetzungen beruhen solche Bedingungen? Kants wissenschaftstheoretische Position ist geprägt von der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori, d. h. von der Existenz vor aller Erfahrung liegender Begrifflichkeit, die die Erkenntnis erweitert. Neben diese deduktiv gewonnenen Gedankensysteme lässt seine Friedensschrift auch a posteriori, aus der Erfahrung gewonnene Einsichten erkennen. Einige Bedingungen haben als Vorlage die Erfahrung mit historischen Kriegsfällen wie die des Friedens von Dresden 1745 als Abschluss des zweiten Schlesienkrieges oder des Friedens von Basel (1795) als Abschluss der polnischen Teilung, andere sind von Autoren wie Emerich de Vattel (1714– 1767) beeinflusst,10 andere wiederum folgen deduktiv aus Annahmen wie die über den moralischen Politiker. Kants Friedensschrift setzt sich somit aus verschiedenen Argumentationssträngen und historischen Bezügen zusammen; sie weist keinen in sich geschlossenen roten Faden aus und ist auch nicht aus einigen wenigen Prämissen deduziert. Die Schrift ist vielmehr eine Synthese aus Sätzen der Rechtslehre, des Völkerrechts, der Geschichtsphilosophie zu einem umfassenden Friedensentwurf. Nicht ohne Ironie hat Kant seiner Schrift die äußere Form eines völkerrechtlichen Vertrages gegeben, der sich deshalb ‚nur‘ als ein „Entwurf“ versteht, weil er von einem Philosophen und nicht von einem Politiker oder Staatsrechtler ex professio verfasst worden ist. Geht man diesen Vertrag ein, dann sind nach Kant die Bedingungen erfüllt, die einen ewigen Frieden gewährleisten können; von daher muss der Vertragsabschluss nicht nur als ein Mittel gegen den nächsten drohenden Krieg angesehen werden, sondern als eine Fortsetzung aller internationaler Beziehungen, die für immer ohne das außenpolitische Instrument des Krieges auskommen. Im Einzelnen han9 10

Kant 1956, S. 316. Ossipow 2006.

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delt es sich bei diesem Vertrag um die Akzeptanz von sechs Präliminarartikeln, drei Definitivartikeln einschließlich zweier Zusätze sowie um zwei Anhänge. Dabei beinhalten die Präliminarartikel sechs negative Voraussetzungen bzw. Bedingungen für einen dauerhaften Frieden: 1. Friedensschlüsse müssten ohne geheimen Vorbehalt abgeschlossen werden und alle Ansprüche sollten abgetan und für Null erklärt werden. 2. Annexion durch Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung sollten ausgeschlossen werden. 3. stehende Heere müssten verboten werden, ebenso wie 4. Kriegsanleihen zur Bezahlung von Kriegssöldnern. 5. Intervention in ein anderes Land müsse verboten werden und 6. wechselseitiges Zutrauen ehemaliger Kriegsgegner müsse hergestellt werden. Kant verlangt, dass die Bedingungen (1), (5) und (6) sofort erfüllt werden müssten und die anderen (2), (3) und (4) später in Angriff genommen werden könnten. Sie bleiben allerdings dann unvollständig, wenn sie nicht durch die drei Definitivartikel des Republikanismus, des Staatenföderalismus und der Hospitalität ergänzt werden. Unter Republikanismus, der heute unter dem Schlagwort des Demokratiefriedens diskutiert wird, versteht Kant erstens, dass – aus der Rechtsphilosophie folgend – die Freiheit des Einzelnen unter Gesetz begrenzt ist (Rechtsstaatlichkeit), dass zweitens, in Anlehnung an Locke, Chancengleichheit (als „Staatsbürger“ einer gerechten bürgerlichen Verfassung) besteht, dass drittens, in Anlehnung an Rousseau, Partizipation („Selbständigkeit“) möglich ist (vor allem bei individueller Betroffenheit) und dass viertens, in Anlehnungen an Montesquieu, ein gewaltenteiliges „Staatsprinzip der Absonderung der ausführenden Gewalt [. . .] von der gesetzgebenden“ gegeben ist. Ist die Partizipation an der Entscheidung aber gewährleistet, so räsoniert Kant im Hinblick auf den Frieden, „so ist nichts natürlicher, als dass, da [die Staatsbürger] alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müssten [. . .], sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen“11. Der Republikanismus ist von daher eine erste staatsimmanente Sicherung gegen eine mögliche offensive Kriegspolitik; dies gilt jedoch deshalb nicht für die demokratische Regierungsform, weil Kant sie – beeinflusst durch Rousseau – als eine plebiszitäre denkt. Und diese besondere Ausprägung der Demokratie wäre als eine nicht-gewaltenteilige „notwendig ein Despotism“ und als eine nicht-repräsentative – so verbessert Kant seinen Genfer Vordenker – wäre sie „eigentlich eine Unform“. Er sieht im Zusammengehen der republikanischen Regierungsart mit der monarchischen Herrschaftsform keinen Widerspruch, sondern Kant präferiert die Konvergenz beider. Unausgesprochen strebt er damit eine ‚One-world‘ an oder mit anderen Worten eine Homogenität der internationalen Ordnung.12 11

Kant 1979, S. 26.

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Des Weiteren gilt: „Das Völkerrecht soll auf einen Föderalism freier Staaten gegründet sein“. Nicht ein „Friedensvertrag (pactum pacis)“, sondern ein „Friedensbund (foedus pacificum)“ solle die Staaten verbinden. Kant nimmt unausgesprochen erstens seine Zuflucht zu der von ihm konzipierten Geschichtstheorie (derzufolge sich sukzessive mehr und mehr Staaten dem Völkerbund anschließen [müssen]) und zweitens zu einem Mechanismus, den man als ‚Zwang zur Vernunft aufgrund mangelnder Alternativen‘ bezeichnen könnte, demzufolge es „für Staaten im Verhältnis untereinander [. . .] nach der Vernunft keine andere Art geben [kann], aus dem gesetzlosen Zustande [. . .] herauszukommen.“ Drittens müsse im Rahmen eines Weltbürgerrechts das „Besuchsrecht“ eines Fremden in anderen Ländern gelten. Das Hospitalitätsrecht spricht sich somit für einen Freihandel, aber gegen Eroberungsbestrebungen und gegen den Kolonialismus aus. Im Zusatze zu den Definitvartikeln, der „von der Garantie des ewigen Friedens“ handelt, liefert Kant dann eine Variation des Arguments von Adam Smith, dass nämlich gerade die Fehler und Unvollkommenheiten der Individuen die Menschen in der Gattung systematisch dazu zwingen, eine Abhilfe zu ersinnen. „Das Problem der Staatseinrichtung ist“, schreibt Kant, diese „so zu ordnen und ihre Verfassung [so] einzurichten, dass, obgleich [die Menschen] in ihren Privatgesinnungen einander entgegenstreben, diese einander doch so aufhalten, dass in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnungen hätten“13.

Mit dieser Aussage korrespondiert das folgende, noch weiter führende Argument aus dem „Streit der Fakultäten“, wo es heißt: „Es ist also ein nicht bloß gut gemeinter und in praktischer Absicht empfehlungswürdiger, sondern allen Ungläubigen14 zum Trotz auch für die strengste Theorie haltbarer Satz: dass das menschliche Geschlecht im Fortschreiten zum Besseren immer gewesen sei und so fernerhin fortgehen werde.“15

In einem zweiten, nur subjektiv „geheimen“ Zusatz zu den Definitvartikeln fordert Kant, dass „die Maximen der Philosophen über die Bedingungen der Möglichkeit des öffentlichen Friedens [. . .] von den zum Kriege gerüsteten Staaten zu Rate gezogen werden [sollen]“16. Ersichtlich beruft sich 12

Vgl. Friedrich 1948, S. 42. Kant 1979, S. 47. 14 Diese Rede vom „Ungläubigen“ ist offensichtlich gemünzt auf die zeitgenössische, kritische Antwort-Schrift von Friedrich Schlegel mit dem Titel „Versuch über den Begriff des Republikanismus“ von 1796 (Schlegel 1984). 15 Kant 1975, S. 88. 16 Kant 1979, S. 50. 13

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der Philosoph hier auf die Korrektivfunktion des freien und öffentlichen Gebrauchs der Vernunft, die qua Aufklärung wirkt und die die Objektivität des Sachzwanges gegen eine Kriegskurs steuernde Obrigkeit auf ihrer Seite hat. Eben deshalb begnügt sich Kant – im Einklang mit seiner Lehre vom Widerstandsrecht – auch damit, dass man den Philosophen „höre“, und nicht: dass die Vertreter der „oberen Fakultät“ (das sind die Juristen) der Politikberatung des Philosophen aus der „unteren Fakultät“ bedingungslos folgen. Kant votiert darum nicht für das Ideal des „politischen Moralisten“, dem aufgrund seiner ausschließlich empiristischen Orientierung die Moral selbst ein ad libitum einsetzbares Mittel wird, sondern vielmehr für den „moralischen Politiker [. . .], der die Prinzipien der Staatsklugheit so nimmt, dass sie mit der Moral zusammen bestehen können.“ Kant unternimmt damit nicht weniger als eine grundlegende Revision der Politikauffassung eines Machiavelli oder David Hume, indem er die Politik auf einen moralischen, und damit auf einen synthetisch–a priorischen Grundsatz stellt: „Die wahre Politik kann also keinen Schritt tun, ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben, und obzwar Politik für sich selbst eine schwere Kunst ist, so ist doch Vereinigung derselben mit der Moral gar keine Kunst; denn [die Moral] haut den Knoten entzwei, den die [Politik allein] nicht aufzulösen vermag, sobald beide einander widerstreiten.“17

Im zweiten Anhang wendet sich Kant dann nicht dem Thema der „Mißhelligkeit“, sondern dem der „Einhelligkeit der Politik mit der Moral“ zu, und zwar „nach dem transzendentalen Begriffe des öffentlichen Rechts“. Mehrere Argumentationen fließen hier zusammen und ineinander, ohne dass Kant die einzelnen Bestandteile immer sorgfältig voneinander abgrenzt. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen steht dabei die im weiteren Zusammenhang bereits zitierte „transzendentale Formel des öffentlichen Rechts“, die den Wortlaut hat: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht.“18

Kants verschachtelte Argumentationen, die sich an diese Formel knüpfen, könnte man nun durch Differenzierung des öffentlichen Rechts auf den drei Ebenen des Staatsrechts, des Völkerrechts und des Weltbürgerrechts auf den Begriff bringen.19 Liest man heute, nach fast 200 Jahren Kants Schrift, so scheint es keine Frage zu sein, dass Kant einerseits durch Tatsachen widerlegt worden ist20, andererseits aber haben in Teilen der Welt seine Gedanken Fuß gefasst. 17 18 19

Kant 1979, S. 67. Ebd., S. 69. Vgl. Pfetsch 2003, S. 380 f.

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Ist, so die Frage, die Menschheit nach gut zweihundert Jahren inzwischen zivilisierter, um nicht zu sagen kultivierter geworden und braucht den Krieg zur Höherentwicklung nicht mehr, um einen „ewigen Frieden“ zu genießen? Welche empirischen Befunde liegen vor, um die von Kant hierfür aufgestellten Friedensbedingungen zu überprüfen und dies in einer Zeit, in der die Kabinettskriege seiner Zeit – die er als „Lustpartie des Fürsten“ bezeichnet hat – abgelöst worden sind durch Kriege mit Massenvernichtungswaffen? Zur Beantwortung dieser Fragen interpretiere und erweitere ich Kants Friedensbedingungen aus der Sicht der Verhandlungstheorie und stelle einen Kriterienkatalog auf, der die Bedingungen für haltbare Verhandlungslösungen festlegt. Diesem Vorgehen liegt der Gedanke zugrunde, dass nur unter bestimmten – und noch zu erläuternden – Bedingungen politisch ausgehandelte Verträge einen Friedenszustand garantieren. Der Friedensgedanke wird somit transformiert in einen Vertragsgedanken. Auch Kant hat ja seinem Traktat die Form eines Vertrags gegeben. III. Der verhandelte Friede Verhandlungstheorien haben Erkenntnisse beigesteuert, die durchaus mit Kants Schriften vereinbar, wenn nicht gar durch sie beeinflusst worden sind. Insbesondere der erste und der sechste Präliminarartikel sind hierbei von Bedeutung. Im ersten Artikel heißt es: „Es soll kein Friedensschluss [als Ermöglichungsgrund für einen ewigen Frieden] gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffes zu einem künftigen Kriege gemacht worden [ist].“

und der sechste Artikel lautet: „Es soll sich kein Staat im Krieg mit einem andern solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen.“

Hierbei denkt Kant an ungerechtfertigte Kapitulationsdiktate, widerrechtliche Behandlung von Gefangenen, Spionage and andere ‚Strategeme‘. Als Ergänzung fügt er in seinen Reflexionen hinzu: „Also setzt ein jeder Friede voraus, dass alle Ansprüche, die bis zu diesem Zeitpunkt ein Staat auf einen anderen haben konnte und die zu Feindseligkeiten Anlass geben könnten, abgetan und für Null erklärt sind. Mithin macht der Friede einen neuen Anschnitt [Anfang] zwischen zwei Staaten, über den hinaus zurück 20 „Wer brächte es übers Herz“, fragt P. Sloterdijk, „Kant einen Überblick über die Geschichte seit 1795 zu geben, dem Jahr, in dem der Philosoph seine Schrift „Zum ewigen Frieden“ veröffentlicht hatte? Wer hätte die Nerven, ihn über den Stand der Aufklärung [. . .] zu informieren? Wer wäre frivol genug, ihm die Marxschen Feuerbachthesen zu erklären?“ (Sloterdijk 1983, S. 13 f.).

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nichts hervorgesucht werden darf, was nicht als angemacht [erledigt, abgetan] betrachtet würde.“21

Kant sagt damit nichts anderes, als dass die Kriegshandlungen und die Friedensabkommen so zu gestalten sind, dass sie die Kriegsursachen beseitigten und ein friedliches Zusammenleben mit dem ehemaligen Feind ermöglichen können. Friedensverträge müssten also nicht Rache- sondern Ausgleichsverträge sein und diese müssten durch Verhandlungen und nicht durch Krieg herbeigeführt werden. Denn, so der Mitbegründer des Gegenmodells zur klassischen Machtpolitik, nämlich der Europäischen Union, Jean Monnet: „Der Geist der Diskriminierung war die Ursache der größten Unglückfälle in der Welt.“22 IV. Die sechs Komponenten eines dauerhaften Friedens Welches sind die aus theoretischen Überlegungen und empirischen Fällen resultierenden Bedingungen für dauerhafte Verträge? Ich möchte die sich an Kants Friedenstheorie anlehnenden Überlegungen zum Übergang vom Frieden zum Krieg bzw. Krieg zum Frieden erweitern. Friede sei, so zunächst der Königsberger Philosoph, nicht unbedingt ein wünschenswerter Zustand in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit und er kann erst auf einer bestimmten, aber unbestimmt gebliebenen Entwicklungsstufe der Kultur als möglich und erforderlich angesehen werden. Die Menschheitsentwicklung tendiere aber à la longue zu einem Friedenszustand und dies vor allem aus drei Gründen, aus der Pflicht zur Rechtsstaatlichkeit, aus dem Prinzip der Öffentlichkeit und der persönlichen Betroffenheit bei Kriegshandlungen (siehe oben). Ein wechselseitiges Zutrauen muss auf gerecht empfundenen und fairen Verträgen23 beruhen und diese sind, so meine weiterführenden Schlussfolgerungen, im Idealfall unter sechs Bedingungen möglich. Erstens müssen alle betroffenen Konfliktparteien mit einbezogen sein; zweitens müssen Friedensverhandlungen frei und ohne Druck ausgehandelt werden; drittens muss über alle relevanten Konfliktgegenstände verhandelt werden, viertens müssen ohne geheimen Vorbehalt Verträge abgeschlossen werden, fünftens müssen Übereinkommen die existierenden Machtverhältnisse widerspiegeln, 21

Reflexion Nr. 7837. Monnet 1976, S. 413. 23 Was als gerecht und fair bewertet wird, kann in Zeit und Raum unterschiedlich gesehen werden. Es gibt mindestens sieben auf verschiedene Kriterien bezogene politische Konzepte von Gerechtigkeit: das Machtkonzept, das Bevölkerungskonzept, das Ein-Land-Eine-Stimme-Konzept, die nicht- proportionale Verteilung, das Konsens-Konzept, das Primogenitur-Konzept und schließlich das transpolitische Konzept von Gerechtigkeit (vgl. Pfetsch 2000). 22

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und schließlich sechstens gelten Abkommen unter der Bedingung der obwaltenden historischen Umstände. Dieses Konzept einer zufrieden stellenden Lösung und die Bedingungen, unter welchen ein solches Ergebnis erzielt werden kann, bedürfen weiterer Erläuterung. (1) Die Einbeziehung und die Zustimmung aller Beteiligten ist eine notwendige Bedingung für das Zustandekommen eines dauerhaften Ergebnisses. Kant spricht von den ‚Staaten‘ als den damals alleinigen Akteuren. Verhandlungen über bzw. mit Gruppierungen, die als Terroristenvereinigungen apostrophiert worden sind wie die palästinensische PLO, die baskische ETA, die nordirische IRA oder die kurdische PKK, konnten keine Erfolge erbringen, weil die betroffenen Gruppen entweder nicht hinzugezogen oder Verträge ohne deren Zustimmung verabschiedet wurden. Internationale Konferenzen werden oftmals in Abwesenheit betroffener Parteien abgehalten (z. B. der Tschechoslowaken in München 1938); in multilateralen Verhandlungen hilft man sich mit Ausnahmeregelungen, um einen Vertrag oder ein Abkommen konsensual verabschieden zu können (EU- oder UN-Konferenzen); in seltenen Fällen kommt es zu einem Mehrheitsbeschluss. Der Maastricht-Vertrag zur Europäischen Union bietet beispielsweise Ländern, die dem Abkommen zunächst nicht zustimmen konnten wie Großbritannien und Dänemark spezielle Klauseln. Das Abkommen über Landminen von Ottawa wurde von den Vertretern einiger der wichtigsten landminenproduzierenden Staaten nicht unterzeichnet; auch die Klimakonvention wurde von dem Hauptverursacher von Schadstoffen nicht signiert; damit haben die Abkommen an Wirkung verloren. Das Militärabkommen zum Kosovo wurde weder von den serbischen, noch von den albanischen Repräsentanten des Kosovo unterzeichnet. All diese Beispiele zeigen, dass Abkommen, die nicht die relevanten Parteien einbezogen, deren Zustimmung erhalten oder wichtige Problemfelder ausgelassen haben, entweder ohne Wirkung blieben oder revidiert und neu verhandelt werden mussten. (2) Die Freiwilligkeit in Verhandlungen bedeutet zunächst einmal, dass die Beteiligten ohne Zwang verhandeln und einem Abkommen zustimmen, ohne dazu gezwungen zu werden. In Wirklichkeit aber sind solche Situationen selten, weil der „freie“ Wille eines Verhandlers immer von internen oder externen restraints beeinflusst wird. Politische Handlung ist immer in Interessenlagen eingebunden, die jenseits individueller Präferenzen liegen können. Seit Machiavelli wissen wir, dass necessità und virtù in Spannung zueinander stehen. In unserem Fall aber bedeutet frei vor allem, dass die Parteien zustimmen, weil sie mit einem positiven, zumindest aber nicht mit einem negativen Ergebnis rechnen. Frei in der Entscheidung zu sein, muss im jeweiligen historisch-politischen Zusammenhang gesehen werden.

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Handelsverträge zeigen in besonderer Weise, wie wichtig die Einbeziehung aller Parteien ist. Die Verhandlungspartner werden voneinander abhängig und sind zum Erreichen der gesteckten Ziele auf die Hilfe der anderen angewiesen. In laufenden Verhandlungen bemühen sich die Parteien um die Aufrechterhaltung und den Ausbau von Kontakten. Iklé führt aus, dass Diplomaten, wenn sie in besonders langwierige Konferenzen involviert sind, ihren ganz eigenen Zugang zum Verhandlungsprozess entwickeln.24 Selbst Diplomaten, die vollkommen entgegengesetzte Standpunkte vertreten wie beispielsweise die Vertreter von Entwicklungs- und Industrieländern, beginnen irgendwann so etwas wie Verbundenheit oder Kollegialität mit ihren Verhandlungspartnern zu entwickeln. Die Zusammenarbeit über einen längeren Zeitraum hinweg fördert und erfordert gegenseitiges Vertrauen. Das Gefühl, gemeinsam an einem Unternehmen zu arbeiten, ist entscheidend in komplexen Verhandlungen. Der langwierige Prozess der Uruguay-Runde, der sieben Jahre dauerte, ist ein treffendes Beispiel. Die in die Verhandlungen einbezogenen Diplomaten, die sich zuerst attackiert hatten, entwickelten gegenseitige Beziehungen und griffen im weiteren Verhandlungsverlauf viel seltener zu eskalierenden Maßnahmen. Schließlich wurden die Uruguay-Verhandlungsrunden erfolgreich abgeschlossen. (3) Verhandlungen sind oft sehr komplex und berühren verschiedene Streitgegenstände. Eine ideale Lösung berücksichtigt alle Streitpunkte, denen die Verhandlungspartner freiwillig zustimmen. Einvernehmen sollte es über alle Konfliktgegenstände geben (Kant fordert, dass alle Ansprüche für Null erklärt werden). Teilabkommen, die nur einige Probleme eines ganzen Themenkataloges behandeln, machen unweigerlich weitere Abkommen notwendig. Die Komplexität des Israelisch-Arabischen Konfliktes bietet Belege für ein weit gefächertes Spektrum von Teilabkommen zwischen Israel und den Arabischen Ländern (Camp David 1979, Friedensvertrag von 1994 zwischen Israel und Jordanien, das Oslo Abkommen von 1993 oder das WyeAbkommen von 1998 zwischen Israel und den Palästinensern). Folgekonferenzen müssen die noch offenen Themen behandeln. Wenn ein (Teil-)Problem durch ein Abkommen gelöst ist, wartet bereits das nächste auf eine Lösung. Wenn allerdings keine Lösung gefunden wurde, kann der ungelöste Konflikt eskalieren oder über ein benachbartes Problem sogar zum Krieg führen.25 Friedensverträge bzw. -abkommen beenden nicht immer den Kon24

Vgl. Iklé 1999, S. 340. In vielen Fällen handelt es sich dabei um ehemalige Kolonialstaaten, die nach ihrem Unabhängigkeitskrieg die Frage der politischen Ordnung zu lösen hatten; im Kampf um die nationale Macht wurde weiteres Blut vergossen. Des Weiteren hat ein ethnischer Krieg einen zweiten nach sich gezogen, entweder zwischen denselben Gruppen oder zwischen andern Ethnien; auch gab es Kriege, die um internationale Macht und außenpolitischen Einfluss geführt wurden, denen dann Kriege um die na25

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fliktkreislauf; im Gegenteil: Die Theorie des unerledigten Friedens behauptet eben dies: dass gerade die defizienten Friedensverträge des 20. Jahrhunderts Ursache für weitere Kriege waren.26 Beispielsweise verhinderte das Abkommen von Algier 1975 zwischen dem Iran und dem Irak nicht den ersten Golfkrieg, das Waffenstillstandsabkommen nach dem ersten Golfkrieg vom Juli 1988 hinderte den Irak weder an einem Krieg gegen die Kurden im Norden des eigenen Landes, noch verhinderte es den Überfall des Irak auf Kuwait 1990. Es ist allein auf die tief greifenden Sanktionen der internationalen Staatengemeinschaft zurückzuführen, dass der Irak unter Kontrolle gehalten werden konnte. Würde der internationale Druck gelockert oder das internationale Protektorat aufgegeben, dann wäre die Gefahr einer Fortführung des Konfliktes groß. Das gleiche gilt für die Situation in Bosnien und im Kosovo, Gebiete, die unter internationaler Aufsicht stehen. (4) Abkommen über besonders strittige Themen werden oftmals mit geheimem Vorbehalt (Kant: reservatio mentalis) unterschrieben und verlieren damit von Beginn an ihre Gültigkeit. Damit aber ein Abkommen längere Zeit hält, ist es erforderlich, dass es vorbehaltlos unterzeichnet wird – ohne Einschränkung, ohne Hintergedanken und im guten Glauben. Aus Prestigegründen und um Zeit zu gewinnen, unterzeichnete Milosevic während der Balkankriege eine ganze Reihe von Waffenstillstandsabkommen, im Wissen, dass diese niemals eingehalten werden würden. Es kann allerdings auch sein, dass Unterschriften in guter Absicht gegeben worden sind und das Übereinkommen nicht eingelöst werden kann. So konnte der japanische Premier Sato sein Präsident Nixon gegebenes Versprechen zur Begrenzung der Exporte für Textilien aufgrund von innenpolitischem Druck nicht halten.27 (5) In Anlehnung an eine Aussage des deutschen Sozialdemokraten Ferdinand Lassalle kann man sagen, dass internationale Verträge keine Rechtssondern Machtfragen sind. Abkommen sind, so die abgeleitete These, nur haltbar, wenn sie auf obwaltenden Machtverhältnissen beruhen. Dabei müssen die verschiedenen Formen von Machtverhältnissen berücksichtigt werden. Macht ist ein dynamisches Konzept; die Manifestationen von Macht können sich im Verlauf des Verhandlungsprozesses ändern. Eine asymmetrische Machtkonstellation kann in eine symmetrische transformiert werden. Im Ergebnis ist entscheidend, dass die verhandelnden Parteien mit dem Ergebnis zufrieden sind und dieses beruht im günstigen Fall auf einer symmetrischen Machtkonstellation. Ist dies der Fall, dann kann daraus geschlossen werden, dass die Einschätzung der Machtverhältnisse im Stadium des tionale Macht folgten, beispielsweise Kämpfe um internationale Hegemonie und um zentrale politische Vorherrschaft (Vgl. Pfetsch/Rohloff 2000, S. 108). 26 Vgl. Pfetsch 2001. 27 Vgl. Nixon in Kissinger 1979, S. 363–368.

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Vertragsabschlusses die Grundlage und den Beurteilungsmaßstab für die Zufriedenheit mit der gefundenen Lösung gebildet haben. (6) Bestehende Rahmenbedingungen können wichtige Einschränkungen für den Abschluss eines Abkommens bilden. Die Umstände, unter denen ein Abkommen unterzeichnet wurde, mögen zu einem bestimmten Zeitpunkt und unter den obwaltenden Umständen kein besseres Ergebniss für die schwächere Partei ermöglicht haben; trotzdem konnte mit der Unterzeichnung die Position des Schwächeren verbessert werden. Beispielsweise wurden die Ostverträge der deutschen Bundesregierung unter den restriktiven Bedingungen des Ost-West-Konflikts unterzeichnet; die Zwei-StaatenRegelung wurde zur Verbesserung der humanitären Bedingungen akzeptiert; nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Vormacht stimmten die vier ehemaligen Besatzungsmächte in den Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen der Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu. Wenn, und nur wenn, alle involvierten oder von einem Konflikt betroffenen Parteien freiwillig über alle zu verhandelnden Gegenstände übereinstimmen, dann, und nur dann, kann ein Verhandlungsergebnis als Lösung im Sinne eines gerechten und fairen Ergebnisses bezeichnet werden. Die Stabilität eines Abkommens – so lautet das Argument – hängt zum einen von den zugrunde liegenden Modalitäten und den äußeren Bedingungen ab, zum anderen ergibt sich die Stabilität aus der Art der Beziehung (symmetrisch oder asymmetrisch) zwischen den Verhandlungspartnern. Mit anderen Worten: die Lebenserwartung eines in Verhandlungen erzielten Abkommens hängt davon ab, wie und unter welchen Umständen das Abkommen erzielt wurde, und dies ist wiederum im hohen Maße Folge von strukturellen Beziehungen, die den gesamten Verhandlungsverlauf durchziehen; Symmetrie oder Asymmetrie sind wichtige Hintergrundvariablen des Verhandlungsprozesses und dessen Ergebnissen. Da die genannten sechs Bedingungen nur in seltenen Fällen erfüllt werden, bzw. erfüllt werden können, ist es entweder nicht zu Friedensverträgen im genannten Sinne gekommen, oder solche Friedensverträge hatten wie gezeigt keinen Bestand, wurden revidiert oder haben weitere Konflikte ausgelöst. V. Die Theorie unerledigter Friedensabkommen Kants Friedensbedingungen gerichtet an politisch Handelnde, sowie Kants Anforderungen an institutionelle und rechtliche Gegebenheiten, seine Handlungs- und Strukturbedingungen sind bis heute nur in Teilen der Welt erfüllt und sie waren bis ins 20. Jahrhundert hinein auch in Europa nicht erfüllt. Meine These lautet: Kriegerisches Verhalten hat seinen Ursprung vor allem in unerledigten Friedensabkommen.

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Das gewalttätige Verhalten im 20. Jahrhundert hat seinen Ursprung in den als ungerecht empfundenen, weil aufgezwungenen so genannten Friedensverträgen nach dem Ersten Weltkrieg. Es kann gezeigt werden, dass solche Friedensverträge später wieder revidiert wurden, oder sie haben zu weiteren Konflikten geführt. Die Statistik belegt es: in der Heidelberger Datenbank (Kosimo) sind 104 Kriege aufgeführt, die zwischen 1945 und 1995 stattgefunden haben; 79 haben wieder zu Konflikten geführt; 65 waren davon Kriege.28 Vor allem die Langzeitwirkung der sechs nach Beendigung des Ersten Weltkriegs abgeschlossenen Verträge (Versailles, Saint-Germain-enLaye, Neuilly-sur-Seine, Trianon, Sèvres, Lausanne) erklärt die These, dass die von Machtpolitik diktierten Friedensverträge von 1919/2229 die meisten nachfolgenden Kriege in Europa erklären oder zumindest beeinflusst haben. Relativ beliebig wurden in den Pariser Vorortverträgen (wie zuvor auf dem Berliner Kongress 1878) vorher nicht existierende Staaten als separate Staaten gegründet. Die meisten der verschacherten Gebiete sind heute unabhängige Staaten.30 Das Streben nach Revision dieser Verträge führte in der Folge zu gewaltsamen Auseinandersetzungen.31 Eric Hobsbawm spricht daher vom einunddreißigjährigen Krieg 1914 bis 1945.32 Diese Verträge haben 28

Vgl. Pfetsch/Rohloff 2000, S. 103–108. Sie betrafen Deutschland (Versailles, 28. Juni 1919), Österreich-Ungarn (SaintGermain-enLaye, 10. September 1919), Bulgarien (Neuilly-sur-Seine, 27. November 1919), Ungarn (Trianon, 4. Juni 1920), Türkei (Sèvres, 10. August 1920) und wiederum die Türkei (Lausanne, 23. April 1922). 30 In neuen Grenzen gegründet wurden Ungarn (mit zahlreichen ungarischen Minoritäten in anderen Ländern), die Tschechoslowakei (heute wieder aufgelöst), Jugoslawien (heute zerteilt) und Polen (in heute anderen Grenzen). Territoriale Verschiebungen von einem zum anderen Land wurden vorgenommen: Elsass-Lothringen von Deutschland nach Frankreich (blieb nach der Annexion während des Zweiten Weltkriegs bei Frankreich) und Posen und Westpreußen zu Polen (wo sie noch heute sind). Südtirol, Triest, Istrien, Dalmatien und Teile Kärntens und der Krajina von Österreich nach Italien (heute von Südtirol abgesehen in anderen Staatsgebilden). Mazedonien von Bulgarien nach Jugoslawien (heute unabhängig). Von Ungarn wurde die Slowakei zur Tschechoslowakei (heute selbständig) und das Burgenland Österreich zugeschlagen; Kroatien, Slawonien, das Banat wurden mit Jugoslawien vereint (heute wieder getrennt), und Siebenbürgen kam zu Rumänien; die Türkei verlor große Teile ihres Territoriums an Griechenland (Thrakien, ägäische Inseln, Smyrna), an Frankreich (Syrien und Kilikien), an Großbritannien (Irak und Palästina) und an Italien (Rhodos und Dodekanes). 31 Die Meilensteine auf dem Weg vom Willkürfrieden von Versailles (auch als „final crime“ bezeichnet, Economist v. 31.12.1999) zum nächsten, dem Zweiten Weltkrieg waren die Rheinlandbesetzung, die italienische Invasion in Äthiopien 1935, die deutsche und italienische Intervention im Spanischen Bürgerkrieg 1936/39, der Anschluss Österreichs 1938 und die Beschneidung und spätere Okkupation der Tschechoslowakei (wiederum als Folge eines Diktats) sowie die deutschen Gebietsansprüche gegenüber Polen, die schließlich zum Zweiten Weltkrieg führten. 32 Vgl. Hobsbawm 1998, S. 75. 29

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den Grundstein für viele kriegerische Auseinandersetzungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelegt und sind auch heute noch keineswegs ausgeräumt. Auch für die Gegenwart kann gesagt werden, dass sporadisch oder permanent gegen Kants Bedingungen verstoßen wird: Friedens- oder Waffenstillstandsverträge werden auch heute noch in der Absicht, sie zu unterlaufen, geschlossen (Milosevic hat in den Bosnienkriegen mindestens dreißig Waffenstillstandsabkommen geschlossen und wieder gebrochen) und noch immer versuchen – wenn auch immer seltener – Staaten andere Staaten zu annektieren; die Annexion Kuwaits durch den Irak dürfte allerdings der letzte Versuch gewesen sein. Söldner können bis in unsere Tage angeworben werden, und auch die Ausgaben für Militärzwecke sind insbesondere in den Staaten hoch, die sich hoher Bedrohung ausgesetzt sehen (Pakistan, Indien, Israel etc.). Das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten ist zwar in der UN-Charta festgeschrieben, wurde aber in vielen Fällen – und wenn auch nur über Stellvertreter – durchbrochen. Die Haager Konvention von 1907, in der das Recht im Krieg festgeschrieben ist, wird in vielen neuzeitlichen Kriegen mit Füßen getreten. Insgesamt haben in der fünfzigjährigen Konfliktgeschichte der Nachkriegszeit Nachbarstaaten durch ihre Regierungen 206 Mal politisch und militärisch interveniert33, wobei die Interventionen häufig durch einheimische Eliten angefordert wurden. Schließlich werden in den seltensten Fällen Friedensschlüsse in Hinsicht auf zukünftige Konfliktvermeidung geschlossen. Die aufeinander folgenden Konflikte in ein und demselben Land belegen, dass vorausgehende Friedensschlüsse nicht im Geist wechselseitigen Vertrauens abgeschlossen worden sind. Es ist meine zentrale These, dass die Nichterfüllung der genannten Bedingungen die Mehrzahl der Kriege im 20. Jahrhundert erklärt. Der im Kantschen Sinne handelnde Präsident Wilson hat sich bekanntlich nach dem Ersten Weltkrieg weder mit seiner Forderung nach einem „Gerechtigkeitsfrieden“ noch mit der nach dem „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ durchsetzen können. Das Regierungshandeln der westeuropäischen Politiker hat allerdings Kants sechs Bedingungen in einem schmerzhaften Lernprozess weitgehend eingelöst. Das Potsdamer Abkommen und seine Durchführung unterscheiden sich erheblich von dem Versailler Friedensdiktat der Siegermächte. Gebiete wurden im Allgemeinen in dieser Region nicht ohne Zustimmung der betroffenen Staaten verändert. Söldnerheere gibt es nicht, wohl aber eine Bürgerwehr oder eine eigene Berufsarmee. Die Militärausgaben wurden allmählich, vor allem nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, in erheblichem Umfange reduziert, und eine militärische Intervention hat im westlichen 33

Vgl. Pfetsch/Rohloff 2000, S. 182.

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Teil Europas nicht stattgefunden, wohl aber im östlichen Teil; schließlich ist der Zusammenschluss der westeuropäischen Staaten vom Geist des Vertrauens und des Interessenausgleichs geprägt und nicht von verschleierten Absichten getragen. Vertrauensbildende Maßnahmen sind seit der HelsinkiKonferenz (1975) zu einem Prinzip kollektiver Sicherheit avanciert. Auch die wichtigen Strukturbedingungen sind in diesem Teil der Welt weitgehend realisiert: der Typus westlicher Demokratie hat sich durchgesetzt, die westlichen politischen und wirtschaftlichen Zusammenschlüsse können als Friedensbündnisse, allen voran die Europäische Union, gekennzeichnet werden, und der Sieg des marktwirtschaftlich-freihändlerischen Handelssystems über das sozialistische Planungssystem erfüllt die Bedingung der allgemeinen Hospitalität. Friedrichs Aussage, dass Kant nach der Gründung der UN Recht behalten hat,34 gilt allerdings nur in Bezug auf diesen Teil der Welt. Wie eingangs notiert, sind Kants Bedingungen in den übrigen Teilen der Welt kaum oder nur unzureichend erfüllt. Ein Blick auf das Konfliktbarometer35 belegt im Umkehrschluss Kants Prognose: Jenseits der Region des Demokratiefriedens sind zahlreiche gewalttätige Konflikte gezählt worden, allerdings in erheblich geringerem Umfange als in der Vorkriegszeit. VI. Zusammenfassung Es konnte gezeigt werden, dass Kants Überlegungen zum ‚ewigen Frieden‘ einfließen in die Bedingungen dauerhafter ausgehandelter Friedensbedingungen. Verhandlungsergebnisse sind dann haltbar, wenn sie die sechs Kriterien von Konfliktlösungen erfüllen, nämlich wenn alle vom Konflikt Betroffenen über alle wichtigen Konfliktgegenstände im Rahmen gegebener Macht- und historischer Verhältnisse zu einvernehmlichen Lösungen ohne Vorbehalte gelangen. Hätten die vielen „Friedensverträge“ des 20. Jahrhunderts diese Regeln befolgt, dann wären uns zahlreiche Kriege erspart geblieben. Literatur Batscha, Zwi (Hg.), Materialien zu Kants Rechtsphilosophie, Frankfurt/Main 1976 (zitiert: Batscha 1976). Eisler, Rudolf (Bearb.), Kant-Lexikon. Nachschlagewerk zu Kants sämtlichen Schriften, Briefen und handschriftlichem Nachlass, Berlin 1930; Nachdr.: Hildesheim Georg Olms Verlagsbuchhandlung 1969 (zitiert: Eisler 1969). Friedrich, Carl Joachim, Inevitable Peace, Cambridge 1948 (zitiert: Friedrich 1948). 34

Friedrich 1948, s. 27/28. Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung: Konfliktbarometer 2005. 35

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Gerhardt, Volker, Immanuel Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“ – Eine These der Politik, Darmstadt 1995 (zitiert: Gerhardt 1995). Hobsbawm, Eric, Das Zeitalter der Extreme, München 1998 [Original: 1994] (zitiert: Hobsbawm 1998). Höffe, Otfried, Immanuel Kant, 5. Aufl., München 2000 (zitiert: Höffe 2000). Iklé, Fred Charles, The Role of Emotions in International Negotiations, in: Berton/ Kimura/Zartman: International Negotiation, New York 1999, S. 335–350 (zitiert: Iklé 1999). Kant, Immanuel, Kants Gesammelte Schriften, 28 Bde., hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff. (1. AA) (zitiert: Kant 1900 ff). – Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten und zweiten Originalausgabe neu hrsg. v. Raymund Schmidt, Hamburg 1956 (zitiert: Kant 1956). – Werke in sechs Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1964 [Hierin insbes. „Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie, Bd. III.] (zitiert: Kant 1964). – Der Streit der Fakultäten, neu hrsg. v. Klaus Reich, Hamburg 1975 (zitiert: Kant 1975). – Auswahl aus den Reflexionen, Vorarbeiten und Briefen Kants. (Seperatdruck aus der Kant-Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften), in: Batscha 1976, S. 36–73 (zitiert: 1976). – Zum ewigen Frieden, hrsg. v. Theodor Valentiner, Stuttgart 1979 (zitiert: Kant 1979). Kissinger, Henry A., Memoiren, München 1979 (zitiert: Kissinger 1979). Monnet, Jean, Mémoires, Paris 1976 (zitiert: Monnet 1976). Ossipow, William: Sur un point de méthode en histoire de la pensée politique: le Cas des „citations silencieuses“ dans la Paix Perpétuelle de Kant. Séminaire du Staff, Uni. de Genève, Eté 2006. Pfetsch, Frank R., Kreatives Verhandeln in Politik und Wirtschaft, in: Rainer M. Holm-Hadulla (Hg.): Kreativität, Heidelberger Jahrbücher XLIV, 2000, S. 127–156 (zitiert: Pfetsch 2000). – Warum war das 20. Jahrhundert kriegerisch?, in: Krieg, Studium Generale der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Heidelberg 2001 (zitiert: Pfetsch 2001). – Theoretiker der Politik. Von Platon bis Habermas, Paderborn 2003 (zitiert: Pfetsch 2003). Pfetsch, Frank R./Rohloff, Christoph, National and International Conflicts, London 2000 (zitiert: Pfetsch/Rohloff 2000). Schlegel, Friedrich, Versuch über den Begriff des Republikanismus, [1796], abgedr. in: Manfred Buhr/Steffen Dietzsch: Zum Ewigen Frieden: ein philosophischer Entwurf. Texte zur Rezeption 1796–1800, Leipzig 1984, S. 104–120 [= Schlegel, F.: Kritische und theoretische Schriften. Stuttgart 1978, S. 3–20] (zitiert: Schlegel 1984). Sloterdijk, Peter, Kritik der zynischen Vernunft, Bd. 1, Frankfurt/Main 1983 (zitiert: Sloterdijk 1983).

Staat und Revolution: Politische Ökonomie und Staatswissenschaft bei Christian Daniel Voß (1796–98) Axel Rüdiger I. Politische Ökonomie und Rechtsphilosophie Das Verhältnis von Rechtsphilosophie und politischer Ökonomie wird von den meisten Rechtsphilosophen als ein äußerliches abgetan. Von Zurichtung und Nivellierung durch die ideologiekritische Methode ist dabei gar hochmütig die Rede.1 Der innere philosophische Gehalt – erst recht einer mit apriorischen Anspruch auftretenden Rechtslehre – vermag demnach weder durch soziologische noch durch historische Argumente berührt zu werden. Eine materialistische Geschichtsauffassung könne nur inkompatible und externe Kriterien an das Recht herantragen, wodurch jedoch zwangsläufig der apriorische Status des Rechts verfälscht bzw. relativiert wird. Da sich das Recht darüber hinaus niemals unmittelbar auf das bloße Interesse einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe zurückführen lasse, müsse der Absolutheitsanspruch des Rechtes von der Rechtstheorie auch wörtlich genommen werden. Dies treffe umso mehr auf eine apriorische Rechtstheorie zu, welche aufgrund ihres rein formalen und rechtslogischen Charakters von allen materialen Bestimmungen abstrahiere. Bei einer ersten kritischen Sichtung dieser Argumentation fällt zunächst ihre Analogie zur Theologie ins Auge. Die Rechtsphilosophen verhalten sich in ihrer Ablehnung der politischen Ökonomie nicht anders als diejenigen Theologen, welche in der Religionssoziologie nur eine die soziale Performanz des Gottesbegriffes untergrabende Blasphemie entdecken können. Ebenso wie der absolute Anspruch der Gottesidee könne auch der apriorische Anspruch des Rechtes nur um den Preis seiner praktischen Wirkung in Frage gestellt werden. Mit Hilfe dieses esoterischen Imperativs wird mithin jede kritische Hinterfragung des juristischen Legitimitätsglaubens als ein Angriff auf den Rechtsstaat abgewiesen. Nun versteht sich aber der kriti1 Die folgenden Argumente sind samt und sonders der Debatte um Richard Saages Interpretation von Immanuel Kants Staats- und Rechtsphilosophie entnommen, die von Franco Zotta in einem eigenständigen Vorwort zur zweiten Auflage zusammengefasst und diskutiert wurden. Vgl. Saage 1994, S. 26–35.

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sche Sozialwissenschaftler durchaus auch als „Mythenjäger“ (Roland Barthes), der – im Übrigen ganz im Sinne des Kantischen Aufklärungsverständnisses – auch nicht vor der Autorität von Staat und Recht halt macht.2 Die esoterische Rechtsphilosophie erweist sich gegenüber der ideologiekritischen Objektivierung jedoch genau dann besonders anfällig, wenn ihr Absolutheitsanspruch auf der fragilen Konstruktion einer abstrakten Universalität ruht, welche die strukturelle Inkompatibilität von Privat- und Staatsrecht (Freiheit und Gleichheit) durch die formalistische Ausklammerung der konkret-materialen Zugangsprobleme zum Recht kurzschließt. Die materielle Forderung nach der konkreten Universalität des Rechts auf der Basis der Gleichzeitigkeit von Privat- und Staatsrecht, wie sie aus der revolutionären Déclaration des Droits de l’Homme et du citoyen von 1789 entnommen werden kann, wird mit einem Rekurs auf die Kantische Rechtsphilosophie zu einer formalen Rechtsregel umgedeutet, deren abstrakte Allgemeinheit völlig unabhängig von der Disparität ihrer Gegenstände ist. So werden bei Kant unterschiedliche Rechtsmaterien, wie der bürgerliche Besitzindividualismus und das feudale Privilegienrecht, mit Hilfe einer radikal formalistischen Perspektive unter ein einheitliches Staatsrecht subsumiert.3 In einer neoliberalen Variante aktualisiert wurde die esoterische Rechtsphilosophie schließlich mit John Rawls Theory of Justice (1971), deren rasante Rezeptionsgeschichte eng mit der philosophischen Sakralisierung der Kantischen Rechtslehre einher ging.4 Die Suspendierung materialer Rechtsforderungen zugunsten einer allgemeinen Rechtsregel erwies sich bei der Zurückweisung radikaldemokratischer Interpretationen der Déclaration von 1789 als ebenso nützlich wie bei der Zurückweisung sozialer Anspruchsrechte, wie sie aus dem modernen Sozialstaatspostulat entnommen werden können. Hat 2

Vgl. Barthes 1964. Wichtige Einflüsse der Déclaration aufgreifend, orientierte sich Kant dabei mit Hilfe der Homogenisierung der divergenten Souveränitätstheorien von Thomas Hobbes und Jean Jacques Rousseau doch primär an der durch das Allgemeine Landrecht von 1794 in Preußen (in der Folge ALR) geschaffenen Rechtswirklichkeit. Analog zum ALR wird auch bei Kant eine heterogene Rechtsstruktur formalistisch dadurch überbrückt, dass – wie Koselleck in Bezug auf das ALR schrieb – „sämtliche Rechte nur kraft souveräner Bestätigung ihre Gültigkeit gewannen“ (Koselleck 1981, S. 38). 4 Zotta, der darauf hinweist, dass die Sekundärliteratur zu Kants Rechtslehre in den letzten 30 Jahren nahezu unübersehbar geworden ist, bemerkt dazu: „Es gehört inzwischen bereits zum guten Ton, sich der Seelenverwandtschaft zur Kantischen Rechtslehre zu rühmen. Von J. Rawls bis J. Habermas vermeidet heutzutage kaum ein rechts- oder politiktheoretischer Autor mehr den Hinweis, dass sein Beitrag in irgendeiner Weise als ‚Kantisch‘ zu verstehen sei.“ (Zotta 2000, S. 14) Saages ideologiekritischer Ansatz von 1972 handelte sich den wütenden Protest der Philosophen also genau deshalb ein, weil er den Nagel des politischen Zeitgeistes auf den Kopf getroffen hatte. 3

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die in dieser Argumentationsfigur enthaltene Separierung der Rechtsphilosophie von der politischen Ökonomie nicht schon unmittelbare politische Gründe, so zeitigt sie doch eindeutige Theorieeffekte politischer Natur. Hatte die esoterische Philosophie noch verhältnismäßig leichtes Spiel mit ideologiekritischen Ansätzen, die das Verhältnis von Recht und Ökonomie auf einer mechanischen und abstrakten Ebene referierten5, so stehen der politischen Theorie mittlerweile selbstreflexive Varianten einer Ideologiekritik zur Verfügung, welche die Distanz der Rechtsphilosophen zur politischen Ökonomie nicht mehr allein auf bewusste politische Interessen zu reduzieren braucht, sondern unter Rekurs auf das soziale Unbewusste diskutieren kann.6 So kann etwa mit Bourdieu auf die simple Tatsache verwiesen werden, dass die Arbeitsteilung in der akademischen Welt im Normalfall dazu verleitet, die wissenschaftliche Binnenperspektive mit der objektiven Struktur der Wirklichkeit zu verwechseln.7 Selbst die hartgesottensten Kantianer schließen deshalb ganz oft unkritisch von den Gegenständen ihrer Erkenntnis auf das Erkenntnisvermögen zurück und verwechseln daher die Logik der Sache mit der Sache der Logik. Diese zunächst wissenschaftsinterne Problematik bringt jedoch schwerwiegende politische Theorieeffekte hervor, die aus der organischen Solidarität im Legitimationskreislauf zwischen akademischer Wissenschaft und staatlicher Verwaltung hervorgehen. Es ist auf diese Weise ebenso selbstverständlich, dass sich die Juristen mit dem Recht und die Philosophen mit der Vernunft beschäftigen wie sich der Gegenstand der politischen Ökonomie aufzulösen scheint, da ihr akademischer Status immer prekärer wird. Sozialwissenschaftliche Objektivierungsversuche werden als deterministische Anmaßungen eines vulgären Materialismus, Historismus oder Soziologismus zurückgewiesen, denen gegenüber die akademische Reinheit des Gegenstandes verteidigt werden muss. Über diesen scholastischen Stachel im Auge könnte aber nur eine Reflexion der sozialen bzw. institutionellen Bedingungen von Wissenschaft aufklären. Woher jedoch dazu die Ideologiekritiker und Wissenssoziologen nehmen? Aus diesem Problembewusstsein heraus soll es an dieser Stelle um eine historisierende Objektivierung des Verhältnisses von Rechtsphilosophie und 5 Im Mittelpunkt der philosophischen Kritik stand dabei der Ansatz von Macpherson 1990. Zur Kritik an Macpherson aus politökonomischer Perspektive vgl. Freudenthal 1982. 6 Betrachtet man die Überschneidungen so heterogener Werke wie von Michel Foucault, Pierre Bourdieu, Ernesto Laclau und jüngst Slavoj Žižek – um nur die wichtigsten zu nennen – als eine Selbstkritik von Ideologiekritik und politischer Ökonomie, so lassen sich die Umrisse einer neuen politischen Ökonomie ausmachen, die ihr kulturalistisches Defizit überwunden hat und das Problem der Politik erneut auf die Agenda setzen kann. 7 Zusammenfassend in: Bourdieu 2001, S. 130–134.

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politischer Ökonomie im Kontext der Französischen Revolution gehen. Dazu stütze ich mich auf einen weitgehend unbekannten Text, der nahezu parallel zu Kant auf die Herausforderung von Französischer Revolution und preußischem Reformprozess antwortet. Ihr Autor, der hallesche Privatdozent und Publizist Christian Daniel Voß (1761–1821), stellt das Verhältnis von Recht und politischer Ökonomie in den Mittelpunkt seines sechsbändigen Entwurfs einer Allgemeinen Staatswissenschaft.8 Er reflektiert hierin die Krise der naturrechtlichen Souveränitätslehre vor dem Hintergrund des politökonomischen Regierungsmodells des schottischen Frühliberalismus und synchronisiert dies mit einer radikaldemokratischen Interpretation der Déclaration von 1789. Um diesen Text jedoch überhaupt wahrnehmen und hinsichtlich seiner politischen Bedeutung einordnen zu können, ist eine gleichsam archäologische Bewegung notwendig, welche unterschiedliche politische Artikulationen des historischen Archivs durch eine Reihe von Metaerzählungen problematisieren muss. Zu beginnen ist hierbei sicherlich mit der borussischen Geschichtsschreibung, welche das von der Französischen Revolution ausgelöste Reflexionspotential entweder verschwieg oder nationalistisch umdeutete. Doch auch das neuere Narrativ vom „deutschen Sonderweg“ nahm die obrigkeitsstaatliche Interpretation der deutschen Ideengeschichte aus anderer Perspektive wieder auf, wenn es die demokratischen Traditionen unter dem Theorem der „Defensiven Modernisierung“ begrub und damit letztlich auch die legitimatorischen Bedürfnisse der Westbindung der BRD in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bediente.9 Auch die große Erzählung des doktrinären Marxismus bediente sich einer Modernisierungstheorie, welche die Möglichkeit einer avancierten politökonomischen Theoriebildung vor Marx aufgrund der ökonomischen Rückständigkeit Deutschlands von vornherein ausschloss. Letztlich muss noch die Überformung der politischen Ideengeschichte durch die Geschichte der Philosophie erwähnt werden, welche das historische Ar8 Vgl. Voß 1796–1802. Eine umfassende über die Ideengeschichte hinausgreifende wissenschaftsgeschichtliche und soziologische Einbettung der Staatswissenschaft von Voß findet sich in: Rüdiger 2005, S. 309–415. Siehe ferner: Garber 1992, S. 77–118. 9 Wehler 1987, S. 347–546. Auch Eder 1991 konnte sich bei seinem anerkennenswerten Versuch der Problematisierung eines neuen „politischen Diskursuniversums“ jedoch nicht zur Abkehr von der Sonderwegshypothese entschließen. Vgl. kritisch dazu jetzt Riethmüller 2001, der für seine Studie den Status einer Archäologie der Demokratietheorie mit Recht beanspruchen kann. Immer noch aktuell für die Ideengeschichte ist die kommentierte Textsammlung von Garber 1974 einschließlich der hieraus hervorgegangenen umfangreichen Reprintprogramme im Scriptor Verlag (Sammlung 18. Jahrhundert sowie Aufklärung und Revolution: Deutsche Texte 1790–1810), die bis heute einen noch kaum beackerten Schatz der politischen Ideengeschichte darstellen.

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chiv durch die kanonisierten Texte des „Deutschen Idealismus“ ersetzt. Freilich wird auch eine archäologisch inspirierte Ideologiekritik selbstverständlich nicht auf den vermeintlichen Boden der Tatsachen stoßen, von wo aus sich die wahre Geschichte im Singular erzählen liesse. Was von ihr freigelegt wird, ist vielmehr die politische Binnenstruktur der Geschichte. II. Die politische Geschichte des Naturrechts Voß beginnt seine Staatslehre von 1796 nicht mehr wie die Naturrechtslehre mit einem abstrakten Naturzustandstheorem, sondern mit der Geschichte, genauer mit einer „philosophischen Urgeschichte des Staates“10. Damit verbunden ist ein folgenreicher Wechsel von der juristischen zu einer historisch-politischen Perspektive, die sich aus der Spannung zwischen dem Individuum und seiner Gattungsgeschichte aufbaut. Die philosophische Urgeschichte des Staates wird genauer bestimmt als „ein Abstrakt (nicht aus dem Naturrechte, sondern a) aus der Anthropologie und b) aus der Geschichte der Menschheit.“11 Im Unterschied zum Naturzustandstheorem der kontraktualistischen Souveränitätslehre wird das Recht hier weder als transzendente noch als transzendental-logische Kategorie vorausgesetzt, sondern aus der unhintergehbaren sozialen und politischen Dimension der Geschichte der Menschheit abgeleitet. Dieses an der politökonomischen Methode der schottischen Schule um Hume, Ferguson, Smith und Millar geschulte Verfahren, löst die Kategorie des Rechtes jedoch auch nicht völlig in der historischen Kontingenz auf.12 Vielmehr erhält das Recht den Status eines historischen Aprioris, dessen Begründungscharakter weder ontologisch vorausgesetzt noch willkürlich gesetzt werden kann, sondern durch und durch geschichtlich ist. In seinen verschiedenen historischen Konfigurationen wird das Recht somit als konstitutiver Bestandteil eines durch die Geschichte freigelegten wechselseitigen Bedingungsgefüges von Sozialem und Politischem („bürgerliche Gesellschaft“) entworfen. Es erscheint daher nicht mehr wie in den klassischen Souveränitätstheorien von Bodin bis Rousseau als eine äußere Instanz, die den politischen Konflikt des Sozialen von außen begrenzt; vielmehr werden Recht und Souveränität implizit als politische Kategorien entwickelt.13 10

Vgl. Voß 1796, S. 145–260. Ebd., S. 92. 12 Die Schotten haben mit der Kritik der Vertragstheorie den esoterischen Charakter des Rechtes verworfen und die Funktion des Rechtes in Verbindung gesetzt mit der Geschichte der „bürgerlichen Gesellschaft“. Vgl. Hume 1964; Ferguson 1988; Smith 1992; Millar 1967; ferner: Foucault 2004b, S. 399–434; Medick 1981. 13 Vgl. hierzu auch Foucault 2004b, S. 399–434, der diesen Zusammenhang anhand der liberalen Gouvernementalität bei Ferguson und Smith entwickelt. 11

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Aus der Zurückweisung des juristischen Ahistorismus im Naturzustand zu Gunsten des spezifisch politischen Zusammenhanges von Anthropologie und Menschheitsgeschichte folgt für Voß die logische Unmöglichkeit der spekulativen Übertragung der individuierten Privatrechtsperson (homo solitarius) auf das natürliche Menschenbild am Ursprung der Geschichte. „Denke ich mir einen einzelnen Menschen, der von seiner Geburt an ausser der Gesellschaft gelebt habe, so finde ich nichts als ein Thier.“14 Die Gesellschaft ist für Voß immer schon in die individuelle Bedürfnisstruktur des Menschen inkorporiert, denn: „Kein Geschöpf hat mehr gesellschaftliches Bedürfniß, weil kein Geschöpf mit weniger Fähigkeit, sich selbst genug zu seyn, zur Welt kommt.“15 Diese Kritik an der Identifikation von Privatrechtsperson und natürlicher Anthropologie redet natürlich keineswegs der durch die göttliche lex aeterna bestimmten traditionellen societas civilis der Aristoteles-Tradition das Wort, da es sich hierbei gleichfalls um eine juristische Abstraktion von der Geschichte handelt, in welcher der natürliche Ort des Menschen in Gesellschaft und Politik ontologisch bzw. theologisch festgelegt ist. Das methodische Primat der Geschichte wendet sich bei Voß also sowohl gegen das traditionelle als auch gegen das kontraktualistische Naturrecht.16 Der natürliche Mensch erscheint dadurch als ein ebenso soziales wie historisches Wesen, weshalb die Anthropologie auch nur als eine politische begriffen werden kann. „Der allgemeine Begriff, Mensch“ stellt sich aus dieser Perspektive als „eine metaphysische Idee“ dar, aus der sich die Gesellschaft nicht erklären läßt.17 Insofern geht der Naturzustand durch die Geschichte hindurch und wandelt sich zur Naturgeschichte.18 Da der natürliche Mensch von Voß nicht mehr als abstraktes Rechtssubjekt begriffen wird, braucht Voß die menschlichen Attribute wie Vernunft, Mitleid oder Sympathie auch nicht als vorgesellschaftliche Dispositionen zu unterstellen.19 Vielmehr werden alle kulturellen Dispositionen des Menschen konsequent als historische vorgestellt. Moral, Vernunft und Recht entwickeln sich erst innerhalb von Geschichte und Gesellschaft, und zwar durch die spezifisch politische Erfahrung von Unfreiheit und Begrenztheit. 14

Voß 1796, S. 148. Ebd. 16 Zur typologischen Gegenüberstellung von traditionellem und modernem Naturrecht siehe Euchner 1979, S. 14–42. 17 Voß 1796, S. 162. 18 Vgl. zum Verhältnis von Naturzustand und Naturgeschichte in der schottischen Sozialphilosophie: Medick 1981. 19 „Wo sind die Kräfte des Geistes? Wo die Gefühle des Wohlwollens und der Liebe? Kannst du dir auf seiner Wange die Thräne des Kummers oder des Mitleidens denken; in seinem Auge den göttlichen Strahl der Freude und des Wohlwollens? Freylich vernahm man von allem diesem nichts in dem Zustande, den wir fingieren.“ (Voß 1796, S. 148 f.). 15

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„Nothwendigkeit und Bedürfnis sind die ersten Lehrer der Menschen“20. Zur sozialen Objektivierung drängen diese Erfahrungsdispositionen jedoch erst durch den Antagonismus des politischen Konflikts, welcher zum Zusammenschluss der „Beleidigten, Bedrückten, Verfolgten [. . .] gegen den Starken“21 führt. Erst und zunächst ausschließlich innerhalb der Notgemeinschaft der Ausgeschlossenen und Unterdrückten entstehen mentale Dispositionen wie „Freundschaft“ und „Liebe“, die sich auch im Dispositiv der objektiven Sozialstruktur verankern.22 Wenn Moralität und Vernunft somit als politische Kategorien aus dem sozialen Antagonismus abgeleitet werden, bekommt der gesamte Zivilisationsprozess eine zutiefst demokratische Färbung, die sich aus der Politisierung der Unterdrückten ableitet. „Unterdrückung hat den Freyheitssinn geweckt; so wie Bedrückung die Industrie hervorgerufen hat. Beyde zusammen sind die ersten Ursachen der Kultur und Aufklärung; nur da, wo alles dieß vorhergegangen war, konnte eine rein democratische Verfassung entstehen.“23 Zivilisierung vollzieht sich damit als ein Politisierungsprozess, der die physische Gewalt des Ausschlusses der Unterdrückten durch die Unterdrücker mit der symbolischen Macht der unterdrückten Vernunft beantwortet.24 Zunächst jedoch reichen die aus der Politisierung der Unterdrückten und Ausgeschlossenen spontan entstandenen moralisch-vernünftigen Dispositionen nicht aus, um als institutionelle Grundlage einer sozialen Gemeinschaft fungieren zu können. Aus diesem Mangel heraus entsteht ein Bedürfnis nach einer allgemeinen Institution, welche zumindest das bloße physische Minimalbedürfnis nach äußerer Freiheit – das sind: Selbsterhaltung, Freiheit der Person und freie Verfügung über Privateigentum – in einer Notgemeinschaft garantieren kann. Ein solcher sozialer Mechanismus wird schließlich in einem durch Vertrag begründeten Recht gefunden.25 „Dieser natürliche Vertrag war“ – wie Voß betont – „die Sache der Noth und der durch dieselbe veranlaßten (dunkeln oder hellen) Ueberlegungen; keineswegs die Wirkung der wohlwollenden Gefühle.“26 Insofern handelt es sich hierbei 20

Voß 1796, S. 153. Ebd., S. 159. 22 Ebd., S. 157 ff. 23 Ebd., S. 234. 24 Für einen Versuch die Politisierung der Ausgeschlossenen als Grundlage jeder Politik zu bestimmen, steht neuerdings Rancière 2002. 25 Voß bettet insofern den ideengeschichtlichen Übergang von der sittlich-materialen Orientierung des klassischen Naturrechts zur formalen Orientierung des neuzeitlichen Naturrechts bei Hobbes und Locke unter Ablösung von der Realgeschichte als ein notwendiges Zwischenstadium in seine politische Geschichtsphilosophie ein. Die Dialektik von Freiheits- und Zwangscharakter des formalen Naturrechts reflektiert Habermas 1993, S. 90 ff. 26 Voß 1796, S. 167. 21

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um ein rein formales Privatrecht, welches zwar die äußerliche Freiheit der Rechtsgenossen garantiert, zu deren Sanktion mangels interner Anerkennung durch die Vernunft jedoch eine physische Zwangsgewalt notwendig wird. Das auf Zwang rekurrierende formale Legalitätsprinzip muss auf diese Weise die interne Vernunft der Legitimität ersetzen. Oder, wie Habermas es in Bezug auf den formalen Charakter des Naturrechts ausdrückte: „Die Kehrseite der privaten Autonomie [. . .] ist die psychologische Zwangsmotivierung des Gehorsams. Geltendes Formalrecht ist durch physisch wirksame Gewalt sanktioniert, Legalität von Moralität grundsätzlich geschieden.“27 Die auf dieser Grundlage entstandene provisorische Rechtsgemeinschaft konstituiert in mehreren Verträgen eine „(bürgerlich) politische Gesellschaft“28, deren ausschließlicher Zweck die private „Sicherheit der Person und des Eigentums“29 war. So entsteht eine herrschaftsfreie Privatrechtsgesellschaft aus gleichen und freien Rechtssubjekten. „Niemand hatte zu gebieten, niemand zu gehorchen.“30 Freiheit und Gleichheit sind hier ursprünglich analoge Begriffe, die aufeinander bezogen sind und sich daher in einer strikten Gleichzeitigkeit befinden. Innerhalb dieser „Gleichfreiheit“ (egaliberté) qualifiziert alles zum Rechtssubjekt (Bürger), was auch zum Menschen qualifiziert.31 Einmal gegen die Herrschenden als politischer Wert etabliert, will Voß jedoch in der Folge zeigen, dass die egaliberté nicht durch ein formales Privatrecht bewahrt werden kann, denn das Legalitätsprinzip schützt zwar vor gewalttätigen Übergriffen, nicht aber vor regelkonformer Unterwerfung. So sind in der „bürgerlichen Gesellschaft“ gemäß des formalen Freiheitsrechts alle Handlungen, die nicht explizit nach Kriterien äußeren Verhaltens verboten sind, freigegeben. Dazu zählt auch die ungehemmte Akkumulation von Privateigentum, welche innerhalb der Grenzen der Legalität auch auf Kosten der übrigen Bürger erfolgen kann. Voß demonstriert nun, dass die bloße Rechtsgleichheit ohne Aneignungsschranken die bürgerliche Gleichheit nicht garantieren kann und schließlich zum Verlust der persönlichen Freiheit eines großen Teils der Bürger führt. Er behauptet zugleich, diese Verkehrung des Rechtes in das Unrecht, ohne Verletzung der etablierten Regeln des Privatrechts, d. h. unabhängig von der Anwendung unrechtlicher Gewalt erklären zu können. Auf diese Weise werden die Defizite des formalen Privatrechts für eine demokratische Organisation der Gesellschaft vorgeführt. 27 28 29 30 31

Habermas 1993, S. 91. Voß 1796, S. 172. Ebd., S. 189. Ebd., S. 189. Den Begriff der egaliberté habe ich übernommen von: Balibar 1993.

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Durch den unterschiedlichen Erfolg beim Erwerb von Eigentum, insbesondere aber durch die Institution des Erbrechts, kommt es laut Voß sehr schnell zu einer krassen Besitzdifferenzierung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. In dem Moment aber, wo der verarmte Bürger gezwungen ist, den Wohlhabenden um einen Teil seines Überflusses zu bitten, „hörte die (politische) bürgerliche Gleichheit völlig auf“32 und die egaliberté zerbricht. Trotz etablierter Rechtsgleichheit bedingt die Bedürfnisbefriedigung nun ein neues Abhängigkeitsverhältnis. „Sein Bedürfniß machte also den Armen persönlich abhängig von dem Reichen. Dieß Bedürfniß war nicht zu vermeiden. Es ging selbst aus der völligen Gleichheit der gesellschaftlichen Verhältnisse hervor.“33 Der Bedürftige befindet sich zwar nach wie vor auf einer Rechtsebene mit dem Besitzenden. „Allein das Uebel ist, daß er sich derselben, im Collisionsfall mit dem Reichen, von dem er abhängig ist nicht bedienen kann.“34 Insofern versagt das Recht in dieser Situation als universelle Regelungsinstanz zur Erhaltung politischer Subjektivität. Die damit nur noch abstrakte Allgemeinheit des Rechtes verdeckt jetzt die Partikularisierung der Zugangsbedingungen zum ausschließlich juristisch definierten gesellschaftlich Allgemeinen und mündet deshalb in die Monopolisierung der universellen Rechtsregel bei den Besitzenden. So hat der Besitzlose, wie Voß feststellt, kein Zwangsrecht gegen den Besitzenden zur Befriedigung seiner elementaren Bedürfnisse, „denn dagegen schützte den Reichen der gesellschaftliche Vertrag. Er mußte also zu Bitten seine Zuflucht nehmen.“35 Da die Moralität jedoch keinerlei institutionalisierter Regelung unterliegt, herrscht hier die pure Willkür. So bleibt auf dem Weg vom Recht zur Bitte die Würde, d. h. die Persönlichkeit bzw. Subjektivität des besitzlosen Bürgers auf der Strecke. Nach dem Verlust von Eigentum, Selbständigkeit und Würde schützt das Recht nur noch sein nacktes Leben in Gestalt seiner puren Körperlichkeit. Dies entspricht dem Rechtsstatus eines homo sacer.36 Mit dem vollständigen Verlust der politischen Subjektivität im homo sacer wird jedoch auch die abstrakte Allgemeinheit der Rechtssubjekte prekär, die gleichwohl Voraussetzung für die Monopolisierung eines universalen Rechtsanspruches ist. Auf diese Weise untergräbt das formale Privatrechtssystem letztlich seine eigenen Prämissen. Ein Ausweg aus diesem 32

Voß 1796, S. 196. Ebd., S. 197. 34 Ebd., S. 197. 35 Ebd., S. 199. 36 Giorgio Agamben hat in der juristisch-ökonomischen Reduktion des Menschen zu einem reinen Körperwesen (homo sacer) eines der politischen Grundprinzipien ausgemacht, die ihren Ausgangspunkt in den naturrechtlichen Souveränitätskonstruktionen der frühen Neuzeit haben. Vgl. Agamben 2002. 33

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Dilemma bietet allein die Deutung dieser Entsubjektivierung als ein geregelter und zeitlich befristeter Austausch der Person gegen ein Bedürfnis, d. h. die Definition des sozialen Abhängigkeitsverhältnisses als juristisches Tauschverhältnis, wie Voß es bei Adam Smith finden konnte.37 Voß beschreibt nun Smith folgend, wie der Besitzlose anstatt seiner Person nur seine Arbeit bzw. „seine Kräfte“ zeitlich befristet verkauft und deshalb trotz Abhängigkeit doch ein rechtsfähiges Subjekt bleiben kann. Der „Lohndiener“ und sein Herr treten sich hierbei als Eigentümer bzw. Warenbesitzer gegenüber, wobei der Lohnarbeiter das ihm verbleibende spezifische Eigentum, nämlich seine Körperkraft – als Ware verkauft, d. h. „die Anwendung derselben (den Ertrag dieses Eigenthums) gegen jedesmahlige Bezahlung“.38 Im Gegensatz zu Smith geht Voß jedoch nicht davon aus, dass die juristische Interpretation der Lohnarbeit als Warentausch den politischen Prozess der Entsubjektivierung der Besitzlosen außer Kraft setzen kann. Der Lohnarbeiter verliert vielmehr durch den Verkauf seiner Körperkräfte zunächst zeitlich befristet auch seine Selbständigkeit und geht schließlich durch Gewöhnung auch seines freien Willens verlustig. Das formale Privatrecht kann demzufolge die moralische und politische Entsubjektivierung auch auf diese Weise nicht verhindern. Die wachsende Asymmetrie zwischen sozialer und privatrechtlicher Gleichheit führt letztlich zum Kollaps von Subjektivität und zur vollständigen Verdinglichung bzw. Entfremdung des Arbeiters. Verelendung und Verschuldung zwingen die Lohnarbeiter schließlich dazu, auch ihre Person zu verkaufen. Mit dieser vollendeten Transformation vom Rechtssubjekt zum Rechtsobjekt erklärt Voß die Institution der Leibeigenschaft des Ancien régime. „Das Anrecht an die Verwendung der Kräfte wurde nun zu einem Anrecht an die Kräfte selbst; oder – welches einerlei ist – an die Person selbst.“39 Es bleibt nichts vom Menschen übrig als das nackte Leben des homo sacer. Mit der Leibeigenschaft erreicht die soziale Unterdrückung ihre höchste Ausbildung und damit ihre weiteste Entfernung von der ursprünglichen Gleichheit, jedoch „ohne“, wie Voß ausdrücklich betont, „daß wir noch den Reichen einer eigentlichen Gewaltthätigkeit überführen könnten“.40 Sie entsteht aus einer „Abhängigkeit aus Ungleichheit des Eigenthums bey völlig gleichen Rechten“41. Wenn Voß somit die feudale Verklammerung von Personen- und Sachenrechten aus der politökonomischen Logik der Besitzakkumulation unter den Regeln des formalen Privatrechts ableitet, wird deutlich, dass es ihm hierbei 37 38 39 40 41

Vgl. Smith 1993. Voß 1796, S. 207. Ebd., S. 207. Ebd., S. 208 f. Ebd., S. 195.

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nicht um eine Geschichtsschreibung geht, die einem abstrakten Wahrheitsregime folgt. In diesem Falle würde es sich dabei um einen einfachen Irrtum handeln.42 Deutlich wird hierdurch vielmehr, dass diese spekulative Konstruktion eine politische Artikulation ist, die alle Diskurse kurzschließt, welche sowohl über den feudalen Absolutismus als auch über den liberalen Besitzindividualismus hinausweisen.43 Aus der Perspektive eines solchen radikaldemokratischen Diskurses kann das bürgerliche auf Freiheit, Gleichheit und Sicherheit von Person und Privateigentum beruhende Privatrecht demzufolge die Entsubjektivierung der Besitzlosen nicht verhindern und schlägt schließlich in ein feudales Privatrecht um, das unmündige Individuen objektiviert und schließlich dem Sachenrecht zuweist.44 Im Ergebnis dieser Entwicklung sieht Voß eine Klassengesellschaft entstehen, die durch die politische Differenzierung verschiedener sozialer Subjektivierungstypen charakterisiert ist. Die pathologischen Antipoden dieser Gesellschaft bilden die Leibeigenen und die Großgrundbesitzer, die auf Grund ihrer vollständigen Objektivierung bzw. ihrem Interesse am Status quo über keine oder nur noch wenig politische Handlungskapazität verfügen.45 Beide Klassen sind mehr oder weniger vollständig entpolitisiert. Neben diesem pathologischen Antagonismus zwischen Herrschenden und Beherrschten existieren jedoch noch zwei weitere Klassen, deren politische Handlungskapazität durch ihre Zwischenstellung innerhalb der sozialen Polarisierung der Gesellschaft eher noch gesteigert wurde. Es handelt sich hierbei um die sich vom Einkommen ihres Eigentums selbst erhaltende „Mittelklasse“46 sowie die „dienstbare Klasse der Gesellschaft“47, d. h. die Lohnarbeiter. Beide bilden auf Grund ihres prekären aber gleichwohl immer noch vorhandenen Subjektstatus politische Klassen, welche aus dem Be42

So bei Garber 1992, S. 85. Aus diesem Grund darf die Ideengeschichte, wie Foucault 1995 betont, ihre Gegenstände auch nicht als passive Dokumente, sondern muss sie als praktische Monumente behandeln. Zu einer Theorie der Artikulation ausgebaut, findet sich dieser Gedanke bei Laclau/Mouffe 1991. 44 Im Gegensatz zum radikaldemokratischen Diskurs von Voß lässt sich die Kantische Rechtsphilosophie als eine altliberale Artikulation von liberalen und ständischen Diskursen lesen, da sie an der Verklammerung von Personen- und Sachenrechten zumindest in Bezug auf das Gesetzgebungsrecht festhält. Vgl. hierzu Saage 1994, S. 119–128. 45 Der Leibeigene „verliert endlich die Vorstellung völlig, daß er frey gewesen sey, oder frey seyn könne. Er wird völlig zu einem Theile des Eigenthums des Reichen“ (Voß 1796, S. 208). 46 Hierunter wird jene soziale Gruppe begriffen, „die noch im Besitz kleiner Grundstücke waren, durch welche sie eine, zwar nothdürftige, aber doch unabhängige Existenz erhalten hatten“ (Ebd., S. 209 f.). 47 Ebd., S. 208. 43

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dürfnis der Selbsterhaltung ein politisches Interesse zum Bruch mit dem formalen System des Privatrechts entwickeln.48 Aus dieser Konstellation heraus entfaltet Voß in der Folge die politische Notwendigkeit eines öffentlichen Rechtes, das er als Artikulation dieses wohl aus dem Zeithorizont von 1796 nur als jakobinisch deutbaren Blocks aus „Mittelklasse“ und Lohnarbeitern beschreibt. Beide stimmen aus existenziellen Gründen in der Ablehnung der historisch entstandenen „bürgerlich politische Ungleichheit“ als „unrechtliche Modification der bürgerlichen Gesellschaft“ überein und entwickeln aus diesem Grunde ein materielles Bedürfnis nach einer allgemeineren Rechtsebene, welche über das bloße Privatrecht hinausgreift.49 Das auf diese Weise artikulierte Staatsrecht liefert einerseits die bisher fehlende juristische Legitimation des politischen Widerstands gegen den abstrakten Universalismus des Privatrechts und verbindet zugleich die partikularen Subjektivierungsformen von Mittelstand und Lohnarbeit zu einem neuen politischen Allgemeinen, dessen begrifflicher Platzhalter und Repräsentant der souveräne Staat wird. Dabei zeigt sich die Kontinuität des geschichtsphilosophischen Ansatzes wiederum darin, dass das Staatsrecht als ein politischer Akt des demokratischen Widerstandes gegen Unterdrückung und Ausschließung auftritt. Gleichwohl ist für diesen Politisierungsschub ebenso wie zuvor beim Privatrecht keine moralische Einsicht vorauszusetzen, es handelt sich hierbei immer noch um eine Politisierung aus dem nackten Antagonismus des Naturbedürfnisses. Aus diesem Grund kann bei der Supplementierung des Staatsrecht das überkommene Privatrecht auch nicht in Frage gestellt werden. III. Der hobbessche Zirkel des natürlichen Staatsrechts Analog zur Gesellschaftsbildung wird auch die Staatsbildung nicht ahistorisch auf einen bloßen Vertrag reduziert, sondern als ein in Stufen verlaufender historischer und kontingenter Vorgang beschrieben. Voß schildert nun mit einer kulturhistorischen Methode, welche die politische Ideengeschichte als Legitimationstheorie aktiv in den historischen Prozess mit einbezieht, die Herausbildung des europäischen Staatensystems von der Renaissance bis zum Vorabend der Französischen Revolution. Die erste noch rohe Form des Staates basiert dabei auf dem Primat der Souveränität, wie es charakteristisch war für die Staatsräson des patrimonial-rationalen Fürstenstaates.50 Wie zuvor im Privatrecht ersetzt auch hier der Verstand des 48 Diese Unterscheidung zwischen dem politischen Interesse der Herrschenden am Status quo und der Beherrschten an der Veränderung des Systems entspricht Rancières Unterscheidung zwischen Polizei und Politik. Vgl. Rancière 2002. 49 Voß 1796, S. 191.

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formalen Rechtes noch die sittliche Vernunft. Die „höchste Gewalt“ dominiert das gesellschaftlich Allgemeine („allgemeiner Wille“), so dass beide schließlich in ein widersprüchliches Verhältnis miteinander verwickelt werden. So wird der Unterwerfungsvertrag analog zu Hobbes’ Leviathan als ein Begünstigungsvertrag konzipiert, „welcher von Seiten der Gesellschaft gemacht, von Seiten der Obrigkeit angenommen wird“51. „Die politische Gesellschaft wird nun Staat“52. Es handelt sich hierbei zunächst jedoch nur um einen „Not- und Verstandesstaat“, der über die Institution der Souveränität die weitere gesellschaftliche Regression der bürgerlichen Gesellschaft verhindern soll. Dieses reformabsolutistische Staatsmodell wurzelt einerseits im unmittelbaren Bedürfnis der prekären Subjektivitäten von Handwerk und Lohnarbeit, deren Schutz das Gewaltmonopol des Souveräns legitimiert. Damit bringt Voß auch hier einen demokratischen Ansatz zur Geltung, der sich von Smith und der klassischen Souveränitätslehre vor allem dahingehend unterscheidet, dass die Staatsbildung nicht aus dem notwendigen Schutz der reichen Eigentümer vor den Besitzlosen abgeleitet wird.53 Andererseits kann der Staat dieser politischen Aufgabe allerdings nur unter der Bedingung des allgemeinen, auch die großen Eigentümer einbeziehenden, Konsenses nachkommen, die privatrechtliche Struktur der Gesellschaft nach der allgemeinen Formel „Sicherheit der Person und des Eigenthums gegen innere Angriffe“ zu bewahren, ohne dabei zugleich die soziale Ungleichheit der Besitz- und Machtverhältnisse in Frage zu stellen.54 „Die allgemeine Unterwerfung der Gesellschaft unter die Obrigkeit hob diese Ungleichheit nicht auf. Der eine Theil war Unterthan der Obrigkeit oder des Staats; der andere hingegen Unterthan des Unterthanen. Durch die allgemeine Unterwerfung der Freyen unter die Machtgewalt der Obrigkeit, erhielt er nicht das Geringste wieder von der eingebüßten Freyheit seines Willens.“55

Die politische Preisgabe des materialen Gerechtigkeitsprinzips (egaliberté) zu Gunsten des historischen Kompromisses eines formalen Rechtsstaatsprinzips beinhaltet jedoch nicht nur ein legitimatorisches Problem, 50

Vgl. hierzu Foucault 2004a, S. 369–413. Voß 1796, S. 216. 52 Ebd., S. 213. 53 Bei Smith lassen sich hierzu folgende Stellen finden: „Wird also eine Regierungsgewalt zu dem Zwecke eingerichtet, das Eigentum zu sichern, so heißt das in Wirklichkeit nichts anderes, als die Besitzenden gegen Übergriffe der Besitzlosen zu schützen.“ (Smith 1993, S. 605) „Ohne Eigentum kann es keine Regierung geben, denn ihr wahrer Zweck ist die Sicherung des Reichtums und der Schutz der Reichen vor den Armen, die, würden sie nicht vom Staate daran gehindert, bald mit offener Gewalt die anderen auf eine Gleichheit mit ihnen zurückstutzen würden.“ (Smith 1996, S. 47). 54 Voß 1796, S. 215. 55 Ebd., S. 250. 51

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sondern bürdet der Regierung des Souveräns auch ein praktisches Problem auf. Er muss nämlich dem fortlaufenden Entsubjektivierungsmechanismus der Besitzakkumulation allein mit den Mitteln des Zwangsrechtes beikommen. Dies entspricht jedoch, wie Voß anhand der europäischen Staatengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts nachzuweisen sucht, einer Quadratur des Kreises, welche darüber hinaus auch noch die Produktivität des Staates behindert.56 Die besitzindividualistischen Interessensubjekte des gesellschaftlichen „Systems der Bedürfnisse“ (Hegel) lassen sich an der Akkumulation von Macht und Eigentum nicht durch eine souveräne Zwangsgewalt hindern, schon gar nicht, wenn der soziale Träger der Souveränität selbst ein korrumpierbares Interessensubjekt ist. „Der Besitz“ – so stellt Voß lapidar fest – „unterdrückt jede Frage von Recht.“57 Durch die fortschreitende soziale Ungleichheit wird vielmehr die Staatsunmittelbarkeit der Bürger weiter untergraben, so dass die Gesellschaft schließlich zu einer Ständegesellschaft mutiert, an deren Spitze der Adel steht, der sein Eigentumsprivileg direkt in politische Macht umgesetzt hat.58 Insofern wird das vorrevolutionäre Ancien régime als despotische Entartung von Staat und Gesellschaft komplett aus der privatrechtlichen Logik der kompetetiven Eigentümergesellschaft abgeleitet, welche auch nicht durch die staatsrechtliche Supplementierung der bürgerlichen Gesellschaft durch ein juristisch begründetes Gewaltmonopol aufgehalten werden kann. Ganz im Gegenteil verbindet sich das souveräne Recht des Stärkeren mit der Machtasymmetrie der sozialen Ungleichheit zu einem vollendeten System der Korruption und des Despotismus. IV. Die Menschen- und Bürgerrechte und die Revolution der Vernunft Diese den ursprünglichen Zweck des Staatsvertrages zuwiderlaufenden Resultate führen zwar immer wieder zu Revolutionen und Bürgerkriegen, die jedoch solange in einem circulus vitiosus gefangen bleiben, wie das Staatsrecht nicht auf eine wirklich universelle die ursprüngliche egaliberté rehabilitierende Grundlage gestellt wird. Es entspricht daher dem politi56 Dieses Dilemma ist zuvor am klarsten von Smith formuliert und mit einem Rückzug des Souveräns und des Rechtes aus der politischen Ökonomie als Regierungslehre beantwortet worden. Ausführlich diskutiert wird die politische Ökonomie von Smith in: Voß 1798, S. 220–396. Siehe hierzu auch Rüdiger 2005, S. 396–413. 57 Voß 1796, S. 226. 58 Voß leitet die Entstehung des Adels aus der Akkumulation von Besitz und Macht ab: „Meiner Einsicht zu Folge hat die Vergrößerung des Eigenthums, welche überhaupt als die erste Veranlassung des Unterschieds der Stände angesehen werden muß, auch zu der Entstehung des Adels die erste Veranlassung gegeben.“ (Ebd., S. 250).

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schen Bedürfnis der bürgerlichen Gesellschaft, den physischen Aspekt der Souveränität (Zwangsgewalt) durch einen moralischen Aspekt zu ergänzen. Voß stützt sich dabei insbesondere auf Smith, dessen Credo in der Einsicht bestand: Da der Souverän sowohl aus politischen als auch aus ökonomischen Gründen nicht dauerhaft gegen die Bürger regieren kann, braucht die Regierung notwendig ein allgemeines moralisches Fundament, durch welches die Bürger nicht mehr zu ihrem Glück gezwungen, sondern in ihren eigenen Interesse geführt werden.59 Voß radikalisiert nun in den Spuren von Rousseaus Hobbeskritik das politökonomische Postulat des schottischen Frühliberalismus, dass die bürgerliche Gesellschaft nicht von außen über das souveräne Zwangsrecht, sondern nur von innen über die individuelle Freiheit der Bürger regiert werden muss. Das setzt jedoch auf der Ebene des Staatsrechts den politisch gewollten Übergang vom Natur- zum Vernunftrecht bzw. vom partikularen Recht der Stärke zum universellen Recht der Freiheit voraus. Das Vernunftrecht geht insofern aus einer politökonomischen Begründung des Rechtes hervor. Als wahrhaft öffentliches Recht muss das allgemeine Staatsrecht – das ist die historisch-materialistische Lehre aus der bisherigen Naturgeschichte von Gesellschaft und Staat – unbedingt auf dem Prinzip der egaliberté aufbauen und darf nicht der historisch kontingenten Figur der bloß formalen Rechtspersönlichkeit geopfert werden. Privat- und Staatsrecht müssen sich daher in einem Verhältnis der Gleichzeitigkeit befinden und dürfen nicht aufeinander aufgeflickt werden. Diesem politischen Moment der Gleichzeitigkeit – der Synchronisation von Privat- und Staatsrecht nach dem universellen Prinzip der egaliberté – sieht Voß in dem revolutionären Moment der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 gegeben.60 Diese Déclaration reproduziert keineswegs erneut die aggregative Supplementierung privatrechtlicher Defizite durch das abstrakte Rechtsstaatsprinzip à la Hobbes und Locke, sondern stellt die Menschenrechte in ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis zu den Bürgerrechten, das seinen Fluchtpunkt im universellen Prinzip der egaliberté findet.61 In diesem Sinne überstieg die 59

Siehe hierzu Foucault 2004b, S. 407–423. Voß hat die Déclaration einschließlich der Verfassungsurkunde von 1793 abgedruckt und kommentiert. Vgl. Voß 1795/96, Bd. 2, S. 82–105. Neben Balibar 1993 grundlegend zur Interpretation der Déclaration ist vor allem die historische Rekonstruktion der gesamten Debatte bei Gauchet 1991. Für den Vergleich von amerikanischer und französischer Menschenrechtserklärung siehe immer noch: Habermas 1993, insbesondere S. 93–98. Zur deutschen Rezeption der Déclaration in den 1790er Jahren: Garber 1974 und Riethmüller 2001. 61 Diese Interpretation wurde über Voß hinaus von vielen historischen Zeitgenossen geteilt. Signifikant hierfür ist die qualitative Veränderung des Revolutionsbegriffes, wie er sich etwa bei Paine formuliert findet: „Was man vormals Revolutionen nannte, war nicht viel mehr als eine Veränderung der Personen oder Lokalumstände. 60

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Déclaration alle bisherigen Staatsrevolutionen und wurde als revolutionärer Einschnitt interpretiert, der dem Vernunftrecht zum Durchbruch verhalf. Die politische Subjektivität wird damit (wieder) auf die allgemeine Ebene des Menschen als Gattungswesen ausgedehnt, findet ihre notwendige politische Bestätigung jedoch nun nicht mehr durch die Naturkausalität des souveränen Zwangsrechts, sondern in einem Vernunftrecht, das den juristischen Rahmen formuliert, in welchem unter den Bedingungen der Zivilisation die Identität von Freiheit und Gleichheit in die politische Subjektivität des Einzelnen eingeschrieben werden kann. Dieser allgemeinmenschliche Anspruch auf das politische Bürgerrecht verwirft in einem Zuge sowohl die aristotelische Kontingentierung der politischen Freiheit auf einen bestimmten sozialen Status, der die Gleichheit innerhalb der Grenzen privilegierter Freiheit einschloss, als auch den besitzindividualistischen Liberalismus, der die universale Dublette von Freiheit und Gleichheit aufspaltet und in verschiedenen Rechtssphären separiert. Während der Liberalismus die privatrechtliche Freiheit des homme in eine widersprüchliche Spannung zur staatsrechtlichen Gleichheit des citoyen stellt62, proklamiert der einheitliche und vernunftrechtliche Akt der Déclaration gerade die Identität von homme und citoyen und eröffnet damit die Möglichkeit einer unbegrenzten Politisierung in der Forderung nach Rechten, welche die alten auf der Ungleichzeitigkeit von privatrechtlicher Freiheit und staatsrechtlicher Gleichheit beruhenden Rechtsordnungen aus den Angeln hebt. Vor dem Hintergrund der egaliberté kann es weder einen legitimen Grund geben, Menschen den Bürgerstatus vorzuenthalten, noch kann das Menschenrecht auf den vorpolitischen humanitären Rest des homo sacer reduziert werden. Das vernunftrechtlich begründete allgemeine Staatsrecht formuliert vielmehr ein universelles Recht auf Politik, das von jedem Menschen, dem seine politische Sie stiegen und fielen gleichsam nach dem Laufe der Natur, und in ihrer Existenz und ihrem Schicksale war nichts enthalten, was über den Ort hinaus, der sie hervorbrachte, Einfluss haben konnte. Die Revolutionen in Amerika und Frankreich aber sind eine Erneuerung der natürlichen Ordnung der Dinge, ein System von Grundsätzen, die ebenso allgemein sind als die Wahrheit und die Existenz des Menschen, und die Moral mit politischer Glückseligkeit und Nationalwohlstand verbinden.“ (Paine 1973, S. 173). 62 Die berühmte Kritik des jungen Marx an der Déclaration schließt insofern von der Verfassungswirklichkeit des liberalen Rechtsstaates auf die politische Struktur der Déclaration zurück. Die sich in der postrevolutionären Verfassungswirklichkeit schließlich fraglos durchsetzende Inkompatibilität zwischen „homme“, „bourgeois“ und „citoyen“ lässt sich jedoch nicht ohne weiteres bereits auf die Déclaration zurückprojizieren. Nicht zuletzt hierin liegt aber eines der Grundprobleme, welches die Stellung der marxistischen Theorie zur Problematik der Menschenrechte bis heute bestimmt und dazu geführt hat, dass die sich auf Marx berufende Politik in ihrer Absetzung vom Liberalismus hinter den demokratischen Anspruch der Déclaration zurückgefallen ist. Siehe hierzu auch: Balibar 1993, S. 209 ff.

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Subjektivität vorenthalten wird, mit einem Widerstandsrecht eingeklagt werden kann.63 Die soziale Ordnung, welche durch die Déclaration geschaffen oder exakter deklariert wird, nennt Voß in bewusster Absetzung zum bisher verwendeten Begriff der „bürgerlichen Gesellschaft“ eine „Gemeine“. Er interpretiert damit die Déclaration als einen Gesellschaftsvertrag nach dem Muster Rousseaus, in welchem die Bürgertugend über die bisherige Sprache der Privatinteressen siegt.64 Die Rechtsform der Gemeine („GemeineRecht“) ist ein öffentliches, aber gleichwohl vorstaatliches Recht, das dem universalen Prinzip der egaliberté verpflichtet ist, ohne bereits einer höchsten Gewalt unterworfen zu sein. Insofern versteht er die Gemeine ihrer politischen Form nach als Muster einer Demokratie, welche auf dem Prinzip der Volkssouveränität beruht. „Mit Recht kann also auch jeder Paciscent alle die Eigenschaften sich beylegen, welche den Souverän charakterisieren.“65 Nach dem Vorbild von Rousseaus Contrat social entspricht ihr Rechtsstatus einem Vereinigungsvertrag (pactum unionis), in welchem die Freiheit jedes Einzelnen die Bedingung für die Freiheit aller ist.66 Jeder Vertragspartner hat „bey der Schließung des Vertrags [. . .] seinen Willen und seine Kräfte keinen andern Willen und keiner andern Kraft unterworfen, sondern mit andern Willen und andern Kräften vereinigt.“67 Da in der Gemeine also mangels Unterwerfungsvertrag kein „höchster Wille“, sondern allein der „allgemeine Wille“ (volonté générale) als Platzhalter der Souveränität fungiert, muss die moralische Macht der Vernunft die physische Zwangsgewalt bei der Willensbildung ersetzen.68 Die vernünftige Einordnung tritt an die Stelle der willkürlichen Unterordnung. 63

Vgl. hierzu auch die Diskussion der Ansätze von Balibar, Agamben und Rancière bei Žižek 2005, S. 43 ff. 64 Zum rousseauistischen Selbstverständnis der französischen Revolutionäre über den Rechtsstatus der Déclaration, siehe Gauchet 1992, S. 56–62 und Habermas 1993, S. 102–107. 65 Voß 1796, S. 331 f. 66 „Bey der Schließung und Erfüllung dieses Vertrags ist und bleibt jeder Paciscent sich selbst Zweck. Nur um seinen persönlichen Zweck – die Sicherung seines Lebens und Eigenthums – zu erreichen, hat er sich in diesen Vertrag eingelassen. Er hat sich zu den Leistungen für andere verstanden, insofern dieß ein Mittel, und zwar das einzige Mittel ist, seine persönlichen Zwekke zu erreichen. Alle Aufopferungen, welche er macht, und alle Einschränkungen, die er sich gefallen läßt, können und müssen hierdurch allein bestimmt werden.“ (Ebd., S. 301 f.). 67 Voß 1796, S. 309. 68 In der Gemeine wird das formale Zwangsrecht also ersetzt durch die symbolische Macht der philosophischen Vernunft. Analog dazu stellt auch Habermas in Bezug auf die Déclaration fest: „Dieser Akt der Erklärung musste für sich beanspruchen, einzig aus philosophischer Einsicht politische Gewalt zu erzeugen.“ (Habermas 1993, S. 92) Inwieweit sich Voß über den politischen Charakter sowohl von

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„Hier in der Gemeine, wo Niemand befiehlt, und Niemand gehorcht, sondern wo der allgemeine Wille will, und der besondere Wille dem allgemeinen beystimmt, kann der Ausdruck des allgemeinen Willens auch nicht Vorschrift, sondern nur Beschluß seyn.“69

Um den machiavellistischen Einwand zu zerstreuen, die Vernunft öffne als alleiniges Rechtsprinzip faktisch der Willkür Tür und Tor, betont Voß, dass individuelle Dispositionen, wie die „Denk- oder Aeusserungsfreiheit“, „das Recht einer vernünftigen freyen Disposition über seine Kräfte“ sowie das Recht auf Leben, gar nicht auf die Gemeine übertragbar sind, da sie für die Freiheit des Menschen und damit auch für die gemeinschaftliche egaliberté unverzichtbar sind.70 Eine moralische Pflicht zur Aufgabe individueller Freiheit wäre daher ein Widerspruch in sich selbst. Dieser Grundsatz wird mit der Feststellung präzisiert: „Aufopferung Einzelner für das Ganze erhellt schon aus dem Vorhergehenden, als willkürlich angenommen und (ist) in den Rechtsgrundsätzen mit nichten gegründet“.71 Als Menschen sind die Mitglieder der demokratischen Gemeine aus diesen Gründen „freye, sittliche Wesen“, welche „nur durch sich selbst bestimmt werden“.72 Darüber hinaus besitzen sie als Bürger über eine juristische Persönlichkeit, die über negative Schutzrechte ebenso verfügt wie über positive Anspruchsrechte. Das Prinzip der egaliberté impliziert daher nicht nur ein Schutzrecht des Eigentums, sondern auch ein Anspruchsrecht auf dasselbe.73 Wenn die Akkumulation von Privateigentum dabei ihre Grenze in der Freiheit der übrigen Bürger findet, ist die Depravation des Menschenrechts zum nutzlosen Recht des homo sacer ausgeschlossen.74 Erst durch diese wechselseitige juridischer als auch symbolisch-moralischer Macht wird auch an anderer Stelle in seiner Politik klar. Dort heißt es: „Indessen da physischer Zwang nur immer ein Nothbehelf bleibt, der die Menschheit entehrt [. . .], so steht zu wünschen, dass man desselben [. . .] mehr und mehr überhoben seyn könnt. [. . .] Man könnte vielleicht sagen: die Politik setze einen moralischen Zwang an die Stelle des physischen.“ (Voß 1797, S. 108 f.). 69 Voß 1796, S. 356. 70 Vgl. ebd., S. 292–298. 71 Ebd., S. 302. Voß fügt an anderer Stelle hinzu: „Der Paciscent opfert also in diesem Vertrag eigentlich nur so viel von seinen Menschenrechten auf, als er der Gemeine das Recht einräumt, ihn zu zwingen; dafern er so unvernünftig seyn sollte, einmal etwas anders zu wollen, oder seinen Kräften eine andre Richtung zu geben, als die, welche eine Vernünftige Pflicht ihm vorschreibt.“ (Ebd., S. 300). 72 Ebd., S. 275. 73 Diese Interpretation wird auch von Balibar bestätigt: „Der Sinn der Einleitungsformeln der Erklärung besteht [. . .] darin, [. . .] diesen Menschen-und-Bürgern durch seine wesentlichen Kennzeichen zu definieren und insofern zu konstituieren. Dazu gehört das ‚unantastbare‘ Eigentum: die Formel besagt, dass der Gedanke eines ‚nicht-besitzenden‘, ‚eigentumslosen‘ oder enteigneten Menschen-und-Bürgers ein Widerspruch in sich ist.“ (Balibar 1993, S. 210).

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Verklammerung von Menschen- und Bürgerrechten kann „durch den Vereinigungsvertrag die politische Gleichheit begründet“ werden.75 Da die Gemeine ihre Mitglieder daher nicht mehr allein vor Diebstahl, sondern nun auch vor „Hunger, Kummer, Druck, Luxus, Unsittlichkeit etc.“ zu bewahren hat, ist der Übergang vom Naturrecht zum Vernunftrecht bzw. vom physischen zum moralischen Gesetz implizit verbunden mit der Verschiebung von der repressiven Strafpraxis zur produktiven Kraft der politischen Ökonomie.76 Letztere tritt bei Voß gleichsam als eine moralische Ökonomie der Vernunft auf, in welcher die Bestrafung der Bürger einer „Erhöhung seiner physischen und moralischen Kräfte (Industrie)“ weicht.77 Ebenso wie der „allgemeine Wille“ in der Gemeine den „höchsten Willen“ hinsichtlich der Gesetzesfunktion, so muss auch die „allgemeine Kraft“ (politische Ökonomie) die „höchste Kraft“ (Zwangsgewalt) ersetzen, denn ohne die Kraft der Vernunft – darüber war sich Voß genauso bewußt wie Hobbes – ist der Wille nur ein leeres Wort. Die politische Ökonomie bildet daher ganz notwendig die materielle Seite der Souveränität und kann in der Gemeine die Strafgewalt der Souveränität ersetzen.78 Wie der von Voß verwendete Industriebegriff anzeigt, besitzt die politische Ökonomie neben der technisch-materiellen zwingend auch eine moralisch-kulturelle Dimension. Voß legt auf diesen Aspekt sehr viel größeren Wert als sein Vorbild Smith.79 74

Vgl. Voß 1796, S. 265 ff. Wenn Agamben in der Déclaration daher primär die moderne Kodifizierung des homo sacer sieht, so verwechselt er ebenso wie Marx den eigentlichen politischen Gehalt derselben mit ihrer liberalen Entstellung. In dem sie aber gleichsam das Kind mit dem Bade ausschütten, verschenken sie das politische Potential, das in der konstatierten Widersprüchlichkeit liegt. Siehe hierzu: Žižek 2005, S. 46. 75 Voß 1796, S. 318 f. 76 Dieser Übergang von der juridischen Macht der Souveränität zur politischen Ökonomie wird im Modell der „Bio-Macht“ thematisiert und detailliert beschrieben bei Foucault 1994. Gleichwohl wird auch bei Foucault die politische Logik der Revolutionäre auf das liberale Paradigma der „Bio-Macht“ reduziert. 77 Voß 1796, S. 377. 78 Bereits im Contrat sociale von Rousseau wird die Synthese von individueller Freiheit und allgemeiner gesellschaftlicher Kraft als das Grundproblem des Staatsrechtes behandelt. Vgl. Rousseau 1989, S. 161 ff. 79 Bei Smith ist die industrielle Arbeitsteilung notwendig mit der moralischen Verelendung des Arbeiters verbunden, die nur durch das außerökonomische Eingreifen des Staates gebremst werden kann (Smith 1993, S. 662 f.). Dies hängt eng zusammen mit dem postulierten Auseinanderfallen von Produktions- und Distributionsprozess unter den Bedingungen der Zivilisation. Ebenso wie die Arbeit unter zivilisierten Bedingungen ihre ursprüngliche legitimitätsstiftende Funktion für die Verteilung der Einkommen einbüßt, verliert auch der zivilisierte Arbeiter seine autonome Bildungsfähigkeit und Würde. Dieser Verfallsprozess kann nur durch eine

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„Um die vermehrten physischen Menschenkräfte zur Benutzung und Erhöhung der vernunftlosen Naturkräfte verwenden zu können, ist eine Erhöhung und Anwendung der moralischen oder geistigen Kräfte unentbehrlich. Nur da wird die allgemeine Kraft eine erhöhte Wirksamkeit erhalten können, wo physische und moralische Menschenkräfte mit den Kräften der vernunftlosen Natur in einer verhältnismäßigen harmonischen Thätigkeit sich befinden.“80

Die vom Vernunftrecht geforderte politische Ökonomie muss die gesellschaftliche Produktivität mit der moralischen Freiheit verbinden, denn: „Nichts hindert die oben bezeichnete Thätigkeit (Industrie) mehr als Zwang, nichts befördert sie mehr als Freyheit; durch Zwangsmittel dieselbe befördern wollen, hieße einen Menschen Fesseln anlegen, um den Gebrauch seiner Gliedmaßen zu vervollkommnen.“81 Insofern das Besondere hier mit dem Allgemeinen allein unter Rückgriff auf die individuelle Vernunft der freien und gleichen Bürger vermittelt werden muss, kann sich das Prinzip der egaliberté deshalb nicht nur auf die Verteilung von materiellen Gütern beschränken. Beseitigt werden müssen auch alle Hindernisse, welche die Menschen von Kultur und Bildung ausschließen. Das vernunftrechtliche Prinzip der egaliberté formuliert also neben der politischen, der sozialen auch einen notwendigen Rechtsanspruch auf die kulturelle Partizipation am Allgemeinen, was nur durch ein umfassendes Aufklärungsprogramm zur Bekämpfung von „Unwissenheit, Aberglauben und Vorurtheile(n)“ eingelöst werden kann, „denn sie hindern den freyen Gebrauch der Vernunft, folglich auch die Anwendung derselben auf die Erreichung des allgemeinen Zwecks; ihre Hinwegräumung muß daher auch allgemeiner Wille seyn“.82 Als einzige Partizipationsbedingung an der Gemeine lässt Voß das Kriterium der Volljährigkeit gelten.83 Alle anderen Kriterien sind durch die unterstellte Identität von Mensch (homme) und Bürger (citoyen) innerhalb der Gesouveräne Zwangsgewalt kompensiert werden. Der Arbeiter wird bei Smith somit sehr wohl zum homo sacer bzw. zum Proletarier. Es bleibt das Verdienst von Voß, Smith an dieser Stelle widersprochen zu haben. Vgl. dazu ausführlich Rüdiger 2005, S. 396–413. 80 Voß 1796, S. 376. 81 Ebd., S. 377. 82 Ebd., S. 361 f. Insofern daher „Hindernisse der Vernunft von kirchlichen Einrichtungen, Statuten und Grundsätzen, oder von geistlichen Korporationen und Ständen ausgehen, ist ebenfalls kein Zweifel, daß der Souverän nicht das Recht haben sollte, davon Notiz zu nehmen; dieselben a) entweder ganz abzustellen, oder b) was darin als nachtheilig und hinderlich erkannt wird, abzuändern und dem allgemeinen Zwecke gemäß einzurichten [. . .].“ (Ebd., S. 362). 83 „Ob die Paciscenten Eigenthum besitzen oder nicht; ob dies bewegliches oder unbewegliches ist; ob sie sich von der Jagd, von der Fischerey, der Viehzucht, dem Ackerbau oder der Handelsschaft nähren, sind zufällige Qualitäten, welche von äussern Verhältnissen abhängen und heute diese, morgen jene seyn können.“ (Ebd., S. 282).

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meine von vornherein ausgeschlossen. Alle positiven Bedingungen, wie sie von liberaler Seite – etwa von Sieyès oder Kant – an Eigentum, Geschlecht, Beruf oder Geburtsort geknüpft wurden, sind für die radikaldemokratische Interpretation der Déclaration null und nichtig. Die positive Beschränkung der egaliberté als Grundprinzip des öffentlichen Rechts ist ein Widerspruch in sich, der nur zustande kommen kann, wenn „politische Gründe als Rechtsgründe absichtlich oder unwissender Weise ausgestellt“84 werden bzw. positives Recht als apriorisches Vernunftrecht ausgegeben wird. „In einer wahrhaften demokratischen Repräsentation muß zum Wähler qualificiren, was zum Bürger qualificirt. Diese Qualitäten sind in dem allgemeinen Staatsrechte für jedes an Leib und Seele gesunde Gesellschafts-Glied begründet, und jede anderweitige willkührliche Bestimmung als rechtlich unmöglich erwiesen“.85

Dabei zeigt sich bereits, wie weitgehend das Politisierungspotential war, das sich aus dem Prinzip der egaliberté ableiten ließ, wenn Voß die „rechtswidrige Anmaßung des männlichen Geschlechts“, dass „überall das ganze weibliche Geschlecht von der Wahl und Repräsentation ausgeschlossen (ist), wiewohl sich die rechtliche Unfähigkeit durchaus nicht erweisen lässt“ für einen besonderen Skandal der Politik hielt.86 V. Das Repräsentationsproblem: Staatsrecht und Politik Wie stellt sich Voß jedoch die Überführung der Rechtsmaterie der Déclaration in eine staatliche Verfassung vor? Dies ist das Thema des Staatsrechtes im engeren Sinne, welches aus der verfassungsmäßigen Institutionalisierung des „Gemeine-Rechts“ der Déclaration hervorgeht. Die Gemeine wird erst im Moment ihrer verfassungsrechtlichen Positivierung zum Staat. Der Übergang von der Gemeine zum Staat korrespondiert dabei mit dem realhistorischen Wandel von der Déclaration von 1789 zur französischen Ver84 Ebd., S. 283. Die Ideologiekritik wird daher keineswegs ahistorisch an die Kantische Rechtsphilosophie herangetragen, sie ist dieser vielmehr von Beginn an immanent. Der Ahistorismus befindet sich dagegen auf der Seite von Kants neoliberalen Apologeten in der Gegenwart. Es kann daher nicht überraschen, wenn die unvoreingenommene Kant-Forschung zum selben Resultat wie Voß 1796 kommt. „Kant verletzt seine explizit programmatische Absicht, apriorische Theoriebildung zu betreiben, weil er wiederholt gezwungen ist, die Geschlossenheit seines Rechtssystems auf Kosten der Integration aposteriorisch-kontingenter Daten aufzubauen. [. . .] Da Kant zudem jenen Integrationsakt nicht als Bruch mit der ursprünglichen Programmatik kenntlich macht, sondern den Eindruck zu erwecken sucht, die aposteriorischen Elemente besäßen die Dignität einer reinen Vernunfteinsicht, sieht er sich mit dem Vorwurf konfrontiert, die Parteilichkeit seiner Rechtslehre zu verschleiern.“ (Zotta 2000, S. 143 f.). 85 Voß 1797, S. 66. 86 Ebd., S. 67 f. Siehe auch Voß 1798, S. 313 und 315 f.

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fassung von 1791. Dieser Wandel verdankt sich bei Voß weniger einer vernunftrechtlichen Notwendigkeit als vielmehr einem politischen Bedürfnis, das aus dem Repräsentationsproblem entsteht. Auf der Ebene der Gemeine stellt sich dieses Problem noch nicht, da sie nur durch die zum allgemeinen Zweck deklarierte unbedingte Identität von Menschen- und Bürgerrechten charakterisiert ist, die einen vorbehaltlosen Anspruch aller Menschen auf politische Subjektivität einfordert. Diese von kontingenten Bedingungen unabhängige leere Universalität der egaliberté verbürgt aufgrund ihres rein formalen Charakters die Unnötigkeit eines besonderen politischen Repräsentanten des Allgemeinen innerhalb eines hierarchischen Verhältnisses. Lediglich aufgrund der puren Menschlichkeit partizipiert das Individuum hier am Allgemeinen. Jeder Beschluss ist eine Beistimmung und keine Unterwerfung. Der homme wird also a priori mit dem citoyen gleichgesetzt und genau deshalb kann die Gemeine ausschließlich auf Rousseaus Modell der Volkssouveränität bezogen werden. Der Riss zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen, auf den das politische Repräsentationsproblem antwortet, tritt erst hervor, wenn das von der volonté générale formal artikulierte Prinzip der egaliberté mit einer kontingenten Wirklichkeit vermittelt werden muss, welche gerade durch die soziale Erfahrung der Nicht-Identität der konkreten Menschen mit dem abstrakten Bürger gekennzeichnet ist. Voß stellt diesbezüglich fest: „In Beziehung auf den allgemeinen Zweck kann man eine stete Einstimmigkeit (wenigstens bey allen vernünftigen, also auch nur rechtlicher Ansprüche fähigen Gemeinemitglieder) annehmen; nicht so aber in Rücksicht der Mittel zur Erreichung derselben.“87 Es ist vor allem die soziale Differenzierung der Nicht-Identität von homme und citoyen in einer Klassengesellschaft, die bei den Besitzenden anders ausfällt als bei Besitzlosen, Frauen oder Fremden, welche das Problem der politischen Aktualisierung der egaliberté zu einen Konflikt macht, zu dessen Regelung der bloße Vereinigungsvertrag nicht mehr hinreichend ist. „Wiewohl nun Abweichung der Einsicht und Meinung den Einzelnen kein Recht geben kann, ihren Willen dem allgemeinen Willen, und ihre Kräfte der allgemeinen Kraft zu entziehen, so kann und wird dieß doch ohnstreitig geschehen und die Gemeine die Erfahrung machen, daß der Vereinigungsvertrag nicht hinreichend sey, den Zweck der Vereinigung wo nicht a) überhaupt zu erreichen; doch b) in der Vollkommenheit zu erreichen, als es die Absicht der ganzen Gemeine ist und seyn muß.“88

Der sich hieraus ergebende politische Konflikt um die praktische Universalisierung der egaliberté kann demnach nur über die politische Repräsenta87 88

Voß 1796, S. 398 f. Ebd., S. 399.

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tion des „allgemeinen Willens“ ausgetragen werden, was für Voß – wegen der logischen und faktischen Unmöglichkeit seiner Übertragung – gleichbedeutend ist mit seiner Unterwerfung unter einen „höchsten Willen“.89 So wandelt sich die Gemeine durch einen Unterwerfungsvertrag (pactum subjectionis) zum Staat, wobei mit der Gemeine auch ihr demokratischer Grundcharakter dem Repräsentationsprinzip zum Opfer fällt.90 Staat und Demokratie schließen sich für Voß aus, da er die Demokratie nicht als Staatsform, sondern nur als Gesellschaftsform akzeptiert.91 Trotzdem kann die durch den Unterwerfungsvertrag entstandene staatliche Souveränität ihre Verpflichtung gegenüber der volonté générale nicht einfach kappen. Der Zweck des Vereinigungsvertrages, die Garantie der Menschenrechte als Bürgerrechte, bleibt auch bei der Staatsbildung qua Unterwerfungsvertrag bestehen. „In Rücksicht auf jenen Zweck und Vertrag besteht der allgemeine Wille unveränderlich, und die allgemeine Kraft tritt also auch, sobald es erforderlich seyn sollte, wieder unter die Disposition desselben.“92 Die Unterwerfung unter das staatliche Repräsentationsprinzip bleibt also unter dem Vorbehaltsrecht der volonté générale. Analog zur jakobinischen Verfassung von 1793 kommt dem Widerstandsrecht dabei die Funktion zu, die revolutionäre Rückkopplung der repräsentativen Souveränität des höchsten Wil89 „Dieß allgemeine Mittel erkennt die Gemeine darin, daß sich in Beziehung auf die Wahl der Mittel zur Erreichung des Zwecks, ein jedes Individuum der Gemeine seines unmittelbaren Antheils an der Souveränität begiebt, der allgemeine Wille auf diese Weise eine höchste Gewalt in der Gemeine bildet, welche er sich, und die von ihm bisher allein bestimmte allgemeine Kräfte, unter der angezeigten Bedingung unterwirft.“ (Ebd., S. 399 f.). 90 Kelsen reflektiert das gleiche Problem später folgendermaßen: „Die Fiktion der Repräsentation soll den Parlamentarismus vom Standpunkt der Volkssouveränität legitimieren. [. . .] Der fiktive Charakter des Repräsentationsgedankens ist begreiflicherweise solange nicht in den Vordergrund des politischen Bewußtseins getreten, als die Demokratie noch im Kampfe gegen die Autokratie lag, und der Parlamentarismus selbst noch nicht restlos gegen die Ansprüche des Monarchen und der Stände durchgesetzt war.“ (Kelsen 1981, S. 30 f.). 91 „Eine reine Demokratie kann nur eine solche genannt werden, in welcher gar keine aristokratische Zumischung wahrzunehmen ist. In einer solchen muß ein jeder Bürger unmittelbaren Antheil an der Ausübung der höchsten Gewalt nehmen. Jede Repräsentation neigt schon zum Aristokratismus; wo eine Verwaltung durch diesselbe statt findet, wird die Theilnahme aller Staatsbürger an derselben nur ein nichtiges Luftgebild ohne Realität. Sollen aber die sämmtlichen Gesellschafts-Glieder eine unmittelbare Theilnahme an der Ausübung der höchsten Gewalt konserviren und üben, so wird statt der höchsten Gewalt eine allgemeine Gewalt statt finden, die Gesellschaft wird nichts weiter als eine Gemeine seyn. Eine reine Demokratie kann daher nur eine Gemeine mit recht genannt werden. Da nun aber eine Gemeine kein Staat ist, also auch keine Regierung hat, so kann auch eine reine Demokratie wohl eine Gesellschaftsform, aber nicht eine Regierungsform seyn.“ (Voß 1797, S. 33 f.). 92 Voß 1796, S. 401.

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lens an die demokratische Volkssouveränität des allgemeinen Willens zu garantieren.93 Neben dem Widerstandsrecht bestehen zwischen Gemeine und Staat auch vielfältige strukturelle Verkoppelungen, welche der revolutionären Rücknahme des höchsten Willens durch die pouvoir constituante als letztem gewaltsamem Mittel zuvorkommen sollen. Ein zentrales Moment von Staatsrecht und politischer Theorie macht bei Voß aus diesem Grund die Idee der Revolutionsprophylaxe aus, die sich jedoch nicht gegen die Revolution als Ereignis der politischen Vernunft, sondern allein gegen den Machtmissbrauch repräsentativer Souveränität richtet. Eine herausragende Rolle spielt für Voß dabei die strikte Trennung von Amt und Person. In Analogie zur leeren Universalität des allgemeinen Willens (egaliberté) kann auch der Begriff souveräner Herrschaft nur leer bzw. abstrakt sein. „Den Inbegriff dieses höchsten Willens und dieser höchsten Kraft, die höchste Gewalt nennt die Gemeine ihre Obrigkeit, oder ihren Herrscher in abstracto.“94 Durch diese strukturelle Homologie wird die Regierung als eine „Einrichtung“ ausgewiesen, „die allein von dem allgemeinen Willen der Gemeine abhängig ist“ und nur durch diesen ihre „Existenz und Form“ erhält.95 Da der allgemeine Wille gar nicht übertragen werden kann, muss die Verfassung diejenige politische Methode formulieren, mit deren Hilfe das abstrakte Herrschaftsprinzip konkretisiert und personifiziert werden kann. Somit kann „das Abstraktum Obrigkeit, in ein Concretum“ erst genau dann übergehen, wenn „die neuerschaffene höchste Gewalt mit einer (moralischen oder physischen) Person“ verbunden wird.96 Nicht vor dieser „Modifikation der höchsten Gewalt (Constitution) [. . .] wird die Gemeine zu einem Staate, das Gemeineglied zu einem Unterthan“.97 Die Verfassung garantiert also den Zusammenhang zwischen Volkssouveränität und souveräner Regierung und verhindert zugleich die Konsumtion des allgemeinen Willens durch den höchsten Willen, in dem sie den Staat als Willens- und Kraftintegral der Gesamtheit von der Regierung trennt. Die absolutistische Identifikation des Regenten mit dem Staat („L’état c’est 93

Mit dieser verfassungsrechtlichen Garantie des Rechts auf Revolution grenzt sich Voß strikt von der liberalen Rechtstheorie Kants ab und integriert vielmehr die idealistische Rechtfertigung der Revolution durch das Naturrecht bei Johann Adam Bergk mit den geschichtsphilosophisch und soziologisch inspirierten Revolutionstheorien wie sie sich wenig später bei Saul Ascher oder Friedrich Buchholz finden. Zum Revolutionskonzept als Theorieelement der frühbürgerlichen Gesellschaft siehe: Garber 1974, S. 185–202. 94 Voß 1796, S. 401. 95 Ebd., S. 404. 96 Ebd. 97 Ebd., S. 410.

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moi“) durch die privatrechtliche Aneignung bzw. Repräsentation des Staates wird nun durch das Staatsrecht verhindert.98 „Staat bestehet also in dem Beschlusse der Individuen (Gemeinemitglieder), aus welchen die Obrigkeit hervorging. Diese Individuen sind also wesentliche Bestandtheile des Staats, deshalb kann man, ohne die Begriffe zu verwirren, nicht einmahl sagen: die Obrigkeit repräsentire den Staat (denn der Staat kann, [. . .], gar nicht repräsentirt werden) geschweige denn, daß man sagen könne: die Obrigkeit sey der Staat.“99

Das durch die Verfassung erzeugte Souveränitätsrecht steht daher weder der Gemeine noch dem Staat als etwas Äußerliches gegenüber, sondern geht aus ihnen hervor und bleibt ihnen deshalb auch verpflichtet. Das Amt ist ein leeres Abstraktum, das erst durch eine per Verfassung geregelte Politik konkretisiert wird. In dieser Differenz zwischen dem Signifikat und dem Signifikant der Souveränität liegt daher die Voraussetzung aller Politik begründet.100 Diese tritt bei Voß als ein performativer Konflikt auf, der die Materialisierung der leeren Universalität der egaliberté mit der Materialisierung des leeren Herrschaftsprinzips verbindet. Volkssouveränität und repräsentative Herrschaft werden erst durch diese hegemoniale Methode der Politik aufeinander beziehbare Größen.101

98

„Je gewöhnlicher es ist, daß der gemeine Sprachgebrauch ‚Staat und Obrigkeit‘, besonders wenn von Souveränitätsrechten die Rede ist, mit einander verwechselt, desto nothwendiger scheint es hier noch auf den wesentlichen, unveränderlichen bestehenden Unterschied zwischen beyden hinzuweisen. [. . .] Die Verwechselung dieser Ausdrücke und die dadurch unvermeidliche Verwirrung der Begriffe hat gleichwohl in dem Staatsrechte durch Mißbrauch zu rechtswidrigen Herrscheranmaßungen viel Unheil angestiftet.“ (Voß 1796, S. 531 ff.). 99 Ebd., S. 531 f. 100 Zur hegemonietheoretischen Begründung von Souveränität als leeren Signifikanten siehe: Laclau 2002. 101 Dies nimmt die Kritik Schumpeters an den juristischen Demokratietheorien vorweg, ohne dabei jedoch die Politik von einer materialen Gerechtigkeitskonzeption abzukoppeln. Der Gemeinwille wird bereits in der Theorie von Voß als eine artifizielle Größe reflektiert, welche erst durch die hegemoniale Macht der Politik hervorgebracht werden muss. Bei Schumpeter heißt es hierzu: „Wir sehen uns bei der Analyse politischer Prozesse weithin nicht einem ursprünglichen, sondern einem fabrizierten Willen gegenüber. Und oft ist es einzig dieser Artefakt, das in Wirklichkeit der volonté générale der klassischen Lehre entspricht. Soweit dies so ist, ist der ‚Wille des Volks‘ das Erzeugnis und nicht die Triebkraft des politischen Prozesses.“ (Schumpeter 1975, S. 419).

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VI. Das Demokratieproblem zwischen Jakobinismus und Thermidor Insofern setzt erst der revolutionäre Verfassungsstaat seine eigenen demokratischen Voraussetzungen. Der Staat ist paradoxer Weise sowohl Bedingung für die Möglichkeit als auch für die Unmöglichkeit von Demokratie, denn erst im Staat kann die Déclaration der egaliberté positiviert werden. Hierauf ruht seine abstrakte juristische Legitimität ebenso wie die konkrete des politischen Personals. Die Legitimität hat immer eine symbolisch-hegemoniale als auch eine materielle Dimension, die jedoch niemals adäquat zur Deckung kommen können. Wenn der Staat somit seine eigenen transzendentalen Voraussetzungen in Gestalt der Gemeine positiveren muss, um seine politische Legitimität demonstrieren zu können, so bedeutet dies hinsichtlich des Eigentums, dass das Recht auf Eigentum vom Staat nicht nur als negatives Schutzrecht, sondern auch als positives Anspruchsrecht behandelt werden muss. Um die deklarierte Gleichzeitigkeit zwischen Privat- und Staatsrecht diesbezüglich synchronisieren zu können, darf die Legitimität des Eigentums der Legitimität des Staates allerdings nicht widersprechen. Voß leitet hieraus ein Recht des Staates zur Umverteilung des Eigentums ab.102 Gleiches trifft auf das Recht der individuellen Freizügigkeit zu. Bis auf ein „kontraktmäßiges Dienstverhältnis (z. B. Herr und Bedienter)“103, sind alle gesellschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisse vom Staat zu verwerfen. Die Institution der Lohnarbeit dürfe gleichwohl nicht auf Kosten von politischer Subjektivität und Partizipation gehen, wie das mit dem Zensuswahlrecht in den französischen Verfassungen von 1791 und 1795 der Fall war.104 Die gemeinsame Schnittmenge zwischen Voß’ Staatswissenschaft und der jakobinischen Verfassung von 1793 ist auch hier nicht zu übersehen. Auch die im Staatsrecht entfaltete Spannung zwischen der radikaldemokratischen Theorie der egaliberté und ihrer undemokratischen Repräsentation weist Analogien auf zur Jakobinerdiktatur und ihrer suspendierten Verfassung. Ebenso wie das Staatsrecht erscheint die Diktatur sowohl als Bedingung der Möglichkeit als auch der Unmöglichkeit von Demokratie.

102 Der Staat muss „untersuchen, ob die Eigenthümer der Grundstücke, [. . .] dieselben auch rechtmäßig erworben haben [. . .]. Läßt sich dieß nicht erweisen, so ist ihr Eigenthum daran eine rechtliche Unmöglichkeit, folglich kann es durch keinen Besitz geheiligt und durch keine Beraubung geschmälert werden.“ Voß 1796, S. 451. Auch hier trifft sich Voß mit Balibars Feststellung: „dass das Staatsbürgertum unmöglich ist, wenn nicht die Bedingungen der Ausübung des Privateigentums geregelt werden“ (Balibar 1993, S. 210). 103 Voß 1796, S. 421. 104 Anders als Kant lehnt Voß das Zensuswahlrecht ab, weil es über „eine zufällige, und deshalb schon keine wesentliche Rechtsqualität“ verfügt (Ebd., S. 451).

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Voß thematisiert dies in dem der Theorie der Regierung gewidmeten zweiten Band eingehender. Da die Demokratie nur als Gesellschaftsform, nicht aber als Staats- oder Regierungsform anerkannt wird, bleibt innerhalb eines repräsentativen Regierungssystems nur Platz für die Aristokratie und die Monarchie. In Übereinstimmung mit der Verfassung von 1791 wird die konstitutionelle Monarchie solange als beste Regierungsform betrachtet, wie sich das revolutionäre Prinzip der egaliberté aus der Déclaration auf dem gewaltlosen Weg der Reform durchsetzen lässt. Dazu wäre allerdings die verfassungsrechtliche Unterordnung des Monarchen unter den Staat, sowie die Anerkennung der Volkssouveränität als monarchische Regierungsmaxime notwendig. Scheitert ein solches Projekt, wie in Frankreich 1792, so bleibt für Voß nur die Aristokratie als Regierungsform übrig. Um die paradoxe Spannung zwischen der demokratischen Volkssouveränität und aristokratischer Regierung überbrücken zu können, sind jedoch besondere Anforderungen an die politische Klasse zu stellen. Es muss vor allem garantiert werden, dass sie „das Interesse aller Klassen und Stände besser in sich vereinigt, als irgend eine andere“.105 Diese politische Vermittlung des demokratisch Allgemeinen mit den partikularen Interessen kann nach Voß nur ein „Mittelstand“ leisten, dessen spezifische Kompetenz nicht in Privilegien oder Eigentum, sondern in der Tugend liegt.106 Nur der Diskurs der aufgeklärten Bürgertugend kann demokratisches Vernunftrecht und repräsentative Regierung in einem gemeinsamen Muster artikulieren.107 Dieses durchaus als jakobinisches Mittelstandsmodell zur politischen Repräsentation des Volkes lesbare Konstrukt kann dabei an die von Voß in der Geschichtsphilosophie entwickelte Koalition zwischen „Mittelklasse“ und Lohnarbeitern anknüpfen, die ihre politische Subjektivität mit dem historischen Zivilisationsprozess verbunden hatte.108

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Voß 1797, S. 275. Der von Voß verwendete Klassenbegriff weist damit eine spezifische Zwiespältigkeit auf. In der Geschichtsphilosophie repräsentiert er eine soziale Ordnung, welche die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft nach Rang und Herkunft sortiert. Der politische Klassenbegriff hingegen ist nicht analytisch, sondern synthetisch, d. h. er besitzt eine hegemoniale Dimension. Er ist, um mit Rancière zu sprechen: „ein Operator des Streits, ein Name, um die Ungezählten zu zählen, eine Subjektivierungsweise, die sich über jede Wirklichkeit gesellschaftlicher Gruppen legt.“ (Rancière 2002, S. 95). 107 Der politische Mittelstand muss sich daher zusammensetzen aus: „denjenigen Theil der Staatsbürger, welchen ein gewisser Grad der allgemeinen Kultur des Geistes und der Sittlichkeit, Aufklärung sich einander näher bringt; welchen diese Bande der edlern Menschen, und diese nur allein, zu einem, sich unter den übrigen auszeichnenden Ganzen vereinigen“ (Voß 1797, S. 258). 106

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Dieses Repräsentationsmodell ist nicht an eine quantitative Symmetrie gebunden, die von der politischen Subjektivität der Repräsentierten abstrahiert. Die bloße Abzählung des Volkes durch Parlamentswahlen losgelöst von seiner politischen Subjektivierung ist für Voß ebenso wenig ein Legitimationsgrund wie die besitzindividualistische Begrenzung politischer Subjektivität durch das liberale Zensuswahlrecht.109 Der republikanische Repräsentationsdiskurs der Bürgertugend legitimiert sich allein durch seinen Beitrag zur politischen Subjektivierung der Bürger. Durch praktische Aufklärung muss er den homme als citoyen artikulieren und setzt dadurch seine radikaldemokratischen Voraussetzungen. Dazu bedarf es aber der Überwindung des abstrakten Universalismus des liberalen Öffentlichkeits- und Aufklärungsmodells durch die Beseitigung der praktischen Hindernisse zum Zugang zu Kultur, Bildung und Politik. Erst hierdurch kann der universale Anspruch der Aufklärung mit der demokratischen Forderung der egaliberté verbunden werden. Aus dieser Perspektive kritisiert Voß den Topos der „repräsentativen Demokratie“, wie er im Repräsentationsdiskurs der Thermidorianer artikuliert wurde. Dabei wirft er der Regierung des thermidorianischen Direktoriums (1794–1799) vor allem vor, dass sie die Aufklärung als Ethos der politischen Klasse durch den Besitz und die offene Korruption ersetzt hat. Nach dem Sturz der Jakobiner ist „die Repräsentation des dritten Standes, oder die Wahl-Aristokratie“ zu einem „System der Bestechung und der Intrigue“ entartet, „was nur persönlichen oder einseitigen Zwecken förderlich seyn kann, der möglichsten Erreichung des allgemeinen Staatszwecks aber zu einem steten und wesentlichen Hindernisse gereichen muß“.110 Die Streichung der Forderung nach natürlicher Freiheit und Gleichheit aus den Menschen- und Bürgerrechten in der Direktorialverfassung von 1795, die Beseitigung des Widerstandsrechtes und die Einführung des Zensuswahlrechtes deutete Voß als unübersehbare Zeichen der konterrevolutionären Abkehr von der Idee der egaliberté. In ideologischer Kompensation hierzu wird die politische Leerstelle der Tugend von den Thermidorianern durch einen euphemistisch überdehnten Begriff der Demokratie gefüllt, dessen exzessiver Gebrauch jedoch lediglich zur ideologischen Verschleierung illegitimer Herrschaft in der „scheinbaren Demokratie oder dem sogenannten repräsentativen Systeme“ dient.111 Voß analysiert diese thermidorianische Strategie 108 Die Vertreter der Sonderwegsthese haben dieses Modell bisher als „Defensive Modernisierung“ (Wehler) gelesen und in eine Kontinuitätslinie zum Antiparlamentarismus der preußischen Reformer gesetzt. Vgl. Schminnes 1994. Umgekehrt könnte man jedoch auch eine radikaldemokratische Neuinterpretation des radikalen Flügels der Reformer in Erwägung ziehen. 109 Vgl. Voß 1797, S. 90 und S. 245. 110 Ebd., S. 244 f.

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„der undemokratischen Art der Repräsentation in den bestehenden sogenannten Demokratien“ und kommt zu dem Schluss: „daß jedes repräsentative System, als solches, dem Wesen nach, aristokratisch sey, folglich jede Regierungsform in so fern aristokratisch genannt zu werden verdient, als sie auf dem repräsentativen Systeme beruhet; daß also eine repräsentative Demokratie einen Widerspruch in sich selbst enthalte; folglich dieser Ausdruck unter die Worte ohne Sinn gerechnet werden müsse“112.

Die exzessive Rede von der Demokratie bei den Thermidorianern verdeckt also nur die Verzerrung der Repräsentation zu Gunsten des neuen „Geldadels“. Einmal eingerichtet, lässt sich die „Privatmacht“ dieser französischen „Pseudo-Aristokraten (den Reichen, Mächtigen, Vornehmen usw.)“ sogar nicht einmal mehr durch ein allgemeines Wahlrecht verhindern, da sie „schon eine Macht ausübten, ehe sie ihnen übergeben war“.113 So ist das durch den Wähler verliehene freie Mandat des Parlamentariers für sich genommen nichts weiter als eine akklamative „Zustimmung zu dem Unterwerfungs-Vertrage, welchen die Wähler mit dem Gewählten schlossen. Sobald die Wähler ihren Repräsentanten gewählt, d. h. sich unterworfen haben, haben sie weiter keinen Antheil an der Regierung, nur Täuschung und Wahn kann die Vorstellung erhalten: als ob der Bürger, der seine Stimme zu der Wahl eines Repräsentanten im gesetzgebenden Korps gab, auch durch ihn seine Stimme zu der Wahl der Gesetze ablege, sich selbst seine Gesetze gebe, seine Auflagen u.d.gl.“114

Dieser Wahn jedoch, der das thermidorianische System trägt, wird dadurch möglich, weil die Tugend und mithin die Aufklärung keine Rolle in der Politik mehr spielen. Denn die Legitimation der sozialen Ungleichheit bedarf unter diesen Bedingungen geradezu der kulturellen Ungleichheit. Es ist ein Charakteristikum des thermidorianischen Repräsentationsdiskurses, dass der politische Rekurs auf die Tugend völlig unverständlich wird und der Lächerlichkeit preisgegeben oder auf die bloße Abscheu vor einem abstrakten Terror reduziert wird.115 Über diese Desartikulation der Tugend hinaus entkoppelt die demokratische Rede der Thermidorianer die Menschen111

Ebd., S. 103. Ebd., S. 75. Voß wird hierin von der Repräsentationstheorie von Max Weber und Joseph A. Schumpeter ausdrücklich bestätigt, welche hieraus freilich unterschiedliche politische Konsequenzen zogen. „Die Theorie: dass der parlamentarische Deputierte ‚Vertreter des ganzen Volkes‘ sei, das heißt, dass er an Aufträge nicht gebunden (nicht ‚Diener‘, sondern eben – ohne Phrase gesprochen – Herr) sei, war in der Literatur schon entwickelt ehe die französische Revolution ihr die seitdem klassisch gebliebene (phrasenhafte) Form verlieh.“ (Weber 1980, S. 173). 113 Voß 1797, S. 91 und S. 104 f. 114 Ebd., S. 64. 115 Siehe hierzu: Badiou 2003, S. 135–150, der den politischen Thermidor als ein Moment von Geschichte und Gegenwart analysiert. 112

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rechte wieder von den Bürgerrechten und führt so den homo sacer als politische Voraussetzung wieder ein. Zur Analyse dieses Vorgangs entwirft Voß die Grundzüge einer politischen Theorie der Hegemonie. Er kann damit jene – schon von Smith beschriebene – symbolische Gewalt thematisieren, welche dazu führt, „daß sich der Repräsentant meistens selbst wählen läßt, d. h. daß er durch seine Geistes-Uebermacht die Willen der Wähler dahin bestimmt, daß sie sich dem Seinigen unter mehrern Konkurrenten unterwerfen“116. Denn unter den Bedingungen krasser Bildungsunterschiede muss das allgemeine Wahlrecht versagen: „Hier wird nur der Arme den Reichen, der Niedere den Hohen, der Untere den Obern, der Client den Gönner, der Einfältige, der Ueberlistete, Uebertölpelte den Verschlagenen, Beredsamen etc. wählen.“117 Daran ändert sich auch durch die Einführung befristeter Legislaturperioden und die Verkürzung der Wahlzyklen nichts. „Wollte man sagen, gerade darin besteht das Wesen der Demokratie, daß die Wähler diesen Wahlaktus von Zeit zu Zeit wiederholen können, also auch von Zeit zu Zeit (aller drey, sechs Jahre) sich wieder im Besitz der höchsten Gewalt sehen, so müßte man dieß, unserer Einsicht zufolge, für eine eben solche Täuschung erklären, als die Idee einer Demokratie überhaupt ist. Denn mit dem Repräsentanten in concreto tritt nicht auch der Repräsentant in abstracto mit zurück, und dieser letzte ist es eigentlich, welchem der wählende Staatsbürger seinen Willen übertragen, sich unterworfen hat. [. . .] Sehr unrichtig und völlig dem Geiste repräsentativer Systeme zuwider würde man daher behaupten: der Staatsbürger erhalte bey dem Wahlaktus neuer Repräsentanten-Personen seinen Antheil an der höchsten Gewalt wirklich zurück.“118

VII. Schluss Am Ende dieser Betrachtung ist zu konstatieren, dass das Verhältnis von Rechtsphilosophie und politischer Ökonomie schon im Erfahrungshorizont der Französischen Revolution kein äußerliches, sondern ein ebenso immanentes wie politisches war. Jede Interpretation, die hiervon kein Aufhebens 116

Ebd., S. 65. Voß 1797, S. 248. „Niemand wird die Einwirkung in Abrede stellen, welche Reichthum, persönliches Ansehn, Standes-Verbindungen, Vornehmheit etc. auf die sogenannten niedern Menschenklassen ausüben, und die mannigfaltige Art von Abhängigkeit, welche dadurch hervorgebracht wird.“ Unter den Bedingungen eines monopolisierten Zugangs zur Kultur kann die politische Vernunft nicht mit der sinnlichen Autorität konkurrieren, weil „die Vortheile, welche Reichthum, Geburt, Stand etc. gewähren, von der Art (sind), dass sie nicht nur auch dem schwächsten Beobachtungs-Vermögen sich öffentlich zur Schau legen und gleichsam aufdringen, sondern auch blos sinnlich empfunden werden können.“ (Ebd., S. 106 f.). 118 Ebd., S. 73 f. 117

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macht oder dies gar bestreitet, wird notwendig Wind verkaufen. Ohne die Berücksichtigung des sozio-diskursiven Feldes des historischen Archivs muss der politische Charakter philosophischer Artikulationen unverständlich bleiben. Für eine Ideengeschichte, die sich tatsächlich als eine politische versteht, eröffnet sich dagegen eine breite Perspektive. Anstatt die Ideen im bigotten Setzkasten der abstrakten Moral dem postpolitischen Zeitgeist zur Schau zu stellen, sollte sie mit Hilfe detaillierter historischer Analysen das kollektive Unbewusste der aktuellen politischen Auseinandersetzungen zu Bewusstsein bringen. Insofern vermag vielleicht auch gerade eine archäologische Methode, der politischen Ökonomie der Menschen- und Bürgerrechte als einen universalen Wert der menschlichen Zivilisation zu ihrem politischen Recht zu verhelfen. Und vielleicht haben die Philosophen der neuen Seattle-Bewegung ja Recht damit, dass die politische Universalisierung der Demokratie in globaler wie sozialer Hinsicht, zunächst einmal mit der herrschenden „Geschichtsvergessenheit“ (Bourdieu) aufräumen muss. „Die heutige Krise der Demokratie bringt uns zurück in die Frühzeit der europäischen Moderne, und hier vor allem ins 18. Jahrhundert, denn auch damals gerieten Begriff und Praxis der Demokratie durch einen ‚Quantensprung‘ in die Krise und mussten neu erfunden werden. Am Ende der Moderne tauchen die ungelösten Probleme ihrer Anfänge wieder auf. Die Verfechter der Demokratie im Europa und Nordamerika der frühen Moderne sahen sich mit der Behauptung von Skeptikern konfrontiert, Demokratie sei vielleicht innerhalb der engen Grenzen der athenischen Polis möglich gewesen, aber für die deutlich größeren Territorien der modernen Nationalstaaten schlichtweg unvorstellbar.“119 Literatur Agamben, Giorgio, Homo sacer: Die souveräne Macht und das nackte Leben, Aus dem Italienischen v. Hubert Thüring, Frankfurt/Main 2002 (zitiert: Agamben 2002). Badiou, Alain, Über Metapolitik, Mit einem Nachwort von Peter Hallward. Aus dem französischen und Englischen von Heinz Jaho, Zürich/München 2003 (zitiert: Badiou 2003). Balibar, Etienne, Die Grenzen der Demokratie, Aus dem Franz. v. Thomas Laugstien, Hamburg 1993 (zitiert: Balibar 1993). Barthes, Roland, Mythen des Alltags, Deutsch von Helmut Scheffel, Frankfurt/Main 1964 (zitiert: Barthes 1964). Bourdieu, Pierre, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Aus dem Franz. v. Achim Russer, Frankfurt/Main 2001 (zitiert: Bourdieu 2001). 119

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Aufklärung und Moderne Helmut Reinalter Immer mehr Menschen unserer Zeit stellen die Lebensformen der modernen Kultur, den Staat, die Wirtschaft und die Wissenschaft, wie sie sich in Europa seit der Aufklärung herausgebildet haben, radikal in Frage. So werden gerade in Kernländern der europäischen Kultur geistige Strömungen stärker, die den Rechts- und Verfassungsstaat der Neuzeit, die auf Privateigentum gegründete Marktwirtschaft und die moderne Wissenschaft mit ihren rationalen Problemlösungen überwinden wollen. Ein postmodernes Zeitalter soll dem menschlichen Glücksverlangen besser entsprechen als die europäische Moderne mit ihrem Hang zur Rationalität. Für nicht wenige kritische Menschen unserer Zeit ist das Produkt aus neuzeitlichem Aufklärungsoptimismus, wissenschaftlich-technischem Fortschritt und Machbarkeitsüberzeugung in eine Art „Endzeit“ geraten. Unter dem Begriff „Postmoderne“ gruppiert sich eine kulturelle Avantgarde, bei der für den Ausgang des 20. Jahrhunderts das „Bewusstsein der Nachträglichkeit“ gegenüber den Grundproblemen der späten Neuzeit hervorgehoben wird. Die Vertreter der Postmoderne konzentrieren ihre Kritik besonders auf das Erbe der Moderne, wozu sie nahezu alle Errungenschaften der Neuzeit und des neuzeitlichen Rationalismus von der Aufklärung bis zur modernen Industriegesellschaft verstehen. Kritik und Protest gibt es überall dort, wo die Ansprüche und Instrumente ökonomischer, wissenschaftlicher und administrativer Vernunft über die Grenzen des Marktes, des Labors und der Verwaltung hinaus erweitert werden. In solchen Fällen kommt es tatsächlich vor, dass sich ökonomische Produktivkräfte in ökologische Destruktivkräfte und bürokratische Planungskapazitäten in lebensweltliche Störpotentiale verwandeln. Wo aus diesen Gefahren bereits vielfach Realität wurde, sprechen triftige Gründe für eine rasche Kurskorrektur, um den Problemen zu entgehen, die sich aus einer ungehemmten Fortsetzung dieser Entwicklung ergeben könnten. Vor dem Hintergrund eines solchen Krisenszenarios verwundert es kaum, dass heute besonders jene Theorien an Bedeutung und Einfluss gewinnen, die verdeutlichen wollen, dass die Kräfte zur Steigerung der Verfügungsgewalt des Menschen über seine Welt Autonomie in Abhängigkeit, Emanzipation in Unterdrückung und Rationalität in Unvernunft bzw. Aufklärung in Ge-

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genaufklärung verwandeln. Dementsprechend komplex sind auch die Ausdrucksformen der postmodernen Modernitätskritik. Sie reichen von einer Fortschreibung der Dialektik der Aufklärung über eine völlige Destruktion der Leitkategorien neuzeitlichen Denkens bis zur New-Age-Bewegung und Esoterik. Obwohl das Meinungsspektrum der Postmoderne sehr breit angelegt ist, so sind sich die meisten Vertreter doch einig in der Kritik an den Verengungen und Einseitigkeiten, an den Usurpationen und Verabsolutierungen der neuzeitlichen instrumentell eingesetzten Vernunft. Mit der Absage an die moderne Technik und ihren zweifelhaften Fortschritten wird die Ästhetik neu aufgewertet. Sie wird als Wirklichkeitserfahrung empfunden, die auf Dimensionen und Instanzen der Erkenntnis abzielt, in denen Geltungsanspruch, Eigenart und Ernst der diskursiven Vernunft suspendiert werden – wie Mythos, Okkultismus, Gnosis und Esoterik. Trotz dieser z. T. berechtigten Angriffe gegen den neuzeitlichen Rationalismus und die Aufklärung kann jedoch das unvollendete Projekt der Moderne (J. Habermas) sinnvoll weitergeführt werden. Dazu ist es notwendig, sich der fundamentalen Bedeutung der historischen Aufklärung zuzuwenden und ihre Grundlagen zu betonen. I. Was ist Aufklärung? Was Aufklärung ist, darüber diskutierten Intellektuelle noch zu einer Zeit, als der Begriff schon als Schlagwort in der Debatte benutzt wurde. Neue Anstöße zur Reflexion über dieses Problem gaben der Theologe Johann Friedrich Zöllner, der jüdische Aufklärer Moses Mendelssohn und der Philosoph Immanuel Kant, der Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ definierte. Da das Selbstdenken die Mündigkeit des Menschen ins Auge fasste, war für Kant die Freiheit eine wichtige Voraussetzung der Aufklärung. Zu den Voraussetzungen der Aufklärung zählten u. a. die Formierung einer kapitalistischen Marktordnung, der Aufstieg des Bürgertums, die Ausbildung der Naturwissenschaften, die Philosophie des Rationalismus und die rationale Politik der souveränen Staaten. Die Aufklärung umfasste als Programm des Handelns alle Bereiche des sozialen und kulturellen Lebens. Als dominierende Bewegung trat sie schon Mitte des 18. Jahrhunderts in Erscheinung. Neben der klassischen Aufklärungsphilosophie entstand eine in ihrer Breitenwirkung kaum zu überschätzende Popularphilosophie, in deren Mittelpunkt sehr realitätsbezogene Fragen der Moral sowie der praktischen und vernünftigen Lebensbewältigung standen. Zur Aufklärung gehörten auch die Ausweitung des Buchdruckes, die steigende Zahl der Schrift-

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steller und der Leser bzw. die Entstehung eines breiteren Lesepublikums: Das Zeitalter der Aufklärung war ein schreibendes und lesendes, ein räsonierendes und kritisierendes. Das Erziehungsprogramm der Aufklärung verfolgte den Zweck, einen tiefgreifenden Prozess der Befreiung des Menschen aus allen Zwängen einzuleiten. Dieses Ziel sollte durch entsprechende Einrichtungen des Staates und der Gesellschaft gefördert werden. Das Demokratie- bzw. Republikverständnis, das in der Aufklärung noch vorrevolutionär war, stellte nur eine ethische Bedrohung für den Staat dar. Bis zum Ende des zweiten Drittels des 18. Jahrhunderts bewirkte die Aufklärung noch keine wesentlichen Veränderungen der gesellschaftlichen und politischen Realität, sie konnte aber einen Wandel der Vorstellungen einleiten, zumal sie Herrschaft nicht mehr als Selbstzweck auffasste, sondern als Mittel zur Ermöglichung des individuellen und allgemeinen Wohls. Darüber hinaus nahm auch der Diskurs über gesellschaftliche Moral und soziale Ordnung zu. Ungefähr zur selben Zeit entstand auch der Physiokratismus als aufklärerisches Wirtschaftssystem, das für die volle Freiheit von Produktion und Handel eintrat. Nicht selten wird die Aufklärung auch als bürgerliche Emanzipationsund Bildungsbewegung mit der höfisch-aristokratischen Kultur des Barock verglichen und davon abgegrenzt. Dabei wird offenbar übersehen, dass im 18. Jahrhundert noch die Aristokratie politisch und kulturell dominierte. Allerdings erhöhte sich die Zahl der bürgerlichen Gelehrten, Schriftsteller, Künstler und Pädagogen, die alle statt von ihrem sozialen Status in erster Linie von einer spezifischen Welt- und Lebensanschauung geprägt waren, die als bürgerliche Mentalität bezeichnet wurde. Darunter verstand man vor allem die Betonung der Persönlichkeit, die nicht durch Geburt und Zugehörigkeit zu Stand und Verband, sondern durch die unveräußerliche Menschenwürde, durch Leistung und Verdienst bestimmt war. Die sozialen Beziehungen der Menschen untereinander unterlagen einem Rationalisierungsund Funktionalisierungsprozess; sie wurden nicht mehr als gegeben hingenommen, sondern als Aufgabe und Chance der Gestaltung im Interesse des einzelnen Menschen aufgefasst. Die bürgerliche Welt- und Lebensanschauung manifestierte sich auch in neuen Geselligkeits- und Vergesellschaftungsformen. Zu ihnen gehörte eine Vielzahl unterschiedlicher Sozietäten, darunter Akademien, Gelehrten- und Lesegesellschaften, ökonomische und patriotische Sozietäten und die Freimaurerlogen, die sozial von der höfischen Welt bis in das gebildete und besitzende Bürgertum hineinreichten. Allen diesen Gesellschaften war das Bekenntnis zur Aufklärung, zur Verwirklichung des Gemeinwohls, die Förderung der Wissenschaften und der Erkenntnis gemeinsam. Innerhalb der bürgerlichen Emanzipation bildeten sie eine eigene Stufe zwischen feudaler

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Korporation und bürgerlicher Assoziation und trugen wesentlich zur Entstehung bürgerlicher Öffentlichkeit bei. Die Sozietäten selbst müssen als Erscheinungsform eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformationsprozesses gesehen werden, der die Entstehung der modernen bürgerlichen Gesellschaft entscheidend beeinflusst hat. Nur auf der Grundlage des sich langsam herausbildenden modernen Staates mit seiner Bürokratie und der Emanzipation des Bürgertums in Wissenschaft, Verwaltung und Wirtschaft konnten sich die aufklärerischen Gesellschaften konstituieren, in denen erstmals über konfessionelle, staatliche und ständische Interessen hinweg für die ganze Gesellschaft verbindliche, gemeinsame Anliegen vertreten wurden. Die Aufklärung bildete sich zeitlich dort am stärksten aus, wo sich das Bürgertum bereits sozioökonomisch etabliert hatte und die politische Auseinandersetzung mit der ständisch-feudalen Ordnung und dem Absolutismus aufnahm. Eine wichtige Grundlage war hierfür das Entstehen einer politischen Öffentlichkeit. Dazu gehörten nicht nur Zeitschriften, Bücher und Broschüren, sondern auch die neuen Formen der Vereinsbildung. Eine wesentliche Voraussetzung für die Wirksamkeit der Zeitschriften sowie der gesamten aufgeklärten Buchproduktion bildete die Pressefreiheit, die die Aufklärer von Staat und Kirche forderten. Wirkliche Pressefreiheit gab es jedoch im aufgeklärten Absolutismus nur in einem sehr eingeschränkten Sinne. Die politische Brisanz dieses Postulats zeigte sich besonders deutlich in der Reaktion der weltlichen und geistlichen Regenten. Da sich die gelehrten Diskussionen seit Ende der 1770er Jahre auch auf politische Gebiete erstreckten, berührten die Öffentlichkeitsforderungen zwangsläufig den Staat. Das Postulat nach Öffentlichkeit entsprach mit seiner politischen Konsequenz durchaus dem aufklärerischen Denken, das Offenheit, Verständlichkeit und Hinwendung zum Publikum beabsichtigte. Der gesellschaftliche Anspruch und das soziale Selbstverständnis der Aufklärung bildeten keinen Gegensatz zu ihrer sozialen Realität. Die Aufklärung entwickelte sich im Rahmen der ständischen Gesellschaft, ging aber gleichzeitig über sie hinaus. Sie nahm entscheidend Einfluss auf den gesellschaftlichen Wandlungsprozess und wurde sogar zum sozialphilosophischen und publizistischen Medium dieser Veränderung. Die Aufklärung hatte wesentlichen Anteil an der zunehmenden gesellschaftlichen Pluralisierung und Differenzierung, und sie war von ihren Intentionen sogar eine ständetranszendierende gesellschaftliche Bewegung. Zwar gehörte nicht jeder zur Gesellschaft der Aufklärer, doch sollte grundsätzlich jeder die Möglichkeit haben, ihr anzugehören. Die zeitgenössische Verwendung des Begriffes „bürgerliche Gesellschaft“ war daher nicht sozialständisch gemeint, sondern zunächst als eine Entgegensetzung zum fiktiven natürlichen Zustand zu verstehen und später als Gegenbegriff zur höfisch-ständischen Gesellschaftsordnung der absoluten Monarchien aufzufassen.

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Die meisten Aufklärer traten für Reformen ein. Für den Unterschied zwischen Aufklärung, Reform und Revolution waren mehrere Kriterien entscheidend. Die Anhänger der Revolution und der radikalen politischen Spätaufklärung glaubten im Gegensatz zum aufgeklärten Absolutismus und zur Aufklärung nicht mehr daran, dass die Aufklärung und die Reformen das politische Herrschaftssystem des Absolutismus und die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen entscheidend verändern oder sogar beseitigen würden, sondern waren davon überzeugt, dass der Feudalabsolutismus nur noch durch den politischen Kampf erschüttert werden könne. II. Das 18. Jahrhundert als „Zeitalter der Aufklärung“ Das 18. Jahrhundert wird heute als „Zeitalter der Aufklärung“ bezeichnet. Diese Kennzeichnung geht auf das Selbstverständnis einer geistigen und gesellschaftlichen Reformbewegung zurück, die sich selber als Aufklärung beschrieben hat. Etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts spricht man aufgrund des Erfolgs der Aufklärung von „aufgeklärten Zeiten“. Kant hat dann deutlicher zwischen einem „aufgeklärten Zeitalter“ und einem „Zeitalter der Aufklärung“ differenziert. Natürlich kann man diese Epochencharakterisierung wie andere Epochenbegriffe auch kritisch betrachten. Dennoch gibt es eine Reihe von Argumenten, den Begriff eines Zeitalters der Aufklärung nicht leichtfertig über Bord zu werfen. Denn die damit gekennzeichnete Epoche unterscheidet sich von der vorhergehenden, dem sogenannten Barock, und der nachfolgenden, der sogenannten Romantik (bzw. Klassik oder des Idealismus) deutlich: „[. . .] durch eine betont nüchterne und rationale Einstellung zur Welt, durch typische Problemstellungen und Problemlösungen, durch zentrale Begriffe und Metaphern. Nicht zuletzt aber ist die Aufklärung durch ihr Selbstbewusstsein charakterisiert, mit dem sie sich von allen vorangegangenen Zeiten unterscheidet und aufgrund dessen sie sich selbst ihren Namen gegeben hat. Damit ist nicht gesagt, dass die Aufklärung sich selbst zureichend verstanden habe, aber dieses Selbstverständnis lässt sich ebenso wenig wie die mehr oder weniger ausgeprägten Strukturen dieser Aufklärung als irrelevant beiseite schieben. Im übrigen kann und muss auch das Zeitalter der Aufklärung in größere Epochenzusammenhänge gestellt werden (Frühe Neuzeit, Emanzipation des Bürgertums), die allerdings meist nicht weniger problematisch sind.“1

Die Aufklärung lebte von der „Hoffnung auf Vernunft“ und war gleichzeitig auch „Wille zur Vernunft“. Von einer Herrschaft der Vernunft erwartete man sich auch eine bessere Moral, Glück und Freiheit. Verstand und Tugend sollten die Welt regieren, damit glückliche und freie Menschen in 1

Schneiders 1995, S. 9.

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ihr leben können. Dieser Wunsch war zwar nicht neu, aber die Form, in der er sich darstellte, und das Engagement, mit dem er auftrat, heben das Zeitalter der Aufklärung unverkennbar von anderen historischen Epochen ab. Die Aufklärung war zweifelsohne keine einheitliche Bewegung, sondern in sich widersprüchlich, wies starke Ambivalenzen auf und brachte verschiedene, oft dialektisch miteinander verbundene, aber auch getrennte Strömungen hervor. In diesem Zusammenhang spricht man in der Aufklärungsforschung auch im Plural von „Aufklärungen“. Die Diskussion über „wahre“ und „falsche“ Aufklärung verdeutlicht diese Tendenz überzeugend und weist auch auf die Grenzen der Aufklärung hin. Im späten 18. Jahrhundert wurde der schon vorher eingeleitete Politisierungsprozess der Aufklärung durch die Polarisierung der Öffentlichkeit und der daraus resultierenden Aufspaltung in ideologisch-politische Strömungen (Liberalismus, Demokratismus und Konservatismus) noch verstärkt. Diese Einzelbewegungen waren bereits seit 1770 klar voneinander abgrenzbar. Der frühe Liberalismus ging durch seine starken Reformbestrebungen und konstitutionelle Stoßrichtung über die Strukturen des späten Absolutismus hinaus, die frühen Demokraten sprengten den Spätabsolutismus durch ihre politischen Forderungen, während sich die konservative Bewegung in eine ständische und eine absolutistische Richtung zu differenzieren begann. Bis zum Ende des zweiten Drittels des 18. Jahrhunderts hat die Aufklärung zwar noch keine wesentliche Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Realität bewirkt, sicher konnte sie aber einen tiefen Wandel in den Vorstellungen einleiten, da sie Herrschaft nicht mehr als Selbstzweck auffasste, sondern als Mittel zur Ermöglichung des individuellen und allgemeinen Wohls. Darüber hinaus nahm auch die Diskussion über Gesellschaft und soziale Ordnung zu. Die Aufklärung war primär sicher eine literarisch-philosophische Bildungsbewegung, die aber gleichzeitig auch starke gesellschaftliche und politische Dimensionen aufwies. Ihre Wortführer setzten auf die Notwendigkeit permanenten Lernens, der öffentlichen Informationsvermittlung und des freien Diskurses. Sie erwarteten eine Veränderung und Verbesserung der bestehenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Jean-Jacques Rousseau stellte allerdings die Grundüberzeugung der Enzyklopädisten, den Glauben an einen unbegrenzten Fortschritt, grundsätzlich in Frage. Sein Modell einer guten und gerechten Gesellschaft hatte ein ökonomisches Niveau zur Voraussetzung, auf dem die sozialen Unterschiede noch wenig ausgebildet waren. Mit ihm kam vor allem das Problem der sozialen Ungleichheit, die Frage der Verteilung des Eigentums, in den Aufklärungsdiskurs. Die französischen Sozialutopisten Morelly und Mably gingen mit ihren Vorstellungen über Rousseau hinaus und wollten sich mit der annähernd

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gleichen Verteilung des Privateigentums als notwendige Vorbedingung für eine „wahre Republik“ nicht zufrieden geben, sondern forderten die Aufhebung des Privateigentums und die Einführung einer in Gütergemeinschaft lebenden Gesellschaft. Eine wichtige Frage war auch der eigentliche Zweck und das Ziel der Regierungstätigkeit aufgeklärter Monarchen. Zu welchem Zweck haben sie die unbeschränkte Gewalt in Anspruch genommen? In diesem Kontext entstanden zwei einander polar entgegen gesetzte Staatsauffassungen, nämlich das Konzept des Staates als Anstalt, als eine Einrichtung zur Förderung und Sicherung der Glückseligkeit des Menschen – ein durchaus humanitärer Staatsgedanke. Diesem humanitären Staat stand die Auffassung vom Staat als Machtorganisation gegenüber. Durch die Vermehrung der Untertanen werden die Verteidigungs- und Expansionskraft des Staates gesteigert, sein Ansehen und seine Geltung erhöht und damit auch Macht gewonnen. Die neuere Forschung konnte überzeugend nachweisen, dass die Aufklärungsbewegung, die in sich sehr differenziert war, trotz ihrer politischen Grenzen die gesellschaftlichen Strukturen und kulturellen Grundlagen des Ancien régime in Frage stellte und darüber hinaus programmatische Prinzipien für eine neu zu formierende politische und gesellschaftliche Ordnung entwickelte, so dass sie in gewisser Weise durch die Schaffung eines entsprechenden Klimas die Französische Revolution vorbereitet hat. III. Aufklärung als Ideologie oder als „unvollendetes“ Projekt? In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, ob nicht die Aufklärung als Ideologie oder Dogma der Vernunft gesehen werden kann. Der Despotismus der Vernunft ist nämlich nicht ganz frei von einigen Merkmalen fundamentalistischen Denkens. Prinzipiell steht aber die Aufklärung in einem starken Gegensatz zum Fundamentalismus, weil sie ein offenes, liberales, undogmatisches Denken fördert und für eine tolerante Verhaltensweise eintritt. Daher muss die historische Aufklärung weiter entwickelt und reformuliert werden. Sie versteht sich als unabschließbare Aufgabe und als Denkmodell in Form der Selbstaufklärung und als Selbstwerden durch freies Denken, aber auch als Sachaufklärung im Sinne von Beseitigung geistiger und realer Hindernisse der Selbstaufklärung. Aufklärung richtet sich als Selbstdenken gegen angemaßte Autorität und Vorurteile, gegen Verabsolutierungen, Ideologien, absolute Wahrheiten und Dogmen. Reflexive Aufklärung stellt sich ständig kritisch in Frage, um nicht zur Pseudoaufklärung oder Ideologie zu degenerieren. Heute ist der Streit um die Aufklärung noch immer nicht beigelegt. Einerseits wird das Erbe der Aufklärung zum Teil kritiklos in Anspruch ge-

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nommen, auf der anderen Seite werden die Grundideen der Aufklärungsbewegung für das Unbehagen an der Moderne verantwortlich gemacht. Wenn diese beiden Richtungen miteinander verglichen werden, wird deutlich sichtbar, dass die Kritiker der Aufklärung den Ideen des 18. Jahrhunderts mindestens gleich stark verpflichtet sind wie jene Kräfte, die das Erbe der Aufklärung für sich beanspruchen. Zwischen diesen beiden Polen existieren mittlere Positionen, die allerdings den angesprochenen Zwiespalt kaum beseitigen können. Zu diesen mittleren Positionen gehören die Anhänger der Moderne, die die Aufklärung als „unvollendetes Projekt“ bezeichnen. Sie verfolgen die Absicht, die Tradition der Aufklärung positiv einzuschätzen, sehen aber gleichzeitig auch deren beträchtliche Defizite, sodass die Ideen des 18. Jahrhunderts vor allem als notwendige Verpflichtung erscheinen. Sie sehen, dass die Aufklärung letztlich ihre Ziele nicht erreicht hat, weshalb sie neu konzipiert werden muss. Eine der wichtigsten Fragen in der aktuellen Aufklärungsdiskussion bezieht sich auf das Problem, ob die Aufklärung die negativen Erscheinungsformen der Moderne oder gar durch ihre zentralen Begriffe von Emanzipation, Freiheit und Gleichheit eine verborgene Tendenz zu Totalitarismus, Faschismus und Fundamentalismus aufweise. In diesem Zusammenhang wäre die Aufklärung nicht nur ein wichtiger Gegenstand des historischen Interesses, sondern eine zentrale Kategorie in den Auseinandersetzungen um Gegenwart und Zukunft der westlichen Denksysteme. Wie die Aufklärung ist heute auch die neuzeitliche Rationalität starker Kritik ausgesetzt, die rigoros und umfassend erscheint. Der Vernunft werden repressive Züge und zerstörerische Wirkungen zugeschrieben. In einer solchen Situation sollten sich die Geisteswissenschaften verstärkt der Frage zuwenden, wie Vernunft neben der Kritik neu konzipiert werden kann. Ansätze dazu liefern Überlegungen zu einer „transversalen Vernunft“ (Vernunft der Übergänge). Die Formen der Rationalität sind in der Moderne plural geworden und darüber hinaus konstitutiv durch Verflechtungen bestimmt, so dass die Rationalität zunehmend Züge rationaler Unordentlichkeit aufweist. Die „transversale Vernunft“2 geht reflektierend von einer Sinnkonfiguration und Realitätsdimension zur anderen über, berücksichtigt divergierende Ansprüche und erlaubt zudem begründende Entscheidungen zwischen alternativen Optionen. Es ist heute angesichts der Verwirrung stiftenden pluralen Vernunftformen eine wichtige Aufgabe der Geisteswissenschaften als „Aufklärungswissenschaften“, ein Konzept der Vernunft zu entwickeln, das inmitten dieser Pluralität tragfähig ist. Das Konzept der „transversalen Vernunft“ hat ein nicht nur vernunfttheoretisches Motiv, sondern kann auch zum elementaren Modus von Lebensformen werden. Dies ist besonders 2

Vgl. dazu Welsch.

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stark zu beachten, weil die geisteswissenschaftlichen Disziplinen lebensweltlich orientiert sind. IV. Aufklärung als Komplex unterschiedlicher Tendenzen Aufklärung ist für unser historisches Bewusstsein eng mit dem 18. Jahrhundert verbunden. Aufklärung als Denkvorgang auf andere Epochen, auch auf unsere Gegenwart zu erweitern, ruft Bedenken und Zweifel hervor. „Wird damit nicht geschichtlich Einmaliges unzulässig in andere Zeiten projiziert“, und „gehört Aufklärung ihrem Wesen nach nicht allerhöchstens in den Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus?“3 Der im 18. Jahrhundert häufig verwendete systematische Begriff der Aufklärung im materiellen Sinn eines „Zuwachses an Wissen und einer Verbreiterung von Kenntnissen sowie im formalen Sinne eines daraus entstandenen geistigen Habitus, unabhängig von historischen Epochengrenzen“, kann heute – wenn auch in Modifikationen – weitgehend problemlos verwendet werden. Als methodische Hypothese bewährt sich am besten die These von einer, wenn auch graduell abzuhebenden, so doch strukturell erkennbaren Analogie zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Obwohl ein weitgehender Konsens darüber besteht, dass die Aufklärungsepoche einen ganzen Komplex von unterschiedlichen Tendenzen bildet, lassen sich doch einige Hauptbestimmungen festmachen: – Aufklärung ist die Entfaltung eines Denkens, das kritisch überkommene Autoritäten in Frage stellt, darunter insbesondere die tradierten religiösen Vorstellungen, Dogmen und Institutionen. – Des Weiteren hinterfragt die Aufklärung die Legitimation der politischen Herrschaft und, im Reifestadium, ihren eigenen Anspruch, ihr eigenes Verfahren und ihre eigene Legitimität. – Die Aufklärung verlangt (religiöse) Toleranz, rechtliche Gleichstellung aller Menschen, persönliche Freiheit und freie wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeit für alle, Meinungs- und Pressefreiheit und damit die Herstellung von Öffentlichkeit. – Die Aufklärung fordert politische Selbstbestimmung und – intendiert eine an einer grundsätzlich positiven Diesseitsgestaltung orientierte Humanität. In einer Zeit, in der gegenaufklärerische Tendenzen wieder an Bedeutung gewinnen, sollte man an diese positiven Wertsetzungen und Wirkungen der Aufklärung erinnern. 3

Schmidt 1989, S. 8 ff.

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Dass nun seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts und von ihr ausgehend neue und weiterführende Aufklärungsprozesse entstanden sind, lässt sich historisch genau nachweisen. Dazu zählen auf weiten Strecken die z. T. vorromantische, nachromantische und nachidealistische Epoche, der Liberalismus und die Anfänge der Demokratie. In vielen Bereichen ist diese zweite Aufklärung oder „Aufklärung nach der Aufklärung“ ein „Nachholphänomen“, wenn man sie mit den von der französischen Aufklärung schon im 19. Jahrhundert erreichten Positionen vergleicht. Dabei zeigt sich deutlich, dass nicht jede Zeit ihre Aufklärung hat, aber jede Aufklärung in den Grenzen ihrer Zeit und auf dem erreichten Zivilisationsniveau stattfindet. „Dass sie wesentlich von geschichtlichen Erfahrungen mitbestimmt und keineswegs bloß von einem linearen Fortschritt der Zivilisation oder gar von einer überzeitlichen und abstrakten Rationalität determiniert ist, lässt sich, wie an anderen Epochen, auch am 18. Jahrhundert erkennen.“4 Sicher ist Aufklärung nicht bloß eine Haltung und ein Engagement, sondern ein konstitutives Element der Moderne gewesen. Durch den Aufklärungsprozess selbst hervorgerufene Reaktionen führten zu „komplizierten Verwerfungen und Überlagerungen“. In diesen komplexen Ereigniszusammenhang gehört auch die Gegenaufklärung mit ihren Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Kritik der Aufklärung am religiösen Dogmatismus, am Fanatismus, am kirchlichen Machtanspruch und an totalitären Herrschaftsstrukturen sowie andererseits das aufklärerische Ideal der Toleranz und Religionsfreiheit sind geprägt von der Erfahrung der vorhergehenden Religionskriege und der Zeit der Ketzer und Hexenverfolgungen. V. Französische Revolution und Totalitarismus Aufklärung und Französische Revolution haben aber auch deutliche Tendenzen zur Totalität und zum politischen Fundamentalismus ausgebildet. Darin liegt eine ihrer Ambivalenzen. J. L. Talmon vertritt u. a. die Auffassung, dass die Idee des Allgemeinwillens bei Rousseau nicht frei von totalitären Zügen sei.5 Ähnliches trifft auch auf die Mentalität der Jakobiner zu. Je mehr sie sich z. B. der Machtergreifung näherten, umso intensiver formulierten sie ihren Standpunkt über Freiheit als positiven Wert. Ihre Diktatur entwickelte sich stufenweise ohne genauen Plan. Diese beruhte auf zwei wesentlichen Fundamenten: auf der Ergebenheit der „Gläubigen“ und der strengen Orthodoxie. Sie waren davon überzeugt, dass ihre Diktatur nur ein Vorspiel zu einem harmonischen Zustand der Gesellschaft sei. Diese 4 5

Ebd. S. 9 f. Vgl. Talmon 1961.

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Überzeugung ging von der Annahme aus, dass der Mensch in seiner Anlage gut und im Sinne der Aufklärung zur menschlichen Vervollkommnung geeignet sei, sowie ein sozialer Fortschritt vor sich gehe, der in ein Endstadium sozialer Integration und Harmonie einmünde. Die totalitäre Demokratie bestand seit dem 18. Jahrhundert in ununterbrochener Kontinuität. Ihre Ursprünge reichen weiter zurück als auf politische Systeme des 19. Jahrhunderts. Die Idee von einer natürlichen Ordnung oder von einem „Allgemeinen Willen“ entwickelte eine Geisteshaltung, die bisher in der Politik unbekannt war. Das Erleben einer strukturellen und unheilbaren Krise der Gesellschaft begünstigte das Entstehen der erwähnten totalitären demokratischen Tradition. Talmon meint, dass die jakobinische Diktatur, die auf die Einsetzung einer Tugendherrschaft ausgerichtet war, und der Plan Babeufs einer egalitären, kommunistischen Gesellschaft die frühesten Ausprägungen des modernen, politischen Messianismus waren.6 Dass die Aufklärung des 18. Jahrhunderts bereits zum Teil totalitäre Züge aufwies, wie z. B. den Despotismus der Vernunft, ist durch die Aufklärungsforschung überzeugend aufgezeigt worden. Dass seit der Aufklärung und von ihr ausgehend neue und weiterführende Aufklärungsprozesse entstanden sind, lässt sich historisch genau nachweisen. Durch den Aufklärungsprozess selbst hervorgerufene Reaktionen führten allerdings zu komplexen Verwerfungen und Überlagerungen. Es ist nicht einfach, von einem systematischen Aufklärungsbegriff ausgehend, Aufklärung und Gegenaufklärung voneinander abzugrenzen. Wie schon im 18. Jahrhundert die Debatte um die „wahre“ oder „fasche“ Aufklärung ergab, beanspruchen sowohl die Anhänger wie die Gegner der Vernunftaufklärung für sich die „wahre Aufklärung“7. Bis in die Romantik hinein zeigt sich der Anspruch einer Über-Aufklärung, die Aufklärung über die Aufklärung intendiert. So gesehen lassen sich die Begriffe scheinbar mühelos in ihr Gegenteil verkehren. Der systematisch-abstrakte Begriff von Aufklärung und Gegenaufklärung lässt sich aber dort festmachen, wo die naturwissenschaftliche Forschung zur „Aufklärung“ wird, indem sie eine bisher gültige weltanschauliche Position widerlegt und „wo im Gegenzug eine Machtinstanz diese nun überholte weltanschauliche Position zu retten versucht, indem sie das naturwissenschaftlich Erkannte unterdrückt“8, womit die Gegenaufklärung ihre reine Form erreicht. Historisch konkretisiert sich der Begriff der Gegenaufklärung in den vielen Formen der auftretenden Gegnerschaft zu den Positionen und Errungenschaften der historischen Aufklärung. In der historischen Entwicklung und unter dem Gesichtspunkt 6 7 8

Vgl. ebd. Schneiders 1974. Schmidt 1989, S. 12.

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vielfältiger Formen von Aufklärung und Gegenaufklärung entfalteten sich zahlreiche Einzelkonstellationen, aber auch antagonistische Gruppen, Ideologien und Parteibildungen. Konstellationen der Gegenaufklärung bildeten sich auch durch Versuche direkter Kritik an der Aufklärung heraus, eine Tendenz, die besonders heute stark zum Ausdruck kommt. Dabei scheint es, dass diese Kritik einerseits die Aufklärung im Ganzen unter isolierten Detailaspekten subsumierte, den Aufklärungsbegriff verkürzte und einengte, vereinzelte neudogmatische Tendenzen verallgemeinerte und verschiedene Klischees ausbildete. Diese Kritik an der Aufklärung, auch wenn sie z. T. inadäquat verfährt, ist nicht ganz von der Hand zu weisen und führte zu Bemühungen der Aufklärung, sich selbst aufzuklären, sich selbst aus einem größeren Vermittlungszusammenhang heraus zu regulieren, um Einseitigkeit und Dogmatismus auszuschließen und den „Despotismus der Vernunft“ zu überwinden. Heute ist nicht nur die Aufklärung, sondern die Rationalität an sich einer tiefgreifenden Infragestellung ausgesetzt. Dabei handelt es sich nicht nur um eine wieder einmal fällige Anerkennung des Irrationalen als eines philosophischen Grenzproblems, sondern um die Infragestellung jener Grundeinstellung abendländischer Rationalität, die das Grenzproblem des Irrationalen überhaupt erst als solches entdecken konnte. Vor dem Hintergrund dieser Entdeckung sind ja in der abendländischen Neuzeit Gott, die Welt und die menschliche Seele als das niemals präzis lösbare Grenzproblem der philosophisch-wissenschaftlichen Erkenntnis bestimmt worden. Die gegenwärtige Infragestellung der Rationalität bewegt sich indessen nicht mehr darin, vom Irrationalen als dem Grenzproblem der philosophisch-wissenschaftlichen Erkenntnis fasziniert oder beunruhigt zu sein, sondern sie scheint das Irrationale, die eigentlichen Lebensprobleme (Leid, Tod und Glück) neu zu entdecken. Natürlich ist der Verlust des statisch substantiellen Vernunftbegriffes und des dynamischen Begriffs einer auf Fortschritt programmierten vernünftigen Weltgeschichte nicht zu übersehen, der fragwürdig geworden ist. Insofern hat die Aufklärung ihre optimistische Haltung zwar eingebüßt, sie ist aber damit nicht überflüssig geworden. Im Gegenteil: unsere derzeitige geistige Situation ist ein Ergebnis von Aufklärung, von Aufklärung über die historische Aufklärung. Zur Zeit gibt es drei Antworten auf die Infragestellung der Aufklärung: 1. Die aus konservativer Tradition kommende Haltung einer „stoischen Gelassenheit“ angesichts der revolutionären und raschen Entwicklung des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts. 2. Eine „postmoderne“ Antwort, wie sie hier zu Beginn bereits skizziert wurde und

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3. eine „objektiv gesicherte Fortschrittsperspektive“, wie sie von der kritischen Theorie gesucht und in der „Diskursethik“ konkretisiert wurde. Jürgen Habermas charakterisierte seine Antwort als einen Versuch, „in Fortsetzung der Kantischen Tradition, einen skeptischen und nachmetaphysischen, aber nicht-defätistischen Vernunftbegriff sprachphilosophisch zu retten.“9 Die Vernunft, die sich in der Diskursethik artikuliert, besteht in der Bereitschaft, „sich auf eine symmetrische Diskursteilhabe an der auf diesem Wege erreichbaren konsensuellen Findung von Normen einzulassen“10. In der Diskursethik geht es letztlich um Ermittlung verbindlicher Normen des menschlichen Zusammenlebens. Die Reflexion auf die soziale und kulturelle Angewiesenheit der Menschen auf Mitmenschen und kulturelle Überlieferung bietet die Motivation dafür, sich einer solchen Diskursethik anzuschließen und den Weg einzuschlagen, „auf dem verbindliche Normen ohne Vergewaltigung Einzelner gefunden werden können“. Dies ist wohl eine der wesentlichen Zielsetzungen der Aufklärung nach der Aufklärung. Aufklärung war und ist ihrem Wesen nach Emanzipation, Befreiung von überlieferten, die Erkenntnis einschränkenden Traditionen. Aufklärung über die Aufklärung, kritische Reflexion über die an unser „biologisches und kulturelles Dasein gebundene Vernunft“, stellt zugleich auch Aufklärung über die unübersteigbaren Grenzen von Emanzipation dar. Der Mensch ist ein Lebewesen, das durch den Prozess der Sozialisation, des Erlernens von Sprachkompetenz und Denkfähigkeit Vernunft erwirbt und sich mit Hilfe dieser Vernunft in der Welt besser zu orientieren versucht. Durch solche Erkenntnisse der Bedingungen und Grenzen des individuellen Daseins und durch ein Reflexivwerden der Vernunft wird Aufklärung nicht überwunden, sondern kritisch weiterentwickelt. VI. Reflexive Aufklärung Was dringend erforderlich erscheint, ist heute die Konzipierung einer „neuen“, „reflexiven“ Aufklärung, die die unverzichtbaren Grundlagen der historischen Aufklärung kritisch weiterentwickelt. Die Aufklärung als nie abschließbare Aufgabe und als Denkprinzip versteht sich – wie bereits erwähnt – als Selbstaufklärung, als Selbstwerden durch freies Denken, aber auch als Sachaufklärung im Sinne von Wegräumen geistiger und realer Hindernisse der Selbstaufklärung. Aufklärung richtet sich als Selbstdenken (Kant) gegen angemaßte Autorität und Vorurteile, als Richtdenken gegen 9 10

Fetscher 1985. Habermas 1991, S. 119 ff.

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Irrtümer, Irrationalismus und Aberglauben, gegen Verabsolutierungen und Ideologien, gegen Dogmen und absolute Wahrheiten. Die bleibende Aktualität der Aufklärung resultiert aus dem permanenten Aufklärungsbedürfnis. Sie ist ein stets erneuerter Versuch, die immer neu wuchernde Pseudowahrheit zu überwinden und ideologiekritisch zu arbeiten. Aufklärung als Denkmodell darf allerdings Aufklärung über sich selbst nicht vernachlässigen, sonst degeneriert sie zur Pseudoaufklärung oder Ideologie und zerstört sich selber. Die Kritik an der Aufklärung setzt dort an, wo behauptet wird, sie habe in naiver Weise unterstellt, dass „der Mensch gut“ sei und dass sich durch Herstellung geeigneter politischer und sozialer Verhältnisse dieser Vorzug deutlich zeigen würde. Dieser naive Glaube sei durch den Stalinismus und Nationalsozialismus widerlegt worden. Alle Fortschrittsideologien hätten sich im Laufe der Geschichte als verhängnisvoll erwiesen und trügen Schuld am krisenhaften Charakter der zeitgenössischen Welt. Gegen diese Auffassung muss eingewendet werden, dass das Projekt der Aufklärung durchaus positiv gesehen werden kann, wenn man auf den zentralen Gedanken der Aufklärungsphilosophie zurückgeht und die Verbindung mit einem „naiven Rationalismus“ und einem optimistischen Menschenbild, das nicht alle Aufklärer vertraten, und einer zu optimistischen Geschichtsphilosophie aufgibt. Die Forderung, wie sie Kant formulierte, selbst zu denken, besagt noch keineswegs, dass Menschen nur „res cogitandes“ sind. Kant selbst betonte, dass zum Selbstdenken „Mut gehöre“, eine Eigenschaft, die nicht die der reinen Vernunft sei. Aufklärung hat es letztlich mit dem konkreten Menschen zu tun, auch wenn sie seinen Verstand und die Vernunft als besondere Eigenschaft hervorhebt. Aufklärung heißt, sich seiner Vernunft zu bedienen und sich von Vorurteilen und autoritären Bevormundungen zu befreien. Hier steht Kants Konzept einer Kritik der Vernunft im Zentrum. Da Kritik eine negativ-destruktive und eine positivkonstruktive Seite hat, erwartet Kant auch von der Vernunft „Aufklärung“ in doppelter Weise: destruktiv und konstruktiv. VII. Kritik der Vernunft und Selbstdenken Kant versteht unter Kritik der Vernunft Selbstkritik der Vernunft und meint damit, dass es keine übergeordnete, auch keine göttliche Instanz gibt, vor der menschlicher Vernunftgebrauch zur Verantwortung gezogen werden könnte. Aus der Sicht der Anthropologie ist hier vor allem das Problem des menschlichen Selbstverständnisses angesprochen. Die alte Definition des Menschen als Vernunftwesen erhält durch die Aufklärung eine neue Dimension. In der Unendlichkeit der sich dem Menschen erschließenden Möglich-

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keiten liegt zugleich das Potential seiner Selbstgefährdung. Vernunfttheoretisch geht es hier um Selbstkritik der Vernunft, die zerbrechlich ist und die sich durch Selbstbeschränkung als kritische Vernunft erhält. In Form von Selbstkritik ist Vernunftkritik eine exemplarische Weise des Selbstdenkens. „Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist Aufklärung“11. Diese Maxime gilt für den theoretischen und praktischen Vernunftgebrauch. Das Selbstdenken hat sich allerdings heute aufgrund der ungeheuren Komplexität der Lebensverhältnisse in vielen Fällen als psychische und soziale Überforderung erwiesen. Kant bemüht sich um eine rein rationale, in der Vernunft gegründete Fundierung des moralischen Wissens. In der heutigen Situation der Ethik konkretisiert sich Vernunftgebrauch bzw. Selbstbehauptung in der Anwendung von Urteilskraft. Kritik wird nicht an der Selbstbehauptung philosophischen Denkens, sondern an einem philosophischen Ethos festgemacht. Aus der Perspektive Kants wäre dieses Ethos als die aufgeklärte bzw. aufklärerische Haltung des Selbstdenkens zu bestimmen. Parallel mit dem Wandel des Selbstverständnisses des Menschen und mit der Erweiterung des Wissens über den Menschen ändert sich auch die Aufgabe von Aufklärung und Selbstdenken. Die Reflexion auf das eigene Unbewusste geschieht im Aufklärungsdenken nicht, um emanzipiertes Verhalten zu begrenzen, sondern führt zur Erweiterung, wobei die neugewonnene Erkenntnis auch eine Erkenntnis der Grenzen des Bewusstseins und der Bestimmung unseres Verhaltens durch Vernunft mit einbezieht. Interessant ist in diesem Kontext auch das Aufklärungs- und Vernunftverständnis im kritischen Rationalismus. Drei Aspekte sind hier bestimmend: das Selbstverständnis und das ideologiekritische Potential des kritischen Rationalismus. Die Idee von der Selbstbefreiung durch Wissen ist ein programmatischer Topos in der Tradition der Aufklärung. Im kritisch-rationalistischen Aufklärungskonzept werden besonders drei Forderungen hervorgehoben: 1. dass prinzipiell kein Lebensbereich, keine gesellschaftlich-politische Instanz, keine traditionelle Autorität der kritischen Prüfung durch Empirie und Vernunft entzogen werden darf; 2. dass die kritische Reflexion vor den Implikationen und Folgen aufklärerischer Denkbemühungen nicht Halt machen darf; 3. dass der Prozess der kritischen Reflexion und Selbstreflexion als unabschließbare Aufgabe zu sehen ist. 11

Kant 1968, S. 146.

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Im Zentrum des Vernunftverständnisses des kritischen Rationalismus steht die Fallibilitätsthese von der prinzipiellen Fehlbarkeit und Irrtumsanfälligkeit des menschlichen Erkenntnis- und Vernunftvermögens. Letzte Instanzen, die die Wahrheit von Erkenntnissen gleichsam offenbar machen und absolut garantieren können, werden im kritischen Rationalismus entschieden abgelehnt. Der kritische Rationalismus richtet sich gegen eine Dogmatisierung von Erkenntnissen und gegen eine Beeinträchtigung des Erkenntnisfortschritts. Der kritisch-rationalistische Standpunkt in Wertfragen wird der aufklärerischen Grundidee von der Selbstbefreiung durch Wissen sehr gerecht, weil er die Möglichkeit betont, sich durch das Aneignen von Sachwissen von bisher unbefragten Wertautoritäten auch im ethischen Bereich zu emanzipieren, ohne das Engagement für ein ethisches Prinzip auszuschließen. Die Aufklärungsinstitution des kritischen Rationalismus umfasst auch ein ideologiekritisches Potential, das Weltanschauungen und Ideologien kritisch prüft. Dabei spielt die kritisch-rationalistische These von der prinzipiellen Fehlbarkeit und Irrtumsanfälligkeit der Vernunft eine entscheidende Rolle. Die Denkströmung des kritischen Rationalismus ist – wie die hier dargelegten Möglichkeiten zeigen – gut geeignet, gegenaufklärerischen Tendenzen, die heute stärker werden, wirksam entgegenzutreten. Sicher sucht der Mensch angesichts der Probleme unserer komplexen Gesellschaft nach einem Gegengewicht, nach der Erfahrung des Ganzen, dass die Welt nicht nur durchrationalisiert ist. Auch hier zeigt sich die Bedeutung des Aufklärungsdenkens im Sinne einer Überwindung der in manchem falsch gelaufenen historischen Aufklärung und einer Aufklärung über Aufklärung. Es besteht heute durchaus die Möglichkeit, Aufklärung im Sinne einer kritischen Aufklärung weiterzuentwickeln, einer Vernünftigkeit, die nicht im technischen Kalkül aufgeht, sondern sich ihrer Grenzen bewusst wird und gleichzeitig ihre Möglichkeiten prüft, wie wissenschaftliche Welterkenntnis und ethisches Handeln zusammengedacht und praktiziert werden können. Selbstverständlich ist die Idee von der Vernunft zerbrechlich und die kritische Aufklärung wandelt sich daher auch zur Kritik an jener Rationalität, die Freiheit durch Naturbeherrschung zu sichern vorgibt. Gemeint ist hier vor allem die „Herrschaftsvernunft“ oder „instrumentelle Vernunft“, wo die Hoffnung, vernünftige Verhältnisse könnten verwirklicht werden, in der „gewaltigen Hermetik totalitärer Mechanismen“ versiegt. Allerdings übertreiben manche Philosophen und Soziologen heute, wenn sie für den Prozess der Aufklärung und ihrer Dialektik nur noch die „instrumentelle Vernunft“ wahrnehmen wollen. Angesichts globaler Bedrohungen und der Krise der modernen Industriegesellschaften scheint es notwendiger denn je, die Bemühungen im Sinne einer kritischen Aufklärung fortzusetzen und aus der Einsicht der unauflös-

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lichen Verschränkung von Vernunft und Herrschaft, Macht und Subjektivität an der Realisierung einer vernünftigen Emanzipation weiterzuarbeiten, zumal es heute um die Sicherung dessen geht, was man mit dem „vernünftigen Gehalt der gesellschaftlichen kulturellen Moderne“ bezeichnen könnte. Die Aufklärung hat aufgrund einseitiger Auslegungen, eines extrem egozentrischen Individualismus und durch die politischen Ideologien des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts das großartige Emanzipationsprojekt gehemmt und z. T. sogar pervertiert. Gewiss hat sie aber auch einen gewaltigen Erfolg erzielt, obwohl heute das „Humane“ und der technische Fortschritt immer weiter auseinander zu laufen scheinen. Damals wie heute geht es der Aufklärung darum, die Hemmnisse aus dem Weg zu räumen, die die Ausbreitung der kritischen Erkenntnis und Vernunft stören. Eine „neue“, „reflexive“ Aufklärung erkennt die Fehlentwicklungen und Grenzen dieses Projekts und kann daher korrigierend und weiterführend eingreifen.

VIII. Aufklärung und Modernisierungsprozesse In der Aufklärung liegt der Ursprung der Moderne, deren Anfänge aber bis in die frühe Neuzeit zurückreichen. Zwischen ihr und der Moderne gibt es einen engen Zusammenhang, zumal das Projekt der Aufklärung im Rahmen der Modernisierung gesehen werden muss. Die im 18. Jahrhundert geschaffenen Grundlagen der modernen Wissenschaft und Ökonomie, die im 19. Jahrhundert weiterentwickelt wurden, stellen heute offenbar irreversible Prozesse der Mechanisierung, Industrialisierung und Urbanisierung dar. Daraus entwickelte sich eine Dynamik fortschreitender Systematisierung und Homogenisierung, sodass darauf aufbauend ein „stahlhartes Gehäuse“ (Max Weber) der modernen Gesellschaft entstand. Ohne diese Voraussetzungen wäre Aufklärung gar nicht zu verstehen. Sie steht im Kontext der Säkularisierungsund Modernisierungsprozesse und reagiert auch auf sie, indem sie versucht, den Verlust der alten Ordnung, die Freisetzung von ihren Bindungen als Befreiung zu kapitalisieren und eine Neuordnung ins Auge zu fassen. Im Hinblick auf diese Neuordnung sind allerdings Aufklärung und Moderne nicht unbedingt deckungsgleich. Die Aufklärung schätzt den Charakter der neuen Zeit falsch ein und konzipiert diese nach dem Modell der alten Welt als einen geschlossenen Kosmos mit Anfang und Ende, Einheit und Ganzheit, Sinn und Ziel. Das zwiespältige Verhältnis unserer Gegenwart zur historischen Aufklärung erklärt sich auch aus dem Spannungsverhältnis zwischen Modernisierung und Aufklärungsprojekt. Ein Gleichklang zwischen beiden Bewegungen bestand vorübergehend in der Spätaufklärung, der sich dann später aufgelöst hat. Das Projekt der Aufklärung lässt sich zwar innerhalb der Modernisierung immer wieder beginnen, ob es aber

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abgeschlossen werden kann, ist mehr als fraglich. Eher ist die Aufklärung ein bis heute unvollendetes und auf Grund des spezifischen Charakters der Moderne vielleicht auch unvollendbares Projekt. In dieser Paradoxie liegt wahrscheinlich seine anhaltende Aktualität, mit der Erwartungen und Enttäuschungen verbunden sind. Aus ihr resultieren auch die verschiedenen Bemühungen, eine neue Aufklärung als Denkmodell gegen den Fundamentalismus zu entwickeln. In diesem kritischen Verständnis von Aufklärung, das heute als „reflexive Aufklärung“ verstanden wird, geht es um Aufklärungskritik und um neue Ansätze zu einer differenzierteren Betrachtungsweise der Aufklärung im Spannungsverhältnis zwischen Moderne und Postmoderne. Was im Hinblick auf den Fundamentalismus dringend erforderlich erscheint, ist die Konzipierung dieser „reflexiven Aufklärung“, die die unverzichtbaren Grundlagen der historischen Aufklärung kritisch weiterentwickelt. IX. Die rationale Ordnung und ihre Gegenwelten Die geistige Situation unserer Zeit könnte man mit der Formulierung „die rationale Ordnung und ihre Gegenwelten“ (Michel Foucault, Max Weber, Cornelia Klinger) charakterisieren. Unter dem sich verdichtenden Eindruck, dass die Epoche der Moderne in absehbarer Zukunft ihrem Ende entgegengeht, werden heute verstärkte Anstrengungen zu ihrer theoretischen Erfassung unternommen. Dabei werden vorrangig Modernisierung bzw. Modernität mit dem Prozess der Rationalisierung aller Gesellschafts- und Wissensbereiche identifiziert. Diesen Vorgängen stehen gegenläufige Tendenzen gegenüber. Bei dieser Bestimmung bieten sich vier Modelle an. Das entscheidende Kriterium ist dabei die Frage, wie das Verhältnis konzipiert wird zwischen den Bereichen, die als Hauptströmungen der Modernisierung gelten, und jenen, die als Gegenströmungen aufgefasst werden können. Auf dieser Grundlage kann man von einem Externalisierungskonzept, einem Ausdifferenzierungskonzept, einem Kompensations- und einem Korrelationskonzept sprechen. Am einfachsten und zugleich am problematischsten ist die Ansicht, dass es sich bei Gegenbewegungen zur Moderne entweder um Restbestände einer vormodernen Lebens- und Gesellschaftsordnung handelt, die durch den Modernisierungsprozess allmählich vernichtet werden, oder – ganz entgegengesetzt – um Ansätze zu einer künftigen Überwindung der Moderne (Postmoderne). Mit dem was hier Ausdifferenzierungskonzept genannt wird, vollzieht sich ein erster Schritt in Richtung auf eine Anerkennung der Zugehörigkeit von Gegenströmungen zum Modernisierungsprozess. Es wird dabei aner-

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kannt, dass bestimmte Phänomene wie Subjektivismus und Gefühlskultur oder eine nostalgische Hinwendung zur Natur und Vergangenheit überhaupt erst auf der Grundlage der Moderne entstehen können und somit als deren eigene Resultate anzusehen sind. Das dezentrierte Weltverständnis eröffnet auf der einen Seite die Möglichkeit eines kognitiv versachlichten Umgangs mit der Welt der interpersonalen Beziehungen; auf der anderen Seite bietet es die Möglichkeit eines von Imperativen der Versachlichung freigesetzten Subjektivismus im Umgang mit einer individualisierten Bedürfnisnatur. In diesem Sinne nennt Max Weber drei Gruppen von Wertsphären, die zusammen den Komplex moderner Rationalität bilden und die sich im Prozess der Moderne ausdifferenzieren und autonom entwickeln. Neben den Komplex der kognitiven Rationalität von (Natur-)Wissenschaft und Technik und den Komplex der evaluativen Rationalität von Naturrecht und (protestantischer) Ethik stellt er die ästhetisch-expressive Rationalität als dritten Bereich. Aktiv vorangetrieben wird der Prozess der Moderne durch die Entwicklung von Wissenschaft, Technik und Industrie sowie durch die Entfaltung rationaler Verwaltungs- und Rechtspraktiken und entsprechender Wertund Verhaltensnormen. Die Tendenz heute geht in Richtung einer Akzentverschiebung von der Betrachtung des zweckrationalen zu der des wertrationalen Handlungssystems. Es wird die Bedeutung der praktischen Vernunft für den Prozess der Moderne gegenüber der instrumentellen Vernunft (Dialektik der Aufklärung) hervorgehoben. Es ist sinnvoll, das Gegensatzverhältnis zwischen der modernen Welt und den exterritorialen Orten einer ästhetischen oder esoterischen Weltflucht als Funktionszusammenhang aufzufassen. Ist dies der Fall, dann geht das Ausdifferenzierungsmodell in das Komplementaritäts- oder Kompensationsmodell über. Dabei geht man davon aus, dass es bestimmte Bereiche gibt, die nicht derselben Logik folgen, die in Wissenschaft und Technik, Wirtschaft und Gesellschaft, Recht und Politik wirksam ist. Somit stehen sie dem Konzept von Rationalität und dem Prozess der Moderne zwar entgegen, aber nicht außerhalb und jenseits der Welt, sondern als andersartige Orte innerhalb derselben, innerhalb eines entgegengesetzte Pole umgreifenden Zusammenhangs. Es wird davon ausgegangen, dass jene Gegenpole all das sind oder haben, was die anderen Wertsphären nicht sind oder nicht besitzen, so dass sie sich komplementär zueinander verhalten. Das auffallendste Merkmal des Kompensationskonzepts liegt in der modernitätskritischen Grundhaltung bei gleichzeitig unvermindertem Festhalten an der Überzeugung der Unvermeidlichkeit und sogar der Überlegenheit der Moderne als Rationalisierungsprozess. Da, wo der Aspekt der bewussten und aktiven Verweigerung der Kompensationsleistung in den Vordergrund rückt, gelangen wir zum vierten Mo-

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dell, nämlich zum Verhältnis zwischen dem Rationalisierungsprozess und seinen Gegenströmungen. Dieses Konzept zeigt an, dass hier nicht mehr der Gegensatz, sondern die Entsprechung zwischen den verschiedenen Wertsphären der Moderne in das Zentrum rückt. Den Ausgangspunkt bildet die Tatsache, dass die aus dem Modernisierungsprozess ausgegrenzten und ihm zum Zwecke seines Ausgleichs entgegengesetzten Bereiche auf Dauer unvermeidbar und unübersehbar ihre eigene subsystemspezifische Modernität entwickeln. Im Bereich der Ästhetik bedeutet dies z. B. die Herausbildung einer Formensprache, die die Konflikte, die „Zerrissenheit“ der modernen Welt abbildet bzw. sie reflektierend sogar noch verschärft. Jürgen Habermas setzt an die Stelle der von ihm als Irrweg abgelehnten Aufhebung der Kunst die „lebensorientierende Kraft“ der Kunst. Er spricht von einer ästhetischen Erfahrung, die nicht primär in Geschmacksurteile umgesetzt wird, sondern „für die Aufhellung einer lebensgeschichtlichen Situation genutzt und auf Lebensprobleme“ bezogen wird. Die drei kulturellen Wertsphären müssen an entsprechende Handlungssysteme so angeschlossen werden, dass eine nach Geltungsansprüchen spezialisierte Wissensproduktion und -vermittlung garantiert ist. Das von Expertenkulturen entwickelte kognitive Potential soll seinerseits an die kommunikative Alltagspraxis weitergeleitet werden. Dies wäre, anders formuliert, das Projekt der „reflexiven“ Aufklärung im Sinne einer nie abschließbaren Aufgabe. Was als Besonderheit des dritten Wertsphärenbereichs erscheint, sein „Irrationalismus“, seine Alterität, sind nichts anderes als die unbegriffenen und z. T. verdrängten Züge der Moderne. Eine zweite (oder neue) Aufklärung hätte sie als Teil der Moderne zu erkennen und entsprechend einzuordnen.

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„Bürger einer abwesenden Polis“ („citoyens d’une cité absente“): Thierry Maulnier als Theoretiker der ‚Nationalen Revolution‘ in der Zeitschrift Combat (1936–1939) Heinz Thoma I. Einleitung Will man sich über die Entwicklung Thierry Maulniers, einem der Theoretiker der jungen nationalen Rechten, während der Zeit der Besetzung Frankreichs durch Nazideutschland informieren, kann es vorkommen, dass man sein Buch La France, la guerre et la paix1 in einem Exemplar der Universität Potsdam erhält, das mit einem Ex Libris „FR Bibliothek Armin Mohler“2 versehen ist. Die Vertreter der konservativen Revolution interessierten sich offensichtlich über Generationen und Grenzen hinaus füreinander. Dies werden wir auch in jener historisch angespannten Zeit sehen, in der uns nicht zuletzt auch die Widersprüche interessieren, die aus der Vervielfachung des Konzepts der ‚Nationalen Revolution‘ entstehen. Maulnier ist ein spezifisches Exemplar dieser Denkrichtung.3 Er gehört zum Typus des theoretischen Übergängers im „Zeitalter der Extreme“ (Hobsbawm), der in den dreißiger Jahren im Lager des Traditionalismus bzw. der Nationalen Rechten steht,4 sich revolutionär gebärdet, sich dabei 1

Maulnier 1942. Armin Mohler, Schüler von Karl Jaspers mit einer Dissertation zur Konservativen Revolution in Deutschland (1949) und Verfasser einer Studie über die französische Rechte (Mohler 1958), die sich u. a. mit Thierry Maulnier beschäftigt. Thomas Willms’ Biographie (Willms 2004) über ihn trägt den unmissverständlichen Titel: Armin Mohler. Von der CSU zum Neofaschismus. 3 Für biographische, bibliographische und inhaltliche Hinweise zu Maulnier danke ich Michael Schneider, der eine Dissertation zu diesem Autor vorbereitet. Zu Biographie und Werk vgl. die von Sympathie geprägte Studie von Montety 1994 und die unbedarfte Qualifikationsschrift von Bigault 1999. 4 Die ältere Traditionslinie eines katholisch geprägten Traditionalismus verkörpert Ferdinand Brunetière (1849–1906). Von absolut prägendem Einfluss auf Maulnier sind Charles Maurras (1858–1952), der Begründer der Action Française (1908–1944) und Theoretiker des „nationalisme intégral“ sowie der jüngere Henri Massis (1886–1970), ebenfalls zur AF gehörig. 2

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für den Marxismus interessiert und schließlich doch im konservativen Lager verbleibt. Diese Variante des Intellektuellen findet, darauf sei hier nur en passant hingewiesen, nach dem Fall des Sozialismus neues und verstärktes Interesse in der Forschung,5 kann man doch an einer Rechten, die sich zeitweilig als Linke geriert, Rehabilitationen betreiben, manches Tabu brechen bzw. die Fragwürdigkeit des Engagements überhaupt belegen.6 Nichts davon ist hier beabsichtigt, vielmehr soll dieser Autor näher besichtigt werden, weil er sich intensiver als andere seiner konservativen Couleur mit dem Marxismus beschäftigt. Geprüft wird, ob und inwieweit sich ein rechter Revolutionarismus auf Argumente und gesellschaftliche Beobachtung stützt, und wo genau die nationalistische Überformung dieser Argumente ihren Platz hat. Man muss einerseits davon ausgehen, dass wir es bei dieser Denkform mit dem Versuch einer Nutzung und Umwertung der Ideen und Symbole des politischen Gegners, hier des Marxismus, zu tun haben – in der Sprache der Börse mit dem Versuch einer feindlichen Übernahme –, andererseits ist auf der Ebene des Subjekts jedoch auch die Annahme nicht auszuschließen, dass die zeitweilige Anpassung an den Marxismus einen authentischen Versuch darstellt, um einer tatsächlich antikapitalistischen Gestimmtheit Ausdruck zu geben, deren sozialer Impulsgeber näher zu bestimmen bleibt. Das gedankliche bzw. ideologische Material, das diese Kritik benutzt, kommt mit Sorel, Maurras, Pareto7 und Marx aus letztlich unvereinbaren Richtungen. Soziologisch gesehen handelt es sich bei den Übergängern der dreißiger Jahre und ihrer Ansprechbarkeit für extreme Lösungen um Sprachrohre einer Generation, die mit der Wirtschaftskrise verstärkter Laufbahnprekarität ausgesetzt ist.8 Maulnier, sein bürgerlicher Name ist Jacques Talagrand, wird 1909 im südfranzösischen Alès geboren. Sein familiales Milieu ist die Bildungselite: Der Vater ist Agrégé, das heißt er hat das Zertifikat eines bestandenen Wettbewerbs (Concours), der den Weg entweder auf eine privilegierte Stelle im Gymnasialbereich oder in die Universität garantiert. In dieser Tradition besucht Maulnier das Lycée Louis Le Grand in Paris, das die besten Voraussetzungen zur Vorbereitung dieser Bildungslaufbahn bereitstellt. Sie beginnt zunächst mit dem Eintritt in die École Normale Supérieure. 5 Vgl. u. a. Carroll 1995; Verdès-Leroux 1996; Keller 2001; Kessler 2001. Vgl. auch die älteren Studien von Sternhell 1983 und Bayle 1969. 6 Vgl. den jüngsten Versuch der Konstruktion eines ‚rechten‘ Engagements bei Peter Bürger (Bürger 2003). 7 Combat, Oktober 1936, widmet einen Artikel Pareto; vgl. auch Maulniers Rekurs auf Pareto in: Maulnier 1945. 8 Vgl. in Deutschland etwa die Laufbahn von Goebbels im Spiegel seiner Tagebücher; zur Beziehung zwischen Maulnier und Malraux und gewissen Analogien ihrer Denkform vgl. Montety 1994, S. 83 f.

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Die Absolventen dieser Spezialschule zählen, wie auch jene der anderen Grandes Écoles,9 zu Frankreichs Elite. Ihre Laufbahnen sind im Fall der ENS auch so etwas wie ein Spiegel der Kulturgeschichte des Landes. Zu Talagrands Jahrgang in der Eliteschule zählt z. B. Simone Weil (1909– 1943). Die Jüdin und Schülerin des radikaldemokratischen Philosophen Alain ist Anhängerin eines christlichen Mystizismus. Sie ist der syndikalistischen Zeitschrift und zugleich politischen Richtung der „Révolution prolétarienne“ verbunden, zeitweilig Arbeiterin bei Renault, wo sie Tagebuch führt und hierdurch die Lage der arbeitenden Klassen dokumentiert.10 Sie engagiert sich in den Internationalen Brigaden zur Verteidigung der spanischen Republik. Später ist sie – in kritischer Distanz – im Umfeld de Gaulles in London tätig, wo sie 1943 an Tuberkulose erkrankt und gleichsam aus Solidarität mit den Franzosen im besetzten Vaterland medizinische Versorgung und Nahrung verweigert, woran sie stirbt. Zu diesem Jahrgang gehört auch der Literatur- und Kulturkritiker Robert Brasillach (1909–1945), dessen unbedeutenden Romanen das Lexikon einen zärtlichen Realismus („réalisme tendre“) bescheinigt. Er geht politisch und kulturell von der „Action française“, der nationalistischen königstreuen Rechten um Charles Maurras,11 zum deutschen Faschismus über und ist einer der wenigen Intellektuellen, die nach der Befreiung zum Tode verurteilt und auch hingerichtet wurden. Der junge Talagrand, der sich ebenfalls für die Arbeiterklasse12 interessieren und zugleich der Nationalen Rechten anschließen wird, besteht trotz einer guten Abschlussarbeit die Agrégation nicht.13 Man kann aus gelegentlicher Polemik gegen das verstaubte Universitätssystem vermuten, dass eben dieser Bruch in der Bildungslaufbahn ihn in eine gesellschaftlich-politische Sonderposition treibt und ihn zugleich öffentliche Geltung als Journalist suchen lässt, wofür er sich den Namen Thierry Maulnier zulegt. Dies geschieht zunächst im Rahmen der Action française, in deren gleichnamigem Organ er trotz mancher Dissidenz bis 1944 publiziert.14 Er verkehrt auch in anderen Kreisen der nationalistischen Bewegung, vornehmlich in einer sich „Junge Rechte“ (Jeune droite) nennenden Gruppe, der Maulnier 9

École nationale d’administration, École polytechnique u. a. Weil 1951. 11 Zur Programmatik dieses Rechtskonservatismus liest sich immer noch mit Gewinn: Friedrich 1935. 12 Maulnier verwendet auch das Konzept des Klassenkampfes („lutte des classes“). 13 Die Zahl derer, die bestehen, richtet sich neben unabhängigen Qualitätskriterien nach den zu vergebenden Stellen, die Platzierung ergibt sich aus der Summe von Teilprüfungen. 14 Maurras schätzt Maulnier sehr und toleriert dessen Abweichungen. 10

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1936 mit der Monatsschrift Combat ein weiteres Presseorgan schafft.15 Neben der journalistischen Tätigkeit ist Maulnier Literaturkritiker, vor allem zu Racine (Racine 1935, Lecture de Phèdre 1942) und Kulturkritiker am Beispiel Nietzsches (Nietzsche 1933). Mit seinen monographischen Titeln, die oft genug nur journalistische Arbeiten versammeln, wird er ständiger Autor bei Gallimard.16 Um die Zeit der Volksfront beginnt er verstärkt die Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Marxismus (Mythes socialistes 1936), die sich in Au-delà du nationalisme (1938) fortsetzt, schließlich ein weiteres Mal in der Übergangssituation von 1945 in Violence et conscience belebt. Noch 1948 gibt er ein nach seinen Angaben bereits 1939 zur Publikation vorgesehenes kommentiertes Florilegium mit Texten von Marx, Engels und Lenin heraus,17 mit der Begründung, man kenne diese Texte viel zu wenig, übersehe ihre Tragweite, und müsse um so mehr ihre philosophischen Defizite markieren. Jedoch ist er mit dieser Publikation auch schon Teil des Kalten Krieges, der Maulnier in offiziell konservative Bahnen treibt. So tritt nun in seinen Aktivitäten die Funktion als Editorialist des Figaro nach vorne, dem der hochtalentierte, jedoch häufig müßiggängerische und auf gute Honorare angewiesene Maulnier schon 1941 bis zum Verbot kurzzeitig zu Diensten war, was seine ehemaligen Kampfgenossen damals und nach 1945 als Verrat kritisierten. Seine letzte größere politische Schlacht schlägt Maulnier in den 1950ern, um die Kolonie Algerien als Teil Frankreichs zu retten. Seine politische Anpassungsleistung nach dem Krieg und ein ihm langsam zuwachsendes Renommée als Kulturkritiker und Theaterautor erbringen ihm 1964 einen Sitz in der Académie française. In der folgenden Darlegung steht im Zentrum der Zusammenhang von ‚Nationaler Revolution‘ und Ideologie des Dritten Wegs, wie Maulnier und seine Mitautoren ihn in der Zeitschrift Combat entwickeln. Am Ende steht ein Blick auf den eingangs zitierten Sammelband von 1942, an dem sich die Krise dieser Konzeption bereits abzeichnet.

15 Es existieren in den 30er Jahren unter anderen die dieser Richtung verbundenen Zeitschriften Revue française, Revue universelle, Réaction und Revue du Siècle. Maulnier versucht auch das von Maurras missbilligte Experiment einer, allerdings nur kurzzeitig erscheinenden, radikalisierten Wochenzeitung mit dem Titel L’insurgé (vgl. Montety 1994, S. 129). 16 Zur Geschichte dieses Verlagshauses vgl. Assouline 1984. Gallimard setzt seine Schwerpunkte auf wirtschaftliche und qualitative Aspekte. So spielt eine linke politische Ausrichtung im Verlagshaus zwar eine größere Rolle, schließt aber andere politische Orientierungen nicht kategorisch aus. 17 Maulnier 1948.

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II. ‚Nationale Revolution‘ und Theorie des Dritten Wegs Unser Textkorpus ist die Zeitschrift Combat, die in ihrem Selbstverständnis eine revolutionäre Alternative zwischen Kapitalismus und Kommunismus anstrebt. Sie ist sich trotz mancher politischen Unterschiede der sie tragenden Personen darin einig, sich vom statischen Politikstil der „Action française“ abheben zu wollen. Maulnier gibt die Monatsschrift zusammen mit Jean de Fabrègues heraus.18 Zu den Autoren gehören u. a. Robert Brasillach und Maurice Blanchot. Sie ist gleichsam die mittlere Stimme der sogenannten ‚Nationalen Revolution‘ und hat im ersten Jahr ca. 1000 Abonnenten. 1. Radikalismus und Polemik Der Dritte Weg muss auf sich aufmerksam machen. Hierzu bedarf es der Polemik. Maulnier beherrscht mehrere Denk- und Schreibattitüden. Im Wesentlichen ist sein Denkstil analytisch, oft abwägend. Jedoch scheut er keineswegs eine rüde Gangart. So ruft er in einem Artikel aus der Zeit der Volksfront „Désobéissance aux lois“19 zum Gesetzesbruch und Umsturz auf, spricht von der verfaulten Republik, entwickelt eine Fundamentalkritik der Institutionen und Gesetze, die nur Augenblicksgeltung besäßen und allenfalls im Sinne eines übergeordneten nationalen Interesses („interêt national supérieur“) zu beachten seien. Der gute Staatsbürger („bon citoyen“), so das Paradox, befolgt die Gesetze nicht, und der Revolutionär hat den Staat der Dritten Republik zu betrachten wie seinen Feind: „Ce qui est au pouvoir, c’est l’ennemi.“ Dem politischen Radikalismus verschwistert sind auch ein gewisser Jugendkult und diskursive Schwankungen. Anlässlich der Wahl von 80 kommunistischen Deputierten bei den Parlamentswahlen im Jahr 1936 gibt Combat bereits den Nachruf auf den Kommunismus („Oraison funèbre du Communisme“), der wegen seiner Angepasstheit an die Republik für die Jugend keine Alternative mehr darstelle. In „Désobeissance aux lois“ dagegen findet sich neben der extremen Radikalität auch ein Plädoyer zur Vorsicht, grenzt sich Maulnier von der Romantik der Gewalt und einer Politik der Katastrophe ab und plädiert für eine harmonische und kohärente Gesellschaft edler Gesinnung („société harmonieuse, cohérente et noble“). Daneben wird wiederum polemisch unterstellt, Frankreich sei eine besetzte, kolo18 Jahrgang 1906, persönlicher Sekretär von Charles Maurras mit guten Beziehungen zum katholischen Lager um Jacques Maritain und Georges Bernanos. Er verlässt 1930 die AF. 19 Combat, November 1937.

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nisierte, fremden Gesetzen unterworfene Nation („nation envahie, une nation colonisée, une nation soumise à des lois étrangères“), wogegen also jede Art von Widerstand angebracht sei. Dann wiederum erscheint tiefe Skepsis in einer gänzlich utopischen Wendung, welche die revolutionären Erneuerer als Bürger einer abwesenden Polis sieht, deren Vaterland erst in der Zukunft liege („citoyens d’une cité absente. Notre patrie est dans l’avenir.“) usw. Ganz im groben Ton verfährt Maulnier in „Il faut refaire un nationalisme en dépit de la nation“20: Hier wettert er gegen die Zusammensetzung der Nationalmannschaft der Leichtathletik, in der lauter Ausländer und Neger für Frankreich anträten, er beschimpft die Internationalen Brigaden in Spanien als kriminelle Banden, wütet gegen die blutige Anarchie von Valencia, polemisiert gegen die außenpolitische Kooperation mit der UdSSR und der Tschechoslowakei und spricht vom lächerlichen und hässlichen Gesicht („visage ridicule et hideux“) Frankreichs. Zugleich sieht er sich gehalten, dem Regime, das es abzuschaffen gelte, zu konzedieren, dass es die Mehrheit („majorité des francais“) hinter sich habe, es einen hohen politischen Konsens („consentement“) gebe, die Franzosen ihres Regimes also würdig seien. In diesem Sinne seien die revolutionären Rechten Nationalisten gleichsam gegen die Nation („en dépit de la nation“). Sie müssten deswegen im vollen Wortsinn revolutionär sein, um Nationalisten sein zu können: ein Plädoyer für den Staatsstreich. 2. Revolutionstheorie In „Réalités et Représentations révolutionnaires“21 will Maulnier den Marxismus korrigieren. Hier herrscht ein analytischer Ton vor. Marx behaupte, eine revolutionäre Situation entstehe aus dem Klassenkampf um materielle Güter, heißt es zunächst fälschlich. In Wirklichkeit entstehe eine revolutionäre Situation aus dem Widerspruch zwischen formaler und wirklicher Gesellschaft („une situation révolutionnaire résulte d’un conflit entre la société formelle et la société réelle“22). An dieser Stelle stützt sich Maulnier tatsächlich auf Marx, dessen Auffassung vom Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen er semantisch reformuliert; die Rede ist auch von einem Widerspruch zwischen Institutionen und Tatsachen („institutions et faits“).23 Wie sich der Widerspruch auflöse, sei nicht 20

Combat, April 1937. Combat, März 1937. 22 Combat, März 1937. 23 Die „société réelle“ konnotiert Maulnier mit dem Begriff der „société vivante“, indiziert damit seine geistige Nähe zur Lebensphilosophie. 21

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vorherbestimmt. Gegen die seiner Ansicht nach geschichtsteleologische Formationstheorie des Marxismus wendet Maulnier ein, dass zwar die Notwendigkeit zur Revolution historisch bestimmt sei, aber nicht die Form, die sie annehme. Dies zielt auf die Interpretation der revolutionären Situation durch eine einzige Klasse und deren Anspruch auf Hegemonie – er nennt eine solche Interpretation eine ideologische Übersetzung („traduction idéologique“). An deren Stelle tritt bei ihm das Konzept der ‚Nationalen Revolution‘: Diese zerstört die für den gegenwärtigen Stand des Kapitalismus unpassend gewordene Form der Republik und setzt an deren Stelle eine korporatistische Ordnung.24 3. Antidemokratie und Antikapitalismus Maulnier wird nicht müde, kritisch den inneren Zusammenhang von Demokratie und Kapitalismus zu unterstreichen. 1789 ist für ihn, ganz im Sinn des älteren Traditionalismus, bereits eine Fehlentwicklung. Allerdings insistiert er nicht auf diesem Punkt, sondern geht von der aktuellen Entwicklung der großen Trusts aus, die sich mit der Form der liberalen Demokratie nicht mehr vertrüge. Beide sind zusammen zu vernichten: „Démocratie et capitalisme ne sont qu’un seul et même mal: on ne les abattra qu’en même temps“25. In einem geschichtlichen Rückblick notiert er, schon 1789 habe der Liberalismus seinen Sieg mit einem Gewerkschaftsverbot begonnen,26 die zweite Republik sei aus der Niederschlagung des Arbeiteraufstands vom Juni 1848 und die Dritte Republik aus der Niederschlagung der Commune geboren. Und in einer nicht ungeschickten Polemik, die den PCF gleichsam links überholt, spitzt er zu: „Première, deuxième ou troisième du nom, la République démocratique ne peut être pour nous que la grande ennemie du peuple, le symbole de son oppression séculaire et des massacres qui l’ont assurée. C’est contre cette sanglante idole, c’est contre la démocratie capitaliste elle-même, et contre tous les partis, qui, vi24 Die Staatstheorie der Richtung von Combat erläutert der Artikel „L’État et l’homme“ von Jean de Fabrègues, Maulniers Mitherausgeber, aus derselben Nummer. Gegen den État Providence der alles geben soll, wie der Sozialismus und die Anhänger der Volksfront es wollen, auf der einen und gegen den Totalitären Staat, der auf die „conscience“ der Menschen Anspruch erhebe, auf der anderen Seite, habe der Staat nur Instrument „au service de la vie nationale“ zu sein. Die angestrebte kommunitäre Revolution diene zum besseren Schutz des Individuums, so schließlich die polemische Pointe gegen den Personalismus Mouniers, für den „révolution personnaliste“ und „révolution communitaire“ in eins fielen. 25 „Le seul combat possible“, Combat, Juni 1936. 26 Die so genannte Loi le Chapelier richtete sich damals gegen die Zünfte.

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vant d’elle, jusqu’aux communistes, s’en font les défenseurs, qu’il faut mener le combat.“

Die demokratische Republik ist für Maulnier die politische Form, welche die Herrschaft des Geldes verschleiert, ihre programmatischen Formeln wie Freiheit, Menschheit, Fortschritt, Brüderlichkeit (Liberté, Humanité, Progrès, Fraternité) dienten nur diesem Zweck.27 Warum die Kommunisten die Demokratie überhaupt stützen, bleibt unvertieft. Zu den Gegnern Maulniers zählen auch die in den Institutionen der Republik wirkenden Konservativen („conservateurs“), deren Losungen von Ordnung, Familie, Vaterland und Tradition ebenfalls intellektuelle Automatismen zur Verdeckung von Partikularinteressen darstellten: Ordnung ist für die Konservativen gleichbedeutend mit Kapitalismus; Tradition steht für Angst vor Veränderungen; Familie bedeutet Diktatur der Alten über die Jungen; Vaterland meint Herrschaft der Financiers und äußert sich in blöder Vergötzung („divinisation imbécile“) der Nationalflagge.28 Der Begriff, den der Konservatismus am meisten fürchte, sei jener der Moral. Jedoch sind im Unterschied zu den Formeln der Demokratie für Maulnier die Losungen der Konservativen erneuerbar und durch die ‚Nationale Revolution‘ neu zu definieren. Die sozialökonomischen Vorstellungen Maulniers, die er in „Libéronsnous du capitalisme“29 entwickelt, folgen den gängigen traditionalistischen Mythisierungen der Produktion bzw. der Arbeit in einer organisierten und überschaubaren Ökonomie. Kapital werde es zwar immer geben,30 jedoch werde seine Macht durch die ‚Nationale Revolution‘ gebrochen. Die antikapitalistische Zauberformel lautet: „[. . .] le capitalisme est un système où le producteur prête contre rémunération son travail au capitaliste: l’économie organisée de demain sera un régime où le capitaliste prêtera contre rémunération son argent aux producteurs.“ Das Geld soll das Recht verlieren, die Produktion zu kontrollieren: „Il faut purger l’hypothèque capitaliste sur la production nationale.“ Wer produziert, soll auch besitzen. Warum der Kapitaleigner Eigentümer von Produktionsmitteln wurde, weiß Maulnier nicht recht zu sagen: „le bailleur de fonds capitaliste, devenu on ne sait trop pourquoi le propriétaire“. Auffällig ist, dass Combat in seinen überbordenden Polemiken gegen die Herrschaft der Hochfinanz und des Geldes dem Antisemitismus nur beschränkt Raum gibt.31 Maulnier selbst hält den Antisemitismus für eine bor27

„La République des Financiers“, Combat, Februar 1936. „Les conservateurs“, Combat, Mai 1936; hinter der Polemik gegen die Flagge steht die Vorliebe für das Lilienbanner. 29 Combat, Dezember 1936. 30 „Le capital et son appropriation privée ne peuvent être supprimés et ne le seront pas.“ 28

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nierte Form der Kapitalismuskritik, die sich mit dem Kampf gegen die großen Banken insgesamt erledige. Gleichwohl endet er seine „Notes sur l’antisemitisme“ mit einer recht zwielichtigen Schlusspassage.32 4. Eine Denkform im Horizont der Mittel- und Zwischenschichten Die ‚Nationale Revolution‘ sucht, wie gesagt, ihre Spezifik in einer Zwischenposition zwischen Liberalismus und Marxismus. Hierzu muss sie beide als Herrschafts- und Unterdrückungsform von wesentlich gleicher Qualität nachweisen. Das Argument verläuft wie folgt:33 Liberalismus und Kommunismus wollen Personen durch Sachen ersetzen, beide sind ihrer Intention nach materialistisch, universalistisch, gegen den Staat, anarchistisch. Absolute Freiheit und Diktatur sind zwei Formen derselben Sache, sie unterscheiden sich nur durch ihre historische Abfolge. Liberalismus und Kommunismus kommen indes nicht umhin, das Politische doch anzuerkennen. Zu dem, der den Staat leugnet, kehrt er als allmächtiger Rächer zurück. Diese Fehlentwicklung von vornherein zu vermeiden, steht im Zentrum der ‚Nationalen Revolution‘: Sie ist, so Maulnier, die einzige wirklich synthetisierende Kraft. Das Argument wird vor allem gegen den Marxismus gewendet, dessen Revolution ebenfalls eine Synthese beanspruche, die indes nur eine Klasse der Gesellschaft, das Proletariat, berücksichtige. Er sei deswegen eine einseitige und falsche Lösung für die Widersprüche der Gegenwart, so Maulnier in einem grundlegenden Artikel vom Januar 1938: „L’état des forces en face de la société libérale.“ Während der Autor in der engeren ökonomischen Analyse wenig originell ist, sucht er hier genauer zu begründen, wer der soziale Träger oder, wenn man so will, Bedürftige der ‚Nationalen Revolution‘ sein soll.34 Zunächst sind dies die Techniker. Was Serge Mallet rund 30 Jahre später als „neue Arbeiterklasse“ („nouvelle classe ouvrière“) definieren wird, der die Hegemonie zukommt, erscheint hier bereits als „classe intermédiaire de 31

So druckt sie z. B. in der Januarnummer 1938 Auszüge aus Drumonts Pamphleten La Fin d’un Monde und La France Juive ab. 32 Während er zuvor erklärt hatte, dem französischen Arbeiter sei es gleich, ob er von M. Citroën oder M. Renault ausgebeutet werde, heißt es: „Le jour où le destin de la France et le travail des Français cessent d’appartenir aux maîtres de l’argent, ils cessent d’être à la merci des banquiers juifs et des trusts juifs. Le problème juif se trouve donc presque intégralement résolu avec la suppression de l’état démocratique et la suppression de la société mercantile.“ (Combat, Juni 1938). 33 Louis Salleron, „La nation, l’homme et la société“, (Combat, Mai 1937). 34 Kurz vorher verfasst Giuseppe Antonio Borgese, Schwiegersohn Thomas Manns und einer von 12 Professoren (unter 1000), die den Eid auf Mussolini verweigert hatten, seine Studie über die Massenbasis des Faschismus (Borgese 1937).

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plus en plus nombreuse de spécialistes et de techniciens“, als eine Zwischenschicht, die Marx so noch nicht habe voraussehen können. Hinzu komme die durch die Bürokratisierung gewachsene Zahl staatlicher Angestellter. Auch sei in der Automobilindustrie eine große Zahl von sekundären, individualisierten Tätigkeiten entstanden, etwa im Zuliefererbereich, die ebenfalls als „nicht proletarisch“ („non prolétaires“) klassifiziert werden könnten. Hinzu komme der noch tief agrarische Charakter Frankreichs mit großer individualisierter Kleinproduktion, sodass insgesamt gesehen die „catégories intermédiaires“ in der französischen Gesellschaft überwögen. Maulnier sieht im Druck der großen Industrie und der Handelskonsortien auf die ganze Gemeinschaft („communauté toute entière“) den rationellen Kern für die Anziehungskraft des Marxismus auf diese Zwischenschichten, er insistiert jedoch auf der qualitativen Differenz („essence différente“) zwischen ihnen und der Arbeiterklasse. Selbst wenn ihr Lebensniveau gleich sei, sei die Lebensweise („mode de vie“) doch grundsätzlich verschieden. Dies rühre vom Eigentum am Produkt und am Boden, von ihrer Stabilität im Raum, d. h. größeren Ortansässigkeit, von der Allgemeinbildung bzw. der technischen Bildung, vom sozialen Prestige bestimmter Funktionen, wie der militärischen etc. All diese Unterschiede bedeuteten zugleich Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, an der Erzeugung von dessen Werten und Lebensweise („style“). Im Gegensatz hierzu sei der Proletarier gleichsam aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Die Mittelschichten hätten sich – Beispiel Italien und Deutschland – aus ihrer Unzufriedenheit heraus dem Faschismus zugewandt, der ihnen Zugewinn an Herrschaft und Prestige versprach. Dieses nicht rein ökonomische Element in den Mittelschichten habe der Marxismus übersehen. Gerade deswegen sind sie Ansprechpartner für die ‚Nationale Revolution‘. Um die Arbeiter ebenfalls für die ‚Nationale Revolution‘ zu gewinnen, müssten sie von ihren traditionellen Interessenvertretungen gelöst werden. In diesem Feld stützt sich Maulnier auf den Syndikalismus von Sorel,35 in dessen Tradition im übrigen auch der italienische Faschismus steht, den Maulnier semantisch neutral zu den „mouvements nationalistes modernes“ rechnet. Der Syndikalismus wird deswegen als organisatorische Kraft gewürdigt, weil hier die Arbeiter einen Ersatz („remplacement“) für ihre gesellschaftliche Ausgrenzung fänden und sich mit den ebenfalls syndikalistisch sich organisierenden Mittelschichten verbünden könnten. Bedingung für dieses Bündnis von Mittelschichten und Proletariat sei die Abwendung der Arbeiter vom reformistischen und revolutionären Syndikalismus, die beide durch ihre politische Ausrichtung den Aufbau einer „nouvelle 35 Dies betont auch Montety (Montety 1994, S. 129), der von einem „rapprochement avec les vieilles thèses syndicalo-révolutionnaires de Georges Sorel“ spricht.

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structure de la société“ bzw. einer „nouvelle forme de communauté“, wie es in der Beschwörung des Innovationscharakters der ‚Nationalen Revolution‘ heißt, verhinderten. Schließliche Voraussetzung für eine neue Gesellschaftsstruktur sei es, den in der Demokratie von einer einzigen Klasse konfiszierten Staatsapparat der Nation wiederzugeben bzw. dem nationalen Staat jene Kontrolle und Mittel („le contrôle et la disposition des moyens les plus efficaces de la puissance sociale“) wieder zu übereignen, die in den westlichen Gesellschaften immer sein gutes Recht waren („ont toujours été son bien“). Damit verbunden ist, so Maulnier, das Ende des Klassenkampfs und die Wiederkehr der „anciens rapports humains“. Diese „ursprünglichen Beziehungen unter den Menschen“ sind nur im korporatistisch geordneten Nationalstaat wieder zu erreichen. Dies ist gleichsam biologisches Gesetz: „Affirmer qu’une révolution ne peut être que nationale [. . .] c’est [. . .] reconnaître ce fait biologique fondamental: toute vie organisée, qu’elle soit animale ou sociale [. . .] ne peut s’enrichir, s’accroître, s’élever à un stade supérieur de développement que par le consentement et la participation de toutes ses forces et de toutes ses fonctions essentielles; [. . .] Aucune vie ne progresse par dissociation.“36

Der hier zutage tretende Biologismus muss eine grundsätzliche strategische Schwäche des Konzepts der sogenannten ‚Nationalen Revolution‘, speziell im französischen Kontext, verdecken. Sollte die Nation bisher wirksame semantische und affektive Referenz sein, um die Mittelschichten und die Arbeiterklasse von ihren Sonderinteressen absehen zu lassen, lag hierfür ein ganzes Inventar von, auch schulisch befestigten, Lieux de mémoires und Topoi bereit,37 an denen Frankreich seit 1789 besonders reich ist. Gerade hiervon abstrahiert jedoch die junge nationale revolutionaristische Rechte in ihrer Gegnerschaft zur bürgerlichen Republik, ohne das Ancien Régime und seine Emblematik als Alternative offensiv anbieten zu wollen bzw. zu können.38 Die ‚Nationale Revolution‘ soll die Nation gleichsam noch einmal begründen, indem sie den Gründungsakt von 1789 ungeschehen macht39 und den korporatistischen Staat, der eigentlich in die Vergangenheit weist, als Erneuerung und lebendiges Entwicklungsmodell offeriert. An dieser Stelle hat die organologische Metaphorik ihren Platz, sie hat auch den Vorteil, weiteren Analysebedarf abzuweisen. Größeren Erfolg die36 „Pour un examen de conscience du nationalisme“ (Combat, Februar 1938); in derselben Nummer werden auch die wissenschaftlichen bzw. propagandistischen Neuerscheinungen zum Korporatismus besprochen. 37 Sturm auf die Bastille, Panthéon, Marianne, Marseillaise etc. 38 Was die Action Française selbst im Rekurs auf die Monarchie aktiv betreibt. 39 Italien und Deutschlands nationaler Gründungsakt war hingegen zweideutig bzw. von oben verordnet, weswegen der Faschismus und der Nationalsozialismus sich gleichsam als nachholende Revolutionäre präsentieren können.

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ses Modells bei den Adressaten verhindern zuviel unausgesprochene Paradoxien, zuwenig Appell an die Gier und das Unbewusste wie im deutschen Muster,40 zuallererst jedoch eine solide und relativ fest verankerte bürgerlich-demokratische, laizistische Tradition. 5. Anti-Kommunismus und Anti-Faschismus41 Das Konzept der ‚Nationalen Revolution‘ befindet sich in unterschiedlich gestaffelten Widerspruchslagen zu nahen Verwandten und letztlich entfernten Konkurrenten. Zunächst steht es von seinen Grundannahmen her dem Faschismus deutlich näher als dem Kommunismus, es präsentiert sich auch wie der Faschismus als Dritter Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Die Abgrenzung zum Kommunismus ist notwendig, weil dieser ebenso ein widerspruchslösendes Gesellschaftsmodell propagiert, jedoch zugleich theoretisch international und universal agiert. Die Notwendigkeit der Abgrenzung zum Faschismus wiederum ergibt sich aus der Losung der ‚Nationalen Revolution‘ selbst, die per definitionem die einfache Übertragbarkeit des Modells eines anderen Landes auf die französischen Verhältnisse bestreiten muss. Die gelegentlich geäußerte Äquidistanz zum Marxismus, der den Menschen auf Ökonomie reduziere und zum Faschismus, der den Menschen auf das nationale Ziel fixiere,42 bezieht sich nicht auf die politische Ebene, sondern auf weltanschaulichen Reduktionismus. Im Grundsätzlichen wirbt Combat jedoch für die faschistische Lösung, so in einer ganzen Artikelserie zu Italien,43 in der vor allem die sozialpolitischen Elemente und die korporative Einbindung von Unternehmen und Arbeitern gewürdigt werden. Von den Banken und der Großindustrie ist in diesen Artikeln nicht die Rede. Maulnier gehört zu jenen, die sich mit Stellungnahmen zu Italien und Deutschland zunächst weitgehend zurückhalten. In deutlichere Distanz zum italienischen Faschismus geht er 1938, als dieser kampagnenartig aktive Bevölkerungspolitik betreibt („faire de la fécondité un devoir national“), und im selben Jahr auch zum deutschen Nationalsozialismus, als dieser die ersten Pogrome initiiert.44 In seiner Kritik schließt Maulnier an La crise est dans l’homme von 1932 an, in der er, damals noch deutlicher, den 40

Vgl. zuletzt Aly 2005. Die Bindestriche sollen den von Maulnier beabsichtigten neutralen Ton in der gegnerischen Haltung indizieren, der Andersheit aber keine Feindschaft meint. 42 „Reconquérir notre univers“ (Combat, Juni 1936). 43 André Monconduit, „Qu’est-ce que le fascisme“, Juni 1937; November 1937: „L’organisation corporative italienne“; Januar 1939: „Syndicats et corporations fascistes“. 44 „Notes sur le ‚Fascisme‘“, Dezember 1938. 41

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„Totalitarismus“ gleich welcher Prägung als Theorie ohne Subjekt verworfen hatte. Handelt es sich also gegenüber den bisherigen nationalen Varianten des Faschismus um ein Verhältnis von Nähe und Eigenständigkeit, deren letztere man bei Maulnier, in einer stärkeren Berücksichtigung des Individuums innerhalb der korporativen Anordnung ausmachen kann, so geht es beim Anti-Kommunismus bzw. in der Auseinandersetzung mit dem Marxismus um eine Situation der sich ausschließenden Konkurrenz, jedenfalls um die Hegemonie unter den antikapitalistischen Schichten. Die ‚Nationale Revolution‘ will, wie der Marxismus, die Macht in Frankreich erobern. Dementsprechend unmissverständlich ist die Art der Auseinandersetzung. Dies beginnt mit den unterschiedlichen Maßstäben bei der Bewertung der respektiven gesellschaftlichen Bezugsysteme. Im Gegensatz zur relativ vorsichtigen Kritik an der Form der Herrschaftsausübung der existierenden Faschismen ist die Kritik an der UdSSR scharf und nachhaltig (feudaler Bürokratismus, Zerstörung der Bauernschaft („dékoulakisation“), Hungersnot). Dies setzt sich in der Innenpolitik fort, wo der Marxismus als destruktive Kraft und Feind der Republik gelobt, als gestaltende Kraft jedoch scharf denunziert wird. Als der PCF sich auf Frankreich als nationalen Handlungsrahmen einlässt, kritisiert Jean de Fabrègues dies als jakobinischen Neopatriotismus, der auf die Okkupation Frankreichs als Vaterland der Proletarier ziele.45 Als der PCF die Strategie der Volksfront einschlägt, erzwingt Combat das Erscheinen der Zeitschrift am 1. Mai gegen den Willen der Arbeiter, und Maulnier weist spitz darauf hin, der erstmalig erkämpfte Urlaub und die erreichten Lohnerhöhungen seien nur minimale Erfolge angesichts der Möglichkeiten, die der Stand der Technik und der Produktivität tatsächlich erlaubte.46 Die spezifische Eigenqualität der französischen ‚Nationalen Revolution‘ kann in Ermangelung praktischer Nachweise letztlich nur über das Weltbild legitimiert werden. In einer Sondernummer vom Sommer 1936 findet sich ein diesbezüglicher Artikel Maulniers mit dem ehrgeizigen Titel „Un humanisme social“. Grundthema ist die Idealadaptation von innerer und äußerer Welt („monde intérieur“, „monde extérieur“). Der Humanismus als Versuch eines Kompromisses zwischen Bewusstsein und Dingwelt („conscience“, „choses“) ist nach Maulnier im Gegensatz zu früher weniger ein Problem der Vermittlung zwischen Mensch und Natur als eines der Beherrschung („maîtrise“) seiner komplex gewordenen sozialen Beziehungen. Er muss also sozialer Humanismus sein. Der Marxismus, der dies ebenfalls beanspruche zu sein, sei jedoch eine verengte Deduktion aus der Ökonomie: 45 46

„Libérer le prolétariat“, Combat, März 1938. „La fin d’un ordre“, Combat, Juli 1936.

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keine eigentliche Synthese, vielmehr eine (sc. kalte) „systématisation“, symmetrisches Gegenstück zum von ihm bekämpften Idealismus. Hierin folge ihm übrigens die Soziologie, speziell Durkheim. Idealismus und Materialismus verfehlten gleichermaßen das Wesentliche: das Leben („la vie“). Diesen Widerspruch aufzulösen, sei Aufgabe eines „nouvel humanisme.“ Was das materielle Substrat dieses neuen Humanismus angeht, so wird, auch in den Texten des Mitherausgebers Jean de Fabrègues, deutlich, dass der lebensphilosophische, zwischen Idealismus und Materialismus changierende Denkansatz seine institutionelle Anbindung über das Politische und den starken Staat sucht.47 So nennt Fabrègues nicht zufällig Hitlers Staatsauffassung im Grunde das Resultat einer akzeptablen Wertehierarchie („bonne hierarchie des valeurs“48); was ihn stört, ist die zu starke Subordination des Individuums, die den Nationalsozialismus letztlich doch zu einer Kaserne des Geistes mache anstatt zu einer Schule bzw. einem Schutz der Gesellschaft („une caserne de l’esprit, non l’école et la protection d’une société“). Gerade aber um die richtige Bestimmung von Freiheit und Ordnung will es der ‚Nationalen Revolution‘ gehen. Hierzu unternimmt Maulnier zuvörderst eine systematische Demontage des Liberalismus. In „Le mythe libéral contre la Liberté“49, heißt es ganz im Ton Rousseaus: „Ainsi l’homme de notre société est le plus asservi dans le moment même qu’il est le plus libre, et pis encore, c’est au nom de cette liberté même, qu’il croit avoir été conquise par ses pères, qu’on l’asservit.“ Abgewehrt wird folgerichtig die Meinung der Volksfront, bei der bürgerlichen Freiheit handle es sich um eine lügnerische Vorform, die in der sozialistischen Demokratie zur Wirklichkeit werde. Die Freiheit des Liberalismus sei, so Maulnier, vielmehr das Hindernis der Freiheit selbst. Solch extreme Negation erlaubt keine positive Setzung mehr. Der Text verharrt im Blick auf das, was er bestimmen wollte, in einer Semantik der Negation und der Absenz. Weder wird Freiheit definiert noch wird sie mit ihrem anderen Pol, der Ordnung, vermittelt. Der Dritte Weg bleibt schließlich weltanschaulich-politisch ohne überzeugenden Befund.50

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Vgl. Fn. 24. Combat, Januar 1937. 49 Combat, Juli 1938. 50 Kaum präziser ist Fabrègues in dem oben angesprochenen Grundsatzartikel „L’État et l’homme“. 48

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III. In der Falle: Münchener Abkommen und Niederlage gegen Deutschland Die hier kurz besichtigten gesellschaftspolitischen und weltanschaulichen Überzeugungen der ‚Nationalen Revolution‘ im Allgemeinen und jene Maulniers im Besonderen ließen eine grundsätzliche Anschlussfähigkeit dieser Kritik an die bürgerlichen (Eigentums-)Verhältnisse erkennen. Eingenommen war die Perspektive der Zwischenschichten bzw. der Kleinunternehmer und Kleinbauern: sichtbar in der traditionellen Polemik gegen die Herrschaft des Geldes, im Insistieren auf Produktion und Bildung, im Verlangen nach einem schützenden starken Staat, der zugleich die Freiheit des Subjekts ermöglicht. Überwölbt wurde die archaisierende politische Semantik durch jene der Nation. Diese wurde speziell der Arbeiterklasse offeriert, die damit vom Internationalismus abgebracht werden sollte und in einem gemeinsamen Syndikalismus mit den Zwischen- und Mittelschichten aufzugehen hatte, denen in dieser gesellschaftlichen Allianz die Oberhand zukam. Der blinde Fleck in der Konstruktion der „organisierten Gesellschaft“ blieben Oberschichten und Großindustrie. Banken und Demokratie wurden als vernichtet vorausgesetzt. Dieser aus der Konkurrenz zum Kommunismus resultierende und sich im Verhältnis zum Traditionalismus der Action française als modern verstehende Revolutionarismus, der gleichwohl an den Grundgedanken des Korporatismus festhielt, sollte der dritte Weg Frankreichs sein. Er trägt deutlich die Züge einer blockierten Gesellschaft („société bloquée“) wie Michel Winock das Frankreich der Zwischenkriegszeit bezeichnet hat. Wegen der fehlenden Massenbasis stand diese ‚Revolution‘ in der Gefahr des Verlusts der nationalen Spezifik bzw. der Anpassung an die erfolgreicheren Faschismen Italiens und Deutschlands, eine Gefahr, der auch Maulnier, zumindest in den Anfängen, gelegentlich erlag: „Nous nous sentons plus proches d’un national-socialiste allemand que d’un pacifiste français.“51 Maulnier beharrte jedoch wider den Appell an die Instinkte und die gängige Münze des Irrationalismus, die vor allem dem deutschen Beispiel zu eigen war, auf Vernunft- und Realitätsbindung in der Argumentation. Die Grenzen seines Denkens liegen speziell in der ökonomischen Analyse, auch ist ihm die parteiliche Überformung eines Gedankengangs gelegentlich nicht fremd. Seine ideologiekritischen Fähigkeiten sind jedoch beachtlich, und die Soziologie der Mittelschichten wie die Analyse der Lage der Arbeiterklasse haben einen sachlichen und kulturanalytischen Eigenwert, der sich 51 Im Vorwort zur französischen Ausgabe von Bruck 1923, zit. nach Montety 1994, S. 90.

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nicht in den mit ihnen auch verbundenen strategischen Absichten ihres Verfassers erschöpft.52 Mit dem Münchner Abkommen komplizieren sich die Bedingungen für die ‚Nationale Revolution‘. Zwar versucht Maulnier in „Les nouvelles conditions imposées à l’action politique en France“53, dies zu bestreiten („Nos positions n’en ont pas été ébranlées“), jedoch birgt die Dialektik der Auseinandersetzung es in sich, dass die nationale Rechte sich mit der Erstarkung Deutschlands entweder doch auf den so genannten Nationalsozialismus beziehen muss, um die eigene ‚Nationale Revolution‘ voranzutreiben, oder sich dem republikoffiziellen Nationalismus unterwirft, um dem ‚Erbfeind‘ zu trotzen.54 Maulnier verwickelt sich schon früh in einer Argumentation der Lähmung, er sitzt gleichsam theoretisch und praktisch in der Falle. „Il nous est également impossible d’accepter une forme de lutte pour l’intérêt français qui n’est en fin de compte qu’une lutte antifasciste, et une forme de lutte antimarxiste ou antidémocratique qui tend en fin de compte à affaiblir les positions et à mettre en péril la vie de la France.“

Steht er hier noch vor dem Double Bind eines immer falschen Handelns, d. h. entweder die eigene Nation oder den Faschismus zu schwächen, so legt der zweite Teil des Artikels55 den Akzent auf die Blockiertheit jedweder revolutionären Situation: eine kommunistische Revolution zöge eine faschistische Intervention nach sich, eine faschistische Revolution habe keine Mehrheit in Frankreich, eine Revolte im Stile Francos ergäbe ebenfalls eine Intervention aus dem Ausland: „Toutes les solutions paraissent donc également inapplicables“.56 In der nächsten Nummer vom Januar 1939, in der die Redaktion auch eine schwere ökonomische Krise der Zeitschrift eingesteht, verschiebt sich in der dritten und letzten Folge des Artikels die Semantik deutlich von der „Nation“ zum affektiveren „La France“, einer Na52 Von strategischen Absichten zu sprechen, scheint deswegen legitim, weil aus der Anschauung des Italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus ohne große Anstrengung zu erkennen war, dass dort der gerade diese Schichten besonders betreffende Programmpunkt der ‚Nationalen Revolution‘, die Zerschlagung der ‚Macht des Geldes‘, mitnichten eingelöst wurde, worauf Maulnier indes nie mit einer Silbe eingeht. Eine ausnahmsweise kritische Sicht auf Theorie und Praxis des Korporatismus gibt der Aufsatz von J.-M. Thomas, „La Corporation en pratique“ (Combat, Dezember 1938), der darauf hinweist, dass die Kovivenz von Großindustrie und Korporatismus zugunsten erster ausfiele. 53 Combat, November 1938, Teil 1. 54 In eine ähnliche Zwangslage geraten die Kommunisten mit dem Abkommen zwischen der UdSSR und Hitlerdeutschland. 55 Er erscheint gleichsam rechtfertigend als erster Artikel in dem eingangs zitierten Band Maulnier 1942. 56 Combat, Dezember 1938.

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tionalidee, die Maulnier nun von abstrakter Leere wie von ideologischen Füllungen gleichermaßen freigehalten wissen will: „Je ne crois pas à la politique idéologique; je ne crois pas qu’il faille donner à la France un contenu idéologique fasciste ou antifasciste. Mais il faut se garder de donner à l’idée nationale la valeur purement verbale, mystique ou abstraite qu’elle a prise pour trop de ‚patriotes‘.“

Die Situation wird noch komplizierter nach der Niederlage gegen Deutschland. Während ein Brasillach oder ein Drieu la Rochelle den Weg der offenen Kollaboration gehen, wird Maulnier zunächst mehr oder minder im Schatten des Vichy-Régimes bleiben, dessen Losung Arbeit, Familie, Vaterland („Travail, Famille, Patrie“) den Anschein der ‚Nationalen Revolution‘ à la française erweckt, das aber selbstverständlich nur mit deutscher Duldung existiert. Maulnier stellt das Régime Pétains in eine Traditionslinie mit dem Marsch auf Rom und der nationalsozialistischen Machtübernahme, betont aber auch die unterschiedliche Ausgangssituation für Frankreich: „La Révolution Nationale française a commencé dans des circonstances plus difficiles qu’aucune autre révolution dans l’histoire. L’ Italie de 1922 était une Italie libre et victorieuse. L’Allemagne de 1933 était déjà séparée de sa défaite par quinze années, elle était sortie des extrémités de la disette et de l’anarchie où elle avait paru sombrer un moment: elle se relevait déjà. La Révolution Nationale française a commencé à un moment où la France se trouvait non seulement aux prises avec le problème même de son existence, posé par la destruction de la guerre et de l’invasion, la disparition de l’État et des cadres de la société, la paralysie économique et l’occupation étrangère, mais aussi avec les angoissses d’un monde qui se déchire et semble courir à sa propre destruction.“57

Angesichts der Besetzung halb Frankreichs durch den ‚nationalrevolutionären‘ Konkurrenten unterbleibt hier jeder Triumphalismus.58 In dem Augenblick, da Maulnier die Herkunftslinien seines Denkens evidenziert und die europäischen Etappen der ‚Nationalen Revolution‘ rekapituliert, beginnt er aber auch schon, vorsichtig, sich umzuorientieren. Dies kann ein abschließender knapper Blick auf den eingangs erwähnten Sammelband zeigen, aus dem das obige Zitat stammt. Er reproduziert neben einigen Texten aus der Spätzeit von Combat in seinem umfangreicheren Teil Artikelserien aus den im nicht besetzten Gebiet erscheinenden Zeitungen bzw. Zeitschriften Action française und Revue universelle vom Jahr 1941. Diese Artikel sind in einer Situation geschrieben, in der sich noch nicht abzeichnet, wie sich der Kriegsverlauf entwickeln wird. Der Verfasser rechnet gleichsam mit der Option unterschiedlicher Sieger und versucht, Frankreich in die Rolle der vermittelnden Mittelmacht zwischen den großen Demokratien und 57

Maulnier 1942, S. 107. Von Kolonisierung wie zuvor in der Situation der Dritten Republik ist schon gar nicht die Rede. 58

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den Achsenmächten zu bringen. Seine hierbei entwickelten Analysen und Positionen sind, dies sei hier nur angedeutet, ein früher französischer Beleg für den Theorieansatz vom Sonderweg der verspäteten Nationen59 und sie begreifen den Krieg als Ausdruck einer den Antagonisten gemeinsamen gesellschaftlichen Krise.60 Was hier nicht unklug gesehen wird, bleibt jedoch dem nationalen Ziel unterworfen. Maulniers Hypothesen und Lösungsvorschläge zielen in letzter Instanz immer auf das Projekt der Stärkung Frankreichs.61 Dessen alle Gegensätze vereinende Größe, die zugleich alle Qualitäten der aktuellen Konfliktparteien in sich vereint, kann indes nur aus der Vergangenheit beschworen werden: „Continentale et maritime, agricole et urbaine, européenne et impériale, nationaliste et humaniste, traditionelle et révolutionnaire, unitaire et régionaliste, particulariste et cosmopolite, pacifique et guerrière, la France concentre en elle toutes les contradictions de l’univers et a fait sa civilisation et sa vie, passablement heureuses et glorieuses au cours des siècles, de ces mêmes contradictions.“62

Von ‚Nationaler Revolution‘ ist jetzt nicht mehr die Rede. Das Zitat deutet den Tenor der letzten Studien des Bandes an: sie sind eher durchschnittliche Dokumente in der langen Dauer des französischen Nationalbewusstseins bzw. Nationalismus älterer Prägung, an die der zuvor jugendbewegte ‚Revolutionär‘ Maulnier langsam anzuschließen beginnt.63 Der Normalien, dessen rhetorischer Revolutionarismus mit dem mitleidenden Engagement der Co-Elevin Simone Weil nur wenig zu tun hatte, einiges jedoch mit den Irrtümern des Mitschülers und Kollaborateurs Brasillach, steht am Anfang eines Anpassungsprozesses an dessen Ende er zu den konservativen Meinungsführern der Vierten Republik zählen wird.

59 Maulnier 1942, S. 113: „[. . .] le mouvement nationaliste européen ne pouvait coincider que pendant un temps avec l’évolution démocratique et capitaliste de la société.- Par un singulier paradoxe qui n’est que le masque de la logique profonde de l’histoire, c’est dans les deux pays où il avait triomphé grâce à l’alliance de la démocratie libérale et du libéralisme capitaliste, c’est dans l’Allemagne et dans l’Italie, nés du principe des nationalités, que le nationalisme s’est retourné d’abord avec la plus violence contre le libéralisme économique et politique.“ 60 „crise générale de la civilisation“, Maulnier 1942, S. 125; die UdSSR als Kriegspartei ist noch außer Betracht. 61 „La France a toujours eu tendance à résoudre ses propres problèmes de civilisation en termes assez universels pour en faire profiter le reste de l’humanité policée.“, Maulnier 1942, S. 125 f. 62 Ebd., S. 159. 63 In Au-delà du nationalisme von 1938 sieht Maulnier in der Ideologie des modernen Nationalismus („attirail du nationalisme moderne“) und ihren Schlagworten von Tat, Rasse, Blut, Führer, Mission des Volkes etc. Substitute einer versagenden Vernunft, um die gegenwärtige Welt wieder beherrschbar zu machen.

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II. Utopie

Leben ohne Utopie?* Iring Fetscher Der Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ wird von einigen zeitgenössischen Beobachtern als „Ende der Utopie“ begrüßt. Francis Fukuyama in Washington spricht sogar vom „Ende der Geschichte“, das durch den definitiven Sieg der Marktwirtschaft und der Demokratie besiegelt sei. Beide Thesen gehen davon aus, dass eine qualitative und prinzipielle Änderung der heutigen sozialen Strukturen weder notwendig noch wünschenswert sei. Kritisch formuliert unter anderen Bundespräsident Richard von Weizsäcker eine Gegenposition, wenn er sagt: „Bei uns herrscht ein hohes Maß an übervernetzter Verrechtlichung der Verhältnisse und an Immobilität. Es scheint, als ob unsere Gesellschaft im Westen nichts mehr fürchtet als eine Veränderung des bestehenden materiellen Zustandes. Das ist die ‚Utopie des Status quo‘. Wir haben gerade erlebt, daß Utopien sich als Illusionen erwiesen haben. Aber am Status quo einfach immobil festzuhalten ist weder möglich noch verheißungsvoll [. . .]“.1 In dieser Äußerung kommt Utopie in zwei unterschiedlichen Bedeutungen zum Wort. Wenn von einer „Utopie des Status quo“ gesprochen wird, dann ist damit die Unmöglichkeit einer Orientierung gemeint, die auf Veränderungen in der Umwelt und in den Wünschen der Bevölkerung nicht durch Wandel der Prioritäten usw. zu reagieren bereit ist. Utopie heißt hier nur so viel wie Unmöglichkeit. Wenn aber von den Utopien gesprochen wird, die sich als „Illusionen erwiesen haben“, dann sind umgekehrt ideale Zielsetzungen gemeint, von denen sich herausgestellt hat, dass sie am Widerstand der Menschen und der Verhältnisse gescheitert sind. In diesem Fall ist Utopie zu* Dieser Aufsatz ging aus einem Vortrag von Iring Fetscher, gehalten anläßlich der Festveranstaltung des 80. Geburtstages von Werner Rietz am 26. September 1992 in Vlotho, hervor. 1 Weizsäcker 1992, S. 166. Vgl. auch S. 172: „Es wäre [. . .] ein kümmerlicher Realismus, der die Augen vor der nüchternen Einsicht verschlösse, daß wir Menschen immer wieder neue unerträgliche Zustände auf der Welt hervorbringen. Diese Verhältnisse rufen neue Gegenkräfte und zum Glück auch neue Hoffnungen auf den Plan. Der Realist sollte sie nicht als Utopien abtun. Er sollte dankbar dafür sein, daß sie immer wieder zu notwendigen Korrekturen zwingen. Warum sollte der Realist im Utopisten zwar nicht seinen Konkurrenten, wohl aber seinen wahren Helfer erkennen?“

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nächst einmal ein Zukunftsentwurf gewesen, der gerade nicht im Festhalten am Status quo bestand. Streng genommen hätte der Bundespräsident nicht von einer „Utopie des Status quo“, sondern von der Unmöglichkeit sprechen müssen, den Status quo unbegrenzt in die Zukunft zu verlängern und an ihm – gegen alle Argumente und Erforderlichkeiten – festzuhalten. Ich möchte im Folgenden zunächst etwas genauer zu klären versuchen, in welchem Sinn man von gescheiterten Utopien sprechen kann. Was in der ehemaligen Sowjetunion und in der DDR existierte, war – so meine These – gewiss keine Utopie, es waren auch nicht Versuche der Verwirklichung von Utopie – jedenfalls seit langem nicht mehr. Diese totalitären Systeme zeichneten sich durch den Anspruch kleiner Führungseliten aus, im Besitz einer „wissenschaftlichen Einsicht“ in den notwendigen Gang der Sozialgeschichte zu sein. Aufgrund dieser Einsicht erhoben diese Eliten für sich einen durch nichts in Frage zu stellenden Führungsanspruch, der sie davon dispensierte, die Bevölkerung nach ihren konkreten und realen Bedürfnissen zu fragen. Ihre – die Aufgabe der Führung – bestand vielmehr darin, die Bevölkerung zuallererst von der Richtigkeit der „wissenschaftlichen Einsicht“ und des wissenschaftlichen Weges zur Verwirklichung des erkannten Zieles: „Sozialismus und Kommunismus“ zu überzeugen. Erziehung und Führung sollten einander ergänzen. Erst nach erfolgreicher Erziehung – so die Leninsche These – kann die diktatorische Führung durch die „Avantgarde-Partei“ durch direkte Demokratie abgelöst werden und schließlich Herrschaft sogar ganz verschwinden. Selbst diese ideologische Rechtfertigung der Herrschaft der Elitepartei und in der Partei noch einmal der Parteielite, wurde aber in der Praxis nicht mehr durch das hohe Ziel des Sozialismus gerechtfertigt, sondern durch eine Art diktatorischen Wohlfahrtsstaat, der von der Wiege bis zur Bahre das Leben aller Menschen total reglementierte, aber damit freilich auch gegen Schicksalsschläge „absicherte“. In der DDR hieß diese Orientierung „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“. Sie hatte eine Stillstellung der politischen Aktivität von unten zur Folge und wurde durch einen extrem umfangreichen Kontrollapparat gesichert, der jede Abweichung, jeden Ansatz zu spontaner politischer Aktivität – sogar dann, wenn diese auf „sozialistische“ Ziele gerichtet war – unterdrückte. Es war daher auch kein Wunder, dass die Führung der SED schon wenige Jahre nach der Übersiedlung von Ernst Bloch aus den USA in die DDR zu der Erkenntnis kam, dass Blochs „Utopie“, seine „Hoffnungsphilosophie“ mit der Staats- und Partei-Doktrin des Landes im Grunde unvereinbar war. Bloch hielt nämlich – im Gegensatz zum „wissenschaftlichen Sozialismus“ der Leninisten – an der konkreten Beschreibung des Entwurfs einer idealen zukünftigen Gesellschaft fest, eines Reiches, wie er es auch

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nannte, in dem – nach Marx – „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ und in dem nicht nur materielle Not, sondern auch Unterdrückung und Erniedrigung der Menschen aufgehoben sind. Bloch war sich selbst – bis zu seiner Ausbürgerung im Jahr 1961 – offenbar nicht im Klaren darüber, wie sehr seine philosophischen Auffassungen der Parteiführung ein Ärgernis sein mussten. Zwar hatte er einmal formuliert, vielleicht sei die – von Engels so formulierte – Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft zu weit gegangen, so dass auch noch der letzte Rest von Utopie dabei verloren wurde, aber zugleich ging er noch immer davon aus, dass in der Sowjetunion ein wesentlicher Schritt in Richtung auf die Verwirklichung alter Menschheitsträume getan worden sei und die DDR ihr folge. Sein erstaunlicher Satz „ubi Lenin ibi Jerusalem“ verdeutlicht, wie sehr Bloch die Sowjetunion mit dem neuen, nicht mehr nur himmlischen, sondern irdischen Jerusalem identifiziert hatte. Indem aber Bloch konkret von der idealen, sozialistischen Gesellschaft sprach, in der die Menschen den aufrechten Gang und die Freiheit von Unterdrückung, Bevormundung und Not erfahren würden, musste er – unvermeidlicherweise – bei seinen Schülern einen Vergleich mit den aktuellen Verhältnissen in der DDR provozieren, einen Vergleich, der nur zu einer radikalen Verurteilung der Verhältnisse führen konnte, sowie zum Willen, sie in Richtung auf einen menschlichen, freiheitlichen, der Würde der Menschen angemessenen Sozialismus zu transzendieren. Spätestens 1956 zeigte sich, dass die Hoffnungsphilosophie von Bloch mit der Rechtfertigung des politischen Status quo in der DDR unvereinbar war.2 Auch wenn die Parteiführung zögerte, den weltweit angesehenen Denker zu verfolgen, drängte sie ihn schließlich aus dem Amt und schränkte seine Publikationsmöglichkeiten weitgehend ein. Das „Prinzip Hoffnung“ war nur soweit für die SED-Führung akzeptabel, wie es sich mit den Direktiven der Parteiführung deckte. Den Apologeten der Verhältnisse fiel es aber gar nicht schwer, nachzuweisen, dass diese Philosophie der „docta spes“, der gelehrten oder richtiger wohl der aufgeklärten Hoffnung mit dem „wissenschaftlichen Sozialismus“ unvereinbar war. Jede konkrete Beschreibung der sozialistischen Zukunftsgesellschaft stellte nämlich eine Gefahr für die These dar, dass die Parteiführung sich im Besitz der wissenschaftlichen Einsicht in den notwendigen Gang der Geschichte befinde und dass sie bereits wesentliche Etappenziele erreicht habe. Nicht das Ideal künftiger Verhältnisse, sondern 2 Vgl. z. B. Bloch-Konferenz 1957 und Schulz-Horn, Gustav Handel-RochhausenWahl Kritik an E. Blochs Schrift „Differenzierungen im Begriff Fortschritt“ in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 5. Jg. (1957), S. 82–90.

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eine dogmatische Geschichtstheorie war die ideologische Basis der Parteiherrschaft. Erst nach seiner erzwungenen Übersiedlung in den Westen gelangte freilich Ernst Bloch zu der Einsicht, dass – wie er sich ausdrückte – bei der DDR-Gesellschaft „kein Segen“ sei. Segen, das hätte nämlich bedeuten müssen, dass die Menschen die Umgestaltung ihrer Verhältnisse als Befreiung zu kreativer Tätigkeit und als Beglückung empfinden können. Davon war aber – wie Bloch einsehen musste – keine Rede. Die dogmatische Führung wurde ertragen und passiv hingenommen, aber von einem Aufblühen kreativer Aktivitäten war nichts zu spüren. Das aber hätte die Folge der Einführung sozialistischer Strukturen sein müssen. Auch wenn weder in der ehemaligen DDR noch in der Sowjetunion der letzten 60 Jahre von einem Versuch zur Verwirklichung „utopischer Ziele“ die Rede sein konnte, lag doch zumindest in dem Enthusiasmus der frühen Jahre und in der Begeisterung, die von der Oktoberrevolution in weiten Teilen der Welt ausgelöst wurde, so etwas wie utopische Hoffnung. Das Ziel, von dem noch öfter im Anschluss an Marx, Engels und die Frühsozialisten gesprochen wurde, war ja in der Tat faszinierend und großartig. Wer wollte sich nicht für die Abschaffung von Unterdrückung und Ausbeutung, Bevormundung und reaktionärer Indoktrination begeistern? Sehr bald stellte es sich heraus, dass die Mittel, mit denen dieses hohe Ziel erreicht werden sollte, völlig ungeeignet waren, es zu verwirklichen. Rosa Luxemburg war nicht die einzige, die das schon 1906 in ihrer Kritik an Lenins Parteitheorie erkannt hatte. Spätestens nach der Oktoberrevolution wurde den demokratischen Sozialisten im Westen klar, dass Lenin einen völlig anderen Weg ging als sie und dass es daher auch keine Gemeinsamkeit mit dieser Partei mehr geben konnte, die sich seit 1918 als „kommunistisch“ bezeichnete und ihren alten Namen „Sozialistische Arbeiter Partei Russlands (Bolschewiki)“ abgelegt hatte. Die Unvereinbarkeit von autoritärer Minderheitsdiktatur, die Lenin mit dem missbrauchten Marxschen Begriff als „Diktatur des Proletariats“ bezeichnete, mit dem Ziel der Herstellung einer freien Gesellschaft gleichberechtigter Menschen, war zu evident, um übersehen zu werden. Wenn dennoch viele Intellektuelle sich den kommunistischen Parteien anschlossen, so vor allem darum, weil sie annahmen, dass für eine begrenzte Übergangszeit Minderheitsführung und revolutionäre Gewalt gerechtfertigt werden könnten. Joachim Fest hat in seinem Buch über „das Ende des utopischen Zeitalters“ auch die Nazi-Ideologie als eine Variante utopischen Denkens bezeichnet. Diese Einordnung kann man nur unter großen Vorbehalten akzep-

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tieren. Gemeinsam mit utopischen Zukunftsentwürfen hat diese Ideologie lediglich die Tatsache, dass sie der Gesellschaft – hier der deutschen – ein Ziel setzt, für dessen Erreichung alle Kräfte eingesetzt werden sollen. Dieses Ziel ist jedoch – im krassen Gegensatz zu den meisten Utopien – nicht auf die Errichtung humaner, die Menschen beglückender Verhältnisse gerichtet, sondern auf die Ausbeutung, Unterdrückung und sogar Ausrottung „fremder Völker und Rassen“, die angeblich gegenüber den deutschen und nordischen Menschen als „minderwertig“ anzusehen sind. Dieses Ziel – so zeigte sich – war beinahe realisierbar, weil es die barbarischsten unbewussten Triebe von Menschen mobilisiert und in seinen Dienst stellt. Als sich jedoch am Ende des Zweiten Weltkriegs zeigte, dass eine Niederlage unabwendbar war, verfluchte Hitler das „deutsche Volk“, weil es sich offenbar als unfähig erwiesen hatte, das ihm gesetzte „hohe Ziel“ zu erreichen. Wie unfreiheitlich und irrig auch immer manche der älteren Utopien – etwa die Campanellas – waren, sie hatten doch immer einen für alle Menschen als ideal angesehenen Zustand zum Ziel. Die Nazi-Ideologie war dagegen von vornherein partikularistisch, nationalistisch, rassistisch und inhuman. Ihr Scheitern konnte aus diesem Grunde auch weltweit nur Erleichterung zur Folge haben. Während der Weg von der Emanzipationstheorie des frühen Marx über Lenin zu Stalin und dem stalinistischen Totalitarismus keineswegs gradlinig war, sondern zu einer völligen Aufgabe des ursprünglichen humanen und freiheitlichen Zieles führte, war der Weg von Hitlers „Mein Kampf“ zum Zweiten Weltkrieg und den Vernichtungslagern folgerichtig und konsequent. Die brutale Unmenschlichkeit dieses Regimes war von vorn herein gewollt – sie war keine Tragik, sondern „Wunscherfüllung“. Diesen Unterschied hat Joachim Fest als ein „schrecklicher Vereinfacher“ leider unterschlagen. Karl Mannheim, dessen Buch „Ideologie und Utopie“ 1929 zum ersten Mal veröffentlicht wurde, hat zwischen relativen und absoluten Utopien unterschieden.3 Unter relativen Utopien verstand er ideale Zukunftsentwürfe, die realisierbar sind – oder sich historisch als realisierbar erwiesen haben. Darunter könnte man z. B. die ursprünglich „utopische“ Hoffnung auf Herstellung völliger Rechtsgleichheit aller Menschen eines Staates zählen oder auch die Idee einer demokratischen Gesellschaft. Als „absolut utopisch“ galten ihm solche Zukunftsentwürfe, die schlechthin unrealistisch sind. Als Beispiel nennt er Gustav Landauers anarchischen Sozialismus. Absolut utopisch wäre aber auch eine unbegrenzte Beibehaltung des Status quo. Ob eine sozialistische Gesellschaft, „in der die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“, relativ oder absolut utopisch ist, muss sich wohl erst noch zeigen. Aus dem 3

Vgl. Mannheim 1952.

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Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ in der Sowjetunion und anderen Staaten lässt sich zunächst nur mit Sicherheit sagen, dass unter den historischen Bedingungen, die 1917 in Russland, 1945 in Polen, CSSR, Ost-Deutschland usw. herrschten und mit den angewandten Mitteln, dieses Ziel jedenfalls bestimmt nicht verwirklicht werden konnte. Wer aber heute vom Ende des „Utopischen Zeitalters“ spricht, möchte damit nicht nur das Scheitern der genannten Gesellschaften konstatieren, sondern darüber hinaus jeden Versuch, über den Status quo der westlichen industrie-kapitalistischen und demokratischen Gesellschaften hinauszugehen, tabuisieren. Eine derartige Fixierung des Status quo ist aber mit der Sicherung der Überlebensbedingungen humaner Gesellschaften schlechterdings unvereinbar. Eine ganz wesentliche Ursache für das Scheitern der „real existierenden sozialistischen Gesellschaften“ war ja gerade deren Unfähigkeit, sich veränderten wissenschaftlich-kulturellen Rahmenbedingungen und menschlichen Bedürfnissen anzupassen. Ein amerikanischer Physiker und Biophysiker John R. Plat hat schon vor vielen Jahren die These aufgestellt: „The world has become too dangerous for anything less than Utopia“4. „Die Welt ist zu gefahrenbedroht, um sich mit irgendetwas außer Utopia abzufinden“. Damit war seinerzeit sowohl die Bedrohung durch einen weltweiten Atomkrieg als auch die Selbstzerstörung der Industriezivilisation durch Ressourcenverbrauch, Umweltvergiftung, Artenausrottung, Klimaveränderung usw. gemeint. Die Ablehnung utopischer Entwürfe führt Buckminster Fuller in seinem Buch „Utopia or Oblivion“ darauf zurück, dass viele vergangene utopische Versuche in der Tat gescheitert sind. Vermutlich denkt er dabei an die zahlreichen utopischen Gemeinwesen, die im 19. Jahrhundert in den USA gegründet wurden, und von denen die meisten nur äußerst kurzlebig waren. Erhalten geblieben sind übrigens lediglich einige streng-religiöse Gemeinschaften, die ihre Mitglieder in einer für die meisten von uns unerträglichen Weise reglementiert und indoktriniert haben. Die Ablehnung utopischen Denkens ist jedoch unberechtigt in Bezug auf relative Utopien wie sie z. B. Bertrand de Jouvenel vorgeschlagen hat. Bertrand de Jouvenel, der den Terminus „Futuribles“, mögliche, alternative Zukünfte entwickelt hat, war überzeugt davon, dass es möglich und notwendig ist, an die Stelle des Selbstlaufs ökonomischer und technischer Entwicklung eine bewusste Gestaltung von Arbeit und Leben zu setzen. Um aber nicht – durch eine selbsternannte und selbstermächtigte Elite – den Menschen den Weg weisen zu lassen, hielt er die Ausmalung in sich schlüssiger alternativer „Zukünfte“ für notwendig, zwischen denen die 4

Zit. nach Fuller 1969, S. 331.

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Menschen dann sachkundig und ihren wahren Bedürfnissen entsprechend demokratisch wählen könnten. Moderne Techniken wie die Systemtheorie und Kybernetik würden es ermöglichen, derartige in sich widerspruchsfreie denk- und lebensmögliche Alternativen zu entwerfen. Das wichtigste Charakteristikum derartiger Zukunftsentwürfe war für de Jouvenel deren Anschaulichkeit. Utopien sind bildhafte Entwürfe möglicher Zukünfte. Die moderne Industriezivilisation hat die technischen Möglichkeiten der Produktion und Kommunikation des Verkehrs und der Speicherung von Wissen ungemein gesteigert, aber „während wir gewaltige geistige Anstrengungen machen, um unsere Mittel zu verbessern, scheinen wir uns überhaupt keine Gedanken über die Zwecke zu machen, denen diese Mittel dienen sollen. Jedes Jahr scheinen wir besser gerüstet, das zu erreichen, was wir wollen, aber was wollen wir eigentlich?“5. Statt über Zwecke und Ziele nachzudenken, folgen wir (d.h. die westlichen Industriegesellschaften) einfach dem, was „gemacht werden kann“. „Mit einer gewissen Beunruhigung sehe ich, daß wir uns verpflichtet fühlen, einfach alles auszuführen, was die Technik möglich macht. Es ist mir nicht klar, warum wir uns unbedingt beeilen müssen, ein Überschall-Transportflugzeug zu bauen, sobald das technisch möglich ist, es gibt doch viele andere Dinge, die für das menschliche Wohlbefinden weitaus nötiger sind. Die Furcht vor dem technischen Wandel war eine greisenhafte Einstellung. Nun aber sind wir zu einer kindischen Einstellung übergegangen: Was möglich ist, soll auch sofort ausgeführt werden! Aber gerade die Fülle der Chancen, die der technische Fortschritt bietet, zwingt uns zur Auswahl, zu einer reifen, verantwortlichen Einstellung. Wir müssen die Möglichkeiten des technischen Fortschritts sorgfältig für die Schaffung einer vernünftigen und glücklichen Lebensweise ausnützen.“6 Auch wenn die meisten Arbeiten von Bertrand de Jouvenel lang vor dem Bericht des „Club of Rome“ erschienen sind, lässt sich seine Vorstellung von vernünftiger Auswahl unter alternativen technischen Möglichkeiten und Lebensformen durchaus mit den Notwendigkeiten einer ökologischen Kurskorrektur vereinbaren. Die Hässlichkeit moderner Wohngebiete und Industriebauten hat Bertrand de Jouvenel schon vor vielen Jahrzehnten als eine wesentliche Beeinträchtigung menschlichen Wohlbefindens erkannt. Der hohe Wert, den wir der Frei- und Ferienzeit beimessen, ist für ihn ein „Indiz dafür, wie unzufrieden wir mit dem täglichen Leben sind“. Es wäre aber absurd, wenn man nur 5 De Jouvenel 1970, S. 263. De Jouvenel unterscheidet zunächst wünschenswerte Zukünfte von solchen, die wir spontan ablehnen würden. Zu den letzteren zählt er die Utopien von Thomas Morus und Campanella, zu den wünschenswerten die von William Morris. Die zweite Frage, die sich erhebt ist „wie wird dieser ideale Zustand zustande gebracht?“ (Ebd., S. 259). 6 Ebd., S. 263.

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diesen Bruchteil des Alltagslebens „genießen“ könnte. „Das Alltagsleben muß (generell) angenehmer werden, sonst wird das Betäubungsmittel der Flucht aus dem Alltag im Laufe der Zeit die Erholungsorte ebenso unangenehm machen wie die Wohnorte.“7 Das Fernsehen könnte – so de Jouvenels Vorschlag – sehr gut dazu benutzt werden, alternative Zukunftsmodelle zu entwerfen, anschaulich vorzuführen und zur Diskussion zu stellen. Modelle, die eine „aufgezwungene Konformität“ von Menschen verlangen, wie das zahlreiche ältere Utopien tun, erscheinen ihm als „widerlich“. Man müsse jedoch dafür sorgen, dass – bei gleichzeitiger Erweiterung des Spielraums für individuelle Konsumwahl – „das gemeinsame Schicksal auch von den meisten bevorzugt wird“ und nur dort „Mittel zur Vergrößerung der Abweichungsbreite zu schaffen“, wo das ohne Gefährdung dieses gemeinsamen Schicksals möglich ist8. Bertrand de Jouvenel sah schon ziemlich genau die „Grenzen des Wachstums“ voraus, die inzwischen zu einer allgemein akzeptierten Formel geworden sind. Dabei geht er davon aus, dass es möglich sein müsste, das Leben so gut wie aller Menschen weit besser und glücklicher werden zu lassen als heute ohne einem grenzenlosen Wachstum der Gütermengen nachjagen zu müssen. In vielen Fällen wird ein Vorteil auf einem Gebiet durch Nachteile, die gleichzeitig entstanden sind wieder aufgehoben. Die Höhe des Bruttosozialproduktes ist aus diesem Grunde kein brauchbarer Maßstab für die Messung des „Wohlstands“, wenn man darunter einen Zustand verstehen will, in dem sich die Menschen „wohl fühlen“ können. So geht z. B. der Kauf von Parfum in die Messung des BSP ein. „Der Gestank aber, den man in der Umwelt ertragen muß, wird nicht berücksichtigt. Wenn normales Wasser so verunreinigt ist, daß man Mineralwasser trinken muß, so wird die Steigerung des Mineralwasserverbrauches (und der Mineralwassererzeugung)“ als Steigerung des BSP und damit als „Erhöhung des Lebensstandards“ angesehen. Noch ernster muss – nach de Jouvenel – genommen werden, dass „der Arbeitsweg länger und ermüdender geworden ist, häßlicher und lärmender, ohne daß dieses Phänomen als negativer Bestandteil des materiellen Wohlstands auftaucht“9. Widersprüchlich ist auch die „Verbesserung der Einkaufsliste bei gleichzeitiger Verschlechterung der Umwelt“ und eine „beträchtliche Verbesserung der organischen Gesundheit bei gleichzeitiger Verschlechterung des Nervenzustandes“10. 7

Ebd., S. 266 f. Ebd., S. 265. 9 Ebd., S. 268. Vgl. Hierzu auch De Jouvenel 1964. 10 De Jouvenel 1970, S. 269. Auch die Verschlechterung des psychischen Zustands vieler Menschen in den Industriegesellschaften führt wieder zu einer Erhöhung des BSP in Gestalt von Beruhigungsmitteln und anderer Psychopharmaka sowie entsprechender Dienstleistungen. 8

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Um solche widersprüchlichen Entwicklungen verhindern zu können, ist offenbar eine komplexe Untersuchung sozialer und sozialpsychischer Zusammenhänge erforderlich, die bisher meist unterblieben ist. Beispiele, die Bertrand de Jouvenel schon zu Beginn der 60er Jahre gegeben hat, verdeutlichen seine frühe Sensibilität für ökologische Schäden: „So fand man z. B. eine außerordentlich ‚gute‘ Lösung des Reinigungsproblems, indem man Waschmittel erfand; aber diese Lösung hatte die schlimmsten Auswirkungen auf das Wasser, so daß es nicht mehr ohne weiteres dem natürlichen Kreislauf zugeführt werden konnte. Die hieraus zu ziehende Lehre ist von großer Bedeutung: Weil das Wasser eine Gegebenheit war, übersah man es einfach; weil man es übersah, wurde es zum Problem; weil es ein Problem geworden ist, schätzen wir es jetzt hoch ein“11. Analog zu dem Lernprozess durch den die sesshaft gewordene agrarische Zivilisation es einst gelernt hat, für eine ständige Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit zu sorgen, eine Fähigkeit, die bekanntlich durch das Agrobusiness wieder verloren gegangen ist, müsse es jetzt „unsere Industriekultur“ lernen, die Plünderung der Naturschätze zu unterlassen und für deren Erhalt zu sorgen. Carl Friedrich von Weizsäcker hat vor vielen Jahren die Frage aufgeworfen, ob eine demokratische und egalitäre Gesellschaft dazu gebracht werden könne, Askese zu üben. Die Antwort musste negativ ausfallen. Asketisch lebten immer nur Eliten, die durch die Freude an ihrer „Auserwähltheit“ und der von ihnen ausgeübten Macht für einen Verzicht an materiellem Genuss entschädigt wurden. Vor allem Menschen, die durch ihre Tätigkeit und durch ihre soziale Stellung wenig Befriedigung erfahren, sind dagegen geradezu auf einen „Ersatz“ durch gesteigerten Konsum angewiesen. Dabei spielen – wie der britische Soziologe und Ökonom Fred Hirsch seinerzeit gezeigt hat – so genannte „Positionsgüter“ eine immer größere Rolle. Güter also, die vor allem deshalb begehrt werden, weil sie die eigene soziale „Position“ wenigstens scheinbar anheben: Luxus und Prestigegüter, die nicht „alle schon haben können“. Je mehr Personen in einer Gesellschaft sich diese Güter leisten können, desto geringer ihr Prestigewert und um so weiter verschiebt sich der Konsumwunsch in Richtung auf solche Güter oder Dienstleistungen, die noch nicht alle haben. Dieser Wettlauf ist endlos und notwendig für die meisten Menschen frustrierend. Er kommt aber dem Bedürfnis einer auf ständiges Wachstum der Gütererzeugung programmierten Wirtschaft zugute, die ihn daher durch geschickte Werbung ständig anheizt. Askese als Verzicht auf ständig gesteigerten Konsum von „Positionsgütern“ wird aber dann überflüssig, wenn Menschen durch ihre alltägliche Tätigkeit und die dadurch erzielte soziale Anerkennung befriedigt sind. Bertrand de Jouvenel hat diesen Zusammenhang offenbar schon deutlich gesehen. Es 11

Ebd., S. 269.

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geht darum, schreibt er, „die Arbeitsorganisation so umzugestalten, daß jeder Mensch an seiner Arbeit sich ebenso erfreuen kann, wie wir“ (Intellektuellen, Wissenschaftler oder Künstler). „Wir sollten es nicht als unabänderliche Tatsache hinnehmen, daß die Freude an der Arbeit das Privileg einiger weniger ist. Dies ist eine unmoralische Doktrin. Es sollte unsere Sorge sein, unsere Mitmenschen in die gleiche Lage zu bringen, die gegenwärtig, aber nicht zwangsläufig, noch ein Privileg ist.“12 Auf den Einwand, man könne doch auch durch Freizeitvergnügen die Menschen glücklich machen, erwidert de Jouvenel: „Man kann erwachsene Menschen nicht mit Zerstreuung, sondern nur mit Leistungen zufriedenstellen. Wesentlich ist daher das ‚Problem der Arbeit‘. Man kann keine glückliche Gesellschaft haben, wenn man nicht jedem Erwachsenen eine seiner Bedeutung entsprechende Arbeit anbietet, eine Arbeit, an der er Freude hat und auf die er stolz ist. Dies ist ein ungeheuer schwieriges, aber auch sehr wesentliches Problem“13. Ausgehend von der These, dass das Streben nach mehr und mehr „Positionsgütern“ nur ein unvermeidlicher Ersatz für Menschen ist, die durch ihre Tätigkeit und die dadurch vermittelte soziale Anerkennung keine Befriedigung finden können, ist eine Abkehr von einer Wirtschaftsweise, die ständig wachsende Gütermengen anbietet, ohne Askeseanforderungen an den Einzelnen denkbar. Für eine Übergangszeit, deren Dauer sich kaum im voraus exakt bemessen lässt, wird es allerdings notwendig sein, Menschen, denen derart befriedigende Arbeitsmöglichkeiten noch nicht eröffnet werden können, eine Kompensation in überdurchschnittlich vielen Konsumgütern zu bieten. Das würde – in letzter Konsequenz – zu einer weitgehenden Korrektur der heutigen Einkommens- und Lohnstruktur führen. Friedrich Kambartel hat in seinen „Bemerkungen zum normativen Fundament der Ökonomie“ gezeigt, dass das „unbefragte Ausgehen von vorhandenen Bedürfnissen“ bedenklich ist. Wenn nämlich Ökonomie dort ihren Ort habe, wo knappe Mittel zur Befriedigung von Bedürfnissen vorhanden sind, dann sollte zunächst einmal eine kritische Reflexion auf diese Bedürfnisse einsetzen: „z. B. könnten Interessen schlicht nach Aufklärung über unbewußt zugrunde liegende Bedürfnisse oder unbekannte Konsequenzen ihrer Verfolgung entfallen. So ist der Hinweis auf den zu erwartenden Lungenkrebs kein ökonomisches Argument gegen das Rauchen. Wenn wir eine Modifikation faktischer Interessen, die aufgrund nicht ausreichender Verfügung über Güter oder Arbeit im engeren Sinne nötig wird, eine [. . .] ökonomisch bedingte Interessenmodifikation nennen, so können wir kurz sagen: Nicht jede begründete Interessenmodifikation ist [. . .] ökonomisch bedingt. [. . .] Öko12 13

Ebd., S. 273. Ebd.

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nomische Probleme sind (also) nur insoweit begründet, als Knappheit nicht auf sonst unvernünftigen Interessen beruht, also nicht bereits durch Interessenkritik, die nicht [. . .] ökonomisch bedingt ist, bewältigt werden kann“14. Eine derartige Interessenkritik würde eine Reihe von vermeintlich unvermeidlichen Mängeln beheben können. Ganz ähnlich kann auch auf der Kostenseite durch rationale Kritik eine Modifikation einsetzen. Man müsse hierzu „die bedürfnisbezogene Qualität von Arbeit einschätzen und zwar offenbar so, daß Arbeit, die in höherem Maße Bedürfnisse einschränkt, einen größeren Aufwand darstellt“15. Die geltenden Lohnsysteme (in kapitalistischen wie staatssozialistischen Ländern) bewerten jedoch umgekehrt diejenigen Arbeiten am höchsten, die am meisten immanente Befriedigung verschaffen – also den Tätigen selbst am wenigsten „Unlust kosten“. Die besseren Lohnchancen fallen in der Regel mit den höheren LebensstandardPrivilegien zusammen. „Die gekennzeichnete ‚Verzerrung‘ des Lohnsystems führt zugleich zu einer spezifischen Verzerrung der gesamten Kostenrechnung: Arbeitsaufwand, der uns etwas ‚kostet‘, nämlich Entfaltungsmöglichkeiten im Rahmen sinnvoller Bedürfnisse, ist billig, Aufwand den wir kaum noch als solchen betrachten, teuer. Z. B. beruht die auch aus den Gehaltsprivilegien vieler Lehrer (insbesondere der Hochschullehrer) resultierende Kostenlawine der Bildungsreform auf der genannten ungerechtfertigten Verzerrung unserer lohnvermittelten Aufwandsmessung.“16 Wenn die von Friedrich Kambartel vorgeschlagene Veränderung der Lohnund Gehaltsstruktur realisiert würde, wäre sie zugleich ein erheblicher Anreiz für Unternehmungen möglichst viele Arbeitsplätze zu schaffen, die den Arbeitenden ein höheres Maß von Befriedigung verschaffen und deshalb „billiger“ sind. Vom Standpunkt einer Theorie der sozialen Gerechtigkeit ließe sich eine derartige Lohn- und Gehaltsstruktur sehr viel besser rechtfertigen als die bestehende. Vor allem aber würde sie einen gewichtigen Beitrag zu jener Kurskorrektur leisten, die angesichts der ökologischen Risiken anhaltenden quantitativen Wachstums dringend notwendig geworden ist. Ich hoffe aus meinen bisherigen Ausführungen ist genügend klar geworden, warum ich utopische Zukunftsentwürfe in dem erläuterten Sinne relativ utopischer Ideale nach wie vor für notwendig, ja für unabdingbar halte. Die Alternative einer bloßen Verlängerung des Status quo ist weder mit einer Perspektive auf Erhaltung einer lebensnotwendigen Ökosphäre für humane Existenz noch mit den Anforderungen internationaler Solidarität vereinbar. Die Tatsache, dass der Verbrauch an Ressourcen und die Belastung der Umwelt mit Schadstoffen, wie sie von den Bevölkerungen Westeuropas, Nord14 15 16

Kambartel 1975, S. 116 f. Ebd., S. 117. Ebd., S. 120 f.

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amerikas, Japans und anderer hochindustrialisierter Gebiete bewirkt wird, nicht ohne katastrophale Folgen für die Natur verallgemeinert werden kann, ist heute fast jedermann und jeder Frau bewusst. Dennoch ist eine energische Kurskorrektur bisher noch in keinem der Industrieländer zu beobachten. Ähnlich wie auf dem Gebiet der Gesundheitspflege ist die nachträgliche Korrektur eingetretener Schäden noch immer die Regel statt einer vernünftigen Prävention, die Gesundheitsschäden oft gar nicht erst eintreten und Umweltzerstörung – wie Artenausrottung, Luft-, Wasser- und Bodenverseuchung usw. gar nicht erst zulässt. Wir müssen in den Industrieländern unsere gesamte Lebensweise ändern, wenn wir unseren Enkeln noch ein menschenwürdiges Leben ermöglichen wollen. Wir müssen es aber auch – wie wir in Europa, wie in den USA – erst seit kurzer Zeit einzusehen beginnen, auch wenn wir den Bevölkerungsdruck von Seiten ärmerer Länder mindern wollen, ohne durch inhumane Mauern die Inseln hohen Wohlstands vor der andrängenden Armut abzuschirmen. In beiden Fällen – sowohl im Hinblick auf die ökologischen Gefahren als auch im Hinblick auf den Andrang von Menschen aus den heute notleidenden, armen Ländern – ist eine Kurskorrektur nicht nur moralisch geboten, sondern auch im Eigeninteresse von uns und unserer Nachkommen geboten. Aus diesen Gründen halte ich auch die Polemik von Hans Jonas gegen Ernst Bloch für unangebracht.17 Gewiss, Ernst Bloch ist hinsichtlich der Sowjetunion und der DDR lange Zeit schrecklichen Illusionen erlegen und seine Annahme, die Kernkraft werde in den „real existierenden sozialistischen Ländern“ zum Segen der Menschheit rascher entwickelt werden als im Westen, hat sich in jeder Hinsicht als ein schwerer Irrtum herausgestellt: Die Kernkraft birgt zu große Risiken, vor allem wegen der noch nicht geklärten „Entsorgung“ und der Westen – in erster Linie Frankreich und die USA haben die Sowjetunion längst in der Erstellung von Kernkraftwerken sowohl qualitativ als auch quantitativ überholt. Dennoch ist Blochs spekulative Idee einer „Allianztechnik“, die an die Stelle naturausbeuterischer Techniken treten könnte, die in Europa während der letzten zwei- bis dreihundert Jahren entwickelt wurden, außerordentlich fruchtbar. Wenigstens weist sie in die richtige Richtung. Eine bloße Fortschreibung des Status quo oder auch eine nur mit moralischen Argumenten an Bevölkerung und Regierungen appellierende Aufforderung, die Interessen künftiger Generationen – im Namen des „Prinzips Verantwortung“ – zu berücksichtigen, reicht nicht aus, um Katastrophen zu vermeiden. Durch den Entwurf alternativer Modelle künftigen befriedigenden Lebens und befriedeter Beziehungen der Menschen untereinander und zur Natur kann – so die These von Bertrand de Jouvenel – der notwendigen Reform der Weg gewiesen und Energie für einen Kurs17

Vgl. Jonas 1985. Zur Kritik an Jonas vgl. Fetscher 1991a.

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wechsel in den Industriegesellschaften mobilisiert werden. Ein Leben ohne utopische Zukunftsvision wäre nicht nur schal und langweilig, es würde auch die Aussicht auf ein „Überleben der Menschheit“ gefährden.18 Literatur Ernst Blochs Revision des Marxismus [Diskussionsbeiträge auf einer von der Parteileitung der SED am Institut für Philosophie der Karl-Marx-Universität zu Leipzig veranstalteten „Konferenz über Fragen der Blochschen Philosophie“], Berlin [Ost] 1957 (zitiert: Bloch-Konferenz 1957). Fetscher, Iring, Überlebensbedingungen der Menschheit. Ist der Fortschritt noch zu retten?, 3. durch ein Nachw. erw. Aufl., Berlin 1991 (zitiert: Fetscher 1991). – Zur Vereinbarkeit des „Prinzips Hoffnung“ mit dem ‚Prinzip Verantwortung‘, in: Fetscher 1991 (zitiert: Fetscher 1991a). Fuller, R. Buckminster, Utopia or Oblivion. The Prospects of Humanity, Middlesex 1969, S. 331 (zitiert: Fuller 1969). Jouvenel, Bertrand de, Niveau de Vie et Volume de Consommation, in: Bulletin „SEDEIS“, Nr. 874, 10.1.1964 (zitiert: De Jouvenel 1964). – Utopie zu praktischen Zwecken, in: Frank E. Manuel (Hrsg.): Wunschtraum und Experiment. Vom Nutzen und Nachteil utopischen Denkens, Freiburg 1970, S. 255 ff. (zitiert: De Jouvenel 1970) (zitiert: De Jouvenel 1970). Jonas, Hans, Das Prinzip Verantwortung, Neuauflage, Frankfurt/Main 1985 (zitiert: Jonas 1985). Kambartel, Friedrich, Bemerkungen zum normativen Fundament der Ökonomie, in: Ders.: Methodische Probleme einer normativ-kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt/Main 1975 (zitiert: Kambartel 1975). Mannheim, Karl, Ideologie und Utopie, 3. vermehrte Auflage, Frankfurt/Main 1952 (zitiert: Mannheim 1952). Richard von Weizsäcker im Gespräch mit Gunter Hofmann und Werner A. Perger, Frankfurt/Main 1992 (zitiert: Weizsäcker 1992).

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Fetscher 1991.

Atlantis – Die Suche nach der versunkenen Insel Herfried Münkler Kein Land, kein Kontinent, keine Insel haben die Phantasie der Menschen so zu beflügeln vermocht wie Atlantis: vermutlich auch deshalb, weil niemand mit Sicherheit zu sagen weiß, wo das in einem gewaltigen Erdund Seebeben untergegangene Atlantis gelegen hat. Wie groß es gewesen sein mag: ob es sich eher um eine kleine Insel oder einen ganzen Kontinent gehandelt hat? Ob es Atlantis überhaupt gegeben hat, oder es sich bei dem sagenhaften Bericht von der versunkenen Insel bloß um eine erfundene Geschichte handelt, eine Mischung aus Seemannsgarn und philosophischer Lehrfabel? Bei so viel Unsicherheit konnte die Suche nach der verschwundenen Insel mit großer Intensität und noch größerer Phantasie betrieben werden. Atlantis wurde zum Menschheitstraum: Seine Entdeckung versprach Aufschluss über Vergangenheit und Zukunft der Menschheit.1 Bei der Suche nach Atlantis haben die einen ältere Landkarten benutzt, ergänzt durch neuere Annahmen über die Veränderung der Erdoberfläche in den zurückliegenden Jahrtausenden. Dabei sind sie, wenn sie im Mittelmeer gesucht haben, auf die in einem gewaltigen Vulkanausbruch untergegangene Kykladeninsel Santorin gestoßen und haben den Atlantismythos als Erinnerung an den mit Kriegen wie tektonischen Erschütterungen verbundenen Untergang der minoisch-kretischen Kultur interpretiert; oder sie haben die Sandbänke der großen und kleinen Syrte mit jener Schlammwüste identifiziert, die nach dem Untergang von Atlantis das Meer daselbst unbefahrbar gemacht haben soll, und dabei sind sie auf den Schatt el Djerid gestoßen, einen seit Jahrhunderten ausgetrockneten Saharasee, in dessen Umgebung man bedeutende Funde vorgeschichtlicher Kunst gemacht hat: Auch hier könnte das sagenhafte Atlantis gelegen haben. Oder aber sie haben jenseits der ‚Säulen des Herakles‘ gesucht, in dem Ozean also, der nach der versunkenen Insel benannt worden ist, und haben darin eine vorgeschichtliche Landbrücke zwischen Afrika und Amerika ausgemacht, deren Versinken im Ozean leicht mit dem Untergang von Atlantis zu verbinden war. Oder sie haben in dem Seedreieck zwischen der 1 Zur Suche nach Atlantis und den verschiedenen Entdeckungen vgl. Vidal-Naquet 1993, sowie Freska 1999.

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Ostküste Floridas, Puerto Rico und den Bermudas gesucht, wo neben Schiffen und Flugzeugen auch eine ganze Insel verloren gegangen sein könnte. Andere wiederum haben weiter im Norden und näher an der europäischen Küste gesucht und dabei England, Irland oder gar Helgoland als das untergegangene Atlantis identifiziert. Bis nach Grönland hinauf hat man die versunkene Insel vermutet. Andere wiederum haben den Atlantismythos als Bericht von Blüte und Untergang der Megalithkultur gelesen und sind im Golf von Morbihan in der Südbretagne auf geologische Formationen gestoßen, die Ähnlichkeiten mit der sagenhaften Hauptinsel der Atlantiker aufwiesen. Wieder andere sind bei der Suche nach Atlantis nicht geologisch-geographischen Führern gefolgt, sondern haben sich auf ergänzende Texte verlassen: So hat man die Geschichte von Atlantis mit der Paradiesmythe der Bibel verbunden und den Untergang der Insel mit dem biblischen Bericht über die Sintflut, womit der griechische Mythos in die jüdisch-christliche Überlieferung integriert und das sagenhafte Atlantis in den Osten verlegt wurde, um dort als das sagenhafte ‚Goldland‘ Indien identifiziert zu werden. Weniger die Nachricht vom Untergang der Insel in einer großen Katastrophe als vielmehr der Bericht von der Fruchtbarkeit des Landes, dem Reichtum seiner Städte und der Tugendhaftigkeit seiner Bewohner, kurzum die Sehnsucht nach jenem Goldenen Zeitalter der Menschheit, als das Glück noch etwas dem menschlichen Zusammenleben eigentümliches gewesen sein soll, waren hier die Führer nach Atlantis.2 Da Atlantis verschwunden war, konnte es überall gesucht werden. Der Spurlosigkeit seines Verschwindens entsprach die Beliebigkeit der Orte, an denen gesucht worden ist. So gab es auch Atlantis-Sucher, die die Geschichte von der genetischen Degeneration der Atlantiker zum Leitfaden bei der Suche erkoren und die Atlantisgeschichten mit dem Arier-Mythos verbanden. Fast zwangsläufig sind sie dabei zu der gleichfalls sagenhaften Insel Thule gelangt, deren blonde und blauäugige Bewohner, so Jörg Lanz von Liebenfels, einer der Inspiratoren Hitlers, sich auf Entdeckungs- und Eroberungsreisen begeben, sich dabei mit allerlei „Fremdvölkischen“ gepaart und durch „Rassenschande“ ihr blondes Paradies verspielt und zerstört hätten: der Untergang von Atlantis als genetische Selbstaufgabe der blauäugigen „Blondlinge“; statt des geologischen der genetische Untergang. Angeleitet von dieser Mythenvariante haben Rosenberg und Himmler geglaubt, sie könnten durch eine Politik des Massenmords und der Zuchtwahl, der Vernichtung der Juden und der eugenisch angeleiteten Rückzüchtung der blonden ‚Arier‘ den Weg nach Thule-Atlantis zurückgehen. 2

Dazu Günther/Müller 1988.

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Wieder andere Atlantis-Sucher haben sich des Berichts über die politische und sozio-ökonomische Organisation des Inselreichs als Suchanleitung bedient,3 und am Anfang dieser Suche steht Thomas Morus, der Verfasser der Utopia, einer humanistisch-intellektuellen Spielerei, die wie kaum ein anderer Text in der Geschichte des politischen Denkens Folgen gezeitigt hat.4 Nicht die geographische Lage, sondern die innere politische und soziale Verfasstheit des Gemeinwesens entscheidet danach darüber, was als Atlantis gelten soll und gelten darf. Folge man diesen Hinweisen und suche sie auf die Gegenwart anzuwenden, so werde jene wunderbare Insel des inneren Friedens, des materiellen Überflusses bei gleichzeitiger Fähigkeit der Menschen zu Selbstbescheidung, schließlich auch der Gerechtigkeit bei der Verteilung der Güter wie im Umgang der Menschen untereinander wiedererstehen – und so berichtet im 2. Buch von Morus‘ Utopia der Seefahrer Raphael Hythlodaeus, wie er auf seiner Reise in die neue Welt auf die Insel Utopia gestoßen sei, welche unschwer als wiedererstandenes Atlantis identifiziert werden kann. Ein späterer Sozialutopiker, der Lordkanzler Francis Bacon, hat solche Ähnlichkeiten dann auch begrifflich gekennzeichnet, indem er seinem Utopia den Namen Nova Atlantis gab,5 eine Insel, von der Bacon berichtet, sie habe sich durch sorgsame Abschottung von ihrer Umwelt die gute ursprüngliche Sozialverfassung unverdorben bewahrt und erhalten. Atlantis wäre danach gar nicht untergegangen, sondern hätte sich den Blicken des Rests der Welt entzogen, um nicht wie diese der politischsozialen Degeneration zu verfallen. So ist Atlantis von denen gefunden worden, die nicht geographischen, sondern sozio-politischen Hinweisen gefolgt sind. Doch der Fund war überaus prekär, handelte es sich dabei doch nicht um die Insel selbst, sondern nur um ihren Bauplan. Konnte man diesem Plan folgen? Lag das darin Aufgezeichnete in der politisch-organisatorischen Reichweite des Menschen? Die Funde von Morus, Campanella und Bacon waren eine andere Entdeckung als jene, die Christoph Columbus gemacht hatte, als er, den westlichen Seeweg nach Indien suchend, auf einen neuen Kontinent stieß, der sich, entgegen den Erwartungen seines Entdeckers, sehr bald als mit dem gesuchten Indien keineswegs identisch entpuppte und also von einigen Zeitgenossen, etwa dem Jesuiten Bartolomé de Las Casas, mit dem verschollenen Atlantis in Verbindung gebracht worden ist. Noch eineinhalb Jahrhunderte nach Columbus’ Seereise, der bald danach einsetzenden Ausrottung der Eingeborenen und der Besiedlung des Kontinents mit Europäern und 3 Es ist freilich anzumerken, dass der Atlantis-Mythos in der modernen Utopieforschung keine größere Beachtung gefunden hat – auch nicht im Werk von Richard Saage. 4 Dazu Münkler 1993, S. 594 ff.; vor allem aber Saage 2001, S. 71 ff. 5 Vgl. Saage 2001, S. 143 ff.

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Afrikanern erschien in Hamburg das neulateinisch geschriebene Columbusepos des Vincentius Placcius unter dem Titel Atlantis retecta, das wieder entdeckte Atlantis. In dieser Sichtweise war die sagenhafte Insel gar nicht untergegangen, sondern aufgrund der Weite des Meeres und der geschwundenen seemännischen Fähigkeiten der Europäer bloß aus deren Blickfeld geraten – bis dann ein mutiger Seemann die Überfahrt doch wagte und prompt in Atlantis anlangte. Da Columbus im Auftrag und mit Ausrüstung der spanischen Krone den Seeweg nach Westen gesucht hatte, erhob man in Spanien sogleich Besitzansprüche auf die neu- oder aber eigentlich doch nur wieder entdeckte Welt: Spanien nämlich, so eine der Begründungen für diese Besitzansprüche, sei in Wahrheit das alte Atlantis oder doch ein Bestandteil des sagenhaften Inselreichs gewesen, das nunmehr durch das seemännische Wagnis eines Genuesen in spanischen Diensten wieder zusammengeführt worden sei. Darum sei es auch keine Frage, dass das wieder gefundene Atlantis zum Herrschaftsbereich der spanischen Krone gehöre. Aber die Spanier waren nicht die Einzigen, die durch eine solche Selbstidentifikation mit Atlantis imperiale Machtansprüche geltend machten: Der Schwede Olaf Rudbeck, der seine Heimat bereits als Herkunftsland der ‚Goten‘ bezeichnet und dadurch weitausgreifende Herrschaftsperspektiven eröffnet hatte, sah Ende des 17. Jahrhunderts Schweden als den geographischen Ort des mythischen Atlantis und Uppsala als dessen Hauptstadt.6 Französische Atlantisromane vom Anfang des 20. Jahrhunderts sollten ganz ähnlich den französischen Machtanspruch auf die Maghrebländer und große Teile der Sahara untermauern. Weniger an politisch-militärischer als an zivilisatorisch-kultureller Hegemonien orientiert war der Italiener Angelo Mazzoldi, als er 1840 Atlantis mit Italien gleichsetzte und so den Nachweis erbringen wollte, dass die europäische Kultur nicht von Griechenland, sondern von Italien ihren Ausgang genommen habe. Atlantis war zu einem der großen nationalen Herkunftsmythen avanciert, mit dem man sich selbst Bedeutung und Würde attestierte. Doch auch damit ist die Reihe der Spekulationen über Lage und Größe, Untergang oder Fortexistenz, Ansippung und Erneuerung von Atlantis keineswegs erschöpft: Die Taufe einer der amerikanischen Weltraumfähren auf den Namen ‚Atlantis‘ nahm nur in umgekehrter Entdeckungsrichtung auf, was seit den 70er Jahren an atlantischer Astrospekulation verbreitet worden war: dass es sich bei den Bewohnern des sagenhaften Atlantis nämlich mitnichten um Erdenwesen, sondern in Wahrheit um Besucher aus dem Weltall gehandelt habe, die den blauen Planeten als zeitweilige Zwischenstation ihrer intergalaktischen Erforschungsexpeditionen und Eroberungszüge benutzt hätten. Neben einigen archäologischen Funden, so Erich von Däniken und 6

Vgl. Barudio 1985, S. 188.

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andere, sei die dunkle, sagenhafte Erinnerung an das untergegangene Atlantis eine der wenigen Spuren, die sie auf der Erde hinterlassen hätten. Sozialistische Utopien wie rassistische Phantasien, konservative Sozialkritik wie nationale Genealogien, seriöse Forschungen wie wilde Spekulationen – es gibt kaum etwas, was sich nicht irgendwann und irgendwie mit dem Atlantismythos verbunden hätte. Schließlich kam sogar die eigentlich ganz anderen Fragen zugewandte Neugier der Militärs ins Spiel, denn als die damalige Sowjetunion vor etwa dreißig Jahren Manöver von Unterseebooten vor der spanischen Küste nahe der strategisch bedeutsamen Straße von Gibraltar durchführen ließ, begründete man dies mit der Suche nach den Überresten des untergegangenen Atlantis. Immerhin – die sowjetischen Admiräle hatten die Quellen genau studiert: Das sagenhafte Atlantis soll vor den „Säulen des Herakles“, also vor der Meerenge von Gibraltar, im Ozean gelegen haben. Freilich haben die sowjetischen U-Boote etwas ganz anderes gesucht als die versunkene Insel, und es ist kaum anzunehmen, dass das Unternehmen die Auffindung von Grundsätzen für die sozialistische Organisation des Staates zum Ziel hatte, die mit Atlantis versunken und in Vergessenheit geraten seien. Das war nicht erforderlich, hielt man sich doch selbst für die erste gelungene Verwirklichung des mit Atlantis versunkenen Menschheitstraumes. Am Anfang all dieser Spekulationen steht Platon. Nachdem er in seiner Politeia die Grundprinzipien des gerechten Staates entwickelt hatte – Gemeineigentum an allen lebensnotwendigen Gütern, Auflösung des Familienverbands durch medizinisch-eugenisch indizierte Fortpflanzung und staatliche Verantwortung für die Aufzucht der Kinder, schließlich Übertragung aller Machtbefugnisse an eine kleine Gruppe von Philosophen – hat er in den nachfolgenden Dialogen Timaios und Kritias einen annähernd idealen Staat im politischen Alltag wie in äußeren Konflikten beschreiben und dabei auch die Ursachen seines schließlichen Untergangs offen legen wollen.7 Sein Vorfahr Solon, so Platon im Timaios, sei einst von einem ägyptischen Priester in Sais darüber unterrichtet worden, dass Athen in grauer Vorzeit eine herausragend gute Verfassung gehabt habe. Neuntausend Jahre sei es nunmehr her, dass die Athener in frommer Verehrung der Götter und fragloser Befolgung der Gesetze zusammengelebt hätten. Zu dieser Zeit seien die Heere der den „Säulen des Herakles“ vorgelagerten Insel Atlantis, welche größer gewesen sei als Asien und Libyen zusammen, in den mittelmeerischen Raum eingedrungen, um alles Land zu unterwerfen. Athen sei damals der Vorkämpfer des Widerstands gegen die atlantische Expansion gewesen und habe an der Spitze aller Hellenen gestanden. In mehreren Schlachten seien die Athener siegreich gewesen und hätten die Anwohner 7

Vgl. Bröcker 1985, S. 508.

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Herfried Münkler

des Mittelmeers befreit, bis die athenische Streitmacht in einer gewaltigen Flutkatastrophe und schrecklichen Beben mitsamt der Insel Atlantis und allem, was auf ihr lebte, im Meer versunken sei. Das ist, zugegebenermaßen, eher eine Erzählung über Athen als über Atlantis, von dessen Untergang eigentlich nur berichtet wird, um den Zusammenbruch der athenischen Vormachtstellung zu erklären. Von Atlantis selbst erfahren wir bloß, dass die dort lebenden Menschen mit der Zeit übermütig und habgierig geworden seien und deswegen den Eroberungszug im Mittelmeer begonnen hätten. Der Untergang von Atlantis erscheint dadurch als gerechte Strafe für die Hybris seiner Bewohner. Auf der Grundlage dieser Passagen lag es nahe, Platons Atlantisbericht so zu lesen, als verberge sich dahinter nichts anderes als das Athen der Perikles, Kleon und ihrer Nachfolger, die maßlos gewordene Stadt, die sich immer aufs neue in politischmilitärische Abenteuer gestürzt hatte und schließlich in der Katastrophe vor Syrakus gescheitert war. Dieses maßlos gewordene Athen bildete auch die Folie für Platons Demokratiekritik im 2. Buch der Politeia. Dagegen stellt Platon das Athen der Vorväter, sittenstreng und gesetzestreu, das von sich aus um das nötige Maß und die Erfordernis der Selbstbegrenzung wusste. Aber der Verweis auf das degenerierte Atlantis ist nicht Platons letztes Wort in dieser Angelegenheit, denn in dem anschließenden Dialog Kritias kommt er noch einmal auf Ur-Athen und Atlantis zurück, diesmal nicht auf den Krieg beider gegeneinander, sondern auf die Grundlagen ihres Wohlstandes abhebend: Nicht nur Atlantis, sondern auch Attika hat sich danach in früheren Zeiten durch große Fruchtbarkeit des Bodens ausgezeichnet, so dass auch hier alles in Hülle und Fülle gedieh. Die Erosion des Bodens habe dieser Fruchtbarkeit ein Ende gesetzt, und was übrig geblieben sei, seien die Knochen eines erkrankten Körpers. Dem Erd- und Seebeben, das Atlantis vernichtet hat, entspricht – auf Attika bezogen – die Bodenerosion: Beide beenden einen Zustand großer Gratuität der Natur, der an paradiesische Vorstellungen erinnert. Dieser natürliche Überfluss wurde in Atlantis, wie Platon nun ausführlich berichtet, noch gesteigert durch die architektonische Anlage der Stadt, deren Mauern nach außen als Befestigung und nach innen als Zierde dienen: Mehrere unüberwindliche Wassergräben umspannen Atlantis, und ein direkt hineinführender Wasserarm öffnet es zugleich zum Wasser hin. Zwei Flüsse entspringen hier, der eine kalt, der andere warm, so dass durch Bewässerungssysteme dafür gesorgt werden kann, dass dem Boden Nahrungsmittel aller Art zur Genüge entsprießen: In Atlantis wird zweimal im Jahr geerntet. Fünf Zwillingspaare hatte Poseidon, dem durch Los die Insel als göttlicher Herrschaftsbereich zugefallen war, mit der Ur-Atlantikerin Kleito gezeugt, und die hatten unter Wahrung des Primats des Ältesten, der an die

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jeweilige Nachkommenschaft weitergegeben wurde, die Herrschaft unter sich geteilt. Den zehn Königen kam eine uneingeschränkte Herrschergewalt zu, und sie ließen strafen und hinrichten, wen sie wollten. Um jedoch den Umschlag solch uneingeschränkter Herrschaft in nackte Gewalt zu verhindern, erlegten sie sich durch religiöse Zeremonien Selbstbindungen auf, in denen sie den Beistand der Götter bei der Ausübung der Herrschaft erflehten und sich selbst verfluchten, falls sie wider Recht und Gesetz handeln sollten. Viele Menschenalter hindurch hat diese Ordnung Bestand gehabt, doch dann wurde der göttliche Anteil in den Herrschern, das genetische Erbe, das Poseidon beim Zeugungsakt mit Kleito den Atlantikern hinterlassen hatte, immer geringer und sie begannen, Gold und Macht höher zu schätzen als alles andere. Mit Zeus‘ Entschluss, die Atlantiker durch Strafe bessern zu wollen, bricht Platons Bericht ab. Er ist die einzige uns verfügbare Quelle für den Mythos von Atlantis; alle anderen antiken Texte zur versunkenen Insel sind Kommentare zu Platon. Es gibt somit gute Gründe für die Annahme, Platon habe sich das Ganze bloß ausgedacht, als mythische Erzählung für die Allgemeinheit, der so die bitteren Folgen moralischen Verfalls noch einmal deutlich vor Augen geführt werden sollten. Wie dem auch sei – es ist nicht gerade viel, was Platon über Atlantis zu berichten wusste, und in beiden Fällen korrespondiert dem Atlantisbericht ein gleichumfänglicher Bericht über Ur-Athen, das durchweg besser wegkommt als Atlantis und von seiner politischen Ordnung wie dem sozialen Aufbau her den Späteren eigentlich sympathischer gewesen sein dürfte als das atlantische Inselreich. Atlantis wies in mancher Hinsicht Ähnlichkeiten mit dem persischen Reich auf, von der bloß durch religiöse Bindungen eingeschränkten Herrschermacht bis zur architektonischen Gestalt der medischen Königsstadt Ekbatana, und diese Ähnlichkeiten sprachen bei den athenischen Hörern des Mythos eher gegen die Insel. Wie lässt sich aber erklären, dass Atlantis das Interesse auf sich gezogen hat, und nicht Ur-Athen? Es gibt wohl nur eine einzige plausible Erklärung dafür, und die ist das Motiv der in den Fluten versunkenen Insel. Die athenische Verfassung ist allmählich zerfallen und mit ihr auch die Macht der Stadt, die darauf gegründet war.8 Atlantis dagegen ist in einer einzigen Nacht durch eine große Katastrophe vernichtet worden – und das war, verglichen mit Athens langsamen Verfall, nicht bloß als Ereignis das Aufregendere und Faszinierendere, sondern es bestand auch die Hoffnung, dass man die versunkene Insel wieder finden könne und in ihren durchs Meer konservierten Überresten unmittelbaren Zugang zu einer längst vergangenen Zeit. Und nicht zuletzt: Was eigentlich war aus den sagenhaften Reichtümern der versunkenen Insel geworden? 8

Dazu Mossé 1979.

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Aber es gibt noch einen weiteren Aspekt, der Atlantis interessanter erscheinen lässt als Athen, und das ist der Aspekt der utopischen Anschlussfähigkeit. Das Motiv der sagenhaften Insel, auf der alles ganz anders ist als in der übrigen Welt, hat seit jeher die Menschen fasziniert. Von Atlantis bis Tahiti und den Mythen der Südsee9 hat sich die Idee des Besseren ein ums andere Mal verbunden mit der Vorstellung von der abgelegenen Insel, die durch ihre Randständigkeit nicht in den allgemeinen Gang der Menschheitsgeschichte hineingezogen worden ist. Auch Utopia und Neu-Atlantis hatten sich, so Morus und Bacon, nur darum zu halten vermocht, weil sie der Aufmerksamkeit der restlichen Welt verborgen geblieben sind. Um wie viel mehr vermochte die versunkene Insel zum Focus für Wünsche und Phantasien zu werden, die mit dem Fortgang der Geschichte noch weiter an den Rand gedrängt werden sollten. Seit 1850 sind, so schätzt man, zwischen 20.000 und 30.000 Bücher über Atlantis geschrieben worden. Diese Zahl dürfte weiter steigen. Je einsinniger der Gang der Geschichte wird, desto bedeutsamer wird Atlantis als mögliche Alternative. Seit Beginn der Neuzeit ist die versunkene Insel wieder aufgetaucht: Überall ist sie präsent. Und gelegentlich versinkt ein Atlantis infolge moralischer Degeneration seiner Herrscher auch wieder in den Fluten der Geschichte – im Falle der Sowjetunion war es ein ganzer Atlantis-Kontinent. Literatur Barudio, Günter, Im Zeichen des Goticismus – Schweden zu Beginn der Neuzeit; in: Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 3, München 1985, S. 179–189 (zitiert: Barudio 1985). Börner, Klaus H., Auf der Suche nach dem irdischen Paradies. Zur Ikonographie der geographischen Utopie, Frankfurt/Main 1984 (zitiert: Börner 1984). Bröcker, Walter, Platos Gespräche, 3. Aufl., Frankfurt/Main 1985 (zitiert: Bröcker 1985). Freska, Martin, Das verlorene Atlantis. Die Geschichte der Auflösung eines alten Rätsels, Frankfurt/Main 1999 (zitiert: Freska 1999). Günther, Rigobert/Müller, Reiner, Das Goldene Zeitalter. Utopien der hellenistischrömischen Antike, Leipzig 1988 (zitiert: Günther/Müller 1988). Mossé, Claude, Der Zerfall der athenischen Demokratie (404–86 v. Chr.), Zürich und München 1979 (zitiert: Mossé 1979). Münkler, Herfried, Die politischen Ideen des Humanismus; in: Pipers Handbuch der politischen Ideen, hrsg. v. Iring Fetscher und Herfried Münkler, Bd. 2: Mittelalter, München 1993, S. 553–613 (zitiert: Münkler 1993). 9

Vgl. Börner 1984, S. 121 ff.

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Saage, Richard, Utopische Profile: Renaissance und Reformation, Münster u. a. 2001 (zitiert: Saage 2001). Vidal-Naquet, Pierre, Atlantis und die Nationen; in: ders., Athen, Sparta, Atlantis. Die griechische Demokratie von außen gesehen, Bd. 1., aus dem Franz. von Andreas Knop, München 1993, S. 61–94 (zitiert: Vidal-Naquet 1993).

Toleranz für Calvinisten, Deisten und Muslime: Claude Gilberts Histoire de Calejava (1700) als deistische Utopie Hans-Günter Funke Von der ersten Ausgabe dieses Buches ist ein einziges Exemplar bekannt, das in der Bibliothèque nationale in Paris aufbewahrt wird (Grande Réserve, Rés. D2.7939).1 Es trägt den Titel Histoire de Calejava ou de l’Isle des Hommes raisonnables. Avec le Paralelle [sic] de leur Morale & du Christianisme und nennt die Jahreszahl „M.DCC“. Autor, Verlagsort und Verleger werden auf der Titelseite nicht angegeben, sind aber seit dem 18. Jahrhundert bekannt. Autor ist Claude Gilbert, ein Rechtsanwalt, der von 1652–1720 in Dijon lebte. Dort wurde die erste Ausgabe von dem Buchdrucker Jean Ressayre gedruckt. Die Bibliothèque municipale de Dijon besitzt ein Manuskript der Histoire de Calejava (Signatur: Fonds Baudot, manuscrit PF 937), eine sorgfältige Kopie der Erstausgabe Dijon (J. Ressayre), 1700, von der Hand des Abbé Papillon, dessen Bibliographie Bibliothèque des auteurs de Bourgogne (Papillon 1742, Bd. I, S. 249) die wenigen Informationen zu Autor und Werk zu verdanken sind.2 Das Manuskript wird ergänzt durch eine Kopie des Artikels „Gilbert“ von Papillon auf der Titelseite und durch die Kopie eines „Projet d’une religion raisonnable“, des deistischen Credos des Autors Gilbert, auf der Schlussseite.3 Über den Juristen Gilbert ist nichts Näheres bekannt. Seine humanistische Bildung erhielt er im Jesuitenkolleg „Collège des Godrans“ in Dijon, philosophische Impulse empfing er aus dem intellektuellen Milieu seiner Heimatstadt.4 In seiner Utopie zitiert er die Autoren der klassischen Antike, Cicero, Lukrez, 1 Vgl. Wijngaarden 1932, S. 95 f., Anmerkung 68: Spekulationen über ein zweites Exemplar der Ausgabe Dijon, Ressayre, 1700. 2 Abbé Philibert Papillon, Bibliothèque des auteurs de Bourgogne, Dijon, 1742, Bd. I, S. 249, Artikel „GILBERT, (Claude) Avocat“. 3 Vgl. die Reproduktionen der Titelseite des Manuskripts der Histoire de Calejava mit der Kopie von Papillons Artikel „Gilbert, Claude“, in: Edition Rivière 1990, S. XXXI, und die Reproduktion der Schlussseite mit dem „Projet d’une religion raisonnable“ in Rivière 1987, S. 62 f. und Edition Rivière 1990, S. 2; erster Abdruck des „Projet“ in Wijngaarden 1932, S. 106 f. 4 Zum geistigen Umfeld Gilberts vgl. M. Bouchard, De l’humanisme à L’Encyclopédie: L’Esprit public en Bourgogne sous l’Ancien Régime, Paris 1930.

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Seneca, Juvenal, Tacitus, Silius Italicus, Platon. Er zitiert ausführlich aus der Bibel, benutzt neben dem lateinischen Vulgata-Text auch vergleichend den griechischen Text der Septuaginta;5 er zitiert Thomas von Aquin, den Koran und Ricauts Histoire de l’état présent de l’Empire Ottoman, endlich zeitgenössische Philosophen wie Hobbes, Bayle, La Mothe le Vayer, Gassendi, vor allem aber Descartes (Discours de la méthode; Traité des passions) und Malebranche (Recherche de la vérité; Entretiens sur la métaphysique et la religion), endlich Pierre Nicole (De la charité et de l’amourpropre, in: Essais de morale).6 Seine Utopie schrieb er in der aufklärerischen Absicht, für eine deistische Vernunftreligion und für religiöse Toleranz zu werben. Doch scheint er schon bei der Abfassung des Werkes skeptische Zweifel an dessen möglicher Wirkung gehabt zu haben, denn als Motto wie auch als Schlusssatz zitiert er zwei Verse aus der Einleitung des ersten Buches des Lukrezischen De rerum natura.7 Ne mea dona, tibi studio disposta fideli, Intellecta prius quam sint, contempta relinquas.

Die Übersetzung lautet (unter Berücksichtigung des Kontextes): Schenke mir deine Aufmerksamkeit, Leser, / damit du meine Gaben, die ich dir in treuem Eifer bereitet habe, / nicht, bevor sie verstanden sind, voll Verachtung zurücklässt.

Dieses Motto war ein schlechtes Omen, denn das Buch hat sein Publikum nicht erreicht. Schon der Drucker hatte zwei Bücher über die jüdische und die christliche Religion als zu gefährlich gestrichen (S. 181): Le Livre Septiéme du Judaisme suprimé. Le Livre Huitiéme du Christianisme suprimé. Ein Advokat, der Einblick in den Text genommen hatte, warnte den Drucker, seinen Namen auf die Titelseite zu setzen, weil er Verfolgungen ausgesetzt sein könnte (Papillon 1742, Bd. I, S. 249). Der Drucker gab die ganze Auflage an Gilbert zurück, der sie, bis auf ein Exemplar, verbrannte. Nach dem Tode Gilberts im Jahre 1720 bewahrte seine Witwe das gefährliche Buch und schenkte es 1735 dem Abbé Papillon, der dessen Existenz 1742 bekannt machte. Die Histoire de Calejava hat daher keine Wirkung auf die Zeitgenossen gehabt. Die Ähnlichkeit mancher der philosophischen Thesen der Lettres persanes mit denen der Utopie Gilberts können also nicht als intertextuelle Bezugnahme erklärt werden, wie Antoine Adam dies zu Unrecht vermutet hat: „[. . .] on est tenté de croire que Montesquieu avait lu l’Histoire de Calejava.“8 Wie das einzige Exemplar der Histoire de Ca5

Vgl. z. B. HdC, S. 286 f., vgl. Leibacher-Ouvrard 1989, S. 63. Rivière hat in den „Notes“ seiner Ausgabe der HdC zahlreiche intertextuelle Bezugnahmen Gilberts auf die Werke von Malebranche und Nicole nachgewiesen. 7 Lucrèce, lib. I, De rer. nat., vgl. Lucrèce, Sur la nature, Ed. A. Ernout, Paris 1978, livre I, p. 4. 6

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lejava in die Bibliothèque nationale gelangt ist, ist nicht bekannt. Erst im 20. Jahrhundert wurde das Unikum durch einen bibliophilen FaksimileNachdruck des Pariser EDHIS-Verlags (Editions d’Histoire Sociale, 1970) wie durch eine erste kritische Textausgabe von Marc Serge Rivière (1990) für das Publikum zugänglich. Rivière hat 1987 auch die erste Monographie über die Histoire de Calejava veröffentlicht.9 Der Titel der Utopie hätte dem Publikum des frühen 18. Jahrhunderts vielleicht noch suggerieren können, es handele sich um ein Werk der authentischen Reiseliteratur. Doch im Gegensatz zu den Reiseutopien von Foigny, Veiras und Fontenelle, die als authentische Reiseberichte rezipiert werden sollten und in denen die Rahmenhandlung der Reise eine entsprechende Bedeutung gewonnen hatte, spielt die fiktive Reise in der Histoire de Calejava keine wesentliche Rolle mehr. Auch die systematische Beschreibung des utopischen Gesellschaftsentwurfs ist relativ kurz und karg. Das Hauptgewicht legte Gilbert auf die Darstellung der deistischen Vernunftreligion. Dieser sind neun der insgesamt zwölf Bücher des Werkes gewidmet, zwei Bücher gelten der Rahmenhandlung und nur ein einziges der Beschreibung des utopischen Staates. Dieser Aufteilung entspricht die Struktur des Buches, in dem die fiktive Handlung nahezu völlig verschwindet und durch lange Dialoge der Protagonisten über Religionsfragen ersetzt wird („dialogues“, „leçons“, „discours“). Aus der Reiseutopie wird ein systematischer Traktat in Dialogform. Gilberts Histoire de Calejava (1700), Lahontans Dialogues curieux entre l’Auteur et un Sauvage (1703) und Diderots Supplément au voyage de Bougainville ou Dialogue entre A. et B. (1772, publ. 1796) repräsentieren die Entwicklung der Reiseutopie zur Dialog-Utopie (dialogue philosophique, utopie-dialogue).10 Das Ungleichgewicht zwischen Fiktion und theoretischer Reflexion wird deutlicher, wenn man den Verlauf der Rahmenhandlung betrachtet. Schon die sprechenden Namen der Protagonisten und das Motiv ihrer Reise verweisen auf die Bedeutung des Religionsthemas. Als die zunehmenden Verfolgungen der Calvinisten erwarten lassen, dass das Toleranzedikt von Nantes aufgehoben werden wird (S. 16: 1685), verlässt der Hugenotte Abra8

Adam 1968, Bd. V, S. 324, n. 2. Zitate mit der unmittelbaren Lokalisierung (S. + Seitenzahl) verweisen auf die Facsimile-Ausgabe des EDHIS-Verlags (= HdC); C. Gilbert, Histoire de Calejava ou de l’Isle des hommes raisonnables, Ed. crit. par M. S. Rivière, University of Exeter 1990 (Textes littéraires, LXXIV); M. S. Rivière, Utopia in 1700, A study of the Histoire de Calejava by Claude Gilbert, Townsville, Australia (Capricornia, 6), vgl. hierzu meine Rezension in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, 1990, S. 325–328. 10 Zur Dialog-Utopie vgl. Funke 1988 und Funke 2003; Racault 1991, S. 406–417. 9

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ham Christofile mit seiner Tochter Eudoxe und seinem Schwiegersohn Alatre Frankreich, nachdem er seinen Besitz zuvor heimlich in Geld umgesetzt hatte. Christofile, d.h. „Freund Christi“ (aus griechisch Xristüò, Gesalbter, und ðûloò, Freund), ist ein Calvinist von unerschütterlicher Glaubensstärke, der aufklärerischer Religionskritik nicht zugänglich und für den Deismus nicht zu gewinnen ist. Seine Frau war katholisch: Von ihrer Tochter Eudoxe, d.h. „gute Lehre“ (aus griechisch ež, gut, und düca, Meinung oder Glaube), heißt es ironisch (S. 14 f.): [. . .] elle êtoit huit jours de la Religion de son pere, quatre de celle de sa mere, superstitieuse extraordinairement: Et enfin elle fit un nouveau sisteme du Christianisme, que nous verrons un jour apuié sur des raisons qui ne paroissent pas in – [p. 15] differentes [. . .].

Die in ihrem Namen Eudoxe (aus griechisch eždüca) verheißene „gute Lehre“ ist eine Verschmelzung des Deismus von Calejava mit der christlichen Religion (vgl. S. 256–302, dort S. 302 „Déïsme“). Der Schwiegersohn trägt den sprechenden Namen Alatre, der aus dem griechischen ÷latreŸw „ich diene Gott nicht“, gebildet worden ist. Alatre beruft sich (wie später auch Eudoxe) auf die Methode Descartes’ (z. B. S. 49, 90 f., 214) und vertritt einen Deismus, der dem der Avaïten, der Bewohner Calejavas, sehr nahe kommt. Seine intellektuelle Position wird wie folgt charakterisiert (S. 15 f.): Alatre êtoit bon Philosophe, bon Mathematicien, & bon Juris-Consulte; il méprisoit extremement la Theologie Scholastique; [. . .] Quoiqu’il n’ût [sic] pas beaucoup d’honneur & de probité; il ju – [p. 16] geoit de tout sainement, & sans prévention.

Nach verschiedenen Abenteuern, die dem Leser jedoch nicht mitgeteilt werden (S. 18), gelangen die Reisenden nach Litauen. Sie setzen die Reise im Winter mit Schlitten fort, brechen im Frühjahr in das Eis eines großen Flusses ein, müssen zu Fuß weiterwandern und sind an einem offenen Strom dem Verhungern nahe, als sie von einem Schiff aufgenommen werden (S. 18–24). Mit ihnen wird einer ihrer Schlittenführer gerettet. Er trägt den polnischen Namen Samieski, ist aber ein Türke und überzeugter Muslime, so dass mit seinem Auftreten eine weitere Religion in der Gruppe der Reisenden vertreten ist: [. . .] ce Conducteur se nommoit Samieski, il êtoit Turc d’origine fort entêté du Mahometisme, il ne manquoit pas pourtant d’esprit & de sçavoir (S. 23).

Die Frage liegt nahe, ob nicht auch Samieski als ein sprechender Name zur Kennzeichnung der religiösen Position des Namensträgers verstanden werden könnte. Die bisher vorgeschlagenen Deutungen – Samieski heiße „originaire de Samos“11 oder gar „sans Jésus Christ“12 – sind volksetymo11 12

Wijngaarden, 1932, S. 28. Racault 1991, S. 204.

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logische Spekulationen, die nicht überzeugen. Der polnische Namensforscher K. Rymut führt den Familiennamen Zamiejski auf ein gleichlautendes Adjektiv zurück, das „hinter/jenseits der Stadt liegend“ bedeutet.13 Damit könnte die Isoliertheit Samieskis in der Gruppe der christlichen und deistischen Gesprächspartner symbolisch ausgedrückt sein, doch erscheint auch diese Deutung in unserem Kontext nicht als zwingend. Das rettende Schiff gehört Avaïten (Avaïtes), die sich auf der Rückkehr in ihre Heimat, nach Calejava, befinden. Sie nehmen die Reisenden mit, um ihnen Bürgerrecht in Calejava zu gewähren. Die Verständigung erfolgt in lateinischer Sprache (S. 25). Einer der Avaïten [kurz „l’Avaïte“ genannt (S. 27)] befreundet sich mit den Gästen und wird, im Hinblick auf die künftigen Religionsgespräche, als Vertreter der avaïtischen Vernunftreligion der fünfte Dialogpartner im Bunde. Nach einer Schifffahrt von über zwei Monaten (S. 26) erreichen sie die Insel Calejava oder Terre d’Ava. Die Avaïten nehmen die Fremden gastfreundlich auf und bieten ihnen an, selbst Avaïten zu werden und im Lande zu bleiben (S. 28 f.). Die einzige Voraussetzung für die Erlangung des Bürgerrechts ist die rational begründete Identifikation mit dem Minimal-Credo der avaïtischen Weltanschauung (S. 32). Die Fremden könnten in Calejava bleiben . . . [. . .] pourvû, repliqua l’Avaïte, qu’ils soient persuadés de l’existence d’un Dieu, de l’immortalité de l’ame, & des peines, & des recompenses de l’autre vie [. . .]. Mais il faut qu’ils soient convaincus de ces verités par des raisons solides, & naturelles, & non par l’autorité [. . .].

Der Avaïte und Alatre, der sich mit diesem Credo identifiziert, wollen die übrigen Reisenden durch die Kraft der Vernunft („par la force de la raison“), von der Wahrheit dieser Glaubensinhalte überzeugen. Hier setzt die lange Reihe der 26 als „dialogues“ und „leçons“ vorgetragenen Diskussionen über weltanschauliche Fragen ein, durch welche die Protagonisten in einem Prozess rationalen Sich-Selbst-Überzeugens und Überzeugtwerdens den Weg zur deistischen Vernunftreligion der Avaïten finden – und, nach der ursprünglichen Absicht des Autors Gilbert, soll der Leser diesen Weg mit ihnen vollziehen. Diskutiert werden die folgenden Themen: das falsche Prinzip der Autorität (S. 33 ff.), das allein gültige Prinzip der Vernunft (S. 56 ff.), die Existenz Gottes (S. 68 ff.), die Unsterblichkeit der Seele (S. 87 ff.), die menschliche Willensfreiheit (S. 109 ff.), die Unabhängigkeit, Güte und Vorsehung Gottes (S. 133 f., 134 ff., 139 ff.), die eudämonistische Moral Avas (S. 155 ff.), die Vergeltung im Jenseits (S. 161 ff.), Gerechtig13 Für die Informationen zu dem Namen „Zamiejski“ danke ich meinem Kollegen Werner Lehfeldt, Professor am Seminar für Slavische Philologie der Universität Göttingen; vgl. das Lemma „Zamiejski“ in K. Rymut, Nazwiska Polaków, Słownik historyezno-etymologiezny, Bd. II, Kraków 2001, S. 723.

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keit und Barmherzigkeit Gottes (S. 171 ff.), Gottesdienst (S. 180 f.), die Lehren des Islam (S. 182–205), das Glück als das von Gott gewollte Ziel des Menschen (S. 206 ff.), die Widerlegung der Erbsünde (S. 230 ff.), die Rechtfertigung der Sinnlichkeit (S. 251 ff.), die Verschmelzung des Christentums mit dem avaïtischen Deismus (S. 251, 256–302), endlich die Anwendung der avaïtischen Maximen in Europa (S. 312–324). Unter dieser Flut von dialogues, leçons, discours verschwindet die Rahmenhandlung bis auf geringe Reste: Der Leser erfährt, dass die meisten dieser Diskussionen auf der Reise ins Landesinnere der Insel Calejava geführt werden. Der Avaïte soll dort am Sitz der Regierung über seinen Auslandsaufenthalt Bericht erstatten. Diese Reise bietet die Gelegenheit, in nur vier relativ kurzen Kapiteln über Ackerbau, Güterverteilung, Ehegesetze und Erziehungswesen Avas zu berichten. Am Ende dieser Reise und der vielen Diskussionen sind Alatre und Eudoxe zu überzeugten Anhängern des avaïtischen Deismus geworden. Christofile und Samieski hingegen, der strenggläubige Calvinist und der überzeugte Muslime, verlassen Ava, die Insel der „infideles“ (S. 251). Unter Anspielung auf heterodoxe Entlehnungen des avaïtischen Deismus aus den Häresien von Arius (keine Trinität und keine Göttlichkeit Christi), von Pelagius (Gnadenlehre und Erbsünde), endlich von Epikur (Atomismus, Materialismus und eudämonistische Moral) distanziert sich Christofile von der Religion Calejavas: Christofile se retira alors en murmurant quelque chose entre ses dents d’Arius, de Pelage, de Déïsme & d’Epicurisme qu’on ne pût pas entendre (S. 302).

In nur einer Seite führt der Autor die Handlung zu ihrem schnellen Ende: Kaum auf dem Festland angekommen, stirbt Christofile; der getreue Samieski bringt das kostbare Manuskript der von Christofile, Eudoxe und Alatre auf losen Blättern niedergeschriebenen „mémoires“ zu einem französischen Verwandten. Dieser ordnet das Manuskript und übergibt es dem Erzähler und „Herausgeber“: Ce parent donna un ordre & une suite à ces feuilles volantes; pour moi je n’ai fait que d’abreger, & peut-être trop l’ouvrage de ce parent (S. 325).

Der Erzähler erscheint im ganzen Werk nur in gelegentlichen Einschaltungen in der ersten Person (je, nous) und verblasst hinter der Erzählung in der dritten Person und den vielen Dialogen. Nur das Motiv des Erzählers und Herausgebers für die Veröffentlichung der „mémoires“ wird deutlich genannt: Je trouve dans les mémoires qui m’ont êté fournis plusieurs avantures trez-rares [. . .]; mais je les passerai sous silence, parce qu’elles ne servent de rien à mon dessein principal, qui est d’écrire l’Histoire des Avaïtes [. . .] (S. 18).

Hauptgegenstand der Histoire des Avaïtes ist der rationalistische Deismus dieser „Hommes raisonnables“, die allen anderen Völkern wegen deren

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sinnlosen, lächerlichen Bräuchen die Bezeichnung „Menschen“ verweigern (S. 4). Allein durch die „Loi naturelle“ geleitet, haben die Avaïtes den höchstmöglichen Grad moralischer Vollkommenheit erreicht. Der Erzähler – hier zweifellos Meinungsträger des Autors – nennt ein doppeltes Ziel als erstrebte Wirkung auf das französische Publikum: das Vorbild der Avaïten solle glaubensschwachen Christen eine weltliche Moral bieten, die allein auf Vernunft und Eigenliebe (raison, amour propre; S. 326 f.) gegründet ist, der avaïtische Deismus solle den Christen neue Beweise gegen die Atheisten, die „libertins“, liefern (S. 327 f.). Unter intertextuellem Bezug auf die Essais de morale von Pierre Nicole (1671–1678) wird die Eigenliebe (amour-propre) als Basis einer weltlichen Moral angesehen (S. 326). Bevor die deistische Weltanschauung und die mit ihrer Darstellung verbundene Kritik an der christlichen Offenbarungsreligion genauer betrachtet werden, sollen die (häufig nur in kurzen Bemerkungen im Werk verstreuten) Informationen über den utopischen Staatsentwurf in einer systematischen Übersicht zusammengefasst werden. Die Lokalisierung wie die Topographie der Insel Calejava bleiben vage. Wie Bacons Bensalemiten, Veiras’ Sevarambier und Fontenelles Ajaoïens halten auch die Avaïten Gilberts die Lage ihres Landes geheim. Aus Furcht vor den kolonialistischen Bestrebungen der europäischen Staaten verpflichten die Avaïten ihre Gäste aus Europa zur Geheimhaltung: Depuis que les Avaïtes sçavent la maniere dont nous en avons usé avec les Pays nouvellement découver[ts], aprez nous en être rendu maîtres, ils craignent d’entrer en [p. 28] commerce avec nous, & par cette raison ils ont fait promettre à nos Europeans de ne point reveler en quel climat leur Isle est située (S. 27 f.).

Der Leser erfährt nur, dass die Reisenden von Litauen aus über zwei Monate stromabwärts und dann über das Meer bis zur Insel Calejava gefahren sind. Nach heutigen geographischen Vorstellungen müsste dieses Meer wohl die Ostsee sein, Calejava also vielleicht im skandinavischen Raum vorzustellen sein. Außer den gattungstypischen Merkmalen der Isolation und Insellage wird über die Topographie nur noch mitgeteilt, dass die ganze Insel von einer großen, durch einen Erdwall gestützten Mauer umgeben ist, auf der ständig Wachen stehen (S. 28, 131), dass das ganze Land in „habitations“, in Wohndistrikte, aufgeteilt ist (S. 75), von mehreren Flüssen bewässert wird, endlich dass die mit Bäumen und Blumen gesäumten Alleen das Reisen zum Vergnügen machen (S. 71). Über die Geschichte der Staatsgründung wird relativ ausführlich berichtet: Ursprünglich war das Land ein Königreich und hieß Marothi (S. 6–13, dort S. 12). Vor 800 bis 900 Jahren kam ein Arzt mit dem Namen Ava mit über 100 Anhängern nach Marothi und gründete auf einem wüsten Berge nahe dem Meer eine Kolonie. Ava hatte in seinem (nicht genannten) Hei-

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matland vergeblich eine Staatsreform angestrebt, die ihm nun in Marothi gelingt. Durch den Ruf seiner Wunderheilungen wie durch die Drohung, eventuelle Angreifer mit Hilfe besonderer Geschütze durch Giftgas zu töten (S. 11), erreicht Ava die Anerkennung seiner Kolonie. Er gewinnt die Freundschaft des Königs Cacoumison und überzeugt diesen von der Notwendigkeit einer Verfassungsreform (S. 13, 108): Die Monarchie Marothi wird in die Republik Calejava umgewandelt. Sie übernimmt die neuen Grundgesetze („Loix fondamentales“, S. 108) des Staatsgründers und ersten Gesetzgebers Ava, deren wichtigstes die Gleichheit aller Bürger garantiert. Calejava heißt zugleich „la terre d’Ava“, Land des Ava, und „Terre d’homme“, Land der Menschen, weil die Bürger dieses Staates, die „Avaïtes“, sich allein als Menschen, d.h. als nach der Vernunft lebende Wesen, begreifen. Damit ist bereits die Staatsverfassung Calejavas gekennzeichnet. Es ist eine egalitäre repräsentativdemokratische Republik. An der Spitze des Staates steht ein Rat aus 100 Conseillers [oder Glebirs], der als Kollegialorgan die legislative und exekutive Gewalt ausübt. Von einem Regierungschef oder Präsidenten ist nicht die Rede, das Leitprinzip der Vernunft sichert die Einstimmigkeit der Beschlüsse. Dieser Rat hat seinen Sitz in der ersten „habitation“, in einem Gebäude für 800 bis 900 Personen im Zentrum der Insel. Die staatlichen Institutionen beschränken sich auf eine zweistufige Beamtenhierarchie: Unter der zweiten Stufe der Glebirs steht die erste Stufe der Caludes oder Intendants der Wohndistrikte („habitations“). Jeweils zwei Caludes leiten einen Wohndistrikt. Sie haben politische, juristische, soziale und ökonomische Funktionen und vermitteln zwischen dem Rat der Glebirs (Conseil) und den einzelnen Bürgern. Das zeigt sich vor allem in dem langwierigen Gesetzgebungsverfahren (S. 69 f.), das einen Zug zur direkten Demokratie erkennen lässt und deutlich an das entsprechende Verfahren in der Utopia erinnert:14 Die Gesetzesinitiative liegt bei den Glebirs, welche die Gesetzentwürfe den Caludes mitteilen. Die Caludes informieren die einzelnen Bürger (particuliers) ihrer jeweiligen „habitation“. Die Bürger beraten den Gesetzentwurf, geben binnen einer Frist von drei Monaten ihre Stellungnahmen bei den Caludes ab. Je ein Calude pro „habitation“ teilt diese Stellungnahme den Glebirs mit. Die Glebirs beschließen dann einstimmig das Gesetz – die vorgeschriebene Einstimmigkeit ist bei einem vernunftgeleiteten Volk erreichbar – und lassen es durch die Caludes in allen „habitations“ den Bürgern einen Monat vor Inkrafttreten des neuen Gesetzes mitteilen. Während dieser Monatsfrist überzeugen alle Bürger einander von der Qualität des neuen Gesetzes, alle glauben, nicht den Glebirs, sondern allein der Vernunft zu gehorchen: 14

Gesetzgebungsverfahren: vgl. Morus 1516, S. 122–124.

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[. . .] pendant [ce mois] un chacun fait ses efforts pour convaincre les autres de la bonté de la nouvelle Loi. Personne ne croit obéir aux Glebirs, & ceux-ci disent qu’ils ont le même Maître que les autres, qui est la raison (S. 70).

Wie die Caludes und Glebirs ihre Ämter erhalten (vermutlich durch ein Wahlverfahren), wird nicht mitgeteilt. Bürger, die sich im Ausland aufgehalten haben, müssen den Glebirs über ihre Erfahrungen Bericht erstatten (rendre compte de son voyage), um nützliche Entdeckungen für das eigene Land zu erschließen (S. 70 f.). Die avaitischen Ämterbezeichnungen Caludes (= Claudes) und Glebirs (= Gilbers) sind Anagramme von Vor- und Familiennamen des Autors Claude Gilbert, der hier auf seine Verantwortung für den utopischen Idealstaatsentwurf der Avaïten anspielt (S. 68 f., vgl. S. 129). Die Wirtschaftsverfassung Calejavas (S. 115–121) beruht auf den Prinzipien der Gütergemeinschaft, der allgemeinen Arbeitspflicht, der Beschränkung auf das Notwendige, dem Verzicht auf das Überflüssige (le superflu), auf den Luxus (S. 30 f.), dem Verzicht auf Geldwirtschaft und Handel (S. 29). Hauptwirtschaftszweige sind das Handwerk und, vor allem, die Landwirtschaft. Produktion und Verteilung werden auf der Ebene der „habitations“, der 800 bis 900 Menschen umfassenden Wohndistrikte, organisiert: Die Caludes fordern bei Bedarf zusätzliche Arbeitskräfte aus dem Kreis der Schulabgänger an (S. 131). Sie überwachen mit Hilfe einiger Greise die Einhaltung der auf einen Fünf-Stunden-Tag begrenzten Arbeitspflicht, strafen Säumige durch Verachtung und Schande und leiten die Verteilung der Produkte aus den öffentlichen Speichern (S. 118 f.). Besondere Kontrollbeamte regeln den Produktionsausgleich zwischen den „habitations“: Les fruits de la terre & les ouvrages des particuliers sont mis dans des Magasins, & les Caludes les distribuent à chacun selon ses besoins: Ceux d’une habitation qui manquent de quelque chose en vont prendre [p. 120] vers ceux qui en ont trop, & à cet effet il y a des gens qui visitent de suite en suite toutes les habitations de l’Isle (S. 119 f.).

Die kurze Arbeitszeit des Einzelnen von je zweieinhalb Stunden vormittags und nachmittags wird ermöglicht durch die Ausdehnung der Arbeitspflicht auf alle Bürger wie durch den Verzicht auf Luxus, d.h. durch die Beschränkung der Produktivkräfte auf das Lebensnotwendige (S. 120, 30 f.). Der kurze Fünf-Stunden-Arbeitstag ermöglicht jedem Bürger eine sinnvolle Freizeitgestaltung durch Kultur und Fortbildung: Es ist üblich, nach der Arbeit ein Konzert oder „une leçon de théologie“ (d.h. eine Vorlesung über die deistische Weltanschauung!) zu hören (S. 104, 132) – eine deutliche Parallele zur Freizeitgestaltung der Utopier.15 Die Arbeit wird 15 Öffentliche Vorlesungen und Freizeit für Eigenstudium, vgl. Morus 1516, S. 128, 134.

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aufgewertet: Sie wird nicht mehr als Fluch, als Strafe für den Sündenfall Adams begriffen, sondern als ein für das Glück des Menschen notwendiges Element des Lebens. Denn Adam habe doch schon vor dem Sündenfall den Garten Eden, das Paradies, bebaut. Gilbert lässt Alatre in diesem Zusammenhang das Alte Testament (Gen., Kap. 2, 15) zitieren: Dieu mit Adam dans le Paradis, pour le garder & le cultiver.* * Tulit ergo Dominus Deus hominem & posuit eum in Paradiso voluptatis, ut operaretur & custodiret illum. Genes. cap. 2. vers. 15. Und Gott der Herr nahm den Menschen, und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn baute und bewahrte (S. 121 lat.).

Morus hat im ersten Buch der Utopia das Parasitentum von Adel, Geistlichkeit, Dienerschaft und Luxushandwerk im England des frühen 16. Jahrhunderts kritisiert. Ganz ähnlich setzt Gilbert die allgemeine Arbeitspflicht der Avaïten als utopische Alternative gegen die parasitäre Unproduktivität derselben Stände und Gruppen im Frankreich des beginnenden 18. Jahrhunderts: Il est vrai [. . .] qu’un exercice moderé, tel que celui des Avaïtes, sans soucis & sans inquiétudes est nécessaire à la santé, & j’avoûe que si en France la Noblesse, l’Eglise, les Moines, les Valets, les Domestiques inutiles, les gens de Palais, les faineants, les Ouvriers des choses vaines & superflûes partageoient avec les autres le travail qui produit quelque avantage réel & effectif; il n’y en auroit pas pour chacun au- [p. 121] tant qu’il en faut pour se bien porter; [. . .] (120 f.).

Es ist interessant, dass die Verfahren der Produktion durch den Primat der avaïtischen Weltanschauung bestimmt werden. Weil Gott den Menschen zu ewiger Glückseligkeit bestimmt habe, sei es eine wichtige Aufgabe der Menschen, durch Zeugung und Aufzucht möglichst zahlreichen Nachwuchses gleichsam an der Schöpfung Gottes mitzuarbeiten (coopérer avec Dieu) und möglichst vielen Seelen die „félicité éternelle“ zu ermöglichen. Weil aber die Tierhaltung die Hälfte aller agrarischen Produkte als Tierfutter erfordere und diese damit für weitere Menschen verloren gehen lasse, verzichten die Avaïten auf die Arbeitskraft der Tiere. Einzige Energiequelle ist die menschliche Körperkraft, die durch mechanische Konstruktionen – Laufräder mit Übersetzungen – verstärkt wird und in Landwirtschaft und Verkehr Pflüge, Wagen, ja Schiffe antreibt (S. 115–118, 127). Der Antrieb eines Wagens und eines Pfluges werden genau beschrieben: [. . .] une grande roûe d’environ quinze piés de diametre, large de deux, & un peu plus [. . .]; [l’Avaïte répondit] que des hommes en se mettant dedans, la faisoient tourner, que des lames d’acier [p. 116] qu’on voyoit tout au tour de six en six pouces faire un angle de cent-dix degrés avec le diamétre, s’enfonçoient par la pesanteur de la machine dans la terre, la renversoient & la cultivoient [. . .] (S. 116, 115 f.).

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Das mechanische Prinzip dieser Laufrad-Maschinen erinnert an das der Kriegsmaschinen der Australier in La Terre australe connue von Foigny.16 Die Avaïten kennen keinen Handel. Der Binnenhandel wird durch den Produktionsausgleich zwischen den „habitations“ ersetzt. Der Außenhandel entfällt durch die Isolation des Landes, wird aber bis zu einem gewissen Grade durch die Auslandsreisen der Avaïten ersetzt, die aus dem Ausland alles für das eigene Land Nützliche mitzubringen pflegen (S. 24). Diese Reisenden haben mithin nahezu dieselbe Funktion wie die Späher und Spione der Bensalemiten Bacons und der Sevarambier von Veiras.17 Bemerkenswert ist ferner, dass Calejava keine studierten Berufe kennt, wohl aber Ärzte, in deren Ausbildung die praktische Arbeit überwiegt (S. 119, 131). Die avaïtische Gesellschaftsordnung wird durch das Gleichheitsprinzip, durch die Bedeutung der Hausgemeinschaft (der „habitation“) und durch eine gattungstypische Tendenz zu geometrischer Gliederung und Ordnung gekennzeichnet. Das ganze Land ist in laufend durchnummerierte „habitations“ aufgeteilt; jede „habitation“ besteht aus einem Territorium und einem großen Haus für 800 bis 900 Personen, dessen Anlage einem Klosterbau oder einem riesigen Atriumhaus ähnelt (S. 76).: Toutes les maisons des Avaïtes ressemblent à celles de nos Moines à quatre aîles, un jardin au milieu & un cloître a l’exterieur, comme les anciens Romains.

Alle Avaïten tragen statt eines Namens eine doppelte Nummer, die auf zwei Stoffstücken auf ihrer Kleidung festgenäht wird. Die erste Nummer entspricht derjenigen ihrer Geburtshausgemeinschaft (habitation). Die zweite Nummer gibt an, als wievieltes Kind der Nummernträger in dieser Hausgemeinschaft geboren wurde. Alle 50 Jahre setzt diese Geburtennummerierung neu ein (S. 75 f.). Die patriarchalische Kleinfamilie bleibt im Rahmen der Hausgemeinschaft die Grundeinheit des sozialen Lebens. Ehe und Kindererziehung werden durch Gesetze des Staates geregelt. Die Avaïten erblicken eine der vornehmsten Pflichten der Menschheit in der Fortpflanzung. Sie verwerfen daher den Zölibat, bestrafen den Verzicht auf Fortpflanzung strenger als den Mord, weil dieser nur das Leben raubt, jener aber die ewige Glückseligkeit einer Seele verhindert (S. 122 f.). Der Staat verordnet daher die Eheschließung als staatsbürgerliche Pflicht, er fordert die Ehescheidung nach dreijähriger Kinderlosigkeit und erlaubt die Polygamie. Die Partnerauswahl erfolgt mittels einer Verknüpfung von freier Wahl und staatlicher Entscheidung: Die Heiratskandidaten (für die Frauen gilt die Heiratspflicht bereits mit 17 Jahren, vgl. S. 131) schreiben während 16

Vgl. die Konstruktion eines Mauerbrechers, Foigny 1968, S. 144. Zum Spionagedienst vgl. als Vorbild Bacon, Novus Atlas, S. 980–981, 993: die „mercatores Lucis“; Campanella, Civitas Solis, S. 123, 137, 143: die „exploratores et legati“. 17

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eines öffentlichen Balls die Partner ihrer Wahl in der Reihenfolge, die dem Grad ihrer Zuneigung entspricht, auf ein Papier. Die Leiter der Hausgemeinschaften sichten diese Wahlzettel und ordnen dann die passenden Partner einander zu. Am Ende des Festes wird die Ehe vollzogen (S. 124–126). Ehescheidung ist Pflicht bei Kinderlosigkeit, möglich bei wechselseitigem Einvernehmen der Partner oder berechtigten Klagen eines Partners (S. 124). Trotz des Gleichheitsgrundsatzes der Republik genießt die Frau offenbar keine volle Gleichberechtigung: Dies zeigt sich in der Institution der polygamen Ehe wie auch im Bildungsgang, der für Mädchen drei Jahre kürzer ist als für die Jungen und in die Ehe mündet (S. 131). Calejava besitzt ein öffentliches staatliches Bildungswesen (S. 126–132), dem die Kinder (aus Misstrauen gegen die erzieherische Kompetenz der Eltern, aber auch zum Schutz der Kinder vor der allzu großen väterlichen Macht) schon mit vier Jahren übergeben werden (S. 127). Die Mädchen verlassen die Schulausbildung mit siebzehn, die Jungen mit zwanzig Jahren (S. 131). Die Lehrer stellt der Staat, als Fachlehrer unterweisen sie die vierzehn- bis fünfzehnjährigen Schüler . . . [. . .] à lire, à écrire, à chanter, à joûer des instrumens, la Theologie, la Morale, quelques remarques & quelques expériences sur la nature qui leur tiennent lieu de Phisique [. . .] (S. 129).

Diese Elementarausbildung umfasst unter dem Stichwort „Theologie“ die Unterweisung in der deistischen Weltanschauung der Avaïten. Im Gegensatz zur zeitgenössischen Realität Frankreichs bietet sie auch Ansätze zum Unterricht in naturwissenschaftlichen Fächern. Nach der Elementarausbildung dürfen die besonders begabten Fünfzehnjährigen ihre Ausbildung in einer Wissenschaft, „quelque science“, fortsetzen (S. 130 f.) – Näheres wird über diese höhere Bildung nicht gesagt, sie scheint die Fächer Mathematik, Sprachen und Medizin zu betreffen (S. 131). In der Regel aber folgt für die Acht- bis Zwanzigjährigen eine Stufe, welche Wehrdienst, Fortbildung und handwerkliche Lehre verbindet: A l’âge de quinze ans, à moins qu’on ne les juge trez-propres [p. 131] à quelque science, ils vont faire garde sur cette grande muraille qui fait le tour de l’Isle; là on leur retrace encore les mêmes leçons, & ils y apprennent un mêtier [. . .] (S. 130 f.).

Die Zwanzigjährigen treten ins Berufsleben ein und werden auf Anforderung der Cadules in die Wohndistrikte geschickt. Gilbert formuliert einige interessante pädagogische und didaktische Grundsätze: Die Kinder sollen nicht durch Versprechungen und Drohungen, sondern durch Vernunft und Überzeugung geleitet werden; es gibt eine Art Schülergerichtsbarkeit zur Klärung von Streitfällen; die Schüler werden an praktische Arbeit gewöhnt, ihre Handfertigkeit wird ausgebildet (S. 130); Sprachschüler werden ins

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Ausland geschickt, Medizinstudenten zu praktizierenden Ärzten in die Wohndistrikte (S. 131). Die avaitische Berufsbezeichnung für die Lehrer Lucades (= Claudes) y Bergli (= Gilber) ist ein Anagramm für den Namen des Autors Claude Gilbert (S. 129, vgl. S. 68 f.), der damit das Anonymat durchbricht. Im Zentrum von Gilberts Histoire de Calejava stehen die deistische Vernunftreligion der Avaïten und deren „natürliche Moral“, die keiner religiösen Sanktionierung bedarf. Damit entspricht die Histoire de Calejava einem Grundzug der französischen Utopie des 17. Jahrhunderts von der anonymen Histoire du grand et admirable royaume d’Antangil bis zur Histoire des Ajaoïens Fontenelles, in deren Entwicklung die religiösen und moralischen Probleme stets eine größere Bedeutung besessen haben als etwa die ökonomischen, wenn auch im Falle der Utopie Gilberts hier ein besonderes Ungleichgewicht herrscht. Die aufklärerischen Ziele Gilberts sind die Werbung für eine Vernunftreligion, für eine natürliche Moral und für religiöse Toleranz; die Aufhebung des Autoritätsprinzips, das durch die kritische Vernunft ersetzt werden soll, die Widerlegung des Dogmas von der Erbsünde, an dessen Stelle die optimistische Auffassung von der guten Natur des für ein glückliches Leben bestimmten Menschen treten soll. Die Meinungsträger Gilberts sind der Avaïte, Alatre und Eudoxe als Deisten, während Christofile und Samieski die christlich-calvinistische bzw. die muslimische religiöse Orthodoxie repräsentieren. Die Darstellung des avaïtischen Deismus erfolgt in ständigem kritischen Vergleich mit dem Christentum, dem Judentum und – dies ist ein Novum! – mit dem Islam. Gilberts Religionskritik richtet sich vor allem gegen Dogmen und Kultus der christlichen Offenbarungsreligion. Sie gipfelt in dem von Eudoxe als „gute Lehre“ vorgetragenen Versuch, durch eine eigenwillige Interpretation christlicher Dogmen und eine ungewöhnliche, ja zum Teil heterodoxe Exegese einschlägiger Bibelstellen das Christentum und den Deismus der Avaïten in einer Parallele in Einklang zu bringen, auf die bereits der Titel des Buches verweist: „Avec le paralelle [sic] de leur Morale & du Christianisme“. Aus dieser umfangreichen Thematik wird hier zunächst eine kurze Darstellung des avaïtischen Deismus gegeben, dann werden die wichtigsten Thesen der Religionskritik zusammengestellt und schließlich Gilberts Argumente für religiöse Toleranz referiert. Weltanschauung und Lebensweise der Avaïten werden durch drei Grundsätze bestimmt: 1. die Vernunft ist Richtmaß allen Denkens und Handelns, 2. es gibt nur drei Glaubensinhalte, und diese sind rational beweisbar: die Existenz Gottes, die Unsterblichkeit der Seele und die Lohn-Strafe-Vergeltung im Jenseits, 3. die Natur des Menschen wird als ursprünglich gut begriffen, als das ihm gemäße Ziel gilt das Glück im Diesseits und im Jenseits, „le bonheur“, „la félicité“. Die Prinzipien der Moral werden als natur-

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gegeben und als rational erkennbar und begründbar angesehen. Gutsein und Vernünftigsein werden gleichgesetzt. Die Vernunft führe immer zum Guten, ihr Gebrauch verleihe dem Menschen einen gottähnlichen Status: En la suivant nous ne dépendons que de nous mêmes, & nous devenons par là en quelque façon des Dieux (S. 57).

Die Existenz Gottes wird durch drei traditionelle Gottesbeweise begründet: durch den Schluss von der Zeitlichkeit aller Lebewesen auf die Ewigkeit eines Höchsten Wesens (S. 77–80), durch den Schluss von der zweckmäßigen Ordnung und Schönheit der Welt auf einen Schöpfer (v. a. anatomischer Finalismus, S. 80: l’Œil, la main), durch den Schluss von der Existenz der Bewegung in der Materie auf einen ersten Beweger (premier moteur, S. 83). Die pantheistische Gleichsetzung von Gott und Welt wird als absurd zurückgewiesen (S. 81 f.). Der Atheismus wird als Irrtum verstanden, der aus einer falschen anthropomorphistischen Gottesvorstellung zu erklären sei (S. 73 f.), wie er der christlichen Religion und deren Gottesdienst zugrunde liege: La raison veut que l’homme soit infiniment inferieur à Dieu, & le superstitieux ravale cet Estre supréme au dessous de la nature humaine, [. . .] n’est-il pas plus raisonnable de croire qu’il n’y a point de Dieu que de penser qu’il prend plaisir à un culte aussi étrange que [p. 74] celui que l’on prétend qu’il exige de nous, qu’il se met en colere de ce que nous négligerons quelques ceremonies qui nous coûtent beaucoup de peines & de tèms sans que ni lui ni nous en tirions aucun avantage; [. . .] (S. 73 f.).

Gott ist unabhängig, er bedarf keines menschlichen Gottesdienstes (S. 133 f.). Gott ist gut und bevorzugt keinen Menschen (S. 134–138). Gottes Vorsehung lenkt die Welt nach den von ihm geschaffenen, unveränderlichen Gesetzen. Es gibt mithin keine individuelle göttliche Vorsehung und keine von Gott bewirkte Aufhebung der Naturgesetze, keine „providence Divine à miracles continuels“ (S. 139–155, dort 142, 155), sondern nur eine „providence de Dieu à volontés generales“ (S. 154). Folgerichtig verehren die Avaïten Gott nur durch die Kontemplation seiner Attribute, durch die eigene Gewissensprüfung mit dem Ziel der Besserung, endlich durch Bittgebete, die nur das ihnen selbst Erreichbare verlangen, nicht aber Wunder: Les Avaïtes adorent Dieu par une contemplation de ses atributs [sic] & de sa grandeur; ensuite ils font une revûe sur leurs actions, ils en examinent les fautes pour se corriger; ils sondent leur cŒur pour en rectifier la [p. 241] pente aux mouvements injustes qu’il pourroit avoir: Ils finissent par prier Dieu, mais ils ne lui demandent que des choses qu’ils ont en leur pouvoir de se donner (S. 240 f.).

Die Unsterblichkeit der Seele wird mit Hilfe des von Descartes formulierten Dualismus bewiesen: der Unvereinbarkeit von Materie und Geist, „substance étendue“ (res extensa) und „substance qui pense“ (res cogitans) (S. 87 ff., dort 88 f., 91, 93 f.): Allein die Vorstellung von der „denkenden

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Substanz“ schließe schon das für die Materie charakteristische Merkmal der räumlichen Ausdehnung aus; da die Seele denke, könne sie nicht Materie sein. Interessanterweise wird auch das Pascalsche Argument der Wette (le pari) für die Unsterblichkeit der Seele angeführt (S. 104). Die Verhängung von Lohn und Strafe im Jenseits wird mit den Argumenten bewiesen, Gottes Gerechtigkeit erfordere den Ausgleich für die Not der irdischen Existenz wie für die Verbrechen, die einer irdischen Strafe entgangen sind (S. 155 f., 165 ff., 167). Durch Pflichterfüllung wird die Strafe vermieden, durch Reue gemindert (S. 175 f.). Der Morallehre der Avaïten liegt ein optimistisches Menschenbild zugrunde: Der Mensch ist von Natur aus gut, er unterliegt also nicht der Erbsünde (implizit S. 172); Gott habe ihn geschaffen, damit er glücklich sei (S. 157, 211, 218, 219); alles Streben des Menschen ist auf das Glück gerichtet (S. 163), im Diesseits wie im Jenseits (S. 117): Il est vrai, dit l’Avaïte, que ce qu’il y a de plus grand [p. 108] dans l’homme est l’homme même; ses perfections naturelles sont de penser & d’être éternellement heureux; [. . .] (S. 107 f.).

Allein durch die „Loi naturelle“ – durch das natürliche Licht des Verstandes und nicht durch Offenbarung – haben die Avaïten den höchsten Grad moralischer Vollkommenheit erreicht (S. 5). Die Religionskritik der Gilbertschen Utopie richtet sich gegen die christliche Offenbarungsreligion. Diese Zielrichtung kennzeichnet der Erzähler und angebliche „Herausgeber“ im Text selbst mit dem Hinweis, er habe zwei Bücher des Manuskripts „du Judaisme“ und „du Christianisme“ gestrichen, „[. . .] parce qu’il[s] ne seroi[ent] peut-être pas de notre goût [. . .]“ (S. 181). Trotz dieser Streichungen bleibt genug direkte und indirekte Kritik erhalten. Sie wendet sich gegen die Mehrdeutigkeit der Bibeltexte, gegen die historische Unzuverlässigkeit des Berichts von der Passion Christi (S. 54), gegen die Exegese des Berichts von der Einsetzung des Abendmahls (S. 45 f.), gegen das Dogma von der Erbsünde (S. 172, 230 ff.), mit dem implizit auch die Notwendigkeit einer Erlösung durch Christus entfällt, gegen die Gottessohnschaft Christi und damit gegen die Trinität (S. 190); Gilberts Kritik richtet sich gegen die individuelle göttliche Vorsehung (S. 139 ff.), gegen Wunder (S. 67, 68, 190), gegen Gottesdienst und Gebet (S. 73 f., 133 f. und 154, 282), gegen Fasten (S. 282), gegen den Zölibat, die religiös begründete Enthaltsamkeit (S. 122 f., 271), gegen die Unauflösbarkeit der Ehe (S. 275), gegen das Mönchtum, „ces faineants de contemplatifs“ (S. 308). Tendenziell heterodox sind die Rechtfertigung der Leidenschaften, der Sinnlichkeit, des sexuellen Begehrens (S. 237 f. und 243 f.) und das Eintreten für eine autonome Moral, ja für die Sittlichkeit von Atheisten (S. 84 f.):

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Alatre: [. . .] car sans Religion on peut vivre moralement [p. 85] bien, quoique dans le monde on ne démêle point l’Atheisme de l’irreligion, & l’irreligion d’un abandonnement à toute sorte de vice [. . .]. (S. 84 f.: Alatre).

Die deistische Vernunftreligion ist untrennbar mit der aufklärerischen Forderung nach religiöser Toleranz verbunden. Schon die Rahmenhandlung, die durch die zunehmenden Calvinistenverfolgungen motivierte Auswanderung aus Frankreich kurz vor der Aufhebung des Edikts von Nantes, weist auf die brennende Aktualität dieser Frage hin. Die friedlichen Diskussionen zwischen dem Calvinisten Christofile, den Deisten Alatre, Eudoxe und dem Avaïten, endlich dem Muslimen Samieski stellen gleichsam ein Exempel praktizierter Toleranz dar. Der Hugenotte Christofile formuliert als Meinungsträger Gilberts das Prinzip der religiösen Toleranz, die sich mit Loyalität zu Staat und Gesellschaft verbindet: [. . .] contraindre les gens d’agir contre leurs sentiments ou contre leur conscience, c’est les contraindre de pécher & pécher soi-même; nous sommes donc obligés en conscience de laisser un chacun libre dans ses opinions, pourvû que par ses actions il ne trou- [p. 256] ble pas le repos de l’Etat; ou que ces opinions ne permettent des crimes qui renversent l’ordre de la vie civile; [. . .] (S. 255 f.).

Das Toleranzpostulat gilt selbst für die Muslime: Christ und Türke werden gleich behandelt: Qui doute qu’un Turc ne pechât en échangeant sa religion, qu’il croirait bonne, contre le Christianisme, quelque menace que l’Evangile lui fasse? (S. 255)18

Der Deist Alatre fügt hinzu, dass der Unterschied der Religionen die Eintracht des Zusammenlebens nicht auszuschließen brauche. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter beweise, dass das christliche Gebot der Nächstenliebe selbst auf den Häretiker anzuwenden sei (S. 252 ff.). Der Zwang zur Konversion wie auch der Religionswechsel gegen die eigene Überzeugung werden vom christlichen Standpunkt als Sünden verurteilt (S. 255). Es ist besonders interessant, dass Gilbert konsequent die Toleranzforderung nicht nur für die christlichen Konfessionen erhebt, sondern auch den Islam als gleichberechtigte Religion einschließt (z. B. S. 61, 203, 255, 184 f.). Die christliche Überheblichkeit gegenüber dem Islam wird damit aufgehoben. Das wird besonders deutlich, wenn Gilbert den Türken Samieski mit dem Argument des Pascalschen „pari“, der Wette, zugunsten seines muslimischen Glaubens sprechen und auf den Koran als Quelle verweisen lässt: Que risquez-vous, dit Samieski, à croire l’Alcoran s’il est faux, mais que ne risquez- [p. 185] vous pas à ne le point croire s’il est véritable? Ce raisonnement, dit l’Avaïte est tiré de Mahomet, au chapitre hécaf; il parle ainsi. Avez-vous con18 Zu muslimischen Quellen des Arguments der Wette vgl. Leibacher-Ouvrard 1989, S. 79 f. und n. 2.

Claude Gilberts Histoire de Calejava (1700) als deistische Utopie

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sideré en quel état vous serez si l’Alcoran est envoyé de Dieu. Mais qui empêche toutes les religions de tenir un pareil langage? (S. 184–185)19

In der Forschung besteht Konsens darüber, dass die Histoire des Calejava einen Verschmelzungsprozess zweier philosophischer Tendenzen bezeugt: des christlichen Rationalismus Descartes’ und Malebranches einerseits und des skeptischen „libertinage érudit“ andererseits. Aus dem Studium der Schriften Descartes’ und Malebranches hat Gilbert die Basis für seinen „déisme antichrétien“ gewonnen (Tocanne 1980, S. 217), der ihn als Vorläufer der Aufklärung erscheinen lässt.20 Als Grundgedanken der Religionsgespräche der Histoire de Calejava erkennt man die aufklärerische Überzeugung Gilberts, dass alle positiven Religionen auf den gemeinsamen Kern der „religion naturelle“, der deistischen Vernunftreligion, reduziert werden könnten, die jenen vorzuziehen sei. Der Rückblick auf die Utopien des 16. und 17. Jahrhunderts lässt erkennen, dass in dem Vernunftglauben der Avaïten eine deistische Tendenz ihren Höhepunkt findet, die seit Morus und Campanella, seit Foigny und Veiras die Entwicklung der literarischen Gattung Utopie wesentlich bestimmt hat. Literatur a) Texte und Quellen bis 1800 Bacon, F., Novus Atlas, in: Bacon, Opera omnium, Ausgabe S. J. Arnoldus, Leipzig 1694, S. 976–994 (zitiert: Bacon 1694). Campanella, T., La città del sole; testo italiano e testo latino, Ausgabe N. Bobbio, Torino 1941 (zitiert: Campanella 1941). Descartes, R., Œuvres et lettres, Ausgabe A. Bridoux, Paris 1966 (Bibliothèque de la Pléiade, 40) (zitiert: Descartes 1966). Foigny, G. de, La Terre australe connue, reproduction du texte original de l’édition de Genève, 1676, in: F. Lachèvre, Les Successeurs de Cyrano de Bergerac, Genève 1968 (zitiert: Foigny 1968).

19

Die von Claude Gilbert (in der Histoire de Calejava S. 72) zitierte Histoire de l’état présent de l’Empire Ottoman (Paris, S. Mabre Cramoisy, 1670) von Ricaut kritisiert die scheinbare Toleranz für Christen als politischen Opportunismus und bloße Taktik der Türken; vgl. S. 182–191, 191–194. 20 Konsens in der Einschätzung der Bedeutung des christlichen Rationalismus von Descartes und Malebranche für die Ausbildung des Gilbert’schen Deismus: Adam 1968, Bd. V, S. 324; Tocanne 1980, S. 216–217; Rivière 1987, S. 22, 44, 68; Rivière, Edition der HdC, S. XVI, XXI, XXX; Racault 1991, S. 410–411; Trousson 1999, S. 102.

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Hans-Günter Funke

Gilbert, Claude, HISTOIRE/DE/CALEJAVA/ou/DE L’ISLE DES/Hommes raisonnables./AVEC LE PARALELLE [sic]/de leur morale & du/Christianisme. M.D.CC. (Ms PF 973, Fonds Baudot: Bibliothèque Municipale de Dijon) (zitiert: Manuskript). – Histoire de Calejava ou De l’Isle des Hommes raisonnables. Avec le paralelle [sic] de leur Morale & du christianisme [Dijon, J. Ressayre], 1700. (FacsimileAusgabe der EDHIS, Editions d’histoire sociale, Paris 1970) (zitiert: HdC). – Histoire de Calejava ou de l’Isle des Hommes raisonnables, Edition critique par Marc Serge Rivière, University of Exeter 1990 (Textes littéraires, 74). Lucrèce, (Titus Lucretius Carus), De la nature, Ausgabe A. Ernout, Paris 1978. Malebranche, N., Œuvres complètes, Ausgabe G. Rodis-Lewis, Paris 1979, Bd. I (zitiert: Malebranche 1979). – Entretiens sur la métaphysique et la religion, in: Œuvres complètes, Ausgabe A. Robinet, Paris 1965, Bd. XII (zitiert: Malebranche 1965). Morus, Th., Complete Works, Bd. IV, Utopia, Ausgabe E. Surtz SJ und J. H. Hexter, New Haven/London 1965 (zitiert: More 1965). Nicole, P., Essais de morale, Paris 1715 (zitiert: Nicole 1715). Papillon, Abbé Ph., Bibliothèque des auteurs de Bourgogne, Dijon 1742, Bd. I, S. 249, Artikel „Gilbert, Claude“ (zitiert: Papillon 1742). Ricaut, Histoire de l’état présent de l’Empire Ottoman, Paris 1670 (zitiert: Ricaut 1670). Vairasse d’Allais, D., L’Histoire des Sévarambes, peuples qui habitent une Partie du troisième Continent, communément appelé La Terre australe, 2 Bde., Paris, chez l’autheur, Bruxelles, L. Marchand, 1681–1682 (zitiert: Vairasse [= Veiras] d’Allais 1681–1682).

b) Kritische Literatur ab 1800 Adam, A., Histoire de la littérature française au XVIIe siècle, Bd. V, 1968, S. 324–325 (zitiert: Adam 1968). Bouchard, M., De l’humanisme à l’Encyclopédie, L’Esprit public en Bourgogne sous l’Ancien Régime, Paris 1930 (zitiert: Bouchard 1930). Funke, H.-G., Die Utopie der französischen Aufklärung: Formen, Themen und Funktionen einer literarischen Gattung, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, Bd. 12, 1988, S. 40–61 (zitiert: Funke 1988). – Diderots Supplément au voyage de Bougainville und die Tradition der literarischen Utopie, in: S. Jüttner (Hrsg.), Présence de Diderot, Internationales Kolloquium zum 200. Todesjahr von Denis Diderot an der Universität-GH-Duisburg vom 3.–5. Oktober 1984, Frankfurt/M. etc., P. Lang, 1990 (Europäische Aufklärung in Literatur und Sprache, 1), S. 71–91 (zitiert: Funke 1990).

Claude Gilberts Histoire de Calejava (1700) als deistische Utopie

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– Das interkulturelle Streitgespräch zwischen Europäer und „Wildem“ als Medium aufklärerischer Zivilisationskritik: La Hontans Dialogues curieux entre l’auteur et un sauvage (1703), in: G. Vickermann-Ribémont/D. Rieger (Hrsg.), Dialog und Dialogizität im Zeichen der Aufklärung, Tübingen 2003, S. 69–94 (zitiert: Funke 2003). Lanson, G., Origine et premières manifestations de l’esprit philosophique dans la littérature française de 1675 à 1748, in: Revue des Cours et Conférences, Bd. 16–17 (1907–1909), S. 219–223 (zitiert: Lanson 1907–1909). Leibacher-Ouvrard, L., Libertinage et utopies sous le règne de Louis XIV, Genève 1989 (zitiert: Leibacher-Ouvrard 1989). Racault, J.-M., L’Utopie narrative en France et en Angleterre 1675–1761, Oxford, Voltaire Foundation (Studies on Voltaire and the eighteenth century), S. 406–417 (zitiert: Racault 1991). – Artikel „Histoire de Calejava ou de L’Isle des hommes raisonnables“, in: V. Fortunati/R. Trousson (Hrsg.), Dictionary of Literary Utopias (Dictionnaires & références, 5), Paris 2000, S. 273–274 (zitiert: Racault 2000). Rivière, M. S., Utopia in 1700, A Study of the Histoire de Caléjava by Claude Gilbert, Townsville (Australia), 1987 (Capricornia, 6); vgl. Rezension H.-G. Funke, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, 1990, S. 325–328 (zitiert: Rivière 1987). – „Introduction“, in: C. Gilbert, Histoire de Calejava ou de l’Isle des Hommes raisonnables, Ed. critique par M. S. Rivière, University of Exeter 1990 (Textes littéraires, 74), S. V-XXXIV (zitiert: Rivière 1990). Rymut, K., Nazwiska Polaków, Słownik historyezno-etymologiezny, Bd. 2, Kraków 2001 (zitiert: Rymut 2001). Tocanne, B., Aspects de la pensée libertine à la fin du XVIIe siècle: Le cas de Claude Gilbert, in: Dix-septième siècle, 127 (April–Juni 1980), S. 213–224 (zitiert: Tocanne 1980). Trousson, R., Voyages aux pays de nulle part; Histoire littéraire de la pensée utopique, 3. Aufl., Bruxelles 1999, S. 101 f. (zitiert: Trousson 1999). Wijngaarden, N. van, Les Odyssées philosophiques en France entre 1616 et 1789, Haarlem 1932 (Dissertation, Amsterdam, 1932) (zitiert: Wijngaarden 1932).

Das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 Die Idee der „besten aller möglichen Welten“ und das Problem der Utopie Andreas Heyer Der französische Wissenschaftler Pierre-Louis Moreau de Maupertuis1 wurde am 17. Juli 1698 in Saint-Malo geboren, in jener Stadt, in der ein paar Jahre später auch Julien Offray de La Mettrie das Licht der Welt erblickte. 1718 wurde Maupertuis Offizier der Armee, fünf Jahre später trug seine umfangreiche akademische Bildung erste Früchte: als Mitglied der Académie des Sciences stieg er nominell unter die bedeutenden Wissenschaftler Europas auf. Weitere Mitgliedschaften in den gelehrten Sozietäten folgten, so dass er 1736 auf Order des französischen Königs nach Lappland reiste. Zusammen mit anderen Wissenschaftlern (z. B. La Condamine, Bouguer, Godin) und auf der Grundlage weiterer Expeditionen gelang der Nachweis der bereits von Newton vermuteten der Abplattung der Erde: eine der wissenschaftlichen Sensationen des Jahrhunderts. Die Publikationen Maupertuis’ zu seinen Theorien lösten vor allem in Deutschland heftige Diskussionen aus, er wurde unter anderem als Plagiator bezeichnet – das von ihm vertretene Prinzip der kleinsten Aktion habe er bei Leibniz abgeschrieben. In den 40er Jahren des 18. Jahrhunderts griff dann Voltaire, mit dem wir uns noch beschäftigen werden, in den Streit ein und unterzog Maupertuis in der Diatribe du Docteur Akakia (1753) seiner zynisch-beißenden Kritik. Diese Schrift führte neben weiteren Vorkommnissen zum Bruch der Freundschaft von Voltaire und Friedrich II., der sich auf die Seite Maupertuis’ stellte. Denn der preußische König konnte und wollte nicht auf Maupertuis verzichten, hatte er ihn doch mit einer wichtigen Aufgabe betraut: der Reorganisation der Berliner Akademie, deren Präsident er 1744 wurde.2

1 Zu Maupertuis in unserem Zusammenhang vgl. die immer noch grundlegende Verankerung im Rahmen der Aufklärungsphilosophie durch Callot 1965. Die Werke von Maupertuis nach der 1768 in Berlin und Lyon veranstalteten Gesamtausgabe, die Tonelli neu editiert hat. Er verfasste auch eine Einleitung, die für die Forschung programmatischen Charakter hat (Tonelli 1974, XI-LXXXIII). 2 Angaben nach Heyer 2005, Bd. 2, S. 215–217; Tonelli 1974.

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Die deutsche Philosophie und Literatur hatten im 18. Jahrhundert nicht nur, bekanntermaßen, beim preußischen König einen schlechten Ruf. Auch in Frankreich blickte man spöttisch auf die langatmigen theologischen, pietistischen oder philosophischen Traktate. Den wahrscheinlich treffendsten Beweis hierfür liefert der pornographische Roman Les bijoux indiscrets von Denis Diderot. In diesem schilderte er mehrere sexuelle Abenteuer vor dem Hintergrund der Länder, in denen sie zelebriert wurden. Die in Deutschland spielende Geschichte ist dabei in Latein geschrieben und zeichnet sich durch einen einzigen Faktor aus: Das Fehlen jeglichen Esprits. Zugeschlagen wiederum wurden der so belächelten sprichwörtlichen deutschen Gemütlichkeit und Gründlichkeit die Schriften von Christian Wolff, Christian Thomasius und auch Gottfried Wilhelm Leibniz.3 Im Lichte dieses Zeitgeistes erhellt sich, dass Maupertuis als Präsident der Berliner Akademie vor allem eine Aufgabe verfolgte: Den Kampf gegen die Théodicée von Leibniz und damit gegen jenen Fatalismus, der behauptete, dass die Welt, so wie sie ist, gut sei. Leibniz hatte dies ja auf die bekannte Formel der „Besten aller möglichen Welten“ gebracht. Des Weiteren bezog Maupertuis alle Denker und Theoretiker in seine Kritik ein, deren Systeme er in der Nähe der Théodicée vermutete. Das Mittel, welches Maupertuis hierfür nutzte, wurde im 18. Jahrhundert oftmals angewendet und war auch Bestandteil bzw. Anlass für verschiedene und zum Teil heute noch bekannte Texte: die Preisfragen der Akademie. Hier wurde ein Thema ausgegeben, welches dann innerhalb einer bestimmten Zeit überdacht werden musste. Die Arbeiten wurden eingereicht und begutachtet. Verbunden waren mit der Bewertung Auszeichnungen, Pensionen und andere finanzielle Zuwendungen. 1753 lautete die Frage: „Erbeten wird die Untersuchung des Popeschen Systems, das in dem Satz ‚Alles ist gut‘ enthalten ist. Die Aufgabe besteht darin: 1. Den tatsächlichen Sinn dieses Satzes gemäß der Hypothese des Autors zu bestimmen; 2. Ihn mit dem System des Optimismus, oder der Wahl des Besseren, zu vergleichen, um die Übereinstimmungen und Widersprüche genau aufzuzeigen; 3. Schließlich die Gründe anzuführen, die man für die Bestätigung oder Widerlegung dieses Systems am geeignetsten hält.“4 Der erste Autor, der die Gedanken Alexander Popes in die Nähe zur Théodicée von Leibniz stellte, war Jean-Pierre de Crousaz5, der sich, da er kein Englisch konnte, auf die Übersetzungen von Étienne de Silhouette6 3

Vgl. exemplarisch die Artikel der Encyclopédie, vgl. Heyer 2004, S. 119–180. Zit. bei Guthke 1996, S. 787. 5 Crousaz kam aus den Ästhetikdebatten der Frühaufklärung her, vgl. den einflussreichen Traité du beau, Amsterdam, 1715. Mit Bezug auf unser Thema von Relevanz: Examen de l’essai de M. Pope sur l’homme, Lausanne, 1737, Commentaire sur la traduction en vers de M. l’abbé Du Resnel de l’essai de M. Pope sur l’homme, Genève, 1738, Réflexions sur l’ouvrage intitulé La Belle Wolffienne, Lau4

Das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755

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(Essai sur la critique et sur l’homme, Londres (= Paris), 1736) und JeanFrancois du Bellay Du Resnel (Essai sur la critique, 1730, Les Principes de la morale et de goût, 1737) stützte. Und Crousaz kam, ähnlich wie Maupertuis vom Kampf gegen Leibniz her. Sein Ziel war die Widerlegung von Leibniz und vor allem auch von Wolff, die er nun an Popes Gedicht erneut vorbrachte. Doch Pope hat seine Verteidiger gefunden. Direkt auf Crousaz reagierte Warburton (The Divine Legation of Moses, 1738–17417), der gegen diesen eine Schrift verfasste. Und noch Denis Diderot griff bei seiner Kritik der Übersetzung Popes durch Silhouette auf Warburton zurück um mit diesem gegen Crousaz vorzugehen.8 Diese Ablehnung von Crousaz’ Thesen und Prämissen ist ein Thema, dass sich in Diderots Werken bis weit in die siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts nachweisen lässt.9 Doch worin besteht das Popesche System, das es nach Maupertuis über den LeibnizVerdacht zu diskreditieren gilt? Pope veröffentlicht von 1733–34 sein episches Gedicht Essay on man. Dessen Grundaussage ist der Versuch, den Menschen auf eine Erforschung seiner eigenen Natur und Geschichte festzulegen.10 „Erkenn dich selbst, erforsch nicht Gottes Kraft! Der Mensch ist erstes Ziel der Wissenschaft.“11 Hinzu tritt dabei die an Michel de Montaigne erinnernde Relativierung der Stellung des Menschen im Kosmos, zu seinesgleichen und zu den anderen Geschöpfen der Natur. Dem korrespondiert dann auf einer weiteren Ebene der Ausgleich der vorkommenden Ungerechtigkeiten und bürgerlichen Ausdifferenzierungsprozesse. Oder anders: Pope legte kein auf Nivellierung oder Egalisierung abzielendes Moral-Mosanne, 1743, Observations critiques sur l’Abrégé de la Logique de M. Wolff, Genève, 1744. 6 Weitere Werke im Zusammenhang der Pope-Kontroverse: Essai d’une traduction des Dissertations de Bolingbroke sur les partis qui divisent l’Angleterre, Londres, 1739, Übers.: Pope: Mélanges de littérature et de philosophie, 2 Bde., Londres, 1742, Übers.: Warburton: Dissertation sur l’union de la religion, de la morale et de la politique, 2 Bde., Londres, 1742. 7 Übersetzt durch Malpeines: Essai sur les hiéroglyphes des Egyptiens, 2 Bde., Paris, 1744. Daneben die bereits genannte Übertragung durch Silhouette sowie Mazéas, Guillaume (Übers.): Warburton: Dissertation sur les tremblements de terre et les éruptions du feu, 1754. 8 Maßgeblich entwickelt bei der kritischen Durchleuchtung der Shaftesbury-Übersetzung: Essai sur le mérite et la vertu. 9 Vgl. Heyer 2004. 10 In der Einleitung schrieb Pope: „Es gibt nicht viele sichere Wahrheiten in dieser Welt. Es ist daher in der Anatomie des Geistes wie in der des Körpers. [. . .] Wenn ich mir selbst schmeicheln könnte, dass dieser Essay irgendein Verdienst hat, so ist es dieses, dass er zwischen den Extremen von scheinbar entgegengesetzten Lehren hindurchsteuert, dass er äußerst unverständliche Ausdrücke umgeht, und dass er eine gemäßigte, aber nicht inkonsistente und kurze, aber nicht unvollkommene Ethik herausbildet.“ (Pope 1993, S. 15). 11 Pope 1993, S. 39.

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dell vor, sondern einen Ansatz, der die Unterschiede und vor allem auch die irrationalen und allgemein negativ besetzten (von Pope aber entscheidend aufgewerteten) Leidenschaften des Menschen in das sich erst a posteriori bildende Gemeinwohl einbindet. Abhängig voneinander Herr und Knecht und Freund setzt Gott in das Verhältnis recht. Eines wird so durch das andre unterstützt, des einen Schwäche der Stärke aller nützt. So wächst aus Mängeln, Schwachheit, Leidenschaft Gemeininteresse; so das Band sich strafft. [. . .] Von welchem Stand, Vermögen, Menschenschlag – Nicht einer mit dem Nachbarn tauschen mag. Froh der Gelehrte die Natur benennt; Der Narr ist froh, dass er so wenig kennt; Der Reiche glücklich schwelgt im Überfluss; Der Arme freudig Gott vertrauen muss. Der blinde Bettler tanzt, der Krüppel singt, der Säufer prahlt, der Irre fürstlich winkt, der kümmerliche Chemiker sich Gold erträumt; dem Dichter ist die Muße hold. Auf seinen Trost ist jeder Stand bedacht.12

Alexander Pope als Metaphysiker in der Prägung durch Leibniz? Die gelehrte Welt stand Kopf. Gotthold Ephraim Lessing und Moses Mendelssohn, die einflussreichen Vertreter der deutschen Version der Aufklärung, argumentierten vehement gegen diese These. Schon kurz nach der Ausschreibung der Akademiefrage erschien ihr heute noch bekanntes Werk Pope ein Metaphysiker!13 Die Theoriekonstrukte Popes und Leibniz’, so ihre grundlegende These, hätten nichts gemeinsam. Denn wenn man die Unterschiede zwischen beiden verwische und ihre Gedankengebäude miteinander verbinde, dann könnte man auch gleich noch den bereits erwähnten Christian Wolff in den Topf werfen (was Voltaire ja forderte), Baruch de Spinoza, Anthony Ashley Cooper Shaftesbury, eigentlich jeden, der sich in irgend einer Weise mit der Welt auseinandersetze. Ermöglicht wurde die Vermengung von Leibniz und Pope durch den oft zitierten Satz Popes: „Whatever is, is right.“, den dieser in seinem Essay on Man mehrfach geschrieben hatte. Wie die Frage der Akademie verdeutlicht, übersetzte man dies in Deutschland mit: „Alles ist gut.“ Oder in Frankreich analog mit: „Tout est bien.“ Lessing und Mendelssohn machten auf diesen Übersetzungsfehler aufmerksam, der sich in den deutschen Übertragungen von Barthold Heinrich Brockes (Aus dem Englischen übersetzter Versuch vom Menschen, des Herrn Pope, Hamburg, 1740) und Johann Harder (Versuch am (sic!) Men12 13

Pope 1993, S. 53 f. Lessing/Mendelssohn 1996.

Das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755

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schen, Halle 1772) ebenso findet wie in den französischen von Silhouette und Du Resnel. „Wie, wenn Pope nicht gesagt hätte, dass alles gut, sondern nur, dass alles recht sei? Wollte man wohl recht und gut für einerlei nehmen? Hier seine Worte: – Whatever is, is right. Man wird hoffentlich einem Dichter, wie Pope ist, die Schande nicht antun, und sagen, dass er durch den Reim gezwungen worden ist, right hier anstatt irgend eines andern Worts zu setzen. Wenigstens war er in dem vierten Briefe, wo er diesen Ausspruch wiederholt, des Reimzwanges überhoben, und es muss mit ernstlichem Bedacht geschehen sein, dass er nicht good oder well gesagt hat. Und warum hat er es wohl nicht gesagt? Weil es offenbar mit seinen übrigen Gedanken würde gestritten haben. Da er selbst zugesteht, dass die Natur manche Übel fallen lasse; so konnte er wohl sagen, dass dem ohnegeachtet alles recht sei, aber unmöglich, dass alles gut sei. Recht ist alles, weil alles, und das Übel selbst, in der Allgemeinheit der Gesetze, die der Gegenstand des göttlichen Willens waren, gegründet ist. Gut aber würde nur alsdenn alles sein, wenn diese allgemeinen Gesetze allezeit mit den göttlichen Absichten übereinstimmten.“14

In dem Moment, wo man die Formel Popes richtig übersetze und damit in ihrer Intention verstehe, sei Pope Lessing und Mendelssohn zufolge weit von Leibniz entfernt. Der Leibniz-Verdacht ist aufgehoben. Was dieser von uns kurz referierte Streit zwischen durchaus einflussreichen Vertretern der Aufklärung manifestiert, ist die permanente Präsens der Théodicée im Denken der Epoche. Die Wirkung von Wolff in Deutschland erklärt sich zum Großteil auf diese Weise, ebenso Popes Erfolg in England und Frankreich. Selbst Immanuel Kant oder der Marquis de Condorcet am Ende des Jahrhunderts kamen nicht an diesem Problemkontext vorbei, mussten oder wollten sich positionieren. 1755 trat das Ereignis ein, welches die Debatte um die „Beste aller möglichen Welten“ zu einem weiteren Kulminationspunkt führte. Das Erdbeben in Lissabon zerstörte nicht nur die Stadt, sondern es erschütterte die Welt.15 Knapp 30.000 Todesopfer (zeitgenössische Schätzungen sprachen von 20.000 bis 60.000) waren zu beklagen. Die eigentliche Wirkung des Ereignisses wurde aber vor allem dadurch erzielt, dass es eine der ersten Sensationsnachrichten war. Viele Schriften sind zählbar, die sich mit dem Erdbeben beschäftigten, noch Immanuel Kant16 wird in insgesamt drei Werken eine naturwissenschaftliche Erklärung versuchen. Es waren die Zeitungen, die wochenlang die europäische Bevölkerung mit neuen Schreckensnachrichten versorgten, immer wieder das Leid einzelner in allen Zügen beschrieben. Auf den Kanzeln wurde nur noch über die Strafe Gottes gepre14

Ebd., S. 649. Breidert 1994. 16 Vgl. exemplarisch Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigen Vorfälle des Erdbebens, welches an dem Ende des 1755sten Jahres einen großen Teil der Erde erschüttert hat. 15

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digt, in den Salons und gelehrten Zirkeln die wissenschaftlichen Ursachen diskutiert. Das Erdbeben von Lissabon führte auch zur Entstehung des Boulevards und damit zur reißerischen und gewinnorientierten Vermarktung eines Ereignisses und seiner tragischen Folgen. Vor allem drei Schriften haben die tagesaktuelle Beschäftigung mit dem Thema überlebt. Voltaire veröffentlichte 1756 sein Gedicht über die Katastrophe von Lissabon oder Prüfung jenes Grundsatzes „Alles ist gut“. Bereits der Titel verdeutlicht, worum es ihm ging. Gegen Leibniz begriff Voltaire das Erdbeben von Lissabon als eine Katastrophe, die verdeutliche, dass auf der Erde nicht alles gut sei, da solche Unglücke geschehen und Gott nicht helfend interveniere. Jean-Jacques Rousseau erhielt einige Wochen nach der Veröffentlichung das Gedicht zugesendet, obwohl es vorher zwischen den beiden bereits zu den Querelen um den 2. Discours Rousseaus gekommen war, den Voltaire ja polemisch angegriffen hatte. Rousseau antwortete mit einem Brief, der als Brief über die Vorsehung bekannt geblieben ist. Gegen Voltaire (und gegen die Aufklärung) ergänzte Rousseau mit dieser Schrift seinen 2. Discours und wies die Schuld an dem Ausmaß der Katastrophe allein den Menschen zu. Nach ihm griff Voltaire mit dem Candide noch einmal in die Diskussion ein. In dem „philosophischen Roman“ suchte er erneut die Auseinandersetzung mit Leibniz und Wolff – das Erdbeben von Lissabon spielt hier allerdings nur eine untergeordnete Rolle, ist bloß eine von vielen Katastrophen: menschlichen ebenso wie natürlichen. Voltaire und Maupertuis haben sich nie besonders gut verstanden: es kann gesagt werden, dass sie am preußischen Hof Gegner waren und etwa auch bei der Darstellung der englischen Philosophie und Politik im kontinentalen Europa miteinander um Deutungs- und Rezeptionshoheit konkurrierten. Wir haben bereits auf jene Schrift verwiesen, in der sich dann Voltaire über Maupertuis lustig machte. Im Gedicht über die Katastrophe von Lissabon schloss er sich ihm aber an. So entwickelte er im Vorwort noch einmal die These Maupertuis’, dass Pope ein Metaphysiker und Anhänger von Leibniz und dass beide gleich falsch seien. Voltaire ging sogar noch einen Schritt weiter. Neben Pope setzte er auch Shaftesbury und Bolingbroke dem Théodicée-Verdacht aus. Diese These des Rekurses von Pope auf Shaftesbury wurde ursprünglich von Warburton aufgestellt und diente bereits Lessing und Mendessohn als zentrales Argument der kritischen Auseinandersetzung mit eben einer solchen – nach ihrer Lesart – Stigmatisierung. Sie schrieben: „Ich komme zu der zweiten Quelle, die Warburton dem Dichter (Pope, A. H.) gibt; und diese ist der Lord Shaftesbury, von welchem er sagt, dass er den Platonischen Satz („Gott hat die beste Welt erwählt.“, A. H.) angenommen, und in ein deutlicher Licht gesetzt habe. Inwieweit dieses geschehen sei, und welches das verbesserte System dieses Lords sei, will die Akademie jetzt nicht wissen. Ich

Das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755

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will also hier nur so viel anführen, dass Pope den Shaftesbury zwar offenbar gelesen und gebraucht habe, dass er ihn aber ungleich besser würde gebraucht haben, wenn er ihn gehörig verstanden hätte.“17

In dem Moment, wo Voltaire auch Shaftesbury mit Pope und Leibniz in Verbindung brachte, argumentierte er grundlegend gegen die englische Richtung der Religionskritik, die zur selben Zeit von Denis Diderot und Julian Offray de La Mettrie (sowie auch von Maupertuis) im Rahmen der französischen Spielart des Materialismus zu einer atheistischen Lebensphilosophie des Skeptizismus umgedeutet wurde. Die Kronzeugen dieser Entwicklung waren Epikur (Fragmente) und Lukrez (Von der Natur), deren Rezeption daher ebenfalls verstärkt einsetzte. Voltaire kritisierte damit über die Theorie der „Besten aller möglichen Welten“ hinausgehend auch die Radikalisierung der Aufklärung, wie sie sich an der Epochenwende in den Jahren von 1750 bis 1770 beobachten lässt.18 Wir sehen, unsere Interpretationsrichtung vorausgesetzt, Voltaire also als Kritiker der englischen Philosophie um 1700 sowie der dort mindestens keimhaft angelegten Theorien des Atheismus (Shaftesbury, Mandeville), des Materialismus (Toland) und der Erkenntnistheorie (Hobbes, Locke). Dies ist vielleicht etwas überraschend, gilt doch gerade Voltaire (zusammen mit der Marquise du Châtelet) als einer der Transmissionsriemen der englischen Philosophie in den französischen Raum. Aber er verteidigte seine Konzeption eben mit allen Mitteln – salopp formuliert: wo er nicht der Häuptling war, durfte es keiner sein. Eine Beobachtung, die sich nicht der Autor dieser Zeilen zubilligt, sondern die von Rousseau stammt: „Ich kann nicht umhin, mein Herr, bei dieser Gelegenheit einen recht erstaunlichen Gegensatz zwischen Ihnen und mir bei dem Thema dieses Briefes zu bemerken. Übersättigt vom Ruhm und enttäuscht von eitlen Würden leben Sie frei mitten im Überfluss. Ihrer Unsterblichkeit ziemlich sicher, philosophieren Sie lustig über die Natur der Seele, und wenn der Körper oder das Herz leidet, haben sie Tronchin als Arzt und Freund. Sie finden trotzdem nur Übel auf der Erde. Und ich unbekannter, armer, von einem unheilbaren Übel geplagter Mensch denke in meiner Zurückgezogenheit mit Freude nach und finde, dass alles gut ist. Woher kommen diese offenbaren Widersprüche? Sie haben es sich selbst erklärt: Sie genießen, aber ich hoffe, und die Hoffnung verschönert alles.“19

Bei Leibniz ist in der Theorie der „Besten aller möglichen Welten“ angelegt, dass alles, was geschieht, einen ganz bestimmten Sinn innerhalb der göttlichen Ordnung habe. In letzter Konsequenz bedeutet dies dann, dass z. B. jene Dinge, die den Menschen als Unglück erscheinen, nur deshalb als solches interpretiert werden, weil der Mensch in seiner Schwachheit und 17 18 19

Lessing/Mendelssohn 1996, S. 665. Vgl. grundlegend Heyer 2005. Rousseau 1994, S. 92 f.

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Ängstlichkeit (als durch die Erbsünde geplagtes Wesen) den „wahren Zweck“ nicht erkenne. Voltaire hat diese Theorie mit der ganzen Kraft seiner polemischen Sprache wie folgt zusammengefasst: Wenn ein Mensch stirbt, so ist dies deshalb nicht so schlimm, da er nun den Würmern zu Nahrung diene und den Boden als Humus bereichere. Alles hat so bei Leibniz einen Zweck und wer an Gott zweifelt, der ist hochmütig und überheblich, denn er sieht ja nur den tieferen Sinn der Katastrophen nicht. Gegen diese Thesen richtet sich ganz zentral die Argumentation Voltaires. Es ist nach ihm kein Trost, wenn man das Erdbeben von Lissabon auf diese Weise relativiere. Ganz im Gegenteil könne man hier fast so etwas wie eine Verhöhnung der Opfer und ihrer Angehörigen sehen. Voltaire schrieb: Dieses Unglück, sagt ihr, muss als Wohl man ansehn: Aus dem blutigem Leib viel’ Insekten entstehn. Tod, du Gipfel des Leid’s, lass mich nicht ihn vergessen, jenen Trost: Einst werd’ ich von den Würmern gefressen! Rechner, traurige ihr, die das Elend verleiden, ach, ihr tröstet mich nicht, ihr vermehrt meine Leiden. [. . .] Wird aus Unglück im Chaos von euch nicht zuletzt Ein allgemeines Glück doch zusammengesetzt? Welch ein Glück! Wie erbärmlich, wie sterblich und schwach! Ihr ruft „Alles ist gut“ – kläglich klingt es – uns nach. Lügen straft euch die Welt. Euer Herz hat bewegt Fehler eures Geist’s hundertmal widerlegt.20

Die These der „besten Welt“ stand dem Mitleidsdiskurs der Aufklärung an zentralen Punkten antagonistisch gegenüber. Denn genau hier waren sich die Vertreter der Aufklärung – von Fontenelle über Diderot, Mercier und Rousseau bis hin zu Condillac und Holbach – einig: Vermittels des Mitleids als bürgerlicher Tugend ist Aufklärung möglich, die dadurch einen zumindest antiklerikalen (mit Blick auf die Institution Kirche) Bezug bekommt – das ist die grundlegende These des drame bourgeois. Gleichzeitig meldete die Aufklärung so ihre Forderungen an: Denn in dem Moment, wo sie in der Lage ist, das Handeln der bürgerlichen Gesellschaft zu prägen, zu leiten und normativ auszugestalten, hat sie, dem eigenen Anspruch nach, auf dieser einen Ebene die Nachfolge der bekämpften Religion angetreten. Zurückführen lässt sich diese Position auf Horaz (Ars poetica) und Aristoteles (Poetik, Nikomachische Ethik). Wir erkennen damit eine weitere Trennlinie zwischen Voltaire und England um 1700. Es ist der Antagonismus zwischen Aristoteles und Platon, als ästhetischer Rekurs der französischen Aufklärung auf Aristoteles und dessen Poetik, der gegen den um 1700 in England entstehenden Neu-Platonismus gesetzt wird. Das hat Ernst Cassirer (1932) in aller Deutlichkeit nachgewiesen. Das Mitleid ist Teil des Menschen und 20

Voltaire 1994, S. 66 f.

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wer es verneine oder ausschließe, der entmenschliche den Menschen, so Voltaire in der zitierten Passage. In der Folge verwarf Voltaire daher explizit Platon und neben diesem auch Epikur und Lukrez. An den beiden letzteren kritisierte er die These, dass der Tod den Menschen nichts angehe, dass Entstehen und Vergehen normale und unumgängliche Prozesse der Natur seien. Damit wird eine der Grundthesen des antiken und französischen Materialismus von Voltaire nicht akzeptiert.21 Gegen die von Voltaire als fatalistisch bezeichnete These des ständigen Werdens und Vergehens in der Natur setzte er noch einmal das Mitleid als zentrales Moment gesellschaftlicher Zusammenschlüsse. Die materialistischen Denker in Frankreich behaupteten das Gegenteil. Bei La Mettrie (L’homme machine, Système d’Épicure) und dann auch bei Helvétius (Vom Menschen, Vom Geist) und Holbach (System der Natur) wird in aller Schärfe deutlich, dass sie davon ausgingen, dass der Mensch der Materie mehr oder weniger hilflos ausgesetzt sei. Es war Diderot, der mit dieser starren Position brach und in seinen Werken den Ausgleich zwischen Materialismus, Bürgerlichkeit und Mitleid suchte.22 Angesichts der Katastrophe von Lissabon ist nach Voltaire nur noch eine einzige Position zu akzeptieren: Der an Pierre Bayle geschulte Skeptizismus sowie die Philosophie des Zweifelns in Permanenz. Dass sich Voltaire zur Autorisierung seiner skeptischen Grundhaltung auf Bayle stützte und nicht auf Montaigne, kann als weiteres Element seiner Auseinandersetzung mit Rousseau, Maupertuis und Diderot verstanden werden, die immer auf Montaigne verwiesen. Aber, warnte Voltaire, man dürfe den Skeptizismus nicht so weit treiben wie Bayle (Dictionnaire historique et critique), der nach ihm Opfer seiner eigenen Theorie wurde: Die Systeme und Gebäude von Scholastik, Metaphysik, Aberglauben und Fanatismus, die er zum Einstürzen brachte, begruben ihn unter den Trümmern.23 Man brauche trotz der Kapazitäten der eigenen Vernunft einen Fixpunkt, an dem man sich orientieren könne. Und dieser Anker ist für Voltaire die Aufklärung der eigenen Person. Was er damit allerdings meint, ist nicht die Politisierung und Radikalisierung der Aufklärung24, sondern die französische Frühaufklärung als kulturell-ästhetische und auch staatsstützende Kritik einer intellektuellen 21

Vgl. Bloch 1982; Overmann 1991. Vgl. Fontenay 1981. 23 „Ich verzichte auf Platon, verwerf’ Epikur. Mehr als alle weiß Bayle, darum ich ihn befrage. Zweifeln, das lehrt uns Bayle, lehrts, als hielte er die Waage. Weil so weise, ist auf kein System er gerichtet. Selbst hat er sich bekämpft und sie alle vernichtet. Wie der Blinde, der ist mit Philistern gefallen Unter den von ihm selbst eingerissenen Hallen.“ (Voltaire 1994, S. 71). 24 Vgl. grundlegend Darnton 1983. 22

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Elite, der er sich selbst zurechnete. Dabei, und das war für ihn entscheidend, agierte sie im Rahmen des Staates (und nicht gegen diesen), maßgeblich getragen von eben den Personen, die die Institutionen des Absolutismus unter Ludwig XIV. ausfüllten und prägten. Andre Zeiten und Sitten: Alter lehrt und zuweilen, Schwächen verstörter Menschen mit ihnen zu teilen; Meine Aufklärung suchend in der Nacht, die so dicht, – Ich verstehe das Leid, das Geschwätz aber nicht.25

Im Herbst 1756 veröffentlichte Rousseau seinen Brief über die Vorsehung, explizit gegen Voltaire gerichtet. Rousseaus Position bei der Beurteilung der Ereignisse in Lissabon und ihrer Verarbeitung in der intellektuell-wissenschaftlichen Sphäre der europäischen Staaten war eindeutig. Nicht Mitleid sei angebracht oder Skeptizismus, vielmehr müsse endlich die Schuld für solche Katastrophen zugewiesen werden an den, der sie trägt: Den zivilisierten Menschen. „Ich sehe nicht, dass man die Quelle des moralischen Übels woanders suchen dürfte als im freien, perfekten, folglich verdorbenen Menschen. Und was die physischen Übel betrifft: Wenn die sinnlich empfindende, aber gefühllose Materie – wie es mir scheint – ein Widerspruch ist, so sind sie in jedem System, in dem der Mensch einen Teil darstellt, unvermeidlich. [. . .] Bleiben wir bei Ihrem Thema Lissabon, so sollten Sie z. B. eingestehen, dass nicht die Natur dort 20.000 Häuser zu je sechs bis sieben Etagen erbaut hat, und dass der Schaden, wenn die Einwohner dieser großen Stadt gleichmäßiger verteilt und in leichteren Bauwerken gewohnt hätten, viel geringer oder vielleicht überhaupt keiner eingetreten wäre. [. . .] Wie viele Unglückliche sind bei dieser Katastrophe umgekommen, weil sie etwas mitnehmen wollten: der eine seine Kleider, der andere seine Papiere, wieder ein anderer sein Geld!“26

Rousseau verfolgte konsequent die Argumentation weiter, die er bereits im 1. Discours entwickelt hatte: Der Mensch ist für sein Unglück selbst verantwortlich. Fortschritt, Entwicklung, Kultur, Gesellschaftlichkeit etc. werden als Zivilisation, ja, als Dekadenzerscheinungen abgelehnt. Solange der Mensch sich weigere, dies einzusehen, gibt es für ihn keine Hoffnung und es werden ihn immer wieder Katastrophen wie Lissabon treffen. Denn die Zahl der Todesopfer dort sei nur deshalb so hoch, da die Menschen Städte gegründet hätten, ohne über die dabei implizierten Gefahren nachzudenken. Dieser Gedanke ist entscheidend für das Werk Rousseaus, findet er sich doch etwa im Émile wieder, wo er ausführen wird, dass die Städte das „Grab der Menschen“ sind.27 Die Möglichkeit der „Rettung“ der Mensch25

Voltaire 1994, S. 73. Rousseau 1994, S. 81. 27 „Menschen sind keine Ameisen. Sie leben verstreut auf der Erde, die sie bebauen müssen. Je dichter sie zusammenleben, desto mehr verderben sie einander. 26

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heit besteht nach Rousseau in der Durchbrechung des Einflusses der kirchlichen und philosophischen Parteien: Beide seien abzuschaffen. Auch diese Thesen hatte er bereits in seinen frühen Werken angedacht. Im Brief über die Vorsehung führt ihn die Kritik an der Kirche als Institution nun zu einer ersten Antizipation des Glaubensbekenntnisses des savoyischen Vikars, das er dann im Émile aufstellte. Der Brief über die Vorsehung ist damit, ein Jahr vor dem Brief an d’Alembert über Genf erschienen, der erste Text Rousseaus, der zum Teil als anti-aufklärerisch bezeichnet werden kann, während er weder mit dem 1. Discours noch mit seinen späteren Werken – Contrat social, Émile, Dialogues – den Boden der Aufklärung verließ. „Die ersten, die Gottes Sache verdorben haben, waren die Priester und die Frommen, die nicht dulden, dass sich etwas nach der festgesetzten Ordnung bildet, sondern die göttliche Gerechtigkeit immer an den völlig natürlichen Ereignissen teilnehmen lassen und, um ihrer Sache sicher zu gehen, die Bösen strafen und kasteien und die Guten ohne Unterschied der Begebenheit entsprechend mit Gütern oder Übeln prüfen oder belohnen. [. . .] Die Philosophen erscheinen mir ihrerseits wenig vernünftiger, wenn ich sehe, dass sie sich an den Himmel klammern, dem gegenüber sie nicht gleichmütig sind, und schreien, es sei alles verloren, wenn sie Zahnschmerzen haben, oder weil sie arm sind, oder weil man sie bestiehlt, oder wenn sie, wie Seneca sagt, Gott beauftragen, ihr Reisegepäck zu bewachen.“28

Ereignisse wie das Erdbeben von Lissabon sind nach Rousseau weder als Äußerung Gottes denkbar noch durch die Philosophie erklärbar. Er interpretierte sie vielmehr einzig und allein als Konsequenz der Zivilisation und damit als direktes Ergebnis menschlichen Handelns. Ein Weiteres wird durch das Zitat deutlich: Analog zu Voltaire argumentierte Rousseau gegen Epikur, Lukrez und den neuzeitlichen Materialismus. Und auch ihre Kritik am „Alles ist gut“ von Pope ist identisch. Wir haben bereits ausgeführt, dass dies eine falsche Übersetzung der ursprünglichen Formel Popes ist. Rousseau selbst kannte die Schrift nicht im Original, da er kein Englisch sprach. Er wird daher die von Diderot scharf kritisierte Übertragung ins Französische durch Silhouette benutzt haben, die diesen Übersetzungsfehler enthält. Rousseau führte nun aus, dass man weder mit Pope sagen kann: „Alles ist gut“, noch mit Voltaire fragen darf, ob jemand leidet oder nicht. Vielmehr komme es darauf an, zu überprüfen, ob das Leid des Individuums im Zusammenhang mit dem Universum stehe. Nach Rousseau müsse man etwa sagen: „Das Ganze ist gut.“ Dies genau ist ja nun aber der tiefere Sinn des Krankheiten und Laster sind die Folge dieser Zusammenrottung. Der Mensch kann von allen Lebewesen am wenigsten in Herden leben. Wie Schafe zusammengepfercht würden die Menschen in kurzer Zeit zu Grunde gehen. Der Atem des Menschen ist für seinesgleichen tödlich; das ist wahr im eigentlichen wie im übertragenen Sinn. Städte sind das Grab der Menschen.“ (Rousseau 1995, S. 35). 28 Rousseau 1994, S. 88.

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ursprünglichen „Whatever is, is right.“ von Pope. Rousseau ist damit zu diesem zurückgekehrt, obwohl er sich des Rekurses nicht bewusst war. Gegen Voltaire und die bei diesem geortete Dekadenz setzte Rousseau die Kategorie der Hoffnung, die sich freilich nicht auf Fortschritt oder Wachstum bezieht, sondern um den Gedanken des Einklanges von Natur und Mensch kreist. Angesichts des Erdbebens von Lissabon ist es nach Rousseau falsch, mitzuleiden, ist es nach Rousseau und Voltaire falsch, Gott hinzuzuziehen. Was aber bleibt, ist für Voltaire die Aufklärung der eigenen Person und für Rousseau die Hoffnung, die solchermaßen auch als regulatives Prinzip der Vernunft erscheint. Voltaire reagierte nicht direkt auf das Werk Rousseaus, aber er antwortete 1759 mit dem Roman Candide oder der Optimismus, in dem er noch einmal die These der „Besten aller Welten“ und verschiedene andere metaphysische Spekulationen verspottete.29 Candide, der (wenn man so will) Held des Romans, wird von seinem Lehrer (einem Deutschen) im Sinne der Lehren von Leibniz, Pope und Wolff erzogen und glaubt nach Abschluss dieser Erziehung blind an die These, dass diese jetzige Welt die beste sei. In der Folge der Handlung wird er mit einer Reihe anderer Personen den unerbittlichen Härten des Schicksals ausgeliefert. Ihm und den weiteren Protagonisten widerfährt so ziemlich alles, was man sich an menschlichem Leid vorstellen kann. Es ist permanent Krieg, es wird getötet, vergewaltigt, geheuchelt und dem Laster gefrönt, Verstümmelungen, Liebeskummer, Geschlechtskrankheiten und Schiffbrüche sind permanente Ereignisse. Und immer glaubt Candide daran, dass alles, so wie es eingerichtet ist, gut sei. Einer der Philosophen, die er auf der Reise trifft, fasst gegen diesen Optimismus das Unglück der Welt zusammen: „Ich habe kaum eine Stadt gesehen, die nicht den Untergang ihrer Nachbarstadt gewünscht hätte, ich kenne keine Familie, die nicht eine andere Familie hätte ausrotten wollen. Überall verwünschen die Schwachen die Mächtigen, und doch kriechen sie vor ihnen, und die Starken wiederum behandeln jene wie eine Hammelherde, deren Fleisch und Wolle man verschachert. Eine Million zu Regimentern formierter Mörder durchzieht Europa von einem Ende zum andern, mordet und raubt in aller Disziplin, um sich das tägliche Brot zu verdienen und weil sie sich auf kein anständigeres Handwerk versteht. In den Städten aber, die sich des Friedens zu erfreuen scheinen und in denen die Künste in hoher Blüte stehen, werden die Menschen mehr noch von Lastern, Sorgen und Ängsten verzehrt als in einer belagerten Stadt, die viele Plagen über sich ergehen lassen muss. Heimliche Kümmernisse sind weit unerträglicher als sichtbares Elend. Mit einem Wort: Ich habe von alledem so viel gesehen und erlebt, dass ich Manichäer geworden bin. – Trotzdem gibt es auch Gutes, entgegnete Candide. – Mag sein, versetzte Martin, mir ist es jedoch niemals begegnet.“30 29 Im Rahmen des utopischen Diskurses kurz analysiert bei Saage 2002, S. 256–258. 30 Voltaire 1948, S. 217 f.

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Die Liste des Leids, welches Candide erlebt, ist so lang, dass nach Voltaire eine Überfahrt von Amerika nach Frankreich nicht ausreichen würde, es zu erzählen. Im Rahmen seiner Irrfahrten kommt Candide unter anderem auch nach Lissabon und wird Opfer des Erdbebens. Er ist Sklave, Gefängnisinsasse, Kriegsteilnehmer, Opfer der Inquisition, reich, arm, hungrig, soll bei Kannibalen gegrillt werden, verübt mehrere Morde und wird auch von den Jesuiten in Paraguay verfolgt. Voltaire konfrontierte nun die auf diese Weise geschilderte „Beste aller Welten“, in der solches Übel an der Tagesordnung sei, mit dem Entwurf einer Utopie, dem Land Eldorado. Gerade bei der Schilderung des utopischen Konstruktes wird deutlich, dass es die Leidenschaften sind, die Voltaire für das menschliche Unglück verantwortlich macht. Wenn es gelinge, sie zu drosseln oder in andere Bahnen zu lenken, dann werde der Mensch besser und handle dementsprechend. Da Utopien aber (so auch Voltaire) nicht verwirklicht werden können (und im 18. Jahrhundert auch nicht wollen), müsse die Drosselung der Leidenschaften auf anderem Wege erfolgen. Voltaire stellte das von ihm unterbreitete Lösungsangebot gegen den Vorwurf Rousseaus, dass er nur das „Alles ist gut!“ durch ein „Alles ist schlecht!“ ersetzt habe. Es ist die Arbeit, die am Ende des Buches die gescheiterten und gequälten Existenzen des Romans endlich einem relativen und selbsterworbenen Glück zuführt. Die Bewirtschaftung eines kleinen landwirtschaftlichen Betriebes vereint die Leidenden und bessert sie. Dass dieses Glück nur fragilen und ambivalenten Charakters ist, versteht sich von selbst, kann doch auch diese Anlage zerstört werden. Es ist aber eine interessante Wendung Voltaires, dass er die Drosselung der Leidenschaften durch die Arbeit vorsieht und dass er der Hinwendung zur Arbeit als Prozess sozusagen die Läuterung der Individuen impliziert. Er wendet an dieser Stelle ein Verfahren an, das sich so auch bei Johann Gottfried Schnabel in der Insel Felsenburg findet. Gegen das Unglück der Welt kann man nach Voltaire nur eines setzen: Ein aktives Leben. Denn die Arbeit ist es ja auch, durch die Lissabon wieder aufgebaut wird. Direkt gegen Rousseau hat Voltaire dem Fortschritt eine zentrale Rolle bei der Überwindung bzw. Unterjochung der Naturgewalten zugesprochen. Kultur und Zivilisation, bei Rousseau erst für die Katastrophe von Lissabon verantwortlich, werden von Voltaire nun genau als die Faktoren bestimmt, die solche Katastrophen kompensieren. Voltaires Position war nicht das letzte Wort der Debatte, wie gerade der utopische Diskurs der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeigt. Wer – wie oder mit oder nach Leibniz – daran glaubt, dass die existierende Welt per se „die beste aller möglichen“ darstellt, für den ist utopisches Denken gleichsam überflüssig, ja: falsch. Jedwede sich von selbst einstellende Veränderung der gegenwärtigen empirischen Situation ist dann automatisch identisch mit dem erreichbaren optimalen Gemeinwohl; jedes Denken, das andere Möglichkeiten sozialen Seins thematisiert, ein Verleugnen der Realität. Hier

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beginnt die konservative Utopiekritik, die, freilich auf einem theoretisch tiefer stehenderen Niveau, in den letzten Jahrzehnten von Joachim Fest, Lothar Bossle oder Robert Spaemann aktualisiert wurde. Nicht zuletzt deshalb ist Karl-Otto Apel zuzustimmen, der bisher als einer der wenigen auf den antiutopischen Impetus der Theorie Leibniz’ aufmerksam machte.31 Ein anderes Urteil ergibt sich, wenn wir Rousseaus politische Philosophie betrachten. Auch bei ihm findet sich eine explizite Utopiekritik, die als direktes Ergebnis seiner reflexiven Überprüfung der Fortschrittstheorien sowie deren kulturpessimistischer Wendung erscheint. Das betrifft den 2. Discours ebenso wie die Briefe vom Berge oder die Nouvelle Héloïse. In diesen Werken überwiegt, allen literaturwissenschaftlichen Spitzfindigkeiten zum Trotz, die kritische Durchleuchtung und damit verbunden die negierende Abwertung der archistischen Traditionslinie der Utopie. Und dennoch konnte Rousseau verschiedene Bestandteile des utopischen Diskurses nicht völlig zurückweisen. Er übernahm sie in sein zentrales Paradigma – den Kontraktualismus – und brachte sie dort zur Entfaltung. Für diesen Trend stehen der Contrat social und der Émile ebenso wie die autobiographischen Schriften.32 Durch das Erdbeben von Lissabon wurden Diskussionen ausgelöst, die also auch das utopische Denken prägten. Es ist sicherlich zu weit ausgegriffen, wenn wir den Umschwung von der Raum- zur Zeitutopie durch LouisSébastien Merciers L’an 2440 als Ausweichen vor den Realbedingungen der europäischen Natur interpretieren. Aber zumindest ist deutlich erkennbar, dass in der von Mercier antizipierten Zukunft die Zerstörung der bisherigen Manifestationen menschlicher Handwerkskunst Funktionen übernimmt, die zur Stabilisierung des idealen Gemeinwesens beitragen. Denn am Ende des Romans begibt sich der per Traum in Utopia weilende Besucher nach Versailles – bzw. zu den letzten Resten der ehemaligen Residenz. Dabei trifft er Ludwig XIV., der ihm Folgendes berichtet: „Es ist von selbst in sich zusammengefallen. Ein Mann wollte hier in seinem unbändigen Ehrgeiz die Natur bezwingen; überstürzt errichtete er ein Gebäude nach dem anderen; getrieben von Genusssucht und Willkür hat er seine Untertanen ausgesaugt. Das ganze Geld des Reiches wurde hier verschleudert. Ein Strom von Tränen ist hier geflossen, mit denen man die Bassins hätte füllen können, von denen keine Spur mehr geblieben ist. Dies hier ist alles, was von diesem Koloss übrig ist, den eine Million Hände unter so vielen schmerzvollen Mühen aufgerichtet haben. Dieser Palast entbehrte eines festen Grundes; so war er das Abbild dessen, der ihn erbaute. Die Könige, die ihm auf den Thron folgten, mussten hier ausziehen, aus Furcht, erschlagen zu werden. Könnten doch diese Steinhaufen allen Monarchen zurufen, dass diejenigen, die eine augenblickliche Macht missbrauchen, dem folgenden Geschlecht nur ihre Schwäche aufdecken.“33 31 32

Vgl. Apel 1985, S. 325. Vgl. neuerdings Saage/Heyer 2005.

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Der Natur und dem geschichtsphilosophisch gedeuteten Verlauf der Historie werden „reinigende“ Kräfte zugeschrieben. Denn natürlich zerstören sie im utopischen Gemeinwesen nur die Spuren der Vergangenheit: die als noch viel prächtiger und größer beschriebenen Gebäude der Utopier bleiben unberührt. Der Grund hierfür liegt in der Utopie selbst: Die Bauten der Utopier sind Ausdruck ihres neuen Seins, es sind in diesem Sinne Zweckbauten.34 Wenn wir Versailles begreifen als das, was es dem Anspruch nach war: Der Ausdruck menschlicher Schöpferkraft, aber auch unerhörter Dekadenz und Verschwendung, sind die Passagen Merciers zu werten. Denn sie verweisen direkt in den Kern der Ausführungen Constantin Francois de Volneys. In seinem Werk Les Ruines entwickelte er eine Kulturtheorie, die den Zerfall alter Reiche und Zivilisationen anhand der von ihnen gebliebenen Trümmer festmachte. Oder anders: Es ging Volney darum, mit Hilfe der Thematisierung der Ruinen des Orients, die darauf verweisen, dass hier einst mächtige Kulturen standen, die eigene europäische Gegenwart zu relativieren. Wenn in der Vergangenheit alle zivilisierten Völker untergingen, so fragte er, welche Gründe sprechen dann dafür, dass es der abendländischen Zivilisation anders ergehen werde. Bei Volney hat, wenn wir das Verhältnis von Natur und Kultur als Antagonismus verstehen, die Natur das letzte Wort. Allerdings gibt es auch bei ihm eine Möglichkeit, diesem „ewigen“ Kreislauf zu entkommen. Mittels der Geschichtsphilosophie müsse die Vermessung der Vergangenheit und der Gegenwart geleistet werden. Dadurch könne dann eine Zukunft antizipiert werden, die als normative Zielvorgabe fungiere und so das Handeln der Menschheit anleite. „Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit sollen für immer unser Gesetzbuch und unser Zielpunkt sein.“35 Damit ist aber die Anerkennung der Notwendigkeit von Aufklärung und Revolution verbunden, die beide erst die Bestimmung der Zukunft ermöglichen. Die Vernunft ersetzt die Natur, als deren legitimer Erbe sie dann erscheint, wenn sie ihre Prinzipien bestätigt und auf neuer Ebene legitimiert. „Man muss, mit einem Worte, eine Grenzlinie ziehen zwischen den Gegenständen, welche zu erweisen stehen oder nicht, und die Welt der Phantasie von der 33

Mercier 1989, S. 296 f. „Man lobt die prächtigen Schauspiele, die man dem römischen Volk geboten hat. Man möchte von dieser Tatsache auf die Größe dieses Volkes schließen. Es war unglücklich, sobald es anfing, sich zu diesen prächtigen Festen zu versammeln, auf denen die Früchte seiner Siege verschwendet wurden. Wer hat die Zirkusarenen, die Theater und die Thermen gebaut? [. . .] Es waren die gekrönten Ungeheuer, deren Tyrannenstolz die Hälfte des Volkes ausradierte, um die Augen des Kollegen zu belustigen. Die gewaltigen Pyramiden, deren sich Ägypten rühmt, sind Denkmäler der Gewaltherrschaft. Republikaner bauen Wasserleitungen, Kanäle, Wege, öffentliche Plätze, Märkte. Jeder Palast aber, den ein Monarch errichtet, ist der Keim zu einem nahem Unglück.“ (Mercier 1989, S. 296 f.). 35 Volney 1977, S. 107. 34

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Welt der Wirklichkeit durch eine unverletzliche Scheidewand trennen, das heißt: den theologischen und religiösen Meinungen allen Einfluss auf die bürgerliche Verfassung nehmen. Und das ist, ihr Völker, der Zweck, den eine große, von ihren Fesseln und Vorurteilen befreite Nation sich vorgesetzt hat. [. . .] O ihr Könige und Priester! Verzögern mögt ihr die feierliche Bekanntmachung der Gesetze der Natur noch eine Zeitlang, sie aber zu vernichten oder umzustoßen, steht nicht mehr in eurer Macht.“36

Die radikalsten Konsequenzen aus der beobachteten physischen Bedrohung des Menschen durch die Natur zog freilich Marie-Jean-Antoine-Nicolas Caritat, marquis de Condorcet. Für ihn war eindeutig, dass die reine Unterwerfung und Nutzbarmachung der Natur, wie sie den utopischen Diskurs seit Thomas Morus’ Utopia prägte, nicht mehr ausreiche und auch den Perspektiven einer möglichen Zukunft nicht entsprechen. In seinem 1793/1794 verfassten Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain legte er seine Thesen dar. Die entscheidende Vorbedingung für Condorcets Überlegungen ist in dem Zusammenfall von Utopie und Geschichtsphilosophie zu sehen, so dass auf diese Weise die Antizipation der Zukunft mit der Realhistorie der Französischen Revolution verbunden werden konnte. Wenn diese in aller Emphase weiter vorangebracht und an den Prinzipien der Aufklärung orientiert werde, dann könne der entscheidende Sprung der Menschheit gelingen: der über die Grenzen der Natur hinaus, also gleichsam aus ihr heraustretend. Die Revolution erscheint in diesem Sinne als Durchgangsstadium in den utopischen Raum, in dem selbst die Naturgesetze nicht mehr gelten bzw. entscheidenden Wandlungen unterliegen. Die Idee der unbegrenzten perfectibilité (bei Rousseau im 2. Discours noch negativ besetzt) gilt nun nicht nur für das Individuum und das gesamte Menschengeschlecht, sondern auch für die Natur selbst. Sie konvergiert mit dem zivilisatorischen Fortschritt, gedeutet als Kultur. Der Mensch kann aus ihr ausbrechen, da der Verlust dieses Determinantenrasters ausschließlich positive Auswirkungen habe.37 „Da wir hier von einem Fortschritt sprechen, der mit Hilfe numerischer Größen oder durch Kurven genau dargestellt werden kann, ist jetzt der Anlass gegeben, den Doppelsinn des Wortes unbegrenzt zu erörtern. In der Tat kann jene mittlere Lebensdauer, die sich in dem Maße, wie wir in die Zukunft eindringen, unablässig vergrößern muss, einem gesetzmäßigen Wachstum unterliegen, dergestalt, dass sie sich einem unbegrenzten Umfang beständig annähert, ohne ihn je erreichen zu können; oder dergestalt, dass sie in der Unermesslichkeit der Zeiten einen größeren Umfang annehmen kann als irgendeine bestimmte Größe, die ihr als Grenze gesetzt wäre. Im letzteren Falle ist der Zuwachs wirklich unbegrenzt im unbedingten Sinne, da es keinen Endpunkt gibt, vor dem er haltmachen müsste. [. . .] Wir müssen daher nach dem Beispiel, das hier betrachtet wird, annehmen, 36 37

Ebd., S. 226 f. Vgl. Heyer 2006.

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dass die mittlere Dauer des menschlichen Lebens unaufhörlich zunehmen muss, wenn physische Umwälzungen dem nicht entgegenwirken; aber wir wissen nicht, welches die Grenze ist, die sie niemals überschreiten kann; wir wissen nicht einmal, ob die allgemeinen Naturgesetze ihr eine Grenze gesetzt haben, über die hinaus sie nicht zunehmen kann.“38

Das Erdbeben von Lissabon stellt innerhalb der neuzeitlichen Ideengeschichte eine Zäsur dar. Noch bis ins 19. Jahrhundert sind Spuren dieses Ereignisses in verschiedenen Werken feststellbar. Der Fortschritt hatte durch die Katastrophe ebenso einen Dämpfer erhalten wie die normativen Bindeversuche der Aufklärung und der Religion. Und wir sehen bereits vor der Reflektierung der Fortschritts- und Industrialisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts eine kritische Position gegenüber diesen Tendenzen des Menschengeschlechts. Daneben steht aber auch, hier exemplarisch an Condorcet gezeigt, die Bejahung der Zukunft als komplette Verneinung der Gegenwart, d. h. als Entfesselung aller (!) Kräfte. Es ist vielleicht das eigentliche Signum der Aufklärung, dass sie die Fähigkeit besaß, Katastrophen wie Lissabon in unterschiedlichen und eben divergenten Entwürfen zu verarbeiten. Denn die Aufklärung als Prozess ging weiter und fand in Denis Diderot, Louis-Sébastien Mercier oder Bernardin de Saint-Pierre (Paul et Virginie) die Theoretiker, die sie selbstreflexiv hinterfragten und dadurch weiter ermöglichten. Die Auswirkungen dieser Umorientierungen sehen wir heute vor allem im Rahmen des utopischen Diskurses, so die Pointe unseres Textes. Literatur Apel, K.-O., Ist die Ethik der idealen Kommunikationsgemeinschaft eine Utopie?, in: Voßkamp, W. (Hg.): Utopieforschung, 3 Bd., Bd. 1, Frankfurt/Main 1985, S. 325–355 (zitiert: Apel 1985). Bloch, O., Le matérialisme du XVIIIe siècle et la littérature clandestine, Paris 1982 (zitiert: Bloch 1982). Breidert, W. (Hg.), Die Erschütterung der vollkommenen Welt, Darmstadt 1994 (zitiert: Breidert 1994). Callot, E., La philosophie de la vie au XVIIIe siècle étudiée chez Fontenelle, Montesquieu, Maupertuis, La Mettrie, Diderot, d’Holbach, Linné, Paris 1965 (zitiert: Callot 1965). Cassirer, E., Shaftesbury und die Renaissance des Platonismus in England, Leipzig 1932 (zitiert: Cassirer 1932). Condorcet, Marie Jean Antoine de Caritat, marquis de: Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, hrsg. v. W. Alff, Frankfurt/Main 1976 (zitiert: Condorcet 1976). 38

Condorcet 1976, S. 220.

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Andreas Heyer

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Der Kult der Arbeit als Ausgangspunkt für das neue menschliche Gemeinwesen der Zukunft Émile Zolas „Le Travail“: Ein Urbild des Städtebaus im 20. Jahrhundert Eva-Maria Seng Zwischen März des Jahres 1900 und Mai des darauf folgenden Jahres 1901 verfasste Emile Zola (1840–1902) seinen vorletzten Roman „Le Travail“, die Arbeit. Er wurde nahezu zeitgleich ab Dezember 1900 im Feuilleton der Zeitschrift L’Aurore vorabgedruckt, bevor er ab Mai 1901 im Verlag von Georges Charpentier erschien (Becker, Gordin-Servenière, Lavielle 1993, 424, 429–432). Wenn auch die Erstpublikation schon eine Auflage von 77.000 Exemplaren erreichte, wurde Le Travail danach lediglich innerhalb einiger französischer Gesamtausgaben Zolas publiziert (1928 109.000 verkaufte Exemplare der französischen Ausgabe) (Becker, Gordin-Servenière, Lavielle 1993, 424). Deutsche Übersetzungen gibt es seit Erscheinen des Romans und als überarbeitete Versionen von 1916 und aus den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.1 Ebenso wurde das Werk 1919 in das neue Medium des Films übertragen (Buck 2002, 6). Heute ist das Spätwerk Zolas weitgehend unbekannt; insbesondere die letzten Romane, die zum Zyklus der „Vier Evangelien“ (Quatre Evangiles) zählen, nämlich Fécondité 1899 (Fruchtbarkeit), Travail 1901 (Arbeit), Verité 1903 (Wahrheit) und Justice (Gerechtigkeit, lediglich handschriftliche Fragmente),2 wurden seit 1950 kaum beachtet und, wenn ja, als schwaches 1

Die deutsche Erstausgabe erschien 1901/1902 in einer Übersetzung von Leopold Rosenzweig (nicht mehr greifbar). 1916 veröffentlichte die Deutsche Verlagsanstalt in Stuttgart das Werk. Dieselbe Übertragung publizierte auch der Insel-Verlag in Leipzig. Die Ausgaben halten sich eng an den Originaltext. Eine weitere Übersetzung von Leopold Rosenzweig veröffentlichte der Verlag Th. Knaur Nachf. Berlin o. J. Vgl. hierzu auch Bernard 1959, S. 170. 2 Zola starb am 29. September 1902 in seiner Pariser Wohnung an einer Kohlenmonoxydvergiftung aufgrund eines defekten Kaminabzugs. Verschiedentlich wurde vermutet, dass dieser Unfall möglicherweise auf eine (absichtlich) unsachgemäß ausgeführte Reparatur eines nationalistischen Ofensetzers zurückzuführen sei. Zolas Überreste wurden sechs Jahre nach seinem Tode ins Pariser Panthéon überführt.

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idealistisches Spätwerk eines einst kritischen, politischen Schriftstellers abgetan (Becker, Godin-Servenière, Lavielle 1993, 343). Dagegen begriff Zola seine „Quatre Evangiles“ nach seinen Arbeitsnotizen als „natürliche Schlussfolgerung seines gesamten Werkes; nach einer langen Beschreibung der Wirklichkeit nun für die weitere Entwicklung die Gesundheit, die Fruchtbarkeit und die Arbeit und als krönender Abschluss die Gerechtigkeit. So beende ich dieses Jahrhundert und eröffne das kommende.“3 Diese Einstellung wird nicht zuletzt auch am gewählten Titel für den letzten Zyklus deutlich, der offensichtlich als Heilsbotschaft und damit Lösungsmodell für das begonnene 20. Jahrhundert verstanden wurde. Gerade die idealistischen, utopischen Züge des Spätwerks mit seiner ideologischen Botschaft brachten Zola vielfach Kritik und Ablehnung schon von seinen Zeitgenossen und insbesondere von der Forschung ein. So sah sich ein Teil der Zola-Interpreten von seinen Heilsversprechen peinlich berührt und wertet sein Spätwerk auch unter dem Blickpunkt schriftstellerischer Qualität als weit hinter seinem großen naturalistischen 20-bändigen Zyklus RougonMacquart zurückstehend. Dort schilderte er anhand zweier Zweige einer Familie, eines bourgeoisen Rougon-Zweiges und eines dem Proletariat zugehörenden Macquart-Zweiges, die sozio-ökonomischen Verhältnisse im Zweiten Kaiserreich der 70er und 80er Jahre des 19. Jahrhunderts und damit der Entstehungszeit der Romane. Alkoholismus, Wahnsinn, Tuberkulose, Prostitution, Arbeits- und Lebensbedingungen im Pariser Unterschichtenmilieu oder den Kohlegruben, aber auch die Höllenkraft und Geschwindigkeit der Eisenbahn oder die neu entstandenen Markthallen und ersten Großkaufhäuser sind Determinanten seiner aus Erbgut und Milieu sich speisenden Natur- und Sozialgeschichte.4 Zwar wird zwischenzeitlich von der Forschung immer wieder eine Auseinandersetzung mit Zolas Spätwerk angemahnt, die aber nur wenig Resonanz findet (Buck 2002, 6 ff.). Dennoch werden wie von Henri Mitterand oder Peter Müller insbesondere die Analogien zwischen Zolas frühen Figurentypen und denjenigen des Spätwerkes betont, wobei sowohl in Handlung, Personen und Erzählstruktur „Travail“ die Fortsetzung oder das Wiederauftauchen von Themen aus „Germinal“ darstellte. So kann man nach Mitterand sogar von „gleichartigen Strukturen oder jedenfalls von weitreichenden 3 „C’est la conclusion naturelle de toute mon oeuvre; après la longue constatation de la réalité une prolongation de la santé, de la fécondité et du travail, mon besoin latent de justice éclatant enfin. Puis, je finis le siècle, j’ouvre le siècle prochain.“ Zola in seinen Arbeitsnotizen zu „Travail“, vgl. Cogny 1967 f., Bd. 8, S. 13. 4 Die Handlung der Romane ist allerdings in den 50er und 60er Jahren des 19. Jahrhunderts angesiedelt. Vgl. Waldinger 2002.

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Analogien sprechen“ (Mitterand 1973, 448). Der hauptsächliche Unterschied der beiden Werke bzw. des Früh- zum Spätwerk Zolas bestehe aber in seiner vollkommen umgekehrten Erzählstruktur: Stehen in dem RougonMacquart-Zyklus die Darstellung der Verhältnisse im Vordergrund und die individuellen Charaktereigenschaften, Fähigkeiten und Erlebnisse der Hauptpersonen, aus denen dann der Leser seine Erkenntnisse ziehen kann, so schildert der Autor in „Travail“ mit der Hauptfigur Lucas nicht in erster Linie ein menschliches Individuum, sondern die intellektuelle Physiognomie eines abstrakten Ideenträgers. Lucas’ Person entbehrt denn auch der Elemente, die normalerweise zur farbigen Schilderung einer Romanfigur beitragen wie Aussehen, Kleidung, Gestalt. Die sozialen Umstände werden also nicht mehr genau geschildert, sondern nur angedeutet und durch Diskurse und lange Monologe der Hauptperson interpretiert. Die Schlussfolgerungen werden keineswegs dem Leser überlassen, sondern fertig übermittelt. An die Stelle der Darstellung der Verhältnisse selbst tritt die Schilderung der Überzeugung Zolas von den Verhältnissen. Darüber hinaus wird im „Germinal“ die Erzählung auf eine kurze Zeitspanne zusammengezogen, was der Dynamisierung und Rhythmisierung der Handlung zugute kommt, während in „Travail“ das Absterben der alten Gesellschaftsstrukturen und der Neuaufbau der kommenden sich über einen langen Zeitraum hinzieht, der durch die endlose Schilderung der Generationen verdeutlicht wird, nicht aber unbedingt zur dramatischen Verdichtung des Handlungsablaufes beiträgt (Müller 1981, 137; Mitterand, 1973, 454 f.). Mitterands Interpretationsmodell baut auf der These auf, dass Zola zwischen Früh- und Spätwerk einen Wandel vom ideologisch kritischen sozialistischen Standpunkt hin zum nationalistisch-paternalistischen Versöhnungs- und Verbrüderungsvisionär durchgemacht habe (Mitterand 1973, 454 ff.). Müller wie Buck geht es dagegen um die Beweisführung einer in sich kohärenten Weltanschauung Zolas (vision du monde), die Müller in der ästhetischen Umsetzung des Romanwerks nachzeichnet, während Buck als Historikerin die Verarbeitung zeitgenössischer gesellschaftlicher und politisch relevanter Themen im Spätwerk Zolas einerseits und seinen eigenen gesellschaftlichen politischen Standpunkt andererseits herausarbeitet. Müller kommt denn auch zu dem Schluss, dass Früh- wie Spätwerk Zolas von seiner Überzeugung der Lösung der Probleme der künftigen menschlichen Gesellschaft durch den technisch-wissenschaftlichen Fortschritt künden, der unter Klassenneutralität stattfinden sollte, also die bürgerlichen wie auch revolutionären proletarischen Positionen hinter sich lässt und damit einen neuen Denkversuch formuliert (Müller, 1981, 3 ff; 151 ff.; 159 ff.). Buck hingegen konstatiert allgemeiner, dass Zola auch im Alter ein kritischer, politischer Schriftsteller geblieben sei, der zeitgenössische relevante Themen in seinem Werk verarbeitet habe (Buck 2002, 263 ff.).

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Eine weitere Interpretationsebene stellt die sowohl von bürgerlichen als auch marxistischen Wissenschaftlern geäußerte Kritik an Zolas Verwendung damaliger wissenschaftlicher Theorien und Positionen dar. So konnten sowohl Einflüsse des in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorherrschenden positivistischen Wissenschaftsideals Auguste Comtes, Emile Littres, E. Renans, der „méthode experimentale“ Claude Bernards, der Milieutheorie Hippolyte Taines, der Vererbungslehre Prosper Lucas’ sowie biologischer Theorien Charles Darwins, Ernst Haeckels, Auguste Weismanns und Galtons und das historische Gedankengebäude Jules Michelets nachgewiesen werden, die Zola jedoch meist nicht aus erster Hand und durch die Originalschriften aufnahm, sondern in vulgarisierter Form (Müller 1981, 47–56; Buck 164 ff.). Dies diente Georg Lukàcs (Lukàcs, 1965, 516 f.), Fritz Schalk (Schalk, 1971, 337–351), Rita Schober (Schober, 1970, 212) und Robert Margerit (Margerit, 1953, 89) dazu, Zolas heutige Aussagekraft nur auf die Bereiche, die von der damaligen Wissenschaft unberührt seien, zu reduzieren, ja dass die Heranziehung wissenschaftlicher Erkenntnisse Zolas Werk eher geschadet als genützt habe. Demgegenüber betonten Müller und Buck geradezu den konstitutiven Anteil der Wissenschaftskonzeptionen daran, die für seine Vorstellung einer den gesellschaftlichen Entwicklungen angemessenen Kunst und Literatur stehe bzw. sein Sendungsbewusstsein eines Schriftstellers als Aufklärer, als „Lehrmeister der Nation“ und intellektueller Elite widerspiegle, der unabhängig von einer politischen Partei argumentiere (Müller, 1981, 41–46; Buck 2002, 257–271). Letztendlich ist die Verarbeitung zeitgenössischer Theorien und wissenschaftlicher Lehren, insbesondere der exakten Wissenschaften, nicht nur ein Charakteristikum der naturalistischen Schule, vielmehr erweist sich „Travail“ damit zur Gattung der Utopien zugehörig. Denn leiteten die frühneuzeitlichen Utopien den gesellschaftlichen Reichtum von der Landwirtschaft und der Verteilung der Güter zur Bedürfnisbefriedigung ab, so sahen die Utopisten des 19. Jahrhunderts – angesichts der durch die Industrialisierung sichtbaren negativen Strukturmerkmale – eine noch größere Verarmung und Verelendung der Mehrheit der Bevölkerung. Jedoch lasteten sie diese negative Bilanz nicht dem Industrialisierungsprozess an sich, der neuen Technik und Wissenschaft an, sondern propagierten den Einsatz von Wissenschaft und Technik zur Steigerung der Produktivkräfte, die bei gerechter Verteilung nicht nur zur Beendigung des Elends und Befriedigung der Bedürfnisse, sondern zum Fundament einer harmonischen Gesellschaft führen könnten (Saage 1991, 31 ff.; 152 ff.; 225 ff.). Die Arbeit bzw. die Aufwertung der körperlichen Arbeit gehören seit Platons Politeia und insbesondere seit Thomas Morus’ Utopia zum konstitutiven Bestandteil der archistischen Utopien. Arbeitspflicht galt für alle Bewohner, Frauen wie Männer, da durch die Mobilisierung aller Arbeitsressourcen die Reduktion der täglichen Arbeitszeit, die

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Fort- und Weiterbildung und die Regeneration gewährleistet werden sollten (Saage 1991, 38 ff.) Zolas Thesenroman schildert den Besuch des jungen Pariser Ingenieurs Lucas Froment in Beauclair, einer von Stahlwerken dominierten Stadt unterhalb der Hänge der Monts Bleuses (Abb. 1). Er war auf Einladung seines reichen Freundes Martial Jordan angereist, eines Wissenschaftlers und Erfinders, der zugleich der Besitzer der Hochofenanlage „Crêcherie“ ist, sich aber ausschließlich seinen Studien zur Anwendung der Elektrizität bzw. deren Nutzung im Bereich elektrischer Öfen zum Schmelzen von Metallen widmet. Jordans Ingenieur, der verantwortlich den Betrieb geleitet hatte, war plötzlich verstorben, so dass er Lucas’ Rat zur Rentabilität der veralteten Hochofenanlage suchte, – eigentlich um sich zum Verkauf der Anlage samt der bereits stillgelegten Mine raten zu lassen. Jordans Vermögen war nämlich ausreichend, um seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Schwester sowie die Forschungen zu finanzieren, befreit von der Last des Besitzes. Lucas konnte nach seiner Ankunft nicht nur die Auswirkungen eines zweimonatigen Streiks in den Stahlwerken „Quirignon“ – die „Hölle“ (l’Abîme) genannt – beobachten, der den Werken großen wirtschaftlichen Schaden zugefügt und die Arbeiter und deren Familien nahezu verhungern lassen hatte, sondern auch den Müßiggang, das Nichtstun und die Verschwendungssucht des Bürgertums von Beauclair. Eine Abendeinladung auf der „Guerdache“, dem schlossartigen Anwesen der Eigentümerfamilie Boisgelin der quirignonschen Stahlwerke, der „neuen Aristokraten“, gab ihm Gelegenheit, die unterschiedlichen Einstellungen des Bürgertums kennen zu lernen, die jedoch darin übereinstimmten, die Dinge möglichst lange im augenblicklichen Zustand aufrecht zu erhalten aus Angst vor grundsätzlichen Veränderungen (Zola frz. 1928, 103; Zola dt. 1916, 135). Da waren auf der einen Seite der Ingenieur Delaveau, ein ehrgeiziger Aufsteiger, der gegen eine an Boisgelin zu zahlende fürstliche Rente als Besitzer der „Hölle“ die Fabrik reorganisiert und in die erste Reihe der Stahlwerke der Gegend zurückgeführt hatte; als Vertreter des Staates der Unterpräfekt Châtelard, der als gemäßigter Republikaner die Regierung nur im unbedingt erforderlichen Maße vertrat, um seinen Posten zu behalten; der Bürgermeister Gourier, ein Schuhfabrikant, der zwar den Arbeitern zugestand, ihre Situation verbessern zu wollen, aber die umstürzlerischen Ideen der Kollektivisten bekämpfte und fürchtete; des Weiteren der Gerichtspräsident Gaume, ein persönlich verbitterter Mann, der bescheiden von seinem Richtergehalte lebte und unnachgiebig von den Repressionsmitteln des Gesetzes Gebrauch machte, wenn er auch an der menschlichen Gerechtigkeit zweifelte; als Vertreter des Militärs der Hauptmann Jollivet, der seinen Dienst aufgrund einer Malariaerkrankung in den französischen Kolonien hatte quittieren müssen und nun von einer ererbten Rente lebte, trotzdem aber für die Armee als Schule der

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Abb. 1: Oben: Beauclair bei Ankunft von Lucas Froment, links das Stahlwerk Quirignon (Die Hölle), und die Hochofenanlage Crêcherie von Martial Jordan, rechts Alt-Beauclair und Neustadt von Beauclair, unten Guerdache. Unten: Die neue Crêcherie oder neue Stadt von Lucas Froment, städtebauliches Wachstum nach drei Jahren (1), nach sechs Jahren (2), nach sechzehn Jahren (3).

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Nation und stets für hartes Durchgreifen eintrat; das glückliche Ehepaar Mazelle, das im Alter von vierzig Jahren mit seiner kleinen Tochter in einem schönen Bürgerhaus mit Garten von einer durch Spekulationsgewinne erworbenen, in Staatspapieren angelegten Rente leben konnte; und schließlich als Vertreter der katholischen Kirche Abbé Marle, der zwar ein entschiedener Glaubenskämpfer war, aber die Krise des Katholizismus und der Kirchenferne auch weiter bürgerlicher Kreise klar erkannte (Zola frz. 1928, 87–120; Zola dt. 1916, 110–160). Die Haltung der Arbeiter lernte Lucas schon kurz nach seiner Ankunft am ersten Abend in Beauclair kennen, und zwar zum einen in der Person des in sein Schicksal ergebenen Typs des in dreißig Jahren ausgebrannten, teilweise verkrüppelten und geistig verkümmerten alten Arbeiters Père Lunot, der seinen Lebensunterhalt nur mit Unterstützung seines Schwiegersohnes fristen kann; zum anderen durch dessen Sohn Ragu, einen aggressiven Trunkenbold, der zwar gegen seine Situation als Arbeiter revoltierte, im Grunde aber nur die Umkehrung der Verhältnisse bzw. den Aufstieg in die Klasse der Besitzenden anstrebte, um selbst nicht mehr arbeiten zu müssen (Zola frz. 1928, 63 ff.; Zola dt. 1916, 79 ff.). Dagegen steht der Puddelmeister Bonnaire, ein „Mann von starkem Rechtsgefühl, den die Ungerechtigkeit der Lohnarbeit empörte“5 und der sich durch Zeitungslektüre zum Anhänger kollektivistischer Gedanken entwickelt hatte, die die Enteignung der Bourgeoisie von Grund und Boden sowie den Arbeitsinstrumenten propagierten und deren Sozialisierung mit dem Ziel der Abschaffung der Lohnarbeit und der Reorganisation der Arbeit. Die Kollektivisten bildeten damals die größte politische Kraft in der Arbeiterbewegung und stellten unter den im französischen Parlament vertretenen sozialistischen Gruppen die stärkste Fraktion. Sie befürworteten eine gewaltsame Enteignung der kapitalistischen Gesellschaft ebenso wie die Anarchisten, die in Gestalt des Töpfers Lange in den Roman Aufnahme fanden. Lucas, betroffen von den unmenschlichen Lebensverhältnissen der Arbeiter, überredet seinen Freund Jordan, sowohl den Hochofen als auch die Mine zu behalten und diesen ein neues Stahlwerk mit Arbeitersiedlung als Grundstein für die Stadt der Zukunft hinzuzufügen. Jordan, überzeugt, dass die „persönliche Initiative allmächtig“ ist6, übergibt dem jungen Freund nicht nur die Hochofenanlage, sondern auch das notwendige Kapital zur Umsetzung seiner Ideen. Zwar stoßen Lucas’ Umstrukturierungsversuche auf den erbitterten Widerstand der reaktionären Kräfte, dennoch setzte er sich schließlich mit seiner neuen Fabrik samt Arbeiterstadt durch, über5 6

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„esprit juste que les iniquités du salariat révoltaient“, vgl. Zola 1928, 47. „Sans doute, . . ., l’initiative individuelle est toute-puissante“, vgl. Zola 1928,

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nimmt sogar das Stahlwerk Quirignon, die „Hölle“, und überredet die Bauern zu einem genossenschaftlichen Zusammenschluss. Hintergrund seiner Gesellschaftsveränderung sind die Ideen der utopischen Sozialisten wie Saint-Simon, Charles Fourier, Auguste Comte, Pierre-Joseph Proudhon, Etienne Cabet, Pierre Leroux, die er insbesondere in Form der Schrift des Fourier Schülers Hippolyte Renaud „Solidarité. Vue synthétique sur la doctrine de Charles Fourier“ in einer schlaflosen Nacht verschlang. Ihnen entnahm er zwei „geniale Gedanken“, die Leidenschaften als positive treibende Kräfte des Menschen und die Arbeit, die zum „Gesetz des Lebens werden sollte“ (Zola 1916, 212 ff.)7. Nicht von ungefähr wählte Zola „Arbeit“ zum Titel des Romas. Denn es genügt, so Lucas’ Erkenntnis, „die Arbeit umzugestalten, um die ganze Gesellschaft umzugestalten“ (Zola 1916, 214)8. Lucas wie sein Förderer Jordan erweisen sich als Missionare dieser Vorstellungen, so Jordan: „Die Arbeit, die Arbeit! Ihr danke ich mein ganzes Leben. . . . Es gibt kein Wesen und kein Ding, das in unbeweglicher Trägheit verharren könnte, alles wird mitgerissen, zur Arbeit angehalten, gezwungen, sein Teil am gemeinsamen Werke zu leisten. Wer nicht arbeitet, verschwindet dadurch von selbst, wird als nutzlos und störend abgestoßen, muß dem notwendigen, unentbehrlichen Arbeiter Platz machen“ (Zola 1916, 240 f.).9 Obwohl die Arbeit in dieser zukünftigen Gesellschaft zur „obersten bürgerlichen Pflicht“ (l’obligation civique) zum eigentlichen „Lebensnerv“ (la règle vitale) werden sollte, werde sie – und hier zeigt sich Fouriers und Zolas Unterschied zu den archistischen Utopien – von allen freiwillig akzeptiert, da sie frei wählbar nach Interesse und Neigungen der Individuen verteilt werde. Darüber hinaus sollte die Arbeit nur wenige Stunden des Tages umfassen und zur Vermeidung von Abstumpfung fortwährend gewechselt werden können. Ermöglicht werde dies durch eine weitestgehende Arbeitsteilung, die auch das Erlernen zahlreicher Berufe erleichtere (Zola 1916, 214 f.; Zola 1928, 158). Zwar vermied Zola alle Hinweise auf Fouriers Vorstellungen einer sexuellen Emanzipation und deutete diese ins kleinbürgerlich-sentimentalische Eheglück um (de Bruyn 1996, 189 ff.); dennoch diente ihm Fouriers Genossenschaftswesen zur Begründung einer friedlichen Transformation des Gemeinwesens und damit als dritter Weg zwischen re7 „Le coup de génie était d’utiliser les passions de l’homme comme les forces mêmes de la vie. . . Puis . . . le travail . . . devenu . . . la loi même de la vie.“ Vgl. Zola 1928, 157 f. 8 „Il suffirait de réorganiser le travail, pour réorganiser la société tout entière„ (Zola 1928, 158). 9 „Le travail, ah le travail, je lui dois d’avoir vécu. . . .Il n’est pas un être, pas une chose qui puisse s’immobiliser dans l’oisiveté, tout se trouve entraîné, mis à l’ouvrage, forcé de faire sa part de l’ouevre commune. Quiconque ne travaille pas, disparaît par la même, est rejeté comme inutile et gênant, doit céder la place au travailleur nécessaire, indispensable.“ Vgl. Zola 1928, 177 f.

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volutionärem Proletariat und reaktionärem Bürgertum (Saage 2002,69 ff.). So lassen sich auch der Kollektivist Bonnaire und der Anarchist Lange schließlich von Lucas’ Experiment überzeugen und als aktive Unterstützer in sein Gesellschaftsmodell einbeziehen. Sinnbild dieses gesellschaftlichen Transformationsprozesses wird die „Stadt der Zukunft“ (la ville future), die Lucas anstelle des alten Beauclair, der Hölle und der Crêcherie errichtete. Das alte Bauclair (Abb. 1), eine Stadt von etwa 6000 Einwohnern, gelegen an den Gebirgsausläufern der Monts Bleuses und den Ufern der Mionne, bildete sich aus einem Neustadt genannten Stadtteil und einem sich nördlich erstreckenden alten Viertel, zwischen denen die baufällige Kirche stand (Zola 1916, 18). Jenseits des Flusses gegenüber dem „armseligen Haufen von Arbeiterhütten“ lag auf halber Höhe eines Abhangs der Monts Bleuses der Hochofen der Crêcherie, an dessen Fuß sich Wohnhaus, Laboratorium und Park der Geschwister Jordan erstreckte (Zola 1916, 18, 161). Weiter nördlich an der Straße nach dem Dorf Brias schlossen sich die Stahlwerke Quirignon an, ein Ort des Schmutzes, des Rauchs und ohrenbetäubenden Lärms als Ausdruck der „zum Fluch gewordenen Arbeit“ (Zola 1916, 63 ff.). Im Süden der Neustadt, weit weg vom Ort ihrer Stahlwerke, hatten die Quirignons sich ein „prächtiges Wohnhaus, das für zehn Familien Raum bot“, mit Park, Ackerfeldern und einem Pächterhof, genannt Guerdache, als „patriarchalische[n] Familiensitz“ errichtet (Zola 1916, 105). Das Arbeiterviertel Alt-Beauclairs wird als „Gewirre enger, krummer Gassen, ohne Licht und Luft, erfüllt vom widerwärtigen Gestank der Gosse“, geschildert (Zola 1916, 77), im Gegensatz zur Neustadt mit ihrer „schmucken Heiterkeit“ (Abb. 1). Auf nahezu quadratischem Grundriss, durchschnitten von vier sich kreuzenden Straßen, befinden sich hier der zentrale Stadthausplatz mit dem Rathaus und der Schule, belebte Geschäftsboulevards, die Unterpräfektur, Gerichtsgebäude und ein „schönes Gefängnis“. Die „hübschen Bürgerhäuser“ dieses Viertels werden jedoch lediglich von 1000 Einwohnern der Distrikthauptstadt bewohnt, während die anderen fünftausend „arme, stumpfe Seelen, in elenden, von der ungerechten Arbeit gebrochenen und verkrümmten Körpern“ waren (Zola 1916, 18, 21, 103). Drei Jahre nach Übernahme des Werkes hat Lucas nicht nur eine neue Stahlfabrik gegründet, sondern auch eine Arbeiterstadt, bestehend aus fünfzig weißen Häusern inmitten von Gärten und einem zentralen „Gemeinhaus“ mit Schule, Bibliothek, Bad, Fest- und Speisesaal. Die Bewohner dieser neuen Crêcherie waren beim Bau ihrer Häuser nicht an Vorgaben gebunden, sondern konnten nach ihren Vorstellungen und „Gefallen“ bauen. Unaufhörlich breitete sich in den folgenden Jahren diese „ideale Stadt“ aus, „Werkstätten und große[n] Arbeitshallen erweiterten sich und bedeckten Hektare;

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und die hellen und fröhlichen, von Gärten umgebenen Häuschen vermehrten sich in dem Maße, wie sich die Arbeiter“ vermehrten, bis auch die in ihrem „bürgerlichen Egoismus erstickende“ Neustadt von Beauclair und die durch einen Brand zerstörte Hölle neu „nach dem Muster der Crêcherie“ . . . überbaut wurden (Zola 1916, 261 f., 2. Bd. 65, 173). Und der einstige schlossartige Wohnsitz der Quirignons, die Guerdache, wurde zum Erholungsheim für Wöchnerinnen (Zola 1916, 2. Bd. 166 f., 312). Die Arbeitszeit konnte schließlich auf täglich vier Stunden reduziert werden. Die Ablösung der schmutzigen und körperlich schweren Arbeit gelang allerdings erst durch den umfassenden Einsatz der Elektrizität. Maschinen hatten die Handarbeit sowohl in den Fabriken, der Landwirtschaft und im Haushalt übernommen. Der Einsatz moderner Technik und Energie führte zu weitgehender Automatisierung der industriellen Produktion, der Versorgung der öffentlichen und privaten Gebäude mit Wasser, Strom und Wärme und schließlich auch zu elektrisch betriebenen Automobilen (Zola 1916, 2 Bd. 260 ff., 307 f., 364). Parallel dazu entwickelte sich das zunächst einfache Gemeindehaus zu einem fayencegeschmückten palastartigen Bau mit Festsälen, Spielhallen, Theater, umgeben von Anbauten für Bibliotheken, Laboratorien, Vorlesungen, Kurse, Experimente, Schwimmhallen und Bädern, die als gemeinschaftsstiftender Mittelpunkt der Stadt fungierten im Gegensatz zu der von Zola propagierten häuslichen Privatsphäre der Familien (Abb. 1). Damit rückte Zola in einem zentralen Punkt von Fouriers Sozialutopie ab, nämlich dem gemeinsamen Leben in der Phalange, einem hotelartig organisierten Bau mit Speisesälen, Lesezimmer, Postamt, Werkstätten, Läden und Wohnungen für 1800 Personen, die gerade das Ende der unverbundenen Haushalte herbeiführen sollte (Abb. 2, 3 u. 4; Saage 2002, 74 ff.). Zola zeigt sich in diesen beiden Punkten wiederum auf der wissenschaftlich-technischen Höhe der Zeit. 1881 war auf der Pariser Weltausstellung der Einsatz von Glühlampen demonstriert worden; zwei Jahr zuvor konnte man auf der Berliner Gewerbeausstellung mit einer elektrischen Eisenbahn fahren und 1882 nahm ein New Yorker Elektrizitätswerk seinen Betrieb mit 2300 Lampen in 85 Haushalten auf (de Bruyn 1996, 200). Auf das Vorbild des propagierten Modells des Einfamilienhauses mit Garten gibt Zola selbst einen Hinweis, indem er den „Gesamtanblick der neuen Stadt“ als den eines „gewaltigen Gartens, in welchem die Häuser einzeln mitten im Grün standen“, schilderte und damit unzweifelhaft auf Ebenezer Howards Gartenstadtidee verweist, die für viele Zeitgenossen zur Lösung der durch die Industrialisierung verslumten Großstädte geworden war (Zola 1916, 2. Bd. 313). Aber Zolas Roman „Travail“ griff nicht nur auf propagierte Wohn- und Stadtmodelle zurück, sondern regte auch die weitere städtebauliche Diskussion des 20. Jahrhunderts an. Diesen Ein- und Auswirkungen von „Travail“

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Abb 2: Entwurf für eine Phalanstère, Reproduktion aus August Bebels Werk über Leben und Theorie Charles Fouriers von 1907.

Abb. 3: Versailles aus der Vogelperspektive 1865.

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Abb. 4: Jean Baptiste André Godin (1917–1888), Fabrikant und erfolgreicher Fourierist, lehnte in seinem schriftstellerischen Hauptwerk „Solutions sociales“ das Einfamilienhaus „als unreflektierte Wünsche der Unwissenheit“ und Ausdruck der Isolierung und Vereinzelung des Arbeiters ab und propagierte eine radikale Reform der Architektur im Sinne der Phalanstère als Ausdruck der Einigkeit unter den Menschen. Unharmonische isolierte Bauernhäuser aus seinen „Solutions“.

möchte ich im Folgenden unter vier Gesichtspunkten nachgehen: 1. Ebenezer Howards Gartenstadtbewegung und deren Umsetzungen, 2. dem Vorbild der Stadt der Zukunft Zolas für Tony Garniers Cité industrielle, 3. den weiteren Auswirkungen der industriellen Gartenstadt im 20. Jahrhundert und deren Folgen, um 4. das „Ende der Visionen“ der Zeit um 1900 zu Beginn des 21. Jahrhunderts kurz zu skizzieren.

I. Ebenezer Howards Gartenstadtbewegung und deren Umsetzungen Der Parlaments- und Hofstenograph Ebenezer Howard entwickelte sein Modell gegen die aus der Industrialisierung erwachsene zunehmende Landflucht und die damit einhergehende Verslumung Londons. Howards Vorstellungen speisten sich aus zwei Traditionslinien: den Utopien des 19. Jahrhunderts und dem Einfamilienhaus im Grünen, einem Produkt der viktoria-

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nischen Kultur, um das Familienleben der Enge und Unordnung der Großstadt zu entziehen. Angeregt von Edward Bellamys Roman „Looking Backward: 2000–1887“, Boston 1888, und William Morris’ „News from Nowhere“, 1890, verfasste Howard 1898 seine Schrift „To-Morrow: A Peaceful Path to Real Reform“, der jedoch erst in der zweiten Ausgabe von 1902 unter dem Titel „Garden Cities of Tomorrow“ ein durchschlagender Erfolg beschieden war. Bellamy schilderte in seinem Buch aus der Sicht eines Bostoners im Jahr 2000 die Vorstellung eines idealen Staates, in dem allgemeine Harmonie, allgemeiner Reichtum und Konfliktlosigkeit herrschen. Er erläutert eine utopische, klassenlose Gesellschaft, in der alle Produktionsmittel Eigentum des Staates sind, und entwirft damit ein Alternativmodell zu damaligen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Missständen. William Morris in seiner ebenfalls von Bellamys Roman angeregten Erzählung „News from Nowhere“ propagiert, rückblickend aus der Zukunft des 21. Jahrhunderts auf das verslumte London mit seiner durch die Industrie zerstörten Natur und Umwelt des 19. Jahrhunderts, eine imaginierte Gartenstadt, in der in Abkehr von der Großstadt in einem kommunistischen Gemeinwesen die Menschen in unversehrter Natur zusammenleben. Zur Stadt des 19. Jahrhunderts, die dann Ebenezer Howard beeinflussen sollte, schilderte er zunächst – ähnlich wie Zola – das Krisenszenario seiner Zeit: So hätte der Industrialisierungsprozess in London Slums entstehen lassen: „Orte der Qual für unschuldige Männer und Frauen oder, schlimmer noch, Brutstätten der Unzucht“. „In Häusern, die mehr Höhlen gleichen, verbringen Männer und Frauen, in ihrem Unrat wie Heringe in einer Tonne zusammengepfercht, ein Leben, das sie nur deshalb zu ertragen imstande sind, weil ihnen jedes Gefühl von Menschenwürde abhanden gekommen ist.“ (Morris 1981, 101). Die traditionellen Dörfer seien dem Industrialisierungsprozess zum Opfer gefallen: „Nur diejenigen überlebten, die sich den Fabrikdistrikten anschlossen oder selbst kleine Industriestandorte wurden.“ (Morris 1981, 104). Howard entwickelte nun, ähnlich wie Morris ausgehend von der damaligen gesellschaftlichen Situation, sein Modell von den unterschiedlichen „Anziehungskräften“ von Stadt und Land, deren Vor- und Nachteile er in einer 3. Möglichkeit der „Town-Country“ auf ideale Weise aufgehoben sah. In einem Diagramm mit dem Titel „The Three Magnets“ verdeutlichte er die Vor- und Nachteile von Stadt und Land und stellte sie einander gegenüber (Abb. 5). Diese vereinigte er dann im dritten Magneten der von ihm entwickelten „Town-Country“ miteinander, so dass sich seine Frage: „Wohin werden die Menschen gehen?“ für ihn natürlich von selbst beantwortete, nämlich in die Land-Stadt (Abb. 6).

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Abb. 5: Ebenezer Howard, Drei Magnete. Stadt, Land und die Vorteile vereinigende Land-Stadt. Diagramm von 1898/1902.

Abb. 6: Ebenezer Howard Diagramme der Garden City. Kreisrunder Plan für 32.000 Einwohner mit 2 km Durchmesser, im Mittelpunkt Grünanlage umgeben von öffentlichen Gebäuden, es folgen ein Park umgeben von der Passage Kristallpalast, danach in den weiteren Ringen Wohnhäuser mit Gärten, ein weiterer Grüngürtel mit Schulen, Spielplätzen, Kirchen und schließlich im äußersten Ring die Fabriken umgeben von den landwirtschaftlichen Flächen.

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Weder Stadt noch Land erfüllten seinen propagierten Zweck eines naturgemäßen Lebens. Der Mensch sollte, nach Howard, Geselligkeit und Naturschönheit als die beiden Hauptvorzüge von Stadt und Land zusammen genießen können. Ausgehend von einer autarken Stadt für nicht mehr als 32.000 Bewohner, entwarf er einen kreisrunden Plan von 2 km Durchmesser. Sechs breite Boulevards unterteilten und erschlossen die sechs Radien oder Bezirke der Stadt. Den Mittelpunkt bildete eine Grünanlage mit Wasserkünsten, umgeben von den öffentlichen Gebäuden wie Rathaus, Konzertund Vortragshalle, Theater, Bibliothek, Museum, Bildergalerie und Krankenhaus. An dieses Zentrum schloss sich ein öffentlicher Park von 58 ha mit weiten Spiel- und Erholungsplätzen an. Rund um diesen Zentralpark sollte eine Glashalle, der „Kristallpalast“, der sich nach der Parkseite öffnet, erstellt werden. Er war bei schlechtem Wetter Zufluchtstätte der Bewohner und zugleich Verkaufsraum, Ausstellungsfläche und Wintergarten (Howard 1968, 62). Auch diesem Element begegnen wir in „Travail“ wieder, in dem die öffentlichen Gebäude der neuen Stadt durch glasgedeckte Galerien, überdachte und des Winters beheizte Straßen verbunden sind, um dem bequemen, vor Regen und Kälte geschützten Verkehr der Bewohner zu dienen (Zola 1916, 2. Bd. 314). Danach folgten in Howards Gartenstadt in den nächsten konzentrischen Ringen die Wohnhäuser, wiederum umgeben von Gärten, eine Große Avenue, ein weiterer Grüngürtel mit Schulen, Spielplätzen und Kirchen, bis im äußersten Ring Fabriken, Lagerhäuser, Meiereien und Märkte angesiedelt sein sollten. Landwirtschaftliche Flächen um die Stadt sollten schließlich die Expansion nach außen verhindern. Denn falls die Bevölkerungsobergrenze der Stadt erreicht war, sollte eine neue Stadt gegründet werden (Abb. 6). Umgesetzt wurde Howards Konzept lediglich an zwei Beispielen, Letchworth 1903 und Welwyn 1919. In Letchworth, ungefähr 50 km von London entfernt, entstand nach den Plänen der Architekten Raymond Unwin und Barry Parker eine allerdings beträchtlich von Howards Idealvorstellungen abweichende Anlage. Besondere Probleme bereitete die durch das Gelände führende Bahnlinie. Die städtebauliche Konzeption plante, von dieser Bahnlinie ausgehend, eine Allee, die zur grünen Mitte und zum gesellschaftlichen Mittelpunkt der Stadt mit Rathaus, Kirche, Museum und Schule führte. Auf ihn mündeten die restlichen Straßen der Stadt. Die Anlage finanzierte und organisierte eine Gartenstadtgesellschaft, die das Straßennetz und die Betriebseinrichtungen errichtete, Bestimmungen für die Häuser und Gärten erließ und schließlich die 99 Baugrundstücke verpachtete. Die Stadt wuchs allerdings langsamer als geplant und erreichte erst 1950 mehr als

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Abb. 7: Gartenstadt Letchworth, Luftbild von 1969. Grüne Mitte mit Rathaus, Kirche, Museum und Schule.

Abb. 8: Gartenstadt Welwyn, Luftbild 1969. Grünachse der Parkway im Mittelpunkt endend im halbrunden Civic Center.

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Abb. 9: Richard Riemerschmid, Entwurf für den Marktplatz der Gartenstadt Hellerau 1908–1910.

20.000 Einwohner (heute mehr als 30.000). Erfolgreicher war Welwyn, ungefähr 35 km von London entfernt, mit heute 50.000 Einwohnern, angelegt um eine 66 Meter breite und 1,2 km lange Parkway, endend und mündend in das in einem Halbrund angelegte Civic Center (Abb. 7 u. 8; Howard 1968, 35 ff.; Reinborn 1996, 49 ff.). Zu einer ersten Gründung einer Gartenstadt in Deutschland kam es zwischen 1909 und 1914 in Hellerau bei Dresden auf einem 6 ½ km vom Stadtzentrum und 3 ½ km von der Stadtgrenze entfernten Gelände. Initiiert wurde die Anlage maßgeblich durch den Möbelfabrikanten Karl Schmidt, der von den Lehren und Vorstellungen der Reform des englischen Kunstgewerbewesens, der Arts-and-Crafts-Bewegung, beeinflusst war. Aus England kannte er auch die Gartenstadtbewegung. Geleitet und maßgeblich gefördert wurde die Gartenstadtgesellschaft Hellerau durch den 1907 gegründeten Deutschen Werkbund, der bedeutendsten kulturellen Organisation führender avantgardistischer Architekten, Künstler, Kunsthandwerker und Unternehmer, die durch einen Zusammenschluss von Künstlern und Betrieben Deutschland aus seiner rückständigen Position im Bereich des Industrie-Designs gegenüber führenden Industrieländern wie England herausführen wollte (Abb. 9, 10, 11). Zola, der sich 1898, zur Zeit der Publikation von Howards Werk in England aufhielt, um sich einer drohenden Gefängnis- und Geldstrafe zu entziehen, die über ihn wegen seines couragierten Eintretens in der Dreyfus-Affäre verhängt worden war, hatte offensichtlich dort Kenntnis von der Gartenstadtbewegung erhalten.

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Abb. 10: Richard Riemerschmid, Kaufhäuser am Markt in Hellerau 1907–1910.

Abb. 11: Heinrich Tessenow, Kleinhäuserviertel in der Gartenstadt Hellerau „Am Schänkenberg“ 1910. (Aufnahme von 1938).

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II. Das Vorbild der Stadt der Zukunft Zolas für Tony Garniers Cité industrielle 1901 sandte der Prix-de-Rome-Stipendiat Tony Garnier der Pariser Académie des Beaux-Arts aus Rom zwei Blätter – einen Grundriss und eine Gesamtansicht – seines Projekts einer modernen Industriestadt ein. Die Blätter wurden von der Académie abgelehnt, dennoch arbeitete Garnier an seinem Stadtentwurf weiter und konnte ihn schließlich 1904 als Ergänzungsprojekt zur Rekonstruktion einer antiken Stadt nun schon unter der Bezeichnung „Une cité industrielle“ einreichen. Er wurde in Paris 1904 ausgestellt, von der Académie nun als zwar gelungen angesehen, jedoch auch weiterhin ohne jedes allgemeine Interesse. Dennoch wurde er in den fortschrittlichen Architektenkreisen diskutiert, noch bevor Garnier ihn 1917 in 164 Tafeln publizieren konnte (Abb. 12–17). Garnier, der sich zuvor in Paris in den sozialistischen Kreisen von Jean Jaurès und Emile Zola bewegt hatte, nahm Zolas Roman „Travail“ offensichtlich zum Ausgangspunkt seiner Planungen; denn die Vorhalle des zentralen Versammlungsgebäudes schmücken zwei Texte aus Zolas „Travail“, dem auch Garniers Schlusssätze verpflichtet sind: „Dies ist, in Kürze, das Programm für die Errichtung einer Stadt, in der es jedem bewusst ist, dass das menschliche Gesetz Arbeit heißt, dass jedoch der Kult des Schönen und das gegenseitige Wohlwollen genügen, um das Leben herrlich zu machen.“10 Ähnlich wie Howards Gartenstadtentwurf ging er von einer Einwohnerzahl von 35.000 Menschen aus, für die er Wohngebiete, ein Stadtzentrum, Industrieanlagen, einen Bahnhof und öffentliche Gebäude wie Versammlungssäle, Verwaltungsbehörden, Archive, Sportstätten und Schulen vorsah, jedoch keine Kasernen, Gefängnisse und Kirchen, die in der neuen sozialistischen Gesellschaft nicht mehr gebraucht würden (Abb. 12 u. 13). Den Kirchturm ersetzt ein Uhrturm mit 24-Stunden-Zifferblatt als neues Symbol der rationalen zeitlich durchstrukturierten Industriestadt. Auch in „Travail“ stürzte die Kirche Beauclairs ein, wurden das alte Stadthaus und die Schule abgebrochen und Unterpräfektur, Gericht und Gefängnis zu Bibliothek, Museum und Badehaus umgebaut (Zola 1916, 2. Bd. 314 f.). Ursache für die Gründung der der Arbeit verpflichteten Stadt sind in der Umgebung vorhandene Rohstoffe, die Möglichkeit zur Nutzung natürlicher Energiequellen wie Wasserkraft und bequeme Transportmöglichkeiten. Entsprechend plante er die Lage der Stadt an einem wilden Gebirgsbach, der, gestaut, ein Wasserkraftwerk antreibt und damit Strom, Licht und Wärme für die Fabriken und die 10 „Voici résumé le programme de l’établissement d’une cité, où chacun se rend compte que le travail est la loi humaine et qui’il y a assez d’idéal dans le culte de la beauté et la bienveillance pour rendre la vie splendide.“ Vgl. Garnier 1989, S. 8, Vorwort von Julius Posener.

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Abb. 12: Tony Garnier, Gesamtplan für den Entwurf einer idealen Industriestadt, Rom 1901 u. 1904. Stadt mit öffentlichen Einrichtungen und Zeitturm und Bahnhof links, darüber Heilstätten, rechts Industrieareal.

Abb. 13: Tony Garnier, ideale Industriestadt, Mittelpunkt mit öffentlichen Einrichtungen und Zeitturm.

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Abb. 14: Tony Garnier, ideale Industriestadt, Wegeverlauf und Nivellierung eines Wohnviertels.

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Abb. 15: Tony Garnier, ideale Industriestadt, Wohnviertel.

Stadt erzeugt. Zwar zeigt sich Garnier vielfach von Zolas Werk angeregt, dennoch sind seine Entwürfe nicht Ausdruck eines allmählich, eher zufällig gewachsenen Gemeinwesens, sondern Ergebnis rationaler Entscheidungen. So liegen die Industrieanlagen aus Emissionsgründen in der Ebene, während die Stadt auf einem Plateau angeordnet ist, über dem noch höher gelegen die Heilstätten und Krankenhäuser sich befinden. Eine Fernstreckenbahn verbindet die Teile der erstmals streng nach Funktionen wie Wohnen, Arbeiten, Erholung, Verkehr getrennten Stadtanlage, die zu einem stadtplanerischen Prinzip des modernen Städtebaus werden sollte. Wohnstadt wie Industrieareal unterwirft er gleichermaßen einem starren Parzellierungsraster, das die optimale Nutzung und verkehrstechnische Erschließung der Grundstücke erlaubte. Ein regelmäßiges Netz von Straßen führte ihn zu Flächen von 150  30 Metern, die er wiederum in Parzellen von 30  15 m unterteilt. Die Wohnhäuser, die eine oder mehrere Parzellen einnehmen konnten, aber nur höchstens die Hälfte der Fläche überbauen durften, sollten in jeder Wohnung über einen Raum mit Südfenster verfügen, jedoch keine Innenhöfe umschließen. Die Restfläche wird öffentliche Grünanlage, die den Fußgängern „die Durchquerung der Stadt in jedweder Richtung, unabhängig von Straßen“ ermöglichen sollte. „Der Boden der Stadt [so Garnier in seinen Erläuterungen] wird somit, insgesamt betrachtet, gleichsam zu einem

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Abb. 16: Tony Garnier, ideale Industriestadt, Wohnbauten.

großen Park, ohne irgendeine Trennungsmauer, um die einzelnen Grundstücke voneinander abzugrenzen“ (Abb. 14 u. 15). Garnier ging von einer Gesellschaft aus, die die „freie Verfügungsgewalt über den Boden“ besitzt, also einer schon ausgebildeten sozialistischen Gesellschaft (Garnier 1989, 14 f.). Das Häuschen mit Garten bei Zola wurde von Garnier in einen industriefreundlichen Staatssozialismus rückgebunden, wobei die Eigeninitiative der Kleinhausbauer der staatlich-kommunalen Planungspolitik gewichen ist. Dennoch erlaubte Garniers in seiner Serialität konsequent zu Ende gedachtes Projekt das Mittel der Variation. So reichen die Hausvorschläge von reihenhausähnlichen Lösungen bis hin zu Einzel- und Doppelhausprojekten mit in der Regel jedoch nicht mehr als Dreizimmerwohnungen mit Dachterrasse oder Veranda, niemals jedoch Hofraum oder Garten (Abb. 16). Zwischen den ersten Plänen 1904 und der Veröffentlichung 1917 wird auch hier eine bemerkenswerte Veränderung wahrnehmbar, nämlich die Tendenz zu Kollektivbauten mit vier Stockwerken, die offensichtlich seinem Wirken als Stadtbaumeister von Lyon geschuldet war (Abb. 17). Kurz nach der ersten Präsentation der Cité industrielle erhielt Garnier unter dem reformerischen Bürgermeister Edouard Herriot Gelegenheit, Teile seiner Planungen umzusetzen wie das Krankenhaus Grange Blanche, das Stadion, den Schlachthof und Villen, die durchaus an die größeren Wohnbauten der Cité

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Abb. 17: Tony Garnier, ideale Industriestadt, Hochhaus (vier Stockwerke), mit Ein- und Vier-Zimmerwohnungen.

erinnern. Nach 1908 konnte er kommunale Großwohnanlagen im Sinne sozialdemokratischer Wohnungspolitik errichten (Quartier du tissage de la soie; Quartier des Etats-Unis). Dennoch greift er auch hier nicht zur stereotypen Zeilenbauweise, sondern zu plastisch durchgearbeiteten Wohnblöcken (Abb. 17; Garnier 1989, 11, 14 f.; de Bruyn 208 f., 218–230). Als Baustoff der konsequent in Flachdachbauweise gezeichneten Bauten wählte er das neue Material Stahlbeton, das schlichtere Formen und innovative konstruktive und technische Gestaltungsmöglichkeiten erlaubte (Garnier 1989, 18).

III. Die weiteren Auswirkungen der industriellen Gartenstadt im 20. Jahrhundert und deren Folgen Tony Garniers Industriestadt beeinflusste sowohl in der Gesamtanlage als auch in der Entwicklung architektonischer Serien und Typen die Architekten der Moderne. Le Corbusier veröffentlichte Ausschnitte aus der „Cité industrielle“ in der Zeitschrift „L’Esprit Nouveau“ (1920) und später in seinem Buch „Vers une Architecture“ (1922), wobei er Garniers aufgelockerte durchgrünte Industriestadt mangels Verdichtung mitten im Herz einer Stadt kritisierte (Le Corbusier1969; 54 ff.). Le Corbusier sollte denn auch diesen Weg zur komprimierten Hochhausstadt, geplant für drei Millionen Einwoh-

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Abb. 18: Stuttgart „Weißenhofsiedlung“ 1927, Mietshausblock von Mies van der Rohe im Hintergrund, vorne von rechts nach links die Häuser von Hans Scharoun, Josef Frank, Max Taut, Richard Döcker, Hans Poelzig, Ludwig Hilberseimer und Le Corbusier.

ner 1922 mit seinem Projekt „Une ville contemporaine“ und 1925 mit der totalen Neuüberbauung der Mitte von Paris mit Bürohochhäusern „Plan Voisin de Paris“, einschlagen (Seng 2001, 248 ff.). Garniers stadtplanerische Prinzipien der Zonung und Entflechtung der einzelnen Funktionen Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Verkehr wurden von den CIAM, den Congrès Internationaux D’Architecture Moderne, aufgenommen und weiter ausgearbeitet, um schließlich die Grundlage der Charta von Athen mit den Forderungen für den modernen Städtebau zu bilden. Neben den zahlreichen durchgrünten Siedlungen des Neuen Bauens in den 20er Jahren, die – wie im Falle Berlins – schon Resultat des Zonen-Neuordnungsplans von 1920 darstellten, bildet wiederum eine Versuchskolonie des Deutschen Werkbundes die gelungenste Weiterführung von Garniers Industriestadt. 1927 wird in Stuttgart die Ausstellung „Die Wohnung“ vom Deutschen Werkbund ausgerichtet. Eine Mustersiedlung, die die Vielfalt der Haustypen unter Anwendung des modernen Serienbaus vorstellen sollte, wurde erbaut (Abb. 18). Eingeladen wurden 16 namhafte Vertreter des neuen Bauens wie Le Corbusier, Mies van der Rohe, Peter Behrens, Walter Gropius, Ludwig Hilberseimer oder Bruno Taut, um exemplarische Bauten

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auszuführen. Lediglich ein Flachdach war vorgeschrieben, so dass die Architekten relativ frei ihre Vorstellungen vom modernen Wohnen realisieren konnten. An einem terrassenartig abfallenden Hanggelände über Stuttgart entstanden neben einem langen Wohnblock Mies van der Rohes Einfamilienhäuser mit „freiheitlicher Grundrissentwicklung“ von Richard Döcker, Häuser aus industriell vorgefertigten Montageteilen von Walter Gropius, Zeilenhäuser mit variablen Grundrissen wiederum von Mies van der Rohe, der auch künstlerischer Leiter des Unternehmens war, oder ein neues Arbeiterwohnhaus in Form eines Doppelhauses von Josef Frank. Zwar setzten sich die Forderungen nach einer allgemeinen Verbesserung der hygienischen Situation im Wohnungsbau unter den Schlagworten „Licht und Luft für alle“ allgemein durch und führten zur Ablehnung der Blockrandbebauung und dem damit einhergehenden Mietskasernenbau, dennoch zeigten gerade die Lösungen dieser „Weißenhofsiedlung“ deutlich die Grenzen eines sachlich-funktionalen Wohnungsbaus für die breiten Massen auf. Die überzeugendsten Beispiele waren der bürgerlichen oder sogar gehobenen Mittelschicht vorbehalten. Ein weiteres zukunftsweisendes Beispiel stellte die vom Schweizerischen Werkbund errichtete genossenschaftliche Siedlung Neubühl in Zürich mit 200 Wohnungen dar. Die neun Typen wurden aus standardisierten Elementen hergestellt und für gehobenere Ansprüche mittlerer Einkommensklassen errichtet. IV. Das Ende der Visionen der Zeit um 1900 zu Beginn des 21. Jahrhunderts Das städtebauliche Leitprogramm der Charta von Athen, das die Entflechtung und Ordnung der Funktionen Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Verkehr propagierte, prägte den modernen Städtebau, den Wiederaufbau kriegszerstörter Gemeinwesen und auch den sozialistischen Städtebau sowie Neuanlagen in der Dritten Welt oder Asien. Es führte zu Verdichtung auf der einen Seite und damit der Entstehung von typisierten Großwohnsiedlungen und Suburbanisierung auf der anderen Seite mit dem nahezu ungehemmten Entstehen von Eigenheimsiedlungen am Rande unserer Städte und Dörfer. Insbesondere die Mittelschicht der westlichen Industriegesellschaften bewahrte sich die Vorstellung vom Einfamilien- oder Reihenhaus im Grünen, die zudem durch steuerliche Erleichterungen von staatlicher Seite her unterstützt wurde. Sie trugen maßgeblich in ihren Auswirkungen zur heutigen Suburbanisierung und Landschaftszersiedelung bei. Nach der deutschen Wiedervereinigung übertrugen sich innerhalb weniger Jahre diese „westlichen“ Vorstellungen auch auf weite Kreise der ost-

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Abb. 19: Seepark Salzmünde bei Halle.

deutschen Bevölkerung, so dass diese in Scharen die Plattenbausiedlungen verließ. Ein kleiner Teil kehrte in die gründerzeitlichen, nun sanierten Großwohnungen zurück, jedoch selten in die Innenstädte, der größere jedoch wanderte ins Stadtumland und die Dörfer aus, in denen nun die zahllos wie Pilze aus dem Boden schießenden so genannten „Wohnparks“ entstanden (Abb. 19). Zwischenzeitlich werden Plattenbausiedlungen abgerissen, die Städte schrumpfen, die Landschaft ist versiegelt, Verkehrs- und weitere Infrastrukturprobleme tun sich auf. Seit einigen Jahren, seit neben anderen Faktoren vor allem die demographische Entwicklung nahezu sämtlicher Industriestaaten ein Ende des Wachstums, jedenfalls die Schrumpfung ganzer Städteregionen wahrscheinlich werden lässt, beschäftigen sich Städteplaner, Künstler und Architekten mit der Stadtreparatur, Stadtrück- und -umbau. Erneut plant vor diesem Hintergrund der Deutsche Werkbund anlässlich seines 100-jährigen Bestehens eine Modellsiedlung im Norden Münchens mit 400 Wohnungen. Diese Werkbundsiedlung Wiesenfeld, die nach Plänen des japanischen Architekten Kazunari Sakamoto errichtet werden soll, stellt ein hochverdichtetes Viertel von freistehenden Türmen dar, kombiniert mit Häusern umgeben von Privatgärten, Plätzen, Wegen, dessen Mitte ein Kindergarten mit Schwimmbad einnimmt. Das favorisierte Lösungsmodell setzt eine der heutigen Vorstellungen vom neuen Wohnen in der Stadt um (Abb. 20; Maak 2006, 30, Abb. 21).

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Abb. 20: Modell für eine neue Werkbundsiedlung in München von Kazunari Sakamoto.

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Abb. 21: Entwurf des Architekten Kazunari Sakamoto für eine neue Werkbundsiedlung „Wiesenfeld“ in München mit kleinen Häusern mit Privatgärten und Turmhäusern.

Etwas mehr als 100 Jahre nach Zolas „Le Travail“ scheint angesichts von rund 5 Millionen Arbeitslosen allein in der Bundesrepublik Deutschland auch die Vorstellung der Lösung aller Probleme für das 20. Jahrhundert durch die Arbeit eine Fehlentwicklung eingeleitet zu haben. Heute leiden Menschen unter dem Verlust ihres Arbeitsplatzes, da die Entwicklung des 20. Jahrhunderts weithin die Arbeit und den Arbeitsplatz zum Seismographen für Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung gemacht hat. Das Schlagwort vom Ende der Arbeit geht um. Auch die städtebaulichen Lösungen des Einfamilienhauses mit Garten sind weithin gescheitert wie überhaupt die propagierte Trennung der Funktionen Arbeiten, Wohnen, Freizeit und Verkehr. Auch das „Gemeinhaus“ mit seinen Angeboten vermochte – im Grunde schon bei Zola – nicht städtische Urbanität mit ihrem Wechsel zwischen öffentlichem und privatem Verhalten zu ersetzen. Neue Visionen tun not.

Literatur Becker, Colette/Gourdin-Servenière, Gina/Lavielle, Veronique, Dictionnaire D’Èmile Zola, Paris 1993 (zitiert: Becker, Gourdin-Servenière, Lavielle 1993). Bellamy, Edward, Looking Backward: 200–1887, Boston 1888 (zitiert: Bellamy 1888). Bernard, Marc, Émile Zola in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1959 (zitiert: Bernard 1959).

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Bruyn, Gerd de, Die Diktatur der Philantropen. Entwicklung der Stadtplanung aus dem utopischen Denken (Bauwelt Fundament Bd. 110), Braunschweig/Wiesbaden 1996 (zitiert: de Bruyn 1996). Buck, Imke, Der späte Zola als politischer Schriftsteller seiner Zeit, Diss. phil. Mannheim 2002 (zitiert: Buck 2002). Cogny, Pierre, Introduction zu „Fécondité“, in: Émile Zola, Oeuvres complètes (Hrsg. Henri Mitterand), Paris Bd. 8, 1967 f. (zitiert: Cogny 1967 f.). Garnier, Tony, Die ideale Industriestadt, Tübingen 1989 (zitiert: Garnier 1989). Howard, Ebenezer, Gartenstädte von morgen, Julius Posener (Hrsg.), Frankfurt/ Wien 1968 (zitiert: Howard 1968). Le Corbusier, Ausblick auf eine Architektur, Gütersloh/Berlin 1969 (zitiert: Le Corbusier 1969). Lukàcs, Georg, Zum hundertsten Geburtstag Zolas, in: Ders., Probleme des Realismus III, Frankfurt/Main 1965, S. 516 f. (zitiert: Lukàcs 1965). Maak, Niklas, Süden ist möglich. 100 Jahre danach: Münchens neue Werkbundsiedlung, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 14, 09.04.2006, Feuilleton S. 30 (zitiert: Maak 2006). Margerit, Robert, Zola sans le naturalisme, in: Presence de Zola, Paris 1953 (zitiert: Magerit 1953). Mitterand, Henri, Ein Anti-„Germinal“: Die soziale Heilslehre von „Travail“, in: Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), Der französische Sozialroman des 19. Jahrhunderts (aufgenommen aus: Henri Mitterand, Un anti-„Germinal“: L’évangile social de „Travail“, in: Roman et Société. Colloque 6 novembre 1971, Paris 1973, S. 74–83), Darmstadt 1981, S. 447–460 (zitiert: Mitterand 1973). Morris, William, News from Nowhere, London 1890 (zitiert: Morris 1890). – Kunde von Nirgendwo, neu herausgegeben von Gert Selle, Reutlingen 1981 (zitiert: Morris 1981). Müller, Emile Zola – der Autor im Spannungsfeld seiner Epoche. Apologie, Gesellschaftskritik und soziales Sendungsbewusstsein in seinem Denken und literarischen Werk, Stuttgart 1981 (zitiert: Müller 1981). Reinborn, Dietmar, Städtebau im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart/Berlin/Köln 1996 (zitiert: Reinborn 1996). Saage, Richard, Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt 1991 (zitiert: Saage 1991). – Utopische Profile: Industrielle Revolution und Technischer Staat im 19. Jahrhundert, in: ders., Walter Reese-Schäfer, Eva-Maria Seng (Hrsg.), Politica et Ars. Interdisziplinäre Studien zur politischen Ideen- und Kulturgeschichte, Bd. 3, Münster/Hamburg/London 2002 (zitiert: Saage 2002). Schalk, Fritz, Zur Romantheorie und Praxis von Emile Zola, in: Helmut Koopmann, Josef Adolf Schmoll gen Eisenwerth (Hrsg.), Beiträge zur Theorie der Künste im 19. Jahrhundert Bd. 1, Frankfurt a. M. 1971, S. 337–351 (zitiert: Schalk 1971).

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Schober, Rita, Von der wirklichen Welt in der Dichtung, Berlin/Weimar 1970 (zitiert: Schober 1970). Seng, Eva-Maria, Architektonischer Wunschtraum, literarische Utopie, bauliche Realität. Jewgenij Samjatins Wir und die Architektur des 20. Jahrhunderts, in: Martin Kühnel, Walter Reese-Schäfer, Axel Rüdiger (Hrsg.), Modell und Wirklichkeit. Anspruch und Wirkung politischen Denkens. Festschrift für Richard Saage zum 60. Geburtstag, Halle 2001, S. 236–263 (zitiert: Seng 2001). Waldinger, Ingeborg, Zola: Im Namen der Wahrheit. Zum 100. Todestag des französischen Schriftstellers, in: Wiener Zeitung (Extra Lexikon) vom 27. September 2002 (zitiert: Waldinger 2002). Zola, Emile, Les Oeuvres Completes. Les Quatres Evangiles, Travail. Notes et Commentaires de Maurice Le Blond. Texte de l’édition Eugène Fasquelle, Bd. 29 u. 30, Paris 1928 (zitiert: Zola 1928). – Arbeit, Leipzig 1916 (zitiert: Zola 1916). – Arbeit. Übersetzt von Leopold Rosenzweig, Berlin o. J. (zitiert: Zola o. J.). Zola, Francois Émile/Massin (Hrsg.), Émile Zola Photograph. Eine Autobiographie in 480 Bildern, München 1979 (zitiert: Zola, Massin 1979).

Abbildungsnachweis Abb. 1 aus: Gerd de Bruyn, Die Diktatur der Philantropen. Entwicklung der Stadtplanung aus dem utopischen Denken, Braunschweig, Wiesbaden 1996, Abb. S. 196. Abb. 2, 3, 4 aus: Franziska Bollerey, Architekturkonzeptionen der utopischen Sozialisten, Berlin 1991, Abb. 208; 209, 265. Abb. 5, 6, 7, 8, aus: Dietmar Reinborn, Städtebau im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart, Berlin, Köln 1996, Abb. 3.14, 3.15, 3.22, 3. 23. Abb. 9, 10, 11; aus: Hans Wichmann, Deutsche Werkstätten und WK-Verband 1898–1990, München 1992, Abb. S. 94, 95, 101. Abb. 12, 13, 14, 15, 16, 17, aus: Tony Garnier, Die ideale Industriestadt, Tübingen 1989; Tafel 2, 15, 75, 82, 108, 144. Abb. 18: Landesbildstelle Württemberg, Stuttgart. Abb. 19: MZ vom 24.05.2005. Abb. 20: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 09.04.2006. Abb. 21: Werkbund Alle Aufnahmen: Fotostelle des Kunsthistorischen Instituts der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg.

Dystopie, Leben und Roman in der postkolonialen Literatur: Coetzees „Life and Times of Michael K“ Hans Ulrich Seeber I. Hinführung Postmoderne und postkoloniale Utopien haben sich weit von dem entfernt, was Richard Saage zu Recht als „klassischen Utopiebegriff“ bezeichnet hat: „Was spricht dagegen, im Kern des utopischen Konstrukts die rational nachvollziehbaren Strukturen einer staatsfernen oder einer staatlich verfassten Gesamtgesellschaft zu sehen, die den Fehlentwicklungen jener Gesellschaften entgegengestellt werden, in denen sie entstanden?“1 Diese Definition erachtet drei Merkmale als konstitutiv für die klassische Utopie, die, sofern sie in einem Text dominant sind, es erlauben, sie etwa von Mythen oder Science Fiction abzugrenzen. Als Produkt der säkularisierten Vernunft ist die Utopie die rationale Konstruktion einer gesamtgesellschaftlichen Alternative, schließt also nur subjektive Wunschträume und Gedankenspiele, wie man sie von Protagonisten eines Romans erwartet, aus ihrem Geltungsbereich aus. Solchen Ausdrucksformen des Utopismus mag man den Status von utopischen Elementen zuerkennen. Indem der Entwurf kritisch auf die Verhältnisse zurückverweist, aus denen er hervorgegangen ist, besitzt er eine zeitdiagnostische Kraft. Fehlt diese gesellschaftskritische Komponente, die in der Regel explizit, manchmal vorwiegend implizit, dem Text eingeschrieben ist, dann kann man nicht mehr von einer Utopie im strengen Sinne sprechen. In der zitierten Definition ist von Fiktion als einem konstitutiven Merkmal der Utopie noch nicht die Rede – das wird später nachgeholt. Die Fiktion, womit fast ausschließlich erzählerische Fiktionen gemeint sind, öffnet allerdings, so meine These, das Tor für Entwicklungen, welche klassische Utopien und Dystopien vor allem in der jüngsten Vergangenheit bis zur Unkenntlichkeit verwandelt haben. Gleichwohl sind dabei höchst aufschlussreiche Gebilde wie etwa Coetzees Life and Times of Michael K (1974, 1983)2 1 2

Saage 2005, S. 292. Coetzee 1998.

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entstanden, deren formale Veränderungen nicht zuletzt die rational-aufklärerischen Annahmen der Utopie-Tradition in Frage stellen. Ohne eine teleologisch bestimmte Entwicklung behaupten zu wollen, kann man sagen, dass vor allem die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts feststellbare Integration von Utopiekonstruktion und Roman, insbesondere die Verbindung von Utopie-Satire und Roman, Inhalt und Form jener Texte, die man Utopien oder Dystopien nennt, nachhaltig verändert hat. Am konstantesten scheint mir ihr kritisch-diagnostischer Zeitbezug geblieben zu sein. Was die utopische Konstruktion betrifft, die als statisch-abstraktes Element den Erfordernissen des Romans zuwiderläuft, so wird sie quantitativ reduziert (schon in Wells’ A Modern Utopia, 1905) und oft auch literarisiert, weil sie sich als Pastiche vorhandener utopischer und satirischer Entwürfe (so in Butlers Eerewhon, 1872 und in Bulwer-Lyttons The Coming Race, 1871 ) zu erkennen gibt. Obwohl die für die klassischen Utopien typischen didaktischen Dialoge entfallen, erhalten wir in Ursula Le Guins „ambiguous utopia“ The Dispossessed (1974) und in Margaret Atwoods feministischer Dystopie The Handmaid’s Tale (1985), die vor den totalitären Gefahren des christlichen Fundamentalismus in den USA warnt, so viele Informationen, dass sich die wesentlichen Strukturen des anderen Systems – das anarchistische Anarres, das kapitalistische Urras, die religiöse Diktatur – jeweils noch erkennen lassen und auch das Funktionieren von Teilsystemen (Produktion, Erziehungswesen, u. a.) mehr oder minder nachvollziehbar geschildert wird. Dennoch entfällt die Hauptmasse der Texte auf die Repräsentation der kognitiv-affektiven Interaktionen von Einzelpersonen, die, indem sie bekannte Entwicklungen verfremden, die Illusion eines anderen Lebens vermitteln, das in Wahrheit unser eigenes kritisch beleuchtet. Das ‚System‘, das in der modernen Realität für das Individuum ohnehin schon den Charakter eines undurchschaubar-abstrakten Gebildes besitzt, wird in Coetzees Südafrika-Roman Life and Times of Michael K derartig reduktiv, abstrakt und von konkreten Inhalten entleert, dass es mit dem Zusatz „repressiv“ schon ausreichend charakterisiert erscheint. Offenbar ist der Leser gehalten, die Leerstellen über die politischen und ökonomischen Strukturen des Landes mit seinem Vorwissen über das Südafrika der Apartheidjahre selbst auszufüllen. Nirgendwo enthält der Text in dieser Hinsicht ein Novum, das ihn eindeutig als Dystopie im herkömmlichen Sinne auswiese. Das Faszinosum von Coetzees Roman ist nicht das System, sondern der Protagonist, nicht die Gesamtgesellschaft, sondern das Individuum. Insofern fügt sich auch dieser Roman in den von Jürgen Peper3 beschriebenen, vor allem seit der Romantik beobachtbaren Prozess der Individualisierung und 3

Vgl. Peper 2002.

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Ästhetisierung ein, der die klassische Vernunftordnung erodiert. Die Identität von Michael K passt nur oberflächlich in vorhandene Interpretationsraster und stellt deshalb sowohl den realen Leser als auch seine fiktiven Kontaktpersonen – insbesondere den Lagerarzt von Kenilworth – vor unüberwindliche Verstehensprobleme. K entzieht sich der Fürsorge des Lagerpersonals, er weigert sich, obwohl völlig abgemagert und fast verhungert, das Kantinenessen des Lagers anzunehmen, schließlich flieht er. Der literarische Text kodiert hier Wissen auf zwei Ebenen auf höchst ökonomische Weise. K verträgt in seinem Zustand das Lageressen gar nicht mehr, das wäre die wörtliche Bedeutung. Er verträgt aber auch nicht die pervertierte kulturelle Ordnung, die dieses Essen symbolisch repräsentiert. Schließlich suggerieren die Nahrungsprobleme auch das gründlich gestörte ökologische und politische Gleichgewicht. Und damit ist die Zuordnung möglicher Bedeutungen noch nicht erschöpft. Ks ständige Konflikte mit der bestehenden Ordnung oder besser Pseudoordnung suggerieren nicht nur die Leiden des nicht angepassten Individuums, sondern auch seine Kontingenz, ja sogar utopische Horizonte. Indem Coetzee die nicht auslotbare Kontingenz seines Protagonisten herausarbeitet, verlässt er die Zuordnungen des dystopischen Schemas und orientiert sich an fiktionalen Deutungen moderner Erfahrung, wie man sie seit Kafkas K oder Melvilles „Bartleby the Scrivener“ kennt, aber auch von postmodernen Texten. K erschöpft sich gerade nicht in seiner Opferrolle (er hasst es sogar, Gegenstand von Mitleid bzw. charity zu sein) und kann in seinem Fluchtverhalten auch nicht als aktiver Rebell bezeichnet werden. Die dystopische Konstellation Außenseiter vs. System weicht bei Coetzee also in wichtigen Punkten von einer Tradition ab, die einen transparenten Außenseiter konzipiert, der neben seiner Funktion als Handlungsträger die Defizite des Systems in satirischer und didaktischer Weise bloßlegt. Satirische und didaktische Schreibweisen fehlen bei Coetzee. Man könnte also sagen, dass mit dem Ernstnehmen der kontingenten Individualität und der komplexen Verschränkung von Linearität und Zyklik die Dystopie, ohne ihre dystopischen Züge gänzlich zu verlieren, den Anschluss an den Roman der Moderne gefunden hat. Die diagnostische Kraft dieses Gebildes ist erheblich, gerade weil es auf die Methoden rationaler Systemund Wirklichkeitsanalyse verzichtet und sich auf die Repräsentation der sinnlichen und geistigen Erfahrungen der Fokalisierungsinstanz K konzentriert. Aus dem Blickwinkel dessen, der als Migrant sozial und kulturell ausgesperrt ist, fällt auf das von der Logik des Krieges bestimmte Herrschaftssystem mit seinen an die Nazis erinnernden Lagern ein kritisches Licht. Was es heißt in einem modernen und/oder repressiven System zu leben, das macht erst eine Romanerzählung erlebbar und nachvollziehbar, die Lebenswirklichkeit als prozesshafte, kontingente und konkret-individuelle konzipiert und inszeniert. Das gilt es nun genauer zu erläutern.

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II. Der Roman, die Dystopie und die Erhaltung des Lebens Der Ort der Handlung ist Südafrika, die Zeit bleibt unbestimmt. Der Sinn dieser Auslassung ist in jedem Falle eine Verfremdung, die von der konkreten historischen Situation abstrahiert, die sie dennoch meint. Entweder ist das Südafrika zur Zeit der Publikation des Romans gemeint oder (wahrscheinlicher) die nahe Zukunft, was einer Konvention der Science Fiction entspräche. Eine solche Entgrenzung und Verwischung von Gattungen ist, in Verbindung mit Perspektivierungen und neorealistischer Schreibweise, typisch für die gemäßigten Verfremdungseffekte des neueren postmodernen Romans. Michael K, angestellt als städtischer Gärtner bei der Stadtverwaltung von Kapstadt, beschließt auf Wunsch seiner todkranken Mutter, das städtische Chaos aus Gewalt, Verarmung und Polizeirazzien zu verlassen. Ohne im Besitz einer Reisegenehmigung zu sein, die ihm in kafkaesken Szenen verweigert wurde, bricht er mit einem selbstgebastelten Schubkarren auf, um mit seiner Mutter die Farm ihrer Kindheit in der Nähe von Prince Albert zu erreichen. Als die Mutter im Krankenhaus von Stellenbosch stirbt, setzt er den Fußmarsch alleine mit der Asche seiner Mutter fort, die er zum Ort ihrer Kindheit bringen möchte. Mehrfach wird er in der Folgezeit von der Polizei aufgegriffen, in ein Arbeitslager (u. a. Jakkalsdrif) und schließlich in ein Umerziehungslager (Kenilworth bei Kapstadt) gesteckt, aus denen er aber jeweils flieht. Wie ein Tier entzieht er sich dem disziplinierenden Zugriff der in einen Dauerkrieg mit Aufständischen verwickelten Staatsmacht durch Flucht. Eine Zeit lang überlebt er auf der verlassenen Farm der Visagies, wo seine Mutter angeblich ihre Kindheit verbrachte, indem er – ein moderner Robinson – Tiere erlegt und u. a. Kürbisse anpflanzt. Zunächst von der Guerilla heimgesucht, dann von Soldaten aufgegriffen, die in ihm einen Komplizen der Aufständischen sehen, landet er schließlich fast verhungert und im Delirium im menschenfreundlichen Kenilworth, aus dem er sich aber nach Kapstadt absetzt. Die Kreisstruktur von Aufbruch, Abenteuern und Rückkehr enthält nicht die nihilistische Botschaft absurder Literatur a la Beckett. Eher inszeniert sie ästhetisch ökologisches Denken, wie man überhaupt den Text mit Kategorien beschreiben kann, z. B. Komplexität, Konkretheit, Sinnlichkeit, Energie, Prozess, zyklische Wiederkehr, die sowohl ökologische als auch ästhetische sind. Die Kreisbewegung führt nicht gänzlich in die ausweglose Situation des Beginns zurück, sie läuft vielmehr, jenseits oder unterhalb der für die klassische Utopie charakteristischen Ebene rationaler Diskursivität und Systemkonstruktion, auf Bilder zu, die Hoffnung nicht ausschließen. Anders als beim Protagonisten des absurden Dramas oder des untergehenden Außenseiters der klassischen Dystopie werden am Ende mit der arche-

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typisch zu nennenden Figur des Gärtners K Bilder der Fruchtbarkeit, der Sexualität und des Lebens auf eine Weise verbunden, die trotz aller ironischen Gebrochenheit einen utopischen Sinnhorizont sichtbar machen, postmoderne Unverbindlichkeit also in Richtung einer Ethik des zu bewahrenden Lebens aufbrechen. Bei einem so bewussten Künstler wie dem Nobelpreisträger Coetzee ist es alles andere als ein Zufall, dass er einen Roman, dem er Heraklits „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“ als vieldeutiges Motto voranstellt, mit dem nicht ironisch platzierten Verb „live“ beschließt. In seinen Gedanken kehrt K am Ende zur Farm und zu seinem Garten zurück, die samt der Wasserpumpe von den Soldaten in die Luft gesprengt worden waren: „He thought of the farm, the grey thornbushes, the ring of hills, the mountains purple and pink in the distance, the great still blue empty sky, the earth grey and brown beneath the sun save here and there, where if you look carefully you suddenly saw a tip of vivid green, pumpkin leaf or carrot-brush [. . .] He would clear the rubble of the shaft, he would tend the handle of the teaspoon in a loop and tie the string to it, he would lower it down the shaft deep into the earth, and when he brought it up there would be water in the bowl of the spoon; and in that way he would say, one can live.“4

Auch wenn seine Initiation in die Welt des Sexuellen demütigend war, weil eine Prostituierte ihn als Spielobjekt benutzte oder als Ventil ihres Mitleids, auch wenn die Schlussszenen am Strand von Kapstadt verschieden auslegbar sind, so denkt und träumt K unzweideutig von der Kontinuität des Lebens und der Überwindung der Zerstörung. Deshalb gilt das abschließende Bild auch dem Vater („little old man“)5, den er in seinem Leben gar nicht kennen lernte, – ein Vater, der sich allerdings erst intertextuell als Vaterfigur erschließt und mehrere Väter zugleich meint: den fiktiven, erträumten Vater von K, den Alkoholiker-Vater von Coetzee, den Autor als Erzeuger von K und K selbst als potentiellen Vater. Zu den Erfahrungsbeständen seiner Pilgerschaft durch das Hinterland gehört schließlich die wichtige, unerwartet sich einstellende Einsicht („moral“)6, dass Zeit, anders als in der modernen Lebenswelt, keine knappe Ressource zu sein braucht. Sein Schicksal bleibt zwar postmodern offen, aber die Motive der Kultivierung der Erde und der Wassergewinnung erinnern an die elementare menschliche Aufgabe, Erde und Natur durch Kulturarbeit für ein menschenwürdiges und naturgemäßes Dasein zu nutzen. Das Medium des Postmodernen (dem das Moment des spielerischen Umgangs mit Diskursen und Sinnsystemen freilich abgeht) und Postkolonialen, (der hier nicht explizit politisiert, sondern schwarze Identität tendenziell mystifiziert und als ökologische Alternative 4 5 6

Coetzee 1998, S. 184. Ebd., S. 183. Ebd.

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entwirft), bietet keine rational konstruierten utopischen oder dystopischen Alternativwelten an, sondern, der ästhetischen Logik des Konkreten und Individuellen folgend, suggestive, vieldeutige Bilder. Entsprechend ist die Rationalität der Lebensform von K derjenigen der klassischen Vernunft entgegengesetzt. Die dem Leben in seiner Individualität und Wechselhaftigkeit (auf die auch das Heraklit-Zitat indirekt anspielt) gerecht werdende ästhetische Vernunft des modernen Romans enthält nicht das totalitäre Potential der klassisch-utopischen Vernunft. Dennoch existiert in Life and Times of Michael K ein System, an dem er sich unablässig reibt. Dieses System ist allerdings nur in konkreten Teilaspekten gegenwärtig, die auf das Ganze verweisen, Teilaspekten, mit denen K immer wieder situativ konfrontiert wird: Polizei, Wächter, Büros, Militärkonvois, Krankenhäuser und ihr Personal, Lagerpersonal, Stacheldrahtzäune, die Flagge als nationales Symbol. Das System ist dabei so situationsabstrakt gehalten („the unimaginable bureaucracy above“)7, dass seine Merkmale auf jede Art von repressiv-totalitärer Ordnung, wie man sie aus dem 20. Jahrhundert kennt, zutreffen. Diese Abstraktions- und Verallgemeinerungstendenz bekräftigt der Text an einer Stelle durch einen Hinweis auf Dachau. Michael K erinnert den Lagerleiter Noel an den Häftling eines Konzentrationslagers, weil er nur noch aus Haut und Knochen besteht: „ ‚You saw him when they brought him in,‘ said Noel. ‚He was a skeleton then. He was living by himself on that farm of his as a bird, eating the bread of freedom. yet he arrived here looking like a skeleton. He looked like someone out of Dachau.‘ ‚Maybe he is just a very thin man,‘ I said.‘8

Utopische oder dystopische Konstruktionselemente im Sinne der UtopieTradition enthält der Text nicht – und erinnert dennoch an sie, weil die idealtypische Ausformung der Dystopie etwa bei Orwell und Atwood historische Tatsachen extrapoliert, die teilweise auch in der Burenrepublik im Zeichen der Apartheid zu finden waren. Der ständige Krieg gegen eine schwer greifbare Guerilla-Bewegung ist ein solch dystopisches Motiv. Historisch beglaubigt ist auch der Umstand, dass in der Spätphase der Apartheid das System immer milder und verständnisvoller gegenüber den „Anderen“ wurde, was sich am Verhalten der Lagerleitung von Kenilworth ablesen lässt. Diesen kultivierten Lagerleitern entgeht nicht die Ironie eines Lagerinsassen, den nicht menschenunwürdige KZ-Verhältnisse an den Rand des Todes brachten, sondern die Freiheit eines vom System nicht kontrollierten Lebens in der Natur. Der ökologischen Vision von K ist also zugleich ihr Dementi eingeschrieben. 7 8

Ebd., S. 159. Ebd., S. 146.

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Das Wissen, das der Roman repräsentiert, transportiert und zugleich verdunkelt und relativiert, ist „Lebenswissen“9, das sich nicht vollständig konzeptualisieren lässt. Aus konkreten Wahrnehmungen, aus Selbsterfahrungen und Fremderfahrungen, aus Gedanken und Träumen entsteht das Bild einer sich ständig ändernden Lebenswirklichkeit, die sich gerade im Falle von Life and Times of Michael K nicht in die Sprache des moralischen, psychologischen oder soziologischen Diskurses übersetzen lässt. Das hat vor allem mit dem gewählten Konstruktionsverfahren des Autors zu tun. Es gibt im Unterschied zum traditionellen Roman keinen allwissenden Erzähler der das Dargestellte bekannten Erklärungsmodellen zuordnete. Teil I und Teil III (die Rückkehr nach Kapstadt) sind aus der personalen Perspektive des einfältigen Außenseiters Michael K erzählt, Teil II, das in Ich-Form gehaltene Tagebuch oder autobiographische Dokument des von K faszinierten Lagerarztes von Kenilworth, enthält dessen Interpretationsversuche. Die bieten gewiss wichtige Hinweise, nehmen dem Leser aber nicht die Aufgabe ab, die rätselhafte Identität des Protagonisten zu entziffern. Wegen der Unbestimmtheit des Textes können diese Auslegungsversuche nie zu einem Ende gelangen, müssen aber dennoch unternommen werden. Wer ist Michael K? Welche Botschaft enthält seine Geschichte, ohne dass sie gezielt in sie hineingelegt worden wäre: “Is that the moral of it all, he thought, the moral of the whole story: that there is time for everything?“10 Eine Methode des Umgangs mit dem Anderen ist in der Spätphase der Apartheid unter dem Vorzeichen postmoderner Kunst offenbar seine Verrätselung.11 Nicht einmal der Name von Michael ist gesichert – die Vertreter des Systems nennen ihn Michaels. Ethnisch wohl ein Schwarzer, sozial der Unterschicht zugehörig, ist Michael K wegen seiner körperlichen Missbildung – er wird mit einer Hasenscharte geboren, die schon seine Mutter abstößt – und geringen intellektuellen Fähigkeiten von Anfang an ein Gezeichneter, ein Einfältiger und Außenseiter, der in die Welt, zumal die moderne Welt, nicht zu passen scheint. Vergleichsweise rationalen Optionen, die sich ihm anbieten, entzieht er sich zum Erstaunen seiner Umwelt12 regelmäßig durch Flucht. Sein Alptraum ist offenkundig das Eingesperrtsein, sei es in der Erziehungsanstalt von Huis Norenius oder im Arbeitslager Jakkalsdrif, das ihm bei relativer Bewegungsfreiheit Sicherheit, Nahrung und eine Unterkunft gewährt: „ ‚Why have I been sent here?‘ he wanted to know. ‚How long do I have to stay?‘ But the guard went on sleeping, and K lacked the courage to shout.“13 9

Vgl. Ette 2004. Coetzee 1998, S. 183. 11 Vgl. Reckwitz 2002. 12 Siehe Coetzee 1998, S. 85. 13 Ebd., S. 75. 10

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Aus politischer Perspektive ist K eine höchst aktuelle Figur, an der politisch-ideologische Kategorien allerdings abprallen. Weder ein Vertreter des abstrakten Systems („they“)14 noch ein aktiver, organisierter Widerstandskämpfer, zwingen unerträgliche Lebensumstände und die Loyalität zur Mutter ihn zur Flucht. Als Migrant, der ständig Gefahr läuft, entdeckt zu werden, bewegt er sich in einem Niemandsland zwischen den Fronten. Seine Sorge und Vorsorge gilt nicht der Realisierung politischer Programme, die er nicht denken kann, sondern dem bloßen Überleben. Nahrungssuche, Essen und Trinken, das Auffinden von Verstecken, Wachsamkeit, die ihn vor Gefahren schützt, Säen und Ernten – das sind alltägliche, elementare Tätigkeiten, die in Verbindung mit gelegentlicher Introspektion sein Leben ausfüllen, wenn er nicht dem Mechanismus des Systems ausgeliefert ist. Bietet K als „cross cultural character“15 eine kulturelle Alternative zu den erstarrten Fronten der südafrikanischen Politik und Kultur vor 1994 (dem Jahr, als der ANC die Macht übernahm)? Das dürfte in die richtige Richtung – die transkulturellen Züge von K, der etwa einen indigenen Zeitsinn mit kalvinistischer Introspektion und einem rudimentär kolonialen Habitus verbindet – zielen, und doch, wenn man kulturell mit geistig assoziiert, zu hoch gegriffen sein. Zu sehr betont die Rhetorik des Textes das Regressive und Elementare – Begriffe, die der Roman selbst meidet – der Lebensform von K. Von Außenstehenden abschätzig als „kranker Hund“ („sick dog“)16 bezeichnet oder als Einfaltspinsel, deutet er sich selbst gelegentlich als Ameise („I am like an ant who does not know where its hole is, he thought“)17 oder als Erdwurm („earth worm“)18 oder als „Maulwurf („mole“)19. Auch das Bild der Echse wird des öfteren bemüht. Was ihn also auszeichnet und als Repräsentanten des Lebens prädestiniert, ist seine Verbundenheit mit Pflanze und Tier. Nicht umsonst spielt Coetzee auch anderswo mit der Entgrenzung der traditionellen Seinshierarchie, wenn er „God“ als Anagramm von „dog“ liest (Age of Iron, 1990, und anderswo) oder in Disgrace Davids Wiedergewinnung von Menschlichkeit und Liebe an dessen veränderter Beziehung zu Hunden abliest. Die Rhetorik der Entgrenzung unterläuft in Verbindung mit dem Motiv des Gärtners die Ebene der Politik und der als linearer Verlauf gedachten Geschichte („the wheels of history“)20. Sie zeigt eine quasi-zeitlose Form des Umgangs mit der Natur im ursprünglichen Sinne von Kultur an, 14 15 16 17 18 19 20

Ebd., S. 48 u. a. Pordzik 2001, S. 72. Coetzee 1998, S. 155. Ebd., S. 183. Ebd., S. 182. Ebd. Ebd., S. 161.

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die sich freilich den historisch-politischen Realitäten nie entziehen kann. Wie seine Mutter schließlich in Asche und Erde verwandelt wird, so lebt K ein intensiv körperliches Leben, schläft, wacht, hungert, isst, trinkt, spürt die Sonne auf sich, lauscht in die Stille der südafrikanischen Steppe hinein, friert, fiebert, zittert und deutet sich einmal als rein materielle Existenz, als Stein im Universum. Folgerichtig und paradoxerweise dient seine Selbstreflexion sogar dazu, die Identität von menschlicher und körperlicher Existenz zu behaupten: „It came home to him that he might die, he or his body, it was the same thing, lie here till the moss on the roof grew dark before his eyes, that his story might end with his bones growing white in this faroff place.“21

Die Berührung der Erde wird zum gewollten Akt. „He dug his hands into the sand and let it pour through his fingers over and over again.“22 Taktile Empfindungen vermitteln ihm den Eindruck, Gesundheit zurück zu gewinnen: „It felt to him that he was drawing health from the children’s touch;“23 Diese Einsicht geht K nicht am Ende einer Reflexion auf, sondern als gefühlte Befindlichkeit. Die personale Perspektive vermittelt Lebensbezüge, die sich als leibliche eigentlich nicht mehr verbegrifflichen lassen, und doch im literarischen Medium der Verbegrifflichung bedürfen („feel“, „health“). Sofern es die sprachlich-mediale Brechung überhaupt zulässt, suggerieren die Wahrnehmungen der Fokalisierungsinstanz K die Befindlichkeiten einer leiblichen und seelischen, in unmittelbarem Kontakt mit der Umwelt stehenden Existenz. Die gewählte Perspektivtechnik erlaubt es also, elementare Lebensbezüge zu inszenieren. K befindet sich ersichtlich auf der utopischen Suche nach Heimat. Er träumt vom „Garden of Paradise“24 und trägt ständig Kürbissamen bei sich. In einer Welt der Zerstörung hält er es für seine Pflicht, die „idea of gardening“25 am Leben zu erhalten. Wie Kafkas K in einem undurchschaubaren System von Zwängen verloren, geht er allerdings beharrlich seinen eigenen Weg, der nicht unbedingt in die Sozialhilfe oder den Untergang führen müsste. Der Kafka-Bezug verknüpft das Migrantendasein des südafrikanischen Schwarzen mit der Erfahrung der Moderne, die das Subjekt mit utopischer Sehnsucht beantwortet. Folgerichtig projiziert der Lagerarzt von Kenilworth seine Sehnsucht nach Sinn auf die mysteriöse, ihn faszinierende Figur von K. Den Künstler der Flucht und „Hungerkünstler“ (Kafka) K betrachtet er zum einen als Allegorie systemsperrigen Sinns, zum anderen als 21 22 23 24 25

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S.

69. 83. 84. 155. 109.

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Verweis auf das utopische Nirgendwo („nowhere“) des Gartens, der allein Heimat zu geben verspricht: „Let me tell you the meaning of the sacred and alluring garden that blooms in the heart of the desert and produces the food of life. The garden for which you are presently heading is nowhere and everywhere except in the camps. It is another name for the only place where you belong. Michaels, where you do not feel homeless. It is off every map, no road leads to it that is merely a road and only you know the way.“26

Das mythische Bild des Gartens („sacred [. . .] garden“), in mythisierender Rede besprochen („food of life“), suggeriert in Verbindung mit den Bildern der Samen und der Erde eine ökologische Vision, die als punktuelle Utopie, als utopisches Element, die dystopische Düsternis der Lager und der Gewalt gelegentlich durchbricht. Die Gegenfigur des Gärtners, die sich der Vereinnahmung durch das System entzieht, symbolisiert die Erhaltung des Lebens. Utopischer Sinn wandert aus der rationalen Konstruktion in mythische Bilder aus, deren Suggestionen auch das Unbewusste des Lesers erreichen und deshalb umso mächtiger sind. Deshalb erklärte ich eingangs nicht das System, sondern K zum Faszinosum des Romans, das freilich ohne den Widerpart des Systems sich nicht entfalten könnte. Die 32 Jahre alte Leidensfigur ist zu Recht als schwarzer Jesus gedeutet worden, sein Name Michael K verbindet in paradoxer Weise den modernen Mythos des einsamen, am System scheiternden Individuums mit dem traditionellen Mythos des Erzengels, dessen Heerscharen Satan aus dem Paradies vertrieben. Wie komplex und spannungsreich das von Coetzee erstellte semantische Netzwerk ist, zeigt auch ein abschließender Blick auf das Bild der Hasenscharte, welche die Hauptfigur in die soziale Isolation treibt. In der afrikanischen Folklore ist der Hase als Verkünder der zyklischen Wiederkehr des Lebens bekannt, das sich am Rhythmus des Mondes orientiert. Weil er aus Unachtsamkeit oder aus Böswilligkeit aber die Wiederkehr des Todes verkündete, wurde er aus Zorn darüber von der Mondgöttin mit einer Axt an der Oberlippe verletzt. In Ks körperlicher Missbildung ist aus mythischer Perspektive auch ein positiver Sinn verborgen.27 Aber solche Bilder konstituieren natürlich keine Utopie im Gattungssinn. Es fehlt die Korrelation von rationaler Kritik und Konstruktion, die noch nie das Geschäft des Romanciers gewesen war. Dystopie und Utopie sind bei Coetzee endgültig den medialen Bedingungen des (modernen) Romans unterworfen worden. Dazu gehört auch das Gesetz der perspektivischen Brechung. Die oben zitierte Lesart, die dem subjektiven Bedürfnis des La26

Ebd., S. 166. Vgl. zum Motiv der Hasenscharte die Magisterarbeit von Keyser 2004, S. 51–52. 27

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gerarztes entstammt, kann zwar einige Plausibilität für sich beanspruchen, ist aber nicht notwendig verbindlich. Handelt es sich bei K um einen Menschen am Rande des Wahnsinns? Aber selbst eine solche Lesart würde vor dem Hintergrund der utopischen Tradition Sinn ergeben, wo ja auch Narren und Verrückte ihre eigene Wahrheit verkünden dürfen. Lebenswissen, das in einem komplexen Kunstwerk wie Life and Times of Michael K gespeichert ist, wird nicht in Form eines Maßnahmenkatalogs dargeboten, in welche Richtung das ökonomische und politische System zu ändern wäre. Der Roman enthält keinen politischen Ideengehalt, den man herausfiltern könnte – und ist doch ein hochpolitischer Roman. Er liefert uns aufschlussreiche Perspektiven – vor allem die von K und die des Lagerarztes – auf das verminderte Leben in einem repressiven System und auf die materiellen, biologischen und geistigen Bedingungen, die das Überleben gestatten. Leben ist, das wusste schon die Lebensphilosophie, vor allem ein Prozess, der letztlich keine zeitindifferenten Strukturen zulässt. Ks ständige Wanderungen in die Richtung von Zielorten, die ebenso real wie imaginär sind, wirken wie ein Sinnbild dieses Umstands. Die Geschlossenheit der klassischen Dystopie ist unter solchen Umständen nicht durchsetzbar. Indem der Titel des Romans auf den bestimmten Artikel vor dem Substantiv „Life“ verzichtet, signalisiert er die Unabgeschlossenheit eines individuellen Lebens, dem auch die Unabgeschlossenheit und Unabschließbarkeit des historischen Prozesses entspricht. Beiden Unabgeschlossenheiten wird am besten der Roman gerecht, den die Moderne ausdrücklich als Buch des Lebens verstand und begrüßte. Der Roman ist die Selbstinterpretation des Lebens ohne Hilfe der Metaphysik und seit der Moderne, welche an die ästhetische Vernunft – die bei Coetzee mit einer starken ethischen Orientierung verbunden ist – glaubte, auch ohne Hilfe der spezifisch aufklärerischen Rationalität. Aber auch die das Konkrete und Individuelle des Lebens respektierende ästhetische Vernunft wird ohne politische Systemüberlegungen nicht auskommen können. Coetzee baut in seinem Text eine dreifache Spannung auf, die sich in drei Fragen formulieren lässt: Wie ist das (gesellschaftliche) System beschaffen? Welches Schicksal wird K schließlich in diesem System erleiden? Welche Identität besitzt er eigentlich? Bezeichnend für die aus den Vorgaben der Romanform folgende Verschiebung des Interesses vom System auf den Protagonisten ist die Tatsache, dass die erste Frage nur mäßig interessiert. Gemäß der postmodernen Weltsicht, die abschließende Erkenntnisse und Festsetzungen nicht erlaubt, erhalten wir zwar auf alle drei Fragen nur partielle Auskünfte, aber das den Leser in seinen Bann schlagende ästhetische Faszinosum ist zweifellos die Figur von K. Was dieses Faszinosum entstehen lässt, ist eine spezifische Balance bei der erzählerischen

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Konstruktion des Anderen. Es ist eine Balance zwischen Eigenem und Fremdem, Nähe und Distanz, Vertrautheit und Dunkelheit, Beschädigung und provozierender Alternative, welche die moderne Logik des Krieges, des Krieges gegen die Natur, des Krieges in der Gesellschaft, aushebelt. Das vom System Unterdrückte und Marginalisierte entpuppt sich mehr und mehr als Reservat utopischen Sinnes, als „imaginative Gegenenergie“28, die sich in den gelungenen Fluchten und in den Träumen des Gärtners K zur Geltung bringt. Literatur Coetzee, J. M., Life and Times of Michael K, London 1998 (zitiert: Coetzee 1998). Ette, Ottmar, ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie, Berlin 2004 (zitiert: Ette 2004). Keyser, Thilo, Figurendarstellung und Sympathielenkung in ausgewählten Werken von J. M. Coetzee, Stuttgart 2004 [Magisterarbeit Universität Stuttgart] (zitiert: Keyser 2004). Peper, Jürgen, Ästhetisierung als Aufklärung. Unterwegs zu einer demokratischen Privatkultur. Eine literarästhetisch abgeleitete Kulturtheorie, Berlin 2002 (zitiert: Peper 2002). Pordzik, Ralph, The Quest for Postcolonial Utopia: A Comparative Introduction to the Utopian Novel in the New English Literatures, New York 2001 (zitiert: Pordzik 2001). Reckwitz, Erhard, Eintrag Coetzee, in: Eberhard Kreutzer/Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Englischsprachiger Autorinnen und Autoren, Stuttgart 2002 (zitiert: Reckwitz 2002). Saage, Richard, Plädoyer für den klassischen Utopiebegriff, in: Frank Benseler u. a. (Hg.): Erwägen, Wissen, Ethik (EWE), Diskussionseinheit Utopie, Jg. 16 (2005), Heft 3, S. 291–298 (zitiert: Saage 2005). Zapf, Hubert, Das Funktionsmodell der Literatur als kultureller Ökologie: Imaginative Texte im Spannungsfeld von Dekonstruktion und Regeneration, in: Marion Gymnich/Ansgar Nünning (Hg.): Funktionen von Literatur: Theoretische Grundlagen und Modellinterpretationen, Trier 2005 (zitiert: Zapf 2005).

28

Zapf 2005, S. 69.

Motive der Raumfahrtfiktionen Walter Euchner Die Science-Fiction-Literatur und die Filme, die fiktive Raumfahrten zum Gegenstand haben, sind kaum zu überblicken, und es mischen sich darin bedeutende Werke mit solchen von unsäglicher Brutalität und trivialer Fantastik. Die besseren Beispiele sind futuristisch in dem Sinne, dass sie an den erreichten oder erwartbaren technischen Fortschritt anknüpfen, dessen Tendenzen übersteigern und in fiktive – soll heißen, nach dem gegenwärtigen Stand der Technik unmögliche – Szenarien umsetzen. Diese sollen die glücklichen oder trüben Aussichten der Menschheit ausmalen, die durch kluges oder aber irreversibel schädliches Handeln von Wissenschaft und Technik verursacht werden, die ihre Grenzen nicht bedenken. Die neueste Strömung in der Science-Fiction-Literatur greift die Fortschritte der Computerwissenschaft und der Robotik auf. Sie unterstellt, dass die Entwicklung von „Künstlicher Intelligenz“ (KI) gelungen ist. Die anthropoiden Roboter, die die aktuellen Science-Fiction-Filme bevölkern, besitzen eine Intelligenz, die den Menschen zu schaffen macht. An die Stelle des Optimismus der älteren Literatur tritt die Befürchtung, die mit KI ausgestatteten Roboter könnten sich zu Herren über die Menschen aufschwingen, wie dies der Roboter HAL des Kubrick-Films „2001: A Space Odyssey“ aus dem Jahr 1968 versucht hat.1 Andere Autoren sehen in dieser fiktiven Entwicklung nur Positives. Die intelligenten Roboter sind Produkte des menschlichen Geistes, „brain children“ (Hans Moravec); die Menschen werden sich mit ihnen zu Chimären, zu „human-machine hybrids“ (Gregory Stock) verschmelzen. Die Gattung Mensch wird schließlich zu einer bedeutungslosen Restgröße, bevor sie völlig schwindet. Die an ihre Stelle getretenen superintelligenten Wesen werden die künftigen Eroberer und Ausbeuter des Weltraums sein.2

1 In Wirklichkeit ist die Angst vor bösartigen Automaten und ihren Schöpfern viel älter. Vgl. Euchner 2005, S. 42–45. 2 Vgl. Ebd., S. 49–52.

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I. Jules Verne: Mondfahrt als Ausdruck des kraftstrotzenden Kapitalismus Jules Vernes Mondexpedition wird geradezu paradigmatisch aus dem historischen Kontext des optimistischen aufstrebenden Kapitalismus der USA entwickelt. Die Idee schreibt der Romancier dem „Gun Club“ von Baltimore zu, einer Vereinigung von Liebhabern des Artilleriewesens, hauptsächlich bestehend aus reichen Kaufleuten und Ingenieuren. Die Yankees, so Verne, seien „les premiers mécaniciens du monde“; speziell deren Ballistik und damit die Artillerie ließen jene der Europäer weit hinter sich. Zum großen Kummer des Gun Clubs gab es nach dem Sezessionskrieg keine Aussicht auf irgendeinen Krieg, in den die USA verwickelt sein könnten, und folglich auch keine Anregungen zur Weiterentwicklung der Artillerie. Einem brainstorming zu der Frage, was einen Krieg ersetzen könnte, entsprang die Idee, „den Mond zu erobern“3. Sie versetzte die ganzen United States in einen Begeisterungstaumel. Verne ließ Barbicane, den gelehrten Präsidenten des Gun Clubs, die Mondexpedition typisch amerikanisch, also generalstabsmäßig, organisieren. Er beginnt mit einer Machbarkeitsstudie unter Einschaltung des Observatoriums der Universität Cambridge (Mass.), d. h. Harvards. Dieses hielt das Unternehmen für möglich, wenn dabei bestimmte Gesetze der Ballistik (die Raumkapsel sollte mit einer riesigen Kanone zum Mond geschossen werden) und der Astrophysik strikt berücksichtigt würden. Es folgten Berechnungen der Pulvermenge und des optimalen Standorts der Kanone, die erforderlich wären, um in den Bereich der Anziehungskraft des Mondes zu gelangen. Zum Guss der Kanone und der Raumkapsel wurde eigens ein Unternehmen gegründet, zu dessen Finanzierung Subskriptionspapiere aufgelegt wurden, die in den führenden Bankhäusern der Finanzmetropolen der ganzen Welt gezeichnet werden konnten. Obwohl kein Gewinn in Aussicht gestellt wurde, war die weltweite Begeisterung für das Projekt so groß, dass die Papiere spielend abgesetzt werden konnten – ein völkerverbindender Effekt dieses Projekts, der den imperialistischen Ursprung der Idee überlagerte. Die Region Floridas, in der nach Vernes Vorstellung Kanone und Raumkapsel produziert werden sollten, nahm einen wirtschaftlichen Aufschwung. Die Produktionsstätte sei zu einer Massenattraktion geworden; das Innere des Kanonenrohrs habe mit Hilfe eines Aufzugs gegen Geld besichtigt werden können.4 Vor Antritt der Mondfahrt hätten sich, so Verne, die drei potentiellen Astronauten den Fragen eines überwiegend begeisterten, aber durchaus auch 3 4

Verne 1866, S. 2–11. Vgl. ebd., S. 94.

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kritischen Publikums gestellt. Wie wird der zum Atmen erforderliche Sauerstoff erzeugt? Wie können die Astronauten den Rückstoß des Abschusses und den Aufprall auf dem Mond überstehen? Besitzt der Mond eine Atmosphäre (die Frage wird zögernd bejaht), gibt es Lebewesen, sog. Seleniten (nach der Mondgöttin Selene)? Wahrscheinlich nicht. Wie werden Sie zurückkehren? Wir werden dies schon schaffen, usw. Die Schilderung der Diskussion besitzt einen interessanten völkerpsychologischen Aspekt. Während die beiden amerikanischen Astronauten über solide physikalische, astronomische und mathematische Kenntnisse verfügen, wird der Dritte im Bunde, ein Franzose, als Dilettant in diesen Fragen, doch rhetorisch begabter Abenteurer dargestellt, dem es gelingt, die Menge von der Seriosität des Unternehmens zu überzeugen – eine für einen französischen Autor merkwürdige Rollenverteilung, denn der Part des Abenteurers hätte eher zu einem Yankee gepasst, und die französischen Naturwissenschaften und Mathematik des 19. Jahrhunderts brauchten sich nicht zu verstecken. Verne hatte offenbar einen großen Respekt vor der wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Dynamik der Vereinigten Staaten. Einzelheiten des Verlaufs des abenteuerlichen Mondflugs, bei dem die eigentlich geplante Landung misslingt, weil die Anziehungskraft eines großen Asteroiden die Raumkapsel von dem vorberechneten Kurs abbrachte, braucht hier nicht zu interessieren. Barbicanes Versuche, durch Verringerung der Fluggeschwindigkeit doch noch eine Landung zu erreichen, schlugen fehl, dafür gelangte die Raumkapsel durch Zufall auf eine Flugbahn zurück zur Erde, wo sie in den Ozean stürzte. Die Astronauten werden aufgefischt und, wieder an Land, in einer triumphalen Fahrt per Eisenbahn durch die USA geleitet. Jules Vernes Mondfahrtroman wird leitmotivisch von zwei Botschaften durchzogen: Der Stand der Naturwissenschaften und der Technik, den diese in dem entwickeltsten Land des Kapitalismus erreicht hat, ermöglicht die Lösung so gut wie aller Probleme, die beim Kanonen- und Raumkapselbau sowie bei der Berechnung der Flugbahn auftauchten. Daher die Überzeugung eines führenden Mitglieds des Gun Clubs, dass die Astronauten einen Weg zur Rückkehr auf die Erde finden könnten, obwohl zu Beginn der Reise unklar war, auf welche Weise dies geschehen könne: „Ich kenne sie, sie sind ingeniöse Männer. Sie nehmen in den Weltraum alle Kenntnisse mit, über die die Technik, die Wissenschaft und die Industrie verfügen. Damit können sie machen, was sie wollen, und Sie werden sehen, sie werden sich aus der Affäre ziehen.“5 Zweitens: Selbstverständlich muss sich eine technische und organisatorische Leistung wie die des Mondflugs auch ökonomisch lohnen. Die Astronauten zögerten denn auch nicht, gleich nach ih5

Ebd., S. 169.

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rer Rückkehr unter dem Namen „Société nationale des Communications interstellaires“ eine Kommanditgesellschaft auf Aktien zu gründen.6 Verne hat die Entwicklung der Raumfahrt vorweggenommen. Denn die Raumfahrtindustrie ist im Begriff, einen Mond- und Weltraumtourismus aufzubauen. In der Literatur finden sich Stimmen, die Jules Verne in die Nähe des Saint-Simonismus rücken. Bei Leon Stover, dem Herausgeber von H. G. Wells’ „The First Men in the Moon“, erscheint er geradezu als Wells Vorläufer. Verne sei ein „committed socialist“ gewesen; sein Saint-Simonismus zeige sich in seiner Begeisterung für den Aufschwung der industriellen Produktion und das Entstehen des Welthandels.7 Diese These kann hier nicht überprüft werden. Ihr steht entgegen, dass Vernes Mondexpedition mit rein kapitalistischen Methoden realisiert wurde. Der Verne-Biograf Dehs weist auf andere Romanhelden Vernes hin, die die frühsozialistischen Autoren Saint-Simon, Fourier und Proudon sowie den Kommunismus klar ablehnen. Er geht davon aus, dass darin Vernes Überzeugung zum Ausdruck kommt.8 II. H. G. Wells: Zwei Arten des Umgangs mit extraterrestrischen Gesellschaften: imperialistische Ausbeutung oder Versuch, eine fremde Kultur zu begreifen Im Unterschied zu Verne spielt der Saint-Simonismus für Wells tatsächlich eine positive Rolle, d. h. die Idee, dass eine moderne Industriegesellschaft nach strikt wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu organisieren sei.9 In der Tat enthält der Mondfahrerroman „The First Men in the Moon“ (1901) deutliche Anklänge an dieses Denken. Dies jedoch mit Einschränkung, denn die vernunftbegabten Mondbewohner, die Seleniten (die Bezeichnung hat Wells von Verne geborgt) haben alles andere als eine moderne Industriegesellschaft ausgebildet. Sie besitzen zwar eine arbeitsteilige, wissenschaftlich angeleitete Produktion, doch diese ist in ihren Einzelheiten fantastisch, nach der Art der Science-Fiction-Literatur, der es um das Lesevergnügen ihrer Konsumenten geht. Dabei orientierte sich Wells weit weniger als Jules Verne an dem tatsächlichen Stand der modernen Technik und Naturwissenschaft, sondern ist auch in dieser Hinsicht fantastisch. Wells’ Roman steht ferner in der Tradition der utopischen Literatur, zu deren Darstellungsprinzipien gehört, eine fiktive, offenbar vernünftige politische und soziale Ordnung der zeitgenössischen Gesellschaft mit ihren 6 7 8 9

Vgl. Ebd., Zweiter Teil, S. 178. Vgl. Stover 1998, S. 11. Vgl. Dehs 2000, S. 126. Zu den vielfältigen Einflüssen auf Wells Denken vgl. Saage 2003, S. 23–49.

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eklatanten Mängeln entgegenzuhalten. Er erreicht die Belehrung seiner Leser durch die Kontrastierung zweier gegensätzlicher Sozialcharaktere. Bedford ist ein Möchtegern-Stückeschreiber ohne feste Überzeugungen, während Cavor, ein schrulliger Privatgelehrter, Physiker, Chemiker und Mathematiker, auch über seine Fächer hinausreichende Interessen besitzt. Cavor ist einem Stoff auf der Spur, der für alle Arten von Strahlungen und auch für die Gravitation, undurchdringlich ist. Er hofft, diesen Stoff durch eine Legierung von Metallen und deren Verbindung mit dem Inertgas Helium darstellen zu können. Diese Reaktion tritt tatsächlich ein, mit der Folge, dass das Dach von Cavors Haus nebst Inventar in die Luft fliegt. Das „Cavorit“ war gefunden. Wells stellt sich vor, dass durch die Abschirmung der irdischen Gravitation durch das Cavorit der Druck der Luftsäule über Cavors Haus sowie das Gewicht der in ihm befindlichen Gegenstände entfiel, mit dem Resultat, dass die umliegende Luft in die luftdrucklose Säule einfließt und eine Art von Windhose mit einem unwiderstehlichen Sog nach oben erzeugt. Mit dieser unmöglichen Physik möchte Wells den Anschein erwecken, Cavorit ermögliche die Mondfahrt.10 Bedford hatte zunächst wenig Sinn für Cavors Experimente und Pläne. Doch die Aussicht, das Cavorit lasse sich gewinnbringend vermarkten und auf dem Mond könne es ausbeutbare mineralische Vorkommen, wenn nicht sogar Gold, geben, bewogen ihn, an Cavors Mondfahrt teilzunehmen. Wells macht seine Leser glauben, Cavorit lasse sich auch zum Steuern einer Raumkugel verwenden. Es handle sich dabei um eine Glaskugel, die außen mit einem System von Rollläden aus Cavorit versehen sei, das die Anziehungskraft der Gestirne unterbinde. Öffne man den Rollladen in Richtung eines Gestirns, so wirke dessen Anziehungskraft wieder auf die Kugel ein und veranlasse sie, in seine Richtung zu fliegen.11 Glücklich auf dem Mond gelandet, stoßen die Astronauten gleich auf ihrer ersten Exkursion auf Seleniten. Sie werden gefangen, in ein unterirdisches Höhlensystem gebracht und gefesselt. Offenbar sind die Seleniten verständige Wesen, denn es gibt Anzeichen, dass sie in einer organisierten, arbeitsteiligen Gesellschaft leben. Diese Beobachtung weckt Cavors Interesse, hierüber mehr zu erfahren. Bedford dagegen, der an den Höhlenwänden Goldadern entdeckt (während dies die Seleniten, quasi Utopier im Sinne von Thomas Morus, offenbar gleichgültig lässt), drängt zur Flucht und zur Rückkehr auf die Erde. Infiziert vom Geist des imperialistischen Zeitalters hegt er die Absicht, eine neue, diesmal bewaffnete Mondexpedition zu starten, um die dortigen Goldvorkommen auszubeuten – eine Idee, die Cavor zu dem entsetzten Ausruf „Good Lord!“ veranlasste.12 10 11

Vgl. Wells 1998, S. 44–71. Vgl. ebd., S. 71.

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Die Flucht gelingt. Auf der Suche nach der zurückgelassenen Raumkapsel trennen sich die Astronauten. Cavor wird wieder eingefangen, während sich Bedford zur Kapsel durchschlagen kann und auf die Erde zurückkehrt. Informationen über den Aufbau von Gesellschaft und Arbeitswelt der Seleniten gelangen auf die Erde, weil ein Amateurfunker Funksprüche auffängt, in denen Cavor seine Beobachtungen mitteilt. Die Lenkung der hochgradig arbeitsteiligen Struktur liegt in den Händen einer gleichfalls arbeitsteilig und hierarchisch aufgebauten Meritokratie mit einer Person, dem „Grand Lunar“ an der Spitze, die den gesellschaftlichen Zentralverstand verkörpert. Auf diese Weise bilden die Seleniten „functional units within a single organic world machine“13. Ein besonderes Merkmal dieser Weltmaschine ist, dass sich die verschiedenen Arbeitsfunktionen oder -rollen nicht nur im Habitus der Arbeitenden, sondern selbst in deren Gestalt ausdrückt, bis hin zu Missbildungen, die einen besseren Arbeitsvollzug ermöglichen und z. T. künstlich erzeugt oder gezüchtet werden. Gelegentlich scheint Wells auch die Vererbung erworbener Eigenschaften nach Art des Lamarckismus anzunehmen, was seinem darwinistischen Bekenntnis eigentlich widerspricht. „[. . .] every one of these common selenites I have seen at work is exquisitely adapted to the social need it meets.“ Einige sind sogar in enge Krüge gepflanzt worden, so dass nur ihre Arme herausragen. Sie sind Spezialisten für die Überwachung des Innenlebens komplizierter Maschinen. Sie werden durch Injektionen ernährt und durch Psychopharmaka stimuliert; der funktionslos gewordene Körper stirbt ab.14 Die intellektuelle Elite besitzt gleichfalls deformierte Körper, auf denen gewaltige Schädel mit hypertrophen Gehirnen sitzen. Insbesondere die Gehirne der Mathematiker verbrauchen deren gesamte Lebensenergie, ihre körperlichen und emotionalen Fähigkeiten verkümmern; allein die Entwicklung einer neuen Rechenmaschine versetzt sie in Erregung. Da die einzige Aktivität der Intellektuellen das Denken ist, werden sie bisweilen so dick, dass sie in Sänften getragen werden müssen.15 Cavor widerfährt die Ehre, vom Grand Lunar zu einer Audienz empfangen zu werden. Diese ist möglich, weil inzwischen Sprachwissenschaftler 12

Vgl. ebd., S. 167. Ebd., S. 153 (Anm. 123). 14 Wells 1998, S. 242. Diese Zurichtung von Körper und Geist gemäß der Erfordernisse einer Arbeitsfunktion erscheint heute monströs. Jedoch schlug J. B. S. Haldane, ein bedeutender Biochemiker und Vererbungsforscher, der einem Zirkel sozialistischer Naturwissenschaftler an der Universität Cambridge angehörte, noch 1962 vor, man könne versuchen, zum Zwecke der Raumfahrt kleinwüchsige Menschen mit unterentwickelten Beinen zu züchten. Wells unterhielt zu diesem Zirkel beste Beziehungen. Vgl. Euchner 2005, S. 47 und Anm. 31. 15 Vgl. ebd., S. 217 f. und S. 241. 13

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Cavors Englisch entschlüsselt haben und für den Grand Lunar übersetzen können. Dieser zeigt großes Interesse an den irdischen Zuständen und drückt sein Erstaunen über bestimmte Eigentümlichkeiten der menschlichen Gesellschaft aus, z. B. darüber, dass es dort keine Körper und Geist prägende Arbeitsspezialisierung gibt, sondern dass, zureichende Intelligenz vorausgesetzt, im Prinzip jede Tätigkeit von allen Menschen übernommen werden könnte. Für unverständlich hält er, dass die Menschen ihren Geist als gleichartig erachteten, ebenso das Herrschaftssystem der Demokratie, in dem, wie Cavor ihm erklärt, „alle regieren“.16 Wenn dem so sei, wendet Grand Lunar ein, „they all want to do the same thing“, was zu Konflikten führen müsse. Unter diesen Voraussetzungen könne es in der Tat keinen „Grand Earthy“ geben, und es sei deshalb kein Wunder, dass souveräne Staaten entstünden, unter denen es dauernd zu Kriegen kommt. Für Cavors Argument, dass eine dem Grand Lunar gleichkommende Machtfülle auf Erden zu Machtmissbrauch führen müsse, hat er erst recht kein Verständnis. Offenbar ging er davon aus, dass die Verkörperung der gesellschaftlichen Zentralvernunft in einem Superhirn, das alle erforderlichen Regeln für Gesellschaft und Ökonomie kenne und anwende, also im Vollbesitz der Wahrheit sei, Machtmissbrauch ausschließe. In der Tat: Der erkannten Wahrheit muss sich jeder beugen.17 Dieser dem utopischen Denken inhärente Platonismus der selenistischen Staatsphilosophie ging dem Saint-Simonisten Cavor, der durchaus Sinn für eine zentrale Steuerung der Arbeitswelt hatte, dann doch zu weit.18 Er musste sich eingestehen, dass er eine unüberwindliche Abneigung gegen die Maßnahmen der selenistischen „collective mentality of science“ empfand, die die Züchtung von verkrüppelten und verstümmelten Reparaturarbeitern oder die Ruhigstellung von Arbeitslosen mit Hilfe von Drogen für zulässig hielt, obwohl er sich auf der anderen Seite sagte, dass diese Prozeduren immer noch besser seien als die irdische (kapitalistische) Methode, Kinder aufzuziehen und sie dann zu Maschinen zu degradieren. Und Arbeitslose im Drogenrausch seien immer noch akzeptabler als solche, die auf der Straße verhungerten. Trotzdem stellen Cavors Zweifel seinen ursprünglichen Eindruck in Frage, nämlich dass die Seleniten „in intelligence, morality, and social wisdom [. . .] colossally greater than men“ seien.19 16 Es braucht nicht eigens erläutert zu werden, dass Cavor ein höchst simplifiziertes Bild der Demokratie zeichnet. 17 Vgl. ebd., S. 256–260. 18 Zum Platonismus der Utopie vgl. Saage 1989. – Im Unterschied zur Steuerung der Wirtschaft durch den Grand Lunar war dies im eigentlichen Saint-Simonismus die Aufgabe wissenschaftlich-technischer Akademien. 19 Ebd., S. 242–255, S. 231.

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Der Herausgeber und Kommentator Stover räumt deshalb ein, dass die Botschaft von Wells’ Mondfahrerroman davon abhänge, wie man das Bild einer selenistischen „wonderful social order“ interpretiere. Nehme man sie „at face value“, so handle es sich um eine Utopie, halte man sie für bloße Ironie, dann sei sie eine Dystopie. So gesehen, hätte das Urteil des angepassten, bürgerlich empfindenden Bedford von der „cold, inhuman reason of the moon“ seine Berechtigung. Wells Gegenentwurf zur bürgerlichen Welt ist also ambivalent. III. Stanisław Lem: Depravation der Gesellschaft durch fehlgesteuerte Eugenik Die gegen Ende von Wells Utopie plötzlich gezeigte Ambivalenz der technologisch-rationalen Organisation einer Gesellschaft wird in Lems Raumfahrerroman „Eden“ zur Schilderung einer prinzipiellen Entgleisung einer Gesellschaft zugespitzt.20 Die von den Astronauten auf dem Planeten Eden vorgefundenen intelligenten Lebewesen sind wie die Seleniten bei Wells missgestaltet. Sie besitzen zwei Kreisläufe, die sich körperlich ausdrücken, weshalb sie von den Astronauten „Doppelts“ genannt werden. Im Unterschied zu den Seleniten sind ihre vielfältigen Deformationen nicht funktional begründet, sondern echte Degenerationserscheinungen. Auch das Habitat und die Produktionsstätten der Bewohner Edens weisen Anzeichen einer ausweglosen Depravierung aus. Die Astronauten stoßen bei ihren Explorationsfahrten auf automatische Fabriken, die einen hohen Stand der technischen Entwicklung zeigen, deren komplizierte Produkte aber niemand braucht, weshalb sie umgehend wieder eingeschmolzen werden – ein sinnloser Kreislauf von Produktion und Vernichtung.21 Eine andere Fabrik erzeugt „Doppelts“ mit einer hohen Ausschussquote, d. h. die erzeugten Lebewesen sind entweder nicht lebensfähig oder funktionsuntüchtig und werden deshalb sofort vernichtet.22 Ferner entdecken die Astronauten düstere und halb verfallene Städte sowie Trümmerlandschaften, in denen sich Nekropolen befinden, aber auch 20 Der kundige Leser mag sich wundern, dass hier „Eden“ dem bekannteren Raumfahrtroman „Solaris“, der dazu noch von Alexandrej Tarkowski 1972 kongenial verfilmt worden ist, vorgezogen wurde. Der Grund hierfür ist, dass „Solaris“ psychische Probleme von isoliert arbeitenden Astronauten aufgreift, deren mentale Belastung sie den Besuch von Personen halluzinieren lässt, zu denen sie einst unglückliche Beziehungen unterhalten haben. Die psychischen Folgen der Raumfahrt sind aber nicht das Thema dieses Beitrags. Zu Solaris vgl. Seeßlen/Jung 2003, S. 279 ff. 21 Vgl. Lem 1971, S. 48–53. 22 Vgl. ebd., S. 188–191.

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erst jüngst verstorbene Doppelts unbegraben herumliegen.23 In einer Stadt werden sie Zeuge einer Verfolgungsjagd auf Edenbewohner. In anderen Gegenden finden sich dagegen idyllische Landschaften und Städte, in denen Handel und Wandel offenbar florieren; doch immer wieder erblicken sie Doppelts, die gejagt und getötet werden.24 Die Astronauten erkennen schließlich, dass die Bewohner von Eden in eine Art von Kasten zerfallen, deren Unterscheidungskriterien jedoch unklar bleiben.25 Deutlich erkennbar sind die Mitglieder einer Kriegerkaste in silberfarbenen Uniformen26, die über zum Angriff geeignete Fahrzeuge verfügen und die Astronauten in Kämpfe verwickeln, die diese aber auf Grund ihrer besseren Ausrüstung überstehen.27 Daneben muss es eine Schicht von Doppelts mit qualifizierten Berufen, Administratoren, Techniker, Wissenschaftler und Gewerbetreibende geben, und schließlich eine breite Schicht von heruntergekommenen Existenzen mit körperlichen Schädigungen, die in Lumpen gehen und nach Belieben umgebracht werden können.28 Schließlich stoßen die Astronauten auf einen Doppelt, der offenbar Kontakt mit ihnen sucht. Er lässt sich in ihr Raumschiff mitnehmen, weil er Angst vor seinen Verfolgern hat.29 Ein anderer Doppelt besucht sie in ihrer Rakete. Es handelt sich um einen Astronomen, der eine Sternkarte mit sich führt, auf der bekannte Sternbilder zu erkennen sind. Den Astronauten gelingt es, mit Hilfe eines Computers und Übersetzungsapparates die komprimierte, hustenähnliche Sprache des Doppelts zu entzerren, zu entschlüsseln und notdürftig zu übersetzen. Sie erkennen, dass er über ein breites Wissen auf dem Gebiet der Naturwissenschaften und der Informatik sowie der Geschichte Edens verfügt. Deshalb können sie das Rätsel der individuellen und kollektiven Depravation der Edenbewohner ein Stück lüften.30 Der Übersetzungsapparat gibt die Äußerungen des gelehrten Doppelts zum Herrschaftssystem auf Eden in rätselhaften Bruchstücken wieder: „Ein – mehrere – viele – Steuer – nicht bekannt. [. . .] Beziehung – dynamisch – doppelt. Bekannt – eins – ist. Bekannt – zweites – nicht ist. Steuer der ist, ist nicht. [. . .] der ist einst, dann ist nicht.“ Der Bordkybernetiker versuchte, dieses und das darauf folgende Gestammel zu deuten. Anfänglich habe auf 23 24 25 26 27 28 29 30

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

ebd., ebd., ebd., ebd., ebd., ebd., ebd., ebd.,

S. S. S. S. S. S. S. S.

94 und S. 149. 231. 184. 97. 175 ff. 238–244, S. 248. 162 ff. 284 f.

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dem Planeten eine zentrale Mehrpersonenregierung geherrscht. Auf diese Phase seien mehrere monarchische oder tyrannische Herrscher gefolgt, die durch eine Palastrevolution und Ermordung des Regenten durch einen Usurpator zu Ende gegangen sei.31 Danach erschien ein neuer Herrscher, von dem nur bekannt war, dass er existiert, aber nicht, wer er ist. Um weitere Erläuterungen gebeten, produzierte der Übersetzungsapparat seltsam dialektisches Gestammel, dem zu entnehmen war, die offizielle Sprachregelung behaupte, es gebe keine Zentralgewalt, aber in Wirklichkeit existierte sie doch. Wer aber die Wahrheit sage, so der Doppelt, „der ist, ist nicht. Der ist einst, ist nicht.“ Dies bedeute jedoch nicht, dass dem, der an der Wahrheit festhalte, die Todesstrafe drohe. Statt dessen, so stellte sich heraus, wurden die wahrheitsliebenden Edenbewohner zu Opfern eines Planes zu ihrer „biologischen Rekonstruktion“ durch Eingriffe in ihr Genom zwecks Erzeugung künstlicher Mutationen. Dieses Experiment entgleiste. Seine Ergebnisse waren die verstümmelten und deformierten Mutanten, die die Astronauten bei ihren Exkursionen zu Gesicht bekamen.32 Heute, so war aus dem gelehrten Doppelt herauszubekommen, werde geleugnet, dass es dieses Experiment gegeben habe, und die offensichtlichen Degenerationen würden als Krankheit ausgegeben. Die Fabriken, die lebensunfähige Doppelts erzeugten, waren ursprünglich zur Realisierung des biologischen Umbauplanes bestimmt. Nunmehr wurden sie von den noch lebenden Opfern dieses „Biokurzschlusses“ (so bezeichneten die Astronauten das Entgleisen dieses Plans) betrieben. In isolierten Lagern, sich selbst überlassen, sollen sie durch ermüdende, sinnlose Arbeit ruhig gestellt werden. Das Interview mit dem gelehrten Doppelt nimmt ein vorzeitiges Ende, da dieser bei Betreten der Rakete durch radioaktive Strahlung, die durch ein Leck in der Außenhaut austrat, unrettbar geschädigt wurde und verstarb. Dieser Tod ihres Gastes, den die Astronauten ihrer eigenen Nachlässigkeit zuschreiben mussten, gab ihrer Neigung, über den Sinn ihres Tuns nachzudenken, einen neuen Auftrieb. Sie mussten sich eingestehen, dass viele ihrer Exkursionen zu Kämpfen geführt hätten, denen einige Edenbewohner zum Opfer gefallen seien. Krieg sei aber die schlechteste Methode, eine fremde Kultur kennen zu lernen. Welchen Zweck sollte also eine erneute Exkursion haben? „Wären die Menschen vernünftig, hätten wir uns hier nie eingefunden. Was ist an Raketen vernünftig, die zu den Sternen fliegen?“33 Nach Entdeckung der Pogrome gegen die degenerierte Unterschicht erörterten sie die Frage, ob sie diese Verfolgungen bekämpfen sollten oder ob es nicht besser wäre, abzufliegen und vor dem Abflug der entrechteten Unter31 32 33

Vgl. ebd., S. 286 f. Vgl. ebd., S. 288–291. Ebd., S. 222 ff.

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schicht ihre wirksamen Waffen zu überlassen, um sie zu einem Aufstand zu befähigen.34 Dem stehe aber entgegen, dass sie nicht sicher sein könnten, ob sie die sozialen Verhältnisse auf Eden wirklich verstanden hätten. Denn was sie zu wissen glaubten, beruhe auf Begriffen, die von der Übersetzungsmaschine stammen. Die Bewohner Edens seien zudem keine Kinder, die nur darauf warteten, von Personen, die aus einer ganz anderen Zivilisation stammten, an der Hand genommen und aus ihrer Sackgasse herausgeführt zu werden. Sollten sie selbst versuchen, die Unterdrückten zu befreien, so führe dies zu Kämpfen und damit zu Toten, und schließlich würden sie nur noch töten, um ihren Weg zur Rückkehr offen zu halten. Statt Hilfe brächten sie Vernichtung.35 Die Astronauten beschlossen, umgehend zur Erde zurückzukehren. Es ist leicht zu erkennen, dass Lems skeptische Science Fiction in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts Fragen aufgegriffen hat, die heute aktueller denn je sind.36 Hierher gehören die Grenzen der Penetration einer Zivilisation durch eine andere, die von ihrer eigenen Überlegenheit überzeugt ist – eine Spur, die hier nicht verfolgt werden kann. Und sodann, inwieweit die Life Sciences berechtigt sind, in den Bauplan des menschlichen Lebens einzugreifen, um einen – wie erwartet wird – gesünderen und intelligenteren Menschen zu schaffen. Kann bei solchen Experimenten, wenn sie denn überhaupt eine Verwirklichungschance haben, ausgeschlossen werden, dass sie irreversibel entgleisen? IV. Weltraumfantasien innerhalb der Life Sciences Eine futuristische Strömung innerhalb der Life Sciences ist weit davon entfernt, sich derartige selbstkritische Fragen zu stellen. Sie hält sie für absurd. Denn die Evolution des Menschen zum homo sapiens erfolgte nach den von Charles Darwin aufgedeckten Gesetzen, nämlich als Ergebnis von Mutation und Selektion. Heute vermag die Wissenschaft jedoch die Phänomene, die durch Mutation hervorgerufen werden, durch Eingriffe in die genetische Ausstattung des Menschen künstlich zu bewirken. Doch derartige Veränderungen sind nichts anderes als Teil eines umfassenden evolutionären Prozesses. Der gegenwärtige homo sapiens treibt die Evolution voran. Sich gegen diesen Prozess zu stellen, wäre sinnlos und vergeblich.37 Das gilt auch für die Pläne, den menschlichen Verstand durch künstliche Intelligenz 34

Vgl. ebd., S. 263. Vgl. ebd., S. 263 und S. 305. 36 Lem hat es übrigens inzwischen aufgegeben, über „technische Wahnideen“ zu schreiben. Zu Lem vgl. Remus 2005, S. 32. 37 Vgl. Kurzweil 2000, S. 38 ff. und S. 79 ff. 35

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aufzurüsten und dem Menschen, wenn die Robotertechnik nur weit genug fortgeschritten ist, einen Maschinenleib zu geben, so dass er zu dem „human-machine hybrid“ Gregory Stocks wird.38 Die human-machine hybrids werden selbstverständlich weltraumtauglich sein. Sie werden nicht zögern, diesen zu erobern, und zwar auch jenseits des Sonnensystems. Da die Evolution als fortschrittlichste Form der Ökonomie den Kapitalismus hervorgebracht hat, wird die Wirtschaftsweise der künftigen Bewohner des Weltraums kapitalistisch sein. Kurzweil weiß auch, wann dies eintreten wird: Dank der Fusion von biologischer und nicht-biologischer Intelligenz werden wir in 300 Jahren das Universum beherrschen.39 Am ausführlichsten äußert sich der bedeutende Roboterspezialist Hans Moravec vom Robots Institute der Carnegie Mellon University zu der künftigen Weltraumökonomie.40 Moravec rechnet mit der Eroberung des Weltraums durch die Menschen, die möglicherweise bereits „human-machine hybrids“ sind, aber ihren Lebensmittelpunkt noch auf der Erde haben, ums Jahr 2100 (also etwas früher als bei Kurzweil). Sie werden im Weltraum jenseits von Erde und Mond, der „eine gute Arena für ein mächtiges Wachstum in jeder körperlichen oder mentaler Dimension“ sei, mit geringen Kosten „große Strukturen und Energien“ billig erzeugen sowie Forschungsabteilungen und Spezialfabriken einrichten. Z. B. sei das „mit Sonnenlicht gefüllte Vakuum günstig für mechanische, elektronische und optische Geräte“. Der Güteraustausch floriert; es werden „riesige Materialmengen“ zwischen den irdischen und den im Weltraum angesiedelten Unternehmen hin- und her bewegt.41 Die exterrestrischen Menschen haben einen enormen Standortvorteil. Sie genießen nämlich im Weltraum eine wirtschaftliche Freiheit wie einst die Pioniere im Wilden Westen. Deshalb wird sich die extraterrestrische Wirtschaft, die „weniger restringiert und stärker durch Konkurrenz geprägt ist, viel „schneller als in der gezähmten Ökonomie der Erde entwickeln“42. 38 Stock, 1993, S. 153–159. An den technischen Universitäten der USA, z. B. am MIT (Massachusetts Institute of Technology), tummeln sich eine Vielzahl von Roboter- und KI-Spezialisten, die den Bau derartiger Chimären für möglich halten. Vgl. Menzel/d’Aluisio, 2000. Kurzweil weiß sogar, wann es so weit sein wird, nämlich um das Jahr 2099 (Kurzweil 2000, S. 452). 39 Vgl. Mejias 2002. 40 Die nachstehend geschilderten Fiktionen einer der Existenz und Ökonomie von „human-machine hybrids“ und der „transformierten Extraterrestrischen“ werden in Hans Moravecs Werk „Robot. Mere Machines to transcendent Mind“ (1999) breit dargestellt. Eine ausführliche, ins Deutsche übersetzte Zusammenfassung ist unter dem Titel „Die Evolution des postbiologischen Lebens“ im Internet zugänglich: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/6/6055/1.html. Die Seitenzahlen beziehen sich auf diese Quelle. 41 Vgl. Moravec 1999, S. 9.

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Das „Zeitalter des Geistes“ setzt ein, wenn der Weltraum von „transformierten Extraterrestrischen“ bewohnt wird, die keine körperliche, vielmehr eine simulierte Existenz führen, d. h. in Wirklichkeit nur noch Elektronen (und deshalb, wie Moravec meint, „reiner Geist“) sind.43 Ihren Aktivitäten werden „viel mehr Gedanken zugrunde liegen als den Handlungsantrieben der kleingeistigen biologischen Eingeborenen auf der Erde“. Sie leben im Cyberspace. Ihre künstlichen Intelligenzen schwirrten hin und her, machten „Entdeckungen und Geschäfte“ und rekonfigurierten sich je nach Bedarf.44 Im übrigen stehen den körperlosen, frei flottierenden Intelligenzen alle nur denkbaren Welten, auch Erinnerungen an ihre terrestrische Herkunft offen, nämlich durch Simulation von Geschmack, Geruch, Berührungen, von Menschen oder Ansichten der alten Welt oder des Weltraums.45 „Wirklichkeit oder Rekonstruktion können wir aus unserer Perspektive nicht unterscheiden: wir können uns nur in der geschaffenen Szenerie suchen.“46 Wirre Assoziationen und eine wilde Fantasie charakterisieren dieses jeder Analyse unzugängliche Denken. V. Erwartungen und Probleme der Raumfahrtforschung und -Industrie Nach so viel schlecht gemachter Science Fiction, die als seriöse Life Science daherkommt, ist es angezeigt, einen kurzen Blick auf die Hoffnungen und Probleme, die sich mit den gegenwärtigen Anstrengungen, die Raumfahrt voranzubringen, verbinden. Dabei kann grob zwischen den Auffassungen der Wissenschaft, d. h. der Raumfahrttechnik, der Astrophysik, der Psychologie und Neurobiologie zur Erforschung der physiologischen und psychischen Belastungen der Astronauten einerseits und der Raumfahrtindustrie und ihrer Lobbyisten andererseits unterschieden werden. Dabei gibt es eine große Schnittmenge zwischen beiden Gruppen. Zu beachten ist selbstverständlich auch der militärische Aspekt. Es fehlt auch nicht die legitimatorische Verankerung der Raumfahrt in den Life Sciences, d. h. in der Evolutionsbiologie. Im Grunde, so der Astrophysiker und Science Fiction-Autor Gregory Benford von der University of California, sei der Drang, die von der Erdoberfläche gezogenen Schranken zu überschreiten, ein Ergebnis der Evolution. Er habe sich bei dem ersten Schimpansen, der sich entschlossen habe, Afrika zu verlassen, beim homo 42 43 44 45 46

Vgl. ebd., S. Vgl. ebd., S. Vgl. ebd., S. Vgl. ebd., S. Ebd., S. 17.

10. 11. 17. 14 f.

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sapiens also, zum ersten Mal gezeigt. Dieser Entschluss sei Ausdruck, vielleicht sogar Grundlage, des „tiefen und typisch menschlichen Dranges, unermüdlich weiterzuziehen, zu forschen, und Ressourcen auszubeuten“47. Dieser (offenbar genetisch verankerte) Drang, der auch die menschliche Neugier bewirke, besitze einen Selektionsvorteil, d. h. „Überlebenswert“.48 Da sich der Mensch inzwischen die Erde untertan gemacht hat, muss er die Grenze zum All überscheiten; „jeder Schritt hinaus aus der Erdatmosphäre erweitert unser Bewusstsein.“ Letztlich hänge davon das Überleben der Menschheit ab, weshalb wir „viel weiter als bisher vorausdenken und -entwickeln müssen.“49 Das Argument, das am häufigsten zur Rechtfertigung der Raumfahrt vorgebracht wird, ist, dass wir auf die Rohstoffe, die im Weltall jenseits des Mondes zu finden seien, angewiesen sein werden. In dem Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter gebe es Metalle in großer Menge, die in hoch gelegenen Umlaufbahnen verhüttet werden könnten; sie ermöglichten das künftige Wachstum der Weltwirtschaft.50 Auf dem Mond finde man Helium-3, das für den Versuch, Energie durch eine kontrollierte Kernfusion zu gewinnen, von Bedeutung ist.51 Über die Kosten dieser Pläne, falls sie technisch machbar sein sollten, sagen die zitierten Autoritäten nichts. Stereotyp, aber zumeist vage, bleibt das Argument, die Menschheit müsse sich den Weltraum aneignen. Zu dem Argument, unsere genetische Ausstattung zwinge uns sowieso dazu, kommt, dass hiervon ein bedeutender Nutzen zu erwarten sei. Der Nutzen muss nicht materiell sein. Denn es lohne sich „auf jeden Fall [. . .], den Mars oder den einen oder anderen Jupitermond zu besuchen und vielleicht auch zu bevölkern oder zu zivilisieren“ (sic!). Dass sich der Mensch mit dem Kosmos konfrontieren müsse, sei überhaupt keine Frage.52 Der Gewinn sei die Befriedigung des Wissenstriebs, der Impuls, kennen zu lernen, „was jenseits unseres aktuellen Wissens und unserer aktuellen Existenz vorhanden ist“53. Benford spricht von der letzten Grenze zur Unendlichkeit, die überschritten werden müsse. Dies erfordere Mut, Unerschrockenheit und Fantasie. „Wir können keine Zukunft haben, ohne sie uns zuerst einmal vorzustellen. Deshalb müssen wir die 47

Benford 2005, S. 31. Vgl. Benford 2005, S. 31; Rahmann 2005, S. 20; Sahm 2005, S. 20. Hans-Joachim Blome, Hinrich Rahmann und Peter R. Sahm waren Teilnehmer eines von dem Chefredakteur des evangelischen Magazins Chrismon moderierten Gesprächs. Sie sind mit Raumfahrtforschung und -technik befasste Wissenschaftler. 49 Sahm 2005. 50 Vgl. Benford 2005. 51 Vgl. Fuchs (Fuchs/Gante 2005, S. 41). 52 Vgl. Sahm 2005. 53 Blome 2005, S. 20. 48

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verlockenden Länder jenseits des Himmels zunächst erforschen und dann für uns erschließen. Das sind die Horizonte, die wir brauchen und nach denen zu streben wir bestimmt sind.“54 Sucht man nach einem wirklich handfesten Nutzen, den die bemannte Raumfahrt bereits heute erbracht hat, so kontrastiert der Befund auffällig mit der emphatischen Rhetorik, mit der diese Ziele propagiert werden. Jeder Verständige, soll man ihn nicht der Kleinmütigkeit zeihen, muss es quasi als Pflicht auffassen, sie anzustreben. In dem Magazin der Alexander von Humboldt-Stiftung „Kosmos“, das eigens der Eroberung des Weltraums gewidmet ist, wird das „Weltraumtourismusgeschäft“ hervorgehoben, das bereits angelaufen ist. Zur Zeit sei es noch zu teuer, um rentabel zu sein, doch sei die Annahme, dass sich bis zum Jahr 2020 ein Massentourismus entwickeln könne, nicht unrealistisch.55 Beeindruckend ist der Bericht über die Experimente mit Naturstoffen während der NASA-Flüge. Dass sich unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit Kristalle besonders gut züchten lassen, ist schon seit längerem bekannt. Bei den neuesten Experimenten an Bord der internationalen Raumstation ISS ist es gelungen, besonders große und perfekte Proteinkristalle zu züchten, deren komplizierte Struktur erforscht werden kann. Dadurch könne ein Weg zur Entwicklung von Medikamenten gefunden werden, mit denen die in Lateinamerika grassierende Chagas-Krankheit, die zu Organversagen führt, zu bekämpfen sei.56 Offen politisch wird die Argumentation, wenn für ein spezifisch deutsches Raumfahrtprogramm plädiert wird. Dies sei ein wichtiger Beitrag zur Erzeugung des Bewusstseins von einer deutschen Identität. Bei der Raumfahrt handle es sich um eine „nationale Idee“ – so werde das wenigstens in den USA, Frankreich, Italien, China, Indien und Japan gesehen. Zudem sei die Raumfahrtindustrie eine „strategische Industrie“ mit klaren militärischen Aufgaben, z. B. die Entwicklung von unbemannten Kampfflugzeugen und Aufklärern. Deshalb gehe es bei dieser Industrie auch um den „Beweis nationalstaatlicher Kompetenz“. In Deutschland herrsche aber die Überzeugung vor, die Raumfahrt sei eher eine europäische Aufgabe. Jedenfalls gebe es hierzulande keine zwischen Regierung, Wissenschaft und Industrie abgestimmte Planung, im Gegensatz zu Frankreich und Italien, die weit mehr in ihre nationale Raumfahrt investierten, während diese in Deutschland das erste Opfer von Haushaltskürzungen sei. Diese Äußerungen führender Vertreter der Raumfahrtindustrie zeigen, dass sich darin die politische Überzeugung „Deutschland zuerst“ und Lobbyisteninteressen mischen.57 Aber auch in der Wissenschaft und bei Praktikern findet man der54 55 56

Benford 2005. Vgl. Goehlich 2005, S. 15 f. Vgl. Sepffllveda-Boza 2005, S. 13 f.

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artige Äußerungen, die von einem hoch angesetzten Nationalbewusstsein zeugen. Es sei doch eine faszinierende Herausforderung, so der Experte für die wissenschaftliche Nutzung der internationalen Raumstation ISS durch die europäische Weltraumorganisation ESA und einstige Astronaut Ulf Mehrboldt, „im eigenen Leben und im Leben einer gesamten Nation eine Spur zu hinterlassen. Leider stehen die Deutschen neuen wissenschaftlichen Dingen sehr argwöhnisch gegenüber, es fehlt die Bereitschaft, zu neuen Horizonten aufzubrechen, obwohl darin der Humus für eine blühende Wirtschaft liegt. Das empfinde ich als beklemmend.“58 Die Aufrichtigkeit derartiger Gefühle darf nicht bezweifelt werden, doch der gesamte Argumentationszusammenhang ist höchst problematisch. Und zwar deswegen, weil jene, die von der Bilanz der bisherigen bemannten Raumfahrt nicht überzeugt sind, schnell in den Verdacht geraten, schlechte Deutsche und dazu noch Feinde des wissenschaftlichen Fortschritts zu sein. Und bei allem Respekt vor dem durch Evolution und dem menschlichen Genom programmierten Drang, den Mond, die Planeten des Sonnensystems und schließlich das Weltall mit Hilfe der bemannten Raumfahrt zu erforschen, gibt es in einer Welt, in der vielerorts Hunger, Krankheit, Umweltgefahren, Unwissenheit, religiöser Fundamentalismus und Unterdrückung herrschen, konkurrierende Aufgaben, die ebenso wie die Raumfahrt als Menschheitsziele gelten müssen und zu Recht ebenfalls einen Anspruch auf einen Anteil an den knappen finanziellen Ressourcen haben. Übrigens zeigen die Berichte über den gegenwärtigen Zustand der amerikanischen bemannten Raumfahrt, dass es sich dabei keinesfalls um eine brillante Erfolgsstory handelt, weshalb die ESA vermutlich aus guten Gründen die unbemannten Raumfahrtmissionen bevorzugt. Ein Diskurs innerhalb der deutschen Zivilgesellschaft über die Projekte und Grenzen der bemannten Raumfahrt, ebenso gründlich wie im Falle der Genforschung und Reproduktionsmedizin, könnte Licht in die Frage bringen, welcher Nutzen realistischerweise von bemannten Flügen zu Mars und Jupitermonden – wenn sie überhaupt möglich sind – zu erwarten ist.

57 Es handelt sich um Hans-Joachim Gante, Präsidialgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie und um Manfred Fuchs, Vorstandsvorsitzender des Bremer Raumfahrt- und Umwelttechnikunternehmens OHB System und zugleich Vorsitzender des Forums Raumfahrt des vorerwähnten Bundesverbandes. Vgl. Fuchs/Gante 2005. 58 Mehrboldt 2005, S. 27.

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Literatur Benford, Gregory, Kolumbus oder Erikson. Wann werden die Menschen reif fürs All sein?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06. August 2005, S. 31 (zitiert: Benford 2005). Blome, Hans-Joachim/Rahmann, Hinrich/Sahm, Peter S., Die Neugier ließ den Homo Sapiens überleben. Wird sie ihn einmal zur Flucht ins All verleiten?, in: Chrismon. Das evangelische Magazin, 04/2005, S. 20–23 (zitiert: Blome/Rahmann/Sahm 2005). Dehs, Volker, Jules Verne mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 3. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2000 (zitiert: Dehs 2000). Euchner, Walter, Der künstlich verbesserte Mensch und die „künstliche Intelligenz“ – Vorgeschichte und aktuelle Diskussion, in: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft, 33 (2005), S. 40–68 (zitiert: Euchner 2005). Fuchs, Manfred/Gante, Hans-Joachim, Zurück zum Mond und endlich weiter. Was die Deutschen und ihre europäischen Partner im Weltraum erreichen können: Ein Gespräch über die künftigen Aufgaben der Menschheit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01. Dezember 2005, S. 41, 43 (zitiert: Fuchs/Gante 2005). Goehlich, Robert A., Urlaub im Weltraum?, in: Kosmos. Magazin der Alexander von Humboldt-Stiftung, 84/2004, S. 15 f (zitiert: Goehlich 2004). Kurzweil, Ray, Homo S@piens. Leben im 21. Jahrhundert – Was bleibt vom Menschen?, Köln 1999 (zitiert: Kurzweil 1999). Lem, Stanisław, Eden, Berlin 1971 (zitiert: Lem 1971). Interview mit Ulf Mehrboldt, Warum sollten wir nur noch in die Toscana reisen? Der Astronaut und Physiker Ulf Mehrboldt über Marsexpeditionen, die internationale Raumstation und Weltraumtourismus, in: Kosmos. Magazin der Alexander von Humboldt-Stiftung, 84/2004, S. 26 f. (zitiert: Mehrboldt, 2004). Mejias, Jordan, Welches Universum darf es denn sein? Wie fünf Stars der amerikanischen Wissenschaft sich (. . .) erste und letzte Dinge erklären, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. August 2002, S. 42 (zitiert: Mejias 2002). Menzel, Peter/D’Aluiso, Faith, Robo Sapiens, Cambridge, Mass. 2000 (zitiert: Menzel/D’Aluiso 2000). Moravec, Hans, Die Evolution des postbiologischen Lebens, Hannover 1999 (= http://www.heise.de/tp/r4/artikel/6/6055/1.html.) (zitiert: Moravec 1999). Remus, Joscha, Stanisław Lem, Visionär ohne Illusion, in: DIE ZEIT, 28. Juli 2005, S. 32 (zitiert: Remus 2005). Saage, Richard, Utopie als Leviathan. Platons Politeia in ihrem Verhältnis zu den frühneuzeitlichen Utopien, in: Ders.: Vertragsdenken und Utopie. Studien zur politischen Theorie und Sozialphilosophie der frühen Neuzeit, Frankfurt/Main 1989 (zitiert: Saage 1989). – Biologie, emanzipatorischer Elitarismus und wissenschaftlich-technische Zivilisation. Zu Herbert George Wells’ A Modern Utopia, in: Ders.: Utopische Profile,

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Band IV: Widersprüche und Synthesen des 20. Jahrhunderts, Münster [u. a.] 2003, S. 23–49 (zitiert: Saage 2003). Seeßlen, Georg/Jung, Fernand, Science Fiction. Geschichte und Mythologie des Science-Fiction-Films, 2 Bde., Marburg 2003 (zitiert: Seeßlen/Jung 2003). Stock, Gregory, Metaman. The Merging of Humans and Machines into a Global Superorganism, New York 1993 (zitiert: Stock 1993). Verne, Jules, Les voyages extraordinaires, couronnées par L’Académie française. De la Terre à la Lune. Autour de la Lune. Bibliothèque d’Éducation et de Recherche. J. Hetzel et Cie, Paris 1866 (zitiert: Verne 1866). Wells, H. G., The First Men in the Moon, A Critical Text of the 1901 London First Edition, with an Introduction and Appendices, edited by Leon Stover, North Carolina 1998 (zitiert: Wells 1998).

Zum Verhältnis von Utopieproduktion und Demokratietheorie – am Beispiel des Feminismus Barbara Holland-Cunz „Ihr müßt ja furchtbar viel Zeit in Versammlungen verbringen“, ruft Connie, Gast in Utopia aus dem New York unserer Zeit, im Gespräch mit Utopias Bewohnerin Luciente aus. „Wenn die Menschen über ihr Leben bestimmen wollen, geht das nur, wenn sie eine Menge Zeit in Versammlungen verbringen.“, antwortet Luciente und gibt freimütig zu: „Wir streiten miteinander, bis wir am Ende Übereinstimmung erzielen. Vorher hören wir nicht auf. Ach, manchmal ist das abscheulich. Deprimierend.“1 Die Atmosphäre, in der dieses Gespräch stattfindet, ist offen und freundlich, ja geradezu herzlich, obgleich das in Rede stehende Thema unseren heutigen Ohren spannungsgeladen erscheinen muss. Die Effizienz der Demokratie steht zur Debatte. Doch Utopias BewohnerInnen sind stolz auf ihre rätedemokratischen Entscheidungsstrukturen und halten sie für die einzig akzeptable Lösung, um den Idealen der Selbstbestimmung und Selbstregierung gerecht zu werden. Die demokratietheoretisch so oft problematisierte Spannung zwischen Input und Output empfinden Utopias BewohnerInnen deutlich anders als heutige politische TheoretikerInnen: Debatten, auch wenn sie zeitaufwendig, voller Streit, „abscheulich“ und „deprimierend“ sind, gelten Luciente als Elixier der Demokratie. „Bekommt ihr euch denn nicht mal satt?“, kommentiert Connie mit einer rhetorischen Frage indigniert2. Connie kann sich nicht vorstellen, dass es Freude bereitet, in dieser Form zu „regieren“ und „regiert zu werden“. Connie, die zum ersten Mal den Planungsstab der Gemeinde besucht – 25 bis 30 Frauen und Männer jeden Alters, versammelt um einen großen Tisch, eine im verdreckten Overall, ein anderer mit grünen Haaren – fragt ungläubig „Das ist eure Regierung?“3. Für Connie ist das, was sie sieht, keine Regierung; der Grünhaarige erscheint wie ein Beweis dafür. Ein anderes Gespräch in einer anderen Utopia, diesmal zwischen zwei Freunden, die sich zunehmend Sorgen um den Zustand ihres Gemeinwesens 1 2 3

Piercy 1996, S. 185. Ebd., S. 186. Ebd., S. 181.

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machen: „Öffentliche Meinung! Das ist die Machtstruktur, an der er beteiligt ist und die er gut zu benutzen weiß. Das ist die uneingestandene, uneingestehbare Regierung, die die odonische Gesellschaft beherrscht, indem sie den individuellen Verstand abwürgt.“4 „[. . .] Stabilität [. . .] gibt den autoritären Impulsen Raum. In den Anfangsjahren der Besiedlung war uns das klar, hüteten wir uns davor. Die Menschen unterschieden sorgfältig zwischen dem Verwalten von Dingen und dem Regieren von Menschen. [. . .] Niemand wird als Odonier geboren [. . .] Aber das haben wir vergessen. Wir erziehen nicht zur Freiheit.“5 Die Atmosphäre dieses Gesprächs ist angespannt. Shevek und Bedap wissen, dass das, was sie sagen, wie Hochverrat klingt und sträuben sich innerlich gegen solche Überlegungen, sträuben sich gegen das, was sie doch täglich sehen und erleben. Shevek ruft deshalb an einer Stelle des Gesprächs empört aus: „Was sagst du da, Dap? Wir haben doch gar keine Machtstruktur!“ und bekräftigt „Bestimmt keine Machtstruktur, keine Regierung.“6 Auch hier richtet sich ein ungläubiger Blick auf Utopias demokratische Regierung, doch die Ungläubigkeit wird von zwei Utopiern formuliert, denn „regieren“ und „regiert werden“ sind in ihrem Land nicht vorgesehen. Nur in der zunächst geheimen und für eine offene Gesellschaft äußerst unbehaglichen Dissidenz können Shevek und Bedap am demokratischen Prinzip ihrer Utopia festhalten: Demokratie meint auf Anarres – ganz klassisch – Verwalten von Dingen statt Regieren von Menschen. Für Bedap ist das, was er sieht, eine Regierung; und eine Regierung ist für ihn ein monströses Gebilde, sehr viel monströser als die merkwürdig unseriös wirkende Versammlung, auf die Connie blickt und die sie gerade nicht für eine Regierung hält. Diese beiden berühmten Szenen aus den beiden bekanntesten feministischen Utopien führen uns lebendige Bilder partizipatorischer Demokratie vor: im ersten Gespräch als Irritation (Connie) und selbstbewusstes Eingeständnis „abscheulicher“ Nebenwirkungen (Luciente), im zweiten Gespräch als aufschreckende Diskrepanz zwischen anarchistischem Ideal und autoritärer Wirklichkeit. Drei BewohnerInnen Utopias äußern sich kritisch über das Funktionieren ihrer demokratischen Institutionen, sehen, wie im ersten Beispiel, die Anstrengungen demokratischer Entscheidungen, ohne auf die entsprechenden Verfahren zugunsten einer vorschnellen Effizienz verzichten zu wollen oder thematisieren, wie im zweiten Gespräch, die Grenzen und Probleme, die selbst die radikalste aller Demokratietheorien, der Anarchismus, hervorbringt, wenn die vollkommenen Ideale auf die unvollkommene menschliche Erfahrungswirklichkeit treffen. Die zweieinhalb Jahrtausende 4 5 6

Le Guin 1981, S. 153. Ebd., S. 155 f. Ebd., S. 153.

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alte Selbstgewissheit des utopischen Denkens findet sich in den Entwürfen der feministischen Utopistinnen Marge Piercy und Ursula K. Le Guin nicht mehr. Mit diesen Texten ist die Utopie – vorbereitet durch die großen dystopischen Entwürfe des 20. Jahrhunderts – in eine gleichsam aufklärerische Phase eingetreten. Utopia thematisiert sich selbst in ihren Grenzen. Der utopische Diskurs hat eine diskursive Metaebene erklommen, in der die hoffnungsvollen Bilder nun mit ihren potenziellen Deformationen und Missbräuchen, mit den Anstrengungen Einzelner zur Revision der herrschenden Prinzipien oder schlicht und folgenreich mit den Mühen der idealen Verfahren verbunden werden. Eine Denktradition, die auf einer solchen Ebene angekommen ist, kann als reif bezeichnet werden. Die der Utopie so oft zugeschriebene Schlichtheit und Naivität, die Totalitäres notwendig hervorzubringen schien, sind seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts überwunden. Die dem utopischen Denken so häufig unterstellte freiheitsfeindliche Tendenz ist durch die meist äußerst leidvoll erlebte Distanz/Dissidenz der feministisch-utopischen HeldInnen zu ihrem gar nicht so idealen Gemeinwesen aufgehoben (Shevek ist hier das klassische Beispiel). Die in den beiden berühmten Szenen artikulierte Skepsis gegenüber der Verwirklichungsmöglichkeit idealer Demokratievorstellungen markiert einen ungeheuren Fortschritt im utopischen Denken. Offene demokratietheoretische und -politische Fragen rücken ins Zentrum des Interesses. Mit Piercys „Woman on the Edge of Time“ von 1976 und Ursula K. Le Guins zwei Jahre älterem „The Dispossessed“ wird Utopia skeptisch gegenüber den eigenen Versprechungen. Die beiden Utopistinnen geben damit Anlass, über eine theoriehistorisch interessante Frage nachzudenken: Welchen Stellenwert haben Utopien für die Demokratietheorie, wie beeinflussen kritische UtopistInnen die Entwicklung der Theorie? Welche – notwendigen? – Verbindungen existieren zwischen Demokratietheorie und Utopieproduktion – jenseits der augenfälligen Beobachtung, dass sich zumindest die Input-orientierte, normative, partizipatorische Demokratietheorie schon immer an Utopien orientiert hat? In seinem Standardwerk zu den „Politische(n) Utopien der Neuzeit“7 charakterisiert Richard Saage, Demokratietheoretiker und Utopieforscher, die von ihm so bezeichneten „postmateriellen Utopien“ als Texte, in denen es, zumindest bei einigen, „zu einer selbstkritischen Reflexion ihrer normativen Zielvorgaben kommt“8. Die Frage ist nun, ob sich diese selbstkritische Reflexion in der Demokratietheorie widerspiegelt. Am Beispiel des Feminismus wäre zu erwarten, dass die einflussreichen Utopien 7

Saage 1991. Saage 1991, S. 321. Zur Frage des Selbstreflexivwerdens utopischen Denkens bzw. zur nicht mehr vorhandenen utopischen Selbstgewissheit und den inneren Konflikten Utopias in den feministischen Entwürfen vgl. auch Holland-Cunz 1988 und Holland-Cunz 1992 sowie Saage 1997, S. 148–156. 8

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der siebziger Jahre die feministische Demokratietheorie nachhaltig beeinflusst haben. Erstaunlicherweise finden aber die starken Demokratiebilder der Utopistinnen, die gerade aus dem Reflexivwerden der utopischen Demokratie resultieren, zunächst keinen erkennbaren Niederschlag in der feministischen politischen Theorie. Obgleich die literarischen Texte in vielen feministischen Zusammenhängen rezipiert und diskutiert werden, beginnt die neuere Geschichte der feministischen Demokratietheorie erst viele Jahre später. Carole Patemans „The Sexual Contract“9, 1988 erschienen, und vor allem Anne Phillips’ „Engendering Democracy“10, 1991 in Großbritannien publiziert, markieren den Startpunkt der professionellen akademischen Befassung mit dem Themenfeld Demokratietheorie, d.h. es liegen knapp anderthalb Jahrzehnte zwischen Le Guin und Piercy einerseits, Pateman und Phillips andererseits. In diesem Zeitraum müssen offenkundig erst die Voraussetzungen geschaffen werden, um die Frage der Demokratie angemessen bearbeiten zu können. Die feministische Bewegung muss a) zunächst die eigenen „abscheulichen“ Erfahrungen mit den Idealen der Basisund Rätedemokratie machen (dies geschieht vor allem während der siebziger Jahre), b) diese Erfahrungen in einem folgenden Schritt selbstkritisch eingestehen und bearbeiten (bereits ein Thema seit Mitte/Ende der siebziger Jahre), sich sodann c) von der großen Distanz zur repräsentativen Demokratie distanzieren, um schließlich d) den gesamten Rahmen des demokratietheoretischen Denkens für die eigenen politiktheoretischen Überlegungen präsent zu haben. Die wichtigsten Entwicklungsschritte finden während der achtziger Jahre statt und betreffen sowohl die Theorie als auch die Politik: Auf dem theoretischen Feld sind hier vor allem die empirischen Partizipationsstudien zu nennen, auf dem Felde der praktischen Politik vor allem die systematische Abkehr von nicht-institutionellen bzw. anti-institutionellen Praxisformen und die Hinwendung zur konventionellen Partizipation (Einrichtung der Frauenbüros, Diskussion von Gleichstellungsgesetzen, Quotenforderungen, Fragen der Beteiligung von Frauen in Legislative und Exekutive). Die praktisch-politische Annäherung an traditionelle Politikformen macht den Weg frei, sich demokratietheoretischen Fragen ohne Berührungsängsten zu nähern. Die hier skizzierten demokratiepolitischen Etappen werden zwischen Mitte/Ende der siebziger Jahre und Ende der achtziger/Anfang der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts in einem konfliktträchtigen Prozess beschritten. Dass – exemplarisch – zwischen Piercy/Le Guin und Pateman/ Phillips mehrere Transformationsstufen notwendig waren, hat mittelbar zur 9 10

Pateman 1991. Phillips 1991.

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Folge, dass zum Zeitpunkt des „Auftauchens“ feministischer Demokratietheorien die utopischen Phantasien hoffnungslos obsolet wirken. Sie kommen noch zur Sprache, aber in erster Linie durch ausdrückliche Abgrenzung. So widmet Anne Phillips in „Engendering Democracy“ ein ganzes Kapitel den „Paradoxes of Participation“11, ein Kapitel, in dem sie sich nicht etwa hauptsächlich auf die geschlechtshierarchischen Diskriminierungserfahrungen in der konventionellen Partizipation, sondern auf die „abscheulichen“ Erfahrungen von Frauen innerhalb ihrer eigenen basisdemokratischen Entscheidungsstrukturen bezieht. Die Frauenbewegung, so argumentiert Phillips12, macht uns die Stärken und Schwächen der partizipatorischen Demokratie sehr gut deutlich, wobei Phillips’ Betonung aber vor allem auf den Schwächen liegt: Ineffizienz, falscher Konsens, Verweigerung von Verfahrensformalisierungen, sich daraus ergebende informelle Machteliten, kein legitimer Repräsentationsanspruch nach außen13 . . . und beim letzten Aspekt, den Anne Phillips kritisch anführt, können wir fast Luciente reden hören: „By making the meeting such a central part of involvement, the movement inevitably limited its membership, ending up as an unrepresentative few.“14 Die Integration einer kritischen Reflexion starkdemokratischer Muster in die Utopien der Anfangszeit führt gerade nicht dazu, die Entwürfe als elaborierte Bilder basisdemokratischer Entscheidungsverfahren und ihrer potenziellen Gefährdungen aufzugreifen. Obgleich die utopischen Romane analytisch durchdachte Ideale anbieten, werden sie als unangemessen verworfen. Die Entwicklung von der feministischen Utopie zur feministischen Demokratietheorie ließe sich demnach folgendermaßen pointieren: In den genau anderthalb Jahrzehnten zwischen Piercys selbstkritischer, aber nichtsdestotrotz emphatischer Demokratievorstellung – „Wenn die Menschen über ihr Leben bestimmen wollen, geht das nur, wenn sie eine Menge Zeit in Versammlungen verbringen.“ – und Phillips’ eben zitierter Diagnose hat sich die feministische Haltung zur Demokratievorstellung grundlegend verändert. Die Verabschiedung von partizipatorischen Idealen ist nahezu vollständig vollzogen, sie gelten als ineffizient, informell Macht produzierend, nicht legitim, nicht repräsentativ und viel zu zeitaufwendig, also als keineswegs nur „manchmal“ „deprimierend“ und „abscheulich“. Der Preis, den Luciente für die demokratische Selbstregierung gerne in Kauf zu nehmen bereit und dessen sie sich selbstkritisch bewusst ist, soll nicht mehr gezahlt werden. Eine „Menge Zeit“ in Versammlungen zu verbringen, gilt Anfang 11 12 13 14

Ebd., S. 120 ff. Vgl. ebd., S. 126. Vgl. ebd., S. 126 f. Ebd., S. 127.

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der neunziger Jahre sowohl in der feministischen Politik als auch in der feministischen politischen Theorie als unprofessionell. Die durchaus nervenaufreibenden Erfahrungen, die die Neue Frauenbewegung seit Ende der sechziger Jahre mit ihren lange Zeit nicht-formalisierten, Konsens-verpflichtenden, basisdemokratischen Gruppenzusammenhängen gemacht hat und die nicht wenige Aktivistinnen letztlich aus der Bewegung herausgetrieben haben, findet ihren drastischen Niederschlag in den einschlägigen politiktheoretischen Überlegungen. Statt aber über Formalisierungen der Gruppenstrukturen und angemessene institutionalisierte Verfahren nachzudenken, werden die utopischen Anfangsbilder verabschiedet – obgleich eine andere Option durchaus offen gestanden hätte. Denn während der Mainstream im Anschluss an Habermas über Verfahrensgerechtigkeit und deliberative Demokratie debattiert, verwerfen feministische Theorie und Praxis nahezu alle Demokratievorstellungen, die über Repräsentation und Quoten weit hinausgehen. Phillips’ Anspruch, die politischen Gremien jeder Gesellschaft mögen ihre Zusammensetzung angemessen widerspiegeln15, war und ist zweifelsfrei wesentlich für eine Politik, die den Frauenanteil an den konventionellen Formen des Politischen erhöhen möchte. Für eine tief greifende Demokratisierung patriarchaler Gesellschaften, so wie sie die Utopistinnen für nötig befunden und ausphantasiert haben, reicht das Spiegel-Prinzip aber längst nicht aus. Carole Patemans „The Sexual Contract“, drei Jahre vor Anne Phillips’ Werk erschienen, enthält dagegen gewissermaßen noch eine letzte Spur des utopischen Denkens der siebziger Jahre. Patemans prominente Kritik der Vertragstheorie endet mit der Überlegung „A free social order cannot be a contractual order.“16 Leider skizziert Pateman aber nicht, wie eine andere, nicht-vertragsförmig organisierte gesellschaftliche Ordnung aussehen könnte, stattdessen wird die mangelnde politische Phantasie beklagt: „[. . .] little political creativity is directed towards developing the necessary new forms.“17 Nur sehr allgemein verweist Pateman auf die gewünschte Richtung des Denkens: „There are other forms of free argreement through which women and men can constitute political relations [. . .]“18. Und eine Seite weiter heißt es noch einmal zur Bekräftigung: „[. . .] a new story about freedom is urgently needed.“19 Dass der Feminismus solche „stories“ in zahlreichen Varianten hervorgebracht hat, kommt nicht zur Sprache. Die utopischen Anfänge der Neuen Frauenbewegung drücken sich nur noch in dem 15 16 17 18 19

Vgl. Phillips, S. 147 ff. Pateman 1991, S. 232. Ebd. Ebd. Ebd., S. 233.

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apodiktischen „cannot be a contractual order“ und der Dringlichkeit des Wunsches aus, neue freiheitliche Formen gesellschaftlicher Bindung und Ordnung mögen entworfen werden. „Freedom requires order and order requires limits.“20 Das Ende des Staates, wie ihn sich AnarchistInnen und MarxistInnen erträumt haben, ist „no longer fashionable“21. Im Unterschied zu Phillips bewahrt Pateman noch etwas von den visionären Anfängen der Neuen Frauenbewegung: das positive Verhältnis zum Visionären als solchem. Zugespitzt ausgedrückt: Während Phillips partizipatorische Demokratieideale anspricht und verwirft, plädiert Pateman für sie und verschweigt sie zugleich. Bei der Lektüre feministischer Demokratietheorien der neunziger Jahre gewinnt frau deshalb manchmal den Eindruck, als seien die utopischen Entwürfe den Theoretikerinnen im Rückblick fast ein wenig peinlich. Anders ist es kaum zu erklären, dass die phantasiereichen Texte verschwiegen oder verworfen werden, während gleichzeitig ein Mangel an politischer Phantasie und die Langeweile der politischen Praxis wortreich beklagt werden. Dass eine Befreiungsbewegung ihre eigenen ursprünglichen Befreiungsbilder letztlich verleugnet, muss als beträchtliches Problem gewertet werden. Damit ich nicht missverstanden werde: Die ernsthafte und systematische Befassung mit den Anforderungen des politischen Alltags in den Institutionen – von den Frauenbüros bis zu den Ministerien – ist unverzichtbar und nimmt im Laufe der Professionalisierung sozialer Bewegungen stets erkennbar zu. Eine soziale Bewegung, die ausschließlich auf ihren Ursprungs-Diskursen beharren würde, könnte nicht erfolgreich sein. Veränderungen/Modernisierungen der Inhalte und Formen sind unverzichtbar. Auch hat die Professionalisierung des feministischen Engagements zu zählbaren (wenn auch bescheidenen) Erfolgen in der konventionellen Partizipation geführt; ohne die Neue Frauenbewegung wäre selbst die christdemokratische Kanzlerin undenkbar. Aber neben praktisch-politischer Alltagsarbeit auf den Feldern konventioneller Partizipation braucht jede noch nicht ans Ziel gekommene Befreiungsbewegung eben auch einen inneren Impuls, einen über den Tag hinaus reichenden Antrieb, der Träume, Hoffnungen und Zielperspektiven lebendig hält, die Langeweile des Alltags überdauern und politische Müdigkeit, vielleicht gar Lähmung vertreiben hilft. Der langwierige, in seinem Resultat jedoch rigorose Abschied der feministischen Bewegung von den eigenen Utopien ist ein nicht unwesentlicher Grund für die gegenwärtige Unattraktivität der Frauenbewegung und für die medial häufig genutzte Möglichkeit, den Feminismus für erledigt und/oder anachronistisch zu erklären. Wer in erster 20 21

Ebd., S. 232. Ebd.

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Linie Ministerinnen und Kanzlerinnen im Rahmen der traditionellen patriarchalen Ordnung anstrebt, ist mit Angela Merkel tatsächlich ans Ende der Bemühungen gelangt. Ganz Ähnliches lässt sich bekanntlich für die Ökologiebewegung sagen – die Differenz zwischen Callenbachs Ökotopia und einem grünen Vizekanzler ist kaum zu überbrücken. Realpolitisch denkende Frauen und Männer werden solche Entwicklungswege begrüßen und gleichsam als das Erwachsenwerden einer sozialen Bewegung zu deuten wissen. Doch WissenschaftlerInnen, die sich mit der Geschichte Utopias und der Geschichte demokratischer Ideen befassen, können eine variantenreiche Utopie-Vergessenheit nicht uneingeschränkt positiv deuten, ob sie nun als verwerfen, verschweigen, verleugnen, verabschieden etc. daherkommt. Utopien halten das Ideal der Demokratie wach und lebendig . . . und das sah – nicht nur im Feminismus, nicht nur bei Piercy, nicht nur für Luciente – schon einmal so aus: „Wenn die Menschen über ihr Leben bestimmen wollen, geht das nur, wenn sie eine Menge Zeit in Versammlungen verbringen.“22 Richard Saage weiß um die Bedeutung der Utopien für die Demokratietheorie, wenn er sein 2005 erschienenes Lehrbuch zu den „Demokratietheorien“23 mit einem Plädoyer für die Notwendigkeit von Visionen enden lässt: „Wer ein solches sinnlich konkretes fiktives Szenario, das über den bestehenden Status quo hinausweist, von vornherein als Totalitarismus abtut, hat nicht begriffen, dass die Institutionen des westlichen Verfassungstyps zu leeren Hülsen werden, wenn sie sich auf ihre Funktion der Elitenrekrutierung und der Erzeugung der staatlichen Ordnung beschränken.“24 Die Zukunft der Demokratie hängt damit auch von der Zukunft des utopischen Denkens ab, eines skeptischen utopischen Denkens zumal, das sich seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ausführlich mit den eigenen Grenzen befasst. Wer wäre in einem geschlechtergerechten, friedlichen, freundschaftlichen, wissenshungrigen und ökologisch nachhaltigen Utopia nicht bereit, „furchtbar viel Zeit in Versammlungen (zu) verbringen“? Selbst wenn das manchmal abscheulich ist.

22

Zum Verhältnis von feministischen Utopien und Demokratietheorien vgl. ausführlich Holland-Cunz 1998. 23 Saage 2005. 24 Ebd., S. 304.

Zum Verhältnis von Utopieproduktion und Demokratietheorie

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Literatur Holland-Cunz, Barbara, Utopien der Neuen Frauenbewegung. Gesellschaftsentwürfe im Kontext feministischer Theorie und Praxis, Meitingen 1988 (zitiert: HollandCunz 1988). – Utopien der anderen Subjekte. Geschlechterverhältnis, Naturverhältnis und nichtteleologische Zeitlichkeit, in: Richard Saage (Hrsg.): Hat die politische Utopie eine Zukunft?, Darmstadt 1992, S. 238–250 (zitiert: Holland-Cunz 1992). – Feministische Demokratietheorie. Thesen zu einem Projekt, Opladen 1998 (zitiert: Holland-Cunz 1998). Le Guin, Ursula K., Planet der Habenichtse, 4. Aufl., München 1981 [The Dispossessed, 1974] (zitiert: Le Guin 1981). Pateman, Carole, The Sexual Contract, 3. Aufl., Cambridge 1991 [zuerst 1988] (zitiert: Pateman 1991). Phillips, Anne, Engendering Democracy, Cambridge 1991 (zitiert: Phillips 1991). Piercy, Marge, Frau am Abgrund der Zeit, [Neuübersetzung], Berlin/Hamburg 1996 [Woman on the Edge of Time, 1976] (zitiert: Piercy 1996). Saage, Richard, Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt 1991 (zitiert: Saage 1991). – Utopieforschung. Eine Bilanz, Darmstadt 1997 (zitiert: Saage 1997). – Demokratietheorien. Historischer Prozess – Theoretische Entwicklung – Soziotechnische Bedingungen. Eine Einführung, Wiesbaden 2005 (zitiert: Saage 2005).

Ist die politische Utopie wirklich tot? Werner Christie Mathisen Seit Beginn der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts haben wir häufig gelesen und gehört, dass die Utopien tot seien. Manche bedauern dies, während viele prominente Intellektuelle das Verschwinden der Utopie aus der Politik als Befreiung von totalitären Träumen und Gefahren charakterisiert haben, so z. B. Joachim Fest und Hans Magnus Enzensberger in ihren Beiträgen in der 1992 von Richard Saage herausgegebenen Anthologie. „Hat die politische Utopie eine Zukunft?“ Die Erklärungen vom Tod der Utopien sind mehr oder weniger allgemein gehalten. Mehrere Utopieforscher finden, deuten und vermitteln immer noch utopische Elemente und Aspekte in verschiedenen künstlerischen Genres und Äußerungen, nicht zuletzt in feministischen Romanen und in der Science-Fiction-Literatur.1 Andererseits scheint die Auffassung verbreitet zu sein, dass die Politik – zumindest die in etablierten Institutionen und in offiziellem Rahmen ausgeübte – recht leer an utopischen Sichtweisen und Ambitionen ist. Diese Auffassung bedarf kaum einer Begründung, in Medien und Diskussionen gilt sie zumeist als selbstverständlich. Doch wie gut begründet sind diese Erklärungen vom Tod der Utopien, die sich ja vielleicht auf ein veraltetes und womöglich überfälliges Utopiekonzept gründen, indem sie dieses mit sowjetischem Kommunismus oder Planung in großem Maßstab bis ins kleinste Detail gleichsetzen? Die Utopie mag ja weiterleben, nur in anderer Form. Vielleicht unterschätzen diejenigen unter uns, die denken, die Utopie nehme einen legitimen und wichtigen Platz in der Politik ein, das politische Leben in unserer Gesellschaft, wenn wir fast automatisch an Politik denken und von ihr sprechen als eine Welt ohne Utopie. Meiner Meinung nach sollten wir uns die Realitäten einmal genauer anschauen. Reine intellektuelle Neugier ist nicht der einzige Grund dafür. Vereinfachte Verallgemeinerungen über das Verschwinden der Utopie können allzu leicht in einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung enden oder wie der amerikanische Soziologe W. I. Thomas es ausdrückte: „If men define situations as real, they are real in their consequences.“2 1 2

Siehe: Moylan 1986; Sargisson 1996. Zitiert nach Merton 1968, S. 475.

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Oft wird zwischen dem Tod des Sozialismus und dem der Utopie ein Gleichheitszeichen gesetzt. So wird das Gedankengut grüner Politik nur selten diskutiert, wenn grobe Verallgemeinerungen über den Tod der Utopie angestellt werden.3 Durch das Ignorieren dieser relativ jungen und starken Tradition der politischen Theorie und politischen Diskussion werden meiner Meinung nach wichtige, in den letzten Jahrzehnten zum Utopismus geleistete Beiträge übersehen. Die 70er Jahre brachten eine Reihe literarischer grüner Utopien. Die bekannteste und politisch konkreteste ist der Bestseller von Ernest Callenbach Ecotopia (1975). Eine andere bekannte grüne Utopie ist der literarisch anerkannte Roman The Dispossessed (1974) der ScienceFiction-Autorin Ursula K. Le Guin, in dem auch feministisches und anarchistisches Gedankengut stark vertreten ist. Dasselbe gilt für Woman at the Edge of Time (1979) von Marge Piercy. Diese drei Romane schildern, wie auch mehrere andere grüne Utopien, dezentralisierte und egalitäre Gesellschaften mit geringerem materiellen Verbrauch, mehr Freizeit bzw. dem Aufheben des Gegensatzes zwischen Arbeit und Freizeit. Professionelle Hierarchien und eine beengte fachliche Spezialisierung werden abgebaut, die Arbeitsteilung zwischen intellektueller und manueller Arbeit wird gelockert und die Entwicklung der Technik und die Einführung neuer Produkte unterliegen einer demokratischen Kontrolle. Neue Formen des Zusammenlebens, die weitergehende soziale Beziehungen zwischen den Menschen fördern, als es die traditionelle Familie tut, haben sich herausgebildet und in den lokalen Gemeinschaften übernimmt ein feinmaschiges Gemeinwesen einen Großteil der Kontrolle, die in unserer Gesellschaft durch rechtliche Mittel ausgeübt wird. Kultur und Lebensform sind von einem neuen, engeren Verhältnis zwischen Mensch und Natur gekennzeichnet. Ab Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts erschien eine Reihe akademischer, populärwissenschaftlicher und polemischer Beiträge, die eine Gesellschaftsform skizzierten, die besser als die derzeitige dazu geeignet ist, den großen Umweltproblemen unserer Zeit vorzubeugen und sie zu lösen.4 Seitdem sind viele akademische Lehrwerke erschienen, die diese Gedanken und Vorschläge unter der Bezeichnung grünes politisches Denken zusammenfassen und systematisieren.5 Viele zentrale Ideen der grünen literarischen Utopien, nicht zuletzt die der ökonomischen und politischen Dezentralisierung, kommen in akademischer Form in diesen Lehrwerken ebenfalls zum Ausdruck. Gleichzeitig wurde das grüne politische Denken weiterentwickelt und mit der staatswissenschaftlichen Theorie verknüpft. 3 4 5

Siehe hier z. B. Jacoby 1999. Siehe u. a. The Ecologist 1972 und Milbrath 1989. Siehe u. a. Dobson 1995.

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Schwerpunkt dabei war die Fragestellung, wie eine deliberative Demokratie wesentlich zu einer besseren Regulierung des Verhältnisses von Mensch und Natur beitragen kann.6 In Norwegen setzte ab dem Ende der 60er Jahre eine umfassende Umweltdebatte ein. Sowohl Arne Naess (1989) wie auch mehrere andere Philosophen und Teilnehmer an der allgemeinen gesellschaftlichen Debatte sorgten dafür, dass in der umweltpolitischen Diskussion Fragen hinsichtlich einer umfassenden Änderung von Gesellschaft und Lebensstil auf die Tagesordnung gesetzt wurden. Vor diesem Hintergrund mag es gute Gründe für die Untersuchung der Fragestellung geben, wie und in welchem Umfang norwegische Parteiprogramme von grünen Visionen über umfassende Veränderungen in Kultur, Gesellschaft und Lebensstil geprägt sind. Dies muss nicht unbedingt mittels direkter Einwirkung durch international bekannte literarische Utopien oder durch die utopischen Aspekte in Teilen norwegischer Öko-Philosophie geschehen sein. Wahrscheinlicher dürfte es sein, dass ein Ideenaustausch zwischen verschiedenen Teilen der norwegischen und internationalen umweltpolitischen Debatte stattgefunden hat und Intellektuelle aus den Reihen der Parteien utopische Impulse für die Parteipolitik aufgefangen, verarbeitet und weiterentwickelt haben. Auch nach dem Tod des sowjetischen Sozialismus wäre es übereilt, jegliche Form des sozialistischen Utopismus für tot zu erklären. In Norwegen, Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern gibt es immer noch bedeutende sozialistische Parteien links von der Sozialdemokratie. Deshalb ist es begründet, zu untersuchen, ob diese Parteien eine rote utopische Tradition weitergeführt oder erneuert haben und in welchem Umfang sie eventuell Elemente jüngerer grüner Utopien aufgenommen haben. Um den Einfluss utopischen Denkens auf die Politik empirisch zu untersuchen, habe ich die Grundsatzprogramme von zwei norwegischen politischen Parteien gelesen, der Sozialistischen Linkspartei und der Zentrumspartei. Die Sozialistische Linkspartei (Sosialistisk Venstreparti SV) wird von Politikwissenschaftlern als links-liberal klassifiziert.7 Die Zentrumspartei (Senterpartiet SP) wird als Agrarpartei klassifiziert, hat jedoch in den letzten Jahrzehnten versucht, ihre Identität und ihre Anziehungskraft auf die Wählerschaft zu erweitern und ein grünes Profil zu entwickeln. Beide Parteien sind im norwegischen Parlament vertreten, die SV mit fünfzehn und die SP mit elf der 169 Abgeordneten. In den letzten drei Jahrzehnten erzielte die SP einen Durchschnitt von etwa 9 Prozent, die SV von etwa 8 Prozent der bei den nationalen Wahlen insgesamt abgegebenen Stimmen. 6 7

Vgl. hierzu Barry 1999. Vgl. Knutsen 1995.

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Die SP war zusammen mit anderen nicht-sozialistischen Parteien in der Regierungsposition, während die SV immer in der Opposition links von den Sozialdemokraten gestanden hat. Nach den Parlamentswahlen im Herbst 2005 bildeten diese beiden Parteien zusammen mit der sozialdemokratischen Partei jedoch eine Koalitionsregierung. Im vorliegenden Artikel werde ich vor allem untersuchen, welche Spuren grünen utopischen Denkens sich in den Programmen beider Parteien finden lassen und wie und in welchem Umfang sozialistische utopische Ideen in der SV weiterleben. Ich habe mich dafür entschieden, gerade diese beiden Parteien zu untersuchen, da ich davon ausgehe, dass unter den im norwegischen Parlament vertretenen Parteien bei diesen die Wahrscheinlichkeit am größten ist, sowohl Züge ökopolitischen (besonders bei der SP) als auch (bei der SV) Züge sozialistischen utopischen Denkens zu finden. Finden sich keine utopischen Elemente in den Programmen dieser beiden Parteien, ist die Wahrscheinlichkeit, sie bei anderen Parteien zu finden, umso geringer. (Es sei denn als Utopien völlig anderer Art als rot und grün.) Die aktuellen Parteien haben zwei Arten von nationalen Programmen. Das sind zum einen die Wahlprogramme, die eher konkrete und detaillierte Programme für jede Legislaturperiode sind und die die Positionen und vorrangigen Aufgaben ihrer parlamentarischen Arbeit darlegen. Der vorliegende Aufsatz untersucht jedoch ihre so genannten „Grundsatzprogramme“, in denen die Parteien einen Überblick über ihre Ideologie, langfristigen Ziele und Werteinschätzungen geben. Zur Feststellung von Veränderungen oder Kontinuitäten in Bezug auf die Anwesenheit utopischer Perspektiven habe ich die Grundsatzprogramme beider Parteien aus den Jahren 1973 und 1975 sowie von 1995 analysiert, dem Jahr, in dem sie die vorläufig letzte komplette Fassung solcher Programme erarbeiteten.8 Auch habe ich das kombinierte Wahl- und Grundsatzprogramm der SP von 2005 und das allgemeine Einführungskapitel des Wahlprogramms der SV von 2005 untersucht. Natürlich geben die Programme nicht über alles in der Politik dieser Parteien Aufschluss, aber sie sind wichtige Texte, und zwar sowohl für die Sozialisierung der Parteimitglieder und -vertreter als auch als Bezugspunkte bei Diskussionen zu aktuellen Themen. Sie sind wertvolle Instrumente für innerparteiliche Gegner von opportunistischen oder „rechten“ Tendenzen, wenn solche Tendenzen als Abweichung von den angenommenen Prinzipien und Zielen beschrieben werden können. 8 Diese Parteiprogramme sind auf der CD-Rom Vi vil – Norske partiprogrammer 1884–2001, hrsg. v. Norwegian Social Science Data Services (NSD) und Institutt for samfunnsforskning (ISF) zu finden. Die aktuellen Programme können auf der Homepage des NSD unter: www.nsd.uib.no/data/polsys/partiveven/Index.html eingesehen werden.

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Als Richtschnur für die Lektüre und Interpretation dieser Programme ist natürlich eine Art Definition von „utopisch“ notwendig, also die Angabe von Kriterien für die Entscheidung, ob Aussagen in diesen Texten als utopisch zu charakterisieren sind oder nicht. Unter „utopisch“ verstehe ich Beschreibungen oder Entwürfe einer Gesellschaft, die als deutlich anders und besser als die bestehende aufgefasst wird. Der Utopiebegriff, mit dem ich hier arbeite, entspricht dem, den Richard Saage9 als enggefasst charakterisiert: „Konstrukte, die uns zeigen, wie die Welt, in der wir leben wollen, sein oder nicht sein soll.“ Ich erwarte nicht, ein vollständiges und detailliertes Bild einer neuen Gesellschaft vorzufinden. Dies würde auch dem Genre des Parteiprogramms nicht entsprechen. Wenn in politischen Parteien utopische Ideen jedoch überhaupt diskutiert und ernst genommen werden, sollten ihre Programme Konzepte enthalten, die allgemeine Charakteristika oder strukturelle Merkmale der von ihnen angestrebten Gesellschaftsform anzeigen. Wenn wir Formulierungen von Zielen oder Leitposten finden, die in eine deutlich andere Richtung als vorherrschende Trends der gesellschaftlichen Entwicklung verweisen, können wir zumindest die Schlussfolgerung ziehen, dass Utopia nicht völlig aus dem organisierten politischen Leben Norwegens verschwunden ist. I. Die Zentrumspartei (Senterpartiet SP) Das Grundsatzprogramm der SP von 1973 stellt im einleitenden Teil (S. 3) fest: „Die Menschen müssen, innerhalb eines kurzen historischen Zeitraums, Lebensformen finden, die besser mit ihrer natürlichen Lebensgrundlage übereinstimmen. Eine nahe liegende Aufgabe ist es, dafür Sorge zu tragen, dass lebenswichtige Ressourcen nicht Gegenstand eines rücksichtslosen wirtschaftlichen Wettbewerbs werden. Dies wird den Einsatz wirkungsvoller Maßnahmen erfordern. Mit dem Ziel, Produktion und Verbrauch ressourcen- und umweltfreundlich zu gestalten, müssen Umweltausgaben in die Preise eingearbeitet werden. Aber ebenso wichtig ist es, dass vom Volk gewählte Organe die Leitung von Produktion und Betrieben ausüben. [. . .] Der Schutz der Lebensgrundlage durch eine effektive Ressourcenkontrolle setzt eine dezentralisierte und lokale Verwaltung voraus. Nur in dezentralisierten Lebensformen wird das notwendige Verantwortungsverhältnis des Menschen zu seiner natürlichen Lebensgrundlage geschaffen werden können.“

„Lebensformen“ finden – das klingt nach einer echten utopischen Ambition! Es ist nicht einfach zu sagen, was dies genau beinhaltet, aber es deutet auf radikale kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen auf sehr allgemeinem Niveau hin. Das Wort „dezentralisiert“ wird benutzt, um die Le9

Saage 1992, S. IX.

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bensformen zu bezeichnen, die für die Schaffung einer Beziehung mit ökologischer Verantwortung zwischen Mensch und Natur notwendig sind. Dies deutet auf das Schlüsselkonzept des untersuchten Textes hin, auf die „lokale Gemeinschaft“. Das Konzept der „Lokalen Gemeinschaft“ wird in diesem Text weitaus öfter als jedes andere Wort mit politischem Inhalt verwendet. Auf den 16 Seiten des Grundsatzprogramms von 1973 tritt es insgesamt 55 Mal und auf den 17 Seiten des Grundsatzprogramms von 1995 tritt es 35 Mal auf. In Norwegen hat dieses Konzept viele und reichhaltige Assoziationen. Es impliziert Bauern- oder Fischerdörfer, wo die Menschen in engem Kontakt miteinander und mit der Natur leben. Das Wort erhält oft eine Bedeutung, die dem soziologischen Konzept der „Gemeinschaft“ recht nahe steht. Der Öko-Philosoph Arne Naess verwendete es zur Unterscheidung zwischen tiefenökologischen und oberflächenökologischen Bewegungen: Tiefenökologen unterstützen lokale Gemeinschaften und wollen sie wieder neu beleben.10 Die SP sagt (S. 1): „Die grundlegenden Einheiten aus der gesellschaftlichen Sicht der Zentrumspartei sind das Zuhause und die lokale Gemeinschaft, von denen jedweder Ausbau der Gesellschaft ausgehen muss, mit der Konsequenz, dass das wirtschaftliche Leben und die übrigen Teile der Politik der Gesellschaft den Bedürfnissen des einzelnen Menschen, der Familien und der lokalen Gemeinschaften anzupassen sind.“

Vor dem Hintergrund gegenwärtiger Trends in unserer Gesellschaft halte ich dies für eine echte utopische Aussage: Wir experimentieren mit, nehmen teil an und sprechen von Prozessen der Anpassung öffentlicher und kultureller Institutionen, einschließlich der Universitäten, an die Forderungen des Marktes. Lokale Gemeinschaften kämpfen unter den Bedingungen einer zunehmend globalisierten Wirtschaft um ihr Überleben, und traditionelle Lebenswelten werden von den Kräften des internationalen Marktes und einer expandierenden Unterhaltungsindustrie erobert. Die SP bringt hier klar zum Ausdruck, dass sie eine Gesellschaft will, die sich radikal von der, die wir heute erleben, unterscheidet. Letztendlich dürfte es sich hierbei – und im Grundsatzprogramm der SP im Allgemeinen – um Nostalgie handeln, um die Sehnsucht zurück nach den guten alten Zeiten, um nicht zu sagen nach den goldenen Zeiten. Doch werden einige allgemeine Bedingungen für eine bessere Gesellschaft und für eine politische Reformarbeit in die gewünschte Richtung deutlich gemacht. Die SP möchte die Entscheidungen vom wirtschaftlichen Sektor auf die politischen Institutionen übertragen (S. 9): „Den Rahmen dafür abzustecken und zu bestimmen, wo Produktion stattfinden und welche Formen sie haben kann, ist eine politische Aufgabe.“ Dies könnte als sozialistische Aussage gelesen werden, doch wird klargestellt, dass „die Aufgaben ein va10

Vgl. Naess 1989.

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riiertes Handlungsmuster verlangen, bei dem sich private, kooperative und öffentliche Produktionsmaßnahmen gegenseitig ergänzen.“ Dezentralisierung ist ein weiteres Schlüsselwort in den Grundsatzprogrammen der SP. Eine Politik der Dezentralisierung ist nicht nur eine Frage der Erhaltung der Lebenskraft vieler lokaler Gemeinschaften in verschiedenen Teilen Norwegens. Sie ist auch, wie das Programm von 1995 unterstreicht, der Schlüssel zur Belebung der Demokratie (S. 3): „Die Zentrumspartei arbeitet für die Entwicklung einer dezentralisierten Gesellschaft. Der Abstand zwischen Regierenden und Regierten muss verringert werden. Nähe und Übersicht sind bessere Voraussetzungen für eine aktive Demokratie. Die Zentrumspartei will Macht und Kapital so verteilen, dass viele daran teilnehmen können, die wichtigen Entscheidungen für die Gesellschaft zu treffen. Beschlüsse sollten auf einem möglichst niedrigen Verwaltungsniveau gefasst werden, das so nahe wie möglich bei den von den Beschlüssen Betroffenen liegt.“

In diesem Programm und in dem von 1973 werden Dezentralisierung und Lokaldemokratie auch als Bedingungen für eine nachhaltige Entwicklung angesehen. Der optimistische Blick auf die lokalen Gemeinschaften als verantwortliche Umweltakteure steht eindeutig in verwandtschaftlichem Verhältnis zur grünen utopischen Tradition. Das Programm der SP von 1995 führt aus (S. 11): „Jedwede ökonomische Aktivität ist ökologischen Erfordernissen unterzuordnen. Der Ressourcenverbrauch in Norwegen und im reichen Teil der Welt ist zu reduzieren.“ Auch dies steht in deutlicher Übereinstimmung mit grünem Utopismus sowie im Kontrast zu gegenwärtigen politischen Trends und der Logik unseres ökonomischen Systems. Kapitel 1, Die Wertegrundlage der Zentrumspartei, des Grundsatz- und Wahlprogramms für 2005–2009 wird eingeleitet mit der Aussage: „Die Zentrumspartei will die Gesellschaft von unten her bauen.“ Wie seine Vorgänger hebt das Programm die Bedeutung der lokalen Gemeinschaft hervor. Auf Seite 5 wird die lokale Gemeinschaft als Voraussetzung dafür beschrieben, dass das Individuum „seine Träume – seine Vorstellung vom guten Leben verwirklichen“ könne. Gleichzeitig müssten die lokalen Gemeinschaften auch Geborgenheit bieten, d. h. „von Zusammenhalt, Zusammenarbeit und Gleichberechtigung verschiedener sozialer Gruppen geprägt sein“. Etwas weiter unten verweist das Programm auf einige Themen und Aufgabenstellungen, die in der Geschichte der Partei schon immer eine zentrale Rolle gespielt haben. Als erstes werden „der Widerstand gegen den wirtschaftlichen Liberalismus und die Loslösung der Marktkräfte von der politischen Kontrolle“ genannt, danach die Arbeit für Dezentralisierung und mehr Gleichberechtigung zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen und Bereichen. Zum Schluss (S. 6) wird betont, dass die Partei seit langem großen

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„Wert auf wirtschaftliche Mäßigung und die Betonung nicht-materieller Werte“ lege. Damit sind sowohl der vernünftige Einsatz öffentlicher Mittel als auch die bevorzugte Berücksichtigung der Erfordernisse des Umweltschutzes gegenüber wirtschaftlichen Wachstumsinteressen gemeint. In Kapitel 2 desselben Programms baut man – bei gleichzeitiger Betonung der Notwendigkeit, die Eigenart des Gemeinwesens zu bewahren – weiter auf den Gesichtspunkten der Dezentralisierung und der lokalen Gemeinschaft auf (S. 9): „Es kann nicht länger so sein, dass privatwirtschaftliche Führungsprinzipien in Bereichen öffentlicher Wirtschaft, wo zentrale gemeinsame Aufgaben zu lösen sind, zum Einsatz kommen.“ Das Programm geht ganz klar gegen diejenigen vor (S. 7), die „es dem Markt überlassen haben, zu bestimmen, wie Norwegen sein soll“. Dem entgegen setzt die SP auf eine Führungsform, bei der die Beschlüsse auf möglichst niedriger Ebene getroffen werden, in kleinen Einheiten, in denen die Einwohner die gesellschaftlichen Zusammenhänge, in die diese Beschlüsse eingehen und in denen sie leben, verstehen (S. 10). Was die Betonung der Dezentralisierung und der Orientierung auf die Lokalgemeinschaft als grundlegende soziale und politische Einheit betrifft, sehen wir eine klare Kontinuität in den Grundsatzprogrammen der SP von den 1970er Jahren bis heute. Immer noch ist davon die Rede, dass man die gesellschaftliche Entwicklung eher nach den Bedingungen der Politik als nach denen der Ökonomie steuern möchte und dass die ökonomische Entwicklung ökologischen Erfordernissen untergeordnet werden muss. Führen zu können anstatt von ökonomischen Kräften geführt zu werden, tritt als die übergeordnete utopische Sichtweise an sich hervor. In unserer von Deregulierung und Globalisierung geprägten Zeit, wo so oft darauf verwiesen wird, dass ökonomische Tatsachen und internationale Marktkräfte den politischen Handlungsspielraum einschränken, ist dies nur allzu verständlich. Dass die demokratischen Führungsmöglichkeiten demokratisch (zurück-)erobert werden, ist zweifelsohne die Voraussetzung für eine eventuelle Verwirklichung einer grünen Utopie. Nichtsdestoweniger gibt es die Tendenz, die Beschreibung der gewünschten Gesellschaftsform in den neueren Programmen abzuschwächen: In den Programmen von 1995 und 2005 ist nicht mehr von anderen „Lebensformen“ die Rede. In den Programmen der SP sind mehrere zentrale Elemente des grünen utopischen Diskurses deutlich vertreten. Dies betrifft besonders die Schwerpunktsetzung auf die Dezentralisierung, die Begrenzung des wirtschaftlichen Wachstums ausgehend von der Berücksichtigung von Umweltinteressen sowie die Betonung der großen Bedeutung der lokalen Gemeinschaft. Ebenso wie die grünen literarischen Utopien will die Partei auch, zumindest in ihrem Grundsatzprogramm von 1995, eine kürzere Arbeitszeit sowie

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(S. 13) „den Wechsel von Arbeitsleben, Weiterbildung und Urlaubsjahren in verschiedenen Phasen des Lebens“ ermöglichen. Andererseits finden sich kaum Spuren grüner literarischer Visionen über sexuelle Befreiung und das Experimentieren mit alternativen Formen des Zusammenlebens, im Gegenteil – die Familie und das Zuhause werden als Bausteine der guten Gesellschaft gepriesen. II. Die Sozialistische Linkspartei (Sosialistisk Venstreparti SV) Das Grundsatzprogramm der SV von 1975 enthält viele Konzepte aus dem klassischen marxistischen Vokabular: Es beschäftigt sich mit der Entwicklung des Kapitalismus und der führenden Rolle der Arbeiterklasse beim Übergang zum Sozialismus. Die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft ist klar als Ziel der SV formuliert. Unter Sozialismus wird jedoch nicht die vollständige Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln verstanden (S. 30): „In der sozialistischen Gesellschaft wird es somit unterschiedliche Eigentumsformen geben: staatliches Eigentum, kommunales Eigentum, kooperatives Eigentum und Privateigentum. Nach und nach wird das sozialistische gesellschaftliche Eigentum einen immer größeren Platz einnehmen.“ Unter der Überschrift „Eine neue Gesellschaft“ wird das Wesentliche am Sozialismus in einem kurzen Satz zusammengefasst (S. 33): „Das Volk kontrolliert die Ökonomie und entwickelt diese entsprechend seinen politischen Beschlüssen.“ Diese allgemeine Überführung der Kontrolle wird, dem Programm nach, zu grundlegenden sozialen Veränderungen und zu radikal verbesserten Bedingungen für die menschliche Entwicklung führen (S. 23): „Eine Gesellschaft ohne Konsumstress und Wettbewerbsdruck wird reichere Möglichkeiten der sozialen und kulturellen Entfaltung bieten.“ Es ist interessant festzustellen, dass solche kulturellen und sozialen Veränderungen nicht als automatische Folgen des Übergangs zu einem anderen politischen und ökonomischen System beschrieben werden (S. 33): „Der Sozialismus muss auch andere und neue Arten der Organisation des menschlichen Zusammenlebens mit sich bringen. Die kapitalistische Arbeitsteilung muss abgeschafft werden. Der Unterschied zwischen Industriearbeit und landwirtschaftlicher Arbeit, zwischen körperlicher und geistiger Arbeit, zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, zwischen der Rolle der Frau und des Mannes in der Produktion und im Familienleben muss abgebaut werden. So kann man die Grundlage für einen neuen Typ von Solidarität legen.“

Diese Formulierungen zeugen von starken utopischen Ambitionen, die in vielfältiger Weise in dieselbe Richtung wie die grünen literarischen Utopien verweisen. Die feministischen Aspekte darin sind ebenfalls bewahrt. Wir

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bekommen jedoch keine hinreichende Beschreibung einer Gesellschaft, in der die genannten Ziele erreicht sind. Der Weg zur Verwirklichung dieser Visionen wird ebenfalls nicht so genau beschrieben. Das ist auch nicht zu erwarten, besonders wenn man bedenkt, dass es sich hierbei um das erste Grundsatzprogramm einer Partei handelt, die gerade erst in einem konfliktund kompromissreichen Sammlungsprozess gegründet worden war, an dem vier verschiedene Parteien und Gruppierungen aus dem linken Flügel norwegischer Politik teilgenommen hatten. Der vorliegende Artikel will eher das Hauptaugenmerk darauf lenken, dass wir es hier mit eindeutigen utopischen Vorstellungen in einem Parteiprogramm zu tun haben. Die utopischen Merkmale im Grundsatzprogramm der SV sind sowohl feministisch als auch grün. Gleichzeitig steht das Programm in einer eindeutigen sozialistischen Tradition: Es betont die Notwendigkeit des Bruchs mit dem kapitalistischen System, um eine echte von Gleichheit und Solidarität geprägte Volksherrschaft zu errichten. Der zuletzt zitierte Abschnitt verweist darauf, dass eine Neuverteilung der politischen und ökonomischen Macht für die Verwirklichung der guten Gesellschaft nicht ausreichend ist. In der folgenden Beschreibung der Gesellschaft, die man anstrebt, findet sich jedoch eine unangenehme Zweideutigkeit (S. 30): „Der Sozialismus muss zu mehr menschlicher Freiheit, Vielfalt und Dezentralisierung auf allen Gebieten führen, wo dies nicht in Konflikt mit einer planmäßigen Nutzung der Ressourcen und der Ökonomie gerät.“ Zweifellos sollen mit diesem Satz der antitotalitäre Charakter oder die Vorzüge der sozialistischen Utopie der SV beschrieben werden, andererseits scheinen diese Vorzüge den Erfordernissen einer rationalen Verwaltung der ökonomischen und ökologischen Ressourcen untergeordnet zu sein. Im Grundsatzprogramm der SV von 1995 wird deutlich formuliert (S. 28): „Eine nachhaltige globale Entwicklung ist nicht möglich, ohne dass die Produktions- und Verbrauchsspirale in den industrialisierten Ländern durchbrochen wird. Dies bedeutet, dass sich der materielle Verbrauch der Mehrzahl der Menschen in den reichen Ländern verringert.“ Diese beiden Sätze stellen eine eindeutige Absage an den technologischen Optimismus älterer marxistischer Utopien dar, die den Menschen nach der Revolution ein Leben in unübertroffenem materiellen Reichtum versprachen. An diesem wichtigen Punkt stimmt die Utopie dieser sozialistischen Partei mit der zentralen Voraussetzung des grünen utopischen Denkens und mit dem Programm der SP überein. Insgesamt enthalten die späteren Programme im Vergleich zum Text von 1975 weniger marxistisches Vokabular, und die Visionen der sozialistischen Partei sind mit kritischen Kommentaren zu historischen Erfahrungen formuliert (S. 46–47):

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„Gleichzeitig haben wir Versuche von Planwirtschaft erlebt. Trotz besonderer geschichtlicher Umstände können wir zwei allgemeine Lehren aus den Erfahrungen Osteuropas ziehen: Zu viel Macht an einer Stelle konzentriert untergräbt die Demokratie. Die Planung wird zur Waffe einer Elite und Kommandowirtschaft ist das Ergebnis. [. . .] Auch in unserem Land hat Staatsbesitz nicht ohne weiteres zur Volksherrschaft geführt. Weder der Markt noch die Bürokratie allein sind die Lösung. Wir müssen auf eine dreigliedrige Ökonomie hinarbeiten, die aus einem öffentlichen, einem privaten und einem dritten Sektor besteht, der sich auf Zusammenarbeit und freiwillige Organisation gründet.“

Das Programm hebt die Bedeutung der zivilen Gesellschaft für die Lebenskraft der Demokratie, die Entstehung sozialer Beziehungen und die Lösung sozialer Probleme hervor. Seit 1995 hat die SV kein eigenes Grundsatzprogramm formuliert. Das allgemeine Einführungskapitel „Unser Weg“ zum Arbeitsprogramm für 2005 – 2009 hat jedoch einen ähnlich prinzipiellen Charakter wie die ersten Kapitel im Prinzip- und Arbeitsprogramm der SP. Die SV sagt weiterhin (S. 7): „Unser Ziel ist eine sozialistische Gesellschaft.“ Ihr Ziel ist „Demokratie auf allen Ebenen“, wobei „die Erfordernisse der Umwelt alle Gebiete der Politik durchdringen sollen“ (S. 6). Darüber hinaus soll ein Hauptziel der Politik der Partei darin bestehen, „der Zentralisierung der Gesellschaft entgegenzuwirken“ (S. 6). Dieses Thema trat in den beiden Grundsatzprogrammen der Partei im Unterschied zu den Programmen der SP und der grünen Utopien nicht besonders in den Vordergrund. (Weder die Themen (De-)Zentralisierung noch lokale Gemeinschaften kommen in den Grundsatzprogrammen von 1975 und 1995 öfter als 4–5 Mal vor.) Ansonsten wird Folgendes, und zwar schon im zweiten Abschnitt des Programms (S. 5), betont: „Unsere Gesellschaft ist eine multikulturelle und multireligiöse Gesellschaft und wird es immer sein.“ Die Programme von 1995 und 2005 sind zurückhaltender und moderater als das erste Grundsatzprogramm der Partei. Es ist weniger die Rede vom totalen Bruch mit allen Seiten des Kapitalismus und von Versprechen zu etwas völlig anderem. Das Wort „Sozialismus“ wird im Programm von 1995, verglichen mit dem Programm von 1975, deutlich weniger benutzt. 1975 kommt das Wort „Sozialismus“ 60 Mal vor, 1995 nur 11 Mal – und das, obwohl das zuletzt erwähnte Programm mehr als doppelt so umfangreich ist wie das erstgenannte. Im Wahlprogramm von 2005 ist der Begriff „Sozialismus“ überhaupt nicht zu finden. Das Wort „sozialistisch“ kommt zweimal vor. Zum Vergleich: Im Grundsatzprogramm von 1975 kam das Wort „sozialistisch“ 71 Mal und 1995 kam es 23 Mal vor. Der immer seltenere Gebrauch des Wortes „Sozialismus“ kann zweifellos als Aufgabe utopischer Hoffnungen im realpolitischen Kompromiss mit der bestehenden gesellschaftlichen Realität gedeutet werden. Man ist zu der

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nüchternen Einsicht gekommen, dass es nicht möglich und vielleicht auch nicht wünschenswert ist, den Mitgliedern und Wählern der Partei große gesellschaftliche Veränderungen in eine Richtung vorzuspiegeln, die man traditionell mit diesem Begriff bezeichnet hat. Dies kann als Ergebnis eines Lernprozesses verstanden werden. Wir haben gerade gesehen, dass sich das Grundsatzprogramm der SV von 1995 kritisch zu früheren utopischen Experimenten äußert. Richard Saage hat darauf verwiesen, dass das utopische Denken von Anfang „durch das Potential seiner Selbstkorrektur und -kritik gekennzeichnet war und ist“11. Wir können hier die Schlussfolgerung ziehen, dass dies nicht nur für literarische Utopien, sondern auch für utopische Parteiprogramme gilt. Denjenigen, die politische Utopien mit totalitären Projekten gleichsetzen, sollte versichert werden, dass im letzten Grundsatzprogramm der Linken Sozialisten die Rolle des Staates eingeschränkt und die Bedeutung einer starken, unabhängigen zivilen Gesellschaft anerkannt wird. Auch die Betonung, dass wir mit der Existenz mehrerer Kulturen und Religionen in unserer Gesellschaft leben müssen, deutet in dieselbe Richtung. Hier ist man weit von marxistischer Religionskritik und der Vorstellung, dass die Religion in der sozialistischen Gesellschaft verschwindet, entfernt. III. Schlussfolgerungen Utopische Sichtweisen verschwinden nicht notwendigerweise aus den Programmen der SV, doch befinden sie sich zweifellos in Veränderung. Das politische Denken der SV scheint sich den in den Programmen der SP und in vielen grünen politischen Schriften geäußerten Gedanken zu nähern. Meiner Meinung nach besitzen diese beiden Parteien eine Art gemeinsamen utopischen Kern: Die Vision einer Gesellschaft, in der politische Entscheidungen von größerer Bedeutung sind als heute und wo diese Entscheidungen demokratischer und dezentralisierter getroffen werden. Im Vergleich zu den weitreichenden gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen, die in den grünen literarischen Utopien und in der marxistischen Theorie über die den Kapitalismus ablösende Gesellschaft beschrieben werden, kann dies unter Umständen als nüchterne und bescheidene Utopie charakterisiert werden. Andererseits kann diese Perspektive utopisch genug erscheinen, wenn man von den starken Tendenzen zur Verrechtlichung, Privatisierung und Kommerzialisierung ausgeht, die die Gesellschaft prägen, in der diese Parteien wirken. Diese werden u. a. im Untersuchungsbericht zu Macht und Demokratie in Norwegen beschrieben.12 Viele werden die Programme die11 12

Saage 1997, S. 100. Vgl. Østerud/Engelstad/Selle 2003.

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ser Parteien zweifellos als utopisch im negativen Sinn charakterisieren, gerade weil sie sich den starken internationalen Trends entgegenstellen und deren Realisierung deshalb als schwierig, um nicht zu sagen unmöglich, eingeschätzt wird. Ausgehend von unterschiedlichen theoretischen Ansätzen und rhetorischen Traditionen betonen die Programme der SP und der SV gemeinsam die Bedeutung sozialer Beziehungen und Aktivitäten außerhalb der Bürokratie und des Marktes. Die SP beschreibt dies mit dem Terminus „lokale Gemeinschaft“, während das Grundsatzprogramm der SV von 1995 den Ausdruck „zivile Gesellschaft“ für die Beschreibung verwandter Phänomene benutzt. Hier befinden sich beide Parteien auf einer Linie mit den grünen literarischen Utopien, da diese sowohl bei der Beschreibung des Entstehens als auch des Charakters der neuen Gesellschaft so großen Wert auf Diskussionen und Änderungsprozesse außerhalb der formellen politischen Institutionen legen. Die Begriffswahl – „lokale Gemeinschaft“ bzw. „zivile Gesellschaft“ – ist jedoch von Bedeutung. Spricht man von „lokaler Gemeinschaft“, arbeitet man oft mit nostalgischen Assoziationen, man weckt die Vorstellung von etwas „Natürlichem“ und „Ursprünglichem“. Anne Enger Lahnstein, die damalige Vorsitzende der SP, schrieb 1989 in dem Buch „Das Norwegen, das wir wollen“ Folgendes: „Im lokalen Leben kommen wir dem wirklichen Leben vielleicht am nächsten.“13 Benutzt man, wie die SV, den Begriff „zivile Gesellschaft“, werden die Assoziationen von „natürlichen“ sozialen Beziehungen und „Gemeinschaft“ abgeschwächt. Die SP geht bei der Betonung der Dezentralisierung als wesentliches Merkmal der guten Gesellschaft zweifellos am weitesten. In dieser Hinsicht steht die Partei den grünen literarischen Utopien nahe, näher als die SV. Andererseits verbindet die SP ihre Verteidigung der lokalen Gemeinschaft mit der Betonung der „Familie als grundlegender sozialer Einheit“14. Die SV verweist dagegen darauf, dass „der Kampf der Frauen [. . .] neue Formen des Zusammenlebens neben der traditionellen Familie eröffnet“15 und steht den grünen literarischen Utopien in dieser Hinsicht näher als die SP. Sowohl die SP als auch die SV verweisen in ihren Grundsatzprogrammen auf die Notwendigkeit eines reduzierten materiellen Verbrauchs im reichen Teil der Welt. In diesem zentralen Punkt befinden sie sich in Übereinstimmung mit grünem utopischen Gedankengut, das uns hier kein Gold, dafür aber grüne Wälder verspricht. In den Programmen der SV finden sich ohnehin viele Spuren von grünem, aber auch von rotem Utopismus. Der damalige Vorsitzende der SV, Erik Solheim, unterstützt diese Tendenz, wenn er 13 14 15

Lahnstein 1989, S. 133. Programm SP 1995, S. 7. Programm SV 1995, S. 19.

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schreibt: „Norwegen hat keine Richtung für seine gesellschaftliche Entwicklung. [. . .] Wenn wir kein Ziel haben, sollten wir uns eines suchen, und meiner Meinung nach können wir uns nur ein Ziel setzen, das groß genug ist: die Umweltgesellschaft.“16 Im Vergleich zu den grünen literarischen Utopien äußern sich die Parteiprogramme mehr zu formaler politischer Führung und weniger zum Leben außerhalb der politischen Sphäre. Etwas anderes kann man auch nicht erwarten, denn die Parteiprogramme gehen in die Beschlussfassung durch das politische System ein und wenden sich bei Lokal- und Nationalwahlen von Vertretern ihrer Parteien an die Wähler. Dies steckt den natürlichen Rahmen dafür ab, was man schreiben kann. Dennoch finden sich im Textmaterial, das vorliegender Untersuchung zugrunde liegt, interessante Variationen. Die ältesten Programme verlangen und versprechen am meisten, in ihnen ist die Rede davon, zu anderen „Lebensformen“ (SP) und „neuen Arten der Organisierung des menschlichen Zusammenlebens“ (SV) zu finden. Solche Visionen sind in den neueren Programmen weniger vertreten, besonders die SV ist deutlich nüchterner geworden. Dass die Grundsatzprogramme dieser Parteien keine inhaltliche Bestimmung des guten Lebens mehr vornehmen, sollte diejenigen beruhigen, die der Meinung sind, das utopische Denken führe Politiker leicht in totalitäre Versuchungen. Während die SP die Familie als Form des Zusammenlebens bewahren und beschützen will, begnügt sich die SV damit, neben dieser neuen Formen des Zusammenlebens Platz einräumen zu wollen. Dies deutet auf großen Respekt vor dem Recht der Menschen hin, ihr Privatleben selbst zu gestalten. Die Anerkennung der religiösen Vielfalt durch die SV weist in dieselbe Richtung. Was immer man von der Politik dieser beiden Parteien auch halten mag, so lässt sich doch feststellen, dass sich in ihren Programmen deutliche Züge utopischen Denkens finden. Beide senden eindeutige Signale für einen anderen Kurs der gesellschaftlichen Entwicklung als den heute vorherrschenden aus, und sie skizzieren grundlegende Merkmale einer anderen Gesellschaft im Gegensatz zur bestehenden. Es ist mir an dieser Stelle unmöglich zu sagen, welche utopischen Gedanken sich in grünen oder roten Parteien anderer Länder finden, doch gibt es wohl kaum einen Grund zu der Annahme, dass die norwegischen Parteien in dieser Hinsicht einzigartig sind. Dies müsste jedoch genauer untersucht werden, auch Parteiprogramme können für Utopieforscher interessantes Material sein!

16

Solheim 1989, S. 140.

Ist die politische Utopie wirklich tot?

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Literatur Callenbach, Ernest, Ecotopia, Berkeley 1975 (zitiert: Callenbach 1975). Barry, John, Rethinking Green Politics, London 1999 (zitiert: Barry 1999). Dobson, Andrew, Green political thought, London 1995 (zitiert: Dobson 1995). Jacoby, Russell, The End of utopia, New York 1999 (zitiert: Jacoby 1999). Knutsen, Oddbjørn, The Impact of Old Politics and New Politics, in: Journal of Public Policy 15 (1995), S. 1–63 (zitiert: Knutsen 1995). Lahnstein, Anne Enger, Menneskeverd og forvalteransvar (Menschenwürde und Verwaltungsverantwortung), in: Kjell Bækkelund (Hg.): Det Norge vi vil ha. (Das Norwegen, das wir wollen), Oslo 1989 (zitiert: Lahnstein 1989). Le Guin, Ursula K., The Dispossessed, New York 1974 (zitiert: Le Guin 1974). Merton, Robert K., Social Theory and Social Structure, New York 1968 (zitiert: Merton 1968). Milbrath, Lester W., Envisioning a Sustainable Society, Albany 1989 (zitiert: Milbrath 1989). Moylan, Tom, Demand the Impossible, New York 1986 (zitiert: Moylan 1986). Naess, Arne, Ecology, Community and Lifestyle, Cambridge 1989 (zitiert: Naess 1989). Norwegian Social Science Data Services (NSD)/Institutt for samfunnsforskning (ISF) (Hg.), Vi Vil – Norske partiprogrammer 1884–2001 (Norwegische Parteiprogramme) (zitiert: NSD/ISF (CD-Rom)). Østerud, Øyvind/Engelstad, Fredrik/Selle, Per, Makten og demokratiet (Untersuchungsbericht zu Macht und Demokratie), Oslo 2003 (zitiert: Østerud/Engelstad/Selle 2003). Piercy, Marge, Woman at the Edge of Time, London 1979 (zitiert: Piercy 1979). Saage, Richard (Hg.), Hat die politische Utopie eine Zukunft?, Darmstadt 1992 (zitiert: Saage 1992). – Utopieforschung: eine Bilanz, Darmstadt 1997 (zitiert: Saage 1997). Sargisson, Lucy, Contemporary Feminist Utopianism, London 1996 (zitiert: Sargisson 1996). Solheim, Erik, Miljøsamfunnet (Die Umweltgesellschaft), in: Kjell Bækkelund (Hg.): Det Norge vi vil ha, Oslo 1989 (zitiert: Solheim 1989). The Ecologist, Blueprint for Survival, Harmondsworth 1972 (zitiert: The Ecologist 1972). Übersetzt von Petra Biesalski

Utopie und Mythos – Zur Differenzierung ihrer Begrifflichkeit Kurt Lenk Wer immer sich darum bemüht, das Mythische an den Mythen eindeutig zu bestimmen, ohne dass es sich dabei verflüchtigt, wird wissen, wie hoffnungslos ein solches Unterfangen erscheint. Unvermutet stieß ich in Zeruya Shalevs jüngstem Roman „Späte Familie“ auf eine Formulierung, die zumindest erklärt, wie Mythen entstehen, nämlich: „um seelische Bedürfnisse zu befriedigen, um Hoffnung auf ein legendäres goldenes Zeitalter zu wecken, das es schon einmal gab, oder um spätere Visionen zu bedienen [. . .]“1 Dieser Fund verschafft mir die Möglichkeit, entscheidende Differenzen zwischen Mythen und Utopien zu verdeutlichen. Zeruya Shalev spricht nicht einfach von einer Hoffnung auf irgendein goldenes Zeitalter, sondern bewusst von dem, „das es schon einmal gab“, womit sie die spezifische Differenz der Mythen zu allem Utopischen bezeichnet: denn dort ist es die Hoffnung auf Noch-Nie-Gesehenes, nirgends in der uns bekannten Geschichte Dagewesenes. Von ihrem Anspruch her zielt die Utopie somit auf ein grundsätzlich Neues. Insofern ist sie „modern“, fasst man die Moderne als den immer wiederholten Versuch, vordem Unbekanntes durch Projektion und Konstruktion in die Welt zu bringen. Allerdings trifft dieses Merkmal nur auf klassische Utopien zu, nicht jedoch auf negative oder Gegenutopien, die sich mehr oder weniger als warnende Fortschreibung oder Steigerung bestimmter defizienter Aspekte der gegenwärtigen Gesellschaft zu einem künftigen Horrorszenario verstehen lassen – etwa bei Orwell oder Huxley. Dass die Verwendung des Mythosbegriffs mitunter finster konnotiert wird, haftet zwar nicht an diesem selbst, wohl aber an seiner immer erneuten Instrumentalisierung in der Geschichte. In der völkischen Mythologie gibt es für die Funktion der Mythen, einstmals Dagewesenes erneut zum Leben zu erwecken, den rassisch getönten Begriff der „Erberinnerung“, Kennwort für das, was im Nationalsozialismus unter „Erb- und Rassenpflege“ fiel2. Sich dieser „Erblast“ der Mythen bewusst zu sein, gehört al1 2

Shalev 2005, S. 231. Vgl. hierzu Schmitz-Berning 1998, S. 203.

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lerdings zu einer Sensibilität, die – im Zuge heutiger Wiederverzauberungsversuche – nicht selten abhanden zu kommen scheint. Ein weiteres Moment bietet Anlass, das eingangs erwähnte Zitat Shalevs zu bemühen. Ist darin doch von der Funktion des Mythos die Rede, „spätere Visionen zu bedienen“. Diese Wendung verweist auf die bekannte Tatsache, dass überlieferte Mythen sich im Laufe der Zeit „ablagern“, ohne jedoch ihre Wirkungschancen gänzlich einzubüßen. Wann ihre Stunde kommt, hängt gänzlich von externen Faktoren ab: sozialen und kulturellen Verhältnissen, solchen der politischen Opportunität und dem Aufkommen bestimmter Akteure, die ihr Wiederaufleben betreiben. Jedenfalls sind – oft unter völlig veränderten Umständen – der Instrumentalisierung längst tot geglaubter Mythenstoffe und -motive kaum Grenzen gesetzt. So wurde es schließlich möglich, „nach Belieben Traditionsbestände abzurufen, von den jahrmillionenalten Urkulturen bis zu den Friedrichen, dem stauffischen und dem hohenzollernschen, und sie zum Fundament einer grandiosen Zukunft zu erklären“.3 I. Zur Mythenrenaissance heute Gegenwärtig sind aus der Feder renommierter Historiker Zeitdiagnosen zu vernehmen, die an längst vergessene Buchtitel der Fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts – wie etwa „Das Ende aller Sicherheit“4 – erinnern. Was der Marburger Historiker Eckart Conze im Herbst 2005 als Fazit seiner Analyse der jetzigen Sicherheitslage formuliert, dürfte mittlerweile als Tenor vieler Betrachtungen der globalisierten Risikogesellschaft gelten: „Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass sich Unsicherheitserfahrungen weiter intensivieren werden. . . Zukunft ist weniger denn je kalkulierbar. Im Zeitalter globaler Information wachsen Unsicherheiten, weil Handlungsräume und Handlungsmöglichkeiten nicht mehr mit Informationsräumen und Informationsmöglichkeiten übereinstimmen. In ein ‚goldenes Zeitalter der Sicherheit‘ führt kein Weg zurück.“5

Mit der in diesem Befund ausgedrückten Grundstimmung sind wir bereits im Zentrum der Frage nach dem Stellenwert und der Funktion von Mythen in der Politik: immer dann, wenn eine bestehende Ordnung und ihr Sinnzusammenhang fraglich werden und bedroht erscheinen, finden mythische Deutungen als Orientierungshilfen vermehrt Anklang. Wenn heute Überbevölkerungs- und Energiekrisen, Umweltkatastrophen und staatliche Finanzkrisen zum täglichen Problemberg gehören, zugleich aber deren Lösungschancen sich vermindern, entsteht parallel dazu ein 3 4 5

Hardtwig 2005, S. 101. Martini 1954. Conze 2005, S. 11.

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Potential frei flottierender Ängste, die Kompensation und Trost auch in mythischen Weltdeutungen suchen: „Die seit längerem beobachtbare Bereitschaft zur Flucht in vermeintlich ‚heile‘ Vergangenheiten war stets ein Symptom krisenhafter Perioden. Insofern wäre – angesichts der Mythen-Renaissance unserer Tage – der pauschale Anti-Utopismus mit seiner undifferenzierten Begrifflichkeit als ein Kapitel fehlgehender Zeitdiagnostik zu begreifen. Haben sich doch in die Leerräume einstiger Utopien längst private und wohl auch kollektive Mythenwelten eingeschlichen.“6

Wo immer es um politische Mythen geht, spielen Zeitdimensionen eine entscheidende Rolle. Während klassische Utopien ihre Hoffnungen und Sehnsüchte in der Regel auf die Zukunft richten, suchen Mythen nun Sinnkompensationen eher in einer längst entschwundenen, oftmals fiktiven Vergangenheit, die es wieder zu erwecken gälte. „Ihre Faszination beziehen sie ganz wesentlich daraus, dass sie den Rezipienten aus der Kontingenzerfahrung der Geschichtszeit ein Stück herausheben und ihm Vergangenes über den Abstand verflossener Zeit hinweg nahebringen. Damit stiften sie Sinn und verleihen Legitimität.“7 Es versteht sich, dass es bei alledem nicht um mit Quellen und Urkunden belegbare Geschehnisse geht, sondern eher um stilisierte, selektive Erinnerung. Zu denken wäre etwa an den Griechenmythos unserer Klassiker im 18. Jahrhundert, oder aber, weit weniger harmlos, an die bereits im 19. Jahrhundert virulenten Germanenmythen völkischer und – in deren Gefolge – nationalsozialistischer Mythologen. Der Transport derartiger politischer Mythen geschieht in der Form reicher Bilderwelten und Symbolik. Zweifellos besaßen manche Symbolwelten für eine bestimmte Stufe der Bewusstseinsentwicklung auch eine nützliche Erkenntnisfunktion: werden in ihnen doch Lebenssituationen und -schicksale gedeutet, die ansonsten unerklärt blieben. Zudem eröffnen sich mit deren Hilfe mitunter Perspektiven, die frühere Erfahrungen mit gegenwärtigen vermitteln und so womöglich auch Handlungsschritte auslösen.8 II. Das Interpretationsspektrum der Mythen In der Tradition des neuzeitlichen Rationalismus werden mit der Formel „Vom Mythos zum Logos“ Mythen abstrakt negiert. Die prinzipiell veränderte Wirklichkeit des wissenschaftlichen Denkens in der Moderne führt 6

Lenk 2005, S. 35. Hardtwig 2005, S. 92. 8 Nach einem Bericht Kevin Krajicks ist beim Tsunami Ende 2004 am Indischen Ozean das Volk der Moken in Thailand verschont geblieben: „Ihre Überlieferung warnt davor, dass eine menschenfressende Welle komme, wenn sich das Meer plötzlich zurückziehe – wie das vor einem Tsunami geschieht. Die Moken erkannten das Zeichen und überlebten.“ (Krajick 2005, S. 13). 7

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zur Abwehr „mythischer Relikte“, die als bloße Vorstufe menschlichen Denkens gelten. In der erfolgreichen Überwindung und der Befreiung vom Mythos versteht sich die bürgerliche Aufklärung als der Versuch, der menschlichen Vernunft zur Autonomie zu verhelfen. Eine dem entgegengerichtete „irrationalistische“ Mythenrezeption zielt umgekehrt auf die erneute Remythisierung im Sinne einer Wiederverzauberung des Denkens. In diesem Zeichen erfolgt seit der Romantik des frühen 19. Jahrhunderts ein Wiederbelebungsversuch ursprungsmythischer Orientierung mit eindeutiger Wendung gegen den Subjektivismus der Moderne und die von ihr erstrebte Emanzipation aus „selbstverschuldeter Unmündigkeit“. Stichworte dieser Gegenaufklärung sind z. B. Essentialismus, Fundamentalismus, Lebensphilosophie und Ontologie. Getragen von der Sehnsucht nach Ganzheit und einem einheitlichen, anschaulich gestalteten Weltbild zielt diese Bewegung auf eine radikale Kritik des neuzeitlichen Prozesses der Zivilisation und der Moderne. Gegen diese beiden konträren Positionen zeichnet sich seit geraumer Zeit eine durch die Stichworte „Arbeit am Mythos“9 und „Wahrheit im Mythos“10 gekennzeichnete Rehabilitation mythischen Denkens ab. Die bereits im Mythos selbst angelegte Aufklärung wird hier durch einen Wechsel der kategorialen Mittel auf einer neuen Ebene fortgeführt. Nicht Negation und Verdrängung, sondern produktive Thematisierung und Aufarbeitung des Mythischen heißt hier die Aufgabe, verstanden als dessen Rettung im Sinne der Synthese von Mythos und Wissenschaft. Die rationalistische Mythendeutung dominierte im fortschrittsbewussten 19. Jahrhundert. Im Zeichen des Positivismus erschien der Mythos als ein anachronistischer, vom wissenschaftlichen Denken längst überholter Begriff des Aberglaubens. An der Wende zum 20. Jahrhundert erwuchs jedoch eine Grundlagenkrise im Kernbereich der Naturwissenschaften (Relativitätstheorie/Quantenphysik). Zudem entstand als Gegenbewegung zur positivistischen Wissenschaft eine Lebensphilosophie, der es im Gefolge der Romantik um eine Rehabilitierung des Mythos zu tun war, genannt seien hier nur Wilhelm Dilthey, Henri Bergson und Georges Sorel. Im Faschismus und Nationalsozialismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kamen diese gegenrevolutionären Strömungen auf ihren Höhepunkt. Für sie war Mythos „[. . .] der anschauliche, verdichtete, bewußt gewordene und in der Daseinsgestaltung auf allen Gebieten ausschlaggebende Ausdruck der rassisch-völkisch bestimmten Gesamteinstellung der Gemeinschaft und des einzelnen in ihr zu den letzten Grundlagen, Wirklichkeiten der Welt und der eigenen Existenz, und zwar in höchsten Symbolen.“11 9 10

Blumenberg 1996. Hübner 1985.

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Nach dem Ende des 2. Weltkriegs liefen zwei Stränge nebeneinander her: der Versuch einer Wiederentdeckung klassischer Mythenmotive und eine bewusst am westlichen Pragmatismus orientierte Absage an mythische Elemente. Seit den 70-er und 80-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts lässt sich nicht allein in vielen westlichen Ländern eine gewisse Aufwertung moderner Mythen – im Sinne lebensdienlicher Kollektivmythen – beobachten. Eine „Neue Rechte“ ist hier, ausgehend von Frankreich, zur eifrigsten Trägergruppe dieser erneuten Remythisierungstendenz geworden. III. Ernst Cassirers Mythenbegriff Für Cassirer, den eigentlichen Klassiker der modernen Mythen- und Symbolforschung, stellen Mythen durchaus sinnvolle Ordnungs- und Klassifikationsversuche dar, in denen eine ursprünglich chaotische Erscheinungswelt zu einem in sich stimmigen Ganzen gebildet werden soll. Hoffnungen und Ängste können auf diesem Wege objektiviert und produktiv umgestaltet werden. Seit Cassirer tendiert die Mythenforschung dazu, in jenen Denkformen eine den modernen Wissenschaften analoge Bemühung um Ordnung in einer komplexen Wirklichkeit zu sehen. Bei aller Verschiedenheit der jeweiligen Inhalte ähneln sich demnach die Grundformen des mythischen Denkens; beider Ziel bleibt stets die Stiftung von Einheit in der verwirrenden Mannigfaltigkeit menschlicher Wahrnehmungen: „Sie erwachsen aus dem selben Wunsch der menschlichen Natur, sich mit der Realität abzufinden, in einem geordneten Universum zu leben und den chaotischen Zustand zu überwinden, in dem Dinge und Gedanken noch keine bestimmte Gestalt und Struktur angenommen haben.“12

Während aus der Sicht Oswald Spenglers die politischen Mythen der Massen als das zwangsläufige Resultat einer schicksalhaft abrollenden Geschichte erscheinen – womit Geschichte selbst zum Mythos wird –, analysiert Cassirer politische Mythen als die spezifischen Medien, die in Grenzsituationen und verzweifelten Lagen scheinbar dazu verhelfen können, ihrer Herr zu werden. Dem in die Vereinigten Staaten emigrierten Cassirer hatte die Erfahrung der NS-Propaganda gezeigt, dass ursprünglich mythisches Denken nicht einfach eine längst überwundene, ein für allemal vergangene Stufe menschlicher Weltdeutung, sondern eine durchaus latente Möglichkeit auch im zeitgenössischen Denken geblieben ist. Nun ließen sich mittels moderner technischer Instrumentarien politische Mythen regelrecht organisieren und zum Kanon totalitärer Systeme ausbauen.13 11

Meyers Lexikon 1940. Cassirer 1949, S. 24; vgl. Cassirer 1987. 13 Ein anschauliches Beispiel für die damit eröffneten Manipulationsmöglichkeiten bietet etwa der einflussreichste Vertreter der NS-Pädagogik, Ernst Krieck, der in 12

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IV. Mythos – Ideologie – Utopie14 Im Gegensatz zu Hochideologien wie etwa Liberalismus oder Sozialismus, die sich durchwegs im Bereich des diskursiven Denkens bewegen, liefern Mythen einen primär symbolisch vermittelten, normativ aufgeladenen Orientierungsrahmen in sozialen Handlungssystemen. Ihre Antwort auf die Frage nach „Warum“ und „Wozu“ ist die Vergegenwärtigung einer vorgestellten Vergangenheit. Diese Präsentation erfolgt in der Regel affektiv und autoritativ, wodurch den Mythen die Aura von Immunität gegen Kritik zukommt: sie werden geglaubt oder abgelehnt. Hingegen antizipieren klassisch-positive Utopien eine künftige neue Welt, in der negativwertige Aspekte der Gegenwart eliminiert erscheinen. Gegenutopien schließlich konstruieren eine Zukunft, in der solche Aspekte gesteigert werden, um als Warnung zu dienen und damit einen heilsamen Schrecken auszulösen, der zur Umkehr nötigt. Generell verwandeln Mythen Geschichte zurück in Natur, wobei das, was im Einzelnen als Natur bestimmt wird, sehr variabel sein kann. So etwa ist bei Moeller van den Bruck Natur identisch mit einem allumfassenden Raum; bei Spengler werden „Kulturkreise“, sobald sie in Spätzeiten zur Zivilisation erstarren, zu einer Art „zweiten Natur“. Regelmäßig verflüchtigt sich in solchen Konzepten Geschichte selbst zum Mythos. So erscheint bei Spengler als der große Macher der Menschengeschichte ein unerbittliches Schicksal, vor welchem alles menschliche Planen und utopische Ausgreifen in eine bessere Zukunft zunichte werden muss. Zweck solcher Mythen ist es, die sozialen und politischen Verhältnisse als ein für allemal gegeben und damit als Manifestation eines allem menschlichen Zutun entzogenen schicksalhaften Geschehens darzustellen. Schon die Setzung einer konstanten menschlichen Wesensnatur im Sinn einer pessimistischen Anthropologie schneidet von vornherein jedwede Chance zu utopischen Projektionen ab, die – aus mythischer Sicht – nurmehr als ohnmächtige intellektuelle Träume gelten. seiner Schrift „Nationalpolitische Erziehung“ die ‚völkische Revolution‘ wie folgt feiert: „Es erhebt sich mit dieser Revolution das Blut gegen den formalen Verstand, die Rasse gegen das rationale Zweckstreben, die Ehre gegen den Profit, die Bindung gegen die „Freiheit“ zubenannte Willkür, die organische Ganzheit gegen die individualistische Auflösung, Wehrhaftigkeit gegen bürgerliche Sekurität, Politik gegen den Primat der Wirtschaft, Staat gegen Gesellschaft, Volk gegen Einzelmensch und Masse. Die revolutionäre Bewegung beweist sich schon durch ihre Wucht und ihre Blutopfer, daß hier gewaltigere geschichtsbildende Mächte aus dem völkischen Lebensgrunde heraufdrängen, als das wirtschaftliche Gewinnstreben mitsamt seiner technischen Macht je gewesen sind.“ (Krieck 1932, S. 68). 14 Zur idealtypischen Opposition allgemeiner Merkmale von Mythen und klassischen Utopien vgl. die Aufstellung im Anhang.

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Eine Bewertung der Mythen ist letztlich abhängig von der Frage, welche Funktionen dem menschlichen Bewusstsein in der Geschichte zukommen sollen: eine primär erkennende oder eine primär pragmatische, auf das Handeln gerichtete. Im letzteren Fall spielt der Begriff der Lebensdienlichkeit der Mythen eine dominierende Rolle, verstanden als therapeutische Sinngebung für die Bewältigung des menschlichen Lebens.15 In diesem Zusammenhang werden nicht erst heute Mythen als Lebenshilfe zur besseren Daseinsbewältigung im Medium der Vergnügungsindustrie geboten. Ihre Trivialisierung in Kunst und Literatur, in der Werbung und im Film gehört mittlerweile zum Bestandteil einer wohlfeilen „Kritik der Moderne“16. V. Der Marsblick oder: Der Soziologe als Mythenjäger In einer Zeit, da die menschlichen Gesellschaften weltweit erneut von existenzbedrohenden Ismen beherrscht scheinen, ist es angebracht, sich eines zentralen Motivs der Soziologie Norbert Elias’ zu erinnern. Er verweist darauf, dass das uns geläufige Differenzierungsvermögen zwischen lebendigen und nicht lebendigen Dingen erst ein relativ spätes Ergebnis wissenschaftlicher Forschung darstellt. Ein entscheidendes Kennzeichen allen mythischen Denkens sieht Elias „[. . .] darin, daß Gegenständen, von denen wir heute wissen, daß sie unbelebt sind, Eigenschaften lebendiger Wesen zugeschrieben wurden.“17 Während naturwissenschaftliches Denken solchen Anthropomorphismus längst hinter sich gelassen hat, werden soziale Beziehungen schon wegen ihrer Gebundenheit an die unmittelbare Wahrnehmung immer „[. . .] noch weitgehend durch Wunsch- und Furchtbilder, durch Ideale und Gegenideale, kurzum, durch mythisch-magische Vorstellungen bestimmt.“18 Will man eine der Haupttriebfedern der Eliasschen Soziologie bezeichnen, so findet sie in der Frage ihren Ausdruck, „[. . .] warum zwar Menschen in der Lage sind, in bezug auf außermenschliches Naturgeschehen ‚rational‘ zu denken und zu handeln, aber offensichtlich nicht in gleichem Maße imstande sind, sich in bezug auf ihr eigenes gesellschaftliches Zusammenleben ‚rational‘ zu verhalten.“19 Das Zweite Kapitel seiner bereits in 10. Auflage vorliegenden Schrift „Was ist Soziologe?“ trägt die bezeichnende Überschrift: „Der Soziologe als Mythenjäger“20. 15

Zu möglichen Funktionen und Versprechen der Mythen s. Anhang. Vgl. hierzu etwa das mit großem Aufwand betriebene Literatenprojekt zur Belebung antiker Mythen und dessen Programmschrift von Armstrong 2005. 17 Elias 2001, S. 24. 18 Elias 1985, S. 26. 19 Ebd., S. 19. 16

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Etwas vom kühlen diagnostischen Blick Elias’ wäre gerade gegenwärtig vonnöten, wo der Ruf nach Leitbildern, nationaler Identität und neuen Ganzheiten wieder laut wird. Der kritische Humanist kennt zwar „[. . .] das unersättliche Bedürfnis der Menschen nach Gesellschaftsmythen, die den unvergleichlichen Eigenwert der eigenen Nation demonstrieren“21, doch sieht er die Aufgabe soziologischen Denkens nicht in der Bestärkung eines solchen kollektiven Narzissmus, sondern in der genauen Analyse jener gesellschaftlichen Mechanismen, die derartige Bedürfnisse erneut kommerziell und politisch ausbeuten helfen. Anhang Idealtypische Opposition von klassischen (= positiven) Utopien und Mythen (Allgemeine Merkmale) Mythos

Utopie

Analogieverfahren Anti-Subjektivismus Anti-Szientismus Bildhaftigkeit/Symbolizität Dekadenzdiagnostik Emotionalität/affektive Einstellung Ganzheitssehnsucht Gläubigkeit Kritikimmunität Mehrdeutigkeit Nostalgie Pessimistische Anthropologie Romantik Schicksalsglaube Sinnfindung Unbeweisbarkeit Unmittelbarkeit Verewigung von Geschehenem Wiederkehr des Gleichen Zeitlosigkeit Zirkuläres Geschichtsbild

Kausalität Subjektivismus Szientismus Diskursivität Fortschrittsbegriff Rationalität/Kalkül Einheitsstiftung Reflexion/Kritik Kritikoffenheit Eindeutigkeit Zukunftshoffnung Lernfähigkeit Aufklärung Selbstbestimmung Sinnkonstruktion künftige Überprüfbarkeit Vermitteltheit Chronologie Geschehen des Neuen Geschichtsimmanenz Teleologie

20 21

Elias 2004, S. 51–74. Elias 1985, S. 26.

Utopie und Mythos – Zur Differenzierung ihrer Begrifflichkeit Mögliche Funktionen und Versprechen der Mythen Akzeptanzbeschaffung Bindung Entzeitlichung der Geschichte Geborgenheit Gemeinschaftsbildung Heilsversprechen Heroisierung Identitätsstiftung Integration Kompensation Kontingenzbewältigung Lebenshilfe Legitimitätsbegründung Loyalitätserzeugung Ordnungsversprechen Orientierung Prioritätensetzung Reduktion der Komplexität Ritualisierung Sakralisierung der Vergangenheit Selbstdarstellung Sinndeutung, -findung, -gebung Tröstung Versinnbildlichung Wegweisung Weltdeutung Wir-Gefühl

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Literatur Armstrong, Karen, Eine kurze Geschichte der Mythen, Berlin 2005 (zitiert: Armstrong 2005). Blumenberg, Hans, Arbeit am Mythos, Frankfurt/Main 1996 (zitiert: Blumenberg 1996). Cassirer, Ernst, Vom Mythus des Staates, Zürich 1949 (zitiert: Cassirer 1949). – Philosophie der symbolischen Formen, 8. Aufl. Zweiter Teil: Das mythische Denken, Darmstadt 1987 (zitiert: Cassirer 1987). Conze, Eckart, Unsere Sicherheit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.10.2005, Nr. 253, S. 11 (zitiert: Conze 2005). Elias, Norbert, Humana conditio, Frankfurt/Main 1985 (zitiert: Elias 1985). – Symboltheorie, Frankfurt/Main 2001 (zitiert: Elias 2001). – Was ist Soziologie?, 10. Aufl., Weinheim/München 2004 (zitiert: Elias 2004). Hardtwig, Wolfgang, Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters, Göttingen 2005 (zitiert: Hardtwig 2005). Hübner, Kurt, Die Wahrheit des Mythos, München 1985 (zitiert: Hübner 1985). Krajick, Kevin, Die Geister im Stein, in: Süddeutsche Zeitung, 4.11.2005, Nr. 254, S. 13 (zitiert: Krajick 2005). Krieck, Ernst, Nationalpolitische Erziehung, 3. Aufl., Leipzig 1932 (zitiert: Krieck 1932). Lenk, Kurt, Das Elend des Anti-Utopismus, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte (2005), Heft 4, S. 33 ff. (zitiert: Lenk 2005). Martini, Winfried, Das Ende aller Sicherheit. Eine Kritik des Westens, Stuttgart 1954 (zitiert: Martini 1954). Meyers Lexikon, Stichwort: Mythos, Bd. 8, Spalte 29, Leipzig 1940 (zitiert: Meyers Lexikon 1940). Münkler, Herfried/Storch, Wolfgang, Siegfrieden. Politik mit einem deutschen Mythos, Berlin 1988 (zitiert: Münkler/Storch 1988). Schmitz-Berning, Cornelia, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin/New York 1998 (zitiert: Schmitz-Berning 1998). Shalev, Zeruya, Späte Familie (Roman), Berlin 2005 (zitiert: Shalev 2005). van Voss/van Stolk, Norbert Elias über sich selbst, Frankfurt/Main 1990 (zitiert: van Voss/van Stolk 1990).

Über den Zusammenhang von Zivilreligion und normativer Integration Gerhard Göhler Richard Saage hat in seinen großen Arbeiten über utopisches Denken immer wieder betont, dass auch das Nicht-Reale, gerade weil es jenseits des immanent Erreichbaren in unseren politischen Gemeinwesen steht, eine unverzichtbare Rolle spielt, um sich über die Maßstäbe einer angemessenen politischen Ordnung klar zu werden.1 Deshalb sei hier ein Spagat gewagt. Auch der Bezug auf Religion in der Politik ist der Bezug auf eine andere Dimension, auf das Göttliche, Numinose, welches den Menschen real nicht zugänglich ist, ideal aber einen starken Maßstab für die Gestaltung unserer Welt setzt. In beiden Fällen, der Utopie wie der Religion, handelt es sich um einen ähnlichen Zusammenhang. Zwar sind die beiden Zusammenhänge nicht einfach gleichzusetzen, denn der Religion ist das von Saage für Utopien immer wieder betonte Element der Kritik an bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen2 nicht unbedingt inhärent (wenn auch nicht ausgeschlossen). Trotzdem ergibt sich für Utopie wie für Religion die gemeinsame Frage, welche Funktion das Nicht-Verfügbare – sei es ein gegenübergestelltes oder ein transzendentes Jenseits – für die Politik nun eigentlich spielen mag. Für die Utopie liegt die Antwort bei Richard Saage, für die Religion will ich einige Überlegungen beitragen. Warum aber ausgerechnet Religion? Religiöse Fragen haben in bisher ungeahntem Ausmaß wieder politische Aufmerksamkeit erlangt. Für die Erweiterung Europas wurde intensiv über die Rolle der Religion und ihren Einbezug in die Verfassung diskutiert. Seit dem 11. September 2001 („Nine-Eleven“) ist der Zusammenhang von islamisch-religiösem Fundamentalismus und Terrorismus ein permanentes Thema, und im Gegenzug gilt es die religiöse Fundierung des amerikanischen Konservatismus und die 1

Saage 2001–2003. Utopien stellen „fiktive Wunsch- oder Furchtbilder von Sozietäten dar, die den kritisierten Fehlentwicklungen ihrer Herkunftsgesellschaft als Alternative gegenübergestellt werden.“ (Saage 2001–2003, Bd. 3, S. 2). 2 „Ohne die antithetische Konfrontation des utopischen Ideals mit dem, was kritikwürdig erscheint, verlöre die klassische Utopie ihre Identität, weil erst aus dieser Gegenüberstellung der Realitätsbezug des utopischen Denkens folgt.“ (Saage 2001–2003, Bd. 4, S. 6).

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Politik des Präsidenten George W. Bush irgendwie zu begreifen. Sogar die ungeheure Aufmerksamkeit, welche die Krankheit und der Tod von Papst Johannes Paul II. und die Wahl seines Nachfolgers gefunden haben, mag auf ein neuartiges Interesse an der Religion zurückzuführen sein.3 In den 60er, 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gingen die eindringlichen Warnungen von Robert Bellah vor einem Verlust der religiösen Fundamente der amerikanischen Gesellschaft nur wenigen unter die Haut.4 Heute ist Religion – so scheint es – auch für die Politik wieder en vogue. Für die Politikwissenschaft, die sich um das Verhältnis von Religion und Politik lange Zeit nur am Rande gekümmert hat, wäre ein Desinteresse an Religion heute geradezu sträflich. Dies zugegeben, was folgt aber daraus? Lässt sich auch bei genauerem Hinsehen noch ein Bedeutungsgehalt der Religion für die Politik ausmachen, der von der Wissenschaft bisher übersehen wurde? Das Verhältnis von Religion und Politik ist jetzt vor allem deshalb ins Visier geraten, weil sich die Politik angesichts der Bedrohungsszenarien des Terrorismus auch mit religiös motivierten Verhaltensweisen auseinandersetzen muss, denen die säkularisierten Gesellschaften ein besonderes Angriffsziel bieten. Gewissermaßen als Nebenprodukt ist damit auch die Bedeutung der Religion für die Politik innerhalb dieser Gesellschaften wieder zum Thema geworden.5 Aber ihr Stellenwert ist heutzutage durchaus nicht mehr so offenkundig wie in den konfessionellen Bürgerkriegen früherer Jahrhunderte. Der historische Prozess der Säkularisierung ist im Westen inzwischen unumkehrbar, und im Ergebnis ist Religion eine private Angelegenheit der Bürger geworden, die vom Staat lediglich toleriert und geschützt wird. Institutionelle Verbindungen zwischen Religion und Politik, wie sie insbesondere in Deutschland für den Status der Kirchen charakteristisch sind, erscheinen da schon eher als eine Ausnahme und etwas anachronistisch. Wo also liegt nun der Zusammenhang zwischen Politik und Religion, wenn Staat und Politik in das private Seelenheil nicht einbezogen werden, Religion aber nach wie vor für die Politik als eine Macht sui generis auftritt? In modernen säkularen Gesellschaften – so meine Grundannahme – besteht die Verbindung von Religion und Politik in der Zivilreligion. Mit die3

So Rüdiger Schaper im Kulturteil des Berliner Tagesspiegel v. 24.4.2005. Bellah 1967, 1978, 2003. In Deutschland ist dazu der Sammelband von Kleger/ Müller 1986 erschienen, der zur Theoriebildung zuvor publizierte Aufsätze von Luhmann und Lübbe aufnimmt. Luhmann bettet Zivilreligion in sein systemtheoretisches Konzept funktionaler Differenzierung ein (Luhmann 1979), Lübbe spitzt in Reaktion auf Bellah den Begriff der Zivilreligion auf die Funktion eines Liberalitätsgaranten für den Staat zu (Lübbe 1981, vgl. auch Lübbe 2001). 5 Vgl. dazu beispielhaft: Stein 2004, 2005. 4

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sem Konzept müsste sich der aktuelle Stellenwert der Religion für die Politik einschlägig bestimmen lassen. Freilich ist „Zivilreligion“ lediglich ein theoretischer Begriff, um Zusammenhänge aufzuzeigen, die als solche selbst kaum sichtbar sind. Sie wird vor allem von Theoretikern wie Rousseau, Tocqueville oder Bellah beschworen. Als eigenständiges Wesen, welches historisch identifizierbar ist, tritt Zivilreligion nicht auf, der Tugendkult der Französischen Revolution ist eine der wenigen kurzlebigen Ausnahmen. Trotzdem hat Religion heute, wie es scheint, eine spezifische Bedeutung für die Politik, indem sie selbst als „zivil“ auftritt. Zivilreligion ist jene Form der Religion, die ein Gemeinwesen als Bürgerschaft – traditionell bezeichnet als societas civilis sive politica – am Leben erhält. Das „Zivile“ in der Zivilreligion ist die politische Dimension der Religion. Diese Dimension ist viel grundsätzlicher von Bedeutung als die jeweilige Institutionalisierung der Religion im Gemeinwesen durch Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften, die im öffentlichen Bereich mit anderen Interessengruppen um Einfluss konkurrieren. Zivilreligion bezeichnet die Mitte zwischen Religion und Politik in modernen säkularisierten Gesellschaften, sie ist das Bindeglied zwischen Religion und Politik. Das mag allein schon von der Wortbedeutung her einleuchten. Was allerdings unter Zivilreligion des näheren zu verstehen ist, auf welche Weise und zu welchem Zweck sie Religion und Politik miteinander verbindet, ist weit weniger klar und der Diskussion über Zivilreligion nicht so einfach zu entnehmen. Ich versuche daher, zu einem einigermaßen systematischen Verständnis des Begriffs zu gelangen und auf dieser Grundlage den Zusammenhang zwischen Religion und Politik vermittelt durch Zivilreligion näher zu bestimmen. Dabei erörtere ich zunächst, was Zivilreligion überhaupt meint und wozu sie dienen mag (1). Insbesondere gehe ich der Überlegung nach, dass Zivilreligion den Zusammenhang zwischen Religion und Politik vornehmlich deshalb herstellt, weil sie als Faktor politischer Integration wichtig, vielleicht sogar unverzichtbar ist (2). Hier besteht allerdings ein Spannungsverhältnis von Funktionalität und substantieller Grundlage der Zivilreligion; das daraus resultierende Dilemma ist besonders augenfällig bei der europäischen Integration und stellt sich aktuell in der Diskussion um die Erweiterung der Europäischen Union (3). I. Was meint und wozu dient Zivilreligion? Am leichtesten ist es, Zivilreligion ganz neutral zu definieren. Zivilreligion ist dann ein soziologischer Begriff: „A civil religion is a set of beliefs and attitudes that explain the meaning and purpose of any given political society in terms of its relationships to a transcend-

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ent, spiritual reality that are held by the people generally of that society and that are expressed in public rituals, myths, and symbols.“6

Auf diese Weise lässt sich unter dem Stichwort „Zivilreligion“ ganz unproblematisch empirisch untersuchen, welche religiösen Einstellungen in der Gesellschaft vorherrschend sind und wie sie öffentlich sichtbar werden. Aber eine solche Definition macht noch keine Angaben darüber, was Zivilreligion für die Politik bedeutet, welche Funktion sie erfüllen soll und kann. Dazu ist die politische Dimension von Zivilreligion viel schärfer zu fassen, und dann wird es schwieriger. Klassisch und für ein politiktheoretisches Verständnis grundlegend ist die Erörterung der Zivilreligion, die Rousseau an den Abschluss seines Contrat social stellt: „Zivilreligion (religion civile) ist ein „rein bürgerliches Glaubensbekenntnis, dessen Artikel festzusetzen dem Souverän zukommt, nicht regelrecht als Dogmen einer Religion, sondern als Gesinnung des Miteinander, ohne die es unmöglich ist, ein guter Bürger und ein treuer Untertan zu sein.“7

Ein solchermaßen geschärftes Verständnis von Zivilreligion fragt nicht so sehr nach dem Vorhandensein religiöser Einstellungen und Ausdrucksformen in der Gesellschaft. Vielmehr wird ein spezifisch unspezifisches Glaubensbekenntnis verlangt, welches unabdingbar ist für einen guten Bürger und sogar auch für einen guten Untertan. Da stellen sich zwei Fragen: – Warum ist ein ziviles „Glaubensbekenntnis“ erforderlich, also eine Inanspruchnahme der Religion für ein Gemeinwesen, auch wenn dieses selbst nicht religiös fundiert ist? – Zu welchem Zweck und in welcher Weise wird dabei auf Religion zurückgegriffen? Grundsätzlich haben wir davon auszugehen, dass das Selbstverständnis einer jeden Gesellschaft stets auch durch ihren Bezug zur Transzendenz bestimmt ist.8 Diese Feststellung erscheint aus der Perspektive moderner säkularisierter Gesellschaften als höchst unbequem, weil Religion nach wie vor in Rechnung gestellt werden muss. Es fällt heute allerdings leichter, so zu argumentieren, als in früheren Zeiten der Moderne, in denen das Problem der Religion für die Politik dadurch gelöst zu sein schien, dass Politik sich grundsätzlich aus religiösen Auseinandersetzungen herauszuhalten hatte. Heute machen die vielfältigen Erfahrungen des religiösen Fundamentalismus deutlich, dass der Neutralitätsanspruch der Politik nicht ausreicht. Sie 6

West 1980, S. 39. Rousseau 1762, 4. Buch, Kap. 8. 8 Vgl. dazu das Werk von Eric Voegelin und sein Konzept der „Ziviltheologie“: Voegelin 1938 und 1966. Den systematischen Bezug zur neueren Diskussion über Zivilreligion stellt Gebhardt 1987 her. 7

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muss sich stets mit Religion auseinandersetzen. Dabei hat sie es vordergründig vor allem mit negativen Erfahrungen der Irrationalität und des Fanatismus zu tun, was ihrem klassisch-modernen Verständnis, religiöse Extreme abzuwehren, durchaus noch entgegenkommt. Aber zugleich stellt sich dabei die Frage, ob nicht solch negative Erfahrungen nur wieder den tiefer liegenden Sachverhalt in Erinnerung rufen, dass Politik und Religion grundsätzlich miteinander verbunden sind. Und dann kann der Zusammenhang von Politik und Religion auch ein ganz anderer sein, der positiv zu bestimmen ist. Solange ein Gemeinwesen – wie es für vormoderne Zeiten kennzeichnend war – seine Legitimation ausdrücklich aus der Transzendenz gewinnt, sind Politik und Religion direkt aufeinander bezogen. Der Suprematsanspruch liegt bei der Religion, und Politik kann nur vorsichtig versuchen, sich zu emanzipieren, sofern sie es überhaupt im Grundsatz und nicht nur aufgrund persönlicher Machtkämpfe will. Das ist die Auseinandersetzung von imperium und sacerdotium im Mittelalter. Erst mit der sich ausbildenden Form des neuzeitlichen Staats einerseits, der konfessionellen Codierung der christlichen Religion seit der Reformation andererseits ergibt sich eine neue Konstellation. Angesichts der leidvollen Erfahrungen konfessionell bedingter Bürgerkriege setzt sich der neuzeitliche Staat als Ordnungsmacht zunehmend durch und erzwingt letztlich die Trennung von Politik und Religion. Religion soll nun in die politischen Auseinandersetzungen nicht mehr direkt involviert sein, sie ist tendenziell zur Privatsache geworden. Aber damit ist sie nicht verschwunden. Zum einen greift sie durch ihre Institutionen, die Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften, nach wie vor in das politische Geschehen ein. Zum anderen – und das ist der Aspekt, dem hier vor allem nachzugehen ist – kann Politik grundsätzlich auf Religion nicht verzichten, auch wenn und gerade wenn diese zur Privatsache geworden ist. Offensichtlich benötigt sie auch in Zeiten der Säkularisierung eine wie auch immer geartete Form der Religion. Das eben ist „Zivilreligion“: Religion wirkt hier nicht mehr als Bekenntnis in der Perspektive des Seelenheils, sondern als Selbstvergewisserung der Bürgergesellschaft über verbindende Grundlagen des Gemeinwesens in einer Situation, wo Gesellschaft und Staat mehr und mehr auseinander treten. Im Zuge dieser Entwicklung erhält sie zwar nicht als ein rein religiöser, wohl aber als ein gleichermaßen bürgerlicher und religiöser Glaubensinhalt eine wichtige, möglicherweise unverzichtbare Funktion für das Gemeinwesen. Vom Zweck der Religion für die Menschen – nämlich das Seelenheil zu erlangen – setzt sich Zivilreligion zu einem rein diesseitigen Zweck ab, ohne das Religiöse selbst aufzugeben. Was ist dieser Zweck? Religion kann für das Gemeinwesen entweder substantiell und funktional oder nur funktional von Bedeutung sein. In beiden Fällen wird die Religion für das Gemeinwesen in Dienst genommen, in

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beiden Fällen erhält sie eine politische Funktion, aber es geht doch um ganz Verschiedenes. Entweder ist Religion schlechthin grundlegend für Politik, oder sie dient der Politik nur in einem ganz bestimmten Sinn. So können wir von folgender Alternative ausgehen: – Entweder ist Religion für die Politik substantiell und funktional zugleich. In diesem Fall hat das Gemeinwesen seinen Legitimationsgrund in einer Transzendenz, die bestimmt ist durch die Art des Bekenntnisses. Die Funktion der Religion ist hierbei exklusiv; sie und nur sie als ein bestimmtes Bekenntnis erbringt die Legitimation des Gemeinwesens (Legitimationsleistung der Religion). – Oder die Religion ist für die Politik nur funktional: Die Religion präsentiert Werte und gibt Verhaltensweisen vor, welche dazu dienen, die Bürger in das Gemeinwesen zu integrieren (Integrationsleistung der Religion). Das spezifisch religiöse Bekenntnis der Bürger kann durchaus unterschiedlich sein, solange es die gemeinsamen Werte, die dem Gemeinwesen zugrunde liegen, nicht in Frage stellt. Für das Gemeinwesen geht es allein darum, die religiösen Motive seiner Mitglieder soweit in Anspruch zu nehmen, wie sie für die gemeinsamen Angelegenheiten, also politisch, unmittelbar von Nutzen sind. So wird hier zumeist von einem eher unspezifischen Glaubensbekenntnis ausgegangen – bei Rousseau z. B. ist es vor allem der Glaube an Gott und die Göttlichkeit der vom Souverän gegebenen Gesetze.9 Angesichts der Trennung von Politik und Religion im säkularisierten westlichen Staat sollte für die Politik allenfalls noch die Integrationsleistung der Religion eine Rolle spielen. Genau dies meint „Zivilreligion“. Aber so einfach ist das alles nicht. Der Legitimationsgrund eines Gemeinwesens, und ausdrücklich auch der Legitimationsgrund der Demokratie, liegt außerhalb ihrer eigenen Verfügungsmacht, kann also vom bestehenden Gemeinwesen nicht selbst geliefert, sondern von ihm nur aufgenommen und lebendig erhalten werden. Das Gemeinwesen ist also immer auf eine externe Instanz angewiesen, von dem es die Maßstäbe seiner Wertigkeit, seine Geltungsgründe, erhält.10 Eine privilegierte Instanz in der Moderne ist die autonome menschliche Vernunft. Aber auch die Religion ist eine solche externe Instanz. Sie mag unmittelbar und ausschließlich oder vermittelt und 9

Vgl. Rousseau 1762, 4. Buch, Kap. 8. So das berühmte Diktum von Böckenförde: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“ (Böckenförde 1967, S. 112). Lübbe verbindet dies explizit mit Zivilreligion: „Zivilreligion ist dann [. . .] die Form, in der sich das politische System und dann speziell auch der Staat selbst auf diese Voraussetzungen, von denen erlebt, ohne sie garantieren zu können, ausdrücklich zurück bezieht.“ (Lübbe 1981, S. 57). 10

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in Konkurrenz mit anderen Legitimationsquellen als Grundlage dienen. Der erste Fall führt zur Theokratie, er ist aus historischer Erfahrung obsolet und braucht hier nicht weiter verfolgt zu werden. Der zweite Fall ist ein Produkt der Säkularisierung, Religion wird für das Gemeinwesen zur Zivilreligion. Religion kann nicht mehr selbst und vollumfänglich der Legitimationsgrund sein, denn aus ihren Dogmen lässt sich ein weltanschaulich neutrales Gemeinwesen nicht begründen. Trotzdem bleibt der Mechanismus der religiösen Hinwendung so wichtig, dass das Gemeinwesen auf sie nicht verzichten kann. Religion geht nicht verloren; was für das Gemeinwesen wichtig ist, geht aus der Religion in säkularisierter Form mit ein. Damit beginnen allerdings sogleich die Probleme. Einerseits wird Zivilreligion zu einem ganz weiten Feld. Es gibt keinen Kanon dafür, welche Spezifika der Religion auch eine zivile Funktion erfüllen können und sollen – die Auswahl ist kulturell geprägt und wird politisch entschieden. Andererseits aber bringt Zivilreligion mit den spezifischen Mechanismen der Religion, ganz gleich wie sie aussehen und welche auch immer aktiviert werden, stets auch die aus den religiösen Inhalten resultierenden Hypotheken für die Gesellschaft mit ein. Damit ist Zivilreligion ein durchaus zwiespältiges Produkt der Säkularisierung. Zivilreligion ist die Indienstnahme der Religion für ein säkularisiertes Gemeinwesen. Hieraus ergibt sich ein Spannungsverhältnis. Einerseits bleibt Religion der Hintergrund in Form einer festen Wertorientierung, von der nicht zu abstrahieren ist. Die spezifischen Glaubensinhalte der Religion werden nicht gleichgültig. Andererseits geht es der Zivilreligion nicht um das private Seelenheil, sondern um den Beitrag der Religion zu den Geltungsgründen für ein modernes Gemeinwesen. Sie wird zur Basis für die Integration der Bürger in dieses Gemeinwesen in Form der Orientierung auf allgemein verpflichtende Werte. Dafür ist nun wiederum über konfessionelle und kirchliche Begrenzungen hinaus eine Breite des Religiösen erforderlich, die prinzipiell alle Mitglieder des Gemeinwesens anspricht. Moderne Konflikte über Europa, z. B. die Frage der Aufnahme der Türkei in die EU, machen dieses Spannungsverhältnis von substantieller und funktionaler Komponente der Zivilreligion sehr deutlich; ich komme später darauf zurück. Zunächst frage ich unter diesen Voraussetzungen nach dem Zusammenhang von Zivilreligion und politischer Identität – was ich nun präzisiert verstehe als die Frage nach der Integrationsfunktion der Zivilreligion im modernen Gemeinwesen.

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II. Die Integrationsfunktion der Zivilreligion Integration kann technisch oder normativ verstanden werden, sie hat stets zwei Dimensionen.11 Technisch bedeutet Integration die Herstellung gleicher Bedingungen für individuelle Handlungsabläufe und ihre Ausrichtung auf gemeinsame Vorgaben hinausgehend über eine spezifische Gruppenidentität (so die Integration von Ausländern in Deutschland oder die Vereinheitlichung unterschiedlicher nationalstaatlicher Regelungen in der europäischen Integration). Normativ (im Sinne von Parsons12) bedeutet Integration die Einfügung der Bürger in das Wertesystem des Gemeinwesens durch gemeinsame Orientierung. Diese Integration gelingt, wenn die Bürger das Gemeinwesen als das ihre erkennen und akzeptieren. Integration entsteht also dadurch, dass das Gemeinwesen mit seinen Werten für die Bürger in ihren eigenen Wertvorstellungen und Handlungsorientierungen hinreichend präsent ist, so dass ein Minimum an gemeinsamer Hinwendung zu einem Bestandteil der individuellen Motivation wird. Dies ist nur möglich, wenn das Gemeinwesen jene grundlegenden Werte und Normen, die auch diejenigen der Bürger sind, ihnen gegenüber stets aufs Neue sichtbar zum Ausdruck bringt, Auf diese symbolische Weise wird eine gemeinsame Orientierung angeboten.13 Es ist wichtig zu sehen, dass gemeinsame Orientierung, wenn überhaupt, nur über Symbole gelingen kann, denn es ist nicht anzunehmen, dass alle Bürger die gleichen Wertvorstellungen haben. Symbole sind nie eindeutig, sondern stets unterschiedlich interpretationsfähig, und so sind es auch die symbolisch dargestellten Werte des Gemeinwesens. Allein der symbolische Charakter der normativen Integration gibt die Bedingung, dass auch in einer fragmentierten Gesellschaft eine normative Integration erfolgen kann. Die Interpretationsfähigkeit symbolisch repräsentierter Werte erlaubt es, dass gemeinsame Werte bis zu einem hohen Grad unterschiedlich aufgefasst werden können, so dass ein pluralistisches Gemeinwesens fragmentierte Wertvorstellungen der Bürger nicht nur tolerieren kann, sondern bis zu einem gewissen Grad auch auf ihnen aufruht. Die Integrationsfunktion der Zivilreligion, nach der nun zu fragen ist, liegt im Bereich der normativen Integration. Kann Zivilreligion normativ 11

Zu dieser Unterscheidung vgl. Göhler 1997, 2000. Der Term „normativ“ ist doppeldeutig. Zum einen meint er die Bezugsetzung auf Normen (vgl. Parsons, der normative Integration als Ausrichtung der Bürger auf die normativen Gehalte des Gemeinwesens fasst), zum anderen die Argumentation auf der Ebene und vermittels von Normen über das, was „sein soll“. Hier geht es um das erstere. 13 Noch immer grundlegend für diese in den Sozialwissenschaften häufig nicht beachtete Seite der Integrationstheorie ist Smend 1928, hier insbesondere S. 142– 166. Zum hier zu Grunde gelegten Symbolverständnis vgl. Göhler 1997, 2005. 12

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integrieren und auf welche Weise? Zunächst ist es unumstritten, dass Religion ganz generell als wichtiger Integrationsfaktor im Gemeinwesen auftritt. Viele Gemeinwesen in der Welt waren und sind vornehmlich religiös integriert. Aber die Integrationsleistung der Religion ist zugleich auch hoch problematisch. Ich komme damit auf meine historischen Überlegungen zur Herausbildung von Zivilreligion zurück: Wie hat sich die Integrationsfunktion der Religion zur Form der Zivilreligion entwickelt? Religion hat sich für Europa spätestens in der Neuzeit vor allem als ein Faktor der Desintegration erwiesen. Bereits um abweichende konfessionelle Lehrinhalte wurden Glaubenskriege geführt, nicht-christliche Religionen wie etwa das Judentum oder der Islam wurden radikaler als andernorts ausgegrenzt, unterdrückt und vertrieben. Religion, weil in sich zerstritten und ohne Dominanz eines bestimmten Glaubensinhaltes, war kein Integrationsfaktor mehr; vielmehr wurde es nun die Aufgabe der Politik in Form des neuzeitlichen Staates, das desintegrativ gewordene Potential der Religion zu bändigen. Der Staat, der zunächst ein einziges und für alle verbindliches Glaubensbekenntnis durchsetzte („cuius regio eius religio“), später die Religion mehr und mehr zur Privatsache erklärte, löste die Religion als entscheidende Integrationsinstanz ab. Die Religion allein und aus eigenem Ursprung konnte nicht mehr als Integrationsfaktor dienen. Aber der Staat konnte sich unter neuen Bedingungen ihr Integrationspotential zunutze machen. Mit der sich durchsetzenden Säkularisierung ging die der Religion verbleibende normative Integrationsleistung zunehmend in die Form der Zivilreligion über. In modernen säkularisierten Staaten, insbesondere in den Vereinigten Staaten von Amerika und im revolutionären und Napoleonischen Frankreich, konnte Religion in Form der Zivilreligion zum Integrationsfaktor werden, weil sie es erlaubt, auf religiöse Werte zurückzugreifen, sie zugleich aber – im Gegensatz zu konfessionsbedingten Ausprägungen – mehr oder minder abgeschwächt so unspezifisch zu halten, dass ihre Werte für das Gemeinwesen insgesamt in Anspruch genommen werden können. Zivilreligion, die bereits von Hobbes zur Überwindung der Glaubenskriege in einem starken Staat propagiert14 und von Rousseau für ein vereintes Gemeinwesen als unabdingbar angesehen wurde, ist religiös gesehen merkwürdig unbestimmt. Was von der Religion in Form der Zivilreligion als Integrationsfaktor übrig blieb, war eine abgeblasste Minimierung religiöser Glaubensinhalte als Richtwert für das Gemeinwesen. Das konnte sich ganz unterschiedlich entwickeln. In den USA ist Zivilreligion eine christliche Fundierung der Verfassung, in Frankreich hat angesichts der strikten Trennung von Staat und Religion das Prinzip der laicité den Charakter einer Zivilreligion angenommen,15 weil sie mit denselben Mechanismen operiert. 14 15

Hobbes 1651, Kap. 12, 31, 38, 39, 43. Für diesen eher überraschenden Befund: Willaime 1986, S. 154.

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Dem gehe ich hier nicht weiter nach, sondern frage sogleich und verschärft nach der Bedeutung der Zivilreligion für die europäische Integration, weil die Probleme der Zivilreligion als Integrationsfaktor hier besonders deutlich werden. III. Zivilreligion als Faktor der europäischen Integration und ihr Dilemma Zunächst gilt es festzuhalten, welcher Problemstand erreicht ist. Sind die vorgetragenen Überlegungen nachvollziehbar, so ist Zivilreligion als Integrationsfaktor auch für Europa, wie immer man es als Gemeinwesen verstehen mag, unverzichtbar: nicht nur weil Religion für Europa eine wichtige Rolle gespielt hat und vermutlich immer noch spielt – sondern vor allem auch deshalb, weil Religion nur in der Form einer allgemeinen Zivilreligion gegen exklusive fundamentalistische Religionsverständnisse gestellt werden kann, welche der normativen Integration entgegenstehen. Aber diese Indienstnahme ist auch noch in der Form der Zivilreligion nicht unproblematisch. Die rein funktionale Komponente der Zivilreligion – ihre Integrationsleistung – lässt sich nicht ohne Bezug auf die unmittelbar mit ihr verbundene substantielle Komponente – die religiöse Legitimation – in Anspruch nehmen. Dieser Bezug ist höchst spannungsreich. Funktional gesehen muss Zivilreligion möglichst weit gefasst sein, um ganz unterschiedliche Glaubensinhalte zu integrieren,16 hier ist sie inklusiv. Substantiell gesehen ist Zivilreligion dagegen exklusiv. Sie verliert mehr und mehr an normativer Kraft, je weiter und vager sie gefasst ist – darf sie doch ihren Exklusivitätsanspruch nicht aufgeben, um religiös noch ernst genommen zu werden. Das Dilemma zeigt sich bereits sehr deutlich in den Auseinandersetzungen um einen Gottesbezug im europäischen Verfassungsvertrag, und es wird schier unlösbar in der Frage des Beitritts der Türkei in die europäische Union. In einer europäischen Verfassung macht die Inanspruchnahme des Glaubens an Gott für die überwiegende Mehrzahl religiös motivierter und traditionsbewusster Bürger Europas also nur Sinn, wenn der christliche Gott der Adressat der Anrufung ist. Ohne christliche Substanz entfällt die religiöse Legitimationsgrundlage. Funktional dagegen muss der Gottesbezug, wenn er denn als Integrationsfaktor wirksam sein soll, möglichst für alle Auffassungen von Gott akzeptabel, also möglichst weit gefasst sein und auch nicht-christliche Gottesvorstellungen mit einbeziehen, insbesondere wenigs16 Lübbe nennt dies die Bedingung der „Universalkonsensfähigkeit“ (Lübbe 1981, S. 202).

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tens perspektivisch den Islam. Einerseits werden religiöse Legitimationsressourcen zur normativen Integration benötigt, andererseits haben sie eine ganz spezifische Substanz, die zur Integration wenig taugt, denn die Gottesvorstellungen sind durchaus unterschiedlich. Die Schwierigkeit lässt sich auch nicht einfach mit dem Argument beiseite schieben, angesichts der Säkularisierung moderner Gesellschaften könne bestenfalls ein Gottesbezug eingeführt werden, der ganz unspezifisch für alle Beteiligten, so sie denn religiös motiviert seien, akzeptabel ist. Das wird einerseits von nicht-religiösen Gruppen schwerlich akzeptiert, löst aber andererseits auch die Schwierigkeit, für religiöse Gruppen eine hinreichende Identifikation für ihren Glauben anzubieten. Offensichtlich reicht es einfach nicht aus, die substantielle Bedeutung von Zivilreligion auf sich beruhen zu lassen und sich allein für ihre funktionale Bedeutung zu interessieren. Wenn wir davon ausgehen müssen, dass eine Gesellschaft stets auch auf externe Instanzen, also auf Transzendenz hin ausgerichtet ist, so muss sie sich zu ihr auch verhalten. Dann bleibt aber die Schwierigkeit bestehen, sich auf die substantiellen Grundlagen der Religion zu verständigen, von denen die Gesellschaft in Form der Zivilreligion funktional ausgehen soll. Die substantielle und die funktionale Komponente, so scheint es, sind nicht auf einen Nenner zu bringen. Noch schärfer und von unmittelbarer Bedeutung für die praktische Politik stellt sich das religiöse Integrationsproblem in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen um den Beitritt der Türkei in die EU. Was ist die Messlatte für ein vereinigtes Europa: – christliche Werte, die ernst genommen den Islam ausschließen, bestenfalls tolerieren – nicht aber integrieren – oder – eine allgemein religiöse Auffassung der Zuwendung zu einem höheren Wesen, welches in keiner Weise mehr spezifiziert werden darf? Die zweite Auffassung ist kaum mehr kompatibel mit der Vorstellung einer christlich geprägten europäischen Kultur. Dieses Dilemma, das sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen der substantiellen und der funktionalen Dimension der Zivilreligion ergibt, erscheint mir derzeit nicht auflösbar. Es markiert vielmehr eine Krise der europäischen Identität, die sich aus der Erweiterung der EU nahezu zwangsläufig ergibt. Im Gegensatz zu allen substantiellen Fundierungen taugen funktional nur diejenigen religiösen Werte zur Integration, die zugleich auch religionsübergreifend und damit realistisch anschlussfähig sind für alle (potentiellen) Mitglieder der EU. Das allerdings können nur Werte mit universalem Geltungsanspruch sein. Ihnen stehen alle religiösen Bedürfnisse entgegen, die in der modernen Gesellschaft durchaus spezifisch sind und ei-

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gentlich nur Minderheitenschutz beanspruchen können, (selbst wenn sie ihrerseits einen missionarischen Universalitätsanspruch geltend machen). Da Religion nicht ausgeklammert werden kann, aber auch nicht auf die christliche Option verengt werden darf, können integrierend nur diejenigen Werte wirken, die zwar religiös fundiert, zugleich aber religionsübergreifend sind. Werte müssen es allemal sein, um normative Integration vermittels von Symbolen zu bewirken. Wenn aber nun Werte mit Geltungsanspruch für alle Beteiligten verlangt sind, die aber zugleich mit spezifischen religiösen Bedürfnissen in Einklang gebracht werden sollen, so erscheint dieses Problem nur lösbar, wenn der Kreis der Beteiligten auf ein zivilreligiöses Integrationspostulat ausgerichtet werden kann. Das führt auf eine schlichte Alternative: Entweder es wird, weil eine solche Ausrichtung nicht gelingen kann, auf zivilreligiöse Integration überhaupt verzichtet. Oder es wird eine Formel gefunden, die unterschiedlichen Religionen, analog zu früheren christlichen Konfessionen, gleichermaßen eine – religiöse – Identifikationsmöglichkeit mit dem (europäischen) Gemeinwesen bietet. Die erste Alternative wäre angesichts der hier vorgetragenen Überlegungen außerordentlich misslich. Die zweite Alternative bedarf der Zustimmung aller Betroffenen, was vermutlich utopisch ist. Bleibt also nur der Ausschluss des Islam aus einem vereinigten Europa? Die Antwort wird unterschiedlich ausfallen müssen, je nach dem wie hoch der Stellenwert einer Integration durch Zivilreligion für ein europäisches Gemeinwesen veranschlagt wird.

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III. Demokratie

Moralismus im Zeitalter der Heuschrecke Vom Verlust kritischen Denkens in den öffentlichen Debatten über den Kapitalismus Franco Zotta In einem als Polemik überschriebenen Essay auf der Titelseite der Wochenzeitung DIE ZEIT empörte sich der Redakteur Ulrich Greiner unlängst über die Schamlosigkeit in den Führungsetagen großer Unternehmen.1 Greiners Unmut speist sich aus der Beobachtung, dass eine ehemals eherne Regel kapitalistischen Wirtschaftens – die Rücksicht auf das Gemeinwohl – ihre Gültigkeit verloren habe. „Wenn ein Unternehmen Verluste macht, lautet die Antwort: Entlassungen. Wenn ein Unternehmen Gewinn erzielt“, konstatiert Greiner nunmehr mit Erstaunen, „lautet die Antwort neuerdings erst recht: Entlassungen.“ Das Geschäftsgebaren börsennotierter Großkonzerne, die in einem Atemzug Rekordgewinne und Massenentlassungen verkünden, deutet Greiner als sichtbarstes Indiz für einen fundamentalen Wechsel im Selbstverständnis kapitalistischer Ökonomien. Greiner verdeutlicht diesen Wechsel in einer Art Ikonographie des Kapitalisten. An die Stelle des Zigarre rauchenden Unternehmenspatriarchen von einst, der wirtschaftliches Kalkül mit philanthropischem Tun zu verbinden wusste, ist heute der kühl kalkulierende und global agierende Manager getreten, dem jede Form von Gemeinwohlorientierung fremd ist. Greiners Typologisierung dieser neuen Kapitalisten, die er in Anlehnung an eine gleichnamige Studie des US-amerikanischen Soziologen Christopher Lasch als „blinde Elite“ bezeichnet, fußt auf soziologischen Beobachtungen, die er in eigentümlicher Weise kombiniert mit moralischen Werturteilen: „Gestählt in den Ausbildungslagern der Business Schools, ist er ein Ministrant des Kapitals. Von Grund auf heimatlos, fühlt er sich in der weiten Welt zu Hause, in den klimatisierten Arealen der Abflughallen, Hotelzimmer und Vorstandsetagen, und wo immer er sich befindet, handelt er weltumspannend. Anständigkeit mag er im privaten Umgang für erstrebenswert halten, im Job ist sie ihm keine handlungsanleitende Tugend mehr. Er 1

Greiner 2005.

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Franco Zotta

arbeitet im zeitlich und sachlich begrenzten Auftrag, den er auf Gedeih und Verderb erfüllen muss.“ Dem konstatierten Verlust an sozialer Fundierung des modernen Kapitalismus begegnet der Autor folgerichtig mit dem Appell, sich auf jenen Wertekanon zu besinnen, der dem Unternehmenspatriarchen von einst so selbstverständlich war wie er dem Manager des Shareholder Value heute fremd ist. „Es ist an der Zeit“, formuliert Greiner nicht frei von Emphase, „von Anstand zu reden.“ Diese Polemik ist gleich in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Sie ist zunächst sinnfälliger Ausdruck einer tiefen Verunsicherung, die inzwischen auch die bürgerlichen Schichten erreicht hat, die bislang eher zu den Profiteuren, mindestens aber nicht zu den primären Opfern jener Entwicklungen zählten, die Greiner als Ursache für das beschriebene Dilemma anführt. Sie zeugt zudem von dem Erschaudern, das schleichend jene ergreift, die Gewahr werden, dass das konstitutive Versprechen der sozialen Marktwirtschaft, der Staat sichere jedem eine faire Chance zu und lasse niemanden mit seinen existenziellen Problemen allein, brüchig wird.2 Und nicht zuletzt ist die Angst vor einer desintegrierten Gesellschaft zu spüren, die dem sorgenvollen Blick auf eine mögliche Zukunft entspringt, in der das soziale Klima nicht mehr von den wärmenden Zigarren des Unternehmenspatriarchen, sondern vom kalten Atem der neuen Ministranten des Kapitals bestimmt wird. Man mag Greiners Analyse3 zustimmen oder nicht und man mag sein metaphysisches Unbehagen teilen, dass ein globalisierter, hemmungsloser Kapitalismus volkswirtschaftliche Grausamkeiten nach sich zieht – weit bemerkenswerter noch als die diagnostische Kraft des Essays ist die enorme Naivität, mit der er die konstatierten Depravierungsphänomene zu verstehen und daraus alternative Handlungsmöglichkeiten abzuleiten sucht. Es ist nicht neu, dass kulturpessimistische Kritiker auf Anstand und Moral rekurrieren, wenn es darum geht, die Gesellschaft zersetzenden Effekte kapitalistischen Wirtschaftens zu geißeln. Doch neu ist, wie stark und weitgehend 2

Ein Versprechen, dass aller Brüchigkeit zum Trotz in öffentlichen Debatten dennoch unermüdlich im Sinne einer von allen Bürgern geteilten, sozialromantischen Vision bemüht wird und wie sie Bundespräsident Horst Köhler in seiner Weihnachtsansprache 2005 in erschlagender Schlichtheit formuliert hat: „Liebe Landsleute! Wir alle wissen: Deutschland steht vor einem Berg von Aufgaben. Wir wissen: Gemeinsam sind wir stark. Wenn wir zusammenstehen, offen für Ideen sind, hart arbeiten, einander zuhören und helfen, dann können wir auch diejenigen von uns wieder in unsere Mitte holen, die am Rand stehen und sich einsam und schlecht fühlen.“; zit. nach http://www.bundespraesident.de/-,2.628073/Weihnachtsansprachevon-Bundes.htm. 3 Viele Motive, die Greiner in seinem Essay bemüht, gehören seit langem zum Inventar kulturkonservativer und -pessimistischer Kapitalismuskritik. Vgl. dazu Saage 1983, S. 202 ff. und S. 228 ff., Saage 1987, S. 199 ff. und S. 232 ff.

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unwidersprochen diese moralisierende Form der Kapitalismuskritik die öffentliche Debatte inzwischen prägt,4 wie dominant mithin eine Position geworden ist, deren Alarmismus sich weniger einer präzisen Analyse verdankt als vielmehr einem lange währenden intellektuellen Tiefschlaf geschuldet ist, der in der – zunehmend sich verflüchtigenden – Illusion wurzelt, dass der „rheinische Kapitalismus“ mit seinen sozialen Sicherungssystemen die humane Spielart des nackten Marktgeschehens ist, also quasi einem Kapitalismus mit menschlichem Antlitz entspricht.5 Mindestens der klügere Teil der Intellektuellen hierzulande wusste einmal, dass der Humanismus des Sozialstaats eine temporäre Erscheinung ist, insofern er die Zwänge der Kapitalverwertungslogik nicht zu durchbrechen vermag und wie ein Schmarotzer abhängig ist von der ökonomischen Vitalität seines Wirtes. Und um diese ist es hierzulande nicht mehr gut bestellt. Der Sozialstaatsgedanke hat seine Wurzeln im Wissen um die katastrophalen Konsequenzen eines radikalen ökonomischen Liberalismus. Dem freien Spiel der Marktkräfte so zu begegnen, dass die ‚benefits‘ maximalisiert, die Depravierung großer Teile der Bevölkerung eingedämmt und Chancengleichheit aktiv gefördert werden, stand im Mittelpunkt der sozialstaatlichen Flankierung der kruden ökonomischen Rationalität. So erfolgreich der Sozialstaat in einigen wenigen Ländern dieser Erde in der Nachkriegszeit war, so unbestreitbar ist, dass durch diesen Gesellschaftstyp die 4 Die im Vorfeld der Bundestagswahl 2005 vom damaligen SPD-Parteichef Franz Müntefering angestoßene, stark beachtete Debatte über Private-Equity-Gesellschaften, deren Geschäftsgebaren Müntefering mit der weite Landstriche zerstörenden Aktivität von Heuschreckenplagen verglich, reiht sich ebenso ein in diese Debattenkultur wie die regelmäßig wiederkehrenden Appelle von Spitzenpolitikern an deutsche Unternehmen, ihre patriotische Verpflichtung, hierzulande Arbeitsplätze zu schaffen, nicht zu vergessen. 5 Siehe dazu auch Knoell 1992. Nur scheinbar im Widerspruch zu dieser Beobachtung steht, dass etwa in populären TV-Politiktalks häufig nicht einmal mehr diese moralisierende Form der Kapitalismuskritik anwesend ist (wie Rossum 2004 belegt), stattdessen dort aber „die große [. . .] Koalition der Systemüberwinder“ penetrant verkündet, dass „die heilige Utopie des Kapitalismus [d. i. der Sozialstaat, F. Z.] erst einmal an ihr Ende gekommen ist“ (Rossum 2004a). Die Apologeten des Systemwechsels teilen mit den moralisierenden Kapitalismuskritikern die Überzeugung, dass der Ausweg aus der konstatierten Krise des Kapitalismus nur innerhalb der Parameter des kapitalistischen Systems selbst zu suchen ist. Nur in der Metamorphose des Kapitalismus, auch darin stimmen beide Positionen überein, kann sich die Erneuerung der kapitalistischen Utopie gründen, und beide verstehen diese Erneuerung im Grunde als kostengünstigere Neuformulierung des Sozialstaats. Folgerichtig stimmen beide auch in einem letzten Punkt überein: Sollte diese Neuformulierung scheitern, dann droht das Ende des Kapitalismus und damit die schlimmste aller möglichen Optionen. Entsprechend liest sich Greiners Warnung: „Wir dürfen nicht warten, bis die Verhältnisse einen neuen Marx oder Bakunin zwangsläufig erzeugen“.

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eigentliche Ursache der Depravierung nicht in Frage gestellt wurde. Der Sozialstaat hat, wie André Gorz hervorhebt, „die Funktionsweise des Wirtschaftssystems und die hegemonische Dynamik seines Rationalitätstyps unangetastet gelassen. Die Eindämmung des Bereichs, in dem sich dieser entfalten darf, beruht ausschließlich auf der Verstärkung der Interventionsbefugnis des Staates. Diese Verstärkung führte nicht zur Entstehung eines anderen öffentlichen Raums, anderer gesellschaftlicher Beziehungen, anderer Lebens- und Arbeitsweisen, in denen eine eigene Rationalität und eigenständige Werte bestimmend wären“6. Der Sozialstaat kann sich folglich nur dort entfalten, wo er den Eigengesetzlichkeiten der Marktmechanismen nicht zuwiderläuft. So effektiv ein derartiger Sozial-Etatismus in historischer Perspektive auch war, so fatalistisch und passiv verhält er sich gegenüber dem emanzipatorischen Anspruch, einen institutionellen Rahmen zu schaffen, in dem das menschliche Subjekt sich auf der Basis gesicherter Grundbedürfnisbefriedigung für alle selber entfalten kann und sein Lebensprojekt autonom entwirft. Anstatt selbstbewusst den staatlichen und ökonomischen Institutionen den Ort zuzuweisen, in der sie effizient ihre emanzipationsdienliche Funktion erfüllen können, unterwirft der konservative Sozialstaatsgedanke die Macht des Kollektivs und seine gesellschaftsgestaltenden Fähigkeiten den im Kapital verkörperten Imperativen der ökonomischen Rationalität. Der Kampf um eine gerechte Gesellschaft ist folglich nicht erfolgreich zu gestalten, wenn nicht die ökonomische Rationalität selbst hinterfragt und „die in der Produktionssphäre gegenwärtige intensive Politizität“7 thematisiert wird. Insofern decken die Krise des Sozialstaats und vor allem die ökonomievergessenen Argumentationsstrategien kulturpessimistischer Kritiker zugleich die Mängel eines Konzeptes auf, das sich grundsätzlich affirmativ zum bestehenden Gesellschaftstyp verhält. Der Sozialstaat repräsentiert nicht den Gegenpol zur Idee des depravierenden totalen Marktgeschehens, sondern verbleibt in verhängnisvoller Abhängigkeit zur Rhythmik des Marktes. Diese Erkenntnis ist beileibe nicht neu – aber sie ist, so scheint es, in den öffentlichen Debatten auf breiter Front in Vergessenheit geraten. Schon Marx wusste beredt von den Eigentümlichkeiten des Kapitalismus zu erzählen, vom tendenziellen Fall der Profitrate, vom unersättlichen Hunger des Kapitalismus nach Menschen, Ressourcen und Absatzmärkten, vom der ihm inne wohnenden Tendenz, Arbeit abzuschaffen und damit sukzessive den Arbeiter zu enteignen, ihn überflüssig zu machen. Selbst wirkmächtige konservative Autoren wie Hans Freyer entwickelten ehedem ihre dezidiert kul6 7

Gorz 1994. Marramao 1989, S. 160.

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turkonservativen Gesellschaftsmodelle auf der Grundlage dieser Marxschen Einsichten, verknüpften ihre problematischen existenzphilosophischen Visionen zumindest mit dem illusionsfreien Blick auf die innere Logik kapitalistischer Ökonomien.8 Die eklatante Schwäche von Interventionen im Stile Greiners besteht gerade darin, dass sie den Kapitalismus moralisch verurteilen, ohne ihn ökonomisch verstanden zu haben, dass mithin der kulturpessimistische Kritiker die ebenso naive wie falsche Hoffnung bestärkt, es gäbe eine „gute Theorie“ des Kapitalismus, die sich in der Empirie primär auf Grund moralischer Verfehlungen zentraler Akteure als defizitär erweist. Bereits Marx sah sich bemüßigt, diese Annahme als Produkt einer bürgerlichen Illusion zu beschreiben, die sich der Einsicht verschließt, dass Massenentlassungen eben nicht das Resultat des verwerflichen Tuns kalter Manager ist, sondern die Kehrseite jener ökonomischen Logik, der auch schon der Unternehmenspatriarch folgte.9 In diesem Zusammenhang an den Anstand der „blinden Elite“ zu appellieren und mit Wehmut an den Unternehmerpatriarchen alten Typs zu erinnern, ist Ausdruck einer intellektuellen Ohnmacht, die vor den scheinbaren Sachgesetzlichkeiten der wissenschaftlich-technischen Zivilisation längst kapituliert hat. Das recht armselige Niveau, auf dem derartige Kapitalismusdebatten generell geführt werden, findet sich auch bei Autoren wieder, die sich an einer Neuausrichtung des normativen Rahmens der sozialen Marktwirtschaft versuchen. Auch hier dominiert, wie im Folgenden am Beispiel des publizistisch sehr aktiven Kieler Philosophen Wolfgang Kersting veranschaulicht werden soll, ein Theorieansatz, der sich geschmeidig einfügt in die Ökonomievergessenheit aktueller feuilletonistischer Debatten. Ähnlich wie bei Ulrich Greiner ist auch bei Kersting zunächst eine moralische Fragestellung Ausgangspunkt der Überlegungen: An welchem Konzept von sozialer Gerechtigkeit sollten sich marktwirtschaftliche Gesellschaftsmodelle heute orientieren? Kerstings Bewertung der in der Vergan8

Vgl. dazu Saage 1983, S. 203 ff.; vgl. auch Saage 1995, S. 40 ff. In einem Brief an P. W. Annenkow vom 28.12.1846 schreibt Marx mit Blick auf Proudhon, was sich auch gegen U. Greiner einwenden lässt: „In Wirklichkeit tut er, was alle guten Bourgeois tun. Sie sagen alle, dass die Konkurrenz, das Monopol etc. im Prinzip, d. h. als abstrakte Gedanken, die alleinigen Grundlagen des Lebens sind, in der Praxis aber viel zu wünschen lassen. Sie wollen alle die Konkurrenz ohne die unheilvollen Folgen der Konkurrenz. Sie wollen alle das Unmögliche, d. h. bürgerliche Lebensbedingungen, ohne die notwendigen Konsequenzen dieser Bedingungen [. . .] Dieser Irrtum stammt daher, dass der Bourgeois-Mensch für sie die einzig mögliche Grundlage aller Gesellschaft ist, dass sie sich keine Gesellschaftsordnung denken können, in der der Mensch aufgehört hätte, Bourgeois zu sein.“ (Marx 1975, S. 507). Es ist diese Phantasielosigkeit, die letztlich dazu führt, den Manager moralisch zu geißeln anstatt das System zu kritisieren, dessen Produkt dieser Manager ist. 9

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genheit vorgelegten Gerechtigkeitstheorien fällt vernichtend aus. Bislang sei das Bemühen um eine philosophische Legitimation des Sozialstaats nämlich nicht über eine „diffuse, erheblich gefühlslastige [. . .] Gerechtigkeitspräsumtion“10 hinaus gekommen, die sich aus der Tradition des egalitären Liberalismus mit seiner Vorliebe für zwangssolidarische, umverteilungsverliebte – kurzum sozialistisch gefärbte – Staatsmodelle speise. Diese von US-amerikanischen Autoren wie John Rawls, Ronald Dworkin oder Thomas Nagel vertretene Spielart des Liberalismus aber sei in ihrem Versuch, sozialstaatsbegründende Gerechtigkeitstheorien zu entwickeln, kaum über „politisch unverbindliche und begrifflich exaltierte Konstruktionsspiele“ hinaus gekommen. Man ahnt früh: wieder mal tut ein „Paradigmenwechsel“ Not, an dessen Ende gegen den laut Kersting hypertrophe Sozialstaatsmodelle gebärenden, egalitären Liberalismus ein von Robert Nozick inspirierter, Kerstingscher „Liberalismus sans phrase“ mit seiner kostengünstigen Vision eines „Minimalsozialstaat[s]“11 ins Feld geführt wird. Kerstings bärbeißige, auf Dauer ermüdende Aversion gegen den auf egalitären Liberalismuskonzepten fußenden bundesrepublikanischen Sozialstaat kennt dabei keine Grenzen. Kaum etwas, was sich dieser nicht vorwerfen lassen muss: Im Stile eines Gefälligkeitsgutachten für die hiesigen Arbeitgeberverbände geißelt der Autor den Sozialstaat als unaufhörlich expandierende, geldgierige Versorgungsbürokratie, die mit seinem Versorgungsmaximalismus das bürgerliche Lebensethos untergrabe, die Demokratie schwäche und der Marktwirtschaft wie ein Alp auf der Brust sitze. Zudem produziere er ein „geradezu naturwüchsig“ wachsendes Klientel von Leistungsbeziehern, die sich angesichts der üppigen, unaufhörlich wachsenden Leistungsangebote des Arbeits- und Sozialamts in „einem System umfassender Daseinswattierung“12 häuslich eingerichtet haben. Bemerkenswert daran ist vor allem, dass Kersting es offensichtlich für verzichtbar hält, auch nur eine seiner Behauptungen empirisch zu belegen. Nun wird aber Falsches nicht dadurch richtiger, dass es aus der Feder eines Philosophieprofessors stammt. Ein wissbegieriger Blick in einen – im Übrigen von Kersting selbst herausgegebenen – Sammelband zur politischen Philosophie des Sozialstaats hätte daher auch Kersting gut getan. So verweist dort etwa Georg Lohmann zu Recht darauf, dass in von Massenarbeitslosigkeit und Globalisierungsdruck bestimmten nationalen Ökonomien ein ganzes Bündel sozialer und ökonomischer Gründe wirksam wird, die den Sozialstaat in eine schwere Krise gebracht haben, aber gerade 10

Kersting 2000, S. 1. Alle Zitate Kersting 2000, S. 6 f. 12 Kersting 2000a, S. 15; vgl. auch Kersting 2000b, S. 58 u. Kersting 2000c, S. 248 ff. 11

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nicht einem hypertrophen, institutionalisierten Egalitarismus entspringen.13 Und auch Michael Schefczyk und Birger P. Priddat bilanzieren in ihrem sehr lesenswerten Aufsatz, dass die drohende Implosion des Sozialstaats nicht etwa der verwerflichen Neigung der Menschen zu umfassender Daseinswattierung entspringt, sondern sich vor allem dem weltweit zu beobachtenden „Jobless Growth“ bei gleichzeitig rationalisierungsbedingter wegbrechender Beschäftigungsbasis verdankt.14 Der Sozialstaat befindet sich folglich nicht in einer begründungstheoretischen Krise, sondern in einer ökonomischen, die sich wiederum nicht überzogenem Anspruchsdenken der Empfänger sozialer Leistungen verdankt, sondern in starkem Maße der offensichtlich schwindenden Fähigkeit marktwirtschaftlicher Ökonomien, genügend Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen.15 Es ist dies der eklatanteste Mangel der Kerstingschen Ausführungen, dass er mit seiner polemischen Kritik des Sozialstaats und dessen vorgeblich „perfekte[r] Versicherung gegen Daseinsrisiken und Lebensunzufriedenheit“16 durchgehend einen Popanz bekämpft, der primär den inbrünstig gepflegten Vorurteilen des Autors selbst entspringt. Wie schon bei Greiners Polemik, so wird auch bei Kerstings Abhandlung deutlich, dass die Ahnungslosigkeit, mit der diese Autoren dem kapitalistischen Wirtschaftssystem begegnen, dazu führt, die Ursachen für kapitalistische Krisenphänomene in moralischen Verfehlungen von Akteuren – seien es nun asoziale blinde Eliten oder lebensunzufriedene Sozialhilfeempfänger – zu suchen.17 13

Vgl. Lohmann 2000, S. 353. Vgl. Schefzyk/Priddat 2000, S. 464. 15 Dass darüber hinaus der Sozialstaat z. B. durch Bürokratisierung seines Verwaltungsapparats oder lobbyistischer Klientelinteressen seitens politischer Akteure auch von dieser Seite her Gefahr läuft, sein eigentliches Ziel zu verfehlen, bleibt unbestritten – wobei die ersten Opfer solcher Fehlentwicklungen nicht, wie Kersting fortlaufend behauptet, die Steuerzahler, sondern in der Regel wiederum jene sind, die die Unterstützung des Sozialstaats am dringendsten benötigen (vgl. dazu den Aufsatz von Koller 2000, insbes. S. 151 ff). 16 Kersting 2000c, S. 252. 17 Angesichts dieser Analysetiefe verwundert es nicht mehr, wenn der Autor zu banalen Schlussfolgerungen kommt, wie ein kurzer Blick auf den von Kersting zu Beginn vollmundig als Paradigmenwechsel angekündigten „Liberalismus sans phrase“ zeigt. Auf nicht einmal 50 Seiten entfaltet Kersting dort eine Theorie, die doch immerhin das formulieren will, was Generationen von Philosophen vergebens versucht haben: eine zuverlässige, normative Hintergrundstheorie des Sozialstaats. Das Ergebnis ist mehr als bescheiden: Kerstings Beitrag erschöpft sich in einem nebulösen Plädoyer für einen Staat, der sich der „engagierte[n] Gewährleistung von Chancengleichheit“ (Kersting 2000, S. 8) verbunden weiß und ein „hinreichend ausdifferenziertes Erziehungs- und Ausbildungssystem [. . .]“ (ebd., S. 372) ebenso für unerlässlich hält wie eine „aktive Arbeitsmarktpolitik“ (ebd., S. 398). Ansonsten aber helfe der sich an „den Umrissen der allgemeinen Wertüberzeugungen“ (ebd., S. 392) orientierende Staat Gestrauchelten nur „okkasionalistisch[] und situativ[]“, 14

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Das kapitalistische System selbst hingegen bleibt in bezeichnender Weise unthematisiert. Stattdessen aber werden plötzlich jene ausgegrenzten Menschen zum Problem erklärt, um deren Willen einst der Sozialstaat überhaupt ins Leben gerufen wurde. Gegensätze in der Gesellschaft werden so zu Gegensätzen anderer zur Gesellschaft erklärt. Nicht die Armut, sondern die vorgeblich daseinswattierten, vulgo schmarotzenden Armen sind letzten Endes das Problem. Von hier aus ist es dann nur noch ein vergleichsweise kleiner Schritt zur provokativ-zynischen Totalaffirmation der bestehenden Verhältnisse, wie sie etwa der Berliner Medienwissenschaftler Norbert Bolz mit seinem „Konsumistischen Manifest“ vorgelegt hat, das den Kapitalismus gar in den Rang einer weltumspannenden Friedensbewegung erhebt. Seine auf den ersten zehn Seiten zum Manifest erhobene These ist schlicht: Permanentes Einkaufen absorbiert sehr viel Zeit und Leidenschaften, die außerhalb der westlichen Weltshoppinggemeinschaft in Ermangelung gut gefüllter Konsumstätten in Terroranschläge und Kriege investiert werden. Kapitalistische Gesellschaften mögen unromantisch nüchtern sein, von sozialer Kälte, Entfremdung, Sinnverlust und vielen säkularen Plagen mehr gekennzeichnet sein – aber, so konstatiert Bolz, wer sich erst einmal damit abgefunden hat, dass das Leben nicht viel mehr zu bieten hat als die Warenregale der Kaufhäuser bereit halten, der kommt auch nicht, wie in kapitalismusfernen Regionen andernorts, auf die fundamentalistische Idee, mit Gewalt seine Mitmenschen zur allein selig machenden Weltsicht zu bomben. Demgegenüber ist die Geschichte des Kapitalismus für Bolz auf lange Sicht ein fortwährendes Heilsgeschehen. Den mörderischen Hobbeschen UrWolf von einst verwandelt das Marktgeschehen am Ende in einen friedlebenden Kunden18, der sich mit anderen Kunden im „ruhige[n] Begehren nach Reichtum“19 ergeht. Eine kalte Idylle steht am Ende der Bolzschen Märchenstunde, die schlimmstenfalls noch den „gehegten Krieg“, die „dosierte Feindschaft“20 und die unvermeidliche gähnende Langeweile eines durch Konsum befriedeten Gemeinwesens kennt. Viel, sehr viel muss Bolz verdrängen, um Plausibilität für seine plüschige, schematische globale Zustandsbeschreibung reklamieren zu können. Ein Manifest für den Kapitalisweil er sich im Gegensatz zum Staatskonzept des egalitären Liberalismus weigern müsse, „Gleichheit und Ungleichheit zu moralisieren“ (ebd., S. 386). Das war’s. Konkreteres sucht man in dieser Trümmerlandschaft allgemeiner Wertüberzeugungen vergebens – wie aktive Arbeitsmarktpolitik aussieht und was ein differenziertes Ausbildungssystem charakterisiert, bleibt leider das Geheimnis des mit beaucoup de phrase formulierenden Kieler Paradigmenwechslers. 18 Bolz 2002, S. 59 f. 19 Bolz 2002, S. 74. 20 Bolz 2002, S. 48.

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mus, dessen empirische Basis wesentlich auf der Beobachtung gründet, dass sich nach Ladenschluss auf dem Berliner Kudamm keine Leichenberge türmen, wirft jedenfalls keine akzeptable Bewerbungsmappe für den Friedensnobelpreis ab. Muss man wirklich noch zeigen, dass die Geschichte des Kapitalismus keine Aneinanderreihung von Kaffeekränzchen war und ist? Muss man tatsächlich noch in Erinnerung rufen, dass die Händler und politischen Generalbevollmächtigten dieser Welt sehr böse werden können, wenn die Warenzirkulation nicht gemäß ihrer geostrategischen Bedingungen funktioniert? Und ist es etwa bloß die fiebrige Phantasmagorie der ewig Neidischen und Ausgegrenzten, wenn man konstatiert, dass die westliche Konsumökumene und ihr unersättlicher Hunger nach Rohstoffen, Menschen, Land und Absatzmärkten weltweit zu viele blutige Messen gefeiert hat, um die seit Kant und Hegel nicht verstummen wollende, geschichtsphilosophische Mär vom „Konsum als [. . .] genaue[m] Gegenteil von Gewalt“21 nicht als ärgerliches Gerede eines Provokateurs erscheinen zu lassen? Offenbar leben wir in Zeiten, wo derartige Dinge wieder in Erinnerung gerufen werden müssen. Und offenbar bedarf es dafür eben jener Intellektuellen wie Richard Saage, deren Werk als kontinuierliches Bemühen zu lesen ist, an Denktraditionen anzuknüpfen, die sich dem zuweilen antiquiert wirkenden Projekt der Aufklärung verpflichtet wissen. Ob in den Zeugnissen revolutionärer Aktivisten der frühen Neuzeit22 oder in den Pamphleten, Romanen und Schriften der Utopisten: Überall macht Saage auf Autoren aufmerksam, deren emphatischer Freiheitsdrang und deren starken moralischen Handlungsmotive gerade keine Naivität gegenüber jenen sozioökonomischen Voraussetzungen erlaubt, deren Überwindung im Dienste eben jenes Freiheitsverständnisses notwendig erscheint.23 Es ist in diesem Zusammenhang gerade kein Zufall, dass sich Revolutionäre wie Utopisten alles andere als ökonomievergessen immer wieder kritisch mit der Rolle des Privateigentums und des Staates unter den Bedingungen marktwirtschaftlicher Ökonomien beschäftigt und in der freiheitsdienlichen Veränderung eben dieser zentralen Stützfeiler des Kapitalismus eine unbedingte Voraussetzung für die Emanzipation des Menschen gesehen haben. Sich dieser Traditionen zu vergewissern ist notwendig, will man das Projekt der Aufklärung am Ende nicht jenen überlassen, die in der Renaissance des Zigarre schmauchenden Unternehmenspatriarchen oder im rabiaten Abbau sozialer Sicherungssysteme einen Hoffnungsschimmer für die Befreiung 21 22 23

Bolz 2002, S. 61. Vgl. Saage 1981. Vgl. dazu z. B. Saage 1991 passim u. Saage 1995; dort insbes. S. 204 ff.

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des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit sehen. Unmündigkeit aber, das lehren die Schriften Richard Saages, herrscht auch dort, wo der öffentliche Gebrauch der Vernunft nicht mehr hervor bringt als die unkritische, ohnmächtige Bestätigung des bestehenden Wahnsinns. Denn zumindest an diesem einem Punkt kann man dem Urteil des Kulturpessimisten bezüglich der Qualität der bestehenden Herrschaftsverhältnisse nicht widersprechen: „Wie soll man das nennen, wenn nicht Wahnsinn?“24 Ansonsten aber gilt: „Der vordringliche Sanierungsfall im angeblichen Sanierungsgebiet Deutschland ist die intellektuelle Verfassung der Öffentlichkeit (oder ihres medialen Simulakrums) selbst.“25 Literatur Bolz, Norbert, Das konsumistische Manifest, München 2002 (zitiert: Bolz 2002). Gorz, André, Auf der Suche nach der freien Zeit, in: die tageszeitung vom 16. August 1994, S. 10 (zitiert: Gorz 1994). Greiner, Ulrich, Wahnsinnige Gewinne. Eine neue Generation von Unternehmern spielt mit dem sozialen Frieden. Eine Polemik, in: DIE ZEIT, Nr. 49, 1. Dezember 2005, S. 1 (zitiert: Greiner 2005). Kersting, Wolfgang, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart/Weimar 2000 (zitiert: Kersting 2000). – Vorwort, in: Ders. (Hg.): Politische Philosophie des Sozialstaats, Weilerswist 2000, S. 11–16 (zitiert: Kersting 2000a). – Einleitung, in: Ders. (Hg.): Politische Philosophie des Sozialstaats, Weilerswist 2000, S. 17–92 (zitiert: Kersting 2000b). – Politische Solidarität statt Verteilungsgerechtigkeit? Eine Kritik egalitaristischer Sozialstaatsbegründung, in: Ders. (Hg.): Politische Philosophie des Sozialstaats, Weilerswist 2000, S. 202–256 (zitiert: Kersting 2000c). Koller, Peter, Soziale Gerechtigkeit, Wirtschaftsordnung und Sozialstaat, in: Wolfgang Kersting (Hg.): Politische Philosophie des Sozialstaats, Weilerswist 2000, S. 120–158 (zitiert: Koller 2000). Knoell, Dieter R., Kritik der deutschen Wendeköpfe. Frontberichte vom publizistischen Feldzug zur Herbeiführung des Endsiegs über die zersetzende Gesellschaftskritik, Münster 1992 (zitiert: Knoell 1992). Lohmann, Georg, Soziale Menschenrechte und die Grenzen des Sozialstaats, in: Wolfgang Kersting (Hg.): Politische Philosophie des Sozialstaats, Weilerswist 2000, S. 351–371 (zitiert: Lohmann 2000). Marramao, Giacomo, Macht und Säkularisierung. Die Kategorie der Zeit, Frankfurt/ Main 1989 (zitiert: Marramao 1989). 24 25

Greiner 2005. Rossum 2004a.

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Marx, Karl, Brief an P. W. Annenkow, in: Helmut Reichelt (Hg.): Texte zur materialistischen Geschichtsauffassung von L. Feuerbach, K. Marx, F. Engels, Frankfurt (Main)/Berlin/Wien 1975, S. 498–510 (zitiert: Marx 1975). Rossum, Walter van, Meine Sonntage mit Sabine Christiansen. Wie das Palaver uns regiert, Köln 2004 (zitiert: Rossum 2004). – Widerspruch ist zwecklos, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Juni 2004 (zitiert: Rossum 2004a). Saage, Richard, Herrschaft, Toleranz, Widerstand. Studien zur politischen Theorie der niederländischen und der englischen Revolution, Frankfurt/Main 1981 (zitiert: Saage 1981). – Rückkehr zum starken Staat?, Frankfurt/Main 1983 (zitiert: Saage 1983). – Arbeiterbewegung, Faschismus, Neokonservatismus, Frankfurt/Main 1987 (zitiert: Saage 1987). – Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt 1991 (zitiert: Saage 1991). – Vermessungen des Nirgendwo. Begriffe, Wirkungsgeschichte und Lernprozesse der neuzeitlichen Utopien, Darmstadt 1995 (zitiert: Saage 1995). Schefzyk, Michael/Priddat, Birger P., Effizienz und Gerechtigkeit. Eine Verhältnisbestimmung in sozialpolitischer Absicht, in: Wolfgang Kersting (Hg.): Politische Philosophie des Sozialstaats, Weilerswist 2000, S. 428–466 (zitiert: Schefzyk/ Priddat 2000).

Die Demokratie der antiken Athener als Lebensform Andreas Mehl Die antike athenische Demokratie ist ein Gegenstand der Verfassungsgeschichte und Verfassungstheorie1. Das ist sie selbstverständlich – doch geht sie darin auch vollständig auf? Nach einem Zeitgenossen, dem Philosophen, Staats- und Gesellschafstheoretiker Aristoteles, der dies nicht ohne Polemik und mit einem Schuss Misogynie und beidem zufolge nicht ohne Übertreibung und Verzerrung feststellt, belässt die Demokratie genauso wie die Tyrannis (!) Sklaven und Bürgerfrauen einen unkontrollierten Freiraum in ihrem individuellen Leben – eine Freiheit, die sie in Aristokratie, Oligarchie und Monarchie nicht genießen können.2 Da weiter nach Aristoteles im Fortgang der zitierten Textstelle die meisten Menschen ein ungebundenes „unordentliches“ Leben einem maßvoll-vernünftigem vorziehen, würden Sklaven und Frauen „ein so verfasstes Staatswesen“, also die zuvor nicht nur in dieser Hinsicht als gleich bezeichnete Demokratie und Tyrannis, unterstützen. Die Demokratie wird also ebenso wie die Tyrannis von diesen beiden Bevölkerungsgruppen den anderen Regierungsformen vorgezogen. Da Sklaven und Bürgerfrauen in der griechischen (und römischen) Gesellschaft generell, mithin auch in der athenischen Demokratie, 1 Etliche politikwissenschaftliche Werke über Demokratietheorien und deren historische Entwicklung beginnen mit der antiken Demokratietheorie und der athenischen Demokratie, z. B. Sartori 1992; Mair/Mittermaier 1995; Schmidt 2000; Massing/Breit 2003; Vorländer 2003 und Saage 2005. Ausschließlich der antiken politischen Theorie widmet sich Weber-Schäfer 1976. Zu den Unterschieden zwischen antiker und moderner Demokratie vgl. aus althistorischer Sicht Finley 1987 und Gschnitzer 1995. 2 Vgl. Aristoteles, Politik 1319b27 ff. Werke antiker Autoren werden hier in der in den Altertumswissenschaften für griechische und lateinische Textausgaben international üblichen Weise zitiert. Da auch gedruckte Übersetzungen diesem System im Allgemeinen folgen, entstehen für den nicht-altertumswissenschaftlichen Leser keine Probleme. – Nach Aristoteles, Politik 1313b37 sei auch die Frauenherrschaft im Haus – zum Zwecke vor allem der Ausspionierung der Männer – sowohl der „vollendeten Demokratie“ als auch der Tyrannis eigen. Die typologische Angleichung von vollendeter oder, wie in einem Teil der neueren althistorischen Literatur genannt, „radikaler“ Demokratie und von Tyrannis durchzieht Aristoteles’ – und auch Platons – Verfassungstheorie.

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kein politisches Partizipationsrecht besessen haben, kann der Grund für die Bevorzugung der Demokratie durch Frauen und Sklaven nicht in dem liegen, was eine Staatsverfassung in ihrem Kern ausmacht, nämlich in der Verteilung der Entscheidungs- und Durchsetzungsbefugnis, kurzum der Macht im Staat, sondern ausschließlich in der von Aristoteles genannten privaten und häuslichen Sphäre. Daher folgt aus Aristoteles’ Aussage, dass Demokratie zeitgenössisch nicht nur als besondere Form der Machtverteilung im Gemeinwesen eingeordnet, sondern auch hinsichtlich ihrer spezifischen Konsequenzen für das gesellschaftliche und individuelle Leben wahrgenommen worden ist. Kurz gesagt, war Demokratie für die damaligen Menschen Verfassung im ‚technischen‘ Sinn und Lebensform in einem.3 Dem entspricht, dass die der antiken Demokratie namensgleiche, in der Verteilung, Organisation und Institutionalisierung von Macht im Staat jedoch von ihr deutlich verschiedene moderne repräsentative Demokratie als Lebensordnung gesehen wird, in der Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde nicht bloß mit der Herrschaft durch das Volk, sondern ebenso in der Gestaltung aller gesellschaftlichen Bereiche durchgesetzt wird.4 Diese Position vertritt auch der Jubilar in seiner als Einführung konzipierten neuen Darstellung der Demokratietheorien.5 Allerdings sind insbesondere im 20. Jahrhundert auch ganz andere Konzepte verbreitet worden, in denen Demokratie auf eine „Methode zur Generierung staatlicher Ordnung“ beschränkt ist.6 Gerade weil moderne Positionen hinsichtlich der Reichweite von Demokratie über den politisch-staatlichen Bereich hinaus divergieren, erscheint es reizvoll, antike Stimmen über – antike – Demokratie als Lebensform zu betrachten: Daher werden hier einige mit der athenischen Demokratie des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. zeitgenössische und in ihrem Umfeld entstandene einschlägige Mitteilungen vorgestellt und interpretiert, deren Inhalte vom jeweiligen Autor als Bestandteile der athenischen Demokratie angesehen werden.7 Das dem Gegenstand inhärente Problem, dass Machtvertei3 Ein der ‚demokratischen Lebensform‘ verwandter mit ihr aber nicht deckungsgleicher Begriff ist der der ‚demokratischen Kultur‘. 4 Demokratie weitet sich von einer Regierungsform zu einer Lebensordnung zum Beispiel dann, wenn man, wie Horst Pötzsch (Pötzsch 1995, S. 6 und S. 27) dies tut, den „Sozialstaat“ unter die „Grundlagen“ der demokratischen Verfassung subsumiert. 5 Vgl. Saage 2005. 6 Zitat Saage 2005, S. 295, der diese Reduktion jedoch ablehnt: vgl. schon hier oben und Saage 2005, S. 301 ff.; Darstellung moderner Demokratietheorien im oben genannten Sinn insbesondere Kap. IX, S. 237 ff. und Kap. X, S. 261 ff. 7 Weitaus mehr zeitgenössische Texte als die hier herangezogenen informieren über die athenische Demokratie; vor allem sei auf die im und für das demokratische Athen entstandenen und dort (ur)aufgeführten Dramen hingewiesen. Etliche von ihnen bzw. einschlägige Szenen oder Textpassagen in ihnen werden mehr oder minder

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lung ein ‚harter‘, genau definierter oder zumindest genau definierbarer Faktor jeder Verfassung, Lebensform in ihren vielfältigen Ausprägungen und Details jedoch ein ‚weicher‘ Faktor ist und dass daher die Koppelung einer bestimmten Art der Lebensführung und des Verhaltens im Alltag an je eine bestimmte Verfassung nicht von vornherein als sicher gelten kann, existiert hier insoweit nicht, als die im Folgenden herangezogenen antiken Texte sich auf Athen als demokratisch verfasstes Gemeinwesen bzw. auf demokratische Verfassung allgemein berufen und in ihnen beschriebene Verhaltensnormen und -weisen dorthin zurückbinden. Insgesamt wird hier ein Ziel verfolgt, das ein wenig neben dem Hauptinteresse an der antiken athenischen Demokratie liegt, die Machtverteilung anhand gegebener bzw. entwickelter und beschlossener Regeln und vor allem anhand des sich aus ihnen ergebenden Aufbaus und des Wirkens der Institutionen und Instanzen zu beschreiben und zu werten.8 Gerade auf die demokratische Lebensform hebt indessen das kurzgefasste Buch von Angela Pabst ab, das sich durch viele neue Einsichten auszeichnet.9 ausführlich in den modernen Darstellungen antiker Demokratie vorgestellt und interpretiert. Es ist kein Zufall, dass die für Aufführungen vor allem vor den Bürgern und damit für die Öffentlichkeit im demokratischen Athen geschriebenen Tragödien und Komödien das wichtigste Genus der Dichtung im demokratischen Athen überhaupt gebildet haben und dass demgegenüber die für den kleinen Kreis des Symposions gedachte und damit eher aristokratische Lyrik zurückgetreten ist. 8 Den machtpolitischen und institutionellen Aspekt der Demokratie verfolgen als Hauptgegenstand etwa Hignett 1958; Ehrenberg 1965; Tarkiainen 1966; Bleicken 1995. Diese und weitere Bücher bringen – ohne dies so zu bezeichnen bzw. so als Kapitelüberschrift oder im Register auszuweisen – teils mehr, teils weniger zur demokratischen Lebensform. Im Kapitel „(Perikles als) Visionär“ des Buches von Donald Kagan (Kagan 1991), S. 191 ff., bes. S. 200 ff. ist der politische Aspekt stärker herausgearbeitet als der der Lebensform. Seinem Gegenstand gemäß stellt Hartmut Leppin (Leppin 1999), Verfassungstypologie und das als Grundlage in der Diskussion des 5. (und 4.) Jahrhunderts hierfür wichtige Verhältnis von Elite und Masse in das Zentrum seiner Untersuchungen. – Der vorliegende Beitrag folgt absichtlich nicht der lange Zeit über selbstverständlich gewesenen althistorischen Sicht, die den Blick nur auf Athen im 5. Jh. (vor der Kapitulation Athens gegenüber Sparta und dessen Bundesgenossen und vor der Einsetzung einer extremen Oligarchie in Athen durch den Sieger Sparta) und nicht oder fast nicht auf Athen im 4. Jh. v. Chr. gerichtet hat, da diese spätere Phase nicht mehr oder nicht mehr in vollem Umfang Demokratie im Sinne des 5. Jahrhunderts gewesen sei. So gönnt Jochen Bleicken (Bleicken 1995) noch in der letzten Auflage seines umfangreichen Buches der Darstellung der athenischen Demokratie des 4. Jahrhunderts lediglich neun knappe Seiten, und er stellt diese unter die Überschrift „Symptome einer Schwächung der demokratischen Grundlagen im 4. Jahrhundert“ (Kap. XIII, S. 472–480) – obwohl er bei einigen wichtigen Einzelheiten eher auf das Gegenteil davon stößt. Vgl. dagegen Walter Eder (Eder 1995) und die Gesamtdarstellung für das 4. Jh. von Mogens Hermann Hansen (Hansen 1995). 9 Der vorliegende Beitrag profitiert von Angela Pabst (Pabst 2003), besonders Kap. III, S. 81–101: „Wie man demokratisch lebt“ und bereits Kap. I „ ‚Was ihr

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Es liegt nahe, mit den beiden Personengruppen der Sklaven und der Bürgerfrauen zu beginnen10: Da, wie einleitend dargelegt wurde, Sklaven oder Bürgerfrauen von der Einführung einer demokratischen Verfassung keinen unmittelbaren Vorteil haben konnten, indem sie auch hier nicht an der Machtausübung des Gemeinwesens beteiligt wurden, sind mittelbare Vorteile, die sie aus der demokratischen Verfassung des von ihnen bewohnten Gemeinwesens gezogen haben, leicht auf das Konto ‚demokratische Lebensform‘ zu verbuchen. Dies sind sie sogar in doppelter Weise: erstens soweit sich das Verhalten von Sklaven oder Bürgerfrauen in einer Demokratie bzw. im demokratischen Athen von dem in anders verfassten Gemeinwesen faktisch unterschieden hat und zweitens soweit die (männlichen) Bürger eines demokratischen Gemeinwesens bzw. des demokratischen Athens besondere, in nicht-demokratischen Poleis nicht praktizierte bzw. nicht mögliche Verhaltensweisen an den Tag gelegt haben, die den Angehörigen der beiden Gruppen eine weniger von Restriktionen und Geringschätzung bestimmte und eingeschränkte Lebensführung als anderswo ermöglicht haben. Insofern diese andere, relativ freiere Lebensführung Minderberechtigter und Unterdrückter durch Gesetze ermöglicht worden ist, die die Bürgerschaft des demokratisch verfassten Gemeinwesens beraten und beschlossen hat, ist die besondere Lebensform von Sklaven und Bürgerfrauen in einer demokratischen Polis direkt an die politisch-staatliche Verfassung rückgebunden, mithin unmittelbarer Ausfluss antiker Demokratie. Der moderne Mensch wird über den Widerspruch erstaunt sein, dass Sklaven und Bürgerfrauen in antiken demokratisch verfassten Gemeinwesen entscheidende Rechte des Freien und des Bürgers vorenthalten, aber einige Rechte eben doch gewährt wurden und dass letzteres sich im Leben von Sklaven und Bürgerfrauen an sich und in ihrem Zusammenleben mit Freien bzw. männlichen Bürgern so auswirkte, dass man sich fragen muss, warum denn Sklaven und Bürgerfrauen nicht zu (Freien und) vollberechtigten Bürgern gemacht worden sind. Bereits Zeitgenossen haben sich darüber Gedanken gemacht, ja damit herumgeschlagen, sei es, um den status quo zu rechtfertigen, sei es um ihn durch eine radikal andere Lösung zu ersetzen – das soll hier jedoch nicht Gegenstand sein.11 Richtet man den Blick auf die zugrundeliegt‘: Die zentralen Prinzipien der antiken Demokratie“ (S. 9–65), dort vor allem vom 3. Unterkapitel „Die Freiheit“ (S. 51–65). Vgl. Domenico Musti (Musti 1995), der in Kap. III (S. 103–137) ausgehend von der auch hier behandelten Gefallenenrede des Perikles ausdrücklich „La democrazia nel privato“ (Kapitelüberschrift) beschreibt. 10 Metöken, längerfristig in Athen wohnende und arbeitende freie Nichtathener mit besonderen Rechten, aber auch Pflichten, werden hier der Kürze halber nicht behandelt. Zu ihnen äußern sich alle Darstellungen der athenischen Demokratie. 11 So soll Aristoteles’ Etablierung der Kategorie „Sklaven von Natur aus“, nämlich der „Barbaren“, und sein distanziertes Referat einer von anderen Autoren fest-

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positive Seite der in sich widersprüchlichen Lebensumstände von Frauen und Sklaven in demokratischen Poleis, so wird man sehen, dass nach zeitgenössischen Aussagen Herren- bzw. Ehegattengewalt gegenüber dem Sklaven bzw. der Ehefrau gemindert gewesen sein muss; denn die hier bereits12 herangezogene Behauptung des Aristoteles von der Frauenherrschaft im Haus unter demokratischer und tyrannischer Verfassung bzw. Herrschaft konnte in ihrer offenkundigen Übertreibung Zeitgenossen nur dann wenigstens leidlich glaubhaft erscheinen, wenn sie einen Aufhänger in der Realität hatte.13 Weiter lässt sich aus einer Bemerkung in einer Gerichtsrede des Demosthenes erschließen, dass völlig freie, gerade auch kritische Rede im häuslichen Bereich und damit auch von Unfreien gegenüber Freien und von der Ehefrau gegenüber dem bürgerlichen Ehemann als die Norm gegolten hat.14 Das Leben unter den Bedingungen anderer Regierungsformen, insbesondere der einer Oligarchie, die im damaligen griechischen Siedlungsgebiet nicht eben selten war, hätte zu solchem Verhalten gerade keinen Anlass gegeben, sondern mit der systemimmanenten rechtlichen und gesellschaftlichen Differenzierung unter den Bürgern eher Anlass gegeben, auch abseits der Agora, beispielsweise daheim, durch die politische Verfassung vorgegebene Unterschiede aufrecht zu halten. Dieses hypothetische Argument e contrario hilft, die bessere häusliche Stellung von Bürgerfrauen und Sklaven in demokratischen Poleis als Folge des freiheitlichen Prinzips der Demokratie zu verstehen. Demokratisches Verhalten der (männlichen) Bürger außerhalb der Politik lässt sich auch unmittelbar von der praktizierten Demokratie, nämlich von ihrer Gesetzgebung, herleiten: Es wurde zum einen verboten und unter Strafe gestellt, „über die Erwerbstätigkeit eines Bürgers oder einer Bürgerin gestellten generell „widernatürlichen“ Sklaverei ausschließlich „durch Satzung“ die bestehenden Verhältnisse als angemessen erklären (Politika 1252a32 ff. und 1253b15 ff.). Andererseits beseitigt die von Platon vorgesehene Aufstiegsmöglichkeit von Frauen in den höchsten Stand seines Idealstaates, den der Philosophen, und die damit ebenfalls vorgesehene gleichberechtigte Mitwirkung von Frauen an der Staatsleitung nicht nur alle zeitgenössischen Benachteiligungen von Frauen, sondern Platon reißt auch konsequent die entscheidenden Bedingungen herkömmlichen weiblichen Lebens ein, indem er Haushalt, Familie, Ehe und Privatbesitz im obersten Stand abgeschafft sein lässt (Staat 540c und 543a–c). Derartiges hat Aristoteles bezeichnenderweise für unmöglich gehalten (Politik 1264b1-6, bezogen sonderbarerweise nicht auf die Angehörigen des obersten Standes in Platons Idealstaat, also die Philosophen, sondern auf Bauern und Bauersfrauen; der zitierte Text bricht allerdings mitten in der Erörterung ab). 12 Vgl. oben Anm. 2. 13 Vgl. Aristoteles, Politik 1313b37. 14 Vgl. Dritte Rede gegen Philipp = Reden 9,3. Diese Feststellung dient als Kontrast zu den politischen Beratungen der Bürger untereinander in der Volksversammlung, in der freie kritische Rede nicht (mehr) üblich sei.

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(so formuliert!) auf dem Markt herzuziehen“, zum anderen, „jemanden, sei es ein Kind, eine Frau oder ein Mann, sei er oder sie frei oder Sklave, hochmütig-deklassierend zu demütigen“.15 Das hier an zweiter Stelle genannte Delikt, die Demütigung, wurde darüber hinaus innerhalb der antik üblichen Zweiteilung in private und öffentliche Klagen letzteren zugeordnet; damit war es nicht nur dem von einer solchen Handlung Geschädigten, sondern jedem Bürger möglich, und moralisch war jeder Bürger aufgefordert, sofern er miterlebte oder davon erfahren hatte, dass diese Straftat an jemandem verübt worden war, nicht nur Anzeige zu erstatten, sondern – in genereller Ermangelung eines Staatsanwaltes – auch im Gerichtsverfahren selbst die Anklage zu übernehmen16. Mit anderen Worten: Dieser Tatbestand, der im deutschen Strafrecht der Gegenwart gerade nicht ein Offizialdelikt darstellt bzw. darstellen würde, das den Staatsanwalt zur Aufnahme zumindest von Ermittlungen nötigt, galt im demokratischen Athen als Handlung, die nicht gegen Einzelne, sondern gegen das Gemeinwesen gerichtet war. Und dieses Gemeinwesen trat in dem diesen Tatbestand unter Strafe stellenden Gesetz ausdrücklich und mit allem ihm zu Gebote stehenden Nachdruck für das Wohl auch von Menschengruppen ein, die selbst dieses Gemeinwesen politisch nicht mitgestalten durften. In dem Schutz, den Angehörige dieser Gruppen genossen, waren sie den (männlichen) Bürgern gleichgestellt. So galt in einem bestimmten und für den einzelnen nicht unwesentlichen Bereich auch für Bürgerfrauen und Sklaven eines der grundlegenden Prinzipien der athenischen Demokratie: das der Gleichheit. Auch hier ist um des erkenntnisfördernden Kontrastes willen ein Blick in die Oligarchie – ähnlich in die Aristokratie – angebracht: Dort war ostentative Deklassierung des einfachen Volkes ein Muss, um die im System festgeschriebene Ungleichheit aufrecht zu halten. Eben deswegen zeigt sich der oligarchisch gesinnte Verfasser des irrig unter Xenophons Namen überlieferten „Staates der Athener“, der zusammen mit der hier noch vorzustellenden Grab- oder Gefallenenrede des Perikles bei Thukydides ältesten Beschreibung der athenischen Demokratie gerade auch als Lebensform, davon so irritiert, dass im demokratischen Athen der Sklave auf der Straße nicht ehrerbietig vor dem Bürger ausweicht, ja dass das alltägliche Leben von Nivellierung und damit von faktischer Aufhebung jeglicher Standesunterschiede gekennzeichnet ist.17 So übertrieben diese Darstellung auch ist, so 15 Erstes Zitat bei Demosthenes, Gegen Euboulides = Reden 57,30; zweites Zitat bei Demosthenes, Gegen Meidias = Reden 21,47-49 und bei Aischines, Gegen Timarchos = Reden 1,15-16. Zum zweiten Gesetz vgl. Harrison 1968, S. 168. 16 Für Athen vgl. Lipsius 1905–1915, Bd. 1, S. 237 ff.; MacDowell 1978, S. 53 ff. 17 Vgl. Pseudo-Xenophon, Staat der Athener 1,10-12. An dieser Stelle und mehrfach in dieser Schrift werden die der athenischen Demokratie inhärenten ‚Aus-

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steckt in ihr nach den obigen Ausführungen doch ein realer Kern. Mit ihm verbinden sich die beiden hier herangezogenen Gesetze: In der athenischen Demokratie bildete der für seinen Lebensunterhalt arbeitende Teil der (männlichen) Bürgerschaft nicht nur, wie anderswo, die Mehrzahl, sondern dasselbe Wort demos, das die Bürgerschaft insgesamt bezeichnet, stand auch – und sogar häufiger – für den ‚einfachen‘ Teil des Bürgervolkes.18 Dessen Alltag ist durch eines gekennzeichnet: durch Erwerbstätigkeit. Dieser Teil der Bürgerschaft ist es, der, sehr zum Unwillen von oligarchisch oder aristokratisch gesinnten Kritikern und Feinden der Demokratie, die Geschicke eines demokratisch verfassten Staates bestimmt oder doch jederzeit bestimmen kann. Die diesem Demos Angehörenden erhalten – oder richtiger: verschaffen sich – in ihrer Eigenschaft zugleich als Erwerbstätige und wüchse‘ (in der Sicht des Autors) auf die äußere athenische Machtpolitik mit Hilfe der Kriegsflotte zurückgeführt. – Bis zu einer Generation früher als die Beschreibungen der athenischen Demokratie durch ‚Pseudo-Xenophon‘ (den vielfach so genannten ‚Alten Oligarchen‘) und durch Perikles/Thukydides ist die von Herodot (Geschichten 3, 80–83) in das Perserreich unmittelbar vor Dareios‘ I. Thronbesteigung verlegte Diskussion für und wider die Regierungsformen Demokratie (noch als „Isonomie“ bezeichnet, also als Gleichheit vor dem Gesetz), Aristokratie (als „Oligarchie“ bezeichnet) und Monarchie. Gewiss stehen dahinter auch Erfahrungen, die Herodot im demokratischen Athen der perikleischen Zeit gemacht hat, allerdings reduzieren sich die von ihm referierten Aussagen pro und contra Demokratie auf wenige Feststellungen: Die dem Otanes als dem Befürworter der Demokratie in den Munde gelegten Äußerungen sind weitaus mehr Kritik an der Monarchie als positive Beschreibung der Demokratie. Immerhin nennt Otanes in aller Kürze und zugleich Präzision drei wesentliche Kriterien von Demokratie, die die athenische Verfassung um die Mitte des 5. Jahrhunderts ausgezeichnet haben: Besetzung der Ämter durch Losverfahren, generelle Verantwortlichkeit der Amtsinhaber (d. h. gegenüber der Bürgerschaft) und allgemeine öffentliche Beratung und Beschlussfassung (3,80,6). Während in Otanes’ Kritik an der Monarchie das tatsächliche oder zumindest wahrscheinliche Verhalten des Monarchen im Blickpunkt steht (da eine monarchische ‚Verfassung‘ als solche kaum beschreibbar ist), gilt seine Kennzeichnung der Demokratie/Isonomie ausschließlich Verfassungsgrundsätzen. Hingegen ist das tatsächliche oder wahrscheinliche Verhalten des Bürgervolkes in einer Demokratie, und nur dieses, nicht die demokratische Verfassung an sich, Gegenstand der Kritik an der Demokratie durch Megabyzos als Befürworter der Aristokratie und durch Dareios als Befürworter der Monarchie, doch bleibt diese Kritik – Unvernunft und Gemeinheit des Volkes und damit blinde und subjektive kollektive Leitung des Gemeinwesens – so pauschal, dass sich, anders als in der Demokratiekritik des ‚Alten Oligarchen‘, konkrete demokratische Lebensform daraus nicht ableiten lässt. 18 Das folgte daraus, dass Demokratie als die Herrschaft der „Mehreren“, der „Mehrzahl“, der „Menge“ definiert wurde (vgl. etwa Tarkiainen 1966, S. 277 ff.; Bleicken 1995, S. 339; Pabst 2003, S. 9 ff. mit antiken Textbelegen, darunter auch die hier herangezogene Gefallenenrede des Perikles: Thukydides, Geschichte 2,37,1): Denn zwangsläufig setzt sich in jeder Gesellschaft und somit auch in der des demokratischen Athens die Menge aus den ‚einfacheren‘ weniger begüterten Menschen zusammen. Für die griechische Polis galt das den Zeitgenossen als selbstverständlich (vgl. etwa Winterling 1993).

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als Gesetzgeber bzw. als dessen größter, bestimmender Teil durch das erste hier zitierte Gesetz einen grundsätzlichen und generellen Ehrenschutz. Weiter haben die (männlichen) Bürger des einfachen Volkes gerade das für sie Charakteristische mit vielen Bürgerfrauen und Sklaven gemeinsam: also wiederum die Erwerbstätigkeit. Es scheint, dass diese Gemeinsamkeit und Gleichheit den athenischen Gesetzgeber, mithin gerade auch den Demos im engeren, sozialökonomischen Sinn, dazu veranlasst hat, in dem zweiten hier zitierten Gesetz einen allgemeinen Ehrenschutz für jedermann zu garantieren. Angleichung von Bürgerfrauen und Sklaven im privaten Leben an die (männlichen) Bürger ist so nichts anderes als die konsequente Ausweitung demokratischer Lebensform auf alle. Haben die Ausführungen über Frauen und Sklaven in der Demokratie gezeigt, dass deren besondere Lebensbedingungen von der demokratischen Lebensform der (männlichen) Bürger her teils allgemein, teils über spezielle Gesetze gestaltet worden sind, so wird in der viel zitierten so genannten Grab- oder Gefallenenrede des Perikles der Bezug zwischen demokratischer Verfassung und einer bestimmten Lebensform ganz allgemein hergestellt, freilich so gut wie ausschließlich auf die (männlichen) Bürger bezogen. Diese Rede ist lediglich in literarischer Bearbeitung erhalten, im zeitgeschichtlichen Werk des Thukydides über die als ‚Peloponnesischer Krieg‘ bekannte große innergriechische vor allem kriegerische Auseinandersetzung zwischen 431 und 404 v. Chr.19. Die Frage, ob diese Rede Gedanken des Perikles oder solche des Thukydides oder gar beider wiedergibt, muss hier, etwa im Anschluss an letzteren selbst20, nicht aufgeworfen werden, da beide, bei einer Geburtsdatendifferenz von ca. 30 Jahren, in politischen Positionen des demokratischen Athens gewirkt haben. Die Rede gilt den gefallenen Athenern des ersten Kriegsjahres. Tenor der Rede ist der Gedanke, dass so, wie sich die Vorfahren, vor allem aber die nunmehr toten Mitbürger für ihr Gemeinwesen eingesetzt haben und es vorangebracht bzw. im erreichten Zustand gehalten haben, dieses Athen einzigartig ist, einzigartig gerade auch in seiner Verfassung und dem, was sich mit dieser Verfassung unlöslich verbindet. Konsequenterweise stellt der Lobpreis Athens den zentralen Teil von Perikles’ Worten dar.21 Dessen Ausgangspunkt ist die kurze dreiteilige Feststellung, dass die Verfassung (politeia) Athens von den Athenern ganz und gar eigenständig entwickelt worden sei, dass sie, da sie sich nicht auf wenige, sondern auf mehrere stütze, demokratia heiße und dass in ihr die Gleichheit der Bürger bei der Verfolgung ihrer privaten Angelegenheiten gesetzlich garantiert sei.22 Abgesehen von wenigen allgemeineren 19 20 21

Thukydides 2,34-47. Vgl. Kagan 1991 und Leppin 1999. Thukydides 1,22. Vgl. ebd. 2,37-41.

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Ausführungen beschreibt alles Weitere, über 90 Prozent des zentralen Redeteils, das individuelle und kollektive Handeln und Verhalten der Bürger dieses demokratischen Athens und hebt es von dem anderer, insbesondere der Spartaner ab. Dabei werden ganz verschiedene Bereiche angesprochen, die hier nur als Stichpunkte wiedergegeben werden: das nicht von gesellschaftlicher oder politischer Zugehörigkeit und Besitz, sondern von eigener Leistung und abhängige persönliche Ansehen eines Bürgers in der Öffentlichkeit, das bis ins Schrullenhafte hinein frei gestaltbare und gestaltete individuelle Leben, das sich gleichwohl mit strikter Gesetzesfurcht verbinde, die Gestaltung der Muße, der Genuss, die Freude am Schönen, die Organisation von Rüstung und Krieg, die Erziehung der Kinder und Heranwachsenden, die selbstverständliche Teilhabe der Bürger an den Dingen ihres Gemeinwesens, das gemeinsame Beraten, das sich sehr wohl mit wagemutigem Handeln verbinde, und schließlich die allgemeine Hilfsbereitschaft – das alles führe dazu, dass „das (athenische) Gemeinwesen insgesamt die Schule von Hellas“23 sei. Mithin wird hier eine vielleicht nicht vollständige, aber doch facettenreiche Übersicht über das für das demokratische Athen typische Treiben gegeben und damit eine regelrechte Lebensform beschrieben und zugleich gepriesen. Dass diese nach Perikles’ oder Thukydides’ Überzeugung die Lebensform der Athener als der Bürger eines demokratisch verfassten Gemeinwesens par excellence und damit eben demokratische, nicht einfach nur stadtstaatliche oder lokal gebundene Lebensform ist, ergibt sich am deutlichsten daraus, dass die Rede von der Beschreibung demokratischer Verfassungselemente einschließlich der Nennung der athenischen Demokratie nahtlos in die des Handelns und Verhaltens der Bürger dieses demokratischen Athens übergeht.24 Der Leser oder Hörer dieser Rede soll nicht anders können als davon überzeugt sein, dass im demokratischen Athen Verfassung – ein antiker Grieche würde hier sagen: Einrichtungen und Gesetze – und Lebensform eines sind. Wenn man Verfassung und Lebensform in der athenischen Demokratie so innig miteinander verbunden hat, dann ist es nicht verwunderlich, dass in zeitgenössischer Sicht die allgemeinen Regeln und ihre Ableitungen für das Verhalten der Bürger in den verschiedensten Situationen als Folge ihrer Umfassendheit einen eigenen demokratischen Menschentypus hervor22

Vgl. ebd. 2,37,1. Ebd. 2,41,1. 24 Vgl. ebd. 2,37,1. Die Gleichheit der Bürger im privaten Leben als Resultat gesetzlicher Garantie und damit als Bestandteil der politischen Verfassung einerseits und das öffentliche Ansehen eines Bürgers und seine Chance, für das Gemeinwesen tätig zu werden, als schlichte Tatsache innerhalb der Bürgergesellschaft und damit als Teil der demokratischen Lebensform andererseits sind im gleichen Satzgefüge (2,37,1) ausgedrückt und auf mehrerlei Weise sprachlich miteinander verschränkt. 23

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gebracht haben – oder dass umgekehrt ein spezifischer Menschentypus die Entstehung der ihm gemäßen Verfassung und Lebensform bewirkt hat.25 Jedenfalls muss nach solcher Sichtweise mit der Demokratie zusammen ein eigener ihr entsprechender Menschentypus vorhanden gewesen sein. In der Tat hebt die Grabrede des Perikles immer wieder darauf ab, dass nicht nur die Verfassung Athens anders als anderer Verfassungen sei, sondern dass auch die Athener, die Bürger der athenischen Demokratie, sich anders als ihre Gegner, vor allem die Spartaner, ja anders als die übrigen Griechen verhielten und damit anders, einzigartig seien: eben ein eigener Menschenschlag. Und das müssen sie durch ihre Demokratie geworden sein. Später sollte Platon in seinem großen Werk über den „Staat“ argumentativ viel allgemeiner vorgehen: Im 8. und 9. Buch durchmusterte er die bestehenden Regierungsformen und ordnete den vier Hauptarten von ihm als schlecht gewerteter Verfassungen, nämlich der Timokratie, der Oligarchie, der Demokratie und der Tyrannis, nicht nur ihre je eigenen Entstehungsursachen und Eigenschaften, sondern auch je einen eigenen Menschentypus zu. Der demokratische Mensch ist nach Platon vor allem durch den Drang zur Freiheit und durch deren permanente Beanspruchung und Nutzung gekennzeichnet. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass demokratische Menschen ihre Aktivitäten in höchst unterschiedliche Richtungen entfalten. Mit Platons Worten „richtet (in der Demokratie) ein jeder seine Lebensführung auf die Weise ein, die ihm gefällt“26. Zu diesem Gebrauch von Freiheit, der sich in Platons antidemokratischer Polemik vor allem auf nichtige Dinge richtet, gehört dann auch, dass man Beschränkungen der eigenen Handlungsmöglichkeiten nicht akzeptiert. Hinzu tritt die Gleichheit als weitere ideelle Grundlage der athenischen Demokratie.27 Das Zusammenwirken beider Prinzipien hat eine sehr klare und konkrete Folge: In so gut wie allen gesellschaftlichen und politischen Ordnungen stößt man auf Hierarchien. Da Hierarchien grundsätzlich die Freiheit derer in den unteren Rängen, unter bestimmten gesellschaftlichen und politischen Bedingungen aber auch die derer in den oberen Rängen beschneiden und da sie ebenso grundsätzlich vertikale Gleichheit negieren, muss eine auf Gleichheit ausgerichtete Demokratie überkommene soziale wie politische Hierarchien einebnen. Das ist in der athenischen Demokratie tatsächlich geschehen.28 Platon beschreibt diese Umformung und Einebnung generell, hat dabei freilich die athenische Demokratie vor Augen.29 Sein demokratischer Menschentypus ist also Re25

Letzteres bei Platon, Staat 544d-e. Ebd. 557b. Vgl. den genannten Passus 543–576. 27 Zu diesen beiden Grundlagen (und der dritten „Die Macht des Volkes“ bzw. „Herrschaft der ‚Meisten‘“) vgl. Pabst 2003, S. 9 ff. und bereits Tarkiainen 1966, S. 277 ff. sowie Bleicken 1995, S. 338 ff. (nur Gleichheit und Freiheit). 28 Vgl. Mehl 2005. 26

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sultat von Angleichungs- bzw. Einebnungsvorgängen. Andererseits bewirkt die garantierte und beanspruchte persönliche Freiheit der Lebensgestaltung das Gegenteil von Uniformität zwischen Mensch und Mensch: Anders als insbesondere in der Oligarchie entstehen, wie man es bereits in der Gefallenenrede des Perikles hören bzw. lesen kann, Individuen. Um es wiederum mit Platon zu sagen: „Am meisten in einem solchen (sc. demokratischen) Staatswesen entstehen – oder: „finden sich ein“ – Menschen von mannigfaltiger Art“.30 Im demokratischen Menschentyp verbindet sich also in besonderer Weise Gleichheit als Folge der Ablehnung vertikaler Unterschiede zwischen den Bürgern mit Individualität als Folge der Akzeptanz, ja Förderung der Verschiedenheit unter den nunmehr auf derselben, weil einzigen gesellschaftlichen Ebene stehenden Bürgern. Anders ausgedrückt: Nichthierarchische Diversität kann und will man sich leisten, weil man hierarchische Verschiedenheit untersagt und abgeschafft hat. Das ist die Grundlage dafür, dass die Bürger des demokratischen Athens individuelle Lebensweisen entwickelt haben, die nur durch einen sehr weit gesteckten Rahmen zu einer Lebensform zusammengehalten worden sind – eine kollektiv in allen Details einheitliche Lebensform wäre in einer Demokratie nur dann möglich, wenn diese auf eines ihrer Prinzipien, auf das der Freiheit, verzichtete. Mag man auch in der Moderne darüber streiten, ob die Demokratie neben einer Regierungsform auch eine Lebensform sei, so steht doch fest, dass die antike griechische Demokratietheorie, gleich ob man Demokratie befürwortet oder kritisiert bzw. ganz und gar abgelehnt hat, Demokratie nicht nur als Regierungsform, sondern auch und sogar wesentlich als Lebensform angesehen hat und dass, soweit wir aus unseren literarischen Quellen Rückschlüsse auf die damalige Lebenswirklichkeit ziehen dürfen, in Athen Demokratie nicht nur als Regierungsform, sondern wiederum auch als Lebensform ganz selbstverständlich ausgeübt worden ist31: So war denn Demokratie eine Einheit aus öffentlichem, politischem Handeln des Bürgerverbandes bzw. des einzelnen Bürgers in diesem und aus individuellem Handeln des Einzelnen im privaten und zwischenmenschlichen Bereich. Dieser Einzelne, der sich demokratisch verhielt oder doch in bestimmter, von der Demokratie begünstigter Weise agieren konnte, war nicht nur der (männliche) Bürger, sondern auch die Bürgerfrau, der Metöke oder gar der Sklave beiderlei Geschlechts. So reichte die athenische Demokratie weit über das von ihr – aus heutiger Sicht – restriktiv gehandhabte politische Partizipationsrecht hinaus. Nun mag man gerade diesen Anspruch und diese Realität, 29 30 31

Vgl. Platon, Staat 562 ff. Ebd. 557c. Vgl. Pabst 2003, S. 81.

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das Leben insgesamt nach einem durchgehenden Prinzip zu regeln, kritisch betrachten, man mag es sogar für totalitär in wörtlichem Sinn halten, doch lässt sich ein entscheidendes Argument dagegen halten: Die demokratische Lebensform der Athener vermied gerade Totalität, indem sie Eigenschaften und Verhaltensweisen wie Individualität, Eigeninitiative und damit und auch darüber hinaus Freiheit generell garantierte. Diese Freiheit ließ bekanntermaßen auch unverhüllte, ja demonstrative demokratiekritische und sogar antidemokratische Haltungen und Umtriebe in erstaunlich weitem Umfang zu, und ihre Grenzen wurden in erster Linie durch religiöse Anschauungen und Vorbehalte gezogen, die nicht durch die Demokratie erzeugt waren, sondern in diese als viel ältere kulturelle und mentale Eigenheiten hineinragten. Die durch die demokratische Freiheit definierte Lebensform fiel jedenfalls gerade wegen ihrer Losgelöstheit von jeder „Ordnung und Notwendigkeit“ der Kritik der Feinde der Demokratie anheim32: Sie galt also als das Gegenteil eines totalitären Zustandes, der allgemein durch eine mit „Notwendigkeit“ begründete alles umfassende Organisation und „Ordnung“ bestimmt ist. Literatur Bleicken, Jochen, Die athenische Demokratie, 4. Aufl. als Paperback = 2. Aufl. gebunden, Paderborn etc. 1995 bzw. 1994 (zitiert: Bleicken 1995). Eder, Walter (Hg.), Die athenische Demokratie im 4. Jh.: Vollendung oder Verfall einer Verfassungsform?, Stuttgart 1995 (zitiert: Eder 1995). Ehrenberg, Victor, Der Staat der Griechen, 2. Aufl., Zürich und Stuttgart 1965 (zitiert: Ehrenberg 1965). Finley, Moses I., Antike und moderne Demokratie, durchgesehene Ausgabe, Stuttgart 1987 (zitiert: Finley 1987). Gschnitzer, Fritz, Von der Fremdartigkeit griechischer Demokratie, in: Ders: Kleine Schriften zum griechischen und römischen Altertum, Stuttgart 1995, S. 254–274 (zitiert: Gschnitzer 1995). Hansen, Mogens Hermann, Die athenische Demokratie im Zeitalter des Demosthenes. Struktur, Prinzipien und Selbstverständnis, Berlin 1995 (zitiert: Hansen 1995). Harrison, A. R. W., The Law of Athens. I. The Family and Property, Oxford 1968 (zitiert: Harrison 1968). Hignett, Charles, A History of the Athenian Constitution to the End of the Fifth Century B. C., Oxford 1958 (zitiert: Hignett 1958). Kagan, Donald, Perikles. Die Geburt der Demokratie, Stuttgart 1991 (zitiert: Kagan 1991). 32

Vgl. Platon, Staat 561c–d.

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Dem Volke, was des Volkes ist Die Erfindung des politischen Populismus im Wiener Fin-de-Siècle Wolfgang Maderthaner I. Das Ende des Liberalismus Durch fünfunddreißig Jahre war die Wiener Gemeindevertretung liberal. Alles, was an Gutem und Großem in dieser Stadt geleistet und geschaffen wurde, was sie, auch nach der Schlacht von Königgrätz, zu einem „Mittelpunkt deutscher Gesittung“, zu einer „Zierde der Monarchie“, auf die alle Deutschen in Österreich mit Stolz blicken konnten, gemacht hatte, all dies war das Werk der Liberalen: die Wasserleitung, die Donau-Regulierung, die herrlichen Straßenzüge, die öffentlichen Gärten, die Vereinigung mit den Vororten, die Schulpaläste in den Bezirken, das enorme Bildungsetat, durch das die Jugend für den harten Existenzkampf gerüstet werde (. . .) Doch nun ginge diese Stadt einer sorgenvollen Zukunft entgegen, bereiteten sich Umwälzungen vor, die das Wohl der Gesamtheit wie jedes einzelnen Bürgers tief berührten. Eine Stadt aber entferne sich nicht ungestraft von den Grundlagen und Bedingungen ihres Fortschritts. Auch Wien könne nur gedeihen durch ein aufstrebendes und freies Bürgertum, das geistig mit der europäischen Zivilisation verwachsen sei und den Strom der Bildung in die Stadt lenke. Noch sei der Jubel nicht vergessen, mit welchem Wien einst den Tag begrüßte, an dem das „clericale Joch“ gebrochen worden war. Nunmehr sei Wien die einzige Großstadt der Welt, deren Verwaltung sich in der „Gewalt antisemitischer Hetzer“ befinde: „Die Antisemiten, diese Partei der Rohheit und der empörendsten Bildungsfeindlichkeit, sind im Besitz der Macht.“1 Mit bemerkenswerter Klarsicht diagnostiziert der Leitartikler der „Neuen Freien Presse“ das Ende des Liberalismus auch auf kommunaler Ebene zu einem Zeitpunkt, da die von dem liberalen Bürgertum so gefürchtete Herrschaft des „antisemitischen Pöbels“ zwar noch nicht definitiv installiert, wohl aber eine folgenschwere Verfassungs- und Verwaltungskrise virulent geworden war. Seine politischen Repräsentanten verfielen im Verlauf dieser 1

Neue Freie Presse (NFP), 14. Mai 1895, S. 1.

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Krise in Agonie und Erstarrung; deutlicher als alles andere demonstrierte dies, dass der Liberalismus in Wien (wie in der Habsburgermonarchie überhaupt) letztlich ein äußerliches, artifizielles, aus Kompromissen und herrschaftstechnischen Arrangements hergeleitetes Gebilde geblieben war. Letztlich hatte die liberale Herrschaft niemals die Kraft der Bourgeoisie gegenüber der Krone zum Ausdruck gebracht, sondern stets den Grad der Gunst bezeichnet, der ihr von den traditionellen Herrschaftseliten zuteil geworden war. Der Liberalismus hatte keine wie immer geartete Erweiterung seiner sozialen Basis in Richtung der viel beschworenen alten wie neuen sozialen Mittelschichten, die sein „natürliches“ Rekrutierungsreservoir bilden mussten, unternommen. Einmal an der politischen Macht, hatte er jene humanitären Optionen und Versprechungen, die ihm seine eigentliche mobilisierende Kraft verliehen, lediglich für seine unmittelbaren sozialen Trägerschichten, keinesfalls für den „schaffenden Mittelstand“ oder das sich sozial und ökonomisch formierende industrielle Proletariat eingelöst. Solange eine prosperierende Ökonomie den Siegeszug der industriellen Moderne begründete und für das bürgerliche, liberale Zeitalter konstitutiv wurde, schienen die nunmehr neu auftretenden sozialen Spaltungen und Disparitäten von bloß sekundärer Bedeutung zu sein. Je mehr aber sich diese neuen Formen sozialer, ökonomischer und kultureller Ungleichheiten und Segmentierungen in der lang anhaltenden Depression im Gefolge der Spekulationskrise von 1873 verschärften, desto mehr musste das liberale Projekt unter Druck geraten. In der Reichshauptstadt hatte dieses Projekt nicht zuletzt ein dynamisches und sich wandelndes Verhältnis von Zentrum und Peripherie, von Innen- und Vorstadt geschaffen, das die Elitenkulturen in Spannung zu den popularen Kulturen der Vorstädte setzte. Dadurch war das Stadtganze sowohl geteilt als auch zu gebrochenen, von Herrschaft durchfluteten Austauschbeziehungen zusammengeführt worden. Es ist diese spannungsreiche und konfliktgeladene Wechselwirkung von Brechung und Homogenisierung, die eine gesellschaftliche Dynamik in Gang setzt, die ihrerseits für die Herausbildung früher (archaischer, egalitärer) Formen von Massenkultur und -politik charakteristisch ist. Die Fortexistenz bzw. Metamorphose gegenläufiger (und in der ökonomischen Depression radikalisierter) Subkulturen durchdringt die bürgerlich-liberale Repräsentation der Stadt, verursacht Gegen- und Querbewegungen zur liberalen Ordnungspolitik, kurz, unterläuft die Hegemonie des Zentrums.2 Als das „Andere“ der bürgerlichen Repräsentation und symbolischen Ordnung der Stadt bleiben sie unscharf, kontingent, dissonante Stimmen im öffentlichen Raum; sie artikulieren sich in der Krise und entwickeln, zur Massenbewegung organisiert, enorme gesellschaftliche Sprengkraft. 2

Vgl. Maderthaner/Musner 2002, S. 437.

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Nicht zuletzt sind der Logik des liberalen Systems aber auch Tendenzen und Kräfte inhärent, die es gleichsam aus sich selbst heraus destabilisieren und letztlich die Bedingungen zu seiner eigenen Überwindung herstellen. Wenn so etwa das Koalitionsverbot ein Requisit des merkantilistisch reglementierten Wirtschaftslebens war, so ist die Koalitionsfreiheit die notwendige Konsequenz jeder freien, vom Staat nicht geregelten kapitalistischen Wirtschaft, und damit die notwendige Voraussetzung für das Entstehen von modernen politischen Massenbewegungen. In ähnlicher Weise konnten sich die Liberalen auf die Dauer nicht einer Erweiterung des Wahlrechts verschließen, solange dies an das für sie zentrale Kriterium der individuellen Unabhängigkeit, also Besitz und Bildung, gebunden blieb. Wie aber das individuelle, privilegierte Wahlrecht zum zentralen Faktor liberaler Machteroberung und Machterhaltung geworden war, so bildete dessen wie immer vorsichtige und eingeschränkte Demokratisierung und Öffnung die unmittelbare Voraussetzung liberalen Machtverlustes. Im Gefolge einer von Ministerpräsident Taaffe mit explizit antiliberaler Stoßrichtung 1882 initiierten Reform der Reichsratswahlordnung musste drei Jahre später auch das kommunale Wahlrecht im Sinne einer Ausweitung des dritten Wahlkörpers geändert werden, und zwar auf jene männlichen Staatsbürger über 24 Jahre, die mindestens fünf Gulden an direkter Steuer entrichteten.3 Die soziale und kulturelle Rebellion der so genannten „Fünfguldenmänner“ sollte innerhalb eines Jahrzehnts die liberale Herrschaft in Wien endgültig zu Fall bringen. Die Freizügigkeit der Berufswahl und der Wahl des Wohnortes hatten massenhafte Migrationsprozesse in die neuen urbanen Zentren, insbesondere aber in die Reichshauptstadt befördert und diese mit dringend nachgefragten Arbeitskräften versorgt. Eine expansive sozialräumliche Entwicklung ließ urbane Strukturen weit über die ursprünglichen Stadtgrenzen hinaus entstehen, führte zu rasanten Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozessen in ehemals agrarisch strukturierten Vororten und ländlichen Peripherien. In diesen Vor-Städten schreibt sich eine harte, Fakten und Strukturen schaffende Signatur von Fabriken und Industrialisierung des Alltags, rasch verlaufender Stadterweiterung, Zinskasernenbau und neuen Verkehrs- und Kommunikationsadern ein, die gleichermaßen zur Quelle unermesslichen sozialen Elends wie neuer politischer Bewegungen wird.4 Die Stadt sprengt sozusagen aus sich heraus ihre Grenzen, die Anpassung der administrativen Gegebenheiten war eine unumgängliche Notwendigkeit geworden und wurde in der Stadterweiterung (der Eingliederung des außerhalb der Bezirke I bis X gelegenen urbanen Terrains im Osten, Süden und Westen sowie am rechtsseitigen Donauufer) 1890/92 vollzogen.5 3 4

Vgl. Seliger/Ucakar 1984, S. 40. Vgl. Maderthaner/Musner 2000, S. 51 ff.

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Die Liberalen hatten zur weiteren verfassungsrechtlichen Absicherung ihrer Macht auch in der neu entstandenen, um insgesamt 33 Vororte erweiterten großstädtischen Agglomeration durch eine Reihe administrativer Maßnahmen im Zusammenhang mit der im Jahr 1890 beschlossenen Reformulierung von Gemeindestatut und kommunaler Wahlordnung Vorsorge getroffen. Mit der Beibehaltung des Kurienwahlsystems, einer majoritätsadäquaten Neuzuordnung der Wahlberechtigten zu den einzelnen Wahlkörpern, der Ausdehnung der Wahlperiode auf sechs Jahre, vor allem aber mit der Installierung eines „Stadtrates“ hatten sie die Voraussetzungen für die Etablierung eines Systems der „institutionalisierten Oligarchie“, einer oligarchisch-autokroatischen Administration geschaffen. Insbesondere der Stadtrat erwies sich als ein Instrument in genau diesem Sinn, waren ihm doch zentrale, früher beim Gemeinderat gelegene Kompetenzen (im besonderen auch der Gesetzesvorbereitung wie der Gesetzesinitiative) übertragen worden und konnte die Gemeinderatsmajorität seine Zusammensetzung mit einfacher Stimmenmehrheit beschließen. Der für eine Amtszeit von sechs Jahren gewählte Bürgermeister übernahm den Stadtrats-Vorsitz.6 Ganz im Sinne der Mehrheitsabsicherung wurde auch die Neuzuteilung zu den Wahlkörpern geregelt. Bereits 1885 waren Beamte, Doktoren, Lehrer in den zweiten Wahlkörper ohne die Zensusbestimmungen von 1850 als wahlberechtigt aufgenommen worden, nunmehr sollte er definitiv als liberales Bollwerk ausgebaut werden: Erwerbssteuerpflichtige mit einer Steuerleistung zwischen 100 und 200 Gulden stiegen vom ersten in den zweiten Wahlkörper ab, Einkommenssteuerpflichtige in der Höhe von 30 bis 200 Gulden vom dritten in den zweiten auf; Grund- und Gebäudesteuerpflichtige mit einer Leistung von unter 200 Gulden – also die nicht unbeträchtliche Anzahl der offenkundig als nicht mehr verlässlich eingestuften kleineren „Hausherren“ – wurden vom zweiten in den dritten transferiert.7 Es ist eine besondere Ironie der Wiener Stadtgeschichte, dass die antiliberale Revolte des mittelständischen Gewerbes und des Kleinhandels, also der im dritten Wahlkörper konzentrierten Fünfguldenmänner, binnen kürzester Zeit auf den zweiten, als uneinnehmbare liberale Bastion konzipierten übergriff und von dort den Sturz des kommunalen Liberalismus besiegelte.

5 6 7

Die Stadterweiterungen im Überblick bei Czeike 1992–1997, S. 289 f. Vgl. Seliger/Ucakar 1985, S. 739 und S. 778 f. Vgl. Seliger/Ucakar 1984, S. 41 ff.

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II. Der „kleine Mann“ von Wien Die Revolte nahm vage christlich-antikapitalistische und sehr bestimmte antisemitische Züge an; sie formierte sich im Gefolge der ökonomischen Krise in den frühen 1880er Jahren. Es war eine archaische, diffuse Bewegung, die vom Handwerk – das von der kapitalistischen Moderne insgesamt überrollt und von den ökonomischen Strukturveränderungen und den Auswirkungen der Depression im speziellen zerrieben zu werden drohte – ihren Ausgang nahm; es war ein antimodernes, rückwärts gewandtes Aufbegehren des Kleinbürgertums, des sprichwörtlich gewordenen „kleinen Mannes“ von Wien, es war, wie Friedrich Austerlitz formulierte, die Revolte des „autochthonen Spießertums“8 – und es war zugleich mehr. In den turbulent und hitzig verlaufenden Volks- und Wählerversammlungen der Fünfguldenmänner feierte ein Massenpolitiker völlig neuen Stils, ein begnadeter Populist und hinreißender Rhetoriker, ein Volkstribun allenthalben, wahre Triumphe: der Advokat Dr. Karl Lueger, genannt der „fesche Karl“.9 Wien war trotz aller Modernisierungstendenzen in weiten Teilen seiner Ökonomie eine (im Wortsinn) vorwiegend kleinbürgerlich produzierende Stadt geblieben.10 Handwerk, (Klein-)Handel und Gewerbe standen der Moderne skeptisch, reserviert bis offen ablehnend gegenüber. Ihr latenter Antisemitismus, ihr Antiliberalismus und ihr unklar empfundener Antikapitalismus gingen fließend ineinander über. Karl Lueger gab ihrer archaischunorganisierten Protestbewegung Richtung und Struktur, brachte sie zum öffentlichen, politischen Ausdruck, mobilisierte ihre Sehnsüchte und Aspirationen, erweiterte ihre soziale Basis in Richtung Angestellte, Kontoristen, Beamte, Lehrer, Angehörige der freien Berufe und (aufgrund ihres organisatorischen und meinungsbildenden Potenzials von besonderer Bedeutung) des niederen Klerus. Ihre höchst unterschiedlichen materiellen Bedürfnisse, politischen Intentionen und kulturellen Ambitionen vereinte er zu einem antiliberalen (und sehr bald antisozialistischen) Bürgerblock auf Basis des politischen Klerikalismus und des Antisemitismus. Er gab den wie immer disparaten sozialen Fraktionen und Schichten des Kleinbürgertums ihren authentischen Ausdruck, verlieh ihnen Stimme, brachte sie zum Bewusstsein ihrer selbst.11 Der liberale Schriftsteller und Feuilletonist Felix Salten, für den sich in Lueger „der Wille einer Epoche erfüllt hat“, entwirft in seinem „Österreichischen Antlitz“ ein ebenso faszinierendes wie vieldeutiges Porträt des großen Demagogen und Agitators: 8

Austerlitz 1901, S. 42. Dazu grundlegend: Boyer 1981, S. 184 ff. 10 Vgl. Meißl 2003, S. 187 ff. 11 Vgl. Boyer 1981, S. 446. 9

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„Allein er nimmt auch noch die Verzagtheit von den Wienern. Man hat sie bisher gescholten. Er lobt sie. Man hat Respekt von ihnen verlangt. Er entbindet sie jeglichen Respektes. Man hat ihnen gesagt, nur die Gebildeten sollen regieren. Er zeigt, wie schlecht die Gebildeten das Regieren verstehen. Er, ein Gebildeter, ein Doktor, ein Advokat, zerfetzt die Ärzte, zerreißt die Advokaten, beschimpft die Professoren, verspottet die Wissenschaft; er gibt alles preis, was die Menge einschüchtert und beengt, er schleudert es hin, trampelt lachend darauf herum, und die Schuster, die Schneider, die Kutscher, die Gemüsekrämer, die Budiker jauchzen, rasen, glauben das Zeitalter sei angebrochen, das da verheißen ward mit den Worten: selig sind die Armen am Geiste. Er bestätigt die Wiener Unterschicht in all ihren Eigenschaften, in ihrer geistigen Bedürfnislosigkeit, in ihrem Mißtrauen gegen die Bildung, in ihrem Weindusel, in ihrer Liebe zu Gassenhauern, in diesem Festhalten am Altmodischen, in ihrer übermütigen Selbstgefälligkeit; und sie rasen, sie rasen vor Wonne, wenn er zu ihnen spricht.“12

Zum einigenden Faktor, zur leitenden Idee, zum eigentlichen Moment ihrer Mobilisierung wurde der sozial und kulturell so disparaten Luegerschen Kleinbürgerkoalition der Antisemitismus. Unter der ebenso allgemeinen wie allgemein verständlichen antijüdischen Parole erhob Lueger die atavistische Abneigung gegen die Juden zu seiner eigentlichen politischen Idee, auf ihrer Grundlage organisierte er das „christliche Volk von Wien“. Er changierte dabei in der Pose des teils gemütlichen, urwienerischen, konzilianten, teils auch tückischen und, wenn es denn „die Situation“ erforderte, des eben durch und durch ungemütlichen Antisemiten. Felix Salten: „Da kommt dieser Mann und schlachtet – weil ihm sonst alle anderen Künste mißlangen – vor der aufheulenden Menge einen Juden. Auf der Rednertribüne schlachtet er ihn mit Worten, sticht ihn mit Worten tot, reißt ihn in Fetzen, schleudert ihn dem Volk als Opfer hin. Es ist seine erste monarchisch-klerikale Tat: Der allgemeinen Unzufriedenheit den Weg in die Judengassen weisen; dort mag sie sich austoben. Ein Gewitter muß diese verdorbene Luft von Wien reinigen. Er läßt das Donnerwetter über die Juden niedergehen. Und man atmet auf.“13

Der Antisemitismus hierzulande ist antiliberal und vice versa. Er beruft sich auf die Tradition konservativer, „bodenständiger“ und christlicher Gesinnung in der Abwehr der Konkurrenz durch das „Andere“, „Fremde“, „Gegenläufige“, „Ortlose“. Er richtet sich gegen Individuen, die sich durch Anpassungsfähigkeit, Mobilität, Willensenergie, praktische Tatkraft auszeichnen, und so zu Stützen und Trägern jenes Systems der freien Konkurrenz werden, das die „Eingesessenen“ und „Bodenständigen“ ihrer traditionellen und althergebrachten Existenzgrundlage zu berauben droht. Er ist ein Phänomen der Übertragung und der Projektion: Die Juden werden mit der industriekapitalistischen Moderne insgesamt identifiziert, die fatalen sozialen Defizite des wirtschaftlichen Liberalismus ausdrücklich den Juden zur 12 13

Salten 1910, S. 132 f. Ebd., S. 132.

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Last gelegt. Der von vielen jüdischen Neubürgern auf Basis ihrer materiellen Erfolge im Rahmen einer beschleunigten kapitalistischen Entwicklung angestrebten Assimilation waren so klare Grenzen gesetzt, ja mehr noch: Sie wurden mit einer massiven Welle von Ressentiments und Präjudizien konfrontiert, die das latente wie manifeste Unbehagen an den sich klarer ausdifferenzierenden Elementen der industriekapitalistischen Moderne wie Finanzkapital und Börsenspekulation – also am nichtfasslichen Prinzip der Zirkulation – mit vormodernen, dem christlich-religiösen Kanon zugehörigen Schuldzuweisungen verbanden.14 Am 6. März 1882 hatte Lueger den „unentwegten Kampf gegen das mit Hilfe der Verbreitung des Judentums international organisierte Großkapital“ als sein Programm verkündet.15 Zum ökonomischen Moment trat das kulturelle, die Auflehnung gegen den kirchenfeindlichen Rationalismus, von den Liberalen in oft vordergründiger und wenig differenzierter Weise als Mittel des Kulturkampfs in Anwendung gebracht. Analog zum wirtschaftlichen wurde der kulturelle Liberalismus mit Judentum und „jüdischem Wesen“ ident gesetzt, und wo der Kampf gegen Kirche und Klerikalismus von Nichtjuden geführt wurde, als „verjudet“ denunziert. Wobei, wie Tellering in seinem bemerkenswerten Traktat „Freiheit und Juden“ ausführt, der Indifferente gegenüber dem Orthodoxen das noch größere Gefahrenpotenzial in sich berge; komme doch bei diesem das zersetzende Wesen des jüdischen Geistes, beim Gläubigen in die Schranken der Religion verwiesen, ungehemmt zum Durchbruch. Der Jude sei somit nicht bloß Wucherer und Spekulant, sondern notwendig Freigeist, den es mit allen Mitteln zu bekämpfen gelte.16 War somit der Entwicklung des christlich-sozialen Antisemitismus unter der Führung des Politprofis Lueger zu einer Massenbewegung des Kleinbürgertums und des Mittelstandes der Weg bereitet, so hat ihr ein österreichisches Spezifikum zum Durchbruch verholfen. Der von Karl Renner so bezeichnete „Antisemitismus der Reichen“ – also die stets präsente Abneigung, ja der Hass des traditionellen, eingesessenen Reichtums und Kapitals, von Teilen des Besitz- und Industriebürgertums gegen das „neureiche“, überwiegend jüdische Finanzkapital – schloss sich der Kleinbürgerrevolte an. Die, so Renner, „Salonantisemiten“ à la Pattai und Strobach, die „Kavalierantisemiten“ à la Prinz von Liechtenstein führten ihren besonderen Kampf gegen das mobile Großkapital, den unproduktiven Handel, die Börse. Sie waren wesentlich mitverantwortlich für die Eroberung des zweiten Wahlkörpers durch die Christlichsozialen und für deren entscheidende Einbrüche in den ersten.17 14 15 16

Ardelt 1984, S. 19. Zit. in: Tietze 1987, S. 240. Ebd., S. 199.

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1885 hatte der erste antisemitische Kandidat, der Drechslermeister Eulenberg, in Mariahilf 41 Stimmen bekommen, 1891 lag der Stimmenanteil der antisemitischen Opposition insgesamt bereits bei über 50 Prozent, im dritten Wahlkörper waren von 46 Mandaten 33 errungen worden. Ende 1895 hatte Lueger mit 91 Mandaten gegen 46 Liberale endgültig die Mehrheit im Gemeinderat erobert, nachdem schon die Wahl im Frühjahr dieses Jahres mit einem „Erdrutschsieg“ der Christlichsozialen im zweiten Wahlkörper (sie eroberten 24 von 46 Mandaten) die politische Wende eingeleitet hatte. Die ergebnislose Bürgermeisterwahl vom 29. Mai 1895 hatte den Statthalter Graf Kielmansegg veranlasst, den Gemeinderat aufzulösen und mit Hans von Friebeis einen Regierungskommissär zur Durchführung von Neuwahlen und der „einstweiligen Besorgung der Gemeindegeschäfte“ einzusetzen. Der Kommissär vereinigte in sich die Befugnisse des Gemeinderats, des Stadtrats und des Bürgermeisters, er trat zudem an die Spitze des Magistrats als politischer Behörde erster Instanz – die Gemeinde Wien sah sich de facto in den Ausnahmezustand versetzt.18 Den entscheidenden Durchbruch brachten die Wahlen vom September dieses Jahres. Lueger eroberte alle Mandate im dritten, 32 (gegenüber nur mehr 14 liberalen) im zweiten, und immerhin 14 im ersten Wahlkörper. Das war nicht mehr nur der „dumme Kerl von Wien“, das war in der Tat das von Lueger Klassen übergreifend mobilisierte „christliche Wiener Volk“. Ein Polizeibericht vom 5. Dezember 1895 bringt dies auf den Punkt: „Die in den letzten Jahren in Wien zutage getretene antiliberale oder antisemitische Strömung beherrscht zur Zeit in noch viel höherem Maß als früher das ganze öffentliche Leben. Von dieser Strömung ist nicht nur der kleine Mann, der Gewerbestand erfaßt, sondern sie hat auch in weiteren Kreisen, in dem mittleren Bürgerstand sowie insbesondere im Beamtenstand Platz gegriffen und findet in dem niederen Klerus ihre tatkräftige Unterstützung.“19

Angesichts dieser Umstände gab der hohe Klerus seinen bis dato geübten hinhaltenden Widerstand auf. Noch 1894 hatten die österreichischen Kirchenfürsten einen Hirtenbrief gegen den Antisemitismus erlassen und ein Jahr später Erzbischof Schönborn von Prag nach Rom entsandt, um gegen die aufrührerisch-antihierarchische Bewegung ein Anathema des Papstes zu erwirken. Dieser allerdings gab Lueger seinen Segen, nicht zuletzt unter dem Einfluss des mächtigen Kardinals Rampolla, der einem effizienten Verbündeten im Kampf gegen den kirchenfeindlichen Liberalismus ethischen Bedenken gegenüber allemal den Vorzug einräumte. Höchst gewichtiger Widerstand kam von anderer Seite: Kaiser Franz Joseph machte in einem 17

Renner 1908, S. 6 f. Zur Verfassungs- und Verwaltungskrise im Detail Seliger/Ucakar 1985, S. 742 ff. 19 Zit. in ebd., S. 750. 18

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überaus bemerkenswerten Schritt von seinem im Stadtstatut verankerten diskretionären Recht, die Bestätigung der Wahl des Bürgermeisters von Wien zu verweigern, tatsächlich Gebrauch, wobei diplomatische Erwägungen (Lueger war ausgesprochen magyarophob und hatte den Terminus „JudaeoMagyaren“ geprägt) ebenso von Bedeutung gewesen sein dürften wie Luegers Status als radikal-populistischer, unberechenbarer politischer underdog.20 Dr. Sigmund Freud, wahrlich kein Freund der Dynastie, brachte ob der allerhöchsten Verweigerung jedenfalls einen Toast auf den Monarchen aus.21 Zu früh allemal; der „fesche Karl“ wurde nicht weniger als vier Mal innerhalb eines Jahres zum Bürgermeister gewählt und im Mai 1896 musste der Kaiser in einen Kompromiss einwilligen, der Lueger, unter der formellen Bürgermeisterschaft des Hausherrenfunktionärs Josef Strobach, definitiv die politische Macht zufallen ließ. Am 20. April 1897 trat er auch formal an die Spitze der Stadtverwaltung. Der Agitator, Populist, Demagoge, moderne Massenpolitiker, der mit nichts als der Gabe und der Attraktion seiner Rede sich den Gemeinderat und eine sichere Mehrheit im Landtag erobert hatte, der im Parlament eine imposante Machtposition einnahm, war am Ziel seiner Ambitionen – seiner wohl einzig wahren Ambition – angelangt. Niemand habe begriffen, resümierte Felix Salten, warum Luegers gesamtes Wollen immer und ausschließlich nur auf die Eroberung des Bürgermeisteramtes gerichtet war. Erst als er die Position tatsächlich inne gehabt hatte, seien seine eigentlichen Intentionen klar und nachvollziehbar geworden: „Man merkte, daß wirklich ein Gedanke in diesem Mann nach Ausdruck gerungen hat, nicht bloß der Gedanke an den eigenen Erfolg; daß er von einem Traum erfüllt war, nicht bloß von dem Traum des eigenen Aufstiegs: Wien! All dies andere vorher war nur ein Mittel gewesen. Er hätte jedes beliebige Mittel angewendet, selbst ein edles, wenn es nützlich gewesen wäre. Freilich aber hätte er keines so mühelos, so voll aus seinem Wesen heraus, so ganz aus seinen Instinkten gebrauchen können wie diese Taktik und Technik des Gassenhauers, des ‚mir san mir‘!“22

III. Eine inversive Moderne Die Bürgermeisterfrage, so hatte Lueger anlässlich seiner vierten Wahl am 18. April 1896 verkündet, sei ein Teil des großen Kampfes um die „Befreiung des christlichen Volkes: möge es Gott gefallen, dass endlich dem Volke gegeben werde, was des Volkes ist.“23 Ein Jahr später, am Tag seiner Ver20 Zu Luegers Aufstieg zur Macht siehe das entsprechende Kapitel in Boyer 1981, S. 316 ff. 21 Vgl. Hacohen 2000, S. 38. 22 Salten 1910, S. 137. 23 Kuppe 1933, S. 339.

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eidigung, präsentierte er sein kommunales Programm. Lueger, der gegen den „verjudeten“ Liberalismus die christliche Basis, die Kapläne und den niederen Klerus gegen Bischöfe und Episkopat mobilisiert hatte, legte – insofern er den Bau neuer Gotteshäuser in großem Maßstab, insbesondere in den Vorstädten, plante – in der Tat ein Programm der Evangelisierung vor. Vor allem aber war es ein Programm einer radikalen Modernisierung, das ähnlichen zeitgenössischen kommunalen Vorhaben in deutschen und amerikanischen Großstädten um wenig nachstand, in gewissen Aspekten sogar darüber hinaus wies. Die Schaffung einer neuen Bauordnung, die Verbesserung des Approvisionierungswesens und der Straßenpflege waren ebenso vorgesehen wie der Aufbau einer karitativen Armenversorgung, der weitere Ausbau der Hochquellenwasserleitung etc. In überaus eigensinniger Weise verband das Programm kommunale Modernisierung mit kultureller Reaktion, thematisierte es in seiner Berufung auf die Rechte und Ansprüche des „christlichen Volkes“, des katholischen Bürgertums und Mittelstandes brennende, zur Lösung dringend anstehende Sachfragen wie Gas- und Stromversorgung oder die Verkehrsproblematik. Luegers Kommunalprogramm propagierte in diesem Sinn umfängliche Kommunalisierungen, „Verstadtlichungen“.24 Das von den Liberalen in einem dramatischen Versuch der Erhaltung ihrer kommunalen Macht geschaffene System einer institutionalisierten Oligarchie war in die Hände Luegers und der Christlichsozialen übergegangen, die die autokratischen Strukturen und Instrumente der Stadtverfassung und Stadtverwaltung durchaus virtuos hand zu haben wussten. Die symbolisch und propagandistisch hoch aufgeladenen Kommunalisierungsprojekte ehemals privat geführter Unternehmungen bzw. die Schaffung kommunaler, in Konkurrenz zu privatkapitalistischen (oft „ausländischen“) Betrieben stehender Einrichtungen konzentrierten sich wesentlich auf die Bereiche Gas, Strom, Verkehr. Daneben kam es zu Gründungen funktionalistischen Charakters, wie einer kommunalen Lebens- und Rentenversicherungsanstalt oder einer vorwiegend an Mittelstandsinteressen ausgerichteten Zentralsparkasse. Eine zweite Hochquellenwasserleitung wurde 1910 eröffnet, der Zentralfriedhof vergrößert und ausgebaut (inklusive einer im Jugendstil gehaltenen, nach Karl Lueger benannten Kirche), eine Übernahmestelle für Vieh und Fleisch eingerichtet sowie das Kohlenbergwerk Zillingdorf für die städtischen E-Werke erworben.25 Die Kommunalisierungen, immer wieder auch als „Kommunalsozialismus“ Luegerscher Provenienz angesprochen, erfüllten zusätzlich zu ihrer 24

Seliger/Ucakar 1985, S. 753. Zu den Kommunalisierungen im Detail siehe ebd., S. 887 ff. und Boyer 1995, S. 5 ff. So nicht anders ausgewiesen, bezieht sich der vorliegende Text im Folgenden auf diese beiden Belegstellen. 25

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Modernisierungsfunktion einen dreifachen Sinn: Sie waren definitiv kein Akt der sozialen Reform, demonstrierten aber wie kein zweites Projekt den „antikapitalistischen“ Impetus christlichsozialer Gemeindepolitik, der einen nachhaltigen Affirmations- und Bindungsseffekt urbaner Mittelschichten auszulösen vermochte. Sie waren, zum Zweiten, ein sehr konkreter Akt der (partei- und kommunalpolitisch motivierten) Sicherung finanzieller Autonomie gegenüber zentralstaatlichen Instanzen. Die Gewinne der Gemeindebetriebe wurden für das städtische Budget abgeschöpft und stellten einen substanziellen Teil der jährlichen Haushaltseinnahmen der Kommune dar. (So erarbeiteten die städtischen Verkehrsbetriebe innerhalb des ersten Jahrzehnts ihres Bestehens einen Nettoprofit von 104, 5 Millionen Kronen, wobei 22,6 Millionen direkt dem Gemeindebudget zuflossen.)26 Sie eröffneten drittens ein enormes Potenzial direkter politischer Patronage, was in Teilen des Verwaltungsapparates zu einer Symbiose von christlichsozialer Partei und kommunaler Bürokratie führte und Lueger mit einer politischen Maschinerie von bis dato ungekannter Effizienz ausstattete. Mit Ende Oktober 1899 lief (bei einer dreijährigen Kündigungsfrist) der Vertrag mit der englischen Imperial Continental Gas Association ab, die bisher die Gasversorgung Wiens betrieben hatte; die Gemeinde beschloss 1896 die Errichtung einer zentralen Gasanstalt in Simmering, die mit Vertragsablauf ihren Betrieb aufnehmen sollte. Die Finanzierung der Anlage mittels Bankanleihen gestaltete sich alles andere denn friktionsfrei, verwickelte sie doch Lueger in eine von ihm überaus geschickt medial und propagandistisch verwertete, heftige Kontroverse mit der Wiener Bankenwelt und der sie stützenden liberalen Presse. Es gelang schließlich, die Gasanleihe bei der Deutschen Bank in Berlin zu platzieren. Und Lueger seinerseits schloss, entsprechend dem mit Regierungsfunktion eintretenden grundlegenden Funktions- und Bestimmungswandel seiner Partei, sehr bald Frieden mit dem örtlichen, ehedem so heftig bekämpften Finanzkapital: Ab der Jahrhundertwende standen der Anleihenfinanzierung von öffentlichen Vorhaben keine Hindernisse entgegen; im Regelfall wurde sie über die Länderbank abgewickelt, wo mit August Lohnstein ein Vertrauensmann Luegers als Direktor tätig war.27 Das städtische Gaswerk wurde am 31. Oktober 1899 eröffnet, die neu gegründete Firma „Gemeinde Wien – Städtische Gaswerke“ (die vorerst aufgrund eines vertraglichen Übereinkommens mit der Imperial Continental nur die Bezirke I bis XII versorgte) hatte ihren Reingewinn nach Abzug von Verzinsung und Amortisierung der Anleihegelder an das städtische 26 Die Entwicklung der städtischen Strassenbahnen im zehnjährigen Eigenbetriebe, Wien 1913, S. 147. 27 Vgl. Arbeiter-Zeitung (AZ), 11. März 1900, S. 6 f.

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Budget abzuführen, die gesamte öffentliche Straßenbeleuchtung unentgeltlich zu leisten und der Gemeinde für nicht öffentliche Zwecke überlassenes Gas zum Selbstkostenpreis in Rechnung zu stellen.28 Der Beschluss zur Übernahme und Elektrifizierung der Straßenbahnen war der konkrete Anlass für den nächsten Kommunalisierungsschritt, die Einrichtung gemeindeeigener Elektrizitätswerke. Explizites Ziel war die Konkurrenzierung privater Gesellschaften sowie in weiterer Folge die schnellstmögliche Erringung einer Monopolstellung auf dem Gebiet der Stromproduktion, was noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges tatsächlich realisiert werden konnte. Weitaus komplizierter hingegen sollte sich die Kommunalisierung der privat betriebenen Straßenbahnen gestalten.29 Die Verstadtlichung des wichtigsten privaten Betreibers, der Wiener TramwayGesellschaft, war ein ausgesprochenes Prestigeprojekt von außerordentlichem symbolischem Überschussgehalt, hatten sich doch gerade auf dem Gebiet des städtischen Transportsystems und seiner Aneignung und Ausbeutung durch privates Kapital exemplarisch jene sozialen Defizite verdichtet, die zu einem signifikanten Merkmal des Liberalismus schlechthin geworden waren: Investitionen waren aus Gründen der Profitmaximierung zurück gestellt oder überhaupt unterlassen worden, Arbeitsleid und Arbeitsdruck des Personals sprichwörtlich katastrophal. Pfarrer Rudolf Eichhorn, ein prononcierter Anhänger der christlichen Soziallehre des Freiherrn von Vogelsang, hatte dies in einer Broschüre über „Die weißen Sklaven der Wiener Tramway-Gesellschaft“ 1885 öffentlich thematisiert, in der sozialreportagehaften Darstellung des Herausgebers der sozialdemokratischen „Gleichheit“, Dr. Victor Adler (1889), gerieten die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Tramwaybediensteten zum öffentlichen Skandal. Am 4. November 1865 hatte der erste Pferdetramway-Wagen die Strecke Dornbach-Schottenring durchfahren; drei Jahre später waren die für den Personenverkehr wichtigsten Hauptstraßen Wiens beschient, die rentable Verkehrsanstalt wurde von einer privaten Aktiengesellschaft erworben. Mitte der achtziger Jahre umfasste das gesamte Schienennetz rund 60 Kilometer oder acht österreichische Postmeilen. Die Monopolisierung des Personentransportverkehrs durch zwei private Gesellschaften (neben der Tramway-Gesellschaft die Wiener General-Omnibus-Compagnie) hatte allerdings eine mit der dynamischen Expansion der Vororte dringend anstehende Anlage eines leistungsfähigen modernen Massentransportmittels mit entsprechender Tarifgestaltung verhindert. 28 Ende 1911 wurde die Versorgung der Außenbezirke durch die Gemeinde aktuell, 1907 daher der Ausbau der bestehenden und die Errichtung eines zweiten Gaswerks in Simmering beschlossen. 29 Zur Verkehrsentwicklung und -politik allgemein siehe Capuzzo 1998, S. 23 ff.

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Die hoch profitable Tramway-Gesellschaft hatte die Dienst-, Lohn- und Arbeitsverhältnisse ihres zumeist aus Tschechen, Slowaken oder Polen bestehenden Personals in einem komplexen System von Überwachung, Disziplinierung und Bestrafung festgelegt, niedergeschrieben in einem 45 Druckseiten umfassenden Dienstregulativ. Die effektive tägliche Arbeitszeit für Kutscher und Kondukteure betrug 16 bis 18, in Ausnahmefällen bis zu 21 Stunden. Die Pferdewärter und Fouragearbeiter hatten an Wochentagen mindestens 16, an Sonn- und Feiertagen mindestens 17 Stunden zu arbeiten. Die rund 300 Stallarbeiter rekrutierten sich fast zur Gänze aus ehemaligen Angehörigen der Kavallerie und hatten in neun geräumigen und peinlichst sauber gehaltenen Stallungen etwa 2.500 Pferde zu betreuen. Somit kamen auf einen Mann zehn zweispännige (kleinere) oder neun einspännige (größere) Pferde, während bei der Kavallerie einem Soldaten nur in Ausnahmefällen zwei, in äußerst seltenen Notfällen auch drei Pferde zugewiesen waren. Umgangston und -formen der „Stallschaffer“ waren dementsprechend sprichwörtlich derb und rauh, ihre Anfälligkeit für übermäßigen Branntwein- und Tabakgenuss notorisch und ihre äußere Erscheinung geprägt von Unterernährung, Auszehrung und Überarbeitung. Die Tramway-Gesellschaft, resümiert Victor Adler, habe eben zwei Gattungen von Bediensteten: Die einen hätten eine Arbeitszeit von 16 bis 21 Stunden und ganz ungenügende Ernährung, die anderen arbeiteten vier Stunden und seien reichlich genährt. Das eine seien die Menschen, das andere die Pferde. Menschen seien spottbillig, Pferde kosteten aber schweres Geld.30 Die von den Christlichsozialen nunmehr in Angriff genommene „Sozialisierung“ des Verkehrswesens lief auf eine „verdeckte“ Kommunalisierung insofern hinaus, als die Verkehrsversorgung weiterhin einer privaten Gesellschaft überlassen, die Einfluss- und Einnahmemöglichkeiten der Kommune aber bedeutend erweitert wurden. Siemens & Halske, im Besitz zahlreicher Patente für elektrischen Straßenbahnbau, hatten die Aktienmehrheit bei der Wiener Tramway-Gesellschaft erworben und diese, nach vertraglicher Einigung mit der Gemeinde Wien, liquidiert. Eine von Siemens gegründete Betriebsgesellschaft besorgte Aus- und Umbau des Netzes sowie den laufenden Betrieb, die Gemeinde Wien bewarb sich um die zur Elektrifizierung notwendigen staatlichen Konzessionen. Als sich mit sinkender Ertragslage die Spannungen zwischen Betriebsgesellschaft und Gemeinde zu häufen begannen, nahm letztere ein Angebot betreffend Übernahme und Betrieb des Straßenbahnnetzes an. Unter Zusicherung der Auftragserteilung an Siemens für den weiteren Ausbau sowie Ausrüstung der Garnituren zahlte die Gemeinde 62 Millionen Kronen. Sechs Jahre nach Antritt der Christlichsozialen war ein zentraler Faktor öffentlicher urbaner Personenbeförderung kommunali30

Vgl. Adler 1925, S. 36 ff.

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siert, wenngleich auch, gemessen an den Kriterien effizienter Linienführung, Zeit und Aufwand sparender Transportkapazitäten etc., kaum effektiv organisiert. Immerhin ist unter Betriebsführung der Gemeinde das Schienennetz um knapp 55 Prozent, die Zahl der beförderten Personen um knapp 104 Prozent gewachsen, die Betriebseinnahmen stiegen um 135,5 Prozent, der Personalzuwachs machte 89,5 Prozent aus, die Gewinnabfuhr an das Gemeindebudget etwa ein Fünftel des Gesamtertrags der drei städtischen Betriebe.31 Wenn es in Wien ein in Ansätzen effizientes, städtebaulich und -planerisch jedenfalls aber höchst bemerkenswertes Verkehrsmittel gab, dann war dies die in ihrer Planung noch auf die liberale Verwaltung zurückgehende und von Gemeinde und Staat gemeinsam in Angriff genommene Stadtbahn.32 In ihrer Anlage folgte sie überregionalen Kapitals- ebenso wie unmittelbar militärischen Interessen, in ihre Ausführung waren Regulierungen des Donaukanals und des Wienflusses integriert. Die Stadtbahn ist die größte technische Errungenschaft der Lueger-Zeit, eine herausragende Konstruktions- und Ingenieurleistung, die von einem unter der Leitung von Otto Wagner stehenden und zum überwiegenden Teil aus seinen Schülern bestehenden Architekten- und Planungsteam entworfen und in den Jahren 1894 bis 1908 realisiert wurde. Wagner hatte den Auftrag aufgrund seines Wettbewerbsbeitrags für einen Generalregulierungsplan erhalten, der von den Liberalen im Zusammenhang mit den infrastrukturellen und städteplanerischen Anforderungen der Stadterweiterung im Mai 1892 international ausgeschrieben worden war.33 Wagners Ausführung einer metropolitanen Eisenbahn – die nicht nur die Regulierung der beiden innerstädtischen Wasserwege, sondern auch das schwierige, stark kupierte Terrain der Gürteltrasse mit einzubeziehen hatte – ist als bauliche Leistung wie als Objekt urbanen Designs gleich meisterhaft. Die Stadtbahn verband erstmals die Außenbezirke und peripheren Distrikte der Stadt miteinander und akzentuierte doch zugleich, indem sie der soziokulturellen Grenze des Gürtels folgte und diese auch baulich verfestigte, die für Wien so charakteristische sozialräumliche Segregation. Sie veränderte den Charakter, die inneren Rhythmen, die grundgelegten Strukturen der Stadt und schrieb dem urbanen Ganzen doch eine gemeinsame, verbindende, weithin sicht- und identifizierbare Ästhetik ein. Wie später die Gemeindebauten des Roten Wien sucht sie historisch gewachsene Stadtstrukturen zu bewahren, führt als ein modernes urbanes Implantat zugleich ihre eigenen Logiken ein, überlagert die historischen Räume mit ihrem spezifisch großstädtischen Ordnungsprinzip.34 31 32 33 34

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Seliger/Ucakar 1985, S. 901 f. Banik-Schweitzer 1978, S. 105 ff. Blau 1999, S. 75 f. Blau 2003, S. 30 und S. 36 f.

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In dieser einen, besonderen Hinsicht – des dialektischen Ineinanderlaufens von Tradition und Modernität, der von der Eigenlogik des Modernen überlagerten historischen Referenz und Identität – bringt der Stadtbahnbau auch Prinzipien zum Ausdruck, wie sie die übrigen Projekte der LuegerZeit ganz allgemein kennzeichnen sollten: Es sind Prinzipien der symbolischen Repräsentation – der Berufung auf eine (wie immer imaginierte) gemeinsame historische Tradition des christlichen, verwurzelten, respektablen, ebenso selbstbewussten wie gottesfürchtigen und obrigkeitsfixierten niederen und mittleren Stadtbürgertums –, die in eine eigensinnige Verbindung mit Projekten kommunaler Modernisierung und urbaner Modernität gebracht werden. Und wie Lueger ständig den althergebrachten Bürgergeist, die vormoderne Harmonie und Respektabilität des „Alt-Wien“, der patriarchalen Vater- und Residenzstadt zitiert, ja beschwört, so gerät die öffentliche Selbstdarstellung, jedes einzelne Propagandastatement seiner Partei zu einem uneingeschränkten Bekenntnis zu den „modernsten“, technologisch avanciertesten Mitteln und Methoden kommunaler Innovation und urbanen Managements.35 Ein traditioneller bürgerlicher Wertekanon, der immer wieder angesprochene, handwerklich und vormodern motivierte „Bürgerfleiß“, verband sich mit den Instrumenten technologischer Modernität zu neuen Repräsentativbauten – nicht so glamourös und triumphalistisch wie die Ringstraße des liberalen Großbürgertums, aber monumental, überlebensgroß, repräsentativ in einem ebenso dynamischen wie utilitaristischen Sinn allemal: Gasometer, Elektrizitätswerke, Stadtbahn. Das Leitmotiv der katholisch-patriarchalen Vaterstadt ist omnipräsent, ebenso wie die permanente Referenz auf das Gute, Schöne, Gesunde. Heinrich Goldemund, Stadtbauamtsdirektor von 1908 bis 1920, hat die Anlage respektive Erhaltung des städtischen Waldund Wiesengürtels als eine „Liebeshymne“ an die „Vaterstadt“ konzipiert, als eine ästhetische Errungenschaft, der Monumentalität moderner urbaner Architektur gleich zu setzen. Ihren vollkommensten materiellen wie symbolischen Ausdruck aber fand Luegers imaginierte Bürgergemeinschaft in der Anlage des Lainzer Versorgungsheims. Auf einem riesigen Hietzinger Areal waren am Stadtrand die 29 Pavillons eines kommunalen Altersversorgungs- und Armenhauses errichtet worden, versehen mit modernster Technologie wie Lichtsystemen, elektrischen Aufzügen, topaktuellen Telefon- und Signalnetzwerken, und einer alle Pavillons verbindenden Kleinbahn zum Essens- und Lastentransport. Das symbolische Herzstück aber war die nach dem Hl. Karl Borromäus benannte und in einem neoromanischen Stil errichtete Kirche, deren innere Ausstattung von privaten Sponsoren – dem Bürgermeister und seinen 35

Vgl. Boyer 1995, S. 10 f.

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Vizebürgermeistern, Mitgliedern des christlichsozialen Parteivorstandes, den christlichsozialen Bezirksvorstehern sowie Honoratioren aus Bürgerkreisen – finanziert wurde. Die Wände waren mit Emblemen der Zünfte als Repräsentanten der alten, korporierten Bürgergesellschaft versehen. Hinter dem Hauptaltar befand sich ein massives Triptychon, wo an prominenter Stelle der in altdeutsche Tracht gewandete und vor der Heiligen Jungfrau knieende Karl Lueger dargestellt ist.36 Telefone und die Symbole der mittelalterlichen Zünfte, elektrische Aufzüge und ein vor der Jungfrau knieender Bürgermeister über dem Hauptaltar – Lainz wird in seinem scheinbar bruchlosen Ineinandergreifen von Vormoderne und Modernität, von Archaik und Fortschritt zum zentralen symbolischen Ausdruck der christlichsozialen Gemeinde als solcher. Was ihre fiskalische Politik betrifft, bleibt diese Gemeinde allerdings in einem geradezu erstaunlichen Ausmaß bestimmten Traditionen und Prinzipien der liberalen Kommunalverwaltung verbunden. So wurde der Weg der Anleihenfinanzierung, insbesondere bei den großen kommunalen Vorhaben (Errichtung der Gas- und Elektrizitätswerke, Neubau der 2. Hochquellenwasserleitung etc.) beibehalten. Die Verpflichtungen für Tilgung und Verzinsung der Anleihenschulden betrugen 1913 bereits mehr als das Dreifache des ordentlichen Budgets.37 Drei Viertel der Einnahmen entstammten, auch das beste liberale Tradition, aus direkten Steuern, die die städtische Oberschicht gegenüber den einkommensschwachen Unterschichten privilegierten. Gut die Hälfte der gesamten Steuereinnahmen erflossen aus Zuschlägen auf die landesfürstliche Hauszins- und Hausklassensteuer sowie die kommunalen, auf die Mieter abwälzbaren Umlagen auf den Mietzins. Auf Wohnen und (alltäglichen) Konsum entfielen an die 75 Prozent aller Steuern. Die Masse der Stadtbevölkerung wurde, gemessen an ihrem Einkommen, überproportional zu Steuerleistung und Schuldentilgung herangezogen.38 Wie in der liberalen Ära auch zeigt sich im Ausgabenbereich ein dramatisches Übergewicht der Aufwendungen für die technische gegenüber der sozialen Infrastruktur. Im Zug der rasch voran schreitenden Verbauung und urbanen Verdichtung des städtischen Terrains hatten sich Fläche und Länge der Straßen und Plätze von 1895 bis 1913 um die Hälfte vermehrt, das bestehende Kanalisationssystem wurde um über zwei Drittel seiner bisherigen Ausdehnung und Kapazität erweitert. Dem gegenüber blieb der Sozialbereich merklich unterdotiert. Die Ausgaben für Fürsorge bewegen sich unter zehn Prozent, wovon wiederum rund zwei Drittel auf die Armenunterstützung entfallen. Die Gesundheitsausgaben sind mit durchschnittlich ei36 37 38

Vgl. ebd., S. 18 f. Für eine Überblicksdarstellung siehe Seliger 1996, S. 84 ff. Seliger/Ucakar 1985, S. 796 ff.

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nem Prozent veranschlagt, Aufwendungen für Bäder, Grünflächen etc. bleiben marginal, Maßnahmen zu einer zumindest partiellen Linderung eines der dramatischsten sozialen Problemfelder der Zeit, der Wohnungsnot, fehlen zur Gänze.39 Kommunale Fürsorgepolitik wurde im Sinn einer karitativen Armenfürsorge verstanden, als eine aus christlichem Ethos heraus gewährte Gabe, die für ein zum Überleben notwendiges Minimum sorgen sollte; alles andere, so das unumstößliche, erneut an liberale Ideologie und Praxis gemahnende christlichsoziale Credo, müsse exklusiv der privaten Initiative überlassen bleiben. Organisation und Administration des munizipalen Armenwesens oblag den etwa 2.000 ehrenamtlichen, aus den unteren Mittelschichten (Handwerksmeister, Lehrer, kleine Hausbesitzer) rekrutierten „Armenräten“, deren Handhabung der Problematik für die Betroffenen sich im besten Fall als Geste autoritär-patriarchaler Zuwendung, im schlechtesten Fall als simple Demütigung erwies.40 Die mildtätige Gabe des sozial besser Gestellten an den gesellschaftlich Marginalisierten, paternalistische Hierarchisierung und Abhängigkeiten, weitergeführt bis an das untere Ende des sozialen Spektrums – auch das ist Luegers „Vaterstadt“. Den Wohnungsbereich, das dramatische Wohnungselend in den Vorstädten und Arbeiterbezirken traf nicht einmal solche Initiative – Folge des überproportionalen sozialen wie kulturellen Gewichts der Hausbesitzer („Hausherren“) sowohl in den Reihen der christlichsozialen Basis wie in ihrer kommunalpolitischen Vertretung: Zwischen 1873 und 1900 stellten die Hausherren einen Anteil von 58 Prozent im Gemeinderat; ursprünglich überwiegend liberal, waren sie mit Lueger den Weg der Opposition gegangen, ein treibendes, aktionistisches Moment geworden. An der Macht, sicherten sie sich gegen jegliche, selbst die geringsten regulierenden Eingriffe in die freie, privatkapitalistische Gestaltung des Wohnungsmarktes und der Mietzinsgestaltung ab und opponierten fundamental gegen sämtliche diesbezügliche, wie immer zaghaft auch betriebene Gesetzesinitiativen, mochte dies Planungsvorhaben, Bauregulierungen oder gar Mieterschutzbestimmungen bedeuten.41 Die Christlichsozialen wurden so zunehmend zu einer „Hausherrenpartei“, für die Sozialdemokraten – die mehr und mehr zum entscheidenden politischen Gegengewicht heranwuchsen und sich als Partei der Mieter verstanden – entwickelte sich die sprichwörtlich gewordene „Mir san mir“-Mentalität der von ihnen so bezeichneten „Zinsgeier“ und „Haustyrannen“ zu einem kategorialen Feindbild. Neben der Hausherrenmacht beruhte die christlichsoziale Hegemonie in Wien auf einer weiteren Säule, die ein enormes Potenzial und, in ihrem Zu39 40 41

Vgl. ebd., S. 823 ff. Boyer 1995, S. 15. Vgl. Banik-Schweitzer 1990, S. 137; Blau 1999, S. 90.

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sammenwachsen mit einer qualitativ neuen Massenpolitik, bedeutende strategische und machttechnische Perspektiven eröffnete: die munizipale Bürokratie. Unter Lueger kam es zu einer umfangreichen quantitativen Erweiterung und durchgängigen Professionalisierung des kommunalen Verwaltungsapparats, ja dieser wurde in gewisser Weise erst entwickelt. Vor allem im Zuge der Realisierung der Kommunalisierungen und des Aufbaus der städtischen Betriebe wurde der Personalstand der Kommune von etwas über 2.000 auf mehr als 30.000 erhöht, die Stadt Wien nach dem Staat der zweitgrößte Arbeitgeber der Monarchie. Nicht zuletzt wurde der Magistrat in ein politisches Organ, in das Vollzugsorgan des Willens der herrschenden Partei geformt; Partei und Verwaltung erschienen nicht selten als die unterschiedliche Inkarnation desselben Interesses. Jüdische Beamte wurden nicht mehr befördert (wenn auch nicht entlassen), sozialdemokratische und freigeistige Lehrer (darunter der spätere Bürgermeister Karl Seitz und der große Schulreformer Otto Glöckel) diszipliniert und gemaßregelt. John Boyer hat allerdings auch schlüssig nachgewiesen, dass die innere Organisation, Struktur und Logik des liberalen Beamtenapparats weitgehend unverändert übernommen wurde, dass gerade die liberalen Spitzenbeamten die Kommunalisierungen enthusiastisch mit- und auf diese Weise nicht unerheblich zur Professionalisierung der Administration beigetragen haben.42 Neuaufnahmen waren allerdings unumgänglich an entsprechende Empfehlungen durch christlichsoziale Mandatsträger und die Leistung eines Loyalitätseides auf die „christliche“ und „deutsche“ Stadt Wien gebunden, der kommunalen Administration kam so die Funktion eines gigantischen Reservoirs zur Beförderung gegenseitiger Interessen, einer „Patronagemaschinerie“ zu. Lueger – der, wie Felix Salten schreibt, mit der Eroberung des Bürgermeisteramtes die „Kaisertreue in städtische Verwaltung, die Volkshymne in städtische Regie“ genommen hatte – nahm im Verlauf dieses Prozesses der Institutionalisierung politischer Hegemonie im Wege der Verwaltung selbst monarchische Züge an: „Die Stadt, die so viele Betriebe ihrer Hand hält, herrscht über eine Armee von Dienern, Arbeitern, Beamten, Lehrern, Ärzten und Professoren, herrscht durch tausendfach verknüpfte Interessen weithin über die Gesinnungen, und allen ist der Bürgermeister, von dem sie abhängen, wie ein Monarch. Er arbeitet denn auch mit einer vollkommen monarchischen Technik. Sein Bild ist überall. In den Amtslokalen, in den Schulzimmern, in den Wirtshäusern, in den Theaterfoyers, in den Schaufenstern. [. . .] Er hat das so eingerichtet, hat sich um den Widerspruch der Machtlosen, hat sich um das Recht der freien Meinung, die das Staatsgrundgesetz gewährleistet, nicht gekümmert und einen Fahneneid eingeführt für alle, die im Rathaus Broterwerb suchen.“43 42 43

Vgl. Boyer 1995, S. 28 f. Salten 1910, S. 137 und S. 138 f.

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Lueger war mit Parolen der Demokratie, mit den Forderungen nach Einführung des allgemeinen und gleichen kommunalen Männerwahlrechts und der Kommunalisierung von Unternehmungen im „Gemeininteresse“ zur Macht aufgestiegen. Sobald der Liberalismus besiegt war, galt es, die eigene Position abzusichern, vor allem gegen eine sich zur Massenbewegung formierende und in den industriellen Vorstädten bereits überaus dicht organisierte Sozialdemokratie. Die christlichsoziale Majorität unternahm dies mit der Neufassung des Gemeindestatuts und der Gemeindeverfassung 1900 – es war nichts weniger als ein taktisches und strategisches Meisterstück. Formal wurde an der Forderung nach Abschaffung des Zensus und der Wahlkörper weiter festgehalten, allerdings sollte die Wahlberechtigung an eine mindestens fünfjährige Sesshaftigkeit im Stadtgebiet gebunden sein. Dies hätte, nach zeitgenössischen Schätzungen, etwa die Hälfte der traditionell hoch mobilen industriellen und gewerblichen Arbeiterschaft vom Wahlrecht ausgeschlossen. Doch selbst dieser sehr eingeschränkte Entwurf wurde wieder zurückgezogen, vorgeblich, da gegen den expliziten Willen der Regierung und des Statthalters ein allgemeines kommunales Männerwahlrecht in noch so rudimentärer Form nicht durchzusetzen war. Schließlich wurde, als ein taktisch brillant vorbereiteter „Kompromiss“, ein vierter Wahlkörper eingeführt, in dem alle männlichen Staatsbürger über 24 (also auch alle Wahlberechtigten aus den anderen Wahlkörpern), die eine zumindest dreijährige Sesshaftigkeit im Stadtgebiet nachweisen konnten, wahlberechtigt waren. In diesem vierten Wahlkörper waren 20 Mandate zu vergeben, die von 228.000, gegenüber 138 Mandaten, die von 52.000 Wahlberechtigten in den ersten drei Wahlkörpern gewählt wurden. Das kommunale Zensuswahlrecht blieb über die Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts auf gesamtstaatlicher Ebene (1905/07) hinaus bis in die Umsturzzeit nach dem Ersten Weltkrieg bestehen. Damit war Wien als Bastion des „allgemeinen Bürgerstandes“, der bürgerlichen Mittelschichten nachhaltig festgeschrieben, die wohlhabendsten ebenso wie die untersten Segmente der städtischen Gesellschaft politisch marginalisiert.44 Entsprechend trugen die kommunalen Leistungen den Intentionen und Interessen dieses „allgemeinen Bürgerstandes“ Rechnung. Die Kommunalisierungen kamen grundsätzlich der Privatwirtschaft und den Konsumbedürfnissen der Mittelschichten entgegen, wie auch die Neuorganisation des Verkehrswesens zunächst auf die überwiegend kleinbetriebliche Struktur der städtischen Ökonomie ausgerichtet war. Wie allerdings verschiedene (durch Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht mehr zur Realisierung gelangte) Großprojekte nahe legen, ging die Stadtregierung mit ihren Plänen zu Untergrund- und Schnellbahn, zur Errichtung eines Großhafens, zum Bau des 44

Vgl. Boyer 1995, S. 21 ff.; Seliger/Ucakar 1984, S. 52 ff.

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Donau-Oder-Kanals oder der Herstellung entsprechender Infrastruktur für ein Industrie- und Handelszentrum Floridsdorf weit über diese mittelstandsfixierte Politik hinaus. Es bringt dies einen grundlegenden Funktionswandel des zur Macht aufgestiegenen kleinbürgerlichen Populismus zum Ausdruck, dem damit ja durchaus staatserhaltende Verantwortlichkeit zugefallen war. Mit dem politischen Erfolg hatte sich zudem die Gegensätzlichkeit zwischen nationalem und sozialem Flügel der Partei zur offenen Feindschaft vertieft, was eine doppelte Verlagerung nach sich zog: Politisch trat die christlichsoziale Partei nunmehr als die Trägerin der österreichischen, der dynastischen Idee gegen die Deutschnationalen, wirtschaftlich – in ironischer, gebrochener Nachfolge des einst so heftig bekämpften Liberalismus – als Proponentin des industriellen Kapitalismus gegen die Sozialdemokratie auf.45 In kultureller Hinsicht trat das antisemitische Moment zunehmend in den Hintergrund, die ökonomische und soziale Position des Wiener Judentums wurde, trotz anhaltend gegenteiliger Rhetorik, nicht erschüttert. Zudem zeigte sich nach Luegers Tod (10. März 1910) überaus schnell, wie sehr die gesamte Partei vom politischen Genie dieses einen Mannes abhängig gewesen war. Wiens Kleinbürgertum und unterer Mittelstand hatten nicht nur eine populäre Politikerfigur verloren, sondern darüber hinaus ihr Medium der politischen Artikulation schlechthin. Anhaltende Meinungsdivergenzen und Fraktionskämpfe führten, vor dem Hintergrund einer allgemeinen Teuerungskrise, zu einem Wahldebakel bei den nach dem allgemeinen und gleichen Männerwahlrecht abgehaltenen Reichsratswahlen 1911. Die Sozialdemokraten wurden in Wien erstmals stimmen- und mandatsstärkste Partei.46 Luegers Nachfolger Richard Weiskirchner, der 1903 Magistratsdirektor geworden war, versuchte die alte Luegersche Wählerkoalition zu erneuern und sie auf eine breitere soziale Basis zu stellen, letztlich eine breite Allianz aller Besitzenden gegen die Nichtbesitzenden auf Basis einer christlichen Ideologie herzustellen. Als eher unglücklich agierender Lueger-Epigone und schließlicher „Kriegsbürgermeister“ hat er dieses Bündnis niemals realisieren können.47

45 46 47

Vgl. Renner 1908, S. 9 f. Vgl. Seliger/Ucakar 1984, S. 131 ff. Vgl. Boyer 1995, S. 447 ff.

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Harold J. Laski – Die sozialen Voraussetzungen der Demokratie1 Peter Haensch Befasst man sich mit der politikwissenschaftlichen Pluralismusdiskussion in der Bundesrepublik Deutschland, so kommt man an den Schriften einer Person nicht vorbei: an denen von Harold J. Laski. Eröffnet wurde diese Diskussion allerdings im Grunde bereits durch den Staatsrechtslehrer Carl Schmitt zu Zeiten der Weimarer Republik.2 Seine Auseinandersetzung mit der pluralistischen Staatstheorie machte er dabei vor allem an Laski fest. Dessen Theorie – nach welcher der Staat zunächst nur eine Gruppe unter anderen sozialen Gruppen sei und sich mit diesen in der Konkurrenz um die Zustimmung der Bürger zu behaupten habe und damit nur in dem Sinne souverän sei, sofern er die Fähigkeit besitze, sich diese Zustimmung zu verschaffen3 – hatte Schmitt in der ersten Fassung seiner Schrift Der Begriff des Politischen zwar noch als „[. . .] weitaus interessanteste Staatstheorie, die im letzten Jahrzehnt aufgestellt worden ist [. . .]“4 bezeichnet, gleichwohl jedoch abgelehnt. Er warf Laski und mit ihm der Pluralismustheorie im Ganzen vor, den zentralen Begriff der Staatslehre – das Politische – zu ignorieren und nicht einmal die Möglichkeit zu erörtern, „[. . .] daß der Pluralismus der Verbände zu einer föderalistisch aufgebauten politischen Ein1 Dieser kurze Aufsatz geht aus einem Exposé für ein Promotionsvorhaben hervor, für dessen Begutachtung der Autor Herrn Prof. Dr. Richard Saage und Frau PD. Dr. Eun-Jeung Lee herzlich zu danken hat. 2 Vgl. Saage 2005, S. 228 ff.; Schmitt 1930, S. 28 ff.; Schmitt 1985, S. 71 ff.; Schmitt 1991, S. 37–45. Zum Vortrag Schmitts von 1930 bleibt zu sagen, dass dieser seitens der Neo-Pluralismustheoretiker kaum rezipiert wurde (vgl. dazu auch Erdmann 1988, S. 23 f.): Vermutlich, weil Schmitt hier Gedanken vertritt, die geradezu (neo-)pluralistisch anmuten. So nimmt es nicht Wunder, dass dem Denken Schmitts nahe stehende Autoren wie Quaritsch diesen Vortrag auch zum Anlass nahmen, um Schmitt unter dem Stichwort „verfassungspositiver Pluralismus“ für die bundesdeutsche Verfassungstradition und die im Grundgesetz zum Ausdruck kommende Anerkennung eines gesellschaftlichen Pluralismus in Anspruch zu nehmen. (Vgl. Quaritsch 1980, S. 48 f.) Dass dieser Versuch, Schmitt als „Pluralisten“ darzustellen, wenig überzeugend ist, merkt auch Ooyen (Ooyen 2003, S. 180 (Fn. 211)) kritisch an. 3 Vgl. Laski: The Sovereignty of the State, in: Laski 1918, S. 1–25. 4 Schmitt 1988, S. 67.

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heit führen könnte [. . .]“. Eine Pluralismustheorie in diesem Sinne war für Schmitt nichts weiter als „[. . .] eine Theorie der Auflösung oder Widerlegung des Staates.“5 Dennoch oder gerade wegen seiner Kritik an der pluralistischen Staatstheorie und seiner Option für den totalen Staat, hatte Schmitt die Richtung der Pluralismustheorie in Deutschland damit maßgeblich beeinflusst. Denn sein Hinweis, dass eine pluralistische Theorie auch eine „[. . .] Staatstheorie eines durch einen Föderalismus zur Einheit gelangenden Staates [. . .]“ sein könne, hatte – oder wollte – übersehen, dass es bereits Pluralismustheoretiker gab, die vor einem allzu leichtsinnigen Angriff gegen den Staat gewarnt und dessen Vorhandensein als Grundbedingung pluralistischer Interessenentfaltung verstanden hatten.6 Ausdrücklich auf diese Theoretiker bezog sich folglich die neopluralistische Schule in der Nachfolge Ernst Fraenkels in der Bundesrepublik. In seinem in der bundesdeutschen Politikwissenschaft nahezu zum Klassiker avancierten Aufsatz Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie7 hatte Ernst Fraenkel sein Konzept des Neopluralismus als Überwindung und Negation des Totalitarismus vorgestellt. Gewendet war diese Überwindung insbesondere gegen Carl Schmitt und dessen „[. . .] vernichtendes Urteil über den Pluralismus als politisches Prinzip [. . .]“ und damit auch explizit gegen die „souveränitätsfeindliche“ Pluralismuskonzeption Laskis in seiner für Fraenkel „pervertierten Form“.8 Fraenkel hielt dem entgegen an der Konzeption Barkers fest, die dem Staat eindeutig die Rolle eines Streitschlichters überließ und ihm die dafür notwendige rechtliche Souveränität nicht aberkannte. Mit seinem negativen Urteil über die Pluralismustheorie Laskis hatte Fraenkel damit den Grundstein für ein Selbstverständnis der neopluralistischen Schule gelegt, zu dem fortan das Bekenntnis gegen Laski gehören sollte.9 Zumindest darin war man sich mit Schülern und Gedankengängern Schmitts einig. Neben dieser negativen Wertung der Theorie Laskis, die sich vorrangig an dessen frühen Schriften orientierte und dabei einseitig auf die darin enthaltenen souveränitätskritischen Argumente abhob und die späteren Schrif5

Schmitt 1991, S. 45. Vgl. E. Barker 1922, S. 180 ff. u. 249 ff. Allerdings benutzt Barker den Begriff Pluralismus nicht – dieser Terminus taucht als politiktheoretischer zuerst bei Laski auf –, stattdessen spricht er von Federalism. 7 Vgl. Fraenkel 1973. Vortrag gehalten auf dem 45. Deutschen Juristentag in Karlsruhe am 22. September 1964. 8 Ebd., S. 164–166. 9 Das gilt insbesondere für die Arbeiten, die von Fraenkels Schülern und der Fraenkelschen Neopluralismustheorie nahe stehenden Autoren zum Thema Pluralismus entstanden (vgl. Steffani 1973; Steffani 1977; Obereuther 1980; Detjen 1988; Erdmann 1988; Kremendahl 1977). 6

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ten allzu vorschnell als Abkehr Laskis10 vom Pluralismus abtat und sich folglich auch nicht mit ihnen auseinandersetzte, gab es in der Bundesrepublik jedoch auch Autoren, die versuchten, Laskis Denken ausführlicher zu würdigen. Den wohl ersten Versuch in dieser Hinsicht unternahm Karl Schultes. Er stellte heraus, wie sich aus der anfänglich staatsskeptischen Sicht Laskis eine positive „Staatstheorie der sozialen Demokratie“11 entwickelte. Dabei betont er, dass das Grundproblem in Laskis Denken stets die Verhältnisse zwischen Freiheit und Autorität sowie zwischen Freiheit und Gleichheit gewesen seien.12 Gesichert schien Laski die Freiheit der Einzelnen demnach nur, sofern es dem Staat gelang, ihnen die Möglichkeiten zu bieten, sich zu „Persönlichkeiten“ zu entwickeln. Dass aber bedeutete für Laski vor allem, nicht nur eine politische Freiheit – im Sinne einer aktiven Teilnahme an den Staatsangelegenheiten – herzustellen, sondern dieser eine wirtschaftliche Freiheit zur Seite zu stellen, die es den Bürgern ermöglichte, eine für ihren Lebensunterhalt befriedigende Arbeit zu erhalten oder sozialstaatlich auf einem Niveau abgesichert zu sein, das auch der geistigen Entwicklung der Einzelnen Raum und Zeit ließ. Das notwendige Korrelat zur politischen Freiheit fand Laski daher in der „[. . .] Unterwer10 Dies sogar oft genug ohne fundierte Quellenkenntnis und lediglich mit Bezug auf Fraenkel oder Steffani feststellend (vgl. hierzu z. B. Kremendahl 1977, S. 87 ff. und Detjen 1988, S. 62 ff.). Als Abkehr Laskis vom Pluralismus wurden dabei seine späteren Schriften offenbar deshalb gewertet, weil den genannten Autoren eine Vermengung von marxistischen bzw. sozialistischen mit pluralistischen Argumenten und Positionen offenbar nicht akzeptabel schien. Die Gegenposition findet sich dann exemplarisch bei Eisfeld (Eisfeld 1972). Im Hinblick auf die Neopluralismustheorie Fraenkels erscheint diese Wertung allerdings nur konsequent: Ihr ging es eben nicht nur um die normative Horizontsetzung für die westlichen Verfassungssysteme oder die Kennzeichnung bzw. Propagierung eben dieser als freiheitlich-demokratisch – d. h. pluralistisch –, sondern auch gerade um die Abgrenzung vom „politischen Gegner“ im „Osten“, der mithin als totalitär gekennzeichnet wurde. Die Gefahr eines solchen Verfahrens – bei aller zu teilenden Kritik am sowjetischen Modell – liegt auf der Hand und wurde oft genug auch von Kritikern Fraenkels benannt: Es findet eine Dichotomisierung statt, welche einerseits die Wirklichkeit übervereinfacht (die eigene vielleicht sogar zu unkritisch zu beurteilen scheint), andererseits politiktheoretische Positionen dieser Einteilung unterwirft und damit für Differenzen, die in diesem Schema nicht eindeutig festzumachen sind, keine adäquaten Begriffe mehr bereit hält. Der politische oder auch theoretische Gegner kann demnach schnell in die „totalitäre Ecke“ gestellt werden ohne sich dort selbst zu verorten. 11 Schultes 1955. Auffällig ist, dass der Artikel Schultes in der deutschen Diskussion um Laski keine Berücksichtigung fand, in der angloamerikanischen Literatur aber durchaus wahrgenommen wurde. (Vgl. etwa Lamb 2004 und Zylstra 1968) Schultes Ausführungen leiden aber bisweilen einerseits an der Menge der besprochenen Literatur Laskis, dem der begrenzte Umfang des Aufsatzes entgegensteht, andererseits an ihrer teils zu narrativen Art, die bisweilen auch die kritische Distanz zum Gegenstand vermissen lässt. 12 Vgl. auch Hawkins 1950, S. 376.

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fung ökonomischer Macht unter die Regeln demokratischer Verwaltung.“13 Der Staat wurde somit bei ihm zu einem „Dienstleistungsunternehmen“, welches seine Legitimität allein aus dem Umstand erhielt, den Bürgern „[. . .] wenigstens die materiellen Minimalbedingungen einer freien Entfaltung ihrer Möglichkeiten [. . .]“14 zu garantieren. An genau diese Gedanken knüpften im Laufe der 70er Jahre verschiedene Autoren an, wenn sie sich auf Laski beriefen und zu verdeutlichen suchten, dass die Pluralismustheorie in ihren Ursprüngen eine vor allem kritisch-normative Funktion hatte, weil sie gezeigt habe, dass „[. . .] politische Teilhabe ohne soziale Abstützung uneinlösbarer Anspruch bleibt.“15 Dabei betonten diese Autoren die Affinität zwischen Pluralismus und Sozialismus, die Laskis Theorie zu Grunde gelegen habe und dass dieser mit seinen späteren Ausführungen keineswegs sein Pluralismuskonzept aufgegeben habe, vielmehr zu der Ansicht gelangt sei, erst in einer Gesellschaft ohne den Grundkonflikt zwischen Kapital und Arbeit könne sich der Pluralismus vollends entfalten.16 Genau diese positive Bezugnahme auf Laski wurde den genannten Autoren in der Folge nun wiederum zum Vorwurf gemacht ohne dass sich dabei inhaltlich neu mit Laski beschäftigt wurde.17 Hierin liegt in gewisser Weise das Paradoxon der Auseinandersetzung mit Laski in der Bundesrepublik Deutschland: Diente er in der Diskussion um den Pluralismus und die Pluralismustheorie einerseits als „negativer“ Begründungshorizont für die Neopluralisten in der Nachfolge Ernst Fraenkels oder als Ausgangspunkt der Kritik an eben diesen, so fehlt bis heute im deutschsprachigen Raum eine Studie, die sich mit dem Werk Laskis intensiv auseinander setzt. Von daher scheint es sinnvoll, einige Bemerkungen zur Person und zum Werk Harold Laskis zu machen, die zeigen, dass und warum der vergleichsweise inadäquaten Auseinandersetzung mit ihm in der deutschen Politikwissenschaft ein reges Interesse an Laskis gesamtem Schaffen zu seinen Lebzeiten und bis heute in der angloamerikanischen Staats- und Politikwissen13

Schultes 1955, S. 265. Fetscher 1968, S. 15. 15 Eisfeld 1972, S. 21. Vgl. zu dieser Interpretation Laskis ebenso Gudrich/Fett 1974 sowie die Einleitung in Bermbach/Nuscheler 1973. 16 Vgl. Bermbach/Nuscheler 1973, S. 10; Eisfeld 1971, S. 365; Laski 1949, S. 37 ff. 17 Vgl. insbesondere Steffani 1977, S. 33 (Fn. 91). Hier hält Steffani den Autoren Bermbach/Nuscheler vor, ihrem Sammelband ein Zitat Laskis voran gestellt zu haben und gegen Eisfeld wendet er teils unberechtigt ein, wichtige Sekundärliteratur (u. a. Zylstra 1968 und Deane 1972) zu Laski nicht beachtet zu haben und sich daher „leicht-fertig“ auf Laski zu berufen. Eisfeld hat es zudem als einer der Wenigen vorgezogen, sich anhand der Quellen ein eigenes Urteil zu bilden, das mithin durchaus kritisch ausfällt ohne dass dies von Steffani und anderen hinreichend zur Kenntnis genommen wurde. 14

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schaft gegenübersteht.18 Dieses Interesse kam und kommt nicht von ungefähr. Schon die ersten Nachrufe auf Laski kurz nach seinem Tod machten deutlich, welche politische und intellektuelle Rolle er in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gespielt hat. Max Beloff überschrieb seinen Nachruf gar mit The Age of Laski.19 Tatsächlich prägte Harold Laski das geistige und politische Klima seiner Zeit mit seinen zahlreichen Publikationen und durch sein politisches Engagement für die Gewerkschaftsbewegung in England und für die Labour Party. Er war zudem führendes Mitglied der Fabian Society, einer der drei Mentoren des Left Book Club20 und hatte auch in seiner Funktion als Universitätsprofessor an der London School of Economics and Political Science21 (LSE) großen Einfluss auf und wichtige Kontakte zu prominenten Persönlichkeiten in Politik und Wissenschaft. Dabei blieb Laski in der Wissenschaftswelt stets eine äußerst kontroverse Persönlichkeit. 1893 in Manchester geboren, wuchs er in einem politischen Klima auf, in dem die grundlegende Frage des Verhältnisses der Verbände, vor allem der Gewerkschaften, zum und ihre Stellung im Staat immer virulenter wurde.22 Eben dieser Problematik wendete er sich nach dem Abschluss seines Geschichtsstudiums in Oxford 1914 vermehrt zu. Das erste Mal machte Laski in diesem Zusammenhang 1915 mit einem Vortrag über The Sovereignty of the State in der akademischen Welt auf sich aufmerksam.23 Angeregt durch die Arbeiten Maitlands, Figgis’ und Barkers und der darin ent18 Davon, dass hier von Laskis Pluralismustheorie allenfalls eine „Fußnote“ übrig geblieben sein soll, wie Fraenkel einmal behauptete (vgl. Fraenkel 1973, S. 165), kann dementsprechend überhaupt keine Rede sein (vgl. neben zahlreichen Aufsätzen zu Laski die Arbeiten von Martin 1953; Deane 1972; Zylstra 1968 sowie die neueren Veröffentlichungen von Kramnick/Sheerman 1993, Lamb 2004, Best 2005 und Runciman 1997). Dabei handelt es sich im angloamerikanischen Diskurs natürlich nicht um Laski-Apologien: Die Autoren gehen auch hier zum großen Teil kritisch mit Laski um, machen ihre Analyse aber an einem viel breiteren Spektrum seiner Arbeiten fest. Nur so lässt sich schließlich eine Basis für Kritik schaffen: Man muss schon zur Kenntnis nehmen, was man kritisiert. Frei wird der Blick dadurch auch für die Widersprüchlichkeiten Laskis. 19 Vgl. Beloff 1950; vgl. ebenso Soltau 1950 und Hawkins 1950. 20 Die beiden anderen Mentoren waren Strachey und Gollancz. (Vgl. hierzu Henningson 1972) 21 Hier lehrte Laski ab 1920 (ab 1926 als Professor für Political Science) bis zu seinem Tode 1950. 22 Einen guten Einblick in die drei wichtigsten Streitfälle (Taff Vale Case (1901); Free Church of Scotland Case (1904); Osborne Case (1909)) am Anfang des 20. Jahrhunderts in Großbritannien bietet Birke 1978. 23 Vgl. nochmals Laski 1918, S. 1–25. Den Vortrag hielt er an der Columbia University in New York. Dieser Aufsatz gehört zu jenen Schriften, die in erster Linie seitens der Neo-Pluralismustheoretiker zur Kritik an Laski genutzt wurden.

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haltenen Auseinandersetzung mit Gierkes Theorie der realen Verbandspersönlichkeit, formulierte Laski hier erstmals seine Theorie von der Pluralität der Souveränitäten. Ausgehend von historischen Beispielen, die zeigen sollten, dass der Staat keineswegs jene Omnikompetenz habe, die ihm eine rein formale Staatsrechtslehre durch den allein ihm anheim gestellten Begriff der Souveränität zusprach24, kam er zu dem Schluss, dass die soziale Wirklichkeit vielmehr durch eine Vielzahl von souveränen Gruppen gekennzeichnet sei. In der Konkurrenz mit anderen Gruppen um die Zustimmung der Bürger habe sich der Staat dabei durch den Nachweis von Leistungen zu bewähren. Souverän im Sinne Laskis ist der Staat demnach nur, wenn er die Fähigkeit hat, sich die Loyalität der Bürger zu verschaffen. Eine unbedingte Treuepflicht der Einzelnen gegenüber dem Staat bestreitet Laski, hebt sogar die Widerstandspflicht der Individuen hervor, die dann bestehe, wenn im Konfliktfall der Loyalitäten eine andere Gruppe als der Staat ein höheres moralisches Ziel verfolge, dem man dann die Treue zu halten habe. Soziologische Analyse und normative Argumente fließen also ineinander: Die Lösung realer Konfliktfälle bei verschiedenen Loyalitätsbindungen wird nicht a priori einer formalen staatlichen Souveränität anheim gestellt, sondern vielmehr dem Gewissen der betroffenen Individuen überlassen. Allerdings gesteht Laski dem Staat durchaus auch einen potentiell höheren Grad an Loyalität seitens der Bürger im Vergleich zu anderen Gruppen zu, der darin seinen Ausdruck finde, dass es dem Staat prinzipiell leichter als anderen Gruppen falle, sich die nötige Zustimmung zu verschaffen. Den Grund hierfür stelle aber nicht das Wesen des Staates dar, sondern das Bedürfnis der in ihm lebenden Menschen, nicht jede Meinungsverschiedenheit zur Sezession führen zu lassen. Deshalb seien sie eher geneigt, den staatlichen Willen zu akzeptieren. Trotzdem bleibe der Staat an die Zustimmung der Bürger und deren Richtigkeitsprüfung in Bezug auf seine Anweisungen gebunden. Darin ist er allen anderen Gruppen gleich. Hierin lag die kontroverse Zuspitzung Laskis: „Staatstheoretisch explosiv war die [. . .] Umwandlung von soziologisch halbwegs zutreffenden Beobachtungen in ein individuelles und ganz undifferenziertes Recht des Bürgers auf Richtigkeitsprüfung und Gehorsamsverweigerung gegenüber allen staatlichen Ansprüchen.“25 Was Laski damit lieferte, war allerdings weniger eine Staatstheorie als vielmehr eine Herrschaftssoziologie.26 Dieser individualistische Ansatz, der den einzelnen Bürger und dessen Gewissen in den Mittelpunkt stellte, hielt sich bei Laski grundlegend durch, auch nach seiner Hinwendung zum 24 Als prominentestes Beispiel diente ihm hier fortwährend Bismarcks Scheitern im Kulturkampf. (Vgl. Laski 1918, S. 8; Laski 1930, S. 8; Laski 1949, S. 43) 25 Quaritsch 1980, S. 40. Das die Ausführungen Quaritschs ansonsten kritisch zu befragen sind, wurde bereits oben erwähnt (vgl. Fn. 2). 26 Vgl. ebd.

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Marxismus.27 Verdecken kann dieser zunächst geradezu anarchistisch anmutende Ansatz28 jedoch nicht, dass Laski eben auch eine positive Theorie des Staates29, wie oben beschrieben, formulierte. Was er lediglich in Abrede stellte, war, dass jenseits eines ganz konkreten Staatszweckes eine abstrakte rein rechtliche Souveränität des Staates vorhanden sei. Dieser Staatszweck besteht bei Laski dann letzten Endes in „[. . .] the satisfaction, at the highest possible level, of its subject’s demands.“30 Nur wenn der Staat – handelnd durch seine exekutiven, legislativen und judikativen Organe – in der Lage ist, die Einzelnen davon zu überzeugen, dass ihr Vorteil mit den staatlichen Gesetzen verbunden ist, habe er Anspruch auf ihren Gehorsam: „Er gewinnt den Gehorsam nicht dadurch, daß er der Staat ist, sondern durch das, was er als Staat zu tun beabsichtigt.“31 Habe er den Zweck, für das Glück aller seiner Bürger zu sorgen, so erwachse für ihn daraus zunächst die Aufgabe, die Mindestgrundlage eines befriedigenden gesellschaftlichen Lebens herzustellen. Dazu gehörten für Laski dann nicht nur das bereits erwähnte Recht auf Arbeit und soziale Absicherung, sondern vor allem soziale und politische Rechte, wie das auf Bildung, auf angemessenen Lohn und humane Arbeitszeit sowie Meinungs- und Vereinigungsfreiheit, verbunden mit einem allgemeinen Wahlrecht. Um nicht nur eine formelle, vielmehr auch eine inhaltliche Gerechtigkeit – und das hieß für Laski die Berücksichtigung der Bedürfnisse aller Staatsbürger – herzustellen, müsse der Staat dafür Sorge tragen, etwa durch eine entsprechende Be27 Vgl. etwa Laski 1945, S. 457. Hier unterstreicht Laski in einer Kritik der kommunistischen Parteien die Notwendigkeit der kritischen Prüfung durch die Menschen und seine Forderung, den Menschen als Zweck und nie als Mittel zu betrachten. Damit bleibt Zylstras programmatischer Titel zumindest fragwürdig. Behauptet wird hier jedoch nicht, dass es bei der Synthese zwischen Individualismus einerseits und marxistischer Analyse/Interpretation andererseits nicht zu Widersprüchen in Laskis Denken kommt. (Vgl. hierzu die kritische Analyse von Hawkins (Hawkins 1950)) 28 Ein Vorwurf, der Laski bis heute gemacht wird, von dem er sich jedoch immer kritisch distanzierte. (Vgl. Saage 2005, S. 269; Hawkins 1950, S. 377; Laski 1949, S. 43) 29 Vgl. R. Barker 1991, S. 243 f. Er bezeichnet diese als „idealistische“ Theorie. Gleichwohl meint Barker, im Gegensatz zu der hier vertretenen Ansicht, Laski habe damit seine früheren Positionen aufgegeben. Laski trat für eine dezentral-funktionale soziale Demokratie ein, die zumindest pluralistisch inspiriert ist. Dabei optierte er für eine demokratische Selbstverwaltung in der Wirtschaft, die ihre Entscheidungen – vor allem in Fragen rein technischer Natur – unabhängig von der politischen Demokratie treffen sollte. Dem zentralen Gesetzgeber sollte dabei allerdings ein Revisionsrecht zukommen. (Vgl. etwa Laski 1949, S. 75 f.) 30 Laski 1935, S. 160. Im Übrigen wird an dieser Stelle eine Schwierigkeit bei Laski deutlich, die Eisfeld und Zerby in der Vermengung von normativen und deskriptiven Argumenten gesehen haben. (Vgl. Eisfeld 1972, S. 129 (Fn. 16); Zerby 1945) 31 Laski 1949, S. 29.

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steuerung, dass die materiellen Unterschiede zwischen den Staatsbürgern nicht zu groß sind.32 Freiheit und Gleichheit sind also bei Laski zwei Seiten derselben Medaille. Sie sind notwendige Voraussetzungen einer sozialen Demokratie. Den Einwand, kapitalkräftige Interessen würden im Falle zu großer materieller und finanzieller Unterschiede deutlich bessere Möglichkeiten der politischen Interessendurchsetzung haben und so den Staatszweck konterkarieren, hat Laski damit den späteren „linken“ Pluralismuskritikern in der Bundesrepublik Deutschland bereits voraus gedacht. Schluss Dass bei aller Diskussion um Harold Laski im Rahmen der Neo-Pluralismusdebatte in der deutschen Politikwissenschaft keine eigenständige Studie zu ihm entstanden ist, die sich ausführlich seinem Denken widmet, verwundert aus mehreren Gründen. Zum einen natürlich, weil Laski indirekt und ungewollt Ausgangspunkt dieser Debatte in der Bundesrepublik war. Zum anderen, weil er eine überaus interessante und streitbare Persönlichkeit war; eine Persönlichkeit, die sich dagegen verwehrte, Wissenschaft – gerade Politikwissenschaft – nur aus dem berüchtigten Elfenbeinturm heraus zu betreiben, die es also für geboten hielt, das Wort zu erheben, wenn es ihr politisch erforderlich33 (und nicht nur opportun!) schien und dafür auch die Angreifbarkeit im wissenschaftlich-akademischen Feld riskierte. Gleichzeitig nahm sich Laski aber auch wohl bedacht so weit aus der Politik aus, dass seine Sonderstellung als Intellektueller stets sichtbar blieb. „Der Intellektuelle zwischen Theorie und Praxis“ könnte wohl dementsprechend der Untertitel einer Studie zu Laski lauten. Dass es eine solche eben nicht gibt, verwundert zuletzt natürlich auch deshalb, weil ein Blick in die angloamerikanische Literatur die Bedeutung Laskis deutlich werden lässt. Neben den zeitgenössischen Debatten mit und um Laski ist hier nach seinem Tod mithin eine Fülle von Schriften entstanden und ein Diskurs um seine politischen Ideen in Gang gekommen, der sich bis in die heutigen Tage hineinzieht.34 Gerade in Zeiten einer neoliberalen Hegemonie im politischen Diskurs bei gleichzeitiger Radikalisierung der politischen Ränder erscheint eine 32

Vgl. hierzu Laski 1949, S. 30–40. Das beste Beispiel hierfür dürfte wohl Laskis Sympathiebekundung in Bezug auf den Bostoner Polizistenstreik 1919 sein. Weil Laski in einer Rede vor Frauen der Polizisten dabei die gesellschaftlichen (v. a. politisch-ökonomischen) Herrschaftsgrundlagen in Frage stellte und damit auch die elitäre Funktion Harvards, forderten finanziell potente Harvard-Förderer seine Zurechtweisung: Laski wurde in der Folge zwar nicht entlassen, aber ihm wurde bedeutet, dass eine Beförderung seiner Person unter diesen Umständen nicht in Frage komme. Laski kehrte in diesem Zusammenhang nach England zurück und begann seine Lehrtätigkeit an der LSE. (Vgl. Hennginson 1972, S. 87 ff.) 33

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solche Auseinandersetzung mit den Gedanken Laskis zur sozialstaatlichen Fundierung der Demokratie im Sinne einer Sensibilisierung für deren Gefährdung – im weitesten Sinne vor allem durch einen allseits beschworenen Umbau (sprich: Abbau) des Sozialstaates – und für die Entwicklung alternativer Ideen als lohnende Aufgabe. Literatur Barker, Ernest, Political Thought in England. From Herbert Spencer to the Present Day, 4. Aufl., London 1922 [zuerst 1915] (zitiert: Barker 1922). Barker, Rodney, Harold Laski, [übers. v. Walter Euchner], in: Euchner, Walter (Hg.): Klassiker des Sozialismus, 2. Bde., Bd. 2, München 1991, S. 239–252 (zitiert: Barker 1991). Beloff, Max, The Age of Laski, in: The Fortnightly, CLXVII (1950), S. 378–384 (zitiert: Beloff 1950). Bermbach, Udo/Nuscheler, Franz (Hg.), Sozialistischer Pluralismus. Texte zur Theorie und Praxis sozialistischer Gesellschaften, Hamburg 1973 (zitiert: Bermbach/Nuscheler 1973).

34 Für die/den interessierte/n Leser/in sollen folgende Literaturhinweise und Anmerkungen genügen und Anlass zum Weiterlesen geben: Die erste große Laski-Biographie stammt von Kingsley Martin, einem Freund Laskis (Martin 1953). Martin hatte den Vorteil, aus erster Hand über Laski berichten zu können, womit gleichzeitig aber auch seine an ihm oftmals kritisierte Schwäche bezeichnet ist, die vor allem in seiner eher unkritischen und unsystematischen Auseinandersetzung mit Laskis politischen Ideen begründet liegt (Vgl. dazu etwa die Rezensionen von Hawkins 1953 und Deane 1953 – allerdings mit ebenso kritischem Blick: Beide Autoren heben v. a. ihre negative Wertung der späteren (marxistischen) Schriften Laskis hervor.). Isaac Kramnick und Barry Sheerman (Kramnick/Sheerman 1993) haben mit ihrer Laski-Biographie, die pünktlich im Jahr des 100. Geburtstages Laskis erschienen ist, die Reihe jüngerer Schriften zu Laski eröffnet. Die ersten wichtigen Arbeiten zu Laskis politischem Denken stammen von Deane (Deane 1972 [zuerst 1955]) und Zylstra (Zylstra 1968). Dabei hat Deane sich insbesondere – aber nicht nur – mit den frühen Schriften Laskis auseinandergesetzt, wogegen Zylstra sich explizit durch den Fokus auf die späteren Schriften Laskis abgesetzt hat. Deane und Zylstra haben maßgeblich zu einer kritischen bis negativen Rezeption Laskis beigetragen. Hiergegen wiederum hat, dem Anspruch nach, in jüngster Zeit Peter Lamb (Lamb 2004) argumentiert und den Versuch unternommen, den bleibenden Wert der Ideen Laskis aufzuzeigen. Dabei hat Lamb sich vor allem auf Laskis Ideen zur internationalen Politik bezogen. Ebenfalls in jüngster Zeit erschienen ist die Arbeit von Best (Best 2005). Best hat sich in seiner Studie vor allem um die amerikanische Debatte über Laski bemüht. Abgesehen von den explizit auf Laski bezogenen Schriften, gibt es noch zahlreiche Studien zum Pluralismus und zur politischen Theorie, die Laski ihre Aufmerksamkeit widmen (vgl. etwa Hsiao 1927; Brinkmann 1927; Magid 1941). Hinzu kommt natürlich noch eine Fülle von Artikeln und Rezensionen zu Laski.

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Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923–1939, Berlin 1988, S. 67–74 (zitiert: Schmitt 1988). – Der Begriff des Politischen, [Text von 1932 mit einem Vorw. und drei Collarien, 3. Aufl. der Ausg. von 1963], Berlin 1991 (zitiert: Schmitt 1991). Schultes, Karl, Harold J. Laski. Eine Staatstheorie der Sozialen Demokratie, in: Zeitschrift für Politik, Bd. 2 (1955) [Neue Folge], S. 259–272 (zitiert: Schultes 1955). Soltau, Roger Henry, Professor Laski and Political Science, in: The Political Quaterly, Vol. 21 (1950), No. 3, S. 301–310 (zitiert: Soltau 1950). Steffani, Winfried, Einleitung, in: Nuscheler/Steffani 1973, S. 9–46 (zitiert: Steffani 1973). – Pluralismus. Konzeptionen – Positionen – Kritik, in: Politische Bildung (PB), 1977, Heft 1, S. 3–33 (zitiert: Steffani1977). Zerby, Lewis, Normative, Descriptive and Ideological Elements in the Writings of Laski, in: Philosophy of Science, Vol. 12 (1945), No. 2, S. 134–145 (zitiert: Zerby 1945). Zylstra, Bernard, From Pluralism to Collectivism. The Development of Harold Laski’s Political Thought, Assen 1968 (zitiert: Zylstra 1968).

„Mobilisierung der Demokratie“ Betrachtungen zum Demokratie-Konzept von Waldemar von Knoeringen Helga Grebing Der Trend zur Minimalisierung der Demokratie, ihre Verwahrlosung durch die politische Klasse und die selbsternannte ‚Vierte Gewalt‘ (der Medien) sollten nicht nur zu der traurig stimmenden historisch belegbaren Feststellung veranlassen, dass Demokratie offensichtlich immer gefährdet ist. Dieser hier nur knapp charakterisierte Tatbestand fordert vielmehr auch dazu auf, zu überprüfen, welche wesentlichen Kriterien vorhanden sein müssen, um Substanz und Wesen der Demokratie unangefochten zu erhalten. Der Rückblick auf beide Versionen der kritischen Betrachtung richtet sich dabei – aus gegebenen Anlass – auf einen Politiker, der fast vergessen zu sein scheint: auf den langjährigen Vorsitzenden der bayerischen Sozialdemokraten Waldemar Frhr. von Knoeringen.1 Knoeringen, der von 1906 bis 1971 lebte, gehörte wie Willy Brandt, Willi Eichler und viele andere, die in diesem Zusammenhang zu nennen wären, zu jenen Sozialdemokraten, die nach den Jahren des durch die nationalsozialistische Diktatur erzwungenen Exils nach Deutschland zurückkehrten, um hier mitzuwirken an dem Aufbau der sozialen Demokratie als wichtigstem Bestandteil des umfassenden Konzeptes des demokratischen Sozialismus. Knoeringen war wohl derjenige unter den sozialdemokratischen Politikern, die sich dieser Aufgabe widmeten, dessen Reflexionsfähigkeit am tiefsten und zugleich am breitesten ausfiel.2 Peter Glotz, einer seiner politischen Schüler („Er hat mich mehr beeinflusst als sonst jemand auf der Welt.“), attestiert ihm „ein Gespür für den politischen Horizont wie keiner. Er war wirklich ein Vordenker“.3 1

Aus Anlass des 100. Geburtstages von Waldemar von Knoeringen erscheint die Buchpublikation: Helga Grebing, Dietmar Süß (Hrsg.), Waldemar von Knoeringen. 1906–1971. Ein Erneuerer der deutschen Sozialdemokratie. Reden, Aufsätze, Briefwechsel und Kommentare zu Leben und Wirken. Berlin (Vorwärts-Buch Verlagsgesellschaft) 2006. (Grebing/Süß 2006) 2 Zur Orientierung über die Grundsatzdiskussionen in der SPD nach 1945 vgl. Grebing 2005.

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Für Knoeringen war, anders als für viele andere Linkssozialisten, die die Erfahrung der erzwungenen Emigration nicht hatten machen müssen, der definitive Gegensatz zum Kommunismus in der Form der stalinistischen Terrorherrschaft grundlegend und sein Weiterdenken über die nationalsozialistische Diktatur hinaus prägend. Deshalb war die Rückbindung der sozialistischen Ziele an das Modell einer aufgeklärten Demokratie eine existentielle Voraussetzung für den freiheitlichen Sozialismus (eine Kennzeichnung, die Knoeringen lieber durchgesetzt gesehen hätte wie die des demokratischen Sozialismus, wie übrigens Willy Brandt ebenfalls). Diese Rückbindung beruhte auf einer weiteren unabdingbaren Voraussetzung: Zum demokratischen Sozialismus gehöre, so sein Votum bereits 1947, „eine gewisse Bewußtseinsreife der Menschen, ohne die letzten Endes Demokratie und Selbstbestimmung unmöglich sind“.4 War also Sozialismus ohne Demokratie für Knoeringen nicht denkbar, so war er sich gleichzeitig darüber im Klaren, dass dies bedeutete, dass die traditionelle Form der politischen Demokratie als Repräsentativverfassung allein nicht genügen würde, die Grundlagen für sein Verständnis des Sozialismus zu schaffen. Deshalb forderte er die Ergänzung der politischen durch die wirtschaftliche Demokratie. Dies war in dieser Verallgemeinerung nicht Neues und nicht Originelles. Erstaunlich war für die Diskussionen in der unmittelbaren Nachkriegszeit indessen doch, dass Knoeringen sich vehement von der Auffassung distanzierte, die wirtschaftliche Demokratie durch Sozialisierung im beschränkten Sinne der Verstaatlichung erreichen zu können.5 Da hatte Stalin Marx desavouiert, und so entwickelte Knoeringen zusammen mit anderen, vor allem mit dem damaligen sozialdemokratischen Wirtschaftsminister in Bayern Rudolf Zorn bereits 1948 das Konzept der vom demokratischen Staat „gelenkten Marktwirtschaft“, das gekoppelt war mit der völligen Gleichberechtigung der Organisationen der Arbeitnehmer mit denen der Arbeitgeber. Knoeringen blieb aber im weiteren Verlauf seiner Überlegungen, die bis zum Godesberger Programm reichten, nicht stehen bei solchen in der Sozialdemokratie alsbald allgemein geteilten Auffassungen. Für ihn gewann die Demokratie zunehmend Bedeutung nicht mehr nur als ein Instrument zur Gestaltung von Staat und Gesellschaft, sondern als „Wert an sich“.6 So war 3

Glotz 2005, S. 82 u. 89. Rede von W. v. Knoeringen im Bayerischen Landtag am 16. Juli 1947. Stenographischer Bericht über die Verhandlungen des Bayerischen Landtags 1946/47, Bd. 1, 24. Sitzung, S. 760. 5 Rede vor dem Landesverband der Berliner SPD am 12. Februar 1949, in: Wir schaffen ein Programm, Berlin 1949, S. 25–32. – Zu Rudolf Zorn vgl. Kronawitter 1988. 4

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es von ihm auf dem Godesberger Programm-Parteitag zu hören, so versuchte er dieses noch grundsätzlicher und zugleich eindringlicher auf dem SPDParteitag 1962 in Köln in einem breiten Grundsatzreferat unter dem Motto „Erbe und Auftrag“ darzulegen, indem er die Idee der Demokratie in allen ihren Formen, beginnend mit der Entstehung der attischen Demokratie, ausbreitete: „Demokratie ist ein Wert an sich. Demokratie hat einen tieferen, einen neuen Inhalt bekommen. Das Maß der Demokratisierung aller Lebensbereiche unserer Gesellschaft ist auch das Maß der Gerechtigkeit und Freiheit, die wir dem einzelnen Menschen geben können. Demokratie gründet auf den Menschenrechten, sie fordert immer mehr Gerechtigkeit, sie anerkennt die Vielfalt des Lebens und schafft jenes Verhältnis von Freiheit und Ordnung, das in ständiger Spannung der selbstverantwortlichen Willensentscheidung Raum gibt.“7 So war es eigentlich nur konsequent, wenn er dem Grundsatz, Demokratie sei ein Wert an sich, die Bedeutung zuschrieb, aus ihm folge „die gesamte Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens“. Auch das klang noch alles sehr allgemein, abgehoben und wenig konkret. Doch Knoeringen war nicht bloß kraft seiner rhetorischen Fähigkeiten und verbalen Ausdruckskraft der Leitwortgeber in seiner Partei und ein Menschenfischer dazu. Er wusste, dass eine offensive Erweiterung des Demokratieverständnisses gebunden war an eine Steigerung des Anteils des Individuums an den kulturellen Gütern der Gesellschaft. Kultur, das hieß für ihn in erster Linie Bildung. So fand er zu seinem Konzept des „sozialen Kulturstaates“.8 In ihm sah er die Fortentwicklung des demokratischen Rechtsstaates und die Erweiterung und zugleich Präzisierung der sozialen Demokratie. Diese brauche mündige Menschen, die selbstverantwortlich handeln könnten. Um die Menschen auf das Niveau zu bringen, diesen Zustand zu erreichen, bedurfte es nach Knoeringens Einschätzung einiger aufeinander bezogener Anstrengungen: 1. die konstitutionelle Festlegung der freiheitlichen Grundrechte und Pflichten; 2. die Überwindung materieller Not für das Individuum, 3. die Möglichkeit der Erziehung bzw. der Menschenbildung und 4. die Ausweitung des Wissens vom Menschen und von der Gesellschaft. Diese Postulate waren nicht zu trennen von einem Menschenbild, das die traditionsbestimmten Vorstellungen der sozialistischen Bewegung verabschiedete. 6

Protokoll der Verhandlungen des Außerordentlichen Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 13.–15. November 1959 in Bad Godesberg, S. 103. 7 Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 26.- 30. Mai 1962 in Köln, S. 135 u. 140. 8 Vgl. Knoeringen 1958. – Ähnlich auf dem Parteitag der SPD 1958 in Stuttgart.

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Weder die positiven Veränderungen der Lebensbedingungen des Menschen noch die daraus resultierende Befreiung aus entfremdender Abhängigkeit würden die Herausbildung eines ‚neuen (guten) Menschen‘ zur Folge haben. Knoeringen zog aus den neueren Erkenntnissen der Wissenschaften wie Anthropologie, Psychologie und Soziologie den Schluss, dass der Mensch gut und böse zugleich war und dass er darin „von seinem Grund her“ nicht verändert werden konnte. Es gab anthropologische Konstanten und zugleich blieb jeder Mensch in seiner jeweiligen Art einmalig und einzigartig. Aber es war möglich – so die Auffassung von Knoeringen – „auf dem Wege der Erziehung das Positive im Menschen stärker zu fördern“, „bestimmte Dinge in ihm zur Entwicklung“ zu bringen, die Gestaltung der äußeren Lebensbedingungen so vorzunehmen, dass sie „die optimale Selbstentfaltung des Einzelnen“ gewährleisten würden, damit dieser „jeder Einzelne“ seine schöpferischen Kräfte positiv entwickeln konnte.9 In den 60er Jahren sah Knoeringen die Bundesrepublik nicht auf dem Wege zu einem Kulturstaat, sondern auf dem zu einem Wohlfahrtsverwaltungsstaat. Dieser verwische die Konturen der Politik und vergrößere die Kluft zwischen Bürger und Staat immer mehr, und die politischen Parteien seien nicht fähig, diese Kluft zu überwinden und den politischen Willen aus dem Volk heraus zu gestalten. Vielmehr bedienten sie sich immer mehr der Technik der modernen Massenmanipulierung und lieferten sich damit den Meinungsforschern aus. „Der Staat, die Verwaltung, das Parlament sind undurchschaubar geworden. Den Bürger erreichen nur noch Schlagworte und Wahlversprechungen und eine immer unpolitischer werdende Werbung, die sich mehr und mehr der Mittel wertfreier Reklame bedient. Das wiederum fördert die Entpolitisierung der Demokratie und zerstört ihren Kern.“10 Dieser problematischen Situation stellte Knoeringen die Vorstellung einer Entwicklung „von der kapitalistischen Wirtschaftsgesellschaft über die industrielle Leistungsgesellschaft zur sozialen Bildungsgesellschaft“11 entgegen. Möglichst viele Menschen müssten einen möglichst hohen Bildungsstand erreichen und gesellschaftspolitisches Wissen und Problemsicht erwerben. Deshalb hatte die politische Bildung von der Grundschule bis zur Erwachsenenbildung von Beginn an einen hohen Stellenwert für Knoeringens Konzept der sozialen Demokratie als Lebensform. 9

Zu diese Thema hat sich Knoeringen wiederholt geäußert, vgl. u. a.: Knoeringen 1968. 10 Rede vor dem bayerischen Studententag am 18.6.1967, in: Archiv der sozialen Demokratie (AdsD), Seliger-Archiv, NL Emil Werner, 95. 11 Kulturpolitik und Volksbildung im weltanschaulichen, politischen und wirtschaftlichen Spannungsfeld unserer Zeit. Rede auf der Landesdelegiertenkonferenz des SPD-Landesverbandes Nordrhein-Westfalen in Köln am 11.7.1964. AdsD, Seliger-Archiv, NL Emil Werner, 95.

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Die Spuren dieser Anforderung Knoeringens an seine Partei, Bildungsund Kulturpolitik als die wichtigste Kernaufgabe zu begreifen, kann man heute noch besonders, aber nicht nur in Bayern wahrnehmen: Die Georgvon-Vollmar-Schule bzw. -Akademie in Kochel a. See (seit 1948), die Bayerische Landeszentrale für Heimatdienst (1955, seit 1964: für politische Bildungsarbeit), die Akademie für Politische Bildung in Tutzing am Starnberger See (1957), die Frankenwarte bei Würzburg (1965), die Kritische Akademie in Inzell (1977) – alles Initiativen von Waldemar von Knoeringen. Auch der so genannte „Plan Z“, 1958 veröffentlicht in einer Publikation des SPD-Parteivorstandes unter dem Titel „Mobilisierung des Geistes. Unsere Aufgaben in der zweiten industriellen Revolution“ 1958, trug die Handschrift Knoeringens. Mit dieser Initiative begann der Durchbruch der SPD zur innovativen Wortführerin für eine moderne Bildungs- und Wissenschaftspolitik in der Bundesrepublik. Knoeringen wusste, worum es zukünftig gehen würde, als er auf dem Godesberger Programmparteitag der SPD in dieser Frage das Wort nahm: um die Zukunft der Demokratie: „Wenn dieser Gesellschaft der Industriewelt nicht die Bildungsgesellschaft folgt, könnt ihr euch den Sozialismus in den Rauchfang hängen. Dann werdet ihr eine technisch-bürokratische Gesellschaft des hohen Lebensstandards haben, aber die Freiheit der Menschen werdet ihr geopfert haben.“12 In den Annalen der SPD ließen sich noch viele weitere Hinweise auf Knoeringens ‚kulturrevolutionäre‘ Bemühungen finden. Allein die Beschlüsse der Parteitage und die ihnen vorausgehenden Debatten über eine moderne Bildungspolitik spiegeln dies wider, übrigens auch seine hohen Stimmenzahlen bei den jeweiligen Wahlen zum Parteivorstand. Zwischen 1958 und 1962 war er auch einer der beiden stellvertretenden Parteivorsitzenden. Knoeringen verstand sich als Angehöriger einer Zwischengeneration – alt genug, den menschenverachtenden Totalitarismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Stirn geboten zu haben, und jung genug, den demokratischen Aufbruch in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts mitgestalten zu können. Er wirkte aus dieser Sicht als ein Modernisierer seiner Partei, er war wirklich – um es zu wiederholen – „ein Vordenker“ (Glotz). Er wurde nicht müde, die ihm bewusst gewordenen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse, die die Demokratie gefährdeten, mit seinem gesellschaftspolitischen Gegenkonzept zu bekämpfen: Lebenslanges Lernen, ständige Erweiterung des Wissens und anhaltende Vertiefung der Bildung waren die Voraussetzungen für gesellschaftliche Chancengleichheit und aus ihr resultierend soziale Gerechtigkeit, die erst die soziale Demokratie ermöglichen würde.

12

Außerordentlicher Parteitag der SPD 1959 in Bad Godesberg, (Anm. 6), S. 104.

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In einer mit zehn weiteren Mitstreitern verfassten Schrift „Mobilisierung der Demokratie“13 aus dem Jahre 1966 entwickelte Knoeringen sein Modell der sozialen Demokratie geschlossener und grundsätzlicher, als er es bis dahin getan hatte. Die Zeit dazu erschien ihm mehr als reif, sah er doch die Demokratie durch den Rückfall in den konservativen wie auch in den linksradikal-romantischen Sozialutopismus gleichermaßen bedroht. Ihm ging es diesen Gefahren gegenüber um Weg und Ziel einer sozialen und demokratischen Bildungsgesellschaft. Es bringt nicht sehr viel Erkenntnisgewinn für die Gegenwart, auf Einzelheiten dieser Schrift einzugehen, weil in ihr sehr zeitbezogen argumentiert wurde. Grundsätzlich aber lässt sich aus ihr erschließen, dass sie das Godesberger Programm weiterführen wollte in Richtung auf einen „demokratischen Realismus“. Dieser sollte keine utopischen Züge mehr tragen, was die Demokratievorstellungen anging, er sollte auch nicht in einem geschlossenen Programm seinen Ausdruck finden. Vielmehr sollte „aus einer tiefen Einsicht“ die Überzeugung wachsen, „dass Demokratie die Chance unserer Freiheit und das Herzstück menschlicher Kultur geworden ist“.14 Der Anspruch war, dem Unbehagen an der Demokratie durch die Herausforderung zu einem „großen Demokratiegespräch“ zu begegnen. Dieses Gespräch sollte nicht nur von der Politikwissenschaft und der Publizistik geführt werden; nicht nur die politischen Parteien, die Verbände, die Kirchen, die gesamte Öffentlichkeit sollten daran beteiligt werden, sondern vor allem „Jedermann“. Es sollten Gespräche sein „mit Zehntausenden von Menschen, die nicht der SPD angehören“. Solche Gespräche hatte Knoeringen bereits 1962 in Bayern auf den Weg gebracht und mit mehr als 20.000 Menschen führen lassen, um auf dieser Grundlage ein „bayerisches Volksprogramm“ durch die SPD zu erstellen.15 Der „rote Baron“, so erinnerte sich Peter Glotz, habe ihm „hundertmal“ gesagt: „Das Gespräch ist die Seele der Demokratie.“16 Wenn nicht mehr, ist es diese Sensibilität für grundsätzliche Problemlagen in der Politik, die ständig aufs Neue überprüft werden müssen, die Waldemar von Knoeringen auch für die aktuelle Diskussion über Wesen und Inhalte der sozialen Demokratie als welt- und problemoffener Vordenker erscheinen lässt: für unseren Weg in die Wissensgesellschaft.

13 Knoeringen/Glotz 1966 [vorgelegt von Waldemar von Knoeringen, Peter Glotz, Peter Hanke, Michael Hereth, Thomas Keller, Jürgen Maruhn, Hans-Günter Naumann, Hubert Raupach, Helmuth Rothemund, Friedrich Schreiber, Kurt Stenzel]. 14 Ebd., S. 180. 15 Vgl. Knoeringen 1962. 16 Glotz 2005, S. 84.

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Literatur Glotz, Peter, Von Heimat zu Heimat. Erinnerungen eines Grenzgängers, Berlin 2005 (zitiert: Glotz 2005). Grebing, Helga, Ideengeschichte des Sozialismus in Deutschland, Teil II, in: Dies. (Hg.), Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus – Katholische Soziallehre – Protestantische Sozialethik. Ein Handbuch, 2. Aufl., Wiesbaden 2005 (zitiert: Grebing 2005). Grebing, Helga/Süß, Dietmar (Hg.), Waldemar von Knoeringen. 1906–1971. Ein Erneuerer der deutschen Sozialdemokratie. Reden, Aufsätze, Briefwechsel und Kommentare zu Leben und Wirken, Berlin 2006 (zitiert: Grebing/Süß 2006). Knoeringen, Waldemar v., Kulturpolitik als Staatspolitik. Rede auf der Tagung der Katholischen Akademie in Bayern am 10.–12.1.1958, in: Karl Forster (Hg.), Christentum und Demokratischer Sozialismus, München 1958, S. 169–195 (zitiert: Knoeringen 1958). – Das Gespräch mit Jedermann. Neue Wege zur politischen Willensbildung, in: Die Neue Gesellschaft, Jg. 9 (1962), Heft 5, S. 337–343 (zitiert: Knoeringen 1962). – Anthropologische Orientierung der Politik, in: Waldemar von Knoeringen/Ulrich Lohmar (Hg.), Was bleibt vom Sozialismus?, Hannover 1968, S. 93–107 (zitiert: Knoeringen 1968). Knoeringen, Waldemar v./Glotz, Peter [u. a.], Mobilisierung der Demokratie. Ein Beitrag zur Demokratiereform, München 1966 (zitiert: Knoeringen/Glotz 1966). Kronawitter, Hildegard, Wirtschaftskonzeptionen und Wirtschaftspolitik der Sozialdemokratie in Bayern 1945–1949, München 1988 (zitiert: Kronawitter 1988).

Vom problematischen Umgang der Rechtswissenschaft mit ihrer NS-Vergangenheit Gedanken zu Ernst Forsthoff* Miriam Saage-Maaß Obwohl eine Reihe von Untersuchungen zur Rolle der Hochschullehrer, insbesondere der Historiker, im Nationalsozialismus erschienen ist1 und auch die wenig ruhmreiche Rolle der Juristen in dieser Epoche ausführlich thematisiert wurde2, ist die Auseinandersetzung der bundesdeutschen Rechtswissenschaftler mit ihren großen Lehrern wie Ernst Rudolf Huber, Franz Wieacker und Karl Larenz in Bezug auf deren Tätigkeit im „Dritten Reich“ oft erstaunlich lückenhaft.3 Zwar löste das Bekanntwerden der engen Beraterfunktion, die der Staatsrechtler Theodor Maunz bei der rechtsradikalen DVU (Deutsche Volksunion) übernahm, allgemeine Bestürzung aus;4 auch hat sich die Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer nach langem Widerstand ihrer NS-Vergangenheit gestellt und das Fach „Juristische Zeitgeschichte“ konnte sich, wenn auch personell eng begrenzt, etablieren.5 Trotz dieser Forschungslage werden der Maunz-Dürig Kommentar zum Grundgesetz und die Lehrbücher von Karl Larenz, Ernst Forsthoff und anderen ganzen Studentengenerationen ohne jeden Hinweis auf die Biographie der Autoren zur Bearbeitung von Hausarbeiten empfohlen. Auf diese Weise kann ein Student der Rechtswissenschaft sein erstes Staatsexamen ablegen, ohne sich ein einziges Mal mit der problematischen NS-Vergangenheit seiner Zunft und den personellen wie auch dogmatischen und methodischen Kontinuitäten seines Fachs auseinandersetzen zu müssen.

* An dieser Stelle sei Viktor Winkler für die Diskussionen gedankt. 1 Faulenbach 1974; Schwabe 1988; Heiß/Mattl 1989; Schulze/Oexle 2000; Lehmann/Oexle 2004. 2 Böckenförde 1985; Gruchmann 1987; Rüthers 2001; Frei 2001. 3 Vgl. z. B.: Diederichsen 1988; Lerche 1988. 4 Stolleis 1993. 5 Stolleis 1997; Stolleis 1993.

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Was macht es der heutigen Generation der Juristen so schwer, sich der Vergangenheit ihrer großen Lehrer zu stellen, und wie könnte ein sinnvoller Umgang mit dem NS-Erbe der Rechtswissenschaft aussehen? Das Leben und Werk Ernst Forsthoffs macht die Komplexität der aufgeworfenen Fragen deutlich. I. Ernst Forsthoff wurde 1902 als Sohn eines evangelischen Pfarrers in Duisburg geboren und wuchs in Mühlheim an der Ruhr auf.6 Nach dem Studium der Philosophie und Rechtswissenschaft promovierte er 1925 bei Carl Schmitt und habilitierte sich 1930. 1933 wurde er nach Frankfurt am Main als Nachfolger Hermann Hellers berufen, der aufgrund der politischen Verhältnisse nach Madrid emigriert war.7 Es folgte 1935 ein Ruf nach Hamburg, wo Forsthoff den durch die Rassegesetzgebung aus dem Amt gedrängten Kurt Perels ersetzte. Allerdings ging er schon nach dem Wintersemester 1935/36 nach Königsberg, wo er bis zum Wechsel an die Universität Wien 1941 lehrte. In Wien stieß Forsthoff auf den „Widerstand der NSDAP“ und wurde mit einem Lehrverbot belegt.8 1943 ging er nach Heidelberg.9 Als die US-amerikanische Verwaltung Forsthoff 1946 des Amtes enthob, nahm er eine Tätigkeit im schleswig-holsteinischen Landesamt an, bis er 1951 seine Professur für öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte und Kirchenrecht in Heidelberg wieder aufnahm.10 Er war von 1960 bis 1963 Präsident des Supreme Constitutional Court der Republik Zypern und ließ sich 1967 emeritieren. Dieser auf die wesentlichen Daten beschränkte Lebenslauf macht deutlich, dass Forsthoff zu den Juristen gehörte, die ihre wissenschaftliche Laufbahn in der „Agonie der Republik“ (Michael Stolleis) begannen und die durch den Machtwechsel 1933 im Alter von 31 Jahren ein Ordinariat erhielten. Wie andere Rechtswissenschaftler betätigte er sich zunächst rege an den Bemühungen, den NS-Staat rechtlich zu untermauern, scheint sich jedoch Ende der 1930er Jahre vom Regime abzuwenden.11 Abgesehen von der kurzzeitigen Entlassung aus dem Universitätsdienst konnte Forsthoff nach 1945 seine umfang- und einflussreiche wissenschaftliche Tätigkeit 6

Vgl. Doehring 1988, S. 341; Klein 1986; Ronellenfitsch 2003. Vgl. Stolleis 2002, S. 266. 8 Vgl. ebd., S. 294. 9 Vgl. ebd., S. 273 f. 10 Vgl. Maunz 1980, S. 193. 11 Laut Doehring wendete sich Forsthoff bereits 1935 vom Nationalsozialismus ab; vgl.: Doehring 2003, S. 17. Ob diese These haltbar ist, wird im Folgenden untersucht. 7

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fortsetzen – auch in diesem Punkt verläuft sein Gelehrtenschicksal nach 1945 sehr ähnlich dem vieler Kollegen.12 Forsthoff selbst lehnte eine Kommentierung seiner Tätigkeit und Schriften zwischen 1933 und 1945 ab und sah sich in der Bundesrepublik ansonsten mit ungerechtfertigten Vorwürfen konfrontiert. Er antwortete auf eine Zitatenauswahl aus seinen Veröffentlichungen nach 1933: „Nur schwache Naturen können dem Irrglauben verfallen, durch nachträgliche Deutungen und Erklärungen ließe sich irgendetwas verbessern, mildern oder gar ungeschehen machen. Ich halte es mit dem Aphorismus Ernst Jüngers (aus Blätter und Steine): ‚Wer sich selbst interpretiert, geht unter sein Niveau‘.“13 Eine ausgesprochen apologetische Position nahm sein Schüler Karl Doehring ein. Laut Doehring sei Forsthoff dem neuen Staat 1933 mit einer „jugendlich-idealistischen Einstellung“ begegnet und einem „unseligen Zeitgeist erlegen“, als er die Juden als „Fremdlinge“ im gleichen Staat klassifiziert habe.14 Nach 1945 sei er dann Opfer „unangemessener Affronts“ geworden.15 Trotz einer ausgewogeneren Einschätzung als Doehring sah auch Hans H. Klein Forsthoff zumindest vorübergehend als „Opfer“ der nationalsozialistischen, antisemitischen „Gesamtstimmung“.16 Demgegenüber prangerte Gerhard Maunz die „dunklen Passagen“ in der Biographie Forsthoffs an und problematisierte dessen Schriften, die Gedanken enthalten hätten, „die erst die Taten ermöglichten“ und nicht nur straffrei geblieben seien, sondern auch einer Fortsetzung der Karriere nicht im Wege gestanden hätten.17 Oliver Rathkolb nannte Forsthoff sogar einen „nationalsozialistischen Paradestaatsunrechtstheoretiker mit eindeutig rassistischen Positionen“ und sah es als „zweifelsfrei“ erwiesen an, dass „sich Forsthoff längst als der nationalsozialistische Verfassungstheoretiker etabliert hatte“.18 Wiederum andere Autoren wie Helga Grebing oder Richard Saage setzen sich kritisch mit dem Werk Forsthoffs und den demokratietheoretischen Implikationen seiner Verfassungskonzeption auseinander; sie weisen zum einen auf die Kontinuitäten seiner Grundpositionen hin,19 zum anderen auf den Wandel vom „Totale[n] Staat“ zum „Staat der Industriegesellschaft“,20 ent12

Vgl. Treiber 1979; mit ähnlichem Ergebnis: Frei 2001. Zit. in: Seelinger 1968, S. 26. 14 Doehring 1988, S. 342 u. S. 345 f. 15 Ausführlich beschreibt Doehring die „Verletzungen“ und „Narben“, welche Forsthoff durch die (ungerechtfertigte) Kritik an seiner NS-Vergangenheit erlitten habe; vgl.: Doehring 2003, S. 13–16. 16 Klein 2003, S. 37. 17 Maunz 1980, S. 200 f. 18 Rathkolb 1989, S. 211 f. 19 Grebing 1971, S. 384 ff. 20 Saage 1983. 13

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halten sich aber weitgehend einer Auseinandersetzung mit der Verantwortung Forsthoffs für seine NS-Vergangenheit.21 Neuere rechtshistorische Untersuchungen haben Forsthoffs Schriften in den wissenschaftsgeschichtlichen Kontext der späten Weimarer Republik und der NS-Zeit eingeordnet.22 Es bestehen also eine Reihe von Untersuchungen zum Staatsdenken Ernst Forsthoffs und dem wissenschaftsgeschichtlichen Kontext seines Werkes, aber eine Auseinandersetzung mit der Verantwortlichkeit des Staatsrechtlers Forsthoff in einem Unrechtssystem wie dem NS-Staat hat bislang jenseits von Apologie oder Verurteilung kaum stattgefunden.23 Die Schriften Forsthoffs müssen in ihrem historischen Kontext gelesen werden, um Forsthoffs Wirken zwischen 1933 und 1945 zu verstehen, und um eine vorschnelle Verurteilung aus der gegenwärtigen Perspektive zu verhindern. Eine Auseinandersetzung mit der Frage nach der Verantwortung der Rechtswissenschaftler im Dritten Reich ist erst nach einer solchen Analyse möglich.24 II. Forsthoff gehörte in der Weimarer Republik zu den Öffentlichrechtlern, die in den Zeitschriften der „Konservativen Revolution“ wie „Der Ring“ oder „Die Tat“ teilweise auch anonym publizierten.25 Diese Jungkonservativen verband insbesondere die Gegnerschaft gegen „die gesamte kontinentale Herrschaftsentwicklung seit der französischen Revolution“.26 Forsthoffs Staatsdenken wurde vom philosophischen Idealismus Hegels geprägt, wie auch vom idealistischen Existentialismus seines Lehrers Carl Schmitt und vom soziologischen Realismus Lorenz von Steins.27 Der Staat war für Forsthoff ein Hoheitsverband, der den sozialen Gruppen übergeordnet ist, sie beherrscht und ihren politischen Wirkungskreis umgrenzt.28 Da die staatliche Autorität den partikularen Interessen der gesellschaftlichen Kräfte übergeordnet sein sollte, konnte er die Weimarer Republik nicht gut 21

Explizit: Grebing, S. 383 f. Vgl. Storost 1979; auch: Stolleis 2002, der allerdings aufgrund der Konzeption seines Buches nicht ausführlich auf die Wendungen im Werk Forsthoffs eingeht. 23 Allgemein zu diesem Problem: Rückert 2004. 24 Zur methodischen Problematik vgl.: Stolleis/Simon 1981. 25 Stolleis 2002, S. 177; eine Aufführung dieser Schriften findet sich bei: Blümel/Klein 1972. 26 Ziegler 1932, S. 8; zur Konservativen Revolution im Allgemeinen: Sieferle 1995. 27 Ausführlich hierzu: Storost 1979, S. 25–35. 28 Vgl. Forsthoff 1931, S. 260 f.; ausführliche Analyse bei: Grebing 1971, S. 384 ff. 22

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heißen. Diese war für ihn „eine Demokratie ohne Volk“, ein „Staat ohne Substanz“,29 der sich in „ein pluralistisches und polykratisches Gebilde“ aufgelöst hatte, nicht fähig, „Trägerin einer autoritär gezügelten, staatsbildenden und staatserhaltenden Kraft zu sein“.30 In Weimar sei es nicht gelungen, eine über den gesellschaftlichen Interessen stehende, von den momentanen Alltagssorgen nicht beeinflusste staatliche Autorität zu etablieren, weshalb die Weimarer Republik für Forsthoff keine staatliche Ordnung, sondern Anarchie darstellte. Forsthoff strebte, wie auch andere Jungkonservative, danach, die gesellschaftlichen Gegensätze im Hegelschen Sinne zu überwinden. Von dieser Staatskonzeption ausgehend, setzte Forsthoff 1933 in seiner kurzen und doch so bekannten Schrift „Der totale Staat“ dem liberalen Staat den totalen gegenüber. In der „nationalsozialistischen Revolution“ erblickte Forsthoff nun die Möglichkeit, den in Weimar am gesellschaftlichen Pluralismus zugrunde gegangenen deutschen Staat zum totalen Staat, zum „wirklichen Staat“ zu fixieren.31 Dieser Staat überwindet den Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft, da er stark genug ist, um „total“ zu sein. Forsthoff wollte den totalen Staat gegenüber der nationalsozialistischen Bewegung bestehen, ihn nicht in dieser aufgehen lassen. „Staat und Bewegung sind nicht miteinander identifizierbar. Die Bewegung kann aufgehen in der Person ihres Führers. Der Staat kann es nicht. Er ist, so stark das Moment persönlicher Führung auch sein mag, mehr als ein persönlicher Führungszusammenhang. Die persönliche Führungsgemeinschaft erlischt mit der Person des Führers und ist darum zeitgebunden. Der Staat darf nicht erlöschen; er ist die Form der politischen Existenz des Volkes und das Volk darf nicht politisch untergehen. Der Staat ist gebunden an Tradition, Gesetz und Ordnung.“32

Der totale Staat sollte also auch über der nationalsozialistischen Bewegung stehen. In diesem Postulat kann ebenso eine Eingrenzung des Herrschaftsanspruchs des Nationalsozialismus gesehen werden, wie Forsthoffs Eintreten für eine regelgeleitete, berechenbare Verwaltung.33 So verteidigte Forsthoff 1935 eine regelgeleitete Verwaltung gegen die Machtansprüche des Führerwillens. Die Bürokratie sorge für das Alltägliche und verfahre nach strengen Regeln, wodurch sie den „Vorzug“ entfalte, nach oben kontrollierbar und nach unten zuverlässig zu sein.34

29 30 31 32 33 34

Forsthoff 1933, S. 20. Vgl. Forsthoff 1931, S. 293; Forsthoff 1932, S. 64 f. Forsthoff 1933, S. 28. Ebd., S. 31. Vgl. ebd., S. 37. Forsthoff 1935, insbes. S. 399.

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Einige Autoren meinen zudem, „resignative Untertöne“ in der Feststellung Forsthoffs von 1935 herauszulesen, die Verfassungsfrage habe sich erledigt.35 Ebenso kann es als eine Distanzierung vom Nationalsozialismus gedeutet werden, wenn Forsthoff bemüht war, „die Rechtssätze des nationalsozialistischen Verwaltungsrechts als Ausdruck planvoller realer Ordnungen zu erkennen“.36 Aber selbst wenn man dieser Einschätzung angesichts anderer Äußerungen Forsthoffs aus dieser Zeit nicht folgen möchte, so lässt die „Deutsche Verfassungsgeschichte“ von 1940 einen deutlichen Wandel erkennen.37 Forsthoff wandte sich gegen das herrschende „politische Urteil“, das 18. Jahrhundert sei ein Jahrhundert des „gefährlichen Rationalismus und destruktiver Ideen, die in der französischen Revolution verhängnisvoll hervorbrachen, sich der deutschen bürgerlichen Bewegung bemächtigten und sie in eine deutschem Wesen fremde Richtung lenkten“.38 Das Gegenteil sei der Fall: Die Entwicklungen des 18. Jahrhunderts seien als die Herausbildung der deutschen Kulturnation und als Beginn des deutschen Nationalbewusstseins zu verstehen.39 Die von Montesquieu und Rousseau entwickelten Staatstheorien verstand er als innovative und bereichernde wissenschaftliche Ansätze, deren Erfolg er damit erklärte, dass diese „als Vorkämpfer gegen eine ausgelebte politische Welt, für eine neue politische Ordnung, welche mit der natürlichen Gestaltung der sozialen Beziehungen der Freiheit des einzelnen zum Durchbruch verhelfen sollte“.40 Während Forsthoff nach wie vor den westeuropäischen „Demokratismus“ als destruktiv für die Entwicklung deutscher Staatlichkeit im 19. Jahrhundert einschätzte und dem süddeutschen Liberalismus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen „üppig ins Kraut schießenden Doktrinarismus“ und „ideologische Weltflüchtigkeit“ vorwarf41, fand er wohlwollende Worte für den norddeutschen Liberalismus. Diese Form des Liberalismus, welche „am 35

Vgl. Forsthoff 1935a, S. 332; die Einschätzung von Stolleis 2002 (S. 255) stimmt jedenfalls mit Forsthoffs eigener Aussage überein, er habe sich 1935 vom Regime abgewandt; vgl.: Klein 2003, S. 32. 36 Forsthoff 1935, S. 398. 37 Dies lässt sich auch in der kleinen Schrift „Recht und Sprache“ feststellen, wenn Forsthoff in einem Exkurs die aktuelle Kirchen-Gesetzgebung scharf kritisiert und sich gegen eine „Politisierung der Rechtspflege“ ausspricht, einer Hervorhebung, die „angesichts einer gewissen Unbekümmertheit, welche sich der Behandlung dieser delikaten Fragen [der richterlichen Unabhängigkeit, M. S-M] gelegentlich gerne bemächtigt, wohl angebracht“ sei. (Vgl. Forsthoff 1940, S. 4 f. u. S. 35.) 38 Forsthoff 1940a, S. 96. 39 Ebd., S. 96–104. 40 Ebd., S. 102 f. 41 Ebd., S. 119 u. S. 148.

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klarsten“ Friedrich Christoph Dahlmann verkörpere, sei gekennzeichnet gewesen durch einen „gepflegten Sinn für Tradition und geschichtliches Werden“, sei somit im „Bereich der Tatsachen“ geblieben, habe sich auf einige verfassungspolitische Forderungen beschränkt und insbesondere den nationalen Gedanken betont.42 Es scheint, als stelle Forsthoff in seiner „Verfassungsgeschichte“ dem Pluralismus der „üppig ins Kraut“ schießenden NS-Sondergewalten einen konservativ interpretierten, d. h. staatsbejahenden Liberalismus gegenüber, wenn er darlegt, dass aus der dahlmannschen Tradition der National-Liberalismus entstanden sei, mit dem sich Bismarck zeitweise verbünden konnte, und er auf diese Weise dem Liberalismus dahlmannscher Prägung eine wichtige Rolle für die nationale Einigung Deutschlands beimaß. Trotz dieser Entwicklung darf nicht außer Acht gelassen werden, dass sich Forsthoffs Schriften, mindestens bis 1935, gegen das partikulare Interesse, das der bürgerliche Rechtsstaat zu schützen suchte, richteten. Gerade seine antisemitischen Äußerungen im „Totale[n] Staat“ wiederholte Forsthoff,43 wenn er sich 1934 gegen den Formalismus im Recht wandte, da dieser „die Unterscheidung von Deutschen und Juden sachlich negiert“.44 Ebenso sah Forsthoff es als notwendig an, die Freiheit der Kunst und der Wissenschaften zugunsten einer „verantwortliche[n] Schaffensfreiheit des echten Künstlers“ und einer „Forschungs- und Lehrfreiheit dessen, der sich in den Dienst der konkreten Aufgaben des heutigen deutschen Wissenschaftlers stellt“ aufzugeben. Nicht nur im „Totale[n] Staat“ war Forsthoffs Verfassungsdenken „antibürgerlich, antiformalistisch und darum tendenziell freiheitsvernichtend“, geprägt.45 Darüber hinaus sollte die Wirkung der Schriften Forsthoffs nicht unterschätzt werden. In einer zeitgenössischen Buchbesprechung wurde „Der totale Staat“ als „Missionsschrift von Rang für den Hitler-Staat“ bezeichnet.46 42

Ebd., S. 148. Vgl. Forsthoff 1933, S. 37 ff.: „[. . .] Die Menschheit gliedert sich in eine große Zahl artverschiedener Völker. Zwischen den Völkern gibt es Freundschaften und Feindschaften. Die Artverschiedenheit bedeutet darum noch nicht Feindschaft – sie wird erst zur Feindschaft, wenn Artverschiedene von ihrem Anderssein her den territorialen Lebensraum oder das Volkstum, den geistigen Lebensraum eines Volkes antasten. Darum wurde der Jude, ohne Rücksicht auf guten oder schlechten Glauben und wohlmeinende oder böswillige Gesinnung, zum Feind und mußte als solcher unschädlich gemacht werden [. . .]“ 44 Forsthoff 1934, S. 349. 45 Stolleis 2002, S. 333; vgl. Forsthoff 1935a, S. 331–333 (insbes. S. 332); in diesem Artikel nähert sich Forsthoff zwar stark beschreibend und weniger bejahend der Rechtssituation, postuliert aber dennoch die Notwendigkeit „einer Leitung durch eine Instanz von außergesellschaftlich-autoritärem Range“. 46 Stapel 1933, S. 749 f. 43

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Wenn ein junger hochkarätiger Rechtswissenschaftler wie Forsthoff das konservative Ordnungsmodell „Totaler Staat“ im neuen NS-Staat verwirklicht sah, hatte dies eine legitimierende Wirkung auf Kreise des konservativen Bürgertums und skeptischer Fachkollegen. Denn Forsthoffs Konzeption enthielt konservative Grundpositionen, mit denen die Leser übereinstimmten, und er verband diese mit dem neuen Staat, wodurch der NS-Staat für konservative Leser annehmbar wurde.

III. Eben in dieser legitimierenden und das konservative Bürgertum integrierenden Wirkung seiner Schriften nach 1933 liegt die Verantwortung des Rechtswissenschaftlers Forsthoff. Natürlich verfiel Forsthoff wie viele Konservative dem „Zauber Hitlers“ und dem Trugschluss, man könnte Hitler und seine Bewegung einrahmen.47 Doch als Wissenschaftler entlastet ihn dies nicht, denn in der Auseinandersetzung mit der Verantwortung der Rechtswissenschaftler im Nationalsozialismus geht es nicht um die persönliche moralische Unbescholtenheit des Menschen Forsthoff. Es geht nicht darum nachzuweisen, ob er persönlich überzeugter Nationalsozialist war oder ob er jüdischen Freunden zur Flucht verhalf.48 Rechtswissenschaftler im Nationalsozialismus sind daran zu messen, wie sie die Aufgaben rechtswissenschaftlicher Forschung und Lehre erfüllten.49 Zwar trug Forsthoff mit seinen Schriften ebenso wenig zu einer Verarbeitung des neuen Rechtsstoffs zu einem kohärenten System bei, wie auch von einem systemprägenden Einfluss auf die staatliche Gesetzgebung nicht die Rede sein konnte. Schon angesichts der hektischen und unkoordiniert arbeitenden Gesetzgebung des NS-Staates war eine Erfüllung dieser beiden zentralen Aufgaben der Rechtswissenschaft kaum möglich. Jedoch bemühte sich Forsthoff, wie viele seiner Kollegen, um eine Adaption der rechtswissenschaftlichen Dogmatik an die politischen Bedingungen des NS-Systems und erfüllte damit die „eigentliche Kernfunktion [der Rechtswissenschaften, 47

Vgl. Fest 1994, S. 141. Solche Tendenzen sind zu finden bei: Hollstein 2005, S. 249 ff. Gleichwohl muss man sich davor hüten, alle Aspekte des Nationalsozialismus von Auschwitz her zu beurteilen oder aus der besserwisserischen Perspektive der „Nachgeborenen“, vgl.: Nipperdey 1995, S. 289 f. Die Scheinheiligkeit, mit der Anfang der 1950er Jahre Carl Schmitt zum Sündenbock der Rechtswissenschaft erklärt wurde, ist angesichts des sonstigen Schweigens der Rechtswissenschaftler zu ihrer Karriere zwischen 1933 und 1945 offensichtlich; vgl. hierzu: Stolleis 2004, S. 16 ff. u. S. 24. Dennoch ist unzweifelhaft eine Wertung auch notwendig; siehe: Broszat 1986. 49 Vgl. Stolleis 2004, S. 21–23. 48

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M. S.-M.] grundsätzlicher Reflexion über den Geist der Zeit und seine Umsetzung in eine Fülle kleinerer oder größerer Vorschläge.“50 Bereits in den ersten Wochen nach der Machtübergabe mit Erlass des „Ermächtigungsgesetzes“, spätestens seit den Röhm-Morden hätte Forsthoff die Illegalität des Regimes nach juristischer Prüfung erkennen können,51 aber er bemühte sich, dem System eine „planvoll reale Ordnung“ zu geben. Er wollte den nationalsozialistischen Staat als „eine Realität“ begreifen und wissenschaftlich bewältigen, „ohne in überlebte dogmatische Formeln zurückzufallen“.52 So half er mit, den Schein der Rechtlichkeit des NS-Staats zu wahren und das, was politisch erwünscht war, in herkömmlicher Weise in dogmatische Formen zu bringen. Mit dem „Totale[n] Staat“ und anderen Aufsätzen stellte er sich in den Dienst diktatorischer Machthaber, trug damit zur Legitimierung rechts- und freiheitsvernichtender Gesetzgebung bei und verstieß gegen das Berufsethos der Rechtswissenschaften. Ihn entlastet dabei ebenso wenig, dass er, wie viele seiner Kollegen, im Verlauf gewandelter Herrschaftspraktiken bei den Machthabern in Ungnade fiel,53 wie der Umstand, dass er sich offensichtlich Ende der 1930er Jahre vom NS-Regime abwandte. Auch wenn seine Distanzierung vom NS-Staat für ihn spricht, kann dies die Wirkung des Geschriebenen nicht aufheben. Diese Schriften lassen sich nicht einfach unter „Fehltritt in der jugendlichen Euphorie“ verbuchen, wenn man bedenkt, dass jederzeit die Möglichkeit bestand, anders zu handeln und eine andere Einsicht in die politischen Realitäten zu haben.54 Auch wenn eine abschließende, allen Aspekten gerecht werdende Beurteilung der Rolle von Rechtswissenschaftlern im Nationalsozialismus kaum möglich erscheint, so würde das alle Richtungen des Fachs umfassende Eingeständnis der NS-Verstrickungen der Rechtswissenschaft ohne apologetische Verschönerungen und ohne Moralkeule einen wichtigen Schritt für die Zunft darstellen. Dies würde das Bewusstsein und die Sensibilität für juristische Problemstellungen nicht nur in der Rechtsgeschichte und Rechtstheorie, sondern auch in den Fächern des geltenden Rechts schärfen. So mancher Student würde mit stärkerem quellenkritischen Bewusstsein den 50

Stolleis 2004, S. 24. Vom „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ profitierte Forsthoff natürlich, da er sowohl in Frankfurt als auch in Hamburg Lehrstühle von Professoren übernahm, die aufgrund dieses Gesetzes ihre Ämter aufgeben mussten. 52 Forsthoff 1935, S. 398. 53 Vgl. zu diesem Phänomen: Rüthers 2001, S. 123. 54 Hierzu ausführlich: Rückert 2004, S. 657 ff. So gab es auch Rechtswissenschaftler, die auf Amt und Würden und Publikationen verzichteten, selbst wenn sie eine ähnliche wissenschaftliche Prägung aufwiesen, wie etwa Ernst Friesenhahn, der ebenfalls ein Schüler Carl Schmitts war; vgl.: Listl 1985. 51

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Maunz-Dürig-Kommentar zum Grundgesetz oder die Verfassungsgeschichte von Ernst Rudolf Huber lesen.

Literatur Blümel, Willi (Hg.): Ernst Forsthoff. Kolloquium aus Anlass des 100. Geburtstags von Prof. Dr. Dr. h.c. Ernst Forsthoff, Berlin 2003 (zitiert: Blümel 2003). Blümel, Willi/Klein, Hans H., Bibliographie Ernst Forsthoff, in: Roman Schnur (Hg.): Festschrift für Ernst Forsthoff zum 70. Geburtstag, München 1972, S. 495–538 (zitiert: Blümel/Klein 1972). Böckenförde, Ernst-Wolfgang (Hg.), Staatsrecht und Staatsrechtslehre im Dritten Reich, Heidelberg 1985 (zitiert: Böckenförde 1985). Broszat, Martin, Grenzen der Wertneutralität in der Zeitgeschichtsforschung, in: Hermann Graml/Klaus-Dietmar Henke: Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte. Beiträge von Martin Broszat, München 1986, S. 92–113 (zitiert: Broszat 1986). Diederichsen, Uwe, Karl Larenz, in: Juristen im Portrait 1988, S. 495–510 (zitiert: Diederichsen 1988). Doehring, Karl, Ernst Forsthoff, in: Juristen im Portrait 1988 (zitiert: Doehring 1988). – Ernst Forsthoff als Hochschullehrer, Kollege und Freund, in: Blümel 2003 (zitiert: Doehring 2003). Faulenbach, Bernd, Deutsche Geschichtswissenschaft zwischen Kaiserreich und NSDiktatur, in: Ders. (Hg.): Geschichtswissenschaft in Deutschland, München 1974, S. 66–86 (zitiert: Faulenbach 1974). Fest, Joachim, Staatsstreich, Der lange Weg zum 20. Juli, 3. Aufl., Berlin 1994 (zitiert: Fest 1994). Forsthoff, Ernst, Um die kommunale Selbstverwaltung, in: Zeitschrift für Politik, Bd. 21 (1931) (zitiert: Forsthoff 1931). – Staatsrechtswissenschaft und Weltkrieg, in: Blätter für Deutsche Philosophie, Jg. 5 (1931) (zitiert: Forsthoff 1931). – Krise der Gemeindeverwaltung, Berlin 1932 (zitiert: Forsthoff 1932). – Der totale Staat, Hamburg 1933 (zitiert: Forsthoff 1933). – Der Formalismus im öffentlichen Recht, in: Deutsches Recht, 4 (1934), S. 347–349 (zitiert: Forsthoff 1934). – Von den Aufgaben der Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Deutsches Recht 1935, S. 398–401 (zitiert: Forsthoff 1935). – Das neue Gesicht der Verwaltung und die Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Deutsches Recht, 5 (1935), S. 331–333 (zitiert: Forsthoff 1935a).

Problematischer Umgang der Rechtswissenschaft mit ihrer NS-Vergangenheit 465 – Recht und Sprache. Prolegomena zu einer richterlichen Hermeneutik, Halle (Saale) 1940 (zitiert: Forsthoff 1940). – Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, Berlin 1940 (zitiert: Forsthoff 1940a). Frei, Norbert, Karrieren im Zwielicht, Frankfurt/Main 2001 (zitiert: Frei 2001). Grebing, Helga, Konservative gegen die Demokratie. Konservative Kritik an der Demokratie in der Bundesrepublik nach 1945, Frankfurt/Main 1971 (zitiert: Grebing 1971). Gruchmann, Lothar, Justiz im Dritten Reich 1933–1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner, München 1987 (zitiert: Gruchmann 1987). Heiß, Gernot/Mattl, Siegfried u. a. (Hg.), Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938–1945, Wien 1989 (zitiert: Heiß/Mattl 1989). Hollstein, Thorsten, Um der Freiheit willen, in: Thomas Henne/Arne Riedlinger (Hg.): Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht. Die Konflikte um Veit Harlan und die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts, Berlin 2005 (zitiert: Hollstein 2005). Juristen im Portrait. Verlag und Autoren in 4 Jahrzehnten. Festschrift zum 225jährigen Jubiläum des Verlages C. H. Beck, München 1988 (zitiert: Juristen im Portrait 1988). Klein, Hans H., Art. Forsthoff, in: Staatslexikon, Bd. 2, 7. Aufl., hrsg. v. Görres-Gesellschaft, Freiburg im Breisgau 1986, Sp. 649–651 (zitiert: Klein 1986). – „Der totale Staat“ – Betrachtungen zu Ernst Forsthoffs gleichnamiger Schrift von 1933, in: Blümel 2003 (zitiert: Klein 2003). Lehmann, Hartmut/Oexle, Otto Gerhard (Hg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, 2 Bde., Göttingen 2004 (zitiert: Lehmann/Oexle 2004). Lerche, P., Theodor Maunz, in: Juristen im Portrait 1988, S. 553–560 (zitiert: Lerche 1988). Listl, Joseph (Hg.), Ernst Friesenhahn zum Gedächtnis, Bonn 1985 (zitiert: Listl 1985). Maunz, Gerhard, Ernst Forsthoff und andere, in: Karl Corino (Hg.), Intellektuelle im Bann des Nationalsozialismus, Hamburg 1980 (zitiert: Maunz 1980). Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte 1866 bis 1918, Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, 3. Aufl., München 1995 (zitiert: Nipperdey 1995). Rathkolb, Oliver, Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien zwischen Antisemitismus, Deutschnationalismus und Nationalsozialismus 1938, davor und danach, in: Heiß/Mattl 1989 (zitiert: Rathkolb 1989). Ronellenfitsch, Michael, Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff – Aktuelle Entwicklungen im nationalen und europäischen Recht, in: Blümel 2003 (zitiert: Ronellenfitsch 2003). Rückert, Joachim, Die erste und die zweite Schuld, in: Lehmann/Oexle 2004, S. 657–668 (zitiert: Rückert 2004).

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Rüthers, Bernd, Geschönte Geschichten – Geschonte Biographien. Sozialisationskohorten in der Wendeliteratur, Tübingen 2001 (zitiert: Rüthers 2001). Saage, Richard, Konservatismus und Faschismus. Anmerkungen zu Ernst Forsthoffs Entwicklung vom „Totalen Staat“ zum „Staat der Industriegesellschaft“, in: Ders.: Rückkehr zum starken Staat?, Frankfurt/Main 1983, S. 181–201 (zitiert: Saage 1983). Schulze, Winfried/Oexle, Otto Gerhard (Hg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, 2. Aufl., Frankfurt/Main 2000 (zitiert: Schulze/Oexle 2000). Schwabe, Klaus (Hg.), Deutsche Hochschullehrer als Elite 1815–1945, Boppard am Rhein 1988 (zitiert: Schwabe 1988). Seelinger, Rolf, Braune Universität, H. 6, München 1968 (zitiert: Seelinger 1968). Sieferle, Die Konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen, Frankfurt/Main 1995 (zitiert: Sieferle 1995). Stapel, Wilhelm, Buchbesprechung: E. Forsthoff, Der totale Staat, Hamburg 1933, in: Deutsches Volkstum 1933, S. 749 f (zitiert: Stapel 1933). Stolleis, Michael, Theodor Maunz – Ein Staatsrechtslehrerleben, in: Kritische Justiz (1993), S. 393–396 (zitiert: Stolleis 1993). – Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer. Bemerkungen zu ihrer Geschichte, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1997), S. 339–358 (zitiert: Stolleis 1997). – Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Weimarer Republik und Nationalsozialismus, München 2002 (zitiert: Stolleis 2002). – Das Zögern beim Blick in den Spiegel. Die deutsche Rechtswissenschaft nach 1933 und nach 1945, in: Lehmann/Oexle 2004 (zitiert: Stolleis 2004). – Michael Stolleis (Hg.), Juristische Zeitgeschichte – ein neues Fach?, Baden-Baden 1993. (zitiert: 1993). Stolleis, Michael/Simon, Dieter, Vorurteile und Werturteile der Rechtshistorischen Forschung zum Nationalsozialismus, in: Dies.: NS-Recht in historischer Perspektive, München/Wien 1981, S. 13–51 (zitiert: Stolleis/Simon 1981). Storost, Ulrich, Staat und Verfassung bei Ernst Forsthoff, Frankfurt/Main 1979 (zitiert: Storost 1979). Treiber, H., Juristische Lebensläufe, in: Kritische Justiz 1/1979, S. 143–167 (zitiert: Treiber 1979). Ziegler, Hein Otto, Autoritärer Staat oder totaler Staat?, Tübingen 1932 (zitiert: Ziegler 1932).

Ist Gerechtigkeit teilbar? Gedanken zu Demokratietheorie und interkultureller Solidarität Bettina Roß Die Frage nach der Gleichheit in der Differenz hat in den letzten Jahrzehnten nicht nur die feministische Forschung, sondern auch die Demokratietheorie beschäftigt. Die Kritik am Ethnozentrismus und Paternalismus universalistisch definierter Menschenrechte kam dabei nicht nur aus konservativen oder neoliberalen Kreisen, die eine Verabschiedung vom Gleichheitsdiskurs anstrebten, indem sie diesem mit der De-Naturalisierung die Legitimationsbasis zu entziehen versuchten. Vielmehr haben auch Feministinnen und darunter insbesondere solche aus Trikontländern und AutorInnen postkolonialer Theorie bezweifelt, dass der Gleichheitsdiskurs westeuropäischer Prägung zu einer wirklichen Gleichberechtigung führen könne, da die marginalisierten Gruppen stets unter die Bedürfnisse und die Deutungsmuster der hegemonialen Sprecherinnen gerieten und so erneut marginalisiert, untergeordnet und des Sprechens beraubt würden.1 Das Ringen in der Demokratietheorie machte sich unter anderem an der Debatte um „Umverteilung und Anerkennung“2 zwischen Axel Honneth und Nancy Fraser fest und warf grundsätzliche Fragen der Legitimation, der Gerechtigkeit und der Solidarität auf. Ich möchte hier nicht die Debatte erneut schildern, sondern als einen Beitrag in dieser Debatte demokratietheoretische Ansätze auf ihr Potenzial hin befragen, Menschen unterschiedlicher Erfahrungen und Lebenschancen zu ihren unveräußerlichen Rechten kommen zu lassen. Hierzu möchte ich exemplarisch zwei der zentralen Konfliktlinien besonders würdigen: die Emanzipation von Frauen und Männern sowie die Überwindung rassistischer Ausgrenzung und Ausbeutung. Mit Gendering und Ethnisierung möchte ich dabei zwei zentrale Momente beschreiben, die für nordwestliche Gesellschaften konstitutiv sind und an deren Überwindung sich jede demokratische Weiterentwicklung und Emanzipation messen lassen muss. Ich konzentriere mich hier zunächst auf eine kurze Skizzierung von Ethnisie1 2

Vgl. z. B. Spivak 1994; Steyerl 2003. Vgl. Fraser/Honneth 2003.

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rung und Gendering. Zur Entwicklung meiner Fragestellung möchte ich dann einige ausgewählte demokratietheoretische Ansätze dahingehend befragen, ob sie Überwindungsoptionen gegenüber patriarchalen und rassistischen Ausgrenzungsmustern der Gesellschaft bieten. Ich bin mir dabei durchaus bewusst, dass es sich in der Kürze eines solchen Aufsatzes um ein im Grunde unzulässiges Verfahren handelt, indem theoretische Ansätze mit lebensweltlichen Phänomenen konfrontiert werden. Die konkreten Phänomene dienen aber gerade nicht einer Verifizierung der Theorieansätze. Vielmehr hat die konfrontative Schilderung zum Ziel, Fragen an die Theorie zu illustrieren und in Form eines Einstieges zu verdeutlichen, dass es sich um einen produktiven Blickwinkel handelt, deren Weiterführung lohnend ist. I. Ethnisierung und Rassismus Alle als „Ausländer“ deklarierten Personen sind mit rassistischen Zuweisungen, Übergriffen und Diskriminierungen konfrontiert. Bereits Max Weber hat „Ethnizität“ als die Konstruktion einer Gruppe von Menschen aufgrund des irrationalen Glaubens an eine gemeinsame Herkunft, Geschichte und Kultur beschrieben. Ethnizität lässt sich als hierarchisierendes Unterscheidungsmerkmal beschreiben, das auf der Basis institutionalisierter wie alltäglicher rassistischer Ein- und Ausschließungsmechanismen entsteht. Nicht-Staatsangehörige oder phänotypisch unterschiedene Personen im Inund Ausland werden als Fremde kategorisiert und unabhängig von ihrer individuellen Biographie mit Verhaltenserwartungen konfrontiert: „Menschen als ‚Fremde‘ zu bezeichnen, ermöglicht es der herrschenden Bevölkerung, ihre Ängste und Vorurteile auf sie zu projizieren. Die ‚Entmenschlichung‘ bzw. ‚Naturalisierung‘ der auf diese Weise Ausgeschlossenen und Unterdrückten erfolgt vor allem über das Absprechen von Individualität. Wir werden nicht als autonome Individuen gedacht, sondern gehen in der Anonymität eines konstruierten Kollektivs – ‚die Ausländer‘, ‚die Türken‘ oder ‚die Asylanten‘ – unter.“3

Es lassen sich drei Ebenen der Ethnisierung unterscheiden, auf die zugunsten von mehr Demokratisierung reagiert werden sollte: Zum einen werden MigrantInnen (und ihre Kinder) von zentralen Rechten sowie von einem Vollstatus als Bürger mehr oder weniger ausgeschlossen. Zweitens werden imaginierte Eigenschaften auf die so ausgeschlossenen oder zumindest getrennten Personen projiziert. Und schließlich drittens werden die vorhandenen Eigenschaften zugunsten dieser Gruppenprojektion negiert. Vorhandene Abweichungen von der „eigenen“ Gruppe und von der Mehrheitsgesellschaft werden unter Klischees verdeckt bzw. schlicht nicht beachtet. Existierende Differenzen aufgrund von unterschiedlichen Lebenswelten, 3

FeMigra 1995, S. 52.

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Kompetenzen und auch Diskriminierungserfahrungen werden nicht anerkannt. Es fehlt also sowohl an Gleichstellung im Sinne von gleichen Rechten als auch an Differenzierung im Sinne der Anerkennung von individuellen Fähigkeiten und spezifischen Lebensentwürfen sowie der Sicherung von anti-diskriminierenden Maßnahmen und Vertretungen. Die Lebenslagen von Migrierten sind, um es anschaulich anhand von Deutschland zu zeigen, von Sonderregelungen, Benachteiligungen, Unterstellungen und Assimilationszwängen geprägt. Partizipation wird sowohl sozial als auch politisch hochgradig erschwert: • durch das Beharren in Deutschland, keine Einwanderungsgesellschaft mit entsprechenden Integrationsaufgaben zu sein, • durch die Sicht auf „Ausländer“ als „Fremde“, • durch den befristeten und labilen Aufenthaltsstatus von Nicht-StaatsbürgerInnen, • durch die Ausrichtung von Verhaltenserwartungen an einer deutschen „Leitkultur“, • durch ökonomische Ungleichheit sowie • das Zusammenwirken von rassistischen mit geschlechtstypischen Diskriminierungen. EinwanderInnen wurden und werden nach wie vor nicht als Teil dieser Gesellschaft begriffen, sondern als WanderInnen, die kommen und wieder gehen. Dabei lässt die Politik die Illusion entstehen, diese Wanderungsbewegungen steuern zu können. Mit diesem Ziel belässt die staatliche Politik die Migrierten im Gaststatus oder sogar in einem Status permanenter Genehmigungsbedürftigkeit bzw. Halblegalität, obwohl fast 70 Prozent der in Deutschland lebenden „AusländerInnen“ seit mehr als 10 Jahren hier leben oder hier geboren wurden. Die in Deutschland vorherrschende Nicht-Integration trägt Merkmale des „Institutionellen Rassismus“, der rassistisches Handeln auf der Grundlage von Gesetzen und Verordnungen beschreibt. Dieser Rassismus lässt sich unter Verwendung des Dispositivbegriffes von Michel Foucault vom alltäglichen Rassismus unterscheiden: „Auch wenn Menschen, die ‚Fremde‘ ablehnen (Wissen), sie verfolgen (Handeln) und dies in Verletzungen mündet (Vergegenständlichung) und auch wenn Journalisten ‚Fremde‘ in den Medien ausgrenzen und sich dies als Wissen in der Bevölkerung niederschlägt, so ist auf diesen beiden diskursiven Ebenen jedoch nicht die gleiche dramatische Auswirkung zu beobachten wie auf der Ebene des staatlichen Handelns und seiner massiven Folgen für die Betroffenen. Hinzu kommt, dass dieses Handeln durch Verfassung und Recht autorisiert ist und über (fast) jeden Zweifel erhaben zu sein scheint. [. . .] Damit unterscheidet sich der Rassismus, der auf dieser Ebene auftritt, grundsätzlich von jenem, der auf anderen gesell-

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schaftlichen Ebenen zu beobachten ist – und dies nicht zuletzt durch seine Normalität und scheinbar unangreifbare Gültigkeit.“4

Innerhalb des Landes werden Menschen in Staatsbürger oder Ausländer differenziert, obwohl sie sich in beiden Fällen im Land befinden, teilweise bereits im Land geboren wurden. Auch die Lebenslagen der deutschen StaatsbürgerInnen unterscheiden sich erheblich je nach Alter, Geschlecht, Milieu, Beruf, Besitz, usw. – sie haben jedoch alle grundlegende politische und soziale Rechte, die an ihren Staatsbürgerstatus gebunden sind. Menschen ohne diesen Status als Inländer verfügen über diese Rechte per Definition nicht, werden z. B. vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen und mit spezifischen Regelungen des Ausländerrechtes belegt. Die sog. Ausländer werden in einem System der Zuteilung bzw. Verweigerung von Rechten und Chancen in mehrere Gruppen geteilt, je nachdem ob sie die Staatsbürgerschaft eines EU-Landes, eines westlichen Industrielandes oder eines Trikont-Staates bzw. gar keines Staates besitzen, ob sie Vermögen oder einen Arbeitsvertrag haben, ob bereits direkte Verwandte im Inland leben, welche Staatsangehörigkeit der/die EhepartnerIn hat und ob eine Abschiebung bei Bedarf möglich und durchsetzbar erscheint. Zum einen ist ihr Aufenthaltsstatus je nach Herkunft und Einreisegrund mehr oder weniger instabil: meist ist er befristet, an ein Studium, einen Arbeitsvertrag oder eine befristete Genehmigung durch die Ausländerbehörden gebunden. Je nach anerkanntem Aufenthaltsstatus werden zum anderen weitere Bürgerrechte bewilligt bzw. abgelehnt. Während langjährige Arbeitsmigrierte in Deutschland mit Ausnahme des Wahlrechtes arbeiten und wohnen können, wo und wie sie wollen bzw. können, müssen sich Menschen mit Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsgestattung in kurzen Abständen wieder bei der Ausländerbehörde um Genehmigung anstellen und brauchen eine gesonderte Arbeitsgenehmigung. Insbesondere Flüchtlingen im Asylverfahren und geduldeten Personen werden zentrale Menschenrechte (vor allem Wahlrecht, Freizügigkeit des Wohnortes, Gleichbehandlung, Schutz von Ehe und Familie, Erwerbsarbeit im ersten Jahr) verweigert. Häufig bedeutet dieser Status auch eine jahrelange Kasernierung in Sammellagern oder sogar Abschiebehaft, was viele Menschen krank macht oder tötet.5 Dieses institutionalisierte Klassensystem trifft erschreckender Weise auf gut sieben Millionen Menschen ohne deutschen Pass in Deutschland zu.6 Von Gleichheit gar Anerkennung kann also keine Rede sein.

4 5 6

Jäger 2002, S. 25. Vgl. Antirassistische Initiative 2003. Quelle: Statistisches Bundesamt 2004.

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II. Ethnisierung und Gendering In der Frage des Zusammenwirkens der Einschließungs- und Ausschließungsprozesse durch Ethnisierung gibt es eine Vielzahl von geschlechtstypischen Aspekten. Dabei wirkt nicht nur Ethnie und/oder die Nationalität als sozialer Platzanweiser, sondern eben auch „Geschlecht“: Frauen migrieren aus den gleichen Gründen wie Männer sowie aus geschlechtsspezifischen Gründen.7 Frauen sind spezifischen Verfolgungsformen (insbesondere sexualisierter Gewalt) ausgesetzt und werden mit spezifischen Bedingungen (z. B. am Arbeitsmarkt) konfrontiert. Durch die sich verändernde internationale Arbeitsteilung8 stieg die Migration von Frauen sowohl regional als auch international an – inzwischen sind in Europa etwa die Hälfte der EinwanderInnen Frauen. In Deutschland angekommen, kumulieren Schwierigkeiten und Übergriffe umso mehr, wenn eine Person eine Frau, ohne deutschen Pass, illegalisiert, arm und/oder krank ist. Maria do Mar Castro Varella entwickelte in Anlehnung an Avtar Brah und Gayatri Ch. Spivak ein Konzept der „Vulnerabilität“, das die prozesshaften, politischen und flexiblen Ebenen von Verletzungen und Widerstandspotenzialen umschreibt, die sich aus der jeweiligen sozialen und geopolitischen Position einer Person ergeben: „Risiken stellen dabei die andere Seite sozialer Privilegien dar. Wer etwa deutsche Staatsbürgerin ist, ist privilegiert gegenüber einer Frau, die nur im Besitz einer Aufenthaltsbewilligung ist. Eine junge gesunde Frau ist privilegiert in Relation zu einer chronisch erkrankten und so weiter. [. . .] Zweierlei kann dann gesagt werden: Erstens Jeder und Jede ist von Ein- und Ausschließungsprozessen betroffen. Zweitens, dennoch gibt es Opfer und TäterInnen, denn die Häufung von Privilegierungen und eben auch von Diskriminierungen ist in differenten Kollektiven unterschiedlich. Der Zugang zur Normalität und damit Partizipation an Ressourcen wie Bildung und Geld ist streng reguliert, und Birgit Rommelspacher attestiert gar eine zunehmende Abschottung der deutschen Gesellschaft gegenüber denjenigen, die zu ‚Fremden‘ gemacht wurden und werden.“9

Rassismus, Klassismus und Sexismus sind also Herrschaftsverhältnisse, die zusammenwirken, sich gegenseitig verstärken, sich ähneln, aber dennoch nie ganz ineinander aufgehen. Ethnisierung und Gendering wirken nicht nur additiv, sondern verstärken sich wechselseitig.

7 8 9

Vgl. Brabandt 2004. Vgl. Wichterich 1998. Castro Varella/Dhawan 2004, S. 221 f.

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III. Demokratietheorie Welche Inspirationen liefern nun also Demokratietheorien vor dem Hintergrund dieses Befundes zur Beschreibung und zur möglichen Überwindung von Ausschlussmechanismen und von Missachtung anhand von ethnisierenden Trennungs- und Projektionslinien? Liberale, republikanische, radikale und direktdemokratische Demokratietheorien unterscheiden sich vor allem in ihrem Menschenbild, in der Rolle, die sie dem Staat zuweisen, in der Trennung bzw. Verbindung von Privatsphäre und Politik sowie in den Verfahrensregeln, die sie zur Demokratisierung von Gesellschaften als notwendig erachten. Insbesondere anhand des Optimismus bzw. Pessimismus oder anders ausgedrückt anhand von Realismus versus Gestaltungswillen oder gar Utopismus liegen die Ansätze oft weit auseinander. Während konservative und liberale Ansätze die Sphäre des Politischen eher auf die Ebene des Öffentlichen und Juridisch-Politischen beschränken und in „realistischer“ Weise das Machbare in Verfahrensregeln und Vereinbarungen gestaltet sehen wollen, vertreten republikanische TheoretikerInnen eine Begrenzung der Politik gegenüber anderen gesellschaftlichen Räumen. Radikale, direktdemokratische und diskursive Demokratietheorien erweitern diesen Politikbegriff in mehr oder weniger starker Weise und waren daher für die feministische Kritik der letzten 20 Jahre besonders anknüpfungsfähig, da einer der Kernpunkte der feministischen Theorie darin bestand, die Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit sowie die damit verbundene Zuordnung von Frauen auf die Privatsphäre, das Emotionale und die Natur außerhalb der Politik zu kritisieren.10 Dabei waren gewisse Konjunkturen zu beobachten: Während in der 1970er und beginnenden 1980er Jahren eine revolutionäre und utopistische Ausrichtung bei den feministischen Theoretikerinnen, die noch stark der Frauen- und anderen Befreiungsbewegungen verbunden waren, zu beobachten war, kam es nach dem Zusammenbruch der realsozialistischen Variante, der Institutionalisierung des Gendermainstreaming und nach dem paradigmatischen Wandel der feministischen Forschung zur Suche nach Anknüpfungspunkten zunächst zum Kommunitarismus11 und schließlich zu Neuentwürfen eines feministischen und sozialistischen Projekts12. Dabei kristallisieren sich Verbindungen insbesondere zur radikalen Demokratie heraus, die Barbara Holland-Cunz wie folgt umschreibt: „In dieser Bestimmung der radikalen Demokratie werden mehrere Charakteristika deutlich: der historische Ursprung der neuen Debatte in den Ereignissen von 10 11 12

Vgl. u. a. Pateman 1988. Vgl. u. a. Philipps 1991. Beispielhaft z. B. Mouffe 2001 und Scholz 2000.

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1989, der linke politische Kontext des Begriffs und die dort heute formulierte Ökonomismus-Kritik, die Entgegensetzung von liberaler und radikaler Demokratie und schließlich die partizipatorische und differenztheoretische Konnotation dieses Demokratiekonzepts. Daß herrschaftskritische Positionen heute neben dem Klassenstandpunkt wesentlich auch Geschlecht, Ethnie und sexuelle Orientierung berücksichtigen müssen, scheint mir einer der zentralen Merkpunkte in dieser unabgeschlossenen Definition zu sein.“13

Der radikaldemokratische Ansatz erscheint mir als besonders inspirierend sowohl für das feministische Projekt als auch für die Suche nach interkulturellen Kooperationen, die einer echten Gleichheit und Gerechtigkeit verpflichtet sind. Daher möchte ich im Folgenden nicht nur, aber schwerpunktmäßig aus diesem Pool einige Ansätze herausgreifen und nach ihren Ideen zur Gleichberechtigung und Anerkennung befragen. IV. Partizipative Demokratie Carol Pateman hat mit „Partizipation and Democratic Theory“ (1974) und „The Sexual Contract“ (1988) Klassiker nicht nur feministischer Demokratietheorie hervorgebracht. Schon 1974 betonte sie, dass Demokratisierung ein Prozess des Selbstlernens ist. Entgegen dem pessimistischen Menschenbild vieler VertreterInnen der repräsentativen Demokratie geht Pateman davon aus, dass die BürgerInnen umso mehr an diesem System teilnehmen, je mehr Partizipation im System möglich ist. Sie lernen Partizipation also, weil sie die Chance haben zu partizipieren – das System erhält sich selbst und wirkt so hochgradig integrativ. Pateman geht sogar so weit, zu sagen, dass wir partizipieren nur lernen, indem wir partizipieren. Dies verstehe ich durchaus so, dass ein System, in dem nur alle vier Jahre die Stimme abgegeben wird oder in dem 10 Prozent der Bevölkerung vom Wahlrecht und vielen gesellschaftlichen Möglichkeiten der Mitbestimmung sowie von Menschenrechten ausgeschlossen sind, Apathie und Desintegration die Folgen sind. Pateman tritt dafür ein, erstens Partizipation frühzeitig in den Familien zu lernen, zweitens in der Gesellschaft systematisch die Möglichkeiten zur Partizipation zu erweitern und schließlich drittens die entwickelten Formen der institutionalisierten Repräsentation mit erhöhten Chancen politischer Partizipation zu kombinieren. In „The Sexual Contract“ entwickelt sie diesen Gedanken weiter und pointiert, dass eine rein vertragliche Bindung und Repräsentation niemals zu freier sozialer Ordnung führen könne, die ihre Mitglieder aktiv an der Gestaltung beteilige. Pateman zielt auf die Gestaltung einer nicht-patriarchalen Gesellschaft und hat damit eine der theoretischen Grundlagen der feministischen Debatte gelegt. Ihre 13

Holland-Cunz 1998, S. 162.

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Gedankengänge bieten darüber hinaus Inspirationen für einen kritischen Blick auf die Ausschlussprozesse in westlichen Demokratien gegenüber Migrierten und Nicht-StaatsbürgerInnen, die von gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Beteiligungschancen ausgeschlossen sind. Gerade der Gedanke, dass Vergemeinschaftung und Partizipation der BürgerInnen sich (nur) bei bestehenden Beteiligungschancen entwickeln, erscheint mir weiterführend, da er auch verdeutlicht, dass alle etwas zu gewinnen haben: aktive BürgerInnen, die sich zivilgesellschaftlich und politisch auf die Gesellschaft beziehen, in der sie leben, indem sie diese mitgestalten. Das Gegenbild dieser Vision sind die erkennbaren Folgen der Desintegration: Gewalt und Perspektivlosigkeit nicht nur in den Vorstädten von Paris, Bildungsferne und verminderte Chancen für MigrantInnen, Ghettoisierung und Desintegration gesellschaftlicher Gruppen, auch wenn diese in unmittelbarer Nachbarschaft leben. Das Ghetto bringt sich selbst hervor: durch mangelnden Austausch und geringe Integration vertieft sich die Spaltung von Gesellschaft; Fremdheit bringt Angst und Aggression hervor; Trennung verhindert Kommunikation und gemeinsame Gestaltung in den Vierteln und in der Gesamtgesellschaft. Es gibt durch Rassismus also viel zu verlieren und in Patemans Gedankengang durch Partizipationschancen einiges zu gewinnen. V. Widerspiegelung in der politischen Repräsentation Anne Phillips wirkte ähnlich Grundlagen bildend wie Carol Pateman, ist aber einem realistischen Konzept verbunden.14 Die Grundidee von Phillips’ Ansatz beruht darauf, dass die politischen Repräsentationen die ethnische und geschlechtliche Zusammensetzung der Gesellschaft widerspiegeln müssen, und leuchtet damit in ihrer Produktivität für meine Fragestellung unmittelbar ein. Allerdings greift sie dabei nicht auf die Verankerung von Gruppenvertretungen und Vetorechten zurück, wie wir dies bei Young und Schmalz-Bruns noch sehen werden, sondern beschränkt sich darauf, die bestehende Repräsentation um das Spiegelprinzip zu erweitern. Sie tut dies, um ihren Ansatz als realistisch-machbar, nicht-utopistisch zu markieren und löst sich dabei (durchaus produktiv) von einigen Mythen des frühen Feminismus. Insbesondere setzt sie sich kritisch mit der Verherrlichung ungeregelter, informeller Herrschaft sowie der dogmatischen Aufhebung der Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit auseinander. Zudem würde ihr Spiegelprinzip einen ganz erheblichen Fortschritt gegenüber einer Repräsentation bedeuten, die zu große Teile der Bevölkerung nach wie vor nicht beteiligt. Erfahrungen mit derartigen Methoden der spiegelnden Repräsentation sind aus den USA und der EU durchaus bekannt und bieten auch praktische Bei14

Phillips 1991 und Phillips 1995.

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spiele einer fortgeschrittenen Beteiligung von gesellschaftlich relevanten Gruppen (z. B. bei Schöffengerichten, bei Expertenhearings, in der Beteiligung von NGOs). Dennoch erscheint mir die Defensivität ihres Ansatzes nicht einleuchtend. Ihre Ablehnung von aktiven Formen der Partizipation, die über ein Spiegeln hinausgehen würden, als zu kostspielig, überzeugt mich nicht, insbesondere wenn ich dabei an Patemans Gedanken der Förderung von Partizipation durch das Ausüben von Partizipation denke. Nicht zuletzt ist der Punkt, wer und mit welchen Themen gespiegelt werden kann und darf, eine hochgradig politische Frage, die komplexe Aushandlungsprozesse voraussetzt bzw. gerade in ihren Aushandlungen einen Wert und einen Weiterentwicklungsprozess darstellen würde. So ist die formelle Gleichstellung von Frauen ja nicht aus der klugen Einsicht der Repräsentanten im Reichstag entstanden, sondern aus jahrzehntelanger politischer Intervention. Ebenso wird sich an dem, in Deutschland nach wie vor gültigen Staatsbürgerverständnis des ius sanguinis und damit am Ausschluss von 10 Prozent in der Mehrheit hier geborener, „ausländischer“ Bevölkerung nur durch Bewusstseinsänderung und aktive Einflussnahme etwas ändern – genau auf diese Einflussnahme lässt sich Phillips jedoch nur sehr begrenzt ein. VI. Das Gute Leben Wie lässt sich jedoch Partizipation und Anerkennung begründen – jenseits eines metaphysisch konstruierten Moralgebildes? Martha Nussbaum entwickelt in ihrer Auseinandersetzung mit der Aristotelischen Ethik einen komplexen Ansatz zur Beschreibung und Begründung von Gerechtigkeit. Ich möchte daher hier ausführlicher auf ihr Denken eingehen. Der Anspruch auf Gerechtigkeit begründet sich bei ihr aus der Fähigkeit zum und dem Streben nach dem Guten Leben, die beide allen Menschen innewohnen.15 Sie unterscheidet hierfür aufeinander aufbauende Stufen des MenschSeins, die jeweils zu einem weiterführenden Niveau der von einem Menschen entwickelten Fähigkeiten führen. Mit der ersten Stufe des Menschseins umschreibt sie die menschliche Grundstruktur, die sich aus der Sterblichkeit, der Körperlichkeit, dem Empfinden von Freude und Schmerz und der Fähigkeit zu denken zusammensetzt. Ohne diese Fähigkeiten betrachtet Nussbaum Leben nicht als menschliches, da es derartig verarmt sei, dass es zu einer eigenständigen Vermeidung von Hunger, Schmerz und verfrühtem Tod nicht in der Lage sei. Nussbaum ist aufgrund dieses Bildes des nichtmenschlichen Lebens kritisiert worden, weil es nicht zu leugnende Kompatibilitäten mit dem Menschenbild eines Peter Singer aufweist, der stark behinderten Menschen die Fähigkeit zur Freude, Lust, Entwicklung abspricht und 15

Vgl. Nussbaum 1999 und Nussbaum 2003.

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daraus eine Erlaubnis zur Beendung ihres Lebens ableitet.16 Diese Kritik ist nicht von der Hand zu weisen, auch wenn es ihr eben nicht darum geht, Auszugrenzendes zu definieren, sondern im Gegenteil zu beschreiben, wessen es bedarf, um ein Mensch zu sein und was folglich niemandem – nach welchem Merkmalen auch immer – verweigert werden darf. Die Idee der Entwicklungschance von menschlichen Fähigkeiten beinhaltet elementar, dass Lebensbedingungen, die diese Grundstruktur des Menschseins nicht ermöglichen, nicht akzeptiert werden können, eben weil sie im wörtlichen Sinne un-menschlich sind, also Grundfunktionen des menschlichen Daseins unmöglich machen. In dieser Denkfigur bietet sich ein elementarer Ansatz der Begründung von Menschenrechten und der Ableitung von Grundmerkmalen, die eine Gesellschaft zu ihrem Funktionieren entwickeln muss. Über dieses Da-Sein hinaus entwickelt Nussbaum ein Konzept des Guten Lebens im Unterschied zum bislang dargestellten einfachen Leben. Diesem ordnet sie bestimmte Fähigkeiten des Menschen zu, deren Verwirklichung den Menschen durch entsprechende Rahmenbedingungen ermöglicht werden sollte. Dabei geht es insbesondere um: • die Fähigkeit, nicht vorzeitig zu sterben, • Gesundheit und Befriedigung körperlicher Bedürfnisse, • Vermeidung von unnötigem Schmerz und Verwirklichung von Lust, • Nutzen der fünf Sinne, des Denkens und Urteilens, • emotionale Bindung mit anderen Menschen, • die Entwicklung einer Vorstellung vom Guten und der kritischen Reflexion des eigenen Lebens daran, • andere zu verstehen und miteinander zu leben • Verbundenheit mit der Natur, • Lachen, Spiel und Erholung, • Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten für das eigene Leben, inkl. Ausbildung einer eigenen Persönlichkeit sowie • Schutz des Lebens im eigenen Kontext vor Übergriffen.17 Daran, ob und in welchem Ausmaß diese Rahmenbedingungen verwirklicht sind, misst sie also eine Gesellschaft, da ein Mensch nur durch Entwicklung dieser Fähigkeiten ein gutes menschliches Leben führen kann. 16 17

Vgl. Rosenberg 2006. Vgl. Rosenberg 2006.

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Die Verweigerung der Entwicklung der oben genannten kognitiven, körperlichen, emotionalen und eben auch sozialen Fähigkeiten kommt daher struktureller Gewalt gleich. Insbesondere die Konstituierung des Menschen als bindungsfähiges und bindungsbedürftiges Wesen macht es unverzichtbar, Gemeinschaft zu ermöglichen und zu fördern. Soziabilität wird so eine Grundfunktion des Menschseins und damit der menschenwürdigen Gestaltung von Gesellschaft. Der Ausschluss von Armen von Bildung, Kultur und Versorgung, die Nicht-Beteiligung von seit Jahren oder gar Jahrzehnten in Deutschland lebenden Migrierten, die Bedrohung durch Abschiebung sowie die Verweigerung der freien Wohnortwahl durch die in Deutschland für Flüchtlinge geltende „Residenzpflicht“ stehen in hartem Kontrast zu den Anforderungen des Fähigkeiten-Ansatzes von Nussbaum.18 Er bietet also vielfältige Anknüpfungspunkte für eine theoretische Durchleuchtung der Verwirklichung bzw. eben der Verweigerung von Gerechtigkeit im elementar-menschlichen Sinne. Nussbaums Ansatz bietet über die Ebene der Grundrechte hinaus noch mehr: Durch die weite Öffnung der menschlichen Fähigkeiten und die interkulturelle Prozesshaftigkeit der Definition dieser Fähigkeiten kann Nussbaum weitgehend von kulturellen Unterschieden abstrahieren und genügt so der Anforderung, hegemoniale Bevormundung und Re-Marginalisierung zu überwinden. Sie hat die Frage nach einem kulturübergreifenden spezifisch „Menschlichen“ umschrieben und verankert an diesem Mensch-Sein das Recht auf unveräußerliche Grundrechte, die es einem Menschen ermöglichen, seine bzw. ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Sie umreißt die Grundrechte in Abgrenzung vom Utilitarismus und vom Liberalismus umfassend, legt ihre Konzeption jedoch so offen an, dass Raum für prozessuale Weiterentwicklung und interkulturelle Aushandlungsprozesse verbleibt. D. h. es gibt essentielle Grundlagen, die in einer Gesellschaft unverzichtbar sind, damit ein Mensch die menschlichen Fähigkeiten entwickeln kann. Auf diese Weise ist es ihr möglich, unter Anerkennung kulturell und subjektiv pluralistischer Lebenskonzepte ein universalistisches Konzept eines gemeinsamen und damit allgemeingültigen Menschseins zu entwickeln. Diese Vorstellung grenzt sie insbesondere von den liberalen Begründungsmustern von John Rawls ab.19 Gegenseitigkeit, Mitgefühl, Bindung und Verantwortlichkeit von Menschen mit ihren unterschiedlichen Erfahrungsschätzen, Weltdeutungen und Gestaltungsoptionen stehen im Mittelpunkt ihres Interesses und damit in scharfem Kontrast zu den Verwertungsinteressen der Anwerbung von „Gastarbeitern“ sowie der rassistischen Ausschließung von Menschen aus einer fiktiven, da mehrheitlich nicht verwirklichten Gemeinschaft. 18 19

Vgl. Nussbaum 2001. Vgl. Rawls 1979 und Rawls 2003.

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VII. Heterogene Öffentlichkeit Auch Iris Marion Young hat sowohl vor Ausschlussmechanismen als auch vor Assimilationszwängen gewarnt.20 Sie analysiert, dass selbst bei gleichen staatsbürgerlichen Rechten – von denen in Deutschland bislang für MigrantInnen und für Flüchtlinge nicht die Rede sein kann – der Universalismus, der untrennbar mit der Egalität verbunden ist, sich erneut diskriminierend auf die marginalisierten Personen auswirkt. Sie schließt sich der Position Amy Gutmans an, die darauf hinweist, dass wirkliche politische Gleichheit nur auf der Basis von sozialer und ökonomischer Gleichheit tragfähig sein kann.21 Sie geht von dort einen Schritt weiter, indem sie feststellt, dass marginalisierte Gruppen stets nur zu den VerliererInnen gehören können, solange die Anpassung an die materiellen, sozialen oder kulturellen Standards der privilegierten Gruppen als Messlatte für alle gilt und so alle Gruppen an den dominierenden Kriterien gemessen werden: So „tendiert das strikte Festhalten an einem Prinzip der Gleichbehandlung zu einer Verstetigung von Unterdrückung und Benachteiligung dort, wo zwischen den Gruppen Unterschiede in den Fähigkeiten, der Kultur, den Werten und Verhaltensstilen vorhanden sind, einige dieser Gruppen aber privilegiert sind. Die Inklusion und Partizipation eines jeden und einer jeden an sozialen und politischen Institutionen verlangt deshalb manchmal die Formulierung spezieller Rechte, die auf gruppenspezifische Unterschiede achten, um Unterdrückung und Benachteiligung zu unterminieren.“22

Iris M. Young vertritt ein Konzept der heterogenen Öffentlichkeit, in dem auf der Basis der anzustrebenden rechtlichen und sozialen Gleichheit Menschen verschieden sein können und ihre spezifischen Interessen in Form von Gruppenvertretungen einbringen. Berechtigt hierzu sind für Young jene Gruppen, die a) gesellschaftsbildend wirken und b) aufgrund von Unterdrückung oder Benachteiligung einer spezifischen Repräsentation bedürfen. Damit hat Young den Zugang zur Gruppenrepräsentation ausdrücklich als Aushandlungsprozess markiert und zugleich eine willkürliche, uferlose und damit die Gesellschaft lähmende Überausweitung ausgeschlossen. Besonders interessant ist Youngs Ansatz für die Frage nach nicht-essentialistischer Gerechtigkeit und der Überwindung von hierarchisierendem Gendering und Ethnisierung durch ihr Verständnis, dass alle Menschen ein Recht auf Inklusion in die Gesellschaft UND ein Recht auf Andersbehandlung haben, wenn spezifische Interessen oder Fähigkeiten marginalisiert werden.

20 21 22

Vgl. Young 2000. Vgl. Gutman 1980. Young 2000, S. 86.

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VIII. Multiple Solidarität Ebenso einer Dekonstruktion essentialistischer Identität verpflichtet, lässt sich Chantal Mouffes radikaldemokratische Sichtung begreifen.23 Der Respekt für Pluralismus und Differenz schweift auch bei ihr nicht in postmoderne Beliebigkeit oder kulturalistische Bedeutungslosigkeit ab, sondern zielt darauf, heterogene und multiple Subjekte in verwobenen Herrschaftsformen zu zeigen. Sie verbindet also Herrschaftskritik mit anti-essentialistisch geprägter Solidarität. Hierin steht sie in Verbindung zu libertär sozialistischen Ansätzen, postkolonialer Theorie, den Denkmustern der Gruppenrepräsentation von Young sowie der Diskussion um Anerkennung und Gleichheit, für die insbesondere Nancy Fraser in den letzten Jahren prägende Argumente geliefert hat. Nancy Fraser wies u. a. in ihrer Debatte mit Axel Honneth darauf hin, dass Anerkennung nur auf der Basis materieller und politischer Gleichheit möglich sei.24 „Social equality“ ist für sie die Grundvoraussetzung dafür, dass die Wahrnehmung, Würdigung und Anerkennung von Differenzen sinnvoll ist, ohne dass hieraus erneute Hierarchien und Ausbeutungsverhältnisse entstehen. Sie tritt für eine genaue Sichtung der herrschaftsrelevanten Differenzen und die Anerkennung u. a. multikultureller Unterschiede ein. Nancy Fraser hat mit ihrem radikaldemokratischen Konzept die Grundlinien abgesteckt, wie die reflektierte Kombination von Differenz- und Gleichheitsbetrachtungen unter einer herrschaftskritischen Perspektive geleistet werden kann, statt durch Assimilation an den Mainstream, Missachtung nicht-hegemonialer Gruppen oder hierarchisierende Differenz erneute Ungerechtigkeiten zu schaffen. Ansätze einer multiplen Solidarität finden sich auch bei anderen AutorInnen besonders bei jenen, die sich wie Benjamin Barber25 für eine starke oder eine radikale Demokratie(theorie) stark machen. Barber blickt auf eine Gemeinschaft von Bürgern, die durchaus differenzierte und differierende Interessen haben, aber durch staatsbürgerliche Erziehung, geteilte Einstellungen und partizipatorische Institutionen, zu denen alle BürgerInnen Zugang haben, verbunden sind. Auch hier ist nicht ein nur vermutetes moralisches Handeln von Menschen die Grundlage, sondern die Idee, dass bei vorhandenen Partizipationschancen und durch lebenslanges Lernen von Partizipation Menschen in der Lage sind, nach dem Gegenseitigkeitsprinzip gemeinschaftlich zu handeln. Gemeinschaft ist also etwas durch Bürgerbeteiligung Geschaffenes und Prozessuales, keineswegs mehr etwas a priori Existieren23 24 25

Vgl. Mouffe 1991. Vgl. Fraser/Honneth 2003. Barber 1994.

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des oder metaphysisch Angenommenes. Durch die Verankerung im Lernen, im Tun und in den Institutionen hat diese Form der partizipatorischen Demokratie gute Chancen, sich weiter zu entwickeln, also auch anhand gesellschaftlicher Herausforderungen wie Migration zu lernen und ehemals marginalisierte Gruppen durch gesellschaftliche Auseinandersetzungsprozesse zu integrieren. Integration wäre hier als gesellschaftlicher Prozess zu sehen, in dem eben nicht die marginalisierte Gruppe angepasst, sondern die Gesellschaft anhand neu gestellter Anforderungen weiter entwickelt werden kann. Auch Michael Walzer blickt auf eine aktive Bürgerschaft und Zivilgesellschaft.26 Auch er geht davon aus, dass Menschen in der Lage sind, verbindliche Bindungen einzugehen und diese auf gesellschaftlicher sowie politischer Ebene zu verfestigen. Er benennt Grundbedingungen der Stärkung von Demokratie, die auch für die Gestaltung interkultureller Solidarität von Relevanz sind: Dezentralisierung des Staates, Sozialisierung der Ökonomie und Domestizierung des Nationalismus. Insbesondere der letztere Gedanke leuchtet in seiner Bedeutung für den Abbau von Rassismus unmittelbar ein, da die Konstituierung von Nationalismus stets über die Abgrenzung eines als fremd und nicht-dazugehörig konstituierten Anderen geschieht, der systematisch außen vor und potenziell bedrohlich markiert wird. Aus dem Nationalismus des 19. Jahrhundert erschien nicht nur Kolonialismus und Imperialismus legitimierbar, sondern er wirkt bis heute im ius sanguinis nach und führt zu der beschriebenen absurden Situation, dass InländerInnen in der X-ten Generation AusländerInnen bleiben, weil ihre Staatsbürgerschaft an die Differenzierung derselben nach Staaten und an das Abstammungsprinzip gebunden ist. Walzers Sichtung ist für die interkulturelle Demokratisierung auch von Bedeutung, weil er nach dem Lokalen und Spezifischen innerhalb der Bindungsprozesse fragt – sein Text ist nicht umsonst als „Plädoyer für Pluralität und Gleichheit“ betitelt. David Held wiederum hat die Sichtung einer aktiven Bürgerschaft um einen Blick auf die globalen Interdependenzen erweitert.27 Er beschreibt ein Netzwerk von sich überschneidenden internationalen Beziehungen, die in ihrem Wandel zu neuen Hierarchien und Anforderungen geführt haben, so dass er entsprechend mehrdimensionale, verflochtene Demokratisierungsprozesse beschreibt. Nicht zuletzt anhand der Verquickung von nationalstaatlichen und transnationalen Top-Down-Prozessen mit lokalen Praxen von Gestaltung plädiert er für eine Stärkung nicht-staatlicher Politikformen und der Partizipationsmöglichkeiten aktiver BürgerInnen.

26 27

Vgl. Walzer 1992. Vgl. Held 1995.

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IX. Reflexive Demokratie Rainer Schmalz-Bruns entwickelt die Kritik an der deliberativen Demokratie28 weiter, indem er Demokratie als mehrstufigen, immer wieder zu durchlaufenden Prozess beschreibt.29 Eine demokratische Gesellschaft hört bei ihm niemals auf, zu lernen, sondern kommuniziert stets weiter und pendelt zwischen Kommunikation, Willensbildung und Entscheidung. Diese sowohl ergebnis- als auch prozessorientierte Form der Willensbildung sichert er institutionell ab durch die Einrichtung von Foren und Verfahren der „konstitutionellen Dauerreflexion“, des systematischen Dialoges und der Förderung konsensorientierter Diskussionsformen. Natürlich besteht auch in dieser Form durchaus das Risiko der Marginalisierung z. B. bildungsferner Gruppen, aber durch die starke Förderung und Absicherung von Öffentlichkeit und die Reflektivität von Parallelinstitutionen steigert Schmalz-Bruns die Chancen der Beteiligung ganz erheblich: zum einen setzt sein Modell eine Gleichstellung der Gesellschaftsmitglieder gleichsam voraus: dass 54 Prozent weibliche Mitglieder der Gesellschaft oder die 10 Prozent NichtStaatsbürgerInnen von vorneherein ausgeschlossen blieben, widerspräche dem Anspruch von Öffentlichkeit und gemeinschaftlicher Willensbildung. Zum anderen verspricht seine Kombination von elaborierter Theorie und konkreten institutionellen Vorschlägen (von denen nicht wenige an die praktizierten Konsultationen der Basisgemeinden in Chiapas erinnern) dissidenten oder marginalisierten Stimmen, sich in die Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse immer wieder einzumischen. Schmalz-Bruns’ Demokratieverständnis bietet in seiner Radikalität, Pluralität und reflexiven Prozessorientierung vielfältige Chancen für die Solidarität unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen. X. Strategien einer heterogenen Gerechtigkeit Die skizzierten demokratietheoretischen Ansätze liefern also sehr wohl Inspirationen für die Gleichberechtigung von MigrantInnen, die Förderung der sozialen und politischen Partizipation, die Anerkennung an Stelle von Projektion und Assimilation und damit für einen echten Austausch zwischen gleichberechtigten und mit verschiedenen Erfahrungen und Deutungsmustern entwickelten Menschen. Diese Ansätze der Unverzichtbarkeit von Entwicklungschancen menschlicher Fähigkeiten (Nussbaum), der Förderung von Partizipation durch die Chance zur Partizipation (Pateman, Barber, Held), der Repräsentation (Phillips), der heterogenen (Young) und reflexi28 29

Habermas 1997. Vgl. Schmalz-Bruns 1995.

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ven (Schmalz-Bruns) Öffentlichkeit auf der Basis von Gleichberechtigung sowie der multiplen Solidarität (Mouffe, Held) geben bei all ihren Unterschieden weitreichende Deutungen und Perspektiven in Anbetracht einer ethnisierten und patriarchalen Gesellschaft: Die Gesellschaft wird nach wie vor geteilt, statt Fähigkeiten und Vielfalt zu verbinden; die Menschen erhalten (oder verlieren) Chancen anhand rassistischer, sexistischer und sozialer Merkmale, die von ihrer einzigartigen Würde und ihren jeweiligen Fähigkeiten abstrahieren. In einer derart strukturierten Gesellschaft sind weder Gleichheit noch Menschenrechte noch demokratische und kreative Potenziale umfassend entwickelt. Dabei hatte bereits 1979 der erste deutsche Ausländerbeauftragte der SPD-Bundesregierung festgestellt, dass „[. . .] eine nicht mehr umkehrbare Entwicklung eingetreten ist und die Mehrzahl der Betroffenen nicht mehr einfach ‚Gastarbeiter‘, sondern ‚Einwanderer‘ sind, für die eine Rückkehr in ihre Herkunftsländer aus den verschiedensten Gründen nicht wieder in Betracht kommt. [. . .] Die unvermeidliche Anerkennung der faktischen Einwanderungssituation macht eine Abkehr von den Konzepten der Integration ‚auf Zeit‘ erforderlich. An ihre Stelle muss ein Maßnahmebündel treten, dass den Bleibewilligen die Chance zu einer vorbehaltlosen und dauerhaften Eingliederung eröffnet.“30

Derzeit leben faktisch gut 7 Millionen Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft in Deutschland. Deutschland ist ein Einwanderungsland. Dies anzuerkennen, wäre der erste Schritt, um den Weg frei zu machen, für eine wirkliche und aktive Integration der Gesellschaft. Grundlage dieser Integration muss zunächst formale Gleichheit sein. Um eine tatsächliche Beteiligung an der Gesellschaft und der politischen Willensbildung sowie gemeinsame Aushandlungsprozesse der Gesellschaftsmitglieder zu ermöglichen, sind Sondergesetze, der Entzug von Rechten sowie die Verfolgung und besondere Kontrolle, wie Schikanen an den Grenzen, in Wohnheimen und Ausländerbehörden, zu vermeiden. Auf der Basis von juristischer, politischer, sozialer und ökonomischer Gleichstellung können NachbarInnen aller Hautfarben und Familiengeschichten lernen, sich als dauerhafte NachbarInnen zu begreifen mit individuellen Fähigkeiten, Fehlern und Biographien statt Ausgrenzungen durch Gruppenzuweisungen weiter zu forcieren, die einen Menschen – egal wie er/sie/jemand sich konkret verhält – anhand von Aussehen, Name und Staatsbürgerschaft mit rassistischen Klischees misst und bewertet. Dilek Cinar hat diese Dialektik aus Gleichberechtigung und Anti-Diskriminierung mit Multikulturalismus umschrieben, der mehr ist als ein bloßes „Multikulti“. Sie versteht darunter: 30

Kühn 1979, o. S.

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„[. . .] ein Bündel von rechtlich-politischen Maßnahmen, die über das Bekenntnis zur Toleranz hinausgehen, die das individuelle Recht auf Gleichberechtigung unabhängig von nationaler bzw. kultureller Zugehörigkeit gewährleisten und zugleich fortbestehender Diskriminierung bereichsspezifisch entgegensteuern und die mitunter in kollektiven Rechten für die neuen Minderheiten münden [können].“31

Menschen mit ihren unterschiedlichen Herkunftsgeschichten und Lebensbedingungen, Ressourcen, Schwächen und Kompetenzen können Gesellschaft mitgestalten, wenn sie die Chance zur Partizipation erhalten. Migrierte werden dann nicht mehr zu Opfern subsumiert, sondern ihr SpezialistInnentum für die eigene Situation anerkannt. Auch die Tatsache, dass es unterschiedliche Wege und Formen von Emanzipation gibt, kann positiv gesehen werden, wenn nicht mehr unter der Norm der „Leitkultur“ alles homogenisiert erscheinen muss, sondern heterogene Öffentlichkeit als ein Wert erkannt wird. Wirkliche Integration erkennt formale Gleichheit und ebenso die Unterschiedlichkeit von Lebensentwürfen an, statt wie heute einerseits auszugrenzen und andererseits von den Ausgegrenzten zu erwarten, sich an eine Normierung der Dominanzkultur anzupassen. Auf diese Weise würde anerkannt, was längst Realität ist: die Bildung von Patchworkidentitäten, die der Widersprüchlichkeit und Vielfältigkeit heutiger Gesellschaften Rechnung tragen. Literatur Antirassistische Initiative Berlin (Hg.), Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen. Dokumentation 1993 bis 2003, Typoskript, Berlin 2003 (zitiert: Antirassistische Initiative 2003). Barber, Benjamin, Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen, Hamburg 1994 (zitiert: Barber 1994). Brabandt, Heike, Frauen und Asyl. Frauenspezifische Fluchtgründe im deutschen Asyl- und Ausländerrecht, in: Bettina Roß (Hg.): Migration, Geschlecht und Staatsbürgerschaft, Wiesbaden 2004, S. 103–126 (zitiert: Brabandt 2004). Castro Varella, Maria do Mar/Dhawan, Nikita, Horizonte der Repräsentationspolitik. Taktiken der Intervention, in: Bettina Roß (Hg.): Migration, Geschlecht und Staatsbürgerschaft, Wiesbaden 2004, S. 205–226 (zitiert: Castro Varella/Dhawan 2004). Cinar, Dilek, Unüberwindbare Fremdheit? Immigration und die Politik der Differenz, in: Brigitte Fuchs/Gabriele Habinger (Hg.): Rassismen und Feminismen: Differenzen, Machtverhältnisse und Solidarität zwischen Frauen, Wien 1996, S. 161–170 (zitiert: Cinar 1996). 31

Cinar 1996, S. 164.

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– Politischer Liberalismus, Frankfurt/Main 2003 (zitiert: Rawls 2003). Rosenberg, Lea, Martha Nussbaums Konzeption des Guten Lebens, Wiesbaden 2006 [erscheint 2006] (zitiert: Rosenberg 2006). Schmalz-Bruns, Rainer, Reflexive Demokratie. Die demokratische Transformation moderner Politik, Baden-Baden 1995 (zitiert: Schmalz-Bruns 1995). Scholz, Roswitha, Das Geschlecht des Kapitalismus. Feministische Theorien und postmoderne Metamorphose des Patriarchats, Bad Honnef 2000 (zitiert: Scholz 2000). Spivak, Gayatri Chakravorty, Can the Subaltern speak?, in: Patrick Williams/Laura Chrisman, (Hg.): Colonial Discourse and Post-Colonial Theory, Hemel Hemstead 1994, S. 66–111 (zitiert: Spivak 1994). Steyerl, Hito/Gutiérrez Rodriguez, Encarnación (Hg.), Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik, Münster 2003 (zitiert: Steyerl/Gutiérrez Rodriguez 2003). Walzer, Michael, Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, Frankfurt a. Main/New York 1992 (zitiert: Walzer 1992). Wichterich, Christa, Die globalisierte Frau. Berichte aus der Zukunft der Ungleichheit, Reinbek 1998 (zitiert: Wichterich 1998). Young, Iris Marion, Das politische Gemeinwesen und die Gruppendifferenz. Eine Kritik am Ideal des universalen Staatsbürgerstatus, in: Kathrin Braun/Gesine Fuchs/Christiane Lemke/Katrin Töns: Feministische Perspektiven der Politikwissenschaft, München 2000, S. 84–116 (zitiert: Young 2000).

Können Kommunitarier die Weltgesellschaft denken? Walter Reese-Schäfer I. Überlegungen zur Begrifflichkeit Der Begriff Weltgesellschaft klingt interessant und „fühlt sich gut an“, wie Luhmann formulieren würde. Dennoch wird er in der Politikwissenschaft eher zögernd und zurückhaltend verwendet. Stattdessen gibt es variable Bezeichnungen, zu denen die global order, die internationale Zivilgesellschaft und noch viele andere gehören. Ihnen ist gemeinsam, dass sie den Durchbruch von einer definierten Verwendung zu einer wirklichen Begriffsbildung noch nicht geschafft haben. Der Grund liegt darin, dass dem Begriff der Weltgesellschaft, wie er sich derzeit in der Diskussion befindet, mehrere wichtige Elemente einer überzeugenden, allgemein nachvollziehbaren Begrifflichkeit noch fehlen. In der Konzeption Luhmanns scheint dieser Begriff eine allumfassende Residualkategorie zu sein, welcher ein Gegenbegriff, von dem abgegrenzt werden könnte, fehlt.1 Luhmannimmanent muss dies zweifellos als denksystemnotwendig angesehen werden, macht aber die Verwendung des Begriffs nicht leichter. Das Fehlen eines Gegenbegriffs reduziert die Zahl der möglichen sinnvollen Aussagen. Es handelt sich um einen Begriff, der ein empirisches Phänomen zu bezeichnen scheint und deshalb so vertraut klingt, genau dies aber ausdrücklich nicht leisten will. Theologisch oder hermeneutisch geschulte Köpfe würden von einem verborgenen Gott sprechen. Jedem, der in einer Argumentation auf einen solchen Unbegriff zurückgreift, kann dann jederzeit die absolute Unzulässigkeit seines Unterfangens um die Ohren geschlagen werden. Man kennt das, und solche Spiele verfangen nur unter naiven Gemütern, denen die Verzweigungen der philosophischen und theologischen Diskussionstradition immer wieder als neue Entdeckungen erscheinen. In der kommunitarischen Diskussion wird das Wort Weltgesellschaft nicht verwendet, das Phänomen und Problem aber sehr wohl diskutiert. Aus diesem Grunde ist es sinnvoll, in diesem Diskursfeld eine Ideensuche 1 In einer genuin politischen Theorie wäre ein Gegenbegriff „die Gesellschaft“, nämlich die des Nationalstaats.

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zu starten. Dazu muss zunächst einmal bestimmt werden, was unter Weltgesellschaft verstanden werden soll. Es handelt sich bei diesem Begriff um den Versuch, statt einer Vielfalt segmentärer Gesellschaften und sozialer Organisationen die Herausbildung einer globalisierten Interaktion zu bezeichnen. Der Begriff wirkt statisch, ist aber immer dynamisch gemeint. Hier ist an den Universalismus der Aufklärung anzuknüpfen, etwa an Kants Redeweise von einer Weltbürgergesellschaft in „Was ist Aufklärung?“, die Kant als zukünftige Möglichkeit und als wünschenswertes Ziel ansieht.2 Der heute üblich gewordene Begriff der Globalisierung betont diesen dynamischen Charakter sehr viel deutlicher und braucht, da er nur eine Entwicklungsrichtung, einen Trend bezeichnet, sich sehr viel weniger der schwierigen Frage zu stellen, ob der Zustand der Globalität in Bezug auf bestimmte Interaktionen, ob also insbesondere der Zustand einer weltgesellschaftlichen Kommunikation denn in der Tat schon erreicht sei. Darum geht es dann überhaupt nicht. Für unser Argumentationsziel ist es hinreichend, von einer Entwicklung hin zu mehr weltweiter Interaktion zu sprechen. Von welchem Zeitpunkt an man von einer globalen Gesellschaft sprechen kann, muss nicht festgelegt werden, während der Begriff der Weltgesellschaft schon aus sprachlichen Gründen die immer schon erreichte Globalität suggeriert, auch wenn es, wie in der kantianischen Verwendung3, nicht so, oder in der Luhmannschen Verwendung ohnehin ganz anders gemeint ist. Die Begriffe Kommunikation und Interaktion geben darüber hinaus den entscheidenden Hinweis, was denn die Materie, also das Substrat dieses Tatbestandes sein könnte. Das kommunitarische Denken nun trägt an den zunächst einfach nur zu konstatierenden und zu beschreibenden Prozess einer, wie ich das nach der vorausgegangenen Überlegung nennen möchte, Weltvergesellschaftung die Frage nach der normativen Dimension heran, die ihrerseits wieder sich doppelt gabelt: nämlich in die deskriptive Frage nach den sich in einem solchen Prozess herausbildenden normativen Orientierungen, und in die metanormative Frage, ob diese oder wenn nicht diese, welche anderen normativen Orientierungen wünschenswert und attraktiv sind. Ein solches Interesse ist den meisten politischen Ethikern gemeinsam, seien es Institutionalisten, Kontraktualisten oder eben Kommunitarier. Die Spezifik kommunitarischer Denkansätze besteht darüber hinaus darin, dass gefragt wird, ob es Formen normativer Vergemeinschaftung auch auf weltgesellschaftlicher Ebene geben kann. Die Frage der Kommunitarier richtet sich also immer auf eine Vorstellung oder Idee von Gemeinschaft. Unter Gemeinschaft wird eine intensivere, kommunikativ dichtere normative Interaktion verstanden als sie 2 3

Vgl. Kant 1977, S. 56. Nämlich bei Höffe 1999, S. 15, S. 299 f., S. 308 ff., S. 422 f.

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in einer Gesellschaft von bewusst Fremden, die einander mit kühler Distanz begegnen, möglich wäre. II. Kollektive Efferveszenz: der Weg nichtrationaler Generalisierung Traditionell wird die dichtere normative Interaktion an kleineren Gemeinschaften exemplifiziert, wie dies bei Durkheim geschieht, oder, wenn ich Ferdinand Tönnies richtig verstanden habe, sogar in typologischer Gegeneinanderführung kleinerer Gemeinschaften wie Familie, Nachbarschaft, Dorf und Kleinstadt gegen die Großstadt und den Nationalstaat als Formen unpersönlicher Vergesellschaftung sogar an diese kleineren Gemeinschaften gebunden. Tönnies’ Typologisierung4 hat eine enorme plausibilisierende Kraft und wirkt gerade dadurch in gewisser Weise irreführend, denn durch ihren anschaulichen Konkretismus verleitet sie dazu, mögliche Formen von Gemeinschaftlichkeit in der Vorstellung von vornherein an relativ kleine Einheiten zu binden und so die Idee einer Weltvergemeinschaftung a priori auszuschließen.5 Einer der führenden deutschen Kommunitarier, nämlich Hans Joas6, hat in seiner Studie über die Entstehung von Werten die für unser Problem interessante Möglichkeit angeführt, dass sich in einer, wie er das mit Durkheim nennt, kollektiven Efferveszenz weit über kleine Gemeinschaften hinausgehende universelle Gemeinschaftshaltungen plötzlich, aber nachhaltig herausbilden.7 Mit kollektiver Efferveszenz soll hier eine Form von Gemeinschaftsbildung bezeichnet werden, die durch ein gemeinsames Erlebnis hervorgerufen, angeregt oder geprägt wird. Die Beispiele werden üblicherweise im religiösen Bereich gesucht. Joas betont, dass die Erinnerung an Massenversammlungen der französischen Revolution bei Durkheim ebenfalls eine damit vergleichbare Rolle gespielt hat.8 Um dies anschaulich zu machen, könnte vielleicht ein Beispiel helfen: das freundlich friedliche Gemeinschaftserlebnis der 500 000 Besucher des Woodstock Festivals im Jahre 1968 war zugleich auch ein weltweit wahrgenommenes Generationserlebnis, welches nicht nur die damals physisch anwesenden Besucher geprägt hat. Das Phänomen ist bekannt, inszenierbar und reproduzierbar9, man denke nur an die Wiederaufnahme der olympischen Spiele im 4

Vgl. Tönnies 1988, bes. § 6 und §§ 14–18. Vgl. kritisch dazu Reese-Schäfer 1997. 6 Vgl. Joas 1997, passim und bes. S. 94 ff. Joas ist Mitglied des Editorial Board der Responsive Community und Unterzeichner der Communitarian Platform. 7 Vgl. kritisch dazu Reese-Schäfer 1998. 8 Joas 1997, S. 106. 9 Hier ist selbstverständlich auch an das Nachleben auf den Tonträgern und im Film gedacht. 5

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Jahre 1896, der genau diese Absicht unter dem Stichwort „olympische Idee“ zugrunde lag. Auch jenes Ereignis korrespondierte mit einem damals als rasant empfundenen und übrigens zu jener Zeit im Westen sehr viel optimistischer und positiver gesehenen Globalisierungsprozess der Weltausstellungen, des Welthandels, und der, wenn auch nur recht kurzfristigen, zweiten Welle einer kolonialen Ausdehnung, während die erste Welle mit der Unabhängigkeit der USA und Lateinamerikas längst schon ihr Ende gefunden hatte. Ich wähle bewusst ältere Beispiele, weil wir diese aus einer gewissen Distanz betrachten können. Hans Joas interessiert sich vor allem für die irrationale, gewissermaßen pfingstliche Seite dieser weltweiten gefühlsmäßigen Vergemeinschaftungen, die als Weltvergemeinschaftung dem eher nüchternen Prozess der Weltvergesellschaftung an die Seite treten oder, formulieren wir es zurückhaltender, zu treten versuchen und gelegentlich auch den überspringenden Funken erzeugen können. Ein ähnlicher Prozess weltweiter Vergemeinschaftung war zweifellos das Generationsprojekt jener Studentenunruhen der 60er Jahre, die nach einem Auftakt in Kuba 1962 in den USA einsetzten, 1965/66 nach Deutschland übersprangen und bis 1968 einen weltweiten Siegeszug von Prag über Paris, Italien, Jugoslawien bis nach Mexiko angetreten haben.10 Die Ähnlichkeit der Demonstrations- und Artikulationsformen kann als signifikant gelten. Einige medientheoretisch gesonnene Interpreten haben sogar von einer ersten globalen Revolution gesprochen, deren Anstöße durch das Fernsehen vermittelt worden seien.11 Bei genauerem Hinschauen findet man eine derartige Globalität aber schon bei der französischen Revolution von 1789, die bis nach Haiti nachzitterte, bei der Julirevolution von 183012, als die Zeitung noch das Verbreitungsmedium war und Heinrich Heine in seinen „Briefen aus Helgoland“ sehr anschaulich schildert, wie das mit dem Schiff eintreffende Zeitungspaket sein Leben umwälzt, und natürlich im Jahre 1848. Spätere Großereignisse und Gemeinschaftserlebnisse brauchen hier nicht erwähnt zu werden, weil sie a forteriori eingeschlossen sind. Schon an dieser Stelle zeigt sich: Es war wohl im Grunde nur Tönnies’ Typologie, vielleicht sogar nur ein allzu sehr verengtes Verständnis dieser 10

Vgl. dazu Berman 1996. Vgl. Kraushaar 2000. 12 Am 10. August notiert Heine (Heine 1977, S. 53 ff.) in einer dann für das 20. Jahrhundert charakteristisch gewordenen Verbindung von revolutionären Enthusiasmus und Todessucht: „Lafayette, die dreifarbige Fahnen, die Marseillaise [. . .] Fort ist meine Sehnsucht nach Ruhe. Ich weiß jetzt wieder was ich will, was ich soll, was ich muß [. . .] Ich bin der Sohn der Revolution und greife wieder zu den gefeiten Waffen, worüber meine Mutter ihren Zaubersegen ausgesprochen. Blumen! Blumen! Ich will mein Haupt bekränzen zum Todeskampf. Und auch die Leier, reicht mir die Leier, damit ich ein Schlachtlied singe.“ Ich zitiere dies, um die Ambivalenzen dieser Haltung zu illustrieren. 11

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Typologie, die in der anfänglichen Diskussion zwischen Liberalen und Kommunitariern zu dem Vorwurf geführt hatte, Kommunitarier könnten nur partikulare Gemeinschaften denken. Die von Joas und anderen analysierten Phänomene einer traditionale, aber auch moderne, z. B. nationalstaatliche Grenzen überspringenden Vergemeinschaftung sind aber so manifest, dass man nur staunen kann, wieso das Offenkundige so übersehen werden kann. Die kollektive Efferveszenz der großen Weltreligionen bietet vielfältige Evidenzen für diese Behauptung. Die Frage des politischen Ethikers, ob derartige moralproduzierende Gemeinschaftserlebnisse nicht sehr skeptisch und kritisch bewertet werden sollten, weil in ihrem Kern ein Moment der Irrationalität zu konstatieren ist, liegt nur zu nahe. In meiner Studie „Politische Theorie heute“ habe ich mich mit diesem Aspekt von Joas’ Theorie auseinandergesetzt.13 An dieser Stelle reicht es, festzustellen, dass der spezifisch kommunitarische Blick von Joas ein Phänomen zu beobachten lehrt, das in der sozialwissenschaftlichen Diskussion um die Weltgesellschaft bislang nicht hinreichend zur Sprache gekommen ist. Die traditionelle Frage des Politikwissenschaftlers, ob solche grenzübergreifenden normativen Vergemeinschaftungen nicht im Ernstfall, der immer der Kriegsfall war, zugunsten nationaler und staatlicher Organisationsformen bedeutungslos werden – das einschlägige Beispiel ist immer die internationale Arbeiterbewegung im Jahre 1914 – will ich an dieser Stelle beiseite lassen, allerdings nicht ohne den Hinweis zu geben, dass für diesen Fall offenbar immer die organisatorischen Einheiten maßgeblich werden, die über den Zugang zu Waffen in einem Mitsprache ermöglichenden Umfang verfügen. Erst 1917 in Russland und 1918 im Westen wurde die Option der kollektiven Waffenniederlegung realisierbar. Mit dem Hinweis auf Hans Joas’ Idee einer Werteentstehung durch kollektive Efferveszenz ist die Frage positiv beantwortet, ob Kommunitarier die normative Seite der Weltgesellschaft in den Blick bekommen können: Sie können es nicht nur, sondern sie haben durch ihre besondere Blickrichtung eine Art privilegierten Zugang zu Formen normativer Weltvergemeinschaftung. Damit bleibt aber die Problemstellung meines Aufsatztitels, ob sie diese auch in einem rationalen Sinne denken können, unbeantwortet, denn das wie auch immer tiefgehende Beschreiben eines im Kern nichtrationalen Phänomens ist ja noch kein Denken, welches, jedenfalls für mich, der ich kein Heideggerianer oder Anhänger Derridas bin, immer an Rationalität gebunden ist. Das Überspringen der Frage des politischen Ethikers nach der Rationalität und Universalität der normativen Orientierung habe ich in meiner Auseinandersetzung mit Hans Joas nur deshalb für vertretbar gehalten, weil zwei amerikanische Kommunitarier, nämlich Michael 13

Vgl. Reese-Schäfer 2000, S. 361 ff.

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Walzer und Amitai Etzioni, diese Frage ausdrücklich angehen. Den Begriff Globalisierung hatte ich deskriptiv verwendet. Das lässt den Begriff des Universalismus frei zur Bezeichnung der normativen Seite, die, ich wiederhole es sicherheitshalber, ihrerseits wiederum in einer doppelten Gabelung behandelt werden kann: nämlich erstens in der deskriptiven Konstatierung der Entstehung oder Durchsetzung von Wertvorstellungen und Normen, und zweitens in der dazu reflexiven, wiederum normativ begründeten Bewertung dieser Wertvorstellungen und Normen. III. Walzers Konzeption eines reiterativen Universalismus Michael Walzer entwickelt die Idee eines spezifisch kommunitarischen Universalismus, den er reiterativen Universalismus nennt. Im Unterschied zum Universalismus eines einzigen allumfassenden Gesetzes entsteht diese Form normativer Universalität aus Einzelerfahrungen und entwickelt sich durch wiederholte Akte von Selbstbestimmungen und Befreiungen, die eine Welt der Differenzen erzeugen. An den Nahtstellen der Differenzen entsteht immer wieder Regelungsbedarf, der Schritt für Schritt zu weiteren Verallgemeinerungen führt, ohne immer schon von vornherein eine allgemeine Gesetzmäßigkeit zu postulieren. Walzer ist Philosoph genug, um zuzugestehen, dass dieser reiterative Universalismus seine einzelnen Forderungen im Prinzip immer auch in die Form eines allumfassenden Gesetzes kleiden könnte.14 Entscheidend ist aber in seiner Interpretation, dass diese allumfassenden Gesetze aus der Erfahrung gelernt worden sind, nämlich aus der historischen Begegnung mit dem Anderen, und dass sie ferner den Respekt vor der Besonderheit bewahren, weil dieser Vorrang des context of discovery vor dem context of justification impliziert, dass die Selbstrechtfertigung der generalisierten Regeln nicht heroisch und in einer alle Partikularismen verachtenden Siegermentalität daherkommt, sondern als quasipragmatische Notlösung schwieriger Kooperationsprobleme. Das Auftreten des reiterativen Universalismus ist deshalb schon im Ansatz bescheidener als das des covering law universalism, wie Walzer das im Amerikanischen nennt. Man könnte also sagen: hier wird ein kommunitarischer Universalismus vertreten, der evolutionär gedacht ist, d. h. auf der reflexiven Interpretation eines Entwicklungsprozesses beruht, statt konstruktivistisch im Vorhinein eine allgemeingültige Regel zu etablieren. Das entspricht Walzers hermeneutischer Moraltheorie, derzufolge die Entstehung von Regeln identisch ist mit ihrer Auffindung und Erprobung in der Realität. Andere Vorstellungen über Regelentstehung, z. B. im Akt eines göttlichen Gesetzgebers, dessen Ergebnisse sich dann ein Moses auf dem Berg Sinai abholen konnte, oder 14

Vgl. Walzer 1996, S. 146.

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durch die Erfindung eines Solon oder Lykurg, lehnt Walzer ab. Übrigens ist die Betonung evolutionärer Lernprozesse längst kein Spezifikum kommunitarischer Moraltheorie mehr. Robert Axelrod15 hat von der rationalen Entscheidungstheorie her die Evolution der Kooperation durch Wiederholung von Spielzügen in den Mittelpunkt seiner Analysen gerückt. Es wäre übrigens ein vorschneller und deshalb zum Irrtum führender Schluss, wollte man annehmen, dass ein apriori-Universalismus des covering law und ein aposteriori-Universalismus nach kommunitarischem Muster letzten Endes zu den gleichen Regeln kommen müssten. Der Aposteriorismus verzichtet auf eine weltgeschichtliche Mission, er vertritt ein Konzept möglichst weitgehender Nichteinmischung.16 Walzer ist in seiner berühmten, unter dem Eindruck des Vietnamkriegs geschriebenen Studie „Gibt es den gerechten Krieg?“ noch entschiedener Nichtinterventionist, der aus diesem Grunde nur sehr wenige und eng begrenzte Interventionsgründe gelten lässt.17 Auch dieser zunächst negative oder Unterlassungsgrundsatz lässt sich positiv formulieren: nämlich als Geistes- und Gefühlszustand einer Haltung der Toleranz und gegenseitigen Achtung. Das heißt, auch hier ist eine klassisch universalistische Formulierung möglich. Bei allgemeingültigen Moralgrundsätzen ist diese niemals ausgeschlossen. Es kommt aber zunächst einmal darauf an, zu welchen Moralgrundsätzen man überhaupt kommt, um diese dann im zweiten Schritt dem Test der Verallgemeinerbarkeit zu unterwerfen. Walzer nimmt an, dass der Universalismus des allgemeinen Gesetzes eher zum Interventionismus, zur Idee einer weltweiten Befreiung neigen wird, während der kommunitarische Universalismus dies als wünschenswertes Ziel formuliert, zu dem jede Gesellschaft aber je einzeln und auf ihre eigene Weise gelangen sollte. Obwohl er die Befreiung anderer Völker und Länder als wünschenswert ansieht, sieht er doch keinen Grund, diese aktiv zu befördern. Walzers Konzeption ist nicht frei von Widersprüchen, also nicht wirklich konsistent. Das zeigt sich daran, dass er einerseits die Souveränität so hoch veranschlagt, dass er sie auch dann für verteidigenswert hält, „wenn ich 15

Vgl. Axelrod 2000. Vgl. Walzer 1996, S. 146. 17 Vgl. Walzer 1982, S. 141. Walzer vertritt hier noch unter dem Eindruck des Vietnamkriegs starke Souveränitätsthesen, aber mit Ausnahmen in drei Fällen: – Wenn innerhalb bestimmter Grenzen deutlich zwei oder mehr politische Gemeinschaften leben, wenn es sich also um eine Sezession oder einen Unabhängigkeitskampf handelt – Als Gegenintervention, wenn also die Streitkräfte einer anderen ausländischen Macht schon eingegriffen haben – bei besonders gravierenden und empörenden Menschenrechtsverletzungen, also im Fall der Versklavung oder eines Massakers. In späteren Veröffentlichungen hat er seine Position langsam zu einem stärkeren Interventionismus hin revidiert. 16

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glaube, daß häufig verabscheuungswürdige oder unrechte Entscheidungen getroffen werden“, es andererseits aber in einem bestimmten Ausnahmefall für erlaubt hält, sich ihr zu widersetzen, wenn nämlich „die Entscheidungen des Handelnden eindeutig oder nahezu eindeutig entscheidende wichtige Moralprinzipien verletzen“18. Der Ausnahmetatbestand ist sehr unbestimmt gefasst. Andererseits wird sich der Kommunitarier auch hier auf Erfahrungswerte verlassen. Die relativ geringe theoretische Konsistenz ermöglicht auf der anderen Seite eine Erfahrungs- und Evolutionsoffenheit dieser Art von politischer Ethik, wie ja auch Walzers Theorie des gerechten Krieges in einer reflexiv-interpretativen Auseinandersetzung mit dem Vietnamkrieg, den beiden Weltkriegen und dem amerikanischen Bürgerkrieg gewonnen worden ist, so dass die Reflexion jedes weiteren Krieges die Ergebnisse verändern kann. Das hermeneutische Modell ersetzt sozusagen den Zwang theoretischer Konsistenz durch eine pragmatisch-handwerkliche Plausibilitätskonzeption. Es handelt sich, mit einem Wort, um eine typisch aristotelische Politik als praktische, nicht als theoretische Wissenschaft.19 IV. Etzionis vierstufige Legitimationstheorie Amitai Etzioni hat in seiner Studie über die Verantwortungsgesellschaft eine etwas anders gelagerte Konzeption kommunitarischer Universalität vorgelegt. Die Studie zielt auf die Kernfrage: „Wer entscheidet über die Grundwerte einer Gemeinschaft?“ Er geht dabei in mehreren Schritten vor. Die wichtigste Voraussetzung, die er macht, ist die der Begründungspflicht moralischer Werte, die sie grundsätzlich von Geschmacks- und Gefühlsäußerungen unterscheidet.20 Der erste Begründungsschritt besteht darin, zu prüfen, ob bestimmte Wertvorstellungen von einer Gemeinschaft bejaht werden. Dies kann nicht als ausreichende normative Rechtfertigung gelten, aber als Indiz dafür, dass ein solcher Wert eine erste Hürde genommen hat. Etzioni qualifiziert diese These in zweierlei Hinsicht. Einmal kommt es darauf an, dass die Akzeptanz dieser Werte nicht allein durch bloße Weitergabe von Generation zu Generation, also durch Tradition gesichert ist, sondern durch demokratische Zustimmung. Wertvorstellungen, die auf demokratischen Prozessen beruhen, bewerten wir moralisch als höher, obwohl es auch hier zusätzlicher Kriterien bedarf. Eine zweite Qualifizierung ist ein Prozess der Konsensbildung, der über eine bloße Mehrheitsentscheidung hinausgeht. Das ist zwar nicht wesentlich zufriedenstellender als Mehrheitsentscheidun18

Vgl. Walzer 1996, S. 151. Zu dieser Einordnung des kommunitarischen Denkens und Michael Walzers vgl. Gutschker 2002. 20 Vgl. Etzioni 1997, S. 278. 19

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gen, schafft jedoch eine größere Legitimität als solche Moralvorstellungen, die einer Gemeinschaft von religiösen oder ideologischen Minderheiten oder kleinen Eliten aufgezwungen werden. Die Grenze des ersten Begründungsschritts liegt in der Partikularität von Gemeinschaften, die moralisch gesehen in einen gemeinschaftsgebundenen Relativismus führt. Etzioni hält es aus diesem Grunde für erforderlich, einen zweiten Begründungsschritt zu gehen: Kommunitarier „können die Gemeinschaft in einen Kontext einordnen, indem sie die von der Gemeinschaft bejahten Werte mit einem Rahmen umgeben, der einer höheren Ordnung an Legitimität angehört. Die besonderen normativen Bindungen einer Gemeinschaft werden solange einen Vorrang genießen, als sie nicht eine Reihe anderer normativer Kriterien verletzen, denen sie zusätzlich genügen müssen.“21 Dieser Rahmen ist die Gesellschaft bzw. die Verfassung. Die lokalen Gesetze und Traditionen müssen also nicht durch universelle Werte ersetzt werden, sondern genießen einen Vorrang, der jedoch dort an die Grenzen der Einrahmung stößt, wo sie mit übergeordneten Werten nicht mehr kompatibel sind. Mit diesem zweiten Schritt dürften die meisten tatsächlich vorkommenden Fälle schon abgedeckt sein, weil normative Standpunkte, „die sich weder von seiten der jeweiligen Gemeinschaft noch der Verfassung Einwänden ausgesetzt sehen, in den meisten Fällen auch einer weitergehenden Überprüfung standhalten.“22 Erst in dem Augenblick, wo man Kulturen untersucht, die sich von der eigenen stark unterscheiden, ergibt sich die Erfordernis eines dritten Schrittes. Etzioni vertritt also ein pragmatisches Konzept der normativen Sparsamkeit: so wenig Universalismus wie möglich. Der große Rasenmäher der normativen Generalisierung soll lediglich in anders nicht lösbaren Streitfällen eingesetzt werden. Hierfür erörtert Etzioni das Modell grenz- und gesellschaftsübergreifender moralischer Dialoge, die er im Unterschied zu Habermas nicht prozeduralistisch-technisch anlegen möchte, sondern als Überzeugungsdialoge, bei denen es nicht darauf ankommt, Werte und Tatsachen in der Weise voneinander zu trennen, wie es die Ideale von Deliberation und Vernunft erfordern. Etzioni nennt als Beispiele die internationalen Umweltdialoge und Klimaschutzkonferenzen. Auch hier gilt: „Gemeinsame Werte, die aus moralischen Dialogen hervorgegangen sind, nehmen einen höheren moralischen Status ein als jene, die nur von der einen oder anderen Gruppe gefördert wurden oder Ergebnis der Aufklärungsarbeit des Staates sind.“23 Aber auch diese können noch nicht das letztgültige normative Kriterium bilden, denn auch kulturübergreifende Dialoge könnten irrtümliche und fehlerhafte Ergebnisse produzieren. 21 22 23

Ebd., S. 287. Übersetzung mit Blick auf den englischen Text revidiert. Ebd., S. 290. Ebd., S. 296.

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An dieser Stelle kommt nun bei Etzioni der gesuchte Begriff der globalen Gemeinschaft ins Spiel. Dies wäre die eleganteste Option, um den Legitimationskreis zu schließen: wenn die Werte einer Gesellschaft nicht gegen einen weltweit gültigen Wertekanon verstoßen, können sie bis auf Weiteres als gültig betrachtet werden, denn dann würde ja im Grunde nur noch die Zukunftsdimension nicht erfasst sein. Die Schwierigkeit dieses Lösungsweges behandelt Etzioni dann in aller Ausführlichkeit: der Kulturrelativismus muss überzeugend widerlegt werden, empirische Verallgemeinerungen aus bestehenden Regeln sind nur ein sehr schwaches und zerbrechliches Kriterium. Schwach deshalb, weil nur einige wenige Werte wie die Verurteilung von Mord, Diebstahl und Vergewaltigung universal zu sein scheinen. Die Menschenrechte in den UN-Dokumenten sind ebenfalls unzureichend, weil sie nicht das Ergebnis von echten demokratischen Prozessen in vielen der betroffenen Länder und auch nicht das Ergebnis eines weltweiten moralischen Dialoges sind, so dass ihre Legitimation und vor allem ihr Inhalt, also die Frage, was ein elementares Menschenrecht und welches ein sekundäres ist, als ungeklärt gelten müssen. Dennoch gibt es faktisch aber gesellschaftsübergreifende moralische Stimmen, die gehört werden. Zwar können nur starke Nationen militärische und andere Machtmittel zur Durchsetzung von Werten einsetzen, aber kleinere wie die skandinavischen Länder, wie die Schweiz, auch Israel werden immer wieder gehört. Die Rechte der Individuen verkörpern in Etzionis Sicht keineswegs allein besondere westliche Werte, selbst wenn sie historisch gesehen im Westen entstanden sind. Sie sind für alle Menschen verpflichtend. Die Gültigkeit von Wertvorstellungen für eine weltweite globale Gemeinschaft kann aber bei nüchterner Betrachtung letzten Endes allein durch die Beobachtung gesichert werden, dass bestimmte Werte als in und durch sich selbst zwingend erscheinen, also selbstevident sind. Etzioni gibt zu, dass dieses Konzept gewissermaßen selbstevidenter Moralvorstellungen umstritten und ambivalent sein mag. Er führt es dennoch in die Diskussion ein, weil sein funktionalistischer Ansatz nicht nach Ursprüngen oder letzten Gründen fragt, sondern nach den „Konstellationen, Prozessen und Strukturen, welche die Aufrechterhaltung und Neugestaltung gegebener gesellschaftlicher Strukturen oder Werte ermöglichen“24 Darüber hinaus legt ihm die Überlegung, dass sich eine andere überzeugende Begründung nicht finden lässt, diese Antwort nahe. Im Grunde kommt Etzionis Gedankengang dem sehr nahe, was in religiösen Kontexten als Offenbarung bezeichnet wird. Oder, in Etzionis Worten: „Die grundlegenden sozialen Werte sind eine auf Freiwilligkeit beruhende moralische Ordnung und eine weitgehende, jedoch gebundene Autonomie des Indivi24

Etzioni 1997, S. 309.

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duums bzw. der Teilgemeinschaft; in sorgfältigem Gleichgewicht gehalten charakterisiert deren Verhältnis zueinander die neue goldene Regel. Obwohl ich in den vorangegangenen Kapiteln die sozialen Formationen, in denen diese Werte verkörpert sind, instrumentell gerechtfertigt habe, sind solche soziologischen Erklärungen lediglich sekundär. Die Notwendigkeit einer freiwilligen Ordnung und der abgesicherten Möglichkeiten für den einzelnen, seiner Individualität Ausdruck zu verleihen, sprechen auf kraftvolle Weise für sich selbst.“25

Man könnte den Rückgriff auf die Selbstevidenz als eine Art Notbremse des Kommunitariers vor dem Schritt zum normativen Universalismus ansehen. Einschränkend ist aber festzuhalten, dass diese Überlegung nur für relativ wenige Restproblematiken gilt, die in einem weltweiten Diskurs nicht zu klären sind. Das heißt, das Argument der Selbstevidenz greift nicht ständig in den moralischen Alltag jedes einzelnen durch, wie das etwa bei einem Existentialismus des Sartreschen Typus der Fall wäre, sondern soll nur im anders nicht zu klärenden Fall als haltbietende intuitive Lösung verwendet werden. Auch hier gilt das Prinzip der normativen Sparsamkeit: Moralische Ordnung und Autonomie in einem ausgewogenen Verhältnis sind die letzten Werte, wozu als Voraussetzung, d. h. als abgeleiteter oder sekundärer Wert ein Mindestmaß an sozialer Gerechtigkeit gehört. Gleichheit dagegen kann schon deshalb kein Grundwert sein, weil Autonomie als grundlegend betrachtet wird. Da ich von dem Argument der Selbstevidenz bzw. moralischen Intuition nicht überzeugt bin, obwohl es ein außerordentlich hohes Ansehen in der einschlägigen Literatur des 20. Jahrhunderts genießt, komme ich zu dem Ergebnis, dass Etzioni zwar die globale Gemeinschaft als Grenzmaßstab und übergreifendes Moralkriterium in Erwägung gezogen hat, aber aufgrund der realen Nichtexistenz dieser Gemeinschaft diese Lösung verworfen und durch die Intuition ersetzt hat. Die Kantische Lösung, diese Nichtexistenz prospektiv als Noch-Nichtexistenz, d. h. als Aufgabe der Verallgemeinerung zu denken, hat er nicht gewählt, weil damit für einen soziologischen Neofunktionalisten, der er ja ist, die aktive Herstellung und Herbeiführung einer Weltgesellschaft verbunden sein müsste. Sein Denkmodell würde eine solche Weltgesellschaft unter größtmöglicher Erhaltung von Partikularitäten in einem generalisierten Rahmen aber durchaus als lebbares Konzept erscheinen lassen können. V. Schluss Ich fasse zusammen: Kommunitarisches Denken des Etzionischen Typus möchte vorhandene Differenzen, Besonderheiten und Partikularitäten nach Möglichkeit erhalten, sympathisiert also mit ihnen, gibt aber der Anwen25

Ebd., S. 311.

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dung globaler Maßstäbe im Zweifels- und Konfliktfalle, also in allen wichtigen Fällen, eindeutig den Vorrang. Gleichzeitig wird die tiersmondistische Sorge, man würde westliche Werte unzulässig verallgemeinern, entschieden zurückgewiesen: für Etzioni ist es „irrelevant, woher Werte kommen. Die eigentliche Frage lautet, ob sie gerechtfertigt werden können oder nicht. [. . .] Werte können nicht von geographischen Faktoren abhängig gemacht werden.“26 Natürlich wird eine Hermeneutik des Verdachts hier nichts weiter als eine vielleicht etwas moderatere Spielart des westlichen Universalismus aufspüren können. Oder anders ausgedrückt: es handelt sich um einen Kommunitarismus mit starken liberalen Elementen, was aber dem Selbstverständnis dieses Denkens, eine Option innerhalb moderner liberaler Denktraditionen und Gesellschaften zu sein, vollkommen entspricht.27 Somit ergibt sich: alle drei von mir hier vorgestellten und diskutierten Spielarten kommunitarischen Denkens sind weltgesellschaftskompatibel und nehmen die einem faktischen Globalisierungsprozess entsprechenden normativen Universalisierungsschritte vor. Joas beschäftigt sich dabei mit dem nichtrationalen Weg und liefert insofern das gewiss riskanteste Modell. Walzer wählt den evolutionär-schrittweisen Weg, ähnlich wohl der Popperschen Denkmethode der Stückwerkstechnologie, wodurch er sich ein Abgrenzungsproblem zwischen Rechtfertigungskontext und Entdeckungskontext seiner normativen Grundsätze einhandelt. Etzioni schließlich skizziert eine doppelseitige Herangehensweise: parallel zu Walzers Ansatz werden von Fall zu Fall, nämlich beim Aufeinandertreffen verschiedener Denkkonzepte, Verallgemeinerungsschritte nötig. Je weiter der Generalisierungskreis gezogen wird, als desto höher kann der Legitimationsgrad gelten. Die letzte, zumindest von der Eleganz des Arguments nahegelegte Verallgemeinerung einer globalen Legitimation allerdings weist Etzioni mit Argumenten des skeptischen Typus zurück und legt stattdessen den argumentativen Notausgang der Selbstevidenz bzw. der moralischen Intuition nahe. Das kann man als enttäuschend oder als Ausdruck intellektueller Redlichkeit, fast als Ratlosigkeit werten. Keine der drei Denkmöglichkeiten ist perfekt durchgeführt und in sich stringent. Aber sie genügen meiner Ansicht nach, um die These zurückzuweisen, die einzig angemessene normative Konzeption für eine weltgesellschaftliche Entwicklung sei der konsequente Individualismus, denn es dürfte evident sein, dass auch in einer Weltgesellschaft Gruppen, Untergruppen und Sondergruppen eine wichtige Rolle spielen werden und schon deshalb eine normative Reflexion sich damit befassen muss, wie diese begrenzt, be26

Ebd., S. 299. Vgl. dazu Etzionis Selbstcharakteristik als kommunitarischen Liberalen in meinem Interview mit ihm in: Reese-Schäfer 2001, S. 134. 27

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gründet und bewertet werden kann. Normativ gesehen, ist die Weltgesellschaft also auch dann denkbar und vorstellbar, wenn wir nicht nur von den vereinzelten Einzelnen ausgehen. Oder, in der Sprache einer anderen Zeit, nämlich der Jean-Paul Sartres: die Weltgesellschaft ist auch vorstellbar, ohne den normativen Preis einer Serialität der atomisierten Individuen28 zahlen zu müssen. Neben diesem Argument der atomisierten Individualität spricht noch ein zweites für den kommunitarischen Denkweg: auch wenn die liberal-individualistische Argumentation in sich einigermaßen stringent universalisierbar zu sein scheint, so kann sie doch die entscheidende Frage nicht beantworten, was zu normativ richtigem Verhalten motivieren kann. Eine Theoriekonzeption aber, die die Motivationsfrage nicht zu lösen vermag, bleibt bei der Ohnmacht des bloßen Sollens stehen.29 Literatur Axelrod, Robert, Die Evolution der Kooperation, 5. Aufl., München 2000 (zitiert: Axelrod 2000). Berman, Paul, A Tale of Two Utopias. The Political Journey of the Generation of 1968, New York/London 1996 (zitiert: Berman 1996). Etzioni, Amitai, Die Verantwortungsgesellschaft. Individualismus und Moral in der heutigen Demokratie, Frankfurt (Main)/New York 1997 [zuerst als The New Golden Rule. Community and Morality in a Democratic Society, New York] (zitiert: Etzioni 1997). Gutschker, Thomas, Aristotelische Diskurse. Aristoteles in der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, Stuttgart/Weimar 2002 (zitiert: Gutschker 2002). Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Wissenschaft der Logik, Theorie-Werkausgabe, hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 5, Frankfurt 1970 (zitiert: Hegel 1970). Heine, Heinrich, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Klaus Briegleb, Bd. 4, München 1977 (zitiert: Heine 1977). Höffe, Otfried, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München1999 (zitiert: Höffe 1999). Joas, Hans, Die Entstehung der Werte, Frankfurt/Main 1997 (zitiert: Joas 1997). Kant, Immanuel, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, [zuerst 1784], in: Ders.: Werke in zwölf Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 11, Frankfurt/ Main 1977, S. 53–61 (zitiert: Kant 1977). Kraushaar, Wolfgang, Die erste globale Revolution, in: Ders.: 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, Hamburg 2000, S. 19–52 (zitiert: Kraushaar 2000). 28 29

Sartre 1967, S. 270 ff. Vgl. Hegel 1970, S. 265.

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Walter Reese-Schäfer

Reese-Schäfer, Walter, Ein kritischer Exkurs zum Gemeinschaftsbegriff in den USA und Europa: Von Tönnies über Parsons zu Plessner und Sennett, in: Ders.: Grenzgötter der Moral. Der neuere europäisch-amerikanische Diskurs zur politischen Ethik, Frankfurt/Main, S. 418–435 (zitiert: Reese-Schäfer 1997). – Kollektive Ekstasen, Wertvorstellungen und Menschenrechtsnormen. Rezensionsessay zu Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Soziologische Revue 21 (1998), 3, S. 281–289 (zitiert: Reese-Schäfer 1998). – Politische Theorie heute. Neuere Tendenzen und Entwicklungen, München und Wien 2000 (zitiert: Reese-Schäfer 2000). – Amitai Etzioni zur Einführung, Hamburg 2001 (zitiert: Reese-Schäfer 2001). Sartre, Jean-Paul, Kritik der dialektischen Vernunft, 1. Bd.: Theorie der gesellschaftlichen Praxis, Reinbek 1967 (zitiert: Sartre 1967). Tönnies, Ferdinand, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, [zuerst 1887], Neudr. der 8. Aufl. 1935, 2. unveränd. Aufl., Darmstadt 1988 (zitiert: Tönnies 1988). Walzer, Michael, Gibt es den gerechten Krieg?, Stuttgart 1982 (zitiert: Walzer 1982). – Lokale Kritik – globale Standards. Zwei Formen moralischer Auseinandersetzung, Hamburg 1996 (zitiert: Walzer 1996).

Die Demokratie-Kompetenz der Konfliktfähigkeit – lässt sie sich messen? Sibylle Reinhardt I. Kompetenzen Lehr- und Lernprozesse werden heutzutage in erster Linie auf ihre nachweisbaren Ergebnisse hin betrachtet. Spätestens seit der PISA-Studie von 20001 wird auch in der Öffentlichkeit gefragt, welche Lernerfolge das Bildungssystem aufzuweisen hat, und es wird jetzt weniger gefragt, von welchen Zielen der Unterricht in der Schule gesteuert werden soll. Die Umstellung von der Input- auf die Output-Perspektive kann auch als Wechsel von der Orientierung an Qualifikationen zur Orientierung an Kompetenzen bezeichnet werden. Im Ergebnis bedeutet das, dass nicht nur sinnvolle Ziele für das Lernen entworfen, sondern auch Instrumente angegeben werden müssen, mit deren Hilfe die Erreichung dieser Ziele gemessen werden kann. Kompetenzen sind durch vier Merkmale charakterisiert2: (1) Sie sind zur Bewältigung domänenspezifischer Aufgaben nötig. Sie müssen also der Eigenart der Domäne gerecht werden und deshalb auch normative Vorstellungen enthalten. Sie sind keine allgemeinen und fächerübergreifenden Qualifikationen. (2) Die Kompetenzen sind Fähigkeiten und Fertigkeiten von Personen, sie müssen gelernt werden. (3) Sie sind komplex, weil sie nicht nur kognitive Komponenten enthalten, sondern auch emotionale, wertende und pragmatische Fähigkeiten und Bereitschaften erfassen. (4) Ihre Ausprägungen lassen sich in Stufen oder Niveaus beschreiben, die messbar sein müssen. Kompetenzen beschreiben also sowohl eine auch normativ verantwortbare Zielvorstellung von dem Umgang mit der Domäne als auch Möglichkeiten der Operationalisierung für empirische Forschung zu Lehr-/Lernprozessen und zur Lernprogression.3 Die Angabe von Teilkompetenzen, die Demokratie-Lernen ausmachen können, sollte drei Kriterien genügen können. Zum einen muss der Charakter des Politischen, also die Eigenart der Sache, angemessen erfasst werden. 1 2 3

Baumert u. a. 2001. Vgl. Weinert 2001. Vgl. auch Klieme u. a. 2003.

502

Sibylle Reinhardt

Zum zweiten muss der Prozess des Lernens, die Entwicklung des Lernens, sichtbar werden. Und schließlich muss drittens über die Verknüpfung mit vorhandener empirischer Forschung die Chance kumulativen Arbeitens eröffnet werden. II. Demokratie-Lernen In einer Expertise für die KMK haben Behrmann, Grammes und ich fünf Teilkompetenzen von Demokratie-Lernen vorgeschlagen4: 1. Perspektivenübernahme/Rollenübernahme: Kompetenz zur Wahrnehmung und Übernahme der Handlungsperspektiven Anderer, auch Dritter, zum Wechsel der eigenen Perspektive, zur Vermittlung des Eigeninteresses mit den Interessen Nah- und Fernstehender und dessen Ausweitung in Richtung auf allgemeinere Interessen. 2. Konfliktfähigkeit: Kompetenz zur diskursiven Klärung konkurrierender und konfligierender Ideen und Interessen und zum Aushandeln von Konfliktregelungen und -lösungen. 3. Sozialwissenschaftliches Analysieren: Kompetenz zur problemorientierten Analyse struktureller Bedingungen und institutioneller Ordnungen sozialen, insbesondere politischen und wirtschaftlichen Handelns, und zum Gebrauch sozialwissenschaftlicher Begriffe und Methoden. 4. Politisch-moralische Urteilsfähigkeit: Kompetenz zur Einschätzung und Bewertung gesellschaftlicher Problemlagen, politischer Forderungen, Handlungschancen und Alternativen sowie zum reflektierten Gebrauch von Urteilskriterien. 5. Partizipation/politische Handlungsfähigkeit: Kompetenz zur Beteiligung an bürgerschaftlicher Selbstverwaltung, sozialen und politischen Initiativen, innerbetrieblicher und -organisatorischer Mitbestimmung, informellen und formalisierten Prozessen öffentlicher Meinungs- und Willensbildung. Während für die Kompetenzen der Perspektivenübernahme, des Analysierens, des Urteilens und der Partizipation durchaus Forschungen aus ganz verschiedenen Traditionen und Wissenschaften vorliegen, die zwar nicht durchweg fachbezogen entworfen worden sind, aber doch wertvolle Hinweise geben können5, ist dies für die Konfliktfähigkeit nicht der Fall. Das ist umso bedauerlicher, als diese Kompetenz zum Gegenstand „Demokratie“ die größte Homologie aufweist und vermutlich im Lernprozess 4 5

Behrmann/Grammes/Reinhardt 2004, S. 337. Vgl. Reinhardt 2004.

Die Demokratie-Kompetenz der Konfliktfähigkeit – lässt sie sich messen? 503

die größten Herausforderungen stellt. Deshalb wird hier dieser Kompetenz nachgegangen. Politik in einer Demokratie bringt Entscheidungen hervor, die die gemeinsame Regelung gemeinsamer Angelegenheiten ergeben sollen. Dies ist ein sehr komplexer Prozess, in den ungemein viele Interessen- und Wertekonflikte eingehen können. Konflikt und Konsens sind dabei aufeinander verwiesen, weil nur über das Austragen von Konflikten die Chance auf gemeinsame Lösungen – und sei es auf Zeit – besteht. Die Vernetztheit der Erscheinungen und Probleme kann zur Intransparenz beitragen, so dass die dynamischen Vorgänge schwer zu verstehen sind. Bearbeitet werden in der Politik unbefriedigende Zustände, die zumindest von einem Teil der Bürger als Probleme definiert werden. Es geht also um kontroverse und belastende Vorgänge, bei denen es selten klare und sichere Lösungen gibt.6 Demokratie-Lernen beinhaltet also hohe kognitive Anforderungen, das Ertragen von emotionalen Zumutungen, den Erwerb pragmatischer Fähigkeiten und die Ausbildung verantwortbarer moralischer Bezugspunkte. Der Entwicklungspsychologe Oerter betont, dass hierfür nicht allein die Entwicklung formaler logischer Fähigkeiten (im Sinne von Piaget) und postkonventioneller moralischer Urteilsfähigkeit (im Sinne von Kohlberg) ausreichen, sondern dass dialektisches Begreifen notwendig ist. „Eine besondere Form jenseits des formal-logischen Denkens ist das dialektische Denken.“7 Die Bearbeitung sozialer Widersprüche, die sich nicht logisch auflösen lassen, bedarf auch anderer Wege als der Abstraktion und Universalisierung, so schwierig diese Operationen auch sind. Oerter stellt denn auch fest, dieses dialektische Denken werde im Jugendalter noch kaum beobachtet. Deshalb ist es umso wichtiger, ein Konzept zur Entwicklung dieser Konfliktfähigkeit zu entwickeln und der empirischen Forschung zugänglich zu machen. Dieses Lernen von Demokratie drängt sich nicht durch alltägliche Lernprozesse auf. Während Rollen des sozialen Nahraums, des Berufs oder des Wirtschaftslebens unvermeidbar sind und durch Mitleben zu einem Teil gelernt werden können, gilt dies nicht für das politisch-demokratische Teilsystem dieser Gesellschaft – Demokratie drängt sich nicht auf, sondern muss aktiv gesucht werden. „Wünschenswerte und für die Stabilität einer Demokratie zentrale politische Orientierungen entstehen [. . .] nicht naturwüchsig, sie ergeben sich nicht als selbstverständliches Korrelat des politischen Systems.“8 Die allgemein bildende Aufgabe, dass Demokratie als faktisches 6 7 8

Vgl. Schulze 1977, S. 26 f.; Detjen 2004, S. 53 f. Oerter 1997, S. 35. Fend 1991, S. 197.

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Sibylle Reinhardt

und normatives System sich in den Kompetenzen ihrer Staatsbürger spiegeln sollte, muss von den Institutionen des allgemeinen Bildungssystems besorgt werden. III. Konfliktfähigkeit Die Konflikthaltigkeit der Sache, also der politischen Demokratie, wird in der Teilkompetenz der Konfliktfähigkeit erfasst. Diese Teilkompetenz lässt sich am ehesten aus der Fähigkeit zur Perspektiven- bzw. Rollenübernahme entfalten: Für gesellschaftliche und auch politische Interaktionen ist die Koordination unterschiedlicher Sichtweisen elementar. In der soziologischen Tradition wird Rollenübernahme als Voraussetzung für Interaktionen entwickelt,9 in der sozialpsychologischen Tradition ist die Übernahme der Perspektiven anderer wesentlich für die Konstruktion einer gemeinsamen Sicht.10 Für politisches Urteilen und Handeln ist Perspektiven-/Rollenübernahme unerlässlich, weil aus unterschiedlichen sozialen Lagen und Erfahrungen unterschiedliche Perspektiven resultieren. Politische Entscheidungen betreffen immer viele Subjekte und Strukturen und setzen deshalb ihre kognitive Repräsentanz für den Fall (annähernd) integrierender Beschlüsse voraus. Nicht nur der signifikante andere geht in die Interaktion ein, sondern der generalisierte andere ermöglicht die gemeinsame Definition der Situation, die mit Hilfe einer Orientierung am universalisierten anderen einer kritischen Prüfung unterzogen werden kann. Eine Erweiterung der Perspektiven – über die eigene Person und die eigene Nahgruppe hinaus – ergibt und setzt voraus die Anerkenntnis des Andersartigen und die Akzeptanz des Konflikts. Differenzen in Lage, Wahrnehmung, Interesse, Lebensgeschichte und Werten ergeben nicht nur interessante Vielfalt, sondern unter Umständen massive Konflikte um die Ressourcen der Lebenssicherung und um die Anerkennung der je eigenen Lebensform.11 Den Austrag der Konflikte gilt es zu kanalisieren durch Institutionen und zu zivilisieren im Umgang der Konfliktgegner oder -parteien. Eine pluralistische Gesellschaft erringt ihre notwendige Integration nicht nur durch bloße Überlieferung bestimmter Werte und Institutionen, sondern sie kommt zum Konsens häufig nur über den Streit. Streitkultur meint auf der Seite der Subjekte den zivilen Umgang mit Kontroversen und also auch den Verzicht auf Gewalt. Dieser Verzicht setzt auf der Seite der Institutionen ein funktionierendes Regel- und Sanktionssystem voraus, wozu auch das staatliche Gewaltmonopol gehört, damit zivil Streitende nicht zum Opfer von Übergriffen werden. 9

Siehe: Mead 1934; Krappmann 1971. Siehe: Selman 1984. 11 Vgl. Honneth 1994. 10

Die Demokratie-Kompetenz der Konfliktfähigkeit – lässt sie sich messen? 505

IV. Stufen, Niveaus der Konfliktfähigkeit: Person – Institution – System Die Ausbildung der Konfliktfähigkeit wie auch die Entwicklung der anderen Teilkompetenzen verläuft – so mein Vorschlag – in drei Stufen bzw. Niveaus: Das elementare Niveau zentriert um die Situation und das Handeln einer bestimmten Person und ihre Bedürfnisse bzw. die ihres sozialen Nahraums. Die Welt wird von hier aus erschlossen, z. B. werden Politik und Staat personalisiert. Auf dieser Ebene sozialen Umgangs sind situationskluge Verfahren z. B. der Streitschlichtung, der Mediation anzustreben. Auf einem mittleren Niveau werden die eigene Person und der soziale Nahraum in den Zusammenhang von personenübergreifenden Regeln und Institutionen eingebettet, die nicht nur unter der Eigenperspektive assimiliert werden, z. B. wird der Sinn strafrechtlicher Regelungen für das gesellschaftliche Zusammenleben geprüft. Auf dieser Institutionenebene geht es um Formen der kollektiven Willensbildung und Entscheidungsfindung wie z. B. die Verfahren parlamentarischer Willensbildung, der rechtlichen Urteilsfindung, der sozialen Marktwirtschaft, demokratischer Öffentlichkeit und internationaler Konfliktschlichtung. Das höchste Niveau der Kompetenz erfasst systemische Zusammenhänge und ihre Beurteilung unter übergreifenden Kriterien bzw. als Meta-Kompetenz die Fähigkeit zur Reflexion auf die Angemessenheit von Analyse und Urteil. Auf dieser Systemebene geht es um die Gesamtheit von Zusammenhängen und ihre sozialwissenschaftliche Erkenntnis sowie um die Verfahren der Gewinnung von intersubjektiv gültigen Aussagen.12 Die Einordnung des Einzelnen in einen institutionellen, den Nahraum überschreitenden Zusammenhang ist für sein Überleben und für ein vielleicht gutes Leben notwendig, sodass er mit gegebenen Regeln umgehen können muss. Aber die distanzierte urteilende Übersicht über die Strukturen und ihre Handlungslogiken – eine Voraussetzung für politisches Urteilen und verantwortungsvolles politisches Handeln – ist nicht automatisch impliziert. Im sozialen Leben kann der Einzelne sich auf den Nahraum seiner Herkunft oder Zugehörigkeit beschränken. Primärgruppen, also Gemeinschaften, geben Halt und Sinn. Ihre Verankerung in oder Gefährdung durch gesellschaftlichen Wandel und Strukturen von Ungleichheit wird subjektiv erfahren oder erlitten, aber nicht unbedingt begriffen. Globalisierung ist die jüngste Erweiterung eines Prozesses von Internationalisierung und Interdependenz, der zwar nicht neu ist, aber neue Qualitäten gesellschaftlicher Ent12

Vgl. auch Behrmann/Grammes/Reinhardt 2004, S. 355.

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Sibylle Reinhardt

wicklungen hervorbringt. Ein Begreifen gesellschaftlicher Prozesse auch des Nahraums, das den Individuen ein Verorten in den Vorgängen von Pluralisierung und Individualisierung ermöglichen könnte, setzt also nicht nur die Eingliederung in Gemeinschaften voraus, sondern auch die Fähigkeit zur Einbettung in die Gesellschaft (z. B. die Reflexion und Mitwirkung eines konfessionell gebundenen Christen in einem Dialog von Kulturen oder die kooperierende Integration der Angehörigen unterschiedlicher Ethnien – bei allen Differenzen). Die Stufung enthält also die Trias Person (Bedürfnis, Nahraum, sozialer Umgang) – Institution (Regeln, Teilsysteme, Logiken) – System (Reflexion, Sozialwissenschaften). Die Entwicklung, die sich in dieser Abfolge zeigt, ist entweder lediglich empirisch gegeben und beschrieben (dies ist plausibel für die Kompetenz des sozialwissenschaftlichen Analysierens) oder sie erfasst primär bzw. zugleich eine struktur-genetische Entwicklung (dies ist plausibel für die Kompetenz der Perspektivenübernahme). Diese Alternative kann hier undiskutiert bleiben. Teilsysteme wie das der Politik oder der Wirtschaft sind einerseits gegebene Größen, die aber andererseits – entsprechend der subjektiven Kompetenzstufe – im Handeln der Individuen eine unterschiedliche Gestalt annehmen können. So kann das demokratische System auf der Ebene von Person und Bedürfnis im Eigeninteresse (aus-)genutzt werden, ohne dass die Wertorientierungen der Demokratie geteilt werden. Ein „rechter“ Weg zur Politik in einer Teilgruppe von Jugendlichen ergibt hohes politisches Interesse und inhaltlich entschiedene Beteiligung für rechte Parteien, ohne dass der fundierende Wert der Gleichachtung der Würde aller Menschen akzeptiert wird.13 Demokratie-Lernen meint deshalb nicht nur das Handhaben der Mechanismen, sondern auch den Erwerb von Einsichten und Überzeugungen. Wiederum scheinen bei anderen Jugendlichen pro-soziale Einstellungen, die die Chance der Werte-Generalisierung eröffnen können, die Akzeptanz und das Begreifen von Konflikten zu hindern.14 In vergleichbarer Weise genügt für die subjektive Teilnahme am wirtschaftlichen Prozess das Verfolgen des Eigeninteresses im Rahmen der gegebenen Strukturen. Sowohl als Konsument als auch im Beruf kann der Einzelne dann häufig erfolgreich handeln. Aber die gesellschaftlich-politischen Entscheidungen über diesen Rahmen (kulturell definierte Sitten, politisch entschiedene Bedingungen) setzen mehr als geglückte Anpassung voraus, nämlich Einsicht in die Strukturen und ihren Sinn oder Un-Sinn. Dabei muss der wirtschaftliche Bereich mit gesellschaftlichen Vorgängen (als 13 14

Vgl. Krüger/Reinhardt u. a. 2002, S. 54–59. Vgl. weiter unten.

Die Demokratie-Kompetenz der Konfliktfähigkeit – lässt sie sich messen? 507

Folgen und Voraussetzungen) und mit der Eigenart des politischen Systems vernetzt werden – und vice versa. Nicht nur die jeweiligen normativen Ideen der gesellschaftlichen Teilsysteme, auch ihre Funktions- und Handlungslogiken bedürfen für ihren Bestand und für ihre Weiterentwicklung der aufgeklärten Bürger und Bürgerinnen, deren Demokratie-Kompetenzen erst auf dem anspruchsvollsten Niveau das subjektive Korrelat der Systeme darstellen können. V. Was wissen wir? Die Koordination menschlichen Handelns verlangt die Fähigkeit der Perspektivenübernahme nicht nur für den Fall der konsensuellen Definition einer Situation, sondern ebenso für den Fall von Konflikten. Die Fähigkeit zum zivilen Austragen von Konflikten, die als notwendiges und dynamisches Strukturmerkmal von Gesellschaften einzuordnen sind, hat eine andere Qualität als das harmonische Sich-Einlassen auf andere.15 Wir wissen nicht viel über den Lern- bzw. Entwicklungsprozess der Teilkompetenz Konfliktfähigkeit. Die wenigen – teils sehr irritierenden – Bruchstücke trage ich hier zusammen und möchte damit deutlich machen, dass wir dringend weitere Forschung benötigen, für die ich dann im letzten Teil erste Vorschläge für Operationalisierungen mache. In der Sachsen-Anhalt-Studie16 wurde die Frage gestellt: „Wenn alle Parteien zusammen die Regierung bilden würden, was wäre dann der schlimmere Nachteil für die Demokratie?“17 80 Prozent der ca. 1.400 befragten Schülerinnen und Schüler der Klassen 8, 9 und 11 entschieden sich für die Antwort, „dass es innerhalb der Regierung ständig zu Streitereien und Zank zwischen den Angehörigen der einzelnen Parteien käme“, und lediglich 20 Prozent benannten als Nachteil, „dass im Parlament nicht mehr so viel Kritik an der Arbeit der Regierung geübt würde“. Hier kommt sehr deutlich ein Nicht-Akzeptieren von Konflikten zum Ausdruck. Offensichtlich werden Konflikte eher gleich gesetzt mit Zankerei und unproduktivem Streit und weniger mit konfliktreichem Ringen um legitime Antworten. Dieses Ergebnis steht neben anderen, die ähnlich zu interpretieren sind (s. Abb. 1). Die Hälfte der befragten Schülerinnen und Schüler spricht sich gegen die Auseinandersetzungen zwischen den Interessengruppen aus, weil dies dem Allgemeinwohl schade. Pluralismus als zentrales Strukturmerkmal der Moderne, der sich in politischen Auseinandersetzungen äußern muss, wird 15 16 17

Vgl. auch Westle 1999, S. 305. Krüger/Reinhardt u. a. 2002, S. 62. Fend 1991, S. 174, hier nur zwei Antwortvorgaben.

508

Sibylle Reinhardt

Inwieweit stimmen Sie mit den folgenden Aussagen überein? (trifft gar nicht zu, trifft eher nicht zu, trifft eher zu, trifft vollkommen zu)

Die Interessen des ganzen Volkes sollten immer über den Sonderinteressen des Einzelnen stehen.

73,3

Aufgabe der politischen Opposition ist es nicht, die Regierung zu kritisieren, sondern sie in ihrer Arbeit zu unterstützen.

69,2

Die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Interessengruppen in unserer Gesellschaft und ihrer Forderungen an die Regierung schaden dem Allgemeinwohl.

50,2

0

10

20

30

40

50

60

70

80

Frage 1–3: Zustimmung in Prozent (trifft eher zu + trifft vollkommen zu)

Quelle: Projekt „Jugend und Demokratie in Sachsen-Anhalt“ – Schülerbefragung 2000 (Reinhardt/Tillmann in Krüger/Reinhardt u. a. 2002, S. 61) (Frageformulierungen aus Meulemann 1996, S. 100 – nach Bauer-Kaase)

Abbildung 1: Konflikte in Staat und Gesellschaft

offensichtlich als störend bei der „Vereinheitlichung“ und „Harmonisierung“ des Lebens empfunden. Auch wird die Aufgabe der Opposition nicht mit Kritik in Verbindung gebracht, sondern zwei Drittel der Befragten fordern, sie solle die Regierung unterstützen. Neben eine weit verbreitete anti-pluralistische Einstellung tritt ein gravierendes Missverstehen des parlamentarischen demokratischen Systems. Schließlich möchten drei Viertel der Befragten die Interessen des ganzen Volkes immer über die Sonderinteressen der Einzelnen stellen. Auch hier wird ein Konflikt- und Spannungsmoment „bereinigt“, indem die Seite des „Ganzen“ über die „Einzelnen“ gestellt wird. Auseinandersetzungen, Kritik und Einzelinteressen werden weitgehend negativ eingeschätzt, was den Strukturen demokratischer Systeme nicht gerecht wird. Demokratische Systeme sind im Gegenteil gekennzeichnet durch die Legitimität von Interessenkonflikten, durch ihren geregelten Austrag und durch die Konkurrenz von Parteien und Interessen(-gruppen). Konflikte stören und verstören offensichtlich. Die Suche nach Klarheit und Eindeutigkeit wird dagegen gesetzt. Das wirft natürlich die Frage auf,

Die Demokratie-Kompetenz der Konfliktfähigkeit – lässt sie sich messen? 509

welche Entwicklungs- und Lernprozesse das Verständnis für Konflikte fördern könnten. Häufig wird in die Entwicklung pro-sozialer Einstellungen große Hoffnung gesetzt. Dazu haben wir in der Sachsen-Anhalt-Studie den Zusammenhang zwischen den Antworten auf Konfliktfragen und der erklärten Prosozialität untersucht: (Eine Faktorenanalyse ergab, dass bestimmte Werte einen gemeinsamen Faktor bilden, den wir „Prosozialität“ genannt haben.) Es zeigt sich das äußerst irritierende Ergebnis, dass die Frage nach der Aufgabe der Opposition (sie sollte nicht die Regierung kritisieren, sondern unterstützen) die höchste Zustimmung bei den Befragten findet, die besonders hohe Prosozialitätswerte aufweisen. Konfliktabwehr geht also mit der höchsten erklärten Prosozialität einher. Auch Aussagen zu Interessen des ganzen Volkes versus Sonderinteressen des Einzelnen und zu Auseinandersetzungen zwischen Interessengruppen als schädlich zeigen dieselbe Richtung: Prosozialität übersetzt sich offensichtlich nicht in die Akzeptanz von Konflikten als zentralem Strukturmerkmal des demokratischen politischen Systems (s. Abb. 2). Wie lässt sich dieser Befund erklären? Ich bin relativ sicher, dass für die Entwicklung von Demokratiekompetenzen die Ausbildung von Prosozialität (und zwar über die eigene Nahgruppe hinaus in Richtung auf generalisierte Gleichheitswerte) wichtig ist. Aber ganz offensichtlich muss irgendeine Art Brechung, irgendeine Art Transformation von Prosozialität passieren. Fast könnte man meinen, die Prosozialität stehe dem Konfliktverständnis im Wege – jedenfalls solange sie auf harmonisches Miteinander und direkte persönliche Austausch- und Aushandlungsprozesse beschränkt ist. Es wäre wichtig, mehr zu wissen zu der Frage: Wie hängt demokratische Konfliktfähigkeit mit Prosozialität zusammen? Stört die eine Kompetenz die andere oder muss die eine erst ausgebildet sein und dann irgendwie transformiert werden in Richtung auf die andere? Ergebnisse und Interpretationen, die ebenfalls auf die Differenz von Nahraum und politischem System aufmerksam machen, sind im Deutschen Institut für Pädagogische Forschung (DIPF) erarbeitet worden. Breit und Eckensberger18 haben in ihren Forschungen zur handlungstheoretischen Rekonstruktion der Entwicklung des moralischen Urteils herausgefunden, dass die Entwicklung auf einer interpersonalen Ebene von Polis und Gemeinschaft zwar die Voraussetzung für die Entwicklung des Urteils auf der transpersonalen Ebene ist, aber keineswegs automatisch den Schritt zur Komplexität funktionaler und rechtsstaatlicher Prinzipien formaler Institutionen verbürgt.19 Abs, Diedrich, Klieme20 haben die Metaphern für „De18 19 20

Breit/Eckensberger 2004, S. 7 u. S. 9. Vgl. auch Eckensberger 1998. Vgl. Abs/Diedrich/Klieme 2004, S. 4. u. S. 5; Abs 2005, S. 121 f.

510

Sibylle Reinhardt „Die Interessen des ganzen Volkes sollten immer über den Sonderinteressen des Einzelnen stehen“ „Aufgabe der politischen Opposition ist es nicht, die Regierung zu kritisieren, sondern sie in ihrer Arbeit zu unterstützen“ „Die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Interessengruppen in unserer Gesellschaft und ihre Forderungen an die Regierung schaden dem Allgemeinwohl“

Mittelwert Prosozialität 5

4

3,9

3,9 3,9

3,9 4,0 4,0

4,0 4,0

4,1

4,1 4,1

4,1

3

2

1 Präferierte Kategorie:

„trifft gar nicht zu“

„trifft eher nicht zu“

„trifft eher zu“

„trifft vollkommen zu“

Quelle: Projekt „Jugend und Demokratie in Sachsen-Anhalt“ – Schülerbefragung 2000 (Krüger/Reinhardt u. a. 2002) (Frageformulierungen aus Meulemann 1996, S. 100 – nach Bauer-Kaase) (Prosozialitätsindex aus der Sachsen-Anhalt-Studie; vgl. Reinhardt/Tillmann, in: Krüger/Reinhardt u. a. 2002, S. 71: „Bitte geben Sie zu jeder Verhaltensweise auf der folgenden Liste an, wie wichtig es für Sie persönlich ist, so zu sein oder sich so zu verhalten.“ (Überhaupt nicht wichtig = 1, nicht so wichtig, schwer zu sagen, wichtig, sehr wichtig = 5) – – – –

Anderen Menschen helfen Im Streitfall einen Ausgleich suchen Alle Menschen gleichberechtigt behandeln Soziale Unterschiede zwischen Menschen abbauen

– Rücksicht auf andere nehmen – Im Umgang mit andern fair sein – Gerecht sein

Abbildung 2: Prosozialität und Demokratieverständnis

Die Demokratie-Kompetenz der Konfliktfähigkeit – lässt sie sich messen? 511

mokratie“ untersucht, die Lehrerinnen und Lehrer, die am BLK-Programm „Demokratie lernen und leben“ teilnehmen, benutzen. Dabei stellte sich heraus, dass Demokratie stärker auf gemeinschaftliche Werte als auf gesellschaftliche Rechte bezogen wird. Die Autoren formulieren die Befürchtung: „Gerade wenn man in einem gemeinschaftlichen Raum primär interaktive Konfliktlösungsmechanismen gelernt hat, sind Strategien und Zwänge politischer Machtausübung schwer zu akzeptieren und führen leicht zu Enttäuschungen über die Funktionsweise formaler Institutionen.“21 Wir wissen also nicht viel über die Entwicklung der Konfliktfähigkeit. Deshalb wäre es nötig, die Ausbildung der Kompetenz empirisch zu erfassen, und zwar nicht nur für die Beschreibung eines Ist-Zustandes, sondern auch für die Untersuchung von Zusammenhängen mit Variablen wie z. B. der Interaktionsstruktur im Unterricht. Im Folgenden werden Vorschläge für die Operationalisierung zusammengestellt. VI. Instrumente: Operationalisierungen von Konfliktfähigkeit Die Stufung der Kompetenz war oben auch als Mehrebenen-Modell formuliert worden. Dieser Grundgedanke leitet die Unterteilung der Instrumente als zu drei Ebenen zugehörig, einer Mikro-, Meso- und Makroebene. Dabei ist die Mikroebene die Ebene des interpersonalen Austauschs, die Mesoebene betrifft die von Jugendlichen erlebten und erfahrenen Institutionen (wie die Schule), und die Makroebene meint die Ebene gesellschaftlicher Teilsysteme, hier besonders des politischen Systems, also anonymere und komplexere Funktionsbereiche mit ihren Institutionen. Aus der oben genannten Kompetenzstufung wird hier die oberste Stufe von Gesamtsystem, Wissenschaft und Meta-Reflexion erst einmal nicht verfolgt. Diese Ebene müsste in Richtung auf Wissenschaftspropädeutik und umgreifendes Systemdenken instrumentiert werden, wofür es einerseits keinerlei Ansatzpunkte gibt und was andererseits für empirische Messungen – besonders im Jugendalter – kaum positive Ergebnisse erwarten lässt. Es bleibt wiederum hier die Frage offen, ob nicht – da für die Messung eine Meso-Ebene eingezogen wird – eventuell das Kompetenz-Modell eine weitere Stufe enthalten sollte. Sozialwissenschaftlich macht es keinen Sinn, auf der Institutionenebene zu differenzieren, aber für den Lernprozess ist der Unterschied von Erleben und gedanklicher Verarbeitung wichtig. Ich habe die folgenden Untersuchungen geprüft, ob sie – nach dem inhaltlichen Augenschein – Instrumente benutzt haben, die dem Konzept der 21

Breit/Eckensberger 2004, S. 7, ähnlich: Abs 2005, S. 122 f.

512

Sibylle Reinhardt

Konfliktfähigkeit auf den drei Ebenen genügen mögen. Auch hat Dietz22 Sichtungen und Vorschläge geliefert (da die Vorschläge noch nicht empirisch eingesetzt wurden, werden sie hier nicht berücksichtigt): • Anerkennungsprojekt (Helsper/Krüger 2004) • Civic-Education-Studie (Oesterreich 2002) • Demokratie-Verständnis (Westle 1998) • DIPF-Evaluation im BLK-Programm (Diedrich/Abs/Klieme 2004) • DJI-Surveys 1 + 2 (Hoffmann-Lange 1995; Gille/Krüger 2000) • Juniorwahl (Gabriel/Neller/Hanke-Craner 2001) • Konstanzer Längsschnitt (Fend 1991) • Sachsen-Anhalt-Studie (Krüger/Reinhardt u. a. 2002) • Shell-Studie 2002 (Hurrelmann/Albert u. a. 2002) Im Folgenden werden – geordnet nach Mikro-, Meso- und Makroebene – geeignet erscheinende Frageformulierungen aufgeführt, allerdings ohne die Antwortvorgaben und die Herkunftsangaben und unter Umständen etwas verkürzt. Die Details finden sich in der Originalliteratur. Mikro-Ebene: Es geht hier um die „Konflikte zwischen Personen, die sich aus deren alltäglichem Zusammenleben im privaten und beruflichen Bereich ergeben“23. Diese interpersonalen Konflikte bedürfen zu ihrer sinnvollen Bearbeitung kommunikativer Kompetenzen, weil – so Müller-Fohrbrodt – „die Verständigung zwischen den Parteien sowie die Pflege ihrer guten Beziehungen“24 zentral sind. Diese Definition macht deutlich, dass in diesen gemeinschaftlichen Lebenszusammenhängen die Dimension der Beziehung wichtig ist – was bei der Makro-Ebene überhaupt keine Rolle spielen kann. Perspektivenübernahme: „Bei Meinungsverschiedenheiten versuche ich, die Sache aus Sicht aller Beteiligten zu betrachten, bevor ich mich entscheide.“ – Ich glaube, dass jedes Problem zwei Seiten hat, und ich versuche mir beide Seiten anzusehen.“ – „Ich versuche manchmal, meine Freunde besser zu verstehen, indem ich mir vorstelle, wie die Dinge aus ihrer Sicht aussehen.“ – „Bevor ich Leute kritisiere, versuche ich mir vorzustellen, wie es mir ginge, wenn ich an ihrer Stelle wäre.“ – „Wenn ich mich über jemanden aufrege, versuche ich normalerweise erst einmal, mich in seine Lage zu versetzen.“25 22 23 24 25

Vgl. Dietz 2004. Müller-Fohrbrodt 1999, S. 11. Ebd., S. 56. Diedrich/Abs/Klieme 2004, S. 54 [DIPF].

Die Demokratie-Kompetenz der Konfliktfähigkeit – lässt sie sich messen? 513 Interpersonales Verhältnis: Nach einem Einführungsstatement (kurz: Ein Mädchen im Alter der Befragten kommt betrunken nach einer Party nach Hause. Der Vater redet einen Monat lang nicht mit ihr.) werden verschiedene Handlungsmöglichkeiten vorgegeben, die als sehr gute, gute, schlechte, sehr schlechte Idee eingestuft werden sollen, z. B. sie sollte künftig um Erlaubnis fragen, sie sollte sich weigern, mit ihm zu sprechen, sie sollte mit ihm einen Vertrag ausarbeiten.26 Prosozialität: Vgl. das Instrument oben (in Zusammenhang mit Abb. 2)27 Gruppenkonformität/Gewalt: „Um die Ziele und Interessen unserer Gruppe durchzusetzen, pfeifen wir auch schon mal aufs Gesetz.“ – „Wer nicht vollständig mit unserer Gruppe übereinstimmt, ist kein richtiges Gruppenmitglied.“ – „Im letzten Jahr haben meine Freunde und ich uns mit anderen Jugendgruppen geprügelt.“28 Gewalt: „Manchmal muss man sich mit Gewalt wehren.“ – „Wenn mich jemand beleidigt, kann es ihm passieren, dass er sich eine fängt.“ – Manchmal muss ich Gewalt einsetzen, um nicht den Kürzeren zu ziehen.“ – „Wenn es wirklich drauf ankommt, bin ich auch bereit, Gewalt anzuwenden.“29 Einstellungen zu anderen Menschen: „Ich lerne gerne fremde Menschen kennen.“ – „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.“ – „Ich gehe Menschen, die anders sind, aus dem Weg.“ – „Menschen, die Bewährtes in Frage stellen, regen mich auf.“ – „Ich habe feste Meinungen, die ich von Anderen nicht in Frage stellen lasse.“ – Zu diesen Aussagen gibt es jeweils Gegenaussagen, so dass die Befragten sich zwischen den Polen ansiedeln.30 Erfahrungen mit anderen Jugendlichen: „Es interessiert mich nicht, warum andere Menschen etwas wollen.“ – „Ich kann akzeptieren, dass andere Menschen andere Ansichten als ich haben.“ – „Ich setze meine Interessen durch, auch gegen die Interessen von anderen.“ – „Ich versuche, Kompromisse zu schließen.“ „Ich kann mich gut in andere hineinversetzen und verstehen, was sie tun.“ – Es gibt auch hier jeweils Gegenaussagen.31 Selbstwirksamkeitserwartung – Konflikt: „Auch bei schwierigen Konflikten mit Mitschülern kann ich eine Lösung finden.“ – „Ich schaffe es, auch mit schwierigen Mitschülern und Mitschülerinnen gut zurechtzukommen.“32

Meso-Ebene: Es geht hier um Konflikte, die sich im Rahmen einer erlebbaren und demnach durch den Einzelnen mit gestaltbaren Institution abspielen. Das ist für Jugendliche auf jeden Fall die Schule, die einen Doppelcharakter hat: 26 27 28 29 30 31 32

Diedrich/Abs/Klieme 2004, S. 56 [DIPF]. Krüger/Reinhardt u. a. 2002, S. 72 [Sachsen-Anhalt-Studie]. Helsper/Krüger 2004, S. 45 [Anerkennungs-Projekt]. Ebd., S. 85. Oesterreich 2002, Anhang S. 277 [Civic-Education-Studie]. Ebd., S. 275. Diedrich/Abs/Klieme 2004, S. 51 [DIPF].

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Sie ist ein Ort für face-to-face-Interaktionen, ist aber zugleich in anonyme Regelungen (wie das Schulgesetz und Erlasse) eingebunden und enthält intern auch Verfahren repräsentativer Interessenvertretung (für die Jugendlichen ist das die SV) mit formalen Regelungen und größerer Distanz zum einzelnen Individuum. Bei der Sichtung vieler Instrumente aus z. B. der Schulklimaforschung zeigt sich das Problem, dass wichtige und gut erprobte Fragen nicht den theoretischen und praktischen Umgang der Befragten mit Konflikten erfassen, sondern dass nach dem wahrgenommenen Vorkommen in der konkreten Schule bzw. Klasse gefragt wird. Deshalb können diese Fragen keinen Indikator für Konfliktkompetenz abgeben, sondern sie wären der Repräsentant unabhängiger Variablen, mit deren Hilfe man nach Zusammenhängen suchen könnte.33 Die folgenden Formulierungen laden die Befragten zu ihrer eigenen Einschätzung des allgemeinen Phänomens ein und erfragen nicht die wahrgenommene Wirklichkeit. Beteiligung in der Schule: „Wenn Schülervertreter/innen gewählt werden, die Vorschläge zur Lösung von Schulproblemen machen, wird es an der Schule besser.“ – „Schülergruppen zu organisieren, die ihre Meinung äußern, könnte helfen, Probleme an dieser Schule zu lösen.“ – „Wenn jemand aus meiner Klasse sich ungerecht behandelt fühlt, bin ich bereit, mit ihm/ihr zusammen mit dem Lehrer oder der Lehrerin darüber zu sprechen.“34 Partizipationswunsch: „Ich möchte nicht mehr mitbestimmen, ich fühle mich auch ohne dies wohl.“ – „Unsere Lehrer/innen sollten alleine entscheiden, was in unserer Schule geschieht.“ – „Unsere Lehrer/innen sollten alleine entscheiden, was in unserer Klasse geschieht.“ „Ich möchte an wichtigen Entscheidungen nicht teilnehmen, sondern lieber das Entschiedene ausführen.“ – „Wir sollten an unserer Schule weniger Zeit durch Mitbestimmung verschwenden.“ – „Es gibt Dinge, die wichtiger sind als die Meinung aller anzuhören.“35

Die Fragen zur wahrgenommenen Wirklichkeit von Unterricht und Schule könnten wohl umformuliert werden zu solchen Statements, die nach der Sinnhaftigkeit fragen, müssten dann aber erst einmal empirisch ausprobiert werden. Sehr hilfreich ist es, wenn Projekte Skalenhandbücher veröffentlichen (wie zum Beispiel beim DIPF und beim Anerkennungs-Projekt geschehen).

33 Beispiele in: Diedrich/Abs/Klieme 2004, S. 65 [DIPF]; Krüger/Reinhardt u. a. 2002, Anhang Fragen 39 a–j, 55 a, b, k, 43 c, e, 44 c, d, g, h, 50 a, c, d [SachsenAnhalt-Studie]/Oesterreich 2002, S. 101 [Civic-Education-Studie]. 34 Oesterreich 2002, S. 267 [Civic-Education-Studie]. 35 Diedrich/Abs/Klieme 2004, S. 67 [DIPF].

Die Demokratie-Kompetenz der Konfliktfähigkeit – lässt sie sich messen? 515

Makro-Ebene: Diese Ebene bezeichnet hier in erster Linie das politische Teilsystem der Bundesrepublik Deutschland. Reizvoll wäre, auch für andere Teilsysteme wie das der Wirtschaft nach Instrumenten zu suchen, was hier aber nicht geleistet werden kann. Hier geht es darum, den Umgang mit Widersprüchen, mit Konflikten, mit der Dialektik in Prozessen und Strukturen zu ermitteln. Eindeutigkeiten kognitiver und moralischer Art werden hier möglicherweise gebrochen, weil wichtige Prinzipien nicht einlinig (logisch) verfolgt werden können, sondern mit ihrem Gegenteil vermittelt werden müssen. Am klarsten lässt sich das für das staatliche Gewaltmonopol zeigen. Dieses Gewaltmonopol ist seinen Teilbegriffen nach etwas erst einmal negativ Besetztes: Sowohl „Gewalt“ als auch „Monopol“ dürften bei engagierten und prosozial eingestellten Jugendlichen eher Abwehr hervorrufen. Aber dieses staatliche Gewaltmonopol ist die strukturelle Voraussetzung für innergesellschaftlichen Frieden, weil sonst die Gutwilligen und Friedfertigen den Angriffen anderer hilf- und schutzlos ausgesetzt wären. Diese gedankliche Operation ist kognitiv und moralisch komplex, weil dialektisch.36 Gewalt in politischen Auseinandersetzungen: „Gewalt darf nur im Falle von Selbstverteidigung angewendet werden.“ – „In einer demokratischen Gesellschaft darf nur der Staat Gewalt anwenden.“ – „Verzicht auf Gewalt ist die beste Form, Gewalt zu beenden.“ „Ein Verzicht auf die Anwendung von Gewalt kann Gewalt und Unfreiheit fördern.“ „Gewaltfreiheit ist ein anzustrebendes Ziel, auch wenn es nicht voll erreicht werden kann.“37

Die häufig benutzten Fragen nach dem Vertrauen in Institutionen38 sind schwer zu interpretieren, weil die Kategorie des Vertrauens aus dem privaten Bereich kommt, hier aber auf politische Systemelemente bezogen wird. Zwar kann man sagen, dass das äußerst geringe Vertrauen in konfliktreiche Institutionen wie Bundestag und politische Parteien (anders als in Gerichte z. B.) ein Ausdruck von Konfliktscheu ist, aber eine Operationalisierung für die Kompetenz Konfliktfähigkeit ergibt sich hier wohl nicht. Eine lange Geschichte und demnach den Vorteil langer Zeitreihen hat eine Fragebatterie, die nach Kerninstitutionen und -rechten fragt, und zwar mit Blick auf konsensuale und konfliktreiche Situationen (einige Items sind bereits oben aufgeführt). Westle39 (1998) kommentiert Ergebnisse dieses Instruments, das ursprünglich von Kaase und Wildenmann entwickelt worden ist: 36 Vgl. Oesterreich 2002, S. 171–173, dessen Daten die Ablehnung bzw. das Nichtverstehen des staatlichen Gewaltmonopols durch Jugendliche zeigen. 37 Ebd., S. 173 [Civic-Education-Studie]. 38 Z. B. Krüger/Reinhardt u. a. 2002, S. 53 [Sachsen-Anhalt-Studie]. 39 Vgl. Westle 1998.

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Kerninstitutionen: „Die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Interessengruppen in unserer Gesellschaft und ihre Forderungen an die Regierung schaden dem Allgemeinwohl.“ – „Jeder Bürger hat das Recht, notfalls für seine Überzeugung auf die Straße zu gehen.“ – „Der Bürger verliert das Recht zu Streiks und Demonstrationen, wenn er damit die öffentliche Ordnung gefährdet.“ – „Jeder sollte das Recht haben, für seine Meinung einzutreten, auch wenn die Mehrheit anderer Meinung ist.“ – „Aufgabe der politischen Opposition ist es nicht, die Regierung zu kritisieren, sondern sie in ihrer Arbeit zu unterstützen.“ – „Eine lebensfähige Demokratie ist ohne politische Opposition nicht denkbar.“ – „Jede demokratische Partei sollte grundsätzlich die Chance haben, an die Regierung zu kommen.“ – „Die Interessen des ganzen Volkes sollten immer über den Sonderinteressen des einzelnen stehen.“40

Eine vergleichbare Richtung enthalten weitere Fragen aus unterschiedlichen Kontexten: „Wenn alle Parteien zusammen die Regierung bilden würden, was wäre dann der schlimmere Nachteil für die Demokratie? . . . dass im Parlament nicht mehr so viel Kritik an der Arbeit der Regierung geübt würde – dass es innerhalb der Regierung ständig zu Streitereien und Zank zwischen den Angehörigen der einzelnen Parteien käme.“41 „Ich bin gegen eine Diktatur, aber eine starke Hand müsste mal wieder Ordnung in unseren Staat bringen.“42 „Zur Lösung der Probleme in Deutschland brauchen wir eine starke Führerpersönlichkeit.“43

Häufig sind Fragen nach politischer Gewalt gestellt worden (z. B. DJISurvey 2). Diese Fragen zeigen das Problem, dass sie meist keine Konfliktstrukturen bezeichnen, sondern sehr einlinig formuliert werden (anders als das die o. g. Frage nach dem staatlichen Gewaltmonopol tut). Wohl deshalb sind die meisten Befragten gegen die in den Items genannten Verhaltensweisen. Die Aussagen repräsentieren eventuell eher unbestreitbar richtige und wichtige normative Überzeugungen, aber nicht die Kompetenz der Konfliktfähigkeit: „Wenn man Parolen auf Mauern und Hauswände sprüht.“ – „Wenn man sich bei einer Demonstration gegen Übergriffe der Polizei mit Latten oder Steinen zur Wehr setzt.“ – „Wenn man durch einen Sitzstreik einen Atommülltransport blockiert.“ – „Wenn man Asylanten handgreiflich klarmacht, dass sie in ihre Heimat zurückkehren sollen.“ – Wenn man selbst für Ruhe und Ordnung sorgt, auch 40

Ebd., S. 122 [Demokratie-Verständnis]. Fend 1991 [Konstanzer Längsschnitt], vgl. oben unter der Überschrift „Was wissen wir?“ die Ergebnisse im Rahmen der Sachsen-Anhalt-Studie (Krüger/Reinhardt u. a. 2002, S. 62). 42 Gille/Krüger 2000, S. 225 [DJI-Survey 2]. 43 Oesterreich 2002, S. 166 [Civic-Education-Studie]. 41

Die Demokratie-Kompetenz der Konfliktfähigkeit – lässt sie sich messen? 517 wenn dabei Gewalt notwendig sein könnte.“ – „Wenn man bei einer Demonstration mal richtig Krach schlägt, auch wenn dabei einiges zu Bruch geht.“44

Lediglich das dritte Item (Sitzstreik) erhält im DJI-Survey 2 etwa ein Drittel Zustimmung. Eventuell scheint in diesem Item die komplexe Rechtfertigungsfigur des zivilen Ungehorsams durch. Natürlich ist – wie bei jeder quantitativen Befragung – schwer zu interpretieren, welche Bedeutung die Befragten mit der Aussage verbunden haben. Es wäre gut, wenn ergänzend zu Survey-Daten auch qualitativ untersucht würde, wie Befragte die Items für sich interpretieren. Die Kompetenz der Konfliktfähigkeit könnte auch mit Statements untersucht werden, die gewaltsame internationale Interventionen betreffen oder die das Problem der wehrhaften Demokratie fassen. In beiden Fällen können nicht moralische bzw. politische Prinzipien in eindeutiger Weise, also logisch, gesteigert werden, sondern ein Selbstwiderspruch muss konstruiert und akzeptiert werden. Entsprechende Instrumente sind mir nicht bekannt, sie müssten also entwickelt werden. VII. Ausblick Konfliktfähigkeit als Demokratie-Kompetenz wird sich – so die Vermutung – auf den drei Ebenen von Nahraum, erlebter Institution und distanzierten Institutionen im zeitlichen Nacheinander auseinander falten. Es dürfte sich um eine aufsteigende, also zunehmend anspruchsvolle Kompetenz handeln, deren Erwerb aber nicht als linearer Vorgang weder des Wissenserwerbs noch der logischen Fähigkeitsentfaltung gedacht werden kann. Wahrscheinlich sind die Stufen hierarchisch zu rekonstruieren, wobei eine Stufe in der nächsten Stufe im doppelten Sinne aufgehoben ist, nämlich überwunden und bewahrt. Inkonsistenzen und Brechungen sind auf dem Weg von der Kompetenzstufe 1 (Person, Bedürfnis, Nahraum) zur Kompetenzstufe 2 (Institution, Regeln, Verfahren) zu erwarten. Für die Untersuchung des Lernprozesses lohnt wahrscheinlich die Differenzierung der Institutionenebene zwischen erlebten Institutionen und nicht erlebbaren Institutionen. Die Beschreibung des Kompetenzerwerbs setzt empirische Forschung voraus, deren mögliche Instrumente oben angeführt worden sind. Nicht operationalisiert wurde die Stufe 3 (System, Wissenschaft, Reflexion), weil sie kaum im Zentrum des schulischen Kompetenzerwerbs stehen dürfte. Für die gymnasiale Oberstufe und ihren Lernerfolg wäre die Arbeit an der Er44

Gille/Krüger 2000, S. 296 [DJI-Survey 2].

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fassung der Stufe 3 wichtig, sie kann sich aber nicht auf vorhandene Forschungen stützen (nach meinem Kenntnisstand). Erst mit mehr Wissen um die Entwicklung von Konfliktfähigkeit wird es möglich sein, Zusammenhänge und Ursachen zu erforschen, z. B. zu der Frage, welche Sorte Unterricht für diese Kompetenz förderlich ist. Nicht nur der Ist-Stand ist wichtig zu wissen, sondern auch Prozesse, die zur Entwicklung oder ihrer Verzögerung oder ihrem Stillstand beitragen.

Literatur Abs, Hermann Josef, Metaphern der Demokratie, in: Gerhard Himmelmann/Dirk Lange (Hg.): Demokratiekompetenz. Beiträge aus Politikwissenschaft, Pädagogik und politischer Bildung, Wiesbaden 2005, S. 114–128 (zitiert: Abs 2005). Abs, Hermann Josef/Diedrich, Martina/Klieme, Eckhard, Evaluation des BLK-Modellprogramms Demokratie lernen und leben, in: DIPF informiert 2004, Nr. 6, S. 2–6 (zitiert: Abs/Diedrich/Klieme 2004). Baumert, Jürgen/Klieme, Eckhard u.v. a. [= Deutsches PISA-Konsortium] (Hg.), PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Opladen 2001 (zitiert: Baumert u. a. 2001). Behrmann, Günther C./Grammes, Tilman/Reinhardt, Sibylle (unter Mitarbeit von Peter Hampe): Politik – Kerncurriculum Sozialwissenschaften in der gymnasialen Oberstufe, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Kerncurriculum Oberstufe II: Biologie, Chemie, Physik – Geschichte, Politik. Expertisen im Auftrag der Ständigen Konferenz der Kultusminister, Weinheim u. a. 2004, S. 322–406 (zitiert: Behrmann/Grammes/Reinhardt 2004). Breit, Heiko/Eckensberger, Lutz H., Demokratieerziehung zwischen Polis und Staat, in: DIPF informiert 2004, Nr. 6, S. 6–11 (zitiert: Breit/Eckensberger 2004). Detjen, Joachim, Politische Urteilsfähigkeit – eine domänenspezifische Kernkompetenz der politischen Bildung, in: Politische Bildung 2004, Heft 3, S. 44–57 (zitiert: Detjen 2004). Deutsche Shell (Hg.), Jugend 2002. Zwischen pragmatischem Idealismus und robustem Materialismus, 14. Shell Jugendstudie, Frankfurt/Main 2002 (zitiert: Deutsche Shell 2002). Diedrich, Martina/Abs, Hermann Josef/Klieme, Eckhard, Evaluation im BLK-Modellprogramm Demokratie lernen und leben: Skalen zur Befragung – Dokumentation der Erhebungsinstrumente 2003, Frankfurt/Main [Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF), (Materialien zur Bildungsforschung 11)] 2004 [im Text auch als: DIPF-Evaluation im BLK-Programm] (zitiert: Diedrich/Abs/Klieme 2004). Dietz, Andreas, Konfliktfähigkeit als Baustein von Demokratiekompetenz. Möglichkeiten der Erfassung?, [Wissenschaftliche Hausarbeit zur 1. Staatsprüfung], Halle 2004 [Manuskript] (zitiert: Dietz 2004).

Die Demokratie-Kompetenz der Konfliktfähigkeit – lässt sie sich messen? 519 Eckensberger, Lutz H., Die Entwicklung des moralischen Urteils, in: Heidi Keller (Hg.): Lehrbuch Entwicklungspsychologie, Bern 1998, S. 475–516 (zitiert: Eckensberger 1998). Fend, Helmut, Identitätsentwicklung in der Adoleszenz. Entwicklungspsychologie der Adoleszenz in der Moderne, Bd. 2, Bern u. a. 1991 [im Text auch als: Konstanzer Längsschnitt] (zitiert: Fend 1991). Gabriel, Oscar/Neller, Katja/Hanke-Cranach, Catrin, Schülerbefragung zur Juniorwahl 2001, Stuttgart [Institut für Politikwissenschaft (Manuskript)] 2001 [im Text auch als: Juniorwahl] (zitiert: Gabriel/Neller/Hanke-Cranach 2001). Gille, Martina/Krüger, Winfried (Hg.), Unzufriedene Demokraten. Politische Orientierungen der 16- bis 29jährigen im vereinigten Deutschland, Opladen 2000 [im Text auch als: DJI-Survey 2] (zitiert: Gille/Krüger 2000). Helsper, Werner/Krüger, Heinz-Hermann (Hg.), Skalenhandbuch zum Schülerfragebogen aus dem Projekt „Politische Orientierungen bei Schülern im Rahmen schulischer Anerkennungsbeziehungen“, Halle [Zentrum für Schulforschung (ZSL), Werkstattheft 24] 2004 [im Text auch als: Anerkennungsprojekt] (zitiert: Helsper/Krüger 2004). Hoffmann-Lange, Ursula (Hg.), Jugend und Demokratie in Deutschland, Opladen 1995 [im Text auch als: DJI-Survey 1] (zitiert: Hoffmann-Lange 1995). Honneth, Axel, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/Main 1994 (zitiert: Honneth 1994). Hurrelmann, Klaus/Albert, Mathias in AG mit Infratest Sozialforschung (Hg.), Jugend 2002. 14. Shell Jugendstudie, Frankfurt/Main 2002 [im Text auch als: Shell-Studie 2002] (zitiert: Hurrelmann/Albert 2002). Klieme, Eckhard u. v. a., Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise, [Manuskript (KMK und BMF)], Berlin 2003 (zitiert: Klieme u. a. 2003). Krappmann, Lothar, Soziologische Dimensionen der Identität, Stuttgart 1971 (zitiert: Krappmann 1971). Krüger, Heinz-Hermann/Reinhardt, Sibylle/Kötters-König, Catrin/Pfaff, Nicole/ Schmidt, Ralf/Krappidel, Adrienne/Tillmann, Frank: Jugend und Demokratie – Politische Bildung auf dem Prüfstand. Eine quantitative und qualitative Studie aus Sachsen-Anhalt, Opladen 2002 [im Text auch als: Sachsen-Anhalt-Studie] (zitiert: Krüger/Reinhardt u. a. 2002). Mead, George Herbert, Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt/Main 1973 [zuerst 1934] (zitiert: Mead 1973). Müller-Fohrbrodt, Gisela, Konflikte konstruktiv bearbeiten lernen, Opladen 1999 (zitiert: Müller-Fohrbrodt 1999). Oerter, Rolf, Psychologische Aspekte: Können Jugendliche politisch mitentscheiden?, in: Christian Palentien/Klaus Hurrelmann (Hg.): Jugend und Politik, Neuwied u. a. 1997, S. 32–46 (zitiert: Oerter 1997).

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Oesterreich, Detlef, Politische Bildung von 14-Jährigen in Deutschland. Ergebnisse der IEA-Studie Civic Education, Opladen 2002 [im Text auch als: Civic-Education-Studie] (zitiert: Oesterreich 2002). Reinhardt, Sibylle, Demokratie-Kompetenzen, in: Wolfgang Edelstein/Peter Fauser (Hg.): Beiträge zur Demokratiepädagogik. Eine Schriftenreihe des BLK-Programms „Demokratie lernen & leben“, Berlin November 2004 (http://www. blk-demokratie.de/fileadmin/public/dokumente/Reinhardt.pdf) (zitiert: Reinhardt 2004). Schulze, Gerhard, Politisches Lernen in der Alltagserfahrung, München 1977 (zitiert: Schulze 1977). Selman, Robert L., Die Entwicklung des sozialen Verstehens, Frankfurt/Main 1984 [zuerst 1980] (zitiert: Selman 1984). Weinert, Franz E., Concept of Competence: A Conceptual Clarification, in: Dominique Simone Rachen/Laura Hersh Salganik (Hg.): Defining and Selecting Key Competencies, Seattle u. a. 2001, S. 45–65 (zitiert: Weinert 2001). Westle, Bettina, Konsens und Konflikt als Elemente der pluralistischen Demokratie. Zum Demokratieverständnis von West- und Ostdeutschen, in: ZUMA-Nachrichten 43, November 1998, S. 116–133 [im Text auch als: Demokratieverständnis] (zitiert: Westle 1998). – Kollektive Identität im vereinten Deutschland, Opladen 1999 (zitiert: Westle 1999).

Über einige Probleme des Regierens heute – Aus Anlass des Wahlergebnisses vom 18. September 2005 Udo Bermbach Kurz nach dem Schließen der Wahllokale am 18. September 2005 kam der Schock: Hatten die Demoskopen bis dahin eine klare Mehrheit von CDU/CSU und FDP und einen tiefen Absturz der SPD vorhergesagt, gab es plötzlich völlig andere Zahlen. Die CDU lag unter den erwarteten vierzig Prozent, die SPD sehr viel besser als zuvor gedacht. Beide große Parteien hatten sich einander angenähert, die CDU/CSU mit leichtem Vorsprung, aber doch so knapp vor der SPD, dass der Bundeskanzler in der abendlichen „Elefantenrunde“ einen „gefühlten“ Sieg und seinen Führungsanspruch behaupten konnte. Sichtbar wurde ein Patt, das die Politiker in eine Art Schockstarre, die Presse in wilde Spekulationen und das Wahlvolk in hilflosen Zynismus verfallen ließ, das über Tage die führenden Politiker der großen Parteien veranlasste, jeweils für sich den Sieg zu behaupten. Niemals zuvor war die absurde Realitätsenthobenheit deutscher Politiker der Nation Abend für Abend drastischer vor Augen geführt worden, als in jenen Tagen unmittelbar nach der Wahl, deren hektische Betriebsamkeit in umgekehrtem Verhältnis zur Effektivität des politischen Betriebs stand. Stoff für das politische Kabarett wie schon lange nicht mehr, Grund für große Teile der Bevölkerung, sich mit Grausen und innerem Widerwillen von all dem abzuwenden, dessen Ursache sie freilich selbst war. Eine Situation war entstanden, wie sie die deutsche Nachkriegsdemokratie so noch nicht gekannt hatte: da gab es einen Kanzler, der – obgleich er eine parlamentarische Mehrheit hatte – im Bundestag ein Misstrauensvotum herbeiführte, um diesen auflösen zu können – gegen die Vorschrift des Grundgesetzes, das für diesen Fall den Rücktritt vorsieht; es gab einen Bundespräsident, der diesem verfassungswidrigen Vorgehen sein Plazet gab, wo er sein Veto hätte einlegen müssen; und schließlich gab es ein Bundesverfassungsgericht, welches das abgelaufene Geschehen nachträglich rechtlich billigte und damit die Verfassung an einer entscheidenden Stelle überdehnte, wenn nicht gar verletzte, wo es als Hüter der Verfassung eigentlich dem politischen Treiben einen Riegel hätte vorschieben müssen. Das alles war unternommen worden, war geschehen, um eine neue, stabile Mehrheit zu erreichen, doch das Ergebnis zeitigte das Gegenteil: eine Patt-Situation. Erst nach Tagen des

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Verharrens in alten Wahlkampfgräben lockerten sich die Parteien, und ihre führenden Vertreter gingen langsam aufeinander zu, begriffen, dass es nur die Chance einer großen Koalition gab, deren Konsequenzen politisch allerdings absehbar sind: wozu man ursprünglich angetreten war – Fortführung der von der rot-grünen Koalition begonnen Reformpolitik einerseits, grundlegendere und radikalere Reformen durch eine erwünschte schwarz-gelbe Koalition andererseits –, das war in einige Ferne gerückt. Die Unvereinbarkeit der Programme in zentralen Politikfeldern ließ zum einen keine wirkliche politische Wende zu, brachte zum anderen „Chaos-Tage“ in Berlin, die zum Sturz und Rückzug führender Personen der beiden großen Parteien führten. Dass aus solchem Beginn wenig Hoffnung erwächst, braucht kaum zu verwundern. Die Vermutung liegt nahe, dass uns eine Politik erwartet, die in alten Strukturen voranzukommen sucht – was immer das heißen mag. Wahrscheinlich: Alles wie gehabt, nur etwas weniger komfortabel. Die Wahl und die sich anschließenden Koalitionsverhandlungen mit all ihren sachlichen wie personellen Turbulenzen, mit den teils besorgten, teils höhnisch bis zynischen Kommentaren in den Medien, mit der zunehmend angewiderten Abwendung der Bürger von der Politik haben gezeigt, dass die deutsche Demokratie, aller Stabilität zum Trotz, in einer inneren Krise steckt. Richard Saages letzter Satz in seinem 2005 neu erschienenen Buch über die Demokratietheorien, die westlichen Demokratien hätten der Herausforderungen linker und rechter Diktaturen im 20. Jahrhundert standgehalten, aber erst die Zukunft könne zeigen, „ob sie die Probleme lösen, für die sie selbst mitverantwortlich sind“, bezieht seine sachliche Berechtigung genau aus solchen Vorgängen. Was sich im Herbst nach der Wahl in Berlin abgespielt hat, zeigt, dass die heutige Demokratie nicht nur eine Form der Problembearbeitung ist, sondern in sich selbst das Problem darstellt, das einer Lösung bedarf. Was heißt, dass neben Problemen und Problemkomplexen, die sich aus der allgemeinen gesellschaftlichen, ökonomischen oder auch kulturellen Entwicklung gleichsam von außen ergeben, auch solche zentral zur Debatte stehen, die aus dem demokratischen System selbst, seinen Strukturen wie Akteuren erwachsen. In einem doppelten Sinne ist deshalb die Demokratie im 21. Jahrhundert herausgefordert: sie muss die auf sie zukommenden Fragen und Konflikte lösen, sie muss aber auch solche, die sie selbst hervorbringt zur Kenntnis nehmen und bearbeiten. Beides greift ineinander, beides beeinflusst am Ende auch die Akzeptanz des politischen Systems in der Bevölkerung.

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I. Aus der Perspektive des Bürgers vermengen sich die Ursachen für den augenblicklich deplorablen Zustand der deutschen Demokratie zu jener „neuen Unübersichtlichkeit“ (Jürgen Habermas), die bei vielen zur Politikund zur Politikerverdrossenheit führt. Aber solche Verdrossenheit rührt aus strukturellen Entwicklungen her, die sich beliebiger Verfügung durch die Politiker entziehen, die aber von den Bürgern nicht durchschaut werden (können). Was beim ersten Nachdenken auffällt, ist dies: Moderne Gesellschaften haben, nicht zuletzt durch die Internationalisierung aller Politikbereiche, sowohl einen hoch ausdifferenzierten Bestand an Sachproblemen wie ein gleichermaßen ausdifferenziertes und entsprechend kaum übersehbares Handlungs- und Akteursfeld, das sich dem Urteil auch des durchschnittlich gebildeten Staatsbürgers im Grunde entzieht. Wer beispielsweise kann als Nichtfachmann wirklich beurteilen, wie die in den letzten Jahren immer wieder geforderten Reformen im Gesundheitswesen, auf dem Arbeitsmarkt oder im Bildungssystem auszusehen hätten, um „zukunftsfest“ zu sein? Wer kann sachangemessen über ein neues Steuersystem und ein neues Steuerrecht diskutieren und urteilen oder darüber befinden, welche Veränderungen der bundesstaatlichen Verfassung notwendig sind und wie sie auszusehen hätten? Welcher Bürger verfügt über jene notwendigen Detailkenntnisse, um auch nur in einem dieser Bereiche ein einigermaßen fundiertes Urteil abgeben zu können? Und welcher noch so sehr an Politik interessierte und informierte Bürger wäre wirklich in der Lage, die Konsequenzen solcher Reformen auch nur vage einschätzen zu können, darüber zu urteilen, wie deren Vernetzungen ineinandergreifen und mit welchen Folgen? Vermutlich können das nicht einmal die ministeriellen Experten, ganz zu schweigen von der Mehrzahl der Abgeordneten, mit Sicherheit aber nicht die wahlberechtigten Bürger. Wer die Debatten der letzten Jahre in Deutschland verfolgt hat, die zu all diesen Themen in den unterschiedlichen Medien, dem allgemeinen Teil der regionalen wie überregionalen Tagespresse, den Fachorganen der beteiligten Interessenverbände und deren zahllosen Untergruppierungen, den betroffenen Institutionen und deren Repräsentanten und selbsternannten Vertretern bis hin zu den Talk-Shows im Fernsehen mit den „Fachleuten“ der konkurrierenden Parteien wie den in die Sache involvierten Interessenprotagonisten geführt worden sind, wird als Außenstehender am Ende hilflos vor einer Fülle sich widerstreitender „Fakten“ und Positionen stehen, deren „Richtigkeit“ oder wenigstens Plausibilität er, sofern er ehrlich zu sich selbst ist, nicht beurteilen kann. Eher gilt die Erfahrung: Die sich ausschließenden Argumentationscluster wirken in sich und aus der jeweils eingenommenen Perspektive der argumentierenden Beteiligten zunächst einmal durchaus überzeugend, genau so, wie die

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gegen sie ins Feld geführten Gegenargumente ebenfalls überzeugend wirken. Zu erleben ist deshalb im öffentlichen Disput der parteipolitischen Gegner eine Pluralität jeweils „richtiger“ und „vernünftiger“ Problembeschreibungen wie Problemlösungen, die für den Nichtexperten alle gleichermaßen nebeneinander bestehen können, sofern man sich auf deren Ausgangsprämissen einlässt. So ergibt sich die paradoxe Situation, dass je nach Standpunkt, den man einnimmt, sich ausschließende politische Positionen in sich jeweils stimmig erscheinen. Das aber bedeutet, dass eine Entscheidung, die aus der Sache heraus begründet wäre – wobei hier offenbleiben kann, was die „Sache“ denn ist und worin sie besteht –, vom Bürger nicht sachkundig getroffen werden kann. Kommt hinzu, dass der Bürger nicht nur in seinem Urteil überfordert ist, sondern auch die Konsequenzen nicht abzuschätzen vermag, die sich etwa durch die Realisierung von unterschiedlichen politischen Lösungsmodellen ergeben. Wie sollte er auch, da ihm alle wichtigen Daten fehlen, ebenso wie die Übersicht über vielfältige Abhängigkeiten und Interdependenzen. Dass Folgenabschätzungen von politischen Entscheidungen selbst dann äußerst schwierig und in der Regel unzuverlässig sind, wenn sie selbst von vermeintlichen „Fachleuten“ getroffen werden, zeigt sich nahezu täglich: so ist beispielsweise während der Verhandlungen zur großen Koalition plötzlich die Warnmeldung aufgetaucht, die Hartz IV-Reformen würden, anstatt Kosteneinsparungen zu bringen, den entstandenen Finanzbedarf verdoppeln – entgegen der während der Gesetzgebung selbst vom zuständigen Ministerium behaupteten These, sie brächten entscheidende Einsparungen. Nun ist es ein bekannter Vorgang: Wer in der Sache nicht zu urteilen vermag, hält sich an Personen. Die einfachste und ständig praktizierte Lösung, politische Hilflosigkeit zu überspielen, besteht in der Personalisierung von Sachproblemen. Wer als Bürger an Politik interessiert ist, sich aber in der Sache überfordert fühlt, debattiert über das politische Personal, über einzelne Politiker, die er aus den Medien oder auch durch persönliche Auftritte kennt. „Vertrauen“ spielt da eine zentrale Rolle, und so „vertraut“ man Herrn X oder Frau Y, oft aus Gründen, die insofern irrationaler Natur sind, als sie mit Politik selbst sachlich nichts zu tun haben. Wir wissen, wie wichtig es im Medienzeitalter ist, dass jemand „gut rüberkommt“, dass er gut aussieht, eine expressive und eindringliche Körpersprache praktiziert, sich als Könner der Beherrschung medialer Vermittlung seiner Person erweist – Schröder war hier ein Meister, vom ungefärbten Scheitel bis zur Sohle. Wir wissen aber auch, dass Vertrauen ein prekäres Gut ist, das ebenso so schnell verspielt werden kann, wie es erworben worden ist. Auch das berufliche wie private Umfeld, in dem sich jemand bewegt, spielt da eine erhebliche Rolle: Wer etwa dort wohnt und lebt, wo man mittelschichtenspezifisch aufgeklärt und tolerant, weltoffen und multikulturell zu sein

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meint und ein solches Umfeld auch in seinem Beruf findet, für den ergeben sich daraus bestimmte politische Wahlpräferenzen, die die Wahlalternativen erheblich einschränken. Wenn klassische Demokratietheorien davon ausgehen – und das Grundgesetz wie die ihm implizite demokratische Pluralismustheorie stehen in dieser Tradition –, dass ein lebendiges, demokratisches Gemeinwesen den „mündigen Bürger“ voraussetzt, d.h. den Bürger, der zunächst seine eigenen Interessen einigermaßen zutreffend formulieren, sodann das Allgemeinwohl annähernd bestimmen und schließlich beides, aufgrund seiner politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Informiertheit in ein ausgeglichenes Verhältnis zueinander bringen kann, dann ist diese zentrale Voraussetzung längst entfallen und taugt selbst als normative Orientierung kaum noch. Wir wissen aus empirischen Umfragen, dass Wahlentscheidungen ganz überwiegend „irrational“, d.h. auch gegen die eigenen, gleichsam „objektiven“ Interessen getroffen werden, und wir wissen, dass auch in politischen Fragen ein erheblicher Teil des täglichen Urteilens rein emotional, also nach gefühlsmäßiger Einschätzung der Lage geschieht. Selbst dort, wo durch Zeitungslektüre und Nachrichtenhören das tägliche Informieren zur Selbstverständlichkeit gehört, vollzieht sich dies selektiv: im Sinne des Abstützens bereits bestehender eigener Vorurteile und politisch-gesellschaftlicher Weltbilder. Und wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass durch die Immigration von Menschen aus völlig unterschiedlichen Kulturen eine zentrale Vorbedingung gemeinwohlorientierten Handelns mehr und mehr entfällt: Grundwerte als einer normativen Orientierung staatsbürgerlichen Handelns, die durch gemeinsame, wesentlich christlich geprägte und in der Aufklärung säkular geläuterte kulturelle Traditionen in westlichen Gesellschaften entstanden sind und über lange Zeiten einen für alle verbindlichen Handlungsrahmen abgaben. In den vielbeschworenen „Parallelgesellschaften“ sind soziale Entitäten sui generis entstanden, die unter anderem dadurch charakterisiert sind, dass sie sich eben nicht dem zwanglos einfügen, was normativ als kollektive Gemeinwohlorientierung dem Grundgesetz eingeschrieben ist und als stillschweigende Voraussetzung dem demokratischen System vorausliegt, von diesem selbst aber nicht erzeugt werden kann, weil es – wie Habermas formuliert hat – keinen administrativ erzeugten Sinn geben kann. Solchen Fakten und Entwicklungen, die sich beliebig ausweiten und erweitern ließen, steht der Anspruch des demokratischen Entscheidungssystems entgegen, auf der Ebene der allgemeinen Politik im Namen aller und für alle rationale, das heißt sachangemessene Urteile zu fällen, die mit guten Gründen – etwa solchen der Verteilungsgerechtigkeit oder solchen der Freiheit der Person, um zwei diskurs- und politikleitende Topoi zu nennen – nachvollzogen werden können. Genauere Analysen des politischen „bar-

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gaining process“ freilich ernüchtern auch hier, denn sie zeigen auch für den vermeintlich professionellen Teil des demokratischen Gesamtsystems eine Fülle bestehender, auf die ganze Gesellschaft bezogener irrationaler Beweggründe – Vorurteile, Klientelpolitik, Absicherung der eigenen Karriere und ähnliches mehr –, die im politischen Alltag ausschlaggebend sind. Infolgedessen gerät die demokratische Forderung, wonach die politischen Entscheidungsträger über die zu entscheidenden Sachfragen an ihre Wähler als der eigentlichen Legitimationsbasis des Gesamtsystems zurückgebunden werden müssen, zum bloßen und real uneinlösbaren Postulat. Die Wirklichkeit desavouiert die Theorie: nicht nur die immer weiter gehenden sozialen, ökonomischen und kulturellen Differenzierungen der Wahlbevölkerung selbst konterkarieren die lange gewachsene europäische Idee der Demokratie als einer Staats- und Regierungsform mit gemeinsamem Lebenshintergrund, in der die über sich und die Gesellschaft aufgeklärten Bürger in einem herrschaftsfreien und primär sachorientierten Diskurs ihre eigene Zukunft wie die ihres Landes politisch bestimmen, sondern auch einzelne neue, in ihren Auswirkungen dramatische Entwicklungen – wie etwa das generelle Absinken des Bildungsniveaus, das in der Bundesrepublik durch die Zahl von 10 Millionen Analphabeten erschreckend signalisiert wird. Und im Gefolge der Immigration folgen die eben erwähnten, kulturell abgeschotteten Parallelgesellschaften ihren eigenen, mit dem Modell der westlichen Demokratie häufig nicht zu vereinbarenden Lebensimperativen – etwa, was die Gleichstellung von Mann und Frau oder das Verhältnis von Religion und Staat betrifft. Gewiss, es gibt seit Jahrhunderten das Prinzip der Repräsentation und die mit ihr verbundenen Mediatisierungen demokratischer Strukturen, wodurch der direkte Zugriff zwischen Bürger und politischem System gestuft vermittelt, politisch abgefedert und inhaltlich synthetisiert wird. Aber auch die für das westliche Verständnis dominanten Theorien der repräsentativen Demokratie haben, selbst in ihren konkurrenzdemokratischen Ausprägungen, im Kern nie darauf verzichtet, ihre zentrale Legitimation durch Berufung auf eine informierte und aufgeklärte, gemeinwohlorientierte Wahlbevölkerung abzusichern und von dieser – sei es durch Wahlakt, sei es durch Umfragen – immer wieder neu herzustellen und zu beziehen. Diese klassische demokratietheoretische Position ist angesichts der realen Verhältnisse, die durch die Verflechtungen der nationalen mit den europäischen und internationalen Institutionen und deren Entscheidungskompetenzen wie durch die Globalisierung noch komplex gesteigert wird, zunehmend problematisch, eigentlich unhaltbar geworden. Und dort, wo sie – wie in nahezu allen Staaten des Westens – noch immer in öffentlichen Reden beschworen wird, inzwischen schlicht zur Fiktion verkommen. Systemtheoretiker wissen das schon längst, reden von den Eigenlogiken des Gesamtsystems und seiner Untersysteme, von den nicht kompatiblen Codes der

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Teilsysteme untereinander, nach denen die gesellschaftlichen Teilsysteme je getrennt für sich funktionieren. Aber sie räumen zugleich ein – und rechtfertigen damit die auf das klassische Demokratieverständnis verweisende Rhetorik der Politiker und Feiertagsredner –, dass die Politik des „Als ob“ für die Legitimierung in demokratischen Systemen unverzichtbar ist. Und doch: die moderne Demokratie mag funktionieren, aber sie kann sich – die demoskopischen Umfragen belegen das leider Tag für Tag – für dieses Funktionieren ihre Legitimation nur noch begrenzt beim „Souverän“, beim Volk, abholen. Es gehört zu den erschreckenden Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, dass selbst vergleichsweise erfolgreiche Demokratien hinsichtlich der strukturellen Voraussetzungen und Bedingungen für ihren Erfolg auf eine grundsätzlich systemkritische Stimmung in ihren Bevölkerungen treffen. Man fühlt sich von „denen da oben“ schlecht behandelt, ohne beurteilen zu können, ob dies – bei Berücksichtigung aller dazu notwendigen Parameter – auch wirklich so ist. Moderne Demokratien sind deshalb paradoxe Regierungsformen, und aus solchen Paradoxien resultiert eine „Dummheit“ der Wähler, die in vielen Bereichen der Gesellschaft deren notwendige Weiterentwicklung verhindert. Denn „Reformpolitik“ d.h. die laufende Reformierung bestehender Strukturen und damit gekoppelter politischer Inhalte, wie sie seit Jahren – auch dies in allen westlichen Demokratien und parteiübergreifend von nahezu allen Politikern – als notwendig verkündet wird, kann deshalb nicht wirklich, d.h. gründlich und radikal genug betrieben werden, weil weder deren Notwendigkeit, noch deren Folgen von den Betroffenen eingesehen und beurteilt, deshalb auch mitgetragen werden können. Die Unfähigkeit der Wählermehrheit, das politische Personal zu durchgreifendem Wandel in den verschiedensten Bereichen der Gesellschaft, von der Wirtschaft bis zur Bildung, vom Sozialsystem bis zur Ökologie, zu beauftragen, hängt wesentlich mit diesem Befund zusammen. Und umgekehrt wagen Politiker, die von der Notwendigkeit von Veränderungen tief überzeugt sind, es nicht, ihre Überzeugungen ungeschminkt zu formulieren, weil sie damit ihre eigene Existenz aufs Spiel setzen – der Wahlkampf 2005 hat dies gezeigt, denn zweifellos wurde die CDU dafür abgestraft, dass sie grundlegende, von ihren politischen Gegnern als „markt-radikal“ denunzierte Reformen propagiert hat –, wie immer man in diese Reformen in ihrer Notwendigkeit wie ihren Folgen beurteilen mag. So entsteht ein Circulus vitiosus: die einen, die regieren, wissen zwar ungefähr oder ahnen doch, was zu tun ist, wagen aber ihre Überzeugungen weder konsequent zu formulieren noch in praktische Politik umzusetzen, weil sie befürchten müssen, von den Wählern abgestraft zu werden. Die Wähler selbst wissen zwar, dass Reformen dringend notwendig sind, wollen sie auch, aber möglichst so, dass sie selbst jeweils verschont werden, und verweigern deshalb den Politikern für tief-

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greifende Veränderungen ihre Zustimmung – es zeigt sich, dass beide Seiten intellektuell wie moralisch überfordert sind. Die Folge solcher Selbstparalyse der Kommunikation zwischen Politikern und Wählern ist eine zunehmende substantielle Entleerung des demokratischen Prozesses, ein Leerlaufen der Akteure in formaler Betriebsamkeit, die keine weg- und zukunftsweisenden Ergebnisse mehr bringt. Daraus resultiert paradoxerweise, weil von diesen selbstverschuldet bei den Wählern eine allgemeine Politikeroder Politikverdrossenheit, deren allmähliche Ausbreitung und soziale Verfestigung die demokratischen Fundamente des politischen Systems selbst zu bedrohen und in Mitleidenschaft zu ziehen droht. Verstärkt sich diese Tendenz, dann droht die Gefahr wachsender Radikalisierung von den Rändern der Gesellschaft her; sie ist als ein strukturelles Problem der modernen paradoxalen Demokratien gleichsam eingeschrieben. II. Diese bisher aufgezählten Gründe, eher unsystematisch und unvollständig benannt, aber offensichtlich ins Auge springend, lassen sich freilich noch in einer sehr wichtigen Hinsicht ergänzen, die das politische Personal betrifft. Wer sich hier die deutsche Entwicklung der letzten Jahrzehnte in Erinnerung ruft, kommt am Ende zu einem deprimierenden Ergebnis: die Qualität dieses politischen Personals hat stetig abgenommen – Ausnahmen gibt es natürlich immer. Wer sich heute auf der Berliner Szene umblickt, sucht vergebens nach Persönlichkeiten, wie sie über die ersten langen Jahre in unterschiedlicher Eigenwilligkeit die Bundespolitik geprägt haben: die Namen Adenauer, Heuss, Carlo Schmid, Erler, Brandt oder auch Wehner, Strauß und Helmut Schmidt – um nur einige wenige zu nennen – stehen für einen Politikertyp, für den Politik aufgrund eigener Erfahrungen eine existentielle Dimension hatte. Wer das Dritte Reich erlebt und den Krieg erfahren hatte oder ins Exil gezwungen worden war, für den musste Politik eine zu ernste Sache sein, als dass ihm sich hier ein Feld persönlicher Machtspiele und Eitelkeiten hätte eröffnen können. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass mit dem Abtreten dieser Generation der frühen Jahre der Bundesrepublik spätestens seit den frühen siebziger Jahren ein neuer, durch völlig andere Sozialisation geprägter Politiker-Typus auf der Berliner Bühne erschienen ist, Produkt natürlich auch einer veränderten Gesellschaft und veränderter politischer Gesamtumstände. Der Eintritt dieses neuen Politikertypus, der sich in materiell gesicherten Verhältnissen hat entwickeln können, ging parallel mit strukturellen Veränderungen des gesellschaftlich-politischen Systems, etwa mit der Entwicklung des Parlamentarismus vom Honoratioren- zum Berufssystem, mit der immer mächtiger gewordenen Stellung der politischen Parteien im öffent-

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lichen Leben, mit der zunehmenden Dominanz visualisierender Medien wie des Fernsehens bei gleichzeitigem Qualitätsverlust des produzierten Programms, mit dem Stellenwert, den die Pop- und Event-Kultur für Sozialisation und Lebensführung immer größerer Schichten der Bevölkerung, auch für die Verbindlichkeit von „Vorbildern“ zur Beurteilung von Politikern und deren Leistungen inzwischen gewonnen hat – um nur einiges zu nennen. Solche Entwicklungen haben über die Jahre eine politische Klasse geformt, deren Qualitäten sich deutlich von der früherer Politiker unterscheidet und die in ihrer Auffassung von Politik wie in ihrem politischen Handeln probabilistisch vorgeht. Über eine bestimmte Zeit hat diese politische Klasse mit ihren Show-Qualitäten die Bevölkerung zu faszinieren vermocht; inzwischen werden die gesellschaftlichen Kosten, die damit verbunden sind, zunehmend deutlicher und spürbarer, so dass diese Art von Politikern angesichts der sich verschärfenden sozialen, ökonomischen und kulturellen Probleme in heutigen Gesellschaften zunehmend auf Ablehnung einer Wahlbevölkerung stößt, deren Produkt sie selbst ist. Worin nun besteht das Eigentümliche dieses neuen Politikertyps? Was sind jene Eigenschaften, die zunehmend auch als ursächlich für die Politikerverdrossenheit empfunden werden? Ohne allen Anspruch auf systematische Auflistung seien im Folgenden lediglich einige wenige Beobachtungen notiert, die für eine Antwort auf die gestellte Frage ins Gewicht fallen könnten. Zunächst: wir haben es heute mit Politikern zu tun, die zumeist über eine akademische Ausbildung verfügen. Das lässt sich grundsätzlich als ein positives Faktum bewertet. Doch muss leider angemerkt werden, dass in vielen Fällen – so meine persönlichen Beobachtungen, die freilich einer breiteren empirischen Untersuchung bedürften – diese Ausbildung nur mit äußerst mäßigem Erfolg abgeschlossen worden ist. Das hat seinen Grund nicht unbedingt in den intellektuellen Fähigkeiten der Betroffenen, sondern vornehmlich darin, dass diejenigen, die sich schon frühzeitig entschließen, in die Politik zu gehen, gezwungen sind, sich bereits während ihres Studiums zeitintensiv in einer politischen Partei und ihren Unterorganisationen zu engagieren, also nicht genügend Zeit auf ihr Studium aufbringen können. Der Zwang zur politischen Betätigung schon während des Studiums entsteht daraus, dass anders später kaum noch Chancen des politischen Ein- und Aufstiegs durch die Parteien gegeben werden. So entsteht zugleich ein „Zwang“ zu mäßigen Studienabschlüssen – wenn überhaupt –, die ihrerseits wiederum zur Folge haben, dass sich außerhalb der Politik für den frisch geprüften Akademiker nur selten aussichtsreiche Karrieren eröffnet. Der „Jungpolitiker“ wird gleichsam zwangsläufig in eine parteipolitische Laufbahn gezwungen. Ein Zirkel tut sich hier auf, aus dem es nur schwer einen Ausstieg in eine andere als die einmal ins Auge gefasste berufliche Per-

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spektive gibt. Zugespitzt formuliert heißt das aber auch: Wer sich früh entschließt, Berufspolitiker zu werden, hat später kaum eine Chance, diesen Wunsch zu korrigieren; er bleibt auf seine erste Option verwiesen. Das hat viele verhängnisvolle Konsequenzen, darunter auch die, dass es bereits in den Universitäten zu einer negativen Auslese für das spätere politische Personal kommt, weil hochqualifizierte und effektivitätsorientierte Studenten sich in aller Regel der „Ochsentour“ in einer politischen Partei und dem damit verbundenen Zeitaufwand nicht aussetzen wollen – auch hier beweisen Ausnahmen die Richtigkeit der These. Unter diesen Umständen sind praktische „Berufserfahrungen“, die für Berufspolitiker eigentlich erwünscht wären, nur in wenigen Fällen nötig, werden entsprechend selten gemacht, weil sie kaum Bedeutung für das Fortkommen innerhalb der Partei haben. Die Partei selbst gibt das Berufsfeld ab, in dem sich kommende „Berufspolitiker“ auf ihre Aufgaben vorbereiten und für ihren Aufstieg qualifizieren. Spätestens an dieser Stelle setzt eine erste „Entfremdung“ von der wirklichen Lebenswelt ein, von der Lebenswirklichkeit der Wahlbürger, die in der Sache schlecht, freilich aber unvermeidlich ist, weil anders die politische Karriere nicht bewerkstelligt werden kann. Hat der angehende Politiker die unterschiedlichen Ebenen parteipolitischer Betätigung durchlaufen und hat er dabei auch in Maßen seine Erfahrungen mit der Wirklichkeit der Gesellschaft in ihren verschiedenen Bereichen etwa durch Mitarbeit in der öffentlichen Verwaltung auf lokaler oder regionaler Ebene gemacht, sich dabei vor allem in seiner Partei unter parteipolitischen Gesichtspunkten qualifiziert, dann mag ihn am Ende ein Aufstieg in die Spitzenpositionen der Politik führen. Dort angekommen, wird er sehr bald ein Mitglied jener zirkulären Diskurse, die konstitutiv für die obersten politischen Ebenen sind. Denn spätestens auf der Landes- und Bundesebene des politischen Systems sind die wichtigsten Gesprächspartner eines Politikers die anderen Politiker. Das heißt, die Kommunikation innerhalb der eigenen Partei wie der politischen Klasse insgesamt und die hier ausgetauschten Informationen sind überlebenswichtig. Dabei mögen Parteigrenzen von einiger Bedeutung sein, aber sie sind nicht unüberwindlich, sondern es ist durchaus von Nutzen, über sie hinweg zwischenparteilich zu kommunizieren, wie es natürlich auch von Nutzen ist, Kontakte mit nahestehenden Interessengruppen und der eigenen Wählerklientel zu pflegen. Insgesamt jedoch macht ein Politiker die Erfahrung, die in der Systemtheorie schon lange als eine grundlegende Einsicht beschrieben wird: das politische System ist selbstreflexiv, es kommuniziert mit sich selbst unter einem eigenen Code – Macht/Ohnmacht – und nur mit Schwierigkeiten nach außen, mit anderen gesellschaftlichen Teilsystemen. Die daraus entstehende Selbstbezüglichkeit der Akteure wird durch deren Professionalisierungs-

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durchgang in den Parteien, in den öffentlichen Ämtern usw. entwickelt, gefestigt und bestärkt. So ist eine zirkuläre Kommunikation der politischen Klasse in sich selbst die Voraussetzung für eine erfolgreiche politische Karriere des Einzelnen zunächst in, dann auch außerhalb der Partei. Dieser Prozess einer gleichsam autistischen Elitenbildung erklärt auch, weshalb etwa in den Bundeskabinetten die Zahl derjenigen Minister, die keine konkreten Berufserfahrungen außerhalb des politischen Systems erworben haben, im Laufe der Jahre stetig zugenommen hat bis hin zu jenen Beispielen, die zeigen, dass man von der außerparlamentarischen Protest- und Oppositionsbewegung mit taktischen Fähigkeiten und strategischem Geschick über den Gang durch die politischen Institutionen direkt in die höchsten politischen Entscheidungspositionen gelangen kann, ohne je eine konkrete Berufsausbildung erfahren und Berufstätigkeit ausgeübt zu haben. Es reicht, Spezialist fürs Generelle und versiert in innerparteilicher Strategie und Taktik zu sein. Dass gleichwohl im Laufe der Jahre auch Erfahrungen gemacht werden können, die darüber hinausführen, ist unbestreitbar, mindert aber den Grundbefund in seiner Relevanz nicht.

III. Solchen Beobachtungen mit Blick auf das politische Personal lässt sich noch eine weitere Überlegung anfügen, die Frage nämlich, ob auch die zentralen politischen Institutionen des demokratischen Systems selbst inzwischen überfordert und überlastet sind, ob deren Zuschnitt noch realitätsangemessen ist, d.h. ob sie die ständig neu entstehenden gesellschaftlichen Probleme so aufzunehmen vermögen, dass sie auf längere Dauer gelöst werden können. Am offensichtlichsten stellt sich diese Frage in Bezug auf das Wahlrecht, das zu Beginn der Bundesrepublik stark umstritten war, mehrfach geändert wurde, bis es seine heutige Form fand und danach über lange Jahre für stabile Verhältnisse sorgte. Doch inzwischen sorgt dieses Wahlrecht mehr und mehr dafür, dass im Sinne politischer Richtungsentscheidungen keine klaren Mehrheiten mehr zustande kommen. Wie immer man Große Koalitionen hinsichtlich ihrer politischen Effekte beurteilen mag – dass sie das Ergebnis unklarer politischer Entscheidungsstimmungen und Entscheidungslagen in der Bevölkerung sind und somit Antworten auf Notlagen der Positionierung der politischen Parteien, wird sich kaum bestreiten lassen. Während in anderen westlichen Demokratien – wie etwa England – das Mehrheitswahlrecht für eindeutige parlamentarische Mehrheiten sorgt, die sich in der Bevölkerung so nicht widerspiegeln, aber immerhin ein kraftvolles Regieren erlauben, ergeben sich aufgrund des spezifischen bundes-

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republikanischen Proportionalwahlrechts sehr viel eher Patt-Situationen, die dann zur Bildung einer Großen Koalition zwingen. Aber auch Kleine Koalitionen, die nur über eine äußerst knappe Mehrheit im Parlament verfügen, gestatten keine mutigen konzeptionellen Visionen. Beides aber bedeutet in der Praxis: Politik auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner, auf einem billigen Kompromissniveau, dessen Auswirkungen dann wiederum jene Politikverdrossenheit nähert, die ursächlich ihre eigenen Ausgangslage heraufbeschworen hat. Institutionelle Überforderung: das heißt aber auch, dass die auf eine „Normallage“ politischer Probleme in einem prinzipiell intakten Nationalstaat ausgelegten differenzierten internen Organisationsstrukturen des parlamentarischen Systems mit Gesellschaftsproblemen von ganz neuer Qualität überfordert sind. Dabei geht es um Fragen sehr unterschiedlicher Art, die sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen: die Probleme etwa, die aus einer multikulturellen Zuwanderung mit quasi-ethnischer Ghettobildung resultieren und gravierende Auswirkungen auf die Religions-, Familien- und Bildungspolitik wie des Sozialsystems westlich-demokratischer Gesellschaften haben, lassen sich nicht vergleichen mit jenen ethischen, die sich aus der Entwicklung der Humanbiologie, Humantechnologie und Medizin ergeben. Für beides – und einige Probleme mehr – sind die Deliberations- und Entscheidungsstrukturen des Parlamentarismus ursprünglich nicht entworfen worden, und dementsprechend schwer tun sich auch die Parlamente, solche Fragen definitiv zu entscheiden. Sie neigen eher dazu, dilatorische Formelkompromisse in Gesetzesform zu gießen, die dann ihrerseits in der Bevölkerung auf Unverständnis, Abneigung oder gar Ablehnung stoßen, zumindest aber Gefühl der Unzufriedenheit produzieren. Kommt hinzu, dass die täglich überquellenden und ungefilterten Informationen infolge der Entwicklung der modernen Kommunikationstechnologie dort, wo sie bearbeitet werden müssen, immer nur selektiv aufgenommen und gewichtet werden können, so dass sich auch Wahrnehmungsverzerrungen im System wie bei den Politikern selbst unvermeidlich einstellen. Eine gleichsam „richtige“ oder auch „ausgewogene“ Informationsverarbeitung ist prinzipiell nicht leistbar, weil sie zum einen die Kapazität des politischen Systems und seiner Akteure, zum anderen die Finanzierbarkeit weit überfordern würde. Man kann die Reihe solcher Überlastungen, die politischen Institutionen betreffend, noch fortsetzen – die Belege sind erdrückend dafür, dass das parlamentarisch-demokratische System historisch zu einem Zeitpunkt entwickelt und durchgesetzt worden ist, als an die heutigen, in einer globalisierten Welt auftretenden Probleme noch nicht zu denken war. Um es auf eine Kurzformel zu bringen: Angesichts des Aufeinandertreffens einer über-

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quellenden Informationsflut auf eher traditionell strukturierte und funktionierende politische Institutionen sind sowohl die personellen wie systematischen Verarbeitungs- und Lösungskapazitäten des demokratischen Systems hoffnungslos überfordert. Die heutige Demokratie sieht sich mit der Tatsache konfrontiert, dass sie ihren Anspruch auf Lösung der entscheidenden Lebensfragen eines Staatsvolkes durch dieses Volk selbst immer weniger einlösen kann und dass daher das politische Personal wie die politisch-gesellschaftlichen Vermittlungsmedien in immer stärkeren Glaubwürdigkeitsdruck geraten und Glaubwürdigkeitsverluste hinnehmen müssen. Es ist schwer einzuschätzen, wann die Belastungsgrenzen erreicht sein könnten. Sollte in Deutschland die große Koalition bei der Lösung der gegebenen gesellschaftlichen Probleme versagen, könnte es zu Radikalisierungsbewegungen kommen. Die Zeit drängt zu Reformen, nicht nur in den gesellschaftlichen Teilsystemen, sondern auch im politischen System selbst.

IV. Die entscheidende Frage ist freilich, wo sich denkbare Lösungsperspektiven auftun und wie sie aussehen könnten. Um es vorweg zu sagen: wir haben zur Demokratie keine prinzipielle Alternative, weil andere Möglichkeiten im letzten Jahrhundert mit verheerenden Konsequenzen bereits durchexerziert worden sind. Alle nichtdemokratischen Formen des Regierens sind – das braucht an historischen Beispielen nicht eigens belegt zu werden – mit entschieden höheren Kosten verbunden, als sie durch die eben benannten Defizite der parlamentarischen Demokratie entstehen. Zu überlegen ist deshalb, an welchen Punkten eine Verbesserung der Situation vielleicht erreicht werden könnte. Das kann hier natürlich nicht gründlicher unternommen werden, dazu gibt es zuviel, was dann diskutiert werden müsste. Lediglich zwei Gesichtspunkte sollen thematisiert werden, weil sie besonders bedeutsam erscheinen. Zunächst: dass sich die komplexen Strukturen moderner Demokratie nicht vereinfachen und für den Bürger überschaubarer machen lassen, muss als gegeben hingenommen werden. Sowohl die internen Veränderungen der Gesellschaft wie die Internationalisierung der Politik erlauben es nicht, die demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsstrukturen wieder auf einfache und für jedermann übersichtliche Verhältnisse zurückzuführen. Hier gibt es keine Reformmöglichkeiten, und alle subsidiären Bemühungen, die meinen, man könne das System durch mehr Bürgernähe oder durch Formen direkter demokratischer Mitsprache und Mitentscheidung zum Positiven hin verändern, gaukeln Möglichkeiten vor, die einer Gesellschaft, die im harten internationalen Wettbewerb steht und ihr Überleben organisieren

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muss, nicht wirklich zur Verfügung stehen. Wer denkt, die gegebenen Probleme ließen sich durch eine weitergehende Demokratisierung angehen, läuft in eine Sackgasse – der Weg der Grünen von ihren Ursprüngen, der „grass root democracy“, hin zu einer heute normalen Parlamentspartei wie alle anderen auch, ist hierfür Beleg genug. Vielleicht – und mit allem Vorbehalt formuliert – könnte ein entscheidender Ansatzpunkt zur Reform in der Neuorganisation der Auswahl des politischen Personals liegen. Was hier möglich wäre, müsste in einer breiten Diskussion von Fachleuten erörtert und dann von den Parteien auch umgesetzt werden, zumindest als ein Versuch. Wichtig wäre wohl, dass Politiker, bevor sie die Politik zum Beruf machen, selbst eine qualifizierte Berufsausbildung durchlaufen und praktische Berufserfahrungen erwerben. Denn wer einer Gesellschaft Gesetze verordnet, sollte diese Gesellschaft aus eigener Erfahrung kennen. Dass der Bundestag einen Überhang an Beamten hat, dass z. B. in Parteivorständen Politiker(innen) sitzen, die (formal) im zwanzigsten Semester studieren, ist eine gesellschaftliche Schieflage, die unmittelbare politische Folgen hat. Es käme für alle Parteien wohl darauf an, hier einen auf die Bevölkerung bezogen soziologisch repräsentativen Querschnitt zu haben, d.h. aber auch: Eintritt und Aufstieg in einer Partei so zu organisieren, dass talentierte Interessenten von außen kommen können und eine echte Chance erhalten. Weniger Parteistrategen sind gefragt, als eine berufliche Elite, die sich auf Zeit politisch öffnen muss und von höchster sachlicher Kompetenz ist. In Deutschland ist der Elitenaustausch zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionsbereichen, also zwischen Politik, Wirtschaft oder Kultur, weitgehend unterentwickelt. Das Überwechseln vom einen in den anderen Bereich wird durch allzu viele Hürden erschwert, entspricht überdies nicht der deutschen Tradition, wäre aber vielleicht eine Möglichkeit, wenigstens auf Zeit die besten Köpfe des Landes für politische Führungsaufgaben zu gewinnen, soweit sie denn nicht von den Parteimaschinen sofort zermalen werden oder dem Positionsdenken derer, die schon drin sind, durch die Partei selbst geopfert werden – wie es dem ins Wahlkampfteam 2005 der CDU/CSU berufenen Steuerexperten Kirchhof widerfuhr. Es wäre wohl viel gewonnen, wenn das Bild des Politikers in der Öffentlichkeit sich allmählich verbessern ließe. Menschen brauchen Vorbilder, und so kommt es in schwierigen Zeiten darauf an, dass die politische Klasse selbst so lebt und handelt, wie sie es ihren Wählern zumuten möchte. Moralische Integrität und politische Intelligenz sind wichtiger als taktische Gewandtheit und strategische Verschlagenheit im Alltagsgeschäft. Über diesen personalen Aspekt hinaus wäre es sinnvoll, wenn die politischen Parteien über eine Reform ihrer selbst nachdenken würden. Nach

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dem Grundgesetz sind sie Teil der politischen Willensbildung, in der gesellschaftlichen Realität sind sie inzwischen krakenhafte Machtapparate geworden, die nahezu alles Öffentliche mitbestimmen wollen. In einer völlig überregulieren Gesellschaft gibt es faktisch kaum einen Bereich, in dem Parteien nicht mitsprechen, von der Wegeordnung bis zum Rundfunkrat. Sich hier – wie den Staat selbst – auf ein sinnvolles Maß zurückzunehmen, der Zivilgesellschaft wieder mehr Freiheit und Selbstbestimmung einzuräumen, wäre ein gewaltiger Reformschritt. Über strukturelle Reformen muss in diesem Zusammenhang nicht gesprochen werden. Sie betreffen den Föderalismus, der zur Neuregulierung ansteht und Vorschriften, die sowohl Bundes- wie Landes- als auch Kommunalrecht betreffen. In sechzig Jahren ist in der Bundesrepublik ein Regelungswerk des gesellschaftlichen Lebens insgesamt entstanden, das einer gründlichen Durchsicht und Neueinjustierung bedarf. Das reicht vom Grundgesetz und seinem Zusammenhang mit den europäischen Institutionen und einer (möglichen) europäischen Verfassung über die Reform der Verwaltung (Bürokratieabbau und Dienstrechtsreform) bis hin zur Neubestimmung von Staatszielen, die in einer sich permanent wandelnden Welt auch nicht diskussionslos davon kommen können. Hans Peter Bull hat jüngst aus seinen wissenschaftlichen wie politischen Erfahrungen heraus eine abgewogene Diskussion zu all diesen Fragen vorgelegt (Absage an den Staat? Berlin 2005), und auf das von ihm entfaltete Problemtableau sei hier verwiesen. Es steht zu hoffen, dass in der nun beginnenden Phase der großen Koalition deren Politiker sich der tiefgreifenden Probleme bewusst werden und sie jenseits allen Parteienstreites energisch angehen und zu lösen beginnen.

Schwächen der Demokratie Danilo N. Basta Als der Sozialismus in den neunziger Jahren, egal ob er ideologisch als „realer“ oder „selbstverwalteter“ bezeichnet wurde, seinen elenden Untergang erfahren hatte, obwohl er die Lösung des geschichtlichen Rätsels hätte sein sollen, als die Länder Ost- und Mitteleuropas ihren Ausgang aus der Sackgasse der Geschichte, wo sie jahrzehntelang kümmerlich lebten, zu suchen begonnen hatten, schien es, dass die Stunde der Demokratie geschlagen hatte, dass die Zeit der allumfassenden demokratischen Umwandlung gekommen war – die Zeit der Volksherrschaft im Interesse und zum Wohle aller Bürger.1 Auch in diesem Teil Europas wurde die Demokratie zum geflügelten Wort und universellen Allheilmittel für alle Krankheiten und Missgeschicke, an denen die mehr oder weniger totalitären Einparteienregime gelitten hatten. Alle beriefen sich auf die Demokratie; man sah in ihr die Rettung, den einzig möglichen und nicht weniger sicheren Weg zu einer normalen Gesellschaft, zur Marktwirtschaft und zum Parlamentarismus. Über Nacht wurden alle zu glühenden Demokraten und Freunden des Volkes – selbst diejenigen, die bis vor kurzem dessen rücksichtslose Unterdrücker und eifrige Vormunde waren. Bis dahin Funktionäre des Starrsinnes, Feinde der Freiheit und Verteidiger des politischen Monismus, verwandelten sie sich, jetzt demokratisch kostümiert, plötzlich in die Verfechter der Freiheit und Vertreter einer pluralistischen Demokratie. In dieser Beschwörung der Demokratie, in dieser ihrer unkritischen und brausenden Verherrlichung, in dieser Besessenheit von der demokratischen Form des politischen Regimes gibt es etwas Unwürdiges und Oberflächliches, etwas Undurchdachtes und Infantiles, sogar Widerwärtiges. Ganz zu schweigen von demokratischem Gerede, von moralischer Verdrehung der frisch gebackenen Demokraten, die noch gestern Todesfeinde einer – wenn auch scheinbaren und simulierten – Demokratie waren. Bis dahin ein Wort 1 Der erste Entwurf dieses Aufsatzes wurde Anfang des letzten Jahrzehnts des vorigen Jahrhunderts geschrieben. Dem Verfasser scheint es, dass die neueren Erfahrungen mit der Demokratie, einschließlich deren gewaltsamen Aufdrängung (Stichwort: Irak), den Grundtenor des Aufsatzes bestätigt haben. Ich widme ihn dem verehrten Kollegen Richard Saage zu seinem 65. Geburtstag, sich auf das erste Lesen seines wertvollen Kant-Buches aus dem Jahre 1973 und unser Zusammentreffen in Belgrad im Jahre 1997 anlässlich einer Kant-Tagung gerne erinnernd. – Der Verfasser.

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mit eigener Bedeutung und ein Begriff mit Sinn und Klarheit, ist die Demokratie gerade durch diesen unerträglichen Lärm, durch diese pervertierte Weise ihrer Universalisierung, entwertet, entleert, abgeschliffen und erniedrigt worden. Eben deshalb, weil sie eines von idola fori geworden ist, weil auf sie alle Hoffnung gesetzt und die Erfüllung aller Erwartungen durch sie erwünscht wird, artet die Demokratie zu einem eigenartigen politischen Gespenst aus, das, ähnlich wie früher der Kommunismus, um den mittelöstlichen Teil des alten Kontinents kreist. Aber nicht nur dies. Gerade wie zuvor der Kommunismus wurde die Demokratie zum alles verbindenden ideologischen Wert, zum einzigen und ausschließlichen ideologischen Vorbild erhoben. Es entstand eine Ideologie der Demokratie, die nicht weniger beharrlich und verblendet ist als die Ideologie des Kommunismus. Durch ihre Ansprüche global ausgerichtet, will sich diese Ideologie, darin anderen Ideologien gleich, allen aufdrängen, will sie alle Völker auf einmal und auf immer umfassen. Dabei berücksichtigt sie kaum geschichtliche, ökonomische, soziale, kulturelle oder psychologische Voraussetzungen, ohne welche die Demokratie nicht möglich ist. Sie sieht keine Schwierigkeit und kein Hindernis darin, dass die Gesellschaften, die von ihrer Struktur her autoritär waren, in denen die Diktatur des Proletariats (und in der Tat die Diktatur der kommunistischen Partei bzw. ihrer Spitze) herrschte, in denen zentralistisch verwaltet und planmäßig gewirtschaftet wurde, in denen es keine Spur einer politischen Kultur gab, die die Toleranz voraussetzt und die Unterschiedlichkeit pflegt, in denen Untertänigkeit und Kriecherei die Bedingungen des elementaren Daseins waren – dass also solche Gesellschaften sozusagen revolutionär2 zu demokratischen Gesellschaften werden. Vielmehr geht sie von der Überzeugung aus, die Demokratie könne einfach „eingeführt“, geradezu aufgepfropft werden. Die Ideologie der Demokratie will eine oktroyierte Demokratie. Man braucht nicht allzu viel Verstand, um einzusehen, welche Gefahren eine solche Umwandlung der Demokratie in eine Ideologie mit sich bringt. Es genügt nur folgendes zu sagen: Ideologisch unterstützt und aufgedrängt, kann die Demokratie selbstverständlich keine selbständige politische Tat des jeweiligen Volkes sein, worin allein die Bürgschaft nicht nur für ihren Wert, sondern auch für ihre Dauerhaftigkeit liegen würde. Erhoben zu einem ideologischen Kanon, verliert die Demokratie ihre authentische Wirkungskraft und ihre Lebendigkeit. Unter diesen Umständen gibt es so gut wie keine Möglichkeit und keinen Raum für ein nüchternes Wort über die Demokratie, geschweige denn für ein 2

Übrigens ist der Ausdruck „nachholende Revolution“ (Habermas), mit dem die Natur der demokratischen Umwälzungen in den osteuropäischen kommunistischen Ländern bezeichnet wird, nicht zufällig erfunden.

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warnendes oder gar kritisches. Das Pathos der Demokratie, welches die Geister ergriffen hatte, schuf keinen günstigen Boden, keine empfängliche Atmosphäre dafür, die Aufmerksamkeit auf die Schwächen und Mängel der Demokratie zu lenken. Auch innerhalb ernstzunehmender intellektueller Kreise hat sich ein – wenn das so gesagt werden darf – demokratischer Apriorismus verbreitet, d.h. ein fester Standpunkt, demzufolge die Demokratie im Voraus als ein höchstes politisches Gut angenommen und jeglicher kritischen Erörterung entzogen wird. Selbst in diesen Kreisen wird die wenig harmlose und deshalb sehr bezeichnende Tatsache übergegangen, dass während der langen und reichen Geschichte des politischen Denkens eine erhebliche, vielleicht überwiegende Zahl ihrer Repräsentanten, darunter auch die bedeutendsten, keine wohlwollende Ansicht in Bezug auf die Demokratie vertraten. Im Gegenteil, sie sahen sie als eine minderwertige politische Staatsform an. Aber auch diejenigen, welche die Demokratie grundsätzlich positiv beurteilten, die sich im Klaren darüber waren, dass die immer größere Verbreitung der Demokratie in der Neuzeit als ein Gesetz der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung bezeichnet werden kann, als eine Bewegung, die zwar verlangsamt, nicht aber aufgehalten werden kann, wie es beispielsweise der scharf- und feinsinnige Analytiker der Demokratie Alexis de Tocqueville war, hatten keineswegs die Tatsache aus den Augen verloren, dass die Demokratie große Mängel und Schwierigkeiten in sich birgt. Ihrem Blick blieb es nicht verborgen, dass der Demokratie diese Mängel und Schwierigkeiten immanent sind, dass sie aus ihrem Wesen hervorgehen und nicht etwas Zufälliges und Beiläufiges sind, was leicht zu beseitigen wäre. Dürfen wir uns gegenüber diesen, für die Demokratie ungünstigen, Erkenntnissen der großen politischen Denker in einer ignorierenden und abwertenden Weise verhalten? Können wir es uns erlauben, uns über ihre Warnungen, welche die Schwächen und Krankheiten der Demokratie betreffen, hinwegzusetzen, als ob diese nie ausgesprochen worden wären? Sollen wir, die wir durch die Begeisterung für die Demokratie verblendet sind, wir, die nach vielen Jahren der Erniedrigung und der durch die totalitäre Herrschaft verursachten Narben die unzweifelhaften Vorteile der Demokratie herbeisehnen, sollen wir die Einsichten und Argumente vernachlässigen, die der Demokratie nicht zugute kommen, die vielmehr ihre andere, weniger glanzvolle Seite an den Tag bringen? Allein um welche Erkenntnisse, Warnungen, Einsichten und Argumente handelt es sich? Worin bestehen eigentlich die Schwächen und Mängel der Demokratie? Um diese Fragen zu beantworten, und damit auch die unmittelbar vorher aufgeworfenen, ist es notwendig, zunächst auf Platon zurückzugreifen. Bekanntlich war dieser unumgängliche politische Denker, der seine politische

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Philosophie auf seiner metaphysischen Ideenlehre aufbaute, kein Anhänger der Demokratie. Er unterzog sie vielmehr einer vernichtenden Kritik. Diese Kritik, auf die sich viele spätere Gegner der Demokratie ebenso beriefen wie die Vertreter einer „offenen Gesellschaft“ sie verwarfen, muss wohl ernst genommen werden. Kurz gesagt, ist deren Spitze gegen jene Übertreibungen gerichtet, die durch die Demokratie begünstigt werden.3 Man übertreibe Platon zufolge nämlich in Bezug auf beide Grundlagen der Demokratie: sowohl in Bezug auf die Gleichheit als auch in Bezug auf die Freiheit. Alle betrachten sich in allem als gleich und gleichberechtigt. „Der Vater gewöhnt sich an Gleichberechtigung mit seinen Kindern und hat Furcht vor seinen Söhnen. Der Sohn hat weder Ehrfurcht noch Scheu vor dem Vater und seinen Eltern. [. . .] Der Metöke gilt soviel wie der Bürger und der Bürger soviel wie der Metöke, ebenso auch der Ausländer“4. Dasselbe ungezügelte Übermaß herrsche auch angesichts der Freiheit. Platons Auffassung zufolge begnüge sich der demokratische Mann mit keiner anderen als mit der ungebundenen und uneingeschränkten Freiheit, genauso wie das Streben des oligarchischen Mannes nach Reichtum unersättlich sei. Da sich der Geist der Freiheit über alles verbreitet habe und die Anarchie, wie Platon bildlich sagt, in alle Häuser eingedrungen sei, werde die Seele der Bürger schwächlich. „Sie erzürnen sich und können es nicht vertragen, dass man nur ein wenig Unterordnung von ihnen verlangt.“5 Endlich hören die Bürger eines demokratischen Staates auf, die Gesetze zu beachten, „weder die geschriebenen noch die ungeschriebenen. Es soll keiner in irgendeinem Sinne ihr Herr sein.“6 Dadurch gelangt man zu jenem gefährlichen Punkt, wo ein Umschwung unvermeidlich wird. Worin auch immer und wo auch immer es erscheint, „hat das Übermaß in der Regel einen Umschlag ins Gegenteil zur Folge.“7 Indem die Demokratie auf einer übertriebenen Gleichheit und Freiheit beruhe, schlage sie aus sich selbst, also durch die Ursachen, die in ihr selbst liegen, in eine Staatsform um, die gemäß der Platonischen Lehre über den zyklischen Lauf und Untergang der Staatsformen einen niedrigeren Stellenwert hat als die Demokratie selbst, nämlich in die Tyrannis. Denn „übergroße Freiheit schlägt in nichts anderes um als in übergroße Knechtschaft. Das gilt für die einzelnen wie für den ganzen Staat.“8 Es stellt sich heraus, „dass die Tyrannis aus keiner anderen Staatsform hervorgeht als aus der Demokratie; die ärgste und härteste Sklaverei aus der doch wohl größten Freiheit.“9 3 4 5 6 7 8

Vgl. Platon 1908, VIII, S. 284 ff. Ebd., S. 284. Ebd., S. 285. Ebd. Ebd., S. 286. Ebd.

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Wenn es um die Grundschwäche der Demokratie geht, so hat also bereits Platon auf den Kern der Sache hingewiesen. Diese Schwäche, die in der Sprache Platons den Namen Krankheit trägt, geht aus den unlösbaren Schwierigkeiten mit den demokratischen Grundwerten der Gleichheit und Freiheit hervor. Auch wenn Platon weniger die Wechselbeziehung von Gleichheit und Freiheit, stattdessen viel mehr ihre Extreme und Übergrößen im Auge hatte, so hat er klar eingesehen und deutlich darauf aufmerksam gemacht, dass sich die Demokratie selbst in Frage stellt, dass sie sich selbst gerade dort untergräbt, wo sie am Beständigsten sein sollte: in ihren eigenen Grundlagen von Freiheit und Gleichheit. Dass die Demokratie in ihrem Inneren die Tyrannis vorbereitet, dass der demokratische Mann nur ein Vorgänger des tyrannischen Mannes ist: Diese Einsichten Platons – wie sonderbar und fernliegend sie auch immer aus unserer Perspektive heraus sein mögen, wie sehr sie auch von der heutigen Auffassung von Demokratie abweichen mögen – sind äußerst denkwürdig. In Ihnen liegt mehr Wahrheit, als es auf den ersten Blick scheint. Abgesehen von manchen Unterschieden, beurteilte mit Aristoteles noch ein weiterer großer Vertreter des antiken politischen Denkens die Demokratie im Wesentlichen wie Platon. Auch bei ihm stand die Demokratie in einem eher schlechten Ruf. Seines Erachtens gehört die Demokratie zu jenen Verfassungen, die ein Abweichen von den richtigen Verfassungen darstellen.10 Richtig aber sind jene Staatsformen, in denen – abgesehen davon, ob der Eine, die Wenigen oder die Mehrheit regiert bzw. regieren – im Sinne des Gemeinwohls regiert wird. Sollte jedoch nur zum eigenen Nutzen regiert werden, handelt es sich um verfehlte Staatsformen – selbst dann, wenn die Mehrheit auf diese Weise regiert. Nach Aristoteles gibt es drei dieser verfehlten Staatsformen: die Tyrannis, die Oligarchie und die Demokratie. In der Demokratie regiert die Mehrheit der Armen. Es ist interessant, dass bei Aristoteles die Demokratie eine Abweichung von der Politie darstellt, d.h. von jener Staatsform, welche die Regierung der Mehrheit mit Gemeinwohlorientierung darstellt. (Sonst ist die Politie der gemeinsame Name für alle Verfassungen.) Das würde also bedeuten, dass die Demokratie jene verfehlte Form von Verfassung ist, die gemäß der Aristotelischen Bestimmung als echte, wahre Demokratie angesehen werden könnte. Aristoteles ließ sich auch auf eine weitere Unterteilung der Demokratie, die er für die erträglichste aller verfehlten Staatsformen hielt, ein. Er unterschied einige Arten der Demokratie11, unter denen sich auch jene befindet, auf die in unserem Zusammenhang die Aufmerksamkeit zu lenken ist. Es 9

Ebd. Vgl. Aristoteles 1989, 1279b, S. 169 f. 11 Vgl. Ebd., 1291b und 1292a, S. 211 ff. 10

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handelt sich um eine volksverführerische (demagogische) Demokratie, die dort existiert, wo die oberste Macht bei der Menge liegt und nicht vom Gesetz ausgeht. Dabei bewirken die Volksführer, dass, statt den Gesetzen, die Volksbeschlüsse die entscheidende Kraft haben. Wo aber nicht das Gesetz regiert, da erscheinen die Schmeichler, da wird das Volk zum Monarchen und seine Macht despotisch. „Schuld aber daran, daß die Abstimmungsbeschlüsse entscheidend sind und nicht vielmehr die Gesetze, sind die (Schmeichler – D. B.), die alles vor das Volk bringen. Denn so kommt es, daß sie groß werden, weil das Volk über alles entscheidet, sie aber über die Meinung des Volkes. Denn die Menge gehorcht ihnen.“12 Eine volksverführerische Demokratie unterscheidet sich ihrem Charakter nach nicht von der Tyrannis, denn „beide herrschen despotisch über die Besseren“. Aristoteles leugnete vielmehr nachdrücklich, dass eine solche Demokratie überhaupt als eine Verfassung angesehen werden dürfe, weil es dort, wo keine Gesetze herrschen, keine Verfassung geben kann. Eine echte Verfassung setzt ihm zufolge immer die Herrschaft der Gesetze voraus. Die Beispiele Platons und Aristoteles’ zeigen unzweifelhaft, dass schon sehr früh im europäischen politischen Denken große Schwächen der Demokratie erkannt worden sind. Obwohl beide Denker auf ihre griechische politische Erfahrung hin verstanden werden müssen, haben ihre Einsichten in die Schwächen und Schwierigkeiten der demokratischen Staatsform doch eine fortdauernde Bedeutung, weil sie wesentliche Probleme treffen. Insofern beinhalten diese Einsichten ein kraftvolles und kritisches Potential für jedes Denken, das dem Problem der Demokratie nachgeht. Neben diesen Schwierigkeiten und Verlegenheiten, denen die Demokratie infolge der Spannung zwischen ihren Grundsätzen der Freiheit und der Gleichheit ausgesetzt ist, weil diese einander Abbruch tun und sich widersprechen können, weist die Demokratie aber noch weitere Schwächen und Mängel auf. Unter diesen ist die Allmacht (die Tyrannei) der Mehrheit vielleicht am auffälligsten. Sie geht freilich aus der Natur der Demokratie selbst hervor. Denn diese ist nichts anderes als die Herrschaft der Volksmehrheit. Das bedeutet zugleich, dass die Demokratie als solche die Vorherrschaft einer Mehrheit über eine Minderheit darstellt: eine Dominanz, die bis zur Gefährdung der Minderheit gehen kann. Die Minderheit ist gezwungen, sich dem Willen und den Gesetzen der Mehrheit zu unterwerfen, weil sie bei der Entscheidungsfindung der Zahl nach schwächer blieb. Dabei ist jedoch nicht auszuschließen, dass der Wille der Mehrheit zur bloßen Willkür gerät, welcher die Minderheit auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Insofern ist es prinzipiell möglich, dass in der Demokratie die Interessen von Minderheiten unberücksichtigt und schutzlos bleiben. 12

Ebd., 1292a, S. 213.

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Mit der Herrschaft bzw. Vorherrschaft der Mehrheit als einer der Demokratie inhärenten Einschränkung hängt noch eine weitere Schwäche der Demokratie sehr eng zusammen. Es handelt sich um das Problem, dass es für die Vernünftigkeit und Güte der Mehrheitsentscheidung keine Gewährleistung gibt. Der Umstand, dass eine Entscheidung durch die Mehrheit getroffen wurde, reicht allein nicht aus, um von einer vernünftigen und guten Entscheidung zu sprechen. Im Grunde sind diese Entscheidungen zunächst nur das Ergebnis einer rein numerischen Übermacht. Wahrheit und gute Gründe müssen sich aber nicht zwangsläufig im Besitz der Mehrheit, die irgendeine Entscheidung trifft, befinden. Im Gegenteil: Die Wahrheit und überzeugendere Gründe können gerade auch auf der Seite der Minderheit liegen und das ist nicht selten der Fall. Die Mehrheit hinter einer Entscheidung ist damit also keinesfalls ein Garant für die Vernünftigkeit derselben. Dieser Verlegenheit kann die Demokratie anscheinend weder vorbeugen noch kann sie diese vermeiden. Der demokratische Entscheidungsprozess, bei dem die Mehrheit entscheidet, wird unter den Bedingungen einer modernen, im Hinblick auf Technologie und Industrie hochentwickelten Gesellschaft noch problematischer und fragwürdiger. Denn eine solche Gesellschaft, die ein System mit verschiedenen Subsystemen ist, erfordert es an sich, dass Entscheidungen letztlich auf Grund von Fachwissen getroffen werden, über welches die Mehrheit in der Regel nicht verfügt. Derartige Entscheidungen dürfen, selbst wenn man es wollte, der Mehrheit einfach nicht überlassen werden. Die Demokratie im Allgemeinen und damit eben auch die Massendemokratie unserer Zeit setzt die Öffentlichkeit voraus, und zwar nicht irgendeine Öffentlichkeit, sondern eine nüchterne, aufgeklärte, eine kritische Öffentlichkeit. Von einer solchen Öffentlichkeit kann aber kaum die Rede sein, behält man die fürchterlichen und praktisch uneingeschränkten Manipulationsmöglichkeiten der Medien im Auge. Die Macht der Massenmedien, hinter denen ausnahmslos gewaltige politische und finanzielle Interessen stehen, ist groß genug, um damit die öffentliche Meinung zu verwalten und nach Belieben zu lenken. Man denke an die bekannten Worte Hegels über den modernen Menschen, der morgens nicht mehr in die Kirche geht, sondern die Zeitung in die Hand nimmt. Der normale Mensch von heute, auf dem die Massendemokratie beruht, ist ein bloßer Manipulationsstoff, der auf Grund des Gelesenen und Gesehenen bereit ist, selbst den schicksalhaftesten Entscheidungen zuzustimmen, die vorher hinter seinem Rücken vorbereitet und getroffen worden sind. In einer Massenmedien-Demokratie, in der die Medien raffiniert dirigiert und kontrolliert werden, ist es durchaus möglich, dass einer, der vor zwei Monaten im politischen Raum zum ersten Mal erschienen ist, schon morgen an die Spitze eines solchen demokratischen Staates gelangt. Auch diesem Problem der Manipulierbarkeit durch

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die Medien vermag die Demokratie allem Anschein nach nicht zu entkommen. Darin liegt eine ihrer unvermeidlichen Schwächen. Die moderne Demokratie einer Massengesellschaft ist notwendig durch ein Mehrparteiensystem gekennzeichnet. In ihr wirken eine Menge politischer Parteien. Bei allen Vorteilen, die ein Mehrparteiensystem mit sich bringt, sind seine Nachteile jedoch nicht außer Acht zu lassen. Dabei handelt es sich nicht nur um jene endlosen Kämpfe zwischen den Parteien, die mit blinder politischer Leidenschaft geführt werden, nicht nur um die verlogenen Versprechen und falschen Hoffnungen, mit denen die Parteien ihre Wähler, Anhänger und dazu auch alle anderen Bürger überschütten. Es handelt sich also nicht nur um ein unfruchtbares und völlig zweckloses Treiben der Parteien. Es geht vornehmlich darum, dass eine größere Zahl von Parteien – zumal dort, wo eine geringe wirtschaftliche Entwicklung, eine ungenügende Aufgeklärtheit und eine niedrige Stufe politischer Kultur herrschen – das politische Wesen des Volkes auf gefährliche Weise zersetzen und so den politischen Körper verderben können. Eigentlich zur Erhaltung und Förderung des Gemeinwohls, zum Wohl des Volkes, zur Bewahrung und Veredelung seines Wesens errichtet, kann sich eine Mehrparteiendemokratie auf diese Art in ein Regime verwandeln, welches dieses Wohl und das Wesen des Volkes auflöst. Über jenen Mangel der Demokratie (insbesondere der Demokratie in der heutigen Zeit), der mit Termini wie Durchschnittlichkeit, Mittelmäßigkeit, Einförmigkeit, Konformismus etc. beschrieben wird, ist schon viel gesagt worden. In der Tat geht die heutige Demokratie jenem Menschentypus zur Hand, dem diese Eigenschaften innewohnen. Sie pflegt ihn und sie stützt sich auf ihn. Der entpersonalisierte Einzelne, der mittelmäßige Bürger, der durchschnittliche Wähler, der einförmige Massenmensch – dies ist der demokratische Mann, um den sich demokratische Politiker besonders bemühen, auf dessen Schultern sie stehen und dessen Wünsche sie mehr oder weniger zu erfüllen suchen. Ein solcher demokratischer Mann, der in regelmäßigen Abständen großzügig aufgerufen wird, bei Wahlen seine Stimme abzugeben und dadurch seinen Willen zum Ausdruck zu bringen, ist die eigentliche Seele und der eigentliche Stoff der gegenwärtigen Demokratie, so wie diese Demokratie ein Spiegel aller Eigenschaften dieses Mannes ist. Ihm wird geschmeichelt und hinterhergelaufen, ihm wird der Hof gemacht, er wird beschwört. Die Demagogen kämpfen um sein Gemüt und seine Zuneigung und er wiegt sich in der Vorstellung, das wahre politische Subjekt und der unumgängliche Faktor aller politischen und Staatsentscheidungen zu sein. – Die gegenwärtige Massendemokratie bewegt sich ununterbrochen in diesem Teufelkreis einer demagogisch und schmeichlerisch gepflegten Durchschnittlichkeit und Mittelmäßigkeit ihrer Träger und Anhänger.

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Es gibt eine große Schwäche der Demokratie, die eine relativistische Auffassung von ihr nicht vermeiden kann, wenn sie davon ausgeht, dass die Demokratie nur eine politische Form und kein ideologisches Programm sei. Vielleicht vermag man diese Schwäche am besten einzusehen, wenn man den bekannten Satz von Saint-Just, dass es keine Freiheit für die Feinde der Freiheit gibt, paraphrasiert und sagt, es gebe keine Demokratie für die Feinde der Demokratie. Es handelt sich dabei eigentlich um das Problem einer Selbstaufhebung der Demokratie. Denn wenn die Demokratie ihrem Wesen nach, als eine Form also, die grundsätzlich für jeden politischen Inhalt offen ist, es ermöglicht, dass in ihr auch jene wirken und ihre Vorteile auch diejenigen nutzen können, die gegen die Demokratie eingestellt sind, die die Demokratie in Frage stellen und sie verwerfen, dann kann dies den Tod der Demokratie – oder richtiger: deren Selbstmord – zur Folge haben. Um ihr Wesen zu behalten, ist die Demokratie durch ihre eigene Logik gezwungen, in ihrem Rahmen auch ihre Feinde und ihre potentiellen Zerstörer zu dulden. Darin liegt die eigentümliche Paradoxie der Demokratie, darin besteht ihre große Herausforderung und nicht bloß eine gewöhnliche und harmlose Verlegenheit. Die Schwächen der Demokratie liegen auf der Hand. Es sind nicht wenige und in ihrer Bedeutung keine geringen, auch wenn sie – was es zu betonen gilt – selbstverständlich hinter den Schwächen und Mängeln der undemokratischen Systeme zurückbleiben. Wenn eine der Hauptschwächen der Demokratie aus der inneren Unstimmigkeit, vielleicht auch Unvereinbarkeit von Freiheit und Gleichheit – also ihren Grundsätzen – herrührt, ist dies ohne Zweifel bei weitem erträglicher als überhaupt kein Dasein oder gar das Zertreten von Freiheit und Gleichheit innerhalb undemokratischer politischer Systeme. Und dennoch sind die Schwächen und Mängel der Demokratie nicht zu unterschätzen und noch weniger zu verbergen. Man muss sie im Sinn behalten, zumal heutzutage, wo die Demokratie allseits gepriesen und gelobt wird, wo sie in einen politischen Mythos verwandelt, wo in ihr leichtsinnig das einzige Mittel für alle durch den Zerfall des Sozialismus entstandenen Schwierigkeiten und Nöte gesehen wird. Einem schärferen Blick wird es nicht entgehen, dass die Demokratie von einem epochalen Standpunkt aus die geeignetste Form ist, in der die besessene Ausbeutung der Natur durch die Herrschaft von Wissenschaft, Industrie und Technik globale Dimensionen erhält. Ist es nicht gerade dieser Punkt, nämlich dass die unwiderstehliche Verbreitung und bei Bedarf auch Oktroyierung der Demokratie von dieser Ausbeutung begleitet wird, der durch das betäubende Gerede und die selbstlobende Prahlerei vernebelt wird? Besteht die eigentliche Schwäche der Demokratie nicht hauptsächlich darin, dass sie ein Werkzeug in den Händen des Willens zur Macht ist, dass

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sie der angemessenste Rahmen für die entfesselte nihilistische Verwüstung ist, wenn nicht gar eine Erscheinungsform des europäischen Nihilismus in seinem planetarischen Feldzug? Literatur Aristoteles, Politik, übers. und hrsg. v. Franz F. Schwarz, Stuttgart 1989 (zitiert: Aristoteles 1989). Platon, Der Staat, übers. v. August Horneffer, Leipzig 1908 (zitiert: Platon 1908).

Chancen und Gefahren für die Demokratie im 21. Jahrhundert Janusz Sztumski Die heutige Demokratieform entwickelte sich, wie aus der Analyse der Geschichte hervorgeht, parallel zum Kapitalismus und wurde zum politischen Bestandteil dieses gesellschaftlich-ökonomischen Systems. Es ist also kein Zufall, dass sie zuerst in den Ländern entstand, in denen die sozialökonomischen Gegebenheiten die Entwicklung des Kapitalismus begünstigten, wie es z. B. im 17. Jahrhundert in England und Frankreich der Fall war. Man sollte in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Verbindung zwischen Wirtschaft und Politik betonen – die politische „Ergänzung“ des ökonomischen Liberalismus war der politische Liberalismus, dessen Verkörperung die liberale Demokratie ist, die im 19. Jahrhundert die Form der bürgerlichen Demokratie, in der das Bürgertum zu der regierenden Klasse wurde, annahm. Im Zentrum der sich formierenden liberalen Gesellschaft spielte die „Marktwirtschaft“ eine ständig wachsende Rolle – d. h. die so genannte „freie Marktwirtschaft“ – und bestimmte das Verhalten von homo oeconomico-politicus; es wäre anzumerken, dass sich das bis heute nicht wesentlich verändert hat. In Anbetracht der o. g. Überlegungen klingt die Aussage von Joseph Schumpeter, der die liberale Demokratie als „Konkurrenzdemokratie“ bezeichnete, überzeugend. In Anlehnung an diesen Gedanken formulierte Anthony Downs eine Vermutung, wonach zukünftig in demokratischen Ländern Parlamentsabgeordnete sowie Regierungsmitglieder die Wahlen als Chance betrachten werden, die maximale Stimmenzahl zu bekommen, um ihren eigenen Einfluss- und Machtbereich zu vergrößern. Die Wähler wiederum werden erwarten, dass die kandidierenden Parteien und Politiker Entscheidungen treffen, die in ihrem Interesse liegen. Aus diesem Grunde werden seiner Meinung nach Politiker ähnliche Methoden der Werbung verwenden, wie die, welche beim Verkauf verschiedener Waren üblich sind1, um die Wählerstimmen zu erhalten. In Anbetracht dieser Überlegungen stellt er die These auf, dass zukünftig von einer „marktwirtschaftlichen Demokratie“ die Rede sein wird. 1

Vgl. Downs 1968, S. 33 ff. sowie S. 224 ff.

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Man sollte in diesem Kontext folgende Frage stellen: Gibt es in unserer Zeit tatsächlich so etwas wie die „marktwirtschaftliche Demokratie“, in der mehr oder weniger abstrakte Waren ausgetauscht werden – und zwar nach dem Angebot-Nachfrage-Prinzip? Persönlich bin ich überzeugt, dass diese Vereinfachung das Phänomen der Demokratie nicht richtig wiedergibt. Neben dem ökonomischen sind auch andere, z. B. ideologische und soziologische, Faktoren an der Gestaltung der Demokratie beteiligt, deren Bedeutung nicht zu unterschätzen ist. Abgesehen davon existieren keine Beweise dafür, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem zwangsläufig die Entstehung des politischen Liberalismus hervorruft. So halte ich die These von Seymour Martin Lipset („es gibt eine Verbindung zwischen der Demokratie und dem ökonomischen Entwicklungsgrad; je reicher eine Nation ist, desto wahrscheinlicher ist das Auftreten des demokratischen Herrschaftssystems“), welche er in der Mitte des 20. Jahrhunderts formulierte, mehr für den Ausdruck einer bestimmten ideologischen Überzeugung als für ein Resultat einer kritischen Analyse der Fakten. In diesem Zusammenhang soll darauf hingewiesen werden, dass das Verbinden des Kapitalismus mit der Demokratie eine weit verbreitete Tendenz ist, die aus dem Beitrag resultiert, den der Kapitalismus zur Entwicklung der modernen Demokratie leistete: Er riss die Schranken der Ständegesellschaft nieder und hob die früheren Beschränkungen des feudalistischen Systems auf. Durch die Einbeziehung einer großen Zahl von Bürgern sowie ihr Engagement und deren Beteiligung am politischen Leben wurde der gesellschaftliche Einflussbereich der Demokratie gefördert. An Stelle der früheren Restriktionen wurden allerdings neue eingeführt, denn der Kapitalismus hat das Geld als ein neues Instrument der Reglementierung eingeführt. Man könnte sogar sagen, dass sich das Geld als ein Kriterium etablierte, welches den Umfang bürgerlicher Freiheiten definiert. Und so kann rein theoretisch jeder Bürger des kapitalistischen Staates für ein Amt kandidieren – vorausgesetzt, er hat die für dieses Unternehmen nötigen Finanzmittel. Er kann seine Kinder auf jede Schule schicken – aber nur dann, wenn er imstande ist, dies zu bezahlen. Er kann aus irgendwelchen, möglicherweise sogar fiktiven Gründen vor Gericht gehen, um seine Rechte geltend zu machen – unter der Bedingung, dass er das Geld hat, welches nötig ist, um die damit verbundenen Kosten (Gerichtsverfahren, Rechtsanwälte usw.) zu begleichen. Die einzige Begrenzung der vollen Partizipation an der Demokratie ist also das Geld. Diese Hürde ist jedoch groß genug, um die Zahl der Teilnehmer drastisch zu minimieren – sodass für eine große Menge der Bürger ihre Beteiligung am politischen Geschehen auf die Stimmenabgabe für „ihren Kandidaten“ am Tag der Wahlen reduziert ist, welcher selbstverständlich in einem „demokratischen Verfahren“ ausgesucht wurde – durch subtile

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Manipulationen der wirtschaftlich-politischen Eliten, die man euphemistisch als die „unsichtbare Hand des Marktes“ oder – noch eleganter – als Lobbyisten bezeichnet. Im Klartext könnte man solche „Gruppierungen“ auch „Maffias“ oder „Geheimdienste“ nennen. Die stolzen Parolen über Chancengleichheit sowie Gleichheit vor dem Gesetz erweisen sich aufgrund der existierenden wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten als Fiktionen. Ein Kind, dessen Eltern nicht über die nötigen Mittel verfügen, um es auf eine gute, aber teure Schule zu schicken, hat kaum eine Chance, in Zukunft eine höhere gesellschaftliche Position zu erreichen. Jemand, der inhaftiert wurde, kann die Untersuchungshaft nicht verlassen, wenn er nicht genug Geld hat, um die Kaution zu bezahlen.2 Wenn man das alles berücksichtigt, muss man sich die Frage stellen, ob der heutige Kapitalismus tatsächlich die Existenz der Demokratie begünstigt? Es ist zwar – wie schon erwähnt – wahr, dass der Kapitalismus zur Entstehung der liberalen Demokratie beitrug, allerdings handelte es sich dabei um den früheren Kapitalismus, in dem die Konkurrenz auf dem Markt noch möglich war. Dieses System veränderte sich im Laufe der Geschichte und mutierte zum monopolistischen Kapitalismus, in dem oligopolistische Produktionsstrukturen auftreten, d. h. eine kleine Zahl von wirtschaftlichen Potentaten, die zwar manchmal untereinander konkurrieren, sich aber oft tolerieren und gemeinsam um Einflussbereiche kämpfen, wobei sie sowohl ökonomische als auch militärische Mittel einsetzen. Bei der Betrachtung der Verhältnisse zwischen Kapitalismus und Demokratie sollte man nicht vergessen, dass der Kapitalismus – ähnlich wie alle bisher existierenden wirtschaftlichen Systeme – einen dynamischen Charakter hat, d. h. er entwickelt und verändert sich im Laufe der Zeit. Aus diesem Grunde sollte man die Relationen zwischen Markt und Politik, Markt und Staat sowie Arbeit und Kapital nicht statisch, sondern dynamisch verstehen und dementsprechend verschiedene Stadien des Kapitalismus analysieren. Wenn man die auftretenden Veränderungen des Kapitalismus beobachtet, erscheint die These, dass dieses System in der früheren Phase (des liberalen Kapitalismus) die liberale Demokratie förderte, logisch; im monopolistischen Kapitalismus hingegen kann man eine sich immer stärker manifestierende Begrenzung der Demokratie feststellen. Es ist auch ersichtlich, dass der heutige Kapitalismus Mechanismen entwickelt, die es unmöglich machen sollen, ihn auf demokratische Weise als System abzuschaffen. Kapitalistische Monopole beherrschen die wichtigsten Zweige der Wirtschaft in kapitalistischen Staaten und bilden finanzielle Oligarchien, die aufgrund der starken Konzentration von Reichtümern einen riesigen politischen Einfluss 2

Vgl. Sztumski 2003, S. 174 ff.

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in ihren Händen erreichen. Kartelle, Konzerne, Syndikate und Trusts entwickeln sich heutzutage in den kapitalistischen Ländern immer mehr sowohl zu wirtschaftlich als auch zu politisch mächtigen Organisationen. Das führt zur Entstehung des staatsmonopolistischen Kapitalismus und in Folge dessen zur Herausbildung von internationalen kapitalistischen Monopolen, welche die in der Welt existierenden Rohstoffe und Absatzmärkte unter sich aufteilen. Sie bestimmen allerdings nicht nur die Preise, sondern auch politische Angelegenheiten. In Anbetracht dessen erscheint es verständlich, dass Staaten sich in ihren wirtschaftlichen und politischen Rechten durch die international aktiven Monopole bedroht fühlen – die Brisanz der Problematik ist besonders ersichtlich, wenn man die Möglichkeiten betrachtet, die solche Organisationen haben: Sie sind z. B. im Stande, ernsthafte ökonomisch-politische Krisen hervor zu rufen. Als Resultat des Entgegenwirkens der negativen Folgen des Kapitalismus ist der staatliche Interventionismus zu betrachten, welcher versucht, nationale Interessen zu vertreten und somit die Existenz des Staates zu sichern. Die heutigen kapitalistischen Staaten bemühen sich, sowohl die Kontrolle über die Wirtschaft zu bewahren als auch eigene Sozialpolitik zu betreiben, um soziale Spannungen zu entschärfen, die in Folge von Arbeitslosigkeit und fortschreitender Pauperisierung breiter Gesellschaftsteile entstehen. Der Höhepunkt des staatlichen Interventionismus ist der Staatskapitalismus. Der heutige kapitalistische Staat muss also versuchen, zahlreiche widersprüchliche Interessen zu vereinbaren; z. B. muss er sich einerseits um die Aspirationen der internationalen Strukturen der Monopole, anderseits um das wirtschaftliche Wachstum des Landes kümmern. Abgesehen davon, stehen dem Wunsch der Kapitalisten, die Gewinne zu maximieren, die materiellen Bedürfnisse der Arbeitnehmer entgegen, die darin bestehen, möglichst viel zu verdienen, um am Konsum auf einem im Staat angemessenen Niveau partizipieren zu können. Aus dem Ringen mit dem Kapital gehen die Staaten nicht als Sieger hervor; sie sind in einem zunehmenden Maße gehorsam gegenüber den Institutionen, die den internationalen Kapitalismus anführen.3 Dadurch entwickeln sie sich zu nationalen Agenturen des Großkapitals. Es spielt dabei keine Rolle, ob in den einzelnen Staaten linke oder rechte Parteien regieren, weil sowohl die einen als auch die anderen von der liberalen Doktrin geleitet werden. Ihre „rechte“ oder „linke“ Rhetorik soll die mehr oder weniger naive Wählerschaft in die Irre führen. Um die in der Welt auftretenden Unterschiede zu überwinden, z. B. den Antagonismus zwischen Arbeit und Kapital aufzuheben, bedient sich der kapitalistische Staat verschiedener Mittel, die sich im Laufe der Entwick3

Siehe: Koch 1995.

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lung der parlamentarischen Demokratie herausbildeten; wenn es aber notwendig ist, werden auch außerparlamentarische Mittel eingesetzt, um das System zu erhalten. Man sollte in diesem Zusammenhang die berechtigte Frage stellen, ob es möglich wäre, durch die Machtübernahme seitens der Opposition das Wesen des Systems zu ändern? Rein theoretisch sollte das möglich sein – in der Praxis aber ist dies, aufgrund der existierenden Mechanismen, die der Erhaltung des Kapitalismus dienen, nicht möglich. Aufgrund des Einsatzes „der Sicherheitsmechanismen“ in den heutzutage existierenden kapitalistischen Staaten etablierte sich die so genannte „blockierte Demokratie“, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Gesellschaft nur über begrenzte Möglichkeiten verfügt, ihren Willen zum Ausdruck zu bringen sowie dadurch, dass die Gesellschaft daran gehindert wird, ihre eigene Stärke zu nutzen. Das wird u. a. durch Manipulationen der gesellschaftlichen Meinung (z. B. Meinungsumfragen) erreicht. Eine herausragende Rolle spielen in der „blockierten Demokratie“ die Medien (die überwiegend entweder durch den Staat oder das Kapital kontrolliert werden), politische Parteien sowie Gewerkschaften; nicht selten spielt dabei auch die organisierte Kriminalität (Mafia) eine Rolle. Das Phänomen der blockierten Demokratie entstand nach dem zweiten Weltkrieg, als sich das kapitalistische System durch die immer größer werdende militärische Macht der UdSSR, durch antikolonialistische Bewegungen sowie durch die sich verbreitende antikapitalistische (pro-sozialistische) Haltung in breiten Teilen der westlichen Gesellschaften bedroht fühlte. In der Praxis sah das so aus, dass z. B. der italienische Bürger seine Vertreter zwar frei ins Parlament aus zwei verschiedenen Parteien (der christlich-demokratischen und der sozialistischen) wählen durfte, die beiden Parteien aber durch dieselbe Mafia und den Geheimdienst kontrolliert sowie durch dieselbe Bank finanziert wurden. Heutzutage werden die Mechanismen, die den kapitalistischen Staat schützen sollten, zusätzlich wegen des Kampfes mit dem Terrorismus vergrößert. Die Auseinandersetzung mit dem unsichtbaren Feind sowie die ständige Bedrohung, die von ihm ausgeht, veranlassen die sich bedroht fühlenden Politiker dazu, einen „permanenten Belagerungszustand“ zu verhängen, der den Einsatz von verschiedenen Mitteln, welche die bürgerlichen Freiheiten beschneiden, erlaubt. Wenn die Öffentlichkeit nur oberflächlich die „westlichen Demokratien“ betrachtet, sieht sie die Erosion der parlamentarischen Demokratie in den kapitalistischen Ländern nicht und ist außerstande, die raffinierten Mechanismen der blockierten Demokratie zu bemerken, die in Wirklichkeit in ihrer heutigen Gestalt eine verfälschte Form (eine Mutation) der demokratischen Ideale darstellt. Erst die zahlreichen politischen Skandale der letzten Jahre, die Korruption innerhalb der Eliten sowie die fortschreitende Degeneration der parlamentarischen Demokratie führten der Öffentlichkeit vor

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Augen, dass sich die Demokratie in eine scheinbare Demokratie verwandelt hat – interessante Bemerkungen formulierte zu diesem Thema Ralf Dahrendorf in einem Artikel unter dem bemerkenswerten Titel „Traurige Parlamente“4. Wenn wir heutzutage an das demokratische System denken, stellen wir uns ein System vor, in dem jeder die Möglichkeit hat, von seinen Menschen- und Bürgerrechten Gebrauch zu machen; diese Vorstellung hat also sehr viel mit der Bürgergesellschaft zu tun. In einer solchen Gesellschaft befinden sich die Bürger real – nicht nur formal – im Zentrum des soziopolitischen Geschehens, d. h. sie haben Einfluss darauf, was in ihrem Land passiert. Es geht also nicht nur um das Recht zu wählen oder kritische Bemerkungen machen zu dürfen, sondern auch um die Möglichkeit, die Menschen- und Bürgerrechte in vollem Umfang zu genießen. Hier wäre zu bemerken, dass die in demokratischen Staaten formal existierenden Rechte nicht im Stande sind, die Bürger zu Hauptakteuren der gesellschaftlichen Prozesse zu machen, wenn die staatlichen Organisationen durch die Macht des Geldes dominiert werden. Um die Bürger tatsächlich in das Zentrum des sozio-politischen Geschehens zu stellen, muss sich ihre Situation im wirtschaftlichen Bereich ändern – und zwar zum Positiven. Wie aber soll man diesen Wechsel herbeiführen? Wie kann man ihn realisieren? Dieses Dilemma bleibt ein wichtiges Problem des 21. Jahrhunderts, das bislang ungelöst ist. Es geht im Wesentlichen darum, wie man das kapitalistische System, das sich als wirtschaftlich effektiv zeigt, beibehalten und gleichzeitig die negativen Prozesse der Schichtenbildung und gesellschaftlichen Polarisierung eliminieren kann. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob es so etwas wie einen Kapitalismus mit „menschlichem Antlitz“ geben könnte? Die Antwort müsste in Anbetracht der Globalisierung und der mit diesem Prozess im Zusammenhang stehenden Ausbeutung sowie der Massenarbeitslosigkeit eher negativ ausfallen. Es sieht so aus, als ob sich die Versuche, den Kapitalismus mit einem „menschlichen Antlitz“ zu versehen, viel schwieriger gestalten, als das früher in Bezug auf den deformierten Sozialismus der Fall war. Bisher zeigt der Kapitalismus sein unangenehmes Gesicht und führt neben dem Wohlstand im Norden (obwohl sich auch hier wachsende wirtschaftliche Polarisierung feststellen lässt) zu Massenarbeitslosigkeit und Armut – besonders im Süden. Der Charme der Werbung, die Versuchung am Wohlstand zu partizipieren und den Regeln der Konsumgesellschaft Folge zu leisten, beeinflussen Menschen, prägen ihre Meinungen, Einstellungen sowie ihr Benehmen; sie motivieren auch legal oder illegal Geld zu verdienen, um sich den Luxus zu leisten. Die Jagd nach Gewinn wird zur ultima ratio des menschlichen Verhaltens. Das Geld wird heut4

Siehe Frankfurter Allgemeiner Zeitung, Nr. 208, 8. September 1999, S. 49.

Chancen und Gefahren für die Demokratie im 21. Jahrhundert

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zutage in ständig größer werdendem Maße zum mächtigen Mittel, das die gesellschaftlichen sowie politischen Verhältnisse prägt. Das führt zur rücksichtslosen Ausbeutung der Umwelt und der Menschen. Der Kapitalismus verbreitete ursprünglich die Idee der Demokratie, zugleich trug er aber entscheidend zu ihrer Entartung bei, vor allem durch das Ausklammern großer Menschengruppen, die in Armut oder sogar in Elend in zahlreichen Ländern leben. Man behauptet zwar, eine Bürgergesellschaft zu verwirklichen, gleichzeitig aber reduziert man die Zahl ihrer Teilnehmer auf die Reichen; die Armen bleiben unbeteiligt „auf der Strecke“. Der Ausschluss wachsender Teile der Bürger aus der Gesellschaft durch die Pauperisierung hat für die Demokratie mindestens zwei große Folgen: Der Einfluss der ganzen Gesellschaft wird begrenzt und die aktive Teilnahme einer steigenden Zahl von Bürgern am sozio-politischen Leben wird verhindert. In diesem Kontext ist das geringe Interesse für Politik sowie die so genannte „Politikverdrossenheit“ verständlich. Als eine andere Folge der mangelnden Partizipationsmöglichkeiten für die Bürger an der Demokratie kann man die Flucht in das private Leben nennen. Die fortschreitende Polarisierung der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaften bremste den von der Französischen Revolution im Jahre1789 ausgelösten Prozess der Entwicklung der Bürgergesellschaft; es ist sogar zu beobachten, dass der Prozess mittlerweile rückwärts verläuft. Demokratie wird mit freier Marktwirtschaft und freien Wahlen assoziiert. Wie schon oben erwähnt wurde, war diese Verbindung zur Zeit der Entstehung der liberalen Demokratie richtig – man kann bezweifeln, ob das heutzutage in Anbetracht der sozialökonomischen und politischen Veränderungen, die im 21. Jahrhundert zustande kamen, noch immer aktuell ist. Es ist zu bemerken, dass der freie Markt hauptsächlich in der ersten Phase des Kapitalismus existierte, d. h. damals, als dieses sozial-ökonomische System es noch ermöglichte, freie Konkurrenz zu praktizieren. In Zeiten des monopolistischen Kapitalismus wird der Markt mehr oder weniger von den Monopolen beherrscht, aufgeteilt und kann unter diesen Umständen nicht als „frei“ gelten. Die freien Wahlen wiederum werden auf den Wahlakt reduziert, der darin besteht, dass man sich eine Person aus der Liste, die einem vorgelegt wird, aussuchen kann. Die Bürger aber haben kaum Einfluss auf das Auswahlverfahren, das durch sozio-politische und bürokratische Mechanismen bestimmt wird. Die bloße Reduzierung der Wahl auf den Wahlakt, ohne die Bevölkerung an dem Auswahlverfahren der Kandidaten zu beteiligen, führt in Wirklichkeit zur Entstehung einer politischen Fiktion, in der die Freiheit der Wahlen vorgespielt wird. Ich bin der Meinung, dass Wahlen nur dann wirklich demokratisch verlaufen, wenn man nicht nur vom passiven, sondern auch vom aktiven Wahl-

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recht Gebrauch machen kann – und das ist nur dann möglich, wenn die finanziellen Kosten, die mit der Kandidatur im Zusammenhang stehen, keine wirklich große Barriere bedeuten, die man nicht ohne die Unterstützung von Sponsoren überbrücken kann. Aus diesem Grunde bin ich überzeugt, dass die Verwirklichung der Idee von der Demokratie in einer Gesellschaft mit dem Prozess der Gleichstellung aller Mitglieder der Gesellschaft – auch im wirtschaftlichen Bereich – verbunden ist, was bestimmt keine einfache Aufgabe darstellt. Sie verlangt eine neue Konzeption der Distribution des Sozialprodukts. Die Verteilung dessen, was das Volk erarbeitet hat, müsste nach dem Prinzip der sozialen Gerechtigkeit erfolgen und den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit auflösen, was einen Wechsel des existierenden sozio-ökonomischen Systems herbeiführen könnte. Ob eine so radikale Änderung des Systems auf friedlichem Wege möglich ist, kann man heutzutage nicht sagen. Es ist wichtig, zu betonen, dass das kapitalistische sozio-ökonomische System kein endgültiges Ende der Entwicklung menschlicher Zivilisation ist; sein Scheitern würde mit Sicherheit kein Weltende bedeuten. Die Idee der Demokratie hingegen – trotz aller Bedrohungen, mit denen sie im Laufe der Geschichte konfrontiert war – hat gute Voraussetzungen, dieses System zu überleben, wie schon andere zuvor. Für diejenigen, die die Demokratie für die beste politische Option halten, ist das ein Grund, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Literatur Downs, Anthony, Ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen 1968 (zitiert: Downs 1968). Koch, C., Die Gier des Marktes. Die Ohnmacht des Staates im Kampf der Weltwirtschaft, München 1995 (zitiert: Koch 1995). Sztumski, Janusz, Elity ich miejsce i rola w spoeczen˜stwie. (Eliten – ihre Rolle und Bedeutung in der Gesellschaft), Wyd. II poprawione i uzupenione, Katowice – Warszawa 2003 (zitiert: Sztumski 2003).

Zeitungen – Zeitkritik – historisch-politische Forschung Peter Steinbach „Physik ist das, was nie gelingt, Chemie ist das was kracht und stinkt“, pflegte in vergangenen Zeiten der Naturwissenschaftler, der sich in den Schuldienst begeben hatte, seinen Schülern zu sagen. Er kannte gewiss noch nicht eine der inzwischen häufig verwendeten Definitionen der Zeitgeschichte als jenen retrospektiv orientierten Gegenwartsbereich, der noch brenne und qualme. Wie sehr die Vergangenheit reizt und irritiert, zeigte sich nicht zuletzt an der Diskussion über die Verstrickung bekannter deutscher Historiker der Nachkriegszeit in das NS-System.1 Weniger spektakulär als historiographische Debatten, die der Entzauberung der einflussreichsten Historiker zuarbeiten, sind methodische Überlegungen, die eine Quelle in ihrer Bedeutung akzentuieren, die zumindest seit der Entstehung politischer Massenmärkte die Bedeutung der traditionellen Quellen des Historikers, der Akten, relativieren. Denn Zeitungen spiegeln zum einen den Versuch, Wahrnehmungen einer breiten Öffentlichkeit zu beeinflussen, zum anderen aber auch die Chance, durch medial vermittelte publizistische Aufklärung und Gegenaufklärung gouvernemental induzierte Beeinflussungen zu korrigieren. Schließlich bieten Zeitungen den Zugang zu einem Zeit- und Ereignisverständnis, das zeitursprünglich ist, also den Ausgang von Handlungen und Entscheidungen oftmals noch nicht kennt. I. Debatten über die Zeitgeschichte – mehr als ein Medienereignis Gerade die Debatten über hoch angesehene Nestoren der Zeitgeschichte wie Theodor Schieder, Werner Conze und Karl Dietrich Erdmann machten deutlich: Zeitgeschichte als die Vergangenheit der lebenden Generationen verbindet sich mit der Gegenwart und lässt nicht selten gerade so die Vergangenheit zum Politikum werden. Gewiss: Die Geschichtswissenschaft macht wie kaum eine andere Disziplin die verfehlten Wege der Menschheit sichtbar. Dies tut sie aber nicht von sich aus, sondern im Zuge ihrer Deutungen. Geschichte als vergangene Wirklichkeit sei immer im Kopf, be1

Vgl. Haar 2000.

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merkte der Ideenhistoriker Isaiah Berlin, sie gehe eigentlich sogar in der Geschichtsschreibung auf, bekräftigte fast gleichzeitig der amerikanische Historiker Fritz Stern, und diese Verstrickungen und Vermengungen gaben selbst jene Historiker zu, die sich in historischer Tradition zum Positivismus ihres Faches bekannten. Leider fragten sie nicht, wie das Bild von der Vergangenheit in den Kopf geraten ist. Dies lenkt in unserer Gegenwart den Blick auf die Medien, denn sie ersetzen heute zu einem guten Teil und mit Sicherheit in einem Umfang wie niemals zuvor die Geschichtsschreibung.2 Medien beeinflussen alle Erzählungen von der Vergangenheit, und sie besetzen schließlich fast ganz das Bild von der Vergangenheit. Dabei ist es gleichgültig, ob sich das durch Medien erzeugte Bild auf Filmsequenzen, illustrierte Zeitschriften oder Dokumentarfilme bezieht. Ebenso sicher ist, das narrativ und innerhalb der Familien vermittelte Tradierungen an Bedeutung verloren haben. II. Fachwissenschaft und Öffentlichkeit – ein Blick auf den Wandel in der Zeit Nur oberflächlich betrachtet und gleichsam auf den ersten Blick liegt die Deutung der Vergangenheit in der Hand der Fachwissenschaftler. Denn brisant wird die Auseinandersetzung um die Geschichte erst im öffentlichen Raum und durch die Massenmedien. Dabei ergab sich im Laufe von einhundert Jahren eine bemerkenswerte Veränderung. Konnte 1870 der Krieg zwischen Frankreich und dem späteren, erst aus diesem Krieg hervorgehenden Deutschen Reich nicht zuletzt als Reaktion auf einen in den Zeitungen vermittelten Anlass – die von Bismarck redigierte Emser Depesche3 – ausbrechen, so erzeugten wenige Jahrzehnte später die Massenmedien Stimmungen, nicht selten, indem sie ein Bild der Vergangenheit zeichneten und mit diesem das Bild gegenwärtiger Politik beeinflussen konnten. In der Weimarer Republik erfolgte ein weiterer Entwicklungsschub geschichtspolitischer Mobilisierung. Denn nicht wenige Parteien legitimierten sich aus der Kritik an der Vergangenheit, andere hingegen versuchten ihre politischen Optionen historisch zu rechtfertigen.4 Dolchstoßlüge, Fürstenenteignung, Kriegsschuldfrage bestimmten auf der einen Seite das Bild von der Geschichte der Zeitgenossen, die Legende von der Räterepublik oder der verratenen Revolution auf der anderen. Nach 1933 wurde die Deutung der weiter zurückliegenden wie auch der jüngsten Geschichte zum staatsideologisch erhöhten Politikum. Die Nationalsozialisten griffen nach den 2 3 4

Vgl. allg. Wilke 1987, S. 697 ff. Kolb 1970, S. 95 ff. Faulenbach 1980.

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Köpfen und beeinflussten deshalb auch die Geschichtsbilder. Filme, Briefmarken, Zeitungsartikel, aber auch Forschungsvorhaben und Gedenkveranstaltungen dienten unter dem Nationalsozialismus ganz unübersehbar einem gemeinsamen Ziel: ein bestimmtes Bild von der Vergangenheit in die Köpfe der Zeitgenossen zu pflanzen.5 Damit begann eine Entwicklung, die sich in den folgenden Jahrzehnten fortsetzte. Denn immer stärker wurde das Bild von der Geschichte durch Massenmedien vermittelt. Neben die Tageszeitungen traten illustrierte Blätter, bald Filme, keineswegs nur Wochenschauen, schließlich die neuen öffentlichen Medien, die man bis heute non-print-Medien nennt. In diesen Medien überlieferte sich mit Bildern von der Gegenwart nicht selten auch – im Zeitablauf – ein Eindruck von zeitgeschichtlichen Ereignissen. Sie überbrückten nicht nur Zeiten, sondern auch denkbar schnell Räume. Der interkontinentale Flugverkehr ermöglichte die Präsentation von Bildern innerhalb von Tagen, die Satellitentechnik die Gleichzeitigkeit von Ereignis und Betrachtung, das Internet schließlich mehr als die zeitnahe Beobachtung, denn der „User“ wurde – die Lewinsky-Clinton-Affäre zeigt es – zum Beteiligten. So unverkennbar diese Entwicklungen sind, so unbestreitbar ist, dass sich das medial vermittelte Bild in die Erinnerung eingräbt und das Bild von einer noch brennenden und qualmenden Geschichte bestimmt wird. Umso überraschender ist es, dass die Zeithistoriker bis heute kein reflektiertes Verhältnis zu dem wohl wichtigsten Quellenproduzenten unseres Jahrhunderts, den Massenmedien, entwickelt haben. Dies gilt ohne Zweifel in besonderem Maße für die jüngsten – bereits in die Jahre gekommenen – Medien wie Fernseh- und Rundfunksendungen, die in den geschichtswissenschaftlichen Einführungen unter den Begriff der Film- und Tonquellen zusammengefasst werden. Jeder, der einmal mit diesen Quellen gearbeitet hat, weiß, dass der Zugang schwieriger ist als zu Bibliotheken und zu Archiven, aber er ist machbar und wird sich in Zukunft sicherlich bessern. Entscheidend für den Historiker ist m. E. ein anderer Aspekt, denn massenmedial „erzeugte“ oder vermittelte Quellen gelten innerhalb der historischen „Zunft“ als unzuverlässig, als nur begrenzt entscheidungsnah, eigentlich nur als illustrierend, als stimmungs- und emotionsanalytisch bedeutsam, als atmosphärisch relevant. In dieser Bewertung spiegelt sich eigentlich ein sehr traditionelles Grundverständnis von der Geschichte als Entscheidungs-, Entwicklungs-, vielleicht noch als Sozialgeschichte. Wenn Rundfunksendungen und Filme von Historikern untersucht werden, dann im Zusammenhang mit der Film- oder Rundfunkpolitik6, insbesondere über 5 6

Kroll 1998. Vgl. Bausch 1980.

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Diktaturen, deren Träger die modernen Medien zielbewusst zur Mobilisierung der Bevölkerung einsetzten, ohne Zweifel. Aber dieses lediglich instrumentelle Verständnis reicht nicht, denn stellen wir uns einmal vor, wir hätten aus anderen Epochen eine vergleichbar dichte, farbige, reichhaltige, Entscheidungen mit den jeweiligen Alternativen konfrontierende Quellen – und dort, wo wir sie haben, etwa in der Reformationszeit, da nutzen wir diese Massenquellen gern. III. Massenmedien und historische Forschung Es kann also mitnichten ausschlaggebend sein, dass die Massenmedien unserer Zeit für einen Forscher nicht leicht zu erschließen sind. Wo diese Erschließung in zeithistorischer Absicht geschah, waren in der Regel Historiker tätig, die das Metier des Journalisten wenngleich nicht immer beherrschten, so doch nicht verachteten. Viele Namen fallen mir in diesem Zusammenhang nicht ein – eher die Namen von Journalisten, die sich auch als Chronisten verstanden und etwa den Dokumentarfilm zum Beispiel zu einer historiographischen Gattung machten, als die Namen von Historikern. Dennoch ist hier an bedeutende Namen von Historikern zu erinnern, die sich vielleicht nur deshalb nicht so in das Gedächtnis eingegraben haben, weil Ihr Wirken manche Jahrzehnte zurückliegt. Ich möchte hier vor allem auf die bahnbrechende mehrteilige Sendereihe von Waldemar Besson7 verweisen, der als Zeithistoriker und Politikwissenschaftler wie kein anderer beste Voraussetzungen für einen bewussten Umgang mit den Film- und Funkquellen mitbrachte. Seine Sendungen kamen noch ohne „szenische Zitate“ aus. Aber nicht deshalb haben sie kaum eine Chance zur Wiederaufführung. Das geschwundene Interesse liegt auch nicht am überholten Forschungsstand, sondern ganz einfach daran, dass, wie mir ein für die Geschichte im Fernsehen verantwortlicher Redakteur sagte, Besson zu seiner Zeit Schwarz-Weiß-Sendungen produzieren musste, die in Zeiten des Farbfernsehens keinen Attraktionswert hätten. Lenken wir den Blick auf den Rundfunk, so wäre mit Waldemar Besson vor allem Manfred Rexin vergleichbar. Seine Sendereihe über das Dritte Reich konnte systematisch Bestände von Tonquellen erschließen, die auszuwerten ein Historiker sich allerdings schon aus Kostengründen kaum vorzunehmen vermag. Die Behauptung, dass die Historiker kein Verhältnis zu den Massenmedien entwickelt hätten, gilt nicht nur für die flüchtige Überlieferung von 7

Besson 1960/61.

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Film- und Tonquellen, sondern auch für die Zeitungen, also für ein Massenmedium, das in schriftlicher Form überliefert wird, bereits eine recht lange Geschichte8 hat und deshalb dem Historiker eigentlich als schriftliche Überlieferung vertraut ist: die Zeitungen. Ihre Geschichte ist gut erforscht, und es ist nicht zu bezweifeln, dass die Publizistik seit dem 19. Jahrhundert zu einer außerordentlich wichtigen Quelle für die Rekonstruktion von Ereignissen, aber auch von Stimmungen wird. Ein Blick in einschlägige Untersuchungen zeigt, dass der Historiker des Kaiserreichs, der Weimarer Republik, des Dritten Reiches und auch unserer Zeit trotz einiger Ausnahmen noch immer auf eine weitgehende und überraschende Weise ohne Zeitungen auskommt. Dies ist insofern erstaunlich, als es bei den Massenmedien niemals allein um die Träger von Überlieferungen geht, sondern immer auch um die Wirkung, die sie erzielen. Und ohne einen Blick auf Zeitungen lässt sich kaum ein Zugang zur Stimmungsgeschichte der Zeit finden. Gar nicht einzusehen ist, weshalb Erinnerungen oder Stimmungsberichte, wie sie etwa der SD9 oder das MfS10 fertigen ließen, einen höheren Stellenwert als die Massenpresse haben sollen. IV. Zeitungen von gestern – ein Weg in die Vergangenheit Zeitungen können ebenso wie die „non-print-Medien“ erzeugen, aber auch Interessenlagen sichtbar machen und nicht zuletzt dadurch Entscheidungen deutlich werden lassen. Dies gilt in besonderer Weise für demokratische Systeme, in denen sich gesamtstaatliche Zielvorstellungen als Ergebnis öffentlich geführter Debatten oder Kontroversen durchsetzen. In den Einführungen in die Zeitgeschichte finden sich keine Auseinandersetzungen mit den publizistischen Quellen, mit ihrer Entstehung, den Kräften, die auf sie einwirken, mit den Folgen, die Medien bewirken, mit ihrer sprachwissenschaftlichen oder kommunikationswissenschaftlichen Analyse. Ich selbst konzentriere mich im Folgenden auf zwei Aspekte. Zum einen habe ich mich, einstimmend und knapp gefragt, welche Bedeutung den Medien bei der Vermittlung von zeithistorischen Kenntnissen zukommt. Dies ist im strengen Sinne eine Frage der Geschichtsdidaktik im Sinne von Jörn Rüsen, aber nicht nur. Diese Frage ist auch erfahrungsgeschichtlich von Bedeutung. Denn im Zug des Einzelnen durch die Zeit werden Erfahrungen gesammelt, die in der Regel mit den Erfahrungen anderer verschmelzen. In der Regel spiegeln sich in Erfahrungen auch die politischen Ereignisse, an 8

Vgl. Lindemann 1969; Koszyk 1966; Koszyk 1972. Boberach 1984. 10 Mitter/Wolle 1990. 9

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die wir uns erinnern. Diese Erfahrungen sind fast immer massenmedial vermittelt. Insofern gestattet der Blick auf Zeitungen sowie Funk- und Filmquellen eine Annäherung an die Geschichte meiner Zeit. Zum anderen frage ich nach den Konsequenzen, die in der Ausbildung angehender Historiker zu ziehen sind, wenn wir den Umgang mit der Zeitgeschichte kritisch beleuchten. Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass ein Heranwachsender die Entwicklung seiner Gegenwart, also nicht nur ihre Entstehung, sondern auch ihrer Dynamik vermittelt wahrnimmt, ist offensichtlich, dass Geschichtsbilder in den Auseinandersetzungen mit den Massenmedien geschehen. Stellen wir uns doch einmal die Frage, an welches historische Ereignis wir uns erinnern. In der Regel wird es in eine Zeit fallen, in der wir acht oder zehn Jahre alt waren. Ich selbst erinnere mich noch gut an die Nachrichtenmeldung, es sei den Russen gelungen, einen Satelliten in das All zu schießen. Ich erinnere mich allerdings noch an ein früheres Ereignis: den Aufstand in Ungarn, vermittelt durch Illustrierte, ohne das Gefühl der Unmittelbarkeit, sondern angelesen, beim Friseur, beim Arzt, dort, wo es Lesezirkel gab. Später bezogen wir selbst einen Lesezirkel, die letzte Ausgabe in einer langen Reihe von Lesern. Denn diese Ausgabe musste nicht mehr zurückgegeben werden. Sie kostete nur 50 Pfennig. Der Vorteil lag darin, dass die Illustrierten „ausgeschlachtet“ werden konnten und in den Mappen und Büchern zum Thema verschwanden: Publizistik also nicht nur für den Tag geschrieben. Weil aber oft ein Ereignis mehr als ein halbes Jahr zurücklag, ehe es vor das Auge der Zeitgenossen rückte, kann es durchaus sein, dass ich vom Ende des Ungarnaufstandes erst nach dem Sputnik-Start erfuhr.

V. Prägung des Geschichtsbewusstseins – durch Medien Vielleicht machen wir uns selbst zu selten bewusst, wie stark unser Geschichtsbild durch Medien gebildet wurde, die zu ihrer Zeit fast noch Leitmedien waren. Die Radiosendungen waren weniger anschaulich, es sei denn, ein Reporter der Windrose oder ein Pelz von Felinau berichteten. Andererseits erinnere ich mich genau an die Stunde, in der in den Nachrichtensendungen vom Mauerbau berichtet wurde. Viele werden sich auch noch an die dramatischen Stunden der Kuba-Krise erinnern oder an die Ermordung Kennedys. Dies war vermutlich die letzte Stunde des Rundfunks, denn spätestens mit den Kriegen, die Israel 1967 führte, wurde das Fernsehen zum Leitmedium. Zumindest dann, wenn die Reporter westlicher Sender Zugang zu den Ereignissen hatten. An dieser Differenzierung liegt es wohl, dass die osteuropäischen Umbrüche weiterhin durch Rundfunksender begleitet wurden.

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Mit der wachsenden Verbreitung der Filmmedien trat die Bedeutung der Illustrierten für die Wahrnehmung der Zeitgeschichte, also der Gegenwartsgeschichte, zurück. Vor allem die zeitdokumentarischen Illustrierten wurden ihrer Relevanz beraubt. Vermutlich hat sich die Abhängigkeit der Zeitgeschichtsbilder von den Massenmedien seitdem allerdings noch verstärkt und dabei zugunsten des Fernsehens verschoben. Innerhalb der Geschichtswissenschaft wird dies allerdings nur wenig reflektiert, obwohl die Massenmedien Quellen sichern, nicht selten erst in Form von Interviews erschließen und andererseits in weitaus stärkerem Maße als Geschichtsunterricht und Geschichtswissenschaft die Vorstellung von Geschichte spiegeln. Hier wird deutlich, dass eine Quellenkunde massenmedialer historischer Überlieferung fehlt. Noch zu Beginn meines Studiums machte mir ein von mir sehr verehrter Archivar klar, dass die Ereignisse aus den Akten rekonstruiert werden müssten. Ich hatte gewagt, in einem Staatsarchiv nach Zeitungsbeständen zu fragen. In der Tat lernten bis weit in die fünfziger Jahre hinein viele Geschichtsstudenten in den von ihnen belegten Proseminaren, dass die Wahrheit in den Akten läge. Zeitungen hingegen seien tendenziös, eigentlich nur dann von Wert, wenn es gelänge, nachzuweisen, dass ein Dutzend oder mehr ähnlicher Blätter in ihren Leitartikeln verwandte Argumente gebraucht hätten. Mich machte diese Feststellung damals ratlos, denn ich konnte wegen fehlender Zeitungsbestände in den Bibliotheken in der Regel gar nicht überprüfen, wie groß die Zahl ähnlicher Artikel war. Zeitungen waren eigentlich schwerer zu erhalten und zu handhaben als Akten, sie waren seltener und methodisch oft nur sehr schwer in den Griff zu bekommen. Dies nicht zuletzt, weil man ja kaum am Beispiel lernen konnte, wie man als Historiker mit der Presse umging. Überdies gab es in den sechziger und auch noch in den siebziger Jahren viel zu wenig Mikroverfilmungen, gar nicht zu reden davon, dass die Mikro-Prints für einen Studenten kaum finanzierbar waren. Massenmedien traten weiterhin dann in den Blick, wenn sich ihre Geschichte in den Akten niederschlug: So wurden lediglich die Pressepolitik Bismarcks11, die Pressezensur im frühen 19. Jahrhundert oder auch die Geschichte der Pressefreiheit breiter erforscht, und was sich hinter einem Begriff wie dem des „Strukturwandels der Öffentlichkeit“12 verbarg, schien eher auf frühe Parlamente und Salons zu verweisen als auf die Massenpresse. Überdies kam gerade die zitierte Arbeit von Habermas ohne eine systematische Presseuntersuchung aus. 11 12

Naujoks 1967. Habermas 1969.

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Die Spiegelung der vergangenen Entwicklungen in der Presse haben nur wenige Historiker versucht, vor allem im Zusammenhang mit den Formverwandlungen der Politik, die im Zuge der Achtundvierziger Revolution oder auch der Revolution von 1918 eintrafen. An der Grundüberzeugung aber, dass die Akten die Wahrheit des Historikers verbürgen, war auch dadurch nicht zu rütteln, denn Zeitungen wurden in diesem Zusammenhang nur zu einer parteigeschichtlichen Quelle, nicht aber zu einem Mittel, den Zugang zu einer mitten im Prozess sich befindenden Geschichte zu finden. Vielleicht gibt es deshalb so viele umfangreiche Akteneditionen und so wenig Versuche, die Bedeutung der Zeitungen für die historische Forschung zu dokumentieren. VI. Veritas in actis? Noch bei dem wohl heftigsten Streit der Geschichtswissenschaftler unseres Jahrhunderts, der so genannten Fischer-Kontroverse über den Ausbruch des 1. Weltkriegs13, stellte Fritz Fischer seinem Werk deshalb ein trotziges Veritas in actis voran. Dies richtete sich damals vor allem gegen seinen Kontrahenten Gerhard Ritter14, der dieses Motto allerdings ohne Zweifel teilte und gegen Fischer selbst ins Feld führte. Es ging dabei beiden um die Akten und – mit dem bekannten fontaneschen Vorbehalt, also dem insgeheim gedachten „so wie ich sie verstehe“ – um die Wahrheit. Die historische Wahrheit aber ist nicht nur das Resultat der Quellenanalyse, sondern auch der Methode und nicht zuletzt des Bewusstseins eines in der Vergangenheit, also der jeweiligen zurückliegenden Gegenwart, verlaufenden offenen Prozess. Vielleicht geht es gar nicht um das Ereignis als Faktum, sondern auch um die Geschichte als Prozess, dessen Ziel den Handelnden verborgen ist. Selbst ein Bekenntnis zu den Akten als Substrat der Wahrheit ist ja nicht mehr als der Ausdruck der Abhängigkeit von einer Position, die im Mit- und Gegeneinander eingenommen wird. Inzwischen wissen wir etwa aus den vorliegenden Briefen des Historikers Gerhard Ritter15, wie sehr es ihm auch darauf ankam, die Befunde Fischers zu diskreditieren, ohne seine eigene Position einer Überprüfung an den Akten auszusetzen. Es ging nicht mehr um die Wahrheit als der Herausforderung des Historikers, sondern eben um die Wahrheit, die jeder hat, „so wie er sie versteht“, die er sich zurechtlegt, die er sich macht. Das entwertet die Wahrheit nicht, vielmehr macht sie zur Aufgabe einer Geschichtswissenschaft, die in die Köpfe schauen will und muss. 13

Vgl. Sywottek 1973. Viel grundsätzlicher zum realhistorischen Problem: Rosenberger 1998. 14 Vgl. Schumann 1982. 15 Schwabe 1984.

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Nur in welche Köpfe? Mit welchen Methoden, mit welcher Zuverlässigkeit, und dies in einem Zeitlauf von etwa zweihundert Jahren, in dem die Zahl der an politischen Prozessen Beteiligten wächst, in dem ihre Kompetenz zu lesen zunimmt, in dem die Lebensgestaltung immer mehr von gesamtstaatlichen Zielsetzungen abhängt. Mobilisierung, Aktivierung, Partizipation gelten als Kennzeichen des modernen politischen Lebens – ohne Zeitungen wären sie ebenso wenig denkbar wie ohne das Wahlrecht. Dennoch: Was dem Juristen der Rechtspositivismus, schien dem Historiker der Appell zum Quellenbezug, zuvörderst zum Bezug auf die unveröffentlichte Quelle. Eine angesehene Einführung in die Archivkunde kommt deshalb bis heute ohne Hinweis auf Zeitungsarchive aus, also, wie man inzwischen sagt, auf Dokumentationen in den Zeitungsredaktionen und die Sammelstellen von Zeitungsbeständen. Selbst jüngste Einführungen in die Zeitgeschichte lassen sich so breit über zeithistorische Kontroversen aus, die Fischer-Kontroverse, den so genannten Historikerstreit, nicht aber darüber, wie sie entstehen, wer sie transportiert. Denn die Öffentlichkeit ist eine Institution, der der Historiker misstraut. Wie heißt es beispielsweise: „Wir“ – gemeint sind die Historiker – „können die Aussagen historischer Quellen durchaus verwerten“? Dafür müssen wir uns nur lösen von der naiven, aber verbreiteten Annahme, in diesen Quellen hätten wir „die öffentliche Meinung“ vor „uns“.16 In der Tat geht es bei den Zeitungen um die „veröffentlichte“, in der Demoskopie eher um die „verbreitete“ Meinung. Nur jeder Zeitungsartikel hat die Chance, zur öffentlichen Meinung und damit zu einem Faktor der Geschichte zu werden. Die Bedingungen, unter denen das geschieht, können unterschiedlich sein, die Träger, die einen Text bedeutsam machen, können ebenso wandelbar sein wie die Situationen, in denen diese Artikel Resonanz finden – aber so zu tun, als könnten wir Stimmungen, Emotionen, Bewegungen, offene Situationen vernachlässigen, das darf der Historiker nicht. VII. Medien – Historiker – Geschichtspolitik Heute finden immer mehr Historiker ihren Weg in die Medien, und dies ist gut so, denn dort scheint in einem ganz erheblichen Umfang das Interesse an der Geschichte, das Geschichtsbewusstsein zu überleben. Dies zeigen die Kontroversen der letzten Jahre, die – sei es der Historikerstreit17, die Goldhagen-Debatte18 oder der Streit über die Geschichte der DDR19 – einfach der Massenmedien bedürfen, um aus der Auseinandersetzung um 16 17 18

Opgenoorth 1969 , S. 95. Steinbach 1995. Heil/Erb 1998; vgl. auch Schoeps 1996.

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die Geschichte einen politischen Streit unter Verwendung historischer Argumente zu machen. Geschichte wird erst in den Massenmedien zum Politikum, und nur die Medien machen aus Gedenktagen, Erinnerungsfeiern, Ausstellungen ein Politikum. Zeitgeschichte in den Medien führt unvermeidlich auf das neue Feld der Geschichtspolitik, also der politischen Kontroverse um historische Deutungen. Dies war auch früher schon so. Im 19. Jahrhundert konnten sich gebildete Zeitgenossen in der Sybel-Ficker-Kontroverse heftig über die Frage streiten, ob das Deutsche Reich im Mittelalter seine Kraft vielleicht in der Südexpansion vergeudet und deshalb in der Ostexpansion versagt hätte. Dies war ein Deutungs-, ein klassischer Interpretationskonflikt, mehr nicht, heute nicht einmal mehr Bestandteil von Fußnoten. Aber wir haben keinen Grund zum Lächeln, denn unsere geschichtspolitischen Kontroversen stehen ihrer sterilen Aufgeregtheit dieser Debatte nicht nach. Dabei ist gleich, ob wir über die Frage streiten, ob das Jahr 1945 ein Zusammenbruch, eine Niederlage, eine Katastrophe, ein Neubeginn oder gar eine Befreiung war, ob wir uns über die Stalin-Note20 erregen, als hätten wir sie immer noch anzunehmen oder abzulehnen. Auch parlamentarische Debatten entfalteten nur als ein durch Massenmedien vermitteltes Ereignis ihre Wirkungen, etwa die Verjährungsdebatten von 196521, die kräftig beeinflusst worden waren durch den Vorstoß von Jaspers im SPIEGEL. Und knapp fünfzehn Jahre später machte sogar ein amerikanischer Fernsehfilm Politik, denn die dritte Verjährungsdebatte22 wäre ohne die Ausstrahlung des Fernsehfilms „Holocaust“ ganz anders verlaufen. Hier ist der Grenzbereich von Spiegelung eines zeithistorischen Ereignisses in den Nachrichtensendungen und von Reflexion in interpretierenden Sendungen angesprochen. Das kann schließlich sogar den Spielfilm zu einer wichtigen Ebene historisch-politischer Überlieferung machen. Im Bereich der Widerstandsgeschichte treffe ich etwa immer wieder auf Zeitzeugen, die mir als eigenes Erleben präsentieren, was aus dem Spielfilm „Operation Walküre“ stammt, ganz abgesehen von dem Zeitzeugen, der mir von seiner Beurlaubung durch Stauffenberg am 19.7.1944 berichtete und im nächsten Satz sein Entsetzen mitteilte, als er – angeblich – in der „Tagesschau“ gesehen hätte, was sich da in der Wolfsschanze ereignet hatte. Warum, ist an dieser Stelle zu fragen, wird in der mündlichen Geschichtsschreibung der 19 Dieser Streit hat bisher noch keine systematische Untersuchung hervorgebracht. Vgl. aber die Materialien der beiden Enquete-Kommissionen zur Geschichte der DDR und der Probleme des vereinigten Deutschland. 20 Steininger 1985. 21 Verjährung 1980, Teil 1, S. 49–325. 22 Verjährung 1980, Teil 2, S. 439 ff.

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Zeitzeuge ernster genommen als das Medium, das die Wahrnehmung dieses Zeitzeugen mit erklären kann? Nehmen wir ein anderes Beispiel: die Geschichte der Kriegsgefangenen. Ende der vierziger Jahre waren die meisten Deutschen davon überzeugt, dass es Schweigelager in der Sowjetunion mit etwa einer Million Gefangener gäbe. An sie erinnerte eine Schweigeminute, die exakt am 8. Mai 1950 mittags begangen wurde. Das Thema der Kriegsgefangenen überlagerte weite Bereiche der Politik. Adenauer wird bis heute als der Politiker gefeiert, der die Kriegsgefangenenfrage endgültig gelöst hat, obwohl ein Blick in die Tagespresse zeigt, dass alles bereits vor Antritt der Reise geklärt und sogar mit „Pankow“, wie man sagte, geregelt war. Zu dieser Gefangenenproblematik gehört wieder ein, vielleicht sogar das Medienereignis der endenden Fünfziger: Wer unter den Mitfünfzigern erinnerte sich nicht an den Straßenfeger „So weit die Füße tragen“. Auch andere Filme dieser Zeit bewirkten politisch etwas. Ich nannte bereits die vielteilige exzellente Fernsehfolge über das Dritte Reich von Waldemar Besson. Ich erwähne hier „Heia Safari“ von Ralph Giordano, den Film „Die Wucht am Rhein“ wiederum von Giordano – Vorwegnahmen der Debatten, die uns bis heute nicht loslassen. In der Tat: Unsere „Radio Days“ waren oftmals „TV-Days“ und wurden oft von der unverwechselbaren Stimme eines Pelz von Felinau, auch eines Peter von Zahn, Ernst von Khuon, Peter Merseburger und Gert von Paczensky, nicht zuletzt eines Eugen Kogon bestimmt. Wo aber ist die zeithistorische Untersuchung von Magazinsendungen? Eine Erinnerung an die politischen Möglichkeiten dieses Typs von Sendung wurde noch einmal spürbar in der Umbruchphase des Jahres 1989/90, als „Kontraste“ Entwicklungen in der vergehenden DDR, insbesondere in der Stasi-Debatte, beeinflussen konnte. VIII. Zeitgeschichte – current history Der Blick auf die Massenmedien gestattet einen in der historischen Forschung unvergleichlichen Blick auf die verlaufende Geschichte. Das soll das zentrale Stichwort für meine Ausführungen sein, denn durch die Zeitungen haben wir erstmals die Möglichkeit, auf breiter Grundlage die Geschichte als einen komplex beeinflussten Prozess zu analysieren. Ich stehe mit diesem Bekenntnis zur Zeitung zwar nicht einsam auf der Flur. Der Bonner Historiker Hans-Peter Schwarz hat sich schon im Sommer 1982 zur Zeitung und Arbeit des Journalisten bekannt. Moderne liberale Gesellschaften, so betonte er, seien u. a. dadurch gekennzeichnet, „daß sie die von ihnen durchlebte und gestaltete Geschichte schon zu dem Zeitpunkt, da sich diese vollzieht, unablässig zum Objekt historiographischer Selbst-

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reflexion machen“. Das Ergebnis dieser Reflexion bezeichnet er als eine „recht tragfähige erste Schicht von Geschichtsschreibung.“23 Er bekennt sich zur publizistischen Quelle und damit auch zur Zeitung. Denn Journalisten – er sagt: „geschichtlich gebildete Journalisten, Publizisten oder auch Beamte in amtlichen Funktionen“ – unternähmen „unablässig Anläufe, den chaotischen Strom der Ereignisse in einer umfassenden Geschichtslandschaft zu verorten.“ Dies ist in unserer pluralistischen Gesellschaft ohne Zweifel das Resultat seiner entscheidenden Eigenschaft: der Offenheit. Diese an Popper erinnernde Kategorie bezieht der Historiker Schwarz ganz handfest auf die Öffentlichkeit als den Gegensatz zur Arkanpolitik: „Die Regierungskunst wie die Kunst des Opponierens in modernen Demokratien (bestehe) ja gerade darin, möglichst alle Politik im vollen Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit abzuwickeln.“ Bewundernd, so scheint es, registriert Schwarz die Ergebnisse publizistischer Recherche. Die Zahl der Journalisten, die „kenntnisreich, aufgrund harter Konkurrenz auch durchaus zuverlässig, mit gutem Gespür für das Wesentliche bei gleichzeitiger Skepsis gegenüber allen Täuschungsversuchen die zeitgenössischen Zusammenhänge erhöht, ist ungleich größer und leistungsfähiger als die Zahl der Historiker, die sich nach 20 oder 30 Jahren daran macht, dieselben Ereignisse erneut aus einem gewissen Abstand erneut aufzugreifen.“24 Schwarz stellt die publizistischen Analysen des zeitgenössischen Journalismus und der Dokumentare jenen Untersuchungen an die Seite, die von Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlern erarbeitet worden waren. Die „Voraussetzungen für die Entstehung eines schon recht zuverlässigen Geschichtsbildes von den Ereignissen, die eben ablaufen, (seien) aufgrund bestens ausgestatteter Medien, Agenturen, Dokumentationszentren heute wesentlich günstiger“ als in den älteren Perioden unserer Geschichte. Mir kommt es in diesem Zusammenhang auf die komparativische Formulierung an. Die Argumentation von Schwarz setzt unterschiedliche Akzente: Er betont die Kompetenz der Publizisten, er bekennt sich zu seinem Interesse an der gerade stattfindenden Geschichte und er hebt hervor, dass die „Gegenwartsgeschichte“ für eine Reihe wissenschaftlicher Disziplinen den Rohstoff liefert, der zum späteren Gebrauch für die Historiker „unverzüglich und durchaus methodensicher verarbeitet und aufbereitet wird.“25 Und er weiß, dass es in der pluralistischen Gesellschaft keine zuverlässigen Geheimnisse geben kann, vielleicht auch nicht geben darf. 23 24 25

Schwarz 1982, S. 5. Ebd., S. 7. Ebd., S. 8.

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Ich weise hier so deutlich auf die Position von Schwarz hin, weil sie innerhalb der historischen Forschung mehr als selten, geradezu rar ist. Denn an Hinweisen des Historikers auf den Wert publizistischer und sozialwissenschaftlicher Untersuchungen herrscht nun wirklich ein Mangel. Zwar spüren wir immer wieder, dass auch nach Schwarz der „zünftige Historiker“ geduldig auf die Gelegenheit zu warten hat, in der er – in seinen Worten – „seine Talente ins Spiel bringen kann“: nämlich dann, wenn bisher unerschlossene Quellenbestände zugänglich werden, die ein neues Bild gestalten lassen und die systematisch vertiefte Analyse ermöglichen.“ Dann könne der Journalist in die Rolle des Historikers schlüpfen oder der Historiker sich als Journalist versuchen – ich denke, wir haben alle unsere mehr oder minder überzeugenden Beispiele für diesen Rollenwechsel vor Augen. IX. Veritas non in actis Um so überraschender ist angesichts dieser Verschränkung von Zeitungen und Akten, von Historikern und Publizisten, von Gegenwartsanalyse und Zeitgeschichte die Tatsache, dass viele Studieneinführungen in die Geschichtswissenschaft unbeirrbar und weit gehend auf die Auseinandersetzung mit jenen Medien verzichten, die historische Entwicklungen seit vielen Jahrzehnten und eigentlich in zunehmender Intensität, Vielfalt und Spezialisierung wie keine anderen der traditionellen historischen Quellen seit fast zweihundert Jahren begleiten. In der gelungenen Einführung eines anderen Bonner Historikers Opgenoorth in das Studium der neueren Geschichte findet sich allerdings nur ein kurzes Kapitel zur Publizistik, zweieinhalb von 220 Seiten lang, und dort werden vor allem die Flugschriften der Reformation behandelt. Der Schluss lautet: „Häufig werden Quellen aus dem Bereich der Publizistik uns nicht mehr bieten als die Auffassung der Autoren“.26 In der Tat, aber für welche andere schriftliche Überlieferung träfe das nicht zu? Zeitungen sind immer auch Bewegungstexte. Dies macht keineswegs ihr wissenschaftliches Risiko, sondern gerade ihre Möglichkeit aus. Hinter Zeitungen verbirgt sich deshalb der zu motivierende Handelnde. Vielleicht haben deshalb Parteihistoriker ein positiveres Verhältnis zu dieser Quelle? Ein Blick in eine weitere Einführung in die Geschichtswissenschaft hilft hier vielleicht weiter, in die ehedem sehr verbreitete DDR-marxistische „Einführung in das Studium der Geschichte“ von Eckermann-Mohr, fast 600 Seiten lang. Wir finden einen kurzen Abschnitt über „Zeitungen und Zeitschriften“27 und schon bald eine ganz ähnliche Warnung wie die be26 27

Opgenoorth 1969, S. 95. Eckermann/Mohr 1979, S. 371.

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reits vorgetragene des Bonner Historikers. Eine „sorgfältige quantitative und qualitative Analyse“ der „bürgerlichen Presse“, so heißt es, sei in jedem Fall erforderlich. Demgegenüber stellten die Presseerzeugnisse der kommunistischen Parteien und Organisationen einen neuen Typ dar, mit dem man gewiss sorgloser umgehen konnte – also wie gehabt auch hier: Suche nach dem Fakt, dem Ereignis, dem Datum, keinerlei Gespür für die Chance, mit der Presse historische Prozesse analysieren zu können. Ähnliches gilt für die Einschätzung von Film und Funk. Die entscheidende Herausforderung, die auch über den Wert von Massenmedien für die zeithistorische Forschung entscheidet, liegt in der Beantwortung der Frage: „Liegt die Wahrheit wirklich in den Akten?“ Historiker glauben das bis heute, und vielleicht meinen sie deshalb, nicht nur auf den Umgang mit Medien verzichten zu können. Die wenigen Arbeiten, die systematisch Zeitungen auswerten, stützen sich auf Ausschnittsammlungen, nicht aber auf die Entdeckungsfahrt im vergangenen Blätterwald. Unbestreitbar ist hingegen, dass die Wahrheit, die der Historiker sucht, schon lange nicht mehr in den Akten liegt, in denen sich früher Entscheidungsprozesse spiegelten und aus denen sie sich nachvollziehen ließen. Dies ist keine Folge der neuen Kommunikationsmedien, die Akten immer mehr zu Substraten vollzogener Entscheidungen machen, sondern vor allem der Politik. Denn mit den Prozessen der Fundamentalpolitisierung und der Demokratisierung, die im 19. Jahrhundert einsetzten, und mit der Parlamentarisierung, die breite soziale Interessen in die staatliche Willensbildung integrierte, wurde das Medium der Zeitung immer wichtiger. Nicht nur in den Vereinigungen, den „Assoziationen“ und den Parteien aggregierten sich in den Zeitungen und politischen Zeitschriften Stimmungen, Vorstellungen, Interessen, artikulierte sich Kritik, veränderten sich Weltbild und Weltverständnis der breiten Bevölkerung. Und nicht zuletzt veränderten sich durch die Zeitungen die Voraussetzungen politischer Entscheidungen. Umso erstaunlicher ist, dass die Historiker noch immer kein rechtes Verhältnis zur Zeitung gefunden haben. Das zeigte sich schon im Zuge der mehrfach angesprochenen Kontroverse über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, die sogar vor ein oder zwei Generationen die gesamte deutsche Geschichtswissenschaft beschäftigte und sich methodisch abkapselte von internationalen Entwicklungstrends. Denn nicht einmal im Ringen um Kriegsschuld und Kriegsbeginn schien man zu verstehen, welche große Bedeutung den Zeitungen als Entscheidungsfaktoren zukam. Historiker begriffen anscheinend einfach nicht, welche Bedeutung etwa die knappe Bemerkung eines Riezler hatte, der seinem Tagebuch anvertraute, man müsse die Presse zum Mitspieler der Politik machen.

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X. Medien – Mitspieler in der politischen Arena Diese Haltung, in der Presse einen Mitspieler bei der Meinungsbildung zu sehen, hatte sich im 19. Jahrhundert herausgebildet. Im Bonapartismus wurde die Presse zum Meinungs- und damit zum Herrschaftsfaktor. Bismarck hoffte etwa, den Parlamentarismus durch den Parlamentarismus besiegen, also die öffentliche Meinung im gouvernementalen Sinne beeinflussen zu können. Er stützte sich auf Zeitungen, nahm Einfluss auf sie, schuf sogar ein – bis heute weitgehend verschollenes – gouvernementales Presseorgan, die „Provinzial-Korrespondenz“ zur Beeinflussung der Redaktionen. Er veränderte mit der Presse die politische Willensbildung, denn ein Kennzeichen des deutschen Konstitutionalismus war die ständige Bereitschaft, einen Appell an die Öffentlichkeit zu richten, um die Pattsituation staatlicher Institutionen – Regierung und Parlament – mit einem Schlag zu lösen. Bismarcks Politik ermunterte zugleich seine Gegner, sich selbst um den politischen Massenmarkt zu bemühen und sich mit ihren Zeitungen eine – wie es dann 1968 hieß – Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Zeitungen wurden zu einer der wichtigsten historischen Quellen, nicht nur wegen der Nachrichten, die sie übermittelten, sondern auch wegen der Meinungen die sie spiegelten, ganz zu schweigen von den Analysen, die man findet, kurzum, gerade wegen ihrer Bewegungsfunktion. Zeitungen sind deshalb ebenso wenig wie Fernsehsendungen dadurch zu charakterisieren, dass sie Werberaum durch einen redaktionellen Teil absetzbar machen. Dieser „redaktionelle Raum“ quillt nicht selten über mit klugen Analysen, die wir als Historiker nicht nur dann ernst nehmen müssen, wenn sie den Weg in die Aufsatzsammlungen der großen Geister gefunden haben, die die Zeitung nicht verschmähten. Zeitungen stellen bis heute das wichtigste Leitmedium dar und prägen deshalb zu einem ganz erheblichen Teil die Wahrnehmung derjenigen, die sich selbst als Entscheidungsträger empfinden. Geschichte hingegen ist nicht nur die vergangene Wirklichkeit, die zu rekonstruieren das niemals ganz zu erfüllende Ziel des Historikers ist. Geschichte ist nicht zuletzt das Bild, das wir uns in unserem Kopf von der Vergangenheit machen. Auch dieses Bild wird durch Faktoren bestimmt, die nicht identisch sind mit dem historischen Ereignis, das man selbst erlebt, erlitten und erfahren hat. Die Vergangenheit wird gedeutet, nicht zuletzt durch Zeitungen. Wenn es stimmt, dass die Vergangenheit nicht nur der Schlüssel zur Gegenwart ist, sondern die Gegenwart ebenso den Zugang zur Vergangenheit bietet, dann heißt dies: mit Hilfe von publizistischen Quellen auch die Bedingungen für die Rezeption der Vergangenheit erfassen zu wollen. Da wird sich der Historiker immer sperren, denn die Unterstellung, er sei auch ein geschichtspolitischer Mensch, dessen Urteil zutiefst

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von seiner politischen Option und von seiner Gegenwartserfahrung abhängig sein kann, wird letztlich sein Selbstverständnis, Diener der Vergangenheit zu sein, verletzen. Zeitungen sind aber nicht nur unverzichtbar, weil sich in ihnen im Zeitalter der Demokratisierung möglicherweise besser als in den Akten die Interessenauseinandersetzungen ihrer Zeit spiegeln und Rückschlüsse auf Prozesse der Entscheidungsfindung gestatten. Sie verändern auch unser Verständnis von Vergangenheit und das Gefühl für Vorgänge, die die „Gegenwartsgeschichte“ selbst prägen. Dies meint mehr als den Hinweis auf das Bonmot, Zeitgeschichte sei jene spezielle Vergangenheit, die ganz augenscheinlich qualmt und brennt und deshalb der Teil der politisch mobilisierbaren, zu politisierenden Geschichte ist. Gewiss ist diese gegenwartsnahe Vergangenheit, und wir beobachten das täglich, der Teil unserer Geschichte, der sich besonders gut anzünden lässt, sei es in unseren Wahlkämpfen, sei es in den ethnischen Konflikten, die wir nur verstehen können, wenn wir die Rückkehr der Geschichte als Faktor der Politik akzeptieren und zugleich nach der medialen Durchsetzung von Deutungen, die Konflikte bedeuten und erklären, fragen wollen. XI. Gegenwart hat Geschichte: Gegenwartsgeschichte Allerdings meint Gegenwartsgeschichte nicht nur die präsentistische Geschichte, auch nicht die Vorgeschichte unserer Gegenwart, sondern vor allem die im Zustand der Veränderung befindliche Vergangenheit und Gegenwart. Wir haben verschiedene Möglichkeiten, unseren Weg zu bestimmen. Im historischen Rückgriff versuchen wir immer wieder, und eine reich blühende Gedenk- und Erinnerungskultur zeigt es, unseren Weg zu klären, unsere Identität zu bestimmen, und zugleich dient dieser Rückgriff der Legitimation unserer gegenwärtigen Ordnung. Zum anderen geht es um die Verbindung von Lebens- und Zeitgeschichte. Gegenwartsgeschichte ist deshalb stets mehr gewesen als lediglich – um ein vielfach zitiertes, gewendetes und bestätigtes Wort des Nestors dieser jungen Bindestrichdisziplin Hans Rothfels zu variieren – die „Geschichte der lebenden Generationen“. Dies ist Zeitgeschichte gewiss auch, und unvermeidlich, zuweilen auch unausweichlich, begleitet sie als wissenschaftliche Disziplin die Generationen auf ihrem Zug durch die Zeit. Diese Generationen haben nicht nur ihre jeweils eigene Geschichte, die sich nicht selten durch kategoriale Ereignisse zu prägen scheint, sondern sich vor allem in Gestalt von generativen Segmenten – Mannheim spricht von Lagerungen – niederschlagen kann. Im Zug der Generationen durch die Zeit verlagern sich die Proportionen dieser kategorial geprägten Generationen und verändern den Blick auf die Vergan-

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genheit. Zeitungen erschließen diesen Prozess ebenso wie Ton- und Filmdokumente, aber wie keine andere Quelle sonst! Allerdings muss man sie lesen, bearbeiten, ordnen können. Und dies kann nur gelingen, wenn die Zeitungsanalyse ein Teil der wissenschaftlichen Ausbildung wird. Zugleich ist der Begriff der Zeitgeschichte in besonderer Weise geeignet, Historiker daran zu erinnern, dass Geschichte im Zug der Generationen durch die Zeit immer neu vermittelt und erarbeitet werden muss. Deshalb spricht man in der angelsächsischen Geschichtswissenschaft nicht nur von der Geschichte der Zeitgenossen – contemporaries –, sondern auch von der fortlaufenden – current – Geschichte. Die Herausforderungen einer derartig offenen Geschichte – sie erinnern auch an den von Schwarz verwendeten Begriff der „fließenden Geschichte“ – sind nur auf den ersten Blick die kaum abgrenzbaren Epochengrenzen. Vielmehr geht es um ein Gefühl für die Geschichte als ein in ihrer jeweiligen Situation offenen Prozess. Gegenwartsgeschichte ist dann jene Vergangenheit, die wir betrachten aus dem Gefühl heraus, dass ihr Ausgang unbekannt ist. Natürlich gibt es daneben den Versuch, diese Gegenwartsgeschichte chronologisch exakt einzuzäunen. Dies verrät der Blick auf die französische Geschichtswissenschaft. Hier lässt man die Zeitgeschichte mit dem Jahre 1789 beginnen, seit vielen Generationen übrigens, so, wie wir naiv meinen, unsere Neuzeit etwa exakt mit dem Jahr 1492 beginnen lassen zu können, so wie in Anlehnung an Rothfels die Zeitgeschichte weiterhin nicht selten unverdrossen mit dem Jahre 1917 beginnt. Mir kommt es darauf an, bewusst zu machen, was Zeitungen für die geschichtswissenschaftliche Forschung bedeuten. Sie erlauben, die Vergangenheit nicht nur vom Anfang her zu schildern, sondern Geschichte aus der Mitte, aus den Entwicklungen selbst, darzustellen. Dies begünstigt narrative Formen der Forschung, erlaubt eine Schilderung historischer Dynamik und öffnet den Blick für ein Gegenwartsverständnis, dass sich bereits morgen nur noch mit Methoden der Argumentations- und Kommunikationsanalyse beschreiben lässt. Zeitungen verhindern, Vergangenheit allein oder ganz und gar vom Ende her zu sehen. Wie oft haben wir in geschichtstheoretischen oder -philosophischen Seminaren gehört, Geschichte sei mehr als eine Epoche, mehr als ein begrenzter Zeitraum. Zeitungen können deutlich machen, wie Menschen handeln, die noch nicht von der Berufskrankheit des Historikers, der rückwärtsgewandten Prophetie, befallen sind. Wer sich auf Zeitungen einlässt, hat eine Chance, den Flügel der Eule Minerva zu entgehen, denn er hat eine kleine Möglichkeit, sich bewusst zu machen, dass er die Geschichte nur so gut beurteilen kann, weil sie sich ereignet hat. Zumindest simulieren kann der Historiker das Urteil aus dem Prozess heraus, aus der Nähe zu Alterna-

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tiven, in der Konfrontation mit Stimmungen, aus dem Gefühl des Gleichzeitigen, sogar des ganz zusammenhanglosen Gleichzeitigen. Zeitungen erschließen die Geschichte im vollen Fluss, einem Zeitenfluss, der sein Ziel nicht ahnt. Dies gilt es zu fassen, zu analysieren und historiographisch umzusetzen. Dabei geht es um offene Geschichte ebenso wie um die Ästhetik des Narrativen. Können wir uns vorstellen, Smetanas symphonische Dichtung „Die Moldau“ innerlich vom Schlussakkord her zu hören? Also: Es geht um das Ziel, den Willen, auch um das Gefühl, mit Hilfe der Zeitungen etwas so darstellen und einschätzen zu können, dass wir den Eindruck gewinnen, vermitteln und genießen: Geschichte kann auch gerade das auf eine höchst reizvolle und wichtige Weise sein, was das Ende noch nicht kennt. XII. Konsequenzen für die Ausbildung von Historikern So bleibt ein Wunsch: Möge es künftig von Seiten der Geschichtswissenschaft gelingen, Zeitungen stärker in die akademische Lehre zu integrieren. Dies setzt voraus, dass wir die Mikrofilmbestände pflegen und in der Lehre einsetzen.. Möge die Konfrontation mit Zeitungen dazu beitragen, dass der Zeithistoriker sich nicht mehr nur durch sein Interesse an der neuesten oder jüngsten oder fast gegenwärtigen Geschichte definiert, sondern dass er durch ein spezifisches Verhältnis zu seinem Gegenstand charakterisiert werden kann. Wenn Zeitgeschichte eine Perspektive des historischen Forschens und Fragens charakterisiert, dann wird vielleicht auch das Gespür dafür zunehmen, dass wir Vergangenheit niemals nur vom Ende her deuten können. Gerade in den gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen nehmen Versuche zu, etwas zu deuten, dessen politische Brisanz zugleich aus der Nähe der Vergangenheit zur jeweiligen Gegenwart resultiert. Dies ist natürlich ein relatives Problem. Deutlich wird es vielleicht weniger an Zeitgenossen, die aus ihrer Zeitgenossenschaft den Anspruch ableiten, als Quelle mündlicher Geschichtsschreibung zu gelten, vielmehr an jenen Historikern, die sich immer als Zeithistoriker begriffen und deshalb ein Gefühl für den offenen Ausgang ihrer Gegenwart hatten. Sie schrieben sehr oft aus der Mitte der Entwicklungen heraus, in denen sie standen. Die Konditionen dieser Perspektiven des Forschens und des Deutens haben wir viel zu selten reflektiert. Zum einen gewiss, weil uns in der deutschen Tradition Historiker fehlen, die gründliche, reflektierende Zeitgenossen waren. Zeitdiagnosen deutscher Historiker sind ebenso selten wie Umbruchbeschreibungen. Es war ein Troeltsch, also ein Theologe, der die Spektatorbriefe hinterließ, es war ein Jaspers, von Haus aus ein Psychologe

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und Philosoph, der die geistige Situation der Zeit reflektierte. Es war Hannah Arendt, eine Philosophin, die über die Gefahren nachdachte, die aus der Vorstellung einer herstellbaren Vergangenheit resultierten. Ein Buch wie Marc Blochs Schilderung der Niederlage in Frankreich 1940 ist mir als das vergleichbare Werk eines deutschen Historikers nicht bekannt. Die Katastrophe wurde erst im weiten Rückblick analysiert, nicht aber aus dem Augenblick unmittelbaren, noch situativen Erlebens gezeichnet. Deutsche Historiker führen statt dessen, so könnte man zynisch fortsetzen, die Kriegstagebücher, wie Percy Ernst Schramm, oder sie reflektieren weit zurückgreifend deutsche Katastrophen – am liebsten beschäftigen sie sich mit der Erklärung des Eingetretenen, des nicht selten als unvermeidlich Geschilderten. Innerhalb der Zunft stehen wir am Anfang der Auseinandersetzung mit Zeitungen und mit den Massenmedien unseres Jahrhunderts als Quellen. Es geht nicht nur um Auflagen, um Leser, Schreiber, wirtschaftliche Interessen und politische Verknüpfungen. Sondern es geht um die Bereitschaft, sich den Zug der Generationen durch die Zeitläufe immer wieder neu in das Gedächtnis zu rufen, um zu begreifen, dass sich Zeitgeschichte als spezifischer lebensgeschichtlicher Erfahrungshorizont ständig wandelt, dass sich Geschichte durch Massenmedien erschließt, dass aber durch Massen auch Einfluss von den politisch Einflussreichen auf Geschichtsbilder genommen werden kann. Jeder hat in seiner lebensgeschichtlichen Entwicklung die Erfahrung gemacht, in welcher Weise Groß- oder gar Urgroßeltern, Eltern, aber auch die Kinder zur ständigen Ausweitung der zeitlichen, räumlichen und sozialen Erweiterung der Wahrnehmungs- und Deutungshorizonte beitragen. Nicht nur erzählte Erinnerungen verändern diese Horizonte, sondern vor allem die Medien, die abgesehen von Jahrestagen immer wieder das in den Blick rücken, was mit unserer Gegenwart zusammenhängt. Die Anfänge der Zeitgeschichte lassen sich dann nicht mehr nur lebensgeschichtlich fixieren, vielmehr verändern sich mit den Herausforderungen, die unsere Gegenwart prägen. Zeitgeschichte zeichnet sich in dieser Perspektive durch die Offenheit ihres Anfangs und die Unbekanntheit ihres Endes aus. XIII. Zeitungen – der Weg zum „mittendrin“ Das stellt für mich den Reiz der Zeitungen, der Filme, des Rundfunks und der Fernsehsendungen dar: zu erfahren, was es heißt, mittendrin zu stehen in Prozessen, die wir nur aus dem großen Rückblick als abgeschlossene Geschichte erkennen. Leichter wird dies, wenn auch Journalisten akzeptieren, dass sie keineswegs „amputierte Historiker“ sind, sondern eine Chance haben: Sie können sichern, was bald vergessen ist; sie können Stimmungen

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mitteilen, die ein Historiker nach langer Zeit neu spürt oder verstärkt. Geschichte in den Medien ist nicht alles – Geschichte durch die Medien, das ist das Thema, und lange genug gestellt, lange genug bearbeitet, fügen sich Versuche zur Gegenwartsdurchdringung zur Gegenwartsgeschichte, die ihren Wert in der Zukunft erweisen wird. Die Zeitungen von gestern sind deshalb kein altes Papier, so wie die Fernseh- und die Rundfunksendungen von gestern nicht überholt sind. Sie sind zu sichern, vor allem aber sind sie auch zu erschließen und zum Gegenstand historischer Ausbildung zu machen. Die Erzeugnisse der Massenmedien bedeuten für den Historiker viel, mit Sicherheit mehr als nur eine besonders wichtige Überlieferung der Fakten. Der Historiker hat die Massenmedien in vielerlei Hinsicht zu nutzen. Nicht nur für die Analyse ereignisreicher Entwicklungen, sondern auch von Stimmungen, von Herrschaftstechniken, von Widerständigkeitsversuchen. Die Bedeutung der Massenmedien kann durch kein kulturkritisches Sentiment relativiert werden. In einem Satz: Massenmedien sind im 20. Jahrhundert die wichtigsten Quellen für die Geschichte ihrer Zeit. Und deshalb hat sie auch der Historiker ernster zu nehmen, als er es bisher zu tun gewohnt war. Nicht zuletzt aber hat er sich um die Entstehung, Rezeption und schließlich Instrumentalisierung von Massenmedien forschend zu bemühen. Dies kann nur in der interdisziplinären Kooperation gelingen. Kommunikations-, Sozial- und Geschichtswissenschaft können so zusammenrücken, geradezu miteinander verschmelzen. Fundamentaldemokratisierung und breite Politisierung rücken ebenso in den Blick wie das Kalkül derjenigen, die den Massenmarkt medial gestalten. Nicht zuletzt aber wächst das Gespür für die Auswirkungen von massenmedial vermittelten Erzähl- und Deutungsstrukturen für die Entstehung der Geschichtsbilder. In der Tat: die Wahrheit liegt schon lange nicht mehr in den Akten. Sie hebt sich auch nicht in der postmodernen Beliebigkeit auf. Sie spiegelt sich in den Köpfen. Wie sie dort hineinkommt, das ist für den weniger rätselhaft, der sich ihre Bedeutung bewusst macht.

Literatur Bausch, Hans (Hg.), Rundfunk in Deutschland, 5 Bde., München 1980 (zitiert: Bausch 1980). Besson, Waldemar, Das Dritte Reich, ARD 1960/61 (zitiert: Besson 1960/61). Boberach, Heinz (Hg.), Meldungen aus dem Reich: Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS 1938–1945, Hersching 1984 (zitiert: Boberach 1984).

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Eckermann, Walther/Mohr, Hubert (Hg.), Einführung in das Studium der Geschichte, Berlin (Ost) 1969, hier zitiert nach der 3. neu bearb. Aufl. Berlin (Ost) 1979 (zitiert: Eckermann/Mohr 1979). Faulenbach, Bernd, Die Ideologie des deutschen Weges: Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980 (zitiert: Faulenbach 1980). Haar, Ingo, Historiker im Nationalsozialismus, Göttingen 2000 (zitiert: Haar 2000). Habermas, Jürgen, Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 4. Aufl., Neuwied [u. a.] 1969 (zitiert: Habermas 1969). Heil, Johannes/Erb, Rainer (Hg.), Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit: Der Streit um Daniel J. Goldhagen, Frankfurt/Main 1998 (zitiert: Heil/Erb 1998). Kolb, Eberhard, Kriegsführung und Politik 1870/71, in: Theodor Schieder/Ernst Deuerlein (Hg.): Reichsgründung 1870/71, Stuttgart 1970, S. 95 ff. (zitiert: Kolb 1970). Koszyk, Kurt, Deutsche Presse im 19. Jahrhundert, Berlin 1966 (zitiert: Koszyk 1966). – Deutsche Presse 1914–1945, Berlin 1972 (zitiert: Koszyk 1972). Kroll, Frank-Lothar, Utopie als Ideologie: Geschichtsdenken und politisches Handelns im Dritten Reich, Paderborn 1998 (zitiert: Kroll 1998). Lindemann, Margot, Deutsche Presse bis 1815, Berlin 1969 (zitiert: Lindemann 1969). Mitter, Armin/Wolle, Stefan (Hg.), „Ich liebe euch doch alle . . .“ Befehle und Lageberichte des MfS Januar-November 1989, Berlin 1990 (zitiert: Mitter/Wolle 1990). Naujoks, E., Bismarck und die Organisation der Regierungspresse, in: Historische Zeitschrift 205, 1967, S. 46–80 (zitiert: Naujoks 1967). Opgenoorth, Einführung in das Studium der Neueren Geschichte, Braunschweig 1969 (zitiert: Opgenoorth 1969). Rosenberger, Bernhard, Zeitungen als Kriegstreiber? Die Rolle der Presse im Vorfeld des Ersten Weltkrieges, Köln [u. a.] 1998 (zitiert: Rosenberger 1998). Schoeps, Julius H. (Hg.), Ein Volk von Mördern? Die Dokumentation zur Goldhagen-Kontroverse um die Rolle der Deutschen im Holocaust, Hamburg 1996 (zitiert: Schoeps 1996). Schumann, Peter, Gerhard Ritter und die deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Mentalitäten und Lebensverhältnisse: Beispiele aus der Sozialgeschichte der Neuzeit – Rudolf Vierhaus zum 60. Geburtstag, Göttingen 1982, S. 399–415 (zitiert: Schumann 1982). Schwabe, Klaus, Gerhard Ritter: Werk und Person, in: Ders./R. Reichardt (Hg.): Gerhard Ritter: Ein politischer Historiker in seinen Briefen, Boppard 1984 (zitiert: Schwabe 1984).

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Schwarz, Hans-Peter, Geschichtsschreibung und politisches Selbstverständnis: Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland – Herausforderung für die Forschung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 36/82 v. 11.9.1982 (zitiert: Schwarz 1982). Steinbach, Peter, Der Historikerstreit, in: Heiner Lichtenstein/Otto R. Romberg (Hg.): Täter, Opfer, Folgen: Der Holocaust in Geschichte und Gegenwart, Bonn 1995, S. 101–113 (zitiert: Steinbach 1995). Steininger, Rolf, Eine vertane Chance: Die Stalin-Note vom 10. März 1952 und die Wiedervereinigung, Bonn 1985 (zitiert: Steininger 1985). Sywottek, Arnold, Die Fischer-Kontroverse: Ein Beitrag zur Entwicklung historischpolitischen Bewußtseins in der Bundesrepublik, in: Imanuel Geiss/Bernd-Jürgen Wendt (Hg.): Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1973, S. 19–47 (= Fischer Festschrift zum 65. Geburtstag) (zitiert: Sywottek 1973). Wilke, Jürgen, Massenmedien als Quelle und Forschungsgegenstand der Kommunikationsgeschichte, in: Manfred Bobrowsky [u. a.] (Hg.): Wege zur Kommunikationsgeschichte, München 1987, S. 697 ff. (zitiert: Wilke 1987). Zur Verjährung nationalsozialistischer Verbrechen: Dokumentation der parlamentarischen Bewältigung des Problems 1960–1979, Teil 1 und 2, Bonn 1980 (zitiert: Verjährung 1980).

Richard Saage: Publikationsverzeichnis I. Monographien und Aufsatzsammlungen 1. Eigentum, Staat und Gesellschaft bei Immanuel Kant, 1. Auflage, Stuttgart u. a. 1973 (Kohlhammer philosophica). 2. aktualisierte Auflage. Mit einem Vorwort von Franco Zotta „Kant und der Besitzindividualismus“, Baden-Baden 1994 (Nomos). 2. Faschismustheorien. Eine Einführung, 1. Auflage München 1976, 2. Auflage 1977, 3. Auflage 1981 (Becksche Schwarze Reihe, Bd. 141), 4. Auflage. Mit einem Vorwort „Zwanzig Jahre danach: ‚Faschismustheorien‘ und ihre Kritiker“, BadenBaden 1997 (Nomos). Italienische Ubersetzung unter dem Titel „Interpretazioni del nazismo“. Übersetzung: Manffl Tagliazucchi, Napoli 1979 (Liguori Editore. Collana die storia moderna e contemporanea 3). 3. Herrschaft, Toleranz, Widerstand. Studien zur politischen Theorie der Niederländischen und der Englischen Revolution, Frankfurt 1981 (Suhrkamp). 4. Rückkehr zum starken Staat? Studien über Konservatismus, Faschismus und Demokratie, Frankfurt 1983 (edition suhrkamp). 5. Arbeiterbewegung, Faschismus, Neokonservatismus, Frankfurt 1987 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft). 6. Vertragsdenken und Utopie. Studien zur politischen Theorie und zur Sozialphilosophie der frühen Neuzeit, Frankfurt 1989 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft). 7. Das Ende der politischen Utopie? Frankfurt am Main 1990 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft). 8. Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt l991 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt); 2. Auflage. Mit einem Vorwort „Utopisches Denken und kein Ende? Zur Rezeption eines Buches“, Bochum 2000 (Verlag Dr. Winkler); ital. Übersetzung unter dem Titel „L’Utopia in etá moderna“. Übersetzung: Palma Servi, Genova 1997 (Edizioni Culturali Internazionali Genova). 9. Vermessungen des Nirgendwo. Begriffe, Wirkungsgeschichte und Lernprozesse der neuzeitlichen Utopien, Darmstadt 1995 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 10. Utopieforschung. Eine Bilanz, Darmstadt 1997 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) sowie Lizenzausgabe für den Primus Verlag, Darmstadt 1997. 11. Innenansichten Utopias. Wirkungen, Entwürfe und Chancen des utopischen Denkens, Berlin 1999 (Duncker & Humblot Berlin).

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Richard Saage: Publikationsverzeichnis

12. Utopische Profile: Renaissance und Reformation (= Politica et Ars Bd. 1), Münster/Hamburg/London 2001 (LIT-Verlag Münster). 13. Utopische Profile: Aufklärung und Absolutismus (= Politica et Ars Bd. 2), Münster/Hamburg/London 2002 (LIT-Verlag Münster). 14. Utopische Profile: Industrielle Revolution und Technischer Staat im 19. Jahrhundert (= Politica et Ars Bd. 3), Münster/Hamburg/London 2002 (LIT-Verlag Münster). 15. Utopische Profile: Widersprüche und Synthesen des 20. Jahrhunderts (= Politica et Ars Bd. 4), Münster/Hamburg/London 2003 (LIT-Verlag Münster). 16. Strukturwandel der Demokratietheorien. Versuch einer ideengeschichtlichen Ortsbestimmung. Unter Mitwirkung von Ingrid Thienel-Saage, Hagen 2005. 17. Demokratietheorien. Historischer Prozess – Theoretische Entwicklung – Soziotechnische Bedingungen. Ein Einführung, Wiesbaden 2005.

II. Editionen 1. Johann Gottlieb Fichte, Ausgewählte politische Schriften. hrsg.v. Zwi Batscha und Richard Saage. Eingel. v. Zwi Batscha. Mit einem Nachwort v. Richard Saage, Frankfurt 1977 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft Nr.. 201). 2. Friedensutopien. Kant-Fichte-Schlegel-Görres. hrsg. und eingel. v. Zwi Batscha und Richard Saage, Frankfurt 1979 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft Nr. 267). 3. Konservatismus. Eine Gefahr für die Freiheit? Hrsg.v. Eike Hennig und Richard Saage, München 1983 (Piper). 4. Otto Bauer: Theorie und Politik. Hrsg. u. eingel. v. Detlev Albers, Horst Heimann und Richard Saage, Berlin 1985 (Argument-Verlag). 5. Solidargemeinschaft und Klassenkampf. Politische Konzeptionen der Sozialdemokratie zwischen den Weltkriegen. Hrsg. v. Richard Saage, Frankfurt 1986 (edition suhrkamp). 6. Kultur und Politik. Brechungen der Fortschrittsperspektive heute. Hrsg. v. Herfried Münkler und Richard Saage, Opladen 1989 (Westdeutscher Verlag). 7. Hat die politische Utopie eine Zukunft? Hrsg. v. Richard Saage, Darmstadt 1992 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft). 8. Aufklärung und Erneuerung. Beiträge zur Geschichte der Universität Halle im ersten Jahrhundert ihres Bestehens (1694–1806). Zur Dreihundertjahrfeier im Auftrag des Rektors herausgegeben von Günter Jerouschek und Arno Sames unter Mitarbeit von Michael Beintker, Rainer Enskat, Erhard Hirsch, Josef N. Neumann, Richard Saage, Udo Sträter, Hanau/Halle 1994 (Verlag Werner Dausien). 9. Das Scheitern diktatorischer Legitimationsmuster und die Zukunftsfähigkeit der Demokratie. Festschrift für Walter Euchner. Herausgegeben von Richard Saage, Berlin 1995 (Verlag Duncker & Humblot).

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10. Die Politisierung des Utopischen im 18. Jahrhundert. Vom utopischen Systementwurf zum Zeitalter der Revolution Hrsg. v. Monika Neugebauer-Wölk und Richard Saage, Tübingen 1996 (Max Niemeyer Verlag). 11. Zwischen Triumph und Krise. Zum Zustand der liberalen Demokratie nach dem Zusammenbruch der Diktaturen in Osteuropa. Hrsg. v. Richard Saage und Gunnar Berg, Opladen 1998 (Leske und Budrich). 12. Von der Geometrie zur Naturalisierung. Utopisches Denken im 18. Jahrhundert zwischen literarischer Fiktion und frühneuzeitlicher Gartenkunst. Hrsg. v. Richard Saage und Eva-Maria Seng, Tübingen 1999 (Max Niemeyer Verlag).

III. Aufsätze 1. Zum Begriff der Parteien und des Parlaments bei Carl Schmitt und Gerhard Leibholz, in: Das Argument 50 (1969), S. 174–193, wieder abgedruckt in: Richard Saage, Rückkehr zum starken Staat? (s. Ziffer I, 4), S. 156–180. 2. Aspekte der politischen Philosophie Fichtes, in: NPL, XV. Jg. (1970), S. 354–376; in erweiterter Fassung wieder abgedruckt unter dem Titel „Zur neueren Rezeption der politischen Philosophie Johann Gottlieb Fichtes“, in: Johann Gottlieb Fichte, Ausgewählte politische Schriften (s. Ziffer II, 1, S. 337–416). 3. Bemerkungen zur Faschismusinterpretation Ernst Noltes, in: Das Argument 58 (1970), S. 292–304, wieder abgedruckt in: Richard Saage, Arbeiterbewegung, Faschismus, Neokonservatismus, (s. Ziffer, I, 4, S. 160–175). 4. Besitzindividualistische Perspektiven der politischen Theorie Kants, in NPL, XVII Jg. (1972), S. 168–193; wieder abgedruckt in: Richard Saage, Vertragsdenken und Utopie. (s. Ziffer I, 6), S. 192–234. 5. Probleme der Sozialgeschichte der amerikanischen Revolution, in: NPL, XIX Jg. (1974), S. 310–339 6. Konservatismus und Demokratie. Zur neusten Kontroverse über den Konservatismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B. 42/S. 37 –47. 7. Friedensutopien des ausgehenden 18. Jahrhunderts (gemeinsam mit Zwi Batscha), in: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte der Universität Tel Aviv, Bd. IV (1975), S. 111–145; wieder abgedruckt unter dem Titel „Einleitung der Herausgeber“, in: Friedensutopien (s. Z. II, 2, S. 7–36); erneut abgedruckt in: Ewiger Landfrieden, 1495 – Zum Ewigen Frieden, 1795. Die Friedensidee vom Mittelalter bis zu Immanuel Kants philosophischem Entwurf „Zum ewigen Frieden“, Worms 1995, S. 9–16. 8. Zum Verhältnis von Nationalsozialismus und Industrie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 9/75, S. 17–39. 9. Antisozialismus, Mittelstand und NSDAP in der Weimarer Republik, in: IWK, 11. Jg. (1975), S. 146–177. 10. Naturzustand und Eigentum, in: Materialien zu Kants Rechtsphilosophie. Hrsg. v. Zwi Batscha, Frankfurt 1976, S. 206–233.

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11. Einige Rahmenbedingungen der deutschen und österreichischen Revolution von 1918. Eine vergleichende Skizze, in: Politische Didaktik 1/1977, S. 7–24); wieder abgedruckt in: Rückkehr zum starken Staat?, (s. Ziffer I, 4), S. 61–106. 12. Zur neueren Rezeption der politischen Philosophie Johann Gottlieb Fichtes, in: Johann Gottlieb Fichte, Ausgewählte politische Schriften. (S. Ziffer II, 1), S. 357–416. 13. Konservatismus und Faschismus. Zu Ernst Forsthoffs Entwicklung vom „Totalen Staat“ zum „Staat der Industriegesellschaft“, in: PVS, 19. Jg. (1978), S. 254–268, wieder abgedruckt in: Rückkehr zum starken Staat?, (s. Ziffer I, 4), S. 81–201. 14. Widerstandsrecht und Toleranzprinzip im Aufstand der Niederlande, in: NPL, XXIV. Jg. (1979), S. 318–344. 15. Das Dilemma der Sozialdemokratie in Deutschland und Österreich 1918–1934, in: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte der Universität Tel Aviv, Bd. IX (1980), S. 429–474, wieder abgedruckt in: Rückkehr zum starken Staat?, (s. Ziffer I, 4), S. 51–106. 16. Zur politischen Theorie der großen Englischen Revolution, in: NPL, XXV. Jg. (1980), S. 170–188. 17. Das sozio-politische Herrschaftssystem des Nationalsozialismus. Reflexionen zu Franz Naumanns „Behemoth“, in: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte der Universität Tel Aviv, Bd. X (1981), S. 341–362, wieder abgedruckt in: Rückkehr zum starken Staat?, (s. Ziffer I, 4), S. 135–155. 18. „Gleichgewicht der Klassenkräfte“ und Koalitionsfrage als Problem sozialdemokratischer Politik in Deutschland und Österreich zwischen den Weltkriegen, in: Horst Heimann/Thomas Meyer (Hg.), Reformsozialismus und Sozialdemokratie. Zur Theoriediskussion des Demokratischen Sozialismus in der Weimarer Republik, Berlin und Bonn 1982, S. 145–166, wieder abgedruckt in: Rückkehr zum starken Staat?, (s. Ziffer I, 4), S. 107–134. 19. Von der „Revolution von rechts“ zum technokratischen Konservatismus. Anmerkungen zu Hans Freyers Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Industriegesellschaft, in: Konservatismus (s. Ziffer II, 3), S. 120–143, wieder abgedruckt in: Rückkehr zum starken Staat?, (s. Ziffer 1, 4), S. 202–227. 20. Neokonservatives Denken in der Bundesrepublik, in: Iring Fetscher (Hg.), Neokonservative und „Neue Rechte“. Der Angriff gegen Sozialstaat und liberale Demokratie in den Vereinigten Staaten, Westeuropa und der Bundesrepublik, München 1983, S. 66–116 u. S. 223–231; erneut publiziert in: Fetscher (Hg.), Neokonservative und „Neue Rechte“, a. a. O., Frankfurt am Main, Olten, Wien 1984, S. 66–116 u. S. 223–231, in leicht gekürzter Form wieder abgedruckt in: Rückkehr zum starken Staat?, (s. Ziffer I, 4), S. 228–282. 21. Rückkehr zum starken Staat? Zur Renaissance des Freund-Feind-Denkens in der Bundesrepublik, in: Rückkehr zum starken Staat?, (s. Ziffer I, 4), S. 7–42. 22. Wehrhafter Reformismus. Zur Körner-Rezeption Ilona Duczynskas, in: Helmut Konrad/Wolfgang Maderthaner (Hrsg.), neuere Studien zur Arbeitergeschichte.

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Zum fünfundzwanzigsten Bestehen des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung, Bd. II: Beiträge zur politischen Geschichte, Wien 1984, S. 411–438, wieder abgedruckt in: Arbeiterbewegung, Faschismus, Neokonservatismus, (s. Ziffer I, 5), S. 33–55. 23. Die neokonservative Herausforderung in der Bundesrepublik, in: Arbeiterbewegung, Faschismus, Neokonservatismus, (s. Ziffer I, 5), S. 191–231. 24. Absolutismus und Aufklärung in Deutschland, in: Pipers Handbuch der politischen Ideen. Hrsg. v. Iring Fetscher und Herfried Münkler, Bd. 3: Von den Konfessionskriegen bis zur Aufklärung, München 1985, S. 529–559, wieder abgedruckt in: Vertragsdenken und Utopie, (s. Ziffer I, 5), S. 93–141. 25. Staat, Technik und Gesellschaft im Neokonservatismus, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 36. Jg. (1985), S. 571–576, wieder abgedruckt in: Arbeiterbewegung, Faschismus, Neokonservatismus, (s. Ziffer I, 5), S. 232–251 sowie in: Siegfried Bleicher (Hrsg.), Technik für den Menschen. Soziale Gestaltung des technischen Wandels. Eine Dokumentation, Köln 1987, S. 58–72. 26. Der italienische und der deutsche Faschismus, in: Iring Fetscher und Herfried Münkler (Hrsg.), Politikwissenschaft. Begriffe – Analysen – Theorien, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 463–493, in überarbeiteter und erweiterter Form wieder abgedruckt in: Arbeiterbewegung, Faschimus, Neokonservatismus, (s. Ziffer I, 5), S. 121– 159. 27. Restriktionsanalysen Otto Bauers am Beispiel der Österreichischen Republik, in: Detlev Albers, Horst Heimann, Richard Saage (Hrsg.), Otto Bauer: Theorie und Politik, (s. Ziffer II, 4), Berlin 1985, S. 20–31, wieder abgedruckt in: Das Ende der politischen Utopie?, (s. Ziffer I, 7), S. 62–76. 28. Zur Aktualität des Begriffs „Technischer Staat“, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 37. Jg. (1986), S. 37–44, wieder abgedruckt in: Arbeiterbewegung, Faschismus, Neokonservatismus, (s. Ziffer I, 5), S. 252–266. 29. Einleitung (1986) zu: Solidargemeinschaft und Klassenkampf. (s. Ziffer II, 5), S. 7–12. 30. Parlamentarische Demokratie, Staatsfunktionen und das „Gleichgewicht der Klassenkämpfe“, in: Solidargemeinschaft und Klassenkampf, (s. Ziffer II, 5)., S. 83–103, wieder abgedruckt in: Arbeiterbewegung, Faschismus, Neokonservatismus, (s. Ziffer I, 5), S. 11–32. 31. Die gefährdete Republik. Porträt der Zeitung des Reichsbanners Schwarz-RotGold, in: Solidargemeinschaft und Klassenkampf, (s. Ziffer II, 5), S. 277–301, wieder abgedruckt in: Arbeiterbewegung, Faschismus, Neokonservatismus, (s. Ziffer I, 5), S. 56–80. 32. Historische Dimension und aktuelle Bedeutung des Topos „technischer Staat“, in: Politik und die Macht der Technik. 16. wissenschaftlicher Kongreß der DVPW 7. bis 18. Oktober in der Ruhr-Universität Bochum, hrsg. v. Hans Hermann Hartwich, Opladen 1986, S. 52–68. 33. Die Oktoberrevolution und das sowjetische Herrschaftssystem im politischen Denken Otto Bauers, in: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte, Bd. XV

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(1986), Universität der Tel Aviv, S. 363–398, wieder abgedruckt in: Arbeiterbewegung, Faschismus, Neokonservatismus, (s. Ziffer I, 5), S. 81–117. 34. Der Neokonservatismus und das Ende des „Sozialdemokratischen Zeitalters“, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 38. Jg. (1987), S. 91–100. 35. August-Ludwig Schlözer als politischer Theoretiker, in: Anfänge der Göttinger Sozialwissenschaft. Methoden, Inhalte und soziale Prozesse im 18. und 19. Jahrhundert. Hrsg. v. Hans Georg Herrlitz und Horst Kern, Göttingen 1987, S. 13–54, wieder abgedruckt in: Vertragsdenken und Utopie, (s. Ziffer I, 6), S. 142–191. 36. Otto Kirchheimers Analyse des nationalsozialistischen Herrschaftssystems 1935–1941, in: Arbeiterbewegung, Faschismus, Neokonservatismus, (s. Ziffer I, 5), S. 176–195, wieder abgedruckt in: Wolfgang Luthardt, Alfons Söllner (Hrsg.), Verfassungsstaat, Souveränität, Pluralismus, Otto Kirchheimer zum Gedächtnis, Opladen 1989, S. 77–91. 37. Vertragsdenken als frühbürgerliche Gesellschaftstheorie (Hobbes, Locke, Rousseau), in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 12. Jg. (1987), S. 48–59, wieder abgedruckt in: Vertragsdenken und Utopie, (s. Ziffer I, 6), S. 46–66. 38. Utopia als Leviathan. Platons „Politeia“ in ihrem Verhältnis zu den frühneuzeitlichen Utopien, in: Politische Vierteljahresschrift, 29. Jg. (1988), S. 185–209, wieder abgedruckt in: Vertragsdenken und Utopie, (s. Ziffer I, 6), S. 9–49. 39. Das Vertragsdenken und die politischen Utopien der Aufklärung, in: Leviathan, 16. Jg. (1988), S. 376–394, wieder abgedruckt in: Vertragsdenken und Utopie, (s. Ziffer I, 6), S. 67–92. 40. Aspekte postmoderner Aufklärungskritik, in: Kultur und Politik (s. Ziffer II, 6), S. 183–194, wieder abgedruckt in: Universitas, 44. Jg. (1989), S. 273–283 sowie in: Das Ende der politischen Utopie? (s. Ziffer I, 7), S. 77–92. 41. Das „Dritte Reich“ und die historische Identität der Deutschen, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 40. Jg. (1989), S. 257–269, wieder abgedruckt in: Das Ende der politischen Utopie? (s. Ziffer I, 7), S. 93–109. 42. Gibt es einen anarchistischen Diskurs in der klassischen Utopietradition? in: Ubergänge. Zeitgeschichte zwischen Utopie und Machbarkeit. Beiträge zu Philosophie, Gesellschaft und Politik. Hellmuth G. Bütow zum 65. Geburtstag. hrsg. v. Werner Süß, Berlin 1990, S. 41–56, wieder abgedruckt in: Das Ende der politischen Utopie? (s. Ziffer I, 7), S. 13–25. 43. Das Ende der politischen Utopie? in: Universitas, 45. Jg. (1990), S. 409–417; wieder abgedruckt in: Frankfurter Rundschau, 29. Mai 1990, Nr. 123, S. 14. 44. Zur Faschismusinterpretation Otto Kirchheimers, in: Helga Grebing/Klaus Kinner (Hg.), Arbeiterbewegung und Faschismus. Faschismusinterpretation der europäischen Arbeiterbewegung, Essen 1990, S. 162–167. 45. Zum Sozialismusbegriff Otto Bauers (1990), in: Das Ende der politischen Utopie? (s. Ziffer I, 7), S. 46–61. 46. Die SPD und die Furcht unserer Nachbarn vor einem „Vierten Reich“, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 42. Jg. (1991), S. 38–50.

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47. Otto Bauer (1881–1938), in: Klassiker des Sozialismus. Zweiter Band. Von Jaurès bis Marcuse, Hrsg. v. Walter Euchner, München 1991, S. 166–180. 48. Technischer Staat, in: Konservatismus in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. von Richard Faber, Würzburg 1991, S. 95–106. 49. Politische Utopien (1991), in: Politik-Lexikon. Herausgegeben von Everhard Holtmann unter Mitarbeit von Heinz Ulrich Brinkmann und Heinrich Pehle. 2. erweiterte Auflage, München/Wien 1994, S. 512–516. 50. Die Zukunft der Utopie, die Menschenrechte und der aufrechte Gang auf bewohnbarer Erde, in: Vorträge der Tagung über Menschenrechte und Naturrecht der Ernst-Bloch-Gesellschaft in Ludwigshafen am Rhein 1990. Jahrbuch 1991 der ErnstBloch-Gesellschaft, Ludwigshafen/Rh. 1991, S. 19–32. 51. Wie ein Phönix aus der Asche. Das Scheitern des Realsozialismus und die Zukunft der Sozialutopie, in: außerschulische Bildung, 4/1992, wieder abgedruckt in: Vermessungen des Nirgendwo, (s. Ziffer I, 9), S. 87–100. 52. Utopie und Menschenrechte, in: Universitas, 47. Jg. (1992), S. 319–330; wieder abgedruckt in: Vermessungen des Nirgendwo (s. Ziffer I, 117–130). Englische Übersetzung unter dem Titel „Utopia and Human Rights“, in: Universitas. An Interdisciplinary Journal for Sciences and Humanities, 4/1992, S. 245–255. 53. Vertragsdenken und Utopie nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus, in: Gegenwartskunde, Jg. 41/1992), wieder abgedruckt in: Vermessungen des Nirgendwo, (s. Ziffer I, 9), S. 101–116; erneut abgedruckt in: Karin Bock, Werner Fiedler (Hrsg.), Umbruch in Ostdeutschland. Politik, Utopie und Biographie im Übergang, Wiesbaden 2001, S. 51–63 sowie in: Jörn Rüsen/Michael Fehr/Annelie Ramsbrock (Hrsg.): Die Unruhe der Kultur. Potential des Utopischen, Weilerswist 2004, S. 109–124. 54. Reflexionen über die Zukunft der politischen Utopie, in: Hat die politische Utopie eine Zukunft, (s. Ziffer II, 7), S. 152–165, in gekürzter Fassung erneut erschienen in: Sozialismus – das Ende der Utopie? Hrsg. v. Helmut Liede und JeanPaul Lehners, Luxembourg 1994 (= Publications du Centre Universitaire Luxembourg); erneut abgedruckt in: Innenansichten Utopias (s. Ziffer I,11), S. 194–202. sowie in: Cztowiek i jego swiat na przetomie XXIXXI wieku. Pod redakcja Ireneusza Mariana Switaly, Czestochowie 1998, S. 25–36; vollständig wieder abgedruckt in: Heike Katz, Oliver Scholl (Hrsg.), Politische Utopien, Göttingen 1989, S. 84–97; in gekürzter Fassung ins Schwedische übersetzt von Henrik Falck: Reflektioner över den poliska utopins framtid, in: Fronesis, Nr 2 (1999) „Utopier“, S. 100–109; überarbeitet veröffentlicht 2002 unter dem Titel Die Zukunft der politischen Utopie, in: UNIVERSITAS-ONLINE (www.hirzel.de/universitas); gekürzte Fassung in: Tutzinger Blätter, 4/2002, S. 20–24; wieder abgedruckt unter dem Titel Das sozialutopische Denken und die Herausforderung des 21. Jahrhunderts, in: Akademie Forum Masonicum. Jahrbuch XVI/2003. Frieden – eine Illusion? Der Vertrag zwischen den Generationen. Interkulturelles Zusammenleben. Hrsg. v. Günter Lersch, Bonn 2003, S. 91–109, in polnischer Sprache wieder abgedruckt unter dem Titel „Socjoutopijne myslenie a wayzwania XXI wieku (ovazweny skrot), in: Zeszyt Naukowy Katedry Socjologii i Psychologii pod rdakcja naukowa Jansza

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Sztumskiego, Katowice 2003, S. 46–53; in serbischer Sprache abgedruckt in: Annales de la Faculté de Droit de Belgrade, Heft 1 (2005), S. 65–78. 55. Technik, Arbeit und Bedürfnisse im utopischen Denken der Neuzeit, in: Sprache und Politische Kultur in Demokratie. Hans Gerd Schumann zum Gedenken. Hrsg. v. Dieter Emig, Christoph Hüttig, Lutz Raphael, Frankfurt am Main 1992, S. S. 135–161, wieder abgedruckt in: Vermessungen des Nirgendwo, (s. Ziffer I, 9), S. 189–209. 56. Sozialismus und Demokratie in der Freiland-Utopie Theodor Hertzka, in: Die Chancen der Freiheit. Grundprobleme der Demokratie. Hrsg. v. Herfried Mündkler, München 1992, S. 152–168, wieder abgedruckt in: Vermessungen des Nirgendwo, (s. Ziffer I, 9), S. 153–167. 57. Utopie und Programmatik. Zum politischen Selbstverständnis der deutschen Sozialdemokratie, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 44. Jg. (1993), S. 352–365. 58. Zum Begriff der Utopie und des Konservatismus bei Karl Mannheim, in: Politisches Denken. Jahrbuch 1993, Stuttgart/Weimar 1993, S. 85–103, wieder abgedruckt in: Vermessungen des Nirgendwo, (s. Ziffer I, 9), S. 239–251. 59. Harmonievorstellungen im utopischen Denken der Moderne, in: Equilibre. Gleichgewicht, Äquivalenz und Harmonie in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Hrsg. v. Tobia Bezzola u. a., Baden-Baden 1993, S. 242–251, wieder abgedruckt in: Vermessungen des Nirgendwo, S. 239–251. 60. Zum Stand der sozialwissenschaftlichen Utopieforschung in der Bundesrepublik (1), in: Neue Politische Literatur, Jg. 38 (1993), S. 221–238. 61. Utopie, in: Brockhaus Encyklopädie. 19. völlig neu bearbeitete Auflage, 23. Bd., Mannheim 1994, S. 15–19 62. Zum Stand der sozialwissenschaftlichen Utopieforschung in der Bundesrepublik (II), in: Neue Politische Literatur, Jg. 39 (1994), S. 55–97. 63. George Orwells „1984“ und die Dialektik der Sozialutopie, in: Politikwissenschaft als kritische Theorie. Festschrift für Kurt Lenk, Baden-Baden 1994, S. 231–246, wieder abgedruckt in: Vermessungen des Nirgendwo, S. 168–188. 64. Einleitung (1995) zu: Das Scheitern diktatorischer Legitimationsmuster (s. Ziffer II, 9), S. 11–31. 65. Das Scheitern diktatorischer Legitimationsmuster und die Zukunft der westlichen Demokratie, in: P. Gerlich, K. Glass, B. Serloth (Hg.), Neuland Mitteleuropa. Ideologiedefizite und Identitätskrisen, Wien/Torun 1995 (= Österreichische Gesellschaft für Mitteleuropäische Studien); wieder abgedruckt in: K.-Peter Fritzsche (Hrsg.): Politikwissenschaft in Sachsen-Anhalt. Tendenzen, Forschungsfelder, Perspektiven, Magdeburg 1995, S. 37–44. 66. Über den Begriff der Demokratie bei Hans Kelsen und Max Adler, in: Karsten Rudolph und Christl Wickert (Hg.), Geschichte als Möglichkeit. Über die Chancen der Demokratie. Festschrift für Helga Grebing, Essen 1995, S. 28–41; gekürzte Fassung in: Klaus Dicke, Klaus-Michael Kodalle (Hrsg.), Republik und Weltbürgerrecht. Kantische Anregungen zur Theorie politischer Ordnung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, Weimar, Köln, Wien 1998, S. 349–359.

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67. Utopie und Soziologie bei Hans Freyer (1995), in: Vermessungen des Nirgendwo (s. Ziffer I, 9), S. 40–68. 68. Zur Utopiekritik Karl R. Poppers (1995), in: Vermessungen des Nirgendwo (s. Ziffer I, 9), S. 69–84. 69. War Hitler ein „Utopist“? (1995), in: Vermessungen des Nirgendwo (s. Ziffer I, 9), S. 69–149; wieder abgedruckt in: Michael Salewski, Was wäre wenn. Alternativ- und Parallelgeschichte: Brücke zwischen Phantasie und Wirklichkeit, Stuttgart 1999, S. 141–152 (Verlag Franz Steiner). 70. Ein entfesselter Prometheus? Zum wissenschaftlichen und technischen Selbstverständnis der neuzeitlichen Sozialutopie (1995), in: Vermessungen des Nirgendwo (s. Ziffer I, 9), S. 189–203. 71. Einleitung (1995) zu: Vermessungen des Nirgendwo (s. Ziffer I, 9), S. 1–16. 72. Politische Utopie, in: Lexikon der Politik. Hrsg. v. Dieter Nohlen. Bd. I. Politische Theorien. Hrsg. v. Dieter Nohlen und Rainer-Olaf Schultze, München 1995, S. 478–483; wieder abgedruckt in: Dieter Nohlen/Rainer Olaf Schulze (Hrsg.), Lexikon der Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe. Bd. 2, N-Z, München 2002, S. 724–728. 73. Otto Bauer (1881–1938). Ein Lebensbild, in: Otto Dankelmann (Hg.), Lebensbilder europäischer Sozialdemokraten des 20. Jahrhunderts. Unter Mitarbeit von Harmut Peter, Wien 1995, S. 29–44. 74. Zwischen Triumph und Krise. Zum Zustand des westlichen Verfassungstyps nach dem Zusammenbruch der Diktaturen in Osteuropa, in: Landesforum. Zu Geschichte und Gesellschaft in Sachsen-Anhalt 1995. Parlamentarische Schriftenreihe, Heft 4, S. 33–43, in erweiterter Form wieder abgedruckt in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 47. Jg. (1996), S. 65–76. 75. Die konstruktive Kraft des Nullpunkts. Samjatins „Wir“ und die Zukunft der politischen Utopie, in: UTOPIE kreativ. Diskussion sozialistischer Alternativen, Heft 6, Februar 1996, S. 13–23; wieder abgedruckt in: Innenansichten Utopias (s. Ziffer I,11), S. 159–170. 76. Die Geburt der „schwarzen Utopie“ aus dem Geist des Suprematismus, in: Leviathan, 24. Jg. (1996), S. 124–145; wieder abgedruckt in: Innenansichten Utopias (s. Ziffer I,11), S. 13–32. 77. Geometrische Muster zwischen frühneuzeitlicher Utopie und russischer Avantgarde (gemeinsam mit Eva-Maria Seng), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 44. Jg. (1996), S. 677–692; wieder abgedruckt in: Innenansichten Utopias (s. Ziffer I,11), S. 33–48. 78. Zur Konvergenz von kontraktualistischem und utopischem Denken in Johann Gottlieb Fichtes Der geschlossene Handelsstaat (1996), in: Die Politisierung des Utopischen (s. Ziffer II,10), S. 40–55; wieder abgedruckt in: Innenansichten Utopias (s. Ziffer I, 11), S. 97–112. 79. Das Scheitern des Realsozialismus und die Zukunft der Sozialutopie, in: P. Gerlich, K. Glass, B. Serloth (Hrsg.), Mitteleuropäische Mythen und Wirklichkeiten. Ausformungen, Bedeutungen, Standortbestimmungen, Wien/Torun 1996, S. 13–22.

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80. Utopie und Umwelt. Die Ökologieproblematik im Brennpunkt utopischer Antizipation, in: Forschungsjournal. Neue Soziale Bewegungen, 9. Jg. (1996), S. 10–14. 81. Wiener Beiträge zur Moderne, in: Archiv 1996. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung, 12. Jg. (1996), S. 88–91. 82. Utopie und Science-fiction. Versuch einer Begriffsbestimmung, in: „Unendliche Weiten . . .“ Star Trek zwischen Unterhaltung und Utopie. Hrsg. v. Kai-Uwe Hellmann und Arne Klein, Frankfurt am Main 1997, S. 45–58; wieder abgedruckt in: Innenansichten Utopias (s. Ziffer I, 11), S. 144–158 und in: Science Fiction Okular, 17. Jg. (1999), S. 8–16. 83. Liberale Demokratie. Die Aktualität eines politischen Begriffs, in: Universitas, 52. Jg. (1997), S. 311–320; wieder abgedruckt in: P. Gerlich, K. Glass, K. Krzysztofek (Hg.), Kulturelle Wandlungen. Zwischen dem „Universalismus“ des Westens und dem „Partikularismus“ des Ostens, Wien, Poznan 1997, S. 25–35; in überarbeiteter Form wieder abgedruckt in: Saage, Berg (Hrsg.) Zwischen Triumph und Krise (s. Ziffer II, 11), S. 21–29; wieder abgedruckt in: Studia Politica Universitatis Silensis, Tom 1, Katowice 2005, S. 75–86. 84. Zwanzig Jahre danach: „Faschismustheorien“ und ihre Kritiker (1997), in: Saage, Faschismustheorien, 4. Auflage, (s. Ziffer I, 2), S. 7–18. 85. Benötigen wir politische Utopien zur Bewältigung der Probleme des 21. Jahrhunderts?, in: Reinhard Engelland (Hrsg.), Utopien, Realpolitik und Politische Bildung. Über die Aufgaben Politischer Bildung angesichts der politischen Herausforderungen am Ende des Jahrhunderts, Opladen 1997, S. 13–23; wieder abgedruckt in: Innenansichten Utopias (s. Ziffer I,11), S. 171–181. 86. Tommaso Campanella, in: Hauptwerke der politischen Theorie. Hrsg. v. Theo Stammen, Gisela Riescher und Wilhelm Hofmann, Stuttgart 1997, S. 91–95. 87. Zum Verhältnis von Individuum und Staat in Thomas Morus’ „Utopia“, in: Utopie kreativ, Heft 85/86 (1997), S. 134–145. 88. Kants Metaphysik der Sitten und der Besitzindividualismus, in: Wider die Beliebigkeit. Kants Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre nach zwei Jahrhunderten. Hrsg. v. Peter Wolf und Danilo N. Basta, Belgrad 1997, S. 9–19. Serbische Übersetzung von Danilo N. Basta unter dem Titel „Kantova Metafizika Morala I Posednicki Individualizam“, in: Protiv Proizvoljeosti. Kantova Metafizicka nacela nauke o pravu posle dva veka. Priredili Danilo N. Basta i Peter Volf, Beograd 1997., S. 9–18; überarbeitet wieder abgedruckt in: Leviathan, 26. Jg. (1998), S. 243–252. 89. Naturalisierte Utopien zwischen literarischer Fiktion und frühneuzeitlicher Gartenkunst (gemeinsam mit Eva-Maria Seng), in: Bürgersinn und Kritik. Festschrift für Udo Bermbach zum 60. Geburtstag, Baden-Baden 1998, S. 207–238; wieder abgedruckt in: Innenansichten Utopias (s. Ziffer I, 11), S. 49–72. 90. Utopia zwischen Theokratie und Totalitarismus? Bemerkungen zu Campanellas „Sonnenstaat“, in: Utopie kreativ, Heft 89 (1998), S. 15–26. 91. Zur Konvergenz von Vertragsdenken und Utopie im Licht der „anthropologischen Wende“ des 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft,

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46. Jg. (1998), S. 432–444; wieder abgedruckt in: Richard Saage, Innenansichten Utopias (s. Ziffer I, 11), S. 113–127). 92. Bacons „Neu-Atlantis“ und die klassische Utopietradition, in: Utopie kreativ, Heft 93 (1998), S. 57–69. 93. Utopie und Revolution. Zu Gerrard Winstanleys „Das Gesetz der Freiheit“, in: Utopie kreativ, Heft 94 (1998), S. 71–82. 94. Utopie als „Fürstenspiegel“. Zu Fénelons „Die Abenteuer des Telemach“, in: Utopie kreativ, Heft 95 (1998), S. 66–77. 95. Utopia als „irdisches Paradies“. Zu Johann Gottfried Schnabels „Insel Felsenburg), in: Utopie kreativ, Heft 97/98 (1998), S. 118–129. 96. Utopie und Industrielle Revolution bei William Morris und Oscar Wilde (1999), in: Saage, Innenansichten Utopias (s. Ziffer I, 11), S. 73–95; wieder abgedruckt in: Richard Saage/Eva-Maria Seng (Hrsg.), Von der Geometrie zur Naturalisierung (s. Ziffer II, 12), S. 258–279. 97. Kann das Europa des 21. Jahrhunderts von seiner utopischen Republik-Tradition lernen? (1999), in: Saage, Innenansichten Utopias (s. Ziffer I, 11), S. 128–143; wieder abgedruckt unter dem Titel „Utopische Republiken“, in: Traditionen der Republik – Wege zur Demokratie. Hrsg. im Auftrag des Collegium generale von Peter Blickle und Rupert Moser, Bern u. a. 1999, S. 171–190. 98. Bemerkungen zu: Paolo Flores d’Arcais’ „Philosophie und Engagement“ (1999), in: Saage, Innenansichten Utopias (s. Ziffer I, 11), S. 194–202. 99. Einleitung zu Innenansichten Utopias (1999), in: Innansichten Utopias (s. Ziffer I, 11), S. 7–12. 100. Morellys „Das Gesetzbuch der Natur“ und die Dialektik der Anarchie, in: UTOPIE kreativ, Heft 100 (1999), S. 54–66. 101. Merciers „Das Jahr 2440“ und die „kopernikanische Wende“ des utopischen Denkens, in: UTOPIE kreativ, Heft 101 (1999), S. 48–60. 102. Saint-Simons Utopie der Industriegesellschaft, in: UTOPIE kreativ, Heft 102 (1999), S. 76–87. 103. Utopie und Eros. Zu Charles Fouriers „neuer sozietärer Ordnung“, in: UTOPIE kreativ, Heft 105 (1999), S. 68–80. 104. Vom philanthropischen Unternehmer zum utopischen Visionär. Robert Owens Utopie der „neuen moralischen Welt“, in: UTOPIE kreativ, Heft 107 (1999), S. 70–82. 105. Politische Ethik im Zeitalter der Individualisierung. Zu Walter Reese-Schäfers „Grenzgötter der Moral“, in: Helmut Wohnout (Hrsg.), Demokratie und Geschichte. Jahrbuch des Karl von Vogelsangs-Instituts zur Erforschung der christlichen Demokratie in Österreich, Jg. 3 (1999), S. 234–241. 106. Aufklärung und Postmoderne, in: Peter Gerlich/Krzystof Glass (Hg.), Verwestlichung Europas, Wien/Poznan 1999, S. 65–75.

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107. Ikarischer Kommunismus. Zu Etienne Cabets utopischem Roman „Reise nach Ikarien“, in: UTOPIE kreativ, Heft 108 (1999), S. 73–85. 108. Einleitung (1999 gemeinsam mit Eva-Maria Seng), in: Von der Geometrie zur Naturalisierung (s. Ziffer II, 12), S. VII-XI. 109. Planwirtschaft und Konsumgesellschaft. Edward Bellamys utopischer „Rückblick aus dem Jahr 2000 auf 1887“, in: UTOPIE kreativ, Heft 111 (2000), S. 70–82. 110. Wider das marxistische Bilderverbot. Bogdanows utopische Romane „Der rote Planet“ (1907) und „Ingenieur Menni“ (1912), in: UTOPIE kreativ, Heft 112 (2000), S. 165–177. 111. Das Paradies als Hölle. Zu Aldous Huxleys „Schöne, neue Welt“ (1932), in: UTOPIE kreativ, Heft 114 (2000), S. 376–387. 112. Kollektive und individuelle Vernunft. Zu Denis Vairasse’ Sevaramben-Utopie, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 48. Jg. (2000), S. 389–404. 113. Der „letzte Mensch“ in einem Totalitarismus ohne Alternative? Zu George Orwells „1984“, in: UTOPIE kreativ, Heft 117 (2000), S. 681–692. 114. Utopia als selbstreflexive Vision. Zu Ursula K. Le Guins „Planet der Habenichtse, in: UTOPIE kreativ, Heft 118 (2000), S. 808–820. 115. Der „beste Staat“ als Republik der Atheisten. Zu Fontenelles „Histoire des Ajaoiens“, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 10. Jg. (2000), S. 1559–1578. 116. „Christliche Utopie“ – ein Widerspruch in sich selbst? Zum Verhältnis von Utopie und Chiliasmus, in: Hermann Fechtrup, Friedbert Schulze, Thomas Sternberg (Hrsg.), Zwischen Anfang und Ende. Nachdenken über Zeit, Hoffnung und Geschichte. Ein Symposium, (Münster, Mai 1999), Münster, Hamburg, London 2000, S. 81–113. 117. Utopisches Denken und keine Ende? Zur Rezeption eines Buches, in: Politische Utopien der Neuzeit (2000), (Anm. I, 8), S. 11–38. 118. Utopia, Contractualism, Modernity, in: Roman Horak, Wolfgang Maderthaner, Siegfried Mattl, Gerhard Meissl, Lutz Musner, Alfred Poser (Hrsg.), Metropole Wien. Texturen der Moderne, Wien 2000, S. 27–30. 119. Zwischen Innovation und Regression. Zu Ernest Callenbachs „Ökotopia“. Notizen und Reportagen von William Weston aus dem Jahr 1999, in: UTOPIE kreativ, Heft 121/122 (2000), S. 1179–1191. 120. Die moderne Utopie und ihr Verhältnis zur Antike, in: Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse, Bd. 137, Heft 2, Stuttgart, Leipzig 2000, S. 1–33. 121. Utopisches Denken am Vorabend der Französischen Revolution. Zu Rétif de la Bretonnes „Der fliegende Mensch“ (1781), in: Zeitschrift für Historische Forschung, 27. Bd. (2000), S. 543–565. 122. Geleitwort zu: Martin Kühnel, Das politische Denken von Christian Thomasius. Staat, Gesellschaft, Bürger, Berlin 2001, S. 5–7.

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123. Thomas Morus (1477/78–1535), in: Klassiker des politischen Denkens. Erster Band. Von Platon bis Thomas Hobbes. Hrsg. v. Hans Maier und Horst Denzer, München 2001, S. 135–148. 124. Der Ethnologe als Utopist. Zu Lahontans Bon Sauvage-Utopie, in: PAIDEUMA. Mitteilungen zur Kulturkunde, Bd. 47 (2001), S. 43–60. 125. Zwischen Natur und Zivilisation. Zu Denis Diderots „Nachtrag zu Bougainvilles Reise“, in: Zeitschrift für Politik. Organ der Hochschule für Politik München, Jg. 48, Heft 2 (2001), S. 168–188. 126. Anarchismus und Utopie. Zu Gabriel de Foignys Australien-Utopie, in: Archiv für Kulturgeschichte, 83. Bd. (2001), S. 279–295. 127. Publikationsverzeichnis, in: Martin Kühnel/Walter Reese-Schäfer/Axel Rüdiger (Hrsg.), Modell und Wirklichkeit. Anspruch und Wirkung politischen Denkens. Festschrift für Richard Saage zum 60. Geburtstag, Halle/Saale 2001, S. 268–284. 128. Utopie/Utopisten, II Kirchengeschichtlich, in: Theologische Realenzyclopädie, Berlin, New York 2002, S. 473–479. 129. Politische Ideengeschichte in demokratietheoretischer Absicht. Das Beispiel Hans Kelsens und Max Adlers in der Zwischenkriegszeit, in: Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Stuttgart/Leipzig 2003, S. 1–22. 130. Vorwort, zu: Eun-Jeung Lee: „Anti-Europa“. Die Geschichte des Konfuzianismus und der konfuzianischen Gesellschaft seit der frühen Aufklärung. Eine ideengeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, Münster/Hamburg/Berlin 2003, S. I-VI. 131. Methodenprobleme der Utopieforschung, in: Helmut Reinalter (Hrsg.): Denksysteme, Theorie- und Methodenprobleme aus interdisziplinärer Sicht, Innsbruck/Wien/München/Bozen 2003, S. 211–226. 132. Utopie, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 15/3 Sco-Z, Nachträge (2003), S. 935–939. 133. Stadt und Planung. Neue Städtebaukonzeptionen in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 52. Jg. (2004), S. 132–137. 134. Wie zukunftsfähig ist der klassische Utopiebegriff?, in: UTOPIE kreativ, 165/166, Juli/August 2004, S. 617–636. 135. Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg – ein Klassiker des Utopie-Diskurses im Zeitalter der Aufklärung?, in: Günter Dammann und Dirk Sangmeister (Hrsg.): Das Werk Johann Gottfried Schnabels und die Romane und Diskurse des frühen 18. Jahrhunderts, Tübingen 2004, S. 178–188. 136. Die „anthropologische Wende“ im utopischen Diskurs der Aufklärung, in: Jörn Gaber/Heinz Thoma (Hrsg.): Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert, Tübingen 2004, S. 307–321. 137. Zum 200. Todestag Immanuel Kants, in: Danilo Basta (Hrsg.): Aktualität und Zukunft der Kantschen Philosophie. Ergebnis einer internationalen philosophi-

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schen Umfrage anlässlich des 200. Todestages von Immanuel Kant (gemeinsam mit Susann Held), Belgrad 2004, S. 61–70. 138. Utopie und Staatsästhetik. Das russische Beispiel in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Otto Depenheuer (Hg.): Staat und Schönheit. Möglichkeiten und Perspektiven einer Staatskalokagathie, Wiesbaden 2005, S. 89–71. 139. Rousseaus Stellung zum utopischen Diskurs der Neuzeit, in: Politische Vierteljahresschrift (gemeinsam mit Andreas Heyer), 46. Jg. (2005), S. 389–405. 140. Plädoyer für den klassischen Utopiebegriff, in: Erwägen Wissen Ethik, Jg. 16/2005, Heft 3, S. 291–298. 141. Anmerkungen zur Kritik an meinem Plädoyer für das klassische Utopiemuster, in: Erwägen Wissen Ethik, Jg. 16/2005, Heft 3, S. 345–355. 142. Die „Utopia“ und die drei Identitäten des Thomas Morus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 53. Jg. (2005), S. 1077–1089. 143. Einleitung zu: Wolfgang Maderthaner: Kultur, Macht, Geschichte. Studien zur Wiener Stadtkultur im 19. Und 20. Jahrhundert, Wien 2005 (= Politica et Ars, Bd. 8), S. 1–3. 144. Morus’ „Utopia“ und die Macht. Zu Hermann Onckens und Gerhard Ritters Utopia-Interpretationen, in: UTOPIE kreativ 183, Januar 2006, S. 37–47. 145. Hegel und die Demokratie, in: Rainer Schmalz-Bruns/Hubertus Buchstein (Hrsg.): Politik der Integration. Symbole, Repräsentation, Institution. Festschrift zum 65. Geburtstag von Gerhard Göhler, Baden-Baden 2006, S. 97–110. 146. Konvergenztechnologische Zukunftsvisionen und der klassische Utopiediskurs, in: Alfred Nordmann/Joachim Schummer/Astrid Schwarz (Hg.): Nanotechnologie im Kontext: philosophische, ethische, gesellschaftliche Perspektiven, Berlin 2006, S. 179–194. 147. Vorwort zu: Susann Held, Eigentum und Herrschaft bei John Locke und Immanuel Kant. Ein ideengeschichtlicher Vergleich, Münster 2006, S. 11–14.

IV. Essays, Zeitungsartikel und Interviews 1. Absurdes Theater auf der Schulbühne, in: Die Pädagogische Provinz, Heft 12/1966, S. 671–674. 2. Bühnenspiel und politische Bildung, in: Die Pädagogische Provinz, Heft 12/1967, S. 653–658. 3. Wie konnte es zu dieser Tendenzwende kommen? Die neokonservative Herausforderung in der Bundesrepublik. Mittelständische Schichten sehen ihre Privilegien bedroht, in: Frankfurter Rundschau, Donnerstag, 25. Juli 1985, Nr. 169, S. 12. 4. Die neokonservative Herausforderung und ihre Ursachen, in: Neokonservatismus. Ein neuer Zeitgeist? Mit Beiträgen von Iring Fetscher, Helmut Konrad, Richard Saage und Georg Votruba, in: Zeitdokumente des Dr.-Karl-Renner-Instituts, Nr. 37 (1985), S. 31–42.

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5. Abschied vom Mythos – ein Plädoyer für die Aufklärung. Gegen die Kritik der so genannten Postmoderne an dem Vernunftdenken, in: Frankfurter Rundschau, Dienstag, 13. September 1988, Nr. 213, S. 10. 6. Bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt – die politische Utopie. Die Reformen Gorbatschows, die demokratischen Prozesse in der DDR, in: Frankfurter Rundschau, 29. Mai 1990, Nr. 123, S. 14. 7. Eine Industriegesellschaft braucht Zukunftsentwürfe. Utopia ist keine Insel der Seligen. Die postmateriellen Konzepte sind längst vorhanden, in: VDI nachrichten, Nr. 42, 19. Oktober 1990, S. 12. 8. Fortschritt durch Technik? Geschichte einer utopischen Sehnsucht, in: Neue Zürcher Zeitung, Mittwoch, 25. November 1992, S. 47. 9. Verantwortung liegt bei uns, in: Freie Presse, 24.3.1994, Nr. 12. 10. „Handbuch der Klassiker der Sozialutopie“. Projekt zur aktuellen Utopiediskussion, in: scientia halensis, 3. Jg., Heft 2/1995, S. 29 f. 11. Mit Marx gefragt: Sind Utopien Designerdrogen für das Volk? (Teil I). Interview mit Prof. Richard Saage am Institut für Politikwissenschaft an der MartinLuther-Universität, in: Subbotnik in LA. Politische Nachrichten und Hintergründe nicht für Halle, Juni 1995, Nr. 73, S. 14–19. 12. Mit Marx gefragt: Sind Utopien Designerdrogen für das Volk? (Teil II). Interview mit Prof. Richard Saage am Institut für Politikwissenschaft an der MartinLuther-Universität, in: Subbotnik in LA. Politische Nachrichten und Hintergründe nicht nur für Halle, Juli/August 1995, Nr. 74, S. 8–11. 13. Die nostalgische Sehnsucht nach Totalität. Über das „wirkliche Individuum“ und die Aussichten einer aufgeklärten Utopie, in: Frankfurter Rundschau, Dienstag 16. April 1996, Nr. 89, S. 10. 14. Vertragsdenken, Utopie und anthropologische Wende. Die Konvergenz zweier politischer Denkmuster im 18. Jahrhundert, in: scientia halensis 1/1999, S. 29 f. 15. Zwischen Sozialkritik und Apokalypse. Millenaristisches und utopisches Denken vor der Jahrtausendwende, in: Forschung & Lehre, 12/1999, S. 631–633. 16. Ein Paradies auf Erden? Utopische und chiliastische Zeitvorstellungen, in: scientia halensis 1/2000, S. 29 f. 17. Utopien – eine Vorschau aus dem Jahre 2000? Interview mit Richard Saage, in: Polis. Report zur politischen Bildung, Heft 1/2000, S. 11–13. 18. Leben ohne Utopie?, in: Aula. Programm Südwestrundfunk 2, 12. Juni 2000, 8.30–9.00 Uhr; überarbeitete Version in: zur debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern, 34. Jg. (2004), S. 22 f. 19. Utopie stirbt nie, in: politische ökologie, 18. Jg. (2000), S. 20–23. 20. Die Sozialutopien des Charles Fourier, in: Hessischer Rundfunk 1, 27. Mai 2001, 9.00–9.30 Uhr sowie Hessischer Rundfunk II, 31. Mai 2001, 20.30–21.00 Uhr.

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21. Vom Elend der Zivilisation zum kollektiven Glück der Genossenschaft: die Sozialutopien des Charles Fourier, in: J. Meißner, D. Meyer-Kahrweg, H. Sarkowicz (Hg.), Gelebte Utopien. Alternative Lebensentwürfe, Franfurt am Main 2001. 22. Ein Intellektueller neuen Typs. Der Politikwissenschaftler Iring Fetscher wird 80, in: Der Tagesspiegel, Nr. 17695, 4. März 2002, S. 28. 23. Utopie und Geschichte. Terra incognita in Raum und Zeit, in: scientia halensis. Wissenschaftsjournal der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 2/02, S. 18. 24. Wo Utopia liegt (Interview), in: Rheinische Post, 2.11.2002, Nr. 254. 25. Neue Utopie – Birst die Welt oder wächst sie zusammen?, in: Tutzinger Blätter, Heft 4/2002, S. 20–24. 26. Bedroht durch den Homo Oeconomico-Politicus. . . Liberale Demokratie zwischen Individualisierung und Globalisierung, in: scientia halensis. Wissenschaftsjournal der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 2/2003, S. 19. 27. Die MZ im Gespräch mit Prof. Richard Saage. „Zu den Anfängen zurück“. Der in Halle lehrende Politikwissenschaftler mahnt für das utopische Denken kritische Distanz zu sich selber an (Interview), in: Mitteldeutsche Zeitung, 22. April 2004, S. 22. 28. „Nicht ohne Parteien auskommen“. MZ im Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Richard Saage: Basisdemokratische Korrektive werden gebraucht, in: Mitteldeutsche Zeitung, 24. November 2005, S. 22. 29. „Parteien machen diffusen politischen Willen erst sichtbar“. Politikwissenschaftler Richard Saage: Basisdemokratische Korrektive werden gebraucht, in: Naumburger Tageblatt, 24. November 2005.

V. Einzelrezensionen 1. Paul Röhrig, Politische Bildung – Herkunft und Aufgabe, Stuttgart 1964, in: Das Argument, 8. Jg. (1966), S. 517–519. 2. Franz Josef Strauß, Entwurf für Europa, Stuttgart 1966, in: Das Argument, 9. Jg. (1967), S. 337–339. 3. Kurt Gerhard Fischer, Karl Herrmann, Hans Mahrenholz, Der politische Unterricht. Unter Mitarbeit v. Helmut Freudel und Friedrich C. Brundke. 2. neubearb. und erw. Auflage, Bad Homburg 1965, in: Das Argument, 9. Jg. (1967), S. 79–81. 4. Carl Heinrich Huter, Weissagungen über die Menschheits-Zukunft bis zum Jahr 2000, in: Das Argument, 10. Jg. (1968), S. 159. 5. Jürgen Schlumbohm, Freiheitsbegriff und Emanzipationsprozess. Zur Geschichte eines politischen Wortes, Göttingen 1973; Jürgen Schlumbohm, Freiheit. Die Anfänge der bürgerlichen Emanzipationsbewegung in Deutschland im Spiegel ihres Leitwortes, Düsseldorf 1975, in: Neue politische Literatur, Jg. XXIII (1978), S. 381–383.

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6. Peter Burg, Kant und die Französische Revolution (Historische Forschungen Bd. 7), Berlin 1974, in: Zeitschrift für Historische Forschung, Bd. 6 (1979), S. 282–284. 7. Franz Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1945. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Gert Schäfer. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hedda Wagner und Gert Schäfer, Köln/Frankfurt am Main 1977, in: Politische Vierteljahresschrift/Literatur, 1/1979, S. 29–32. 8. Kurt Lenk, Staatgewalt und Gesellschaftstheorie, München o. J., in: Neue politische Literatur, Jg. XXVII (1982), S. 375–377. 9. Peter Wende, Probleme der Englischen Revolution, Darmstadt 1980, in: Neue politische Literatur Jg. XXVII (1983), S. 241 f. 10. Michael Freeman, Edmund Burke and the Critique of Political Radicalism, Oxford 1980, in: Neue politische Literatur, Jg. XXVII (1983), S. 510–512. 11. Wolfgang Wippermann, Die Bonapartismustheorie von Marx und Engels, in: Das Argument 145/1984, S. 493 f. 12. Claus Leggewie, Der Geist steht rechts. Ausflüge in die Denkfabriken der Wende, Berlin 1987, in: Politische Vierteljahreszeitschrift, 28. Jg. (1988), S. 698 f. 13. Iring Fetscher, Toleranz. Von der Unentbehrlichkeit einer kleinen Tugend für die Demokratie, in: Das Argument, 34. Jg. (1992), S. 144–146. 14. Walter Grab, Der deutsche Weg der Judenemanzipation 1789–1938, München 1991, in: Politische Vierteljahresschrift, 34. Jg. (1993), S. 145 f. 15. Peter Nitschke, Staatsräson kontra Utopie? Von Thomas Müntzer bis zu Friedrich II. von Preußen, Stuttgart 1995, in: Das Historisch-Politische Buch, 44. Jg. (1996), S. 255. 16. Gottfried Achenwall, Johann Stephan Pütter, Anfangsgründe des Naturrechts (Elementa Iuris Naturae). Hg. u. übersetzt von Jan Schröder, Frankfurt am Main/ Leipzig 1995, in: Politische Vierteljahresschrift, 37. Jg. (1996), S. 708 f. 17. Manfred Brocker, Die Grundlegung des liberalen Verfassungsstaates. Von den Levellern zu John Locke, Freiburg, München 1995, in: Politische Vierteljahresschrift, 38. Jg. (1997), S. 184–186. 18. Kurt Lenk, Rechts, wo die Mitte ist. Studien zur Ideologie: Rechtsextremismus, Nationalsozialismus, Konservatismus, Baden-Baden 1994, in: Zeitschrift für kritische Theorie, 3. Jg. (1997), S. 142 f 19. Ulrich Kurzer, Nationalsozialismus und Konsumgesellschaft, Pfaffenweiler 1997, in: Das Historisch-Politische Buch, 46. Jg. (1998), S. 616. 20. Robert Jan Bloch, Utopie: Ortsbestimmung im Nirgendwo. Begriff und Funktion von Gesellschaftsentwürfen, Leverkusen 1997, in: Das Historisch-Politische Buch, 46. Jg. (1998), S. 643 f. 21. Günther K. Lehmann, Macht der Utopie. Ein Jahrhundert der Gewalt, Pfullingen 1996, in: Das Historisch-Politische Buch, 47. Jg. (1999), S. 207.

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Richard Saage: Publikationsverzeichnis

22. Michael Löwy, Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Denken. Eine Wahlverwandtschaft. Übersetzt aus dem Französischen von Dieter Kurz und Heidrun Töpfer, Berlin 1997, in: Internationale Korrespondenz der Geschichte der Arbeiterbewegung 2/1999, S. 334 f. 23. Barbara Schleicher, Heißes Eisen. Zur Unternehmenspolitik der Österreichisch-Alpinen Montangesellschaft in den Jahren 1918–1933, Frankfurt am Main/ Wien 1999, in: Helmut Wohnout (Hrg.), Demokratie und Geschichte. Jahrbuch des Karl von Vogelsang-Instituts zur Erforschung der Geschichte der christlichen Demokratie in Österreich, 3. Jg. (1999), S. 221–224. 24. Kurt Fricke, Spiel am Abgrund. Heinrich George. Eine politische Biografie, Halle/Saale 2000, in: Mitteldeutsche Zeitung, 17. Juni 2000, S. 23. 25. Thomas Gil, Gestalten des Utopischen. Zur Sozialpragmatik kollektiver Vorstellungen, Konstanz 1997, in: Neue Politische Literatur, 45. Jg. (2000), S. 457. 26. Hans Petschar (Hg.), Alpha & Omega. Geschichten vom Ende und Anfang der Welt, Heidelberg 2000, in: Das Historisch-Politische Buch, 48. Jg. (2000), S. 652. 27. Leo Panitch, Colin Leys (Hg.): Necessary and Unnecessary Utopia. Socialist Register 2000, Suffolk 1999, in: UTOPIE kreativ, Heft 127, Mai 2001, S. 473–474. 28. Ulrich G. Leinsle, Jochen Mecke (Hg.), Zeit-Zeitenwende-Endzeit. Zeit im Wandel der Zeiten, Kulturen, Techniken und Disziplinen, Regensburg 2000, in: Das Historisch-Politische Buch, 49. Jg. (2001), S. 458; erneut abgedruckt in: Das Historisch-Politische Buch, 50. Jg. (2002), S. 330 f. 29. Friedemann Richert, Der endlose Weg der Utopie. Eine kritische Untersuchung zur Geschichte, Konzeption und Zukunftsperspektive utopischen Denkens, Darmstadt 2001 in: Das Historisch-Politische Buch, 50. Jg. (2002), S. 211. 30. Jay Y. Gonen: The Roots of Nazi Psychology. Hitlers Utopian Barbarism, Lexington 2000, in: UTOPIEkreativ, Nr. 62, April 2004, S. 374–376; die englische Version erschien in: Utopian Studies 15.2. (2004), S. 230–234. 31. Bettina Dietz: Utopien als mögliche Welten. Voyages imaginaire der französischen Frühaufklärung (1650–1720). (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 188). 250 S., Mainz 2002, in: Das Historisch-Politische Buch, 52. Jg. (2004), S. 39. 32. Thomas Simon: „Gute Policey“. Ordnungsbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 2004, in: Der Staat 1/2006, S. 117–119.

Autorenverzeichnis Basta, Danilo, Prof. Dr.: geb. 1945, Universität Belgrad; Forschungsschwerpunkte: Rechtsphilosophie, Politische Philosophie, Deutscher Idealismus; Publikationen u. a.: Hans Kelsen: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze (jugoslawisch) (2001), Ewiger Friede und Reich der Freiheit (2001). Bermbach, Udo, Prof. (em.) Dr.: geb. 1938, Universität Hamburg; Forschungsschwerpunkte: Politische Ideengeschichte, Politische Theorie, Politische Ästhetik; Publikationen u. a.: Der Wahn des Gesamtkunstwerks. Richard Wagners politischästhetische Utopie (1994), Wo Macht ganz auf Verbrechen ruht. Politik und Gesellschaft in der Oper (1997). Bittner, Aicke, Dipl.-Pol.: geb. 1975, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie der Neuzeit, Politische Ikonokraphie, Kultur- und Wissensgeschichte. Diethe, Jürgen, Dr.: freier Publizist; Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie in der englischen Revolution; Publikationen u. a.: Levellers: Politische Theorie und Praxis in der englischen Revolution (2006). Euchner, Walter, Prof. (em.) Dr.: geb. 1933, Georg-August-Universität Göttingen, Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und Ideengeschichte, Geschichte und Theorie der sozialen Bewegungen; Publikationen u. a.: Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland (2005), John Locke zur Einführung (2004), Naturrecht und Politik bei John Locke (1969), Egoismus und Gemeinwohl: Studien zur Geschichte der bürgerlichen Philosophie (1973). Fetscher, Iring, Prof. (em.) Dr.: geb. 1922, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main; Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und Ideengeschichte, Theorie und Geschichte sozialer Bewegungen; Publikationen u. a.: Hegels Lehre vom Menschen (1970), Rousseaus politische Philosophie (1960), Der Marxismus: Seine Geschichte in Dokumenten (1962), Marx (2004). Funke, Hans-Günter, Prof. Dr.: geb. 1940, Georg-August-Universität Göttingen; Forschungsschwerpunkte: Französische Literatur: Aufklärung (Fontenelle), literarische Utopie (Gattungsgeschichte, Rezeption, Utopiebegriff); Reiseliteratur (Amerika, 15.–18. Jh., Theorie der Wahrnehmung und Darstellung des Fremden, bon sauvage). Italienische Literatur: Lyrik Petrarcas, Pastoraldichtung (16. Jh.), Neorealismus (Roman 20. Jh.). Frankokanadische Literatur: Roman nach 1960, Geschichte der Literaturgeschichtsschreibung; Publikationen u. a.: Studien zur Reiseutopie der Frühaufklärung: Fontenelles „Histoire des Ajaoiens“ (1982), Autoreferentialität und metapolitische Reflexion in Petrarcas Canzoniere (1998), Reise nach Utopia: Studien zur Gattung Utopie in der französischen Literatur (2005).

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Göhler, Gerhard, Prof. Dr.: geb. 1941, Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin; Forschungsschwerpunkte: Theorie politischer Institutionen, Politische Theorie und Ideengeschichte, politische Philosophie; Publikationen u. a.: Dialektische Methode und politische Aussage. Die logisch-systematische Begründung des Verhältnisses von Individuum, Gesellschaft und Staat in Hegels frühen Systemen (1971), Institution, Macht, Repräsentation: wofür politische Institutionen stehen und wie sie wirken (1997), Politische Theorie. 22 umkämpfte Begriffe zur Einführung (2004). Grebing, Helga, Prof. (em.) Dr.: geb. 1930, Ruhr-Universität Bochum; Forschungsschwerpunkte: Geschichte der sozialen Bewegungen, Geschichte politischer Ideen; Publikationen u. a.: Geschichte der sozialen Ideen (2005), Die Worringers. Bildungsbürgerlichkeit als Lebenssinn. Wilhelm und Martha Worringer (1881–1965), Der Nationalsozialismus: Ursprung und Wesen (1959), Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (1970), Konservative gegen die Demokratie: konservative Kritik an der Demokratie in der Bundesrepublik nach 1945 (1971). Haensch, Peter, Dipl.-Pol.: geb. 1978, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie/Philosophie und Ideengeschichte, J.-J. Rousseau, Cultural Studies, (Neo-) Pluralismustheorie, Samuel P. Huntington, Utopien der Neuzeit, Harold J. Laski – Laski-Rezeption in Deutschland; Publikationen: Samuel P. Huntingtons neuer Kulturkampf aus diskurstheoretischer Perspektive (2004) Held, Susann, Dr. des.: geb. 1977, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und Ideengeschichte, philosophische Begründungen des Eigentums im 18. Jahrhundert; Publikationen: Zum 200. Todestag von Immanuel Kant – zus. mit Richard Saage (2004). Heyer, Andreas, Dr. phil.: geb.: 1974, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Forschungsschwerpunkte: Geschichte der politische Utopien, Politische Theorie der Aufklärung; Publikationen u. a.: Materialien zum politischen Denken Diderots (2004), Die französischen Aufklärung um 1750 (2005), Studien zur politischen Utopie (2005), Die Utopie steht links! (2006). Holland-Cunz, Barbara, Prof. Dr.: geb. 1957, Justus-Liebig-Universität Gießen, Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und Ideengeschichte, Frauenforschung Publikationen u. a.: Die Regierung des Wissens (2005), Die alte neue Frauenfrage (2003), Frauenpolitische Chancen globaler Politik (2000), Feministische Demokratietheorie (1998) Kaufmann, Matthias, Prof. Dr.: geb. 1955, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Forschungsschwerpunkte: Politische Philosophie, Rechtsphilosophie, Ethik und mittelalterliche Sprachphilosophie; Publikationen u. a.: Rechtsphilosophie (1996), Aufgeklärte Anarchie. Eine Einführung in die politische Philosophie (1999). Lee, Eun-Jeung, PD Dr. habil.: geb. 1963, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und Ideengeschichte, Interkultureller Politikvergleich, Politische Systeme Ostasiens; Publikationen u. a.: Korea im Demokratischen Aufschwung (2005), Vom „konfuzianischen Idealstaat“ zum „konfuzianischen Kapitalismus“ (2004), Anti-Europa – Die Geschichte der Rezeption des Konfuzianismus und der konfuzianischen Gesellschaft seit der frühen Aufklä-

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rung (2002), Konfuzianismus und Kapitalismus. Markt und Herrschaft in Ostasien (1997), Der soziale Rechtsstaat als Alternative zur autoritären Herrschaft. Zur Aktualisierung der Staats- und Demokratietheorie Hermann Hellers (1994). Lenk, Kurt, Prof. (em.) Dr.: geb. 1929, Universität Erlangen, Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und Ideengeschichte, Politische Soziologie; Publikationen u. a.: Vordenker der Neuen Rechten (1997), Theorie der Politik. Eine Einführung (1987), Marx in der Wissenssoziologie: Studien zur Rezeption der Marxschen Ideologiekritik (1972), Ideologie. Ideologiekritik und Wissenssoziologie (1961). Maderthaner Wolfgang, PD Dr. habil.: geb. 1954, Wiener Stadt und Landesarchiv, Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung (Geschäftsführer); Forschungsschwerpunkte: Arbeitergeschichte, Urban Studies, Theorie der Moderne; Publikationen u. a.: Sozialdemokratie und Habsburgerstaat (1988), Mehr als ein Spiel. Fußball und populäre Kulturen im Wien der Moderne (1997), gem. mit Lutz Musner: Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900 (1999), Kultur, Macht, Geschichte. Studien zur Wiener Stadtkultur im 19. und 20. Jahrhundert (2005). Mathisen, Werner Christie, Prof. Dr.: Universität Oslo; Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftspolitik, Technikpolitik; Publikationen u. a.: Green utopianism and the Greening of science and Higher Education (2006), The Underestimation of Politics in Green Utopias (2001), Diskursanalyse for statsvitere (1997) Mehl, Andreas, Prof. Dr.: geb. 1945, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Forschungsschwerpunkte: griechische und römische Geschichtsschreibung, Hellenismus in Mittel- und Vorderasien, Kultur- und insbesondere Bildungsgeschichte in Verbindung mit historischer Anthropologie und Kultur-Ethnologie; Publikationen u. a.: Römische Geschichtsschreibung. Grundlagen und Entwicklungen (2001), Die Krise der römischen Republik. Von der res publica zum Prinzipat (1994), Seleukos Nikator und sein Reich (1986), Tacitus über Kaiser Claudius. Die Ereignisse am Hof (1974). Münkler, Herfried, Prof. Dr.: geb. 1951, Humboldt-Universität Berlin, Forschungsschwerpunkte: Theorie der Politik, Politische Ideengeschichte, Kulturgeschichte, Theorie und Geschichte des Krieges; Publikationen: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft vom Alten Rom bis zur Gegenwart (2005), Die neuen Kriege (2004), Lexikon der Renaissance (2000), Reich, Nation, Europa. Modelle der politischen Ordnung (1996) Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Kriste der Republik Florenz (1982), Gewalt und Ordnung. Das Bild des Krieges im politischen Denken (1992). Pfetsch, Frank R., Prof. Dr.: geb. 1936, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg; Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und Ideengeschichte, Internationale Politik und Außenpolitik; Publikationen u. a.: Theoretiker der Politik. Von Platon bis Habermas (2003), Die Europäische Union. Eine Einführung (1997), Dimensionen der Politik (1995), Die Außenpolitik der Bundesrepublik 1945–1980 (1981), Die Entwicklung zum faschistischen Führerstaat in der politischen Philosophie von Robert Michels (1964). Reese-Schäfer, Walter, Prof. Dr. habil.: geb. 1951, Georg-August-Universität Göttingen, Forschungsschwerpunkte: Politische Politik, Theorie und Ideengeschichte, politische und soziologische Zeitdiagnosen, Europapolitik; Publikationen

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u. a.: Politische Theorie heute. Neue Tendenzen und Entwicklungen (2000), Antike politische Philosophie zur Einführung (1999), Grenzgötter der Moral. Der neue europäisch-amerikanische Diskurs zur politischen Ethik (1997). Reinalter, Helmut, Prof. Dr.: geb. 1943, Universität Innsbruck; Forschungsschwerpunkte: Geschichte der demokratischen Bewegungen, Aufklärung und Staat, Französische Revolution, Geheimgesellschaften; Publikationen u. a.: Aufgeklärter Absolutismus und Revolution. Zur Geschichte des Jakobinertums und der frühdemokratischen Bestrebungen in der Habsburgermonarchie (1980), Demokratische und soziale Protestbewegungen in Mitteleuropa 1815–1848/49 (1986), Aufklärung und Geheimgesellschaften. Zur politischen Funktion und Sozialstruktur der Freimaurerlogen im 18. Jahrhundert (1989), Der Josephinismus: Bedeutung, Einflüsse und Wirkungen (1993), Der aufgeklärte Absolutismus im europäischen Vergleich (2002). Reinhardt, Sibylle, Prof. Dr. habil.: geb. 1941, Martin-Luther-Universität HalleWittenberg, Forschungsschwerpunkte: Fachdidaktik Sozialkunde – Werte und Politiklernen – Jugend in der Demokratie; Publikationen u. a.: Zum Professionalisierungsprozess des Lehrers (1972), Didaktik der Sozialwissenschaften. Gymnasiale Oberstufe (1997), Werte-Bildung und politische Bildung Zur Reflexivität von Lernprozessen (1999), Politik-Didaktik: Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II (2005). Roß, Bettina, Dr.: Philipps Universität Marburg; Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie, Ethnisierung und Gendering in Globalisierungsprozessen; Publikationen: Politische Utopien von Frauen: von Christine de Pizan bis Karin Boye, Migration, Geschlecht und Staatsbürgerschaft: Perspektiven für eine antirassistische und feministische Politik und Politikwissenschaft (2004). Adresse: Graduiertenkolleg, c/o Institut für Europ. Ethnologie, Biegenstr. 9, 35037 Marburg, [email protected] burg.de. Rüdiger, Axel, Dr. phil.: geb. 1964, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und Ideengeschichte, Wissenschaftsgeschichte, Politische Ökonomie, Politische Bildung; Publikationen u. a.: Staatslehre und Staatsbildung. Die Staatswissenschaft an der Universität Halle im 18. Jahrhundert (2005), Die Utopie der Politikwissenschaft (2001), Globalisierung. Ist Politik noch möglich? (2004). Saage-Maaß, Miriam, Dr. des.: geb. 1978, Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main; Forschungsschwerpunkte: Verfassungsgeschichte, Rechtsphilosophie; Publikationen u. a.: Ein verfassungshistorischer Mythos? Zur Rezeptionsgeschichte der Göttinger Sieben und des Hannoverschen Verfassungskonfliktes (2004). Seeber, Hans Ulrich, Prof. Dr.: geb. 1940, Universität Stuttgart; Forschungsschwerpunkte: englische Literaturgeschichte, Mobilität und Moderne, Idylle und Utopie zwischen Tradition und Moderne; Publikationen u. a.: Raum- und Zeitreisen: Studien zur Literatur und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts (2003), Englische Literaturgeschichte (1991), Moderne Pastoraldichtung in England (1979). Seng, Eva-Maria, Prof. Dr. phil.: geb. 1961, Universität Paderborn; Forschungsschwerpunkte: Kirchenbau 17. bis 20. Jahrhunderts, Architekturgeschichte, -theorie und Städtebau des 16. bis 20. Jahrhunderts, Verflechtung von theoretischen Kons-

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trukten und deren Auswirkung auf Stadt- und Landschaftsgestaltung; Publikationen u. a.: Der evangelische Kirchenbau im 19. Jahrhundert: die Eisenacher Bewegung und der Architekt Christian Friedrich von Leins (1995), Kirchenbau zwischen Politik, Kunst und Liturgie. Theorie und Wirklichkeiten im evangelischen Kirchenbau des 19. Jahrhunderts (1995), Von der Geometrie zur Naturalisierung. Utopisches Denken im 18. Jahrhundert zwischen literarischer Fiktion und frühneuzeitlicher Gartenkunst (1999), Christianopolis. Der utopische Architekturentwurf des Johann Valentin Andrae (2001), Stadt – Idee und Planung. Neue Ansätze im Städtebau des 16. und 17. Jahrhunderts (2003). Steinbach, Peter, Prof. Dr.: geb. 1948, Universität Karlsruhe; Forschungsschwerpunkte: Zeitgeschichte, Widerstandsforschung, vergleichende Diktaturforschung, historische Grundlagen der Politik; Publikationen u. a.: Der 20. Juli 1944. Die Gesichter des Widerstands (2004), Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur 1933–1945 (2004), Modell Dachau: Das Konzentrationslager und die Stadt Dachau in der Zeit des Nationalsozialismus und seine Bedeutung für die Gegenwart (1987), Sozialdemokratie und Verfassungsordnung. Sozialdemokratische Verfassungskonzeption und Verfassungspolitik als Umsetzung liberaldemokratischer Ordnungsvorstellungen (1983), Nationalsozialistische Gewaltverbrechen in der deutschen Öffentlichkeit. Die Diskussion nach 1945 (1981). Sztumski, Janusz, Prof. Dr.: Universität Slasky/Kattowice; Forschungsschwerpunkte: Politische Soziologie, Demokratietheorie, Humanwissenschaften, Publikationen u. a.: Wybory parlamentarne 2001: scena polityczna, aktorzy, programy, strategie (2003), Pokolenie wygranych ?: dzieci i mlodziez w procesie transformacji spoleczno-gospodarczej i politycznej Polski (2001), Zwischen katastrophaler Kapitalisierung und kapitaler Katastrophe (1998). Thoma, Heinz, Prof. Dr.: geb. 1944, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Forschungsschwerpunkte: Französische Aufklärung, französische Lyrik des 19. Jahrhunderts, italienische Literatur des 20. Jahrhunderts, insbesondere italienische Lyrik; Publikationen u. a.: Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert (2004), Rasante Zeiten: Tagebuch der einen Welt (1993), Die öffentliche Muse: Studien zur Versdichtung und zum Lied in Frankreich, 1815–1851 (1986), Aufklärung und nachrevolutionäres Bürgertum in Frankreich: Zur Aufklärungsrezeption in der französischen Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts (1976). Thon, Johannes, Dr. theol.: geb. 1973, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Forschungsschwerpunkte: Altes Testament; Publikationen: Pinhas ben Eleasar – der levitische Priester am Ende der Tora (2006). Zotta, Franco, Dr. phil.: geb. 1966, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh; Forschungsschwerpunkte: Rechtsphilosphie und Geschichtsphilosphie, inbesondere bei Immanuel Kant; Publikationen: Immanuel Kant. Legitimität und Recht: eine Kritik seiner Eigentumslehre, Staatslehre und Geschichtsphilosophie (2000), Kant und der Sozialstaat (2001).