Die Leipziger Rektoratsreden 1871-1933 9783110212884, 9783110209198

In 2009, Leipzig, as one of Germany’s oldest universities, celebrates the 600th anniversary of its foundation. On this o

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German Pages 1815 Year 2009

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Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
Der Rektor als Redner
Hoch geehrt und viel getadelt. Die Leipziger Universitätsrektoren und ihr Amt bis 1933
Rede des abgehenden Rectors Dr. Fr. Zarncke, Professors der deutschen Sprache und Litteratur.
Rede des antretenden Rectors Dr. Wunderlich, Professors der Klinik.
Rede des abgehenden Rectors Dr. Wunderlich, Professors der Klinik.
Rede des antretenden Rectors Dr. Hermann Brockhaus, Professors der Orientalischen Sprachen.
Rede des abgehenden Rectors Dr. Brockhaus.
Rede des antretenden Rektors Dr. Adolf Schmidt, Professors des römischen Rechts.
Rede des abgehenden Rektors Dr. Adolf Schmidt.
Rede des antretenden Rectors D. Gustav Baur, Professors der Theologie.
Rede des abgehenden Rectors Dr. Gustav Baur, Professors der Theologie.
Rede des antretenden Rectors Dr. Johannes Overbeck, Professors der classischen Archaeologie.
Rede des abgehenden Rectors Dr. Johannes Overbeck, Professors der classischen Archaeologie.
Rede des antretenden Rectors Dr. Carl Thiersch, Professor der Chirurgie und Kgl. Sächs. Geh. Med.-Rath.
Bericht des abtretenden Rectors Dr. Carl Thiersch über das Studienjahr 1876/77.
Rede des antretenden Rectors Dr. Rudolf Leuckart.
Rede des abtretenden Rectors Dr. Rud. Leuckart, Professor der Zoologie.
Rede des antretenden Rector’s Dr. Otto Stobbe.
Rede des abtretenden Rectors Dr. jur. Otto Stobbe.
Rede des antretenden Rectors Dr. phil. et jur. Ludwig Lange, Professors der classischen Philologie.
Rede des abtretenden Rectors Dr. phil. et jur. Ludwig Lange.
Rede des antretenden Rectors Dr. theol. et phil. Chr. Ernst Luthardt.
Rede des abtretenden Rektors Dr. theol. et phil. Christoph Ernst Luthardt.
Rede des antretenden Rektors Dr. ph. Friedrich Zarncke.
Rede des abtretenden Rectors Dr. ph. Friedrich Zarncke.
Rede des antretenden Rectors Dr. med. Wilhelm His.
Rede des abtretenden Rectors Dr. med. Wilhelm His.
Rede des antretenden Rectors Dr. ph. Max Heinze.
Rede des abtretenden Rectors Dr. phil. Max Heinze.
Rede des antretenden Rectors Dr. jur. Bernhard Windscheid.
Rede des abtretenden Rectors Dr. iur. Bernhard Windscheid.
Rede des antretenden Rectors Dr. phil. Ferdinand Zirkel.
Rede des abtretenden Rectors Dr. phil. Ferdinand Zirkel.
Rede des antretenden Rectors Dr. theol. Woldemar Schmidt.
Rede des abtretenden Rectors Dr. theol. et phil. Woldemar Schmidt.
Rede des antretenden Rectors Dr. phil. Otto Ribbeck.
Rede des abtretenden Rectors Dr. phil. Otto Ribbeck.
Rede des antretenden Rectors Dr. med. Franz Hofmann.
Rede des abtretenden Rectors Dr. med. Franz Hofmann.
Rede des antretenden Rectors Dr. ph., jur. et med. Wilhelm Wundt.
Rede des abtretenden Rectors Dr. ph., jur. et med. Wilhelm Wundt.
Rede des antretenden Rectors Dr. jur. Karl Binding.
Rede des abtretenden Rectors Dr. iur. Karl Binding.
Rede des antretenden Rectors Dr. phil. Justus Hermann Lipsius.
Rede des abtretenden Rectors Dr. phil. Justus Hermann Lipsius.
Rede des antretenden Rectors D. theol. et phil. Theodor Brieger.
Rede des abtretenden Rectors Dr. theol. et phil. Theodor Brieger.
Rede des antretenden Rectors Dr. phil. & med. Johannes Wislicenus.
Rede des abtretenden Rectors Dr. phil. et med. Johannes Wislicenus.
Rede des antretenden Rectors Dr. med. Paul Flechsig.
Rede des abtretenden Rectors Dr. med. Paul Flechsig.
Rede des antretenden Rectors Dr. phil. Ernst Windisch.
Rede des abtretenden Rectors Dr. phil. Ernst Windisch.
Rede des antretenden Rectors Dr. iur. Emil Friedberg.
Rede des abtretenden Rectors Dr. jur. Emil Friedberg.
Rede des antretenden Rectors Dr. Curt Wachsmuth.
Rede des abtretenden Rectors Dr. Curt Wachsmuth.
Rede des antretenden Rectors Dr. theol. et phil. Albert Hauck.
Rede des abtretenden Rektors D. Dr. Albert Hauck.
Rede des antretenden Rektors Dr. Wilhelm Kirchner.
Rede des abtretenden Rectors Dr. Wilhelm Kirchner.
Rede des antretenden Rectors Dr. Paul Zweifel.
Rede des abtretenden Rectors Dr. med. Paul Zweifel.
Rede des antretenden Rektors Dr. Eduard Sievers.
Rede des abtretenden Rectors Dr. phil. Eduard Sievers.
Rede des antretenden Rectors Dr. Adolf Wach.
Rede des abtretenden Rektors Dr. jur. Adolf Wach.
Rede des antretenden Rektors Dr. phil. Karl Bücher.
Rede des abtretenden Rektors Dr. Karl Bücher.
Rede des antretenden Rektors D. Georg Rietschel.
Rede des abtretenden Rektors D. Georg Rietschel.
Rede des antretenden Rektors Dr. Gerhard Seeliger.
Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
Rede des abtretenden Rektors Dr. Gerhard Seeliger.
Rede des antretenden Rektors Dr. Heinrich Curschmann.
Rede des abtretenden Rektors Dr. Heinrich Curschmann.
Rede des antretenden Rektors Dr. Karl Chun.
Rede des abtretenden Rektors Dr. Karl Chun.
Rede des antretenden Rektors Dr. Karl Binding.
Rede des abtretenden Rektors Dr. Karl Binding.
Rede des antretenden Rektors Dr. Eduard Hölder.
Rede des abtretenden Rektors Dr. Eduard Hölder.
Rede des antretenden Rektors Dr. Karl Lamprecht.
Rede des abtretenden Rektors Dr. Karl Lamprecht.
Rede des antretenden Rektors D. Georg Heinrici.
Rede des abtretenden Rektors D. Georg Heinrici.
Rede des antretenden Rektors Dr. Heinrich Bruns.
Rede des abtretenden Rektors Dr. Heinrich Bruns.
Rede des antretenden Rektors Dr. Otto Mayer.
Rede des abtretenden Rektors Dr. Otto Mayer.
Rede des antretenden Rektors Dr. Albert Köster.
Rede des abtretenden Rektors Dr. Albert Köster.
Rede des antretenden Rektors Dr. Adolf von Strümpell.
Rede des abtretenden Rektors Dr. Adolf von Strümpell.
Rede des antretenden Rektors Dr. Wilhelm Stieda.
Rede des abtretenden Rektors Dr. Wilhelm Stieda.
Rede des antretenden Rektors Dr. Rudolf Kittel.
Rede des abtretenden Rektors Dr. Rudolf Kittel.
Rede des antretenden Rektors Dr. Otto Hölder.
Rede des abtretenden Rektors Dr. Rudolf Kittel.
Rede des antretenden Rektors Dr. Erich Brandenburg.
Rede des abtretenden Rektors Dr. Erich Brandenburg.
Rede des antretenden Rektors Dr. Richard Schmidt.
Rede des abtretenden Rektors Dr. Richard Schmidt.
Rede des antretenden Rektors Prof. Dr. phil. Richard Heinze.
Rede des abtretenden Rektors Dr. Richard Heinze.
Rede des antretenden Rektors Dr. Hans Held.
Rede des abtretenden Rektors Dr. Hans Held.
Rede des antretenden Rektors Dr. Georg Steindorff.
Rede des abtretenden Rektors Dr. Georg Steindorff.
Rede des antretenden Rektors Dr. F. Rendtorff.
Rede des abtretenden Rektors Dr. Franz Rendtorff.
Rede des antretenden Rektors Dr. Max Le Blanc.
Rede des abtretenden Rektors Dr. Max Le Blanc.
Rede des antretenden Rektors Dr. Heinrich Siber.
Jahresbericht des abtretenden Rektors Dr. Heinrich Siber.
Rede des antretenden Rektors Dr. Erich Bethe.
Jahresbericht des abtretenden Rektors Dr. Erich Bethe.
Rede des antretenden Rektors Dr. Oskar Römer.
Jahresbericht des abtretenden Rektors Dr. Oskar Römer.
Rede des antretenden Rektors Dr. Friedrich Falke.
Jahresbericht des abtretenden Rektors Dr. Friedrich Falke.
Rede des antretenden Rektors Dr. Hermann Baum.
Jahresbericht des abtretenden Rektors Dr. Hermann Baum.
Rede des antretenden Rektors Dr. Theodor Litt.
Jahresbericht des abtretenden Rektors Dr. Theodor Litt.
Rede des antretenden Rektors Dr. Hans Achelis.
Jahresbericht des abtretenden Rektors Dr. Hans Achelis.
Backmatter
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Die Leipziger Rektoratsreden 1871-1933
 9783110212884, 9783110209198

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Die Leipziger Rektoratsreden 1871-1933

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Die Leipziger Rektoratsreden 1871 – 1933 Herausgegeben vom Rektor der Universität Leipzig Professor Dr. iur. Franz Häuser zum 600-jährigen Gründungsjubiläum der Universität im Jahr 2009

Band I Die Jahre 1871–1905

Walter de Gruyter · Berlin · New York

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U Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt ISBN 978-3-11-020919-8 (2 Bände) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar © Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Dr. Rainer Ostermann, München Druck und buchbinderische Verarbeitung: Strauss GmbH, Mörlenbach

Inhaltsverzeichnis

Band I Der Rektor als Redner – Vorwort des Herausgebers Franz Häuser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hoch geehrt und viel getadelt. Die Leipziger Universitätsrektoren und ihr Amt bis 1933 Jens Blecher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Editionstext: Die Jahresberichte und Antrittsreden der Leipziger Universitätsrektoren von 1871 bis 1933 Wissenschaftliche Bearbeitung von Marcel Korge Der Rektorwechsel im Jahr 1871 Jahresbericht von Friedrich Zarncke. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Antrittsrede von Carl Reinhold August Wunderlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Der Rektorwechsel im Jahr 1872 Jahresbericht von Carl Reinhold August Wunderlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Antrittsrede von Hermann Brockhaus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Der Rektorwechsel im Jahr 1873 Jahresbericht von Hermann Brockhaus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Antrittsrede von Adolf Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Der Rektorwechsel im Jahr 1874 Jahresbericht von Adolf Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Antrittsrede von Gustav Adolf Ludwig Baur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Der Rektorwechsel im Jahr 1875 Jahresbericht von Gustav Adolf Ludwig Baur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Antrittsrede von Johannes Adolph Overbeck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Der Rektorwechsel im Jahr 1876 Jahresbericht von Johannes Adolph Overbeck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Antrittsrede von Carl Thiersch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 V

Inhaltsverzeichnis

Der Rektorwechsel im Jahr 1877 Jahresbericht von Carl Thiersch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Antrittsrede von Rudolf Leuckart. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Der Rektorwechsel im Jahr 1878 Jahresbericht von Rudolf Leuckart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Antrittsrede von Ernst Otto Stobbe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Der Rektorwechsel im Jahr 1879 Jahresbericht von Ernst Otto Stobbe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Antrittsrede von Ludwig Lange . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Der Rektorwechsel im Jahr 1880 Jahresbericht von Ludwig Lange . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Antrittsrede von Christoph Ernst Luthardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Der Rektorwechsel im Jahr 1881 Jahresbericht von Christoph Ernst Luthardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 Antrittsrede von Friedrich Zarncke. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Der Rektorwechsel im Jahr 1882 Jahresbericht von Friedrich Zarncke. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Antrittsrede von Wilhelm His . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Der Rektorwechsel im Jahr 1883 Jahresbericht von Wilhelm His . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 Antrittsrede von Max Heinze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Der Rektorwechsel im Jahr 1884 Jahresbericht von Max Heinze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Antrittsrede von Bernhard Windscheid. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Der Rektorwechsel im Jahr 1885 Jahresbericht von Bernhard Windscheid. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Antrittsrede von Ferdinand Zirkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Der Rektorwechsel im Jahr 1886 Jahresbericht von Ferdinand Zirkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 Antrittsrede von Woldemar Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Der Rektorwechsel im Jahr 1887 Jahresbericht von Woldemar Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Antrittsrede von Otto Ribbeck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 VI

Inhaltsverzeichnis

Der Rektorwechsel im Jahr 1888 Jahresbericht von Otto Ribbeck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Antrittsrede von Franz Hofmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Der Rektorwechsel im Jahr 1889 Jahresbericht von Franz Hofmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 Antrittsrede von Wilhelm Wundt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 Der Rektorwechsel im Jahr 1890 Jahresbericht von Wilhelm Wundt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 Antrittsrede von Karl Binding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 Der Rektorwechsel im Jahr 1891 Jahresbericht von Karl Binding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 Antrittsrede von Justus Hermann Lipsius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Der Rektorwechsel im Jahr 1892 Jahresbericht von Justus Hermann Lipsius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542 Antrittsrede von Theodor Brieger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553 Der Rektorwechsel im Jahr 1893 Jahresbericht von Theodor Brieger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564 Antrittsrede von Johannes Wislicenus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 Der Rektorwechsel im Jahr 1894 Jahresbericht von Johannes Wislicenus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 Antrittsrede von Paul Flechsig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 Der Rektorwechsel im Jahr 1895 Jahresbericht von Paul Flechsig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 Antrittsrede von Ernst Windisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627 Der Rektorwechsel im Jahr 1896 Jahresbericht von Ernst Windisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642 Antrittsrede von Emil Friedberg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653 Der Rektorwechsel im Jahr 1897 Jahresbericht von Emil Friedberg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 672 Antrittsrede von Curt Wachsmuth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679 Der Rektorwechsel im Jahr 1898 Jahresbericht von Curt Wachsmuth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 690 Antrittsrede von Albert Hauck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 701 VII

Inhaltsverzeichnis

Der Rektorwechsel im Jahr 1899 Jahresbericht von Albert Hauck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 715 Antrittsrede von Wilhelm Kirchner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723 Der Rektorwechsel im Jahr 1900 Jahresbericht von Wilhelm Kirchner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741 Antrittsrede von Paul Zweifel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749 Der Rektorwechsel im Jahr 1901 Jahresbericht von Paul Zweifel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 769 Antrittsrede von Eduard Sievers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 779 Der Rektorwechsel im Jahr 1902 Jahresbericht von Eduard Sievers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 794 Antrittsrede von Adolf Wach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 805 Der Rektorwechsel im Jahr 1903 Jahresbericht von Adolf Wach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 818 Antrittsrede von Karl Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 827 Der Rektorwechsel im Jahr 1904 Jahresbericht von Karl Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 838 Antrittsrede von Georg Rietschel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 849 Der Rektorwechsel im Jahr 1905 Jahresbericht von Georg Rietschel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 863 Antrittsrede von Gerhard Seeliger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 873

Band II Der Rektorwechsel im Jahr 1906 Jahresbericht von Gerhard Seeliger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 885 Antrittsrede von Heinrich Curschmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 893 Der Rektorwechsel im Jahr 1907 Jahresbericht von Heinrich Curschmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 908 Antrittsrede von Carl Chun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 919 Der Rektorwechsel im Jahr 1908 Jahresbericht von Carl Chun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 931 Antrittsrede von Karl Binding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 941 VIII

Inhaltsverzeichnis

Der Rektorwechsel im Jahr 1909 Jahresbericht von Karl Binding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 958 Antrittsrede von Eduard Hölder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 973 Der Rektorwechsel im Jahr 1910 Jahresbericht von Eduard Hölder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 985 Antrittsrede von Karl Lamprecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 991 Der Rektorwechsel im Jahr 1911 Jahresbericht von Karl Lamprecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1004 Antrittsrede von Georg Heinrici . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1017 Der Rektorwechsel im Jahr 1912 Jahresbericht von Georg Heinrici . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1030 Antrittsrede von Heinrich Bruns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1045 Der Rektorwechsel im Jahr 1913 Jahresbericht von Heinrich Bruns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1059 Antrittsrede von Otto Mayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1067 Der Rektorwechsel im Jahr 1914 Jahresbericht von Otto Mayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1073 Antrittsrede von Albert Köster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1081 Der Rektorwechsel im Jahr 1915 Jahresbericht von Albert Köster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1093 Antrittsrede von Adolf von Strümpell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1105 Der Rektorwechsel im Jahr 1916 Jahresbericht von Adolf von Strümpell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1122 Antrittsrede von Wilhelm Stieda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1131 Der Rektorwechsel im Jahr 1917 Jahresbericht von Wilhelm Stieda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1149 Antrittsrede von Rudolf Kittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1163 Der Rektorwechsel im Jahr 1918 Jahresbericht von Rudolf Kittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1185 Antrittsrede von Otto Hölder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1199 Der Rektorwechsel im Jahr 1919 Jahresbericht von Rudolf Kittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1212 Antrittsrede von Erich Brandenburg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1231 IX

Inhaltsverzeichnis

Der Rektorwechsel im Jahr 1920 Jahresbericht von Erich Brandenburg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1246 Antrittsrede von Richard Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1265 Der Rektorwechsel im Jahr 1921 Jahresbericht von Richard Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1298 Antrittsrede von Richard Heinze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1313 Der Rektorwechsel im Jahr 1922 Jahresbericht von Richard Heinze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1329 Antrittsrede von Hans Held . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1345 Der Rektorwechsel im Jahr 1923 Jahresbericht von Hans Held . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1367 Antrittsrede von Georg Steindorff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1385 Der Rektorwechsel im Jahr 1924 Jahresbericht von Georg Steindorff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1399 Antrittsrede von Franz Rendtorff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1417 Der Rektorwechsel im Jahr 1925 Jahresbericht von Franz Rendtorff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1439 Antrittsrede von Max Le Blanc . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1459 Der Rektorwechsel im Jahr 1926 Jahresbericht von Max Le Blanc . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1480 Antrittsrede von Heinrich Siber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1497 Der Rektorwechsel im Jahr 1927 Jahresbericht von Heinrich Siber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1511 Antrittsrede von Erich Bethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1527 Der Rektorwechsel im Jahr 1928 Jahresbericht von Erich Bethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1541 Antrittsrede von Oskar Römer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1557 Der Rektorwechsel im Jahr 1929 Jahresbericht von Oskar Römer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1566 Antrittsrede von Friedrich Falke. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1585 Der Rektorwechsel im Jahr 1930 Jahresbericht von Friedrich Falke. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1602 Antrittsrede von Hermann Baum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1631 X

Inhaltsverzeichnis

Der Rektorwechsel im Jahr 1931 Jahresbericht von Hermann Baum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1644 Antrittsrede von Theodor Litt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1669 Der Rektorwechsel im Jahr 1932 Jahresbericht von Theodor Litt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1681 Antrittsrede von Hans Achelis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1701 Der Rektorwechsel im Jahr 1933 Jahresbericht von Hans Achelis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1710

Personen-, Orts- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1725 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1795

XI

Der Rektor als Redner Vorwort des Herausgebers Im ersten Jahr meines Rektorats stand das Jubiläum unserer Universität im Jahr 2009 noch nicht im Mittelpunkt meiner Aufmerksamkeit, als die Beschäftigung mit der vielfältigen Leipziger Universitätsgeschichte einen besonderen Schatz für mich zu Tage förderte: die Leipziger Rektoratsreden aus den Jahren 1871 bis 1933. Um welches universitätshistorische Kleinod es sich bei diesen Reden handelt, kann nur derjenige ermessen, der tatsächlich die gesamte Reihe über den Zeitraum von gut 60 Jahren studiert hat. Die in den Reden enthaltenen Informationen, seien sie biographischer, geschichtlicher, wissenschaftsinstitutioneller oder statistischer Art, sind Legion. Heute ist nur wenigen ein solches Lesevergnügen vergönnt, denn die Bände mit den Leipziger Rektoratsreden sind an kaum einem Bibliotheksstandort vollständig vorhanden. Daher habe ich in Vorbereitung auf das 600-jährige Universitätsjubiläum angeregt, diese aufschlussreiche Quelle einer breiten Öffentlichkeit wieder zugänglich zu machen. Nicht nur in der Tagespresse stoßen solche Rektoratsreden (vor allem aus dem neunzehnten Jahrhundert) auf besonderes Interesse (vgl. Bernd A. Rusinek, Magnifizenz hatten Sorgen, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.11.2002/Nr. 279, S. 39), auch die professionelle Universitätsgeschichtsschreibung wandte sich fast zeitgleich zu den ersten Vorarbeiten des Universitätsarchivs im Jahre 2004 dieser vergessenen Quellengattung zu. So macht der Jahresbericht der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften für 2006 auf ein Forschungsprojekt zu den deutschen Universitätsreden aufmerksam. Gelehrte Festreden, noch dazu wenn sie in einem regelmäßigen Turnus vor derselben Schar von Kollegen und ausgewählten Honoratioren der städtischen Gemeinde gehalten werden, erheben meistens nicht den Anspruch, grundlegend Neues aus der Wissenschaft zu bringen oder den Zuhörerkreis in seiner geistigen Einstellung wesentlich zu verändern. Vielmehr bilden sie den Mittelpunkt eines festlichen öffentlichen Rahmens, den es mit wohlgesetzten Worten in einem zeitlich eng gefassten Zeremoniell zu füllen gilt. Der Redner am Pult hebt sich aus dem Kreis der Anwesenden heraus, und die Aufmerksamkeit fokussiert sich auf seine Person. Er steht allein und muss überzeugen; das Amt, dessen steter Wechsel in der Inhaberschaft gefeiert wird, tritt etwas in den Hintergrund. Die mittelalterliche universitas lebte so als versammelte Gemeinschaft von Professoren in der Universitätsaula wieder auf, an die der scheidende Rektor mit dem Bericht über sein Wirken demütig die nur geliehene Macht zurückgab, ehe der neue Rektor die zeitlich beschränkte Amtswürde aus den Reihen der academici übertragen erhielt. Die in Leipzig in der Regel am Reformationstag in der Aula der Universität erstatteten Jahresberichte und gehaltenen Fachvorträge bildeten einen rituellen Höhepunkt im Laufe des akademischen Jahres. Mündlich vorgetragen und bald darauf 1

Der Rektor als Redner

publiziert, enthalten die Berichte und Vorträge meiner Amtsvorgänger nicht nur einen wissenschaftshistorischen, sondern auch einen philosophisch-philologischen Schatz. Insbesondere werfen sie oft ein Schlaglicht auf die Verbindung zwischen Tradition und persönlicher Orientierung des Wissenschaftlers in einer modernen, sich stetig beschleunigenden und politisierenden Hochschulwelt. So finden sich auch in den Rektoratsreden die Überzeugungen, Ideen und Vorstellungen der ab- oder antretenden Rektoren wieder, zumeist etwas vornehm zurückgenommen, dennoch aber in zahlreichen Nebenbemerkungen. Die gedruckten Texte begleiten die Leipziger Universitätsgeschichte auf ihren wechselvollen Pfaden als Chronik, und sie dokumentieren die Geisteshaltung sowie die Vermittlungsproblematik der einzelnen Fachdisziplinen, denn selbst gestandenen Koryphäen fiel (und fällt) es mitunter schwer, aktuelle Forschungsansätze und problemorientierte Wissenschaftsdiskussionen in den geistigen Radius einer großen Menge von Nichtfachleuten zu transportieren. Die Antrittsreden spiegeln also auch das Bemühen der einzelnen Professoren um Wissenschaftskommunikation wider. Die frisch gekürten Rektoren sahen mit ihren Referaten wohl zugleich immer auch eine besondere Möglichkeit, vor der Gesamtuniversität und den hochrangigen Ehrengästen einem breiten Personenkreis den Zugang zur eigenen Fachdisziplin zu eröffnen und den Stand des Faches öffentlich zu rekapitulieren. Mein Landsmann Karl Bücher berichtete bei seinem Amtsantritt 1903 zutreffend, dass schon die Beschäftigung mit dem bevorstehenden Rektoratsamt ihn zu einem Wandel in seiner inneren Einstellung führte, da man von dem ins Rektorat gewählten Fachgelehrten nunmehr ein übergreifendes Gemeinschaftsdenken verlangte. Das Editionsprinzip für die Rektorreden ist von einem einfachen Gesichtspunkt geprägt: Um diesen rituellen Akt und den Stand der Universität in ihrer zeitpolitischen Dimension sichtbar werden zu lassen, sollen für jeden Rektoratswechsel sowohl die Rede des abtretenden als auch die des antretenden Rektors vollständig wiedergegeben werden. Erst auf diese Weise wird es dem Leser möglich, dem statischen Bild, das die Universität beim Rektoratswechsel im Oktober eines jeden Jahres zeigt, auch ein lebendiges Bild aus ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit gegenüber zu stellen. Die gedruckten Reden sollen weitgehend für sich stehen. Es ist also keine kritische Edition beabsichtigt, sondern es wird auf weiterführende Kommentierungen und Glossen verzichtet, die bei einer solch reichhaltigen Textgrundlage ihre Lesbarkeit erschweren dürften. Lediglich die im Laufe der Jahrzehnte wechselnden Anmerkungsapparate wurden zu Fußnoten vereinheitlicht. Auch Rechtschreibung und Grammatik wurden nicht den modernen Vorgaben angepasst, abgesehen von einer stillschweigenden Korrektur offenkundiger Druckfehler. Was in den Reden ungesagt geblieben ist, welche Wertungen und Hierarchien sich aus einer Textanalyse ergeben und welche zeitpolitischen Akzente die Texte setzen, dies alles bleibt der weiteren Auswertung durch Historiker, Germanisten oder Sozialwissenschaftler überlassen, welche die Edition zur intensiven Beschäftigung mit der universitären Vergangenheit anregen möge. Für diese wissenschaftliche Auswertung haben wir diese Quelle wieder ans Licht geholt und neu gefasst; sie soll aber auch und gerade im Jubiläumsjahr unserer Universität dazu dienen, einen 2

Der Rektor als Redner

raschen und unverstellten Blick auf die Blütezeit der Universität Leipzig in den Jahren von 1871 bis 1933 werfen zu können. Die Texte sind nicht nur für den Wissenschaftler, sondern auch für den zeitgeschichtlich interessierten Leser anregend und enthalten menschlich bewegende und zuweilen sogar amüsante Passagen aus einer nicht allzu fernen Vergangenheit, über deren Strukturen und Denkformen wir uns manchmal so leichtfertig erhoben glauben. Die zeitliche Auswahl der editierten Rektoratsreden folgt den vorhandenen Druckschriften. Ab 1871 begannen die Drucklegungen, die offenbar auf Außenwirkung abzielten und zumindest dem immer mehr anschwellenden Universitätslehrkörper einen Blick in die Stuhlreihen der Professorenaula eröffnen sollten. Denn nur wenige Personen konnten persönlich an dem Ereignis des Rektoratswechsels teilnehmen; die allzu kleine Universitätsaula mit ihren eng gedrängten 747 Sitzplätzen bot kaum genügend Platz, um die ordentlichen Professoren gebührend aufzunehmen. Die außerordentlichen Professoren saßen hinter den wenigen Ehrengästen, aber noch vor den Studenten und den gesondert platzierten Damen. Doch auch wer Platz genommen hatte, konnte am Ende leer ausgehen, denn durch die Raumhöhe und die vielen Fensterflächen hatte die Aula, gerade bei Großveranstaltungen mit vielen Gästen, eine denkbar schlechte Akustik. Erst als man im Jahre 1929 eine Lautsprecheranlage am Rednerpult installierte, verbesserte sich die akustische Verständlichkeit des Vortrags. Auf dieses ewige Dilemma zwischen der Vielfalt des akademischen Lebens und der Begrenzung der Publikationsfläche stößt auch der heutige Herausgeber. So können neben einem einführenden Artikel zum Leipziger Rektorenamt keine zusätzlichen Informationen in den Editionsband einfließen. Auch wenn es wünschenswert wäre, ein biographisches Kompendium der Rektoren anzufügen, so würde es doch den verfügbaren Platz bei weitem überschreiten. Wichtig erscheint allerdings, mit dem umfangreichen Register einen inhaltlichen Leitfaden für den eiligen Leser oder den fachhistorischen Nutzer beizufügen. Dieser erschließende Registerapparat macht deutlich, welche eindrucksvolle Menge an Information sich in dieser Quellenedition versammelt und damit neu zugänglich wird. Die vielen Details bieten einen weiterführenden Zugang zur Leipziger Universitätsgeschichte, denn bei den einzelnen Meldungen, die in die Rektoratsreden einflossen, handelt es sich um jene unverfälschten Berichte, welche die akademische Zunft selbst, die Fakultäten, Institute und Lehrstühle als wichtig und mitteilenswert erachteten. Nicht zufällig enden die Rektoratsreden in diesem Band mit dem Jahr 1933, fast zeitgleich mit Beginn der staatlichen Dekretierung des Führerprinzips, das, im Dezember 1933 auch in der Universität Leipzig eingeführt, die kollegiale universitäre Selbstverwaltung beendete. Die neuen „Geschäftsberichte“ der ernannten und nicht mehr frei gewählten Amtsinhaber laufen über die nächsten Jahre zwar weiter, sie spiegeln jedoch vorrangig die Loyalitäten der nationalsozialistischen Rektoren gegenüber dem totalitären Staat wider und sind nicht länger primär den Universitätsangehörigen geschuldet. Die Publikationen geraten zur Propaganda, und der Übergang zum „Geschäftlichen“ statt dem Inhaltlichen klammert die zahllosen Veränderungen, die Todesfälle, Verhaftungen und Repressalien, welche Professoren, 3

Der Rektor als Redner

Doktoren und Studenten erlitten, geflissentlich aus. Ebenso werden die Antrittsreden der „Hochschulführer“ zu politischen Statements, denn Statthalter müssen weder wissenschaftlich brillieren noch persönlich überzeugen, sie fordern lediglich Respekt und Gehorsam. Ihren zum Teil unerträglichen Darlegungen soll in diesem Band deshalb kein Platz eingeräumt werden. Dafür erscheint eine andere, dann aber nicht kommentarlose Form der Publikation notwendig und auch angemessen. Bis zum Jahre 1933 greifen die Berichtsreden alle Facetten des verflossenen Amtsjahres auf; im Zusammenhang gelesen, ergeben sie eine informative und lebendige Chronik des Universitätsgeschehens. Personalveränderungen in der Professorenschaft und in den Reihen der Dozenten sowie unter den Angestellten der Institute und Kliniken eröffnen meistens den Reigen. Die hier zusammengefassten und auf präzisen Quellenberichten ruhenden biographischen Angaben zeichnen ein grandioses Bild von einer Universität, die als „Endstationsuniversität“ galt und in der Regel eine langjährige Verbindung mit ihren Beamten und Angestellten pflegte. Ein Beispiel dafür ist das 60-jährige Professorenjubiläum des Juristen Carl Georg von Wächter (1797–1880) im Jahre 1879, der als einer der führenden deutschen Juristen seiner Zeit von 1852 bis zu seinem Tod an der Universität Leipzig wirkte. Da mit der Zerstörung des Gebäudes der Juristenfakultät in der Petersstraße im Zweiten Weltkrieg auch die schriftliche Überlieferung der Fakultät verloren ging, wird der zeitgenössische Bericht über die Wirksamkeit des damals 82-jährigen Ordinarius in Fakultät und Senat zur historischen Quelle ersten Ranges. Über eine ähnlich langjährige Verbindung informiert die Rektoratsrede im Jahr 1896. Nur wenige Wochen vor seinem 70-jährigen Professorenjubiläum verschied der bekannte Mathematiker und Philosoph Moritz Wilhelm Drobisch (1802–1896), der wohl als academici lipsiensis mit der längsten Universitätszugehörigkeit angesehen werden kann – wurde er doch als zweijähriger Knabe schon in die Matrikel eingetragen. Er war seit 1826 ordentlicher Professor der Mathematik und später der Philosophie in Leipzig. Erst der Verlust seiner Sehfähigkeit zwang ihn Mitte der 1880er Jahre, seine wissenschaftliche Tätigkeit zu begrenzen. Damit war Drobisch seiner alma mater über mehr als acht Dekaden eng verbunden. Die Hochachtung vor dem verstorbenen Kollegen kommt in der wissenschaftlichen und menschlichen Würdigung des Rektors zum Ausdruck – die öffentliche Wertschätzung des Gelehrten wird in einem Detail fast nebenbei sichtbar: der Staatsminister Paul von Seydewitz (1843– 1910) erschien persönlich zur Beerdigung des Leipziger Philosophen. Über die Jahre und Jahrzehnte hinweg führen derartige Ereignisse und ihre Kommentierung das Bild einer Hohen Schule vor Augen, die nicht so sehr nachgeordnete staatliche Anstalt war, als vielmehr ein lebendiger Organismus, der sich mit den einzelnen Gliedern seiner selbst auf natürliche Weise verbunden fühlte. Dazu zählen auch die Dozenten, die Studierenden, die Angestellten und selbst die ehemaligen Doktoranden, deren runder Doktorjubiläen der Rektor regelmäßig und mit gelegentlicher individueller Namensnennung gedenkt. Als Weiterführung dieser Verbindung erfahren wir von Spenden, Stiftungen und Zuwendungen, die der Universität oder einzelnen Institutionen später in dankbarer Erinnerung an die gemeinsame Zeit zuflossen. 4

Der Rektor als Redner

Für den gesamten Editionszeitraum von 1871 bis 1933 erhalten wir ein Kompendium der Universitätsgeschichte, das mit seinen umfangreichen Beurteilungen durch die agierenden Zeitgenossen, die ebenso persönlich wägend wie zugleich wissenschaftlich objektivierend berichten, heute dergestalt kaum zu erarbeiten wäre. Das Spektrum der Antrittsreden zeigt für die Entwicklung der Leipziger Wissenschaftsdisziplinen eine hochinteressante Mischung, die 1871 mit dem Mediziner Carl Wunderlich und dem Referat über die „Gesundheitsverhältnisse in den productiven Lebensaltern“ beginnt. In den nächsten Jahren finden wir Beiträge zur interdisziplinären Entwicklung in den einzelnen Wissenschaftsgebieten und deren Ausstrahlung in die öffentliche Wahrnehmung, wie von Rudolf Leuckart „Über die Einheitsbestrebungen in der Zoologie“ (1877) zum Thema der Darwinschen Lehre und der Rolle der modernen Physiologie oder von Wilhelm Wundt „Ueber den Zusammenhang der Philosophie mit der Zeitgeschichte“ (1889). Besonders die Verbindung von Wissenschaft und Gesellschaft ist ein Thema, das die Referenten wiederholt in den Vordergrund rücken, sei es wie bei Theodor Brieger mit dem Vortrag über „Der Glaube Luthers in seiner Freiheit von menschlichen Autoritäten“ (1892) oder wie bei Paul Zweifel in seiner Antrittsrede „Kurzer Rückblick auf die Entwicklung der erklärenden Naturwissenschaften und der Medicin im XIX. Jahrhundert“ (1900). Die Rektoren, angefangen mit Friedrich Zarncke bis hin zu Hans Achelis, kamen aus allen Fakultäten mit einer fast gleichmäßigen Streuung zwischen ihnen, wobei die Philosophische Fakultät wegen der zahlreicheren Professoren deutlich mehr Rektoren stellten und die erst im Jahre 1923 eingerichtete Veterinärmedizinische Fakultät deutlich weniger. Quer über die Fächergrenzen hinweg bereicherte der jährliche Amtswechsel die Universität und erzwang eine Gemeinsamkeit sowie Kollegialität, die uns heute seltsam familiär anmutet. Beim historischen Rückblick zeigt sich uns eine Universität, organisiert auf körperschaftlicher Grundlage, ohne bürokratischen Ballast und ausgestattet mit eigenem Vermögen – vielleicht erkennen wir beim Rückblick auf die Leipziger Universitätsgeschichte auch eine mögliche Perspektive für die Zukunft unserer Universität. Prof. Dr. iur. Franz Häuser Rektor der Universität Leipzig

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Hoch geehrt und viel getadelt. Die Leipziger Universitätsrektoren und ihr Amt bis 1933 Jens Blecher In der europäischen Universitätsgeschichte lassen sich verschiedene Universitätsmodelle und Universitätsverfassungen finden – allen gemeinsam ist jedoch die Vertretung nach außen und innen durch einen Vorstand, der gemeinhin als Rektor bezeichnet wird. Um das Jahr 1200 entsteht im italienischen Bologna ein erster Zusammenschluss, eine universitas, von Lehrenden und Lernenden. Die neue Gemeinschaft verordnete sich selbst gefasste Regeln (Statuten) und wählte als Oberhaupt auf Zeit einen Rektor aus ihrer Mitte, der den Vorstand führte und dessen Gerichtsbarkeit sie sich unterwarf. Infolge des städtischen Versuchs, die Lehrer und ihre wirtschaftliche Tätigkeit ab 1217 mit einem Eid an die Stadtgrenzen zu binden, werden die Lehrer jedoch bald von den Schülern entrechtet: Das aktive und passive Wahlrecht für das Rektorat kam danach nur den Studenten zu. Die Entwicklung zur Scholarenuniversität, die eine Organisation der zahlenden Interessenten an Bildung darstellt und die Lehrenden von der Verwaltung ausschloss, bleibt in der abendländischen Bildungsgeschichte jedoch weitestgehend auf den italienischen Raum beschränkt.1 Ein weiteres Universitätsmodell konnte sich ebenfalls nicht in Europa durchsetzen: Kaiser Friedrich II. (1194–1250), in seiner Funktion als König von Sizilien, gründete 1224 die Universität Neapel – die erste europäische Staatsuniversität.2 Ohne gewählten Rektor wurde sie direkt von einem königlichen Kanzler geleitet und Akademiker und Studenten unterlagen weiterhin der königlichen Gerichtsbarkeit. Allein der König ernannte und besoldete die Lehrer, in seinem Namen wurden die Studenten geprüft und alle studienwilligen Untertanen zwangsweise an die neue Universität verwiesen. In Paris entstand nahezu zeitgleich mit Bologna um 1208 ebenfalls eine universitas3 – und ihre Organisationsform entwickelte sich zu einem Vorbild,4 der die 1

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Stein, Friedrich: Die akademische Gerichtsbarkeit in Deutschland. Leipzig 1891, S. 27. Beispiel dafür Siena, Perugia, Padua. Grundmann bezeichnet sie als „erste Staatsuniversität“ (Grundmann, Herbert: Vom Ursprung der Universität im Mittelalter, in: Ausgewählte Aufsätze. Teil 3 Bildung und Sprache, Stuttgart 1978, S. 300). Kaufmann, Georg: Geschichte der deutschen Universitäten, Band I, Vorgeschichte, Graz 1958. Band II, Entstehung und Entwicklung der deutschen Universitäten bis zum Ausgang des Mittelalters, Graz 1958. Photomechanischer Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1888/1896, hier Kaufmann I, S. 250/251: Die erste überlieferte Handlung bestand in der Aufstellung eines 8-Männer-Ausschusses, der Regeln für die Tracht, die Vorlesungen und die Leichenbegängnisse in ein förmliches Statut fassen soll.

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Die Leipziger Universitätsrektoren und ihr Amt bis 1933

später gegründeten Universitäten, auch die Prager und Leipziger, folgten. Dort entwickelten sich Selbstorganisationsstrukturen, die die Universitäten bis heute prägen, so „... die Leitung durch eigene, aus ihrer Mitte gewählte Rektoren mit Gerichtsbarkeit über die Universitätsangehörigen, die Gliederung der Studienfächer in Fakultäten mit gleichfalls gewählten, wechselnden Dekanen an der Spitze, ihr Prüfungsund Promotionsrecht zur Verleihung des Doktorgrades und der Lehrberechtigung und manches andere bis hin zu den Amtsbezeichnungen der Ordinarien, Lektoren, Pedelle, der Amtstracht der Talare und Barette, der Matrikel und Immatrikulation der Studenten, der Benennung des Kollegs, des Auditoriums, der Aula usw.“5 Zunächst schien die Universität Paris jedoch nicht vom Schicksal begünstigt – über die Frage der Zugehörigkeit bzw. über die Autonomie des Lehrkörpers und dessen Selbstergänzung entbrannte ein heftiger Streit zwischen dem Bischof (dem Universitätskanzler) und der universitas. Die Selbstorganisation und Eigenverwaltung des Lehrbetriebes war ein Privileg, um das mit harten Bandagen gekämpft wurde. Mehrfach wurden Mitglieder der Universität durch den Pariser Bischof exkommuniziert und die Universität stellte daher den Lehrbetrieb im Jahre 1219 aus Protest ganz ein, 1229 erfolgte sogar ein Auszug der Pariser Universität. Eine zukunftsweisende Entscheidung fiel erst, nachdem sich die päpstliche Autorität wohlwollend zu Gunsten der Gelehrtengemeinschaft engagierte: „Fast ein Menschenalter hindurch währte der Kampf, den die Magister deshalb gegen den Kanzler von Notre Dame führten und der nach wiederholtem Eingreifen des päpstlichen Stuhls damit endete, dass Gregor IX. durch die Bulle Parens scientiarum vom Jahre 1231 den Magistern eine bestimmte Mitwirkung bei den Prüfungen einräumte, dem Kanzler aber das Recht der Lizenzerteilung beließ, welches für sein Gebiet auch der Abt von St. Genoveva ausübte.“6 Damit wurde der Kanzler faktisch aus der Universität herausgedrängt und ihm die Rolle des externen Prüfers für Graduierungen bzw. des Aufsehers über die päpstlich verbrieften Gemeinschaftsrechte zugewiesen.7 4

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Paulsen, Friedrich: Die Gründung der deutschen Universitäten im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift (45) 1881, S. 251-311, hier S. 256: „Bologna ... Errichtungs- und Stiftungsbriefe führen häufig ihren Namen im Munde, aber nur um zu versichern, dass die neu zu gründende Einrichtung an Freiheiten und Privilegien hinter ihr nicht zurückbleiben solle; die Einrichtungen der Bologneser Universität sind nirgends Vorbild gewesen.“; Grundmann, S. 301: Zwar war dem Prager Stifter (Karl IV.) die Stiftungsurkunde von Neapel bekannt und Textelemente flossen in die Stiftungsurkunde mit ein, als Vorbild für Prag werden jedoch nur Paris und Bologna erwähnt. Grundmann, S. 303. Zur Herausbildung der Universitätsstrukturen siehe auch: Müller, Rainer: Geschichte der Universität, München 1990, S. 18 ff. Stein, S. 5. Chartularium Universitatis Parisiensis, éditions H. Denifle et E. Chatelain, Paris, Delalain, 1889, Tome 1, p. 136-139: Die Bulle bestätigte zugleich den Anspruch der universitas sich ein eigenes Statut zu geben, die Zeit und die Art der Lehrveranstaltungen selbst zu bestimmen, für die Gemeinschaft Kleiderregeln zu entwerfen, die Leichenbegängnisse zu regeln und Verletzungen der Ordnung innerhalb der Gemeinschaft selbst zu ahnden. Wurde ein Übergriff von außen auf einen Universitätsangehörigen nicht binnen 15 Tagen bestraft, so hatte die Universität das Recht, den Lehrbetrieb einzustellen bis ihr volle Genugtuung widerfahren war.

Die Leipziger Universitätsrektoren und ihr Amt bis 1933

Die Grenzen des Aufsichtsrechts blieben jedoch unbestimmt und auch das Verhältnis zwischen Kanzler und Rektor war weitgehend ungeklärt. Im Jahre 1283 geriet die Universität daher in einen neuerlichen Streit mit dem Kanzler. Die Auseinandersetzung betraf die rechtliche Stellung zwischen Kanzler (der als geprüfter Magister ebenfalls der universitas angehörig war) und dem aus dem Kreise der Magister gewählten Rektor. Die Universität bestritt eine privilegierte Stellung des Kanzlers in der Universität mit dem Argument: „… ihr Haupt sei der Rektor, und deshalb könne der Kanzler nicht auch noch ihr Haupt sein, sonst würde die Universität ja ein zweiköpfiges Ungeheuer sein.“ Um ihre Rechtsauffassung zu bekräftigen, fügte sie selbstbewusst den Verweis auf die höchste Autorität des christlichen Abendlandes an und erklärte: „Außer dem Rektor haben wir kein anderes Haupt als den Papst.“8 Gut zweihundert Jahre später geriet die Prager Universität in einen ähnlichen Konflikt, als der König in die inneren Auseinandersetzungen zwischen Universitätsangehörigen eingriff. Durch die im Jahre 1409 von König Wenzel9 (1361–1419) geänderte Machtverteilung innerhalb der vier Nationen und die Einsetzung eines neuen, böhmischen Rektors an der Prager Universität wurden die nichtböhmischen Nationen entmachtet und bewusst gedemütigt.10 Aus Protest gegen diesen willkürlichen Eingriff in die direkt mit dem Rektoramt verbundene Selbstverwaltung verließen viele der nichtböhmischen Akademiker Prag.11 In diesem Exodus liegen die Anfänge der Universität Leipzig 1409, die im politischen Konsens zwischen Flüchtlingen und den wettinischen Landesherrn entsteht.12 Für die Privilegierung der neuen Universität ergaben sich günstige politische Umstände,13 wodurch ihre Gründung in rasantem Tempo vonstatten ging: Im Mai 8 9 10

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Kaufmann I, S. 273. König Wenzel (1376–1400 Römischer König; 1363–1419 König von Böhmen). Nach Gretschel setzte der böhmische König während der Auseinandersetzungen zwischen den Nationen in Prag als Interimsrektor seinen Küchenmeister ein (Gretschel, Carl Christian Carus: Die Universität Leipzig in der Vergangenheit und Gegenwart, Dresden 1830, S. 13). Bereits seit 1384 hatte es wegen der Ausstattung der Nationen mit Pfründen Konflikte innerhalb der Universität gegeben. Dabei wehrten sich die drei nichtböhmischen Nationen gegen die Eingriffe des Kanzlers (Erzbischof von Prag) in die Verfassung der Universität mit „... der Einstellung der Vorlesungen und aller Universitätsakte.“ Erler, Georg: Der Auszug der Prager Magister und Studenten und die Gründung der Universität Leipzig, in: Das schwarze Brett. Festnummer zum 500jährigen Jubiläum der Universität Leipzig, Leipzig 1909, S. 4-8, hier S. 5 und zu den Vorüberlegungen der drei nichtböhmischen Nationen wegen eines Auszuges vgl. S. 7. Zu den Interessen der Stadt Leipzig an der Universitätsgründung finden sich in der Literatur keine Belege. Boockmann, Hartmut: Wissen und Widerstand. Die Geschichte der deutschen Universität, Berlin 1999, S. 93 bringt mit der Gründung der Universität Basel im Jahre 1460 ein Beispiel. Neben dem Verbleib der studierenden Jugend im Territorium erhofft sich der Magistrat bei einer Zahl von 1000 Studierenden eine Steigerung des Sozialproduktes in der Stadt von ca. 20 Taler pro Student, also schätzungsweise 20.000 Talern. Durch ein Rechenexempel belegt Boockmann, dass mit einem solchen Zuwachs eine Verdoppelung des Sozialprodukts der Stadt erzielt worden wäre. Erler Auszug, S. 8: „Das von den abgefallenen Kardinälen nach Pisa berufene Konzil hatte einen unbestreitbaren Erfolg gehabt. Gregor XII. wie sein Gegner Benedikt XIII. waren entsetzt worden und am 26. Juni 1409 hatte das Konzil Alexander V. zum Papst gewählt. Wie der größte Teil der deutschen Fürsten, so haben sich auch die meißnischen Markgrafen, ohne Rücksicht auf Ruprechts

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1409 verlassen die deutschen Akademiker Prag, am 9.9.1409 wurde die päpstliche Bestätigungsbulle unterzeichnet und am 2.12.1409 im Beisein der Landesherrn der erste Leipziger Rektor gewählt, die Universitätssatzung verlesen und die Universität damit offiziell eröffnet. Kurz darauf gibt sich die Universität Leipzig eigene Statuten – und wie nicht anders zu erwarten, behandeln die ersten 9 der insgesamt 12 Abschnitte das Rektorenamt.14 Die Voraussetzungen für das Wahlamt, der Wahlmodus, die Bekanntmachung der Wahlergebnisse, der Eid und die Pflichten des Rektors werden explizit festgeschrieben. Gewählt werden konnte zunächst nur ein Mitglied aus einer der vier Nationen – in den Statuten von 1409 wurde nur ein Mindestalter von 25 Jahren gefordert.15 Für die Partizipation an den Rechten der vier Nationen war eine zuvor erworbene Graduierung in der Artistenfakultät zunächst die wichtigste Voraussetzung. Offenbar bildete die universitas, bis weit über die Reformationszeit hinaus, eine geschlossene Sphäre,16 in der der frühere weltliche Stand nicht von ausschlaggebender Bedeutung war, vielmehr ein neuer sozialer Status erst erworben werden musste. So schrieben auch die obligatorischen Bekleidungsvorschriften hinsichtlich der Gelehrtentracht (vesticus scholasticus) den Universitätsangehörigen eine äußerlich sichtbare Standesordnung vor: Mützen, Talare, Barett oder Birret, Doktorring.17 Folgerichtig wurde

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ablehnende Haltung, dem neuen Papst genähert. ... Sicher ist, daß, sobald die Wahl in Deutschland bekannt wurde, die Markgrafen Wilhelm und Friedrich Boten mit der Bitte um Bestätigung ihrer Stiftung an die Kurie sandten. Nichts konnte dem Papst erwünschter kommen, als durch die Gewährung der Bitte sich die mächtigen Wettiner zum Dank verpflichten zu können.“ Zarncke, Friedrich: Die Statutenbücher der Universität Leipzig aus den ersten 150 Jahren ihres Bestehens, Leipzig 1861, S. 48-53. Zarncke Statutenbücher, S. 48. Kaufmann I, S. 265: In Paris kamen schon sehr früh noch MindestLehrzeiten für die Wahl ins Rektorenamt hinzu: „Drei Jahre für die Prüfungskommission der Baccalare, sechs Jahre für die der Lizentiaten und für die Wahlfähigkeit zum Rektor.“ Die Grenzen zur ständisch organisierten Außenwelt waren allerdings fließend. Bis in die Gegenwart hält die Diskussion an, ob die Universitäten der kirchlichen, einer klerikalen oder der weltlichen Sphäre zuzurechnen seien, siehe u.a. Kaufmann, Paulsen und in jüngster Zeit Alenfelder (Alenfelder, Klaus Michael: Akademische Gerichtsbarkeit, Baden-Baden 2002.) oder Oexle (Oexle, Otto Gerhard: Alteuropäische Voraussetzungen des Bildungsbürgertums, in: Conze, Werner /Kocka, Jürgen: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil 1, Bildungssystem und Professionalisierung im internationalen Vergleich, Stuttgart 1992, S. 29 ff.). Kaufmann II, S. 82 ff. Besondere Probleme ergaben sich bei der Durchsetzung der Kleiderordnung unter den Scholaren, die gern modischen Trends folgten. Paulsen, Friedrich: Organisation und Lebensordnung der deutschen Universitäten im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift (45) 1881, S. 385-441, hier S. 404: „Ein langer Rock von einfarbig dunklem Zeug für die Scholaren mit Kapuze und Gürtel, während den Magister das Barett auszeichnete ...“; Boehm, Laetitia: Die Verleihung akademischer Grade an den Universitäten des 14.-16. Jahrhunderts, in: Chronik der LMU München, München 1958/59, S. 164 ff., hier S. 172: Das Barett oder Birett der höheren Fakultäten war in der Regel rot, bei den Magistern der Artistenfakultät dagegen braun, die Mützen der Baccalaren waren schwarz. Die Durchsetzung von Kleiderordnungen sorgte vor allem unter den Studenten immer wieder für Unruhe. 1482 kam es deswegen zu einem mehrwöchigen Tumult in Leipzig (Reicke, Emil: Magister und Scholaren. Illustrierte Geschichte des Unterrichtswesens, Fotomechanischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1901, Düsseldorf 1971, S. 26.). Eine schöne Darstellung der akademischen Amtstrachten in Leipzig findet sich auf einem Gemälde aus dem Jahre 1909, das

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das Erscheinen zu akademischen Akten ohne Habit als Abwesenheit angesehen und bestraft. Dem Rektor wurde eine Kleidungsordnung in den Statuten vorgeschrieben: er sollte nicht ohne Kopfbedeckung (aus Fell im Winter oder aus Seide im Sommer) in der Öffentlichkeit erscheinen. Das Geld dafür kam aus den Universitätskassen – allerdings durfte er keinen außergewöhnlichen Aufwand treiben.18 In den ersten Statuten von 1410 wurde das Wahlverfahren in einem komplizierten Regelwerk konstruiert, um nach den Prager Erfahrungen jeglichen Missbrauch auszuschließen. „Jede Nation erwählte zunächst einen Wahlmann; diese vier ernannten sieben andere, erst je einen von den vier Nationen, dann noch je einen von drei Nationen, und zwar so, dass bei jeder Wahl eine andere Nation nur einen Wahlmann erhielt. Diese sieben wählten wieder je einen von jeder Nation und dann einen fünften von der Nation, die in dem zweiten Wahlkollegium nur einen Vertreter hatte. Dieser Fünferausschuss wählte dann den Rektor.“19 Jeder der Wahlvorgänge musste binnen einer Stunde abgeschlossen sein, andernfalls drohte den Wahlmännern eine erhebliche Geldstrafe. Der neue Rektor hatte binnen fünfzehn Tagen sein Amt anzutreten, mit Übernahme der Siegel, der Statuten und durch den beschworenen Amtseid. Zugang zum Universitätsschatz – der Truhe mit dem Siegel, den Privilegienurkunden und dem Geldvermögen der Universität – erhielt der Rektor nur gemeinsam mit zwei weiteren Wahlmännern. Nach den Statuten war er jedoch persönlich verantwortlich für das Universitätsvermögen, das er seinem Nachfolger mit einer Schlussrechnung zu übergeben hatte. Auch musste er die Statuten gut kennen und sollte während seiner Rektoratszeit nicht länger als drei Tage von Leipzig abwesend sein – längere Reisen waren von der Universitätsgemeinschaft vorher speziell zu genehmigen. Bei Krankheiten oder längerer Abwesenheit musste ein vicerector bestellt werden, der die Dienstpflichten in Vertretung wahrnahm. 20 Dem Rektor oblag auch die Rechtsprechung über die Universitätsangehörigen in Zivilund Strafrechtsangelegenheiten. Gerichtsverhandlungen beim Rektor sollten binnen 8 Tagen abgeschlossen sein, soweit sie nicht dem Konsil weiter überantwortet wurden. Gewählt wurde der Amtsinhaber nur auf die Dauer eines Semesters und da die vier Nationen in wechselnder Reihenfolge einen Rektor stellten, war eine Wiederwahl frühestens nach drei Semestern möglich. Nicht nur die Studenten und Lehrkräfte waren der Jurisdiktion des Rektors unterstellt, dazu zählten auch deren Familienangehörige sowie universitätsverwandte Berufe wie Schreiber, Korrektoren oder Illustratoren und schließlich sogar alle jene, die von der Universität oder ihren Studenten lebten.21 Eine derart ausgedehnte

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die vier Dekane und den Rektor im Jubiläumsjahr 1909 darstellt. Das Gemälde hängt heute im Rektorat der Universität Leipzig. Zarncke Statutenbücher, S. 49. Kaufmann II, S. 169. Zarncke Statutenbücher, S. 50-51. In der ersten Hälfte des Jahres war je ein Verantwortlicher aus zwei verschiedenen Nationen zu bestimmen und in der zweiten Jahreshälfte stellten die zwei anderen Nationen je einen Schlüsselbeauftragten. Zarncke Statutenbücher, S. 52.

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Gerichtsbarkeit, deren Grenzen zudem noch äußerst unscharf gezogen waren, musste bald Konflikte mit der städtischen Gerichtshoheit provozieren. Binnen zweier Generationen waren die Differenzen offenbar summarisch angewachsen und 1466 gab es den ersten Vertrag zwischen Stadt und Universität über die Abgrenzung der Gerichtshoheit. Grenzüberschreitende Streitfälle blieben allerdings ein Problem und 1471 eskalierte eine dieser Auseinandersetzungen, die zumeist auf den Straßen handgreiflich ausgetragen wurden, zur Leipziger Schusterfehde.22 Auch innerhalb der Universität blieb die Autorität des Rektors in heftigen Streitfällen nicht unangefochten. 1482 musste der Landesherr tätliche Angriffe auf den Rektor unter Todesstrafe stellen, um studentische Tumulte wegen einer neuen Kleiderordnung einzudämmen.23 Immer wieder wurden die amtierenden Rektoren mit derartigen Exzessen konfrontiert, ohne jedoch die bestehenden Zustände ändern zu können. Während die Besetzung der Dekanatsposten in Leipzig in der Regel an das Doktoratsalter gebunden wurde24 und der erworbene höchste akademische Grad in der jeweiligen Fakultät dafür unumgänglich war, so wurde der Rektor nur über die 22

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Sechs Schustergesellen erließen einen Fehdebrief gegen die Universität und plünderten gemeinsam mit weiteren Kollegen drei Universitätsdörfer. Erst das Eingreifen des Landesherrn beendete die Fehde, vgl. Stübel, Bruno: Urkundenbuch der Universität Leipzig von 1409 bis 1555, Leipzig 1879, S. 194/195. Lehms, M.G.C.: Historische Beschreibung der weltberühmten Universität Leipzig nebst einigen remarquablen Sachen und erlittenen fatis, wie auch einer völligen Nachricht von ihrem am 04.12. des 1709. Jahres solenn-celebrirten Dritten Jubel-Feste, Leipzig 1710, S. 98. Vgl. auch Zarncke Statutenbücher, S. 402: In den zwischen 1471 und 1490 entstandenen Statuten findet sich ein Hinweis dazu „DE HABITU BACCALARIORUM“. Dort heißt es, dass kein Baccalar einen zweigeteilten, offenen Mantel mit einem Iopula (ein mittelalterliches leinenes Untergewand) oder einem wollenen Untergewand darunter tragen sollte, welches sein Geschlecht nicht bedeckte. Auch sollten sie keine anderen unanständigen Kleidungen tragen. Im Falle eines Verstoßes drohten zunächst Geldstrafen und weiterhin die Nichtzulassung zur weiteren akademischen Graduierung in der Artistenfakultät. Nach Gersdorf wurde in der Philosophischen Fakultät, mit ihren vielen Magistern, der Dekan (Senior) zunächst auf ein halbes Jahr, ab 1543 auf ein Jahr, nach wechselnder Nationenzugehörigkeit gewählt. In den höheren Fakultäten wurde das Dekanat bis 1811 auf Lebenszeit vergeben. Bei den Juristen hatte es der mit der Leitung des Spruchkollegiums betraute Doctor Ordinarius inne (Ordinarius), bei den Medizinern und Theologen war es der am längsten mit dem Doktorat versehene Lehrer (Decanus bzw. Primarius). Für die Benennung des Dekanatsamtes ergaben sich seit dem 16. Jahrhundert daher vier unterschiedliche Bezeichnungen in den Fakultäten (Gersdorf, Ernst Gotthelf: Die Rectoren der Universität Leipzig nebst summarischer Übersicht der Inscriptionen vom Jahre der Gründung bis zur Gegenwart. Leipzig 1869, S. 16). Helbig dagegen berichtet über den jährlichen Dekanatswechsel bei den Theologen seit 1543, nach den geänderten Statuten – seit 1558 wurde auch bei der Philosophischen Fakultät der Dekan wieder halbjährlich gewählt (Helbig, Herbert: Die Reformation der Universität Leipzig im 16. Jahrhundert, Gütersloh 1953, S. 87 bzw. S. 114). Otto Kirn berichtet ebenfalls über den jährlichen Wechsel im theologischen Dekanat (Festschrift zur Feier des 500-jährigen Bestehens der Universität Leipzig, Leipzig 1909. Band 1, Otto Kirn: Die Leipziger Theologische Fakultät in fünf Jahrhunderten. Band 2, Friedberg, Emil: Die Leipziger Juristenfakultät, ihre Doktoren und ihr Heim, Leipzig 1909, hier Festschrift 1909, Band 1, S. 46).

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Nationenverfassung bestimmt. Hauptkriterium bei der Wahl des Rektors war die Zugehörigkeit zu einer der vier Nationen nach wechselnder Reihenfolge, die Fakultätsangehörigkeit des Kandidaten war sekundär.25 Latent war jedoch die Fakultätszugehörigkeit des Rektors jedem bewusst und Auseinandersetzungen zwischen den strikt hierarchisch voneinander geschiedenen Fakultäten mussten auch jeweils das Rektorat tangieren. Besonders die Juristenfakultät ignorierte häufig Forderungen oder Entscheidungen des Rektors, wenn dieser aus einer „rangniederen“ Fakultät kam. Als Ideal schwebte den Rechtsprofessoren wohl eine eigene juristische Universität innerhalb der bestehenden Universität vor – so wie die Juristen in Prag bis zum Jahre 1409 auch einen eigenen Rektor hatten.26 Bei den Studententumulten im Jahre 1482 beklagte der Rektor, dass die Doktoren der Juristenfakultät sich mit ihren Schülern gegen die beschworenen Universitätsstatuten und die Aufrechterhaltung der Ordnung verbünden würden „... mit verspottung der unseren.“27 1526 kam es zu einem bewaffneten Zusammenstoß der baccalarei juris mit den Magistern der Artistenfakultät, als die Juristen den Vorrang beim Fronleichnamsfest beanspruchten. Die nachfolgenden Schlichtungsbemühungen des Rektors erkannten die Juristen nicht an, da sie nur ihren eigenen Dekan als Oberhaupt akzeptieren wollten. Erst dem Spruch des Landesherrn beugten sie sich.28 Derartige Geschehnisse in Leipzig waren dabei keine Ausnahme: An der 1502 gegründeten Nachbaruniversität Wittenberg waren anfangs derbe Übergriffe der Akademiker auf Stadtbürger zu verzeichnen, die der Rektor kaum zu unterbinden vermochte, und schließlich eskalierten auch interne Konflikte 1512 soweit „... dass der Rektor der Universität, Ulrich Erbar, von einem Studenten, der sich ungerecht behandelt fühlte, auf offener Straße ermordet wurde.“29 Nach den Statuten war der Rektor ebenfalls für die Immatrikulation der neuen Studenten und für die Führung der Matrikelbücher zuständig. Das umfasste sowohl die persönliche Vereidigung der Studierenden, die Eintragung ihrer Namen in die Matrikel sowie die sorgfältige Führung und Verwahrung der Matrikelbücher – die seit der Frühzeit der Universität Leipzig bis heute vollständig überliefert sind. Durch 25

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„Man berücksichtigte in der älteren Zeit bei der Wahl zunächst die Collegiaten des grossen und des kleinen Fürstencollegiums und bei dem Eintritt der polnischen Nation in die bestehende Reihenfolge zugleich die des Frauencollegiums, dann die wirklichen Mitglieder (actu regentes) oder Assessoren der einzelnen Fakultäten, jedoch in freiester Form ...“ Gersdorf, S. 17. Zarncke, Friedrich: Die urkundlichen Quellen zur Geschichte der Universität Leipzig in den ersten 150 Jahren ihres Bestehens, Leipzig 1857, S. 872/873. Festschrift 1909, Band 2, S. 29. Festschrift 1909, Band 2, S. 29. Vgl. ausführlich dazu Weller, Thomas: Theatrum Praecedentiae. Zeremonieller Rang und gesellschaftliche Ordnung in der frühneuzeitlichen Stadt: Leipzig 1500– 1800, Darmstadt 2006, S. 267 ff. Meinhardi, Andreas: Über die hochberühmte und herrliche Stadt Wittenberg, Leipzig 1508. Übersetzung, Einleitung und Anmerkung von Martin Treu, nachgedruckt, Leipzig 1986, S. 7. Vgl. auch Kaufmann II, S. 179: Der Täter war bereits zuvor von der Universität als Student relegiert und für zwei Jahre aus der Stadt verwiesen worden. Er kehrte heimlich zurück und erschlug den Rektor mit einem eisernen Kreuz. Da er nicht mehr durch die akademischen Privilegien geschützt war, wurde er zum Tode verurteilt und hingerichtet.

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die Art der Geschäftsführung bedingt, sind jedoch die Namen der Studenten nicht vollständig verzeichnet: Nach der persönlichen Vorstellung beim Rektor erfolgte sogleich die Vereidigung mit Schwur auf die Universitätsstatuten und das Gehorsamsversprechen. Die Rektoren trugen die Namen aber nicht sofort in die Matrikel ein, sondern notierten sie wohl erst in einer einfachen Liste, ehe sie, wahrscheinlich zum Ende des Semesters und des Rektorats, fein säuberlich in die Matrikelbücher übertragen wurden.30 Ihrer wichtigen Nachweisfunktion wegen führte der Rektor noch ein weiteres Kopialbuch der Matrikel, welches an einem separaten Orte verwahrt wurde, jedoch bald ein Eigenleben entwickelte und sich im Ergebnis zum Teil erheblich vom Original unterschied. Aus diesem Verfahrensgang resultierte die Mahnung an jeden neuen Rektor (dies war bereits durch den Amtseid zu beschwören), tatsächlich alle Studenten aufzuführen und keinen zu vergessen.31 Die alltägliche Praxis sah jedoch anders aus, weswegen Studenten später um die Korrektur oder die nachträgliche Immatrikulation beim Rektor anfragen mussten.32 Doch umgingen einige Studenten die Immatrikulation bewusst und waren so der Gerichtsbarkeit des Rektors nicht unterworfen. Sie lebten außerhalb der universitären Gemeinschaft in Bürgerhäusern und waren des strengen akademischen Regimes dadurch ledig. Dass es sich dabei nicht nur um Einzelfälle handelte, darauf weisen wiederkehrende Ermahnungen an die Rektoren in den Matrikelbüchern hin, derart „gerichtslose“ Scholaren, unbeaufsichtigt durch einen Magister oder Doktor lebend, nicht unter den Schutz der akademischen Privilegien zu stellen.33 Tatsächlich trugen diese freien Schüler im Jahre 1516 erheblich zur Konfliktverschärfung in einem Streit zwischen dem Fürstencollegium und der Artistenfakultät bei. Auch diese Auseinandersetzung konnte der Rektor (als Verfahrensbeteiligter) nicht schlichten und erst ein vom Landesherrn persönlich ausgehandelter Vergleich stellte den Frieden wieder her.34 30

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Erler, Georg: Die Matrikel der Universität Leipzig. I. Band 1409-1559. II. Band Die Promotionen von 1409-1559. III. Band Register. Leipzig 1895/1897/1902, hier Erler Matrikel I, S. XXXI: Die Eintragung der Studentenamen in der Matrikel erfolgte in vier Gruppen, geordnet nach den vier Nationen in wechselnder Reihenfolge. So konnte der Rektor erst zum Ende des Semesters die Reinschrift vornehmen. Erler vermutet, dass die Namen der Studierenden zunächst nur auf losen Blättern vermerkt wurden, was manchen fehlenden Namen erklären würde. Zarncke Statutenbücher, S. 50: DE IURAMENTO NOVI RECTORIS. Erler Matrikel I, S. XXXI. Erler Matrikel I, S. XVIII: Direkt über dem Schwurblatt der ältesten Matrikel findet sich bereits dieser Zusatz (wahrscheinlich allerdings erst 1516 nachgetragen). Mit der Übergabe des Roten Kollegs im Jahre 1515 und dem Umzug der Artistenfakultät dorthin eskalierte ein Streit mit den Collegiaten des Fürstenkollegiums, der 1516 zu heftigen Tumulten führte. Die Artisten wollten nicht mehr für die Nutzung des Fürstenkollegiums zahlen und lieber die eigenen Räumlichkeiten nutzen. Mit dem landesherrlichen Kompromissvorschlag wurden die Promotionsverfahren auf die unmittelbar nebeneinander liegenden Gebäude verteilt: im Roten Kolleg die Examen, im Fürstenkollegium die feierliche Renunziation und im Vaporarium (einem großen beheizbaren Hörsaal auf dem Hof des Fürstenkollegiums, der auch für Universitätsversammlungen genutzt wurde) fand schließlich der Festschmaus statt. Dazu zahlte die Artistenfakultät an das Fürstenkollegium noch eine hohe Ablösesumme für die entgangenen Einnahmen. Vgl.

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Aus der Immatrikulation35 flossen den Rektoren sogenannte Sporteleinnahmen zu – ebenso wie aus den nach Disziplinaruntersuchungen verhängten Strafgeldern. Aus den Leipziger Statuten ist dazu nichts zu entnehmen, nach den Prager Statuten, an denen sich Leipzig in der Praxis orientierte, stand dem Rektor ein Drittel der Immatrikulationsgebühren zu, der Rest kam in die Universitätskasse.36 Diese besonderen Amtseinnahmen wurden in der Regel recht schnell wieder aufgezehrt, denn die Rektoren bezahlten den Bilderschmuck oder die poetischen Beigaben der Matrikelbücher aus der eigenen Tasche.37 Nachdem zur Ausschmückung der Matrikeleinträge zunächst nur unterschiedliche Farben verwendet wurden, finden sich seit 1485 mit Blattwerk und in Gold ausgeführte verzierte Initialen, Wappendarstellungen der Rektoren und seit 1488 auch bildliche Darstellungen von Heiligen.38 Der Bilderschmuck geht jedoch im Zuge der Reformation allmählich zurück. Stattdessen kamen nach 1532 poetische Beigaben in Mode: „Der Inhalt aller dieser Verse ist ziemlich eintönig. Das Lob des Rectors wird verkündet oder es werden fromme Segenswünsche und Gebete ausgesprochen.“39 Mit dem sich erholenden geistlichen Leben in Sachsen nach der Reformation kehren auch die Illustrationen wieder in die Matrikel zurück, sie werden als Buchschmuck noch bis ins Jahr 1673 weitergeführt.40 Die Bürokratie zu jener Zeit war allerdings viel ausgeprägter als die Statutentexte vermuten lassen und verlangte dem Rektor einiges an Arbeit ab. Auf eigene Beamte konnte der Rektor sich dabei nicht stützen, ihm zur Seite standen nur Wahlbeamte, die seine Tätigkeiten (im Sinne der abordnenden Korporation, von der sie kamen, seien es Nationen, Fakultäten oder Kollegien) eher überwachten als unterstützten. Aus dem Arbeitsumfeld des Rektors finden sich nur wenige schriftliche Belege, er erscheint daher als Figur, die mehr interagieren als agieren konnte. Eine schriftliche Quelle und das zugehörige Notariatsamt werden bei Zarncke jedoch

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Franke, Erich: Die Universitätsgebäude von 1409 bis ins 17. Jahrhundert, in: Leipziger Universitätsbauten. Die Neubauten der Karl-Marx-Universität seit 1945 und die Geschichte der Universitätsgebäude, Leipzig 1961, S. 121-166, hier S. 145-149 sowie weiter dazu Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste. 64 Bände und 4 Supplementbände, Band 16, Halle/Leipzig 1737, S. 1687-1688. Dazu auch Erler Matrikel I, S. XVIII. Franke, S. 149. Zarncke verweist auf ein Musterformular in der Rektoratskanzlei zum Einladungsverfahren für den Doktorschmaus aus dem Jahre 1526 (Zarncke Statutenbücher, S. 139). Erler Matrikel I, S. LVI-LVII. Vgl. auch Kaufmann II, S. 173. Erler Matrikel I, S. XXV. Erler Matrikel I, S. XXIV. Der Rektor des Wintersemesters 1488, Wenceslaus Fabri, hatte seinen Namenspatron Wenzel in der Matrikel seines Amtssemesters illustrieren lassen. Erler Matrikel I, S. XXVII. Seit 1673 (Erler, Georg: Die jüngere Matrikel der Universität Leipzig 1559-1809. I. Band 1409– 1559. II. Band 1634-1709. III. Band 1709-1809, Leipzig 1909, hier Erler jüngere Matrikel II, S. V.) war es nicht mehr gebräuchlich, den Matrikeleintragungen Schmuckblätter voranzustellen. Erst 1809 wird wieder ein ganzes Schmuckblatt der Immatrikulation der drei sächsischen Prinzen Friedrich August, Clemens und Johann gewidmet (Universitätsarchiv Leipzig UAL, Rektor M 11, 1809). Etwas Vergleichbares tritt bis zum Ende der Matrikelbücher (1950) nicht wieder auf. Denn einerseits war diese Ehrung eine sehr unauffällige und andererseits verloren die Matrikelbücher als wichtigstes Dokument neben den Statuten immer weiter an Bedeutung.

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ausführlich behandelt, das als Pergamenthandschrift geführte libellus formularis.41 In dieser 1495 entstandenen Textsammlung wird Vieles aus dem Alltagsleben der mittelalterlichen Universität Leipzig in einzigartiger und anschaulicher Form sichtbar.42 Der Verfasser war Ioh. Fabri de Werdea,43 der nach 1440 wahrscheinlich in Donauwörth geboren wurde. Im Sommersemester 1470 wurde er in Leipzig in die Matrikel eingeschrieben, er promovierte zum Magister artium und begann ein weiteres Studium an der Juristischen Fakultät, das er mit dem Baccalaureat beider Rechte beendete. Gut zehn Jahre später, 1481, hat er eine feste Kollegiatur am Kleinen Fürstenkolleg. Im Sommer 1486 wird er Rektor und im darauf folgenden Semester Dekan der Artistenfakultät. Nebenher bekleidet er schon seit dem Jahre 1480/81 das Amt eines Notarius der Universität, er selbst bezeichnet sich als „insignis studii Lipsensis notarius“. Zu seinen Amtsgeschäften gehörte nicht nur die sorgfältige Protokollierung der Universitätsversammlungen, sondern auch die Überwachung der Geschäfte zwischen Stadtrat und Universität.44 Um die Übersicht über den Universitätsschriftverkehr zu behalten und auch, um sich die Arbeit durch vereinheitlichte Textvorlagen zu erleichtern, legte Werdea ein Formularbuch an, in dem er die Briefe und angeführten Wendungen notierte. Er war also mit den Amtsgeschäften eines Rektors gut vertraut und noch dazu bemüht, die ordnungsgemäße Verwaltung weiter zu verbessern; Zarncke bescheinigt ihm einen besonderen „… Sinn für Ordnung und Genauigkeit.“ Vermutlich zieht er sich durch seine penible Amtsführung in der Fakultät und in der Universität einflussreiche Feinde zu. Augenscheinlich suchte er deshalb Zuflucht in den Statutentexten, um sich zu rechtfertigen, denn 1495 ordnet er die aus seiner Amtstätigkeit resultierenden wichtigen Schreiben in einem libellus formularis zusammen, 1497 erstellt er eine Abschrift der Statuten des Kleinen Fürstenkollegs und 1498 entsteht von seiner Hand auch eine neu geordnete Textausgabe der Statuten der bayrischen Nation. Mitten in diesen Aktivitäten, im Winter 1498/1499 verliert er unverhofft sein Amt als Notarius – das libellus formularis übergibt er unter diesen Umständen nicht seinem Nachfolger. Erst nach seinem Tod 1505 wird es von einem seiner Vertrauten dem Rektor ausgehändigt. Das libellus selbst ist vom Textumfang gut doppelt so umfangreich wie die von Borner 1543 redigierte Statutenfassung und enthält 146 verschiedene Formschreiben, zu denen Zarncke noch 10 weitere beifügt.45 Die Sammlung beginnt mit dem Mandat 41 42 43

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Zarncke Statutenbücher, S. 97-154. Zarncke, Friedrich: Die deutschen Universitäten im Mittelalter, Leipzig 1857, S. X. Alle weiteren Angaben zu seiner Tätigkeit und seiner Biographie aus Zarncke Universitäten, S. 257-261. Alle schriftlichen Verhandlungen wurden von Werdea im Liber actorum inter senatum et universitatem seit 1494 aufgezeichnet. Dieses Buch umfasst rund 250 Blatt und wurde noch bis ins Jahr 1556 weitergeführt (Zarncke urkundliche Quellen, S. 629-631). Die ersten 118 Texte stammen von Werdea, dann folgen 21 von Georg a Szoda zwischen 1533 und 1534, schließlich 7 weitere Textpassagen aus den Jahren 1551-1554. Zarncke fand die zusätzlichen Formulare in der Matrikel (Zarncke Statutenbücher, S. 151-154).

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zur Wahl des neuen Rektors und reicht über Einladungen zum Universitätsgottesdienst (mit Androhung von Geldstrafen bei Abwesenheit), über Aufforderungen zur Teilnahme an Vorlesungen zum Universitätsstatut bis hin zu Vorlagen für das alltägliche Bürogeschäft. Darin finden sich für die Sozialgeschichte interessante Vorladungen von Studierenden, Texte zu Relegationen und Exklusionen von Studenten, Ankündigungen zu Aussetzungen des Lehrbetriebes wegen Gewalttätigkeiten, Briefe über den Ausschluss nichtimmatrikulierter Studenten vom Unterricht, das Verbot unschicklicher Kleidung, Mandate gegen nächtlichen Lärm, Mandate über die Zahlung von Beleuchtungsgeld für Kerzen, Verbote die Kloakenreiniger zu beleidigen, die Diener bei Festschmäusen zu beleidigen, um Geld zu spielen, Abfall oder Urin auf Personen auszuschütten, Schwerter oder andere Waffen zu führen, Mandate gegen Schmähschriften; weiterhin unterschiedliche Zeugnisbescheinigungen über das absolvierte Triennium, für Baccalaren bzw. Magister in der Artistenund der Theologischen Fakultät, Pässe und Reisebescheinigungen für Zoll- und Geleitfreiheit, Genehmigungen für den ständigen Aufenthalt in Nicht-Universitätsquartieren, Einladungen zur feierlichen Promotion (pro aula doctorandum) und zum Doktorschmaus, schließlich formelle Anschreiben an den Merseburger Bischof (u.a. zur Ernennung des Vice-Kanzlers) und an den Landesherrn. Der Rektor war also wesentlich stärker an allen offiziellen Akten der Gesamtkorporation, Gottesdiensten und den zugehörigen Prozessionen oder festlichen Umgängen, sowie an den akademischen Akten und Promotionen in den Fakultäten mit beteiligt, als die wenigen Passagen zu seinem Amt in den Statuten vermuten lassen. Dabei beginnt sich spätestens mit der Reformation auch die Rolle der Universität innerhalb der Stadtmauern zu wandeln. Aus den Akademikern, die dem geistlichen Stand zugeordnet werden und gemeinschaftlich wohnen und arbeiten, werden Bürger mit eigenem Haus und vielköpfigen Familien. Zugleich gewinnt die Universität erheblich an materieller Ausstattung – dank der engagierten Tätigkeit ihres Rektors Caspar Borner (1492–1547).46 Borner war seit 1507 in Leipzig immatrikuliert, schloss sich dem Humanisten Johann Rhagius (Aesticampianus, 1457–1520) an und zog um 1511 gemeinsam mit ihm nach Italien. 1522 kehrte er als Rektor der Thomasschule nach Leipzig zurück und erhielt 1538 eine Kollegiatur am Fürstenkolleg. Während seiner drei Rektoratssemester (Wintersemester 1539, Wintersemester 1541, Wintersemester 1543) bemühte er sich um die Reform der Universität und konnte zugleich in Verhandlungen mit Herzog Moritz die materielle Fundation der Universität erheblich verbessern. Dank seiner Initiative und seines Verhandlungsgeschicks erhielt die Universität nicht nur die Bibliotheken aufgelöster Klöster (allein aus dem Leipziger Dominikanerkloster rund 600 Bände), sondern sie konnte auch den Gebäudekomplex der Dominikaner mitsamt der Paulinerkirche als Eigentum übernehmen und wurde zudem noch mit den neu übertragenen fünf Dorfschaften aus dem Besitz des ehemaligen Thomasklosters reich belehnt.47 46

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Ausführlich dazu Kößling, Rainer: Caspar Borner, in: Wiemers, Gerald: Sächsische Lebensbilder. Band 5, Stuttgart 2003, S. 45-74, hier S. 59-73. Gretschel, S. 27-28.

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Dabei war die Verhandlungsposition des Rektors bei den vorbereitenden Gesprächen alles andere als einfach gewesen, nur für ein Semester mit der Amtsführung beauftragt, hatte er sich gegen die Ansprüche des Rates der Stadt und gegenüber den fürstlichen Räten zu behaupten.48 Gleichzeitig war Borner auch noch mit einer Universitätsreform wegen der neuen konfessionellen und politischen Verhältnisse beschäftigt und hatte mit Widerstand aus den eigenen Reihen zu kämpfen. Zumindest eine Fakultät war 1542 auch nicht bereit, für die geplanten Reformen Eingriffe in ihre alten Korporationsrechte hinzunehmen. „Die erhoffte Bestätigung der großen Stiftung zögerte sich eine Zeitlang hin. Die Universität blieb indessen nicht untätig. Vor allem ging man an die Umarbeitung der Satzungen, worüber eine auf den 4. März einberufene Universitätsversammlung zu Gehör kam. Caspar Borner, der das Archiv der Universität gut kannte und darin Ordnung geschaffen hatte, nahm sich dieser Aufgabe mit an; waren doch die Fundationsurkunden, Privilegien, Statuten u.a. zur Einsicht des Herzogs und der Regierung nach Dresden eingefordert worden. Ein Ausschuss zur Beratung der Abänderungswünsche wurde bestellt und mit der Bearbeitung der neuen allgemeinen Satzung der Universität Camerarius49 beauftragt, der den gewünschten Entwurf rasch fertig stellte. Auch drei der Fakultäten, die theologische, die medizinische und die philosophische, gingen auf die Satzungsänderung ein. Nur die Juristenfakultät wies das Ansinnen zurück; sie gab durch ihren Senior (Ambr. Rauch, einst Propst zu St. Thomae) zur Antwort: die Fakultät wundere sich, dass der Rektor die juristischen Statuten abzufordern wage, die selbst dem Fürsten Georg versagt worden seien. Die Fakultät habe sich ihre Satzung selbst gegeben und werde sie von sich aus ändern, ohne den Fürsten und den Rektor. In der Tat legte sie, ihren Anspruch auf Selbstverwaltung wahrend, neue Satzungen nicht vor.“50 Die neu geschaffenen Statuten der Universität und der drei Fakultäten wurden schließlich am 16. April 1543 in einer feierlichen Universitätsveranstaltung verkündet. Anstelle der ursprünglichen 12 Paragraphen von 1410 weisen die neuen Universitätsstatuten des Jahres 1543 nunmehr 17 Hauptartikel und 34 Ergänzungsparagraphen (die sich auf das akademische Gerichtswesen bezogen) auf – die Textmenge hatte sich damit gut verdreifacht. An der wackligen Machtfülle des Rektoramtes51 hatte sich in Leipzig aber nichts geändert: der Rektor hatte nicht nur äußerste Vorsicht den inneren Mächten (den Fakultäten und Dekanen, den Kollegien und Nationen) gegenüber an den Tag zu 48

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Kößling, S. 57: Unter diesen Bedingungen kam Borner, der sich im Oktober 1539 gerade von einer Kurreise nach Leipzig zurückkehrend, nun als Rektor wiederfand, die Wahl durchaus nicht gelegen. Joachim Camerarius, 1500–1574. Helbig Reformation, S. 67/68: Die von den anderen Gremien der Universität am 22.3.1542 nach Dresden übersandten Satzungen und Dokumente scheinen für die Bewilligungsurkunde der neuen Universitätsfundation vom 26.5.1542 auch nicht herangezogen worden zu sein. Zumindest lagen sie ohne weiteren Bezug noch bis Januar 1543 in Dresden. Kaufmann II, S. 182: „Die Rektoren begnügten sich, die laufenden Geschäfte zu erledigen, und glücklich war, dem das zur Befriedigung gelang.“ und weiter S. 185: „Wichtige Angelegenheiten schleppten sich von einem Rektorat in das andere hinüber und wurden ohne Kraft und Geschick verrichtet.“

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legen – nunmehr gewannen die äußeren Mächte, insbesondere der Landesherr einen sehr viel weiter reichenden Einfluss auf die Universitätsgeschäfte: „Hoch geehrt und viel getadelt zu werden, das war das wahrscheinlichste Los, das den Rektor erwartete.“52 Besonders der Landesherr gewinnt nach 1542 als Schutzherr der Universität wesentlich mehr Einfluss, zunächst durch das Besetzungsrecht über die landesherrlich gestifteten Professuren und weiterhin über das Merseburger Bistum und das damit verbundene Kanzleramt. Denn nach dem Tod des letzten katholischen Bischofs53 begleiten die Wettiner als Administratoren54 fortan die Geschicke des Bistums. Das bedeutete aber auch, dass die weltliche Stellung einzelner Akademiker in der protestantischen Universität ebenfalls an Gewicht zulegte und auf die akademische Standeshierarchie zurückwirkte. Deutlich sichtbar wird das wiederum in den Passagen zum Rektorat. Nach dem Statut von 1543 kam nur ein guter, kluger, ehrenhafter und frommer Mann in Frage, der als Mitglied der akademischen Korporation älter als 25 Jahre und kein Stadtbürger sein sollte. Bereits in den nächsten Sätzen wird diese Altersbeschränkung erheblich gelockert und auch jüngeren Kandidaten die Rektorabilität zugestanden, wenn sie fürstlichen Geblüts seien und ihnen ein Beisitzer für das Amt zugeordnet werde.55 Bereits 1475 hatte es erstmals einen hochadligen Studentenrektor, Adolf von Anhalt-Zerbst56, gegeben. Im Sommersemester 1475 wurde der Fürst und Landesherr, der bereits 1471 im Alter von 13 Jahren an der Universität immatrikuliert worden war, zum Rektor gewählt. Er hat diese Funktion wohl auch tatsächlich ausgeübt, denn ein spezieller Amtsverweser wird in der Matrikel nicht erwähnt.57 Doch erst mit der Regeländerung von 1543 wurde diese Möglichkeit von der Universität sehr viel häufiger genutzt. Als Ursache dafür kommt wohl auch das stärkere Interesse der Landesherren an Universitätsreformen in Betracht, dem ein hochadliger Rektor als Standesgenosse eher entgegenzutreten vermochte. Tatsächlich hat es in Leipzig eine ganze Reihe hochadliger Studentenrektoren gegeben, denen immer ein erfahrener Akademiker als eigentlicher Amtsverwalter (Adiunctus Prorector) zugeordnet wurde. 52 53

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Kaufmann II, S. 185. Michael Helding, genannt Sidonius, geboren 1506 bei Riedlingen (Schwaben), Studium in Tübingen (Magister 1528) und in Mainz (Dr. theol. 1543), er starb 1561 in Wien. „Karl V. setzte H.s Wahl zum Bischof von Merseburg am 28.5.1549 durch; die päpstliche Bestätigung erfolgte erst am 16.4.1550.“ Bautz, Friedrich-Wilhelm /Bautz, Traugott: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, online unter http://www.bautz.de/bbkl/h/ helding_m.shtml. Nach dem Tode seines Sohnes Alexander (1554-1565) übernahm Kurfürst August von Sachsen (1526–1586) selbst die Administration des Stifts. Vgl. auch Schirmer, Uwe: Die Verfassung des Hochstifts Merseburg vom Ende des 15. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, in: Kund, Holger /Ranft, Andreas /Sames, Arno /Wittmann, Helge: Zwischen Kathedrale und Welt. 1000 Jahre Domkapitel Merseburg, Petersberg 2005, S. 121 ff., hier S. 127. Zarncke Statutenbücher, S. 77. Neue deutsche Biographie, Berlin 1953, Band 1, S. 85. Erler Matrikel I, S. 298.

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Die Leipziger Universitätsrektoren und ihr Amt bis 1933

Namen der studentischen Rektoren bzw. der Prorektoren

Rektoratssemester

Ulrich Johann, Herzog von Schleswig Adiunctus Prorector Franz Romanus, Dr. iur. Philipp Julius, Herzog von Pommern (immatrikuliert WS 1601) Adiunctus Prorector Andreas Hommel, Dr. iur. Adolph Friedrich, Herzog zu Mecklenburg (immatrikuliert SS 1604) Adiunctus Prorector Michael Wirth, Dr. iur. Johann Philipp, Herzog zu Sachsen (immatrikuliert SS 1612) Adiunctus Prorector Michael Wirth, Dr. iur. Johann Philipp, Herzog zu Sachsen (immatrikuliert SS 1612) Adiunctus Prorector Leopold Hackelmann, Dr. iur. Johann Philipp, Herzog zu Sachsen (immatrikuliert SS 1612) Adiunctus Prorector Christoph Bruno, Dr. med. Johann Philipp, Herzog zu Sachsen (immatrikuliert SS 1612) Adiunctus Prorector Wolfgang Corvinus, Lic. med. Georg Ernst, Herr von Schönburg (immatrikuliert WS 1616) Adiunctus Prorector Christoph Preibisius, Dr. iur. Georg Ernst, Herr von Schönburg (immatrikuliert WS 1616) Adiunctus Prorector Johannes Stieglitz, Dr. med. Jacob, Herzog von Livland, Kurland und Semgallen (immatrikuliert WS 1622) Adiunctus Prorector Philipp Müller, Lic. med. Jacob, Herzog von Livland, Kurland und Semgallen Adiunctus Prorector Sigismund Finckelthaus, Dr. iur. Janusz Radziwill, Herzog von Birze (immatrikuliert WS 1628) Adiunctus Prorector Polycarp Leyser, Dr. theol. Heinrich X. Reuss jüngere Linie von Plauen (immatrikuliert SS 1638) Adiunctus Prorector David Lindner, Dr. iur. Heinrich X. Reuss jüngere Linie von Plauen (immatrikuliert SS 1638)

1595 Sommersemester 1595 Sommersemester 1602 Sommersemester

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1602 Sommersemester 1604 Wintersemester 1604 Wintersemester 1612 Wintersemester 1612 Wintersemester 1613 Sommersemester 1613 Sommersemester 1613 Wintersemester 1613 Wintersemester 1614 Sommersemester 1614 Sommersemester 1618 Wintersemester 1618 Wintersemester 1619 Sommersemester 1619 Sommersemester 1623 Sommersemester 1623 1623 1623 1629

Sommersemester Wintersemester Wintersemester Sommersemester

1629 Sommersemester 1641 Wintersemester 1641 Wintersemester 1642 Sommersemester

Die Leipziger Universitätsrektoren und ihr Amt bis 1933

Namen der studentischen Rektoren bzw. der Prorektoren

Rektoratssemester

Adiunctus Prorector Johannes Ittig, Lic. med. Heinrich X. Reuss jüngere Linie von Plauen (immatrikuliert SS 1638) Adiunctus Prorector Johannes Philippi, Dr. iur.

1642 Sommersemester 1642 Wintersemester 1642 Wintersemester

Schon in den ersten Statuten fanden sich Hinweise auf die Möglichkeit, die Wahl zum offenbar wenig beliebten Rektoramt auch ablehnen zu können. Camerarius legte daher eine Strafgebühr von 30 Gulden fest, falls keine schwerwiegenden Gründe für die Rückweisung der Wahl geltend gemacht werden konnten.58 Dabei blieb das komplizierte, aber auf eine kurze Wahldauer ausgelegte Verfahren weitgehend unverändert. Nach der Wahl sollte der neue Rektor binnen eines Monats sein Amt öffentlich antreten und vom vorhergehenden Rektor die Siegel und die Statuten übernehmen. Er hatte dann, wie auch in den alten Statuten gefordert, einen Amtseid zu leisten und die Verwaltung des Universitätsschatzes (gemeinsam mit zwei weiteren Schlüsselträgern) zu übernehmen. Auch hier galt wieder, dass er die Universität repräsentierte und daher seine Kleidung und sein Aussehen nicht vernachlässigen sollte.59 Mit dem Zerbrechen der geistlichen Körperschaft der Lehrenden und Lernenden in eine weltliche konstituierte Gemeinschaft, die zerstreut über das Stadtgebiet in bürgerlichen Quartieren lebte, sorgte sich Camerarius offenbar auch stärker um den rechtlichen Zusammenhalt der universitas. In einem Anhang zu den Statuten reiht er strafwürdige Vergehen auf und benennt sogleich das Strafmaß.60 Dabei sind auch die nächsten Jahre nicht gerade von einer friedlichen Nachbarschaft zwischen Stadt und Universität geprägt und stellen die nachfolgenden Rektoren vor schwierige Prüfungen.61 Ganz neuartige Probleme entstehen aus einem Zusammenstoß mit den Interessen des mächtigen Landesherrn, auf den schließlich rigide Eingriffe von Kurfürst August (1526–1586) in die korporativen Rechte der Leipziger Universität folgen. Der Kurfürst, der zugleich Administrator des Stifts Merseburg war, wollte 1580 einen dem 58 59 60 61

Gretschel, S. 56. Zarncke Statutenbücher, S. 78-80. Zarncke Statutenbücher, S. 84 ff. Eine Auswahl von Ereignissen in den nächsten 30 Jahren belegt dies eindrucksvoll. Den theoretisch fixierten Neuansprüchen der Universitätsreformen und des protestantischen Neubeginns stehen die Probleme einer weiterhin ständisch organisierten Gesellschaft gegenüber: 1545 – Kämpfe zwischen Studenten und Bürgern. Erneute Androhung des Auszuges seitens der Studentenschaft. 1547 – Ein Student wird von einem Kürschnergesellen tödlich verwundet. 1565 – Vergleich zwischen dem Rat und der Universität wegen des Kredits an Studenten. 1567 – Vier Studenten versuchen von einem Apotheker aus Wittenberg unter Todesandrohungen Geld zu erpressen. Der Anschlag misslingt jedoch. 1579 – Ein Student wird wegen Diebstahls mit dem Schwert hingerichtet. 1585 – Großer Tumult zwischen Studenten und Bütteln. 1588 – Große Schlägerei auf dem Markte zwischen Studenten und Schuhknechten. Alle Angaben nach Datenbank UAL, Chronik zur Universitätsgeschichte.

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Landesherrn verpflichteten „... allgemeinen und beständigen Prokanzellar der Hochschule ...“62 installieren und die Rektorabilität sollte ausschließlich an die landesherrlichen Stiftungsprofessuren gebunden werden. Hintergrund für diese Entscheidung bildete die Aufdeckung des Kryptocalvinismus am Dresdner Hofe im Jahre 1573. Darauf wurden im Jahre 1574 die Torgauer Artikel für die Reinheit des Glaubens verfasst, die von allen Geistlichen und Lehrenden zu unterzeichnen waren.63 Bei der 1576 folgenden Universitätsvisitation legte ein politisch vertrauter, auswärtiger Berater dem Kurfürst eine ganze Reihe von Verbesserungsvorschlägen vor, die im Wesentlichen auf eine Einengung der bisherigen korporativen Selbstverwaltung hinausliefen und selbst von den einheimischen Räten des Kurfürsten nicht befürwortet wurden.64 Auf dem Landtag zu Torgau 1579 gelangen die unterschiedlichen Auffassungen zur Aussprache: mit den Universitäten, Teilen der fürstlichen Räte und dem größeren Teil der Landstände auf der einen und dem Kurfürsten und seinem württembergischen Beamten auf der anderen Seite. Nun wurde der Kurfürst seinen eigenen Räten gegenüber misstrauisch und versuchte sie aus ihrer Loyalitätspflicht gegenüber den Universitätskorporationen zu entbinden. Dazu gehört auch, dass er sie von den geschworenen Eiden, die sie lebenslang auf das Wohl der Universität verpflichteten, zu lösen suchte. Eher unwillig folgte die Universität dem strikten Wunsch des Landesherrn, behielt jedoch die Auffassung bei, dass die Entsagung von den Eiden nur die Privilegien betreffe – die Verpflichtungen gegenüber den akademischen Korporationen davon aber unbetroffen blieben. Wohlweislich informierte sie den Landesherrn allerdings nicht von ihrer Rechtsauffassung in dieser Sache.65 Die Rechtsminderung innerhalb des bisherigen Ständesystems war jedoch schwerwiegend, als der Immatrikulationseid 1579 dahingehend geändert werden musste, dass die Bindung an die Hochschule auf die Zeit des Aufenthalts an der Korporation beschränkt wurde. Eine Erleichterung war diese Einengung allenfalls für die Rektoren, denn damit wurden zugleich die ausufernden Problemfelder der akademischen Gerichtsbarkeit reduziert.66 Mit dem Tod des Kurfürsten August endeten diese Reformexperimente und die Fakultäten kamen um die Wiederherstellung ihrer alten Rechte, schon wegen der daran geknüpften Einnahmen, bei seinem Nachfolger ein.67 Christian I. von Sachsen 62

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Erler jüngere Matrikel I, S. LXXII. Das Amt des Procancellarius perpetuus bestand nur von 1580 bis 1586. Dazu auch Erler Magisterschmäuse, S. 13. Helbig Reformation, S. 122. Die Änderungen sollten greifen bei der „... Wahl des Rektors und des Dekans der philosophischen Fakultät, dem Verfahren bei Besetzung der Professuren, vor allem der Bestellung eines Kanzlers der Universität, der die Befugnisse eines Generalsinspektors über den gesamten Studienbetrieb, auch über die Promotionen ausüben sollte.“ Weiterhin sollte ein einheitlicher Universitätsfiskus an Stelle der vielen einzelnen Kassen treten. Siehe dazu Helbig Reformation, S. 125. Erler jüngere Matrikel I, S. L. Ab dem Jahre 1699 wurde statt eines Eides nur noch ein Gehorsamsversprechen verlangt, vgl. Erler jüngere Matrikel III, S. XI. Zum Verhältnis der Universität Leipzig als ständische Korporation in Bezug auf den Landesherrn, vgl. u.a. Blettermann, Petra: Die Universitätspolitik Augusts des Starken 1694–1733, Köln 1990

Die Leipziger Universitätsrektoren und ihr Amt bis 1933

(1560–1591), der eine liberale Auslegung der Kirchenpolitik zum Zentrum seiner außenpolitischen Bemühungen machte, ordnete 1587 eine Visitation an, die nach Bericht an die Landstände im Jahre 1588 zu einer neuen Universitätsordnung führte: „... Rektor und Dekanen wurde ihr Aufsichtsrecht in Universitätsangelegenheiten wieder eingeräumt, die Bedeutung des Kanzleramtes geschwächt, die Verpflichtung auf die Konkordienformel aufgehoben.“68 Die Bindung an die lutherische Glaubenslehre blieb jedoch bestehen – so erhielt die Universität eine ernsthafte Ermahnung aus Dresden, als sie im Jahre 1629 den reformierten Fürsten Radzivil zum Rektor ernannte.69 Die zerbröckelnde Rechtsbasis der Universität in der wettinischen Landesherrschaft bewirkte auch innere Veränderungen, die von außen an die Universität herangetragen wurden. Spätestens als der Landesherr 1685 die Verwaltung der Fakultätsgeschäfte und den Zugang zu den Fakultätsämtern ausschließlich an die Stiftungsprofessuren band, wurde in der Artistenfakultät (und auch in den anderen Fakultäten) der akademische Verbund der lehrenden Magister aufgelöst.70 Der Zugang zur Fakultät qua Professur bewirkte zugleich eine Abschottung der Magister und Doktoren in zwei unterschiedliche Gruppen. Der Titel des besoldeten Professors bezeichnete nun einen sozial höherrangigen Titel und in der Folge wurden die Rektoren im 18. Jahrhundert fast ausschließlich aus der Gruppe der fest besoldeten Magister und Doktoren gewählt. Das engte aber auch die Personalbasis der bisherigen Nationen ein und erzeugte Nationen mit einer breiten Schar rektorabler Kandidaten und daneben bewerberschwache Nationen. Der Wechsel von einer Nation in die andere konnte sich daher für Professoren als lukrativ erweisen – auch wegen der Partizipation an weiteren Pfründen und Privilegien.71 Der Verlust der bisherigen Korporationsbindung und die Orientierung hin zur besonderen Untertanenelite im kursächsischen Landesverband werden allmählich auch in der akademischen Symbolik sichtbar. Die Rektoren wählen zur Ausschmückung ihrer Porträts in der Matrikel nicht nur die bisherigen Zeichen ihres Gelehrtenstandes (Buch, Doktorring, Doktorhut), sondern auch Darstellungen fürstlicher Huldbeweise, vermehrt kommen sogenannte „Gnadenketten“ in Mode. Bereits zu früheren Zeiten wurden solche oft mit dem jeweiligen Medaillon des Verleihers

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sowie Hufen, F: Über das Verhältnis der Territorialstaaten zu ihren Landesuniversitäten im alten Reich, München 1955. Zu den Hintergründen kursächsischer Reformierungs- und Zentralisierungsbestrebungen in dieser Zeit, vgl. Rudersdorf, Manfred: Tübingen als Modell? Die Bedeutung Württembergs für die Vorgeschichte der Kursächsischen Universitätsreform von 1580, in: Kohnle, Armin /Engehausen, Frank: Zwischen Wissenschaft und Politik. Studien zur deutschen Universitätsgeschichte. Festschrift für Eike Wolgast zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2001, S. 67-85, hier S. 82. Helbig Reformation, S. 132. Gretschel, S. 54. Gretschel, S. 95. Dass es keinen Protest seitens der Fakultät gab, lässt vermuten, dass die Fraktionierung in „ordentliche Professuren“ und von der Fakultätsverwaltung ausgeschlossene Lehrkräfte längst Teil des akademischen Alltags war. Mühlpfordt, Günther: Zwischen Tradition und Innovation: Rektoren der Universität Leipzig im Zeitalter der Aufklärung, in: Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld. Herausgegeben von Hanspeter Marti und Detlef Döring, Basel, 2004, S. 111-194, hier S. 136/137.

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verziert. Sporadisch verliehen, dienen sie aber zunächst nur der persönlichen Rangerhöhung und wurden nicht zu äußeren Zeichen der Rektoratswürde. Im Sommersemester 1659 lässt sich der Rektor der Universität Leipzig, Johannes Michaelis, gleich mit zwei Gnadenketten auf einem Porträt in der Matrikel darstellen.72 Etwa zur gleichen Zeit, in der die Gelehrtentracht73 in den Universitäten allmählich von einer bürgerlich-weltlichen Tracht abgelöst wird, kommen wohl auch besondere Amtstrachten für den Rektor und die Dekane auf. Etwa um 1680 wagt es der frisch promovierte Christian Thomasius (1655–1738), zu seinen Vorlesungen „... statt im schwarzen Talar im bunten Gewand und mit dem Degen auf dem Katheder ...“ zu erscheinen, was damals noch ziemliches Aufsehen erregt.74 Gut 20 Jahre später lässt sich dagegen der Rektor Johann Schamberg (1667–1706) nicht wie bisher üblich in dunkler Gelehrtentracht, sondern stattdessen mit einem „Rektormäntelchen“ – als Zeichen seiner Amtswürde – auf einem Gemälde darstellen.75 Der Rektor erscheint nicht mehr nur als das Oberhaupt der Universität, sondern als ein öffentlicher Repräsentant in einer bürgerlichen Welt, die den Prunk liebt, aber auch von Leistungserwartungen geprägt wird und sich auf ein staatliches Machtzentrum hin fixiert. Als am 10.04.1714 der Rektor Gottfried Gerhard Titius (1661–1714) während seiner Amtszeit verstirbt, erwächst daraus ein weltliches Zeremoniell, das neue Dimensionen setzt.76 Vier Wochen lang wurden die Glocken der Paulinerkirche und der Kirchen in den Universitätsdörfern täglich von 11–12 Uhr geläutet, vier Wochen lang erschienen die Professoren öffentlich im „Trauermantel“, die Leiche des Rektors wurde öffentlich aufgebahrt und bei der Grablegung hatten die Bewohner der Universitätsdörfer in Trauerkleidung Spalier zu stehen.77 Der Rektor im Ornat wird nun zugleich wichtigster Teilnehmer bei allen öffentlichen akademischen Akten und übernimmt die nach außen sichtbare Verkörperung der Universität – sogar die Stadtsoldaten grüßen ihn als Amtsperson, wenn er das Stadttor durchschreitet.78 Um 1779 berichtet ein anonymer Zeitgenosse über das akademische Promotionsverfahren in der Medizinischen Fakultät unter zeremonieller Mitwirkung des Rek72 73

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UAL, Rektor M 08. Kaufmann II, S. 82 ff. Paulsen, Organisation, S. 404: „Ein langer Rock von einfarbig dunklem Zeug für die Scholaren mit Kapuze und Gürtel, während den Magister das Barett auszeichnete ...“. Boehm, S. 172: Das Barett oder Birett der höheren Fakultäten war in der Regel rot, bei den Magistern der Artistenfakultät dagegen braun, die Mützen der Baccalaren waren schwarz. Kittel, Rudolf: Die Universität Leipzig und ihre Stellung im Kulturleben, Dresden 1924, S. 19. Zier und Zeichen. Kabinettausstellung zum 150. Jubiläum der Rektorkette. Begleitheft zur Ausstellung in der Studiensammlung, Leipzig 2005, S. 42. Christoph Preibisius (1580-1651) war mehrfach Rektor der Universität und starb am 01.03.1651 während seiner Amtszeit. Zu seiner Grablegung oder dem entsprechenden Zeremoniell existieren keine besonderen Akten im UAL. Reicke, Emil: Der Gelehrte in der deutschen Vergangenheit, Nachdruckauflage der 1924 erschienenen zweiten Fassung, Köln ohne Jahr, S. 31. UAL, Rep. 01/02/008 Acta, die Exequien des verstorbenen Rector. Magnif. Dr. Gottlieb Gerhard Titii, Königlich poln. und Churfürstl. Sächß. Oberhofgerichts- und Juristenfac. Ass. Betr., 1714. UAL, Fotosammlung N1200 – „Die Stadtsoldaten am Grimmaischen Thor grüssen den Rektor der Universität“ Postkarte nach einem Aquarell von Geissler, 1783.

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tors: „... Es versteht sich, daß der Procancellarius das Facultätsmäntelchen während des ganzen Actus um hat, und den Doctorhut in der Hand. Der Rector Magnificus ist bey der eigentlichen Handlung, fast immer von 11–12 Uhr, gegenwärtig, hat sein Mäntelchen um, und sitzt unter einem Thronhimmel. Ein oder zwey Pedellen stehn immer vor der Thür des Hörsaales, und gehn, wenn der Rector, oder ein Professor, oder Doctor kömmt, unmittelbar vor ihm auf, bis an seinen Sitz, machen ihm Platz, verneigen sich, und gehn ab.“ 79 Mit dem zunehmenden fachwissenschaftlichen Anspruch der Disziplinen und der ansteigenden Wissensfülle wandelten sich allmählich auch die bisherige Rolle und die Funktionszuschreibungen des Rektorenamtes innerhalb der Universität. Die Artistenfakultät bzw. Philosophische Fakultät entwickelte sich von einer vorund untergeordneten Fakultät der Grundausbildung zur eigenständigen FachFakultät der Natur- und Geisteswissenschaftler. Die alte Universitätshierarchie und die Nationenstruktur der Universität Leipzig blieb jedoch weiterhin bestehen, was zu universitätsinternen Konflikten führen musste. Durch Beharren auf ihren althergebrachten Vorrechten erlangte die sich nunmehr Philosophische Fakultät nennende Korporation 1788 einen Pyrrhussieg beim Landesherrn.80 Ab diesem Jahr wurde die Rektorabilität an den zuvor in Leipzig erworbenen Titel eines magister artium gebunden. Das führte paradoxerweise zu einer weiteren Einengung des Kandidatenkreises, da Doktoren der höheren Fakultäten es nicht immer als mit ihrer Würde vereinbar erachteten, „... selbst den ihnen freiwillig angebotenen höchsten Grad in der niedern Facultät nachträglich noch anzunehmen.“81

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Leipzig und seine Universität vor hundert Jahren. Aus den gleichzeitigen Aufzeichnungen eines Leipziger Studenten jetzo zuerst an's Licht gestellt, Leipzig 1879, S. 46/47. Zunächst blieb der Autor – der Student Heinrich Jugler – anonym und das Werk wurde streng zensiert, erst in einer Neuauflage im Jahre 1909 konnte Zarncke dieses Geheimnis lüften und die Schrift in überarbeiteter Form vorstellen, siehe Zarncke, Friedrich (Hg.): Leipzig und seine Universität im 18. Jahrhundert. Aufzeichnungen des Leipziger Studenten Heinrich Jugler aus dem Jahre 1779, Leipzig 1909, S. 116. Im März 1784 klagte die Philosophische Fakultät gegen die Juristenfakultät, mit dem Ziel, „... daß niemand in der Theologischen, Juristischen und Medicinischen Facultät zum Doctor creiret, auch keiner qua talis einen Nationalem abgeben, noch irgend ein munus oder beneficum academicum erlangen könne, wenn er nicht vorhero bey der Philosophischen Facultät in magistrum promoviret habe, und daß also Magister philosophiae zu seyn mehr bedeutet, als Doctor in einer jeden anderen Facultät.“ (UAL, Rep. 1/19/2/A/8, Bl. 21) Von Seiten der Juristenfakultät wurde dies als unerhörter Missgriff betrachtet. Den eigentlichen Hintergrund des Streites bildete für die Beteiligten jedoch die Frage nach der Zukunft des Magisteriums, „... weil die Juristenfac. daß Magisterium nicht für nöthig hält, dasselbe auch bey der Theologischen und Medicinischen Facultät nicht nöthig seyn möchte.“ (UAL, Rep. 1/19/2/A/8, Bl. 9) Der Landesherr gab der Philosophischen Fakultät recht – das führte einerseits zum Boykott aller Reformbemühungen, die zukünftig von der Philosophischen Fakultät ausgingen und andererseits zur weiteren Verminderung des Ansehens der Fakultät, die ihren höchsten akademischen Grad nun ohne Prüfung und oft sogar rückwirkend an Rektoren anderer Fakultäten verleihen musste, wollte sie nicht gänzlich das Gesicht verlieren. Gersdorf, S. 19. Dieser unhaltbare Zustand wurde erst mit der Auflösung der Nationenversammlung am 6.2.1830 verworfen. Nunmehr wurde die Rektorabilität auf alle ordentlichen Professoren ausgedehnt und der Rektor auf ein Jahr, bisher ein Semester, gewählt.

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Zusätzlich verschärfte es den Umgangston der Fakultäten untereinander, was alle Reformversuche – die ja vom Rektoramt ausgehen mussten – erheblich erschwerte, denn der Rektor war nun sehr viel mehr Partei als früher.82 Der Streit um den rechten Graduierungsweg, entweder konsekutiv vom Magister zum Doktor oder um vier unabhängig voneinander zu vergebende Grade, führte zu erheblichen, auch persönlichen Verletzungen zwischen den Fakultäten und ihren jeweiligen Professoren. Schließlich wurden spezielle Verträge zwischen der Theologischen und der Philosophischen Fakultät (1800, 1810) über die gegenseitigen Graduierungsvoraussetzungen geschlossen, während die Juristenfakultät sich soweit gedemütigt fühlte, dass sie in Zukunft alle Wünsche nach Umwandlung des Magisteriums in ein Doktorat blockierte und daran anknüpfend Universitätsreformen forderte. Die Philosophische Fakultät vermochte jedoch nicht einmal ihre eigenen Statuten soweit zu reformieren, um den Wünschen der anderen Fakultäten entgegenzukommen und weitere Veränderungen in der Universitätsstruktur zu erlauben. In diesem Dilemma war der Rektor, als Angehöriger einer Fakultät, gefangen und an eine Hochschulreform aus eigener Kraft war auch nicht ansatzweise zu denken. Erst der Staat kann 1830 durch ein von außen verordnetes neues Statut die verwickelten Verhältnisse überwinden. Die Professoren werden Staatsbeamte, der Senat wird ihre innere Interessenvertretung, und das Rektorenamt wird zur gemeinschaftlichen Vertretung der Universität nach außen bestimmt. Der Rektor übt sein Amt nunmehr für ein Jahr aus und allmählich wird ihm ein Verwaltungskörper aus Staatsbeamten an die Seite gestellt.83 In dem neuen, wiederum lateinisch verfassten Statut werden die Aufgaben des Rektors in Paragraph 18 explizit benannt: Vorsitz in allen universitären Gremien, Aufsichtspflicht über universitäre Stipendien und Kassen, Wahrung der Universitätsprivilegien.84 Das ungeliebte, staatsverordnete Hochschulstatut wurde erst 1851 einer erneuten Revision unterzogen. Diese Universitätssatzung, nunmehr in Deutsch geschrieben und nicht mehr auf älteren Vorlagen fußend, markiert den endgültigen Übergang zu einer modernen Hochschulverfassung und trägt den in den letzten Jahren geänderten politischen Verhältnissen in Sachsen und den strukturellen Veränderungen in der Wissenschaftsorganisation Rechnung. Dabei werden die Rechte des akademischen Senates sehr eng gefasst und es wird stets ein Mitspracherecht des Ministeriums gewährleistet.85 82

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Auf die schwierige Frage, ob der Rektor nach Ende seiner Amtszeit wegen seiner Amtsführung etwa mit einer Injurienklage belangt werden könnte, weist Zedler hin. Auch wenn die Leipziger Statuten eine nachträgliche Klage nicht für zulässig erachteten, so ist Zedler doch der Meinung, dass sie juristisch berechtigt sein könnte (Band 30, Halle/Leipzig 1741, S. 798). Zwahr, Hartmut: Staatsreform und Revolution. Die Universität Leipzig 1830, in: Blecher, Jens/ Döring, Detlef/ Rudersdorf, Manfred: Naturwissenschaft – Geschichtswissenschaft – Archivwissenschaft. Festgabe für Gerald Wiemers zum 65. Geburtstag, Leipzig 2007, S. 98-126. UAL, Rep. 01/01/011 Vol 4, Bl. 7. UAL, Rep. 01/01/011 Vol 8, Bl. 1-8. Von den 16 ordentlichen Professoren, die dem engeren akademischen Senat angehörten, wurden nur 4 aus den Fakultäten gewählt, die anderen 6 direkt von Dresden aus ernannt (§15). Die übrigen Personen waren ministeriell bestätigte Amtsträger – der Rektor, der Exrektor und die vier Dekane. Diese Bestimmung wurde erst im Jahre 1867 aufgehoben (Bl. 11).

Die Leipziger Universitätsrektoren und ihr Amt bis 1933

Erst gut 20 Jahre später werden die Satzungen unter dem Rektorat von Zarncke 1871 wieder geändert. Im Grunde basiert das neue Statut auf der älteren Vorlage von 1851 und fügt zunächst die vom Ministerium seitdem vorgenommenen Änderungen als feste Elemente ein. Zarncke sieht darüber hinaus zwei punktuelle Verbesserungen: es wird ein neuer Amtseid für die Mitglieder des Senates eingeführt und die Stellung der drei Gremien (Senat, Plenum der ordentlichen Professoren, Universitätsversammlung) zueinander wird spezifiziert. Dabei wird die bisherige Geschäftverteilung weitgehend beibehalten: Die Universitätsversammlung, in der alle ordentlichen und außerordentlichen Professoren vertreten sind, wählt aus der ordentlichen Professorenschaft den Rektor und den Landtagsdeputierten. Das Plenum der ordentlichen Professoren ist für die Vergabe universitätseigener Personalstellen und Stipendien und in Verfassungsfragen zuständig. Der Senat (mit Rektor, Dekanen und den aus den Fakultäten hinzugewählten Professoren) ist für alle weiteren Geschäftskreise zuständig, insbesondere für Verwaltungsfragen, weitere Stiftungsfragen und das universitäre Grundeigentum.86 Im Einzelnen wird der gestärkte Rechtscharakter wie der erweiterte Verwaltungsauftrag des Senates durch die gefassten Veränderungen deutlich. Der Ordinarius der Juristenfakultät wird qua Amt als Rechtsberater zu den Sitzungen des Senates hinzugezogen (§5) und der Senat kommuniziert für die beiden anderen Gremien nach außen (§10). Die weit in die akademische Selbstverwaltung eingreifenden Vollmachten des Regierungsbevollmächtigten werden beschnitten87 und die bisherige Professorengruppe, die vom Ministerium in den Senat berufen wurde, durch die freie Wahl aller professoralen Mitglieder aus den Fakultäten heraus aufgehoben (§5).88 Die Verhandlungen des Senates blieben vertraulich, seine gefassten Beschlüsse wurden jedoch gesondert verzeichnet und sollten allen ordentlichen Professoren zugänglich sein (§18). Das neue Statut lief deutlich auf eine Verstärkung der Position des Rektors hinaus, der in alle akademischen Gremien den Vorsitz führte und seinen direkten staatlichen Gegenpart – den Regierungsbevollmächtigten – verloren hatte. Die Prüfung des neuen Statuts zog sich zunächst hin, erst im Januar 1871 folgte eine Stellungnahme aus Dresden. Neben formellen Präzisierungen, die u.a. Geheimhaltungspflichten der Senatsmitglieder genauer fassten, gab es kaum Änderungswünsche. Interessanterweise hielt das Ministerium aber an einem winzigen Detail fest: die vorgelegte Paragraphensammlung sollte kein neues Universitätsstatut werden, sondern lediglich das „Statut für den akademischen Senat, das Plenum der ordentlichen Professoren und die Universitätsversammlung der Universität Leip86 87

88

UAL, Rep. 01/01/011 Vol 8, Bl. 54. UAL, Rep. 01/01/011 Vol 8, Bl. 22: Die in den Statuten enthaltene Befugnis des Regierungsbevollmächtigten, die Sitzungen der drei höchsten Universitätsgremien zu schließen und ihre Beschlüsse zu suspendieren, wird gestrichen, auch weil derartige staatliche Kompetenzen an keiner anderen deutschen Universität existierten, wie Zarncke handschriftlich anmerkt. UAL, Rep. 01/01/011 Vol 8, Bl. 52: Gewählt wurden je zwei theologische, juristische und medizinische Professoren, sowie vier Professoren aus der Philosophischen Fakultät.

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zig.“89 Das Plenum der ordentlichen Professoren stimmte den kleineren Veränderungen ohne weitere Diskussion zu und im März 1871 erhielt der Rektor die genehmigte und gesiegelte Statutenfassung vom Ministerium zur Drucklegung. Nach einigen ministeriellen Satzungsänderungen werden gut 20 Jahre später neue Statuten seitens der Universität erarbeitet, die 1892 in Kraft treten.90 Über das eigentliche Amt des Rektors finden sich auch darin kaum Bestimmungen – ihm wurde der Vorsitz im Senat, dem Plenum der ordentlichen Professoren und in der Universitätsversammlung eingeräumt (§2), die Rektorabilität blieb an eine ordentliche, rite angetretene und seit mindestens zwei Jahren in Leipzig innegehabte Professur, gebunden (§4). Gewählt wurde der Amtsinhaber durch die Universitätsversammlung, der alle ordentlichen und außerordentlichen Professoren angehörten, jeweils im Juli oder August für die Dauer eines Jahres (§30). Die Amtsübernahme des Rektors hatte dann am 31. Oktober (§6) zu erfolgen. Gewählt wurde durch die Austeilung einer Namensliste mit Wahlberechtigten, von denen ein Name durch Unterstreichen auszuwählen war (§33). Einfache Mehrheit bzw. Stichwahl oder Losverfahren (durch den Rektor) entschieden die Wahl (§34).91 Neben dem Rektor stehen der Senat (dem besonders die Verteilung von universitären Stipendien und grundsätzliche Entscheidungen zum Universitätsvermögen obliegen, §11), das Plenum der ordentlichen Professoren (zu dessen Geschäftskreis das Recht zur Stellenbesetzung für Universitätsbeamte, weitere Stipendienverwilligungen und besondere Verhandlungen mit dem Kultusministerium gehören, §23), die Universitätsversammlung aller Professoren (zuständig für die Wahl des Rektors und der Landtagsabgeordneten, §29) sowie der Regierungsbevollmächtigte (der als Vertreter der Landesregierung mit beratender Stimme an allen universitären Gremien teilnehmen und Sitzungsprotokolle sowie Akten anfordern kann, §3). Zum Aufgabenbereich des Rektors findet sich nur der lapidare Hinweis, dass der Rektor alle Aufgaben übernimmt, soweit sie nicht in die Zuständigkeit eines anderen Gremiums fallen (§1). Da das Gerichtswesen schon weitgehend staatlich war, blieb die Disziplinargerichtsbarkeit über die Universitätsangehörigen (zuständige Behörde dafür war das Universitätsgericht), das Immatrikulationswesen (zuständige Behörden waren der Universitätsrichter für die Immatrikulation und die Quästur für die Einziehung der Immatrikulations- und Studiengebühren) und die Verwaltung des allgemeinen Universitätsvermögens (dafür zuständig war das staatliche Rentamt an der Universität, das neben den Staatsmitteln auch das Korporationsvermögen bewirtschaftete). 89 90

91

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UAL, Rep. 01/01/011 Vol 8, Bl. 34. UAL, Rep. 01/01/011 Vol 11, Bl. 54-76.

Daneben existierten immer noch gebrauchsmäßige Regeln: Die Wählbarkeit zum Rektoramt wurde demnach in fester Reihenfolge den vier Fakultäten abwechselnd zugestanden. Die Feier des Fünfhundertjährigen Bestehens der Universität Leipzig. Amtlicher Bericht im Auftrag des akademischen Senats erstattet von Karl Binding, Leipzig 1910, S. 4.

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Das eigentliche Verwaltungsgeschäft ist damit nicht mehr Aufgabe des Rektors – er führte nur die Aufsicht über die verantwortlichen Behörden.92 Durch diese Entlastung vom Alltagsgeschäft wurden die Rektoren zunehmend darauf orientiert, die Beziehungen zum Königshaus und zu den Dresdner Ministerien auf eine gedeihliche Grundlage zu stellen und ein förderliches Klima für die Entwicklung der Universität zu schaffen und zu erhalten. Pikanterweise entwickelte sich über die dazu notwendigen Kosten ein Streit zwischen dem Rektor Theodor Brieger93 und der Leipziger Finanzbehörde wegen der zu zahlenden Einkommenssteuer. Nach einer Übersicht der Bezirkssteuerbehörde hatte Brieger als Professor für 1893 ein Jahreseinkommen von etwas über 12000 Mark zu versteuern gehabt,94 wozu noch die Einkünfte als Rektor kamen, die sich auf rund 5300 Mark beliefen. Insgesamt sollte Brieger demnach Einkünfte in Höhe von gut 17500 Mark erzielt haben, seinen eigenen Angaben vom Mai 1893 zufolge waren davon allerdings nur rund 11000 Mark steuerpflichtig – die restliche Geldsumme wäre für den erforderlichen Reputationsaufwand im Amt nötig gewesen. Der Streitfall durchlief den akademischen Senat und wurde schließlich von den beteiligten Ministerien in Dresden ausgefochten. Erst im Oktober 1895 gab das Finanzministerium nach und ein Gehaltsanteil in Höhe von 2400 Mark wurde als Dienstaufwandsentschädigung für die mit dem Rektorenamt verbundenen zusätzlichen Ausgaben steuerfrei gestellt.95 Zwei Jahre später wurde diese Aufwandspauschale auf insgesamt 2800 Mark pro Rektoratsjahr erhöht – aber zugleich mussten nun alle weiteren Zahlungen bei Reisen und jeder sonstige Aufwand vom Rektor selbst beglichen werden.96 Durch diesen Streit mit dem Finanzbehörden gewarnt, riet das Kultusministerium dem Senat daher im Jahre 1914 von einer Verpachtung der Jagd im universitätseigenen Oberholz mit dem Hinweis ab, dass die Einnahmen der Jagdpacht dann in den Staatsetat einmünden müssten. Eine Ablöse der Naturalleistungen durch Geldzahlung an die Bezugsberechtigten wäre nur noch durch die explizite Zustimmung der Ständeversammlung zu erreichen. In einer tabellenförmigen Auflistung der Wildbretlieferungen an die Rektoren der Jahre von 1901 bis 1916 finden sich aufschlussreiche 92

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Über den kleinteiligen Gremienalltag findet sich von Zarncke eine Aufstellung aus dem Jahre 1878. Darin führt er die Informationspflichten der Universität gegenüber dem Regierungsbevollmächtigten auf, benennt grundsätzliche Entscheidungsprinzipien für die Immatrikulationsgeschäfte und bringt Textformulierungen für Sterbefälle unter den Hochschullehrern. Weiterhin liefert er seinen Nachfolgern eine Aufstellung der verschiedenen Stipendien nach den Vergabegremien (Universitätsversammlung, Senat, Rektor) und weist sie auf ihre Einkünfte und auf die üblichen Ausgaben hin. Darunter findet sich auch der Hinweis auf den sogenannten „Pedellthaler“, dessen Barauszahlung von Pedellen und Gerichtsdienern beim Amtsantritt und beim Ausscheiden des wechselnden Rektors erwartet wurde (UAL, Rep. 1/2/24 Band 1, Bl. 1-26). 1842–1915, in Leipzig seit 1886 Professor für Kirchengeschichte, 1892/1893 Rektor der Universität. UAL, Rep. 1/2/24 Band 1, Bl. 41. Der Unterschied in der Besteuerung seines Einkommens war aus heutiger Sicht kaum erheblich: Brieger hatte für sein angegebenes Einkommen 330 Mark Steuern gezahlt, für die geschätzten 17.500 Mark verlangte die Behörde aber 510 Mark. (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen vom Jahre 1894, S. 150: Einkommenssteuersätze) UAL, Rep. 1/2/24 Band 1, Bl. 45 und Bl. 47.

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Zahlen zum Reputationsaufwand, der mit dem Amt verbunden war. Insgesamt wurden 231 Rehe, 973 Hasen, 159 Fasane, 64 Rebhühner und 3 Schnepfen an die 15 Rektoren geliefert. Die Abschusszahlen richteten sich strikt nach waidmännischen Faktoren: der Jubiläumsrektor Karl Binding (1841–1920) erhielt 1909 kaum mehr als den durchschnittlichen Wildbretertrag: 15 Rehe, 70 Hasen und 9 Fasane.97 Zur Wertigkeit dieser Bezüge für die funktionale Symbolik der Außendarstellung findet sich noch ein weiterer Hinweis aus dem Jahre 1931, als infolge der schlechten Haushaltslage das Kultusministerium in Dresden die besonderen Dienstbezüge des Rektors stark kürzen wollte. In der diesbezüglichen Stellungnahme des akademischen Senats sieht die Hochschule eine öffentliche Herabwürdigung ihrer Reputation, da der Universitätsrektor „... dann dieselbe Dienstaufwandsentschädigung wie der Rektor der Handelshochschule beziehe.“98 Besonders die hohen Ausgaben für die Teilnahme bei königlichen Empfängen am Dresdner Hof wurden in den Auseinandersetzungen von Brieger immer wieder als wichtiges Argument herangezogen. Die enge Beziehung der Landesuniversität zu ihrem Landesherrn ist über das ganze 19. Jahrhunderts vorhanden und das Rektoramt trägt mit symbolischen Aktionen dieser steten Annäherung Rechnung: 1809 wird den drei neu immatrikulierten Prinzen ein Schmuckblatt in der Rektormatrikel gewidmet.99 Prinz Johann (1801–1873) wird anlässlich der Übergabe des neuen Universitätshauptgebäudes 1836 von der Juristenfakultät ehrenpromoviert100 und revanchiert sich 1855, dann als König Johann von Sachsen, mit der Stiftung einer Rektorkette.101 Schließlich werden seit 1875 die sächsischen Könige102 nach ihrer Krönung fast selbstverständlich mit dem höchsten Ehrentitel der Universität bedacht – der Ernennung zum Rector Magnificentissimus.103 Die Verleihung dieser 97

UAL, Rep. 1/2/24 Band 1, Bl. 274. UAL, Phil.Fak. C5/51 :13 Band 1, Bl. 240. 99 UAL, Rektor M 11, 1809. 100 Interessanterweise wird der Vorschlag, durch Promotionsfeierlichkeiten das neue Hauptgebäude in einem akademischen Akt 1836 feierlich einzuweihen, vom Kabinettsminister Bernhard August von Lindenau (1779-1854, Vorsitzender des sächsischen Gesamtministeriums von 1831–1843) der Universität unterbreitet. Im offiziellen Ablaufprotokoll der Übergabezeremonie finden die Promotionsakte aber dennoch keine Berücksichtigung, denn die Übergabe des Augusteums erfolgte schließlich als Staatsakt durch Prinz Johann. Anschließend fanden jedoch Ehrenpromotionen der Fakultäten statt – Prinz Johann, der damalige Kultusminister Hans Georg von Carlowitz (1772–1840) und der Justizminister Julius Traugott Jakob von Könneritz (1792-1866) wurden juristische Ehrendoktoren. Von der Philosophischen Fakultät wurde Eduard von Nostitz und Jänckendorf (1791–1858, Minister des Inneren ab 1843) ehrenpromoviert (UAL, Rep. 2/5/67). 101 Bux, Annegret: Der Kunstbesitz der Universität Leipzig, Hausarbeit, Universität Leipzig 1965, S. 25: Erstmalig wird „... 1767 in Freiburg i.Br. dem Rektor eine Kette verliehen, die er bei allen feierlichen Gelegenheiten tragen soll. Die Verleihung solcher Ketten wird dann im 19. Jahrhundert eine beliebte Gnadenbezeugung der Fürsten für die Rektoren ihrer Landesuniversitäten.“; Ausführlich dazu Zier und Zeichen, S. 19-30. 102 UAL, Rep. 1/2/25. Die Reihe der Ehrungen beginnt mit König Albert von Sachsen (1828–1902). 103 Weitere Beispiele dafür bei Stein, S. 56, Anm. 73. „Noch heute besteht dieser Brauch in Erlangen, Freiburg, Heidelberg, Jena und Leipzig. In Königsberg war bis 1888 und in Göttingen ist seit 1887 ein anderes Mitglied des Herrscherhauses rector magnificentissimus.“ 98

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höchsten Würde der Universität war ein zweischneidiges Schwert und die möglichen Konsequenzen für die akademische Selbstverwaltung kaum absehbar. Im Nachhinein betrachtet, erwies sich die Ehrung als ein geschickter Schachzug ohne nachteilige Folgen, da dem König zwar eine Verantwortung für die Förderung des Universitätsbetriebes angetragen wurde, jedoch keinerlei praktische Geschäftsführung damit verbunden war.104 Den letzten Höhepunkt in der Annäherung zwischen Königshaus und Universität bildete anlässlich der Jubiläumsfeier 1909 die Aufstellung eines überlebensgroßen Marmorstandbildes in der Wandelhalle der Universität. Im Talar des Rector Magnificentissimus, über der königlichen Uniform getragen, war König Friedrich August III. (1865–1932) von nun an bei allen größeren Universitätsereignissen als Symbolfigur präsent. Diese enge Beziehung schlug erst in der Zeit des Nationalsozialismus um, als das Ministerium über seinen kommissarischen Leiter Werner Studentkowski (1903–1951) den Rektor für eine im Mai 1935 erfolgte Blumen- und Kranzniederlegung am Königsdenkmal in der Wandelhalle rügte und derlei Erinnerungskultur für die Zukunft untersagte.105 Auch zu den Ministerien konnte eine gedeihliche Beziehung geknüpft werden: zwischen 1831 und 1914 hatten acht von den insgesamt neun sächsischen Kultusministern in Leipzig studiert, eine Professur innegehabt oder waren selbst Rektor gewesen. Selbst die widersetzliche Haltung der Universität bei der Wiedereinführung der Ständeverfassung 1848 und die nachfolgenden Repressionen unter Universitätsangehörigen störten das gute Einvernehmen nicht nachhaltig. Nur selten kollidierten die vielfältigen Pflichten und Ambitionen der Rektoren miteinander. Im Jahre 1903 gelang es daher Karl Bücher106 rasch, die ministeriell geäußerte Unbill über seine ausufernden Außenbeziehungen einer friedlichen Lösung zuzuführen. Bücher hatte in seinem Rektoratsjahr 1903/1904 einen Akademischen Schutzverein gegründet, der die Interessen der wissenschaftlichen Autoren gegenüber den Verlagen vertreten sollte und bald an allen deutschen Hochschulen Zweigvereine besaß.107 Die Gründungsveranstaltung in Leipzig sollte nach einer gemeinsamen Idee von den Rektoren Adolph Wach108 und Bücher genutzt werden, um die angereisten Rektoren zu einer weitergehenden Kooperation zu bewegen. Bücher 104

Bereits ein Vierteljahr später konnte der Rektor befriedigt feststellen, dass auch der König Form und Umfang dieser speziellen Huldigung erkannt habe, „... als eine der Person Sr. Majestät des Königs Albert dargebrachte Huldigung, durch welche die Verfassung unserer Universität selbstverständlich in keiner Weise alteriert wird, wohl aber die so hocherfreuliche und segensreiche Verbindung zwischen königlicher Huld auf der einen und der innigsten Dankbarkeit, Liebe und Verehrung auf der anderen Seite einen bestimmenden Ausdruck und ihre formelle Besiegelung erhält.“ (UAL, „Reden gehalten in der Aula der Universität Leipzig beim Rectoratswechsel am 31. October 1875“). 105 Die Niederlegung von Blumen und Kränzen zum 70. Geburtstag des Monarchen war auf private Initiative erfolgt, es gab keine offizielle Beteiligung von Seiten der Universität (UAL, Rep. 1/2/24 Band 4, Bl. 57). 106 1847–1930, in Leipzig seit 1892 Prof. für Statistik u. Nationalökonomie. 107 Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 18, Leipzig 1909, S. 93. 108 1843–1926, in Leipzig seit 1875 Prof. für Strafrecht, im Jahre 1902/1903 Rektor der Universität Leipzig.

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schlug daher vor, am 29.11.1903 in Leipzig zugleich eine „… Konferenz der Rektoren der deutschen Universitäten zur Besprechung allgemeiner Universitätsangelegenheiten …“ zu veranstalten.109 Von den teilnehmenden 11 Universitätsrektoren und den drei Rektoren technischer Hochschulen wurden in dieser gemeinsamen Veranstaltung die Umstellung von der lateinischen auf die deutsche Sprache in den Hochschulformularen und –urkunden und die Sonderbesteuerung ausländischer Studenten durch die Hochschulen erörtert. Nur ein Tagesordnungspunkt, die Abschaffung der Karzerstrafe, kam nicht wie vorgesehen zur Diskussion. Am Ende der Runde waren sich die Rektoren sofort einig, in Zukunft jährlich eine derartige Gesprächsrunde zu organisieren – das nächste Treffen sollte in Berlin stattfinden, um auch die zahlreichen preußischen Universitäten zu einer Teilnahme zu bewegen. Bereits wenige Tage später erhielt Rektor Bücher ein Schreiben aus Dresden, in dem das Ministerium gegen diese Zusammenkunft, die ohne dessen Vorwissen und Billigung statt gefunden hatte, protestierte. Bücher lies sich einige Tage Zeit, ehe er ein Antwortschreiben formulierte, dem er gleich ein Versammlungsprotokoll beifügte. Der Protokollführer Wach hatte darin eine wichtige Änderung vorgenommen und auf dem gedruckten Protokoll tauchte nun der unterstrichene Zusatz nichtoffizielle Rektorenkonferenz auf.110 Damit war der ministeriellen Anforderung Genüge getan und in Zukunft erhob sich kein Einwand gegen die Beteiligung Leipziger Rektoren an diesen Treffen.111 Rektor Carl Chun112 sprach 1908 ein offenes Geheimnis aus: Leipzig besitze eine „… unter den deutschen Universitäten beneidete Stellung zum Kultusministerium.“113 Ein Jahr später kann Wilhelm Wundt114 als Festredner zum 500jährigen Jubiläum 1909 stolz darauf verweisen, dass nicht ein einziges Mal „… unser Landtag die im Interesse der Hochschule gewünschten Bewilligungen abgelehnt oder auch nur zu kürzen gesucht …“ hat.115 Das Ende des Ersten Weltkrieges brachte einen radikalen Umbruch im politischen System des Deutschen Reiches und in Sachsen mit sich und recht schnell kommt es zu ersten Irritationen zwischen der Universität und der neuen Landesregierung. Schon bei der ersten Begegnung zwischen dem Rektor und dem neuen Kultusminister werden latente Konfliktlinien deutlich. Der Rektor Rudolf Kittel116 109

UAL, Rep. 1/2/27 Band 1, Bl. 2. UAL, Rep. 1/2/27 Band 1, Bl. 65. 111 Selbst die Reisekosten für die Teilnahme an dieser „Privatveranstaltung“ übernahm das Ministerium im Jahre 1907 – es bat nur, vorher über die ungefähre Höhe der Spesen informiert zu werden (UAL, Rep. 1/2/27 Band 1, Bl. 107). 112 1852–1914, in Leipzig seit 1898 Prof. für Zoologie und Zootomie. 113 Staatliche Inspektionen führten in der Regel zu gewünschten Verbesserungen: „Durch die zweimalige eingehende und anstrengende Inspektion unseres medizinisch-naturwissenschaftlichen Gebäudekomplexes wurde für die beiden rückständigsten Institute, nämlich für die Chirurgische Poliklinik und für die Poliklinik für orthopädische Chirurgie eine rasche Besserung der Existenzbedingungen herbeigeführt.“ (Rede zum Rektoratswechsel 1908, Karl Chun, S. 2/3) 114 1832–1920, in Leipzig seit 1875 Prof. für Psychologie. 115 Feier des 500jährigen Bestehens, S. 178/179. 116 1853–1929, in Leipzig seit 1898 Prof. für Theologie. 110

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empfängt im Mai 1919 den neuen sozialdemokratischen Minister Johann Wilhelm Buck (1869–1945, von Beruf Stuckateur) „... auf eigenem Grund und Boden ...“ und betont in seiner Begrüßungsrede gegenüber dem Minister Tradition und Eigenständigkeit der Leipziger Universität.117 Kittel betrachtet den neuen Politikerschlag als ungebildet, aber interessiert. Besonders merkwürdig wirkt auf den Rektor, dass der Minister „... sich seiner Vergangenheit nicht schämte.“118 Recht schnell greifen daher Befürchtungen um sich, das bisherige enge Band zwischen Universität und Landesregierung sei aufgelöst und man müsse gar mit politischen Professoren – direkt aus dem Ministerium ernannt – rechnen, die die Hochschule auf einen neuen Kurs führen könnten. Diese unterschwelligen Befürchtungen führen im Oktober 1919 zu heftigen Protesten des Rektors Erich Brandenburg119 gegenüber der Landesregierung, als die Hochschulzugangsvoraussetzungen reduziert werden sollen und den Immaturi120 (Volksschullehrern) die Promotion gestattet werden soll.121 Daraufhin werden die Pläne im Ministerium zunächst zurückgestellt. Unabhängig von den politischen Außenereignissen122 setzten in den Fakultäten und im Senat Überlegungen zu notwendigen Satzungsänderungen ein, die der Erste Weltkrieg unterbrochen hatte. Zu wirklichen, tiefgreifenden Veränderungen kommt es aber in der Weimarer Republik nicht mehr. Lediglich über marginale Statutenänderungen lassen sich neue Schwerpunktsetzungen im Rektoramt erahnen. Dabei werden auch politische Faktoren, die außerhalb der Universitätsgrenzen wirken, berücksichtigt. Zunächst beschäftigte sich der Akademische Senat im Mai/ Juni 1919 mit Reformen der Universität – einer der dabei behandelten Punkte sah die Einführung der Würde eines Ehrenbürgers bzw. Ehrensenators der Universität für finanzstarke „Gönner“ vor.123 Das heißt, die Universität suchte an Stelle der verlorenen staatlichen 117

Kittel, Rudolf: Die Universität Leipzig im Jahre der Revolution 1918/19. Rektoratserinnerungen von Rudolf Kittel, Leipzig 1930, S. 115. 118 Kittel Revolution, S. 117. Kittel liefert noch eine herablassende Schilderung des ersten MinisterRundgangs in den Universitätsinstituten mit, bei der er die emphatische Begeisterungsfähigkeit des Ministers als eher kindisch einschätzt. 119 1868-1946, in Leipzig seit 1904 Prof. für Geschichte. 120 Personen ohne Matura: Das Maturitäts- oder Abiturientenzeugnis wurde nach erfolgter Reifeprüfung von einer höheren Lehranstalt ausgegeben. Dafür war der Besuch einer neunstufigen Mittelschule (Gymnasium, Realgymnasium, Oberrealschule) notwendig. In Sachsen waren seit einer Ministerialverordnung vom 30.9.1898 auch Volksschullehrer ohne höhere Schulbildung zum Studium der Pädagogik an der Universität zugelassen. 121 UAL, Phil.Fak. C2/21 Band 2, Bl. 38. 122 Zu den politischen Ereignissen von 1918/1919, die direkt den akademischen Alltag beeinflussten, vgl. Kittel Revolution. 123 UAL, Rep. 1/16/2/A/21, Bl. 315. Diese neue Ehrung sollte, dem Beispiel Göttingens folgend, der Universität „reiche Mittel“ zuführen und im Gegenzug auch den Stiftern etwas Repräsentatives bieten. Die ursprüngliche Idee, den Förderern ein Ehrenzeichen zu widmen, wurde jedoch bald fallengelassen, stattdessen sollten sie einen Ehrenbrief über die erteilte Würde erhalten. Diese neuen Würden, die an Stelle von Ehrendoktoraten vergeben werden sollten, erzeugten jedoch bei Stiftern nicht den gewünschten Anreiz. Bereits 1924 protestierte der „Förderverein der Universität“ bei Rek-

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Förderung wenigstens teilweise Ersatz zu schaffen. Der Rektor als Repräsentant der Universität hatte diesem Interesse natürlich nachzugehen, er führte die vorbereitenden Gespräche mit den Herren aus der Wirtschaft und wurde in der Folge selbst Vorstandsmitglied im Verein der Förderer und Freunde der Universität Leipzig.124 Schließlich wird zu Beginn der 1920er Jahre der Kreis der Wahlberechtigten für das Rektoramt ausgeweitet. Während bisher nur die ordentlichen Professoren ein aktives und passives Wahlrecht haben, werden seit Juli 1923 auch Vertreter aus der Gruppe der Hochschullehrer, der Lektoren und der Studenten zur aktiven Wahlhandlung stimmberechtigt zugelassen.125 Zu den ersten Maßnahmen der NS-Diktatur gehörte die auf dem Verwaltungswege erzwungene Umstrukturierung der Hochschulen und Universitäten. Nach der Einführung des „Führerprinzips“ an der Universität Leipzig durch Verordnung des Dresdner Volksbildungsministeriums am 22.12.1933, änderte sich der bisherige Grundsatz der gemeinsamen Entscheidungsfindung radikal – und wie es scheint ohne Widerstand seitens der Universität.126 In dem im Januar 1934 erlassenen Statut der „Grenzlanduniversität“ Leipzig wurden die neuen Prinzipien der Hochschulorganisation – nach kaum vier Wochen Bearbeitungsfrist – bereits festgeschrieben.127 Neben der politischen Dimension, die sich nun der Universitäten bei der Diskriminierung und Verfolgung von Staatsgegnern bediente, wurde dabei das über Jahrhunderte gepflegte akademische Gemeinschaftsgefühl bewusst schwer geschädigt und die letzten verbliebenen akademischen Privilegien ad absurdum geführt. In den totalitären Systemen sollten die universitären Bildungsanstalten sich nicht im Interesse der Wissenschaftsverbreitung selbst verwalten, sondern ausschließlich staatlichen Interessen in einer funktionsbestimmten Verwaltungshierarchie dienen. Die Rektoren der Universitäten wurden zu besseren Direktoren – in ein staatliches Bildungssystem durch ministerielle Ernennung eingebunden, durch parteipolitische Institutionen in der eigenen Akademikerschaft überwacht und gegebenenfalls einfach ersetzt.128 tor und Senat gegen einen Regelbruch, wonach die Philosophische Fakultät für eine Geldspende eine Ehrendoktorwürde vergeben habe, noch dazu gegen eine nicht besonders hohe Summe (1923 an den „Großkaufmann Hans Osten“). Die erfolgte Ehrenpromotion rief Empörung unter dem Mitgliedern des Fördervereins hervor, die höhere Zahlungen gestiftet und dafür „lediglich“ einen Ehrenbürger /-senatorentitel erhalten sollten – worauf wenigstens zwei Herren gleich ganz auf diese Ehrung verzichteten (UAL, Phil.Fak. C5/56 :01 Band 1, Bl. 7/8). 124 Satzung des Vereins der Förderer und Freunde der Universität Leipzig, Leipzig 1935. 125 UAL, Rep. 1/11/11/ Vol. 13, Bl. 29. 126 In der Philosophischen Fakultät wurden die neuen Regeln einfach zur Kenntnis genommen, die der Dekan so kommentierte: „1.) Die Fakultät beschließt nicht mehr, sie kann den Dekan nur beraten. 2.) Die Fakultät stimmt nicht mehr ab, die einzelnen Mitglieder äußern ihre Meinung. 3.) Anstelle der Fakultät bzw. ihrer Abteilungen trifft der Dekan selbständig alle Entscheidungen ...“ ( UAL, Phil.Fak. C5/51 Band 4, Bl. 146.) 127 UAL, Phil.Fak. A1/10 Band 5, Bl. 33/37. 128 Der im April 1935 in sein Rektoramt eingeführte Felix Krueger (1874–1948, in Leipzig seit 1917 Prof. für Philosophie) wurde nach wenigen Monaten „aus gesundheitlichen Gründen“ beurlaubt, da er seine „arische“ Abstammung nicht lückenlos nachweisen konnte. Die Amtsgeschäfte übernahm der Prorektor und Amtsvorgänger Arthur Golf (1877–1941, in Leipzig seit 1922 Prof. für Tierzuchtlehre).

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Editionstext: Die Jahresberichte und Antrittsreden der Leipziger Universitätsrektoren von 1871 bis 1933 Wissenschaftliche Bearbeitung von Marcel Korge

31. Oktober 1871. Rede des abgehenden Rectors Dr. Fr. Zarncke, Professors der deutschen Sprache und Litteratur. Bericht über das Studienjahr 1870/71. Hochverehrte Anwesende. Nach altem Brauch hat sich an dem heutigen Tage wieder ein festlicher Kreis in diesen Räumen gesammelt, um der feierlichen Einführung des neuerwählten Rectors dieser Universität in sein Amt beizuwohnen. Bevor ich zu dieser verschreite, verlangt es aber die Sitte des Tages, dass ich einen kurzen Rechenschaftsbericht ablege über die Erlebnisse unserer Universität innerhalb des diesmal zweijährigen Zeitraumes, während dessen das nachsichtsvolle Vertrauen meiner Collegen die Leitung der Geschäfte an unserer Hochschule in meine Hände gelegt gehabt hat. Ein solcher Rechenschaftsbericht ist nicht eben geeignet, einen bedeutsamen Eindruck hervorzubringen. Es sind wenige und höchst einfache, wiederkehrende Momente, deren Statistik er in fast nur äusserlicher Weise zu geben vermag, recht im Gegensatze zu dem rein innerlichen Wirken der Anstalt, über die er berichtet. Am wenigsten darf er sich anmaassen wollen, eine Geschichte unserer Universität in dem betreffenden Zeitraume zu sein. Denn die Geschichte der Gegenwart einer Universität vermag erst die Zukunft zu schreiben. Erst wenn zu übersehen ist, wie die Geistesfunken, die jetzt ausgestreut worden sind, gezündet haben und zu hell leuchtender Flamme angewachsen sind, erst wenn sich übersehen lässt, wie die Samenkörner des Gedankens, die in der Gegenwart ausgesäet wurden, aufgegangen sind und Früchte getragen haben, erst dann lässt sich von der Geschichte der Gegenwart einer Universität sprechen. Wenn daher der an dieser Stelle Rechenschaft Ablegende alle Veranlassung hat, bescheiden die Nachsicht seiner Hörer in Anspruch zu nehmen, in wie viel höherem Grade muss dies der Fall sein, wenn sein einfacher Bericht unter den Eindruck so gewaltiger und gemütherschütternder Ereignisse gestellt wird, wie die waren, deren Zeuge die Jahre meines Rectorates gewesen sind. Nach jahrhundertelang wiederholten Kränkungen unserer nationalen Ehre durch unsern westlichen Nachbar, nach zahllosen nie ganz verharrschten Wunden, die uns der Uebermüthige geschlagen, pochend auf die unselige Zersplitterung unsres Vaterlandes, ist es endlich, nach neuer Kränkung, dem geeinten Deutschland gelungen, in einem Kampfe und in Siegen sonder Gleichen Rechenschaft und Entgelt zu fordern, ja selbst alte und noch immer blutende Wunden, auf deren Heilung wir schon verzichtet hatten, wieder zu schliessen. Von Neuem hat es sich gezeigt, dass, wenn auch in der kurzen Spanne Zeit, die dem Leben des Einzelnen gewährt ist, 37

Friedrich Zarncke

die Idee der Gerechtigkeit oft nicht zum Ausdruck gelangt, das Leben der Völker lange genug dauert, um für Unrecht und Ueberhebung die Busse zu sichern; dass die Worte des Dichters nicht eine poetische Täuschung sind, wenn er ausruft: Die Weltgeschichte ist das Weltgericht. Aber Grösseres noch als die endliche Zurückweisung nationaler Schmach hat uns das verflossene Jahr gebracht. Der sehnsüchtige Wunsch eines halben Jahrtausends, von dessen Erfüllung seit mehr als 600 Jahren die Sage geträumt hatte, der seit länger als 50 Jahren mit der Gluth der Leidenschaft immer mächtiger hervorgebrochen war, der Wunsch nach Wiedervereinigung der zerstückelten Glieder unsers Vaterlandes zu einem mächtigen Reiche, er hat sich wunderbar plötzlich erfüllt, eine stolze und glorreiche Zukunft verheissend. Dankbar und demüthig erkennen wir Lebenden das Glück, dass der Lenker unserer Geschicke gerade unsere Generation gewürdigt hat, so Grosses zu erleben; dankbar und demüthig wollen wir uns des Erreichten würdig beweisen, durch Abweisung jeder Ueberhebung und vor Allem dadurch, dass wir für immer der Wiederkehr jenes engherzigen Haders entsagen, der seit den Zeiten der Römerkämpfe so oft die schönsten Erfolge des deutschen Geistes und der deutschen Waffe in Frage gestellt hat. Aber nicht als Folie bloss stehen jene mächtigen Geschicke unsers Gesammtvaterlands neben den einfachen Erlebnissen unserer Universität, nein tief hineingegriffen haben sie diesmal in diese selbst. Wenn die deutschen Universitäten und unter ihnen auch die unsrige die Ehre in Anspruch nehmen dürfen, dass besonders sie den Geist der Einheit in unserer Nation gepflegt und so das vorbereitet haben, was im letzten Jahre gereift ist, so ist ihnen auch die Ehre zu Theil geworden, selber mitzuwirken an der blutigen Arbeit der Einigung. Zum ersten Male ist in diesem Kriege auch die academische Jugend unserer Universität berufen worden, die Waffen für das Vaterland zu führen. Mehr als 400 sind hinausgezogen aus unserer Mitte, und wie ruhmvoll sie ihr Leben Preis gegeben haben im Kampfe für die höchsten Güter des Vaterlandes, das beweist die schmerzlich lange Liste der Gefallenen, die wir betrauern, das beweist der reiche Schmuck des eisernen Kreuzes, der nicht wenige unserer heimgekehrten Commilitonen ziert. Wir selber, die wir zurückbleiben mussten, fühlen uns gehoben durch das was sie vollbracht, und wir haben es ihnen ausgesprochen, dass wir nicht bloss stolz seien auf sie, sondern auch stolz auf uns durch sie. – Doch nicht bloss unsere Jugend ist hinausgezogen in den Kampf, auch von den Lehrern unserer Hochschule manche, Professoren und Docenten, vor Allen Mediciner, um an ihrem Theile beizutragen zur Linderung der Schrecknisse des Krieges. Und die Zurückbleibenden haben die Hände nicht in den Schooss gelegt. Da galt es aller Orten zu helfen, zu unterstützen, zu fördern, für die Angehörigen der Ausgerückten zu sorgen, die Verwundeten zu pflegen, den Kriegern im Felde geistige und leibliche Erquickung zuzuführen, den Hinterbliebenen der Gefallenen Trost und Unterstützung zu gewähren. Es war ein Zusammenwirken aller Kräfte in wahrhaft berauschendem Aufschwunge. Und vor Allem drängt es mich hier der Wirksamkeit der Männer ausdrücklich zu gedenken, deren Amt es ist, in der Kirche unserer Hochschule die sich sammelnde Gemeinde zu erbauen. Nie werden wir es 38

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den trefflichen Männern, unsern Universitätspredigern, vergessen, wie sehr sie es verstanden haben, von heiliger Stätte herab die wechselnden Empfindungen des Tages, der bangen Sorge, des thränenreichen Schmerzes, des aufzuckenden Jubels zu klären und zurückzuführen auf jene tiefe Sammlung des Gemüthes, die in den schwankenden Leidenschaften der einzig sichere Hort und Ankergrund ist. Die überfüllten Räume unserer Kirche werden ihnen ein Beweis gewesen sein, welchen Wiederhall ihre Worte in unsern Herzen gefunden haben. Ein blutig und grausam Treiben ist der Krieg, und wer möchte zu widersprechen wagen, wenn man ihn ein dem Menschen nicht zur Ehre gereichendes Uebel nennt. Und doch, eine Eigenschaft besitzt er, die fast mit ihm versöhnen könnte: er entwickelt, wenn er im Dienste einer Idee geführt wird, sittliche Tugenden, die kein anderer Factor so gross und in so weitem Umfange hervorzurufen im Stande ist. Während sonst, unser Leben zu erhalten, es zu verschönen und behaglich zu gestalten, das Ziel unseres Strebens und unserer Thätigkeit zu sein pflegt, stellt jener Krieg plötzlich an uns die Forderung, dies Leben selbst dahin zu geben und es dahin zu geben freudig und ohne mit der Wimper zu zucken. Das muss eine gewaltige und den Einzelnen hoch erhebende Macht sein, die so dem Triebe unserer Natur zu entsagen lehrt. Und in den Seelen von Tausenden und Hunderttausenden erzeugt der Krieg diese Kraft. So schreitet er, der grausame Vernichter, sittlich kräftigend durch die Reihen der behaglich Dahinlebenden, so stählt er und hebt er das Leben ganzer Nationen. Diese erhebende Kraft eines gerechten Krieges hat sich auch an unserer Nation bewährt. Ihre Energie ist gewachsen, ihre Forderungen an sich selbst sind gesteigert, ihre Ziele sind höher gesteckt. Und auch unsere Universität wird jenes Einflusses nicht untheilhaftig bleiben. Unsere jungen Freunde sind anders, sind ernster heimgekehrt, als wir sie hinaussandten. Auch ihre Energie ist gewachsen, und über ihren Kreis hinaus wird ihre Stimmung von Wirkung sein. Wie unser deutsches Universitätsleben eine mächtige Aenderung erfuhr durch die verhältnissmässig doch nur Wenigen, die als Kämpfer aus den Freiheitskriegen heimgekehrt und wieder in sie eingetreten waren, so dürfen wir jetzt Aehnliches und Grösseres erwarten, und ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich annehme, dass jene schon an anderer Stelle von mir gerühmte energischere und idealere Auffassung des Berufs, die seit einer Reihe von Jahren an unseren Universitäten Platz zu greifen begonnen hat, nunmehr eine gesicherte Zukunft haben wird. Wenn wir uns so von dem Kriege eine Vertiefung unsers Universitätslebens glauben versprechen zu dürfen, so ist andererseits die Besorgniss, dass er dem ferneren Aufblühen unserer Universität hindernd in den Weg treten könne, nicht in Erfüllung gegangen. Die Zahl unserer Studierenden ist trotz der kriegerischen Zeitläufte in stetem Zunehmen begriffen geblieben und ist es noch zur Zeit, ja ist es mehr als je. – Es ist nicht ohne Interesse, das allmählige Wachsthum unserer Universität zu verfolgen. In den Jahren 1840 bis 1861, um nicht weiter zurückzugreifen, zeigt sich ziemlich derselbe jährliche Zufluss. Die Immatriculationen der einzelnen Rectoratsjahre schwanken etwas über und unter die Mittelzahl, welche für jene 21 Jahre 357 beträgt. Die Minimalzahl ist im Jahre 1845: 291, die Maximalzahl im 39

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Jahre 1849: 392. Mit dem Jahre 1862 beginnt eine energische Wendung zur Steigerung hervorzutreten, die Ziffer 400 wird überschritten, im Jahre 1865 die Ziffer 500. Aber mächtiger wird der Aufschwung erst, als die particularistischen Schranken zu fallen beginnen, die früher Deutsche von Deutschen trennten. Gleich im Jahre 1867 schreitet die Zunahme der Immatriculationen um zwei Hunderte vorwärts und überschreitet die 700, das zweitfolgende Jahr die 800. Und als gälte es, jene verläumderische Insinuation zu widerlegen, diese Frequenz unserer Hochschule beruhe darauf, dass sie ein Schlupfwinkel geworden sei für welfische Unzufriedenheit, überschreitet der Zuzug im Jahre 1870 die Ziffer 900, und im zweiten Jahre meines Rectorats, fast lawinenartig anschwellend, wieder mit Ueberspringung zweier Hunderte, die Zahl 1130, so dass man fast Grund hat, besorgt zu fragen, ob wir nicht manchen Lehrmitteln gegenüber bereits im Beginne einer Ueberfluthung stehen. – Den Ziffern des Zuganges entspricht in fast parallelem Verhältniss die Präsenzzahl der rite Immatriculirten. Bis zum Jahre 1861 schwankt sie zwischen 750 und 900, letztere Zahl nicht erreichend. 1862 wird die 900 überschritten, im Jahre 1865 die 1000 erreicht, im Sommersemester 1868 springt die Ziffer plötzlich auf 1309, im Jahre 1869 auf 1485, dann auf 1515, 1665, 1762, 1803, und gestern hat genaueste Zählung den Präsenzstand der rite Immatriculirten auf 2095 festgestellt, eine Zahl, die nach bisherigen Erfahrungen in unserm Personalverzeichniss, Anfang December, noch um etwas überschritten werden wird, da noch zahlreiche Immatriculationen in Aussicht stehen. Von den Immatriculationen der letzten 14 Tage, die etwa 600 betragen, kommen 191 auf die juristische Facultät, 90 auf die theologische, darunter 19 Theologen und Philologen, 89 auf die medicinische, circa 230 auf die sog. philosophische, davon 94 Philologen, oder nach Abzug der erwähnten 19 Theologen und Philologen, 75. Dieser äussere Aufschwung unserer Hochschule ist wohl erklärlich und wohlverdient. Er hält nur gleichen Schritt mit dem inneren Aufschwunge derselben, mit der Vermehrung ihrer Lehrkräfte und Bildungsmittel. Eine Reihe von Berufungen hat unsere Universität mit Männern ersten Ranges in ihrer Wissenschaft bereichert, weniger die juristische und medicinische Facultät, die eben erst bedeutende Männer von auswärts an sich gezogen hatten, als die theologische und namentlich die philosophische. Die theologische Facultät gewann Dr. Gustav Adolf Ludwig Baur, früher Professor der Theologie in Giessen, dann Prediger in Hamburg. Seiner Leitung ward auch das Seminar für practische Theologie und das Prediger-Collegium zu St. Pauli übergeben; als Universitätsprediger ist er bald unser Aller Herzen nahe getreten. Besonders zahlreich sind die neuen Erwerbungen der philosophischen Facultät, die zum Theil unserer Hochschule die Vertretung ganz neuer Disciplinen oder doch neuer Richtungen innerhalb derselben zuführten. Aus Kiel kam zu uns Dr. Ferdinand Zirkel als Professor der Mineralogie und Geognosie und als Director des mineralogischen Museums; aus Carlsruhe Dr. Gustav Wiedemann als Professor der Chemie und Director des physicalisch-chemischen Laboratoriums, besonders für die physicalische Richtung der Chemie; aus Giessen gewannen wir Dr. Ludwig Lange als Professor der classischen Philologie und Mitdirector des philologischen Seminars; aus Augsburg ward zu uns berufen Dr. Ferdinand Peschel als Professor 40

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der Geographie und damit diese wichtige und umfangreiche Wissenschaft in den Kreis der Ordinariate unserer Universität aufgenommen. Gleicherweise wurden neue Zweige der Wissenschaft dem Lehrkörper unserer philosophischen Facultät zugeführt durch die Berufung einer Anzahl ausserordentlicher Professoren, des Dr. Georg Ebers aus Jena für das Gebiet der Aegyptologie, des Dr. Aug. Leskien, ebenfalls aus Jena, für das Gebiet der slavischen Sprachen, und des Dr. Stohmann aus Halle als Docent für technisch-chemische Zweige der Landwirthschaft und als Leiter der chemisch-physiologischen Versuchsstation. Noch in den allerjüngsten Tagen ist eine Berufung innerhalb der medicinischen Facultät erfolgt, die des a. o. Professors Dr. G. Schwalbe als histologischen Assistenten des physiologischen Instituts. Auch durch Habilitation wurden unserer Universität eine Reihe frischer jugendlicher Kräfte zugeführt: in der theologischen Facultät habilitirte sich Dr. Emil Schürer, in der medicinischen die Doctoren Johann Jacob Müller und Livius Fürst, auch hier in der philosophischen Facultät die weitaus grössere Anzahl: Dr. Ernst Carstanjen für Chemie, Dr. Hugo Schuchardt für romanische Sprachen, Dr. Rudolf Engelmann für Mathematik und Astronomie, die Doctoren Adolph Philippi, Franz Rühl und Rudolf Hirzel für alte Geschichte, Philologie und Alterthümer, Dr. Heinrich Nitsche für Zoologie. Als einen besonders erfreulichen Beweis für die Anziehungskraft, die unsere Universität auf Männer ausübt, die ihr Leben der wissenschaftlichen Forschung und Lehre gewidmet haben, durften wir es ansehen, dass der langjährige und hochverdiente Professor der Philosophie an der Universität Dorpat, der kaiserlich russische Wirkliche Staatsrath Dr. Ludwig Strümpell nicht Anstand nahm, sich unter den Privatdocenten der philosophischen Facultät zu habilitiren. Es entsprach nur der Achtung, die sein Name erweckt, wenn ihn das Königliche Ministerium des Cultus und öffentlichen Unterrichts alsbald auf den Wunsch der philosophischen Facultät zum ordentlichen Honorarprofessor ernannte. Noch weiter wurden auf eine besonders erfreuliche Weise die Lehrkräfte unserer Universität vermehrt, indem ein Mitglied, das an dreissig Jahre eine Hauptzierde unserer Hochschule gewesen, seit einiger Zeit aber von der academischen Thätigkeit zurückgetreten war, Herr Geh. Hofr. Wilhelm Eduard Albrecht, sich bestimmen liess, noch einmal das Katheder zu besteigen, um eine in der juristischen Facultät plötzlich eingetretene Lücke auszufüllen. Mit inniger Freude haben wir den theuren Collegen wieder in unserem Kreise begrüsst. Auch die innerhalb unseres Corpus academicum vorgekommenen Beförderungen dürfen wir wohl unter den Gesichtspunct der Erweiterung und Bereicherung unserer Lehrkräfte stellen; denn jede Beförderung, indem sie den Beförderten höher und freier stellt, hebt auch seinen Wirkungskreis. Ernannt wurden zu ordentlichen Professoren der Director des landwirthschaftlichen Instituts Dr. Adolf Blomeyer, und der zweite Universitätsprediger Dr. Rudolf Hugo Hofmann, und zu ausserordentlichen Professoren in der theologischen Facultät Dr. Emil Kautzsch, in der philosophischen die Privatdocenten Dr. Hermann Credner und Dr. Ernst Windisch. Auch die durch den Tod des Dr. Böttger erledigte Stelle des Universitätssecretärs ward wieder besetzt, indem ein bewährter Beamter unseres Universitätsgerichts, 41

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der Dr. jur. Friedrich Gotthelf Moritz Meltzer zum Universitätssecretär ernannt wurde. Der Erweiterung unserer Lehrkräfte entspricht auch die Erweiterung unserer Lehrinstitute und Auditorien. Zunächst erwähne ich, dass die Vermehrung der Studentenzahl die Erbauung eines neuen Auditoriengebäudes, seit wenigen Jahren des zweiten, nothwendig gemacht hat. Wir haben ihm den Namen Bornerianum ertheilt, in dankbarer Erinnerung an Caspar Borner, dessen Energie allein es verdankt wird, dass zur Zeit der Reformation der Universität das Paulinerkloster übergeben ward, und der an der Stelle, wo nun das neue Gebäude sich erhebt, den ersten Ausbau der Klostergebäude für die Zwecke der Universität ausführte. Wir dürfen sagen, dass das Gebäude gerade zur rechten Zeit fertig geworden ist, denn die ersten Tage des neuen Semesters haben seine grössten Hörsäle gefüllt. Sodann habe ich zu rühmen, dass endlich der Fonds für Vermehrung der Universitätsbibliothek so weit aufgebessert ist, dass es fortan möglich sein wird, den berechtigten Anforderungen leidlich zu genügen. Auch ward ein geräumiges Lesezimmer hergestellt, und damit die Verwerthbarkeit dieser für die Studierenden so eminent wichtigen Anstalt gesteigert. Wir dürfen hoffen, dass es der umsichtigen und thätigen Leitung derselben gelingen werde, noch weitere Erleichterungen für die Studierenden herbeizuführen. – Neu eröffnet ward das pathologisch-anatomische Institut, und das pathologisch-chemische; die Poliklinik ward in bessere Räume und mehr in die Mitte der Stadt und der Universität verlegt. Das landwirthschaftliche Institut ward wesentlich erweitert durch die Anlegung einer chemisch-physiologischen Versuchsstation. Ganz besonders aber gewann die medicinische Facultät durch die Eröffnung des neuen städtischen Krankenhauses, dessen musterhafte Einrichtung unserer Stadtgemeinde zum höchsten Ruhme gereicht und das von weit und breit Kenner und Freunde der Heilkunde herbeizieht. Und noch Weiteres steht bevor: Schon erhebt sich nahezu vollendet, ein unübertroffenes Muster seiner Art, ein stattliches Auditoriengebäude, das ein Mitglied unserer medicinischen Facultät aus eigenen Mitteln erbaut hat, um es für populäre physiologische Vorträge zu verwenden; die seit lange beabsichtigte, leider zu lange verzögerte Erbauung eines eigenen physicalischen Institutes, der Neubau eines mineralogischen Museums, ein grossartig entworfener Neubau der Anatomie und eines zoologischen Museums, die Gründung einer grossen psychiatrischen Klinik, das Alles soll nun in nächster Frist in Angriff genommen und möglichst schnell zu Ende geführt werden, so dass wir sagen dürfen, dass unsere Universität noch nicht auf dem Höhepunct ihrer Blüthe angekommen ist. Besonders mache ich noch auf eine Richtung aufmerksam, die sich bei uns Geltung zu verschaffen beginnt und die gewiss eine grosse Zukunft hat, ich meine die Vermehrung und Hebung der Uebungsmittel. Das philologische Seminar ist wesentlich erweitert, und selbst in einer Facultät, die bisher ein Seminar, wenigstens bei uns, nicht kannte, in der juristischen, ist jüngst ein solches gegründet worden, und Weiteres scheint hier, wie in der philosophischen Facultät, bevorzustehen. Wenn wir so mit Stolz und Freude auf unsere Hochschule blicken, so wollen wir auch nicht vergessen, den Blick des Dankes auf den Mann zu richten, dem ein 42

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Hauptverdienst gebührt an dem Aufschwunge, den unsere Universität genommen. Der Freiherr Joh. Paul von Falkenstein übernahm die Leitung des Cultusministeriums zu einer Zeit, als unsere Universität bei dem Minimum ihrer Präsenzzahl angelangt war. Die Gründe für diesen Verfall lehrt die Geschichte jener Jahre. Sofort aber die ersten Schritte und Maassnahmen des in sein Amt Eintretenden verriethen, dass fortan ein neuer Geist die Anstalt leiten solle, verriethen sofort den humanen, wohlwollenden Sinn, der seine Verwaltung auch später stets ausgezeichnet hat, und jene innige Liebe und Verehrung für die Wissenschaft und ihre Ausbreitung, die ihn befähigte, so Grosses, für unsere Hochschule zu leisten. Von Jahr zu Jahr mehrten sich jetzt die Lehrkräfte und die Lehrmittel unserer Universität, und von Semester zu Semester entsprach diesem Wachsthum die steigende Frequenz der Studierenden, die aus allen Gauen Deutschlands und aus weiter Ferne herbeieilten, so dass, als der von uns Allen verehrte Mann vor wenigen Wochen aus seinem schweren und verantwortungsvollen Amte schied, er die Universität fast um das Dreifache vermehrt seinem Nachfolger übergab. Die Universität konnte es sich nicht versagen, die Gefühle des Dankes und der Verehrung, die sie für den Scheidenden empfand, demselben in einer Adresse auszusprechen, die eine Deputation der Universität am 10. August d. J. in Frohburg überreichte. Die Adresse, wie die schönen Worte, welche der Angeredete erwiderte, sind in unsere Universitätsschriften aufgenommen worden. Zugleich beschloss der academische Senat, dass eine Marmorbüste des Gefeierten in dieser Aula aufgestellt werden solle. Wenn wir mit ernsten Sorgen einen so wohlwollenden und verdienten Leiter unserer Anstalt aus seiner Stellung scheiden sahen, so sollten diese Sorgen doch bald gehoben werden, indem das Vertrauen unseres Königs zum Nachfolger desselben einen Mann aus unserer eigenen Mitte berief, unseren langjährigen und hochgeschätzten Collegen, Dr. Carl Friedrich von Gerber. So schmerzlich es uns berührte, den berühmten Rechtslehrer unserer Hochschule entzogen zu sehen, so haben wir ihn doch mit Freuden in seiner neuen wichtigen Stellung begrüsst, und unser volles Vertrauen wie die schönsten Hoffnungen für unsere Universität und für unser Land sind ihm gefolgt. Unvergessen werden uns namentlich die goldenen Worte bleiben, in denen er bei seinem Abschiede die Grundsätze zusammenfasste, nach welchen er die Verhältnisse der Universität zu verwalten gedenke: „Schaffet jederzeit den ausgezeichnetsten Mann, befreit seine Wirksamkeit von allen Hemmnissen, und regiert im Uebrigen so wenig als möglich.“ Mit dieser Erwähnung des Abganges des Herrn von Gerber bin ich bereits auf dem Blatte meines Rechenschaftsberichtes angelangt, auf welchem die Verluste verzeichnet stehen, die unsere Hochschule betroffen haben. – Durch Berufung nach auswärts wurden unserer Universität drei Mitglieder entzogen. Dr. Heinr. Ferd. Mühlau folgte einem ehrenvollen Antrage als Professor der Theologie an die Universität Dorpat. So ungern wir den ebenso tüchtigen wie liebenswürdigen jungen Gelehrten aus unserer Mitte scheiden sahen, so gereicht es uns doch zur Befriedigung, eine so vorzügliche Kraft nunmehr an einem Orte wirksam zu wissen, wo es gilt, dem deutschen Elemente Achtung zu sichern, es zu stärken und zu befestigen. – Nur ganz kurze Zeit war an unserer Universität als Docent wirksam Dr. Carl Graebe, 43

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dessen Berufung als ordentlicher Professor der Chemie nach Königsberg ausreichend bekundet, einen wie tüchtigen Vertreter seines Faches wir an ihm besessen hatten. – Der Privatdocent und Director des städtischen Museums, Dr. Hermann Riegel, folgte zu Ostern d. J. einem Rufe nach Braunschweig als Director des herzoglichen Museums und Professor der Kunstgeschichte an dem Polytechnicum. Seit seinem Weggange ist das Gebiet der neueren Kunstgeschichte an unserer Hochschule unvertreten, doch ist von mehr als einer Seite gegründete Aussicht vorhanden, es bald in einer der Bedeutung unserer Universität würdigen Weise wieder besetzt zu sehen. Durch Versetzung in den Ruhestand schied von uns ein um unsere Universität wie um unser Land hochverdientes langjähriges Mitglied, der Geh. Bergrath Dr. Carl Friedrich Naumann. Wir hoffen, dass auch in der Ferne seine Liebe zu unserer Hochschule nicht erkalten werde, wie wir des trefflichen Mannes nicht vergessen werden, der, ein Muster gründlicher Wissenschaftlichkeit und liebenswürdigster Bescheidenheit, die Herzen Aller gewann, die ihm näher traten. – Der designirte ordentliche Honorar-Professor Dr. Friedrich Brauell gab im Frühlinge dieses Jahres seine Stellung an unserer Hochschule wieder auf. Schmerzlicher sind die Einbussen, die uns der Tod zugefügt hat. Während die theologische und die juristische Facultät das Glück haben, keinen der Ihrigen zu vermissen, betrauert die medicinische und die philosophische Facultät um so härtere Verluste. Zwei Anatomen starben dahin, welche die Gegenwart zu ihren besten zählte, Eduard Friedrich Weber, am 18. Mai d. J., und wenige Wochen darauf, am 12. Aug. d. J., Franz Schweigger-Seidel. Der eine, Eduard Weber, seit einer langen Reihe von Jahren eines der thätigsten und anregendsten Mitglieder unserer Universität, hat seinen Namen für immer in die Geschichte der Wissenschaft eingetragen. Seine Mechanik der Gehwerkzeuge, die Theorie der Muskelbewegung und die Entdeckung der Hemmungsnerven sichern ihm unverwelklichen Ruhm. Der andere, Franz Schweigger-Seidel, ward uns in der Blüthe seiner Jahre entrissen, nach kaum sechsjährigem Wirken an dieser Universität, voll von Entwürfen. Welche Kraft und welche Hoffnung mit ihm begraben wurden, bezeugen seine Untersuchungen über den Bau der Niere, des Herzens, der Hornhaut und der Lymphbahnen. – Während diese beiden Männer aus der Mitte rüstigster Wirksamkeit abgerufen wurden, verlor die Facultät noch zwei Mitglieder, von denen das eine, bereits an der Grenze der menschlichen Lebensdauer angelangt, schon länger der academischen Wirksamkeit entsagt, das andere so eben erst die Schwelle des academischen Berufes überschritten hatte. Am 2. December 1869 starb, 71 Jahre alt, der a. o. Professor Dr. Ernst Heinrich Kneschke, einst hochgeschätzt als Augenarzt, später mehr encyclopädischer und litterarischer Thätigkeit zugewandt, und am 8. August 1870 starb nach kaum dreitägigem Unwohlsein der Privatdocent der Medicin und Assistent am pathologisch-anatomischen Institut, Dr. Ottomar Bayer, der durch seine Arbeiten über das Epithel der Lungenalveolen und über das Zustandekommen des ersten Herztones schöne Hoffnungen erregt hatte, werth Allen, die ihn kannten, durch seine Gewissenhaftigkeit und unermüdliche Pflichttreue und durch die Schlichtheit seines offenen und wohlwollenden Charakters. 44

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Es ist eine eigene Fügung des Geschicks, dass ich, auf die Verluste der philosophischen Facultät übergehend, neben einander den Tod zweier Männer zu berichten habe, die, derselben Wissenschaft angehörend, von Jugend auf innigst befreundet und ununterbrochen gemeinsam an unserer Hochschule thätig, längere Zeit die hauptsächlichsten Vertreter ihres Faches, der classischen Philologie, an unserer Universität als Lehrer wie als Directoren des philologischen Seminars waren, Anton Westermann und Reinhold Klotz. Der erstere, der bereits seit einigen Jahren in den Ruhestand getreten war, starb am 24. November 1869, der letztere, noch in voller Wirksamkeit, am 10. August 1870. Westermann hat sich durch seine Geschichte der attischen Beredtsamkeit grosse Verdienste um die griechische Litteraturgeschichte erworben, hat durch zahlreiche Abhandlungen über Gegenstände der griechischen Alterthümer manchen dunkeln Punct dieser Wissenschaft in klareres Licht gestellt, und durch seine Ausgaben ausgewählter Reden des Demosthenes nicht bloss das Verständniss des grossen Redners überhaupt gefördert, sondern auch dasselbe der studierenden Jugend bedeutend näher gebracht. Er war als Lehrer wie als Gelehrter ein Muster sorgfältigster Gewissenhaftigkeit. Reinhold Klotz hat während vier voller Decennien nicht nur seinem Lehrerberufe mit Eifer und Treue obgelegen, indem er namentlich für formale Bildung im Gebiete des Lateinischen zu wirken bestrebt war, sondern er ist auch daneben nie müde geworden, seiner Wissenschaft durch litterarische Thätigkeit, namentlich durch Ausgaben lateinischer Schriftsteller, in mehrfacher Hinsicht zu dienen. Aus den Reihen der Studierenden unserer Universität wurde durch Krankheit eine im Verhältniss zu der Frequenz unserer Hochschule nur geringe Anzahl uns entrissen, im Laufe der zwei Jahre nur dreizehn. Um so grösser ist die Zahl derer, die im Kriege den Tod für’s Vaterland gestorben sind. Von etwas über 400 Commilitonen, die in die Reihen unseres Heeres eintraten, sind 55 nicht heimgekehrt, einige 40 haben den Heldentod auf dem Schlachtfelde gefunden, die übrigen sind durch Krankheit oder Unglücksfälle hingerafft. Zu ihnen treten noch 8, die kurz vor Ausbruch des Krieges unsere Hochschule verlassen hatten, im Ganzen also 63. Es ist das eine schmerzlich hohe Ziffer, nahezu 15 Procent, und diese hohe Ziffer wird um so bedeutungsvoller, wenn wir die Verluste zum Vergleich herbeiziehen, die unsere deutschen Schwesteruniversitäten erlitten haben. So sind von etwa 650 Studierenden der Berliner Hochschule nur 28 gefallen, was kaum ein Drittel unseres Verlustes ergiebt. Die furchtbaren Stunden von St. Privat und der blutige Tag von Brie sur Marne sind es besonders gewesen, die so grausam in den Reihen der Unsrigen gewüthet haben. Unsere dankbare Erinnerung ist den so früh Dahingesunkenen gesichert. Am 24. Juni, wo die Stadt Leipzig das Andenken ihrer heimgegangenen Lieben feiert und unsere Gottesäcker in einen Blumengarten verwandelt, haben auch wir das Andenken unserer heimgegangenen Commilitonen feierlich begangen; und wir haben dafür gesorgt, dass während ihre sterbliche Hülle draussen in fremder Erde ruht, ihr Gedächtniss fortleben soll in diesem Saale. Ein Denkmal mit den Namen und den Lebensdaten der Gefallenen soll sich, nicht, wie anfänglich beabsichtigt, in der Kirche, sondern hier, mitten in dieser Aula, dort wo bei unseren Festen die Schaar der Commilitonen sich drängt, erheben, ein mächtiger Sockel 45

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von Granit, gekrönt von einer Germania, die auf das Grab der gefallenen jungen Helden einen Kranz niederlegt. So werden sie, die als Commilitonen unserer Universität in ein frühes Grab gesunken sind, für alle Zeiten fortleben mitten unter Commilitonen, sie allein ewig jung im Wechsel und Altern der Generationen unserer Hochschule. Noch habe ich auch des Todes eines treuen Dieners unserer Universität zu gedenken. Am 2. Juli d. J. starb der Pedell Carl Heinrich Domsch. Wenn ich überhaupt das besonnene und tactvolle Benehmen unserer Universitätspedelle zu rühmen habe, deren Dienst dem oft übersprudelnden Muthwillen der Jugend gegenüber kein leichter ist, so hat an diesem Lobe auch der Verstorbene, zumal in den letzten Jahren, seinen vollen Antheil. Werfe ich noch einen Blick zurück auf die Ereignisse speciell unsers Universitätslebens im Laufe der letzten zwei Jahre, so finde ich noch Erfreuliches zu berichten. Abgesehen von der hundertjährigen Wiederkehr des Todestages Gellert’s, die wir in diesen Räumen mit einer Erinnerungsrede begingen, hatten wir auch das Glück, drei unserer Collegen fünfzigjährige Jubelfeste begehen zu sehen. Am 17. Febr. 1870 feierte der Geh. Med.-Rath Dr. Radius sein fünfzigjähriges philosophisches Doctorjubiläum, am 8. Januar 1871 der Geh. Hofrath Dr. Hänel sein Jubiläum als ausserordentlicher Professor, und an eben demselben Tage Ernst Heinrich Weber sein Jubelfest als ordentlicher Professor unserer Hochschule. Dies seltene Fest veranlasste den academischen Senat zu dem Beschlusse, um das Andenken des gefeierten Lehrers und Gelehrten an unserer Universität dauernd lebendig zu erhalten, eine Marmorbüste desselben in dieser Aula aufzustellen, die, bereits vollendet, bald den ihr bestimmten Platz einnehmen wird. Alle drei Jubelgreise weilen noch heute in unserer Mitte, in rüstiger Kraft des Geistes und des Körpers und thätig für die Zwecke unserer Hochschule, und wir Alle wiederholen ihnen heute den Wunsch, den wir ihnen an ihrem Ehrentage aussprachen, dass sie dieses Glücks lange theilhaftig bleiben mögen. – Auch eine Anstalt, die zu der Universität in enger Beziehung steht, feierte das fünfzigjährige Jubiläum ihrer Gründung, die Augenheilanstalt, am 1. Juni 1870, ein mahnendes Zeugniss, was aus kleinen Anfängen durch treues Ausharren und uneigennützige Menschenliebe zu werden vermag. Und noch eines bedeutsamen Tages muss ich gedenken, obwohl an ihm der Universität nur die Ehre der Antheilnahme zufiel. Am 5. August 1870, mitteninne zwischen zwei gewaltigen Siegestagen, den Tagen von Weissenburg und Wörth, vollzog sich in unserer Stadt mit imposanter Einfachheit die Eröffnung des höchsten deutschen Gerichtshofes, sie selber kaum ein geringerer Sieg, eine grosse Errungenschaft und der Keim zu weiteren von noch nicht zu übersehender Tragweite. Die Blicke und die Segenswünsche der gesammten Nation ruhen auf dem hohen Gerichtshofe, der fortan der vorzüglichste Gradmesser sein wird, wie weit unser Vaterland in dem noch nicht abgeschlossenen Werke seiner Einigung gediehen ist. Und mit diesem Blicke auf unser grosses Vaterland und seine Zukunft lassen Sie mich meinen Bericht schliessen. Es erübrigt nur noch, von dem Erfolge zu berichten, den die Aufstellung der Preisaufgaben für das vergangene Jahr gehabt hat. 46

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1. Die theologische Facultät hatte die Aufgabe gestellt: „Exponatur recapitulationis (ἀνακεφαλαιώσεως) potestas in Irenaei theologia“. Es sind ihr zwei Arbeiten übergeben worden, welche die nicht leichte Aufgabe in einer Weise zu lösen versucht haben, über welche die Facultät nicht umhin kann, ihre Freude auszusprechen. Beide gehen mit Gründlichkeit zu Werke, stellen im Ganzen gut dar und bringen in der Hauptsache richtige Resultate. Die theologische Facultät hat derjenigen Arbeit, welche die Stelle Irenaeus adversus haereses II, 6, 1 als Motto trägt, den Preis zuerkannt, weil sie mehr wissenschaftliche Methode beweist. Indess kann die Facultät nicht verschweigen, dass die Gliederung dieser Arbeit nicht ganz zweckentsprechend, die Entwicklung der Bedeutung der Worte ἀνακεφαλαιοῦν u. a. nicht völlig gelungen ist, und dass der Nachweiss der Stelle, welche dieser Begriff in der Theologie des Irenaeus einnimmt, dem geschichtlichen Character derselben nicht ganz entspricht. – Die zweite Arbeit, welche zum Motto die Stelle Röm. 5, 19 hat, kommt der ersteren zwar an Wissenschaftlichkeit des Verfahrens nicht gleich, aber anzuerkennen ist, dass sich der Verfasser in den fraglichen Gedanken des Irenaeus tiefer eingelebt hat; auch beweist derselbe ein so gründliches Studium des Irenaeus, so viel Streben nach einheitlicher Erfassung der Lehre desselben und so viel Verständniss der Hauptsache, um die es sich handelt, dass die theologische Facultät ihn einer ehrenvollen Nennung seines Namens würdig erachtet hat. Bei Eröffnung der Scheda ergab sich als Verfasser der mit dem Preise zu krönenden Arbeit: Gustav Molwitz, Stud. d. Theol., als Verf. der zu belobenden Arbeit: Friedrich Moritz Köhler, Stud. der Theologie und Philologie. 2. Die Juristenfacultät hatte die Preisfrage gestellt: „Quid discriminis intercedit inter naturam patriae potestatis juris Romani antiquioris et naturam servitutis?“ Es sind zwei Bearbeitungen derselben eingegangen. Die erste derselben, die das Motto trägt: „Wenn jemals sich die Werkzeuge von selbst bewegen können, dann wird die Sclaverei aufhören“, konnte schon aus formellen Gründen nicht in Betracht gezogen werden, weil derselben eine Schedula mit Namensbezeichnung nicht beigegeben war. Aber auch der Inhalt derselben erschien durchaus unbefriedigend. – Die zweite Arbeit mit dem Motto: „De forti dulcedo“ zeugte von fleissigem Quellenstudium, sowie von frischem selbsständigem Urtheil, und enthält immerhin einen anerkennenswerthen Versuch zur Lösung der Aufgabe. Allein die Latinität entspricht nicht den zu stellenden Anforderungen, und neben mehreren unhaltbaren Interpretationen finden sich auch sachliche Unrichtigkeiten. Unter diesen Umständen hat die Facultät auch dieser Arbeit den ausgesetzten Preis nicht zuerkennen können, allein sie hält den Verfasser wegen des bewiesenen Fleisses und Geschickes einer öffentlichen Belobung für würdig. Die Oeffnung der mit der Arbeit überreichten Schedula ergab als Namen des Verfassers Otto Fischer, Stud. d. Rechte, aus Lüdenscheid. 3. Auf die von der medicinischen Facultät gestellten Preisfragen sind keine Arbeiten eingegangen. 4. Von der philosophischen Facultät waren drei Preisfragen gestellt: a. „eine philosophische Entwicklung des Gottesbegriffs in der griechischen Philosophie bis zu den Stoikern einschliesslich.“ – Diese Aufgabe hat einen Bearbeiter gefunden, welcher seine Schrift mit dem Motto bezeichnet hat: Εἴσιτε, καὶ γὰς 47

Friedrich Zarncke

ἐνταῦϑα ϑεοί εἰσιν. Die Facultät erkennt mit Freuden den Fleiss und das warme Interesse an, mit welchem der Verfasser den Gegenstand behandelt hat. Allein ungeachtet der ernsten historisch-philosophischen Studien, von welchen die Arbeit Zeugniss ablegt, lässt dieselbe doch mehrfach ein genaueres Eingehen in die wichtigeren Fragen, namentlich der Platonischen und Aristotelischen Gotteslehre vermissen, so dass die Hauptmomente in der Entwickelung der Gottesidee nicht bestimmt genug hervortreten. Wenn daher die Facultät der Arbeit nicht den vollen Preis hat zuerkennen können, so hat sie dieselbe doch des Accessites vollaus würdig erachtet. Bei Eröffnung der Scheda ergab sich als Name des Verfassers: Carl Moritz Rechenberg, Stud. d. Philosophie und Philologie, aus Belgershain. b. Die philologische Preisfrage lautete: „De metathesis graecae natura atque indole“, und mit ihrer Lösung beschäftigt sich eine Arbeit, die mit dem Motto eingelaufen ist: Τὸ μὲν ζητούμενον ἁλωτὸν, ἐκφεύγει δὲ τἀμελούμενον. Diese Arbeit ist zwar nicht gleichmässig durchgeführt, lässt auch in Bezug auf Anordnung und Zusammenfassung Manches zu wünschen übrig, enthält aber eine solche Fülle des mit grossem Fleisse zusammengetragenen Stoffes und beweist eine so achtbare Vertrautheit sowohl mit dem engeren Gebiete der griechischen wie mit dem weiteren der vergleichenden Grammatik, dass sie von der Facultät des vollen Preises würdig befunden ist. Bei Eröffnung der Scheda ergab sich als Name des Verfassers Justus Siegismund, Stud. d. Philologie, aus Leipzig. c. Auf die mathematische Preisfrage ist eine Lösung nicht eingelaufen. Für das nächste Universitätsjahr werden die folgenden Preisfragen gestellt: 1. von der theologischen Facultät: „Pontificiorum et Evangelicorum doctrina de ecclesia quomodo differat, exponatur“. 2. von der medicinischen Facultät: „Ueber die Wirkung der Kalisalze auf den menschlichen Körper“. 3. von der juristischen Facultät: „Beurtheilung der neueren Ansichten über Begriff und Natur der sogenannten juristischen Personen.“ 4. von der philosophischen Facultät: a. von der philosophischen Section: „Historische Entwicklung der verschiedenen Formen des metaphysischen, ethischen und aesthetischen Idealismus und Realismus“. b. von der philologisch-historischen Section: Sparta’s innere Geschichte während des peloponnesischen Krieges. c. von der mathematisch-naturwissenschaftlichen Section: „Ueber den Bau, den Mechanismus und die Entwicklung des Stachels bei den bienenartigen Thieren“. Die Preisarbeiten können in der philosophischen und medicinischen Facultät und diesmal auch in der juristischen deutsch geschrieben sein; die in der theologischen dagegen sind lateinisch abzufassen. Sie müssen bis zum 31. August 1872 bei dem Decan der betreffenden Facultät eingereicht werden und mit einem Motto versehen und von einem verschlossenen Couvert begleitet sein, welches aussen dasselbe Motto und im Innern den Namen des Verfassers enthält. (Hierauf erfolgte die Vereidigung des antretenden Rectors und die Uebergabe der Insignien des Rectorats an denselben.) 48

Carl Reinhold August Wunderlich (1815–1877)

31. Oktober 1871. Rede des antretenden Rectors Dr. Wunderlich, Professors der Klinik. Hochzuverehrende Anwesende! Indem ich die Ehre habe, vor dieser hochansehnlichen Versammlung zu sprechen, macht mir meine Wahl eines Themas nicht wenig Sorge. Die Wissenschaft, der ich diene, hat es nur mit ernsten und vielfach traurigen Angelegenheiten zu thun und wenn sie auch ihre Jünger dahin leitet, allenthalben in Unabänderliches sich mit Ergebung zu fügen, für den Unvorbereiteten pflegen ihre Objecte abschrekkend und widerwärtig zu sein. So muss ich denn um Ihre ganze Nachsicht bitten, wenn ich über die Gesundheitsverhältnisse in den productiven Lebensaltern Einiges vielleicht unerquickliche vorzutragen mir erlauben werde. Was heist Gesundheit? Jedermann spricht von ihr: und nicht nur von der der Menschen, Thiere und Pflanzen. Man spricht von einem gesunden Frieden im Gegensatz zu einem faulen, von der gesunden Entwicklung eines Geschäftes im Gegensatz zu einer schwindlerischen, von gesunder Luft, von gesundem Wasser im Gegensatz zu solchen, welche schädlich wirken. Und doch weiss Niemand in Kürze zu sagen, was man Gesundheit zu nennen hat. Niemand ist im Stande, von diesem ersten aller persönlichen Güter, von diesem Gute, das jedes andere Gut erst vollständig geniessbar macht, eine befriedigende Definition zu geben. Versuchen wir, ob es möglich ist, auch die menschliche Gesundheit aus ihren Gegensätzen zu begreifen. Der erste und gewöhnlich als einziger gedachte Gegensatz ist die Krankheit. Es besteht beim Kranksein im Organismus ein neuer, so zu sagen fremdartiger Process, eine Kette von Vorgängen, welche entweder – im Falle der Heilung – eingeschoben sind zwischen den Gang des gesunden Lebens, oder – im Falle der tödtlichen Beendigung – das Leben abschliessen. Aber freilich! Nicht nur pflegt man beschränkte, einflussarme Processe solcher Art kaum als Krankheit anzuerkennen; sondern manche für die Erhaltung des Individuums oder der Species nothwendige Vorgänge sind auch eingeschobene Processe und zeigen Erscheinungen, die unter andern Umständen unbedingt als krankhaft angesehen werden müssten: der Durchbruch der Zähne mit seinen Schmerzen, die Vorgänge in den Magenwänden bei der Verdauung, der Schlaf mit seinen Halluci49

Carl Reinhold August Wunderlich

nationen und bewusstlosen Reden und Bewegungen, die monatlichen Blutungen, die Gravidität und der örtliche Involutionsprocess im Wochenbett. Es hängt von den Umständen und Ursachen, von Ort und Zeit ab, ob gewisse Vorgänge normal heissen oder die Bedeutung einer Krankheit haben. Und auch in exquisiter Krankheit ist häufig nichts Anderes vorhanden, als eine Steigerung gesunder, normaler Vorgänge zur Beseitigung einer Gefahr, nichts Anderes, als der Versuch einer Ueberwindung von Schädlichkeiten, eine Geschichte von keineswegs nothwendig heterogenen Lebensäusserungen mit reparatorischem Ziele. In dem Organismus sind regulatorische Einrichtungen vorhanden, nicht nur um den gewöhnlichen Schwankungen der äussern Einflüsse den Körper anzupassen, sondern auch um tiefer eingreifende Schädlichkeiten zu eliminiren und ihre Wirkungen auszugleichen. Es ist nicht ein einzelnes Organ, welches diese Function hat, sondern allenthalben greifen die Einrichtungen des Organismus so in einander, dass ein Plus beschränkt, ein Minus ergänzt wird. Ist z. B. die im Körper fortwährend stattfindende Production von Wärme gesteigert, so wird nicht nur der Abzug der Wärme erhöht, sondern es folgt eine Zeitlang eine Minderproduction. Ist die Abfuhr der Wärme vermehrt, so wird der Verlust sofort durch eine reichlichere Production gedeckt. Ein solches regulatorisches Spiel im grossen Ganzen, wie in jedem einzelnen Theile ist in unaufhörlicher Thätigkeit im gesunden Leben und erhält dessen gleichmässigen Gang. Auch in der Krankheit steht die Regulation keineswegs stille; sie dauert fort fast bis zum Todesmomente. Allerdings ist es nicht mehr die ruhige Regulation, bei welcher mit wenigen Mitteln der Zweck erreicht wird; es ist auch nicht mehr die Erhaltung in den gewöhnlichen Gränzen. Vielmehr kommt die Regulation ins Schwanken, sie bedarf der Unterstützung und Ergänzung durch sonst wenig in Anspruch genommene Theile und bewegt sich auf einem andern Niveau. Die Schwankungen gleichen sich wohl täglich aus. Aber der Ausgleich endet mit einem Plus oder Minus, und geringe Einflüsse sind oft im Stande, grosse Ausschreitungen hervorzurufen, wie sie im gesunden Leben nicht vorkommen. Aber es ist klar, dass diese Abweichungen ohne Gränzen sich an das Verhalten im gesunden Zustande anschliessen. Und so allenthalben. Krankheit und Gesundheit sind keine wissenschaftlich strengen Gegensätze. Man hat nur nach ganz groben Eindrücken eine Anzahl von Situationen und Verhaltungsweisen, welche lästig und unangenehm sind, und mehr oder weniger die Existenz zu bedrohen scheinen, obwohl sie gerade oft zur Abwehr von Schädlichkeiten nothwendig sind, mit dem Namen Krankheiten belegt. Es soll nicht gesagt sein, dass nicht zwischen Gesundheit und Krankheit eine gewisse Gegensätzlichkeit bestehe; aber diese Gegensätzlichkeit ist eine ungenaue und beide Arten des Lebens spielen ohne Gränze in einander über. Ja man kann sagen, dass gerade in der Krankheit sich die Gesundheit jedes Einzelnen bewährt und abspiegelt. In der Krankheit zeigt sich, über welche Summe von Gesundheit der Mensch zu verfügen hat, zeigt sich, was er nach Leib und Seele werth ist: da kommen die versteckten Schäden, kommt aber auch der Gehalt und die geistige wie körperliche Lebensenergie zum Vorschein. Man lernt einen Menschen, seine 50

Antrittsrede 1871

physische wie moralische Gesundheit vollständig nur dann kennen, wenn man ihn in Krankheit beobachtet hat. Es gibt aber noch ein anderes Verhalten, das wie ein Gegensatz der Gesundheit sich ausnimmt, und das man doch nicht Krankheit nennen kann: es ist die Degeneration, die Entartung. Die Degenerirten sind Menschen, bei welchen der volle Schein der Gesundheit bestehen kann, in der That aber manche dem Unkundigen oft entgehende oder bedeutungslos scheinende Merkmale eine Abweichung verrathen, und bei welchen eine erhöhte Geneigtheit zu Erkrankungen und zwar zu ganz besonders gestalteten besteht. Die Degeneration ist eine organische Belastung des Individuums, und diese Last kann gross oder klein sein. Mag sie aber gross oder klein sein, so kann sie kürzere oder längere Zeit, selbst das ganze Leben hindurch unbemerkt getragen werden. Darum fehlt der durchschlagende Gegensatz zur Gesundheit. Denn auch der Degenerirte kann der Gesundheit sich erfreuen. Diese ist freilich fragiler, erleidet leichter eine Störung, braucht sie aber nicht zu erleiden. Degeneration kann von Jedermann erworben werden: durch andauernde oder oft sich wiederholende schädliche Einwirkungen und unangemessene Functionirungen, oder aber als zurückbleibendes Resultat einer Krankheit, deren auffälligere Kundgebungen zwar verstummt sind, aber trotz des wiedererlangten Wohlbefindens jeden Augenblick und fast auf jede Veranlassung in denselben oder anderen Formen wiederkehren können. Die Degeneration ist aber ungemein häufig angeboren und hat ihre Quelle in den Eltern oder Vorfahren. Nichts ist wahrer, als dass die Sünden der Menschen bis ins dritte und vierte Glied und noch länger sich zu rächen pflegen. Mancher, der leichtsinnig seine Gesundheit dem Vergnügen opfert, würde innehalten, wenn er wüsste, welches Schicksal er zugleich seinen Nachkommen bereitet. Abstammung von gesunden Eltern und Vorfahren ist eine Erbschaft, deren Werth unvergleichlich ist. Die Krankheiten der Vorfahren, welche auf die Abkömmlinge Degeneration vererben können, sind ungemein zahlreich. Obenan stehen die Folgen der Trunksucht und die Lues, sodann die chronische Vergiftung durch Metallgifte, Narcotica und Malaria, die Verkümmerung durch andauernde Entbehrungen und Ausschweifungen, aber auch zahlreiche sonstige Krankheiten, vor allem die des Gehirns und der Nerven, die cretinöse Constitution und die ganz räthselhafte Disposition der sogen. Bluter, welche, soviel man weiss, nur auf dem Wege der Erbschaft erlangt wird. Die ererbte Degeneration kann, wenn sie mässig ist, in den folgenden Geschlechtern, besonders durch Heirathen in nicht entartete Familien sich verwischen und allmälig immer zahlreichere Nachkömmlinge unberührt lassen. Doch kommt dann zuweilen unerwartet mitten zwischen normalen Familiengliedern wieder ein Degenerirter hohen Grades vor und verräth das Brandmal der Race. Sehr oft aber ist die Familiendegeneration eine steigende oder wird es durch beständige Zwischenheirathen in der entarteten Familie. Die späteren Descendenten entarten immer mehr. Die Natur hilft sich dagegen durch die geringere Fruchtbarkeit der Degenerirten, durch häufige Fehlgeburten oder frühen Tod der Neugebornen oder durch die gänzliche Sterilität vieler Einzelner. Sonst würden die Degenerirten bald die gesunde Bevölkerung überwuchern. 51

Carl Reinhold August Wunderlich

Die ererbte Degeneration ist eine dauernde Abweichung vom jetzigen menschlichen Normaltypus, aber mit dem Character der Inferiorität, des Unzulänglichen und mit der Disposition zu Erkrankungen an bestimmten Formen. Der durch Heredität Degenerirte trägt auch, solange er gesund ist, häufig irgend einen Stempel der Degeneration an sich. Manche erkennt man an der Kopfform, an den Haaren, der Stellung und dem Schnitt der Augen, der Beschaffenheit des äusseren Ohres, des Mundes, der Zähne, der Rachenhöhle, den Missbildungen an Händen, Füssen und Genitalien; andere sind taubstumm oder von zwergartigem Wuchse. Die körperliche Entartung ist sehr gewöhnlich mit einer frühzeitig sich kundgebenden intellectuellen und moralischen Degeneration verbunden. Zwar gibt es unter den Degenerirten feine Köpfe, hervorragende Talente. Aber diese Begabung hat den Character der Einseitigkeit. Oft sind es Sonderlinge, oft problematische, oft dämonische Naturen. Vielfach finden sich unter ihnen Beschränkte und Schwachsinnige, sowie die Feinde der Cultur und der menschlichen Gesellschaft: Verbrecher und Tagediebe. Und beim Ausbruch von wirklicher Erkrankung sind es bei sehr vielen Degenerirten gerade die Seelenthätigkeiten, welche die stärksten Anomalien zeigen. Mancher Degenerirte stirbt, selbst im hochbetagten Alter, ohne dass jemals in seinem Leben die eigenthümliche Krankheit, zu welcher er die Disposition in sich getragen, zum Ausbruch kam. Ein solcher Ausbruch wird oft durch eine andere Krankheit, durch Excesse oder Ueberanstrengungen, durch Entbehrungen oder einen Zufall bewirkt. Auch die Aeusserungen der typischen Erkrankung können bei den Degenerirten wieder vorübergehen: es kann sich ein gesunder Zustand wieder herstellen, wenn man will, eine trügerische, eine relative, fragile Gesundheit, aber immerhin eine Gesundheit, welche nicht weniger diesen Namen verdient, als die Gesundheit des Säuglings oder des Greises. Es war nöthig hervorzuheben: dass vollständig normale Vorgänge des gesunden Lebens unter dem Ausdruck von Kranksein verlaufen können, dass selbst in der Krankheit die individuelle Gesundheit ihre Macht zeigt, dass eine schwere Belastung des Organismus, die Degeneration, die Gesundheit nicht ausschliesst, – es war nöthig diess voranzuschicken, um zu dem Schlusse zu kommen, dass Gesundheit nichts Absolutes ist, dass es nicht Eine, sondern verschiedene Gesundheiten gibt und wie die Schwangere und die Wöchnerin ihre eigenthümliche Gesundheit haben, wie der Degenerirte oder der Schwächling eine besondere, leicht zu störende Gesundheit besitzt, so hat auch jedes Geschlecht, fast jeder Stand, vornehmlich aber jedes Alter, wie seine besondern Leiden, so auch seine besondere, keineswegs blos quantitativ verschiedene Gesundheit. Gesundheit ist also ein Verhältniss, das nur in Beziehung auf das Subject und seine individuelle Lage zu verstehen ist. Verhaltungsweisen, welche bei dem Einen Gesundheit heissen, können bei dem Andern krankhaft sein. Die Gesundheit eines Individuums setzt das Vorhandensein von organischen Einrichtungen voraus, welche die ungestörte Fortsetzung des Daseins gemäss den jeweiligen Verhältnissen ermöglichen, und nicht weniger die Abwesenheit solcher, 52

Antrittsrede 1871

welche an sich, ohne nothwendige Concurrenz von äussern Schädlichkeiten, diese Fortsetzung bedrohen. Ich werde mich nur mit der Gesundheit der productiven Altersklassen beschäftigen: der productiven, im Gegensatz zu den blos consumirenden. Sind auch die verschiedenen, besondern Gesundheiten nicht blos quantitative Differenzen, so gibt es doch eine vollkommenste, eine so zu sagen ideale Gesundheit. Sie ist aber nur in einer kurzen Altersperiode, in der ersten Zeit des erwachsenen Alters, etwa vom 20. bis 35., äusserstenfalls vom 18. bis 45. Lebensjahr realisirt und nur bei Menschen von gesunder Abstammung, deren Körper in der vorausgegangenen Zeit nicht verzärtelt, wie aber auch nicht durch eingreifende Krankheiten, Ueberanstrengung und Ausschweifungen zerrüttet ist. Man darf stolz sein auf eine solche Gesundheit: denn man hat sie zum grossen Theil selbst sich erworben und namentlich erhalten. Man hat aber auch dankbar dafür zu sein: denn diese Gesundheit hängt ab von der Abstammung, von der vernünftigen Pflege in der Kindheit, von dem glücklichen Verschontbleiben von bösartigen Einflüssen. In diesem Zustand der festen und kräftigen Gesundheit des juvenilen Lebensalters besteht ein allgemeines Wohlbehagen und Kraftgefühl, es sind nicht nur alle Theile normal gebildet und sind jederzeit in Bereitschaft zu ihren Functionen. Die Leistungen erfolgen, ohne dass das Bewusstsein Kenntniss davon zu nehmen braucht, in zweckentsprechender Weise. Sondern – und darin liegt ein sehr wesentlich characteristisches Moment für die juvenile Gesundheit – es sind auch forcirte Functionsausübungen möglich, und wenn sie nicht zu übertrieben sind, so werden sie nur von einer nicht unangenehmen Ermüdung gefolgt, die, bei der raschen Reparation in diesem Alter, durch einige Ruhe sich so hebt, dass die ursprüngliche Fähigkeit und Bereitschaft zur Functionirung sich sehr bald wieder einstellt. Ueberdem kann durch methodische Uebung die Functionsfähigkeit der Sinne und Muskeln bis zu einer, den Grad bei Ungeübten erstaunlich überragenden Feinheit, Präcision und Ausdauer gebracht werden, wovon die fast fabelhafte und kaum sich bewusst werdende Beherrschung von Sinnen und Muskeln bei Virtuosen und Gymnasten alltägliche Beweise gibt. Höchst eigenthümlich ist ferner die Erhaltung eines gewissen Gleichgewichts in dem jugendlichen erwachsenen gesunden Körper trotz der verschiedensten äussern Einflüsse. Die von dem Körper hervorgebrachte Wärme (die Eigenwärme) ist, unter welchen Verhältnissen der äusseren Wärme oder Kälte der gesunde Mensch sich befindet, mag er gehungert oder reichliche Nahrung zu sich genommen haben, mag er in Ruhe oder in schwerster Arbeit sein, nahezu die gleiche d. h. sie bewegt sich nur innerhalb eines einzigen Wärmegrades, zwischen 29–30 R. Allerdings findet sich dieses Verhalten auch in andern Lebensaltern, jedoch nicht so vollkommen, wie in dem juvenilen. Ebenso erhält sich (und diess gilt ganz vorzugsweise von dem juvenilen Alter) das Körpergewicht, mag die Zufuhr eine übermässige oder die Kost schlecht und gering sein, solange nur der Körper nicht krank dadurch wird. Die Erfolge des methodischen Trainirens zeigen zwar, dass eine zeitweilige Veränderung des Körpergewichts auch beim Gesunden zuwege gebracht werden kann. Aber immer bleibt die Veränderung nur vorübergehend. Der Trainirte kehrt wieder zurück zu seinem früheren Gewicht oder er wird krank. Was das Verhalten 53

Carl Reinhold August Wunderlich

des geistigen Lebens betrifft, so ist eine gegenseitige Influenzbeziehung desselben mit dem körperlichen Verhalten, wie eine solche in dem späteren Lebensalter besteht, in der juvenilen Periode keineswegs die Regel. Auch bei geistiger Verwilderung und Verkommenheit kann im jugendlichen Alter die körperliche Gesundheit sich vollkommen erhalten, und man trifft die derbsten Naturen von unverwüstlicher Gesundheit unter den Schwachköpfen, unter Vagabunden und Zuchthäuslern. Aber auch der Gesundeste dieses Alters läuft manche Gefahren, theils durch von Aussen kommende Schädlichkeiten, theils durch unvorsichtige Functionirungen. Der gesunde jugendliche Organismus hat jedoch grosse Aussichten, diese nachtheiligen Einwirkungen zu überwinden. Plötzlich oder rasch wirkende Schädlichkeiten rufen zwar oft eine Art von Revolution im Körper hervor. Es spielt sich ein eigenthümliches Stück Leben ab, und je nach der Art der Schädlichkeit weichen die Vorgänge im Organismus in scharf bestimmte Bahnen aus. Aber wenn nur die krankmachende Ursache nicht gar zu mächtig war oder durch neu hinzukommende Schädlichkeiten die Wirkung gehäuft wird, so lenkt nach einer kurzen Scene scheinbarer Unordnung und heftiger Erschütterungen der Organismus wieder in den gleichmässigen Gang des gesunden Verhaltens ein. Auch langsam oder in häufiger Wiederholung wirkenden, so oft gar nicht beachteten Schädlichkeiten vermag der gesunde, jugendliche Körper lange Widerstand entgegenzusetzen; freilich kann derselbe auch bei dem Gesundesten zuletzt gebrochen werden. Diese Widerstandsfähigkeit des gesunden jugendlichen Körpers hat zur Folge, dass trotz zahlreicher Bedrohungen von aussen und innen, welche gerade dieses Alter der körperlichen Anstrengung, des übermüthigen Pochens auf unverwüstliche Kraft, der Genusssucht und Leidenschaft mehr als irgend ein anderes treffen, dass trotz dieser Gefahren doch die Wahrscheinlichkeit, sie alle zu überwinden, gross ist. Von hundert Menschen in dem Alter von 20 bis 40 Jahren, bei welchen übrigens nicht nur die Gesunden und Kräftigen, sondern auch die Degenerirten und Schwachen und die wirklich Kranken eingerechnet sind, stirbt binnen eines Jahres nur Einer. Es wird dieses Alter zwar an Lebenssicherheit von dem Alter zwischen 10 bis 20 Jahren, in welchem nur von 185 Einer im nächsten Jahr stirbt, und von 5–10, in welchen von 110 Einer zu Grunde geht, übertroffen. Aber diese beiden letzten Altersklassen sind unendlich viel spärlicher äusseren und inneren Feinden ausgesetzt. An das juvenile Alter schliesst sich in unmerklichem Uebergange eine zum Theil noch energisch productive Periode an von nicht minder eigenthümlichem, wenn auch wandelbarem Character. Ich nenne sie die präsenile Periode. Denn diese Periode umfasst einen Lebensabschnitt, in welchem das Senesciren (das Altern) zuerst leise und auf vereinzelten Punkten beginnt, aber mehr und mehr in Ausdehnung und Intensität fortschreitet bis zu dem Momente, wo das Senium vollendet, der Körper marastisch und die Productionsfähigkeit erloschen ist. Diese präsenile Periode greift so innig in die jugendliche ein, dass in ihrer ersten Zeit nur im Falle einer schweren Erkrankung die Aenderung der Verhältnisse erkenntlich wird, während im ungestörten oder wenig gestörten Zustand noch die volle Kraft und Harmonie des juvenilen Alters vorhanden ist oder zu sein scheint. Ganz sachte machen sich nun auch im gesunden Zustand einzelne oft wenig beachtete 54

Antrittsrede 1871

Mahner bemerklich; aber da der unbewusste Instinct die Functionirung an die Fähigkeit accommodirt, so bleibt die Einsicht in die geänderten Verhältnisse den Meisten verschlossen. Da das Senesciren ganz unmerklich beginnt, so ist der Anfang dieser Periode beim Einzelnen nicht festzustellen. Auch nach Lebensjahren ist ihr Beginn bei der Verschiedenheit der einzelnen Individuen nicht mit Schärfe zu bestimmen. Aber so viel kann als sicher gelten, dass selten Jemand das 45. Jahr erreicht, ohne dass bei ihm, wenigstens im Falle einer Erkrankung, präsenile Merkmale sich einstellen, und dass bei Vielen solche schon in den 30ger Jahren wahrgenommen werden. Das Ende der Periode, das vollendete Senium, wird bald früher, bald später, zuweilen schon mit 60 Jahren, oft erst mit 70 und 80, ausnahmsweise selbst noch später erreicht. Es ist die präsenile Periode also ein Alter, in welchem Viele von uns stehen, in unserer Stadt Leipzig etwa 20 000 Menschen, darunter Mancher, der sich noch in der Blüthe seiner Jugend wähnt; es ist eine Lebensperiode, welche ohne Zweifel fast alle Jüngeren erreichen möchten. Und ganz mit Recht! Denn wenn sie auch keine Periode der unbegränzten Genussfähigkeit, der wilden Excesse ist, so ist sie doch ein Lebensabschnitt, reich an Freuden und Behagen. Der 95jährige Fontenelle bezeichnete das Alter von 50–75 Jahren als dasjenige, welches er am ehesten zurückwünschen möchte. Es ist aber diese Lebensperiode auch reich an Leistungen. Sehr viele der bedeutendsten Feldherrn begannen ihren Ruhm im präsenilen Alter, die meisten Commandeure stehen in demselben. Aber zu Subalternen und zu körperlich kämpfenden Mannschaften kann man die Präsenilen nicht brauchen. Bei den meisten Staatsmännern, bei der Mehrzahl der Gelehrten fällt der Höhepunkt ihrer Wirksamkeit in die präsenilen Jahre. Aber unter den Packträgern findet man nur selten Einen dieses Alters. Es kann nicht anders sein, als dass bei einem über viele Jahre sich ausdehnenden, langsam oder schneller fortschreitenden Processe das Bild ein wechselndes sein muss. Aber nichts desto weniger werden zahlreiche gemeinsame Momente bemerklich. Einige derselben sind: Zwischen dem 40. und 50. Lebensjahre wird durchschnittlich das Maximalgewicht des Körpers erreicht. Von da an nimmt das Durchschnittsgewicht stetig und nicht ganz langsam ab. Bei Einzelnen, welche auch nach dieser Zeit an Gewicht zulegen, beruht diess fast nur auf abnormer Fettbildung. Die Muskelmasse und die Muskelkraft nehmen ab. Der Ersatz und die Erholung nach körperlichen Anstrengungen erfolgt langsam oder gar nicht. Die Bewegungen verlieren an Sicherheit. Die Venen beherbergen mehr Blut und erscheinen ausgedehnter. Die Verdauung wird zögernder und schwieriger, die Darmbewegung langsamer. Der respiratorische Gaswechsel vermindert sich. Die Ausdehnungsfähigkeit der Lunge (mit dem Spirometer gemessen) sinkt durchschnittlich schon mit dem 35. Jahre. Die äussere Haut erhält eine dunklere Färbung, zeigt geringere Elasticität, stehende Furchen und Runzeln bilden sich aus, und bekanntlich verlieren die Haare ihre Farbe oder fallen aus. Die Sinnesempfindlichkeit nimmt ab, vor allem die des Auges, auch des Gehörs und Geruchsinns. Es besteht ein häufigeres Schlafbedürfniss: aber die einzelne Schlafperiode wird kürzer und das Erwachen erfolgt frühzeitiger. In 55

Carl Reinhold August Wunderlich

der Seelenthätigkeit treten die Veränderungen mehr oder weniger allmälig hervor und zwar richtet sich diess nach der Ausbildung des Geistes. Je geringer diese ist, um so früher kommt die Verkümmerung. Nach und nach mindert sich die Raschheit der Reception und der Ideenassociation, noch mehr die Bereitschaft des Gedächtnisses, auch die Lebhaftigkeit der Phantasie nimmt ab. Selbst bei dem reichsten Geiste werden die schöpferischen Ideen allmälig spärlicher. Dagegen gewinnt das Urtheil an Schärfe, wird der Wille consequenter und die praktische Verwendung der Gedanken geschickter. Freilich wird oft durch Neigung zu trüben Stimmungen in diesem Alter die Verfügbarkeit der geistigen Kräfte zunächst vorübergehend, allmälig dauernd geschädigt. Die Gestaltung der präsenilen Periode zeigt übrigens bei dem einzelnen Individuum innerhalb des noch gesunden Zustandes eine grössere Breite, als die irgend eines andern Alters. Namentlich hängt das langsame oder aber beschleunigte Fortschreiten zum Senium von Umständen ab, die in anderen Altern keinen so mächtigen Einfluss haben. In erster Linie stehen in dieser Hinsicht zufällige Erkrankungen. Es ist ein besonderes Glück, dass man im präsenilen Alter ungleich weniger zu acuten Krankheiten geneigt ist, als früher. Gegen gar viele Feinde des juvenilen und kindlichen Alters ist das präsenile ziemlich unempfindlich. Scharlach und Genickkrampf werden mit dem 35. Jahr äusserst selten. Typhus, Pocken, acuter Gelenkrheumatismus, Gesichtsrothlauf kommen wenigstens nach dem 50. Jahre wesentlich spärlicher vor. Aber tritt einmal eine acute Erkrankung ein, so ist das Verhalten eines präsenilen Körpers ein wesentlich anderes und ungünstigeres als das eines jugendlichen. Ganz geringfügige Affectionen übersteht man zwar leicht, selbst mit geringerer Niederlage als bei jungen Leuten, weil das Fieber unbeträchtlicher ist und bald erlischt. Doch ist auch bei diesen ganz bedeutungslosen Erkrankungen die Rückkehr der vollen Erholung unverhältnissmässig verzögert. Schwere acute Krankheiten dagegen, wenn sie einmal befallen, sind von ganz beträchtlich grösserer Gefahr, und solche, welche in der Jugend gewöhnlich mild verlaufen und nur ausnahmsweise tödten, haben schon in den späteren dreissiger Jahren, sicher aber vom 50. an einen perniciösen Character und so abweichende Erscheinungen, dass man vielmals daraus eine verheimlichtes Alter erkennen kann. Unter unseren Pockenkranken dieses Jahres starben zwischen 19 und 30 Jahren 3 Procent, zwischen 34 und 50 starben 20 Procent, von 51–55: 27 Procent und vom 56. Jahre und darüber die Hälfte. Ganz ähnliche Mortalitätsverhältnisse zeigen die typhösen Krankheiten. Aber selbst Gesichtsrothlauf, Gelenksrheumatismus, beschränkte Lungenentzündung und Grippe, in jungen Jahren fast gefahrlose Krankheiten, werden im präsenilen Alter häufig tödtlich. Und tritt der Tod nicht auf der Höhe der Krankheit ein, so verschleppen und verwickeln sich die krankhaften Processe, bringen oft spät noch neue Gefahr und die Erholung zögert ausserordentlich oder bleibt ganz aus. Und selbst nach völliger Genesung ist man gleichsam um zehn bis zwanzig Jahre älter geworden. Aber noch viel mehr als durch acute Krankheiten ist das präsenile Alter durch langsam verlaufende gefährdet. Gewöhnlich zeigt in dieser Lebensperiode irgend 56

Antrittsrede 1871

ein Organ oder zeigen mehrere eine unnatürliche Empfindlichkeit, so dass auf geringe, kaum bemerkte Einwirkungen, scheinbar selbst spontan, an solchen Theilen Beschwerden entstehen, die häufig gar nicht in einer wirklichen Krankheit des Organs begründet sind, aber auf ängstliche Gemüther einen beunruhigenden Eindruck machen und Veranlassung zu hypochondrischen Grillen geben. Zeigen viele Organe diese Empfindlichkeit, so kann ein solcher Unglücklicher in einem kurzen Zeitraum alle möglichen und unmöglichen Krankheiten in seiner Einbildung durchmachen. Freilich geschieht es auch nur zu häufig, dass ganz in der Stille und zuweilen lange unbemerkt da oder dort Veränderungen in den Organen sich entwickeln, Veränderungen, die anfangs manchmal gar keinen oder nur einen mechanischen Einfluss haben, aber nach und nach die Gesundheit untergraben, das Alter beschleunigen, und langsam, oft auch schliesslich sehr rasch den Tod herbeiführen. In der präsenilen Lebensperiode gelangen ferner bis dahin so zu sagen schlummernde Degenerationen sehr häufig zur Entwickelung von entsprechenden Erscheinungen. Die Degeneration schon an und für sich, noch mehr aber der Ausbruch der durch sie bedingten specifischen Krankheiten ist nicht selten der Grund, dass schon in den dreissiger Jahren die Merkmale des präsenilen Alters deutlich werden, und bringt dieselben jedenfalls zu beschleunigtem Fortschreiten. Der Degenerirte ist in denselben Jahren gewissermaassen älter, als derjenige, der frei von Degeneration ist. Diese mannigfaltigen Gefahren begründen die Thatsache, dass von 40 Individuen, welche in der präsenilen Periode stehen, bereits Einer das folgende Jahr nicht überlebt. Sind die Erkrankungen immerhin in erster Linie entscheidend für die Gestaltung der präsenilen Lebensperiode, so wird dieselbe kaum weniger durch das hygieinische Verhalten, die Pflege des Körpers und das Haushalten mit den Kräften beeinflusst. Wer in diesen Jahren nachlässig sich gehen lässt, wer schädliche Einflüsse nicht vermeidet, wem nicht Ersatz durch gute Nahrung zu Theil wird, wer seine Kräfte nicht übt oder sich überanstrengt, wer unmässig in Genüssen ist, wird rasch dem Greisenalter entgegeneilen. Erschöpfungen, zeitweiser Mangel an Ersatz werden im präsenilen Alter lange, oft gar nicht mehr ausgeglichen. Es ist nicht gleichgiltig, wie viel und wie lange man in der Jugend vergeudet oder gedarbt hat. Aber ganz anders eingreifend wirkt die Verschwendung oder das Darben im präsenilen Alter. Aber es gibt Etwas, was mehr als vorsichtige Uebung und Schonung der Kräfte, mehr als gute Nahrung und Pflege, ja selbst fast mehr als Verschontbleiben von Krankheiten das Fortschreiten des Alters verzögert, lange hinaus Jugendlichkeit und Rüstigkeit erhält: das ist der Geist, seine Ausbildung, sein Inhalt, seine Richtung, seine Resultate. Nicht das taglöhnerische Abmühen, nicht die tägliche Wiederkehr mechanisch abgemachter Schablonenarbeit, nicht die dilettantische Tändelei, noch weniger wenn mit zehrender Leidenschaft Ziele der Selbstsucht verfolgt werden – alles das ist es nicht was conservirt – sondern es ist die ernste Gedankenarbeit! Müssiggang, Langeweile, nichtige oder widerwillige Beschäftigung, Sorge, Kummer und böse Leidenschaften wie geistige Uncultur beschleunigen das Greisenthum. Eine freudige, fruchtbare Geistesarbeit erhält auch den Körper. Schon die Gesichtszüge, dieser offene Spiegel der Organisation, zeigen diess an. Vergegenwärtigen Sie 57

Carl Reinhold August Wunderlich

Sich den Unterschied: die frischen, fast jugendlichen Züge, welche der Mann mit wohlcultivirtem, lebhaft und fruchtbar thätigem Geiste gewöhnlich bis in ein spätes Alter sich erhält, und dagegen den blöd und schlaff werdenden Ausdruck des Lebemannes, der gedankenlos hinvegetirt oder nur an Genuss und Zeitvertreib denkt, oder das verwelkte Aussehen des vertrockneten Actenmenschen, oder das verkümmerte dessen, der in Sorge und vergeblichen Bemühungen sich abhärmt, oder die verwitterten, frühzeitig gealterten Züge des von harter Handarbeit sich Nährenden, oder gar das entstellte Antlitz des ergrauten Verbrechers!! So gross ist der Einfluss des Geistes im präsenilen Alter auf den Körper, seine Erscheinung, sein Befinden! In der Jugendzeit fördern allerdings geistige Anstrengungen nicht die Entwicklung der körperlichen Kräftigkeit. Aber die Cultur des Geistes ist vergeblich, wenn sie in der Jugend versäumt ward, und im präsenilen Alter erndtet man auch für die Gesundheit, was der Geist gesäet hat. ***

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31. Oktober 1872. Rede des abgehenden Rectors Dr. Wunderlich, Professors der Klinik. Bericht über das Studienjahr 1871/72. Hochzuverehrende Anwesende! Das verflossene Universitätsjahr, über welches ich Ihnen zu berichten die Ehre habe, war ein überaus glückliches und begünstigtes. Zwar haben wir mehrere Verluste durch Todesfall zu beklagen gehabt; allein sie waren wenigstens der Zahl nach im Verhältniss zu der jetzigen Ausdehnung der Universität glücklicherweise nur spärlich. Am 28. Nov. 1871 endete der ausserordentliche Professor bei der Juristenfacultät und Consistorialassessor Dr. Bruno Schilling. Er hatte 46 Jahre lang der Universität als Lehrer angehört und vornehmlich über Kirchen- und Lehenrecht gelesen. Am 24. Juni 1872 fand ein hoffnungsreicher junger Gelehrter, der eben neu habilitirte Privatdocent Dr. Wilhelm von Lindgren den Tod in Briggels in der Schweiz. Von den Studirenden sind im Wintersemester fünf, im Sommersemester nur zwei verstorben. Von den Beamten starb am 25. April 1872 der Convictinspector und Cantor an der Paulinerkirche Carl Gottlob Weiske. In Folge von Abberufung nach auswärts haben die Universität verlassen die ausserordentlichen Professoren: Dr. Emil Friedr. Kautsch bei der theol. Facultät, welcher als ordentlicher Professor der Theologie an die Universität Basel, Dr. Carl Hugo Huppert bei der medicinischen Facultät, welcher als ordentlicher Professor der physiologischen und pathologischen Chemie nach Prag und Dr. Ernst Windisch bei der philosophischen Facultät, welcher als ordentlicher Professor des Sanskrit und der vergleichenden Sprachwissenschaft nach Heidelberg berufen wurde; die Privatdocenten bei der medicinischen Facultät: Dr. Johann Jacob Müller, welcher als Professor der Physik an das Polytechnicum in Zürich, und Dr. Carl Gustav Hüfner, welcher als Professor der physiologischen Chemie nach Tübingen vocirt wurde. Sind diess alles Verluste für uns, so liegt es in der Natur des deutschen Universitätswesen, dass gerade tüchtige und vorwärtsstrebende Kräfte neue Wirkungskreise zu ihrer Entwickelung aufsuchen und bedürfen. Die Universität, welche sie den Schwesteranstalten abtreten muss, begleitet ihr ferneres Gedeihen mit den aufrichtigsten Wünschen. Ein reicher Zuwachs an neuen Lehrkräften ist uns im Laufe des Jahres geworden. Von auswärts wurden berufen als ordentliche Professoren: Dr. Ernst Otto Stobbe, bisher ordentlicher Professor zu Breslau auf den Lehrstuhl des deutschen Rechts und Kirchenrechts; Dr. Wilhelm His, bisher ordentlicher Professor zu Basel zum Professor der Anatomie und Director des anatomischen Museums; Dr. Anton Springer, 59

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bisher ordentlicher Professor an der Universität Strassburg auf den neuerrichteten Lehrstuhl für mittelalterliche und neuere Kunst. Als ausserordentliche Professoren wurden berufen: Dr. Friedrich Anton Zürn, bisher Professor in Jena, für das Fach der Veterinarwissenschaften bei der philosophischen Facultät; Dr. Franz Hofmann, bisher Privatdocent und Assistent am physiologischen Institute in München als Professor der Medicin und Dirigent der chemischen Arbeiten im pathologischen Laboratorium. Als Prosector des anatomischen Instituts wurde berufen: der bisherige Docent und Prosector an der Universität Basel Dr. August Rauber. Als Privatdocenten haben sich habilitirt: in der theologischen Facultät: Dr. Johannes Delitzsch; in der juristischen: der leider so früh wieder durch den Tod der Wissenschaft entrissene Dr. von Lindgren; in der medicinischen: Dr. Julius Michel für Ophthalmologie, Dr. Hugo Kronecker für physiologische Physik; in der philosophischen: Dr. Robert Sachse für Agriculturchemie, Dr. Gerhard Christian Friedr. Luerssen, Assistent am botanischen Laboratorium für Botanik, Dr. Paul Robert Schuster für Philologie, Dr. Ernst Kuhn für indische Philologie, Hofrath Dr. Franz Friedr. Maxim. Heinze für Philosophie, Dr. Hermann Paul für germanische Sprachen und Literatur. Unter den bereits an unserer Hochschule thätigen Lehrern wurden befördert: der vorherige Prof. extraordinarius bei der philosophischen Facultät Dr. Zöllner zum ordentlichen Professor der physikalischen Astronomie; der vorherige Professor extraordinarius bei der medicinischen Facultät Dr. Braune zum ordentlichen Professor der topographischen Anatomie; sodann zu ausserordentlichen Professoren die Privatdocenten Dr. Brockhaus bei der theologischen, Dr. Huppert und Dr. Wenzel bei der medicinischen, Dr. Mayer, Dr. Carstanjen und Dr. Oscar Paul bei der philosophischen Facultät. Auch unter dem Beamtenpersonal der Universität sind ausser dem bereits erwähnten Todesfalle mehrere Veränderungen eingetreten. Die zuvor vereinigten Stellen des Convictdirectors und des Cantors an der Universitätskirche wurden auf Antrag der theologischen Facultät getrennt und die Erstere dem Cand. der Theol. Jul. Hermann Leuschner, Lehrer an der III. Bürgerschule und die Cantorstelle dem Lehrer an der III. Bezirksschule Albin Zehrfeldt übertragen. Pensionirt wurde der um die rationellere Bewirthschaftung des Universitätsforstes wohlverdiente, aber durch Alter und Krankheit gebrechlich gewordene Universitätsförster Friedrich Ferdinand Gastell und an seine Stelle ernannt der Revierförster auf dem von Hünefeld’schen Forst Otto Berthold. Die Universitätspedelle Rühle und Seyfart rückten zu Oberpedellen vor und der bisherige Hilfspedell Strauss und der bisherige Gerichtsdiener Dietrich wurden zu Pedellen ernannt. Hinsichtlich der Lehrmittel ist von den im vorjährigen Berichte von meinem Herrn Amtsvorgänger in Aussicht gestellten neuen Instituten das für Physik und Mineralogie in Herstellung begriffen und erhebt sich als stattlicher Bau in unmittelbarster Nähe der Anstalten für Physiologie, Chemie und praktische Medicin. Ueber die andern projectirten Neubauten schweben noch die Vorverhandlungen; doch ist zu hoffen, dass schon binnen Jahresfrist die überaus dringlichen Bedürfnisse einer 60

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neuen Anatomie, einer zoolog.-zootomischen Anstalt, einer Veterinärklinik und eines psychiatrischen Instituts der Verwirklichung nahe gerückt sein werden. Die Uebersiedelung mehrerer Institute in neue Räume wird auch einigen älteren Anstalten die Möglichkeit nothwendig gewordener Ausdehnung gewähren und es ist zu hoffen, dass dadurch auch ein Local für ein Lesemuseum der Studirenden und Universitätsangehörigen gewonnen werde, eine höchst wünschenswerthe und aus der Mitte der Studirenden lebhaft angestrebte Einrichtung, mit welcher die Bibliotheks-Commission und der academische Senat in vorbereitenden Erörterungen sich bereits beschäftigt haben. Indessen hat die Universitätsbibliothek, deren Personal durch Anstellung eines vierten Assistenten vermehrt wurde, ihren grossen und würdigen neuen Lesesaal der Benutzung eröffnet. So wird, Dank der weisen Fürsorge und Munificenz der hohen Staatsregierung, die Universität Leipzig immer mehr den Ansprüchen genügen, welche die jetzige Zeit mit Recht an eine Bildungsstätte macht, die in Nah und Fern zu den ersten der deutschen Nation gerechnet wird. Wenigstens der Zudrang der Studirenden aus allen Gauen Deutschlands und aus allen Theilen der Erde beweist diesen Ruf. Dieses Zuströmen von Studirenden hat im verflossenen Jahre Dimensionen erreicht, welche die seiner Zeit schon überraschenden Zahlen des Vorjahrs weit hinter sich lassen. Es ist hinsichtlich der Frequenz schon im letzten Sommersemester die Universität Leipzig an die Spitze der deutschen Hochschulen getreten, alle andern weit überragend. Und im eben begonnenen Semester hat bereits die Zahl der Studirenden die des Sommersemesters beträchtlich überflügelt. Am 31. October des vorigen Jahres betrug die Zahl der rite immatriculirten Studirenden unserer Universität laut Berichts meines Herrn Vorgängers im Amte – 2095. Hiervon sind bis gestern Abend abgegangen 1047. Dagegen habe ich im Laufe des Jahres neu immatriculirt: 1538, über 400 mehr als im Vorjahr. Der heutige Bestand beträgt demnach und nach genauester Zählung 2586, nahezu ein Halbtausend mehr als am selben Tage des vorigen Jahres, und schon jetzt 271 mehr, als das Personalverzeichniss des letzten Sommersemesters aufzählte. Die Inscriptionen von 9 Tagen des begonnenen Semesters belaufen sich auf 609. Nach bisherigen Erfahrungen dürfte mein Herr Nachfolger im Amte in nächster Zeit noch etwa 300 weitere Immatriculationen zu vollziehen haben, so dass, wenn auch noch manche Abmeldungen in den nächsten Wochen zu erwarten sind, voraussichtlich die Höhe der Frequenz in diesem Semester tief in das sechste Halbtausend hineinragen wird. Die grösste Zahl der neu Immatriculirten kommt auf die juristische Facultät: 225, auf die theologische 88, auf die Philologen 63, auf die Mediciner 52. Zur Kennzeichnung des Verhaltens der Commilitonen genügt die Thatsache, dass von diesen Tausenden Studirender im Laufe des Jahres nur ein Einziger wegen unwürdiger Handlung durch gerichtlichen Spruch von der Universität entfernt werden musste. Das treffliche Verhalten der Studirenden ist es vor allem, was die Amtsführung des Universitätsrectors erleichtert und zum Genusse macht, und ich stehe daher nicht an, an dieser Stelle und im Momente meines Scheidens aus dem Amt unserer tüchtigen Studentenschaft meine vollste Anerkennung und meinen wärmsten Dank auszusprechen. 61

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Zur Unterstützung tüchtiger Studirender und wissenschaftlicher Bestrebungen sind namhafte Summen der Universität von Privaten zugeflossen. Die Herren Dr. Roux und Banquier Reinhard Küstner, sowie Frau Bertha Oppenheimer haben zum Andenken an ihre im deutsch-französischen Kriege für das Vaterland gebliebenen Söhne je ein Stipendium von 2000 Thalern gestiftet. Herr Rittergutsbesitzer von Römer hat ausser seiner werthvollen botanischen Sammlung und Bibliothek ein Capital von 10,000 Thalern für wissenschaftliche Zwecke und Frau Hofräthin Ritterich für Studirende der Medicin und der Philologie Eisenbahnactien im Werthe von ungefähr 8500 Thalern durch testamentarische Verfügung bestimmt. Somit hat das Stiftungscapital der Universität in diesem Jahre einen Zuwachs von fast 25,000 Thalern erlangt. Die hochherzige Gesinnung, welche sich in diesen reichen Gaben und Vermächtnissen ausgesprochen hat, möge ihren Lohn in dem Bewusstsein gefunden haben, dass dadurch bis in die weiteste Zukunft hinaus immer wieder neuen Jüngern der Wissenschaft Erleichterung und Förderung zu Theil werden kann. Eine Anzahl festlicher Ereignisse hat im Laufe des Jahres stattgefunden, an welchen sich die Universität betheiligte. Am 7. Februar wurde das fünfzigjährige juristische Doctor-Jubiläum Sr. Excellenz des Herrn Geheimrath Dr. Hübel zu Dresden gefeiert. Der academische Senat und die einzelnen Facultäten haben nicht versäumt, ihre ehrerbietigen Glückwünsche dem langjährigen einsichtsvollen Rathgeber und sorgsamen Mitleiter in Universitätsangelegenheiten darzubringen und die theologische und die philosophische Facultät haben den Jubilar zu ihrem Ehrendoctor creirt. Am 1. April wurde das fünfzigjährige juristische Doctorjubiläum des Herrn Geh. Hofrath Albrecht und am 2. April das medicinische des Herrn Geh. Med.-Rath Radius festlich begangen. Am 16. Juli feierte Herr Geheimrath von Wächter das fünfzigjährige juristische Doctor-Jubiläum, wobei er ausser zahlreichen anderen Auszeichnungen von Sr. Majestät dem Könige zum wirklichen Geheimrath erhoben wurde. Auch eine in munterem und frischem Gedeihen blühende, mit allen unseren Festen in enger Verbindung stehende Vereinigung von Studirenden, der Pauliner SängerVerein, feierte am 6. August den Jubeltag seines fünfzigjährigen Bestehens und erhielt von allen Seiten Zeichen der herzlichsten und vollberechtigten Sympathie. Ausserdem betheiligte sich die Universität durch Absendung von Deputationen und Beglückwünschungen an der Eröffnung der Universität des deutschen Reiches zu Strassburg am 1. Mai und an dem 400jährigen Jubiläum der Universität München am 1. August dieses Jahres. Für sehr Viele der Angehörigen und Lehrer der Universität waren ferner die Feier des 300jährigen Geburtstags des Astronomen Keppler am 27. December 1871, sodann die in Leipzig im Laufe des Sommers tagenden Wanderversammlungen der Philologen und Schulmänner, sowie der Naturforscher und Aerzte Veranlassung zu lebhafter Theilnahme. Zum Schlusse aber dieser Reihe wichtiger, zum grössten Theile erfreulicher und erinnerungsvoller Ereignisse lassen Sie mich hinweisen auf die Tage vom 24. bis 31. Juli dieses Jahres, welche jedem Betheiligten unvergesslich sein und mir als die erhebendsten meiner Amtsführung in unauslöschlichem Gedächtniss verbleiben werden. Unser erhabener König und Herr hat zum dritten Male während Seiner Regierung Seine Universität eines längeren Besuches zu würdigen geruht. Seine Majestät haben 62

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huldreichst die Vorträge einer grossen Anzahl unserer neuangestellten Collegen mit allerhöchst Ihrer Anwesenheit beehrt und die landwirthschaftlich physiologische Versuchsanstalt, das physiologische, das pathologische und das klinische Institut nebst dem neuen städtischen Krankenhaus in eingehendste Besichtigung genommen. Unser königlicher Herr hat Allerhöchst Seine Befriedigung über das Gesehene und Gehörte, über den Zustand der Universität, über ihre Lehrkräfte und über das musterhafte Verhalten der Studirenden in den huldvollsten Ausdrücken in einem überaus gnädigen Schreiben an mich, als den functionirenden Rector, kundgegeben, was ich dem allerhöchsten Befehle gemäss zu allgemeiner Kenntniss seiner Zeit zu bringen die Ehre hatte. Und hiermit lassen Sie mich meine Berichterstattung enden. Es bleibt noch übrig, die Resultate der diesjährigen Bearbeitungen der von den Facultäten gestellten Preisfragen mitzutheilen, so wie die neuen Aufgaben, welche für das nächste Jahr zur Bewerbung vorgelegt werden. Die theologische Facultät hat keine Beantwortung ihrer Preisfrage erhalten. Die juristische Facultät hatte die Aufgabe gestellt: „Beurtheilung der neuen Ansichten über Begriff und Natur der sogenannten juristischen Personen.“ Sie erhielt 3 Arbeiten. Der Verfasser der Abhandlung mit dem Motto: „non est jus nisi in persona“ hat auf der einen Seite die gestellte Aufgabe insofern zu weit gefasst, als er sich über alle Theile der Lehre von den juristischen Personen – freilich mehrfach in wenig eingehender Weise – verbreitet und Fragen in den Kreis seiner Erörterungen gezogen hat, welche ausserhalb des Bereiches der Aufgabe liegen. Auf der andern Seite behandelt er das Thema zu einseitig und unvollständig. Er richtet seine Kritik nur gegen die Ansicht derer, welche die Persönlichkeit der sog. juristischen Personen verneinen und ihr ein blosses Zweckvermögen substituiren; er beurtheilt blos die Ansichten einiger Vertreter dieser Auffassung und übergeht gänzlich nicht nur die übrige neuere Literatur, insbesondere die neueste ausführliche Abhandlung dieser Richtung, sondern auch die Ausführungen der Gegner dieser Theorie. Auch lässt die Darstellung des Verfassers mannichfach die erforderliche Uebersichtlichkeit und Präcision vermissen. Aus diesen Gründen konnte der Ausarbeitung der Preis nicht zuerkannt werden. Indessen, da dieselbe in der beschränkten Sphäre, welche sie sich setzt, doch immerhin von Fleiss, tüchtigen Kenntnissen und gutem Urtheil zeugt, so hat die Facultät den Verfasser einer öffentlichen Belobung für würdig erachtet. Die hierauf eröffnete Schedul liess als Verfasser erkennen Rudolph von Sommerlatt, stud. jur. aus KleinHänchen (Sächs. Oberlausitz). Die mit dem Motto: „Leben ist Streben“ bezeichnete Arbeit hat die verschiedenen über das Wesen der juristischen Personen in der neuern Doctrin aufgestellten Ansichten zwar ebenfalls nicht mit der zur Erschöpfung des Thema nothwendigen Vollständigkeit behandelt und geht namentlich zu wenig auf die Theorie vom subjectlosen Zweckvermögen ein, indem sie sich in ihrem ersten (kritischen) Theile fast nur auf die Bekämpfung der schon längst vorherrschenden Fictionstheorie beschränkt. Allein es verdient lobende Anerkennung, dass der Verfasser nicht blos die Meinungen Anderer einer Kritik unterzog, sondern in dem zweiten Theile seiner Abhandlung auch den Versuch der Begründung und Entwickelung einer selbstständigen, eigenen Ansicht gemacht hat. Gelangt er hierbei auch, und zwar nicht ohne mannichfache Paradoxen und ungelöste Differenzen mit der 63

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Rechtsconsequenz zu einem nach der Ansicht der Facultät unhaltbaren Resultate, so zeugt doch die ganze ausführliche Arbeit von so grossem Fleiss, so guten Kenntnissen und einem solchen Grade von Scharfsinn und Gewandtheit, dass dieselbe ohne die Concurrenz der dritten, ihr an geistiger Durchbildung noch überlegenen Preisschrift eine Anerkennung durch Preisertheilung wohl verdient haben würde. So aber hat die Facultät nur zu dem Beschlusse gelangen können, dem Verfasser eine öffentliche Auszeichnung für seine sehr tüchtige Leistung durch die Nennung seines Namens zu ertheilen. Als Verfasser gab sich laut des Inhalts der hierauf eröffneten Schedul zu erkennen: Ernst Krantz, stud. jur. aus Werdenberg in Ostpreussen. Die Abhandlung mit dem Motto: „Mehr Sein als Schein“ zeichnet sich nicht nur durch eine correcte Erfassung der gestellten Aufgabe nach den ihr gezogenen Grenzen und durch gefällige, meist sehr klare Darstellung aus, sondern sie bekundet auch durchweg neben einer wohlthuenden geistigen Frische philosophische Durchbildung und Sicherheit in der Beherrschung des Stoffes. Die gründliche und befriedigende Zusammenstellung der verschiedenen Ansichten der Neuern giebt grosse Belesenheit und umfassendes, durchdachtes Wissen des Verfassers zu erkennen. Die Vollständigkeit, in welcher er die modernen Rechtsansichten und die reichhaltige neuere Literatur über die vorgelegte Frage berücksichtigt und verarbeitet, sowie seine – abgesehen von den Bemerkungen über die sog. Fictionstheorie – meist treffende, wenn auch nicht immer erschöpfende Kritik derselben verdient grosses Lob. Zwar beruhen seine Ausführungen über Corporationen vielfach auf zu allgemeinen, der nähern Bestimmung bedürfenden Sätzen, auch kann die Facultät der eigenthümlichen Auffassung, welche der Verfasser an die Stelle der bisherigen Theorieen zu setzen versucht, in keiner Weise beitreten. Dessenungeachtet aber sind auch in diesem Theile seiner Abhandlung die dieselbe im Allgemeinen auszeichnenden bereits erwähnten Vorzüge nicht zu verkennen, und es hat daher die Facultät kein Bedenken getragen, den Verfasser des Preises für würdig zu erklären. Als solcher ergab sich bei Eröffnung des der Arbeit beiliegenden versiegelten Couverts K. Ernst Zitelmann, stud. jur. aus Stettin. Bei der medicinischen Facultät kamen auf ihre Aufgabe: „Ueber die Wirkung der Kalisalze auf den menschlichen Körper“, zwei Abhandlungen ein. Der Verfasser der ersten Abhandlung, die das Motto: „εἷς ἀνὴρ οὐ πάνϑ᾽ ὁρᾶ“ führt, hat sich bestrebt, auf möglichst breiter Grundlage, sei es durch literarische Studien oder auch durch eigene Anschauung, zu einem endgiltigen Urtheil zu gelangen. Wie lobenswerth auch dieses Bemühen ist, so hat es doch nicht genügt, der Arbeit den Preis zu erringen, da die guten Seiten derselben durch vielerlei Unsicherheiten und Mängel in der Anlage und Durchführung aufgewogen werden. Die zweite Schrift mit dem Motto: „Das Experiment ist der Prüfstein des therapeutischen Handelns“ beschränkt sich im Wesentlichen auf eine Zusammenstellung der neueren Literatur über den vorliegenden Gegenstand. Indem sie jedoch dieses mit Geschick ausführt und mit vorsichtigem Urtheil Thatsachen und Meinungen unter einander vergleicht, entwirft sie ein so klares Bild von dem gegenwärtigen Standpunct der Frage, dass die Facultät nicht ansteht, dieser Abhandlung den Preis zuzuerkennen. Als Verfasser ergab sich: Max Julius Zimmermann, stud. med. aus Werdau. Die erste Classe der philosophischen Facultät stellte die 64

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Aufgabe: Spartas innere Geschichte während des peloponnesischen Krieges. Es ging eine Bearbeitung ein mit dem Motto: „ἡουγαζούοῃ μὲν πόλει τα ἀκίνητα νόμιμα ἄριστα, πρὸς πολλα δὲ ἀναγκαζσμένοις ἰέναι πολλῆς καὶ ἐπιτεχνήσεως δεῖ.“ Die Arbeit ist in der Ausführung ihrer einzelnen Theile nicht ganz gleichmässig behandelt worden. Sehr zu loben ist die vielseitige Vorbereitung, die der Verfasser seiner Arbeit widmete und die sich insbesondere bei der Besprechung der Quellen zeigt, wo über das Plutarchische Leben des Lykurg, Diodor und vorzüglich über die Xenophon zugeschriebene Abhandlung vom Staate der Lakedaemonier selbstständige Forschungen mitgetheilt werden. Auch in der sachlichen Einleitung hat der Verfasser mit Glück die Ansicht verfochten, dass Sparta keineswegs als der absolut stabile Staat zu betrachten, vielmehr einer politischen Entwickelung gleich den andern hellenischen Staaten unterworfen gewesen sei. Dagegen ist der erzählende Hauptabschnitt, bei welchem die Kriegsereignisse als bekannt vorausgesetzt werden durften, dürftiger ausgefallen, indem der Verfasser die auch hier mehrfach gebotene Gelegenheit zu speciellen Untersuchungen, vielleicht aus Zeitmangel, nicht immer wahrnahm. Indem aber die Facultät den liebevollen Fleiss, die gründliche und umfangreiche Quellen- und Literaturkenntniss, das methodische Verfahren, den Trieb zu selbstständigem Eindringen in das Material und zur Gewinnung eines eigenen Urtheils, nicht minder die klare und wohlgeordnete Darstellung gern anerkennt, zögert sie nicht, die Arbeit des Preises würdig zu erklären. Bei Eröffnung der Schedul zeigte sich als Verfasser: Georg Erler, stud. phil. aus Krögis bei Meissen. Die zweite Classe erhielt keine Abhandlung auf ihre Aufgabe: Historische Entwickelung der verschiedenen Formen des metaphysischen, ethischen und aesthetischen Idealismus und Realismus. Die dritte Classe der philosophischen Facultät verlangte eine Arbeit: Ueber den Bau, den Mechanismus und die Entwickelung des Stachels bei den bienenartigen Thieren. Es ging eine Abhandlung ein mit dem Motto: „Müsset im Naturbetrachten immer Eins wie Alles achten.“ Der Verfasser hat die zur Lösung der Aufgabe erforderlichen Untersuchungen mit grosser Sorgfalt und Genauigkeit ausgeführt und auf Grund derselben unter zum Theil neuen Gesichtspuncten die Frage in einer durch Klarheit der Darstellung und Schärfe der Analyse ausgezeichneten Abhandlung so trefflich behandelt, dass die Facultät diese Arbeit des vollen Preises für würdig erklärt. Als Verfasser ergab sich: Carl Kräpelin, stud. nat. aus Neu-Strelitz. Die neuen Preisaufgaben sind folgende: Die theologische Facultät wiederholt ihre Frage: Pontificiorum et evangelicorum doctrina de ecclesia quomodo differat exponatur. Die juristische Facultät verlangt eine Darstellung der sachenrechtlichen Grundsätze des Augsburger Stadtrechts (herausgegeben von Meyer 1872) unter Vergleichung mit den Grundsätzen gleichzeitig verwandter süddeutscher und norddeutscher Rechtsquellen. Die medicinische Facultät stellt die Klinisch-anatomische Bearbeitung des Wund-Erysipels zur Aufgabe. Die erste Classe der philosophischen Facultät: De accentu linguae latinae veterum grammaticorum testimonia colligantur et breviter iudicentur. Die zweite: Prüfung der in Schopenhauers Werk: „die Welt als Wille und Vorstellung“, enthaltenen Kritik der Kantischen Philosophie. Die dritte Classe: Discussion der verschiedenen Methoden, durch welche die Ent65

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fernung der Sonne von der Erde ermittelt werden kann. Die deutsch gestellten Aufgaben können in deutscher Sprache bearbeitet werden. Die Preisbewerber haben ihre Schriften, mit einem Motto versehen und begleitet von einem Couvert, das äusserlich das Motto der Schrift trägt, unter Verschluss aber den Namen des Verfassers enthält, vor dem 1. August 1873 dem Decan der betreffenden Facultät einzuliefern. (Hierauf folgte die Vereidigung des neuerwählten Rectors und die Uebergabe der Amtsinsignien an ihn.) ***

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Hermann Brockhaus (1806–1877)

31. Oktober 1872. Rede des antretenden Rectors Dr. Hermann Brockhaus, Professors der Orientalischen Sprachen. Hochansehnliche Versammlung! Den Werth und die Bedeutung derjenigen Wissenschaft, die ich die Ehre habe, an unserer Universität zu vertreten, und die ich kurz mit dem Namen der Indischen Philologie bezeichnen will, wird gewöhnlich nur nach Einem Standpunkte beurtheilt: nämlich nach der Stellung, welche das Sanskrit, die alte Sprache Indiens, in der Reihe der Sprachen und der linguistischen Studien einnimmt. Die erste Bekanntschaft mit der Sanskrita-Sprache fiel gerade in die Periode, als durch Jacob Grimm’s bewunderungswürdige Leistungen im Gebiete der deutschen Philologie die historische Richtung in der grammatischen Forschung zur Geltung gekommen war. Die Alterthümlichkeit der Sprachformen, die Klarheit und Durchsichtigkeit des grammatischen Baues bestimmten die Sprachforscher das Sanskrit nicht bloss als ein Glied in der Kette der verwandten Sprachen anzusehen, sondern veranlassten sie, das Sanskrit an die Spitze der ganzen Sprachfamilie, die man später die indogermanische Sprachfamilie genannt hat, zu stellen. Es entwickelte sich nun wesentlich durch das Studium des Sanskrit hervorgerufen, unter der sichern Hand von Franz Bopp, die neue Wissenschaft der sprachvergleichenden Grammatik. Jedoch der Werth und die Bedeutung dieser sprachvergleichenden Grammatik sind bereits öfters, und in tiefsinnigster und eindringendster Weise dargelegt worden, so dass es nicht nöthig ist, in diesem Kreise dabei länger zu verweilen. Es ist dies die eine Seite der Indischen Philologie, aber sie erschöpft den Begriff nicht. Ich verkenne nicht, dass die auf das Sanskrit basirte Sprachvergleichung vielleicht für das europäische Wissen die wichtigste Seite der Indischen Philologie ist und bleiben wird, und dem Sanskrit dauernd einen ebenbürtigen Platz neben den übrigen philologischen Disciplinen verschaffen wird. Jedoch die altindische Sprache vermittelt uns auch eine altindische Cultur, und auch diese in das grauste Alterthum hinaufreichende Cultur verdient in jeder Hinsicht die ernsteste Berücksichtigung des historischen Forschers. Erlauben Sie mir in wenigen Strichen, soweit es die Kürze der mir hier zugemessenen Zeit erlaubt, die Grundzüge dieser altindischen auf Literaturwerken des Sanskrit basirten Cultur Ihnen vorzuführen. – 67

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An die Spitze aller ihrer literarischen Denkmäler stellen die Indier die Werke, die man collectiv die Vedas nennt. Die Vedas repräsentiren einen ganzen Literaturzweig des mannigfachsten Inhalts und den verschiedensten Zeitaltern und Culturstufen des Volkes angehörend. Aus dieser Masse, welche zusammen die vedische Literatur bildet, ragt durch Alter und Interesse des Inhalts die Sammlung religiöser Hymnen hervor, die man mit dem speciellen Namen des Rigveda bezeichnet. Die Dichtung dieser Hymnen fällt in die ersten Ursprünge des Indischen Volkes. Sichere chronologische Daten lassen sich in Indien leider überall, selbst für verhältnissmässig moderne Lebenserscheinungen schwer nachweisen, ganz unmöglich aber ist das, wenn wir uns zu den Uranfängen des Indischen Volkes wenden. Mit ein Paar Worten will ich versuchen, die Frage nach der Zeit der Vedischen Hymnologie etwas genauer zu präcisiren. Die Indier, wie wir das in dem weiten Gebiete des Landes Indien lebende Culturvolk nennen, ist nicht in Indien heimisch, sondern es ist dorthin eingewandert. Die eigentlichen Ureinwohner Indiens gehören einem ganz andern Sprach- und Volksstamme an, der mehr zu den turanischen als arischen Völkern gehört. Als durch Ereignisse, die jenseits der Geschichte liegen, die letzten Reste des grossen indogermanischen Urvolkes, die später in der Geschichte als Iranier (Perser) und Indier auftreten, aus den Ursitzen des Volkes an den Ufern des Oxus, in der Landschaft der heutigen Provinzen Samarqand und Bochâra, aufbrachen, zogen die Indier nach Süd-Osten. Sie sind das einzige der indogermanischen Völker, das nach Osten wanderte, während alle die verwandten Stämme, aus denen sich im Laufe der Zeiten die historischen Völker der Perser, der Hellenen, der Italier, der Kelten, der Germanen und Slaven entwickelten, nach Westen zogen. Um aus dem Nordwesten Asiens nach Indien zu gelangen giebt es für ein wanderndes Volk, für ein Heer, ja selbst für grosse Karawanen, nur einen einzigen Weg, nämlich über Baktrien, durch die Khaiber-Pässe dem Kabul-Flusse entlang, bis man die Ufer des Indus erreicht, der die Brücke bildet zwischen dem östlichen und westlichen Asien. Hier an den Ufern des Indus und in dem Stromgebiete seiner mächtigen Nebenflüsse liessen sich diese Sanskrit redenden eingewanderten Arier nieder, und mit dieser Niederlassung beginnt die specielle indische Cultur. Diese ersten Colonen sind etwa um das Jahr 2500 v. Chr. an den Ufern des Indus aufgetreten. Jene alten Einwanderer, die natürlich mit der Sprache auch ihre Religion und Sitte einführten, waren ein Ackerbau und Viehzucht pflegendes Volk. Nach einfachen patriarchalischen Formen war der Staat geordnet. Es treten uns Führer des Volkes entgegen, die auch zugleich Priester waren. In dieser Urzeit des Indischen Volkes entstanden bei einem gewiss noch sehr einfachen Cultus jene religiösen Gesänge, die in dem Rigveda gesammelt vorliegen. Die Kräfte und Gewalten der Natur, das Feuer und das Wasser, die alles ernährende Sonne, der Mond, die heulenden Stürme, die das Gewitter begleiten, die Morgenröthe, die Alles zum Leben und zur Thätigkeit weckt, u. s. w., das sind die Gottheiten, die in diesen Hymnen angerufen und gepriesen werden. Es ist ein einfacher Naturdienst, der uns hier entgegen tritt, die Götter haben noch keine festen plastischen Gestalten angenommen, und das Naturereigniss und der Träger desselben verschwimmen meist ineinander. 68

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Von keinem Volke der Erde ist uns aus den frühsten Perioden seiner religiösen Entwicklung eine solche Fülle von Materialien erhalten, als bei den Indiern in dieser Liedersammlung. Man führt die Dichtung dieser Hymnen auf das Jahr 1500 bis 1800 v. Chr. zurück. Diese Zahlenangaben, die mir eher etwas zu niedrig als zu hoch gefasst scheinen und die auf der sorgfältigsten Berechnung basirt sind, beweisen, dass die Hymnen des RV. das älteste literarische Denkmal des gesammten indogermanischen Volksstammes, ja vielleicht der ganzen Menschheit sind. Nur einzelne kleine Liederfragmente in der Genesis und ein paar Gesänge aus dem Liederbuche der Chinesen, können ein gleiches hohes Alter beanspruchen. Aber es sind durchweg Fragmente, während wir in Indien eine ganze umfangreiche Sammlung von circa 10 000 Strophen aus jener grauen Vorzeit besitzen. – Von dem Augenblicke an, wo der Indier das Licht des Lebens erblickt, bis zu seinem Tode und wenn der Leichnam den Elementen zurückgegeben wird, begleiten ihn auf allen wichtigen und bedeutenden Momenten des Lebens die Gesänge und Sprüche der Vedas. Nichts wird unternommen, nichts geschieht, wozu der Priester nicht den Segen spräche, und dies geschieht mit den Worten der Vedas. Dies ist der Grund, aus dem es sich erklärt, dass diese alten Gesänge uns aus so ferner Zeit so treu überliefert worden sind. Dazu traten in späteren Jahrhunderten, als das Verständniss dieser alten Lieder zu erblassen anfing, die Schulen der Priester und Grammatiker, die für sicheres Verständniss des Inhaltes und für treue Bewahrung des ursprünglichen Textes besorgt waren. Und auch hier tritt uns wieder ein Factum entgegen, das in der Geschichte der Philologie ohne seines Gleichen dasteht. Etwa im 5. Jahrh. vor Chr. muss eine sehr emsige Schule von Grammatikern sich um die Reinigung des Textes der Hymnen verdient gemacht haben. Diese Männer haben es erreicht, dass von jener Zeit ab bis zum heutigen Tage auch nicht die geringste Variante in den recipirten Text sich eingeschlichen hat. Wir haben den Text des Rigveda heute gerade noch so, wie er vor drittehalbtausend Jahren festgestellt wurde. Max Müller hat fast alle zugänglichen Handschriften des Rigveda verglichen, die aus den verschiedensten Gegenden Indiens, von dem nördlichen Kaschmir an bis hinab zu der Südspitze Indiens, stammen, und er hat nicht eine einzige Variante gefunden. Alle Codices stimmen bis auf das Kleinste und Einzelnste überein mit jenen kritischen Bemerkungen, die, wie oben erwähnt, 500 Jahre vor Chr. niedergeschrieben wurden. Wie glücklich würden unsere klassischen Philologen sein, wenn sie einen Text des Homer besässen, von dem seit den Zeiten der Pisistratiden auch nicht ein Jota verändert worden wäre. Dass ein so alter Text, dessen ursprüngliche Abfassung gegen drittehalbtausend Jahre hinaufreicht, und der, wie gesagt, seit mehr als 2000 Jahren nicht die geringste Veränderung erlitten hat, ein unschätzbares Mittel zum Studium der Sprache, und zum Eindringen in uralte Religionsanschauungen bietet, bedarf kaum der Erwähnung. Aber auch später noch haben die Indier, Priester und Grammatiker, Alles geleistet, um den Sinn und das Verständniss des heiligen Buches lebendig zu erhalten. Wie im 5. Jahrhundert vor Chr. eine Schule von Grammatikern den Text des RV. fest69

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stellte, so sammelte sich im 14. Jahrhundert nach Chr. in der Stadt Vijayanagara, unter dem Schutze des Königs Buka, eine Akademie, die es sich zur Aufgabe stellte, die sämmtlichen unter dem Namen der Vedas erhaltenen Werke zu commentiren und zu erläutern. Die Erklärung des Rigveda fiel dem gelehrten Sâyana zu, und der umfangreiche Commentar muss jeden, was die Gelehrsamkeit, die Fülle der Sprachkenntnisse, und den unbefangenen Sinn des Verfassers betrifft, mit gerechter Bewunderung erfüllen. Höchst selten influiren die religiösen Ansichten des Verfassers, die wesentlich von denen jener alten Zeiten abweichen mussten, auf seine Interpretation der Texte. Dass der Commentator zuweilen irrt, ist unzweifelhaft, und Niemand wird sich unbedingt und ohne eigene Prüfung seinen Erklärungen fügen, aber ungestraft darf auch Niemand seine Deutungen unberücksichtigt lassen, denn ohne Sâyana’s Arbeit würde der Rigveda noch lange für uns ein Buch mit sieben Siegeln geblieben sein. – Jahrhunderte lang mögen so die Sanskrit redenden Indier ruhig in dem Gebiete des Indusstromes gelebt haben, die Heerden weidend, friedlich den Acker bebauend. Die Gränzen wurden aber allmählig zu enge, der Sinn trieb in die Ferne, und so rückten die Indier von den westlichen Gränzen des Landes immer weiter nach Osten und Süden vor, in die fruchtbaren Thäler hinab, welche der Ganges und seine zahlreichen Nebenströme bewässern, bis das mächtige Gebirge des Himâlaya im Norden und Osten, und das wilde Quergebirge des Vindhya, welches Nordindien vom Süden trennt, ihren Wanderzügen eine Gränze setzten. Diese Wanderungen waren aber keine ruhigen friedlichen, sondern fanden unter ununterbrochenen Kämpfen mit den Ureinwohnern statt, die es auch allmählig gelang, aus dem weiten fruchtbaren Gebiete des nördlichen Indiens in unzugängliche Gebirgsschluchten und nach dem Süden zu verdrängen. Dort leben bis zum heutigen Tage noch die Indischen Ureinwohner: im Norden der tiefsten Barbarei verfallen, in kleinen schwachen Clans, während sie im Süden in dichten Massen zusammengedrängt, selbständige Staaten bildeten, die aber durch und durch, in Religion, Sitte und Recht sich dem höheren Culturvolke der Sanskritischen Indier unterworfen haben. In dieser Zeit der Wanderungen und Kämpfe entwickelte sich bei den Indiern eine reiche epische Poesie. Die alten Götter der Vedas wurden zu Heroen, und neue Göttergestalten, wie Vishnu, Siwa u. s. w. treten als allmächtige Herrscher des Himmels und der Erde auf. – Diese alte epische Poesie der Indier ist uns in zwei grossen epischen Cyklen erhalten, dem Râmâyana, oder dem Gedichte von dem Wandel des Râma, und in dem Mahâbhârata oder dem grossen Gedichte von den Bharatiden, dem mächtigsten Herrschergeschlechte, das in dem alten Indien in den Vordergrund tritt. Das erste dieser beiden epischen Gedichte, das Râmâyana, schildert vorzugsweise das Vordringen der nordindischen oder brahmanischen Stämme nach dem Süden Indiens, die endliche Besiegung dieses weiten Gebietes und Unterjochung desselben unter die brahmanische Cultur. Das Gedicht ist uns wohl nur in einer späteren Umarbeitung durch einen kunstgerechten Dichter überliefert. Während die ersten Gesänge des Werkes würdig sich den epischen Dichtungen anderer Volker an die 70

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Seite stellen können, artet die Dichtung weiterhin immer mehr in das Phantastische und Bizarre aus. Die zweite dieser grossen epischen Dichtungen, das Mahâbhârata, ist von einem ganz anderen Charakter. Es ist dem Umfange nach eine riesige Dichtung, wohl das grösste Epos der Erde. Der eigentliche Kern der Dichtung, der Kampf zweier mächtiger Herrscherfamilien um die Oberherrschaft von Indien, ist grossartig in seinen Grundzügen, von pathetischer Tragik durchzogen, aber dieser schöne Kern ist überwuchert von einer Unzahl von Episoden sehr verschiedenen Werthes, in denen besonders das Didaktische vorherrscht: z. B. das berühmte Gedicht Bhagavadgîtâ, jenes vielgepriesene und bewunderte Lehrbuch des Pantheismus, ist eine einzelne Episode des Mahâbhârata, die künstlerisch betrachtet in sehr ungeschickter Weise unmittelbar vor dem Beginn der mörderischen Schlacht, als schon die Trompeten zum Kampfe aufrufen, eingeflochten ist. Der weiseste Held des Mahâbhârata ist der greise Bhîshma, den man den Nestor des indischen Epos nennen könnte; er wird tödtlich verwundet, und sammelt nun seine Schüler und Kampfgenossen um sein Sterbebett, und spendet Rathschläge und moralische Ermahnungen, theils in rein didaktischer Form, theils in Erzählungen von Legenden u. s. w. Diese Episode hat allein vielleicht den vierfachen Umfang der sämmtlichen Homerischen Dichtungen. Es wäre sehr zu wünschen, dass man einmal den eigentlichen Kern dieses Epos von den überwuchernden Episoden loslöste. Wir besitzen zwar bereits einen solchen Versuch, ich muss ihn aber nach meiner Ansicht für durchaus verfehlt halten. Wir sind gewohnt, Producte der Dichtkunst vor Allem nach dem ästhetischen Maasse zu messen. So berechtigt dieser Standpunkt ist bei der Betrachtung einer einzelnen in sich abgeschlossenen Literatur, oder Literaturperiode, so würde es doch nicht gerecht sein, wenn man die literarischen Erscheinungen eines ganz fremden Volkes, von dem wir durch Raum und Zeit, durch eine ganz originelle und selbständige Culturentwickelung so weit getrennt sind, wie dies bei den Indiern der Fall ist, darnach beurtheilen wollte. Ich glaube, wir müssen bei der Betrachtung und Beurtheilung der indischen Dichtungen nicht bloss den ästhetischen Maassstab anlegen, sondern vor Allem und in erster Linie den culturhistorischen. Hellenische Schönheit des Gedankens und der Form ist dem Indier stets fremd geblieben. Treten uns auch bisweilen Fragmente entgegen, die vom reinste Geiste der Poesie durchzogen sind, so muss man doch bei der Beurtheilung des Werthes und der Bedeutung der altindischen Poesie im Allgemeinen, wie sie in den Vedas und den epischen Dichtungen uns vorliegt, von dem Standpuncte des bloss Schönen absehen. – In den Kämpfen, die uns das Mahâbhârata schildert, gehen die alten Heldengeschlechter unter, und es beginnt eine neue Periode in der Entwickelung des Indischen Volkes, die wir als die historische bezeichnen müssen. Mächtige, wohl organisirte Staaten fingen an sich zu bilden. Der Schwerpunkt des politischen und religiösen Lebens lag von nun an nicht mehr im Westen an den Ufern des Indus, sondern war um hundert Meilen weiter vorgerückt nach Osten; an den Ufern des Ganges entwickelte sich ein neues und reges Leben in Staat, Kirche und Wissenschaft. Leider fehlen aber für diese weitere Entwickelung des indischen Lebens die ausführlichen 71

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Quellen. So umfangreich die eigentlich heilige Literatur der Indier ist, so genau und ausführlich die Indischen Dichter das Leben der Götter und der Heiligen geschildert haben, so dürftig und fast werthlos sind ihre Mittheilungen über die Männer, die in historischer Zeit den Indischen Staat gegründet und ausgebaut haben. Der Indier hatte nie Sinn und Verständniss für das grossartige Wirken und Schaffen des Menschen im Staate. Dem Indier ist das ganze irdische Leben ein fluchwürdiges Dasein, aus dem man sich zu befreien suchen muss, um in die reinen Regionen der Götter zurückzukehren. Welchen Werth konnte daher der Indier dem Treiben des einzelnen Individuums, einer Dynastie beilegen? Die Indier haben daher niemals Geschichtswerke gehabt, nicht einmal Chroniken, denn was man derartiges besitzt, gehört dem späteren Mittelalter an. Dem Indier löst sich das Leben eines bedeutenden Mannes entweder in eine Legende auf, oder in ein Märchen. Zu Anfang unseres Jahrhunderts müssen zwei mächtige Herrscher in Indien aufgetreten sein, denn an ihre Namen knüpfen sich zwei, noch jetzt allgemein in Indien geltende chronologische Aeren, aber von dem Thun und Treiben dieser Herrscher, ihren kriegerischen oder friedlichen Grossthaten wissen wir absolut nichts weiter, als was beiläufig von ihnen in Märchensammlungen erwähnt wird. Statt der Geschichtswerke haben wir dahingegen ausserordentlich reiche und ausführliche Sammlungen von Legenden, die man unter den Namen der Purânas, d. h. der alten Sagen, zusammengestellt hat. Der Inhalt dieser Bücher ist wesentlich in allen derselbe, nur leicht schattirt nach dem verschiedenen religiösen Standpunkte der Verfasser. Der Umfang dieser Werke ist sehr bedeutend, und die 18 allgemein anerkannten Purânas bilden viele hunderttausende von Versen. Alle diese Werke sind durch Commentare erläutert. Alle die literarischen Producte der Indier, die ich bis jetzt berührt habe, gehören nach der Auffassung der Indier der heiligen Literatur an. – Bewundern muss man die geistige Energie, die dies Alles schuf, mag man auch über den Inhalt denken, wie man wolle, bewundern den durch Tausende von Jahren hindurch sich gleichmässig gebliebenen Eifer des Volkes, diese fast unermessliche Literatur zu erhalten und zu bewahren. Denn das indische Klima ist dem Erhalten der Manuscripte, die auf einem aus Pflanzenstoffen gemachten Papiere niedergeschrieben sind, nicht günstig. Man darf annehmen, dass alle 200 Jahre die gesammte Literatur durch neue Abschriften erneuert werden musste, wenn die Werke nicht für immer rettungslos untergehen sollten. Welchen unausgesetzten Fleiss setzt dies bei dem Volke der Indier voraus! Werfen wir noch einen Blick auf die heilige Literatur der Indier, so müssen wir eingestehen, dass kein Volk der Erde eine so reiche Fülle von religiösen Schriften der verschiedensten Art aufzuweisen hat als das Indische. Diese Schriften bieten den unendlichen Vortheil, dass wir aus ihnen die Entwickelung der indischen Religion durch alle Stadien hindurch verfolgen können, von der einfachsten Naturreligion an durch ein sehr reich entwickeltes mythologisches System des Polytheismus hindurch, bis wieder in den Schulen der Philosophen diese bunte, oft wilde und bizarre Mannigfaltigkeit der Göttergestalten sich in einem verklärten Monotheismus auflöst, und in dem Brahma die wahre einzige Gottheit erkannt wird. Und jede Stufe 72

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dieser Entwickelung beglaubigt durch umfangreiche authentische Documente. Das Studium der religiösen Literatur der Indier ist aber nicht bloss, wie sich von selbst versteht, von maassgebender Wichtigkeit für die religiöse Entwickelung des indischen Volkes, nein, sie kann als eine sichere und fast untrügliche Führerin dienen für die Geschichte der Religion im Allgemeinen. – Verlassen wir die heilige Literatur der Indier, und wenden wir uns der profanen zu, so müssen wir gleich von vornherein zugestehen, dass die Profan-Literatur sowohl an Alter, als an Werth und Umfang weit hinter der heiligen Literatur zurücksteht. Wir besitzen aus der gesammten profanen Poesie der Indier keine einzige grössere Dichtung, die mit Sicherheit nur bis zu den Anfängen unserer Zeitrechnung hinaufreichte. Selbst die relativ ältesten Werke dieser Art, zwei bis drei Dramen, gehören höchstens den ersten Jahrhunderten nach Christi Geburt an. Erschrickt man fast vor der Masse der heiligen Literatur, so ist die Zahl der Werke der profanen Literatur ziemlich gering, und da bei diesen der ästhetische Maassstab mit vollem Rechte angelegt werden darf, so müssen wir auch zugleich eingestehen, dass die profane Poesie der Indier nach dieser Seite hin keinen hohen Werth beanspruchen kann. Nur die wenigen uns erhaltenen Dramen aus der Zeit der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung, wie die Sakuntalâ und das bürgerliche Drama: der Kaufmann und die Bajadere, gehören zu denjenigen Schöpfungen der indischen Muse, die sich würdig dem Schönsten an die Seite stellen, was andere Völker in diesen Gebieten geleistet haben. Die vier ersten Acte der Sakuntalâ gehören zu den Perlen der Weltpoesie. Diese dramatischen Arbeiten sind zugleich eine originale Schöpfung des dichterischen Geistes der Indier. Man hat in neuerer Zeit öfters die Behauptung ausgesprochen, dass die Indier die dramatische Literatur erst nach dem Vorbilde und unter der Anregung der Griechen ausgebildet hätten, da ja längere Zeiten hindurch griechische Herrschaften in Indien blühten. Aber diese griechischen Königreiche fanden sich nur in den äussersten westlichen Gebieten Indiens, die zu jener Zeit, also nach Alexanders des Grossen Zügen nach Indien, von den Indiern bereits zu den barbarischen Ländern gerechnet wurden. Der Mittelpunct der Cultur war eben von dem Ursitze im Westen weiter nach Osten vorgerückt. Von den Barbaren nahm der stolze, ja hochmüthige Brahmane nichts an. Dazu kommt noch, dass die indischen Dramen in nichts mit den griechischen harmoniren, weder in der Anlage, noch in der Durchführung des dramatischen Fadens, noch in der Form. Das indische Drama ist ganz naturgemäss unmittelbar aus der epischen Poesie hervorgegangen, nicht aus der Lyrik, wie das griechische Drama. – Die zahlreichen Kunst-Epopöen sind frostige Producte der Grammatiker und Rhetoriker. Noch giebt es aber eine Seite der profanen Poesie der Indier, die ich kurz berühren muss, da sie während des Mittelalters einen ganz immensen Einfluss geäussert hat auf die ganze Literatur des Morgenlandes und des Abendlandes. Es ist dies die Literatur der Märchen und Novellen. Es ist ein nicht zu bezweifelndes Factum, durch die sorgfältigsten und umsichtigsten Forschungen nachgewiesen, dass Indien die eigentliche Heimath, das Quellland ist für die tausende von kleinen Bächen der leichten Unterhaltungsliteratur. Die meistens heiteren, oft witzigen, und leider nicht selten frivolen Erzählungen, an denen man das ganze Mittelalter hindurch sich er73

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götzte, welche in den Burgen der Fürsten und Grossen, und bei den Gelagen des reichen Bürgerstandes erzählt wurden, stammen fast alle aus Indien. Theilweise sind es direct Uebersetzungen aus dem Sanskrit in die Sprache der benachbarten Völker, wie z. B. im Westen in die Sprache der Perser, im Osten in das Chinesische; und so sind diese flüchtigen Producte der indischen Muse über die ganze Erde verbreitet worden. Mehrere dieser indischen Novellensammlungen, wie z. B. „die Geschichte der Sieben Weisen Meister“, „die Fabeln des Bidpai“ u. s. w. gehören zu den gelesensten und am weitesten verbreiteten Büchern des Mittelalters. Dieser geistige Austausch zwischen den Indiern und seinen Nachbarvölkern ist, namentlich in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, sehr gross gewesen, und einzelne überraschende Facta treten uns da entgegen. So z. B. gilt das mittelalterliche Gedicht Barlaam und Josaphat, das die Bekehrung des Prinzen Josaphat durch den Weisen Barlaam erzählt, für ein Muster der specifisch christlichen Dichtung des Mittelalters, und doch ist dieses Werk nichts weiter als eine Uebersetzung aus dem Sanskrit und zwar der Lebensgeschichte und der Bekehrung des Religionsstifters Buddha, das wahrscheinlich, da um die erwähnte Zeit der Buddhismus weit nach Persien in die Iranischen Länder vorgedrungen war, aus dem Sanskrit in das Persische übersetzt wurde, und von da aus weiter in das Abendland wanderte. Ein Hauptverdienst für die Sammlung, die Aufbewahrung und Verbreitung dieser flüchtigen Dichtungen haben sich die Buddhisten erworben. Es liegt in der Lehrmethode der Buddhisten, ihre religiösen und ethischen Anschauungen durch Erzählungen, Gleichnisse und Fabeln zu erläutern und anschaulich zu machen. Die Buddhisten wendeten sich in ihren Predigten und Belehrungen an das eigentliche Volk, nicht bloss an die Vornehmen und Priester, und da waren solche kleine Erzählungen, die ganz dem naiven Sinne des Volkes entsprachen, seinem geistigen Verständnisse am nächsten lagen, der sicherste Weg, diesen Lehren Ansehen zu verschaffen. Die Buddhisten sind nicht, wie man öfters behauptet, die Erfinder und Dichter dieser Novellen u. s. w., nein, das war das gesammte indische Volk, die Buddhisten haben nur das Verdienst, und dies ist nicht gering anzuschlagen, diese Dichtungen uns erhalten zu haben, indem sie es nicht verschmähten, sie in ihre theologischen Bücher aufzunehmen. – Vieles und darunter höchst Bedeutendes haben die Indier in verschiedenen Gebieten der strengen Wissenschaft geleistet, vor Allem in der Wissenschaft der Grammatik. Kein Volk der Erde hat so frühzeitig sein Augenmerk auf die Erforschung der Sprache gerichtet als die Indier. Schon aus dem 5. Jahrh. v. Chr. haben wir Abhandlungen über die Phonetik, in welchen die Indier mit ebensoviel Scharfsinn als Wissen die einzelnen Laute und Lautgruppen des Sanskrit der eingehendsten Analyse unterworfen haben und zu Resultaten gekommen sind, die in vollem Einklange stehen mit den Leistungen unserer heutigen Physiologie. Ebenso glänzend sind ihre Leistungen auf dem Gebiete der eigentlichen Grammatik, besonders und vorzugsweise was die Formen der Wörter betrifft, ihre Bildung aus den einfachsten Lautcomplexen, den sogenannten Wurzeln, und ihre Flexion in Nomen und Verbum. Alle diese Untersuchungen und Forschungen sind dabei mit grosser Nüchternheit geführt: die Indier haben streng die Gränze innegehalten zwischen grammatischer 74

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Forschung und zwischen der Speculation über die Sprache. Diese letztere Seite der Sprachforschung ist ihnen nicht unbekannt geblieben, sie haben sie aber in das Gebiet der Philosophie verwiesen. Die Methode, welche die indischen Grammatiker aber in der eigentlichen Grammatik beobachten, ist so wunderbar vollendet, dass sie die Basis für alle neueren grammatischen Arbeiten bildet. Nur dadurch, dass uns die eigenthümlich in sich vollendete Sprache des Sanskrit zugleich mit der Methode der indischen Grammatiker zugeführt wurde, ist jener mächtige Aufschwung der sprachvergleichenden Grammatik zu erklären, den wir jetzt bewundern. Diese Methode der indischen Grammatiker hat sich aber als so trefflich erwiesen, dass jetzt keine Grammatik irgend einer Sprache abgefasst wird, die nicht mehr oder weniger eng sich an die Methode der Indier anschlösse. Ob Jemand jetzt die Grammatik der Jakuten, jenes kleinen Ueberrestes eines türkischen Volksstammes am Eismeer, oder die Sprache der Hottentotten und Kaffern bearbeitet, – in beiden Grammatiken herrscht die Methode der indischen Grammatik. Das wissenschaftliche Studium der Sanskrit Sprache bei den Indiern hängt wohl innig mit dem Studium der heiligen Bücher der Vedas zusammen. Aus der Sorge für einen gleichmässig richtigen Vortrag der an die Götter gerichteten Hymnen und der die Handlungen des täglichen Lebens begleitenden frommen Sprüche, entstanden die oben erwähnten Tractate über die Phonetik, in welcher die Aussprache der einzelnen Buchstaben, die Accente u. s. w. der genausten und minutiösesten Untersuchung unterworfen wurden. Und das Bestreben, den Sinn der heiligen Worte nach festen wissenschaftlichen Regeln zu bestimmen, hat die eigentliche Grammatik hervorgerufen. Wann die Indier die ersten Versuche in der Grammatik gemacht haben, ist schwer zu bestimmen; sie reichen aber vielleicht schon bis ins 7. und 8. Jahrhundert vor Christus hinauf, wenn auch zu jener Zeit noch ohne feste wissenschaftliche Methode. Das die eigentliche Grammatik abschliessende Werk, zu dem die spätere Zeit nur einzelne geringe Bereicherungen hinzufügte, fällt etwa in das Jahr 400 vor Chr. Es ist dies die Arbeit des Grammatikers Pânini, den man den genialsten Grammatiker aller Zeiten und Völker nennen darf. – Was die Indier in den mathematischen Wissenschaften geleistet haben, entzieht sich meiner Beurtheilung. Nur ein Paar Worte über die Form der einschlagenden wissenschaftlichen Arbeiten der Indier wollen Sie mir gestatten. Die Lehrbücher nämlich der Indier über die höhere Rechenkunst, über die Algebra, sowie über Astrologie, und zum Theil auch über Astronomie, sind in meisterhafter Formvollendung abgefasst. Ich meine damit nicht bloss, dass sie in Versen abgefasst sind, denn das ist einmal für den Indier die bequemste und leichteste Form des Ausdrucks, sondern diese Verse sind zum Theil in den künstlichsten metrischen Formen gebaut, die oft mit einem wahren rhetorischen Pomp sich bewegen. Die Aufgaben z. B., welche Bhâskara in seiner Algebra bei dem Abschnitte von den Gleichungen giebt, sind oft geradezu reizende kleine Dichtungen. Was auch die Kenner über den Werth der Leistungen der Indier in Astronomie und Mathematik urtheilen mögen, und im Ganzen lautet ihr Verdict über die indische höhere Rechenkunst sehr günstig, sicher ist, dass die Indier originell und 75

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selbstständig schöpferisch in diesen Zweigen des Wissens gearbeitet haben. Nur die trügerische Wissenschaft der Astrologie scheint aus Babylon und Alexandrien nach Indien importirt worden zu sein, das Einzige aus dem ganzen Gebiete der Kunst und des Wissens, dessen Ursprung nachweisbar jenseits der Gränzen Indiens liegt, aber auch hier müssen wir wieder den Indiern zugestehen, dass sie in Bezug auf die vollendete Form der Darstellung die astrologischen Arbeiten anderer Völker übertreffen. Die Astrologie des Varâhamihira aus dem 5. Jahrh. unserer Zeitrechnung ist von ungewöhnlicher metrischer Vollendung. Nur mit Einem Worte will ich daran erinnern, dass ganz unbestreitbar, und von allen Forschern zugestanden, die Indier die Erfinder des Ziffersystems sind, und durch die Hinzufügung der Null jene Leichtigkeit und Sicherheit des Rechnens ermöglicht haben, von der das ganze klassische Alterthum keine Ahnung hatte. Und ist irgend etwas ein ächt indischer Gedanke, so ist es der, dem Nichts, der Null, einen bestimmten und oft Alles bestimmenden Werth einzuräumen. Das Princip, nach dem das indische Ziffersystem gebildet wurde, ist bekannt: die Ziffern sind die Anfangbuchstaben der sanskritischen Zahlwörter. Die Erfindung des durch die Null vollendeten Ziffersystems fällt etwa in das 1. bis 4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. – Auch in der Philosophie sind die Indier kühn und selbstständig vorgeschritten. Die höchsten Probleme der Philosophie, die Fragen nach dem Dasein Gottes, der Unsterblichkeit der Seele, nach Raum und Zeit u. s. w. haben die Indier mit kühner Hand berührt, tiefsinnig zu ergründen gesucht, und sind vor keiner Consequenz ihrer Prämissen erschrocken. Leider haben sie selten die schöne Form für die Darstellung ihrer Gedanken gefunden. Nur sehr wenige philosophische Schriften der Indier haben etwas von der vollendeten Darstellung, die wir bei den Griechen bewundern. Gerade die Hauptwerke, in denen die Lehren der verschiedenen philosophischen Schulen niedergelegt sind, sind in einer harten, abstossenden, oft geradezu änigmatischen Kürze abgefasst, so dass die Commentare, ohne welche Niemand eine Ahndung von den in den Lehrsätzen vorgetragenen Meinungen hätte, zur Hauptsache werden, und die Lehrsätze selbst nur als Anhaltepunkte für das Gedächtniss zu dienen scheinen. Auch die Rechtswissenschaft ist von den Indiern vielfach angebaut worden. Dem ganzen Character der indischen Cultur gemäss, waren es wohl zuerst die Vorschriften über die Beobachtung der religiösen Ceremonien bei dieser und jener Lage des Lebens, die frühzeitig niedergeschrieben wurden, da von ihrer gewissenhaften Beobachtung nicht bloss das Heil und Glück des irdischen Daseins, sondern auch das des jenseitigen Lebens abhing. Es sind uns eine ziemliche Anzahl, meistens wenig umfangreicher Tractate dieser Art erhalten, die gewiss zum grössten Theile in eine weite Vergangenheit, vielleicht bis in das 6. Jahrh. vor Chr. hinaufreichen. Neben diesen Schriften, die mehr dem kirchlichen als dem eigentlichen Rechtsgebiete angehören, mögen auch schon einzelne Vorschriften, die sich mehr auf das wirkliche Leben bezogen, wie z. B. über Erbfolge, Kauf und Verkauf u. s. w., existirt haben. Grössere zusammenhängende Werke, welche die verschiedenen Gebiete des Rechts mit einiger Ausführlichkeit und von wissenschaftlichem Geiste durchdrungen dar76

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stellten, konnten natürlich nicht eher entstehen, als bis ein indischer Staat sich entwickelt hatte, und die mannigfachen Verwickelungen, die das Leben in grossen Staaten leicht und oft herbeiführten, konnten nicht bloss mehr nach einem patriarchalischen Gewohnheitsrechte entschieden werden, sondern bedurften der festen geschriebenen Ordnung. Es entstanden Gerichtshöfe und in ihnen entwickelte sich eine Wissenschaft des Rechts; die als allgemein giltig angenommenen Rechtssätze wurden in Sammlungen niedergelegt. Die älteste uns erhaltene Sammlung solcher Rechtsgewohnheiten, die nach indischer Weise in rhythmischen Sprüchen abgefasst sind, ist das Gesetzbuch des Manu, das in seiner Totalität wohl aus der Zeit vor Buddha stammt, also etwa aus dem 6. Jahrh. vor Chr., was nicht ausschliesst, dass die spätere Zeit noch diesen und jenen Rechtsspruch unter der schützenden Aegide des heiligen Manu einführte. Noch bis zum heutigen Tage geniesst das Gesetzbuch des Manu überall in Indien kanonisches Ansehen, und wo die gesetzlichen Bestimmungen gar nicht mehr mit den Bedürfnissen der Zeit übereinstimmen, hilft man sich mit der Fiction, dass Manu im Goldenen Zeitalter gelebt habe, und daher viele seiner Gesetze nicht mehr für das jetzige im Eisernen Zeitalter lebende Geschlecht passen. Manu’s Gesetzbuch ist wie das älteste, so auch das umfangreichste der Werke dieser Art. Jüngere Werke, die etwa aus der Zeit kurz nach Christus uns erhalten sind, sind weniger umfangreich, aber bereits systematischer geordnet und in der Abfassung sind die Gesetze klarer und bestimmter. Diese verschiedenen Gesetzbücher bilden nun die Basis für die eigentliche wissenschaftliche Jurisprudenz der Indier. In umfangreichen Arbeiten sind die verschiedenen Rechtsmaterien behandelt und die etwaigen Controversen zu schlichten gesucht worden. Daneben geht ein sehr weit entwickeltes Processverfahren, und man muss den indischen Advocaten zugestehen, dass sie mit ebensoviel Scharfsinn als Gelehrsamkeit die alten Rechtsquellen zu interpretiren verstehen, um sie bei einem vorliegenden Falle anzuwenden. – Alles, was ich Ihnen bis jetzt von der in Sanskrit verfassten heiligen und profanen, sowie wissenschaftlichen Literatur mitgetheilt habe, gehört ohne Ausnahme der Brahmanischen Cultur an; neben dieser entwickelte sich im 6. Jahrhundert vor Chr. die Religion des Buddha, und diese wurde wieder die Quelle einer sehr reichen Literatur in der Sanskrit-Sprache, die zwar an Umfang und Mannigfaltigkeit hinter der brahmanischen zurücksteht, aber dennoch eine Fülle von Werken ins Leben gerufen hat, fast alle theologischen Inhalts. Die Zeit erlaubt mir nicht, diese sanskritisch-buddhistische Literatur in den einzelnen Zweigen ihrer Entwickelung hier vorzuführen, nur die einzige allgemeine Bemerkung wollen Sie mir gestatten: dem Buddhismus lag als Ziel vor, die unter der doppelten Knechtschaft des brahmanischen Pfaffenthums und seines in Formalismus ausgearteten Kirchenthums, und unter der Knechtschaft eines entarteten Königthums schmachtende Menschheit zu befreien. Die buddhistischen Religionslehrer bedienten sich daher, um auf das Volk zu wirken, der einfachsten Ausdrucksweise. Als die Buddhisten aus Indien verdrängt, nach allen Seiten hin bei den umgebenden Völkern ihre Religion einzuführen bemüht waren, und überall hin Mis77

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sionäre entsendeten, die auch mit ganz ungewöhnlichem Erfolge ihr Ziel erreichten, war es stets die erste Aufgabe dieser frommen Männer, die heiligen Bücher aus dem Sanskrit in die verschiedenen Sprachen der bekehrten Völker zu übersetzen. So entstand in China, Korea, Japan, in Hinterindien, in Tibet und der Mongolei eine sehr voluminöse buddhistische Literatur, die wesentlich aus Uebersetzungen aus dem Sanskrit besteht. Wie umfangreich diese Literatur ist, können Sie z. B. daraus entnehmen, dass der in der Mitte des vorigen Jahrhunderts in einem Kloster in Tibet gedruckte Kanon der heiligen buddhistischen Schriften fast 300 dicke Bände in Folio umfasst. Man kann daher ohne alle Uebertreibung sagen, dass es keine Literatur auf Erden giebt, die einen so grossen Leserkreis hat als die sanskritische mit Einschluss der unmittelbar aus dem Sanskrit geflossenen Uebersetzungen. Doch damit ist das geistige Leben Indiens nicht abgeschlossen. Neben dem Sanskrit entwickelten sich bereits in früherer Zeit verschiedene Dialekte, von denen jeder wieder zu der heiligen Sprache einer grossen Religionsgemeinde wurde: das Pâli, in welchem die heiligen Schriften der Buddhisten auf der Insel Ceylon, in dem Königreiche Birma und Siam verfasst sind, und zweitens die Sprache des Landes Magadha, wo Buddha lebte und wirkte. In einer sehr plumpen und rohen Entartung ist diese Sprache von Magadha die heilige Sprache der Religionssekte der Jainas geworden, eine Sekte, die nichts weiter ist als eine Accommodation des Buddhismus an die brahmanische Staatskirche. Ferner: in allen Volkssprachen Indiens, sowohl in denen des Nordens, die aus dem Sanskrit unmittelbar abstammen, wie z. B. das Hindi, das Bengalische, Mahrattische u. s. w., als auch in den Sprachen des südlichen Indiens, die zu dem Sprachgebiete der autochthonen Ureinwohner Indiens gehören, dem Tamtulischen, Canaresischen u. s. w. wird ununterbrochen geschrieben und gedichtet, und alle diese literarischen Productionen sind entweder unmittelbar Uebersetzungen aus dem Sanskrit, oder Bearbeitungen sanskritischer Originale, oder wenigstens ganz aus dem Geiste hervorgegangen, der in der sanskritischen Literatur abgelagert ist. – Die Indische Philologie ist daher nicht erschöpft mit der blossen Kenntniss der altindischen Sprache, dem Sanskrit, sie bietet dem Forscher noch andere wissenswürdige Gebiete. Wenn Sie bedenken, dass die Sanskrit-Literatur gegen 4000 Jahre hinaufreicht, dass in Indien weit über 100 Millionen Menschen leben und dass diese alle, und durch den Buddhismus Millionen der umgebenden Völker, ihre ganze geistige Nahrung aus Werken ziehen, die ursprünglich in Sanskrit abgefasst waren, so werden Sie mir zugestehen, dass die Beschäftigung mit Indien, mit der geistigen Entwickelung des indischen Volkes in Dichtkunst, Religion und Wissenschaft keine unwürdige Aufgabe eines der Wissenschaft geweihten Lebens ist. Die Durchforschung der indischen Welt füllt eine wesentliche Lücke in der Geschichte der Entwickelung der Menschheit aus. ***

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31. October 1873. Rede des abgehenden Rectors Dr. Brockhaus. Bericht über das Studienjahr 1872/73. Hochansehnliche Versammlung! Tiefe Trauer ruht auf dem ganzen Lande. Der König, der fast zwanzig Jahre hindurch Sachsen mit Gerechtigkeit, Milde und Weisheit regiert hat, ist nicht mehr unter den Lebenden, nach langem schmerzvollem Kampfe seinen schweren Leiden erliegend. Weit über die Gränzen unsrer engeren Heimath hinaus in allen Gauen Deutschlands, denn überall war unser König hoch geehrt, wird die Kunde von dem Hinscheiden Sr. Majestät die Herzen mit Wehmuth erfüllen. Vor Allen aber beklagt die Universität den Tod des Königs, denn er liebte die Universität, und selbst ein scharfsinniger Forscher in verschiedenen Gebieten der Gelehrsamkeit, ehrte er in ihr die Pflegerin des ernsten und gediegenen Wissens. Als im Jahre 1859 die Universität ihr 450jähriges Jubiläum feierte, brachte Se. Majestät einen Toast auf die Universität, indem er sie als einen der schönsten Juwele in seiner Krone bezeichnete1. Für alle Zeiten wird das Andenken an König Johann dankbar fortleben in der Erinnerung der Universität. Es ist eben ein Jahr her, als der König und die Königin ein seltenes Familienfest feierten. Es war die Goldene Hochzeit des königlichen Paares. Die Deputation, welche die Universität nach Dresden gesandt hatte, wurde auf das Huldvollste und Wohlwollendste aufgenommen, und die Votivtafel, welche sich die Universität erlaubt hatte, Ihren Majestäten zu überreichen, wurde auf das Gnädigste angenommen, und zierte seitdem das Arbeitszimmer Sr. Majestät des Königs. Wer damals Se. Majestät den König sah, konnte wohl nicht im Entferntesten ahnden, dass, noch ehe ein Jahr verflossen, man an dem Sarge des geliebten Herrschers seinen Verlust bitter beklagen würde. Eine Medaille zur dauernden Erinnerung an das schöne Fest wurde geprägt, und Se. Majestät verehrte der Universität ein Exemplar derselben in Gold, das in dem Archive der Universität sorgfältigst aufbewahrt wird. Doch diesem heiteren Feste folgte bald eine sorgenvolle Zeit. Ihre Majestät die Königin erkrankte in gefährlicher Weise, und Jeder bangte um das Leben der königlichen Frau. Die Gefahr jedoch ging glücklich vorüber, Ihre Majestät wurde wieder gänzlich hergestellt, und dem Leben zurückgegeben, freilich nur, um den tiefen Schmerz in seiner ganzen Herbheit kennen zu lernen, den geliebten Gatten unendlich 1

Nach stenographischer Aufzeichnung lauteten die Worte Sr. Majestät: „Die Universität Leipzig, die ehrwürdige Stiftung meines Vorfahren, Friedrichs des Streitbaren, seit 450 Jahren mit Liebe gepflegt von allen Fürsten dieses Landes – Ich habe sie stets als eins der schönsten Juwele in meiner Krone betrachtet.“

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leiden und zuletzt von ihrer Seite gerissen zu sehen. Möge der Himmel der hohen Frau Trost spenden in ihrem unsaglichen Leid. – Indem ich mich zur speciellen Geschichte der Universität wende, will ich zuerst von den Verlusten reden, die sie in diesem Studienjahre betroffen haben. Durch den Tod verlor die Universität mehrere hochverdiente Mitglieder. Am 9. Februar starb Herr Dr. Julius Fürst, Lector der aramäischen und talmudischen Sprachen, im 68. Lebensjahre. Am 25. Februar starb Herr Hofrath Dr. Theodor Marezoll, emeritirter Professor des Criminalrechts, in dem hohen Alter von 80 Jahren. Am 5. Juli begruben wir den Dr. med. Karl Wunderlich, den ein frühzeitiger Tod im 25. Jahre seines hoffnungsreichen Lebens plötzlich dahinraffte. Er war Assistent im Krankenhause zu St. Jacob, das unter der Leitung des Vaters, des Herrn Geh. Medicinalraths Dr. Wunderlich steht. Am 19. August starb ganz unerwartet Herr Hofrath Dr. Hermann Theodor Schletter, ordentlicher Honorar-Professor in der juristischen Facultät, in dem kaum vollendeten 56. Jahre seines Lebens. Am 16. September starb Herr Dr. Johannes Czermak, ordentlicher Honorar-Professor in der medicinischen Facultät, in der vollen Kraft des männlichen Alters, im 45. Jahre seines Lebens. – Der Tod entriss uns aus der Reihe der Studirenden 12 Jünglinge (6 im Wintersemester, 6 im Sommersemester), und manche berechtigte Hoffnung ging mit ihnen zu Grabe. Durch Berufung an auswärtige Universitäten verloren wir Herrn Geheimen Hofrath Dr. Carl Friedrich Rudolf Heinze, ordentlichen Professor des Criminalrechts, der in gleicher Eigenschaft nach Heidelberg berufen wurde. Der ausserordentliche Professor der Jurisprudenz, Herr Dr. Adolf Nissen folgte einem Rufe nach Strassburg als ordentlicher Professor des Criminalrechts und des Criminalprocesses. Der ausserordentliche Professor in der medicinischen Facultät, Herr Dr. Gustav Adolf Schwalbe, histologischer Assistent bei dem physiologischen Institute, ging als ordentlicher Professor der Anatomie nach Jena. Der Privatdocent in der philosophischen Facultät, Herr Dr. Bernays folgte, nachdem er seine Laufbahn an hiesiger Universität mit glänzendem Erfolge begonnen hatte, einem Rufe nach München, als ausserordentlicher Professor der neueren deutschen Literatur. Der Privatdocent der philosophischen Facultät, Herr Dr. Hugo Schuchardt ging als ordentlicher Professor der romanischen Sprachen nach Halle. Der Privatdocent in der medicinischen Facultät, Herr Dr. Julius Michel ging als ausserordentlicher Professor der Augenheilkunde nach Erlangen. Herr Licent. theol. Dr. Julius Kaftan erhielt, nachdem er sich eben in der theologischen Facultät habilitirt und noch ehe er hier seine akademische Laufbahn begonnen hatte, einen Ruf nach Basel als Docent für systematische Theologie. Diesen Verlusten durch den Weggang talentvoller Docenten stehen wenige aber glänzende Erwerbungen von Lehrkräften von andern Universitäten her gegenüber. 80

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Der bereits im vorigen Studienjahre aus Strassburg hierher berufene ordentliche Professor der mittelalterlichen und neueren Kunstgeschichte, Herr Dr. Anton Springer, begann im Anfange des Sommersemesters seine Vorlesungen. Von derselben Universität herbeigerufen trat Herr Professor Dr. K. Binding als ordentlicher Professor des Criminalrechts mit diesem Wintersemester in die Reihe unserer Docenten ein. Beiden Männern, die weit über mein Lob erhaben sind, rufe ich im Namen der Universität ein herzliches Willkommen zu. Gross ist die Zahl der jungen Männer, die als Privatdocenten an unserer Universität sich in diesem Jahre habilitirten. In der theologischen Facultät habilitirten sich Herr Lic. theol. Dr. Bernhard Stade für alttestamentliche Exegese, und Herr Lic. theol. Dr. Julius Kaftan für systematische Theologie, welcher letztere aber, wie bereits erwähnt, nach Basel berufen wurde. In der juristischen Facultät habilitirte sich Herr Dr. W. Reuling, Rechtsanwalt beim Reichs-Oberhandelsgericht, für preussisches Landrecht. In der medicinischen Facultät habilitirten sich Herr Dr. P. Schröter für Augenheilkunde, und Herr Dr. Johannes Ahlfeld für Gynäkologie. In der philosophischen Facultät habilitirte sich Herr Dr. Michael Bernays für deutsche Literaturgeschichte, der aber, wie ich schon erwähnte, uns bereits wieder verlassen hat. Herr Dr. Max Jordan habilitirte sich für neuere Kunstgeschichte. Herr Dr. Victor Gardthausen für Geschichte, namentlich des Alterthums. Herr Dr. Wilhelm Windelband für Philosophie. Herr Dr. Richard Paul Wülker für ältere und neuere englische Sprache und Literatur. Herr Dr. Alfred Wilhelm Dove für Geschichte, besonders des Mittelalters und der Neuzeit. Allen diesen jungen strebsamen Männern wünschen wir die besten Erfolge ihres Wirkens an unserer Hochschule. Von den bereits bei unserer Universität angestellten Lehrern wurden die folgenden in ihren Stellungen befördert: Der Privatdocent in der theologischen Facultät Herr Lic. theol. Dr. Emil Schürer wurde zum ausserordentlichen Professor ernannt. Die Privatdocenten in der medicinischen Facultät Herr Dr. August Rauber, Herr Dr. Johann Leonhard Otto Heubner, und Herr Dr. Hermann Wendt wurden zu ausserordentlichen Professoren befördert. Der Privatdocent in der philosophischen Facultät, Herr Dr. Karl Von der Mühll wurde zum ausserordentlichen Professor ernannt. Die Universität hatte die Freude, zwei ihrer hervorragendsten Mitglieder bei ihren Jubiläen begrüssen zu können. Am 13. Februar feierte Herr Professor Dr. Fechner sein funfzigjähriges Doctorjubiläum, und einige Monate später das funfzigjährige Docentenjubiläum, und am 21. September waren funfzig Jahre verflossen, seitdem Herr Geheimer Hofrath Dr. Drobisch sich die Würde eines Doctors der Philosophie erworben hatte. Beide Jubilare wurden wegen ihrer bedeutenden Leistungen in der 81

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Wissenschaft, wegen ihrer tiefeingreifenden Wirksamkeit als akademische Lehrer, und wegen ihrer hohen Verdienste um die Universität im Allgemeinen, namentlich in den Angelegenheiten der Verwaltung derselben, von der hohen Staatsregierung in ehrendster Weise ausgezeichnet. Die Feier des 400jährigen Geburtstages von Copernicus, am 19. Februar, veranlasste die Universität, einen Deputirten, Herrn Prof. Dr. Bruhns, den Director unserer Sternwarte, nach Thorn, dem Geburtsorte des berühmten Astronomen, zu entsenden. – Indem ich mich zu den Lehrmitteln wende, muss ich zuerst erwähnen, dass das Physikalische Cabinet in diesem Studienjahre ganz ausgebaut und fertig geworden ist, so dass Herr Geheimer Hofrath Dr. Hankel schon in diesem Wintersemester in den schönen und äusserst zweckmässig eingerichteten Räumen desselben seine Vorlesungen halten kann. Der frühere Inspector des physikalischen Cabinets, Herr Georg Moritz Ludwig Leyser wurde nach langen treuen Diensten in ehrenvollen Ruhestand versetzt. Das neue Anatomie-Gebäude ist rüstig im Bau begriffen. Schon erhebt sich das Parterre aus dem Grunde, und wenn nicht besonders ungünstige Witterungsverhältnisse eintreten, darf man hoffen, dass noch vor dem Beginne des eigentlichen Winters das Gebäude unter Dach und Fach gebracht sein wird, so dass binnen Jahresfrist die neue Anatomie den akademischen Lehrzwecken wird eröffnet werden können. Andere zahlreiche Neubauten für die Universität sind bereits in ihren Plänen festgesetzt, so dass die nothwendigen pecuniären Mittel von den eben zusammentretenden Landständen erbeten werden konnten. Es sind dies namentlich: 1) Die Errichtung einer Irrenanstalt, welche zugleich als psychiatrische Klinik dem Unterrichte an der Universität zu dienen bestimmt ist. 2) Ein Gebäude für die landwirthschaftliche Lehranstalt überhaupt, und insbesondere zu einem neuen Laboratorium für Agriculturchemie. 3) Ein Gebäude für Zoologie und das zoologische Museum. 4) Die Anlegung eines neuen botanischen Gartens. 5) Die Erbauung einiger neuer Gebäude für das physikalische und mineralogische Institut. Der umsichtigen Vorsorge des hohen Ministeriums des Cultus und öffentlichen Unterrichts ist es gelungen, ein bedeutendes Areal in der unmittelbaren Nähe der Stadt käuflich zu erwerben, das ganz für akademische Anlagen und Baulichkeiten wird verwendet werden. – Am 21. December des vorigen Jahres eröffnete Herr Professor Dr. Czermak sein physiologisches Spectatorium, das er eben so zweckmässig als grossartig mit bedeutenden Kosten auf seinem Grundstücke erbaut hatte. In liberalster Weise stellte er dies Privat-Laboratorium den Docenten unserer Universität zu akademischen Vorträgen zur Disposition. Leider nur wenige Monate lang war es dem Meister vergönnt, in diesen Räumen zu wirken und zu schaffen. Die Sorgfalt der Staatsregierung begnügte sich aber nicht blos mit der Errichtung von zweckentsprechenden Baulichkeiten für die Weiterbildung der Naturwissenschaften, auch die andern Gebiete des Wissens wurden durch neu gegründete Seminare u. s. w. auf das Ausgiebigste berücksichtigt. 82

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Ich nenne hier zuerst das philosophische Seminar. Für den Beginn des Sommersemesters nämlich wurde zur Hebung der philosophischen Studien ein philosophisches Seminar angeordnet und mit 200 Thalern für Stipendien ausgestattet. Da die gewünschte gemeinschaftliche Leitung desselben den beiden ordentlichen Professoren der Philosophie Herrn Geh. Hofrath Dr. Drobisch und Herrn Hofrath Dr. Ahrens in Folge der Behinderung des Ersteren nicht möglich war, wurde das Seminar unter die Leitung des Hofraths Dr. Ahrens gestellt. Das Seminar, in welches Studirende aller Facultäten als Mitglieder aufgenommen werden können, hat vornehmlich den Zweck, die Möglichkeit einer gründlichen Ausbildung in den für alle Berufsgebiete wichtigen Wissenschaften des geistigen und sittlichen Lebens zu gewähren. Die rege Betheiligung, welche im ersten Semester an den Uebungen des Seminars stattgefunden hat, lässt einen gedeihlichen Fortgang erwarten. Der lebhafte Aufschwung, den das Studium der deutschen Sprache und der älteren Denkmäler unserer Literatur an unserer Universität genommen hat, veranlasste das hohe Ministerium des Cultus und öffentlichen Unterrichts, durch Rescript vom 15. September dieses Jahres, ein Königliches Deutsches Seminar zu begründen. Der Zweck dieses Seminars ist: „das Studium der Literatur, der Alterthumskunde und der Grammatik der germanischen Völker, ganz besonders aber des deutschen im engeren Sinne, durch praktische Uebungen den Studirenden lebendig und fruchtbar zu machen und auf diesem Wege tüchtige Lehrer für diese Fächer für Gymnasien und höhere Lehranstalten zu bilden. Die Uebungen im Seminar sind öffentlich, und es steht Jedermann frei, denselben als Zuhörer beizuwohnen. Die Uebungen bestehen in Erklärung von Schriftwerken aus dem Kreise der deutschen Sprachen, und in Abfassung selbstständiger schriftlicher Arbeiten über Gegenstände aus dem Gebiete der deutschen Literatur, Alterthumskunde und Grammatik und deren Besprechung. Die Mitglieder zerfallen in zwei Abtheilungen, in ordentliche und ausserordentliche. Die Zahl der ordentlichen Mitglieder ist auf acht festgestellt, dagegen soll die Aufnahme ausserordentlicher Mitglieder an keine bestimmte Zahl gebunden sein. Die ordentlichen Mitglieder sind verpflichtet, sich in regelmässiger Reihenfolge den Interpretationen und Disputationen zu unterziehen, und jedes derselben hat in jedem Semester mindestens eine schriftliche Arbeit einzureichen. Den ausserordentlichen Mitgliedern steht es frei, soweit es die Umstände erlauben, sich an den beiden Uebungen zu betheiligen. Jedes ordentliche Mitglied empfängt an regelmässigen Stipendien je 15 Thaler am Schlusse jedes Semesters. Ausser den genannten Stipendien sind zweimal 30 Thaler jährlich als Preise für die beiden besten im Laufe des Jahres gelieferten Abhandlungen ausgesetzt. Der Genuss eines Stipendiums überhaupt dauert nicht über zwei Jahre; nur unter besonderen Umständen kann er noch auf ein drittes Jahr verlängert werden.“ Das Seminar ist bereits in diesem Wintersemester unter dem Directorium des Professors der deutschen Sprache, des Herrn Professors Dr. Zarncke eröffnet worden. Unter der Leitung dieses hoch angesehenen Lehrers darf die Universität die schönsten Früchte von diesem Seminar erwarten. Zur Förderung der verwaltungsrechtlichen Studien und im besonderen Hinblicke auf die bevorstehende neue Verwaltungsorganisation ist vom Ministerium des Innern 83

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an der Universität ein verwaltungsrechtliches Practicum unter Leitung des Herrn Hofraths Dr. Schletter errichtet und dafür von der königlichen Staatsregierung Stipendien für die Theilnehmer ausgesetzt worden. Dies Practicum trat im Sommersemester ins Leben. Hoffentlich wird der plötzliche Tod des Herrn Hofraths Schletter nur eine momentane Unterbrechung in dem Fortgange dieses praktisch wichtigen Instituts herbeiführen. Die Universitäts-Bibliothek, die unter der umsichtigen Oberleitung des Herrn Prof. Dr. Krehl den stets in allen Gebieten des Wissens sich steigernden Ansprüchen zu genügen eifrigst bestrebt ist, hat in diesem Jahre eine kostbare Bereicherung erhalten. Unser College nämlich, Herr Professor Dr. Ebers war bei seiner letzten längeren Reise nach Aegypten so glücklich, in Theben eine der schönsten PapyrusRollen, die aus dem höchsten Alterthum des Aegyptischen Reiches durch den Lauf der Jahrtausende hindurch sich erhalten hat, käuflich zu erwerben. Dieser Papyrus gehört zu den umfangreichsten literarischen Denkmälern Aegyptens. Das Manuscript ist wesentlich medicinischen Inhalts, erfüllt, wie es scheint, mit einer Menge von magischen Beschwörungsformeln. Seine Majestät, der höchstselige König, von Allem was in das Gebiet der Literatur einschlägt mit dem lebhaftesten Interesse erfüllt, kaufte das kostbare Manuscript und schenkte es der Universitäts-Bibliothek. Die gelehrte Welt wird dauernd Sr. Majestät dem Könige für seine Munificenz zu tiefstem Danke verpflichtet sein. Herr Prof. Dr. Ebers ist bereits eifrig mit der Publication dieses literarischen Unicums beschäftigt, durch lithographische Herausgabe des Textes, begleitet von einer deutschen Uebersetzung und erläuterndem Commentare. Das Ganze verspricht eine reiche Fundgrube zur genaueren Kenntniss des alten merkwürdigen Volkes der Aegypter und seiner Sprache zu werden. Die hohe Staatsregierung, in richtiger Erkenntniss der Bedeutung des von Herrn Prof. Overbeck begonnenen Werkes über die Kunstmythologie der Griechen und Römer, das wissenschaftlich eben so bedeutend ist, wie es künstlerisch vollendet ausgeführt wird, gewährte unserem Collegen einen längeren Urlaub zu einer Reise nach Italien, um seine Sammlungen wesentlich zu bereichern und durch Autopsie an Ort und Stelle die genauesten und sichersten Abzeichnungen zu erwerben. Rasch reift das wichtige Werk seiner Vollendung entgegen, wesentlich durch die Liberalität des Ministeriums des Cultus gefördert. Im Auslande wird die Bedeutung unserer Universität, als eines Brennpunktes deutscher Wissenschaft, immer mehr anerkannt. Es beweist dies die grosse Zahl von Studirenden, selbst aus den fernsten Ländern, die sich bei uns inscribiren lassen, sowie einzelne Momente der Anerkennung, von denen ich mir erlaube zwei namentlich anzuführen. Die englische Regierung beauftragte den Professor der Zoologie an der Universität Edinburg, Herrn Wyville Thomson, mit der wissenschaftlichen Leitung einer Expedition zur Untersuchung des Oceans. Um diesen Gelehrten an der Universität zu vertreten, berief der dortige Senat unseren Collegen Herrn Professor Dr. Carus nach Edinburg, um Vorträge über Zoologie zu halten. Unsere Regierung gewährte gerne den erbetenen Urlaub. Der ausserordentliche Erfolg, welchen Herr Prof. Carus in dem verflossenen Sommersemester an der grössten schottischen Universität gehabt 84

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hat, wird den guten Klang Leipzigs jenseits des Kanals noch weiter befestigen. Es wird Sie freuen zu hören, dass unserem geehrten Herrn Collegen auch bereits wieder für das nächste Sommersemester ein Urlaub zu demselben Zwecke ertheilt worden ist. Eine weitere Anerkennung der Bedeutung unserer Universität liegt in der Begründung des russischen philologischen Seminars in Leipzig. „Es hat sich in Russland auf dem Gebiete des höheren Unterrichtswesens in neuester Zeit ein Umschwung vollzogen. Nach Jahrzehnte langen Schwankungen und Parteikämpfen hat dort schliesslich das Princip obgesiegt und ist durch kaiserliche Entscheidung sanctionirt worden, dass der gesammte Gymnasialunterricht wesentlich auf das Studium der classischen Sprachen (nicht blos des Latein) basirt werde. Man hat zu diesem Zwecke weit reichende Massregeln ergriffen. Drei in dem philologisch-historischen Institute in Petersburg ausgebildete junge Männer, die sich durch Talent und Kenntnisse hervorthaten, sind soeben nach Deutschland entsandt worden, um sich hier auf der Universität Leipzig für den künftigen Beruf als russische Universitätsprofessoren der classischen Philologie noch vollständiger vorzubereiten. Aber den eigentlichen Schwerpunct der erforderlichen Bestrebungen hat man doch mit Recht darin erkannt, dass eine hinlängliche Anzahl gründlich geschulter Gymnasiallehrer für die Anstalten des weiten russischen Reichs gewonnen werde. Und für diesen Zweck ist gleichzeitig eine Institution ins Leben gerufen worden, für welche ebenfalls die Universität Leipzig ausersehen ward. Hierher wird vom Beginn dieses Wintersemesters an eine Anzahl jüngerer Leute, die eben erst das Gymnasium verlassen haben und durch gute Zeugnisse vorzugsweise empfohlen sind, mit liberal bemessenen Stipendien geschickt, um in einem zwei- bis dreijährigen Cursus sich dem Studium der classischen Philologie dergestalt zu widmen, dass sie nach Ablauf dieses Zeitraums als Lehrer verwendbar sind: in welcher Eigenschaft ihnen alsdann sehr günstige Besoldungs- und Avancementsverhältnisse in Aussicht gestellt sind. Dieselben brauchen nicht eingeborene Russen zu sein, können vielmehr nicht nur allen slavischen Stämmen, sondern auch der deutschen Nationalität angehören. Nun konnte man sich aber in St. Petersburg der Einsicht nicht verschliessen, dass zwischen der Vorbildung russischer, beziehungsweise slavischer, und anderseits deutscher Abiturienten vorläufig doch ein grösserer Abstand stattfinden möchte, als dass diese Stipendiaten, um gründlich gefördert zu werden, ohne Weiteres auf unsere deutschen Vorlesungen und Seminarien anzuweisen wären, zumal sie bei dem grossen Andrang zu den letzteren schwer ihre Rechnung finden würden. Darum musste sich alsbald die Ueberzeugung geltend machen, dass für sie eigene, auf ihren Standpunct berechnete und ihrem individuellen Bedürfniss angepasste Vorlesungen sowol, als vor Allem seminaristische Uebungen angestellt werden müssten, sowie dass überhaupt ihre ganze Studieneinrichtung, unter dem Namen „russisches philologisches Seminar“, in die einheitliche Leitung eines besonderen Directors zu legen sei. Diese Function hat auf den Antrag der k. russischen Regierung bis auf Weiteres Geheimrath Professor F. Ritschl übernommen, unter Assistenz einer jüngern Kraft, welche in der Person des Dr. W. Hörschelmann gefunden worden ist, eines in Dorpat, Göttingen und Leipzig ausgebildeten 85

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jungen Philologen, der für den vorliegenden Zweck alle erforderlichen Eigenschaften besitzt. Die Lehrsprache des „russischen Seminariums“ wird übrigens ausschliesslich die lateinische sein, da auf die Erwerbung eines correcten und geläufigen lateinischen Ausdrucks ein besonderes Gewicht gelegt wird.“ Den allseitigen Bemühungen unserer hohen Staatsregierung um die Hebung und Erweiterung der wissenschaftlichen Institute unserer Universität entspricht nun auch der bedeutende, von Semester zu Semester sich steigernde Besuch unserer Universität von Jünglingen aus allen Gauen Deutschlands. Im Laufe des verflossenen Studienjahres vom 1. November 1872 an bis zum 31. October dieses Jahres habe ich 1773 Studirende inscribirt, etwa 200 mehr als im vorigen Studienjahre. In diesem Wintersemester habe ich vom 20. October bis heute 621 immatriculirt, die nach den gewählten Fächern sich also vertheilen: 83 wurden als Theologen inscribirt, 204 als Juristen, 72 als Mediciner, 35 als Philosophen, 60 als Philologen, 15 widmeten sich den Naturwissenschaften, 15 den cameralistischen Studien, 30 der Chemie, 31 der Pharmacie, 33 der Landwirthschaft und 39 verschiedenen Zweigen der zur philosophischen Facultät gehörigen Disciplinen wie Geschichte u. s. w. Der Bestand im Sommersemester betrug 2720, davon verliessen die Universität 545: es blieben also 2175 Studirende; dazu kommen als Neuinscribirte hinzu 621, so dass der heutige Bestand 2796 beträgt. Im Laufe des November pflegen sich noch viele Studirende namentlich aus dem ferneren Auslande inscribiren zu lassen, auf der andern Seite werden aber auch noch viele Abgangszeugnisse ausgestellt, so dass vor dem letzten November, als dem Schlusstermine der Inscriptionen für dieses Semester, eine sichere Uebersicht von dem Bestande der Universität sich nicht angeben lässt. Doch wird die Zahl der immatriculirten Studenten unter die obige Ziffer des heutigen Tages sicher nicht zurückgehen. Dem Fleisse und dem sittlichen Ernste der studirenden Jugend muss ich, im Namen der sämmtlichen Docenten der Universität, das ehrenvollste Zeugniss ausstellen. Die Zahl selbst der kleinen Ueberschreitungen der Disciplinar-Gesetze war gering, und aus der ganzen Schaar von mehr als dritthalbtausend Studirenden waren wir nur bei einem Einzigen gezwungen, die ganze Strenge des Gesetzes walten zu lassen, indem wir ihn wegen eines ehrlosen Verbrechens aus der Zahl der Studirenden ausstreichen mussten. Mein Amt führte es nothwendig mit sich, dass ich ununterbrochen mit den Studirenden, bald in dieser, bald in jener oft schwierigen Angelegenheit zu verkehren hatte, aber, und ich sage die volle Wahrheit, ich habe nicht eine einzige unangenehme Erfahrung bei diesem intimen Verkehr mit den Studenten gemacht. Die Erinnerung an die Zeit meiner Amtsführung wird stets freudig in mir fortleben, und dafür danke ich vor Allen Euch, geliebte Commilitonen! Das Denkmal, das in dankbarer Erinnerung an die leider grosse Zahl der Studirenden unserer Hochschule, die im muthigen Kampfe für die Unabhängigkeit des Vaterlandes ihr Leben hingaben, von der Universität in der Aula errichtet wurde, machten wir am 2. März dem Publicum zugänglich. Aus eigenem Antriebe stellte die Studentenschaft während der ersten Wochen nach der Enthüllung eine Ehrenwache an dem Ehrendenkmal ihrer gefallenen Commilitonen auf. Dieser Denkstein 86

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wird für alle Zeiten ein sprechendes Zeugniss sein, dass unsere studirende Jugend, wenn es gilt, stets bereit ist, Alles, Leben und Gesundheit zu opfern, um des Vaterlandes Freiheit und Ehre tapfer zu vertheidigen. Um unbemittelten Studirenden die oft an Entbehrungen reiche Zeit, in der sie zur Erwerbung höherer Ausbildung hier leben, zu erleichtern, wurden auch in diesem Jahre wieder mehrere bedeutende Stipendien gestiftet. Vor Allen muss ich hier das Goldene Stipendium erwähnen, über welches das von Sr. Majestät dem höchstseligen Könige am 14. Februar vollzogene Statut Folgendes berichtet: „Nachdem aus Anlass der Feier des von Uns am 10. November des verflossenen Jahres begangenen goldenen Vermählungs-Jubiläums von einem Verein wohlgesinnter Männer die Summe von 43,000 Thlr. zu Verleihung von Stipendien an unbemittelte Studirende auf der Universität Leipzig zu Unserer Verfügung gestellt worden ist, und Wir dieses Capital zu dem beabsichtigten Zwecke angenommen haben, so errichten Wir hiermit eine Stiftung, deren alleiniger Zweck ist, unbemittelten Studirenden sächsischer Staatsangehörigkeit auf der Universität Leipzig, welche während ihrer Vorbereitungszeit zur Universität durch ihr sittlichreligiöses Verhalten die Zufriedenheit ihrer Vorgesetzten sich erworben und durch die bereits erlangten Kenntnisse zu der Hoffnung berechtigen, dass sie bei fortgesetzten ernsten Studien Vorzügliches in ihrem künftigen Fache oder Berufe leisten werden, Stipendien zu verleihen. Zur Ausführung derselben sind folgende Bestimmungen getroffen. Das Stammvermögen der Stiftung besteht aus den oben erwähnten Drei und Vierzig Tausend Thalern und denjenigen Geldern, welche etwa später zu demselben werden geschlagen werden. Die Verwaltung desselben erfolgt unter dem Namen: „Der goldene Stipendienfonds“ unter der Oberaufsicht des Ministeriums Unseres Hauses bei dem Hofzahlamte. Das Stammvermögen der Stiftung ist jederzeit unversehrt zu erhalten. Nur die Zinsen desselben werden zu obgedachtem Zwecke verwendet. In der Regel wird das Stipendium auf drei Jahre verliehen und jährlich Zweihundert Thaler betragen. In einzelnen Fällen kann eine längere Dauer der Verleihung, oder eine Erhöhung des Stipendiums bis auf 250 Thaler, oder auch beide Begünstigungen zugleich, angeordnet werden. Die Bewerber haben u. A. ein Zeugniss des Directoriums der Gelehrtenschule, auf welcher sie zur Universität vorbereitet worden sind, über ihr sittliches Verhalten in den letzten drei Jahren und dass sie bei der bestandenen Abiturientenprüfung die erste Censur (Ia, Ib) erlangt haben, beizubringen, und gleichzeitig eine freie Arbeit in deutscher Sprache einzureichen. Die Wahl des zu behandelnden Thema bleibt den Bewerbern um das Stipendium überlassen; es wird jedoch vorausgesetzt, dass dieselben hierbei einen solchen Gegenstand wählen, bei dessen erschöpfender Besprechung ihnen Gelegenheit geboten ist, ausser der Fertigkeit im Styl auch die ihres Urtheils und den Umfang ihrer erlangten allgemeinen wissenschaftlichen Bildung zu zeigen. Der Arbeit ist die ausdrückliche Erklärung, dass sie vom Einsender selbst, und ohne fremde Beihilfe gefertigt worden, beizufügen.“ Das Collaturrecht hatte sich Seine Majestät selbst vorbehalten, und sind bereits 6 Stipendien im Betrage von 200 Thlr. jedes an talentvolle Studirende vergeben worden. So wird auch in den fernsten Jahrhunderten immer wieder das Gedächtniss 87

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an den erhabenen Monarchen, der diesen goldenen Stipendienfonds so edel verwendete, in der Seele der studirenden Jugend fortleben. In liebevoller Erinnerung an seinen früh verstorbenen talentvollen Sohn, Dr. med. Ernst Delitzsch, stiftete der tief betrübte Vater, unser Professor Dr. Franz Delitzsch, ein Stipendium von 2000 Thlr., dessen Zinsen am 21. Januar jeden Jahres, als dem Todestage seines Sohnes, in gleichen Raten an zwei verdiente Studirende durch den akademischen Senat verliehen werden sollen. Dr. Ernst Delitzsch hatte als Arzt den Krieg im Jahre 1870 mitgemacht, und dort in den Lazarethen durch rücksichtslose Hingabe an die Verwundeten und Kranken den Keim zu seinem frühzeitigen Tode gelegt. Kaum aus dem Feldzuge heimgekehrt, erkrankte er, und starb am 21. Januar 1872 in den Armen der unglücklichen Aeltern und Geschwister. Treu hatte ihm der jüngere Bruder, Dr. Friedrich Delitzsch, draussen im Felde, sowie in der Heimath am Krankenbette, zur Seite gestanden, und um diese hingebende Pflege zu ehren, bestimmte der Vater diesen jüngsten Sohn zum Collator des Stipendiums. Mit Anerkennung muss ich noch erwähnen, dass Herr Kaufmann Johann Friedrich Carl Ferdinand Jost in Leipzig dem mineralogischen Cabinete unserer Universität eine Suite werthvoller und wissenschaftlich bedeutender Goldstufen, die er selbst in Australien gesammelt hatte, zum Geschenk machte. Aus dem Bereiche der Verwaltung der Universität habe ich folgende wichtigere Momente hervorzuheben. Eines der wohlthätigsten Institute unserer Universität, das aus früherer Zeit stammend, seinen Segen durch Jahrhunderte hindurch verbreitet hat, ist das Convictorium. Es basirt auf einem reichen Capital-Fonds, dessen Zinsen ausschliesslich zu dem Zwecke der Beköstigung unbemittelter Studirender Mittags und Abends verwendet werden. Die seit den letzten Jahren so bedeutend gestiegenen Preise aller Lebensmittel machten es unmöglich, für denselben Betrag wie früher gute Kost zu liefern. Um das Institut daher in seiner altbegründeten Solidität zu erhalten, war es durchaus nothwendig geworden, dem Inspector des Convicts, Herrn Julius Hermann Leuschner, für jeden Theilnehmer aus den Renten des Convicts etwas mehr zu zahlen. Das hohe Ministerium des Cultus und öffentlichen Unterrichts hat in Folge dessen den Fonds des Convicts um die bedeutende Summe von 45 000 Thlr. erhöht, dessen Renten zu dem eben genannten Zwecke vollkommen ausreichen, und es auch ermöglichten, noch eine grössere Zahl von Freistellen im Convict zu begründen. Durch eine neue Quästur-Ordnung ist das Rechnungswesen zwischen den Studirenden und den Docenten bedeutend erleichtert worden. Die grosse Frequenz unserer Universität machte es dem Quästor, Herrn Philipp Hänsel, trotz treuester Hingabe an sein schwieriges Amt, nicht möglich, die zeitraubenden Geldgeschäfte allein mit der wünschenswerthen Schnelligkeit zu fördern. Es stellte sich die Nothwendigkeit einer Arbeitshülfe heraus, und diese wurde in der Person des Herrn Robert Kühn gewonnen, der bereits mehrere Jahre im Rentamte der Universität beschäftigt gewesen war. Schon unter den früheren Ministerien war das Pensionswesen der Wittwen und Waisen der verstorbenen Professoren in liberaler Weise geordnet worden. Die 88

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wachsende Zahl der akademischen Lehrer hatte die Fonds dieses Wittwenfiscus durch vermehrte Beiträge ansehnlich gesteigert, und so war es möglich, die an unsere Wittwen und Waisen zu zahlende Jahresrente um 25 Procent zu erhöhen. Eine musterhafte, auf den genauesten Berechnungen beruhende Arbeit über diesen Gegenstand von Seiten des Herrn Geheimen Hofrath Dr. Drobisch, veranlasste das Ministerium, in der zuvorkommendsten Weise diese Erhöhung der Pensionen für die Wittwen und Waisen in der angegebenen Höhe zu steigern. Manche schwere und sorgenvolle Stunde wird dadurch von unseren Relicten entfernt. Unsere Universität besitzt ein sehr reiches Archiv, in welchem die Urkunden seit der Begründung der Universität im Jahre 1409 bis auf den heutigen Tag, in einer beiläufigen Zahl von 4000, gesammelt sind. Dem Reichthum unseres Archivs entsprach aber leider nicht die nothwendige Ordnung. Chaotisch waren die Documente untereinander gewürfelt, und die Auffindung irgend einer Urkunde war immer zeitraubend, oft geradezu unmöglich. Um diesem Uebelstande abzuhelfen, beauftragte der frühere Cultusminister Herr Freiherr von Falkenstein den Universitätsrichter Herrn Hofrath Franz Albert Hessler mit der Revision des Archivs. Herr Hofrath Hessler unterzog sich der ihm gestellten Aufgabe in hingebender Thätigkeit, und nach dreijähriger Arbeit vollendete er seinen Auftrag. Das Archiv ist jetzt geordnet, die zusammengehörigen Urkunden sind zusammengefügt, mit neuen Umschlägen versehen worden, und über alle Documente ein sehr sauberes und zweckmässig eingerichtetes Repertorium angefertigt worden, so dass jetzt die Benutzung des Archivs nicht nur bedeutend erleichtert, ja zum Theil erst ermöglicht worden ist. Eine umsichtig ausgearbeitete Instruction zur Benutzung u. s. w. des Archivs macht es unmöglich, dass jemals wieder eine Unordnung in dem Archive Platz greife. Mit der speciellen Verwaltung des Archivs wurde der Expedient im Universitätsgerichte Herr Wilhelm Julius Grosse beauftragt. Die Universität ist Herrn Hofrath Hessler zu dauerndem Danke für seine schöne Arbeit verpflichtet. Ich wende mich zuletzt noch zu dem Berichte über den Erfolg der im vorigen Jahre gestellten Preisaufgaben, und werde dann die Preisaufgaben für das nächste Studienjahr mittheilen. Die theologische Facultät hatte die bereits früher gestellte, aber unbeantwortet gebliebene Preisaufgabe wiederholt: „Pontificiorum et evangelicorum doctrina de ecclesia quomodo differat exponatur.“ Drei Arbeiten wurden diesmal eingesendet, über welche die Facultät also berichtet: Sämmtliche drei Arbeiten verdienen das Zeugniss ernsten wissenschaftlichen Strebens, tüchtiger Kenntnisse und guten Urtheils. Doch fehlt der Arbeit mit dem Motto: „Non multa sed multum“, deren Verfasser selbst bekennt, noch in den ersten Semestern seiner akademischen Studien zu stehen, diejenige Uebung und Sicherheit des dogmatischen Denkens, wie sie zur Lösung der gestellten Aufgabe erforderlich war. Grössere Reife zeigt die zweite Arbeit mit dem Motto: „Ps. 90, 10.“ Nur mangelt ihr die nöthige innere Geschlossenheit der Entwickelung. Beide Arbeiten aber haben soviel Tüchtiges, dass sie eine rühmende Hervorhebung wohl verdienen. – Die dritte Arbeit mit dem Motto: „Εἷς ποιμὴν μία ποίμνη“ überragt die beiden anderen an Sicherheit der Methode, an Consequenz der Entwickelung und an 89

Hermann Brockhaus

Feinheit der Behandlung, wie sie sich auch im Ganzen durch ein leichtes fliessendes Latein auszeichnet. In Folge dessen war die Facultät nicht zweifelhaft darüber, dass diese Arbeit des Preises würdig zu erachten sei. Bei Eröffnung der Schedula ergab sich als Verfasser: August Ludwig Seidel, Stud. theol. aus Thallwitz bei Wurzen. Von den beiden anderen Abhandlungen, welche einer rühmenden Erwähnung würdig erachtet wurden, ergab sich als Verfasser derjenigen Arbeit, die mit dem Motto: „Ps. 90, 10“ versehen war: Christian Friedrich Schmidt, Stud. theol. aus Borna. Der Verfasser der Abhandlung, welche das Motto: „Non multa sed multam“ trug, ist Johannes Wendt, Stud. theol. aus Hamburg. Die juristische Facultät hatte die Preisaufgabe gestellt: „Darstellung der sachenrechtlichen Grundsätze des Augsburger Stadtrechts (herausgegeben von Meyer 1872) unter Vergleichung mit den Grundsätzen gleichzeitiger verwandter süddeutscher und norddeutscher Rechtsquellen.“ Es wurde keine Lösung der Aufgabe eingereicht. Die medicinische Facultät hatte die Preisaufgabe gestellt: „Klinisch-anatomische Bearbeitung des Wund-Erysipels.“ Es wurde eine Arbeit eingesandt, über welche die Facultät also berichtet: Der Verfasser der mit dem Motto: „Nicht Kunst und Wissenschaft etc.“ bezeichneten Abhandlung hat mit ausserordentlichem Fleisse zusammengestellt, was er in der Litteratur von der ältesten bis in die neueste Zeit über Erysipel gefunden, eine Arbeit, die nicht eigentlich geboten war, da die Aufgabe eine klinisch-anatomische Bearbeitung des Wund-Erysipels verlangte. Ausserdem hat der Verfasser zwölf Fälle von Erysipel selbstständig beobachtet und dabei fast alle wichtigen Puncte eingehend berücksichtigt. Dieser zweite Theil der Arbeit, den der Verfasser, wie er selbst angibt, zu spät in Angriff genommen, steht zwar bedeutend gegen den ersteren zurück, gibt aber doch Zeugniss von dem Fleisse und der Begabung des Verfassers. Die beigegebenen histologischen Präparate entsprechen dem gegenwärtigen Stand der Technik, und so hat die Facultät beschlossen, dem Verfasser den Preis zuzuerkennen. Nach Eröffnung der Schedula ergab sich als Verfasser: Richard Krömer, Stud. med. aus Zöblitz (im sächsischen Erzgebirge). Die erste Section der philosophischen Facultät hatte die Preisaufgabe gestellt: „De accentu linguae latinae veterum grammaticorum testimonia colligantur et breviter iudicentur.“ Es wurde eine Arbeit mit dem Motto: „Quicquid est eo decet uti et quicquid agas agere pro viribus“ eingereicht, worüber die Facultät folgendes Urtheil fällt: Die Bearbeitung des gestellten Thema’s zeugt von so viel Fleiss, Genauigkeit und Gründlichkeit, dass sie zum Theil über das Maass des Geforderten weit hinausgeht. Der Verfasser beherrscht die einschlägige, sowohl antike als neuere Litteratur, gibt eine vollständige und wohlgeordnete Zusammenstellung der Thatsachen, und unterwirft die bisher aufgestellten Theorien in sorgfältigen Ausführungen einer im Allgemeinen sehr gesunden Beurtheiluug, wenn er auch hie und da vielleicht etwas 90

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zu jugendlich scharf auftritt, einige Male auch die wünschenswerthe Klarheit, sowie insbesondere eine eingehendere Vertrautheit mit der Metrik der altlateinischen Dramatiker vermissen lässt. Im Ganzen aber hat er einen werthvollen Beitrag zu tieferer Einsicht in das Wesen des lateinischen Accentes geliefert und damit der Wissenschaft einen Dienst geleistet. Die lateinische Darstellung empfiehlt sich durch leichte Verständlichkeit und im Ganzen correcte Fassung. Die philosophische Facultät erklärte daher den Verfasser des vollen Preises für würdig. Bei Eröffnung der Schedula ergab sich als Verfasser: Friedrich Schöll, Stud. phil. aus Weimar. Die zweite Section hatte die Preisaufgabe gestellt: „Prüfung der in Schopenhauers Werk: ,Die Welt als Wille und Vorstellung‘ enthaltenen Kritik der Kantischen Philosophie.“ Es wurde eine Arbeit eingereicht, mit dem Motto: „Durch behutsame und schonende Kritik wird allein das rechte Verständniss gefördert.“ Die Facultät fällte darüber folgendes Urtheil: Es lässt sich zwar nicht verkennen, dass der Verfasser mit vielem Eifer bestrebt gewesen ist, Kants Erkenntnisstheorie gegen Schopenhauers Einwürfe zu vertheidigen und von den ihr schuld gegebenen Flecken zu reinigen; aber seine Arbeit ist eine nicht zur Reife gediehene fragmentarische Studie geblieben. Auch ist der Ton, in welchem er häufig Schopenhauer abfertigt, nicht ein solcher, wie er sich einem scharfsinnigen und selbstständigen Denker gegenüber ziemt. Die Arbeit konnte daher nicht mit einem Preise belohnt werden. Die dritte Section hatte die Preisaufgabe gestellt: „Discussion der verschiedenen Methoden, durch welche die Entfernung der Sonne von der Erde ermittelt werden kann.“ Es war keine Arbeit darüber eingereicht worden. Es bleibt mir nur noch übrig, die neuen Preisaufgaben, welche für das nächste Jahr gestellt worden sind, bekannt zu machen: Die theologische Facultät verlangt, dass untersucht werde: „Quaenam sit Veteris Testamenti de iustitia Dei puniente doctrina atque an ea secum ipsa concordet, locorum Exod. XX, 5. Deuter. XXIV, 16. Ezech. c. XVIII prae ceteris ratione habita.“ Die juristische Facultät stellt die Preisaufgabe: „Ueber das Verhältniss von Hehlerei und Begünstigung nach dem deutschen Reichsstrafgesetzbuche, unter Berücksichtigung der neuern deutschen Landesstrafgesetzbücher.“ Die medicinische Facultät: „Die Retinalpulserscheinungen bei Herzkrankheiten.“ Die erste Section der philosophischen Facultät: „Gatterer’s und Schlözer’s Verdienste um die Geschichtschreibung sollen dargestellt werden.“ Die zweite Section: „Gedrängte Darstellung des Pantheismus in seinen geschichtlichen Hauptformen und insbesondere Prüfung seiner Grundlagen vom psychologischen und metaphysischen Gesichtspuncte.“ Die dritte Section: „Es sollen untersucht werden die Elasticität und Dehnungsverhältnisse der vegetabilischen Gewebe. Anzuknüpfen ist die Untersuchung an die einzigen, welche überhaupt bis jetzt durch Sachs gemacht sind.“ (Hierauf folgte die Vereidigung des neuen Rectors.) 91

Adolf Schmidt (1815–1903)

31. October 1873. Rede des antretenden Rektors Dr. Adolf Schmidt, Professors des römischen Rechts. Hochansehnliche Versammlung! Einem Professor der Rechtswissenschaft wird es, meine ich, wohl anstehen, in dem Augenblick, wo er das Rektorat der Universität zu übernehmen die Ehre und die Freude hat, von demjenigen Gegenstande zu handeln, welcher die wissenschaftliche Aufgabe seines Lebens bildet, also vom Recht. Nicht als ob dieses grosse Thema in einer kurzen Stunde sich erschöpfen liesse; aber es wird genügender Raum sein, eine besondere Seite desselben zu behandeln. Ist doch das Recht das erste und stärkste Band, die eiserne Klammer, welche das Haus, den Staat, das Menschengeschlecht zusammenhält; ist es doch als ein ewiges Gesetz in die menschliche Brust eingeschrieben, so dass die eigene innere Stimme bei einem jeden mahnend sich erhebt, der das Gebot desselben zu verletzen im Begriff steht. Aber was ist das Recht? Lassen wir jene, auch heute noch nicht geschlichteten Streitigkeiten auf sich beruhen, welche dieser Begriff hervorgerufen hat. Hierorts wird es genügen, davon auszugehen, dass es das Prinzip der Gleichheit Aller sei, in seiner Anwendung auf die äussere Freiheit Aller und dass mithin das Recht die Ordnung in der Freiheit bedeute, also in Wahrheit nichts anderes, als die Freiheit selber. Daraus folgt sofort, dass dasselbe nicht die Bestimmung in sich tragen könne, lediglich in dem Bewusstsein eines bestimmten Standes lebendig zu sein, dass vielmehr nächst der Religion den obersten Prinzipien des Rechts ein erster Anspruch auf die Kenntniss Aller zustehe; denn es ist dasselbe, wie gesagt, die Regel und die äussere Schranke für unser Handeln, ein Imperativ, welchem wir Alle unterworfen sind. Andererseits ist es freilich selbstverständlich, dass die Befolgung des Rechtsgesetzes die Summe der menschlichen Pflichten keineswegs erschöpfe; über demselben steht die Moral, welche die Regeln für das Gesammtverhalten des Menschen aufstellt und wovon mithin das Recht nur einen besonderen Theil bildet. Aber das ist hinwiederum gewiss, dass, während die übrigen Vorschriften der Moral dazu bestimmt sind, die menschliche Gesellschaft zu veredeln, zu schmücken, zu krönen, das Rechtsgesetz dagegen der Anker sei, welcher das Schiff des Hauses festhält, das Fundament, auf welchem überhaupt das ganze Gebäude der menschlichen Gesell93

Adolf Schmidt

schaft ruht. Ein Unterschied, welcher es vollkommen erklärt, dass der Staat zwar die Erfüllung der übrigen Pflichten der Gewissenhaftigkeit des Einzelnen anheimstellt, die Beobachtung des Rechtsgesetzes aber zur Zwangspflicht erheben muss und zu allen Zeiten erhoben hat. Nun aber gibt es eine doppelte Art des Rechts, das Naturrecht und das positive Recht. Das erste, eine praktisch-philosophische Disziplin, entwickelt sich unmittelbar aus der Vernunft. Da es mithin aus einer unwandelbaren Quelle hervorgeht, so ist es selber unwandelbar, ewig, ohne Geschichte: denn was man Geschichte der Philosophie nennt, das ist lediglich die Geschichte der menschlichen Bestrebungen, die ewigen Gesetze der Welt zu erkennen. Das andere, also das positive Recht, hat zu seiner formalen Quelle den menschlichen Willen, es ist das von dem Menschen gesetzte Recht und daher seiner Natur nach wandelbar, der Wandelbarkeit des menschlichen Willens wegen; recht eigentlich ein Vorwurf für Geschichte. Aus dieser Verschiedenheit der Quelle folgt weiter die Möglichkeit, dass Naturrecht und positives Recht von einander abweichen und die Geschichte lehrt auf gar vielen Blättern die Wirklichkeit dieser Abweichung. Ich erinnere beispielsweise daran, dass das Alterthum die Sklaverei für ein so nothwendiges Rechtsinstitut ansah, dass dieselbe nicht einmal mit Einführung des Christenthums die rechtliche Anerkennung verlor; ich erinnere ferner daran, dass die Jurisprudenz des christlichen Mittelalters die Hexenverfolgung als ein absolutes Gebot der Gerechtigkeit betrachtete. Aber wenn so Naturrecht und positives Recht in Kollision gerathen können: warum – das ist sicher eine naheliegende Frage – warum schafft sich der Mensch künstlich dieses, dem menschlichen Irrthum unterworfene positive Recht? Warum lässt er sich nicht vielmehr an jener ewigen Ordnung genügen, welche die Natur selber als Leitstern ihm in die Brust gepflanzt hat? – Die praktische Nothwendigkeit des positiven Rechts muss sich schon deshalb demonstriren lassen, weil es in der langen Geschichte des Menschengeschlechts unseres Wissens keinen Staat gegeben hat, welcher mit dem Naturrecht sich hätte genügen lassen. Dieselbe ergibt sich in der Hauptsache aus zwei Gründen. Zuerst: das Naturrecht ist zwar – wie bemerkt – ein unwandelbares Gesetz; aber das, was sich stetig ändert, ist die menschliche Auffassung dieses ewigen Gesetzes: von Aristoteles bis auf Kant und Hegel, welche Differenz in den allerwesentlichsten Punkten! Macht doch beispielsweise der erste den Versuch, die Sklaverei vom philosophischen Standpunkte aus, also prinzipiell zu rechtfertigen! Nach welchem Naturrecht also soll der Richter entscheiden? Nach Aristoteles oder nach Kant? Allein gesetzt auch, diese erste Schwierigkeit wäre überwunden; gesetzt, der Staat hätte ein bestimmtes philosophisches System anerkannt, also eine positive Philosophie sich geschaffen, wie es eine positive Religion gibt: wie unendlich verlassen würde sich der Richter fühlen, wenn er einen Prozess nach Kant oder nach Hegel entscheiden sollte! Denn während die Philosophie mit den Göttern in den Wolken zu wandeln pflegt, d. h. lediglich um die Prinzipien sich bekümmert: hat es der Richter zu thun mit den konkreten Erscheinungen des täglichen Lebens, zu deren Beurtheilung er der konkreten Normen mit absoluter Nothwendigkeit bedarf. So z. B. liegt es auf der Hand, dass der Richter erst urtheilen könne nach Feststellung der Thatsachen, welche den Parteien 94

Antrittsrede 1873

die Veranlassung zum Streite gaben. Aber wenn diese bestritten sind: welcher von den beiden Parteien soll der Richter glauben? Wann kann man sagen, der Kläger habe seine Behauptungen bewiesen? Wann und wie darf man sich des Eides als Beweismittel bedienen? Gibt es für den Beweis eine Präklusivfrist und welche? Auf diese und unzählige andere Fragen des praktischen Rechts versagt die Philosophie eine jede Antwort. – Daher bedarf jeder Staat des positiven Rechts, damit er für das in ihm geltende Zweierlei erreiche: einmal seine Evidenz, sodann seine konkrete Gestaltung. Nun aber bildet sich dieses positive Recht nie und nirgends als ein bewusster Gegensatz zum Naturrecht, vielmehr entwickelt es sich vor allem aus Demjenigen, was die das Recht produzirende Generation für natürliches Recht hält, also aus der subjektiven Auffassung einer bestimmten Zeit von dem objektiven Naturrecht: und gar manche Gesetzgebung trägt davon sichtliche Spuren. Sodann aber nimmt jenes als einen zweiten, ganz ungemein wichtigen und fruchtbaren Faktor in sich auf das Prinzip der Zweckmässigkeit: und gerade dieses ist geeignet, da die Entscheidung zu bringen, wo die Philosophie uns im Stiche lässt. Wenn man z. B. heutzutage darüber sich streitet, ob Geschworene oder Schöffen unsere Richter sein sollen: was ist das anderes, als eine Frage der Zweckmässigkeit? Desgleichen, wenn man darüber sich heftig befehdet, ob unsere Volksvertreter mittelst des allgemeinen Stimmrechts oder lediglich durch einen bestimmt qualifizirten Theil der Staatsbürger zu wählen seien, so ist das meines Dafürhaltens ebenfalls lediglich eine Frage der Zweckmässigkeit: und es ergibt sich daraus, dass ehrliche patriotische Männer über diese und ähnliche Fragen verschiedener Meinung sein können, während über Fragen des Rechts im engern Sinne, z. B. über das Eigenthum an sich, gewöhnlich nur eine einzige ehrliche Meinung möglich ist. Fragen wir uns nun, in welchen Formen dieses positive, also das menschlichgewillkürte Recht sich entwickele, so ergibt sich die natürliche Antwort, dass das dieselben Formen seien, in denen der Mensch überhaupt seinen Willen auszudrücken vermag. Das aber thut er entweder ausdrücklich und unmittelbar durch das Wort oder stillschweigend und mittelbar durch die That. – Da, wo die Nation ihren rechtlichen Willen kundgibt durch das Wort, entsteht ein Gesetz; da, wo sie denselben stillschweigend ausspricht durch die That, ein Gewohnheitsrecht. Weil es nun nicht mehr Formen für die Kundgebung des menschlichen Willens gibt als jene beiden, so folgt, dass es auch nicht mehr Formen für die Rechtsbildung geben könne als jene zwei genannten, und dass es insbesondere unrichtig sein müsse, wenn bedeutende Juristen der neueren Zeit als eine selbstständige dritte Form das Juristenrecht haben hinstellen wollen. Die Wissenschaft nämlich hat nirgends Anspruch auf äussere Auktorität; ihre Sätze haben nur Werth so weit ihre Begründung reicht, die derzeitige Erkenntniss weicht der nächsten besseren Einsicht. Alle die verschiedenen Gestalten, in denen das Recht sich entwickelt, haben jenen zwei Grundformen sich unterzuordnen und insbesondere die Sätze der Wissenschaft werden mit der Auktorität eines im Staat geltenden Rechtssatzes erst umkleidet durch die Gewohnheit. Aber jener einfache Satz, wonach Gesetz und Gewohnheit als zwei nebeneinander stehende Grundformen zu betrachten sind, wurde keineswegs immer vollständig 95

Adolf Schmidt

anerkannt; vielmehr glaubte man vor gar nicht allzu ferner Zeit, in dem Gewohnheitsrecht eine Anomalie, einen Eingriff in die Staatsgewalt erkennen zu müssen. Es ist das vorwiegend jene Zeit, wo die von Ludwig XIV. entwickelten politischen Maximen auch in den deutschen Staaten als massgebend betrachtet wurden. Damals nämlich sagte man von gewissen Seiten, es könne die Gewohnheit, weil lediglich aus dem Volke hervorgehend, erst dann einen Rechtssatz zu erzeugen im Stande sein, wenn sie die Zustimmung des Regenten erlangt habe; ein Erforderniss, welches sich freilich zumeist als ein ziemlich harmloses erwies, weil man sich mit dem s. g. tacitus consensus genügen liess. Es ist ein Verdienst der historischen Schule, diesen Verächtern des Gewohnheitsrechts entschieden und scharf entgegengetreten zu sein. Und in der That, wenn die Quelle des positiven Rechts der nationale Wille ist, Gesetz und Gewohnheit aber sich nicht durch den Inhalt, sondern lediglich durch die Form unterscheiden, worin dieser nationale Wille sich kundgibt: aus welchem Grunde sollte da das Gesetz den Vorzug vor dem Gewohnheitsrecht in Anspruch nehmen dürfen? Entscheidet doch schon Julian – ein bei Kaiser Hadrian in hohem Ansehen stehender Jurist und mithin von jedem Schein demokratischen Uebergreifens frei – diese Frage durch die Worte: „Quid enim interest, suffragio populus voluntatem suam declaret, an rebus ipsis et factis“? Dagegen wird sich andererseits nicht in Abrede stellen lassen, dass gerade von den bedeutendsten Führern dieser historischen Schule das Gewohnheitsrecht seinem inneren Werthe nach gegenüber dem Gesetzesrecht ganz wesentlich überschätzt worden sei. Das Recht – so sagen sie – solle, ähnlich wie die Sprache, in naiver Unbewusstheit durch die allmälig sich bahnbrechende Ueberzeugung in der Nation sich entwickeln; daher sei das Gewohnheitsrecht nicht nur die früheste, sondern auch die beste Form der Rechtsbildung; ein Standpunkt, von welchem aus man – allerdings vor geraumer Zeit – unserer Zeit den Beruf zur Gesetzgebung überhaupt hat absprechen wollen. Dem hat eine geistvolle Stimme der jüngsten Zeit entgegengesetzt, dass alles Recht in der Welt erstritten, jeder Rechtssatz, welcher da gelte, den Gegnern abgerungen worden sei, derart, dass der Kampf geradezu ein Moment in dem Begriffe des Rechts bilde; und es spitzt sich das in dem, vielleicht etwas seltsam gefassten Satze zu, „es sei das Recht kein logischer, sondern ein Kraftbegriff.“ Aber auch diese, selbstverständlich das Gesetz in den Vordergrund rückende Auffassung – so erklärlich auch ihre Entstehung nach dem Satze des Widerspruchs sein mag – dürfte nicht haltbar sein. Denn wie wahr es immerhin ist, dass es Mannespflicht sei, für das Recht kämpfend einzutreten und wie zahlreich immerhin die im Kampfe der Parteien, der Interessen entstandenen Rechtssätze sein mögen – die Beispiele liegen jedermann nahe genug und zwar nicht blos auf dem Gebiete des öffentlichen, sondern auch auf dem des Privatrechts –: ebenso wenig fehlt es an Fällen, wo nicht blos einzelne Gesetze, sondern ganze Gesetzbücher – von dem Corpus juris Justinian’s bis zum Code Napoléon und weiter – fern von jedem äusseren Kampfe auf dem Wege friedlicher Reflexion zur Entstehung gekommen sind. Offenbar wird durch jene Aufstellung ein zufälliges und äusserliches Moment der Entstehung zu einem Moment des Rechtsbegriffs selber erhoben. 96

Antrittsrede 1873

In Wahrheit haben beide, Gesetz und Gewohnheit, gleich den meisten menschlichen Dingen, ihre Vorzüge und ihre Mängel. Das, wodurch das Gewohnheitsrecht in eminentem Maasse sich auszeichnet, besteht einleuchtenderweise darin, dass es, unmittelbar aus dem Rechtsbewusstsein des Volks hervorgehend, die Signatur des nationalen Rechts mit Nothwendigkeit an der Stirn trägt. Dagegen leidet es wesentlich darunter, dass es sehr leicht hinter dem Kulturstande der Zeit zurückbleibt. Denn durch die Gewohnheit der Nation kann ein Satz erst sanktionirt werden, wenn er in das Bewusstsein der Massen eingedrungen ist: um diese Zeit aber pflegen die intelligenten Spitzen und Führer der Nation nicht selten schon auf einer höheren Stufe der Erkenntniss angelangt zu sein: und es ist daher das Gewohnheitsrecht recht eigentlich dazu angethan, zu jener Plage zu werden, welche eine bekannte Figur des Dichters dem Rechte überhaupt zuerkennt. Gerade hier liegt, was die Auszeichnung des Gesetzes bildet. Entstehend durch das Nachdenken der berufensten Männer der Nation, kann und soll das Gesetz, der Bildung der Massen vorauseilend, auf diese selber sichtend, klärend, fördernd einwirken: das Gesetz also kann und soll ein Bildungsmittel der Nation sein. Aber gerade hier liegt auch seine Gefahr. Nur aus bedeutenden Händen gehen bedeutende Gesetze hervor, aus schwachen schwache: und andererseits widerfährt es gerade geistreichen Leuten nicht selten, gegen eine der ersten Regeln der Gesetzgebungskunst zu verstossen, die dahin lautet, dass das Gesetz auf dem Boden der Thatsachen, nach dem Maasse des Gegebenen sich entwickeln soll. Geistreiche Leute aber sind nur allzu geneigt, den eigenen Geist an die Stelle des Volksgeistes zu setzen, sodass die Willkür des Subjekts waltet, wo der Geist der Nation zur allmäligen und stetigen Entfaltung gebracht werden soll. Auch die besten Intentionen scheitern bei einer josefinischen Legislation; die Nationen haben ein langes Leben, in welchem ihnen die Musse zutheil wird, sich in ruhigem Fortschritt zu entwickeln: wo die Ungeduld des einzelnen kurzlebigen Menschen vorzugreifen wagt, da geht seine Schöpfung mit erbarmungsloser Nothwendigkeit zu Grunde. Haben demnach Gewohnheit wie Gesetz ein jedes seine eigenen Vorzüge und seine eigenen Mängel und stehen sie der Dignität nach einander vollkommen gleich, so unterscheiden sie sich doch ganz wesentlich in ihrer historischen Bedeutung. Es ist selbstverständlich, dass die Geschichte des Menschengeschlechts nicht mit der Gesetzgebung beginnen konnte: in der That leben die Völker, soweit wir in die dunkelen Anfänge derselben zurückzublicken vermögen, ursprünglich nach Sitte und Gewohnheit, wie sie aus dem Instinkt der menschlichen Natur sich herausbilden. Das Gesetz, das Produkt einer allgemeinen Reflexion und deshalb einer höheren Kulturstufe zugehörig, tritt wesentlich später in Scene, zunächst Lücken des Gewohnheitsrechts ausfüllend und einzelne, besonders dringende Fragen entscheidend; dann das Gewohnheitsrecht kodifizirend und auf diesem Wege mehr und mehr in den Vordergrund der Rechtsentwickelung tretend, bis es endlich die eigentlich rechtsbildende Thätigkeit ganz und gar in sich aufnimmt, dem Gewohnheitsrecht nur einen kleinen, engbegrenzten Raum offenlassend. Und es entspricht dieser allgemeine Entwickelungsgang vollkommen der menschlichen Natur überhaupt. Die lebendige Neubildung von Gewohnheitsrecht nämlich setzt voraus, dass das Recht 97

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im Volke selber lebendig sei: das ist aber nur in einfachen Verhältnissen der Fall, späterhin unterliegt auch das Recht dem allgemeinen, volkswirthschaftlichen Gesetze von der Theilung der Arbeit, sodass die genaue Kenntniss desselben auch bei normaler Volksentwickelung auf einen besonderen Stand sich zurückzieht: dann aber ist die Zeit für die ausschliessliche Herrschaft des Gesetzes gekommen: und mit vollem Recht. Denn da, wo die einzelne Nation, in dem lebendigen Flusse der Ideen sich bewegend, von einer Stufe der Entwickelung zur anderen vorwärts schreitet, da erscheint der bedachtsame Schritt des hochkonservativen Gewohnheitsrechts überall als ein allzu langsames Tempo; es wird mit historischer Nothwendigkeit von dem Sturmschritte des Gesetzes überflügelt. Diese Grundzüge des Entwickelungsganges finden wir zunächst durch die Geschichte des römischen Rechts bestätiget. Der römische Staat hat niemals ganz primitive Verhältnisse aufzuweisen gehabt. Aus Alba Longa herausgewachsen, brachten die Römer die damalige, keineswegs gering anzuschlagende lateinische Kultur mit in die neue Stadt. Dennoch lebte dieses älteste Rom im Allgemeinen nicht nach Gesetzen, sondern nach der hierher übertragenen lateinischen Sitte und Gewohnheit, worauf namentlich das religiöse Moment von dem mächtigsten Einflusse war. Was uns von den Gesetzen der alten Könige glaubhaft berichtet wird, das trägt im Ganzen einen untergeordneten, lediglich ergänzenden Charakter. Als in den ersten Zeiten der Republik das Gewohnheitsrecht anfing unsicher zu werden, weil es in Folge der breiteren Entwickelung des Volks nicht mehr vollkommen im Bewusstsein desselben wurzelte, und als diese Unsicherheit von den patrizischen Richtern zu Ungunsten der Recht suchenden Plebejer ausgebeutet wurde: da forderte der plebejische Stand laut und immer lauter die Kodifikation und er erreichte dieselbe nach langen und bedeutsamen Parteikämpfen in der Form des, als eine Errungenschaft der Plebejer zu betrachtenden Zwölftafelgesetzes. Von diesem berühmtesten Gesetze der alten Welt, welches Tacitus kurz und gut als „finis aequi juris“ bezeichnet und wovon Cicero in der für ihn ebenfalls charakteristischen Weise sagt „bibliothecas certe omnium philosophorum unus mihi videtur duodecim tabularum libellus et auctoritatis pondere et utilitatis ubertate superare“, von diesem Gesetze sind uns Reste genug erhalten, um seinen allgemeinen Charakter würdigen zu können. Kein Gesetzbuch im modernen Sinne, vielmehr nur in grossen Zügen die Prinzipien des gesammten Rechtes ordnend, auf Detail sich lediglich da einlassend, wo ein besonderes Interesse, eine Streitigkeit des Tages das zu fordern schien, ist das Gesetz so durch und durch lateinisch original, dass die Sage von dem griechischen Ursprung von selber zu nichts zerfällt. Mit Einführung desselben verlor zwar das nicht aufgezeichnete Gewohnheitsrecht ganz wesentlich an Boden, aber, der angegebenen Natur dieses Gesetzes entsprechend, war es doch immer noch von grosser ergänzender Bedeutung, so dass dem Prätor das praktisch höchst wichtige Geschäft übrig blieb, abermals Sätze des römischen Gewohnheitsrechts, allerdings mit freier legislativer Erwägung und unter eingehender Berücksichtigung des jus gentium, in seinem Edikt zu verzeichnen. Von dieser Zeit an tritt auch für die Rechtsentwickelung des Privatrechts mehr und mehr das Gesetz hervor und zwar in den verschiedenen Formen, wie es der jedesmaligen Verfassung entspricht. Demnach war während der 98

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Republik der in den Beschlüssen der Centuriat- und der Tributkomitien ausgesprochene Volkswille Gesetz. Als die Monarchie an die Reihe kam, bemühte sich dieselbe anfangs den Schein aufrechtzuerhalten, als ob die Republik noch fortbestünde: daher bleiben formell die Komitialbeschlüsse des Volks, aber es entwickelt sich daneben eine konkurrirende einseitige kaiserliche Gesetzgebung, zunächst allerdings sich in den Mantel des Senatuskonsults hüllend, bald aber auch diese Einkleidung wegwerfend mit Verdrängung aller übrigen Formen einfach in der Gestalt der constitutio principis d. i. in der der absoluten Monarchie. Nur eine Quelle ganz besonderer und für uns Moderne sehr auffälliger Art bestand daneben: die Jurisprudenz. Bei uns ist diese wesentlich deklarativer Natur d. h. sie vermittelt das Verständniss des bestehenden Rechts; bei den Römern war sie nicht blos das, sondern geradezu bis zu einem gewissen Grad konstitutiv d. h. selber Recht erzeugend. Das war sie zur Zeit der Republik allerdings nur mittelbar durch ihre mächtige Einwirkung theils auf die Praxis der Gerichte, theils auf die Gestaltung des prätorischen Edikts; in der Kaiserzeit blieb das nicht nur so, sondern es wurde hier die Auktorität der Jurisprudenz noch ganz wesentlich gesteigert: denn derselbe Hadrian, welcher das Edikt aus der Zahl der Rechtsquellen strich, bestimmte, vielleicht als theilweise Stellvertretung für das nunmehr zum Stillschweigen verurtheilte Edikt, dass die übereinstimmende Meinung der von den Kaisern besonders anerkannten, auktorisirten Juristen einem Gesetz gleich geachtet werden solle. Aber auch diese Quelle verstummte um die Zeit von Konstantin; auch die Jurisprudenz verfiel nunmehr jener Inferiorität, in welche die übrige Litteratur schon längst versunken war. Von jetzt an gab es bei der Unproduktivität des eigentlichen Gewohnheitsrechts in Wahrheit nur noch eine einzige Form der Rechtsbildung, die lex nova d. i. das Kaisergesetz. In der Praxis aber berief man sich auf Zweierlei, auf die s. g. leges und auf die s. g. jura. Jene sind, wie gesagt, jetzt lediglich die Kaisergesetze, diese, die jura, dagegen bezeichnen die Schriften, welche die auktorisirten Juristen der klassischen Zeit über die Gesammtheit der älteren und neueren Quellen geschrieben hatten. Man entnahm nämlich das Recht älteren Ursprungs, so weit es noch praktische Gültigkeit hatte, nicht mehr den Quellen selber, sondern schöpfte es aus zweiter Hand; was zwar kein normaler aber überall ein natürlicher Zustand ist, sobald das Recht allzu komplizirt geworden ist. Dafür liegen die Analogieen auch in der Gegenwart nahe genug; denn in den Ländern des gemeinen Rechts wird von der Praxis auch heutzutage häufig genug nur scheinbar auf die Quellen selber zurückgegangen, man hält sich lediglich an die Kompendien, ohne deshalb einen besonderen Vorwurf zu verdienen. – Aber in der Zeit des rasch sinkenden römischen Reichs genügte auch dieser Zustand nicht mehr, weil er für die damalige Welt immer noch zu viele Schwierigkeiten darbot. Nach verschiedenen, in der Hauptsache nicht vollkommen gelungenen, anderweitigen Versuchen seiner Vorgänger kam daher Justinian auf den Gedanken, das ganze noch gültige Recht in einem Gesetzbuch zusammenzufassen. Das geschah jedoch nicht in der Weise unserer modernen Gesetzbücher, welche den gesammten Rechtsstoff in eine neue Form giessend mit dem bestehenden Rechte formell aufräumen – zu einem so energischen Plan hatte sich glücklicherweise der Kaiser nicht erhoben – sondern auf dem 99

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bequemeren Wege des Sammelns und Sichtens dessen, was vorhanden war. Dafür war die Methode geschichtlich gegeben: es handelte sich eben um die Ordnung der leges auf der einen Seite und der jura auf der andern. Man begann mit den ersten: und so entstand der codex Justinaneus d. i. die Sammlung der noch praktischen Kaisergesetze. Für die zweiten, also für die jura, kam man auf den Einfall, aus den Schriften der klassischen Juristen wörtlich zu excerpiren, was noch praktische Bedeutsamkeit haben sollte: und so entstanden die Pandectae seu Digesta. Diese letzteren, obgleich weitaus der bedeutendste Theil der Sammlung, haben durch die, ihrer Arbeit nicht vollkommen gewachsenen Kommissare des Kaisers vielfach eine verkehrte Gestalt erhalten; namentlich sind grosse Stücke der Pandekten Kommentaren entnommen, welche jene berühmten Juristen zu einzelnen leges und zum prätorischen Edikt geschrieben: dabei aber versäumte man regelmässig die Mittheilung des Textes, auf welchen jene Kommentare sich beziehen! Und doch, wie gross, wie gewaltig muss jenes römische Recht sein, wenn selbst Hände wie die dieser Kompilatoren es zu verderben nicht im Stande waren, wenn vielmehr dieses schwerfällige corpus juris, welches dieselbe Materie gewöhnlich an vier verschiedenen Stellen abhandelt, vielfach auf längst verschwundene gesellschaftliche und wirthschaftliche Institutionen sich bezieht, in Sprachen geschrieben ist, welche heutzutage nur der gelehrt Gebildete versteht: wenn, sage ich, dieses Gesetzbuch der mittelalterlichen Welt dennoch derart zu imponiren vermochte, dass es mit der wiederauflebenden Kultur durch einen spontanen Akt der civilisirten Völker zu dem gemeinen Gesetzbuche Europa’s erhoben wurde! So der allgemeinste Entwickelungsgang des römischen Rechts; bei welchem demnach das anfangs fast allein herrschende Gewohnheitsrecht allmälig dergestalt in den Hintergrund tritt, dass das justinianische Gesetzbuch zwar eine prinzipiell richtige und praktisch zureichende Theorie für das künftig sich bildende Gewohnheitsrecht enthält, aber mit den von der Vergangenheit entwickelten Gewohnheiten geradeso gut aufräumt, wie mit den alten Gesetzen: sodass das Gesetz in der breiten Form des einheitlichen justinianischen corpus juris den Abschluss der Entwickelung bildet. Wenden wir nunmehr unseren Blick dem eigenen Vaterlande zu, so begegenen wir im Ganzen und Grossen – denn auf das Einzelne einzugehen ist hier nicht der Ort – der vollkommen analogen Gestaltung der Dinge. Auch hier nämlich waltet in den Anfängen der Entfaltung durchweg das Gewohnheitsrecht und es gibt dabei Tacitus unseren Ahnen das ehrenvolle Zeugniss „plusque ibi boni mores valent quam alibi bonae leges“. Jene ältesten, in der Zeit nach der grossen Völkerwanderung entstandenen Rechtsdenkmale Deutschlands, welche man in dem Namen leges barbarorum zusammenzufassen pflegt, sind in der Hauptsache nichts anderes als unvollständige Aufzeichnungen der, bei den einzelnen germanischen Stämmen geltenden Gewohnheitsrechte. Und ebenso, als diese leges aus dem Rechtsbewusstsein der Zeit verschwunden waren, ohne dass die Gesetzgebung Neues an die Stelle gesetzt hatte: da waren es die, als die vollkommensten Erscheinungsformen des deutschen Rechts mit Recht bezeichneten Rechtsbücher der mittleren Zeit, wie der Sachsenund der Schwabenspiegel, in welchen das im Volke zu der damaligen Zeit lebende 100

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Gewohnheitsrecht von hervorragenden Männern in privater Arbeit verzeichnet wurde. Endlich als am Schlusse des Mittelalters das gewaltige römische Recht durch einen gemeinsamen inneren Zug der civilisirten Nationen (ähnlich wie seiner Zeit die Völkerwanderungen und die Kreuzzüge aus Europa gemeinschaftlichen, unsichtbaren Impulsen herausgewachsen) über fast das ganze civilisirte Europa fast gleichzeitig verbreitet wurde: da war es abermals ein Akt des Gewohnheitsrechts, durch welchen das justinianische Gesetzbuch in Deutschland Wurzel schlug. Aber auch von dieser Zeit etwa datirt sich die Erlahmung des Gewohnheitsrechts; theils weil die Vorbedingung für die Entwickelung desselben, Leben des Rechts im Volke, diesem gelehrten Rechte gegenüber nicht mehr vorhanden war, theils weil das Orakel des corpus juris auf alle Fragen des Rechts zuverlässige Antworten zu geben schien. Von nun an waltet überall das Gesetz, und zwar dergestalt mehr und mehr die ausschliessliche Herrschaft behauptend, dass einzelne Gesetzgebungen geradezu das Gewohnheitsrecht aus der Zahl der Rechtsquellen streichen konnten und dass auch da, wo der Gewohnheit die das Recht fortbildende Kraft formell verblieb, der Boden für die Uebung dieser Kraft fast vollständig untergraben erscheint. Heutzutage herrscht also bei uns, wie in allen civilisirten Staaten Europa’s, das Gesetz, während die Gewohnheit ihre Recht bildende Thätigkeit so gut wie ganz eingestellt hat; jenes übt seine Herrschaft in Folge einer natürlichen Entwickelung der Dinge, welche weder zu loben noch zu beklagen ist, sondern, wie so manche andere historische Entwickelung, lediglich zu begreifen. Aber die deutsche Rechtsgestaltung legt selbst der oberflächlichen Betrachtung noch eine andere Erwägung nahe, welche zunächst allgemeinerer Natur ist. Zwei Gegensätze sind es, welche in dem Leben der Völker ganz besonders sich geltend machen: das individuelle Moment und das nationale. Ein jedes der beiden hat seine besonderen Vorzüge wie seine besonderen Gefahren. Während das erste nämlich geeignet ist, die Persönlichkeit des Einzelnen voll und ganz auszuleben, ihren ganzen Inhalt zur vollständigen Geltung zu bringen, ist es zugleich von transfugaler Kraft, es isolirt und macht mithin schwach. Dagegen ist das andere in seiner zusammenfassenden Kraft die natürliche Basis für Würde und Macht der Nation, die gesunde Grundlage eines echten Patriotismus: aber es birgt in sich die Gefahr der Abtödtung des Individuums, jenes Nivellirens von allem und jedem, sodass Einer aussieht wie der Andere und in der Uniform der Schule die originalschaffende Kraft des Einzelnen leicht zu Grunde geht. Glücklich dasjenige Volk, dem es gelingt, jene beiden entscheidenden Momente nebeneinander zur vollen, im Gleichgewicht liegenden Entfaltung zu bringen: die Individualität und die Nationalität! Unter den Nationen Europa’s sind es namentlich zwei, welche in der hier fraglichen Beziehung sich fast gegensätzlich entwickelt haben. Verhältnissmässig schon früh nämlich regte sich bei unseren westlichen Nachbaren der staatenbildende Einheitstrieb; er machte sich gewaltig geltend durch alle und jedes Mittel, und wäre es das einer Bartholomäusnacht: aber er führte auch zu dem einseitig im Auge gehaltenen Ziel, nämlich dazu, dass Frankreich in der That zu der herrschenden Macht des Kontinents heranwuchs; dabei als praktisch-politische Maxime ausgesprochenermassen den Satz bis in die neuesten Zeiten festhaltend, es sei Frankreichs, wo 101

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nöthig mit den Waffen durchzuführendes Interesse, dass es von schwachen Nachbarstaaten umgeben sei. Ganz anders Deutschland: hier wehte, wie schon Tacitus bezeugt, seit alten Zeiten die Fahne des Individualismus. Und weil es sich so verhielt, deshalb wurde Deutschland die Wiege der Reformation und deshalb erscheint die deutsche Nation als die relativ gebildeteste in Europa. Aus demselben Grunde aber war es auch von altersher zwieträchtig im Innern und schwach nach Aussen; daher der allmälige Zerfall des Reichs, daher der Verlust herrlicher Grenzprovinzen und die stete Bedrohung anderer. Erst in unserem Jahrhundert und erst auf Grund schwerer und trüber Erfahrungen hat sich in Deutschland allmälig eine Wandelung heilsamster Art vollzogen. Zwar der Zug zum Individualismus, der in der germanischen Art liegt und in der Mehrheit der Staaten seinen praktischen Ausdruck findet, ist unverändert geblieben: aber gleichzeitig hat sich Deutschland geeiniget in einer politischen Verfassung, welche zwar keinem Schema der Schule ganz entspricht, aber in glänzender Weise den praktischen Beweis liefert, dass mit jener Staatenmehrheit die Entfaltung der nationalen Kraft vollkommen vereinbar sei und welche daher auch den klar und ruhig urtheilenden Theil der Nation in der Hauptsache überall befriediget. Diesem Gange der politischen Entwickelung völlig entsprechend, trägt das deutsche Recht von Anfang an nicht den nationalen, sondern den Zug des Partikularismus an der Stirne. Nicht dass die gemeinsame Wurzel derselben germanischen Race sich verleugnet hätte – das war auch in der ältesten Zeit unmöglich –: aber es äusserte sich diese in der Mannichfaltigkeit, der Nation selber unbewusst. Formell nämlich entwickelte sich das Recht nicht als ein einheitliches Recht der Germanen, sondern, wie schon bemerkt, als das selbstständige Recht der Franken, der Allemannen, der Sachsen u. s. w. Allerdings fehlte es daneben dem deutschen Reiche nicht an der Möglichkeit einer allgemeinen deutschen Gesetzgebung: aber der ungefügige Körper der deutschen Reichstage war wenig geeignet, auch nur die bescheidensten Erwartungen der Nation nach dieser Seite hin zu befriedigen, und es lag daher von diesem Standpunkte aus in der Rezeption des römischen Rechts ein wahrer Segen. Denn dasselbe kam zwar nur zur subsidiären Geltung, aber in dieser seiner Subsidiarität war es gemeines Recht für ganz Deutschland; es lieferte den ganz entschiedenen Beweis, dass ein gemeines Privatrecht für Deutschland möglich und erspriesslich sei und erfreute sich, gerade weil es gemeines Recht – und zwar in gewissem Sinne für das gesammte civilisirte Europa – war, einer wissenschaftlichen und praktischen Fortbildung, wie kein anderes Gesetzbuch derselben sich jemals zu rühmen gehabt hat. Freilich auch diese subsidiäre Rechtseinheit war von keiner Dauer. Als im Gegensatz zur Reichsgewalt die Landeshoheit sich immer mehr festigte und entwickelte, da tritt die territoriale Gesetzgebung – also nicht mehr den Stämmen entsprechend, sondern zufällig gewordenen Territorien – mächtig hervor und ganze Gesetzbücher, wie in Preussen das Landrecht, in Oesterreich und Sachsen eigene bürgerliche Gesetzbücher und in einem Theil des westlichen Deutschlands sogar der napoleonische Code civil, durchbrechen und beseitigen in Folge der partikularen Strömung der Zeit auch dieses subsidiäre gemeine Recht. Jedoch schon in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, in jener Zeit, wo das nationale Bewusstsein in 102

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Deutschland wiederaufzuleben anfing, regten sich bedeutsame Stimmen zu Gunsten eines zu schaffenden allgemeinen deutschen Gesetzbuches; mit grossem Talent und mit der Wärme des Patriotismus wurde das Für und das Wider erwogen: aber mit der fortschreitenden nationalen Entwickelung neigte sich die Wage der öffentlichen Meinung mehr und mehr auf die Seite des Für; das that sie, wie ich glaube, aus vollkommen zureichenden Gründen. Das erste, hierher gehörige Argument ist, genau betrachtet, negativer Natur: es besteht einfach darin, dass für die Verschiedenheit der Territorialrechte der zureichende Grund nicht zu erbringen ist. Denn die meisten derartigen Differenzen des Rechts haben kaum eine grössere Existenzberechtigung als die Verschiedenheit des Guldens vom Thaler; gleichwie diese beiden Münzen bestimmt sind in der deutschen Mark aufzugehen, so werden die verschiedenen Territorialrechte ihre natürliche Einheit finden in dem deutschen Gesetzbuch. Ein zweiter, der am meisten auf der Hand liegende Grund besteht einfach in der praktischen Nützlichkeit. Seit den Eisenbahnen, dem Zollverein, der Gewerbfreiheit und der Freizügigkeit sind die persönlichen und die wirthschaftlichen Beziehungen der, verschiedenen Staaten Angehörigen zu einander so nahe und innige geworden, dass dabei die Bedeutung der einzelnen Landesgrenzen zurücktritt und der Verkehr, welcher überhaupt für sein Gedeihen möglichst einfache Verhältnisse voraussetzt, die Rechtseinheit auch über das eigentliche Handelsrecht hinaus geradezu gebieterisch in Anspruch nimmt. Der dritte Grund ist mehr theoretischer Natur. Ein wahrhaft gutes, den Bedürfnissen der Nation vollkommen entsprechendes Recht ist ein unschätzbares, aber auch ein ausserordentlich schwer zu erwerbendes Gut: die ganze Weltgeschichte hat im Grunde nur ein einziges Beispiel dieser Art aufzuweisen. Wer mit dem Charakter der deutschen Nation und insbesondere mit der Entwickelung der deutschen Rechtswissenschaft vertraut ist, der wird zugeben müssen, dass, wenn derzeit irgendwo, bei den Deutschen das Zeug zu einer solchen That des Geistes vorhanden sei. Aber ein derartiges, wahrhaft bedeutsames Recht erwächst nicht innerhalb der Grenzen eines Territoriums, wie gross dasselbe immer sein möge: es entsteht nur, wie in dem alten Rom, durch die gemeinsame Arbeit einer ganzen Nation. Endlich tritt dazu noch ein Grund, welcher sich der idealen Seite der menschlichen Natur entlehnt. Einer der festesten Grundpfeiler für den Patriotismus ist der Glaube an das eigene Recht. Daher muss das Recht eines deutschen Volks deutsch, daher muss jedes Recht in seinen Grundprinzipien einfach, einleuchtend wie der Tag sein; daher darf der schlichte Rechtssinn des Volks nicht durch die Frage verwirrt werden: warum ist es jenseits des nächsten deutschen Grenzsteines anders? Eben weil demnach ein deutsches Gesetzbuch die Vaterlandsliebe zu nähren und zu stärken geeignet ist, deshalb wird die Schaffung eines wahrhaft deutschen Gesetzbuches als eine konservative That im edelsten Sinne des Worts zu betrachten sein, allen einzelnen deutschen Staaten gleichmässig zugute kommend. Kommilitonen! Noch Anfang dieses Jahrhunderts flüchteten sich deutsche Geister erster Ordnung in den Kosmopolitismus, weil die deutschen Zustände dem Selbstbewusstsein 103

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keine genügende Nahrung darboten. Erst als die grossen Befreiungsschlachten zu schlagen waren, entfaltete sich allmälig wieder der Patriotismus, und zwar zunächst auf Grund theoretischen Erwägens und jenes Idealismus, welcher das goldene Vorrecht der deutschen Jugend ist. Kommilitonen! Ihr lebt in einer grossen, bedeutsamen Zeit; denn vor Eueren Augen, um Euch und durch Euch – dafür gibt jene Säule dort ein ernstes und ehrendes Zeugniss – hat der deutsche Aar seine Schwingen entfaltet, in voller Ebenbürtigkeit sich emporhebend neben allen grossen Nationen aller Zeiten. Wie in der alten Welt das Wort „civis romanus sum“ ein Passwort war, welches alle Nationen respektirten; wie seit Wilhelms des Oranier’s Zeiten die Söhne Albion’s mit gerechtem Stolze überall darauf einfach sich berufen, dass sie Engländer sind: so hat es – das ist die Folge der in Einheit und Einigkeit vollzogenen grossen nationalen That – schon heute einen herrlichen Klang durch die ganze Welt, das Wort „ich bin ein Glied der deutschen Nation!“ Daher arbeiten wir alle, jeder an seinem Ort und an seinem Theil, damit diesem deutschen Namen der Glanz nicht nur erhalten, sondern gemehrt, damit die deutsche Nation jenem grossen Ziele nahe geführt werde, welches heisst „Entfaltung des nationalen Elements unter gleichzeitiger unverkümmerter Entfaltung der Individualität.“ Das, Kommilitonen, wollen wir uns geloben unter dem Eindruck der erschütternden Nachricht der jüngsten Tage von dem Hinscheiden des erlauchten Fürsten dieses Landes, eines Fürsten von wahrhaft königlicher und zugleich von wahrhaft menschlicher Art. Denn er hat es verstanden, wie wenige, einerseits die ganze reiche Begabung seiner Individualität zur harmonischen Entwickelung zu bringen und andererseits gleichzeitig seiner Regentenpflicht in vollstem Mass und in edelster Weise Genüge zu leisten. Das letzte, weil er, sein ganzes reiches Herz und seine ganze edele Sorge der gedeihlichen Förderung des ihm von Gott anvertrauten Sachsenlandes zuwendend, doch stets des Umstandes eingedenk war, dass auch dieses Land ein Glied ist unseres grossen deutschen Vaterlandes. Friede sei der Asche unseres Königs! ***

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31. October 1874. Rede des abgehenden Rektors Dr. Adolf Schmidt. Bericht über das Studienjahr 1873/74. Hochzuverehrende Anwesende! An dem Tage, wo das Rektorat sein Ende erreicht, ist es die Pflicht des Abtretenden, von den Ereignissen seines Amtsjahres öffentlich an dieser Stelle eine Uebersicht zu geben. Ich werde mich bemühen, das nach Art des Chronisten und in einfachster Kürze zu thun; denn der heutige Tag gehört dem neuen Rektor. Die erste Amtshandlung, welche dem Rektor des Jahres 1873–74, und zwar am Tage der Uebernahme des Amtes selber, oblag, war tiefernster Natur: umgeben von den Dekanen der vier Fakultäten hatte derselbe der Beisetzung der irdischen Reste Sr. Majestät des höchstseligen Königs Johann in der Schlosskirche zu Dresden anzuwohnen. Gross war der Zug der Leidtragenden, an der Spitze derselben eine Anzahl erlauchter deutscher Fürsten, das trauernde sächsische Königshaus geleitend; tief war die Trauer des ganzen Landes, denn es hatte einen weisen, edelsinnigen König verloren; ganz besonderen Grund zur tiefsten Trauer aber hatte die Universität, weil es die irdische Hülle des Schöpfers ihrer gegenwärtigen Blüthe, die eines der Wissenschaft selbst angehörigen Fürsten war, welche bei düsterem Fackelschein zur ewigen Ruhe versenkt wurde. Bald darauf (am 19. November) wurde, wie in allen Kirchen des Landes, so insbesondere in der Kirche unserer Universität dem Andenken des erhabenen Herrn ein Trauergottesdienst in würdigster Weise gewidmet. Aber auch in ihrem eigentlichen, engeren Kreise hat die Universität schmerzliche Verluste erlitten. Der am 26. November zu Dresden verstorbene ordentliche Professor der Mineralogie, Geheimer Bergrath Dr. Karl Naumann, hatte sich zwar schon seit geraumer Zeit von der akademischen Thätigkeit zurückgezogen, allein die Universität rechnete ihn noch immer mit Stolz zu den ihrigen, und zwar nicht blos als einen Gelehrten, welcher auf seinem Gebiet sich einen Namen ersten Ranges erworben, sondern auch als einen Mann von lauterster, edelster Persönlichkeit. Am 5. Januar verlor die Universität ihren ersten Oberbibliothekar, den Geheimen Hofrath Dr. Ernst Gotthelf Gersdorf, denjenigen würdigen Beamten, welcher zu dem gegenwärtigen gedeihlicheren Zustande unserer Bibliothek den Grund gelegt und daneben als Gelehrter, namentlich auf dem Felde sächsischer archivalischer Forschungen, allgemein anerkannte, gründliche Leistungen aufzuweisen hatte. Am 19. Februar verschied zu Wiesbaden der ausserordentliche Professor der Medicin Dr. Karl Ernst Bock, welcher, eine originelle Persönlichkeit, insbesondere auf dem Gebiete der populären Medicin im guten Sinne des Worts eines weitverbreiteten Rufes sich erfreute. 105

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Am 2. August starb in seiner Heimat, zu Salzgitter bei Hannover, der ordentliche Professor der Staatswissenschaften, Hofrath Dr. juris et philosophiae Heinrich Ahrens, welcher, nach wechselnden Schicksalen seit dem Jahre 1860 der hiesigen Universität angehörig, durch theils deutsch theils französisch geschriebene Werke eine auch im Auslande anerkannte, bedeutende Stellung in der staatswissenschaftlichen Litteratur einnahm. Endlich erlöste am 17. September der Tod den ausserordentlichen Professor der Jurisprudenz Dr. Reinhold Spranger von schweren, unheilbaren Leiden. Aus der Zahl der Studirenden starben im Wintersemester zehn, im Sommer fünf, also leider drei mehr als im vorigen Jahre. Auf Grund von Berufungen nach auswärts verliessen die hiesige Universität von ausserordentlichen Professoren Dr. juris Karl Christian Johann Lüder, welcher als ordentlicher Professor des Strafrechts nach Erlangen, Dr. phil. Georg Friedrich Knapp, welcher als ordentlicher Professor der juristischen und staatswissenschaftlichen Fakultät nach Strassburg berufen wurde; von Privatdozenten Dr. phil. Adolph Philippi, welchem eine ordentliche Professur der klassischen Sprachen und der Archäologie in Giessen, Hofrath Dr. phil. Franz Friedrich Maximilian Heinze, welchem eine ordentliche Professur der Philosophie zu Basel, Dr. phil. Herrmann Paul, welchem eine ausserordentliche Professur der deutschen Sprache und Litteratur in Freiburg i. Br., Dr. phil. Alfred Wilhelm Dove, welchem eine ausserordentliche Professur der Geschichte an der Universität Breslau übertragen wurde; endlich Dr. phil. Max Jordan: er wurde als Direktor der königlichen National-Galerie nach Berlin berufen. Das Bedauern, womit wir diese beträchtliche Zahl jüngerer Kollegen scheiden sehen, wird durch die doppelte Erwägung gemindert, dass einerseits für ihre Personen insgesammt ehrenvolle Beförderungen in Frage stehn und dass andererseits ein derartiges Wandern von Universität zu Universität für die volle Entwickelung der Einzelnen wie für die Blüthe der deutschen Universitäten überhaupt als wesentlich erscheint. Schliesslich sei an dieser Stelle noch erwähnt, dass ein langjähriger treuer Diener der Universität, Hausinspektor Johann Gottlieb Nake, am 1. Juli in den wohlverdienten Ruhestand versetzt wurde. Durch seine gesammte Amtsthätigkeit hat derselbe einen wiederholten Beweis für die anerkannte Wahrheit geliefert, dass jeder an seiner Stelle dem Ganzen wahrhaft erspriessliche Dienste zu leisten vermag. Was den Zuwachs an Lehrkräften anlangt, welchen unsere Universität in diesem Jahre erfahren hat, so ist zuerst zu erwähnen, dass Professor Theodor Mommsen in Berlin, dessen Name jeder Stelle wo er steht Glanz verleiht, von der königlichen Staatsregierung zum ordentlichen Professor in der Juristenfakultät unter dem 31. Januar ernannt, aber schon unter dem 21. Februar auf sein Ansuchen des Dienstes wieder enthoben wurde, sodass wir uns rühmen können, diesen berühmten Mann durch drei volle Wochen zum Kollegen gehabt zu haben. Dagegen geben wir uns der Hoffnung hin, dass wir an dem unter dem 26. Mai von Heidelberg ebenfalls als Professor der Rechtswissenschaft hierher berufenen Geheimen Rath Dr. Bernhard Windscheid nicht blos eine ganz vorzügliche, sondern auch eine dauernde Erwerbung gemacht haben. 106

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Von unseren Leipziger Kollegen wurde unter dem 2. Januar der ordentliche Honorar-Professor Dr. phil. Christoph Ludolf Ehrenfried Krehl zum ordentlichen Professor der orientalischen Sprachen und unter dem 23. April der ausserordentliche Professor Dr. phil. Heinrich Rudolf Hildebrand, nachdem er die ehrenvolle Berufung an eine auswärtige Universität ausgeschlagen, zum ordentlichen Professor der neueren deutschen Litteratur und Sprache befördert. Zu ausserordentlichen Professoren in der philosophischen Fakultät wurden ernannt: unter dem 24. Januar Dr. phil. Otto Loth, unter dem 7. Juli Dr. phil. Paul Robert Schuster, endlich unter dem 27. Oktober Dr. phil. Heinrich Nitsche. An Privatdocenten haben sich in diesem Jahre habilitirt: in der theologischen Fakultät die Licentiaten der Theologie Dr. phil. Wolf Graf von Baudissin für alttestamentliche Exegese; Dr. phil. Adolf Harnack für historische Theologie; in der juristischen Fakultät Advokat und Notar Dr. jur. Gustav Ferdinand Kretschmar für römisches Recht; in der medicinischen Fakultät Dr. med. Gerhard Leopold für Gynäkologie und Geburtshülfe; Dr. med. Wilhelm Gustav Adolf Schön für Augenheilkunde; Dr. med. et phil. Friedrich Fuchs für Physiologie; Dr. med. Robert Herrmann Tillmanns für Chirurgie; Dr. med. Paul Emil Flechsig für mikroskopische Anatomie; endlich in der philosophischen Fakultät Dr. Friedrich Delitzsch für Assyriologie; Dr. Anton Weddige für Chemie; Dr. Ludwig Mendelssohn für altklassische Philologie; Dr. Wilhelm Hörschelmann für klassische Philologie; Dr. Theodor Wilhelm Braune für deutsche Philologie. An Promotionen sind an unserer Universität in diesem Jahre folgende vorgekommen. Die theologische Fakultät kreirte einen Doktor und fünf Licentiaten, die juristische Fakultät 28 Doktoren (darunter eine Ehrenpromotion), die medicinische 31, die philosophische 79. In Summa 139 Doktoren und 5 Licentiaten. Dazu kommen noch neun Jubelpromotionen, von denen die eine der juristischen, die übrigen der philosophischen Fakultät angehören. Die Zahl der Studirenden anlangend, so hatte dieselbe im vorigen Winter den Höhepunkt von 2876 erreicht. Das Sommersemester ergab dagegen eine, wenn auch nur kleine, doch immerhin eine Verminderung; denn die Gesammtzahl der eigentlichen, hier allein in Frage kommenden Studenten betrug 2716: immerhin aber überstieg dieser Betrag die Zahl der bei unserer grössten norddeutschen Nachbaruniversität rite immatrikulirten Studirenden noch um die namhafte Summe von 1107. In dem begonnenen Wintersemester habe ich bis zu dem gestrigen Abend 7 Uhr im Ganzen 712 Studirende (darunter 82 dem Königreich Sachsen angehörige) zu immatrikuliren gehabt, d. i. 91 mehr als im vorigen Jahr bis zu dem gleichen Zeitpunkt immatrikulirt wurden und, soweit ich nachkommen konnte, überhaupt die höchste Zahl, von welcher bis dahin ein Leipziger Rektor zu berichten hatte. Jene 712 Immatrikulirten vertheilen sich folgendermassen: Theologen 84, Juristen 304, Mediciner 57, Philosophen 27, Philologen 103, Geschichtsforscher 7, Mathematik und Naturwissenschaften Studirende 23, Kameralisten 14, Oekonomen 30, Chemiker 21, Pharmaceuten 15, Pädagogen 7, neuere Sprachen Studirende 6. Da endlich von den 2716 Studirenden des Sommers nur 497 abgegangen sind, so ergibt sich aus dem Mitgetheilten, dass die Gesammtheit der am heutigen Tage an 107

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unserer Universität immatrikulirten Studirenden 2931 beträgt, welche Zahl nach den bisherigen Erfahrungen im Laufe der nächsten Woche noch wesentlich steigen wird. Was das Verhalten unserer Herrn Studirenden im abgelaufenen Jahre anlangt, so bin ich zwar nicht vollständig in der glücklichen Lage meines Herrn Amtsvorgängers, sagen zu können, dass das Universitätsgericht zu ernsterem Einschreiten nur sehr selten Veranlassung gehabt; dennoch sind im Verhältniss zu der grossen Zahl unserer akademischen Bürger jener Fälle nur sehr wenige. In keiner Weise aber wird davon der bewährte Leumund der guten Sitte, der Ehrenhaftigkeit und des ernsten Arbeitens beeinträchtiget, in welchem unsere Universität seit langem und mit bestem Rechte steht. Es ist ein Vorzug des Professorenstandes, dass er mit der Blüthe der deutschen Jugend eng verbindet: das ist bei dem Rektorate in doppeltem Masse der Fall; und gerade deshalb wird mir das meinige stets in besonders lieber Erinnerung bleiben. Der schon erwähnte Tod des ersten Oberbibliothekars hat einige Veränderungen in dem Verwaltungspersonal unserer Bibliothek zur nothwendigen Folge gehabt. Unter dem 7. Februar wurden demgemäss der bisherige zweite Oberbibliothekar, Professor Dr. Christoph Ludolf Ehrenfried Krehl zum alleinigen Oberbibliothekar, der erste Custos an der Bibliothek Professor Dr. med. Adolf Winter zum Bibliothekar ernannt und dem ersten Custos Dr. ph. Josef Förstemann das Prädikat als Bibliothekar ertheilt; endlich wurde das Amt des Custos bei dem Münzkabinet dem Custos der Bibliothek Dr. Bruno Stübel unter dem 19. Februar übertragen. Als ein neues werthvolles akademisches Institut ist die mit dem 1. Oktober eröffnete akademische Lesehalle zu bezeichnen, deren Bestimmung in § 1 des Statuts folgendermassen festgestellt ist: „Die akademische Lesehalle hat den Zweck, ihren Mitgliedern die Benutzung eines grösseren Kreises von wissenschaftlichen und einer Auswahl von politischen Zeitschriften zu ermöglichen.“ Auf den wiederholt ausgesprochenen und durch den akademischen Senat unterstützten Wunsch vieler Herrn Studirenden hat das hohe Staatsministerium mit dankenswerther Liberalität ein stattliches Lokal zu diesem Behufe eingeräumt und die bedeutenden Kosten der ersten Einrichtung zum grossen Theil auf Rechnung der Universitätskasse übernommen; eine von der Universität besonders niedergesetzte Kommission ordentlicher Professoren (bestehend aus den Herrn Kollegen Overbeck, Friedberg und Krehl) hat mit grosser Hingebung nicht blos die Statuten entworfen, sondern auch den nicht unbedeutenden Mühen der Organisation in dankenswerther Weise sich unterzogen. Unter diesen Umständen werden wir uns der begründeten Hoffnung hingeben dürfen, dass nicht blos die gedeihliche Erweiterung, sondern überhaupt der Bestand dieses nützlichen, aber kostbaren Instituts durch recht zahlreiche Betheiligung wie der Herrn Docenten so der Herrn Studirenden ermöglichet werde. Die Lehrmittel der Universität haben in diesem Jahre theils einen wesentlichen Zuwachs erfahren, theils aber und vorzüglich ist ein noch weit grösserer in zweifellose Aussicht gestellt worden. 108

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In erster Beziehung ist zunächst zu erwähnen, dass die von Professor Dr. Overbeck geleitete archäologische Gesellschaft privater Natur im Laufe dieses Jahres in „das archäologische Seminar der Universität Leipzig“ umgewandelt und durch die Munificenz der k. Staatsregierung dem Direktor ein jährliches Dispositionsquantum zur Gewährung von Stipendien und zur Prämirung von Arbeiten zur Verfügung gestellt wurde: was bei der einsichtsvollen Leitung des Instituts zuverlässig gute Früchte bringen wird. Ferner wurde der erste Grund zu einem ägyptischen Museum innerhalb eines Raumes des Universitäts-Hauptgebäudes gelegt. Dasselbe enthält zunächst vorzugsweise eine sorgfältige Auswahl von Abgüssen und Abdrücken altägyptischer Monumente und Inschriften, und es steht zu erwarten, dass es unter der Hand seines gegenwärtigen Direktors, unseres allgemein anerkannten Aegyptologen Professor Ebers bald eine bedeutendere Gestalt annehmen werde. In denselben Räumen befindet sich die ebenfalls auf einer Verwilligung des hohen k. Ministeriums beruhende, seit wenigen Tagen eröffnete kirchlich archäologische Sammlung, welche, von Professor Dr. Clemens Brockhaus angeregt und unter seiner Leitung stehend, nicht nur einem anerkannten Bedürfnisse entspricht, sondern auch zuverlässig den Keim zu künftiger, grösserer Gestaltung in sich trägt. Weiter ist hier hervorzuheben, dass jenes grosse akademische Gebäude in dem neuen gelehrten Viertel Leipzigs nunmehr vollständig seiner Bestimmung übergeben worden ist. Dasselbe beherbergt an erster Stelle das physikalische Institut in einer dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft voll entsprechenden, der Grösse unserer Universität würdigen, sowie den Nachbaranstalten für Chemie und für Physiologie ebenbürtigen Weise. Ferner bietet dasselbe den Raum für die Hörsaale und die Sammlungen der Mineralogie, welche letztere, in ebenso praktischer wie eleganter Weise aufgestellt, den Vergleich mit keiner anderen Sammlung zu scheuen brauchen. Endlich dient das Gebäude gleichzeitig der Geologie, und zwar nicht blos den Lehrzwecken dieser Wissenschaft im Allgemeinen, sondern auch der geologischen Landesuntersuchung von Sachsen, derart dass hier namentlich eine Sammlung aufgestellt wird, welche die hierher gehörigen Verhältnisse unserer Heimat thatsächlich zu erläutern und die Belegstücke für die Arbeiten der Landesuntersuchung zu enthalten hat, sodass die Verbindung der Theorie mit der Praxis in glücklicher, selten gebotener Weise angestrebt wird. Unweit dieses grossen Gebäudes ist die neue Anatomie in bedeutender räumlicher Ausdehnung zur äusseren Vollendung gelangt und gleichzeitig erscheint auch die innere, den hohen Anforderungen der heutigen Naturwissenschaft genügende Einrichtung so weit vorgeschritten, dass die Uebersiedelung in das neue Gebäude und der Beginn der Lehrthätigkeit in demselben noch in diesem Semester in Aussicht steht. Zu diesen vollendeten und der Vollendung entgegengehenden Anstalten kommen noch folgende Neubewilligungen: a) zu Errichtung einer Irrenanstalt, welche zugleich als psychiatrische Klinik dem Unterrichte an der Universität zu dienen bestimmt ist... Thlr. 250,000 109

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b) zu einem Gebäude für die landwirthschaftliche Lehranstalt überhaupt und insbesondere zu einem neuen Laboratorium für Agrikulturchemie... Thlr. 150,000 c) zu einem Gebäude für Zoologie und das zoologische Museum... Thlr. 80,000 Nachforderung zu den beiden letzten Positionen... Thlr. 20,000 d) zu Anlegung eines neuen botanischen Gartens... Thlr. 200,000 e) anderweit zu Erbauung neuer Gebäude für das psychiatrische und das mineralogische Institut der Universität... Thlr. 20,800 Danach steht die Verwendung von weiteren 720,800 Thalern für anderweitige, vorzugsweise den Zwecken der Universität dienende Neubauten in sicherer Aussicht; eine Summe von so bedeutender Grösse, dass sie auch ausserhalb Sachsens freudiges Staunen erregt hat und dazu auffordert, mindestens eine Erwägung daran zu knüpfen. Dass die hohe königliche Staatsregierung eine solche Anforderung an die Stände des Landes zu richten keinen Anstand nahm, ist der beste Beweis dafür, wie sie unter des gegenwärtigen Königs Majestät von der gleichen Gesinnung gegen die Universität erfüllt ist, welche sie unter dem höchstseligen Könige gegen sie hegte. Daraus ferner, dass die Stände des Landes die geforderte Summe, ohne irgendwie zu markten, voll verwilligten, wird sich die doppelte Folgerung ziehen lassen, einmal dass jene zur richtigen Würdigung der Angelegenheit seitens der königlichen Staatsregierung vollkommenes Vertrauen gehabt, andererseits dass sie sich dem Anerkenntniss der Bedeutung der Universität für das Land nicht verschlossen. Ich denke, diese sei die rechte Stelle und der heutige der rechte Tag, um den geehrten Ständen des Landes für die ebenso einsichtige wie grossherzige Liberalität, welche sie der Universität des Landes bewiesen haben, unsererseits den gebührenden Dank dieser Universität öffentlich auszusprechen. Aber auch zu den Behörden der Stadt Leipzig steht die Universität, wie der Natur der Sache nach in den allernächsten, so zu ihrer Freude auch in den allerbesten Beziehungen. Die Zeiten, wo, wie früher einmal uns von dieser Stelle aus in interessanter Darstellung berichtet wurde, Stadt und Universität miteinander in Hader zu leben fast wie eine selbstverständliche Nothwendigkeit betrachteten, sind glücklicherweise vorüber: die wesentliche Uebereinstimmung der Universitäts- und der städtischen Interessen gilt für die Basis des gegenwärtigen Verkehrs: insbesondere war auch ein der allgemeinsten Anerkennung sich erfreuender, würdiger erster Beamter dieser Stadt, welcher sich soeben zu allgemeinem Bedauern frühzeitig von seinem Amte zurückgezogen, allerzeit von solchen Gesinnungen erfüllt: unser herzlicher Dank und unsere besten Wünsche begleiten ihn in die selbstgewählte Musse. Gleichzeitig hegen wir zu seinem Herrn Nachfolger im Amte das Vertrauen, dass er in seinen Beziehungen zur Universität von den gleichen Prinzipien sich werde leiten lassen, und wir werden uns demnach der Hoffnung hingeben dürfen, dass auch ferner in dem Verkehr der Universität mit den Kollegien sowohl des Raths der Stadt Leipzig wie der Herrn Stadtverordneten – insbesondere auch bei den so wichtigen baulichen Angelegenheiten der Universität – jener Geist des gegenseitig 110

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fördernden und unterstützenden Wohlwollens fortwährend walten werde, für welchen wir dankbar zu sein lange Zeit ganz besonderen Grund hatten. Von der Universität gewidmeten Stiftungen sind zwei zu verzeichnen. Die eine, ausgehend von einem nicht genannten Mitgliede des Plenums der ordentlichen Professoren, besteht in der Begründung einer weiteren Stelle in dem königlichen Konvikt für einen bedürftigen Studirenden. Offenbar wurde dabei der würdige Stifter von der richtigen Erkenntniss geleitet, dass diese derzeit vorzüglich organisirte Anstalt ganz besonders wohlthuend sich erweist. Herzlichen Dank unserem geehrten Herrn Kollegen. Auch die zweite Stiftung geht aus akademischen Kreisen hervor. – Als mein Herr Vorgänger im Amt von den Ereignissen seines Jahres berichtete, hatte er des glänzenden physiologischen Spektatorium’s zu gedenken, welches Dr. Czermak für akademische Zwecke auf eigenem Grundstück errichtet hatte; gleichzeitig aber lag es ihm ob, damit die Trauerkunde von dem frühen Hinscheiden dieses so hervorragenden Forschers zu verbinden. Heute ist dem weiter hinzuzufügen, dass die verwitwete Frau Professor Czermak die Ueberlassung jenes Gebäudes an die Universität unter gleichzeitiger Aussetzung eines beträchtlichen Kapitals für Erhaltung und unter der Bedingung der Uebertragung desselben auf ein Universitätsgrundstück schenkungsweise anzubieten die Güte gehabt hat. Nur der Umstand, dass es bis jetzt nicht möglich war, einen passenden der Universität gehörigen Platz zu ermitteln, hat die Annahme dieses bedeutenden Geschenks, nicht aber die dankbarsten Gesinnungen der Universität verzögert. Was die in diesem Jahre vorgekommenen Jubiläen anbelangt, so wurde zuvörderst auf Grund eines unter dem vorigen Rektorat gefassten Universitätsbeschlusses der Tag, an welchem vor fünfzig Jahren Seine Königliche Hoheit der Grossherzog Ludwig von Hessen als Studiosus iuris an hiesiger Universität immatrikulirt worden war (19. November 1823), durch Absendung einer beglückwünschenden Deputation gefeiert und es hatte sich dieselbe der huldvollsten Aufnahme zu erfreuen. Am 4. März feierte die Universität festlich den Tag, an welchem vor fünfzig Jahren der Geheime Hofrath, Professor Heinrich Leberecht Fleischer den Doktorgrad sich erworben; sie feierte den Mann, den Lehrer, den durch Europa anerkannten Gelehrten: und die weitesten Kreise theilten die Festfreude der Universität. Ein anderer nicht minder gefeierter ordentlicher Professor der Philosophie, welcher seit einer Reihe von Jahren zu denjenigen gehört, die die gefülltesten Auditorien aufzuweisen haben, und das Doktorjubiläum schon hinter sich hatte, beging am 26. Mai in selbstgewählter Stille sein Docentenjubiläum. Unsere allerbesten Wünsche begleiten beide hochverehrte Jubilare. Aber auch des 13. Septembers ist an dieser Stelle besonders zu gedenken, als des Tags des Staatsdienerjubiläums Sr. Excellenz des Staatsministers Dr. Johann Paul Freiherrn von Falkenstein, ein Name, welcher nur genannt zu werden braucht, um die lebendigsten Sympathieen und die dankbarsten Gefühle aller Glieder der Universität wachzurufen, denn mit demselben verknüpft sich auf das innigste der Aufschwung und die Blüthe unserer Universität, für welche er zuerst in der Eigenschaft als Regierungsbevollmächtigter, sodann als Minister des Kultus und des öffentlichen 111

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Unterrichts durch eine lange Reihe von Jahren in der verständnissvollsten und erfolgreichsten Weise unermüdlich thätig war. Ueberall wo die Universität dieses bis vor wenigen Jahren leitenden Hauptes des Kultusministeriums gedenkt, da wird sie von selbst auf einen anderen hochgestellten Beamten des Ministeriums hingelenkt werden: Sie Alle, meine Herrn Kollegen, werden fühlen, dass ich auf Se. Excellenz den Wirklichen Geheimenrath Dr. Gustav Hübel hinzuweisen beabsichtige. Am 13. August 1828 zum Oberkonsistorialrath ernannt, trat derselbe durch diese seine Amtsthätigkeit zuerst mit den Angelegenheiten der Universität in Berührung, hielt dieselbe seit dem 27. August 1829 in seiner Eigenschaft als Hof- und Justizrath in der damaligen Landesregierung aufrecht und widmete, seit er am 28. Januar 1831 als Geheimer Kirchenrath in das Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichts eingetreten, allen Angelegenheiten der Universität, so den wissenschaftlichen wie den finanziellen, in voller Selbstlosigkeit die ganze Sorgfalt seines umfassenden Geistes. Auch unter dem gegenwärtigen Ministerium im Amte verharrend, hat er zugleich den Uebergang von dem früheren zum gegenwärtigen Ministerium vermittelt, bis er, ein dem Lebensalter nach mit dem Jahrhundert gehender Herr, am 1. Oktober d. J. in den wohlverdienten Ruhestand sich zurückzog. Möge ihm noch lange das otium cum dignitate vergönnt sein; die stete Dankbarkeit der Universität ist ihm gesichert. Zum Schluss gestatten Sie mir auf ein Vorkommniss dieses Jahres hinzuweisen, welches Stadt und Universität in die freudigste Aufregung versetzte. Es war am 28. Januar, dass Se. Majestät unser erhabener König Albert mit Ihrer Majestät der Königin zu mehrtägigem Aufenthalte hier eintrafen. Selbstverständlich galt dieser erste königliche Besuch vorzugsweise der Stadt Leipzig: um so höher haben wir es anzuschlagen, mit um so grösserem, ehrerbietigen Danke es anzuerkennen, dass Se. Majestät der König dennoch die Gnade hatten, die neueren Institute der Universität eines eingehenden Besuches zu würdigen, und dass Höchstderselbe den Interessen der Universität die verständnissvollste, gnädigste Theilnahme zugewendet. Gleichwie unsere Herrn Studirenden ihre respektvolle Verehrung für das Königliche Paar durch einen Ihren Majestäten dargebrachten, glänzenden Fackelzug kundgaben: so wird uns Docenten die von beiden Majestäten der Universität sowohl wie ihren einzelnen Gliedern bewiesene Huld und Gnade stets ein Gegenstand der dankbarsten Erinnerung sein. Es ist nunmehr meine Aufgabe, Bericht zu erstatten über die bei den vier Fakultäten eingegangenen Preisarbeiten und die neu gestellten Aufgaben zu verkündigen. Die theologische Fakultät hatte folgende Preisaufgabe gestellt: „Demonstretur, quaenam sit Veteris Testamenti de iustitia Dei puniente doctrina, atque an ea secum ipsa concordet, locorum Exod. XX, 5; Deuteron. XXIV, 16; Ez. XVIII prae ceteris ratione habita.“ Ueber die eingelieferten Preisarbeiten fällt dieselbe folgendes Urtheil. Von den drei Arbeiten, welche eingegangen sind, kann die mit dem Motto „Iustitia est omnium regina virtutum“ nicht in Betracht kommen, weil sie in der Anlage verfehlt, auch in der Form vernachlässigt ist und, obwohl nicht ohne gesunde Gedanken, doch der für eine biblisch-theologische Aufgabe erforderlichen exegetischen und 112

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historischen Begründung ermangelt. – Die zweite mit dem Motto „Non sum nescius consiliorum, quae de vobis ceperim, dictum Jehovae, nempe consiliorum pacis ac non mali. Jer. XXIX, 11“ empfiehlt sich dadurch, dass sie die Aufgabe von vornherein unter den historischen Gesichtspunkt stellt, erweist sich aber in der Ausführung allzu sehr als das Werk eines zwar strebsamen, aber der Aufgabe noch nicht gewachsenen Anfängers. – Die dritte endlich, welche das Motto „Ora et labora“ führt, wird der Aufgabe in höherem Masse als die beiden andern gerecht und zeichnet sich namentlich durch Wahrung des biblisch-theologischen Charakters, sowie bei Erörterung der in Betracht kommenden biblischen Grundbegriffe durch die erforderliche Bekanntschaft mit den besten Vorarbeiten und durch Selbständigkeit des Denkens aus. In Berücksichtigung dieser Vorzüge beschloss die Fakultät, dieser Arbeit den Preis zuzuerkennen. Als Verfasser ergab sich bei Eröffnung der Schedula: Paul Gotthold Frotscher, stud. theol. aus Limbach i. V. Die von der juristischen Fakultät gestellte Aufgabe lautete: „Ueber das Verhältniss von Begünstigung und Hehlerei nach dem Reichsstrafgesetzbuche, unter Berücksichtigung der neueren deutschen Landesstrafgesetzbücher.“ Es sind drei Beantwortungen eingegangen, welche alle von einem sehr löblichen Fleisse der Verfasser Zeugniss ablegen. Doch lässt die Arbeit mit dem Motto: „Legem siquidem ipsi sibi ipsis homines statuerunt, ignorantes de quibus statuerent“ die juristische Selbständigkeit und die nöthige Gründlichkeit in der Behandlung der Controversen zu sehr vermissen. Auch ist in ihr der dogmatische Theil der Aufgabe über das richtige Verhältniss der beiden Verbrechen zu einander, so gut wie nicht in Angriff genommen worden. Die Arbeit mit dem Motto: „Die Gesetze bessern heisst die Verbrechen mindern“ würde wahrscheinlich mit Erfolg um den Preis haben concurriren können, wäre sie nicht gar so skizzenhaft ausgefallen. Nicht dass der Verfasser sich streng auf die Frage nach dem Verhältniss beider Verbrechen zu einander beschränkt hat, ist zu tadeln; aber dass der Verfasser, der mit Geschick arbeitet, die einzelnen schwierigen Punkte nur so flüchtig berührt und sie demgemäss auch nicht zu bewältigen im Stande ist. Die Fakultät möchte somit im Interesse des Verfassers wie der Sache dem Verfasser den Rath ertheilen, seine eingereichte Schrift nochmals einer gründlichen Umarbeitung zu unterziehen. Die dritte der eingereichten Arbeiten, mit dem Motto: „In rebus quibuscunque difficilioribus non exspectandum, ut quis simul et serat et metat; sed praeparatione quadam opus est, ut per gradus maturescant“, lässt es zwar auch etwas an juristischer Selbständigkeit fehlen, allein sie unterscheidet sich zu ihrem Vortheile von den beiden erstgenannten dadurch, dass sie die dogmatische Principienfrage in ihrer vollen Bedeutung erfasst und ihre Lösung in eingehender Bearbeitung zu geben unternommen hat. Wenn dabei auch die Ausführungen des Verfassers häufig zu sehr gegründeten Zweifeln Anlass geben, auch nicht frei von inneren Widersprüchen sind, so glaubte die Fakultät doch wegen des richtigen Verständnisses der Aufgabe und der ernsten Anstrengungen zu ihrer Lösung dieser Arbeit vor den beiden erstgenannten den Vorzug geben zu sollen. 113

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Die Fakultät ertheilt also der Arbeit mit dem Motto: „In rebus quibuscunque etc.“ den vollen Preis und den Verfassern der beiden anderen Arbeiten die nach der Ueberzeugung der Fakultät von denselben verdiente öffentliche Belobung. Die Eröffnung der Zettel ergab als Verfasser der preisgekrönten Arbeit: Hans Heinrich Ernst Hoffmann, stud. juris aus Guben in der Niederlausitz. Ehrenvolle Belobigung erhalten der Verfasser der Arbeit: „Die Gesetze bessern heisst die Verbrechen vermindern“ Julius Hermann, stud. juris aus Hamburg, und „Legem siquidem ipsi etc.“ Anselm Rumpelt, stud. juris aus Radeberg bei Dresden. Bei der medicinischen Fakultät ist eine Preisarbeit nicht eingegangen. Die erste Klasse der philosophischen Fakultät hatte die Aufgabe gestellt: „Gatterer’s und Schlözer’s Verdienste um die Geschichtschreibung sollen dargestellt werden.“ Ueber die beiden eingegangenen Arbeiten urtheilt die Fakultät folgendermassen: Der Verfasser der ziemlich gut geschriebenen Arbeit mit dem Motto: „Gatterer und Schlözer sind Männer, deren Ansehn niemals veralten wird“ hat mit der Geschichte sich noch lange nicht eingehend genug beschäftigt, um den Anforderungen der Fakultät genügen zu können. Der Verfasser mit dem Sinnspruche Suum cuique ist ungleich besser ausgerüstet an sie herangetreten, hat sich mit vielen Werken Gatterer’s und Schlözer’s vertraut gemacht und sie im Vergleich mit den Leistungen ihrer Vorgänger fast immer treffend und richtig gewürdigt. Einzelne Urtheile, die der Reife und des gemessenen Ausdrucks entbehren, wären besser unterblieben. Von diesen absehend erkennt ihm die Fakultät in Berücksichtigung seines Fleisses und seines ernsten Strebens den Preis zu. Bei Eröffnung des Zettels ergab sich als Verfasser Hermann Wesendonk, stud. philos. aus Rees am Rhein. Für die übrigen gestellten Preisaufgaben hat die Fakultät Bewerbungen nicht erhalten. Die für das nächste Jahr aufgestellten Aufgaben sind folgende. Bei der theologischen Fakultät: „Disquisitio instituatur de epistolae ad Colossenses datae origine Paulina.“ Bei der juristischen Fakultät: „Es sollen die Grundsätze über die Uebernahme fremder Schulden, soweit sie dem Handelsrecht angehören, behandelt werden. Es sind die einzelnen von dem Handelsgesetzbuch erwähnten Fälle durchzugehen und ganz besonders die Fragen zu erörtern, in wiefern beim Zutritt zu einer Societät oder bei dem Erwerbe einer fremden Firma eine Uebernahme fremder Schulden stattfindet.“ Die medicinische Fakultät wiederholt ihre Aufgabe: „Die Retinalpulserscheinungen bei Herzkrankheiten.“ Die erste Klasse der philosophischen Fakultät verlangt eine Abhandlung: „De Ciceronis studiis antiquariis.“ Die zweite Klasse der philosophischen Fakultät stellt die Frage: „In welchem Verhältniss steht Herbart’s Begründung der Ethik durch die Lehre von den praktischen Ideen zu Kant’s Grundlegung zur Metaphysik der Sitten?“ 114

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Endlich die dritte Klasse: „Auf Grund des Ampère’schen Gesetzes soll vermittelst der Theorie des Potentiales das Drehungsmoment berechnet werden, welches ein geradliniger, unendlicher, elektrischer Strom auf einen um eine gegebene Axe drehbaren Strom ausübt, sowohl für den Fall, dass der letztere geschlossen (etwa ein Kreis), als auch für den Fall, das derselbe ungeschlossen (etwa ein Halbkreis) ist.“ (Hierauf erfolgte die Vereidigung des neu erwählten Rektors und die Uebergabe der Amtsinsignien an denselben.) ***

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Gustav Adolf Ludwig Baur (1816–1889)

31. October 1874. Rede des antretenden Rectors D. Gustav Baur, Professors der Theologie. Hochansehnliche Versammlung! Es liegt einmal in der Unvollkommenheit menschlicher Zustände, dass dem Danke für das Gute, welches wir empfangen haben, sich gleich wieder neue Wünsche zugesellen. Das habe auch ich in der letzten Zeit erfahren. Und so möchte ich jetzt dem wiederholten tiefempfundenen Danke für das Vertrauen, mit welchem meine hochverehrten Herrn Collegen mich an diese Stelle berufen haben, im Interesse meiner Nachfolger den Wunsch beifügen, dass doch künftig mit der Wahl eines neuen Rectors unserer Universität zugleich auch die Wahl des Themas für seine Antrittsrede entschieden werden möge. Denn in der That bildet die Qual dieser Wahl die erste Bürde, welche die Würde des Rectorats schon in ihrem zwischen den Tag der Wahl und den 31. October fallenden embryonalen Zustande zu tragen hat. Die Schwierigkeit würde sich freilich sehr einfach erledigen, wenn unsere Gedanken als Secretionen des Gehirnes vermöge eines naturnothwendigen Processes von selbst sich ablösten und in das Dasein träten. Aber ich muss bekennen, dass ich auf diese einfache und bequeme Art der Entscheidung vergeblich gewartet habe. Allerdings konnte ich wahrnehmen, wie bei dem Gedanken an den heutigen Tag und die gegenwärtige Stunde ein Gährungsprocess in meinem Kopfe entstand, wie viele und mannigfaltige Elemente durch einander zu wogen begannen; aber von selbst wollte die Klärung sich nicht einstellen, vielmehr musste ich mir sagen, dass ich nicht gleich jenem horazischen Bauer müssig abwarten dürfe, bis der Strom abgelaufen sei, sondern dass ich die Arbeit selbstthätig in Angriff nehmen, des Unbewussten mir bewusst werden, das Unklare klären, das Unbestimmte bestimmen und aus der dann deutlich hervortretenden Zahl von Möglichkeiten mit Freiheit meine Wahl treffen müsse. Mit Einem Worte: es wollte mir scheinen, als ob nicht ein monistischer, sondern ein dualistischer Process, in der Wechselbeziehung von Naturbestimmtheit und Freiheit, in mir vorgehe. Und so bin ich, zwar sehr natürlich, aber, wie ich meine, doch nicht mit zwingender Naturnothwendigkeit, auf den Gedanken geführt worden, Ihnen nach dem Masse der mir zu Gebote stehenden Zeit und Fähigkeit einige Betrachtungen vorzutragen über den zwar alten, neuerdings aber wieder mit besonderem Eifer, und zuweilen auch wohl mit mehr Eifer als Besonnenheit, besprochenen Gegensatz zwischen Monismus und Dualismus. 117

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Der Monismus oder die monistische Weltanschauung, in welcher manche die der Neuzeit charakteristische und sie beherrschende Richtung des Denkens erkennen wollen, wird bestimmter als die mechanische oder causale Weltanschauung bezeichnet, weil sie alle Erscheinungen, auch die des geistigen Lebens, als Resultate mit blinder Nothwendigkeit wirkender Ursachen ansieht. Es ist aber die monistische Weltanschauung in diesem Sinne weder neu, noch erschöpft sie den vollen Begriff des Monismus. Wenn ihr die Verwandtschaft mit de la Mettrie, Diderot und Holbach als minder wünschenswerth erscheinen sollte, obwohl ein Philosoph wie Zeller meint, dass an wissenschaftlichen Gedanken der neue Materialismus kaum etwas gebracht habe, was nicht schon bei den beiden Letztgenannten zu finden sei: so kann sie ihren Stammbaum über zweitausend Jahre hinaus bis auf Demokrit zurückverfolgen, vielleicht gar in China ihre ältesten Ahnen finden. Aber von Alters her, von Plato und den Stoikern an bis auf die deutschen Philosophen Leibniz, Fichte, Schelling und Hegel herab, läuft mit der mechanischen oder materialistischen Weltanschauung eine idealistische Entwickelungsreihe parallel, deren Vertreter die Gesammtheit der Erscheinungen auf einen die Welt von Anfang an bestimmenden, bauenden und bestimmten Zielen entgegenleitenden Gedanken und Willen zurückführen und auf den Namen von Monisten nicht geringeren Anspruch als ihre Gegner haben, nur dass sie die Sache vom entgegengesetzten Ende anfangen. Es drängt sich eben dem menschlichen Geiste unabweisbar jener Gegensatz oder mindestens Unterschied auf, welcher auf mannigfache Weise bezeichnet worden ist, als Stoff und Kraft, Körper und Geist, unbewusst wirkende Naturnothwendigkeit und bewusste freie Selbstthätigkeit. Das zum Wesen wahrer Wissenschaft gehörende Streben nach Einheit in unserem Erkennen sucht jenen Gegensatz aufzuheben; und wenn dieser Versuch auf die Weise gemacht wird, dass man nur die eine Seite jenes Gegensatzes zum Princip macht, aus welchem man Alles und auch die andere Seite ableitet, so entsteht eine monistische Weltanschauung, deren Gattungsbegriff der Natur der Sache nach in die beiden Artbegriffe des materialistischen und des idealistischen Monismus sich differenziert. Daneben aber bleibt eine dritte Weltanschauung möglich, welche zwar das Streben nach Einheit im Erkennen keineswegs aufgibt, es aber durch die vorhandenen monistischen Systeme der einen wie der andern Art noch nicht befriedigt findet, vielmehr gegen beide ihre dualistischen Bedenken hat. Wenn Fichte jenem Studiosus, welcher ihm, einem sehr rüstigen Fussgänger, nur mit Mühe folgen konnte, entrüstet zurief: „Wenn Sie meine Gesinnung hätten, so würden Sie auch meine Beine haben!“ so war damit das Princip des idealistischen Monismus eben so prägnant als drastisch ausgesprochen. Wäre der also Angefahrene ein materialistischer Monist gewesen, so würde er wohl entgegnet haben: „Umgekehrt, Herr Professor: sondern wenn ich Ihre Beine hätte, so würde ich Ihre Gesinnung haben.“ Und wäre, um das Kleeblatt voll zu machen, ein Dualist mit von der Partie gewesen, so hätte er vielleicht hinzugefügt, dass er zwar einen gewissen Zusammenhang zwischen den Beinen und noch mehr etwa zwischen dem Gehirn auf der einen und der Gesinnung auf der anderen Seite keineswegs in Abrede stelle, dass er sich aber doch nicht entschliessen könne, das Eine nur als das Product des Andern anzusehen. Ohne Zweifel nun würde der Idealist Fichte, wenn ihm Hegels 118

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Terminologie schon geläufig gewesen wäre, seinen beiden Gegnern erwidert haben, dass sie sich noch auf einem völlig überwundenen Standpunkt befänden, wie denn der idealistische Monismus bis heute an dieser Behauptung festhält. Aber dieselbe Behauptung wird ihm ja gerade in der Gegenwart von seinem materialistischen Gegner reichlich zurückgegeben; und dieser könnte sich, wenn das überhaupt für Entscheidung wissenschaftlicher Streitfragen eine Instanz wäre, auf vielstimmigen und lauten Beifall berufen. Jedenfalls constatiert dieser Gegensatz, in welchem die beiden Arten des Monismus, wie einheitsvoll sie auch in sich sein mögen, doch unter einander sich befinden, dass der Dualismus in der That noch nicht überwunden ist, und dass die Räthsel, welche er aufgibt, eine befriedigende Lösung noch nicht gefunden haben. Sollte da nicht, was für überwunden ausgegeben wird, vielmehr nur übersehen sein und einer gründlicheren und eingehenderen Betrachtung bedürfen, damit so eine umfassendere und befriedigendere Weltanschauung herbeigeführt werde? Pflegt ja doch der geistige Fortschritt in unserem Geschlechte sich nicht in gerader Linie, sondern oscillatorisch zu vollziehen. Ist der Pendel zu weit nach der einen Seite bewegt worden, so schwingt er dem entsprechend auf die entgegengesetzte hinüber: die eine Einseitigkeit findet in der ihr entgegengesetzten ihre Correctur. So hat ein einseitiger idealistischer Monismus versucht, von seinem Princip aus auf dem Wege der Deduction die Welt der Erscheinungen zu construieren, und hat dabei unterlassen, die einzelnen Thatsachen auf dem Wege der Induction gehörig kennen zu lernen. Es ist daher eben so berechtigt als natürlich, dass man diesen Defect durch gründliche Einzelforschung zu ergänzen versucht hat, die sich fernerhin nicht mehr mit der einst allvermögenden Zauberformel vom polaren Verhalten begnügen will, oder mit dem sublimen Gedanken, dass der Diamant nichts Anderes sei, als ein einfach zum Selbstbewusstsein gekommener Quarz. Aber es fragt sich, ob der materialistische Monismus nicht in die entgegengesetzte Einseitigkeit hineingerathen ist, ob er in der That, wie er vorgibt, im Stande ist, alle Räthsel des Daseins zu lösen, ob nicht seinem System eine Reihe von Erscheinungen dualistisch gegenüberstehen bleibt, welche dem mechanischen Gesetze, das er in einer anderen Erscheinungsreihe als herrschend erkannt hat, sich entziehen. Bevor ich jedoch versuche, auf das Erkenntnissmaterial, welches dem System des materialistischen Monismus als ein ungelöstes Räthsel und also dualistisch gegenüberzustehen scheint, etwas näher einzugehen, möchte ich der Selbstgewissheit des Monismus einen Dualismus von formeller Art gegenüberstellen: ich meine jenen Dualismus der wissenschaftlichen Methode, auf welchem das Wesen der Kritik beruht, und ohne welchen darum die Wissenschaft überhaupt nicht denkbar ist. Und dieses Dualismus eingedenk zu bleiben, dürfte um so mehr zu empfehlen sein, als der erfreuliche Zug unserer Zeit, aus dem früheren unfruchtbaren Grübeln des isolierten Subjects endlich herauszukommen zu feststehenden, allgemein anerkannten und verwendbaren Resultaten, doch auch die Versuchung einschliesst, auf den verschiedenen Gebieten des Wissens Lehren, welche von deren hervorragenden Vertretern aufgestellt worden sind, ohne weiteres als Axiome gelten zu lassen, welche eines Beweises nicht mehr bedürfen, sondern mit deren Hilfe man jeden, der noch seine Bedenken dagegen hat, kurzer Hand als einen Idioten abweisen kann, welchem 119

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die höhere Erkenntniss noch nicht aufgegangen sei. Wenn die Wissenschaft in dem Bestreben besteht, unsere einzelnen Erkenntnisse auf ihren einheitlichen Grund zurückzuführen und sie demgemäss in ihrem Zusammenhange zu erfassen, so liegt in ihr selbst schon ein dualistisches Moment. Sie würde ihre Aufgabe gelöst haben, wenn sie den beiden Seiten dieses Dualismus gleichmässig ihr volles Recht hätte zu Theil werden lassen, dem Nachweise des Zusammenhangs und der Gründlichkeit der Einzelforschung; wenn sie aus dem einheitlichen Grunde alle einzelnen Erscheinungen mit unzweifelhafter Gewissheit abzuleiten wüsste, und wenn ihr nichts Einzelnes mehr ein Vereinzeltes wäre, sondern jegliches ein integrierendes Glied in der lebensvollen Einheit des vollendeten wissenschaftlichen Systems. Da aber, um mit unserem grössten Kritiker zu reden, diese volle Wahrheit nur für Gott ist, wir aber immer nur auf dem Wege nach diesem Ziele uns befinden, so nehmen wir wahr, wie die verschiedenen Arbeiter am Baue der Wissenschaft, oder auch ein und derselbe in den verschiedenen Momenten seiner wissenschaftlichen Arbeit, bald vorzugsweise auf die genaue Erkenntniss des Einzelnen, bald vorzugsweise auf die Erforschung des Grundes und Zusammenhanges gerichtet ist. Und darum bedarf ein jeder, und zwar in jedem Moment seiner wissenschaftlichen Thätigkeit, jenes Dualismus der Kritik, damit weder im ersteren Falle nur rohes Baumaterial planlos aufgehäuft werde, noch im letzteren, um nur den Bau des Systems zu vollenden, was sich nicht fügen will, einfach ignoriert, oder was man zur Füllung der Lücken nöthig hat, eigenmächtig postuliert werde. Es will mir scheinen, als ob der moderne Monismus von der letztgenannten Versuchung sich nicht völlig frei erhalten habe. Zwar ist er von der sorgfältigen Erforschung der einzelnen Erfahrungsthatsachen ausgegangen, wie sie ihrerseits dem eigenmächtig constructiven Verfahren des früheren idealistischen Monismus entgegengetreten war. Aber eben weil auch er selbst Monismus ist und sein will, so wohnt ihm, als solchem, auch die Tendenz bei, sein System den entgegenstehenden Thatsachen zum Trotz zum Abschluss zu bringen. August Schleicher hat als das Charakteristische der monistischen Weltanschauung bezeichnet, dass sie hinter den Dingen nichts suche, sondern das Ding mit seiner Erscheinung für identisch halte. „Das Ding identisch mit seiner Erscheinung“ – das kann man an sich ohne Bedenken gelten lassen, wenn es sagen will, dass das Wesen eines Dinges nichts Anderes ist als die Totalität seiner erscheinenden Eigenschaften, und dass die Erscheinung nicht etwas nur äusserlich an dem Dinge Haftendes, sondern die Manifestation seines Wesens ist. Es fragt sich nur, ob das auch für uns so ist, ob durch die Erscheinung, welche von uns wahrgenommen und beobachtet ist, das Wesen des Dinges erschöpft wird, und weiter, ob unsere subjective Wahrnehmung und Beobachtung der objectiven Erscheinung überhaupt entspricht. Der idealistische Monismus der Hegel’schen Schule hat seiner Zeit den Satz aufgestellt, dass die wahre wissenschaftliche Methode ihr Object nicht nach von aussen an dasselbe herangebrachten abstracten Normen behandeln dürfe, sondern der Natur ihres Objectes selbst sich anschliessen und dessen eigener Bewegung nachgehen müsse. Gewiss ein nicht zu verachtender Satz, wenn es sich darum handelt, der wissenschaftlichen Methode ihr höchstes Ziel vorzuhalten. Wenn nun aber der Philosoph seine oberflächliche und willkürliche subjective Auffassung flugs an die Stelle der 120

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Sache selbst setzte, so entstand beispielsweise eine sogenannte Philosophie der Geschichte, in welcher weder Philosophie noch Geschichte zu entdecken war, indem man anstatt der Nachweisung des wirklichen Grundes und Zusammenhanges der Thatsachen nur das Schnarr- und Räderwerk abstracter Kategorien vernahm, welches, gleich der Mühle, desto lauter klappert, je leerer es ist, und anstatt wirklicher Geschichte eine von dem Darsteller nach seinen subjectiven Voraussetzungen getroffene und zurecht gerenkte Auswahl von Thatsachen. Man muss anerkennen, dass die historischen Wissenschaften von dieser Verirrung neuerdings gründlich zurückgekommen sind, vielleicht hie und da bis zu jenem Verlieren in Specialitäten, bei welchem man Gefahr läuft, vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr zu sehen. Aber je aufrichtiger man sich der gesunden Empirie freut, mit welcher auch die neuere Naturwissenschaft die haltlosen Speculationen der früheren Naturphilosophie corrigiert hat, um so unverdächtiger wird der Ausdruck der Besorgniss sein, dass sie durch den monistischen Drang, welcher sich mancher ihrer Vertreter bemächtigt hat, zu Folgerungen sich fortreissen lasse, welche das Zeugniss unleugbarer Thatsachen wider sich haben. Auch die christliche Weltanschauung, welche ja eines ungehörigen Dualismus ganz besonders verdächtig ist, ist in ihrem Princip insofern monistisch, als sie die ganze Erscheinungswelt als eine Offenbarung des göttlichen Gedankens und Willens betrachtet. Es ist ihr gewiss, dass, wie Alles von Gott ausgegangen ist, so auch Alles in Gott bleiben und sein Ziel finden muss. Und sie zeigt hinaus in eine Zukunft, in welcher wir Gott in seinem Wesen und Wirken schauen werden, wie er ist, als den Einen, der zugleich Alles in Allen ist. Aber für unser gegenwärtiges Leben muss sie anerkennen, dass unser Wissen Stückwerk ist, dass die Welt ihm noch gar manche Räthsel eines noch nicht aufgelösten Dualismus aufgibt, und dass wir darum uns niemals dünken lassen dürfen, die volle Wahrheit schon ergriffen zu haben, wie unablässig wir auch ihr nachjagen mögen, ob wir sie wohl ergreifen möchten. Es würde meines Bedenkens kein Fehler sein, wenn der monistische Enthusiasmus der Gegenwart von dieser christlichen Besonnenheit und Selbstbescheidung etwas lernte, oder doch von einem Mann, als dessen Schüler er sich sonst gerne bekennt. In seinem Novum Organon, da, wo er die verschiedenen Idola charakterisiert, welche den menschlichen Verstand präoccupieren und an der reinen Erkenntniss der Wahrheit hindern, hat Franz Baco unter anderm zwei sehr beachtenswerthe Sätze ausgesprochen. Der eine lautet: „Der menschliche Verstand verhält sich zu den Strahlen der Dinge wie ein unebener Spiegel, welcher seine Natur mit der Natur der Dinge vermischt und dieselben verzerrt und färbt“, und der andere: „Es ist dem menschlichen Verstande eigen, dass er den Dingen gerne eine grössere Uebereinstimmung und Ordnung unterlegt, als er wirklich findet“, woran sich die spätere Bemerkung anschliesst: „Wovon der Mensch wünscht, dass es wahr sein möge, das hält er für wahr; darum wendet er sich von dem Schwierigen ab, weil ihm die Geduld zum Untersuchen mangelt, von dem Nüchternen, weil es die Hoffnung beengt.“ Mit gewohnter Klarheit hat damit der Virtuos des nüchternen Verstandes die beiden ergiebigsten Fehlerquellen bezeichnet, welche monistischen Systemen gefährlich und verhängnissvoll werden können. Schützen sie sich nicht dagegen durch den formalen Dualismus unausgesetzter nüchterner 121

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Selbstkritik, so droht ihnen das Schicksal, welches Goethe ihnen verkündigt in dem Gedichte: Das gellt so fröhlich In’s Allgemeine, Ist leicht und selig, Als wär’s auch reine. Sie wissen gar nichts Von stillen Riffen, Und wie sie schiffen, Die lieben Heitern, Sie werden wie gar nichts Zusammen scheitern. An wie vielen Systemen, welche in der stolzen Zuversicht, dass durch sie das Räthsel des Daseins gelöst sei und darum die ganze Welt ihnen gehöre, mit vollen Segeln ausgelaufen waren, hat sich nicht schon dieser Scheiterungsprocess – und wie rasch – vollzogen! Auch dem modernen Monismus drohen Klippen, an welchen er zu Scheitern gehen muss, wenn er nicht vorzieht, sie vorsichtig zu umschiffen, was dann nichts Anderes sein würde, als eine thatsächliche Anerkennung des unaufgelösten Dualismus, in welchem sie seinem Systeme gegenüberstehen. Diesen realen Dualismus nun möchte ich nicht als den Gegensatz von Stoff und Kraft, von Körper und Geist, von Leib und Seele bezeichnen, denn alle diese Worte gestatten eine mehrfache Auffassung und Deutung und lassen theoretische Controversen über die Berechtigung des durch sie bezeichneten Gegensatzes zu. Ich rede lieber von dem Gegensatze zwischen unbewusster zwingender Naturnothwendigkeit und bewusster freier Selbstthätigkeit, weil dieser auf bestimmten Thatsachen beruht, deren Anerkennung sich Niemand entziehen kann. Der materialistische Monismus freilich will das im Bereiche der Naturnothwendigkeit herrschende mechanische Gesetz als das alleinige Lebensgesetz anerkannt wissen; und die Consequenz, zu welcher diese Weltanschauung führen muss, finde ich mit anerkennenswerther Entschiedenheit und Offenheit in einem Aufsatze Friedrichs von Hellwald ausgesprochen. Da hält er sich, obwohl auch er anderwärts prophezeit, dass seine Theorie in nicht ferner Zeit das Glaubensbekenntniss aller Gebildeten sein werde, doch über die gutmüthige Schwärmerei Louis Büchners auf, wonach das jetzt noch vielfach angezweifelte und bekämpfte Evangelium des Materialismus in Zukunft gewiss zum Siege, wenn nicht zur Alleinherrschaft gelangen werde, und er stellt dem sonderbaren Schwärmer die Bemerkung entgegen, dass nach wie vor Wahrheit und Irrthum bei den durch Naturnothwendigkeit zu der einen oder dem andern Prädestinierten zum Vorschein kommen würden. Gewiss aus den monistischen Prämissen richtig gefolgert! Nur ist es unerfindlich, woher eine solche Ansicht das Recht nimmt und den Masstab, von einem Unterschiede zwischen Wahrheit und Irrthum überhaupt noch zu reden, da es für sie nur einfache Thatsachen geben kann, und auch jeder Versuch, diese zu verstehen, oder zu beurtheilen, selbst nur, als ein mit 122

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mechanischer Nothwendigkeit sich ergebendes Resultat, der unterschiedslosen Masse gleichwerthiger Thatsachen sich anreiht. Der menschliche Geist sträubt sich, durch die Betheiligung an einer solchen wissenschaftlichen Bankerotterklärung sein eigenstes Wesen aufzugeben und in den Spruch von Macbeth’s Hexen einzustimmen: „Fair is foul, and foul is fair.“ Mit einer jeden Unterscheidung zwischen wahr und falsch, schön und hässlich, gut und böse protestiert er gegen die Alleinherrschaft des mechanischen Gesetzes und erhebt er sich aus dem Gebiete blinder Naturnothwendigkeit in die Sphäre bewusster freier Selbstthätigkeit. Und dem Einfluss dieser Sphäre haben auch die monistischen Theorien unserer Zeit sich nicht zu entziehen vermocht. Dem Philosophen des Unbewussten ist wohl nicht mit Unrecht nachgesagt worden, dass er in sein Weltprincip des Unbewussten doch schon etwas Vernunft und Wille hineingezaubert habe, um schliesslich beide aus demselben wieder hervorzaubern zu können. Die Mehrzahl unserer Monisten hält daran fest, dass aus der Wechselwirkung und dem Kampfe der Naturkräfte die Zweckmässigkeit als Resultat hervorgehe, und lässt dabei die Frage im Grunde unbeantwortet, wie dieses Resultat zu Stande kommen soll, wenn nicht ein zwecksetzender Gedanke und Wille bestimmend eingewirkt hat. Und der Gelehrte, welcher wohl als der eifrigste und am meisten genannte Verfechter des Monismus gelten kann, hat sich gedrungen gefühlt, seiner Darstellung der Principien der monistischen Weltanschauung neuerdings die Bemerkung beizufügen, dass der naturwissenschaftliche Materialismus, welchen er als mit dem von ihm vertretenen Monismus identisch bezeichnet, von dem ethischen Materialismus wohl zu unterscheiden sei und dass diese beiden im Grunde gar nichts mit einander zu thun haben. Dieser ethische Materialismus schwelge in dem traurigen Wahne, dass der rein materielle Genuss dem Menschen wahre Befriedigung geben könne, und verkenne die tiefe Wahrheit, dass der eigentliche Werth des Lebens nicht in materiellem Genuss, sondern in der sittlichen That, und dass die wahre Glückseligkeit nicht in äussern Glücksgütern, sondern in tugendhaftem Lebenswandel beruht. Also kein ethischer Materialismus – was denn? Doch wohl ein ethischer Spiritualismus in dem Sinne, dass dem Menschen kraft der seiner geistigen Natur wesentlichen Fähigkeit bewusster und freier Selbstbestimmung zugemuthet wird, von den beiden Gesetzen, von deren Widerstreit die innere Erfahrung eines Jeden zeugt, nicht dem ihn zu materiellem Genuss hinziehenden niederen Gesetze zu folgen, sondern durch sittliche That dem höheren Gesetz in unserem Geiste die Herrschaft zu verschaffen, um so zur wahren Glückseligkeit und damit doch ohne Zweifel auch zu seiner wahren Bestimmung zu gelangen. Nun, das wäre ja eine Basis, auf welcher man sich verständigen kann, nur dass man vielleicht geneigt wäre, in einem Stücke monistischer als dieser Monismus zu sein. Denn es fragt sich, ob man sich dabei beruhigen kann, dass das mechanische Naturgesetz und das Gesetz der sittlichen That, also der freien Geistigkeit, die doch in derselben Welt und zumal in demselben menschlichen Leben sich manifestieren, so gar nichts mit einander zu thun haben sollen, ob es hier nicht in der That gilt, entweder Ambos oder Hammer zu sein, und – wenn dann doch der Geist sich nicht als das Produkt rein mechanischer Ursachen begreifen lässt – ob man sich nicht wird entschliessen müssen, sich ihn schon bei der Constituierung der mechanischen Gesetze 123

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von Anfang an als die eigentlich bestimmende Macht betheiligt zu denken. Aber halten wir uns für jetzt nur an das Bekenntniss, dass neben dem Gebiete, welches von dem mechanischen Naturgesetz beherrscht wird, es ein anderes gibt, in welchem das Gesetz geistiger und sittlicher Freiheit gilt, neben dem Gesetze, welches lehrt: „So muss es sein“, ein anderes, welches fordert: „So soll es sein!“ Wenn nun die wahre Bestimmung des Menschen darin gesucht wird, dass er dieses letztere Gesetz zum Gesetze seines Lebens mache, so ist damit offenbar zwischen den Menschen und allen übrigen Erdengeschöpfen ein nicht bloss quantitativer, sondern ein entschieden qualitativer Unterschied gesetzt. Denn wie hoch man auch von dem Seelenleben der höheren Wirbelthiere denken und wie musterhaft man „die Treue und Anhänglichkeit des Hundes, die Mutterliebe der Löwin, die Gattenliebe und eheliche Treue der Tauben“ finden mag: Niemand wird doch von einem dieser Geschöpfe verlangen, dass es einen tugendhaften Lebenswandel führe und ihn beweise in sittlicher That. Und diese absolut eigenthümliche Stellung des Menschen, nach welcher die Forderung, dass der Mensch nicht zum Thiere sich erniedrigen soll, fortwährend ihre vollkommen berechtigte Bedeutung behält, wird wahrlich nicht, wie gesagt worden ist, nur um deswillen behauptet, weil man „für das liebe Ich etwas Besonderes will und ein anderes Mass, als das, womit die übrigen Lebewesen gemessen werden“, sondern weil auf ihr in der That die Würde des Menschen beruht und sie auf eine erfahrungsmässige Ursache sich gründet, die so gewiss ist, als irgend eine andre, ja gewisser, da sie mit dem Selbstbewusstsein unmittelbar gegeben ist, durch welches die Thatsachen der Aussenwelt erst vermittelter Weise uns zukommen. Wie der Mensch zu dieser ausgezeichneten Stellung gelangt sei, das ist eine Frage für sich. Auch soll keineswegs bestritten werden, dass an der Gränze, bei welcher Thier und Mensch sich scheidet, und mit welcher, um die Continuität der Entwickelungsreihe zu sichern, die monistische Theorie sich mit Vorliebe beschäftigt, auf beiden Seiten, der des höheren Thierlebens, wie der des niedrigsten Menschenlebens, Lebensäusserungen hervortreten, welche den der anderen Seite eigenthümlichen sehr nahe kommen. Aber wie der nun wieder zusammengetretene deutsche Reichstag sich nicht vorzugsweise darum bekümmern wird, wie etwa nach Art. 5. des Prager Friedens die Gränze bei Hadersleben endgültig festzustellen sei, sondern die Aufgaben in Angriff nehmen, welche das in unzweifelhafter Thatsächlichkeit vorhandene eigenthümliche Wesen und gegenwärtige Bedürfniss des deutschen Volkes und Reiches ihm stellt: so dürfen auch wir durch die Fortdauer jener naturwissenschaftlichen Gränzstreitigkeiten uns nicht abhalten lassen, für die menschliche Gesellschaft, in welche wir thatsächlich hineingestellt sind, das Gesetz des bewussten und zu freier sittlicher That berufenen Geistes als unbedingt gültig anzuerkennen, durch dessen Erkenntniss sie auch von den vollkommensten Thierstaaten sich specifisch unterscheidet und auf dessen Verwirklichung ihr wahres Heil beruht. Zumal unsere sogenannten alten Fakultäten, welche sämmtlich darauf gerichtet sind, das Leben der menschlichen Gesellschaft in seinen verschiedenen Gebieten praktisch zu fördern, und diejenigen Wissenschaften, welche man in einem allgemeineren Sinne als historische bezeichnen kann, haben mit jenem geistigen Faktor des Menschenlebens, und meist vorzugsweise, zu rechnen. Der Sprachforscher kommt, um 124

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Entstehung und Ausbildung der Sprache zu erklären, mit der sogenannten Wauwau-, Aha- und Klingklangtheorie und mit der Auffassung der Sprachwissenschaft als einer reinen Naturwissenschaft nicht aus, sondern muss die Mitwirkung freier menschlicher Selbstthätigkeit anerkennen, in welcher auch der Historiker die wirksamste Potenz in der fortschreitenden Geschichte der Völker findet. Der Aesthetiker weiss, dass die Kunstwerke, welche er zu deuten sucht, einer ganz andern Kraft ihre Entstehung verdanken, als die Kunst des Bienenstockes und des Hamsterbaus. Auch der Mediciner gibt seine Verordnungen unter der Voraussetzung, dass sie von vernünftigen Menschen befolgt werden, und wird den Werth der bekannten Abhandlung Kant’s „Von der Macht des Gemüths, durch den blossen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein“, nicht in Abrede stellen. Der Jurist aber arbeitet mit dem Begriffe intellectueller und ethischer Zurechnungsfähigkeit, und der Theologe behandelt das alte, grosse und ernste Thema, dass, wer auf das Fleisch säet, vom Fleische das Verderben erntet, und nur wer auf den Geist säet, vom Geiste das ewige Leben. Und das Alles thun wir, wie ich denke, wiederum nicht aus geistiger Trägheit, oder um des lieben Ich willen, etwa weil wir sonst um unsere Stellen kommen würden, sondern weil wir überzeugt sind, dadurch dem Gedeihen der menschlichen Gesellschaft in ihren wesentlichsten Lebensgebieten zu dienen. Die stolzen Hoffnungen auf den mächtig veredelnden Einfluss der monistischen Philosophie sollen uns nicht zu jenem ethischen Manchesterthum verleiten, welches meint, es werde sich Alles von selber machen, wenn nur erst der Mensch durch die monistische Theorie über seine wahre Natur gehörig aufgeklärt sei. Denn ein tief einschneidender Dualismus kommt in das menschliche Leben hinein durch den schwachen oder geradezu bösen Willen, welcher auch dem erkannten Guten widerstrebt, mit einem Wort, durch den Factor der Sünde, dessen ungeheure Bedeutung die Moralstatistik hat anerkennen müssen, – zur Freude der Theologen, wie ein ausgezeichneter Statistiker, der jetzt aus unserer Mitte geschieden ist, einmal vermuthet hat, und insofern gewiss mit Recht, als ja die Erkenntniss einer jeden Wahrheit an sich erfreulich ist, wie betrübend auch die Wahrheit selbst sein mag. Als im Anfang dieses Jahrhunderts, in der Zeit von Deutschlands tiefster Erniedrigung, die Masse des Volks sich dem famosen Glaubensbekenntniss des Gouverneurs von Berlin, Grafen von der Schulenburg-Kehnert, angeschlossen hatte, dass jetzt Ruhe die erste Bürgerpflicht sei; als auch der Philosoph Hegel in den Tagen der Schlacht bei Jena sich freute in der Person Napoleons die verkörperte Weltseele zu Pferde sitzen zu sehen, und sich dabei beruhigte, dass, was durch ihn wirklich geschehe, sich schon auch als vernünftig erweisen werde: da ging das neue Leben von Männern wie jener Fichte aus, der den Werth und die Kraft des Mannes vor allem in seiner Gesinnung fand, wie Schleiermacher, der die kühne Frage aufwarf: „Hängt mir des Willens Kraft an der Stärke der Muskeln? am Mark gewaltiger Knochen? oder der Muth am Gefühl der Gesundheit? – Oder vermag der wiederholte Schmerz, vermögen die mancherlei Leiden niederzudrücken den Geist, dass er unfähig wird zu seinem eigensten Handeln? Ihnen widerstehen ist ja auch sein Handeln, und auch sie rufen grosse Gedanken hervor zur Anwendung ins Bewusstsein. Dem Geist kann kein Uebel sein, was sein Handeln nur ändert.“ Die das wahre 125

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Leben der menschlichen Gesellschaft vor allen andern bedingende Macht ist eben der ethische Charakter, der des Dualismus sich wohl bewusst ist, in welchem das Gesetz der freien sittlichen That sowohl dem mechanischen Naturgesetz, als dem von gemeiner Selbstsucht dictierten Gesetz des ethischen Materialismus gegenübersteht. Der soeben berührte Gegensatz zwischen einzelnen hervorragenden Männern und der Menge des Volkes führt ferner auf einen höchst beachtenswerthen, aber, wie mir scheint, nicht selten übersehenen oder in seiner Bedeutung nicht gehörig gewürdigten Dualismus: es ist der Dualismus zwischen den geistig productiven, vorzugsweise mittheilenden und leitenden Persönlichkeiten und der vorzugsweise erhaltenden, empfangenden und der Leitung jener sich anschliessenden Mehrheit der Individuen. Am deutlichsten tritt dieser Dualismus in den Zeiten der erst beginnenden Cultur hervor. In den homerischen Gedichten zählen eigentlich nur die Könige und Helden, die übrigen sind an sich Nullen, die erst einen Zahlenwerth erhalten, wenn sie an jene sich anschliessen, – numeri, fruges consumere nati; und das Staatsrecht jener Zeit concentriert sich in dem Grundsatz: Οὐκ ἀγαϑὸν πολυκοιρανίη εἷς κοίρανος ἔστω, Εἷς βασιλεύς. Sobald dagegen die sich verbreitende Cultur ihren ausgleichenden Einfluss ausübt, fühlen sich die einzelnen Individuen als berechtigte Glieder des Ganzen, erheben Anspruch auf Theilnahme an der Leitung des Gemeinwesens, entledigen sich wohl gar solcher Persönlichkeiten, welche – wäre es auch nur, weil sie wirklich, weiser, besser und energischer sind, als die andern – einen entschieden bestimmenden Einfluss auszuüben drohen, und versteigen sich wohl endlich, um ihre Ansprüche zu begründen, zu der Theorie von der ursprünglichen Gleichheit, der gleichen Berechtigung nicht bloss, sondern auch gleichen Begabung, aller Menschen, wie sie Rousseau vorgetragen hat, wonach dann die thatsächlich vorhandene Ungleichheit nur eine Folge der verschiedenen äusseren Einwirkungen wäre. Eine Zeit, in welcher eine gewisse allgemeine Bildung so weit verbreitet ist, wie in der unsrigen, begünstigt denn auch in dieser Beziehung eine monistische Auffassung, welche den Einfluss ausgezeichneter Persönlichkeiten auf die Gesammtheit unterschätzt und auch den Ausgezeichnetsten lediglich als Produkt seiner Gattung, seiner Zeit und seiner Umgebung ansieht. Und während des ruhigen Verlaufs jener Zeitabschnitte, welche vorzugsweise zur Erhaltung und Fortbildung eines von einer früheren Generation überkommenen Princips berufen sind, und welche wir als geschichtliche Perioden bezeichnen, mögen für die Haltbarkeit jener Auffassung geringere Schwierigkeiten sich ergeben. Anders aber ist es, wenn eine neue Epoche sich ankündigt, indem an die Stelle des früher herrschenden ein neues Princip treten will. Da regt sich wohl bei der Gesammtheit ein Gefühl der Unbefriedigung über die bestehenden Zustände, in sogenannten Zeitfragen werden die Räthsel bezeichnet, welche der Lösung harren, und in allerlei unfruchtbaren Velleitäten treten unzulängliche Lösungsversuche hervor. Aber der Oedipus, welcher die Räthsel der Zeit wirklich löst, die Macht, wel126

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che die ersehnte Befriedigung gibt und in die empfängliche Masse den zündenden Funken wirft, das ist nicht die Masse selbst, sondern ist die ausgezeichnete Persönlichkeit. Und dass es so ist, liegt in der Natur der Sache. Dreissig Groschen machen einen Thaler und zehn eine Reichsmark, aber hundert und tausend schwache Köpfe und matte Herzen machen noch keinen einzigen gescheiden und willenskräftigen, geistig bedeutenden Mann: der Geist ist eben seiner Natur nach Persönlichkeit, und wo ein neues und höheres geistiges Leben erwachen soll, da muss es von der schöpferischen Kraft einer ausgezeichneten Persönlichkeit ausgehen. Man könnte nun freilich sagen, dass auch diese herrlichen Wunderleute Gottes, wie Luther sie schön genannt hat, doch nur die durch besondere Umstände begünstigten natürlichen Producte ihrer Gattung seien. Und gewiss, sie haben die Grundlagen ihres geistigen Reichthums schon in das Leben mitgebracht, sie sind jene Bevorzugten, welche Schiller preist: Selig, welchen die Götter, die gnädigen, vor der Geburt schon Liebten, welchen als Kind Venus im Arme gewiegt, Welchem Phoebus die Augen, die Lippen Hermes geöffnet Und das Siegel der Macht Zeus auf die Stirne gedrückt! Aber wenn Goethe aufzählt, was er vom Vater hat und vom Mütterchen, vom Urahnherrn und von der Urahnfrau, und daran die Frage anschliesst: Sind nun die Elemente nicht Aus dem Complex zu trennen, Was ist dann an dem ganzen Wicht Original zu nennen? – nun, so liegt die Originalität eben in dem einzigartigen Complex jener heterogenen Eigenschaften; und nicht bloss diese, sondern die wahre Grösse des Mannes beruht auch wesentlich darauf, dass er, was er von der Natur empfangen, in freier Selbstthätigkeit zusammengefasst und sich angeeignet und es mit einer seines hohen Dichterberufes stets eingedenken Treue verwaltet und verwendet hat. Ein vergleichender Blick auf Goethe und Schiller auf der einen und Byron und Shelley auf der anderen Seite genügt, meine ich, um uns zu überzeugen, dass das geistig Grosse und Vollendete nur zu Stande kommt, wenn die dualistischen Momente der natürlichen Begabung und der freien sittlichen Selbstbestimmung zusammenwirken und so die natürliche Individualität zur sittlichen Persönlichkeit erhoben wird. Wie nun im Gebiete der Kunst und der Wissenschaft die epochemachenden und eine folgende Periode beherrschenden Principien immer von einzelnen hervorragenden Persönlichkeiten ausgegangen sind, das bezeugt die Geschichte. Und wir selbst haben in unserer Zeit wieder erfahren dürfen, dass dasselbe auch auf dem Gebiete des Staatslebens gilt. Für die Wahrheit, dass der grosse Mann nicht monistisch aus der Gesammtheit hervorgeht, sondern durch die Macht seines Geistes und Willens vorherrschend sie bestimmt, gibt es kaum einen schlagenderen Beweis, als die vor zehn Jahren kühn angebotene und seitdem glänzend gewonnene Wette, dass der 127

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damals auch in seinem eigenen Volke bestgehasste Mann in Kurzem der allerpopulärste sein werde. Ganz besonders aber macht die Bedeutung der Persönlichkeit auf dem Gebiete sich geltend, durch welches auch das persönliche Leben am tiefsten berührt wird, auf dem Gebiete der Religion, von welcher ich hier nur rede als von einer vorhandenen Thatsache, ohne auf die Frage nach der Realität der religiösen Vorstellungen mich weiter einzulassen, als durch die Bemerkung, dass wenn eine so allgemein verbreitete Bestimmtheit des subjectiven Bewusstseins jeder entsprechenden Realität entbehrte, gegen die Realität unserer Erkenntniss überhaupt die begründetsten Zweifel entstehen müssten. Die wichtigste Unterscheidung der historisch vorhandenen Religion, der Dualismus zwischen natürlichen und geoffenbarten Religionen, ist durch die Einwirkung ausgezeichneter Persönlichkeiten auf diesem Gebiete bedingt. Die natürlichen Religionen entwickeln sich monistisch aus dem natürlichen Leben der Völker, welchen sie angehören. Die geoffenbarten Religionen aber treten diesem natürlichen Leben dualistisch gegenüber, indem sie ein zuerst durch eine bestimmte Persönlichkeit vertretenes höheres Princip im menschlichen Leben zur Geltung zu bringen suchen. So ist die alttestamentliche Religion im Kampfe gegen die natürliche Religion des semitischen Heidenthums entstanden. So ist das Christenthum nicht als ein natürliches Product der Verhältnisse seiner Entstehungszeit zu erklären, sondern nur aus dem in der Person seines Stifters zuerst vertretenen höheren Princip, welches im Kampfe gegen das beim religiösen Bankerott angekommene Judenthum und Heidenthum sich Geltung verschaffen musste. Und zwar sind eben nur die alttestamentliche und die christliche Religion geoffenbarte Religionen im eigentlichen Sinne, weil eben nur sie auf absolut neuen höheren Principien beruhen, welche ihre Stifter mit schöpferischer Geisteskraft verkündeten und vertraten, während die Männer, welche sonst als Religionsstifter genannt werden, nur in den natürlichen Religionen ihrer Völker schon gegebene Elemente reinigend und ordnend zusammenfassten. Auch der Buddhismus, welcher nach dem aufgestellten Begriff der geoffenbarten Religion noch am ersten mit dieser scheint concurrieren zu können, ist, wenn ich recht sehe, doch nur theils aus einer Ueberspannung, theils aus einer abstracten Negierung der Lehren des Brahmaismus hervorgegangen; und wenn gegenwärtig manche nicht üble Lust zeigen, das christliche Glaubensbekenntniss gegen ein buddhistisches zu vertauschen, so erinnern sie an jenes originale Gemüth, von welchem der Dichter erzählt, dass es im Verlangen, sich ein Bauerngütchen zu erwerben, die schönsten Rittergüter, die es als Erbschaft empfangen, vernachlässigt habe. Wenn nun das Christenthum nicht bloss in der Lehre, sondern in der Person seines Stifters seinen Grund und Halt sucht, so ist es dabei vollkommen im Rechte, so gewiss als die Religion nicht bloss als eine Lehre an die Erkenntniss sich wenden, sondern als ein Leben das ganze persönliche Leben des Menschen durchdringen soll. Allerdings hat Strauss in der Schlussabhandlung zu seinem Leben Jesu, damals unter dem Einflusse des Monismus der Hegel’schen Philosophie, den Satz ausgesprochen, das sei gar nicht die Art, wie die Idee sich realisiere, in Ein Exemplar ihre ganze Fülle auszuschütten. Die Geschichte des geistigen Lebens der Menschheit aber dürfte bezeugen, dass das gerade die Art der Idee 128

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ist. Und wenn auf den zeitlich und national bestimmten Lebensgebieten, in der Kunst, der Wissenschaft, dem Staatsleben, unter verschiedenen Zeitverhältnissen, bei verschiedenen Nationen Verschiedene auftreten, in welchen die Idee jedesmal die ganze Fülle ihrer Kraft bethätigt, so wird dagegen in dem Lebensgebiete, welches alle Menschen aller Zeiten zu umfassen bestimmt ist, eine einzige Persönlichkeit das religiöse Verhältniss in absoluter und normativer Vollkommenheit darstellen. Meiner Ueberzeugung nach ist jene von der Hegel’schen Schule überkommene Unterschätzung der Bedeutung der Persönlichkeit für die Auffassung der Geschichte des Urchristenthums und insbesondere für die neutestamentliche Kritik verhängnissvoll geworden. Hat nämlich das Christenthum aus den Verhältnissen der damaligen Zeit sich von selbst monistisch entwickelt, und hat das Geschlecht jener Zeit was eigentlich sein eigenes Werk war in wunderbarer Selbstverleugnung auf den Rabbi von Nazareth nur mythisch übertragen: so muss das Christenthum zuerst ein borniertes Judenchristenthum gewesen sein, aus welchem dann das petrinische, das paulinische, das johanneische zu den höheren Stufen ihrer Auffassung sich im Laufe der Zeit allmählich entwickelten. Ist dagegen die höhere Wahrheit und das neue Leben des Christenthums zuerst in der absolut ausgezeichneten Persönlichkeit seines Stifters in die Welt hineingetreten und in ihm selbst am vollkommensten vorhanden: so steht nichts entgegen, dass bei den Aposteln schon nach der Verschiedenheit ihrer Begabung vollkommenere und minder vollkommene Auffassungen des Christenthums neben einander auftreten, oder dass auf eine vollkommenere eine minder vollkommene wieder folgt. Und wenn das Christenthum nicht aus einer monistisch verlaufenden Selbstentwickelung der Menschheit hervorgegangen ist, sondern auf dem neuen und höheren Princip beruht, welches derselben durch die schöpferische Kraft seines Stifters eingepflanzt worden ist: so darf es auch nicht wähnen, jemals über diesen selbst hinaus sich fortentwickeln zu können. Vielmehr muss es aus seiner Fülle immer auf’s neue Wahrheit und Leben schöpfen und an seiner normativen Persönlichkeit sich corrigieren. Wo aber das geschieht, da wird auch ein Volk dem monistischen Naturprocesse entnommen, welcher ausserhalb des Christenthums alle Völker von ihrer Entstehung an durch eine kürzere oder längere Zeit der Macht und Blüthe zum endlichen Verfalle geführt hat. Gerade unser deutsches Volk hat zu wiederholten Malen, zur Zeit seiner ersten staatlichen Einigung unter Karl dem Grossen, zur Zeit der Reformation und zur Zeit der kräftigen Auferstehung von seinem tiefen Fall am Anfange dieses Jahrhunderts, aus jener Quelle die verjüngende Kraft für sein mit Zersplitterung, Versumpfung oder Unterdrückung bedrohtes nationales Leben geschöpft. Es wird auch in der Gegenwart von dieser Lebensquelle sich nicht abwenden dürfen, wenn es nicht, während es sich viel zu schaffen macht, das Eine versäumen will, was noth ist. Doch genug dieser zerstreuten Bemerkungen, wie sie über eine so tiefgehende Frage hier nur konnten gegeben werden. Den Muth, sie Ihnen überhaupt vorzutragen, fand ich in der Erwägung, dass sie doch wohl nicht ausser aller Beziehung stehen zu dem Berufe einer Universitas literarum, wie sie hier bei uns gerade an diesem Tage und zu dieser Stunde durch Ihre Versammlung, hochverehrte Collegen, so vollständig und glänzend vertreten ist. Wir alle sind verbunden durch den Monismus 129

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desselben wissenschaftlichen Strebens. Aber indem wir dem gemeinsamen Ziele nachtrachten, gehen unsere Wege auseinander: sie scheiden sich im Grossen und Ganzen nach dem Dualismus der Wissenschaften, welche vorzugsweise die Gesetze des natürlichen, und derjenigen, welche vorzugsweise die Gesetze des geistigen Lebens zu erforschen und anzuwenden bemüht sind. Dass jedoch dieser Dualismus uns nicht eine Versuchung werde zu exclusiver Einseitigkeit, davor bewahrt uns der Gedanke, dass wir Mitarbeiter sind an demselben Bau; bewahrt uns die collegialische Gesinnung, in welcher wir uns wechselsweise ernste und gewissenhafte Forschung und den Muth der Wahrheit zutrauen, jeden Tüchtigen auf seinem Gebiete gelten lassen und des schönsten Vortheils unserer Gemeinschaft, dass wir von einander lernen können, uns mit Freuden bedienen. Sie, verehrte Commilitonen, erfreuen sich jenes Vorrechtes, das einem um so beneidenswerther vorkommt, je mehr man mit den wachsenden Jahren den Anspruch darauf verliert, der jugendlichen Begeisterung für das Fach, welches Sie sich erwählt haben, für die Lehrer, welchen Sie sich anschliessen, für die Lehren, in welchen Sie die Befriedigung Ihres Strebens und für die Räthsel des Daseins die Lösung finden. Nicht um diese Begeisterung Ihnen zu verkümmern, sondern damit männliche Besonnenheit sich ihr zugeselle, möchte ich Ihnen jenen Dualismus der Selbstkritik empfehlen, welcher am voreiligen Fertigwerden hindert und stets in frischem und fortschreitendem Werden erhält. Es ist kein dummer Teufel, der dem zum Baccalaureus avancierten ehemaligen Schüler den Rath gegeben hat: Ganz resolut und wacker seht Ihr aus, Kommt nur nicht absolut nach Haus! Und was ein Jeder im Bereiche seiner Fachwissenschaft sich aneignete, das finde – in den Hörsälen, wie im freien Verkehr mit akademischen Freunden – seine Ergänzung durch den Dualismus der akademischen Wissenschaften. Lassen auch Sie, verehrte Commilitonen, den grossen Vorzug nicht ungenutzt, welchen unsere aus dem universalen Interesse des deutschen Geistes herausgeborenen Universitäten vor einer jeden Spezialschule voraus haben, und thun auch Sie das Ihre, dass der grosse Organismus der Universitas nicht in abgeschlossene und selbstgenugsame Facultäten auseinanderfalle, sondern in der Wechselwirkung aller seiner Glieder lebendig erhalten werde. Auch im frischen und fröhlichen Studentenleben bezeuge sich, dass Sie im ernsten Dienste der Wissenschaft stehen, und wenn die Geister aufeinander platzen, so verleugne sich doch niemals das Bewusstsein, dass Sie alle miteinander verbunden sind in dem Ringen nach demselben Ziele: etwas zu werden und zu leisten für Ihr Volk und Vaterland, für das Wohl der menschlichen Gesellschaft. Bewahren Sie sich das Feuer idealer Begeisterung, welches die schönste Zierde des Jünglings ist, damit es dereinst vorhalte in den zerstreuenden und aufregenden Stürmen, in den grossen Aufgaben und ernsten Kämpfen, welche auch an Sie herantreten werden in dieser gewaltigen Zeit! Und so wolle der treue Gott, der bisher mit uns gewesen ist, auch das heute beginnende neue akademische Jahr ein gesegnetes werden lassen für Lehrer und Ler130

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nende, für Gedeihen, Blüthe und Wachsthum unserer Universität, welcher anzugehören uns allen ein Ruhm ist und eine Freude! Gott segne uns in dieser Stunde Ausgang und Eingang! ***

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31. October 1875. Rede des abgehenden Rectors Dr. Gustav Baur, Professors der Theologie. Bericht über das Studienjahr 1874/75. Hochverehrte Anwesende! Indem ich Sie unserer Sitte gemäss zu einem kurzen Rückblick auf das mit dem heutigen Tage abschliessende akademische Jahr einlade, drängt es mich, vor allem dem Gefühl des innigsten Dankes Ausdruck zu gehen, des Dankes gegen Gott, der auch in diesem Jahre seine Hand schützend und segnend über unsere Universität gehalten hat, des Dankes gegen die Hohe Staatsregierung, welche nicht aufgehört hat, derselben ihre liberale und energische Fürsorge zuzuwenden, des Dankes gegen meine Herren Collegen, welche mich bei der Führung des mir anvertrauten Amtes mit freundlicher Nachsicht begleitet, mit Rath und Hilfe kräftig unterstützt haben, des Dankes gegen die Herren Commilitonen, welche wesentlich dazu beigetragen haben, dass ich auf dieses mit nicht geringen Sorgen angetretene Amtsjahr nun mit Freude zurücksehen darf. Dem auf ihm ruhenden Blicke aber treten vor allen andern die Tage vom 4. bis 10. Juni in festlichem Glanze entgegen: sie sind ausgezeichnet durch den Allerhöchsten Besuch, mit welchem unser Allerdurchlauchtigster König Albert die Universität Leipzig beehrt hat. Seine Majestät hat dadurch die Allergnädigste Verheissung, die huldreiche Gesinnung Allerhöchst ihres nun in Gott ruhenden Vaters, unseres unvergesslichen Königs Johann, der Universität bewahren zu wollen, auf die glänzendste und für alle Universitätsangehörigen ermunterndste Weise erfüllt. Auch der mit dem kriegerischen Lorbeer reichgeschmückte Feldherr hat durch Theilnahme an zahlreichen akademischen Vorlesungen und durch den Besuch unserer akademischen Institute das eingehendste und ausdauerndste Interesse an der friedlichen Arbeit der Wissenschaft bezeugt und bei seinem Scheiden Lehrern und Studierenden die Allerhöchste Befriedigung auf das Huldvollste zu erkennen gegeben. Eine so ausserordentliche Auszeichnung, wie einer gleichen keine andere Universität sich zu rühmen hat, enthielt die Anregung, auch der Dankbarkeit und Verehrung von Seiten der Universität in ausserordentlicher Weise Ausdruck zu geben. Am 17. Juni beschloss auf Antrag des akademischen Senates das Plenum der ordentlichen Professoren, Sr. Majestät dem König Albert die höchste Ehrenbezeugung, welche die Universität zu vergeben hat, in der Würde eines Rector Magnificentissimus unterthänigst anzutragen. Se. Majestät geruhten, am 22. Juni auf dem Schlosse Pillnitz die bezügliche Urkunde aus den Händen der aus Rector und Decanen bestehenden Deputation huldvollst entgegenzunehmen. Die Gabe wurde empfangen in demselben Sinne, in welchem sie dargeboten war, und auf welchem ihre specifische Bedeutung und ihr 132

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voller Werth beruht: als eine der Person Sr. Majestät des Königs Albert dargebrachte Huldigung, durch welche die Verfassung unserer Universität selbstverständlich in keiner Weise alteriert wird, wohl aber die so hocherfreuliche und segensreiche Verbindung zwischen Königlicher Huld auf der einen und der innigsten Dankbarkeit, Liebe und Verehrung auf der anderen Seite einen bestimmten Ausdruck und ihre formelle Besiegelung erhält. Unter der anregenden und verheissungsvollen Theilnahme des Landesfürsten hat sich die Pflege, welche das Ministerium des Cultus und des öffentlichen Unterrichtes der Universität angedeihen lässt, auch in diesem Jahre in erfreulichen Erfolgen bewährt, und in Anbetracht des grossen Zweckes und der gedeihlichen Blüte unserer Hochschule hat die Landesvertretung die erforderlichen Mittel bereitwillig dargereicht. So konnte am 26. April das neue Anatomiegebäude der Benutzung übergeben werden, welchem man wohl mit grösserem Rechte, als es von so manchen zum Kauf oder zur Miethe angepriesenen Häusern geschieht, nachrühmen kann, dass es ausgestattet sei mit allem Comfort der Neuzeit. Und wer in den heissen Junitagen im Geleite Sr. Majestät jene Räume betreten durfte, der konnte sich an der ausgezeichnet frischen Luft erquicken, welche infolge der trefflichen Ventilation dort weht, und deren sich in den älteren Universitätsgebäuden nicht einmal die Auditorien zu erfreuen haben. Durch Freiwerden der durchaus unzulänglichen Localitäten, welche bis dahin dem anatomischen Unterricht hatten dienen müssen, ist zugleich den Räumen der Universitätsbibliothek eine sehr erwünschte Erweiterung erwachsen; eine sehr werthvolle und dankbarst anzuerkennende Vermehrung ihrer Schätze aber hat dieselbe in dem Portrait Lessing’s von Graf und in der äusserst seltenen 1770 bei Bernh. Theodor Breitkopf hierselbst erschienenen ersten Ausgabe der Lieder Goethe’s erhalten, welche ihr durch Legat des Herrn Dr. Hermann Härtel in bewährter wissenschaftlicher und patriotischer Gesinnung vermacht worden sind. Im Zusammenhange mit der Bibliothek sei zugleich der seit dem 1. October vorigen Jahres eröffneten akademischen Lesehalle gedacht. Trotz der sehr erfreulichen lebhaften Betheiligung der Herren Studierenden, durch welche dieses Institut als ein wahres Bedürfniss sich erwiesen hat, reichen doch die Beiträge der Mitglieder zu dessen Erhaltung nicht aus; und in Anerkennung seiner Wichtigkeit hat daher das hohe Cultusministerium sich in dankenswerthester Weise bereit erklärt, nicht allein das Deficit des ersten Verwaltungsjahres zu decken, sondern auch behufs einer bleibenden Unterstützung der Lesehalle einen bestimmten Posten in sein Budget aufzunehmen. Und hiermit sei dieselbe der Aufmerksamkeit und thätigen Theilnahme der Herren Docenten wie der Herren Studierenden aufs neue bestens empfohlen. Auch der lang gehegte und so sehr berechtigte Wunsch, dass so manche unserer Institute aus ihren gegenwärtigen unzulänglichen, ja, wie dies insbesondere vom zoologischen Institut gesagt werden muss, geradezu dürftigen und unwürdigen Localitäten in freiere und zweckmässigere Räume möchten verpflanzt werden können, scheint seiner endlichen Erfüllung um einen guten Schritt näher gerückt zu sein. Wenn die mit dem Hohen Stadtrath gepflogenen und nunmehr dem Hochverehrlichen Collegium der Stadtverordneten zur Genehmigung vorliegenden Vereinbarungen zu definitivem Abschlusse gelangt sein werden, so wird nicht bloss zur Verlegung 133

Gustav Adolf Ludwig Baur

des botanischen Gartens, sondern auch zur Herstellung der neuen Gebäude für das zoologische und landwirthschaftliche Institut wie für die Veterinärklinik vorgeschritten werden können, und werden diese neuen Anlagen zugleich als neue Denkmale davon zeugen, dass der Rath und die Bürgerschaft Leipzigs die Bedeutung einer Anstalt wohl zu würdigen wissen, welche nicht bloss zu dem materiellen Wohlstand unserer Stadt einen leicht zu berechnenden Beitrag liefert, sondern auch auf deren geistiges Leben einen eben so unleugbaren als unberechenbaren förderlichen Einfluss ausübt. Bevor ich nun weiter von der Ergänzung und Mehrung unseres akademischen Personals rede, habe ich die traurige Pflicht, der Lücke zu gedenken, welche auch in diesem Jahre der nie rastende Tod in unseren Reihen gerissen hat. Am 18. September verstarb zu Carlsbad Herr Karl Ludwig Gottlob von Burgsdorff, Kreishauptmann zu Leipzig und Königlicher Regierungsbevollmächtigter bei der Universität. Ich darf dem Hingeschiedenen hier das Zeugniss nachrufen, dass derselbe sein Amt bei der Universität mit grosser Sachkenntniss und sicherem praktischen Blicke, mit rückhaltloser Aufrichtigkeit und unparteiischer Gerechtigkeit verwaltet, der mit einer solchen Stellung sich leicht verbindenden Versuchung, Schwierigkeiten zu schaffen, niemals nachgegeben, vielmehr zur Erhaltung und Förderung des besten Einvernehmens zwischen der Staatsregierung und der Landesuniversität wesentlich beigetragen hat. Es darf mit Zuversicht angenommen werden, dass seinem Nachfolger die Erfüllung dieser Aufgabe durch eine den gegenwärtigen Verhältnissen entsprechende Modification seiner Stellung zur Universität erleichtert werden wird. Neben von Burgsdorff habe ich eines Mannes zu gedenken, welcher lange Jahre mit ihm gemeinsam in der früheren hiesigen Kreisdirection gearbeitet hat und seit dem letzten akademischen Jahre erst in unserem Personalverzeichniss als Präses der Königlichen Prüfungscommission für Theologen aufgeführt war, welcher er früher schon als Mitglied angehörte. Herr Oberconsistorialrath Dr. theol. Ewald Friedrich Hoffmann starb – man darf wohl sagen: als ein Opfer seiner selbstverleugnenden Berufstreue – zu Dresden am 25. August fast in derselben Stunde, in welcher der Evangelische Verein der Gustav-Adolf-Stiftung in Potsdam seine Jahresfeier beging, jener Verein, welchen er als Nachfolger Grossmann’s im Vorsitze des Centralvorstandes und der Jahresversammlungen mit so viel Liebe und mit so reichem Segen viele Jahre gepflegt hatte. Als Mitglied der hiesigen Kreisdirection ist er auch der Universität mannigfaltig nahe getreten und hat sich unter ihren Angehörigen zahlreiche persönliche Freunde gewonnen, indem er in hohem Grade und im schönsten Maasse jene beiden Eigenschaften vereinigte, welche nach einem Worte Schiller’s den wahrhaft edeln Charakter ausmachen: Strenge gegen sich selbst und Milde gegen Andere. Dem engeren Kreise der Universitätsangehörigen wurde am 7. December vorigen Jahres nach langem schweren Leiden, welches seine ungewöhnlich kräftige und elastische Constitution mit plötzlichem Schlage getroffen und erschüttert hatte, Herr Geh. Hofrath und Professor Dr. theol. Constantin von Tischendorf entrissen, eine der in weitesten Kreisen bekannten Celebritäten unserer Universität. Durch seinen unermüdlichen Eifer im Suchen, durch das glücklichste Talent, zu finden, durch eine nie rastende Rührigkeit, das Gefundene der Wissenschaft zu weiterer Untersu134

Jahresbericht 1874/75

chung und Verwerthung zugänglich zu machen, hat er der biblischen Kritik einen früher nicht geahnten Reichthum von neuem Material aufgeschlossen und so seinen Namen unzertrennlich mit ihr verflochten, sowie er bei allen denen, welche ihm näher standen, durch seine offene Herzlichkeit und treue Anhänglichkeit sich ein stets liebevolles Andenken gesichert hat. Nur vierzehn Tage später, am 21. December, hatten wir den Tod des Herrn Hofraths und Bibliothekars Dr. theol. David Johann Heinrich Goldhorn zu beklagen, welcher sich, wie durch gründliche Gelehrsamkeit um die Wissenschaft, so insbesondere um die Universitätsbibliothek und diejenigen, welche sie benutzten, durch unverdrossene Treue und Dienstwilligkeit während seiner fast zweiundvierzigjährigen Amtsthätigkeit ein bleibendes Verdienst erworben hat. Während dann der Tod im verflossenen Sommersemester feierte, trat am Anfange der Ferien ein zwar nicht unerwarteter, aber darum nicht minder schwer empfundener Trauerfall ein. Am 31. August erlag Herr Geh. Hofrath Professor Dr. jur. et philos. Oscar Ferdinand Peschel einem Leiden, welches, seit mehr als zwei Jahren langsam aber unaufhaltsam fortschreitend, seine physischen Kräfte fast völlig aufgezehrt hatte, dabei aber der bewunderungswürdigen Energie und Frische, ja der liebenswürdigen Heiterkeit seines Geistes so wenig etwas anzuhaben vermochte, dass er noch bis zum Schlusse des vorigen Semesters seines Lehramtes auf dem Catheder wartete. Die Universität Leipzig hat an ihm ihren ersten ordentlichen Professor der geographischen Wissenschaft besessen, in deren Gebiet er durch sein Talent, seinen unbestechlichen Wahrheitssinn, seine vielseitigen Kenntnisse und den mit der aufrichtigsten Bescheidenheit verbundenen Drang, dieselben stets zu corrigieren und zu vermehren, eine entschieden hervorragende Stellung einnahm. Es ist in hohem Grade zu wünschen, dass sein Lehrstuhl nicht lange unbesetzt bleibe, wenn es auch mindestens sehr schwer werden dürfte, einen vollen Ersatz zu finden. Endlich haben wir auch am Anfange des neubegonnenen Semesters schon, erst heute vor acht Tagen um diese Stunde, einem der Unseren, dem ausserordentlichen Professor der Medicin, Herrn Dr. med. Hermann Wendt, das letzte Geleite gegeben. Dieser junge Gelehrte hatte namentlich in seinem Specialfache, der Otiatrik, durch fleissige, geist- und erfolgreiche Untersuchungen reiche Anerkennung gefunden und zu den grössten Hoffnungen berechtigt, als vor wenig Monaten eine düstere Wolke sich auf seinen rastlos thätigen Geist legte und ihn bis zu seinem frühen Tode nicht wieder verliess. Aus der Zahl unserer Studierenden sind im verflossenen akademischen Jahre 18 verstorben, und die kalte statistische Bemerkung, dass das bei einer Gesammtzahl von nahezu 3000 Studierenden ein geringer Procentsatz ist, soll uns nicht abhalten, theilnehmend derer zu gedenken, welchen mit ihnen so manche Freude und Hoffnung zu Grabe getragen worden ist. Aber nachdem wir unsern Heimgegangenen das schuldige Opfer wehmüthigen Andenkens dargebracht haben, wenden wir uns zum Leben zurück, welches trotz alledem sein Recht sich nicht nehmen lässt, und welches an unserer Hochschule seine Kraft und frische Bewegung vor allem durch Aneignung neuer tüchtiger Kräfte bezeugt hat. Am 5. Januar wurde Herr Professor Dr. ph. Carl Victor Fricker in Tübingen für die ordentliche Professur der Staatswissenschaften, am 2. März 135

Gustav Adolf Ludwig Baur

Herr Professor Dr. jur. Adolf Wach in Bonn für die des Civil- und Criminalprocessrechtes, am 20. April Herr Professor Dr. med. Wilhelm Wundt in Zürich als ordentlicher Professor der Philosophie für unsere Universität gewonnen. Und in Herrn Professor Dr. ph. Max Heinze, welcher an demselben Tage für dasselbe Fach als Ordinarius aus Königsberg berufen worden ist, haben wir einen alten Bekannten aufs neue als den Unseren begrüssen dürfen. Möge nun für ihn und die anderen soeben genannten Herren Collegen des Ziehens ein Ende sein! Von den akademischen Lehrern, welche schon seit kürzerer oder längerer Zeit unserer Universität angehört haben, sind aus der Zahl der ausserordentlichen Professoren am 5. Januar die Herren Dr. phil. Carl Friedrich August Nobbe, Rector emer. des Nicolai-Gymnasiums, Dr. phil. Wilhelm Dindorf, Hofrath, Dr. phil. Gotthard Oswald Marbach und Dr. phil. Carl Biedermann zu ordentlichen Honorarprofessoren und am 21. April ist Herr Dr. phil. Georg Ebers zum ordentlichen Professor der Aegyptologie befördert worden. Aus der Zahl der Privatdocenten wurde am 19. December 1874 Herr Dr. phil. Otto Delitsch, am 31. März 1875 Herr Dr. phil. u. Lic. theol. Johannes Delitzsch und am 10. August 1875 Herr Dr. med. Hugo Kronecker zu ausserordentlichen Professoren ernannt. Dagegen haben sich nach den mir [bekannt, d. B.] gewordenen Mittheilungen als Privatdocenten neu habilitiert: in der juristischen Facultät Herr Dr. jur. Heinrich Dreyer, Staatsanwalt bei dem Reichs-Oberhandelsgericht, vormals Appellationsrath zu Colmar, für französisches Recht; in der medicinischen die Herren DD. med. Ferdinand Albert Thierfelder für pathologische Anatomie und Karl Hermann Schildbach für Orthopädie; in der philosophischen die Herren DD. phil. Karl Theodor Göring und Hermann Wolff für Philosophie, Ernst Sigismund Christian von Meyer und Eduard Drechsel für Chemie, Heinrich Hübschmann für Sprache und Literatur der arischen Völker, Freiherr Goswin von der Ropp für Geschichte des Mittelalters, Wilhelm Ferdinand Arndt für Geschichte des Mittelalters und die historischen Hilfswissenschaften, und Hermann Osthoff für vergleichende Grammatik der indogermanischen Sprachen. Herr Dr. phil. Voigt hat seine Habilitation nicht zum vollen Abschlusse bringen können, indem er vor dem letzten Acte derselben bereits zum ausserordentlichen Professor der Physik an die Universität Königsberg berufen wurde. Ausserdem sind in der theologischen Facultät 1 Doctor, in der juristischen 26, in der medicinischen 54, in der philosophischen 58 Doctoren promoviert worden. Wenn nun aber überhaupt die Lebendigkeit des wissenschaftlichen Verkehrs und das fruchtbare Wirken des wissenschaftlichen Lebens wesentlich auf dem regen Wechselverhältniss geistigen Empfangens und Gebens beruht, welches, wie zwischen den einzelnen Vertretern der Wissenschaft, so auch zwischen ihren verschiedenen Pflanzstätten stattfindet; so hat auch dieses Lebenszeichen unserer Universität nicht gefehlt: wie sie ausgezeichnete Gelehrte von Schwesteranstalten empfangen hat, so hat sie nicht unterlassen, auch diesen rüstige junge Lehrkräfte zuzusenden. Aus der Reihe ihrer Herren Privatdocenten, deren Zahl und stets neuer Zuwachs ja ein besonders deutlich redendes Symptom der Blüte und Regsamkeit des wissenschaftlichen Lebens einer Hochschule bildet, ist Herr Dr. phil. und Lic. theol. Bernhard Wilhelm Stade zum ordentlichen Professor der alttestamentlichen Exegese 136

Jahresbericht 1874/75

in Giessen, Herr Dr. jur. Adolf Gustav Ferdinand Kretzschmar zum ordentlichen Professor des römischen Rechtes in Rostock, Herr Dr. phil. Ernst Wilhelm Adalbert Kuhn zum Nachfolger unseres Windisch in die ordentliche Professur des Sanskrit und der vergleichenden Sprachwissenschaft nach Heidelberg und Herr Dr. phil. Wilhelm Hörschelmann zum ausserordentlichen Professor der Philologie in Dorpat berufen worden. Wir geleiten sie in ihre neue Berufsstellung mit unsern besten Wünschen und mit der guten Zuversicht, dass sie der Universität, an welcher sie ihre Lehrthätigkeit begonnen haben, eine freundliche Erinnerung bewahren werden. Bezüglich der akademischen Institute ist zu bemerken, dass infolge des Todes des Bibliothekars Herrn Dr. Goldhorn und der Berufung des 2. Custos Herrn Dr. Stade innerhalb des bei der Verwaltung der Universitätsbibliothek beschäftigten Personals ein entsprechendes Aufrücken stattgefunden hat, und dass bei derselben die Herren Bacc. jur. Rudolf Helssig und Dr. ph. Oscar von Gebhardt, bisher an der Kaiserlichen Landes- und Universitätsbibliothek in Strassburg beschäftigt, als Assistenten neu angestellt worden sind. Bei dem zoologischen Institute ist der um dasselbe mannigfach verdiente Inspector Herr Robert Tobias nach langem treuen Dienste mit dem 1. October l. J. in den Ruhestand getreten. Die weise und energische Fürsorge der Regierung für Vermehrung der Lehrmittel und Lehrkräfte und die Berufstreue der akademischen Lehrer hat sich auch in diesem Jahre durch die Frequenz unserer Universität belohnt gesehen, wenn diese auch nicht mehr, in gewaltigen Sprüngen über Zwischenstufen hinwegsetzend, zur Höhe emporstreben zu wollen, sondern allmählich sich anzuschicken scheint, auf einer Hochebene ein wenig auszuruhen und sich einzurichten. Im verflossenen Wintersemester hatte die Zahl unserer Studierenden zwar noch nicht die gewünschten und wiederholt angekündigten 3000, aber doch die bis jetzt höchste Ziffer 2947, darunter 925 Sachsen und 2022 Nichtsachsen, erreicht. Im Sommersemester ist sie, ähnlich wie bereits im vorausgegangenen Jahre, auf 2785 heruntergegangen. Von diesen haben bis jetzt 580 ihre Abgangszeugnisse erhalten oder verlangt. Dagegen sind in dem neu begonnenen Semester schon gestern Nachmittag 731 Immatriculationen vollzogen gewesen, so dass nicht allein jener Ausfall, bei einem Gesammtbestande von 2936, jetzt schon reichlich gedeckt ist, sondern auch sicher zu erwarten steht, dass durch die noch in Aussicht stehenden Immatriculationen die Höhe des vorigen Wintersemesters mindestens wieder erreicht werden wird, trotzdem dass auch noch eine Anzahl von solchen, die ohne Abgangszeugniss aber factisch abgegangen sind, aus dem Personalverzeichniss wird gestrichen werden müssen, eine Massregel, ohne deren sorgfältige Handhabung die Zahl von 3000 vor einem Jahre schon auf dem Papiere würde vorhanden gewesen sein. Jedenfalls übertrifft die Zahl der im neubegonnenen Semester bis zum Rectorwechsel Immatriculierten mit 731 die entsprechende vorjährige Zahl um 19, die Gesammtzahl der im letzten Rectoratsjahre Immatriculierten mit 1793 die des vorjährigen um 25, und stellen somit diese beiden Zahlen die höchsten auf diesen beiden Scalen bis jetzt erreichten Stufen dar. Von den 731 Neuimmatriculierten sind 80 Sachsen und 651 Nichtsachsen und nach den Fächern eingetheilt: Theologen 82 mit Einschluss von 15, welche neben der Theologie noch ein anderes Fach studieren, Juristen 355 einschliesslich von 46, 137

Gustav Adolf Ludwig Baur

welche zugleich Cameralia studieren und 1, welcher zugleich der Philosophie sich widmet, Mediciner 63, Philosophen 29, Philologen 66, Mathematiker 6, Studiosen der Mathematik und Naturwissenschaften 12, der Mathematik und Physik 2, der Naturwissenschaften 12, der Chemie und Physik 1, der Chemie 32, der Physik 1, der Cameralia 5, der Oeconomie 24, der Pharmacie 15, der Pädagogik 16, der Geschichte 5, der neueren Sprachen 6, der Geschichte und neueren Sprachen 1, der Philosophie und Orientalia 1. Noch erfreulicher, als die Quantität unserer Studierenden, ist es für den Rector, ihre Qualität, soweit diese seiner Cognition unterliegt, rühmend zu erwähnen. Dass das akademische Disciplinargericht auch in diesem Jahre von keiner völligen Geschäftsstockung zu berichten hat, das wird man bei einiger Billigkeit in Berücksichtigung der vorliegenden Verhältnisse begreiflich finden. Ohne Zweifel aber würde die Wissenschaft der Moralstatistik, wenn sie auf dieses Gebiet sich einliesse, das Verhältniss der Disciplinarvergehen zu der Zahl unserer Studierenden als ein ungewöhnlich günstiges darzustellen haben. Auch in dem neubegonnenen Semester hat während der beiden ersten Wochen, in welchen doch die Wogen besonders hoch zu gehen pflegen, die Meldung, welche der Rector allmorgendlich entgegenzunehmen hat, in höchst tröstlicher Einförmigkeit stets gelautet: „Auf der Wache ist nichts passiert.“ Ich wünsche meinem Herrn Nachfolger von Herzen, dass auch ihm dieser einfache aber ungemein wohlthuende Morgengruss täglich zu Theil werden möge. Mögen die Herren Commilitonen ein jeder an seinem Theile, mögen insbesondere die Herren Vorsteher studentischer Corporationen und Vereine darnach trachten, dass der Universität Leipzig ihr alter Ruhm bewahrt bleibe, nicht bloss eine ausgezeichnete Pflanzschule der Wissenschaft zu sein, sondern auch die Stätte eines freien, frischen und fröhlichen, aber auch im besten Sinne anständigen Studentenlebens. Und nun, hochverehrte Anwesende, lassen Sie mich meinen Jahresbericht, wie ich ihn mit der Erinnerung an erhebende Festestage begonnen habe, auch schliessen mit der Erwähnung der festlichen Gedenktage, welche unsere Universität im verflossenen Jahre zu verzeichnen hatte. Zuvor aber kann ich nicht umhin, mein Bedauern darüber auszudrücken, dass es den deutschen Universitäten, welche doch zur Erweckung, Erhaltung und Stärkung des Bewusstseins der Einheit des deutschen Volkes und Vaterlandes so wesentlich beigetragen haben, versagt ist, an der der endlichen äusseren Herstellung dieser Einheit geltenden Nationalfeier in corpore theilzunehmen, weil dieselbe in den Anfang der grossen akademischen Ferien fällt. Der 18. Januar als der Tag, welcher dem deutschen Volke seinen Kaiser wiedergegeben hat, würde auch alle Angehörigen der deutschen Universitäten beisammen finden. Doch sei es ferne, an einer Feier zu rühren und zu rütteln, die auf erfreuliche Weise bereits angefangen hat volksthümlich zu werden; vielmehr bescheiden wir uns, im Geiste dabei zu sein und nach wie vor das ganze Jahr hindurch das heilige Feuer patriotischer Gesinnung in uns selbst und in der akademischen Jugend wach zu erhalten. Zu jenen akademischen Gedenktagen übergehend, bemerke ich, dass am 14. November vorigen Jahres die Universität Sr. Grossherzoglichen Hoheit den Prinzen Karl von Hessen und bei Rhein mittels Uebersendung einer Urkunde ihren Glück138

Jahresbericht 1874/75

wunsch dargebracht hat, als an dem fünfzigsten Gedächtnisstage Seiner Immatriculation an unserer Hochschule. Höchstderselbe hat der Universität Seinen Dank in einem sehr eingehenden und herzlichen eigenhändigen Schreiben ausgesprochen, welches mit den Worten schliesst: „Möge die Universität Leipzig, deren Ruf und Bedeutung gerade in den letzten Jahren zu einer selbst in Zeiten ihrer grössten Blüte unbekannten Höhe emporgestiegen ist, fortfahren zu wachsen und zu gedeihen, eine Leuchte der ächten Wissenschaft, weithin ihre Strahlen über unser ganzes Vaterland und hinaus über seine Gränzen verbreitend. Dazu gebe Gott seinen Segen!“ Auch die übrigen fünfzigjährigen Jubelfeste, deren die Universität ihrer Sitte gemäss zu gedenken hatte, konnten so zu sagen nur in absentia gefeiert werden: es wurden 11 Jubelpromotionen vorgenommen, darunter 1 in der juristischen, 4 in der medicinischen und 6 in der philosophischen Fakultät. Dagegen hat in unserer Mitte und noch in voller Thätigkeit der um unsere akademische Verwaltung hochverdiente Herr Hofrath Graf am 1. Mai den Tag gefeiert, an welchem er vor 40 Jahren in den Staatsdienst und vor 30 Jahren in die Arbeit an unserer Universität eingetreten war. Und endlich sind noch die beiden letzten Wochen des nun abgelaufenen akademischen Jahres beschienen und geweiht worden von dem festlichen Glanze der Tage, an welchem die Herren Domherr Dr. theol. Kahnis, Geheimer Hofrath Dr. jur. Osterloh und Geheimrath Dr. med. Wunderlich nach einer fünfundzwanzigjährigen Lehrthätigkeit an unserer Universität nächst der Allerhöchsten Anerkennung auch den Dank und Glückwunsch ihrer Collegen und zahlreichen Schüler empfingen. Möge das auch dadurch bezeugte ungetrübte collegialische Verhältniss und der lebendige und fruchtbringende Wechselverkehr zwischen Lehrern und Lernenden der Universität Leipzig immer erhalten bleiben! Das walte Gott. (Hierauf erfolgte der Bericht über die bei den vier Fakultäten eingegangenen Preisarbeiten und die Verkündigung der neuen Preisaufgaben, wie beides in dem Programme des Professors Dr. L. Lange „De patrum auctoritate“ enthalten ist, und sodann die Vereidigung des neuen Rectors und die Uebergabe der Amtsinsignien an denselben.) ***

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Johannes Adolph Overbeck (1826–1895)

31. October 1875. Rede des antretenden Rectors Dr. Johannes Overbeck, Professors der classischen Archaeologie. Hochansehnliche Versammlung! Der ersten Pflicht des soeben mir übertragenen Amtes, mich mit einem Vortrag aus dem Bereiche meiner Studien bei Ihnen einzuführen, lassen Sie mich dadurch nachzukommen versuchen, dass ich einige Gedanken „über die Grundlagen des idealen griechischen Götterbildes“ Ihrer Prüfung unterbreite. Wenn man bedenkt, in wie hohem Grade und dass mehr als der religiöse Glaube, welcher das Göttliche in seiner Ueberschwänglichkeit zu fassen sucht, und mehr als der nicht selten in rohen und ungeheuerlichen Bildern sich ergehende Mythus die Sage und die Sagenpoesie und ganz besonders ihre Vollendung in den homerischen Gedichten es gewesen ist, welche die griechische Götterwelt zum schönsten und erhabensten Menschenthum verklärte, wenn man sich vergegenwärtigt, wie plastisch wahr, wie lebens- und massvoll, wenige einzelne Stellen abgerechnet, wie gleichsam sichtbar und greifbar die homerischen Göttergestalten sich vor uns bewegen, so wird man schwerlich anstehn, in der Sagenpoesie, vorab in der homerischen, die eigentliche Voraussetzung einer menschlich schönen und massvoll idealen Darstellung der Götter durch die bildende Kunst anzuerkennen, noch auch die Behauptung zu kühn finden, dass die homerische Poesie wie den frischesten Lebensquell, so auch den festen Massstab für die Beurteilung aller künstlerischen Darstellung der Götter enthalte, so dass in den Hauptsachen von den homerischen Vorstellungen kein Bildner und Maler abweichen konnte, dem es darum zu thun war, seine Gestaltungen als die nationalen Götter erkannt und anerkannt zu wissen, während auch wir noch in mehr als einem Falle in Typen der bildenden Kunst von der erreichten Analogie der homerischen Schilderungen überrascht werden, das Homerische erfüllt finden und nun von diesem nach Massgabe des Dichters Vollendeten in unserer Phantasie nicht mehr abzulassen vermögen. In der That, das eigenthümlich Homerische tritt uns in den uns erhaltenen griechischen Götterbildern vielfach so augenscheinlich, so überwältigend möcht’ ich sagen, entgegen, dass sogar die Gefahr einer Ueberschätzung der Einflüsse der 141

Johannes Adolph Overbeck

homerischen Poesie auf die ideale Götterbildnerei näher liegt, als die einer Unterschätzung, und dass Mancher eher so weit gehen möchte, die homerische Poesie für die einzige Quelle und die alleinige Mutter der Idealbildnerei zu halten, als Andere verkennen werden, dass sie deren vornehmste Leiterin gewesen ist. Ja, wenn ich nicht irre, findet sich eine derartige Ueberschätzung sogar bei einem der tiefsten und feinsten Kenner antiker Poesie und Kunst in dem folgenden Satze Welckers (Griech. Götterl. II. 107): „Phidias ging von Homer aus; dessen Anschauungen, die am meisten national geworden, für das Auge in glänzenden Bildern festzustellen, war sein Bestreben und sein Genie; dies Princip, von dem auch seine Nachfolger in der Götterkunst nicht abgewichen sind, ist in seinen Werken vollkommen erkennbar.“ Diesen und verwandten Auffassungen des Verhältnisses der idealbildenden Kunst zu der homerischen Poesie gegenüber müssen vorweg zwei Bemerkungen gemacht werden, welche dazu führen, fühlbar zu machen, dass es sich lohnt, die Frage nach den Grundlagen der Götterbildnerei in etwas weiterem Umfange zu prüfen. Erstens nämlich ist zu erwägen, dass je weniger die gesammte Sagenpoesie und insbesondere die homerische eine religiöse Tendenz hat, sie auch um so weniger zu einer eigentlich religiösen Kunst geführt haben würde und könnte, dass vielmehr, wäre die mythologische Bildnerei aus ihr allein erwachsen oder auf sie allein gegründet, dieselbe ohne Zweifel von Anfang an eben so weltlich sich gestaltet haben würde, wie die späte, auf der Poesie allein ruhende Kunst in der That sich gestaltet hat. Dies aber ist ganz entschieden nicht der Fall. Und zweitens muss beachtet werden, dass, obwohl die menschlich ideale Gestaltung der Götterbilder erst durch den abgeklärten Götteranthropismus der Sagenpoesie möglich wurde, doch das Bedürfniss der Götterbilder gerade so wie dasjenige der Altäre und Tempel der Götter von der Religion selbst geboren worden ist, deren Werk ja auch die Personification als der älteste Ausdruck der Glaubensanschauung und der auf die Personification gefolgte, aus ihr hervorgegangene Mythus ist, aus dem sowohl der örtlich fixirte Cultus, wenigstens zum grössten Theil, und der Bilderdienst erwuchs, so dass denn auch die frühesten Götterdarstellungen durch die Kunst, die selbst wieder an die Stelle noch älterer anikonischer Cultusobjecte traten, nicht Darstellungen der Sagen und Mythen, sondern Cultus- und Tempelbilder waren. Wenn man nun durch solche Bemerkungen aufmerksam darauf geworden ist, dass neben der nationalen Poesie die Religion selbst auf die Hervorbringung des Götterbildes und auf die Bestimmung seines Charakters entscheidend eingewirkt habe, so wird man sich bei weiterem Nachdenken leicht überzeugen, dass auch durch die Religion neben der homerischen Poesie der Grund, auf welchem die ideale Götterbildnerei erwuchs, noch nicht vollständig bezeichnet ist, dass vielmehr bei derselben noch andere Factoren wirksam geworden sind, und dass man daher neben der Religion und der Poesie noch andere Elemente in’s Auge fassen muss, wenn man die griechischen Götterbilder in ihrem Wesen und Charakter völlig verstehen will. Die wesentlichen Grundlagen der idealen Götterbildnerei nun sind von einem der späteren griechischen Schriftsteller, von Dio von Prusa, genannt Chrysostomus, 142

Antrittsrede 1875

in seiner 12. Rede dem Ὀλυμπικός mit so überraschender Klarheit erkannt und in ihrer Bedeutung, wenn auch nicht in systematischer Weise, dargestellt worden, dass wir nicht besser thun können, als ihn bei unserer Untersuchung als Führer zu gebrauchen. Gönnen wir also zuerst ihm das Wort. Den Ausgangspunkt nehmen wir von des Redners Unterscheidung der natürlichen, allen Menschen eingeborenen und der von aussen her, durch Andere erworbenen Gotteserkenntniss, welche letztere wieder als eine freiwillig erworbene und als eine durch Nöthigung gegebene unterschieden wird. Erstere ist die aus den Dichtern geschöpfte, letztere die von den Gesetzgebern verkündete, jene die ältere, diese die jüngere. Zu diesen drei Offenbarungsarten der Gotteserkenntniss, der angeborenen, der poetischen und der gesetzgeberischen gesellt sich dann als vierte die „plastische“, diejenige der Bildner und Maler, welche streben durch die bildende Kunst Darsteller der göttlichen Natur zu werden. Diese nun wollen der Götter Gestalt und verschiedenartiges Wesen in der Hauptsache nicht verschieden darstellen von den Gesetzgebern und den Dichtern, jenes nicht, um nicht als ungläubige Neuerer zu erscheinen, dieses nicht, indem sie sich von der älteren Gestaltenbildnerei der Poesie ihre Gegenstände vorgebildet, erkannten. Und so gestalteten sie denn in der Hauptsache nach Massgabe der Mythen und in Uebereinstimmung mit diesen, Einiges aber trugen sie aus sich selbst in ihre Werke hinein und wurden so theils Nebenbuhler, theils Kunstgenossen der Dichter. Indem dann im weitern Verfolge untersucht werden soll, welchen Nutzen und Schaden jede dieser Offenbarungsformen, zu denen vorher noch als die vollkommenste die philosophische gerechnet worden ist, der Religion gebracht habe und welche von ihnen der Wahrheit am nächsten gekommen sei, während sie in den Grundsätzen des Glaubens einig seien, wird Phidias als der weise und göttliche Meister des ehrwürdigsten und erhabensten Götterbildes (des olympischen Zeus) als Sprecher für die bildenden Künstler aufgerufen. Nicht aber um über die Technik und alles Aeusserliche der Kunst befragt zu werden, sondern, indem die bewunderungswürdige, die Vorstellung und Idee von dem Gott erfüllende und bestimmende Schönheit und Vollendung des Werkes anerkannt wird, um auf die Frage zu antworten, ob und wie es möglich sei, in menschlichen Formen und durch sterbliche Kunst in würdiger Weise das Höchste und vollkommenste Wesen darzustellen. Phidias aber führt die Beantwortung dieser Frage in der Hauptsache so, dass er zuerst zu bedenken giebt, er sei nicht der erste Lehrer und Offenbarer der göttlichen Natur gewesen. Griechenland, sagt er, hat schon vor mir bestimmte und klare Lehrsätze über die Götter und Vorstellungen von ihnen gehabt. Und wie viele von den Werken früherer Bildner und Maler mit meinen Arbeiten, ausgenommen etwa in der Vollendung des Machwerkes, in Uebereinstimmung gewesen sind, brauche ich nicht zu sagen. Euren alten und festbestimmten Glauben, dem entgegenzutreten unmöglich ist, fasste ich auf und die älteren Werke der bildenden Kunst und die geistigeren Werke der Dichter. Wer nun, fährt er etwas später fort, von uns Bildnern in seinen Werken durch Schönheit und Würde und besonders durch Grossartigkeit hervorragt, der ist bei weitem der vorzüglichste Darsteller der Götter. 143

Johannes Adolph Overbeck

Nachdem sodann die Berechtigung, überhaupt Götterbilder aufzustellen, aus dem allgemeinen menschlichen Wunsche motivirt ist, das Göttliche sich nahe und gleichsam berührbar zu wissen, weist Phidias für seine Gestaltung des Zeus auf das Vorbild Homers hin, der die Gestalten der Gottheit in nahezu plastischer Realität und die Götter menschlich dargestellt, ja Menschen mit Göttern verglichen habe; sein, des Phidias Werk aber werde kein Vernünftiger mit einem Menschen vergleichen, während es an Grösse und Schönheit allerdings dem Gotte vergleichbar sei. Der Rest, von vergleichsweise und besonders für die uns beschäftigende Frage von geringerer Wichtigkeit, mag hier bei Seite bleiben; ziehn wir aber aus Dios Worten die Summe, so werden wir sagen dürfen, dass er als die vier auch uns als die wesentlichen erscheinenden Grundlagen oder Elemente des idealen Götterbildes anspreche: die Religion selbst, die Vorgestaltung durch die Poesie, die homerische insbesondere, die Vorgestaltung durch andere, ältere Kunstwerke und endlich den individuellen Geist, die Eigenart des Künstlers und dass uns hiernach als ein fünftes nur noch der Geist der verschiedenen Zeitalter hinzuzufügen bleibt. Kehren wir nun zu unserem Anfange zurück und fassen wir die poetische Vorgestaltung des idealen Götterbildes als die allgemein anerkannte Voraussetzung in’s Auge, um gegen sie zunächst den Einfluss der Religion, des Glaubens und Cultus abzuwägen, so dürfen wir hierbei die zwei Hauptwerke des Phidias, den olympischen Zeus und die Athena Parthenos als diejenigen in den Vordergrund stellen, welche als die am meisten homerischen gepriesen werden und von denen namentlich der Zeus am unmittelbarsten aus dem homerischen Vorbild abgeleitet wird. Und in gewissem Sinne mit dem unzweifelhaftesten Rechte. Denn es darf ja als allgemein bekannt gelten, dass nach einer mehrfach überlieferten Angabe Phidias selbst den Zeus der Ilias, welcher der Thetis Gewährung ihrer Bitte zuwinkend, durch die Bewegung seiner Brauen und das Wallen seines Haupthaares den Olymp erzittern macht, sein Paradeigma bei dem olympischen Zeus genannt haben soll und man ist einig darüber, dass wenn Phidias einen Ausspruch der Art nicht selbst gethan hat, die innere Wahrheit der Nachricht dieselbe bleibt, insofern die Anekdote nicht entstehen konnte, wenn man nicht das homerische Vorbild in der Statue erkannte, was sogar bei dem Römer Paulus Aemilius der Fall war. Und auch darauf kommt im Grunde nicht viel an, ob man die Vorbildlichkeit des homerischen Zeus in dieser Scene auf die Schilderung in ihrer grossartigen Gesammtheit bezieht, oder ob man, weiter gehend, die vom Dichter hervorgehobenen Körpertheile, Brauen und Haar als den Ausgangspunkt des Bildhauers in der Darstellung seines Zeus betrachtet, wie dies nach antikem Vorgange Brunn in feinsinniger Weise gethan hat. Denn im einen wie im anderen Falle wird sich erweisen lassen, dass das erhabene Götterbild des Phidias in seiner plastischen Ganzheit und Wirklichkeit keineswegs allein aus dem dichterischen Vorbild abgeleitet ist. Oder wäre der Zeus in Olympia wie derjenige der Ilias als ϑεὸς κατανεύων mit vorgeneigtem Haupt und vorwärts wallenden Locken gebildet gewesen? Nun, wir kennen ja ihn in seiner ganzen Gestalt und wir kennen sein göttliches Haupt, wenn auch nur aus kleinen Nachbildungen auf späten Münzen und finden ihn ruhig aufrecht thronend mit erhobenem Haupt und völlig unbewegten Brauen, die Haare nichts weniger als vorwärts wallend, 144

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sondern in den olympischen Kotinoskranz zusammengefasst. Und dieser Kranz selbst, er, der wie uns die Vergleichung bekränzter Zeusköpfe mit unbekränzten lehrt, die plastische Gesammterscheinung des Hauptes so wesentlich bedingt und verändert, stammt er aus Homer? Nein. Oder stammt aus Homer das anstatt der Blitzeswaffe ruhig und einfach in der Linken des Gottes gehaltene Scepter und die Nike auf seiner vorgestreckten Rechten? Gewiss eben so wenig. Vielmehr geht der Kranz von wildem Oellaub in den schlicht herabfallenden Haaren, in denen allein er zur Geltung kommen kann, insbesondere den Cultus und den Mythus von Olympia an und mit Scepter und Nike ist der Zeus des Phidias als Cultusbild des Königs der Götter ausgestattet, bei dem obwaltende Macht und Siegesvollendung ist. Und er sitzt auf seinem mit sinnvoller Bildnerei und Malerei auf’s reichste ausgeschmückten Throne, wie Dio Chrysostomus so unnachahmlich schön sagt, friedselig und ganz still als der Vorsteher der olympischen Spiele und als der Hort des befriedeten und vereinigten, unter seinem Gottesfrieden vereinigten Hellas, während die Horen und die Chariten auf der Lehne seines Thrones rechts und links neben seinem Haupt ihn als den segen- und freudespendenden Vater der Götter und Menschen und wiederum die Sphinxe mit Jünglingen in den Krallen unter den Armlehnen ihn als den Herrn über Leben und Tod bezeichnen. Wie so weit ist hier der Bildner über das homerische Vorbild hinausgegangen, wie unmittelbar hat er aus dem lebendigen Borne des frommen Glaubens an den höchsten Nationalgott seines Volkes geschöpft! Ganz ähnlich verhält es sich mit der Parthenos; wenn Maximus Tyrius hervorhebt, dass sie in keiner Beziehung geringer sei, als die Schilderung Homers, so mag man mit Welcker hinzufügen, dass sie in allen charakteristischen Merkmalen dieser Schilderung entsprochen habe oder ihr ähnlich gewesen sei, obwohl dies der alte Zeuge so recht eigentlich nicht sagt. Aber nicht homerisch ist und nicht aus Homer geschöpft hat Phidias weder die Erfindung der Situation, welche Athena als die nach dem Siege friedfertige Göttin des attischen Landes charakterisirt, unter deren abgesetztem Schilde sich das Symbol des attischen Volkes, die heilige Erichthoniosschlange birgt, noch das reiche und höchst sinnvolle Beiwerk; und wenn die Parthenos in sich die Wesenheit der attischen Athena Polias und der attischen Athena Nike vereinigt, so konnte der Meister eine solche Gestaltung wieder nur aus der heimischen Religion der Göttin, nimmer aus irgend einer homerischen Schilderung insbesondere, noch aus dem homerischen Gesammtbilde der Zeustochter gewinnen. Was aber von diesen beiden Hauptwerken des Phidias gilt, das gilt nicht minder zunächst von seinen anderen Idealbildern, ja zum Theil in erhöhtem Masse von diesen, insofern für diese entweder kein homerisches Vorbild vorhanden war, sie also nur nach Analogie der homerischen Götterschilderungen gebildet werden konnten, wie z. B. die Göttermutter, oder indem sie dem poetischen Vorbild offenbar und absichtlich nicht entsprachen, wie die Aphrodite Urania des grossen Meisters. Und weiter gilt dasselbe natürlich von anderen Idealbildnern neben Phidias und nach ihm und es würde sich, wenn hier dazu der Raum wäre, an einer ganzen Reihe namentlich der von der jüngern attischen Schule geschaffenen Idealtypen 145

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unschwer zeigen lassen, nicht allein, dass sie in gewissen Hinsichten über die Vorbilder der homerischen Poesie hinausgehn, was wohl schliesslich Niemand bestreiten wird, sondern dass ihre Darstellung zum grossen Theile wesentlich andere Ausgangspunkte, d. h. auch diese neben dem in der Poesie gelegenen hatten und dass diese Ausgangspunkte die Religion und der Cultus waren. Hier möge in Betreff dieser Quelle der idealen Götterbildnerei nur noch eine allgemeine Betrachtung gestattet sein. Es muss nämlich vor allen Dingen hervorgehoben werden, dass eine grosse und tiefgreifende Verschiedenheit zwischen den Göttern der Poesie und denen der wirklichen Religion, der Culte der einzelnen Staaten und Tempel bestand. Unnöthig ist es, auf diese, niemals ausgeglichene Verschiedenheit näher einzugehn, da sie namentlich von Welcker ausführlich entwickelt und begründet und in klaren und bestimmten Sätzen ausgesprochen ist; nur zu erinnern ist daran, dass die einzelnen Culte eine Reihe von Beinamen der Götter begründen, welche, an und für sich schon Dogmen in kürzester Fassung, sich auf bestimmte religiöse Anschauungen von den Gottheiten beziehn, die nicht selten von der poetischen Vorstellung weit seitab liegen, ja ihr schnurstraks widersprechen, dass aber für die Religion diese Beinamen in den meisten Fällen eine ungleich grössere Bedeutung haben, als der scheinbar eigentliche oder Hauptname, welcher, als der von der Poesie getragene, sehr häufig Nichts ist, als der Ausdruck für eine Religions- oder Mythencombination und Nichts mehr darstellt, als eine nur scheinbare, für den Cultus aber so gut wie völlig gleichgiltige Einheit gegenüber einer thatsächlichen Vielheit und Verschiedenheit. Ist dem aber so, so muss wohl einleuchten, dass neben dem aus der Poesie geschöpften und aus ihr entwickelten Grundideal einer Gottheit die Cultusbilder derselben sich als eben so viele Modificationen dieses Grundideales ergeben müssen. Man glaube nur aber nicht, dass diese Modificationen rein äusserlich oder dass sie künstlerisch unbedeutend waren; sie sind dies so gewisslich nicht, so gewiss sie aus einer bestimmten religiösen Anschauung stammen und durch eine solche, die grade so gut künstlerisch verkörpert und verwirklicht werden soll wie die poetische, bedingt sind. Mag auch der Cultusbeiname und die besondere Cultusanschauung in vielen Fällen zunächst äusserlich in gewissen Attributen sich aussprechen, welche das Wesen der dargestellten Gottheit zeichenweise für den Gedanken hervorheben; aber bei der Beilegung gewisser Attribute oder bei deren Veränderung und Vertauschung mit anderen durfte kein Bildner stehn bleiben, welchem die Aufgabe zufiel, einen Cultustypus aufzustellen oder einen solchen aus dem auf das poetische Ideal gebauten Grundtypus herzuleiten und von diesem zu unterscheiden, durch blosse Attributveränderung wurde nimmermehr ein Zeus Olympios zu einem Keraunios, Dodonaeos, Philios, nimmermehr ein Kitharoede Apollon zu einem Hekatebolos, Soter, Boёdromios, eine Jägerin Artemis zu einer Hymnia, Hegemone, Locheaea, ein Hermes Enagonios zum Logios oder Agoraeos. Der Attributveränderung folgt diejenige der Bekleidung und Gewandung, dieser diejenige der Stellung und Bewegung, der Körper- und Gesichtsbildung, des Ausdrucks. Und so wie dies Alles unmittelbar bedingt wird durch die Idee des Cultus, so beruht es auf einer durchaus neuen und selbständigen künstlerischen Idealvorstellung und man darf es nicht als ein Geringeres hinstellen, das Cultusidealbild, in welchem die gläubige Gemeine 146

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eines bestimmten Locales und Tempels grade ihren so und so benannten, so und so wirksamen, so und nicht anders in der Glaubensanschauung lebendigen Gott erkennen sollte und erkannte, aus eben dieser Glaubensvorstellung oder auch mit allen zur besondern Charakteristik erforderlichen Modificationen aus dem auf der Poesie beruhenden, allgemeinen Idealtypus abzuleiten und zu entwickeln, als es ist, den künstlerischen Idealtypus aus dem poetischen Vorbilde zu verwirklichen. Ja unter Umständen dürfte zu dem Erstern mehr künstlerischer Takt und grössere Feinfühligkeit gehören, als zu dem Letztern, in gewissen Fällen dürfte die Aufgabe, ein religionsgemässes Cultusbild und dennoch ein Idealbild zu schaffen, schwieriger, die Lösung dieser Aufgabe geistreicher und für uns überraschender sein, als diejenige, welche wir in der plastischen Verwirklichung des poetischen, selbst schon gleichsam plastischen, jedenfalls schon künstlerisch empfundenen Vorbildes erkennen. Und so möge schliesslich nur noch darauf hingewiesen werden, wie gross in allen Staaten und Städten von Hellas die Zahl der Culte und der für diese religionsgemäss zu gestaltenden Tempel- und Cultusbilder war, ja dass diese Zahl diejenige der frei nur nach dem poetischen Vorbilde geschaffenen, cultlosen, in Anathematen und sonst als Theamata aufgestellten Götterbilder weit überstieg, um mit allem Gewichte fühlbar zu machen, von welcher tief eingreifenden Bedeutung neben der Poesie zunächst und zu oberst die wirkliche Religion und der Cultus für die Gestaltung der Götterideale der griechischen Kunst gewesen ist. Neben die Einflüsse, welche das poetische Vorbild und welche die Religionsund Cultusanschauung auf die Gestaltung des Idealbildes in jedem einzelnen Fall ausübt, treten sodann drittens diejenigen, welche von anderen, namentlich früheren Kunstwerken ausgeübt werden. Kein Idealbild entsteht an und für sich, keines wird von dem Künstler als ausschliesslich freie Schöpfung seiner Phantasie aus den Elementen der Poesie und der Religion abgezogen, wie auch dies Dio Chrysostomus ganz richtig angedeutet hat. Die Kunst beginnt nicht mit dem Idealbilde, sondern es geht diesem eine Reihe von Darstellungen der Götter voraus, welche freilich ohne künstlerische Charakteristik, wenigstens ohne feinere der göttlichen Wesenheit und Individualität beginnt, in welcher aber die Bilder im Fortschritte des künstlerischen Vermögens unter dem stetig fortwirkenden Einflusse der Religion und unter dem eben so stetig wachsenden Einflusse der poetischen Vorbilder mehr und mehr charakteristisch werden und eine gewisse Summe des künstlerischen Ausdrucks für die göttlichen Wesenheiten und Individualitäten der technisch zur Meisterschaft gelangten Idealbildnerei überliefern, welche diese einmal weil sie Zutreffendes enthält und sodann weil sie die populäre Vorstellung mehr oder weniger beherrscht nicht aufgeben oder vernachlässigen kann, noch dies zu thun Anlass hat. Wie wenig spröde und ablehnend ganz im Gegentheile sich in der That die griechische Idealbildnerei gegenüber der ältern, dem Ideal erst zustrebenden Kunst verhalten hat, das kann uns schon Dios, durch die neuere Forschung glänzend bestätigte Einsicht von der Abhängigkeit selbst eines Phidias’schen Zeus von älteren Kunstwerken lehren, das zeigt uns aber in noch viel deutlicherer Weise und in überraschendem Umfang eine streng historische Betrachtungs- und Behandlungsweise der Kunstmythologie. Und eine solche Betrachtungsweise lehrt uns auch, dass die vollendete 147

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Idealbildnerei aus der ältern Kunst keineswegs, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, nur Aeusserliches in der Bildung der Typen übernommen hat, sondern dass zum Theil sehr bedeutende und echt künstlerische Gestaltungsmomente aus der ältern in die vollendete Kunst hinübergegangen sind und dass auf mehr als einzelnen Gebieten eine ununterbrochene Continuität der Gestaltungsentwickelung durch die ganze Geschichte der Kunst vorliegt. Denn was von der frühern Idealbildnerei gegenüber der archaischen Kunst gilt, das gilt natürlich in noch ungleich höherem Grade von der spätern Idealbildnerei gegenüber derjenigen der ersten Blüthezeit. Es ist ja von der Macht eines einmal erreichten, höchsten Idealtypus der zum kanonischen wird, schon in älterer Zeit viel geredet, schon oft darauf hingewiesen worden, dass kein nachfolgender Künstler ein einmal als mustergiltig erkanntes Ideal in seinen Grundzügen wieder zu verlassen und etwas durchaus Verschiedenes an die Stelle zu setzen im Stande ist. Und in der That ist die ganze antike und fast die ganze moderne Kunstgeschichte ein grosser Beweis von der Richtigkeit dieser Behauptung. Aber auch solche Idealbilder, welche erst in der spätern Zeit ihre Vollendung fanden und selbst diejenigen, welche in der spätern Zeit zuerst gestaltet wurden, kann man grade so wenig von den Einflüssen der ältern Idealbildnerei unabhängig denken wie diese von der archaischen Kunst unabhängig ist. Die erst später vollendeten Typen mussten an die Bestrebungen und Leistungen der ältern idealen Darstellungen fortbildend und umgestaltend anknüpfen, schon deshalb, weil diese älteren Darstellungen Elemente der religiösen Anschauung enthielten, die nicht, am wenigsten plötzlich aufgegeben, sondern nur zu Gunsten einer mehr dem poetischen Vorbild entsprechenden Darstellung zurückgeschoben werden konnten. Und endlich die in jüngerer Zeit ganz neu erfundenen Typen, sofern man solche überhaupt anerkennen will, werden, wenn auch nicht durch ein bestimmtes älteres Vorbild, so doch durch die Analogie der gesammten ältern Idealbildnerei bedingt und beherrscht. Rechnet man endlich dazu noch die Einflüsse, welche gleichzeitige Künstler und Schulen herüber und hinüber, zum Theil in erklärtem Wettstreite auf einander ausüben, so wird man die Richtigkeit der Behauptung, dass kein Idealbild an und für sich entsteht, sondern dass bei jedem die Einflüsse anderer Kunstwerke zur Geltung kommen, im vollen Umfange zu würdigen im Stande sein. Gegenüber der soeben betonten und näher beleuchteten Abhängigkeit jedes idealbildenden Künstlers von früheren und gleichzeitigen Mustern ist nun als auf ein viertes Moment von Bedeutung bei der Schöpfung idealer Götterbilder auf die künstlerische Eigenart zu verweisen, welches nicht weniger, als die bereits besprochenen von unserem antiken Führer erkannt worden ist, einmal indem er hervorhebt, dass die Künstler, obgleich sie das Meiste gemäss dem Mythus und der Poesie machen, doch auch gewisse Dinge aus sich selbst in ihre Werke hineintragen und sodann indem er geltend macht, dass derjenige Künstler, welcher über Andere an Schönheit, Würde und Grossartigkeit seiner Werke hervorragt, der beste Götterbildner zu nennen sei. Nur ist von diesen Bemerkungen, so richtig sie sind, die erstere zu unbestimmt und die letztere nicht erschöpfend. Die Eigenart des Künstlers, seine individuelle Begabung kommt am allgemeinsten in Frage wo es sich darum handelt, 148

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ob ein Künstler überhaupt fähig ist, ein Idealbild im eigentlichen Sinne des Wortes zu schaffen oder nicht. Und diese Fähigkeit kann ja nicht allen Künstlern zugesprochen werden, selbst nicht allen denen, aus deren Werkstatt Götterbilder hervorgegangen sind, mögen sie sonst auch mit dem feinsten Sinne für Schönheit begabt, Meister der Form und der Technik sein. Denn während Phidias glücklicher und grösser in der Darstellung göttlicher als menschlicher Gegenstände genannt wird ist dem Polyklet, so viel wir wissen, nur ein Mal der grosse Wurf gelungen, in seiner Hera ein wirkliches Idealbild zu schaffen und es ist sehr die Frage, ob unter den Götterbildern z. B. eines Myron auch nur eines auf den Namen eines wirklichen und ganzen Idealbildes Anspruch gehabt hat. Weiter aber bestimmt die individuelle Begabung des Künstlers entweder sei es die Wahl des Gegenstandes, sei es die Uebernahme eines Auftrages oder sie bedingt die Meisterlichkeit und Vollendung in einer Richtung und in einem Kreise, während das ausserhalb dieser Richtung und dieses Kreises Liegende an der Mustergiltigkeit nicht in gleichem Mass Antheil hat. Drittens gilt auch hier das alte Wort: Wenn Zwei dasselbe thun ist es nicht dasselbe; die Eigenart des Künstlers wird sich trotz allen sein Werk bedingenden und modificirenden Einflüssen, trotz der grundlegenden Glaubensanschauung seines Volkes und seiner eigenen, trotz dem poetischen Vorbild und der Rücksichtnahme auf andere Kunstwerke, dennoch in seinen Werken, in der ihm eigenen Auffassung der zu gestaltenden Elemente der Religion und der Poesie, in dem ihm eigenen Formenausdruck, in seinem persönlichen Stile geltend machen. Ein Phidias mit seiner überragenden Würde (σεμνότης) und Grossartigkeit (μεγαλοπρέπεια), ein Meister der massvoll vollendeten, strengen Schönheit wie Polyklet, Künstler voll leidenschaftlich bewegter Phantasie wie Skopas und Praxiteles und ein so streng hieratischer Meister wie der Messenier Damophon sind nicht allein einer und derselben Aufgabe, sondern der Religion selbst und der Poesie, dem Homer und den aus ihm stammenden nationalen Göttervorstellungen gegenüber in sehr verschiedenem Verhältniss zu denken und ihre Werke stehn zu diesen ihren Quellen und Vorbildern in einem nicht minder verschiedenen Verhältniss, ohne dass man deswegen behaupten dürfte, nur die Werke des Einen oder des Andern seien wirkliche, der Religion und der Poesie gemässe Idealbilder. Denn eine solche Behauptung würde einerseits durch die Urteile der Alten, welche die Schöpfungen der verschiedenen Meister aesthetisch und religiös als giltige Typen anerkennen und andererseits durch die erhaltenen Monumente widerlegt werden, von denen uns nicht nur die Schöpfungen einer Periode und Schule, sondern diejenigen sehr verschiedener Zeiten und Kunstrichtungen als die Verwirklichungen und Erfüllungen zunächst des poetischen Ideales erscheinen, welches wir leichter und vollständiger zu beurteilen vermögen, als das religiöse. Aber grade in dieser so gleichartigen Lösung so verschiedener Aufgaben durch verschiedene Meister kommt die Macht der künstlerischen Eigenart zur Geltung. Phidias mochte den Vater der Götter und Menschen in seinem olympischen Bilde so hinstellen, dass, wie Dio sagt, Niemand der dieses gesehn sich leicht eine andere Vorstellung von Zeus bilden konnte, derselbe Meister mochte in gleicher Vollkommenheit dem Vater die erhabene Tochter zur Seite 149

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stellen, aber erst ein Praxiteles konnte das griechische Pantheon mit einem eben so echten und vollendeten Bilde der Aphrodite bereichern und auch die ewige Jugend des Apollon, die Jägerin Artemis, Hermes, Dionysos u. A. nehmen erst unter den Händen der Meister der jüngern attischen Schule ihre unvergängliche Gestalt an. Dies führt nun zugleich zur Erwägung des fünften und letzten Momentes hinüber, welches bei der Entstehung des idealen Götterbildes in Frage kommt, ich meine den Einfluss der verschiedenen Zeiten, ihres Geistes und ihres Stiles. Nicht Phidias individuell war unfähig das Ideal der Aphrodite und des Eros, des Dionysos und der Artemis zu vollenden, seine ganze Periode war diesen Aufgaben nicht gewachsen, welche erst die folgende, ganz anders gestimmte und gebildete Zeit sich stellen und erst diese endgiltig lösen konnte. Aber nicht nur die Wahl der Gegenstände ist periodenweise verschieden, auch die Art ihrer Auffassung und Gestaltung ist es, wie dies durch eine grosso, den Reichthum der uns vorliegenden Bildungen begründende Reihe von Fort- und Umbildungen der Grundtypen bewiesen wird, Modificationen, denen man einen verschiedenen Grad von Giltigkeit gegenüber der aus der Religion und dem Cultus abzuleitenden Idee der Gottheiten und gegenüber dem höchsten poetischen Ideale zusprechen mag, deren Berechtigung man aber gegenüber den Wandelungen der Religion selbst und der Poesie als Ausdruck des religiösen Empfindens nicht wird in Abrede stellen können. Wenn nun aber das, was ich hier darzulegen versucht habe, auch nur in der Hauptsache richtig ist, wenn man demnach anerkennt, dass bei der Darstellung der idealen griechischen Götterbilder ausser dem Vorbild in der Poesie die Religion und der Cultus, das Muster anderer Kunstwerke, die Eigenart der Künstler und der Geist der verschiedenen Perioden zusammengewirkt haben, so erscheint einerseits die Stellung der Künstler gegenüber den Aufgaben der Idealbildnerei als eine wesentlich andere, als wenn man sie nur beschäftigt denkt, die Anschauungen Homers als die am meisten national gewordenen für das Auge in glänzende Bilder umzusetzen und andererseits wird man nicht verkennen, dass auch die Stellung des griechischen Volkes zu den idealen Bildern seiner Gottheiten, sofern diese zu der Religion selbst in einem unmittelbaren Verhältniss stehn, eine wesentlich andere sein musste, als wenn sie Nichts gewesen wären, als eine plastische Wiedergabe des poetischen Götterthumes, gegen welches sich Philosophie und Religion, wenn nicht feindlich und ablehnend, so doch in hohem Grade gleichgiltig verhalten haben. Nur gegenüber den in dem Grunde des religiösen Glaubens so gut wie der nationalen Poesie wurzelnden Götterbildern konnte Dio Chrysostomus mit Recht von einer plastischen Offenbarung des Göttlichen reden, nur von ihnen Winckelmann mit Recht sagen: „Den Weg zum Göttlichen durch die Kunst kannten im Alterthum nur die Griechen“ und Welcker diesen Worten hinzufügen: „Sie konnten das ideale Götterbild nicht blos mit aesthetischem Genuss, sondern auch mit wahrhaft religiöser Stimmung bewundern“. ***

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31. October 1876. Rede des abgehenden Rectors Dr. Johannes Overbeck, Professors der classischen Archaeologie. Bericht über das Studienjahr 1875/76. Hochansehnliche Versammlung! Den Rückblick auf das heute ablaufende akademische Jahr kann ich nicht anders eröffnen, als mit der Erwähnung zweier Erlebnisse, eines hoch erfreulichen und eines tief betrübenden, nicht sowohl unserer Universität insbesondere, als vielmehr der Stadt Leipzig, mit der wir viel zu innig verwachsen sind, als dass wir uns nicht mit ihr freuen und nicht mit ihr trauern und ihre Freude und Trauer nicht auch in unseren Annalen verzeichnen sollten. Freudigst bewegt war die im reichsten und künstlerisch edelsten Festschmucke prangende Stadt Leipzig als vom 5. bis zum 7. September Se. Majestät unser Kaiser als der hochgeehrte und willkommene Gast Sr. Majestät unseres Königs in unseren Mauern weilte. Wie die gesammte Bevölkerung Leipzigs den erlauchten Gründer der Einheit des Vaterlandes empfangen und begrüsst und wie Er selbst diesen Empfang aufgefasst und verstanden hat, das spricht sich besser und klarer, als ich es umschreiben könnte, in dem Briefe aus, welchen Se. Majestät beim Abschiede der Stadt Leipzig hinterlassen hat, und welcher lautet: „Ich kann die Stadt Leipzig nicht verlassen, ohne derselben nochmals auszusprechen, wie sehr Mich der Mir bereitete Empfang erfreut und bewegt hat. Mir ist hier, wo vor 63 Jahren der erste Schritt für die Vereinigung Deutschlands mit blutigen Opfern erkämpft wurde, überall eine so wohlthuende Darlegung der Sympathien für die Einigkeit Deutschlands, verbunden mit einer so warmen und treuen Anhänglichkeit an den Landesherrn entgegengetreten, dass es Mir ein wahres Herzensbedürfniss ist, Meiner freudigen Befriedigung hierüber Worte zu geben. Der Name der Stadt Leipzig ist bisher jederzeit unter den ersten genannt worden, wo es die Ehre und Grösse Deutschlands galt. Ich scheide von hier mit der vollen Überzeugung, dass es ferner und für alle Zeiten so sein wird.“ Unsere Universität aber, so wenig zahlreich sie an jenen Festtagen, mitten in den grossen Ferien vertreten war, so wenig bemerkbar sie demnach auch ihre Gesinnungen an den Tag legen konnte, unsere Universität hat sicherlich das Recht, das ehrende Zeugniss, welches der Stadt Leipzig in den kaiserlichen Worten ausgestellt worden ist, vollinhaltlich auch auf sich zu beziehen. Wenige Wochen vor dieser freudig bewegten Festzeit stand auch unsere Universität trauernd am Sarge des am 15. August verstorbenen Bürgermeisters Koch, eines Mannes, durch dessen Tod die Stadt einen schwer zu ersetzenden Verlust erlitten hat. Es ist nicht meines Amtes und hier ist nicht der Ort, die vielen, glänzenden 151

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Verdienste Koch’s für die Entwickelung der Stadt zu preisen, in der wir unsere werthe und liebe Heimstätte haben, das ist in würdigster und schönster Weise von anderer Seite bei der Todtenfeier geschehen. Wohl aber soll hier nicht unausgesprochen bleiben, dass auch unsere Universität, welche dem Verstorbenen bei seinem Amtsjubiläum vor wenigen Jahren die Würden eines Doctors der Medicin und eines Doctors der Philosophie verliehen hat, in dem Bürgermeister Koch einen warmen und thatkräftigen Freund betrauert, der stets gethan hat, was in seinen Kräften stand, um auch unsere Interessen, welche ja, recht verstanden, mit denen der Stadt untrennbar verbunden sind, zu wahren und zu fördern. Wir leben der freudigen Zuversicht, dass der verehrte Mann, welchen das Vertrauen seiner Mitbürger mit seltener Einmüthigkeit zum Nachfolger des Unvergesslichen berufen hat, auch in seiner Gesinnung für unsere Universität dessen Vorbilde folgen werde. Wende ich mich nun unserer eigenen kleinen Welt zu, so habe ich vor Allem mit Freude der Thatsache zu gedenken, dass der Vertrag zwischen der Stadt und der Universität über einen grössern Arealaustausch und den Verkauf des seitherigen botanischen Gartens nach langen und schwierigen Verhandlungen am 27. Mai d. J. abgeschlossen worden ist. Die Bedeutung dieser Thatsache, auf welche schon mein Herr Amtsvorgänger an dieser Stelle hingewiesen hat, ist für die Fortentwickelung unserer Universität die weitestreichende, indem jetzt nicht allein die Verlegung des botanischen Gartens und die Erbauung eines neuen und anderer Institute unserer Universität ebenbürtigen botanischen Instituts möglich geworden und in seinem Hauptgebäude bereits unter Dach gebracht ist, sondern indem jetzt auch die Herstellung eines neuen zoologischen und eines neuen landwirthschaftlichen Instituts, einer Veterinärklinik und einer Irrenheilanstalt ernstlich in Angriff genommen werden konnte, während zugleich der Platz gewonnen wurde, welcher uns die Annahme des hochherzigen Geschenkes ermöglichte, das uns die Witwe unseres verstorbenen Collegen Czermak in dem von diesem erbauten und ausgerüsteten physiologischen Spectatorium dargeboten hat. Weiter aber tritt die Hoffnung in den Gesichtskreis, welche mich insbesondere freudig bewegt, dass, wenn das zoologische Laboratorium und Museum in seine neubegründete Heimstätte übergesiedelt sein wird, auch die archaeologische Sammlung aus den ihr bisher angewiesenen, in jeder Beziehung unzulänglichen Räumen in solche wird übertragen werden können, welche es möglich machen werden, diese Sammlung und ihr Auditorium den Anforderungen der rasch fortschreitenden Wissenschaft und den gerade in den letzten Jahren besonders reichen und bedeutenden Ergebnissen planmässig unternommener Forschungen und Ausgrabungen entsprechender, als dies bisher möglich war, zu gestalten. In Beziehung auf Neubauten habe ich noch zu erwähnen, dass für die Entbindungsschule auf den Wunsch des Directors derselben, Herrn Geh. Medicinalraths Professors Dr. Credé, durch den Anbau zweier Flügelgebäude an die bereits bestehende Anstalt eine Erweiterung geschaffen worden ist. Ueber die in Angriff genommenen und geplanten grossen Neubauten wollen wir auch einiger Neu- und Umbauten kleinern Umfanges nicht vergessen, welche ebenfalls ihre Bedeutung haben. 152

Jahresbericht 1875/76

„In drangvoll fürchterlicher Enge“, um mit dem Dichter zu reden, haben wir uns bisher nach jedem Stundenwechsel auf der Treppe unseres „Bornerianums“ befunden, über deren schmale und ausgetretene Stufen sich die Auditorien für so und so viel Hunderte von Studirenden füllen und leeren sollten. Es bedurfte nur einer Anregung von Seiten des akademischen Senates bei unserer für das Wohlbefinden der Universität unermüdlich wirkenden Regierung, um diesem Übelstande abzuhelfen und die Mittel herbeizuschaffen, durch welche es möglich wurde, während der Ferien die neue, breite, mit dauerhaften Granitstufen belegte Treppe herzustellen, über welche wir seit dem Beginn dieses Semesters in bequemer und wohlgeordneter Weise hinauf und herab uns bewegen können. Möge sie noch viele Jahre Tausenden nach Tausenden von Studirenden als der weit offene Zugang zu den Hallen der Wissenschaft dienen. Aber noch an einer anderen Stelle staute und drängte sich die Menge unserer Commilitonen je länger in um so bedenklicherer Weise, um die Frühstücksbude im Seitengange des Pauliner Kreuzganges. Diese Frühstücksbude hat ihre gar nicht uninteressante, mit derjenigen unserer Universität zusammenhangende Geschichte. Es ist noch nicht gar viele Jahre her, dass sich die Hungernden auf einen Korb mit Semmeln angewiesen sahen, welcher im Kreuzgange aufgestellt war. Als dieser mit seinen alten Wandmalereien im Jahre 1868 renovirt wurde, da musste die Semmelfrau in den Seitengang weichen, wo ihr ein Büdchen angewiesen wurde, aus dem sie nicht mehr nur belegte und unbelegte Semmel, sondern mancherlei andere gute Dinge, Kuchen und Obst, Boullion und Eier verabreichte, deren Überbleibsel dem Platze nicht eben zur Zierde gereichten. Wenn nun aber jetzt, wo die wesentlich vergrösserte Bude auf den Hof versetzt ist, freilich noch kein Frühstückssalon besteht, wie er dem und jenem als Ideal vorschweben mag, so wird man doch gegenüber dem früher Bestandenen nicht läugnen können, dass wir uns auf dem Wege der Fortschrittes befinden und die Überzeugung gewinnen, dass die akademischen Behörden bereit sind, im Kleinen wie im Grossen die bessernde Hand anzulegen, wo Übelstände hervortreten. Und so soll auch nicht unerwähnt bleiben, dass, wenn nicht allein wir hier in der Aula uns heute leichter verstehn, als dies in früheren Jahren möglich war, sondern auch eine Reihe von Auditorien in diesem unserem Augusteum von dem frühern, störenden Lärm der Strasse, besonders der vorbeifahrenden Wagen befreit ist, wir dies dem schönen Asphaltpflaster verdanken, welches in der Erstreckung des Augusteums und unserer Kirche die Stadt und die Universität mit vereinten Kräften hergestellt haben. Nächst den Neu- und Umbauten ist einiger im abgelaufenen Jahre getroffenen neuen Einrichtungen zu gedenken. Bevor ich mich aber zu dem Gelungenen und Erreichten wende, drängt es mich, eines nicht zu Stande gekommenen Instituts zu gedenken, nämlich der Errichtung einer akademischen Turnhalle, um welche der Senat in einer mit mehreren hundert Unterschriften bedeckten Petition ersucht wurde. So vollkommen der Senat mit dem Inhalte dieses Gesuches übereinstimmte und so gern er demselben entsprochen haben würde, musste er dasselbe doch zu seinem lebhaften Bedauern abschläglich bescheiden, weil es, trotz den eifrigst angestellten Nachforschungen, sich als unmöglich herausstellte, zur Zeit in den 153

Johannes Adolph Overbeck

vorhandenen Räumen der Universitätsgebäude ein Local ausfindig zu machen, welches den Zwecken einer Turnhalle auch nur einigermassen hätte entsprechen können. Erreicht und gelungen dagegen ist die Gründung einer allgemeinen studentischen Krankenkasse, auf deren Grundsätze ich hier nicht näher einzugehen brauche, indem ihre Statuten gedruckt und allen Betheiligten zugänglich sind. Die Praxis eines Semesters kann freilich als unbedingt massgebend nicht betrachtet werden, allein sie giebt doch der begründeten Hoffnung Raum, dass es auch in Zukunft möglich sein wird, durch die Mittel der Krankenkasse jedem unserer Commilitonen, welcher in der Lage ist, sich an ihre Hilfe zu wenden, nicht nur gediegenen ärztlichen Rath, sondern auch alles Weitere zu bieten, dessen er zur Herstellung seiner Gesundheit bedarf. Obgleich die Krankenkasse in erster Linie auf Beiträgen beruht, welche jeder Studirende bei seiner Inscription durch eine sehr mässige Erhöhung der ohnehin nicht bedeutenden Gebühren der Immatriculation1 leistet, so darf doch nicht unerwähnt bleiben, dass der Kasse ein höchst erwünschtes und bereits jetzt in segensreiche Wirksamkeit getretenes Stammcapital beschafft worden ist, einmal aus einer Stiftung in Geld und Actien von Seiten der früher bestandenen studentischen Lesehalle bei deren Auflösung und sodann aus dem Ertrage eines am 18. Juni im Neuen Stadttheater gegebenen Concertes, zu dem sich unsere wackern Arionen und Pauliner mit einer Anzahl der hervorragendsten Künstler unserer Stadt verbunden hatten, einem Ertrage, welcher besonders vermöge zweier höchst bedeutenden Überzeichnungen einiger Plätze zu einem sehr namhaften geworden ist. Den schuldigen Dank, welchen ich schon früher öffentlich gegen Alle ausgesprochen habe, welche an diesem erfreulichen Erfolge betheiligt waren, kann ich hier nur noch ein Mal mit aller Wärme wiederholen. Seit längerer Zeit hatte es der Senat und das Plenum der ordentlichen Professoren schmerzlich empfunden, dass ihm zur Unterstützung bedürftiger nichtsächsischer Commilitonen nur äusserst geringe Mittel zu Gebote standen, da die allermeisten Stipendien, soweit der Senat und das Plenum über dieselben verfügt, stiftungsgemäss, wie billig, für Landeskinder bestimmt sind. Auch diesem Übelstande ist wenigstens in bescheidenem Masse dadurch begegnet worden, dass die ordentlichen Professoren sich vereinigt haben, um die Zahl der von dem jedesmaligen Rector zu vergebenden Privatfreitischstellen von wöchentlich 12, wie bisher, auf wöchentlich 120 zu vermehren, während eine ungenannte Wohlthäterin unter der Devise „Elfriedes Segen“ ein Capital gestiftet hat, aus dessen Zinsen diesen Stellen wöchentlich noch 4 hinzugefügt werden können. Ich kann den lebhaften Wunsch nicht unausgesprochen lassen, dass edelgesinnte Freunde unserer Universität, deren es ja in unserer Stadt nicht wenige giebt, dem Beispiele der erwähnten Dame folgen und zur Erweiterung des segensreichen Insti1

Anmerkung. Die Inscriptionsgebühren betrugen für solche Studirende, welche von Schulen kamen, 20 M. 54 Pf., für solche, die von anderen deutschen Universitäten kamen, 11 M. 29 Pf.; sie sind jetzt um je 46 und 71 Pf., auf 21 und 12 M. erhöht worden, während von jeder Inscription 1 M. in die Krankenkasse eingezahlt wird.

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tuts der Privatfreitische beitragen mögen und bemerke nur noch, dass, wenngleich bei diesen in erster Linie nichtsächsische Studirende in’s Auge gefasst wurden, dennoch Landeskinder, besonders solche, denen das Convict nicht hat bewilligt werden können, von denselben so wenig ausgeschlossen sein sollen, wie sie im vergangenen Semester ausgeschlossen worden sind. Aber nicht allein auf unsere Studirenden hatte sich die Sorge des akademischen Senates zu erstrecken, auch die Lage der Unterbeamten und Diener unserer Universität und ihrer Institute war in’s Auge zu fassen. Dieselben, soweit sie nicht Staatsdienereigenschaft hatten, standen bisher in Betreff ihrer Pensionen und der Pensionen ihrer Frauen und Kinder vollkommen rechtlos da und waren bei ihrer Emeritirung, auch wenn diese nach vieljährigen, treuen und bewährten Diensten erfolgte, auf ein zwischen dem Königl. Ministerium des Cultus und öffentlichen Unterrichts und dem akademischen Senate von Fall zu Fall zu vereinbarendes Gnadengehalt aus dem M. Knaups’schen Stiftungsfonds angewiesen. Es war nicht zu verkennen, dass, ganz abgesehen von der rechtlosen Stellung, die stark anwachsende Zahl unserer Beamten es sehr leicht unmöglich machen konnte, denselben aus den Mitteln des genannten Fonds, welche stiftungsmässig auch noch anderen Zwecken, und zwar diesen in erster Linie zu dienen haben, das entsprechende Ruhegehalt oder ihren Witwen und Kindern die nöthige Pension zu bewilligen. Der akademische Senat hat deshalb das Statut einer Pensionskasse für die Unterbeamten und Diener der Universität und ihrer Institute ausgearbeitet, welches auf dem Princip der allgemeinen Beitrittspflicht und der Zahlung eines sehr mässigen Beitrages seitens der Betheiligten beruht, dessen Summe durch einen festen, von zehn zu zehn Jahren zu normirenden Zuschuss aus dem Knaups’schen Fonds ergänzt wird, welcher sich für die ersten zehn Jahre auf jährlich 5000 M. beläuft. Nachdem diesem Statut, in welchem der Senat bestrebt gewesen ist, die an der Kasse Betheiligten so günstig zu stellen, wie dies nach einer vorsichtigen Rechnung immer möglich war, alle bisher Angestellten sich freiwillig unterworfen haben, ist dasselbe unter dem 30. September von dem Königl. Ministerium des Cultus und öffentlichen Unterrichts bestätigt und vor Kurzem publicirt worden. Diese Publication hat in einer Form stattgefunden, welche ich als einen neuen, nicht unerheblichen Fortschritt in dem Corporationsleben unserer Universität bezeichnen zu dürfen glaube. Bisher herrschte, was vielfach und mit Recht als ein schwerer Mangel empfunden worden ist, selbst über die wichtigsten Vorgänge in unserem corporativen Leben und die bedeutendsten Thatsachen in Beziehung auf dasselbe unter den meisten Mitgliedern der Universität mehr oder weniger vollständige Unkenntniss, weil es an einem Organ fehlte, durch welches solche Dinge zur Kenntniss der Betheiligten hätten gebracht werden können. Ein solches Organ ist jetzt in den „Mittheilungen aus dem akademischen Senat an die Docenten der Universität Leipzig“ geschaffen worden, welche in zwanglosen Nummern je nach Bedarf publicirt werden und alle wichtigen Beschlüsse des Senates und der Facultäten, Verträge mit anderen Corporationen, Nachrichten über Stiftungen zu Gunsten der Universität u. dgl. enthalten sollen. Die bereits erschienene erste und die zur demnächstigen Veröffentlichung vorbereitete zweite Nummer bringen ausser 155

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dem Pensionsstatut einen Auszug aus dem weiterhin nochmals zu erwähnenden Albrecht’schen Testament nebst den Ausführungsbestimmungen zu dessen § 5 und den mit der Stadt abgeschlossenen Vertrag über die Begräbnissstellen für die Mitglieder der Universität und ihre Angehörigen auf dem neuen Friedhofe. Die Erwähnung dieses Letztern führt mich dazu, jetzt der schmerzlichen Verluste zu gedenken, welche uns auch in dem abgelaufenen akademischen Jahre nicht erspart bleiben sollten. Am 3. Februar starb zu Rapallo bei Genua, wo er Genesung von einem Brustleiden suchte, der ausserordentliche Professor der Theologie Herr Lic. theol. u. Dr. phil. Johannes Delitzsch, in welchem unsere Universität einen jungen Gelehrten verloren hat, der zu den schönsten Hoffnungen berechtigte. Schon seine Inauguralschriften kündigten den gewissenhaften, scharfsinnigen und gründlichen Forscher an und in dem, eigentlich ein selbständiges Werk bildenden ersten Bande seines Lehrsystems der römischen Kirche, hat er von dem Grunddogma des Romanismus, von dessen Lehre von der Kirche, eine Darstellung von bleibendem Werthe hinterlassen. Nach menschlichem Ermessen würde er uns länger erhalten worden sein, wenn sein wissenschaftlicher Eifer ihm erlaubt hätte, früher auf seine geschwächte Gesundheit Rücksicht zu nehmen. Am 1. April erlag im hiesigen Krankenhause der ausserordentliche Professor der Medicin Herr Dr. med. Ludwig Merkel einem länger dauernden Leiden. Merkel hat sich besonders durch seine Leistungen auf dem Gebiete der Anatomie und Pathologie der Sprachwerkzeuge und des Kehlkopfes einen anerkannten litterarischen Namen erworben, während er zugleich als praktischer Arzt eine unermüdliche und uneigennützige Thätigkeit entwickelte, welche sein Andenken in weiten Kreisen unserer Stadt zu einem gesegneten gemacht haben. Am 25. Mai standen wir tief trauernd am Grabe des am 22. desselben Monates plötzlich und unerwartet aus diesem Leben abgerufenen emeritirten ordentlichen Professors der Jurisprudenz Herrn Geh. Hofraths Dr. jur. Wilhelm Eduard Albrecht, eines Mannes, welchen seine ganz eminente Begabung als Lehrer während der 30 Jahre, welche er hier wirkte, zu den hervorragendsten Zierden unserer Hochschule gemacht hat, während die Reinheit, die Festigkeit und der Adel seines Charakters, welche sich nicht nur bei Gelegenheit des allbekannten Verfassungsbruches von 1837 in Hannover, bei welchem Albrecht zu den sieben verfassungstreuen Professoren der Universität Göttingen gehörte, sondern vielfach auch während seines Lebens unter uns bewährt haben, ihn als das leuchtende Vorbild der Gesinnungstüchtigkeit und der Mannestreue erscheinen lassen und seine litterarische Thätigkeit, wenig ausgedehnt wie sie gewesen ist, auf dem von ihm bearbeiteten Gebiete bahnbrechend gewirkt hat. Unsere Universität aber hat noch einen ganz besondern Grund, das Andenken Albrechts zu feiern und in den höchsten Ehren zu halten, indem sie von ihm nicht nur zu seiner Universalerbin eingesetzt worden ist, sondern indem er in seinem Testamente über die bedeutenden Summen, welche er der Universität hinterlassen, in einer Weise verfügt hat, welche von seiner regen und einsichtsvollen Fürsorge für die Interessen derselben nach verschiedenen Seiten das lautest redende Zeugniss ablegt. Dem Universitätswitwenfiscus hat Albrecht im § 4 seines Testa156

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mentes den Betrag von 90,000 M. zugewiesen, aus dessen Zinsen die Pensionen der Witwen verstorbener Professoren um ein Namhaftes erhöht werden können, während er im § 5 den ganzen Rest seines nachgelassenen Vermögens, welcher sich nach Abzug verschiedener wohlthätiger Legate auf die Summe von rund 250,000 M. beziffert, für den dreifachen Zweck der Unterstützung 1) solcher Studirenden, welche die Absicht haben, sich bei uns zu habilitiren, 2) von Privatdocenten unserer Universität und 3) von im Dienste der Wissenschaft unternommenen Reisen von Professoren und Docenten der Universität Leipzig bestimmt hat. Mit der nähern Ausführung dieser Bestimmungen aber hat der Verstorbene drei Männer betraut, welche ihm im Leben besonders lieb und werth gewesen sind und wir werden nicht zweifeln, dass das Ergebniss der Arbeit dieser drei Vertrauensmänner, welche demnächst in den „Mittheilungen“ veröffentlicht werden wird, in allen Stükken den edeln und hochherzigen Absichten Albrechts entsprechen und dass seine Stiftung unter uns den mannigfaltigsten Segen verbreiten wird. Ich handele gewiss in Ihrer Aller Sinne, wenn ich diese hochansehnliche Versammlung ersuche, sich zu Ehren des Gedächtnisses Eduard Albrechts von ihren Sitzen zu erheben. – Am 14. Juni wurde uns durch einen nicht minder jähen Tod der ordentliche Professor der historischen Hilfswissenschaften Herr Dr. phil. Heinrich Wuttke entrissen, welcher unserer Hochschule seit dem Beginne seiner Lehrthätigkeit, allein als Ordinarius 28 Jahre hindurch angehört hat. Der Vielseitigkeit die Wuttke auf dem Gebiete seiner Wissenschaft anstrebte und erreichte, der eifrigen Theilnahme an den politischen und socialen Bewegungen der Gegenwart entsprach eine unermüdliche Arbeitskraft, welche der Erholung und Zerstreuung nicht zu bedürfen schien. Was er als Schriftsteller der Welt bekannt gegeben, hat lange nicht die Sammlungen und Aufarbeitungen erschöpft, welche er hinterlassen hat. Als akademischer Lehrer zeichneten ihn ein frischer Eifer, die Schlagfertigkeit der Rede und ein immer bereites Wohlwollen aus, das er der akademischen Jugend gern entgegentrug. Aus dem Kreise unserer Studirenden verloren wir im verflossenen Studienjahre 13. Wenn wir derselben hier auch nicht im Einzelnen gedenken können, so wollen wir doch nicht vergessen, welche Fülle von Hoffnungen mit diesen 13 Jünglingen in ein frühes Grab gesunken und wie manche schmerzliche Lücke durch ihren Tod in die Kreise der Ihrigen gerissen worden ist. Auch sie mögen in Frieden ruhen. Ausser diesen von uns Allen beklagten Verlusten habe ich derjenigen zu gedenken, welche wir durch den Abgang aus dem Verband unserer Professoren und Docenten erlitten haben, Verluste, welche wir immerhin als solche empfinden, welche wir aber nicht beklagen können, da es eine nicht allein natürliche, sondern erfreuliche Erscheinung ist, dass grade von einer grossen Universität wie die unserige als Pflanzstätte alljährlich eine Anzahl junger tüchtiger und bereits bewährter Kräfte hinausgehn in alle Lande, um sich einen Kreis erhöhter und erweiterter Wirksamkeit zu suchen und zu schaffen. Von unseren ausserordentlichen Professoren scheidet der Professor der Medicin Herr Dr. Georg Friedrich Louis Thomas, welcher einen Ruf als ordentlicher Professor der Pharmakologie und Poliklinik in Freiburg i. B. angenommen hat, der Professor der Medicin Herr Dr. Ferdinand Albert Thierfelder, welcher bei uns erst im Laufe des Jahres zum ausserordentlichen Professor be157

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fördert worden war, nun aber als ordentlicher Professor der pathologischen Anatomie nach Rostock gegangen und der Professor Dr. phil. Hinrich Nitsche, welcher an die Forstakademie nach Tharandt berufen worden ist. Aus der Zahl unserer Privatdocenten folgte Herr Lic. theol. und Dr. phil. Wolf Graf von Baudissin einem Ruf als ausserordentlicher Professor der Theologie an die Universität Strassburg. Der erst im Laufe des Jahres bei der medicinischen Facultät habilitirte Dr. med. Eduard Baelz hat einen Ruf als Professor der Medicin nach Jeddo (Japan) angenommen, Herr Dr. phil. Wilhelm Windelband ist als ordentlicher Professor der Philosophie und Nachfolger unseres Wundt nach Zürich übergesiedelt, Herr Dr. phil. Ludwig Mendelssohn als ausserordentlicher Professor der alten Geschichte nach Dorpat, und Herr Dr. phil. Axel Harnack, welcher sich erst im Laufe des Jahres bei der philosophischen Facultät habilitirt hatte, als ausserordentlicher Professor der Mathematik an das Polytechnikum in Darmstadt berufen worden. So wie wir diese jungen Männer mit unseren besten Wünschen in ihre neue und erhöhte Berufsthätigkeit begleiten, so wünschen und hoffen wir aufrichtig, dass sie unserer Universität und auch uns persönlich in der neuen Heimath ein freundliches und treues Andenken bewahren mögen. Ausserdem habe ich zu erwähnen, dass der frühere Privatdocent bei der juristischen Facultät, Herr Appellationsgerichtsrath Dr. Heinrich Dreyer bei seiner Ernennung zum Reichsoberhandelsgerichtsrath zu unserem Bedauern von seiner Stellung als akademischer Lehrer zurückgetreten und dass der Privatdocent bei der medicinischen Facultät Herr Dr. Ernst Kormann von Leipzig weggezogen ist. Aber nicht allein von Verlusten, welche wir erlitten, habe ich zu berichten, sondern auch eines erfreulichen Zuwachses neuer Kräfte zu gedenken. Unter dem 9. October ging uns die erwünschte Kunde zu, dass Herr Professor Dr. phil. Karl von Noorden in Bonn, zum Nachfolger Wuttkes berufen, diesen Ruf angenommen habe und zu Ostern sein Lehramt bei uns antreten werde. Nach den mir von den Facultäten zugegangenen Mittheilungen habilitirten sich bei der juristischen Facultät Herr Dr. jur. Otto Lenel, bei der medicinischen ausser dem schon genannten Herrn Dr. Baelz die Herren DDr. Niemeyer und Fehling, bei der philosophischen ausser dem ebenfalls schon erwähnten Herrn Dr. Harnack die Herren DDr. Eilhard Wiedemann für Physik und physikalische Chemie, Richard Avenarius für Philosophie, Anton Edzardi für die ältere deutsche und die nordischen Sprachen und Litteraturen, Franz Settegast für romanische Sprachen, William Rolph für Zoologie und vergleichende Anatomie, Moritz Trautmann für englische und angelsächsische Sprache und Litteratur und Fritz Schöll für classische Philologie, speciell für griechische und römische Litteraturgeschichte. An Stelle des als Custos an die Universitätsbibliothek zu Halle berufenen Dr. Oskar v. Gebhardt ist Herr Dr. Hermann Meister, früher an der Universitätsbibliothek in Göttingen als dritter Assistent an unserer Universitätsbibliothek angestellt worden. Promovirt wurden in der theologischen Facultät ein Doctor und ein Licentiat, in der juristischen 25 Doctoren, in der medicinischen 52 Doctoren, in der philosophischen ausser zweien Ehrendoctoren, unseren Collegen Fricker und Wundt, 100 Doctoren, während hier 28 Bewerber haben abgewiesen werden müssen. 158

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Von unseren Professoren und Privatdocenten wurden befördert der ausserordentliche Professor der slavischen Sprachen, Herr Dr. phil. August Leskien zum ordentlichen Professor in der philosophischen Facultät, der ausserordentliche Professor der Jurisprudenz Herr Dr. Moritz Voigt zum ordentlichen Honorarprofessor der juristischen Facultät, der Privatdocent Herr Lic. theol. und Dr. phil. Adolph Harnack zum ausserordentlichen Professor der theologischen Facultät, ferner ausser dem schon genannten Herrn Dr. Thierfelder der Privatdocent Herr Dr. med. Richard Hagen zum ausserordentlichen Professor bei der medicinischen und endlich die Privatdocenten Herren DDr. phil. Richard Paul Wülcker, Heinrich Hübschmann und Wilhelm Arndt zu ausserordentlichen Professoren bei der philosophischen Facultät. Was die Statistik unserer Studirenden anlangt, hat mein Herr Amtsvorgänger mit der Vermuthung Recht behalten, die Frequenz unserer Universität werde auf der in raschen Sprüngen gewonnenen Höhe oder Hochebene ein wenig ausruhen und sich einzurichten suchen. Im verflossenen Wintersemester betrug die Zahl unserer rite immatriculirten Studirenden, abgesehen von 107 Personen, welche, ohne inscribirt zu sein, die Erlaubniss zum Besuche der Vorlesungen erhalten hatten, 2925, von denen 939 Sachsen und 1986 Nichtsachsen waren. Im Sommersemester, in welchem unsere Frequenzziffer regelmässig ein wenig nachlässt, zählten wir ausser 73 Hörern 2730 rite immatriculirte Studirende, und zwar 983 Sachsen und 1747 Nichtsachsen. Von diesen 2730 haben bis gestern ihr Abgangszeugniss erhalten oder verlangt 597, wogegen bis ebendahin 797 von mir immatriculirt worden sind, eine Zahl, welche die bisherige höchste Inscriptionsziffer um 66 übersteigt, während die Präsenzliste unserer Studirenden in diesem Augenblicke 2930 aufweist. Von den Neuinscribirten sind 95 Sachsen und 702 Nichtsachsen und nach den Fächern eingetheilt 73 Theologen, von denen 15 zugleich noch ein anderes Fach studiren, 364 Juristen, unter denen 50 zugleich Cameralia studiren, ausserdem noch 6 reine Cameralisten, 72 Mediciner, 27 Philosophen, von welchen 3 noch ein anderes Fach studiren, 99 Philologen, unter denen 2 zugleich ein anderes Fach studiren, 1 Orientalist, 12 Studirende der neueren Sprachen, 60 Studirende der Mathematik und der Naturwissenschaften, 38 der Landwirthschaft, 29 der Pharmacie und 16 der Paedagogik. Aber nicht allein die Voraussage meines Herrn Amtsvorgängers in Betreff der Frequenz unserer Universität, noch ein anderes Wort derselben kann ich erfreulicher Weise als auch für das eben ablaufende Amtsjahr als vollkommen giltig bezeichnen, das Lob, welches er der vortrefflichen Disciplin unserer Studirenden in ihrer weit, weit überwiegenden Mehrzahl gespendet hat. Wenn man erwägt, um was für Fälle es sich bei den allermeisten von dem Universitätsgerichte zu ahnenden Disciplinarvergehen handelt, so wird man mit vollem Rechte das Verhältniss derselben zu der Zahl unserer Studirenden als ein überaus günstiges und höchst erfreuliches bezeichnen dürfen. Haben im Anfange meiner Amtsverwaltung hier und da Ausschreitungen gegen die Organe unserer städtischen Polizei bestraft werden müssen, so fallen diese fast durchweg einer geringen Zahl von fremden Universitäten zu uns gekommener Studirenden zur Last, welche mit unseren Lebensgewohnheiten noch nicht bekannt waren, und wenn zeitweilig gegen einige allzu üppig wuchernde 159

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Zweige des Duellwesens einzuschreiten war, so genügte dies, um in Erinnerung zu bringen, dass die Gesetze für die Studirenden, welche das Universitätsgericht nicht zu discutiren, sondern anzuwenden die Pflicht hat, das Duell verbieten. Schwerere Vergehen, welche mit höheren Strafen zu belegen gewesen wären, sind so gut wie gar nicht vorgekommen, wohl aber bin auch ich an den allermeisten Tagen bei dem morgendlichen Rapporte des Pedellen, wie mir dies mein werther Amtsvorgänger gewünscht hatte, mit dem erquicklichen Grusse: „Auf der Wache ist Nichts vorgefallen“, begrüsst worden. Möge dies nicht nur im nächsten Jahre, nein viele, viele Jahre eben so bleiben, mögen nach mir noch viele Rectoren bei ihrem Abgange mit demselben guten Rechte, wie ich es thun darf und mit derselben glücklich gehobenen Stimmung von der musterhaften Führung unserer Leipziger Studentenschaft Zeugniss ablegen können. Und damit nun an den fröhlichen Anfang das fröhliche Ende sich anknüpfe, lassen sie mich zum Schlusse des festlichen Tages gedenken, an welchem, es war der 18. April, unser verehrter College, Herr Geh. Hofrath Professor Dr. Hänel, das seltene Fest seines 60jährigen juristischen Doctorjubiläums feierte, zu welchem Se. Majestät der König ihm die Würde eines Königl. Geheimen Rathes verlieh, und zu welchem ihm zahlreiche Deputationen von fremden Universitäten und Facultäten, von den Behörden unserer Stadt, von der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften, von früheren und jetzigen Schülern gratulirten, und bei welchem es mir neben den Decanen der vier Facultäten vergönnt war, dem in überraschender Rüstigkeit und in altbekannter Liebenswürdigkeit vor uns stehenden Jubilar die aufrichtigsten und herzlichsten Glückwünsche unserer Universität auszusprechen. Mögen sie alle an ihm in Erfüllung gehn! (Hierauf erfolgte der Bericht über die bei den vier Facultäten eingegangenen Preisarbeiten und die Verkündigung der neuen Preisaufgaben, wie beides in dem Programme des Professors Dr. Lange „De patrum auctoritate commentatio altera“ enthalten ist und sodann die Vereidigung des neuen Rectors und die Übergabe der Amtsinsignien an denselben.) ***

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Carl Thiersch (1822–1895)

31. October 1876. Rede des antretenden Rectors Dr. Carl Thiersch, Professor der Chirurgie und Kgl. Sächs. Geh. Med.-Rath. Altes und Neues über die drei grossen Hospitäler Leipzigs. Hochansehnliche Versammlung! Ein altes Herkommen verlangt, dass der Rector dieser Universität sein Amt mit einer oratorischen Leistung antritt. Während diess sonst in lateinischer Sprache geschah, wurde später, da die Zeiten auch sonst milder geworden, die deutsche gestattet. Trotzdem bin ich in einiger Verlegenheit und muss um Ihre Nachsicht bitten, einmal, weil das Oratorische nicht mein Fach, und dann, weil ich nicht gewiss bin, ob das Thema meiner Rede hinreichende Theilnahme finden wird, um die Mängel meiner Darstellung auszugleichen. Es sind die drei grossen milden Stiftungen Leipzigs, von denen ich einiges aus alter und neuer Zeit berichten will, das St. Johannis-, St. Georgs- und namentlich das St. Jacobs-Hospital, an welchem ich städtischer Oberarzt und klinischer Lehrer bin. Diese Hospitäler verdienen ihre Theilnahme schon vom allgemein menschlichen Standpunkt, insofern die sittliche Cultur einer Epoche, eines Landes, einer Stadt, an der Art, wie für Arme und Kranke gesorgt ist, sich schätzen lässt; denn wer arm und zugleich krank ist, den hat das schlimmste Loos betroffen, ihm muss vor allem geholfen werden. Leipzig hat diese Forderung jederzeit anerkannt und kann die Prüfung ruhig abwarten, um so mehr, da es, abgesehen von den genannten drei Hospitälern, in der mannigfachsten Weise Armen und Kranken zu Hilfe kommt. Das Jacobshospital ist das städtische Krankenhaus Leipzigs, in welchem, unter Mitwirkung der Stadt, die medicinische und chirurgische Klinik untergebracht sind. In seiner jetzigen Gestaltung und an seinem jetzigen Ort besteht das Jacobshospital seit 1871. Vorher waren die Kranken in einer Häusergruppe am Eingang ins Rosenthal untergebracht. Das jetzige Hauptgebäude der Anstalt, ein schlichter Bau, auf sonniger Höhe im Süden der Stadt gelegen, zu Füssen die Gärten des Johannis161

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thales, ist weithin sichtbar. 1864 fertiggestellt, ursprünglich zum Waisenhaus bestimmt, 1866 als Militair-Lazareth verwendet, wurde es 1868 den Zwecken des Jacobshospitales gewidmet. Die Waisen sind dadurch nicht zu Schaden gekommen, denn sie sind nun einzeln in gut empfohlenen Familien der häuslichen Erziehung anvertraut, und die Folgen dieses veränderten Systems für das geistige und leibliche Gedeihen der Kinder sind, wie man hört, durchaus erfreulich. Das Hauptgebäude, das ehemalige Waisenhaus, von welchem die Strasse, worin es steht, bis jetzt noch den Namen führt, bildet jedoch nicht den Glanzpunkt der jetzigen Anstalt. Diesen wird man erst gewahr nach Betreten des Innern. Hier bietet sich dem überraschten Auge ein grosser parkartiger Garten dar, an drei Seiten umgeben von Pavillons in Schweizerstyl mit sonnigen freundlichen Veranden. Jeder Pavillon auf das Beste für 24 Kranke eingerichtet. Luft und Licht, diesen unbezahlbaren, unbezahlten Hilfsärzten, ist hier freie Bahn geöffnet. In diesem Pavillon – oder Barackenbau hat die Stadt Leipzig, als die erste in Europa, im Grossen diejenigen Erfahrungen verwerthet, welche der amerikanische Bürgerkrieg in Bezug auf Pflege und Heilung für Schwerkranke und Schwerverwundete gewonnen. Seitdem sind Dresden, Berlin, München und andere Städte diesem Beispiele gefolgt oder zu folgen im Begriff, aber trotz der mannigfachen Verbesserungen, welche Pavillonoder Barackensystem seitdem im Einzelnen erfahren, glaube ich doch, dass man noch jetzt die Leipziger Anlage für die beste ihrer Art halten darf. So hatten denn 1871 vieljährige Bemühungen, das Beste zu finden, endlich zu einem befriedigenden Abschluss geführt und es ist in dieser Anstalt den Kliniken eine Stätte ihrer Wirksamkeit bereitet, wie man sie besser in Deutschland nicht findet. Mit dankbarem Herzen muss ich hierbei der beiden Männer gedenken, welche, damals an der Spitze des städtischen Gemeinwesens, keine Mühe scheuten, das schöne Werk zu Stande zu bringen, und welche bei den Stadtverordneten bereitwilliges Gehör fanden, als es sich darum handelte, nicht ein Werk des Glanzes, sondern eine Werkstätte der Wohlthätigkeit zu errichten. Der eine dieser beiden Männer war unser unvergesslicher Bürgermeister Koch. Mit dem klaren Verstande, der ihn befähigte, das Gute sofort zu erkennen, auch wenn es in neuer Gestalt ihm entgegentrat und mit einem warmen Herzen für die Armuth fühlend, war es ihm ein Bedürfniss, das neue Krankenhaus als eine Musteranstalt hinzustellen. Lebhaft ist meine Erinnerung an jenen Sommernachmittag, wo er in seiner nun leider verwaisten Villa, in einem kleinen Kreis von Rathsherren mit sicherem Entschluss den vorläufigen Entwurf gestaltete. Damals war auch der zweite der beiden Männer, deren ich dankbar gedenken muss, zugegen, mein hochverehrter Freund, der damalige Vicebürgermeister Herr Dr. Stephani. Ihm wurde die schwere Aufgabe zu Theil, alle Hindernisse zu beseitigen, bis das Werk unter der erfahrenen Leitung des Herrn Rathsbaumeister Dost zum glücklichen Ziele geführt war. Mit welchen Mitteln wird diese Anstalt betrieben und wie ist sie fundirt. Hören wir, was hierüber der Haushaltplan der Stadt Leipzig für 1876 sagt. Die Jahres-Ausgabe beträgt in runder Summe 390,000 Mark, von denen 180,000 Mark als ungedeckt durch Zuschuss aus der Stadtkasse zu zahlen. Setzt man unter die 162

Antrittsrede 1876

Ausgaben noch eine 4 1/2 %ige Verzinsung der Stammanlage, so beträgt die Belastung der Stadt für 1876 270,000 Mark1. Unter den Deckungsmitteln stehen in erster Reihe 165,000 Mark von Kranken eingezahlte Verpflegungskosten, auffallend klein ist dagegen für eine so altehrwürdige Wohlthätigkeitsanstalt der Betrag von 13,816 Mark an Zinsen vom Stiftungsvermögen. In Anbetracht dieser Finanzlage, und in Anbetracht des jährlichen Anwachsens des aus der Stadtkasse zu deckenden Deficites, kann man es einem ohnehin von Steuern hinlänglich heimgesuchten Leipziger nicht übelnehmen, wenn er mit gemischten Gefühlen auf sein vielgelobtes Krankenhaus sieht, ja es sollte mich nicht wundern, wenn es ihm zu Zeiten gleichwie ein Lindwurm erschiene, der früher im Rosenthale gehaust, nun sich im Süden vor den Thoren gelagert und dem die Väter der Stadt als jährlichen Tribut, wenn auch nicht eine Jungfrau, so doch einen wohlgespickten Beutel mit Gold bringen müssen, wenn er die Stadt nicht mit seinem Pesthauch vergiften soll. Leipzig befindet sich mit seinem Krankenhause in gleicher Lage wie andere Städte, wie z. B. Hamburg, Berlin, Dresden etc., bei denen ebenfalls in Folge zu geringer Dotation die Stadtkasse sehr bedeutende Zuschüsse zu machen hat, Zuschüsse, die natürlich mit Zunahme der Bevölkerung wachsen müssen. Vergleichen wir mit den deutschen Hospitälern die Londoner, von denen z. B. das Bartholomäus- und Thomas-Hospital jedes bei wenig grösserem Umfange als unser Jacobshospital, 800 000 Mk. Rente allein aus fundirtem Vermögen bezieht, so tritt uns die deutsche Armuth nur zu grell entgegen2. 1

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Ich habe hierbei die Stammanlage rund zu 2 Mill. Mark geschätzt. Im Haushaltplan pro 1876 ist der Werth auf 1,884,251 M. festgesetzt. Da in dieser Festsetzung meines Wissens die 187I erbauten vier Pockenbaracken zu je 61 Betten, sowie die beiden chirurgischen Sommerbaracken vom Jahre 1874, zu je 24 Betten, nicht mit eingerechnet sind, diese Baracken aber ihrem Betriebe nach zur Stammanlage zu rechnen sind (Ohne die Pocken-Baracken würde bei dem Anwachsen der Bevölkerung eine bauliche Erweiterung nicht zu vermeiden gewesen sein), so wird man den Werth der Stammanlage zu 2,000,000 M. eher zu nieder als zu hoch anschlagen. Zu 4 1/2 % wäre demnach die Stammanlage an die Stadtkasse mit jährlich 90,000 M. zu verzinsen. Der Werth der früher innegehabten Gebäude, des alten Jacobshospitals im Rosenthale, findet sich im Haushaltplane zu M. 166,424.86 angesetzt, und unter den Deckungsmitteln erscheint bei 4 1/2 % Verzinsung die Summe von M. 7,489.12. – Das ist freilich von vorn herein eine bedenkliche Differenz, einer Einnahme von M. 7,480.12 steht eine Ausgabe von M. 90,000 oder wenigstens, wie der Haushaltplan will, von M. 84,791.33 gegenüber. Low’s Handbook of the Charities of London for 1876/77 pag. 135. St. Bartholomew’s Hospital 1123, neu gegründet 1547 für 676 Betten, jährliches Einkommen L. 40 000, hauptsächlich Renten und von Grundeigenthum. Dazu kommen die jährlichen freiwilligen Beiträge. pag. 145. St. Thomas Hospital 1553 gegründet mit 620 Betten, jährliches Einkommen von etwa L. 39 000. Auch Nordamerika hat Stiftungen im grossen Styl und zwar bis auf die neueste Zeit aufzuweisen, so hinterliess z. B. 1873 der Kaufmann Johns Hopkins 6 Millionen Dollars der Stadt Baltimore, von denen 3 Mill. zur Errichtung einer Universität, 3 Mill. zur Erbauung und zum Betriebe eines Hospitales bestimmt sind. Das Hospital wird aus den Zinsen bis 1880 mit einem Gesammtaufwande

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Mag es immerhin thunlich sein, durch Ersparnisse, ohne die hohe Stufe unseres Krankenhauses zu schädigen, die Ausgaben zu vermindern, durch Erhöhung einzelner Verpflegungssätze die Einnahme zu steigern, immer wird das Deficit ein sehr bedeutendes bleiben, weil eben die Dotation eine zu geringe ist. – Jedenfalls verdienen derartige Bestrebungen, die Finanzlage zu verbessern, die Unterstützung Aller, welche es gut mit der Stadt meinen. Wäre das Jacobshospital statt mit 276 000 mit 6 Millionen Mark dotirt, so könnte die Verzinsung der Stammanlage und der Betrieb ohne Belastung der Stadtkasse gedeckt werden. Dass dies jemals der Fall sein werde, ist nicht zu erwarten, ja selbst ein mässiges Anwachsen der Stiftungsmittel ist fraglich, seit sich die öffentliche Meinung dahin festgestellt zu haben scheint, dass für die Bedürfnisse des Jacobshospitals die Stadtkasse unter allen Umständen aufzukommen habe. So kommt es, dass der fortwährend reich fliessende Strom milder Schenkungen, am Jacobshospitale vorbei, sich in zahlreiche kleine und grosse Special-Rinnsale vertheilt. Die Entbindungs-Anstalt, das Taubstummen-Institut, die Augenheilanstalt, die Blindenanstalt, das Hennig’sche Kinderspital etc. etc. sind ganz oder theilweise das Werk milder Stiftungen. Zwar sind unsere drei grossen Hospital-Stiftungen noch aus katholischer Zeit mit den Namen der Heiligen geschmückt, denen sie gewidmet waren, aber die Heiligen haben sich zurückgezogen, sie haben ihre Fürbitten, die durch milde Stiftungen erfleht wurden, eingestellt, und ein protestantisches Gemeinwesen wie Leipzig bleibt auf seine eigenen Kräfte angewiesen. Zu dieser Ueberzeugung gelangt, schien es mir wichtig, den Grund kennen zu lernen, warum von den drei grossen milden Anstalten Leipzigs gerade das Jacobshospital, dessen Namen auf ein besonders hohes Alter hinwies, so gering fundirt sei. Das Vermögen des Johannishospitals beträgt 3 922 859 M. Das Georgenhospital und Waisenstift besitzt 1 297 100 M. Das Jacobshospital 312 695 M. 7 Pf. – vide: Die Finanzen der Stadt Leipzig 1865–1875, I. Heft des Verwaltungsberichtes der Stadt Leipzig pro 1865–1875 von Premierlieutenant a. D. Ernst Hasse, Director des statistischen Bureaus der Stadt Leipzig. Um die Ursprünge dieser Stiftungen zu entdecken, muss man weit zurückgehen in der Geschichte Leipzigs. Dass wir uns hier in Leipzig auf altem wendischen Grund befinden, ist wohl Ihnen Allen bekannt. Nicht Allen vielleicht, dass der Landstrich zwischen Pleisse und Mulde Serbien3 hiess und dass Lipzk eine alte serbische oder sorbische Ansiedelung

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von 1 Mill. Doll. für 400 Betten fertig gestellt sein. Das Hospital wird unter anderem ein eigenes Gebäude für 20 medicinische Practicanten und ein zweites für 66 Wärterinnen und Schülerinnen besitzen. Reports and Papers relating to Construction and Organization of the Johns Hopkins Hospital by John S. Billing Asst. Surg. U. S. A. – Baltimore 1876. Die Chronisten schreiben „Sirbia“ oder „Sorbia“, was etymologisch dasselbe ist wie „Serbia“. Die Wenden nennen sich noch heutigen Tages „Serb“. Der Landstrich jenseits der Mulde wird von den Chronisten „Dalaminzien“ oder ähnlich genannt. Dies erinnert an „Dalmatien“, hat aber damit nichts zu schaffen, denn das Land an der Adria hiess längst schon Dalmatien, ehe es die Slawen erreicht

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war. Die Unterwerfung und Christianisirung dieser Serben wurde von den sächsischen Kaisern in der damals üblichen summarischen Weise besorgt und erwies sich als ein schweres Stück Arbeit, denn die damaligen Serben waren schwer zu behandeln, wie ihre heutigen Namensvettern an der Donau. Unter dem Schutze kaiserlicher Burgen entstanden deutsche städtische Ansiedelungen, die Besiegten wurden hörig und ihr Landbesitz Deutschen zu Lehen gegeben. Die Deutschen sitzen hier als Eroberer. An wendisches Volksthum erinnern nur noch Namen, Trachten und Gebräuche, die Hussiten waren die letzten Slawen, welche verheerend in unser bereits deutsches Land einbrachen. Unser Besitz ist fast tausendjährig. Dennoch mag der Tag kommen, wo es einer starken Hand bedarf, um slawische Reunionsgelüste abzuwehren, und wenn einst das panslawische Minimum, welches Sturm verkündet, sich nach Westen in Bewegung setzt, werden wir unsern Besitz und unser Volksthum erfolgreich nur als Glied eines grossen einträchtigen Reichs vertheidigen können. Aus der Zeit des Kampfes lassen sich, wie zu erwarten, keine milden Stiftungen nachweisen, aber als ältestes Denkmal des vordringenden Christenthums tritt uns die Kirche und Parochie von St. Jacob entgegen, nicht in Leipzig selbst, sondern in einer wendischen Ansiedelung jenseits der Pleisse, jetzt Naundörfchen genannt. Die Sage will, dass der heilige Winfried hier als der Erste das Evangelium gepredigt, die historische Kritik will jedoch hiervon nichts wissen und lässt ihn höchstens bis zur Unstrut gelangen4. – Die Jacobskirche5 war eine Filiale des BenedictinerSchotten-Klosters zu Erfurt, unter dessen Jurisdiction sie blieb. Leipzig selbst, Eigenthum der Diöcese Merseburg, wurde von dieser den Meissnischen Markgrafen zum Lehen gegeben, blieb aber in allen geistlichen Dingen dem Bischof von Merseburg unterthan. Von Anfang des 13. Jahrhunderts bekam die Stadt einen vorwiegend klerikalen Charakter trotz des Widerstrebens der Bürgerschaft. Mit der Errichtung des Thomanerklosters 1213 durch den um sein Seelenheil besorgten Markgrafen Dietrich6

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hatten. „Daleminci“ an der Elbe ist wahrscheinlich nur eine deutsche Verdrehung des slawischen Stammnamens „Geomaci“, von denen das heutige „Lommatsch“ bei Meissen seinen Namen hat. Nach einer brieflichen Mittheilung des Herr Prof. Leskien. Cod. diplomaticus Saxoniae regiae herausgegeben von K. Fr. von Posern-Klett. Lps. 1868. vol. VIII. Vorbericht p. IX. Im Cod. dipl. erscheint die Jacobskirche zum ersten Mal in einer Urkunde vom 2. Sept. 1239 (vol. IX. 2. Nr. 12. p. 9). Bischof Ekkehardus entscheidet einen langjährigen Streit, der bis an den Pabst gegangen war, zwischen dem Erfurter Schottenabt und dem Leipziger Thomasstift, wegen des Sprengels der Jacobskirche. Der Jacobspfarrei wurden zugesprochen: „Curiae sive areae, quae inter orientalem partem cimiterii Sancti Jacobi et oppidum Lizpk sunt sitae.“ Cod. dipl. IX. 2. Nr. 2. p. 2, Stiftungsurkunde des Thomasklosters v. J. 1213 – Original im Leipziger Rathsarchiv – ... ad placandam iram superni judicis, quem innumerabilium enormitate flagitiorum a dictus juventutis meae irritasse me verebar ... Der Stifter ist der gleiche Markgraf Dietrich, welcher 4 Jahre später mit dem König Friedrich II. gemeinschaftlich sich der Stadt Leipzig durch einen Handstreich bemächtigte und die Bürgerschaft ihrer Rechte verlustig erklärte. Die Stadt hatte auf welfischer Seite zu Kaiser Otto IV. gestanden, der Markgraf hielt zu den Waiblingern. Aus diesem politischen Gegensatz erklärt sich vielleicht zum Theil die Missgunst, mit welcher die Stadt von

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ging Seelsorge und Schule von den Weltgeistlichen der Nicolauskirche, der ältesten Stadtkirche, an die regulirten Augustiner Chorherrn zu St. Thomas über. Wo wir uns heute befinden, hatte sich der Prädicanten-Orden der Dominicaner zu St. Paulus7 eine Wohnstätte gegründet und mehr und mehr behäbig eingerichtet. Da, wo jetzt die Pleissenburg steht, befand sich das reiche Kloster der Nonnen zu St. Georg8; Nonnenmühle, Nonnenholz erinnern noch daran, und wo jetzt die Neukirche sich befindet, stand das Kloster der Barfüssigen Franciskaner. Diess sind nur die wichtigsten Stifter. Ihr Reichthum und ihre Macht wuchs fort und fort, Thomasmühle, Barfuss- und Nonnenmühle gehörten ihnen, auch die Angermühle zeitweise, sie hatten Wälder, Jagd und Fischerei, ein Dorf nach dem andern kam durch Schenkung oder Kauf in ihre Hand, in der Stadt selbst gehörten ihnen viele Häuser, selbst der Bettelorden der Franciskaner hatte Besitzungen9, deren er sich jedoch, eingedenk seines Gelübdes der Armuth, im 15. Jahrhundert entäusserte, bei welcher Gelegenheit 34 Tagwerk des uns wohlbekannten Rosenthales an die Stadt kamen. Durch die Gründung der Universität 1409 wurde das klerikale Element noch mehr gestärkt, denn die Professoren waren Kleriker, lebten ehelos mit den Studirenden in Collegien zusammen, wie heute noch trotz der Reformation in Oxford und Cambridge. Dass es einer solchen klerikalen Ueberwucherung gegenüber an einer Reaction der allmählig erstarkenden Bürgerschaft nicht fehlte, lässt sich erwarten. In diesem Sinne findet sich ein Raths- und Gemeindebeschluss v. J. 135910, dass kein Leipziger Bürger bei 5 M. Strafe Procurator, Praesentarius oder Inwohner eines Klosters in Leipzig sein dürfe, und vorsorglich wird die gleiche Strafe dem angedroht, der um Erlass dieser Strafe für seinen Freund bitten sollte. Auch mit der Universität gab es manche Streitigkeiten. Derselben waren bei ihrer Uebersiedlung von Prag grosse Privilegien und zum Theil noch bestehende werthvolle Immunitäten verliehen, auch besass sie ihre eigene Gerichtsbarkeit. Sie befand sich in einer ähnlichen Lage wie die grossen Klosterstifte.

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Anfang an der Gründung des Thomasklosters entgegen trat, eine Missgunst, die sogar zu Thätlichkeiten gegen die Bauleute und zur Verjagung des Probstes führte. Vogel, J. J., Leipzigs Geschichtsbuch. Vogel, Chronik p. 138. Der Bau wurde von den Dominicanern 1229 begonnen, mit Genehmigung und Beihilfe der Stadt, 1240 beendigt. Er stand an Stelle einer der von Markgraf Dietrich errichteten Zwingburgen. Vogel, Chronik p. 141. Das Nonnenkloster der Benedictinerinnen zu St. Georg fällt mit seiner Gründung in die Zeit des Bischofs Friedrich von Merseburg 1259–75. Anfangs bestand die Absicht, es an das Thomaskloster anzubauen, durch eine Quermauer getrennt Diess erschien jedoch bedenklich und so wurde den Nonnen ein Platz vor dem Petersthor an der Pleisse angewiesen. 1541 wurde es von den Nonnen verlassen, 1548 abgebrochen. Die Steine wurden beim Bau der Pleissenburg verwendet. Eine Scherzrede des Herzog Albertus zu Sachsen, Grossvater des Churfürst Moritz, über den Reichthum und die Ueppigkeit der drei grossen Leipziger Klöster siehe bei Zinkgreff, Teutsche Apophtegmata, d. i. der Teutschen scharfsinnige, kluge Sprüche, ed. J. L. Weidner, 1644. I, p. 119. Cod. dipl. VIII. p. 33. Raths-Gemeindebeschluss, dass kein Bürger oder Einwohner Vorsprecher eines Ordens oder Klosters in der Stadt sei.

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Um von vielen Händeln11 nur einen kleinen zu erwähnen, so zog sich ein langjähriger Bierstreit hin, bis er 1445 mit einem Vergleich endete. Durch diesen Vergleich wurde festgesetzt, dass dem grossen Fürstencollegium 152 Fass Bier zollfrei zugestanden wurden, dem kleinen 80 und dem Collegium zu unserer lieben Frau oder Frauen-Collegium 46, – Naumburger Bier galt für das Beste. Ueber die Grösse der Fässer und die Zahl der Theilnehmer ist nichts bemerkt. Sogar gegen den Abt12 von St. Thomas und den Bischof von Merseburg setzte die Stadt ihren Willen durch, als diese die 1394 im Rathhause gebaute Capelle nicht weihen wollten. Sie brachten den Pabst Bonifacius IX. auf ihre Seite, was ein gutes Stück Geld gekostet haben mag, und dieser liess die Capelle durch den Bischof Nicolaus von Cathosien weihen. Dass die Klöster es an Almosengeben nicht fehlen liessen, unterliegt keinem Zweifel. An den Klosterpforten wird man auch damals die Armen gespeist haben, ausdrücklich ist beim Thomaskloster eine stupa balnearia13 erwähnt, in welcher die Armen unentgeldlich gebadet, geschröpft und venaesecirt wurden. Aber bleibende Stiftungen im grossen Style für Arme, Kranke und Altersschwache gingen von ihnen nicht aus. Am Johannishospitale haben sie gar keinen Antheil, dieses war niemals ein Kloster. Die älteste Urkunde, die vom Johannishospital Nachricht giebt, ist vom Jahre 127814. Der Krämer Walter hatte nach dieser Urkunde dem Capitel von St. Thomas vier Reudnitzer Joche abgekauft und sie den Leprosen ante valvam Grimmensem verkauft. Schon dazumal bildeten also die Leprosen oder Aussätzigen eine Corporation15. Wie anderwärts waren sie ursprünglich sicher auch hier, ausgestossen wegen ihrer ekelerregenden und für ansteckend gehaltenen Krankheit, in Waldhütten lebend auf die öffentliche Mildthätigkeit angewiesen. In einem englischen Bericht über den Aussatz in Bengalen v. J. 186116 heisst es: „ein Mann, den der Aussatz befällt, ist sofort ein Ausgestossener, Weib und Kind verlassen ihn, er wird zur elendesten Creatur dieser Welt, Niemand ist barmherzig 11 12

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Vogel’s Annalen p. 54. Cod. dipl. VIII. Nr. 102. 1394. 5. Mai. Pabst Bonifacius IX. gestattet dem Rathe, die auf dem Rathhause errichtete Capelle bei fernerem Widerspruche des Probstes zu St. Thomas durch einen beliebigen Bischof weihen zu lassen. – Original im Leipziger Rathsarchiv. Ibid. Nr. 104. 1394. 30. Juli. Bischof Nicolaus von Cathosien weiht die Rathhauscapelle. Cod. dipl. IX. Nr. 53. 1301. Der Rath spricht seine Zustimmung dazu aus, dass die von Landgraf Dietrich dem Kloster geeignete Badestube von landesherrlichen und städtischen Erhebungen befreit bleibe – stupa balnearia quae Cigelstube dicitur. – Original im Leipziger Rathsarchiv. Cod. dipl. VIII. Nr. 10. 1278. 27. Aug. Original im Leipziger Rathsarchiv. Virch. Archiv. XX. p. 166 u. f. Zur Geschichte des Aussatzes und der Spitäler, besonders in Deutschland von Rudolf Virchow, vierter Artikel. – Der Verf. weist aus dem von Heinr. Beyer herausgegebenen Urkundenbuch zur Geschichte des Mittelrheines (Coblenz 1860. 1. 3. 5) nach, wie weit die organisirten Leproserien zu Verdun, Metz und Maastricht hinaufreichen. Sie erscheinen bereits in einem Testamente, welches der Diakonus Adalgysus, auch Grimo genannt, 636 unter der Regierung des Königs Dagobert zu Verdun hat niederschreiben lassen. Virch. Arch. XXII. p. 314. Ueber den Aussatz der Gegenwart in aussereuropäischen Ländern. Briefl. Mittheilung an den Herausgeber. – Bericht des Hrn. Macnamara zu Mozufferpore in Bengalen.

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mit ihm, Niemand kümmert sich um ihn, und wenn er stirbt, bleibt er unbegraben. Nur bei reichen Aussätzigen kommen Ausnahmen von dieser Regel vor. Viele, nachdem sie durch die Krankheit Finger und Zehen, ja grössere Gliedmaassen verloren, werden eine Beute der Schakals und anderer reissenden Thiere.“ Aehnliches liest man aus China, Japan und anderen Ländern: dass den Aussätzigen im Occident ein besseres Loos beschieden war, verdanken sie der trotz der Rohheit der Sitten zur Geltung kommenden christlichen Barmherzigkeit17. Die Pflege der Aussätzigen, der Sondersiechen, der mit der Miselsucht Behafteten galt für ein Gott besonders wohlgefälliges Werk. So flossen ihnen Schenkungen zu, sie bildeten Corporationen, dann vermehrte sich ihr Besitz durch den Nachlass der in der Corporation verstorbenen reichen Mitglieder. In Frankreich, wo es im 13. Jahrhundert 2000 Leprosenhäuser gab, kamen sie zu solchen Reichthümern, dass Philipp V.18 sich mit dem Gedanken trug, sie als der Rebellion verdächtig auszurotten, um in den Besitz ihrer Güter zu gelangen. Es drohte ihnen das Schicksal der TempelHerren. Unser Leprosenhaus, das Johannishospital, kam frühzeitig in städtische Verwaltung. Eine Urkunde19 von 1391 berichtet von der Ernennung des Verwesers und des Hofmeisters durch den Rath. Die Seelsorge gehörte zu St. Thomas. Als der Aussatz ebenso geheimnissvoll verschwand, wie er gekommen war, wurden die Leprosenhäuser zu Kranken-, Siechen-und Pfründtnerhäusern umgewandelt. Viele gingen auch ganz ein. Das Johannishospital wurde Pfründtneranstalt. Doch habe ich eine Spur gefunden, dass es wenigstens für kurze Zeit auch anderen Kranken offen stand20. 1536 überträgt der Bischof von Merseburg ein Messstipendium 17 18 19

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Curt Sprengel, Versuch einer pragmatischen Geschichte der Heilk. 3. Aufl. II. p. 519. Ibid. p. 520. Cod. dipl. VIII. Nr. 98. 1391, 10. Jan. Bürgermeister und Rath nehmen Albrecht, Pfarrer zu Pomsen, zum Vorsteher, Verweser und Hofmeister im Johannishospitale an: ’also daz er mit hulfe und anwisung eines ratmannes, der ime von uns oder unsern nachkommenden Burgermeyster und ratmannen von jar czu jar czu einem spitalmeystir wird gegeben die Verwaltung führen möge.’ Nach Barthel, Diplomatar. Lips. III. Fol. 57 im Rathsarchiv zu Leipzig. Cod. dipl. IX. Nr. 452. 1536, 28. Nov. Von der Johanniscapelle (Sacellum) heisst es in dieser, im Leipziger Rathsarchiv aufbewahrten Urkunde, dass sie kürzlich vom Rath erbaut worden, „quod ipsi nuper pietate commoti in male affectorum maxime lepra et neapolitana scabie non curabili correptorum hominum gratia exstruxerunt.“ „Böse Krätze“, „neapolitanische Krätze“ war einer der vielen Namen, welche die damals neue Krankheit erhielt. Andere Namen sind „mal frantzos, morbus gallicus, morbus burdigalense, la grosse verole, morbue venereus etc. etc.“ Syphilis wurde sie genannt nach einem allegorischen Epos des Veroneser Arztes Fracastori. Hieronymi Fracastorii, Veronensis, Syphilis, sive morbi gallici liber 1521. Apollo verhängt die Krankheit über den Hirten Syphilus, weil er seinem Könige Alcithous der Sonne zum Trotz Altäre errichtet. – Vid. Geigel, Geschichte, Pathologie und Therapie der Syphilis, 1867. Primus, regi qui sanguine fuso Instituit divina, sacrasque in montibus aras Syphilus, ostendit turpes per corpus achores. Insomnes primus noctes, convulsaque membra Sensit, et a primo traxit cognomina morbus: Syphilidenque ab eo labem dixere coloni.

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der Thomaskirche auf die neuerbaute Kapelle bei St. Johannis. Die Uebertragungsurkunde erwähnt der Leprosen und ausserdem solcher, die an unheilbarer neapolitanischer Krätze leiden. Es ist dies jedenfalls jene Krankheit, welche Ende des 15. Jahrhunderts an die Stelle des Aussatzes trat, ja von Manchen für eine Modification des Aussatzes gehalten wird. Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts scheint das Vermögen der Anstalt ausschliesslich der Altersversorgung gewidmet zu sein. Das Johannishospital ist die einzige milde Stiftung Leipzigs, die aus ihren eigenen Mitteln und mit Ueberschüssen wirthschaftet und, wie eine wohlwollende gut situirte Matrone, oft in Anspruch genommen, um mit Darlehen und Vorschüssen auszuhelfen. Das Georgenhospital wurde von Markgraf Dietrich 1212 gleichzeitig mit dem Thomaskloster gegründet und diesem, wohl dotirt, zum Eigenthum übergeben. Es war von Anfang an ein Krankenhaus, ein Pfründtner- und Siechenhaus und ein „Asyl für Obdachlose“, wie man jetzt sagen würde, damals „Schlafhaus“ genannt. Es scheint aber in den Händen des Klosters seinen Zweck nicht gehörig erfüllt zu haben. 1439 wurde es mit einem Theil der dazu gehörigen Grundstücke und Häuser an die Stadt abgetreten21. Die Stadt errichtete ein neues Georgenhospital, wie es in der Urkunde heisst, „dass man darin bringe und führe arme Lute, die vormals uf den Gassen vor den Husern und allumbe gelegen haben und Niemand herbergen wollte und ihro Nothdurft dorinnen reichen und Pilgerime und enelende Lute herbergen sollte.“ So hatte denn die Stadt zum erstenmal ein eigenes Hospital. Dieses städtische Hospital22 lag bei der alten Burg vor dem Ranstädter Thor und zog sich mit seiner Kirche, seinem Findelhaus und seinem Begräbnissplatz längs der Pleisse hin, anfangend etwa an der Stelle, wo jetzt die zweite Bürgerschule steht. Das erste Jahrhundert des städtischen Besitzes war ein gedeihliches, das Hospital erhielt Schenkungen, der Bürger Martin Leubel23 stellte das neue steinerne Hospital zum grossen Theil auf eigene Kosten her. Ursprünglich Kranken-, Pfründtner- und Schlafhaus, fanden nun auch Findelkinder Aufnahme.

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Das Copiale Magnum der Universität, Nr. 19 Bl. 31, führt eine Urkunde an von 1511, Freitag nach dom. circumissionis: Obligatio Senatus Lipzensis erga Universitatem pro cubiculo et alimentis seorsum in Hospitali St. Johannis pro duobus studentibus. – Zarncke, urk. Quellen z. Gesch. der Univ. Leipz. Abhdlg. d. K. S. Ges. d. Wissenschaften, philolog.-hist. Classe Vol. II. 1837. p. 542. – Ich vermuthe, dass es sich um Syphilitische handelte, denn der Aussatz war soviel wie erloschen. – Der Zusatz ,non curabili‘ lässt vermuthen, dass nur besonders schwere Fälle Aufnahme fanden. Das Jacobshospital hat schon sehr frühe eine besondere Abrechnung über Morbo Gallico Behaftete. Cod. dipl. IX. Nr. 1. 1212. Cod. dipl. VIII. Nr. 204. 1439. 29. Sept. Original im Leipziger Rathsarchiv. Bischof Johannes von Merseburg erklärt seine Zustimmung zu dem auch von dem Landesherrn genehmigten, zwischen Thomaskloster und Rath abgeschlossenen Vertrage in Betreff der Abtretung und des Neubaues des Georgenhospitals. Vom Hospitale heisst es, es sei „armen und siechen Luten, pylgerymmen und fundlingen zum nütcze“. So wird die Lage von v. Posern-Klett bestimmt. Cod. dipl. VII. pag. 155 und 156. Vogel, Chron. pag. 145a.

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154724 wurde Leipzig, welches dem Herzog Moritz gehörte, von dem Churfürsten Johann Friedrich belagert. Es war im Schmalkaldenschen Kriege. Obwohl erfolglos, verursachte die Belagerung grossen Schaden, die Vorstädte und mit ihnen das Georgenhospital wurden von den Vertheidigern selbst zerstört. Damals brannte auch ein Theil des Pauliner Klosters mit einem darin befindlichen Siechhaus ab25. Dieses Siechhaus finde ich sonst nirgends erwähnt und es war wohl nicht von Bedeutung. Neu aufgebaut, wurde das Georgshospital 163l26, als Tilly vor Leipzig lag, neuerdings zu Vertheidigungszwecken zerstört. Seine Stiftung wurde mit dem Johannishospital vereinigt. Es scheint übrigens schon damals aufgehört zu haben, Krankenhaus zu sein. 1668–71 wurden die Stiftungen wieder getrennt, auf dem Grund des Johannishospitals ein neues Haus gebaut, und dieses erhielt den Namen: das neue Hospital zu St. Georgen oder das Zucht- und Waysenhaus27. Wie diese unglückliche Metamorphose zu Stande gekommen, darüber können vielleicht die Rathsacten Aufschluss geben. Allerdings brauchte die Stadt ein Zuchthaus, da sie eigene Gerichtsbarkeit besass; aber das Zuchthaus mit einer milden Stiftung zu vereinigen, wird sich nur mit der Noth der Zeiten entschuldigen lassen. In einer Hausordnung28 dieser milden Stiftung heisst es unter Anderem: „Denen Spitzbuben, männlichen und weiblichen Geschlechtes, wird auf Verlangen der Gerichte und nach Beschaffenheit des Delicti der Willkommen an einer Säule durch einen Gerichtsknecht mit der Karbatsche mit 12, 20, 30 bis 50 Schlägen gegeben.“ Man kann vermuthen, dass so Mancher sich besann, einer solchen milden Stiftung Vermächtnisse zu hinterlassen. Die Hauptbeschäftigung der Sträflinge bestand im Raspeln von Brasilienholz, eine Arbeit die man noch vor wenig Jahren in der Anstalt verrichten sah. Uebrigens an Vielseitigkeit liess die Anstalt nichts zu wünschen übrig; es wurden darin untergebracht: Waisen, Findlinge, verwahrloste Kinder, Pfründtner, Unsinnige, 24

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Vogel, Chron. pag. 145. Schmalk. Krieg. Vogel, Annalen pag. 160. „Den 30. Oct. 1546 ward frühe morgens das herrliche Hospital zu St. Georgen vor dem Ranstedter Thor, nachdem die darin liegenden Kranken und Armen des Tags zuvor in die Stadt geschafft worden, angezündet und in Asche gelegt, und weil das Feuer die starken und festen Mauern zu zwingen und über einen Haufen zu werfen nicht vermochte, liess Herzog Moritz dieselben, damit sie denen Belagerern nicht zu einem Vortheil dienen möchten, vermittelst groben Geschützes demoliren und niederfällen.“ Ebenso wurde die ganze Hallische und Ranstädter Vorstadt abgebrannt. Vogel, Annal. pag. 173. Firmerey oder Siechhaus, wahrscheinlich nur für kranke Pauliner Mönche bestimmtes Hausspital. Vogel, Annal. pag. 448. Vogel, Annal. pag. 733a. Als Bestimmung wird angegeben, Unsinnige zu verwahren, Lüderliche zu bändigen, Waysen zu erziehen, pag. 946. Geschriebene Chronik des Georgenhospitals, im Archiv desselben aufbewahrt und mir von Herrn Inspector Schiller zur Einsicht überlassen, reicht von 1727–1797. Angef. von Caspar Böse, Vorsteher des Hospitals, und von seinen Nachfolgern fortgesetzt. Fol. 18. Auch die H... bekamen diesen „Willkommen“.

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d. h. Geisteskranke, erkrankte Gefangene, Polizeisträflinge, Zuchthäusler, Obdachlose, zeitweise diente es als Kriegslazareth und Entbindungs-Anstalt. Wenn man nicht wusste wohin, musste das Georgenhospital herhalten, ohne Dank dafür zu haben. In der geschriebenen Chronik, welcher ich obige Notiz entnommen, habe ich nebenbei gefunden, wie man es bei der Taufe von Findlingen mit der Wahl des Namens zu halten pflegte. Den Taufnamen lieferten Taufpathen aus dem Hauspersonal, den Familiennamen gab der Fundort. Ein Knabe, bei der Pleissenburg hinter einer Bude gefunden, wurde Martin Bude getauft, ein in der Klostergasse gefundener, Conrad Klostermann. Aber auch in dem 1668 erbauten, auf dem Areale des Johannishospitals befindlichen Zucht- und Waisenhause war kein Bleiben. 1700–170229 wurde eine neue Stätte bereitet am Ostende des Brühl, auf der sich das Georgenhospital im Laufe des Jahrhunderts zu jenem thurmgeschmückten Bau entwickelte, welcher 1871 verschwand, um dem Gebäude der Creditanstalt Platz zu machen, die Raspel musste der Couponscheere weichen. Seitdem sind die Insassen in einem Theile des vormaligen Jacobshospitals untergebracht. Diese Insassen sind polizeilich überwachte Personen, sogen. Correctionäre, oder wie der Sprachgebrauch will Correctioner, einige Sieche, auch Geisteskranke befinden sich daselbst, meist nur zur vorübergehenden Verwahrung. Die Waisen sind, wie gesagt, in Familien untergebracht, die verwahrlosten Kinder kommen in’s Pestalozzistift, die Kranken in’s Jacobshospital, die Züchtlinge sind an den Staat übergegangen, und die obdachlosen Pilgrime haben ihr Schlafhaus in der Thalstrasse. Werfen wir noch einen Rückblick auf die Erlebnisse des Georgenhospitals: 1213 gegründet und dem Thomaskloster zugeeignet, 1439 an die Stadt abgetreten und neu aufgebaut, 1547 zum ersten Mal niedergebrannt und wieder aufgebaut, 1631 zum zweiten Mal niedergebrannt, die Stiftung mit dem Johannishospital vereinigt, 1668 die Stiftung vom Johannishospitale getrennt und als Zucht- und Waisenhaus neu erbaut, 1700 in das im Brühl erbaute schlossartige Haus verlegt, 1871 in die verlassenen Räume des Jacobshospitals gewandert, zu allen möglichen Zwecken benutzt, kann das Georgenhospital wohl als das viel geprüfte Aschenbrödel unserer milden Stiftungen gelten. Ursprünglich ein Krankenhaus, ist es heute in der Hauptsache ein Arbeitshaus. Die Anfänge des Jacobshospitals entziehen sich dem urkundlichen Nachweis. Sogar seine erste Stätte ist unbestimmt. Ein Chronist des vorigen Jahrhunderts30 verlegt seinen Anfang an’s Ende des 15. Jahrhunderts und seine erste Stätte vor das Petersthor, unfern einer Sandgrube. 1566 wurden die ersten Hospitalbauten an der Stelle zwischen Pleisse und Elster aufgeführt, wo die Anstalt 305 Jahre bleiben sollte, und soweit reichen die Rechnungen der Stiftungsbuchhalterei hinauf. 29

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Vogel, Annal. pag. 934. Der Thurm war hauptsächlich ein Werk des Hospitalvorstehers Joh. Ernst Kregel, Vornehmer des Rathes, derselbe stiftete auch später die Glocken hinein. Vogel, Chronik, pag. 147.

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Es war von Anfang an eine rein städtische Anstalt. Durch den Namen St. Jacobshospital verleitet, habe ich mich bemüht, einen Zusammenhang mit der alten Schottenkirche zu St. Jacob im Naundörfchen aufzufinden, meine Bemühung war jedoch vergeblich. Ich habe nur wenig gefunden über die Beziehungen der Stadt zu dem Erfurter Benedictiner Kloster und dessen Filiale, der St. Jacobs-Parochie jenseits der Pleisse. Diese Beziehungen waren nicht immer freundlicher Art, so verklagte z. B. der Erfurter Benedictiner Joh. von Allenblum den Rath von Leipzig bei dem Benedictiner-Abt zu Erfurt wegen einer Geldforderung. Der Abt lud Bürgermeister und Rathsherren ein, vor ihm zu erscheinen, und als sie nicht kamen, that er den Bürgermeister und die Rathsherren jeden einzeln in den Bann und belegte die Stadt mit dem Interdict31. Bürgermeister war Jacob Stendal, Dr. med., und man sieht wenn es auch immer eine Ehre, so war es doch nicht immer angenehm, Bürgermeister von Leipzig zu sein. Diess geschah den 24. Mai 1454, schon den 24. Juli desselben Jahres konnte der Abt Thaddaeus den Bann wieder aufheben, indem der Rath sich bereit erklärte, den Dominus venerabilis Johannes von Allenblum zu befriedigen32. So gross war auch damals die Macht der Kirchenstrafen. Noch 1483 wird der Rath33 vom Erfurter Schottenabt auf Veranlassung des Pfarrers zu St. Jacob wegen Eingriffs in des Pfarrers Gerichtsbarkeit bei dem landesherrlichen Gericht verklagt, aber schon 1484 verkaufte der Erfurter Schottenabt alle seine Rechte und sein Eigenthum an der St. Jacobskirche, auf XIV curiis et areis haftend, an den Rath für 300 fl., deren er „in amaritudine animi sui“ dringend bedurfte, um sein verfallendes Kloster zu restauriren34. 1544 wurde die Jacobspfarrei aufgelöst und mit der Thomasparochie vereinigt, die Pfarrgüter wurden zum Theil verkauft, der Pfarrer anderweit, namentlich im Georgenhospital, beschäftigt35. 31

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Cod. diplom. VIII. Nr. 287. 1452. 24. Mai. Ms. der Lpzgr. Stadtbibl. Thaddaeus, Abt des Schottenklosters zu Erfurt, spricht gegen Bürgermeister und Räthe, welche in den in Klagsachen D. Johannes von Allenblumen angesetzten Terminen ungehorsamer Weise nicht erschienen sind, den Kirchenbann aus und belegt die Stadt mit dem Interdict. Cod. diplom. VIII. Nr. 288. 1452. 24. Juli Ms. Der Lpzgr. Stadtbibl. Abt Thaddaeus hebt, nachdem die Bürgermeister und Räthe vom Leipzig mit dem D. Johannes von Allenblumen sich freundschaftlich verglichen haben, auf Antrag des Letztern den Kirchenbann und das Interdict wieder auf. Befriedigt wurde übrigens der Kläger, jedoch nicht vollständig erst 1454. Cod. dipl. VIII. Nr. 313. 1454. 24. Nov. Original im k. S. Hauptstaatsarchiv zu Dresden. Johann von Allenblumen, Doctor und Vitzthum zu Erfurt, bekennt, dass die Räthe von Leipzig und Zwickau an verfallenen und versessenen Zinsen, um welche er sie in geistliche Forderung genommen, 50 bertechte Schock Groschen durch den Münzmeister zu Freiburg haben auszahlen lassen und stellt über diese Summe eine Quittung aus, unschädlich jedoch seiner angefangenen Forderung. Vgl. auch Cod. dipl. VIII. Nr. 288. Cod. dipl. VIII. Nr. 525. 1483. 27. Juli. Orig. im k. Hauptstaatsarchiv zu Dresden. Cod. dipl. VIII. 1484. 17. März. Orig. im Rathsarchiv zu Leipzig. Sächsische evangelische Kirchengeschichte von M. E. H. Albrecht. Lpzg. 1800. Die Jacobsparochialen wurden der Thomasparochie zugetheilt, der letzte St. Jacobspfarrer, M. Georg Lissenus, wurde ins Georgenhaus gesetzt. Die Kirchengüter wurden verkauft. Der Verf. beruft sich ohne nähere Angabe auf den Wortlaut eines „beglaubigten Documentes“ I. p. 625.

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Weiter fand ich nichts über die Jacobskirche. Im 17. Jahrhundert ist die Kirche verschwunden, verschollen, so dass die Chronisten verschiedener Meinung über ihren genauen Standort sind. Wahrscheinlich stand sie jenseits der Ranstädter Brücke, links, gegenüber der Angermühle am Eingange des ehemaligen Schottengässchens, jetzt Naundörfchen. Man könnte denken, dass wenigstens der benachbarte Grund und Boden, auf welchem das Jacobshospital entstand, Eigenthum der Kirche gewesen sei. Aber auch hier fehlte jede Anknüpfung, denn dieses Grundstück wurde von der Stadt dem Baumeister Moritz Thümmeln tauschweise abgehandelt36. Wie der Uebergang des Georgenhospitals an die Stadt so auch der Verkauf der Jacobskirche sind Zeichen der Zeit. Sie deuten auf ein Sinken der klerikalen Macht und auf ein Erstarken des städtischen Gemeinwesens, welches sich in Mitte des 15. Jahrhunderts zu Leipzig in Innungen fest gegliedert hatte. Und in der That, es war ein starkes Gemeinwesen, welches unter Drangsalen aller Art da heranwuchs und welches heute noch gedeiht. Die Lage allein, dem Handel günstig, reicht nicht hin, dieses Wachsthum zu erklären. Die Lage war auch anderen Orten günstig. Zudem hat die günstige Lage auch ihre üblen Seiten. Die Wege, die dem reisenden Kaufmann bequem sind, sind es auch den reisigen Kriegsheeren, wenn sie ihre Reise mit Hindernissen, die man Krieg nennt, antreten. Die Pest heftet sich an die Sohlen des Kaufmanns und nistet sich in den Kriegslagern ein. Von Krieg, Belagerung, Brandschatzung und Pest weiss Leipzig zu erzählen. In fortwährenden Händeln und Fehden mit Aebten und Bischöffen, mit Feudalherren, mit dem eigenen Landesherrn, dem Kaiser37, mit dem heimlichen Gericht, besiegt und niedergeworfen, verwüstet und gebrandschatzt, excommunicirt und vervehmt, trotz Krankheit und Krieg, hat sich das Gemeinwesen immer wieder erholt. Am längsten dauerte es nach dem 30jährigen Kriege, der bald die Kaiserlichen, bald die Schwedischen als Feinde vor Leipzig führte. Die Wirkung lässt sich bis in dieses Jahrhundert verfolgen. Auch die Napoleonische Zeit lastete schwer auf Leipzig. Die Schulden der Stadt aus dieser Zeit gelangten erst 1858 zur völligen Tilgung mit einem Gesammtaufwand von 21 Millionen Mark. In dieser wirthschaftlichen Tüchtigkeit lag von jeher ein besonderes Moment der Stärke Leipzigs, ihr verdankte die Gemeinde, dass sie jederzeit im kritischen Augenblick über baare Mittel oder hinreichenden Credit verfügte, sei es, dass es sich um den Erwerb von Rechten und Privilegien handelte, oder dass Feudalherren auszukaufen waren, und als es zur Vertheilung der geistlichen Güter kam, war sie im Stande, für eine Zahlung an ihren Herzog Moritz im Betrag von 83 000 fl. den Grundbesitz des St. Thomasstiftes an sich zu bringen, der heute noch einen Hauptbestandtheil des städtischen Vermögens bildet. Freilich übernahm sie zugleich die Verpflichtung, aus den Erträgnissen die Kosten für Kirchen- und Schuldienst zu bestreiten. 36 37

Vogel’s Chron. p. 147. Ueber einen langjährigen Handel mit dem heimlichen Gericht im 15. Jahrh. vid. Cod. dipl. VIII. Nr. 355. 360. 361. 362 etc.

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Zu derselben Zeit wurde unsere Universität die Haupterbin des Paulinerklosters. Welche Verdienste damals Borner sich um die Universität erworben, hat Herr Prof. Zarncke als Rector von dieser Stelle aus in anziehender Weise mitgetheilt. Hätten damals die Armen und Kranken einen gleich eifrigen und geschickten Vertreter gehabt, wie ihn die Universität an Borner hatte, so wäre es vielleicht möglich gewesen, aus den geistlichen Gütern ein quarta pauperum zu gewinnen. So wie es war, gingen sie leer aus. Es ist wahrscheinlich, dass die Stadt sich für reich genug hielt, von sich aus für ihre Armen und Kranken zu sorgen. Kehren wir zu unserem Jacobshospitale, oder wie ich es richtiger nennen muss, zu unserem Lazareth zurück. Diesen Namen führte es bis Ende des vorigen Jahrhunderts, ja in den Rechnungen der Stiftungsbuchhalterei bis 183038. In den ersten Zeiten war es ein Pestlazareth, von 1566 an ein ständiges, mit einem abgesonderten Pest- oder Contumacialhaus. So oft die Pest kam, wurde ein Pastor und medicus pestilentialis und auch ein pestilentialischer Chirurg und Leichenschreiber hineingesetzt. Vielleicht von 1566 an ist ein ständiger Geistlicher und Arzt vorhanden. Die Kosten wurden bestritten theils aus der Stadtkasse, theils aus Zinsen des „willigen Almosen“. Die Lazareth- oder Krankenhausrechnung bildet bis in die letzten Jahrzehnte einen Bestandtheil der Jahresrechnung über das „willig Almosen“. Dieses „willig Almosen“ ist ein Vorläufer unserer heutigen freiwilligen Armenpflege. Es ist eine rein weltliche Stiftung der Bürger Leipzigs, gegründet 1463 von Hans Stockart39 und vom Rath 1475 streng organisirt40. Es war anfänglich nur auf die Unterstützung von Hausarmen abgesehen, mit Brod, Fleisch und Zugemüse. Im Sinne des Stifters ist bestimmt, dass auf den Tag, so der alte Rath abgeht und der neue aufgehen würde, so oft der etatmässige Ueberschuss von 2 fl. und 4 Gr. vorhanden sein sollte, dem alten Bürgermeister, der da abgeht, ein halb Stobichen und dem neuen Bürgermeister und seinen Rathfreunden und auch dem Stadtschreiber einem Jeden ein halb Stobichen Rheinisch oder Frankenwein „hinheim“ geschickt werden solle. Es ist aber zu bezweifeln, ob Bürgermeister und Rathsfreunde jemals von dem ihnen freundlich zugedachten Wein zu kosten bekommen, denn so weit ich die Rechnungen nachsehen konnte, hat das „willig Almosen“ niemals mit einem Ueberschuss von 2 Gulden 4 Gr. abgeschlossen. Das Jacobshospital ist also die jüngste der drei grossen Hospitalstiftungen. Hieraus erklärt sich zum Theil seine Armuth gegenüber dem Johannis- und Georgshospital. Andererseits wird dieselbe darin begründet sein, dass seine Entwicklung 38

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40

E. H. Albrecht l. c. p. 628 u. f. giebt ein Verzeichnis der Prediger an der Lazarethkirche von 1586– 1780. Er zieht den Namen „Lazareth“ als den „noch immer sehr gebräulichen“ vor p. 621. Das Buch erschien i. J. 1800. Cod. dipl. VIII. Nr. 366. 1463. fg. Nach dem Stadtbuch fol. 280 im Rathsarchiv zu Leipzig. Errichtung des willigen Almosens für Hausarme durch Hans Stockart u. A.: „Zunn ersten sint gekornen zu vorsorger dess Almuss Nickel Schumann und Conradus Critzelmo, (?) das sie alle wochen um sonnabend geben sollen uss der cammern uff der ecken bey dem Salczgesschen sybin armen menschen brot fleisch unde zucmusse, also vehl man umbe II gr. gekeuffen mag, bess so lange das ess gebessert wirt.“ Cod. dipl. VIII. Nr. 479. 1475. 7. Juni. Original im Rathsarchiv zu Leipzig.

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in eine Zeit fällt, wo in Folge der veränderten religiösen Anschauungen die „guten Werke“ einen Theil jener Kraft verloren hatten, welche vordem ihren Urhebern jenseits einen milde Behandlung sicherte. Im 30jährigen Krieg41 fand durch die Kriegsverwüstung der Vorstädte eine Verminderung der stiftungsmässigen Einnahmen statt im Betrag von 1150 Thlr. Es waren diess Zinsen von Capitalien auf Grundstücke ausgeliehen, welche durch den Krieg „caduc“ und „wüste Baustellen“ geworden. Diese caducen Baustellen und Brandstätten schleppen sich in den Rechnungen bis in dieses Jahrhundert fort42. Im übrigen führte das Krankenhaus ein stilles und bescheidenes Dasein und machte wenig von sich reden. Die Kost war bis 1760 rein vegetabilisch, die eines strengen, aber unfreiwilligen „Vegetarians“, sie bestand aus Brod, Wassersuppen, Gemüse, wöchentlich für 1 Groschen Butter und Salz auf den Mann, dazu täglich für 2 Pf. Kofend, ein Nachbier, durch Aufguss auf die ausgenutzten Trebern gewonnen, über dessen Verschwinden wir uns nicht zu beklagen haben. Von 1760 an wurde Mittwoch und Sonntag Fleisch bewilligt. Preussische Blessirte kommen zweimal vor, 1745 und 1756, und wurden vom Hausvater für 2 Gr. den Tag verpflegt. Von den später (1866) obligaten 12 Cigarren ist noch nicht die Rede. Noch im Jahre 1848 hat die Kostordnung nur zweimal Fleisch die Woche, gegenwärtig wird täglich Fleisch gereicht. Natürlich gab es zu allen Zeiten Extraspeisen, mit denen man den Kranken helfen konnte. Ueber den Zustand des Lazarethes am Ende des vorigen Jahrhunderts, und zwar ehe die klinischen Anstalten darin untergebracht waren, findet sich eine Notiz in den „vertrauten Briefen“ von Detlef Prasch v. J. 1784. Es ist dies zwar ein unangenehmes Buch, denn man hat das Gefühl, dass es dem Verfasser darum zu thun ist, Uebles zu berichten. Um so schwerer wiegt sein Lob. Beim Johannishospital preist er die Herrlichkeit des Gebäudes und klagt über die filzige Verpflegung und schlechte Kost der Pfründtner. Im Georgenhause sei die Kost auch nicht besonders, am meisten missfällt ihm die Tracht der Waisen, blau und gelb, und deren verkrüppeltes Aussehen. Die Mädchen trugen blaues Camisol, gelbe Röcke und gelbe Strümpfe. Das Jacobshospital oder Lazareth kommt am Besten weg. Es heisst: „Das Lazareth ist ein Muster ähnlicher Anstalten, eine wahre Zierde von Leipzig, das sich dadurch auf ein rühmliche Weise über viele Städte erhebet. Hier werden kranke aller Art ohne grosse Mühe aufgenommen, und vollkommen so verpflegt, 41

42

Diese und die meisten der folgenden Notizen habe ich aus Rathsacten geschöpft, deren Einsicht mir auf mein Ansuchen von Herrn Bürgermeister Dr. Georgi bereitwillig gestattet wurde. Leider konnte ich aus Mangel an Zeit nicht so umfassenden Gebrauch von der ertheilten Erlaubniss machen, als ich gewünscht hätte. Was von dem Gesuchten vorhanden war, wurde mir von Herrn Stadtrath Cerutti und Herrn Stiftungsbuchhalter Schwarz in dankenswerther Weise zugänglich gemacht. Hauptsächlich die Acten des Jacobshospitales und die Rechnungen des „willigen Almosen“ und des Lazarethes habe ich durchgesehen. Auch Herrn Stadtrath J. Francke bin ich für seine Mittheilungen über Leipzigs milde Stiftungen zu Dank verpflichtet. Bis zum Jahre 1812. Die Entstehung der caducen Baustellen“ fällt in die J. 1623, 1630, 1631, 1633, 1639, 1640. Auch durch Befestigungsarbeiten wurden Hausgrundstücke „ruiniret“.

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als ob sie sich mitten im Schoosse ihrer Familien befänden. Die Reinlichkeit, die sonst in ähnlichen Häusern eine unbekannte Sache ist, ist hier unübertrefflich, und wenn dem Kranken die kostbarste Medicin, die theuersten Weine und Speisen von dem Arzte für zuträglich geachtet werden, so erhält er sie gewiss ohne die allermindeste Weigerung. Ist dann der Kranke von seiner Krankheit befreyet, so jagt man ihn nicht sogleich aus dem Hause, sondern man erlaubt ihm, Kräfte zu sammeln, und sich völlig wieder zu erholen, nach Beschaffenheit der Umstände, vorzüglich wenn es ein Reisender ist, erhält er dann noch eine hinlängliche Wegzehrung. Dennoch aber hat das Wort Lazareth etwas so Anstössiges für die ekeln Ohren der Leipziger, dass Leute vom niedrigsten Pöbel lieber den äussersten Mangel fühlen, lieber auf Stroh verfaulen, als dass sie die Wohlthat des Lazareths annehmen sollten.“ In diesem hier erwähnten Abscheu des gemeinen Mannes vor dem Namen Lazareth lag vielleicht die Veranlassung, nach einem freundlicheren Namen zu suchen, und so wandte man sich an den heiligen Jacobus, der auch so freundlich war, obwohl es ihm in Leipzig nicht besonders ergangen, seinen Namen herzugeben. Zum ersten Mal finde ich den Namen Jacobshospital in einem Churfürstl. Erlass v. J. 1787, die Errichtung eines klinischen Instituts im Jacobshospital oder Lazareth betr. – Diese Angelegenheit war von der medicinischen Fakultät angeregt worden. Es kam zu Verhandlungen zwischen Regierung und Stadt, welche 1799 ihren Abschluss fanden durch Errichtung eines klinischen Instituts im Jacobshospital. Man wird vielleicht fragen, in welcher Weise denn bis dahin der Arzt sich practisch ausbilden konnte. Die Antwort ist, es gab eben bis Boerhave keine klinischpractische Ausbildung, Jeder konnte Doctor werden, ohne einen Kranken gesehen zu haben43, wenn er nicht selbst einmal krank gewesen. Ein solcher Zustand erscheint uns heute unmöglich, bei unserer ausgebildeten Technik der Krankenuntersuchung ist es undenkbar, den Unterricht nur ex cathedra zu vermitteln. Früher war das anders, der Hauptinhalt des Lehrstoffes bestand aus der römischen und griechischen Verlassenschaft, welche nach allen Richtungen commentirt wurde. Die vormalige Medicin war ein Kind der Philologie, die heutige ist die Schwester der Naturwissenschaften. Mit der Chirurgie stand es etwas besser, da sie sich ihrer Beschaffenheit nach niemals in der Art vom Krankenbette ablösen liess wie die innere Medicin, dagegen litt sie an anderen Uebelständen. Die Einpflanzung des Klinikums in das Jacobshospital geschah nur unter Widerstreben von Seiten der Stadt. Die auf ihre Rechte eifersüchtige Gemeinde fürchtete, nicht mehr ausschliesslich Herr in ihrem Eigenthum, im eigenen Hause, zu bleiben, und ein grösserer Aufwand schien unvermeidlich, da eine klinische Anstalt grössere Ansprüche als bisher in Bezug auf Pflege, Arzneien u. s. w. stellen werde. Diese Besorgnisse waren, wenn auch übertrieben, doch nicht ganz ungegründet. Die Beziehungen zwischen Regierung und Stadt trübten sich denn auch zeitweise bis zum 43

Mit der psychiatrischen Ausbildung unserer jungen Aerzte ist es leider vielfach noch in gleicher Weise bestellt.

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drohenden Bruch. 1848 wurde der Bruch hauptsächlich durch das Eintreten der Stadtverordneten für Verbleiben der Klinik im Jacobshospital verhütet. Seitdem haben sich die Verhältnisse wesentlich geklärt, doch muss ich mich eines näheren Eingehens enthalten, da der Stoff noch zu neu ist, um eine historische Behandlung von Seiten eines der Betheiligten zu gestatten. Nur soviel sei mir zu sagen erlaubt, die oft gehörte Behauptung, das grosse Deficit des Jacobshospitals sei durch die Klinik verursacht, ist irrthümlich. Der Antheil, den die Klinik an der Entstehung des Deficits hat, ist wenn überhaupt nachweisbar, keinesfalls von Bedeutung. Wenn ich mich nicht ganz im Irrthum befinde, so haben Stadt und Universität das gleiche Interesse, das Krankenhaus auf seiner jetzigen Stufe zu erhalten, die Stadt als eine solche, die in Dingen der Humanität es vorzieht, voranzugehen, statt nachzufolgen, die Universität, weil sie nur mit Hülfe des Jacobshospitals den Bedürfnissen des klinischen Unterrichts zu genügen vermag. Mit einigem guten Willen von beiden Seiten wird sich das jetzt bestehende friedliche Verhältniss zwischen Stadt und Universität auch auf diesem Gebiete erhalten lassen, und dass dieses gute Einvernehmen sich mehr und mehr befestigen möge, mit diesem Wunsche lassen Sie mich schliessen. Anhang. Ueber den Betriebsaufwand des Jacobshospitals. Da in jüngster Zeit in städtischen Kreisen die schweren Kosten, welche das Jacobshospital der Stadt verursacht, vielfach zur Sprache kamen, und da, wie ich weiss, die Meinung sehr verbreitet ist, dass ein grosser Theil, wenn nicht der Haupttheil dieser Kosten durch die Vereinigung des klinischen Institutes mit dem Jacobshospital verursacht werde, so fühlte ich das Bedürfniss, durch Untersuchung der Finanzlage des Krankenhauses eine selbständige Meinung zu gewinnen. Ich stellte mir folgende Fragen: 1. In welchem Verhältniss zur Bevölkerung ist der Betriebsumfang und Betriebsaufwand des Jacobshospitals in den letzten 25 Jahren gestiegen, um wieviel ist er kostspieliger geworden, und wie verhielten sich die Einnahmen? 2. Wie stellt sich der Betrieb in Vergleich mit anderen Hospitälern? 3. In welchem Verhältniss tragen die verschiedenen Kranken je nach den von ihnen bezahlten Kurkostenbeiträgen zur Entstehung des Deficits bei, und namentlich in wie weit sind hierbei die auf königlicher Freistelle Verpflegten betheiligt? Da die Beantwortung dieser drei Fragen für Universitätskreise von gleichem Interesse sein dürfte, wie für städtische, und da sie in nächster Beziehung zu dem Thema meiner Antrittsrede steht, hielt ich es für erlaubt, die Ergebnisse meiner Untersuchung der Rede als Anhang beizufügen. 177

Carl Thiersch

I. In welchem Verhältniss zur Bevölkerung ist der Betriebsumfang und Betriebsaufwand des Jacobshospitals in den letzten 25 Jahren gestiegen, um wieviel ist der Betrieb kostspieliger geworden, und wie verhielten sich die Einnahmen des Hospitals? In Tab. 1 habe ich versucht, die zur Beantwortung dieser Fragen nöthigen Zahlen übersichtlich zu gruppiren. Von 1849–1865 wählte ich fünfjährige Abschnitte, von 1865 an ist Jahr für Jahr in die Tabelle eingetragen. Ich konnte nicht alle gewünschten Zahlen feststellen, die Tabelle zeigt deshalb Lücken, dennoch genügt sie, wie ich glaube, zu dem bezeichneten Zwecke. Nach vorstehender Tabelle hatte Leipzig i. J. 1849 62 370 Einwohner. Die Zahl der Krankenverpflegungstage konnte für dieses und die drei folgenden Jahre nicht festgestellt werden. Annäherungsweise können wir diese Zahl für 1849 auf 62 000 schätzen, da noch 1867 die Zahl der Verpflegungstage hinter der Bevölkerungszahl zurück bleibt. Mit der Schätzung auf 62 000 greift man also eher zu hoch, als zu niedrig. Im Jahre 1875 ist die Zahl der Verpflegungstage auf 141 792 gestiegen, da aber hiervon 19 229 abzuziehen sind, welche den kgl. Freistellen angehören, an denen die Leipziger Bevölkerung nur in geringem Grade Antheil hat, so bleiben 122 563 Verpflegstage, nahezu das Doppelte vom Jahre 1849, die Bevölkerung ist in der gleichen Zeit um etwas mehr als das Doppelte gestiegen. Das starke Anschwellen der Verpflegungstage im Jahre 1871 von 89 960 auf 130 616 war eine Folge der Pockenepidemie (circa 20 000 Verpflegungstage), von da an ist die Zunahme in der Hauptsache durch den Bevölkerungszuwachs und durch die Vermehrung der kgl. Freistellen (13 586 Tage im Jahre 1872, 19 239 im Jahre 1875) bedingt. Auch das Reichsgesetz von 1870 über den Unterstützungswohnsitz hat Antheil an dem Zuwachs der Kranken. Das Cholerajahr 1866 kommt in der Tabelle nicht zum Ausdruck, weil die Cholerakranken nicht im Jacobshospital untergebracht waren. Schätzt man den Betriebsaufwand für 1849 auf 100 000 Mk. (1850 betrug er 101 392 Mk.), so ergiebt sich für 1875 mit 413 816 Mk. mehr als der vierfache Betrag. Da der Betriebsumfang nur um etwas über das Doppelte gestiegen, so kommt die vierfache Steigerung beiläufig zur Hälfte auf die kostspieligere Verpflegung. In der That, wenn man unter obiger Voraussetzung (62 000 Verpflegungstage und 100 000 Mk. Aufwand) für 1849 einen Satz von Mk. 1,612 für den Krankenverpflegungstag erhält, betrug dieser Satz 1875 mit 2,918 Mk. nahezu das Doppelte. Sehen wir zu, wie es sich mit der Deckung des Aufwandes verhält, so sind die Deckungsmittel in Tab. 1 in zwei Reihen mitgetheilt, die Reihe 6 giebt die Summen der erstatteten Kurkosten, die Reihe 7 weisst die sonstigen Einnahmen auf. Diese sonstigen Einnahmen bestehen aus den Zinsen des Stiftungsvermögens, von 1871 an kommt vom Staatsfiscus ein Zuschuss von 9000, später von 12 000 Mk. hinzu. Dazu noch erstattete Beerdigungskosten etc. Da diese sonstigen Einnahmen, die im Jahre 1850 Mk. 34 139 betrugen, im Jahre 1875 nur auf 37 431 gestiegen sind, so kommen sie bei dem Anschwellen des Betriebsaufwandes von 100 000 Mk. auf 413 816 Mk. kaum in Betracht. Und auch durch den Zuschuss des Staats178

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fiscus, – seit 1871 mit 9000 Mk., seit 1872 mit 12 000 Mk. jährlich – wird daran wenig geändert. Anders verhält es sich mit den Einnahmen aus erstatteten Kurkosten, Reihe 6. Diese sind von 20 176 Mk. im Jahre 1850 auf 173 877 Mk. im Jahre 1875 gestiegen, das ist um das Acht- bis Neunfache. Es wird kein zweites Hospital in Deutschland geben, welches verhältnissmässig eine gleich grosse Einnahme an Kostgeldern aufzuweisen hat. Wären die „sonstigen Einnahmen“, also zunächst die stiftungsmässigen, in gleichem Maasse gestiegen, so würde der Betriebsaufwand mehr als gedeckt sein, so aber, da diese stationär geblieben, ist das Heranwachsen eines sehr grossen Deficits unvermeidlich gewesen. Bei Betrachtung des jährlichen Deficits, welches aus der Stadtkasse gedeckt wird, müssen wir zunächst einen Blick auf die Reihe 5 der Tab. 1 werfen, welche, abgesehen vom Betriebsaufwand, die sonstigen Ausgaben enthält. Diese sonstigen Ausgaben, welche ich von den Betriebsausgaben getrennt habe, sind verursacht durch Verzinsung von dem Jacobshospital gemachten Darlehen. Im Jahre 1871 beschränken sich diese „sonstigen Ausgaben“ auf die bescheidene Summe von M. 3734. 1872 ist diese Ausgabe auf die stattliche Zahl 93 075 angewachsen, d. h. in diesem Jahre wurde die 4 1/2%ige Verzinsung der StammanlageKosten der neuen Anstalt in den Ausgaben-Etat des Jacobshospitals eingesetzt. Im Jahre 1875 sind die sonstigen Ausgaben mit 91 013 M. eingestellt und die Verzinsung der Stammanlage steckt hierin mit 84 791 M. Da nun die Deckungsmittel bei Weitem nicht für den Betrieb reichen und niemals nach menschlichem Ermessen reichen werden, so muss diese ganze Summe Jahr für Jahr im Deficit erscheinen. Allerdings steht dieser Summe unter den Deckungsmitteln eine entsprechende oder vielmehr nicht entsprechende Position gegenüber, nämlich 7489 M. als 4 1/2%ige Verzinsung der von der Stadt entnommenen früheren Jacobshospitalgebäude, geschätzt zu M. 166 424,86. Vielleicht wäre es besser, beide Positionen zu streichen, und das Debet des Jacobshospitals in das allgemeine Schuldbuch einzutragen. Das Jacobshospital wird diese Schuld niemals verzinsen und abtragen können. Andere Hospitäler haben in ihrer Jahresrechnung keine derartige Position. Es scheint mir deshalb gerechtfertigt, das Gesammtdeficit, wie es Reihe 9 der Tabelle aufgeführt ist, in zwei Theile zu trennen, d. h. das Betriebsdeficit aus dem Gesammtdeficit auszuscheiden. Dieses Betriebsdeficit ist Reihe 10 notirt: im J. 1850 42 334 M., im J. 1875 190 506 M. Diese letztere Summe ergiebt sich, wenn man von dem Gesammtdeficit im Betrage von 291 231 M. erstens abzieht die für Verzinsung angesetzte Summe M. 91 613,18 und die extraordinäre Ausgabe von M. 9712,20 für Anschaffung des für die zwei chirurgischen Sommerbaracken nöthigen Inventars, denn diese Ausgabe stellt einen Zuwachs zur Stammanlage vor und gehört nicht zur Betriebsausgabe. Das Betriebsdeficit ist demnach in 25 Jahren nahezu um das Fünffache gestiegen. Die Antwort auf die erste Frage lautet also: In den letzten 25 Jahren hat sich der Betriebsumfang und die Bevölkerung mehr als verdoppelt, der Betriebsaufwand mehr als vervierfacht, der Betrieb ist beinahe doppelt so kostspielig geworden. 180

Antrittsrede 1876

Von den Einnahmen sind die Kostgelder um das Acht- bis Neunfache gestiegen, die sonstigen Einnahmen sind sich nahezu gleich geblieben. Das Betriebsdeficit ist fast um das Fünffache gewachsen. II. Wie stellt sich der Betrieb des Leipziger Hospitals im Vergleich mit anderen Hospitälern? Zur Beantwortung dieser Frage habe ich einen Auszug der Betriebsrechnung des Leipziger Hospitals für das Jahr 1875, welchen mir die Hospitalverwaltung anfertigen liess, mit dem gleichzeitigen Rechnungs-Auszuge des Hamburger Stadt-Krankenhauses und des Stadt-Krankenhauses am Friedrichshain zu Berlin verglichen. Beides sind städtische Krankenhäuser ohne klinische Anstalten. Das Hamburger Krankenhaus ist ein Hospital alten Styles, sein Betrieb ist billiger als der Leipziger, das Friedrichshainer ist ein erst im Jahre 1874 in Betrieb gesetztes Pavillon(Baracken-)Hospital, und sein Betrieb ist kostspieliger als der Leipziger. Ich werde zuerst den Vergleich mit dem Hamburger Krankenhause anstellen. Das Hamburger Krankenhaus ist, wie das Leipziger, aus einem Pestlazarethe hervorgegangen, es ist, wie dieses, äusserst gering dotirt. Bei einer Ausgabe von M. 815 025,70 im Jahre 1875 betrugen die Zinsen aus dem Krankenhaus-Vermögen M. 30 960,00. Der Zuschuss zum Betriebsaufwande aus der Hamburger Staatskasse betrug M. 463 646,34. Von einer Verzinsung der Stammanlage geschieht im Rechnungsberichte keine Erwähnung. Während das Leipziger Krankenhaus im Jahre 1875 191 696 Verpflegungstage für Kranke und Bedienstete aufweist, sind es in Hamburg 561 793. Somit ist der Hamburger Betriebsumfang fast dreimal so gross als der Leipziger. Das Hamburger Krankenhaus in seiner jetzigen Gestalt stammt in der Hauptsache aus dem Jahre 18231. An ein zweistöckiges für die Verwaltung etc. bestimmtes Hauptgebäude schliessen sich rechts und links die Flügel mit Krankensälen an. Diese Flügel sind einstöckig. Die Gänge sind meist nur an einer Seite mit Krankensälen besetzt und gehen mit der anderen Seite in’s Freie. Es ist also ein CorridorHospital im besseren Sinne des Wortes, da es nur einstöckig ist und die Gänge wenigstens von einer Seite freien Luftzutritt haben. Zu diesem Hauptgebäude kommen 2 Baracken zu 40 Betten, 2 Baracken zu 13 Betten und 2 kleinere chirurgische Sommerbaracken. Ebenfalls isolirt auf dem 1 259 100 Fuss grossen Anstaltsterrain stehen ein Pockenhaus, ein kleineres Isolirhaus, Obductionslocal, Leichenhaus, Kesselhaus und Küche, Waschhaus, Oeconomiegebäude, Wagenschuppen und Eishaus. In dieser grossen Anstalt sind durchschnittlich untergebracht: 350–450 innere Kranke, 300–400 chirurgische Kranke, 50–100 Augen-Kranke. 1

Anm. Ausser dem Rechnungsauszuge habe ich für Hamburg benutzt: ,,Das Hamburger Allgemeine Krankenhaus, von G. M. Lundt, Krankenhaus-Director. Hamburg 1876. Diese reichhaltige Schrift ist Jedermann, der sich für Hospital-Angelegenheiten interessirt, zu empfehlen.

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Dazu kommen: 150–175 Sieche, welche Aushülfe- und andere leichte Dienste verrichten, z. B. Sitzwache, Aufwaschen, Botengänge, Kartoffelschälen etc., 250– 300 Sieche und Invalide (inclusive Irrensieche). Dies ergiebt einen Gesammtbestand von 1150–1325 Kranken und Siechen. (Kranke allein gerechnet 700–910.) Das Leipziger Hospital besteht zur Zeit: 1. aus einem Hauptgebäude ähnlicher Construction wie das Hamburger Mittelgebäude. In diesem Hauptgebäude sind die Räume für Cultus, Verwaltung, für Amtswohnungen, für Vorräthe, Apotheke, Küche, Privatkranke und 200 Saalkranke; 2. aus 12 Baracken der ursprünglichen Anlage mit im Ganzen 288 Betten. Die Baracken sind massiv gebaut; 3. aus 2 Baracken zu 24 Betten, welche für chirurgische Kranke während der warmen Jahreszeit bestimmt sind, entsprechend ihrer Bestimmung von leichterer Bauart; 4. aus 4 Baracken zu 50–60 Betten. Diese im J. 1871 aus Anlass der Pockenepidemie errichtet, sind mit dem Erlöschen der Epidemie bei steigendem Betriebsumfange in dauernde Benutzung gezogen. Diese Baracken sind leichtester Construction: Ziegelwand von halbstein Stärke, Fachwerk, Dachpappenlage, einfache Fenster und hohler Boden. Die Anstalt hat also zur Zeit einen Belegraum für 720–740 Betten. Von diesen kommen 520–540 auf Baracken zum Theil leichtester Construction, während in Hamburg nur ein ganz geringer Bruchtheil der Kranken in Baracken liegt. Ausserdem hat die Anstalt: ein Badehaus, ein Kesselhaus, Waschhaus, Kohlenschuppen, Eishaus. Um die Rechnungen vergleichen zu können, habe ich die Ausgaben unter gleiche Rubra gebracht, und mich dabei hauptsächlich an die Positionen der Hamburger Rechnung gehalten. Tab. 2. giebt eine Uebersicht des Leipziger und Hamburger Betriebes. Der Umfang des Betriebes ist aus der Zahl der Krankenverpflegungstage zu entnehmen, welche in der Ueberschrift eingesetzt ist. Tab. 3. zeigt, wie sich die Kosten eines Krankenverpflegungstages auf die einzelnen Positionen nach Geld und nach Procenten vertheilen. Tab. 4. Hier ist, um die grössere Kostspieligkeit des Leipziger Betriebes klar zu stellen, der Leipziger Betrieb auf Grund der Hamburger Sätze berechnet.

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Tabelle 2. Betriebsaufwand des Leipziger und des Hamburger städtischen Krankenhauses im Jahre 1875. Leipzig 141 792 49 904 191 696

Krankenverpflegstage Bedienstetenverpflegstage Gesammtverpflegstage Gesammtbetriebsausgabe Kosten eines Krankenverpflegstages

Leipzig 413 816,15 Mk. 2,918 Mk.

Hamburg 472 368 89 425 561 793 Hamburg 815 025,70 Mk. 1,725 Mk.

Leipzig Mark

Hamburg Mark

I. Gehalte, Pensionen, Löhne. 1. Cultus 2. Aerzte 3. Verwaltung und Apotheke 4. Wart- und Dienstpersonal

3 346,66 7 200,00 18 145,04 44 239,15

7 560,00 45 410,67 41 172,60 70 599,05

II. Ernährung, Bekleidung, Medicamente etc. 5. Kost 6. Wasserzins 7. Feuerung 8. Beleuchtung 9. Medicamente, Instrumente, Bandagen etc. 10. Bekleidung

168 304,07 3 726,90 48 518,69 17 550,26 38 618,20 6 904,56

401 566,61 10 987,65 50 431,20 22 902,17 42 471,93 16 370,80

14 755,66 29 685,10

2 011,43 57 398,96

2 014,06

3 927,11

82,85 2 975,75 797,28 6 977,40

2 598,40 13 931,65 3 765,05 3 812,14

Positionen

III. 11. Unterhaltung der Gebäude 12. Nachschaffung von Mobiliar 13. Feuerversicherung, Grund- und Personalsteuer IV. Diversa. 14. Fuhrwesen 15. Beerdigungskosten 16. Buchdrucker, Schreiber 17. Nothwendige kleine Ausgaben

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Tabelle 3. Die Betriebskosten auf den Krankenverpflegstag berechnet. Positionen I. Gehalte, Pensionen, Löhne. 1. Cultus 2. Aerzte 3. Verwaltung und Apotheke 4. Wart- und Dienstpersonal II. Ernährung, Bekleidung, Medicamente etc. 5. Kost 6. Wasserzins 7. Feuerung 8. Beleuchtung 9. Medicamente, Instrumente, Bandagen etc. 10. Bekleidung III. 11. Unterhaltung der Gebäude 12. Nachschaffung von Mobiliar 13. Feuerversicherung, Grundund Personalsteuer IV. Diversa. 14. Fuhrwesen 15. Beerdigungskosten 16. Buchdrucker, Schreiber 17. Nothwendige kleine Ausgaben Summa aller Betriebsausgaben

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Leipzig pro Tag

Hamburg pro Tag

Leipzig

Hamburg

Mark 0,024 0,051 0,128 0,312

Mark 0,016 0,096 0,087 0,149

0,81 % 1,74 % 4,38 % 10,69 %

0,93 % 5,57 % 5,05 % 8,66 %

1,187 0,026 0,342 0,124

0,850 0,023 0,107 0,048

40,67 % 0,90 % 11,72 % 4,24 %

49,27 % 1,35 % 6,19 % 2,81 %

0,272 0,049

0,090 0,035

9,33 % 1,67 %

5,21 % 2,01 %

0,104

0,043

3,57 %

2,47 %

0,209

0,122

7,17 %

7,04 %

0,014

0,008

0,49 %

0,48 %

}0,076

0,051

2,62 %

2,96 %

2,918

1,725

100,00

100,00

Antrittsrede 1876

Tabelle 4. Die Ausgaben des Leipziger Krankenhausbetriebes berechnet auf Grund der Hamburger Verpflegungssätze. Positionen

Leipziger Ausgabe

Leipziger Ausgabe nach Hamburger Maassstab

+ Betrag

- Betrag

I. Gehalte, Pensionen, Löhne. 1. Cultus 2. Aerzte 3. Verwaltung und Apotheke 4. Wart- und Dienstpersonal

Mark

Mark

Mark

Mark

II. Ernährung, Bekleidung, Medicamente etc. 5. Kost 6. Wasserzins 7. Feuerung 8. Beleuchtung 9. Medicamente, Instrumente, Bandagen etc. 10. Bekleidung III. 11. Unterhaltung der Gebäude 12. Nachschaffung von Mobiliar 13. Feuerversicherung, Grund- und Personalsteuer

3346,66 7200,00

2268,67 13626,21

1077,99 ---

--6426,21

18145,04

12350,08

5794,96

---

44239,15

21183,72

23055,43

---

168304,07 3726,90 48518,69 17550,26

120537,37 3289,57 15129,20 6862,73

47766,70 437,33 33389,49 10687,53

---------

38618,20 6904,56

12747,10 4906,00

26871,10 1998,56

-----

14755,66

6026,16

8729,50

---

29685,10

17227,72

12457,38

---

2014,06

1176,87

837,19

---

185

Carl Thiersch

IV. Diversa. 14. Fuhrwesen 15. Beerdigungskosten 16. Buchdrucker, Schreiber 17. Nothwendige kleine Ausgaben Summe

}10833,28

7231,39

3601,89

413816,15

244562,79

176705,05

---

6426,21

Ich will nicht verschweigen, dass ich über das Resultat meiner Berechnungen, wie es in vorstehenden drei Tabellen vorliegt, erstaunt war. So gross hatte ich mir den Unterschied nicht vorgestellt, und namentlich Tabelle 4, welche die AusgabePositionen Leipzigs nach Hamburger Massstab berechnet vorführt, wird nicht verfehlen, auf jeden Leser einen befremdenden Eindruck hervorzubringen. Indem ich jedoch an der Hand des Lundt’schen Werkes den Thatsachen nachforschte, auf welchen die Hamburger Zahlen beruhen, kam ich zu der Ueberzeugung, dass sich für die meisten Positionen ein Mehraufwand, ja ein bedeutender Mehraufwand für Leipzig erklären, wohl auch rechtfertigen lasse. Freilich bin ich nicht im Stande, nachzuweisen, dass der Mehraufwand bis zu der Höhe berechtigt ist, wie ihn Tabelle 4 zeigt, denn ich habe mit der Verwaltung des Hospitals nichts zu thun, indess ist es, wie ich glaube, schon von einigem Werth, die Gründe zu bezeichnen, welche überhaupt einen Mehraufwand Leipzigs verursachen. Am meisten mussten mich die Positionen für Nahrungsmittel Pos. 5, Medicamente und Kurbedürfnisse Pos. 9. interessiren, einmal weil sie beinahe die Hälfte des Betriebsaufwandes ausmachen, und dann, weil gerade bei ihnen der Einfluss der Aerzte sich zeigen muss. Aber auch über einige andere wichtige Positionen, wie Feuerung, Löhne des Warte- und Dienstpersonals kann ich vielleicht einige Auskunft geben. Nur der ärztliche Dienst Pos. 2. ist in Leipzig billiger als in Hamburg, obwohl Hamburg zu fast einem Drittheil Pfründtneranstalt ist, und somit verhältnissmässig weniger ärztliche Dienstleistungen erfordert. Diese Minderausgabe Leipzigs beruht darauf, dass die beiden Oberärzte als Professoren sonst besoldet sind und sich mit einer geringeren Remuneration als üblich begnügen können. Ferner erhalten von den acht Assistenz-Aerzten vier ihre Besoldung von der Universität, und betragen die städtischen Gehalte der AssistenzAerzte in Leipzig M. 900 gegen M. 1200 in Hamburg. Ueber die Ausgaben für Cultus und Verwaltung habe ich keine Veranlassung zu Bemerkungen, nur ist zu erwähnen, dass die Leipziger Cultus-Position auch eine kleine Realexigenz enthält. Pos. 3. Löhne des Warte- und Dienstpersonals. Leipzig M. 44 239,15 Hamburg M. 70 599,05 per Tag M. 0,312 per Tag M. 0,149 186

Antrittsrede 1876

Leipziger Ausgabe nach Hamburger Massstab berechnet M. 21 183,72, also Leipziger Mehrausgabe M. 23 055,43. Dieser Unterschied ist so bedeutend, dass jeder Erklärungsversuch vergeblich sein würde, wenn nicht, wie oben bereits hervorgehoben, in Hamburg neben dem Warte- und Dienstpersonal, bestehend in 220–250 Personen, noch 150–175 Sieche hinzukämen, welche, ohne für den Dienst bezahlt zu werden, zu Hülfsdiensten verfügbar sind. Es wird nicht zuviel behauptet sein, dass Hamburg durch diese Einrichtung an Dienst- und Wartelöhnen 10–15 000 Mark erspart. Weitere, wenn auch weniger gewichtige Umstände, den Leipziger Mehraufwand zu erklären, sind: 1. Leipzig hat unter seinem Personal sechs Haushandwerker, 2 Bäcker, 4 Bauhandwerker und 2 Schlosser, mit ziemlich hohen Löhnen, Hamburg scheint nur Wartepersonal und Dienstboten zu haben; 2. Leipzig bedarf eines verhältnissmässig grösseren Wartepersonals als Hamburg, weil seine Insassen nur Kranke, nicht nahezu ein Drittheil Sieche, wie in Hamburg, sind. Daraus erklärt sich, warum Hamburg trotz seines dreifach so grossen Betriebes nur etwa das Doppelte an Wartepersonal hat. (120–130 gegen 70–80 in Leipzig.) Wartepersonal erhält aber höhere Löhne als die gewöhnlichen Dienstboten; 3. in Leipzig werden in Folge der baulichen Anlage im Allgemeinen, und wegen der excentrischen Lage des Hauptgebäudes insbesonders, die Ausgaben für Warte- und Dienstpersonal grösser sein als in einem zusammengeschlossenen Hospital wie das Hamburger, weil die Entfernungen so bedeutend grösser sind. Dieser Umstand wird sich besonders bemerklich machen bei dem Kohlentransport und dem Austragen der Speisen, Medicamente etc.; 4. das Leipziger Krankenhaus unterhält Leute (Siechknechte), welche jederzeit bereit sein müssen, angemeldete Kranke, sowie amtlich aufgehobene Leichen aus den entferntesten Theilen des Weichbildes der Stadt im Siechkorbe herbeizuschaffen, eine Einrichtung, die ich sonst nirgends getroffen, zweckmässig aber kostspielig; 5. der unfertige Zustand des Gartens gab zu langwierigen Erdarbeiten Anlass; 6. ist zuzugeben, dass in klinischen Anstalten wegen des stärkeren Zuflusses von schwer Erkrankten, die Ausgaben für Pflege sich etwas höher stellen werden. Dies sind die Umstände, welche den Mehraufwand Leipzigs für Warte- und Dienstlöhne zu verursachen scheinen. Das Hauptgewicht wird auf die unbezahlten Hülfsdienste von Siechen in Hamburg, auf die Eigenschaft des Jacobshospitals als ausschliessliches Krankenhaus und auf die Leipzig eigenthümlichen Haushandwerker zu legen sein. Pos. 5. Kost. Leipzig M. 168 304,07 Hamburg M. 401 566,61 per Tag M. 1,187 per Tag M. 0,850 Leipziger Ausgabe nach Hamburger Massstab berechnet M. 120 537,37, also Leipziger Mehrausgabe M. 47 766,70. 187

Carl Thiersch

Um Missverständnissen vorzubeugen, bemerke ich zunächst, dass mit obiger Berechnung nicht gesagt ist, dass jeder Kranke täglich für M. 1,187, beziehungsweise M. 0,850 Nahrungsmittel durchschnittlich verzehrt hat, sondern diese Zahlen erhält man, wenn Alles, was im Hause überhaupt gegessen und getrunken wird, auf den Krankenverpflegungstag ausgeschlagen wird. Was der Kranke wirklich verzehrt, erfährt man annähernd, wenn man in den Aufwand für Kost mit der Zahl der Gesammtverpflegungstage dividirt, doch wird hiebei der Betrag für die Kranken dadurch erhöht, dass die reichlichere Nahrung der Nichtkranken den Durchschnitt in die Höhe treibt. Bei Leipzig hat man zu der Zahl der Gesammtverpflegungstage noch 4536 Tage hinzuzuzählen für die Beköstigung von Correctionern, die 1875 unter Tags in der Anstalt beschäftigt waren, ohne daselbst zu wohnen. Im Ganzen sind es dann 196 232 Tage. Diese Rechnung ergiebt für Leipzig per Kopf und Tag des gesammten Personales M. 0,837, für Hamburg M. 0,714, also eine Differenz von M. 0,143. Wird der Leipziger Aufwand auf Grund des Hamburger Satzes 0,714 berechnet, d. h. multiplicirt man die 196 232 Gesammtverpflegungstage mit 0,714, so erhält man M. 140 109,648. Diese Zahl drückt das Verhältnis zwischen dem Leipziger und Hamburger Betrieb richtiger aus, als die in der Tabelle 4 eingesetzte. Auch diese Summe ist noch rund 24 000 Mark weniger, als die Leipziger Ausgabe, doch glaube ich, dass sich die Differenz rechtfertigen lässt. Erstens ist hervorzuheben, dass in Leipzig mehr als ein Drittheil, in Hamburg noch nicht ein Fünftel der verzehrenden Personen dem gesunden Personal der Anstalt angehört, und wird hiedurch natürlich der Leipziger Kostsatz in die Höhe getrieben. Ein zweiter Umstand, der den Aufwand für Kost in Hamburg niedriger stellt, liegt darin, dass von den Insassen des Hamburger Krankenhauses beim Maximalstand von 1675 Personen 450 Invalide und Sieche sind. Invalide und Sieche sind aber erfahrungsgemäss billiger zu ernähren, als eigentliche Kranke und Gesunde, welche die Bevölkerung des Leipziger Krankenhauses bilden. Ein dritter Grund ist in der geringen, man darf wohl sagen ungenügenden Kost der Saalkranken in Hamburg im Vergleich mit Leipzig gelegen. Die allgemeine Hospitalkost (vide Lundt l. c. p. 58, vierte Verpflegungsklasse) besteht in der Hauptsache aus: Fleisch, gekochtes 95 Gramm, Kartoffelbrei mit 10 % Gemüsezusatz 0,5 Liter, Gemischtes Brod 345 Gramm, oder Weissbrod 330 Gramm. „Butter“, heisst es l. c. „wird als ein Luxusartikel angesehen, welchen sich selbst zu halten die Hospital-Verwaltung den Kranken so lange überlassen muss, als das Kostgeld weit unter den wirklichen Kosten bleibt, welche der Kranke verursacht. Bei Bereitung der Suppen ist ebenfalls darauf gerechnet, dass der Kranke nach seinem Vermögen selbst Butter hineinthut.“2

2

Nur die mit Hülfsdiensten beschäftigten Siechen erhalten eine wöchentliche Butterration von 250 Gramm l. c. p. 60.

188

Antrittsrede 1876

Als Extradiät ist die Ersetzung der 95 Gr. Rindfleisch durch 125 Gr. gebratenes Kalbfleisch gestattet. Es wird von Fett der Kost nur soviel bei der Bereitung zugewendet, als das dabei verarbeitete Fleisch nebst Knochen liefert, ausserdem für den ganzen Tagesbedarf 3 Kilogr. Butter, was soviel wie nichts ist. Wer also kein Geld hat, Butter zu kaufen, der ist in der Hauptsache auf 95 Gramm Fleisch, 0,5 Liter Kartoffelgemüse und 345 Gramm Brod angewiesen. Bei dieser Kost kann ein auf seine Muskelkraft als einzige Erwerbsquelle angewiesener Reconvalescent nicht erstarken, und es hat wohl seinen guten Grund, dass es l. c. p. 25 heisst: „Finden die Aerzte nun, dass einzelne Kranke, sei es andere Speisen statt der vorgeschriebenen oder neben diesen Zulagen irgend einer Art nöthig haben, so steht ihnen die Verordnung derselben nach ihrem Ermessen als Extradiät völlig frei, es ist sogar darauf gerechnet, dass sie gewisse Lücken in der allgemeinen Anordnung durch Extraverordnung ausfüllen.“ Diese, für einzelne Kranke zugestandene Befugniss, kann aber den Funtamentalfehler der Kostordnung den Fettmangel nicht gut machen. Ich behaupte nicht, dass die Hamburger Kranken schlecht genährt werden, ich glaube vielmehr, dass die Kost durch Extradiät und Zukauf von Butter eine recht reichliche sein wird, aber wenn es sich so verhält, so hat das Kostregulativ daran kein Verdienst. Die Leipziger Ausgabe für Butter im Jahre 1875 betrug Mk. 21 664,90. Hamburg hatte 1875 459 733 Verpflegungstage für allgemeine Hospitalkost, zieht man hiervon die Verpflegungstage von 150–175 Siechen, welche Dienste thun und deshalb Butter erhalten, ab, so bleiben 404 984 Tage, welche nach Leipziger Massstab etwa 12 150 Kilogramm Butter entsprechen, die von der Hamburger Verwaltung erspart werden. Was die Leipziger Kostordnung betrifft, so wusste ich, dass täglich Fleisch und Butter gereicht wird, dass somit die Kostordnung von 1848, welche in der Inauguralabhandlung „Leges cibariae complurium nosocomiorum et ergastulorum von B. K. Th. Thierfelder Lpz. 1848“ steht, und in welcher nur 2 Mal die Woche Fleisch vorgeschrieben war, nicht mehr in Kraft ist, aber was an ihre Stelle getreten, ist keine streng gegliederte Kostordnung. Das Regulativ, welches mir vorliegt, und welches von der Verwaltung im vorigen October auf Grund früherer Kostordnungen verfasst worden, ist eine Art von Speisen-Verzeichniss mit Quantitäts-Bestimmungen, aus dem der Arzt seine Kostordination nach Bedürfniss zusammenstellen soll. Eine instructionsmässige Controle des Verabreichten am Krankenbett ist nicht eingeführt. Zur näheren Einsicht gebe ich hier die Kostanordnung für Saalkranke, sowohl für Leipzig als Hamburg: Leipzig. D. Saalkranke. Morgens 7 Uhr:

1) 0,5 Liter Schleimsuppe oder 2) 0,5 Liter Milch oder 3) 0,5 Liter Kaffee. Bestandtheile: 5 Gr. Kaffee, 1,25 Gr. Rübenmehl, 44,00 Gr. Milch, 5,00 Gr. Zucker. 189

Carl Thiersch

Frühstück 1/2 10 Uhr: 1) 0,5 Liter Milch oder 2) 0,5 Liter Warmbier oder 3) 0,5 Liter Fleischbrühe oder 4) Eier, bis zwei Stück oder 5) 60 Gr. kalten Braten oder 6) 85 Gr. Fleischklösschen oder 7) 85 Gr. rohes oder gebratenes Beefsteak oder 8) 60 Gr. rohen Schinken. Mittagskost: 1) 0,5 Liter Suppe, a) Schleimsuppe zu den Suppen b) Fleischbrühsuppe oder öfter 1 – 2 Eier. 2) 0,5 Liter Fleischbrühsuppe mit 85 Gr. Kalb- oder Rindfleisch oder 3) 0,5 Liter Gemüse mit 85 Gr. Kalb- oder Rindfleisch oder 4) 0,5 Liter Suppe mit 85 Gr. Kalb- oder Rinderbraten oder 5) gemischte Kost, als: 0,4 Liter Suppe 85 Gr. Kalb- oder Rinderbraten, 0,4 Liter Gemüse, 0,2 Liter Compot, oder 6) 0,5 Liter Suppe mit Eierspeise, als: a) Eierkuchen von 2 b) Spiegeleier Eiern. Hierzu bisweilen Compot in Rationen von 0,25 Liter. Nachmittags 3 Uhr: 1) 0,5 Liter Milch oder 2) 0,5 Liter Kaffee. Bestandtheile: 5 Gr. Kaffee, 1,26 Gr. Rübenmehl, 44,00 Gr. Milch, 5,00 Gr. Zucker theilweise mit Abends: 1) 0,5 Liter Suppe, als: a) Schleimsuppe b) Fleischbrühsuppe, 1 oder 2 Eiern. oder 2) 0,5 Liter Milch oder 3) 60,0 Gr. kaltes Fleisch oder 4) 85,0 Gr. Fleischklösschen oder 5) 85,0 Gr. rohes oder gebratenes Beefsteak oder 6) 60,0 Gr. rohen Schinken, zeitweilig 7) 0,7 Liter Kartoffeln mit 1 Häring. Getränk: 1) Bier. a) Braunbier, b) Lagerbier, von Riebeck c) Bairisch Bier u. Co. bis zu 1 Liter für den Tag. 190

Antrittsrede 1876

2) Wein.

a) Weisswein, b) Rothwein, c) Süsser Ungarwein, d) Portwein (ausnahmsweise) in Rationen bis zu 150 Gramm. 3) Branntwein in Rationen bis zu 240 Gramm. Butter: 24 Gramm für den ganzen Tag; auf sechs chirurgischen Stationen 46 Gramm für den Tag. Gebäck: 250 Gr. Roggenbrot, Durchschnittsgewicht 230 Gr. Weizengebäck, für den Tag. NB. Ausnahmsweise wird an Privat- und Saalkranke grüner und schwarzer Thee und bei schweren Krankheitsfällen in kleinen Quantitäten Caviar und Sardellen gegeben. Hamburg. d. Vierte Verpflegungskasse (allgemeine Hospitalverpflegung) 1. Ganze Portion. Frühstück: 1 Portion Hospitalkaffee (3/4 Liter), bestehend aus: 8 Gr. Kaffee, 1 Gr. Surrogat, 6 Gr. Melis. Mittagsessen: 1 Portion Hospitalsuppe (1/2 Liter), bestehend aus 25 pCt. Bouillon, Reis oder Graupen, Mehl, Suppenfett und Suppengemüse. Zur Abwechselung wird Sonntags eine Fleischsuppe, einmal wöchentlich eine Milch- oder andere Suppe und einmal wöchentlich eine Fruchtsuppe gegeben. 1 Portion gekochtes Rindfleisch (95 resp. 125 Gr. ohne Fett, Sehnen und Knochen), oder 1 Häring, zur Abwechselung zweimal Braten, Beefsteak, Frikadellen, Speck, Fricassee, Fische, Pudding oder dergl. 1 Portion Hospitalgemüse (1/2 Liter), bestehend aus zu Brei gekochten Kartoffeln mit einem Zusatz von ca. 10 pCt. Gemüsen, als gelbe Wurzeln, weisser Kohl, Savoyerkohl, weissen Rüben, Kohlrabi etc., 1–2 mal wöchentlich statt dieses Gemüses ein Brei von Reis mit Pflaumen, Rosinen, Corinthen, Obst. Die Irren und die Kranken der chirurgischen Station 1–2 mal wöchentlich Hülsenfrüchte. Zu beiden Arten Gemüsen wird Salz nach Bedarf und das Fett vom Bouillonkochen genommen. 1 Portion Hospitalkaffee wie zum Frühstück. Abends: 1 Portion Hospitalabendsuppe (1/2 Liter) bestehend aus: Milchreis, Bier mit Schwarzbrod und Syrup, Buchweizen- oder Hafergrütze, Sago etc. Dazu Salz, resp. Zucker nach Bedarf, Butter für den ganzen Bedarf 3 Kilo per Tag. (Butter wird als ein Luxusartikel angesehen, u. s. w. wie oben.) Für den Tag: 1 Portion Weissbrod (220 Gr.) und 1 do. Schwarzbrod (125 Gr.) oder nach ärztlicher Verordnung statt dessen im Ganzen 1 1/2 Portion Weissbrod (330 Gr.). Als Getränk 1/2 Liter Hausbier. Surrogatessen: Nach ärztlicher Anordnung wird als solches verabfolgt: 1/4 Liter klare Fleischsuppe mit Reis. 125 Gr. gebratenes Kalbfleisch. 1/2 Liter besonders gekochte Kartoffeln mit Sauce oder Kartoffelbrei. 1 Portion leichtes, frisches Gemüse oder Obst. 191

Carl Thiersch

2. Dreiviertel Portion. Frühstück: wie die ganze Portion. Mittag: Suppe wie die ganze Portion. Fleisch 65 resp. 95 Gr. nach Verordnung oder 1/2 Häring, sonst wie die ganze Portion. Gemüse 1/4 Liter, sonst desgleichen. Kaffee wie die ganze Portion. Abends: wie die ganze Portion, Für den Tag: jedoch ohne Schwarzbrod. Surrogatessen: Suppe, wie bei der ganzen Portion. Fleisch: 95 Gr. gebratenes oder gekochtes Kalbfleisch oder gekochte leichte Flussfische oder Kartoffelfrikadellen oder Armeritter, unter Umständen kein Fleisch. Gemüse: 1/4 Liter Kartoffelbrei, Milchreis, Carotten, gekochtes Obst, Spinat, frische grüne Erbsen, Schneidebohnen, türkische Bohnen. 3. Halbe Portion Frühstück: wie die dreiviertel Portion. Mittag: Suppe: 1/2 Liter Hospitalsuppe. Fleisch: keines. Gemüse: keines. Kaffee wie die dreiviertel Portion. Abends: wie bei der dreiviertel Portion. Für den Tag: 3/4 Portion Weissbrod (165 Gr.), 1/2 Liter Hausbier. Surrogatessen: 1/4 Liter klare Fleischsuppe mit Reis, oder Obstsuppe, Milchsuppe, Brodsuppe aus Weissbrod oder Feinbrod. 4. Viertel Portion. Frühstück: wie die halbe Portion. Mittags: 1/2 Liter Wassersuppe, aus Reis oder Graupen mit 12 Gr. Butter, Mehl und Suppengemüse auf Verordnung auch durchgerührt. Kaffee wie bei der halben Portion. Abends: wie bei der halben Portion, jedoch keine Biersuppe aus Schwarzbrod und Syrup. Für den Tag: 1/2 Portion Weissbrod (110 Gr.), resp. Zwiebacke. Als Getränk: Brodwasser, Haferschleim, Graupen, Reisschleim. Surrogatessen: 1/4 Liter Haferschleimsuppe mit Corinthen oder Obstsuppe, Brodsuppe aus Weiss-, resp. Feinbrod, Biersuppe mit Weissbrod oder Sagogries, 1/8 Liter klare Fleischsuppe. Surrogatgetränk: Limonade, Milch oder die sonstigen Getränke mit Wein. 192

Antrittsrede 1876

Ich behaupte nicht, dass der jetzige Zustand in unserem Krankenhause der richtige ist, und ich würde das Hamburger Regulativ mit der nöthigen Aufbesserung und der entsprechenden Controle vorziehen. Wie schwierig es übrigens ist, mit der Kostordnung das Richtige zu treffen, mag das Beispiel des Berliner Hospitals am Friedrichshain zeigen. Dieses Hospital besitzt eine sorgfältig ausgearbeitete und reichlich angelegte Kostordnung vom Jahre 18743. So ist z. B. der niederste Fleischsatz 176 Gr. und steigt bis 250 Gr., Butter bis 59 Gr., Brod bis 500 Gr., – Ansätze, die ich für mehr als reichlich halte, – dennoch betrugen im Jahre 1875 die regulativmässige Speisung M. 0,617, die Extradiät M. 0,41 per Tag, d. h. bei 124 549 Verpflegungstagen wurde auf Regulativ-Verordnung von den Kranken für 76 886 M. Nahrung verzehrt, auf Extra-Verordnung für 50 899 M. Die Maximalverordnung (250 Gr. Fleisch) kam 17 566 mal vor. In einzelnen Sälen überwogen die Kosten der Extradiät die der festen Diätformen. Im Pavillon XI. (Isolirabtheilung) betrugen die Kosten per Kopf und Tag für regulativmässige Speisung M. 0,46, für Extradiät M. 0,727, in Summa M. 1,187. Schätzt man die oben angeführte Leipziger und Hamburger Kostanordnung auf ihren Gehalt an Albuminaten, Fett und Kohlehydraten, so zeigt sich, dass bei beiden, wenn man für die Leipziger die niedrigen Stufen nimmt, der Schwerpunkt in dem Stärkmehl des Brodes liegt, doch überwiegt schon auf diesen Stufen die Leipziger durch ihre grössere Brodration und durch ihre Butterration. Da aber die Leipziger Kostordnung mit dem Fleisch auf 250 Gr. zu steigen erlaubt, die Hamburger nur auf 125, die Leipziger Fett bis zu 46 Gr., die Hamburger gar keine Butter gewährt, so entfernen sich die beiden Kostarten wesentlich von einander, die Hamburger bleibt auf der Stufe einer ungenügenden schwerverdaulichen wesentlich vegetabilischen Kost stehen, während die Leipziger sich den Anforderungen einer für die Verdauung günstig gemischten und für den Stoffverbrauch völlig ausreichenden Kost mehr und mehr nähert und diese Stufe schon vor der Maximalgrenze erreicht. Noch deutlicher wird sich der Unterschied an einem Beispiel zeigen. Nehmen wir an, dass es sich, wie so oft, darum handelt, eine Kost zu ordiniren, bei welcher ein fieberfreier Reconvalescent, der dem Arbeiterstande angehört, wieder zu Kräften kommen soll, so müssen wir nach dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft eine Nahrung verlangen, die an Albuminaten 120 Gr., an Fett 56 Gr., an Kohlehydraten 400–500 Gr. enthält. Eiweiss Fett Kohlehydrate In Leipzig hat dieses keine Schwierigkeit, denn die niederste Stufe enthält: Gr. 47,32 42,60 340,10 die höchste: 188,10 112,60 443,10 Dazwischen liegt die gesuchte Kost. Anders in Hamburg, wo die niederste Stufe enthält: 11,60 12,00 167,20 die höchste: 90,70 14,00 302,90 3

Bericht über das allgemeine städtische Krankenhaus am Friedrichshain pro 1875, pag. 5 und 6.

193

Carl Thiersch

In Hamburg kann also die gesuchte Kost nicht regulativmässig verordnet werden, sondern nur durch Extraverordnungen. Für diejenigen Leser, welche sich für diese Zahlen interessiren, theile ich nachstehend deren sachverständige Motivirung mit. Hamburg. Minimum (Viertel-Portion). Eiweiss Gr. --2,00 --3,00 6,60 11,60

Fett --12,00 ------12,00

Kohlehydrate 6,00 40,00 6,00 47,00 68,20 167,20

Eiweiss Gr. --56,00 3,00 10,00 8,50 13,20 90,70

Fett --6,00 --8,00 ----14,00

Kohlehydrate 6,00 --47,00 36,00 68,70 145,20 302,90

Eiweiss 0,5 Lt. Kaffee (früh 7 Uhr) Gr. 1,76 0,5 Lt. Fleischbrühe (früh 1/2 10 Uhr) --0,5 Lt. Schleimsuppe mit 1 Ei (Mittags) 7,00 0,5 Lt. Kaffee (Nachmittags) 1,76 0,5 Lt. Fleischbrühsuppe mit 1 Ei (Abends) 6,00 dazu 23 Gr. Butter --250 Gr. Roggenbrod 17,00 230 Gr. Weizenbrod 13,80 47,32

Fett 1,80 --8,00 1,80 8,00 23,00 ----42,60

Kohlehydrate 5,00 --50,00 5,00 ----137,50 142,60 340,10

Fett 20,00 8,00 2,00 5,00

Kohlehydrate 20,00 --30,00 ---

Frühstück 3/4 Lth. Kaffee Mittags 1/2 Lt. Wassersuppe mit Reis Nachmittags Kaffee Abends 1/2 Lt. Sagosuppe dazu 1/2 Portion Weissbrod (110 Gr.) Maximum (Ganze Portion). Frühstück 3/4 Lth. Kaffee Mittags 125 Gr. gekochtes Rindfleisch 0,5 Lt. Kartoffelgemüse Abends 0,5 Lt. Milchreis dazu 125 Gr. Schwarzbrod 220 Gr. Weissbrod Leipzig. Saalkost. Minimum.

Maximum. Eiweiss 0,5 Lt. Milch (früh 7 Uhr) Gr. 20,00 85 Gr. gebratenes Beefsteak (früh 1/2 10 Uhr) 36,00 (Mittags) gemischte Kost 0,4 lt. Suppe 1,30 85 Gr. Rinderbraten 38,00 194

Antrittsrede 1876

0,4 Lt. Gemüse 0,2 Lt. Compot 0,5 Lt. Milch (Nachmittags) 85 Gr. gebratenes Beefsteak (Abends) dazu 1 Ltr. Bayr. Bier 23 resp. 46 Gr. Butter 250 Gr. Roggenbrod 230 Gr. Weizenbrod

2,00 2,00 20,00 36,00 2,00 --17,00 13,80 188,10

3,00 --20,00 8,00 --46,00 ----112,00

25,00 14,00 20,00 --54,00 --137,50 142,60 443,10

Wenn nun trotz des in Leipzig zwischen Minimum und Maximum gewährten Spielraumes der Kostsatz auf das Gesammtpersonal ausgeschlagen, nur 0,857 beträgt, dieser Satz, wenn er für die Kranken besonders berechnet werden könnte, sicherlich noch niedriger sein würde, so scheint mir der Beweis geliefert zu sein, dass eine Kostverschwendung in Leipzig nicht stattfindet, und mag immerhin in einer klinischen Anstalt der Aufwand für Kost grösser sein als in stationär gebliebenen städtischen Hospitälern, so kann angesichts der vorgeführten Zahlen die hierdurch bedingte Steigerung eine nennenswerthe nicht sein. Pos. 6. Wasserzins. Leipzig M. 3726,90 Hamburg M. 10 987,65 per Tag M. 0,026 per Tag M. 0,023 Mehraufwand Leipzigs nach Hamburger Massstab M. 437,33. Um hier eine Meinung aussprechen zu können, müsste der Wasserverbrauch per Tag und Kopf bekannt sein und der Preis des Wassers. Pos. 7. Feuerung. Leipzig M. 48 518,69 Hamburg M. 50 431,20 per Tag M. 0,342 per Tag M. 0,107 Mehraufwand Leipzigs nach Hamburger Massstab berechnet M. 33 389,49. Schon oben habe ich bemerkt, dass, während in Hamburg nur ein verschwindend kleiner Theil der Kranken in Baracken untergebracht ist, der Belegraum unserer Anstalt zu mehr als zwei Drittheilen den Baracken angehört. Schätzt man den jetzigen Belegraum auf 720–740 Betten, so kommen auf die Baracken 520–540. In dieser baulichen Verschiedenheit liegt der Hauptgrund des Leipziger Mehraufwandes für Feuerung. Es ist klar, dass Krankensäle, die über- und nebeneinander in einem geschlossenem Gebäude vereinigt sich gegenseitig warm halten billiger zu heizen sind, als Baracken, die nach allen Seiten mit ausgedehnten Abkühlungsflächen der Athmosphäre zugänglich sind. Tritt dieser Umstand schon bei den massiv gebauten 12 Baracken der ursprünglichen Anlage hervor, so muss er sich noch fühlbarer machen bei den zwei eigentlich nur für den Sommerbetrieb berechneten chirurgischen Baracken vom Jahre 1874 und besonders bei den ihrem Verfall entgegengehenden vier PockenBaracken leichtester Construction mit ihren 200–240 Betten. Wir haben es hier mit einer Nachwirkung des Uebelstandes zu thun, dass die ursprüngliche Anlage, wie sie im Jahre 1867 festgesetzt wurde, dem Umfang nach zu 195

Carl Thiersch

niedrig gegriffen war. Einen Belegraum zur Noth für 500 Betten, wenn man die im Hofe errichteten und mit Kranken belegten Baracken und Schuppen dazu rechnet, hatte bereits das alte Jacobshospital, und da man die Betten nicht der Reihe nach bis zum letzten belegen kann wegen der Verschiedenheit des Geschlechts, des Alters und der Krankheiten, da überdiess womöglich jederzeit ein Drittheil oder wenigstens ein Viertheil des Belegraumes aus hygienischen Gründen für Zwecke der Reinigung und Erneuerung unbenutzt sein sollte, so kann ein Hospital mit 500 Betten bei einem Stand von 350 Kranken schon unbequem voll sein. Unser Maximalstand vom Jahre 1875 war 515 Kranke und ist hiefür der jetzige Belegraum von 720–740 Betten der entsprechende, besonders wenn man den von Jahr zu Jahr wachsenden Betriebsumfang in Betracht zieht. Als die Pläne 1867 fertiggestellt wurden, hatte man einen Belegraum von 500 Betten mit vorläufig 400 Betten im Auge, also im Grunde dasselbe, was das alte Jacobshospital bereits besass. Man wusste damals eben nicht, dass in den nächsten 10 Jahren die Bevölkerung um fast 30 000 wachsen würde, auch dass ein Reichsgesetz zu erwarten sei, welches dem Krankenhaus eine grosse Zahl von Gästen zuführen würde, war nicht bekannt. Es ist darum ganz natürlich, dass der Umfang der Anstalt schon bald nach dem Bezug sich als ungenügend erwies, und hätte nicht der Zufall 1871 die 4 PockenBaracken auf das anstossende Areal gesetzt, die dann in den Betrieb einbezogen werden konnten, so würde längst die Nothwendigkeit hervorgetreten sein, die Anstalt zu erweitern oder eine zweite zu gründen. Um wieviel die Feuerungskosten sich vermindern würden durch Unterbringung unserer Insassen der Pocken-Baracken in einem geschlossenen Gebäude nach Art unseres Hauptgebäudes oder des Hamburger Krankenhauses, ergiebt annähernd folgende Berechnung. Nehmen wir an, dass in dem supponirten Gebäude Belegraum für 200 Betten sei und dass diese Betten durchschnittlich zu drei Viertheilen, d. h. mit 150 Kranken belegt seien, so ergeben sich für das Jahr als Basis unserer Rechnung 54 700 Verpflegstage. Was diese an Feuerung erfordern, ergiebt sich annähernd, wenn man den Feuerungssatz des Berliner Krankenhauses am Friedrichshain zu Rathe zieht. Dieses Krankenhaus ist ein ausschliessliches Barackenspital, während bei unserer gemischten Anstalt die billigeren Feuerungskosten des Hauptgebäudes auf die Durchschnittskosten des Verpflegungstages ermässigend einwirken. Indess wird die gefundene Summe noch ein beträchtliches unter dem wirklichen Aufwand sein, den unsere Pocken-Baracken erfordern, denn die Berliner Baracken sind massive Gebäude zum Theil mit zwei Geschossen und mit Heizapparaten der vollkommensten Art versehen, unsere Pocken-Baracken dagegen sind wirkliche Baracken und ihre Heizvorrichtung höchst unvollkommen. Demnach wird der gefundene Werth hinter unseren wirklichen Bedarf zurückbleiben. Der Friedrichshainer Feuerungsatz per Tag und Kopf ist M. 0,542. Diess giebt für 44 750 Tage M. 24 254. Gesetzt jedoch, dieselben Kranken seien in einem geschlossenen Gebäude mit Centralheizung untergebracht, so dürfen wir den Hamburger Satz von 0,107 M. zu Grunde legen und bekommen für 44 750 Tage M. 4788. Also würde sich an Feuerungskosten jedenfalls eine Ersparniss von rund 20 000 M., ja wahrscheinlich von 25 000 M. ergeben. 196

Antrittsrede 1876

Es liegt demnach eine dringende Veranlassung vor, die Pocken-Baracken durch ein geschlossenes Gebäude für 200 Betten zu ersetzen, und für dieses Gebäude ist auch, wie ich glaube, auf dem Krankenhaus-Areal unter theilweiser Benutzung des Grundstückes, auf dem sich jetzt die Pocken-Baracken befinden, der geeignete Raum vorhanden. Da es sich bei diesem Gebäude nicht um die Unterbringung von schweren acuten inneren oder schweren chirurgischen Kranken handelt, so kann von dem Barackensystem abgesehen werden; wenigstens für die schweren chirurgischen Kranken, von denen ich allein sprechen kann, reicht der Belegraum in den ursprünglichen Baracken völlig aus, auf Jahre. Hiermit würde dem jetzigen Betriebe kein grösserer Umfang gegeben, als er schon besitzt, denn es handelt sich nur um Ersetzung der Pocken-Baracken durch eine geeignete Localität, ja der Belegraum würde sich sogar um 20–40 Betten vermindern. Auch kann der Betrieb in seinem jetzigen Umfange ganz gut mit dem jetzigen Apparat besorgt werden, die Küchen-Einrichtung, die Waschanstalt, Gas- und Wasserleitung ist ausreichend, ebenso der Verwaltungs- und ärztliche Apparat, wollte man jetzt schon eine Theilung der Anstalt vornehmen, so würde man sich durch Erhöhung der Generalkosten eine schwere Last aufbürden. Ja, der jetzige Umfang wird nach meiner Schätzung noch für 10 Jahre ausreichen, wenn das Jacobshospital von gewissen Kranken entlastet werden kann, worauf ich im 3. Abschnitt zurückkommen werde. Pos. 8. Beleuchtung. Leipzig M. 17 550,26 Hamburg M. 22 902,17 per Tag M. 0,124 per Tag M. 0,48 Leipzig, nach Hamburger Massstab berechnet, M. 6862,73, also Mehraufwand M. 10 687,58. Zur Erklärung dieses Mehraufwandes kann ich nur wenig beibringen, da aus dem Lundt’schen Werk nicht zu entnehmen, welcher Art die Hamburger Beleuchtung ist. In Leipzig ist es fast ausschliesslich Gas, das zur Beleuchtung dient, die Zahl der Flammen ist sehr bedeutend und bei Gasflammen ist dem Dienstpersonal ein grösserer Spielraum, den Verbrauch zu steigern, als bei anderem BeleuchtungsMaterial gegeben. Ein Theil des Gases dient auch zu Feuerungszwecken, indem jedes Kranken-Vorzimmer eine Kochflamme besitzt. Auf Gas zu kochen, ist bekanntlich die theuerste Art, und die Ueberwachung dieser Kochflammen von Seiten der Verwaltung wird ihre besondere Schwierigkeit haben. Die chirurgische Klinik trägt ihrerseits dadurch zum Gasverbrauch bei, dass der Operationssaal, der zugleich Hörsaal ist, während des Winters in circa 225 Abendstunden zu Unterrichtszwecken beleuchtet wird. Bei 12 Schnittbrennern entspricht diess einem Aufwand von etwa 170–200 M. Pos. 9. Medicamente und Kurbedürfnisse. Leipzig M. 38 618,20 Hamburg M. 42 471,93 per Tag M. 0,271 per Tag M. 0,090 Leipziger Ausgabe nach Hamburger Massstab berechnet M. 12 747,10, also mehr M. 26 871,10. 197

Carl Thiersch

Von diesen Summen treffen auf Medicamente nach den mir vorliegenden Rechnungsausweisen für Leipzig M. 13 902,05, für Hamburg M. 31 071,31, wenn die Hamburger Bezeichnung „Kosten der Apotheke“ auf Medicamente ausschliesslich bezogen werden darf. Entsprechend seiner mehr als doppelt so grossen Anzahl von eigentlichen Kranken beträgt auch der Medicamentenbedarf Hamburgs mehr als das Doppelte, und eine übermässige Ausgabe Leipzigs würde nur vorliegen, wenn man irriger Weise die 450 Siechen und Invaliden für gleich arzneibedürftig halten wollte wie die eigentlich Kranken. Für sonstige Kurbedürfnisse, als da sind Verbandstoffe (Mull, Gaze, Baumwolle, Charpie-Baumwolle, Guttapercha und Gummi-Geräthe, Wasserkissen, antiseptische Verbandstoffe, chirurgische Instrumente etc. etc.) bleiben für Hamburg M. 11 400,62, für Leipzig M. 25 736,15. Das ist nun freilich ein gewaltiger Unterschied, da man für Hamburg proportional seiner etwa doppelten Krankenzahl M. 50–60 000 erwarten sollte. Ich glaube aus diesem Unterschiede mit Gewissheit entnehmen zu können, dass die Verbesserungen der Wundverbände, welche das letzte Jahrzehnt gebracht hat, in Hamburg 1875 noch nicht ein- oder durchgeführt war, ich vermuthe, dass Charpie noch nicht durch entfettete Baumwolle ersetzt war, und dass an Stelle der bis 1867 allgemein üblichen Wundverbände noch nicht die kostspieligen antiseptischen Verbände getreten waren. Unsere Ausgabe für Charpiebaumwolle, Lister’sche Verbandstoffe und Salicylwatte betrug M. 13 976,32, der Rest im Betrage von M. 11 786,83 wurde für Mull, Guttapercha, Gummi-Stoffe und -Geräthschaften, sowie für Instrumente etc. ausgegeben. Was nun den bedeutenden Aufwand, den antiseptische Verbandstoffe verursachen, betrifft, so ist zu bemerken, dass er reichlich aufgewogen wird durch die Erfolge der antiseptischen Methode, sei es, dass man sich auf den humanitären oder auf den fiscalischen Standpunkt stellt. Diese Methode, welche die Chirurgie dem Edinburger Professor Lister verdankt, liefert als die Regel Heilresultate, welche früher seltene Ausnahmen waren. Jeder Arzt, der sich mit dieser Methode vertraut gemacht hat, wird die ausserordentliche Arbeitsvermehrung, welche sie ihm verursacht, gern auf sich nehmen, denn er weiss, dass er in den meisten Fällen im Stande ist, seinen Kranken Schmerz, Fieber, langwierige Eiterungen und langes Krankenlager zu ersparen, und ihre Arbeitsfähigkeit in kürzerer Zeit als sonst wieder herzustellen. In den letzterwähnten Momenten liegt, wenn es einer solchen bedarf, die fiscalische Rechtfertigung der Methode, denn es ist klar, dass eine Abkürzung der Kurdauer bei Hunderten von Kranken eine ganz bedeutende Ersparniss bewirken muss, da zu jedem Kranken per Tag die Stadtkasse für 1875 durchschnittlich M. 1,3364 zur Deckung der Ausgaben zuschiessen musste, und die raschere Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit kommt nicht blos dem Einzelnen, sondern auch dem Ganzen zu Gute. 4

In Hamburg M. 0,97 per Verpflegstag, in Friedrichshain M. 3,333.

198

Antrittsrede 1876

Die beiden Gemeinde-Collegien von München haben für das Jahr 1876 auf Antrag des Prof. v. Nussbaum M. 14 000 für Anschaffung antiseptischer Verbandstoffe bewilligt, der Aufwand der Halle’schen chirurgischen Klinik ist mindestens ebenso bedeutend. Andere Hospitäler werden nachfolgen, und es wird gewiss nicht dem Leipziger Krankenhaus zum Vorwurf dienen, dass es sich an dieser wichtigen und segensreichen Neuerung in erster Reihe betheiligt hat. Ueber den Restbetrag von Mk. 11 786,31 für Instrumente, Gummigeräthe, Guttaperchastoffe etc., kann ich mich nicht näher äussern, da ich das Detail der Rechnung nicht kenne. Doch kann ich einen der bezeichneten Artikel als weiteres Beispiel benützen, wie sich humanitäres und fiscalisches Interesse vereinigen lassen. Dieses Beispiel ist in den Gummiwasserkissen gegeben. Als ich 1867 meine Thätigkeit als Oberwundarzt am Jacobshospital antrat, fand ich mehrere Patienten mit Druckbrand auf der chirurgischen Abtheilung vor, welche mit diesem Uebel nach abgelaufenem Typhus dahin gelegt worden waren. Monate vergehen, ehe ein solcher Kranker geheilt entlassen werden kann, und nicht selten erliegt er dieser Complication. Seit die Wasserkissen in grösserer Vollkommenheit hergestellt werden, und in unserem Hospital diejenigen Kranken, bei denen sich Druckbrand im Verlauf ihres Krankenlagers mit Wahrscheinlichkeit voraussehen lässt, rechtzeitig auf Wasserkissen gelegt werden, ist der Druckbrand eine der seltensten Erscheinungen geworden, und es ist jedem mit der Sache Bekannten klar, dass die durch Abkürzung der Kurdauer bewirkte Ersparniss den Preis der Wasserkissen, wenn er auch per Stück Mk. 100 beträgt, um ein vielfaches übertrifft. In Bezug auf den eigentlichen Medicamentenverbrauch, auf den die ärztliche Thätigkeit in erster Reihe von Einfluss ist, zeigt sich demnach zwischen Leipzig und Hamburg keine Differenz, welche eine Erläuterung nöthig machte. Der Medicamentenbedarf spielt überhaupt bei dem heutigen Stand der Sache keine so grosse Rolle, als vielfach vermuthet wird. Was will eine Position von Mk. 13 962 sagen bei einer Gesammtausgabe von Mk. 413 000. Die Meinung von der besonderen Kostspieligkeit der Medicamente ist eine von denen, die sich aus früheren Zeiten erhalten haben. Der Preis der Medicamente ist in den letzten 25 Jahren der gleiche geblieben oder, einzelne Mittel ausgenommen, zurückgegangen, der Preis der Lebensmittel hat sich verdoppelt. Im Jahre 1849 wurden für Arzneien ausgegeben Mk. 7038, für die Kost Mk. 32 313, im Jahre 1875 beträgt die Ausgabe für Medicamente Mk. 13 962, für Kost Mk. 168 304. Die Medicamentenausgabe hat sich entsprechend dem verdoppelten Betriebsumfang verdoppelt, die Kostrechnung ist auf das Fünffache gestiegen. Im Jahre 1849 betrug die Medicamentenausgabe den vierten bis fünften Theil der Ausgabe für Kost, im Jahre 1875 den zwölften bis dreizehnten Theil5. Zu der Annahme einer Steigerung der Medicamentenausgabe durch das klinische Institut ist kein Anlass gegeben. Was die Steigerung des Aufwandes durch den antiseptischen Verband betrifft, so glaube ich deren Berechtigung gezeigt zu haben, und was die sonstigen Mehrbedürf5

Im Jahre 1810 betrug der Aufwand für Kost M. 23 697, für Medicamente M. 12 567.

199

Carl Thiersch

nisse betrifft, so mag es sein, dass im Hamburger Hospital mit theuren Lagerungsund sonstigen Geräthschaften sparsamer vorgegangen wird, vielleicht ist auch der Bedarf ein relativ geringerer. Pos. 10. Bekleidung. Leipzig M. 6904,56 Hamburg M. 16 370,80 per Tag M. 0,049 per Tag M. 0,035 Leipziger Ausgabe nach Hamburger Massstab M. 4906,00, Leipziger Mehrausgabe M. 1998,56. Die Differenz ist nicht so bedeutend, dass sie zu Bemerkungen Anlass gäbe. Pos. 11. Unterhaltung der Gebäude. Leipzig M. 14 755,66 Hamburg M. 20 100,43 per Tag M. 0,104 per Tag M. 0,043 Leipziger Ausgabe nach Hamburger Massstab M. 6026,16, Leipziger Mehrausgabe M. 8729,50. Eine Mehrausgabe ist erklärlich durch den Umstand, dass in Leipzig zwei Dritttheile der Kranken in Baracken untergebracht sind und dass vier von diesen Baracken, die oft genannten Pocken-Baracken, sich in schlechtem baulichen Zustande befinden. Pos. 12. Nachschaffung von Mobiliar, Betten etc. Leipzig M. 29 685,10 Hamburg M. 57 398,96 per Tag M. 0,209 per Tag M. 0,122 Leipziger Ausgabe nach Hamburger Massstab M. 17 227,72, Leipziger Mehrausgabe M. 12 457,38. Als man im Jahre 1871 die jetzige Anstalt bezog, wurde das Inventar für 400 Kranke bewilligt und neu angeschafft, und der Beschluss gefasst, auf das alte Inventar ganz zu verzichten. Dieser Beschluss kam nicht zur Ausführung. Schon 1871 wurde ein Theil des alten Geräthes zur Einrichtung der Pocken-Baracken verwendet, nach und nach wurde Alles in Gebrauch genommen, was irgendwie brauchbar erschien. Von dem theuersten Inventargegenstand, Bettgeräthe, war nur wenig zu verwenden, und so musste durch reichliche Nachschaffung aus den laufenden Einnahmen gesorgt werden. Da aber das Inventar auf diese Weise nicht auf den vollen Bedarf gebracht werden konnte, so musste dem entsprechend fortwährend eine stärkere Abnutzung herbeigeführt werden, und daraus erklärt sich, wie mir scheint, der obige Mehrbedarf. Seit 1871 wurde nur einmal ein Extraordinarium und zwar Mk. 12 000 zur Ausstattung der 1874 erbauten zwei chirurgischen Sommer-Baracken bewilligt. Fassen wir noch einmal die Umstände zusammen, welche den Leipziger Betrieb kostspieliger gestalten, so sind es folgende: 1. Die bauliche Anlage an sich und theilweise auch der bauliche Zustand verursachen grössere Ausgaben, als in Hamburg für Feuerung (Pos. 7), bauliche Unterhaltung (Pos. 12) und Bedienung (Pos. 4). 2. Das Inventar war in Leipzig schon bei Bezug der neuen Anstalt unzureichend zugemessen, deshalb müssen die Nachschaffungskosten (Pos. 12) einen Mehraufwand ergeben. 200

Antrittsrede 1876

3. Leipzig hat nur bezahltes Warte- und Dienstpersonal, während in Hamburg 150–175 Sieche als unbezahltes Hülfspersonal zur Verfügung stehen. Diess macht sich bei Pos. 4 bemerklich. 4. Im Leipziger Krankenhaus werden ausschliesslich Kranke verpflegt, im Hamburger sind fast ein Drittheil der Verpflegten Irrensieche, Invalide etc. Diess muss sich bei den Pos. für Warte- und Dienstpersonal, Kost und Medicamente Pos. 4, 5 und 9 bemerklich machen. 5. Die Leipziger Krankenkost ist besser, als die Hamburger, indem die Hamburger Kostordnung einen wesentlichen Theil der Nahrung den Kranken zu beschaffen überlässt. 6. In Hamburg war im J. 1875 die antiseptische Wundbehandlung noch nicht eingeführt, darum ergiebt sich in Leipzig zu Pos. 9 Medicamente, Bandagen etc. eine hauptsächlich durch den Ankauf antiseptischer Verbandstoffe bedingte Mehrausgabe. Diess werden die wichtigsten Gründe sein, welche für den Leipziger Mehraufwand anzuführen sind. Frägt man, von welchem Einfluss auf die Kostspieligkeit die Unterbringung der Kliniken im Jacobshospital ist, so hat sich ergeben, dass in Beziehung auf Kost und Medicamente eine Steigerung des Aufwandes durch die klinischen Aerzte nicht nachweisbar ist, dass zwar allerdings der Aufwand für Verbandmaterial dem chirurgischen Kliniker zuzuschreiben, aber nicht in seiner Eigenschaft als klinischer Lehrer, sondern als städtischer Oberwundarzt, d. h. wenn Leipzig ein städtisches Hospital ohne klinische Anstalt besässe, so würde sich dasselbe dennoch der Einführung der antiseptischen Wundbehandlung nicht haben entziehen können. Es bleibt noch der geringe Aufwand für Gasbeleuchtung, der durch Benutzung des Operationssaales als Hörsaal verursacht wird, zu Lasten des klinischen Instituts. Die Antwort auf Frage II. lautet demnach: für den kostspieligen Betrieb Leipzigs in Vergleich mit Hamburg lassen sich gute Gründe anführen, die Anwesenheit der medicinischen und chirurgischen Klinik im Jacobshospital ist an dieser Kostspieligkeit in nennenswerther Weise nicht betheiligt. Angesichts dieses Resultates halte ich mich zu der Vermuthung berechtigt, dass in allen Fällen, in denen ein Hospitalbetrieb bei Vergleichung der nackten Zahlen beträchtlich niedrigere Verpflegssätze als der Leipziger Betrieb zeigt, eine eingehende Untersuchung Thatsachen aufdecken wird, welche für Leipzig einen Mehraufwand rechtfertigen. Das Berliner städtische allgemeine Krankenhaus am Friedrichshain, am 8. October 1874 in Betrieb gesetzt, besteht in der Hauptsache aus 12 einzeln stehenden, nicht durch einen Corridor verbundenen, theils ein- theils zweistöckigen massiv gebauten Pavillons mit einem Belegraum für 620 Betten. Unter den sonstigen Gebäuden war es mir sehr erfreulich, ein Wohngebäude für Krankenpflegerinnen zu finden, zu dessen Herstellung der Rath 84 500 Mark bewilligt hat. Unsere Anstalt entbehrt bis jetzt geeignete Wohnräume für das Wartepersonal. Jeder Pavillon wird für sich geheizt 201

Carl Thiersch

und sind vier verschiedene Beheizungsarten zur Verwendung gekommen. Am besten hat sich die im Pavillon VIII. eingerichtete Combination von Luft- und Wasserheizung bewährt. Dass überhaupt in diesem Krankenhause Alles zur Verwendung kam, was der heutige Stand der Krankenpflege verlangt, und dass in keiner Weise gekargt ward, setze ich als bekannt voraus. Der Betrieb weist für das Jahr 1875 124 549 Krankenverpflegungstage auf. Die Einnahme aus Kurkostenbeiträgen war 61 333 M. Der Zuschuss der Stadtkasse betrug 374 408 M. Auf die Kosten der Stammanlage und deren Verzinsung einzugehen, habe ich keine Veranlassung. Der Verwaltungsbericht für d. J. 1875 über dieses Hospital, von dem VerwaltungsDirektor Herfordt verfasst, enthält eine Fülle von interessanten und belehrenden Thatsachen. Namentlich die Nachrichten über den Verbrauch der Nahrungsmittel übertreffen an Genauigkeit alles, was mir bis jetzt zu Gesicht gekommen. Man erfährt, wie hoch sich die Ernährung der Aerzte, des Warte- und Dienst-Personales und der Kranken per Krankenverpflegungstag stellt. Wie hoch sich dieser Satz für jeden einzelnen Pavillon beläuft, und zwar einerseits für regulativmässige Kost, andererseits für Extra-Kost. Auch sind die Extrakost-Verordnungen, welche das ganze Jahr über vorkamen, für jeden Pavillon einzeln mit Angabe ihres Geldwerthes verzeichnet. Extra-Verordnungen von Butter z. B. sind 47 754 im Werthe von M. 3151,764 verzeichnet, die sich in sehr verschiedener Weise auf die einzelnen Pavillons je nach ihrem Belegraum und je nach ihren Krankenkategorieen vertheilen. Da nur die erste Diätform eine regulativmässige Butterration hat, diese aber nur 17 566 verordnet wurde, so war eben häufige Veranlassung gegeben, durch Extra-Verordnungen nachzuhelfen. Auch procentisch ist der Verbrauch von Extraspeisen für die einzelnen Pavillons berechnet und zwar nach der Kopfzahl. Für Häringe, deren im Ganzen 459 verzehrt wurden, schwankt dieser Procentsatz von 0,03 % – 0,60 %. Von den 47 994 Rothwein-Ordinationen im Werth von M. 7967,004 variirt der Procentsatz von 7 % – 116 % u. s. w. Gleich eingehend sind die Angaben für Wäsche, Feuerung u. a. behandelt. Für Leipzig liegt eine solche detaillirte Rechnung nicht vor, auch bedarf ich ihrer nicht, um in grösseren Umrissen den Vergleich mit Friedrichshain anzustellen, und so habe ich in den nachstehenden Tabellen 5, 6 und 7 den Friedrichshainer Betriebsaufwand in gleicher Weise mit dem Leipziger Betrieb verglichen, wie es oben in Tabelle 2, 3, 4, mit dem Hamburger geschehen ist.

202

Antrittsrede 1876

Tabelle 5. Betriebsaufwand des Leipziger städt. Krankenhauses und des Berliner städt. Krankenhauses am Friedrichshain im Jahre 1875. Leipzig 141 792 49 904 191 696

Friedrichshain 124 549 ---6 ---6

Leipzig 413 816,15 Mk. 2,91 Mk.

Friedrichshain 474 752,98 Mk. 3,87 Mk.

Krankenverpflegstage Bedienstetenverpflegstage Gesammtverpflegstage Gesammtbetriebsausgabe Kosten eines Krankenverpflegstages Positionen I. Gehalte, Pensionen, Löhne. 1. Cultus 2. Aerzte 3. Verwaltung und Apotheke 4. Warte- und Dienstpersonal II. Ernährung, Bekleidung, Medicamente etc. 5. Kost 6. Wasserzins 7. Feuerung 8. Beleuchtung 9. Medicamente, Instrumente, Bandagen etc. 10. Bekleidung III. 11. Unterhaltung der Gebäude 12. Nachschaffung von Mobiliar 13. Feuerversicherung, Grund- und Personalsteuer IV. Diversa. 14. Fuhrwesen 15. Beerdigungskosten 16. Buchdrucker, Schreiber 17. Nothwendige kleine Ausgaben 6

Leipzig Mark

Friedrichshain Mark

3 346,66 7 200,00 18 145,04 44 239,15

1 865,00 21 161,25 67 009,41 15 472,80

168 304,07 3 726,90 48 518,69 17 550,26 38 618,20 6 904,56

176 841,91 --67 486,29 31 549,25 22 638,30 10 099,75

14 755,66 29 685,10

20 371,00 29 848,73

2 014,06

2 230,98

82,85 2 975,75 797,28 6 977,40

--4 013,50 --4 164,81

Die Zahl der Verpflegungstage der Beamten, sowie des Warte- und Dienstpersonals habe ich in dem Rechnungsauszuge nicht gefunden.

203

Carl Thiersch

Tabelle 6. Die Betriebskosten auf den Krankenverpflegstag berechnet. Positionen

Leipzig pro Tag

Friedrichshain pro Tag

I. Gehalte, Pensionen, Löhne. 1. Cultus 2. Aerzte 3. Verwaltung und Apotheke 4. Warte- und Dienstpersonal

Mark 0,024 0,051 0,128

II. Ernährung, Bekleidung, Medicamente etc. 5. Kost 6. Wasserzins 7. Feuerung 8. Beleuchtung 9. Medicamente, Instrumente, Bandagen etc. 10. Bekleidung III. 11. Unterhaltung der Gebäude 12. Nachschaffung von Mobiliar 13. Feuerversicherung, Grund- und Personalsteuer IV. Diversa. 14. Fuhrwesen 15. Beerdigungskosten 16. Buchdrucker, Schreiber 17. Nothwendige kleine Ausgaben

204

Leipzig

Friedrichshain

Mark 0,015 0,170 0,538

0,81 % 1,74 % 4,38 %

0,39 % 4,46 % 4,11 %

0,312

0,124

10,69 %

3,26 %

1,187 0,026 0,342 0,124

1,420 --0,542 0,253

40,67 % 0,90 % 11,72 % 4,24 %

37,25 % --14,21 % 6,65 %

0,272 0,049

0,182 0,081

9,33 % 1,67 %

4,77 % 2,13 %

0,104

0,164

3,57 %

4,29 %

0,209

0,240

7,17 %

6,29 %

0,014

0,018

0,49 %

0,47 %

}0,076

0,065

2,62 %

1,72 %

2,918

3,875

100,00 %

100,00 %

Antrittsrede 1876

Tabelle 7. Die Ausgaben des Leipziger Krankenhausbetriebes berechnet auf Grund der Friedrichshainer Verpflegungssätze. Positionen

Leipziger Ausgabe

Leipziger Ausgabe nach Friedrichshainer Maassstab

+ Betrag

- Betrag

I. Gehalte, Pensionen, Löhne. 1. Cultus 2. Aerzte 3. Verwaltung und Apotheke 4. Warte- und Dienstpersonal

Mark

Mark

Mark

Mark

3346,66 7200,00

2112,70 24090,46

1233,96 ---

--16890,46

18145,04

76284,09

---

58139,05

44239,15

17610,56

26628,59

---

168304,07 3726,90 48518,69 17550,26

201330,46 --76822,90 35915,91

--3726,90 -----

33026,39 --28304,21 18365,65

38618,20 6904,56

25777,78 11499,33

12840,42 ---

--4594,77

14755,66

23197,17

---

8441,51

29685,10

33973,36

---

4288,26

2014,06

2538,07

---

524,01

II. Ernährung, Bekleidung, Medicamente etc. 5. Kost 6. Wasserzins 7. Feuerung 8. Beleuchtung 9. Medicamente, Instrumente, Bandagen etc. 10. Bekleidung III. 11. Unterhaltung der Gebäude 12. Nachschaffung von Mobiliar 13. Feuerversicherung, Grund- und Personalsteuer

205

Carl Thiersch

IV. Diversa. 14. Fuhrwesen 15. Beerdigungskosten }10833,28 16. Buchdrucker, Schreiber 17. Nothwendige kleine Ausgaben Summa 413816,15

9315,73

1517,55

---

540355,09

45947,42

172574,31

Zu diesen 3 Tabellen habe ich nur Weniges hinzuzufügen. Pos. 2. Besoldungen der Aerzte. Leipzig M. 7200 Friedrichshain M. 25 061 per Tag M. 0,051 per Tag M. 0,170 Leipziger Ausgabe nach Friedrichshainer Massstab M. 24 090,46, d. h. M. 16 890,46 mehr als die wirkliche Ausgabe. Dieser Unterschied ist nicht durch eine grössere Beanspruchung ärztlicher Dienste in Friedrichshain, sondern durch die schon bei Hamburg besprochenen Umstände verursacht. Pos. 3 und 4. Verwaltung und Apotheke. Leipzig M. 18 145,15 Friedrichshain M. 67 009,41 Warte- und Dienstpersonal. Leipzig M. 44 239,05 Friedrichshain M. 15 472,80 Diese beiden Positionen müssen ineinander gerechnet werden, da die Friedrichshainer Position für Warte- und Dienstpersonal nur das eigentliche Wartepersonal betrifft. Das übrige Dienstpersonal steckt, wie ich vermuthe, in den für Verwaltung angesetzten M. 63 109,41. Rechnet man beide Positionen zusammen, so bleibt noch ein Mehraufwand auf Seiten Friedrichhains. Pos. 5. Kost. Leipzig M. 168 304,07 Friedrichshain M. 176 841,91 per Tag M. 1,187 per Tag M. 1,420 Leipziger Ausgabe nach Friedrichshainer Massstab M. 201 330,46, d. h. M. 33 026,39 mehr als die wirkliche Ausgabe. Es wurde schon oben bemerkt, dass die Friedrichshainer Kostordnung sich durch reichliche Ansätze charakterisirt, einerseits darin, vielleicht auch in dem Ausschluss mancher Krankenkategorieen, deren Verpflegung billiger ist, mag der Grund des Friedrichshainer Mehraufwandes liegen. Pos. 6 und 7. Wasserzins. Leipzig M. 7726 Friedrichshain M. --Feuerung. Leipzig M. 48 518,69 Friedrichshain M. 76 822,90 per Tag M. 0,342 per Tag M. 0,542 Leipziger Ausgabe nach Friedrichshainer Massstab M. 76 822,90, d. h. M. 28 304,21 mehr als die wirkliche Ausgabe. 206

Antrittsrede 1876

Friedrichshain muss seinen Wasserbedarf selbst pumpen, die Kosten stecken demnach mit etwa M. 4000 in der Position „Feuerung“ und müssten streng genommen bei Vergleich der beiden Positionen „Feuerung“ bei Friedrichshain abgezogen werden. Aber auch wenn man diess thut, bleibt auf Seiten Friedrichshains noch ein bedeutender Mehraufwand, der durch die baulichen Anlagen und in der mit den Heizanlagen verbundenen Ventilations-Vorrichtung verursacht ist. Gute Ventilation kann nur unter Steigerung der Feuerungskosten bewirkt werden. Pos. 8. Beleuchtung. Leipzig M. 17 550,26 Friedrichshain M. 31 549,25 Der Friedrichshainer Mehraufwand ist hinreichend motivirt durch die Notiz des Rechnungsauszuges, dass die Anstalt zur Erleuchtung des sehr ausgedehnten Anstaltterrains (6700 Rth.) 54 Gasflammen in Strassen-Candelabern unterhalten muss, von denen der grösste Theil während der ganzen Nacht brennen muss. Pos. 9. Medicamente, Instrumente, Bandagen etc. Leipzig M. 38 618,20 Friedrichshain M. 22 638,30 per Tag M. 0,272 per Tag M. 0,182 Leipziger Ausgabe nach Friedrichshainer Massstab M. 25 777,78, d. i. Mehr M. 12 840,42. Der Leipziger Mehraufwand wird dadurch zu erklären sein, dass der Bedarf an antiseptischen Verbandstoffen in Leipzig im Jahre 1875 um vieles grösser war, als in Friedrichshain, sowohl nach Zahl als nach Qualität der Fälle. Schwere Verletzungen, wie z. B. complicirte Knochenbrüche wurden 1875 in Friedrichshain nur wenige verpflegt, wenn, wie ich erfahren, seit Anfang des Jahres 1876 dem Friedrichshainer Hospital derartige Fälle in grösserer Anzahl zugewiesen wurden, so wird die Rechnung für 1876 den vorhandenen Unterschied wahrscheinlich mehr als ausgleichen. Der mir vorliegende Rechnungsauszug giebt die Ausgabe für Medicamente auf M. 7389,61 an. Da Leipzig für Medicamente M. 13 962 ausgegeben hat, so liegt ein Unterschied vor, der durch den geringeren Betriebsumfang in Friedrichshain allein nicht zu erklären ist. Indess habe ich aber bei dem Vergleich mit Hamburg gezeigt, dass unsere Medicamenten-Ausgabe das richtige Mass nicht überschreitet, und unterlasse es deshalb, Vermuthungen über die sonstigen Ursachen der Friedrichshainer Minderausgabe zu äussern. Diese Ursachen würden in den therapeutischen Anschauungen der Aerzte, der bald weitern bald engern Begriffsbestimmung für Medicament, sowie in der Qualität der Kranken zu suchen sein. Von den weiteren Positionen will ich nur zu Pos. 11 und 12 bemerken, um die Höhe der Friedrichshainer Ausgabe zu motiviren, dass im Jahre 1875 noch mancherlei bauliche Veränderungen etc. vorgenommen wurden, und das Inventar auf den vollen Bedarf gebracht werden musste. Wie ich glaube, hat die Vergleichung des Leipziger Betriebs mit dem Hamburger und Friedrichshainer bewiesen, dass der Leipziger Mehraufwand und ebenso der Friedrichshainer Mehraufwand gegenüber Hamburg in der Hauptsache von Umständen abhängig ist, auf welche die Verwaltung nur wenig, die Aerzte noch 207

Carl Thiersch

weniger Einfluss haben, der Vergleich mit Friedrichshain hat überdiess gezeigt, dass ein städtisches Hospital ohne klinische Anstalt, was reichliche Beköstigung betrifft, an der Spitze steht. Die Hauptursache des gegen früher kostspieligen Betriebes liegt eben in der kostspieligen Ernährung, welche gegen die Hälfte des Betriebsaufwandes ausmacht. Die zur Ernährung eines Kranken erforderliche Ausgabe betrug in Hamburg nach Lundt, l. c. im Jahre 1849 M. 132,02, im Jahre 1875 M. 260,93, fast das Doppelte. III. In welchem Verhältniss tragen die verschiedenen Kranken je nach den von ihnen bezahlten Kurkostenbeiträgen zur Entstehung des Deficits bei, und namentlich in wieweit sind hierbei die auf königliche Freistelle Verpflegten betheiligt? Es bleibt noch die Vermuthung möglich, dass die klinische Anstalt etwa in anderer Weise als durch Vertheuerung des Betriebes dem Jacobshospital pecuniären Nachtheil zufüge, nämlich dadurch, dass für die auf kgl. Freistelle verpflegten klinischen Kranken kein genügender Ersatz geleistet werde. In der That wird für diese Kranken nicht soviel bezahlt, als der tägliche Verpflegungssatz M. 2,918 beträgt. Es wird für sie beim Eintritt 4 M. und für die Woche 12 Mark bezahlt. Wohl könnte man entgegnen, dass diese auf kgl. Freistelle verpflegten Kranken mit M. 2,918 per Tag zu hoch angesetzt seien, weil in diesem Durchschnitt auch die theure Verpflegung der Privatkranken eingerechnet ist, während die Freistellenkranken doch nur Saalkranke sind. Ich will aber von diesem Einwand keinen Gebrauch machen, weil andererseits zugegeben werden muss, dass unter den Freistellenkranken verhältnissmässig viele Schwerkranke sein werden, deren Verpflegung und Behandlung einen grösseren als den durchschnittlichen Aufwand verursacht. Auch die 12 000 M., welche der Staatsfiscus jährlich zuschiesst, kann ich nicht zu Gunsten der Freistellenkranken anführen, soweit die Betriebskosten in Betracht kommen, weil dieser jährliche Zuschuss von 12 000 M. vertragsmässig ein Beitrag zur Verzinsung der Stammanlage ist7. Man muss also bereit sein, die Ausgabe des Hospitals, soweit sie nicht durch den Ersatz mit 12 M. die Woche und das Eintrittsgeld von 4 M. gedeckt wird, als eine Belastung des Hospitals anzuerkennen, und es wird sich nur darum handeln, ob dieser Belastung nicht eine entsprechende, dem Hospital zu gute kommende Leistung der Universität gegenüber steht. Zuerst musste die Mehrausgabe, welche die Freistellenkranken verursachen, festgestellt werden. Als ich diese Arbeit unternahm, drängte sich von selbst der Gedanke auf, zugleich nachzuforschen, in welchem Grade denn durch die übrigen 7

Wie die 19 229 Verpflegstage der kgl. Freistellen-Kranken etwa den siebenten Theil der 141 792 Verpflegstage bilden, so repräsentiren diese M. 12 000 den siebenten Theil der mit M. 84 791,33 in den Etat des Jacobshospitals pro 1875 eingesetzten Miethe, beziehungsweise Verzinsung der Stammanlage.

208

Antrittsrede 1876

Kranken der Etat der Anstalt belastet werde, und da ich hierbei zu einigen Resultaten kam, die bisher, so viel ich weiss, noch nicht ziffermässig festgestellt waren, und die auf die Finanzverhältnisse der Anstalt ein helles Licht werfen, so habe ich die gefundenen Zahlen in Tabelle 8 zusammengestellt, um daran einige Bemerkungen zu knüpfen. Tabelle 8. Leipziger Krankenhaus. Zusammenstellung der Betriebsausgaben und der Einnahmen aus Kurkostenbeiträgen je nach den verschiedenen Kurkostenklassen im Jahre 1875. Kurkosten-Klassen.

A. Saalkranke der Tag zu 2,00 M. der Tag zu 1,25 M. der Tag zu 1,00 M. der Tag zu 0,75 M. die Woche zu 12,00 M.8 Universitäts-Freistelle (Stiftung). Almosen-Empfänger Sonstige Kranke B. Privatkranke9 Summa

Zahl derVerpflegtage.

BetriebsAusgabe. Der Tag zu M. 2,9183.

Einnahme aus den KurkostenBeiträgen.

Einnahme gegen die Ausgabe. Mehr.

Weniger.

14101 39380 59781 3410 19229

41153 114930 174470 9951 56119

35 10 45 65 40

29509 36945 44620 1717 33776

30 14 40 36 —

— — — — —

369 1781 111 3630

1076 5197 323 10593

50 45 50 75

60 345 428 26481

— 63 50 50

— — — — 105 — 15887 34

141792

413816 15

173877 33

— 11644 — 77984 — 129850 — 8234 — 22343

05 96 05 29 40

1016 4851 — —

50 82 — —

15992 34 255925

07

239932

73

Vorstehende Tabelle 8 leidet an einen Fehler, der sich nicht vermeiden liess. Der Satz von M. 2,9183 ist für die Privatkranken zu niedrig, für die Saalkranken zu hoch. Da für die Privatkranken eine besondere Buchung nicht stattfindet, so liess sich das nicht ändern. Sehr ins Gewicht fallen wird dieser Fehler aber nicht, da von den 141 792 Krankenverpflegstagen nur 3630 auf Privatkranke kommen, er würde sich erst in der zweiten Decimale bemerklich machen. Von den Saalkranken ergeben die zu 2,00 M. per Tag Verpflegten eine ungedeckte Ausgabe von M. 11 644,05. Hier handelt es sich um Kranke, welche zu der Stadt Leipzig in keiner Beziehung stehen, durch welche der Stadt eine Pflicht zu ihrer Aufnahme auferlegt wäre. Jede Person, woher des Landes, welche sich meldet, wird für M. 2,00 per Tag verpflegt. 8

9

Die Woche zu 12 Mark sind Kranke, welche auf Kgl. Freistelle liegen. Ein Eintrittsgeld von 4 Mark wird von sämmtlichen bezahlenden Kranken entrichtet, mit Ausnahme von denjenigen, welche auf Grund des Reichsgesetzes über den Unterstützungs-Wohnsitz aufzunehmen sind. Privatkranke bezahlen von 5 Mk. bis 12 Mk. den Tag.

209

Carl Thiersch

Es steht demnach nichts im Wege, diese Mehrausgabe durch eine entsprechende Erhöhung des Kostgeldes zu beseitigen. Allerdings können der Klinik dadurch Kranke entgehen, welchen der neue Satz zu hoch sein würde, aber gross würde dieser Ausfall wohl nicht sein. Die grösste Mehrausgabe wird bewirkt durch die Kranken zu M. 1,25 und M. 1,00 per Tag. Und zu diesen gehören auch die zu M. 0,75, welche seit dem 1. Juli 1876 auf M. 1,00 per Tag erhöht wurden. Die Kranken zu M. 1,00 sind zumeist hier beschäftigte Gewerbsgehilfen, Fabrikarbeiter etc., für welche ihre Krankenkasse bezahlt. Die Taxe von M. 1,25 gilt für Dienstboten, für welche während der ersten vierzehn Tage ihre Dienstherrschaft bezahlt. Bei den Dienstboten kommt nach Ablauf dieser vierzehntägigen Frist eine vierwöchentliche Frist, für welche die Stadt Leipzig aufzukommen hat, nach diesen vier Wochen geht die Zahlungspflicht an die Unterstützungsgemeinde über, die entweder Leipzig ist oder eine auswärtige Gemeinde. Ob bei diesen Kategorien, bestehend aus Gewerbsgehilfen, Fabrikarbeitern etc. und Dienstboten, durch eine Erhöhung der Kostgelder und ausserdem bei den Dienstboten durch Errichtung einer Krankenkasse eine Vermehrung der Einnahmen zu erstreben sei, diess zu beurtheilen, überlasse ich solchen, die in diesen Dingen competent sind. Wünschenswerth wäre es, bei allen Kranken, die durch ihre Stellung sich zu Leipzig in einer Art Schutzverhältniss befinden, von einer Erhöhung möglichst abzusehen, die auf den Kranken selbst drückt10. Bei Errichtung einer Dienstbotenkrankenkasse würde dies nicht der Fall sein, weil die Last doch wohl den Dienstherrschaften zufiele. Doch darf bei Errichtung einer Dienstbotenkrankenkasse nicht übersehen werden, dass in Folge derselben möglicherweise ein Andrang entsteht, der, da der Ersatz doch immer hinter der Ausgabe zurückbleiben wird, die Mehreinnahme in ihrer Wirkung auf den Betrieb illusorisch machen würde. Was nun die zu M. 1,00 auf Grund des Gesetzes über den Unterstützungswohnsitz Verpflegten betrifft, so lässt sich nicht läugnen, dass zwar einerseits durch dieses Gesetz einem Zustand ein Ende gemacht wurde, der sich durch Nichts rechtfertigen liess, und der darin bestand, dass die transportablen Kranken von einer Gemeinde der anderen zugeschoben wurden, andererseits hat die Erfahrung gezeigt, dass durch dieses Gesetz den Hospitälern grosser Städte mit theurem Betrieb eine bedeutende Last zu Gunsten von kleinen Orten und Landgemeinden auferlegt ist. Die Mehrausgaben, welche die auf Kosten von Unterstützungswohnsitzen Verpflegten im Jahre 1875 verursachten, betragen etwa 80 000 M. und stecken in der Mehrausgabe der zu M. 1,00 und M. 0,75 verpflegten Personen. Wieviel hiervon auf Leipzig als Unterstützungswohnsitz kommt, wurde nicht festgestellt. Alle Hospitäler grosser Städte wissen zu erzählen, wie das Gesetz von Kranken, die irgendwie reisefähig sind, ausgebeutet wird; sie kommen an, erweisen sich als krank und müssen nun aufgenommen und verpflegt werden gegen eine nicht entsprechende Vergütung. Ein gutes Krankenhaus wirkt auf weite Strecken wie ein 10

Nur bei Kranken propria culpa „scabie napolitana“ correptae halte ich die Forderung vollen Ersatzes für berechtigt. Diese Kranken figuriren im Jahre 1875 mit über 5000 Verpflegstage.

210

Antrittsrede 1876

starker Magnet. Lässt sich nun diesem Uebelstand nicht abhelfen, ohne in den früheren zu verfallen, so erscheint es doch billig, dass der Leistung doch die Gegenleistung einigermassen entspreche, und es sollte die Gegenleistung nach dem mehr oder weniger kostspieligen Betriebe eines Hospitals bemessen werden, denn während der Ersatz von M. 1,00 per Tag genügend ist für diese oder jene Krankenstube eines kleinen Ortes, deren Mobiliar aus ein paar Strohsäcken und wollenen Decken besteht und deren Wartepersonal durch eine altersschwache Frau repräsentirt wird, so ist der Ersatz doch ganz ungenügend gegenüber dem Aufwand des Leipziger oder des Friedrichshainer Hospitals. So wenig es dem Kranken übelzunehmen ist, dass er dem Strohsack seiner Unterstützungsgemeinde die Verpflegung in Leipzig vorzieht, so wenig kann man es Leipzig und den Gemeinden, die in gleicher Lage sind, übelnehmen, wenn sie eine entsprechende Gegenleistung beanspruchen. Es sollten deshalb die gemeinschaftlichen Bemühungen der Städte auf eine Abänderung des Reichsgesetzes gerichtet sein, durch welche die Mehrausgabe, welche diese Kranken verursachen, wenn auch nicht ganz verschwände, so doch etwa auf die Hälfte ermässigt würde. Jedenfalls ist in den 63 192 Verpflegungstagen der zu M. 1,00 und 0,75 Verpflegten, mit ihrer Mehrausgabe von M. 138 084 der Cardinalpunkt der Finanzfrage gegeben. Von den übrigen Categorien habe ich nur noch Veranlassung, die königlichen Freistellen-Kranken zu besprechen, denn die anderen fallen nicht ins Gewicht, theils weil sie wie die Privatkranken keine Mehrausgabe verursachen, theils weil die Summe, mit der sie auftreten, zu unbedeutend ist, oder weil von ihnen als Almosenempfänger nichts verlangt werden kann. Wollte man für letztere auch eine Entschädigungspflicht des Ortsarmenverbandes beanspruchen, so würde das für die Stadtgemeinde keinen Nutzen gewähren, da das bezahlte Kostgeld anderen Aufgaben der öffentlichen Wohlthätigkeit entzogen würde. Was nun die Freistellen-Kranken betrifft, die auf Kosten der Universität verpflegt und für Zwecke des Unterrichtes aufgenommen werden, so ergeben sie eine Mehrausgabe von M. 22 343,40, d. h. einer Zahlung von M. 33 776 steht eine Ausgabe von M. 56 119,40 gegenüber. Nun scheint es mir billig zu sein, dieser Mehrausgabe von M. 22 343,40 entgegenzuhalten, was die Universität an Geld oder geldwerthen Leistungen gewährt, die dem Krankenhause zu gute kommen. An Gehalten der Aerzte erspart das Jacobshospital nach Hamburger Massstab berechnet M. 6426,21, nach Friedrichshainer Massstab M. 16 890,46. Die Hamburger Differenz würde höher sein, wenn das Hamburger Krankenhaus wie das Jacobshospital ausschliesslich Krankenhaus, und nicht fast zu einem Drittheil Siechenhaus wäre, denn in diesem Fall würde Hamburg genöthigt sein, eine grössere Anzahl von Aerzten, als die jetzige, anzustellen. Dagegen kann das Friedrichshainer Hospital, welches ausschliessliches Krankenhaus wie das Jacobshospital ist, mit diesem in Bezug auf Bedarf an ärztlichen Dienstleistungen auf gleiche Stufe gestellt werden, und ich wäre dazu berechtigt, die Friedrichshainer Differenz als eine durch die Universität bewirkte Ersparniss des Jacobshospitales geltend zu machen, denn dass die Dienste der Leipziger Aerzte 211

Carl Thiersch

denen der Friedrichshainer gleich zu stellen, darf ich wohl als zugegeben voraussetzen. Indessen, um auch den Anschein einer Parteilichkeit zu vermeiden, will ich statt der Friedrichshainer Differenz im Betrage von M. 16 890,46 das Mittel aus der Hamburger und Friedrichshainer Differenz mit M. 11 658,33 als Ersparniss ansetzen. Dazu kommt eine Ersparniss von Kosten, welche die Stadt für pathologische Anatomie aufzuwenden hätte, wenn diese Kosten nicht von der Universität getragen würden. Die Stadt würde genöthigt sein, ein Leichen- und Obductionshaus zu bauen, und dessen Personal- und Realexigenz zu übernehmen, Ausgaben, die ich, die Verzinsung der Stammanlage inbegriffen, zu M. 5000 jährlich anschlage. Ferner bezahlt die Universität für freie Station von zwei Assistenzärzten einen jährlichen Zuschuss von M. 1350, dazu kommt ein jährlicher Aufwand in den Nutzen des Krankenhauses für chirurgische Instrumente, Bandagen, Geräthschaften etc., der im Jahre 1875 M. 3840 betrug. Also: Ersparniss an Besoldung der Aerzte M. 11 658,33 Ersparniss an Ausgaben für pathologische Anatomie M. 5000,00 Zuschuss der Universität für freie Station von zwei Assistenten M. 1350,00 Aufwand der Universität in den Nutzen des Hospitals für Instrumente, Bandagen, Geräthschaften etc. M. 3840,00 in Sa. M. 21 848,33 Wenn man diese Rechnung gelten lässt, – und ich wüsste nicht, was dagegen einzuwenden wäre – so bleibt nur eine geringe Summe zu Lasten der Universität, die sich sofort in eine Differenz zu ihren Gunsten verwandeln wird, sobald mit Fertigstellung der Anstalt die Betriebskosten sich um etwas ermässigen. Eine Abminderung der durchschnittlichen Kosten per Kopf und Tag um nur 4 Pf., d. h. von M. 2,918 auf M. 2,878, würde hierzu genügen. Nichtsdestoweniger wird die Universität jederzeit der Stadt zum grössten Danke verpflichtet bleiben für die Ueberlassung des städtischen Krankenhauses zu Zwecken des Unterrichtes. In keiner sonstigen Weise würde die Universität für den Unterricht gleich gut sorgen können. Zum Schluss möchte ich noch einmal, wenn auch nur flüchtig, auf meinen Vorschlag zurückkommen, die vier Pocken-Baracken durch ein geschlossenes Gebäude mit 200 Betten auf dem Krankenhausareale zu ersetzen. Es wurde dabei bemerkt, dass diese bauliche Veränderung die Möglichkeit geben würde, für die nächsten zehn Jahre mit dem Jacobshospital den Ansprüchen der Bevölkerung zu genügen, vorausgesetzt, dass eine theilweise Entlastung des Jacobshospitales bewirkt werden könnte. Drei Kategorieen von Kranken sind es, die hierbei in Betracht kommen: 1) Unheilbare, 2) Leichtverletzte und Reconvalescenten, 3) Leichtkranke getrübten Leumunds. Von den Unheilbaren meine ich solche, die keiner besondern Pflege bedürfen und die deshalb in einer einfachen billiger zu bewirthschaftenden Anstalt verpflegt werden könnten. Am besten wäre es, wie ich glaube, eine solche Anstalt für solche Unheilbare nicht in Leipzig selbst, sondern in der nächsten Umgebung zu errichten. 212

Antrittsrede 1876

Unter Leichtverletzten und Reconvalescenten, die anderwärts untergebracht werden könnten, verstehe ich hauptsächlich solche, die wegen irgend einer geringfügigen Verletzung aufgenommen, so lange im Krankenhaus verpflegt werden, bis sie wieder vollständig arbeitsfähig sind. Wenn z. B. eine Oberarmverrenkung eingerichtet ist, so bedarf der Verletzte nach einigen Tagen keiner kostspieligen Hospitalverpflegung mehr, aber er ist nicht arbeitsfähig und so bleibt er noch vier bis sechs Wochen in der Anstalt. Für derartige Patienten würde eine gut eingerichtete Localität zum Aufenthalt unter Tags, wo man sich mit Lesen, Schreiben, Spielen und Rauchen die Zeit vertreiben könnte und wo eine einfache und kräftige Kost gereicht würde, genügen. Bis zu ihrer völligen Heilung würden diese Patienten in Behandlung der chirurgischen Klinik bleiben, in deren Operationssaal sie sich zur Erneuerung der Verbände einzufinden hätten. Wie ich glaube, würden sich bei dieser Neuerung nicht nur die Stadt, sondern auch die Patienten selbst, die davon betroffen würden, wohlbefinden. Die Stadt, weil die Ausgaben geringer sein würden, die Patienten, weil ihnen der Hospitalaufenthalt manchen unerwünschten Zwang im Interesse der Schwerkranken auflegt. Die dritte Kategorie betrifft Kranke, die mehr oder weniger der Polizei verfallen sind, die einer gewissen Ueberwachung bedürfen, und welche bis zum Jahre 1871 im Georgenhospital untergebracht waren. Womöglich wären sie wieder dort unterzubringen. Diese drei Kategorien schätze ich im Ganzen auf 45–60 Personen. Sollte eine solche Entlastung nicht möglich sein, so würde eben die Nothwendigkeit eines zweiten Hospitales sich einige Jahre früher herausstellen. Hiemit schliesse ich meine Erörterung über den Betriebsaufwand des Jacobshospitales und über den Antheil, den das klinische Institut daran hat. Der freundliche Leser wird wohl bemerkt haben, dass meine Arbeit in erster Reihe den steuerzahlenden und steuerbewilligenden Bürgern Leipzigs gewidmet ist. Sollten sich in meiner Darlegung Irrthümer finden, so glaube ich doch „sine ira et studio“ zu Werke gegangen zu sein, und dass meine Arbeit in diesem Sinne auch aufgenommen werde, wünsche ich von Herzen. ***

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31. October 1877. Bericht des abtretenden Rectors Dr. Carl Thiersch über das Studienjahr 1876/77. Hochansehnliche Versammlung! Indem ich das Amt niederlege, welches mir mit Genehmigung Sr. Majestät des Königs durch das Vertrauen meiner Collegen auf ein Jahr übertragen worden, und ehe ich im Namen der Corporation meinen Nachfolger, den neugewählten Rector, in Pflicht nehme, habe ich die Ehre, einige kurze Nachrichten über das Studienjahr 1876–1877 zu geben. Dasselbe kann im Ganzen als ein stilles, regelmässig verlaufenes bezeichnet werden, insofern sich nichts ereignete, was geeignet gewesen wäre, Lehrer und Schüler von ihrem Berufe abzuziehen, und ich habe Grund, anzunehmen, dass die Vorlesungen mit gleichem Eifer gehalten wie gehört wurden. Und hierin, nicht in der grossen Zahl der Immatriculirten, hat unsere Hochschule bisher ihre Stärke gesucht, und so möge es auch in Zukunft sein. Die Zahl der Immatriculirten betrug im Wintersemester 2976, im Sommersemester 2842, und zwar 1035 Sachsen und 1807 Nichtsachsen; für das laufende Semester ergeben sich bis zum heutigen Tage folgende Ziffern: abgegangen sind 594, zugegangen 767; dies macht für den heutigen Tag einen Bestand von 3015 immatriculirten Studirenden. Diese Ziffer kann sich bis zur endgültigen Feststellung je nach Umständen erhöhen oder vermindern. Von den 767 neu zugegangenen gehören der theologischen Facultät an 82, der juristischen Facultät an 367, der medicinischcn Facultät an 63, der philosophischen Facultät an 255. Dass es bei dieser grossen Anzahl von Studirenden an Conflikten mit den Universitätsgesetzen nicht gefehlt hat, lässt sich erwarten, doch war das abgelaufene Jahr in dieser Beziehung nicht besser und nicht schlimmer als frühere Jahre. Etwas Erhebliches kam nicht vor. Die von meinem Vorgänger, Herrn Prof. Overbeck, ins Leben gerufene Studentische Krankenkasse hat sich vortrefflich bewährt. Das Gleiche gilt von den Privatfreitischen, die auf seine Veranlassung besonders für nichtsächsische Studenten von Professoren gestiftet wurden. Dieselben fanden immer willige Abnahme, ja die Nachfrage überstieg den Vorrath. An Unterrichtsmitteln ist der Zuwachs für das abgelaufene Jahr ein bedeutender. Es wurde ein historisches Seminar unter Direction des Herrn Prof. Dr. von Noorden errichtet. Das neue botanische Institut, der Erweiterungsbau der Entbindungs-Anstalt, die Veterinärklinik gehen ihrer Vollendung entgegen, Czermak’s Hörsaal mit Laboratorium ist an seinem neuen Standort, zu Füssen des physikalischen Instituts, aufgebaut und wird im nächsten Semester den Docenten zur Verfügung stehen. Die 214

Jahresbericht 1876/77

Plätze für das zoologische, wie für das landwirthschaftliche Institut sind bestimmt, die Pläne ausgearbeitet, die Mittel bewilligt; ebenso sind die Mittel für einen klinischen Hörsaal nebst Arbeitsräumen vorhanden; der Platz für eine psychiatrische Klinik ist gekauft, die Mittel für Erbauung der Klinik verfügbar, und die Errichtung einer klinischen Professur für Psychiatrie in Aussicht. Diese durch die Fürsorge der Regierung und die Bewilligungen der Kammern in’s Leben gerufenen Institute sind nothwendig geworden durch die fortschreitende Entwickelung der Wissenschaft, und namentlich die Naturwissenschaften, sowie die medicinischen Disciplinen erwiesen sich hierbei leider besonders kostspielig. Ueberall wird es bewundert, welche Opfer das Königreich Sachsen der Wissenschaft bringt, und unsere Universität hat besondere Ursache, für diese Opfer dankbar zu sein; dennoch darf man es ihr nicht verargen, wenn sie vielleicht in kurzer Zeit mit neuen Wünschen sich vernehmbar machen sollte, denn die rastlos fortschreitende Wissenschaft bedarf einer gleichen Schritt haltenden Pflege, wenn nicht ein Stillstand eintreten soll, der für unsere Hochschule einen Rückschritt bedeuten würde. Was die Veränderung in unserem Lehrkörper anbetrifft, so habe ich zunächst der verstorbenen Collegen zu gedenken. Herr Geh. Rath Dr. Friedrich Ritschl, ordentlicher Professor der classischen Philologie erlag am 9. November 1876 im 72. Lebensjahre seinen langwierigen Leiden, welche er, wie ich aus persönlicher Erfahrung weiss, mit bewunderungswürdiger Geduld und Geistesstärke getragen hatte. Seine Vorlesungen setzte er bis 9 Tage vor dem Tode fort und seine geistigen Functionen blieben bis zu Ende ungetrübt. Welche hohe Bedeutung Ritschl als Kritiker und Lehrer zukam, davon hat uns einer seiner Schüler, unser neuer College Herr Professor Ribbeck in seiner Antrittsrede von dieser Stelle aus eine begeisterte Schilderung gemacht. Dass er auf die Blüthe der philologischen Studien an unserer Universität von gewaltigem Einfluss gewesen, obwohl er nicht mehr in der Fülle der Kraft stand, als ihm vor 10 Jahren hier eine neue Stätte der Wirksamkeit geboten wurde, wird allgemein anerkannt. In der Literatur wird er als feinsinniger Kritiker fortleben in dem Andenken seiner zahlreichen zum Theil hochberühmten Schüler als väterlicher und treuer Freund und in unserm Andenken als liebenswürdiger geistreicher College von imponirender Persönlichkeit. Herr Geh. Hofrath Dr. Hermann Brockhaus, ordentlicher Professor der ostasiatischen Sprachen, starb im 72. Lebensjahr am 5. Januar 1877. Sohn des berühmten Buchhändlers Friedrich Arnold Brockhaus, wandte er sich früh dem Studium orientalischer Sprachen zu mit dem Sanscrit unter Lassen’s Leitung beginnend. Er gehörte zu jenen in Deutschland seltenen Gelehrten, denen es in ihrer Jugend vergönnt ist, ohne Sorgen um die tägliche Existenz sich ihren Studien zu widmen, und so konnte er durch wissenschaftliche Reisen nach Kopenhagen, Paris, London, Oxford, seine gelehrte Bildung vollenden. Von der Tiefe und dem Umfang seiner Forschungen giebt der Bericht über die öffentliche Sitzung der Kgl. bayrischen Academie d. W. vom 28. März d. J. sachverständigen Aufschluss. Wenn ich von seinen Schülern nur Max Müller, Krehl und Windisch nenne, so ist damit zugleich sein Erfolg als Lehrer bezeichnet. Wir, die wir ihn persönlich kannten, schätzten an ihm jene 215

Carl Thiersch

gleichmüthige in sich ruhende Beschaulichkeit, die man nicht selten bei hervorragenden Kennern des Orients antrifft, und die in unserem hastigen, treibenden, strebenden Occident doppelt wohlthuend berührt. Der ausserordentliche Professor Herr Dr. Weiske starb am 10. Februar dieses Jahres im 77. Lebensjahr. Seit langen Jahren unserer Universität angehörig, hatte er sich frühzeitig zwei juristische Disciplinen ausgewählt, die gerade für Sachsen von Wichtigkeit sind, nämlich das Lehensrecht und das Bergrecht, und diesen blieb er während seiner ganzen academischen Laufbahn treu. Der ausserordentliche Professor Herr Dr. Paul Robert Schuster starb am 11. April 1877 im 36. Lebensjahre. Mit ihm erlosch ein glänzender Geist, dem eine grosse Zukunft beschieden zu sein schien. Ursprünglich Theologe, habilitirte er sich 1869 für Philologie, und 1873 durch seine Schrift über Heraklit documentirte er sich sofort als einen namhaften philosophischen Forscher. Er war ein erfolgreicher Lehrer, besass ein umfassendes Interesse für Kunst und Poesie, und von seiner dramatischen Begabung gab er Kunde durch seine antik-christliche Tragödie: Perpetua. Der Geh. Rath Herr Dr. Wunderlich, ordentlicher Professor der Klinik, starb nach langen Leiden am 25. vorigen Monats, im 63. Lebensjahre. Mit ihm verwaiste das wichtigste unter den practischen Fächern der Medicin, die medicinische Klinik, welche er durch 27 Jahre an unserer Hochschule geleitet hatte. Schon als junger Mann war er bemüht, die Selbständigkeit seines Faches gegenüber den seiner Meinung nach überwuchernden Hülfswissenschaften aufrecht zu erhalten und bis zuletzt verlegte er den Schwerpunkt seiner Thätigkeit in die Beobachtung am Krankenbett. Er war ein feinsinniger Beobachter, ein scharfer Dialectiker und besass eine seltene oratorische Begabung, die ihm beim klinischen Unterricht gestattete, das Bild der Krankheit klar und bündig darzustellen. Sein „Handbuch der speciellen Pathologie“ und seine „Geschichte der Medicin“ geben Zeugniss von seinen umfassenden Kenntnissen und seinem kritischen Geiste. Was aber am meisten dazu beitragen wird, wie ich glaube, seinen Namen der Nachwelt zu erhalten, das sind seine Untersuchungen über die Temperaturschwankungen in Krankheiten. Sein davon handelndes Werk ist in die meisten lebenden Sprachen übersetzt. Wie hoch er als Mensch und Arzt stand, wissen wir Alle, die wir mit ihm persönlich verkehrten. Ausserdem haben wir den Verlust von 13 Studirenden durch den Tod zu beklagen, die gleiche Anzahl wie im vergangenen Jahre. Durch Berufung an andere Universitäten verlor die Universität folgende Lehrkräfte: der ausserordentliche Professor Herr Dr. Kronecker folgte einem Rufe an das physiologische Institut in Berlin; der ausserordentliche Professor Herr Dr. Heinrich Hübschmann ging als ordentlicher Professor der vergleichenden Sprachwissenschaft nach Strassburg; der Privatdocent Herr Dr. Rich. Avenarius als ordentlicher Professor der Philosophie nach Zürich; der Privatdocent Herr Dr. Hermann Osthoff als Professor der vergleichenden Sprachwissenschaft nach Heidelberg; der Privatdocent Herr Dr. Fritz Schoell als ordentlicher Professor der classischen Philologie nach Heidelberg; der Privatdocent Herr Dr. ph. Franz Settegast als ausserordentlicher Professor für Romanische Sprachen nach Zürich; der Privatdocent Herr Dr. med. Hermann Fehling nahm eine Stelle am Entbindungsinstitut zu Stuttgart an. 216

Jahresbericht 1876/77

Wir haben diese unsere jüngeren Collegen mit unsern besten Wünschen begleitet und hoffen, dass sie unserer gemeinschaftlichen Alma mater ein freundliches Andenken bewahren mögen. Dagegen erhielten wir einen Zuwachs an Lehrkräften durch die Berufung des Herrn Professor Dr. Otto Ribbeck zu Heidelberg zum ordentlichen Professor der classischen Philologie und Mitdirector des Königl. philologischen Seminars; durch Berufung des Herrn Professor Dr. Ernst Windisch zu Strassburg zum ordentlichen Professor des Sanscrit; durch Ernennung des Herrn Dr. med. Rudolf Brenner in Petersburg zum ausserordentlichen Professor bei der medicinischen Facultät. Es habilitirten sich als Privatdocenten: bei der theologischen Facultät: der Lic. theol. Herr Guthe aus Wolfenbüttel; bei der juristischen Facultät: Herr Woldemar von Rohland aus Lievland, für Strafrecht und Processrecht; bei der medicinischen Facultat: Herr Dr. med. Küster für Augenheilkunde, Herr Dr. med. Ladislaus Leo Freiherr von Lesser, und Herr Dr. Helferich für Chirurgie; bei der philosophischen Facultät: Herr Dr. Georg Goetz für classische Philologie, Herr Dr. Karl Brugmann für vergleichende Sprachwissenschaft und Sanscrit, Herr Dr. Karl Walker, und Herr Dr. Rob. Friedberg für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft. Von sonstigen Beförderungen oder Veränderungen ist zu erwähnen: Herr Dr. theol. Woldemar Schmidt, bisher ausserordentlicher Professor, wurde zum ordentlichen Professor der Theologie befördert; Herr Dr. ph. Justus Hermann Lipsius, bisher Rector des Nikolaigymnasiums und ausserordentlicher Professor an der Universität, wurde zum ordentlichen Professor der classischen Philologie ernannt; der ausserordentliche Professor Herr Dr. Hermann Credner wurde zum ordentlichen Honorar-Professor ernannt; der Geh. Medicinal-Rath Herr Dr. Ernst Wagner, bisher ordentlicher Professor der Pathologie und pathologischen Anatomie, sowie Director der medicinischen Poliklinik, wurde zum ordentlichen Professor der speciellen Pathologie und Director der medicinischen Klinik ernannt. Zu ausserordentlichen Professoren wurden ernannt: bei der medicinischen Facultät die Privatdocenten: Herr Dr. Paul Flechsig und Herr Dr. Friedr. Ahlfeld; bei der philosophischen Facultät die Privatdocenten: Herr Dr. Victor Gardthausen, Herr Dr. Wilh. Braune, Herr Dr. Rudolf Hirzel und Herr Dr. Friedr. Delitzsch. Die Ernennung, beziehungsweise Berufung eines Professors der allgemeinen Pathologie und pathologischen Anatomie ist im Gange und wird Herr Professor Wagner bis zu deren Erledigung auch die pathologische Anatomie vertreten. Die Direction der medicinischen Poliklinik wurde in provisorischer Weise dem ausserordentlichen Professor Herrn Dr. Heubner übertragen. Von academischen Graden wurden ertheilt: von der theologischen Facultät viermal das Licentiat der Theologie, siebenmal das Doctorat der Theologie und zwar fünfmal honoris causa. Unter den theologischen Ehrenpromotionen befindet sich die des Herrn Geh. Rath Drobisch bei Gelegenheit seines Jubiläums. Von der juristischen Facultät wurden 26 Promotionen vollzogen, darunter 2 Ehrenpromotionen, von der medicinischen Facultät 69 und von der philosophischen 89 Promotionen. 217

Carl Thiersch

Viermal war dem Rector die erfreuliche Gelegenheit geboten, hochverehrten Collegen zu ihren Dienstjubiläen die Glückwünsche der Corporation darzubringen. Am 8. December 1876 waren es 50 Jahre, dass Herr Geh. Rath Dr. Drobisch die ordentliche Professur der Philosophie bekleidete und am gleichen Tage waren es 25 Jahre, seit Herr Appellationsrath Dr. Otto Müller zum ordentlichen Professor der Jurisprudenz ernannt worden. Am 19. December feierte der ordentliche HonorarProfessor und emeritirte Rector der Nikolaischule Herr Dr. Karl Friedr. Aug. Nobbe sein 50jähriges Jubiläum. Am 10. Juli dieses Jahres waren es 25 Jahre, dass Se. Excellenz der wirkliche Geh. Rath Herr Dr. von Wächter zum zweiten Mal einem Ruf an unsere Hochschule Folge geleistet. Mögen diesen Jubiläen noch viele andere gleich erfreuliche folgen. Ausserdem betheiligte sich die Universität durch Deputationen und Glückwunschschreiben an den 400jährigen Jubiläen der Universitäten Tübingen und Upsala. Auch in dem abgelaufenen Jahre gingen der Universität Schenkungen zu, die davon Zeugniss ablegen, in wie weiten Kreisen dieselbe sich der Liebe und des Wohlwollens erfreut und für welche ich hiermit öffentlich den Dank der Corporation ausspreche. Der Buchhändler Herr Dr. philos. Salomon Hirzel, der grosse Goethekenner, hat letztwillig der Universitätsbibliothek seine berühmte und kostbare Goethe-Sammlung, die Frucht eines langen Lebens, vermacht und ist dieselbe in besonderen Schränken, entsprechend den Bestimmungen des Testaments, als „Hirzel’s GoetheBibliothek“ aufgestellt. Aus dem Nachlass des Herrn Dr. med. Karl Christian Neumann zu Leipzig gingen der Universität im Einverständniss mit der Wittwe des Verstorbenen 12,000 Mark für die Entbindungsanstalt zu und ausserdem 660 Mark, mit deren Zinsen alte, invalid gewordene Mediciner zu unterstützen sind. Der Commercienrath Herr Max Hauschild in Dresden hat der Universität 4500 Mark hinterlassen zur Errichtung einer Convictstelle, zunächst für seine und seiner Ehefrau Verwandte, nachfolgend für bedürftige Studirende aus dem Königreich Sachsen. Wenn ich zum Schluss hinzufüge, dass unsere Beziehungen zu den Behörden der Stadt Leipzig, in deren Mauern unsere Universität bereits im fünften Jahrhundert ihre gastliche Stätte hat, im abgelaufenen Jahre die besten gewesen sind, so glaube ich, nichts Wesentliches in meinem Bericht übersehen zu haben. (Hierauf erfolgte der Bericht über die bei den vier Facultäten eingegangenen Preisarbeiten und die Verkündigung der neuen Preisaufgaben, wie beides in dem Programme des Herrn Professors Dr. Lange „de duelli vocabuli origine et fatis commentatio“ enthalten ist und sodann die Vereidigung des neuen Rectors und die Uebergabe der Amtsinsignien an denselben.) *** 218

Rudolf Leuckart (1822–1898)

31. October 1877.

Rede des antretenden Rectors Dr. Rudolf Leuckart. Über die Einheitsbestrebungen in der Zoologie. Hochansehnliche Versammlung! Ein alter akademischer Gebrauch giebt dem neuerwählten Rector das Recht, sein Amt mit einem Redeacte zu inauguriren. Nicht der gewöhnliche Kreis seiner Zuhörer ist es, an den er bei dieser Gelegenheit das Wort richtet: es sind seine Collegen, die Träger und Vertreter der verschiedensten Wissenszweige, es sind Studirende aller Facultäten, Männer aller Berufsklassen und Stände, die er am Tage seines Amtsantrittes vor sich versammelt sieht. Entschiedener und lauter als sonst gemahnt es ihn, dass die Corporation, die er zu vertreten die Ehre hat, eine Universitas litterarum ist, deren Glieder sämmtlich, Lehrer und Lernende, durch die gegenseitigen Beziehungen und das gemeinsame Endziel ihrer Bestrebungen zusammengehören und einen Organismus repräsentiren, der in dem öffentlichen Leben mit Recht eine hervorragende und einflussreiche Stellung einnimmt. Haben doch die Wissenschaften, deren Verbreitung und Weiterbildung unsern Universitäten anvertraut ist, in letzter Instanz keinen andern Zweck, als durch eine möglichst vollständige Erforschung der Dinge den Inhalt des Lebens nach allen Seiten hin reicher und mannichfaltiger zu gestalten und den Menschen in geistiger und materieller Beziehung, so weit das angeht, über den Zwang der Aussenwelt zu erheben. Je mehr und vollständiger es jeweilig der einzelnen Wissenschaft gelingt, dieser ihrer Aufgabe zu genügen – sei es durch eine neue Erkenntniss, die, vielleicht das Resultat jahrelanger stiller Arbeit, hineingreift in unser intellectuelles und ethisches Leben, sei es durch eine Entdeckung von weittragender Bedeutung – desto näher rückt dieselbe dem allgemeinen Bewusstsein. Sie wird eine Macht, mag auch die Stelle noch so bescheiden gewesen sein, die vordem sie einnahm. Eine solche Wandlung haben wir soeben, vor unsern Augen, an einer Wissenschaft sich vollziehen sehen, die, ein Glied der Naturwissenschaften, bis dahin nur selten aus den Grenzen gelehrter Forschung herausgetreten war und darum denn auch kaum irgend eines nennenswerthen Antheiles an jener Bedeutung und Werthschätzung sich berühmen konnte, der sich die übrigen Naturwissenschaften durch ihre Erfolge schon seit lange und in reichem Maasse zu erfreuen hatten. 219

Rudolf Leuckart

Es ist die Zoologie, die ich meine, eine Wissenschaft, über die ich hier um so eher zu sprechen mich berechtigt glaube, als ihre Lehre und Pflege an unserer Universität in meine Hände gelegt ist. Nicht, dass es meine Absicht wäre, die Ziele und Aufgaben dieser Wissenschaft zu zeichnen – ich habe darüber schon bei einer früheren Gelegenheit von dieser Stelle aus gesprochen – was ich heute zu sagen gedenke, soll nur zur Orientirung über dieselbe dienen und den Weg zeigen, auf dem sie durch immer tiefere Begründung einer einheitlichen Auffassung allmählich zu der heutigen Bedeutung gekommen ist. Noch vor wenigen Jahren erschien das Studium der Zoologie als eine ziemlich harmlose, um nicht zu sagen müssige Beschäftigung. Und in der That, welchen besondern Gewinn hätte man auch von einer Disciplin sich versprechen können, deren erste und wichtigste Aufgabe in der Sammlung und Classificirung der einzelnen Thierspecies zu bestehen schien, derselben Objecte, die für den Laien meist nur den Gegenstand neugieriger Betrachtung abgaben und höchstens dazu dienten, durch den Reichthum der Gestaltung und die Zweckmässigkeit der Formen die Allmacht und Weisheit und Güte des Schöpfers handgreiflich zu beurkunden. Die den Thieren so nahestehenden Pflanzen hatten als Träger medicinischer Kräfte schon frühe ein allgemeines Interesse erregt; sie hatten durch das ästhetische und landschaftliche Moment, das ihnen innewohnt, der Botanik schon längst den Namen der Scientia amabilis verschafft, schon längst ihr die Häuser und Gärten der Grossen und Reichen geöffnet – und die Zoologie, obwohl der Schwester völlig ebenbürtig, musste nach wie vor in der engen Clause des Gelehrten ihre Heimstätte suchen. In einzelnen Fällen gelang es ihr freilich, auch draussen, im öffentlichen Leben, jene Theilnahme und Anerkennung zu finden, die keine Wissenschaft ohne Gefahr der Verkümmerung auf die Dauer entbehren kann. So namentlich dann, wenn sie, wie seiner Zeit in den Trichinen und Phylloxeren, gewisse bis dahin unbekannte gefährliche Feinde der menschlichen Gesundheit und Culturen entlarvte und zugleich die Mittel an die Hand gab, dieselben zu bekämpfen. Doch alle Erfolge, die auf diese Weise errungen werden, was bedeuten sie jenem gewaltigen Einflusse gegenüber, den die Entdeckungen anderer Naturwissenschaften, besonders der Physik und Chemie, auf die Gestaltung der menschlichen Zustände und der materiellen Verhältnisse geübt haben? Verschwindend klein, wie sie bei solchem Vergleiche erscheinen, haben sie auch immer nur vorübergehend die allgemeine Aufmerksamkeit auf eine Disciplin hinlenken können, die nach ihrem praktischen Werthe so weit hinter den verwandten Wissenszweigen zurückblieb. Und nicht bloss die öffentliche Meinung war es, die unsere Wissenschaft hintansetzte. Auch in gelehrten Kreisen begegnete dieselbe vielfach einem absprechenden Urtheile. Die Zoologie galt höchstens als eine „beschreibende“ Wissenschaft; es wurde ihr gelegentlich sogar der Ehrentitel „Wissenschaft“ streitig gemacht, da eine Summe von Beschreibungen, und wäre sie noch so gross und noch so wohl geordnet, doch unmöglich eine Wissenschaft darstellen könne. Man übersah dabei, dass die Diagnosen der zoologischen Compendien eben so wenig den Inhalt der Zoologie ausmachen, wie etwa eine Zusammenstellung der Litteratur den Umfang und das Wesen der Sprachwissenschaft in sich einschliesst. Was hier geboten wird, ist in 220

Antrittsrede 1877

beiden Fällen nur das empirische Substrat, von dem die Wissenschaft ausgeht, das Rohmaterial, welches der Bearbeitung und Gestaltung und Zusammenfügung bedarf, um den Aufbau der Wissenschaft zu ermöglichen. Und einer solchen realen Grundlage kann keine Wissenschaft entbehren, auch keine derjenigen, die sich im Gegensatze zu den Naturwissenschaften so gerne unter dem stolzen Namen der Geisteswissenschaften einführen. Nur eine Täuschung war es, wenn man eine Zeitlang vermeinte, die Welt in allen ihren Erscheinungsformen rein auf logischem Wege begreifen zu können, und nur insoweit sich berechtigt glaubte, eine Wissenschaft gelten zu lassen, als es möglich schien, die Resultate derselben durch geistige Thätigkeit zu construiren. Auch das Denken erwächst nach Form und Inhalt nur auf dem Boden der Erfahrung und kann von derselben sich nicht ablösen, ohne zu Schlüssen zu führen, die im besten Falle sich der Controlle entziehen, weil sie keinen Vergleich mit der Wirklichkeit mehr zulassen. Was den Naturwissenschaften ihr charakteristisches Gepräge giebt, ist demnach nicht das Princip der empirischen Forschung, das vielmehr einer jeden geistigen Arbeit zu Grunde liegt, sondern die Eigenartigkeit ihres Stoffes und der Umfang des zu Erforschenden, der ungleich grösser und manchfaltiger ist, als auf irgend einem andern Wissensgebiete, und immer mehr wächst, je mehr die Hülfsmittel der Untersuchung sich vermehren und verfeinern. Diese Ausdehnung und Gliederung des naturhistorischen Materials bringt es nun mit sich, dass ein grosser Theil der Arbeitskraft durch die Feststellung des objectiven Thatbestandes absorbirt wird, und oftmals in einem solchen Grade, dass es leicht den Anschein gewinnt, als handle es sich in den Naturwissenschaften überhaupt nur um eine Sammlung von Thatsachen. Dem Fernerstehenden erscheint die Beschäftigung des Naturforschers deshalb auch vielfach als eine rein äusserliche und trockene Arbeit. Wenn sie es aber wäre, wie könnte man dann begreifen, dass gerade dem Naturforscher so häufig eine Hingebung an seine Wissenschaft innewohnt, die vor keinem Opfer an Ruhe und äusserem Lebensglück zurückschreckt? Wo eine Beschäftigung solche Entsagung auferlegt, da muss sie auch ihrerseits eine Befriedigung gewähren, wie sie nur durch eine erfolgreiche Uebung und Steigerung der geistigen Kräfte sich gewinnen lässt. In Wirklichkeit verlangt denn auch die Thätigkeit des Naturforschers eine ungewöhnliche Vereinigung der verschiedensten Fähigkeiten. Beobachtungstalent und Erfindungsgabe, Scharfsinn und Combinationsvermögen, Gedächtniss und Gestaltungskraft, Kritik und Phantasie, selbst ein gewisser künstlerischer Tact – sie alle werden unausgesetzt in Anspruch genommen und müssen zusammenwirken, wenn die Arbeit zu einem erfolgreichen Resultate hinführen soll. Gilt es doch nicht bloss, die complicirtesten Erscheinungen in ihre Elemente aufzulösen, auch nicht bloss die Thatsachen als solche festzustellen und zu ordnen, sondern alle die zahllosen Einzelfälle der Beobachtung und Erfahrung zu allgemeinen Gesetzen zusammenzufassen und die Vorgänge, welche ihnen zu Grunde liegen, auf ihre näheren und entfernteren Ursachen zurückzuführen. Es ist übrigens unleugbar, dass die Naturwissenschaften ihre Ausbildung zum grossen Theile dem Einflusse und dem Vorbilde der Philosophie zu verdanken 221

Rudolf Leuckart

haben. Nicht nur, dass diese durch logische Schulung den Naturforscher lehrte, den spröden Stoff zu bemeistern und der Gedankenarbeit zugänglich zu machen, sie hat auch durch beständigen Hinweis auf den innern Gehalt und den Zweck aller Wissenschaft sehr wesentlich dazu beigetragen, die Thätigkeit des Forschers zu vertiefen und auf die letzten Ziele der Erkenntniss hinzulenken. Reichlich hat sie auf diese Weise zurückgegeben, was sie durch bessere und festere Begründung ihrer empirischen Ausgangspunkte von den Naturwissenschaften empfangen. Andrerseits wollen wir aber nicht verkennen, dass in diesem Einflusse der Philosophie auf die Naturwissenschaften eine Gefahr liegt, der letztere nicht immer in gleichem Maasse sich zu entziehen vermochten. Die Zeit der sog. Naturphilosophie ist kaum vorüber – und schon wieder beginnt eine Periode naturphilosophischer Speculation, die vielfach über die Grenzen des wissenschaftlich Erlaubten hinausführt. Auf Grund von unverstandenen oder doch unvollständig verstandenen Erscheinungen werden Gesetze construirt und Consequenzen entwickelt, für die man eine unbedingte Gültigkeit beansprucht, während sie doch höchstens den relativen Werth von Möglichkeiten besitzen, und vielleicht schon in kürzester Frist der Vergessenheit anheimfallen. Es ist nun eine auf den ersten Blick sehr überraschende Thatsache, dass diese speculative Bewegung in neuerer Zeit am meisten der Zoologie sich bemächtigt hat, derjenigen Naturwissenschaft also, die man von allen übrigen einer empirischen Richtung und Leistung zu zeihen gewohnt war. Der äussere Schein sprach allerdings zu Gunsten einer solchen Auffassung, denn die mühevolle Arbeit des Sammelns und Ordnens stand in der Zoologie weit mehr und länger, als irgendwo anders auf dem Gebiete der Naturwissenschaften, im Vordergrunde der Forschung. Theils weil die Thierwelt, welche dieselbe zum Gegenstande hat, eine sonst nicht gekannte Manichfaltigkeit von Formen und Beziehungen darbietet, theils auch desshalb, weil sich in Folge der Schwierigkeiten, die der Beobachtung der natürlichen Lebensverhältnisse entgegenstehen, zunächst nur die körperlichen Zustände der Untersuchung darboten. Aus diesen Gründen musste denn auch die Thätigkeit des Zoologen vor allem Andern darauf gerichtet sein, die materiellen Eigenschaften seiner Objecte festzustellen und die verschiedenen Lebensformen zu unterscheiden. Anfangs waren es nur die leicht zugänglichen äussern Charaktere, die dabei Berücksichtigung fanden. Bald aber ging man von der äussern Untersuchung zur Zergliederung über. Musste man sich doch schon frühe davon überzeugen, dass der Thierkörper nicht bloss den Träger einer bestimmten Summe specifischer Merkmale abgab, sondern einen zusammengesetzten, vielfach gegliederten Organismus darstelle. Wo man bis dahin kaum mehr als die Mittel zur Charakteristik und Unterscheidung gefunden hatte, da erkannte man jetzt die Theile eines zusammengehörenden Ganzen, das nach allen Richtungen durchforscht werden musste, bevor man sich einer vollständigen Kenntniss desselben berühmen durfte. Aus kleinen Anfängen erwuchs rasch ein immer grösseres Material von Thatsachen. Und das um so mehr, als gleichzeitig auch die Erweiterung der geographischen Kenntnisse immer neue Thierformen zuführte. Mit jedem Zuwachs an Wissen steigerte sich die Lust des Sammelns und Untersuchens und der Sinn für feinere 222

Antrittsrede 1877

Unterscheidung – und so häufte sich denn die Menge des Bekannten schon nach kurzer Zeit in solchem Maasse, dass gar Mancher Gefahr lief, den Ueberblick zu verlieren und in das Labyrinth des Details sich zu verlaufen. Aus dieser Zeit stammt die Aufstellung eines eignen sog. „Thiersystemes“, das zunächst nur die Ordnung der Einzelkenntnisse zum Zwecke hatte, aus dieser Zeit auch die Bezeichnung der Zoologie als „beschreibende“ Wissenschaft, eine Bezeichnung übrigens, welche dieselbe mit der unter ähnlichen Umständen sich entwickelnden Botanik und Mineralogie zu theilen hatte. Soweit mit dieser Bezeichnung nur der Charakter einer bestimmten Forschungsperiode ausgedrückt werden soll, lässt sich gegen den Gebrauch derselben Nichts einwenden. Aber anders, wenn man daraus, wie das gelegentlich noch jetzt geschieht, ein Stichwort macht, das die betreffenden Disciplinen in einen principiellen Gegensatz zu jenen Naturwissenschaften bringt, für welche man das ehrende Beiwort „erklärend“ in Anspruch nimmt, weil sie nicht mit Thatsachen, sondern mit Vorgängen sich beschäftigten, und diese auf ihre natürlichen Ursachen zurückzuführen hätten. Die Unterschiede, welche man durch diese Bezeichnungen auszudrücken versucht hat, sind, wenn sie überhaupt jemals bestanden, längst ausgeglichen. Denn unmöglich konnte es lange verborgen bleiben, dass die Objecte der sog. beschreibenden Naturwissenschaften, mochten sie dem Beobachter auch zunächst als fertige Thatsachen entgegentreten, in letzter Instanz doch nur den Ausdruck und das Resultat von Vorgängen darstellen, die in ganz derselben Weise, wie die physikalischen und chemischen Erscheinungen, der wissenschaftlichen Analyse zugänglich sind. Der Zoologe wurde zunächst wohl dadurch auf diese Vorgänge hingewiesen, dass er Thiere beobachtete, die in den einzelnen Alterszuständen einen sehr verschiedenen Bau besassen und eine ganze Reihe von Formveränderungen zu durchlaufen hatten, bevor sie ihre definitive Bildung erreichten. Was Allen zur Genüge bekannt ist, vielleicht schon frühe die Phantasie des Kindes erregt hat und den Knaben einst zur Beobachtung und zum Nachdenken antrieb, die Metamorphose der Raupe in einen Schmetterling, das wiederholt sich, wie wir heute wissen, bei Hunderten und Tausenden von Thieren, nur dass die Umwandlungen vielfach noch auffallender und wunderbarer sind, und die einzelnen Entwicklungszustände nicht selten zu einem Grade der Selbstständigkeit gelangen, in dem sie leicht für eigne Thierarten gehalten werden können und wirklich auch gehalten sind. Und solch ein Irrthum ist um so leichter möglich, als es Thiere giebt, deren Jugendformen zeitlebens in ihrem provisorischen Zustande verharren, der Weiterentwicklung also unfähig sind, aber ganz nach Art der ausgebildeten Geschöpfe eine Nachkommenschaft erzeugen und erst in dieser wieder zur Form der Mutterthiere zurückkehren. Die Metamorphose ist jedoch nicht bloss auf jene Thiere beschränkt, deren Jugendzustände eine von den Eltern verschiedene Organisation besitzen, sondern findet sich auch da, wo erstere bereits im Vollbesitze ihres späteren Baues geboren werden. Was das Thier besitzt und was es ist, verdankt es in allen Fällen einer Entwicklung, in deren Verlaufe es durch eine ununterbrochene Kette von Veränderungen 223

Rudolf Leuckart

aus einer ursprünglich formlosen Masse zu der spätern Organisation sich herangebildet. Nur insofern besteht ein Unterschied, als diese Bildungsvorgänge das eine Mal zum grossen oder gar grössesten Theile in die Zeit des freien Lebens fallen, das andere Mal aber, wenn die gegebenen Verhältnisse es erlauben, schon während des Erlebens mehr oder minder vollständig zum Abschlusse kommen. Das Studium dieser Entwicklungsvorgänge ist heutigen Tages zu einem eben so wesentlichen, wie wichtigen Theile der zoologischen Forschung geworden. Begreiflich – denn die specifische Natur eines Thieres lässt sich, wenn sie auch jederzeit dieselbe ist, als Ganzes doch nur durch eine Combination der Einzelzustände erkennen, in welche die Lebensgeschichte desselben sich auseinander legt. Was wir auf diese Weise an Beobachtungen und Erfahrungen allmählich gewonnen haben, hat unser zoologisches Wissen ausserordentlich bereichert und unsere Kenntnisse von den einzelnen Arten vielfach umgestaltet. Aber auch auf die gegenseitigen Beziehungen derselben ist dabei ein neues Licht gefallen. Es ist eine allbekannte Thatsache, dass die Arten, die der Zoologe oder auch der Laie zu unterscheiden pflegt, in sehr ungleichem Grade von einander abweichen. Hier auf gewisse nur untergeordnete Eigenschaften beschränkt, gehen die Verschiedenheiten in andern Fällen so weit, dass kaum noch irgend welche Vergleichspunkte übrig bleiben. Wolf und Hund auf der einen, Fisch und Schnecke und Seestern auf der andern Seite beweisen das zur Genüge. Diese verschiedenen Grade der Aehnlichkeit gewissermaassen graphisch darzustellen, ist nun von jeher die Aufgabe des sog. Thiersystemes gewesen. Anfangs legte man, wie bei der Charakteristik der Species, so auch bei der Abschätzung der Aehnlichkeiten ausschliesslich die äussere Gestaltung zu Grunde, doch schon nach kurzer Zeit kam man zu der Erkenntniss, dass diese die Beziehungen der Arten nur sehr unvollständig ausdrücke, gewissermaassen nur eine Maske sei, unter welcher das eigentliche Wesen des Thieres sich verstecke. Wie gleiche oder ähnliche Formen bei tiefer greifender Untersuchung nicht selten eine ganz verschiedene Combination von Eigenschaften enthüllten, so erwiesen sich vielfach Geschöpfe von sehr abweichender Gestaltung, wie die Säugethiere und Vögel und Schlangen und Fische, als blosse Modifikationen derselben Bildung, den Dampfmaschinen vergleichbar, die ja ebenfalls immer dieselben bleiben, mag auch der Mantel, der sie umhüllt, die verschiedensten Formen haben. Auf Grund dieser Erfahrungen unterschied man nun in der Thierwelt seit den Zeiten Lamarck’s und Cuvier’s eine Anzahl sog. Bildungstypen, architektonische Stile gewissermaassen, die je ein besonderes Constructionsprincip repräsentirten, trotz aller Freiheit der Gestaltung im Einzelnen aber unter sich keinerlei nähern Zusammenhang besitzen sollten. Nur wenige Thatsachen haben die Physiognomie der zoologischen Forschung so lange beherrscht und so charakteristisch gestaltet, wie die Lehre von den Bildungstypen. Wo man bis dahin nur Verschiedenheiten gesehen und Unterschiede gesucht hatte, da galt es jetzt zusammenzufassen und „das im Geheimen bewahrte Urbild“ durch allen Wechsel hindurch zu verfolgen. Es begann jene Richtung in unserer Wissenschaft, die man κατ᾽ἐξοχήν die vergleichende nennt und mit dem grössesten 224

Antrittsrede 1877

Erfolge später auch auf andere Wissenszweige und selbst solche übertragen hat, die von dem naturhistorischen Forschungsgebiete weit abliegen. Im Verfolge dieser Richtung erschloss sich dem Zoologen zum ersten Male die Ahnung eines Verwandtschaftsverhältnisses in der Thierwelt. Nicht vereinzelte Arten mehr waren es, die sich zufällig, jedenfalls einander gleichgültig darin zusammengefunden hatten, sondern Glieder bestimmter Familien, die sämmtlich die gleichen Züge trugen und sich vielfach sogar in eine fortlaufende Formenreihe zusammengruppiren liessen. Schon wurden Stimmen laut, welche diesen Verwandtschaftsverhältnissen eine durchaus reale Bedeutung vindicirten und der Vermuthung Ausdruck gaben, dass es die gemeinschaftliche Abstammung sei, der jene Familienähnlichkeit den Ursprung verdanke. Aber noch war der Boden nicht bereitet, in dem solche Ideen Wurzel fassen und gedeihen konnten. Die Typenlehre selbst, die sie geboren, lieferte die Waffen, sie zu bekämpfen. Galt es derselben doch als ausgemacht, dass die Repräsentanten der verschiedenen Typen eine jede Vergleichung und Zusammenstellung ausschlössen und höchstens insofern einige Beziehung hätten, als sie gewisse Formen des Thierlebens überhaupt zum Ausdrucke brachten. Unter solchen Umständen erscheint es denn als ein bedeutungsvoller Fortschritt, dass sich den Ergebnissen der Entwicklungsgeschichte gegenüber die Annahme einer Exclusivität zwischen den Thiertypen nicht länger als haltbar erwies. Was die letztern unterscheidet, beruht in allen Fällen, wie wir heute wissen, auf secundären Momenten, denn die Grundzüge der Entwicklung sind bei allen Thieren die gleichen, mögen dieselben in ihrer definitiven Bildung auch noch so auffallend abweichen. Es wird das schon dadurch unzweifelhaft bewiesen, dass es Thiere giebt, die, obwohl den verschiedensten Typen zugehörig, wie z. B. Fische, Schnecken, Würmer und Strahlthiere, in ihrer Jugend genau die gleiche Organisation besitzen und unter gemeinsamer Form so lange Zeit leben, bis die Bedingungen der weitern Metamorphose erfüllt sind. Und die Organe, die im Laufe der individuellen Entwicklung hier oder dort, je nach Umständen, am Körper des jungen Thieres ihren Ursprung nehmen, verhalten sich kaum anders. Auch sie entstehen allen spätern Unterschieden zum Trotze in wesentlich der gleichen Weise, die einen als Massenaggregate, welche aus der bis dahin noch ziemlich indifferenten Substanz sich isoliren, die andern als Ausbuchtungen von Flächen oder Röhren. Knochen und Muskeln, Kiemen und Beine, Lungen und Nieren sind in ihren ersten Anfängen nicht zu unterscheiden, obwohl sie im ausgebildeten Zustande kaum irgend welche Aehnlichkeit mehr darbieten. Oftmals entwickelt sich sogar dasselbe Gebilde zu gänzlich verschiedenen Organen, in dem einen Falle vielleicht zu einem Beine, in dem andern zu einem Kiefer oder einem Fühlhorne. Auf diese Weise hat die Entwicklungsgeschichte eine Menge der wichtigsten und manichfaltigsten Beziehungen zwischen den einzelnen Organisationen nachgewiesen und Verbindungen angebahnt, die früher kaum vermuthet werden konnten. Sie hat sogar den Nachweis geliefert, dass die Formunterschiede der einzelnen Thiere sowohl, wie der Organe, vielfach nur auf einer verschiedenen Länge des 225

Rudolf Leuckart

Entwicklungsweges beruhen, indem die einen auf einer Bildungsstufe verharren, die bei den andern den Durchgangspunkt zu einer weitern Wandlung abgiebt. Doch damit ist der Einfluss, den die Entwicklungsgeschichte auf die Gestaltung unserer Wissenschaft ausgeübt hat, noch keineswegs erschöpft. Auch nach einer andern Richtung hat sich derselbe gleich maassgebend geltend gemacht. So lange die Zoologie sich ausschliesslich mit dem fertigen Organismus beschäftigte, konnte sie den letztern immerhin für sich betrachten und beurtheilen, ohne die natürlichen Verhältnisse des Vorkommens und der Lebensweise in Betracht zu ziehen. Anders aber, als man anfing, die Metamorphose der Thiere zu studiren, und nun die Beobachtung machte, dass mit der Veränderung der Körperform und der Ausbildung der Organe auch die Lebensweise sich änderte, und zwar jedes Mal der Art, wie die neuen Eigenschaften es mit sich brachten. In unverkennbarer Weise ergaben sich dabei die Theile, die den Körper zusammensetzten, als die Werkzeuge, mittels deren das Thier seine Lebensarbeit verrichtete. Nicht ein bedeutungsloser Zufall erschien es länger, dass die Raupe oder der junge Frosch unter andern Verhältnissen gefunden wurde und anders lebte, als das ausgebildete Thier; man erkannte in diesen Unterschieden jetzt vielmehr eine directe und nothwendige Folge der jeweiligen Ausstattung mit Organen, welche nach Bau und Leistungsfähigkeit unter sich verschieden sind. Wie nun aber die verschiedenen Zustände desselben Thieres, ganz eben so verhalten sich auch die verschiedenen Thierarten selber. Eine jede repräsentirt nicht bloss anatomisch, sondern auch biologisch eine besondere Lebensform, ausser Stande, eine andere Leistung zu üben, als jene, zu der die Eigenschaften ihrer Organe sie befähigen. Bau und Lebensweise eines Geschöpfes verhalten sich in allen Fällen, wie die zwei Glieder einer Gleichung, die immer nur beide eine äquivalente Aenderung zulassen. Natürlich unter solchen Umständen, dass es heute nicht mehr der todte Körper ist, sondern das lebende Thier, das wir der Untersuchung unterbreiten. Aus den Museen haben wir den Schauplatz unserer Forschung in die freie Natur verlegt, wo wir allerorten, in Wald und Feld und Wasser, dem geheimen Treiben der Thierwelt nachgehen. Und wo die gewöhnlichen Mittel der Beobachtung nicht mehr ausreichen, da wissen wir durch künstliche Vorrichtungen die natürlichen Verhältnisse zu ergänzen. Wir errichten Laboratorien, in denen wir die Thiere züchten, um mit den Aeusserungen ihres Lebens zugleich die Bedingungen ihrer Existenz und ihrer Leistungsfähigkeit zum Gegenstande der Forschung zu machen. Erst mit dieser Richtung auf die Lebenserscheinungen der Thierwelt hat der Zoologe sein natürliches Arbeitsgebiet gefunden. Früher, als er die ruhenden Formen studirte, war er genau in der Lage des Technikers, der bei dem Bestreben, die Natur einer Maschine zu ergründen, damit sich begnügt, die einzelnen Theile auseinander zu nehmen und nach Form, Beschaffenheit und Fügung zu untersuchen. Wohl ist die genaueste Kenntniss der Zusammensetzung der Maschine die Vorbedingung einer jeden weitern Einsicht, dem vollen Verständniss aber erschliesst sich dieselbe erst dann, wenn es gelingt, in ihr ein System von Massen zu erkennen und im Einzelnen nachzuweisen, die ihren Eigenschaften entsprechend nach gewissen 226

Antrittsrede 1877

Gesetzen zu einem gemeinsamen Resultate zusammenwirken, wenn mit andern Worten es gelingt, an der Hand der Mechanik das Problem der Maschine zu lösen. Und ganz die gleiche Aufgabe ist es, die an den Zoologen herantritt, denn die Thiere sind nicht etwa die Kinder einer künstlerisch bildenden oder gar launenhaften Natur, wie man früher wohl annahm, sondern, gleich den Maschinen, gesetzmässige Combinationen von Massen und Massenaggregaten mit Eigenschaften, die in der Lebensarbeit ihren Ausdruck finden. Unfähig, dieser Aufgabe mit den Mitteln der anatomischen oder entwicklungsgeschichtlichen Untersuchung zu genügen, sah sich der Zoologe auf die Beihülfe der Physiologie verwiesen, die ja die Erforschung der Lebensvorgänge zu ihrem eigensten Ziele sich gesetzt hat. Und zwar war es zunächst derjenige Theil der Physiologie, der die Functionenlehre oder, wie man früher sagte, die Lehre de usu partium behandelte, von welchem er sich durch Aneignung theils der positiven Ergebnisse, theils auch der Forschungsmethoden die wichtigsten Aufschlüsse versprechen durfte. Anfangs, als die Physiologie erst eben aus der anatomischen Forschung hervorwuchs, hatte diese Lehre fast deren ganzen Inhalt gebildet. Aber die junge Wissenschaft gestaltete sich bald freier und selbstständiger. Die Feststellung der Beziehungen zwischen den Eigenschaften der Organe und ihren Leistungen führte naturgemäss zu einer Untersuchung über die Bedingungen dieser Beziehung und dadurch zu einer Verbindung mit der Physik und Chemie, welche die Physiologie ihrem Ausgangspunkte immer mehr entfremdete. So ist es denn gekommen, dass die Functionenlehre aus derselben allmählich verschwunden ist. Die heutige Physiologie ist zu einer Physik und Chemie des lebenden Körpers geworden, die, wenn sie auch der anatomischen Grundlage nicht gänzlich sich entäussern kann, von den concreten Lebensformen doch möglichst absieht und ihre Aufgabe darin findet, die physiologischen Vorgänge einzeln mit dem ganzen Apparate physikalisch-chemischer Forschung zu analysiren und auf die in letzter Instanz ihnen zu Grunde liegenden molecularen Ursachen zurückzuführen. Es sind weit greifende und viel versprechende Ziele, welche der Physiologe anstrebt. Allein, so sehr er damit auch dem Bedürfnisse nach einer möglichst tiefen Einsicht in die Natur der Lebensvorgänge nachkommt, so liegt dem Zoologen doch einstweilen die Rücksicht auf die ersten Bedingungen des thierischen Geschehens noch näher. Und dadurch erklärt es sich denn, dass die Lehre von den Beziehungen der Lebenserscheinungen zu dem gegebenen Substrate und von dem einheitlichen Zusammenwirken derselben in den einzelnen Thierformen allmählich zu einem integrirenden Theile der Zoologie geworden ist, ja diese heutigen Tages so vollständig durchdrungen hat, dass man sie vielfach geradezu als die Wissenschaft von der Lebensgeschichte der Thiere (Biologie) bezeichnet. Und diesen Namen verdient die heutige Zoologie mit um so grössern Rechte, als es nicht mehr bloss die höhern menschenähnlichen Lebensformen sind, die sie ihrer Betrachtung zu Grunde legt, wie das die Physiologie einst gethan hat, sondern in gleicher Weise auch die niedern und niedrigsten Geschöpfe berücksichtigt, Geschöpfe zum Theil, die mit den einfachsten Mitteln ihre Lebensarbeit verrichten und den thierischen Organismus, allen Beiwerkes entkleidet, in seiner elementaren Form der Untersuchung entgegen227

Rudolf Leuckart

tragen. Wie sehr aber gerade das Studium dieser einfachsten Wesen unsere Ansichten über die anatomischen Voraussetzungen des thierischen Lebens hat umgestalten müssen, ergiebt sich schon daraus, dass wir in denselben Geschöpfe kennen gelernt haben, die weder Eingeweide, noch Nerven und Muskeln und Gefässe besitzen, aller jener Organe also bar sind, die man sonst als nothwendige Requisite eines Thieres zu betrachten gewohnt war. Einfache, dem unbewaffneten Auge meist unsichtbare Häufchen thierischer Substanz, repräsentiren dieselben eine fast homogene Masse, welche der Beschaffenheit und Anordnung ihrer Theilchen die Fähigkeit verdankt, mechanische Eindrücke mit einer Formveränderung zu beantworten, und von Flächen begrenzt wird, welche durch Aufnahme und Abscheidung von flüssigen Substanzen die Möglichkeit eines fortwährenden Stoffwechsels gestatten. Der ältern Anschauungsweise musste ein Thier, das ohne Nerven fühlt, ohne Muskeln sich bewegt und ohne Darm sich ernährt, geradezu als eine physiologische Unmöglichkeit erscheinen – heute, wo die Existenz solcher Organismen ausser Zweifel steht, entnehmen wir denselben die Thatsache, dass es ein Irrthum war, wenn man früher eine bestimmte Combination specifisch gebildeter Organe als die erste und allgemeinste Voraussetzung des thierischen Lebens ansah. Nicht die Organe sind es, es ist die thierische Substanz, das sog. Protoplasma als solches, dem in Folge gewisser, bis jetzt allerdings nur unvollständig erkannter Eigenschaften die Möglichkeit der Lebensäusserung innewohnt. Freilich ist das Maass der Leistungsfähigkeit bei den bloss protoplasmatischen Geschöpfen nur beschränkt und weit davon entfernt, einen Vergleich mit den energischen und complicirten Thätigkeiten der höhern Thiere zuzulassen, aber dafür besitzen diese letztern auch im Gegensatze zu den Protoplasmathierchen eine beträchtliche Körpermasse, durch welche die Grösse der Arbeit entsprechend gesteigert wird. Doch das gilt nur unter der Voraussetzung, dass gleiche Massentheilchen auch gleich Viel verarbeiten resp. aufnehmen und zum Zwecke dieser Aufnahme mit gleich grossen Flächen versehen sind. Bei der Vergrösserung des Körpers wächst nun aber die Aussenfläche nicht im Verhältnisse der Massenzunahme, sondern in einem geringern, und desshalb ergiebt sich denn für diese grössern Thiere ohne Weiteres schon die Nothwendigkeit einer complicirtern Bildung. Schon das Moment der wachsenden Grösse also bedingt eine gewisse Zusammensetzung des Körpers, die dann noch dadurch zunimmt, dass die einzelnen Theile der Masse sowohl, wie auch der Fläche in ungleicher Weise an den Vorgängen des Lebens participiren und der jedesmaligen Leistung entsprechend sich umbilden. Auf diese Weise entstehen erst nachträglich, so zu sagen, die einzelnen Organe des Thieres, die Eingeweide und Muskeln und Nerven, und wie sie sonst heissen mögen, jene Werkzeuge, die dann mit zunehmender Vervollkommnung auch ihrerseits wieder eine immer weiter gehende Specification und Steigerung der Leistungen zulassen. Es ist ein unerschöpflicher Reichthum an Mitteln, durch welche die thierische Natur die Lebensarbeit ermöglicht, eben so unerschöpflich, wie die Lebensformen selber. Aber so oder anders gebildet und befähigt, repräsentiren diese letztern doch immer ein System von Theilen, die nicht bloss äusserlich zu einem Ganzen zusam228

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menhängen, sondern auch durch ihre Thätigkeiten der Art sich ergänzen, dass keines derselben einer bloss einseitigen Veränderung fähig ist. Erst der Nachweis dieses gesetzlichen Zusammenhanges zwischen den einzelnen Functionen und Theilen des Thierkörpers hat unsere Kenntnisse von der thierischen Organisation zu einem einheitlichen Ganzen abgerundet. Allerdings war man schon früher auf die Thatsache aufmerksam geworden, dass gewisse Merkmale stets in bestimmter Combination mit andern wiederkehrten, dass die einzelnen Theile des Thierkörpers, wie man sagte, unter sich in Correlation ständen, aber erst der physiologischen Analyse war es vorbehalten, die Nothwendigkeit dieser Correlation theoretisch zu begründen. „Wenn die Eingeweide eines Thieres“, so sagt Cuvier, dem wir den ersten Hinweis auf das Zusammenwirken der einzelnen Organe im Thierkörper verdanken, „nur zur Verdauung des frischen Fleisches organisirt sind, so müssen nicht bloss die Kiefer desselben zum Zerreissen der Beute, die Klauen zum Festhalten und Zerfetzen, die Zähne zum Zerschneiden und Theilen eingerichtet sein, es muss auch der Bewegungsapparat ein Verfolgen und Einholen, die Einrichtung der Sinnesorgane eine Wahrnehmung in die Ferne zulassen. Selbst in das Hirn muss die Natur den nöthigen Instinct, sich zu verbergen und dem Schlachtopfer Fallen zu stellen, gelegt haben. Doch das sind nur die allgemeinen Bedingungen einer räuberischen Lebensweise, die ein jedes Raubthier erfüllen muss, da es sonst seine Art nicht würde erhalten können. Aber diesen allgemeinen Bedingungen sind noch andere beigeordnet, die auf die Natur und den Aufenthalt des Beutethieres sich beziehen und eine immer weiter gehende Specification der Raubthierbildung zur Folge haben.“ Was Cuvier an einem bestimmten Beispiele hier zeichnet, enthält die Grundsätze, nach denen der Zoologe heute die einzelnen Combinationen zu beurtheilen pflegt. Mit Hülfe derselben hat er an seinen Objecten Eigenschaften und Beziehungen gefunden, die bis dahin der Erkenntniss verborgen waren, und ein Verständniss angebahnt, das es erlaubt, von einzelnen wenigen Positionen aus die übrigen Glieder des zugehörigen Systemes mehr oder minder vollständig zu erschliessen. Und von den Einzelformen hinweg hat die Physiologie den Zoologen auch wieder auf die gesammte Thierwelt hingeführt. Sie hat ihm die Ueberzeugung gebracht, dass diese grosse Gemeinschaft in ähnlicher Weise wie der thierische Leib mit seinen Organen ein zusammenhängendes Ganzes bildet, in das eine jede specifische Art als wirksames Glied sich einfügt. Mit dieser Erkenntniss hat die kaum begrenzte Mannichfaltigkeit der Lebensformen den Anschein des Willkürlichen und Zufälligen verloren, den sie bis dahin darbot. Wie die mannichfache Bildung der den Thierleib zusammensetzenden Organe das Leben reicher gestaltet und mit den Aeusserungen desselben auch zugleich die Widerstandskraft des Organismus steigert, so ist auch die Existenz einer wechselvollen thierischen Schöpfung das Mittel und zugleich die Garantie der eignen Erhaltung. Eine Summe gleich gebildeter und gleich thätiger Geschöpfe würde nicht etwa bloss das Leben sehr eintönig machen und es des Reizes entkleiden, welcher der jetzigen Thierwelt mit ihren tausendfachen Gestaltungsformen innewohnt, sie würde dieselbe auch unwiderbringlich und rasch dem Untergange entgegenführen, 229

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aus einem Tummelplatze lebenskräftiger Wesen schon nach kürzester Frist in einen Trümmerhaufen verwandeln müssen. Zu den ersten und allgemeinsten Bedürfnissen des lebenden Thieres gehört bekanntlich die Aufnahme einer organischen Nahrung. Sie bietet, gleich den Kohlen, mit denen wir unsere Dampfmaschinen speisen, den Ausgangspunkt und die nothwendige Voraussetzung einer jeden Leistung. Unfähig, diese Substanz selbst zu bereiten, sieht sich das Thier von vorn herein auf die Pflanzenwelt angewiesen, die in unmittelbarer Beziehung zu der anorganischen Natur aus letzterer die Stoffe entnimmt, deren sie bedarf, um in immer neuer Folge ihre Blätter und Wurzeln und Früchte zu bilden. Auf unzähligen Wegen nun strömt diese organische Substanz aus den Pflanzen in die Thierwelt über. Tausend und aber tausend Arten, grosse und kleine, sind geschäftig, dieselbe zu gewinnen, je nach ihrer Begabung in der einen bald, bald auch der andern Weise. Hier ist es die ganze Masse der Pflanze, die für sich allein oder mit andern dem ernährungsbedürftigen Thiere anheimfällt, dort sind es nur einzelne, mehr oder minder leicht zugängliche Theile, das Laub, das feste Holz, die süssen Blumensäfte oder das Eiweis des Samens, die das Nahrungsmaterial abgeben. Die Theilung des Besitzes geht in das Unendliche, und eben so unerschöpflich sind die Mittel des Erwerbes, die dem Einzelnen zu Gebote stehen. „Mit Zangen, Sägen, Spiessen, mit Scheeren, Rüsseln, Schnäbeln und Bohrern beginnen sie ihr Werk, und ihrer Stärke gleicht Nichts, als ihre Ausdauer und Menge“ – so schildert ein viel gelesener zoologischer Schriftsteller die Lebensarbeit unserer Thiere, zunächst der Insekten, die unter den Pflanzenthieren des Landes obenan stehen und trotz ihrer Kleinheit, oder vielmehr gerade deshalb, im Haushalte der Natur eine hervorragende Rolle spielen. Denn was die Pflanzenfresser gewinnen, bildet nach Abzug dessen, was während der Lebensarbeit verbraucht wird, ein Material von Nahrung, das der übrigen Thierwelt zu Gute kommt. Wissen wir doch, dass über diese ein System von Nachstellungen und Verfolgungen ausgespannt ist, in Folge dessen der Wehrlose und Schwache dem Stärkern zum Opfer fällt. Aus den kleinen Thieren geht die Substanz in immer grössere über, bis sie sich schliesslich in den Riesen der Schöpfung massenhaft ansammelt – gleich wie die Regentropfen zu Quellen zusammenrinnen, und diese durch Bäche und Ströme hindurch in das Meer sich ergiessen. Und wie das Wasser des Oceanes beim Verdunsten wieder in kleine Theile sich auflöst und in das Luftmeer zurückkehrt, so dient der Leib der grossen Thiere beim Zerfallen wieder einer unzähligen Menge kleiner, vielleicht kaum sichtbarer Wesen zur Nahrung, durch die hierdurch die Substanz dann von Neuem in den Kreislauf des Lebens zurücktritt. Die zahllosen Formen dieses Wechselverkehres nun eben sind es, die in der fast endlosen Gliederung der Thierwelt ihren Ausdruck finden. Und ebenso ist es wieder diese letztere, die dem Umtrieb der organischen Substanz jenen Grad von Regelmässigkeit und Sicherheit verleihet, ohne welchen der Bestand der Thierwelt im höchsten Grade gefährdet wäre. Der Ueberzeugung dieser Nothwendigkeit gegenüber muss die schmerzliche Theilnahme zurücktreten, die wir sonst wohl den Opfern eines gewaltsamen und 230

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mörderischen Kampfes zu schenken gewohnt sind. Die Rolle, die das Individuum in der Thierwelt zu spielen hat, ist an sich ja keine andere, als die der einzelnen Theilchen im Organismus, die das Leben erhalten, indem sie in ununterbrochenem Wechsel einander ersetzen und ablösen. Sollte uns in beschränkter Kurzsichtigkeit aber auch mit dieser Erkenntniss nicht genügt sein, dann mögen wir vielleicht mit Carl Ernst von Baer in dem Gedanken die Versöhnung finden, dass in der Thierwelt sogar der Nahrungsstoff eine Zeit lang lebendig ist und die Freuden des Daseins geniesset. So lagen die Verhältnisse, als, zuerst im Jahre 1859, das epochemachende Werk von Charles Darwin über die Entstehung der Arten erschien. Aus der Betrachtung der Einzelfälle hatte sich die Zoologie durch Verknüpfung der Thatsachen zu einer einheitlichen Auffassung der Lebenserscheinungen erhoben. Sie hatte in dem thierischen Organismus ein System von Theilen erkannt, die nach Entwicklung, Bau und Leistung zu einem Ganzen zusammengehören und durch ihren Wechselverkehr das Leben ermöglichen. Sie hatte das Bild eines so gegliederten Organismus auch auf die Thierwelt übertragen und die einzelnen Formen derselben unter sich in Zusammenhang gebracht. Aber die letzten Consequenzen dieser Auffassung waren, wenn auch gelegentlich schon angedeutet, bis dahin kaum jemals in eingehender Weise geprüft worden. Nach wie vor galten die einzelnen Thierarten, die, den Organen des Individuums vergleichbar, zur Erhaltung der thierischen Schöpfung zusammenwirkten, im Gesammtbewusstsein der Wissenschaft als selbstständige Geschöpfe, die unabhängig von einander entstanden seien und wesentlich nur durch den Zwang der Bedürfnisse zu einer Gemeinschaft zusammengehalten würden. Allerdings hatten sich bei der morphologischen Vergleichung, wie wir wissen, Beziehungen zwischen denselben herausgestellt, welche die Annahme eines Verwandtschaftsverhältnisses nahe legten, allein diese Verwandtschaft galt selbst für Solche, welche des betreffenden Wortes sich bedienten, mehr als eine ideale, denn eine wirkliche, dadurch erklärbar, dass die mechanischen Voraussetzungen gewisser Leistungen überall, und somit auch in der organischen Natur, einander um so ähnlicher sein müssten, je mehr und je vollständiger die letztern unter sich übereinstimmten. Die scheinbare Verwandtschaft wurde hiernach zu dem morphologischen Ausdrucke und Gradmesser einer mehr oder minder ähnlichen Lebensweise. Im Gegensatze zu dieser Auffassung nahm nun Darwin die Aehnlichkeit der Thierformen als die nothwendige Folge ihrer Entstehungsweise in Anspruch. Die Thierwelt, so lehrte derselbe, ist nicht bloss physiologisch, sie ist auch genetisch ein zusammenhängendes Ganzes; ihre Glieder sind nicht selbstständig und von vornherein im Vollbesitze ihrer Eigenschaften entstanden, sondern durch Umgestaltung aus einander hervorgegangen. Wie die verschiedenen Zustände desselben Organismus, so bilden auch die verschiedenen Thierarten eine zusammenhängende Entwicklungsreihe, nur dass die Zeit der Entwicklung über viele Hunderttausende von Jahren sich erstreckt, und die einzelnen Zustände deshalb, selbst bei längerer Beobachtungsdauer, als unveränderliche Grössen erscheinen. In Wirklichkeit aber, so lehrt Darwin, sind sie es eben so wenig, wie die Berge und Thäler, denen eine an 231

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Erfahrung beschränkte Wissenschaft früher ja gleichfalls das Attribut einer ewigen Beständigkeit beilegte. Es ist ein grossartiges Bild, das Darwin auf diese Weise vor unsern Augen aufrollt. Zeigt es uns doch alle die Glieder der thierischen Lebewelt, die gegenwärtigen nicht bloss, sondern auch die vergangenen, alle die Millionen von Thierarten, die vor uns in’s Grab stiegen, und jene, die mit uns leben, in einer nirgends unterbrochenen Continuität, durch die Gemeinschaft der Abstammung alle unter sich zu einer einzigen grossen und reichen Familie vereinigt. Hier ist die Verwandtschaft enge, dort lockerer, hier in einfach aufsteigender Linie, dort eine collaterale – der Stammbaum der Thierwelt hat eine Fülle der üppigsten Zweige getrieben – aber alle die unzähligen Formen sind verwandt, nicht im figürlichen Sinne des Wortes, sondern blutsverwandt. Und wie kein einziges Glied ausser dieser Gemeinschaft steht, so hat ein jedes derselben seine eigne Reihe von Ahnen, die sämmtlich voraus gehen mussten, bevor es selbst auf dem Schauplatz des Daseins aufzutreten im Stande war. Doch es ist unnöthig, die Züge der Darwin’schen Lehre noch weiter hier auszuführen. Ist sie Ihnen Allen doch bekannt und weit über die Grenzen der gelehrten Kreise und der fachwissenschaftlichen Behandlung hinausgedrungen. Nicht bloss als Schlussstein der einheitlichen Auffassung der organischen Natur, sondern auch als Ausgangspunkt einer völlig neuen und geläuterten Weltanschauung ist sie gepriesen – im Gegensatze dazu freilich oftmals auch als Irrlehre bezeichnet, die mit allen Waffen und aller Schärfe bekämpft werden müsse, wenn das menschliche Leben nicht seinen ganzen innern Gehalt verlieren solle. Ich will hier nicht untersuchen, wie weit etwa diese Befürchtungen gerechtfertigt sind, allein es will mir scheinen, als wenn dieselben weniger auf den eigentlichen Kern der Lehre d. h. die Thatsache der Artveränderung selbst Bezug hätten, als vielmehr auf gewisse Anschauungen, denen Darwin über den Mechanismus dieser Veränderung huldigt – dieselben Anschauungen freilich, deren einseitige Verwerthung auch der Ansicht von der culturhistorischen Mission des Darwinismus zu Grunde liegt. Doch dem mag sein, wie ihm wolle: die Fragen, um die es in der Darwin’schen Lehre sich handelt, bewegen sich sämmtlich und ausschliesslich auf dem Gebiete der naturhistorischen, insonderheit der zoologischen Forschung, und desshalb müssen wir auch den Naturwissenschaften und ihnen allein das Recht vindiciren, darüber endgültig zu entscheiden. Bis jetzt ist freilich eine solche Entscheidung noch nicht gefällt worden. Vieles ist von Berufenen und Unberufenen über die neue Lehre geschrieben – mehr vielleicht, als jemals über eine andere naturhistorische Frage – aber Niemand hat vermocht, dieselbe mit wissenschaftlichen Gründen zu widerlegen oder den directen Beweis für ihre Richtigkeit beizubringen. Es ist kein Vorwurf, den ich hier ausspreche, denn die wissenschaftliche Prüfung der Darwin’schen Lehre macht Voraussetzungen, die, wenn überhaupt, doch jedenfalls erst dann in Erfüllung gehen, wenn es uns gelingen sollte, die Vorgänge der Formbildung auf die mechanischen Bedingungen zurückzuführen, die ihnen zu Grunde liegen. Die Erscheinungen der Vererbung und Variation, die gewöhnlich 232

Antrittsrede 1877

hier angezogen werden und, wie Manche meinen, zur „causalen“ Erklärung der Artentstehung im Darwin’schen Sinne ausreichen, sind ihrem Wesen nach einstweilen selbst so dunkel, dass die Verwerthung derselben kaum mehr, als ein verschleiertes Geständniss unseres Nichtwissens in sich einschliesst. Ueberhaupt bewegt sich Alles, was wir über die Entwicklungsvorgänge bis jetzt erforscht haben, auf dem Gebiete des Thatsächlichen. Von der Feststellung dieser Thatsachen aber bis zu ihrem wissenschaftlichen Verständniss ist noch ein weiter Weg, um so schwieriger zurückzulegen, als wir dermalen kaum die Möglichkeit sehen, ihn gangbar zu machen. Natürlich hat Darwin zur Begründung seiner Lehre ein reiches Material von Erfahrungen gesammelt und verwerthet, aber die Beschaffenheit desselben gestattete keine andere Form der Beweisführung, als diejenige, welche man einen Indicienbeweis zu nennen pflegt. Ein solcher aber hat in der Wissenschaft, wie im Leben, einen nur subjectiven Werth, denn allein die vollbewiesene Thatsache ist es, die ein Anrecht auf unbedingte Anerkennung besitzt. Unter solchen Umständen kann denn die Darwin’sche Lehre auch nur die Bedeutung einer Hypothese in Anspruch nehmen. Wenn man aber den Werth einer Hypothese darnach bemessen darf, dass dieselbe mit dem sonst als wahr Erkannten nicht in Widerspruch steht, und zugleich geeignet erscheint, dem weniger Bekannten Verständniss und neue Gesichtspunkte abzugewinnen, dann dürfte die Darwin’sche Lehre unter den wissenschaftlichen Hypothesen mit vollem Rechte eine hervorragende Stellung einnehmen. Und damit erklärt es sich denn auch, dass die neue Lehre bei den Vertretern besonders der Zoologie fast aller Orten willige, ja vielfach sogar begeisterte Aufnahme gefunden hat und auch ausserhalb der eigentlichen Fachkreise ein Aufsehen erregte, wie niemals früher ein naturhistorisches Ereigniss. Freilich handelt es sich in diesem Falle auch nicht bloss um ein wissenschaftliches Moment, sondern zugleich um eine allgemeine und tiefgreifende Familienangelegenheit. Denn so viel durfte ja von vornherein für ausgemacht gelten, dass die Darwin’sche Lehre zugleich die Frage nach der Stellung des Menschen und seinem Herkommen in sich fasst, eine Frage also, die mit den höchsten menschlichen Interessen auf das Engste verknüpft ist und überall in den Culturbestrebungen der Völker eine bedeutsame Rolle spielt. An die Stelle des naiven Glaubens, der den Menschen seinen natürlichen Verhältnissen entfremdet hatte, war ja längst schon und in weitesten Kreisen die Ueberzeugung getreten, dass das Schicksal desselben unlösbar mit dem der übrigen Schöpfung zusammenhänge. Mag der Mensch als denkendes Wesen sich immerhin dem Thiere weit überlegen fühlen, mag er selbst nach wie vor die eigne Existenz als einen besonders wichtigen, vielleicht den wichtigsten Naturzweck ansehen, der Erkenntniss kann er unmöglich sich verschliessen, dass er unter der Herrschaft derselben Gesetze steht, wie die übrige Thierwelt. Gleich dem verachteten Wurme lebt er in Abhängigkeit von den Aussendingen, und gleich ihm vergeht er, selbst wenn er die Welt erschüttert hat durch die Macht seiner Gedanken. Was die Forschung über die Entstehung der Thierarten feststellt, hat somit auch für den Menschen seine Geltung. Und das auch dann, wenn die Entscheidung in einem ähnlichen Sinne ausfallen sollte, wie jene, welche die Erde einst aus dem 233

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Mittelpunkte des Weltalls entfernte und zu einem Planeten machte, der, ein Atom im unendlichen Weltraume, dem Gesetze einer fremden Masse zu gehorchen hat. Die Wissenschaft sucht und will nichts Anderes als die Wahrheit – und die Erkenntniss der Wahrheit ist auch dann ein Gewinn, wenn sie uns gewisser Vorrechte beraubt, die wir auf Grund gewohnter Anschauungen und hergebrachter Traditionen für uns beanspruchen. ***

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31. October 1878. Rede des abtretenden Rectors Dr. Rud. Leuckart, Professor der Zoologie. Bericht über das Studienjahr 1877/78. Hochansehnliche Versammlung! Wie alljährlich am Tage des Reformationsfestes, so ist auch heute die Aula unserer Universität festlich geschmückt, den neuen Rector zu empfangen. Die Amtsführung dessen, den die Wahl seiner Collegen vor Jahresfrist an diese Stelle berufen, hat ihr Ende gefunden; dankbar, wie früher für das Vertrauen, welches man ihm schenkte, so jetzt für die freundliche Nachsicht, den Rath und die Beihülfe, die von allen Seiten ihm geworden, übergiebt er die akademischen Fasces an seinen Nachfolger mit dem Wunsche, dass dieser seiner Zeit mit dem Gefühle gleicher Befriedigung auf das verflossene Amtsjahr zurücksehen möge. Das Jahr aber, welches wir heute beschliessen, wird schon um desswillen als ein bedeutungsvolles in den Annalen unserer Universität verzeichnet stehen, weil es zum ersten Male seit Gründung derselben im Jahre 1409 einen Bestand von Studirenden aufweist, der über das dritte Tausend hinausgeht, und damit eine Grenze überschritten hat, die, wenngleich mehrfach schon in Aussicht gestellt, doch stets bisher als unerreichbar sich erwiesen hatte. Man mag immerhin den Resultaten der Statistik einen nur bedingten Werth zugestehen und wird es doch gerechtfertigt finden, wenn wir uns eines Wachsthums freuen, wie die Präsenzziffer unseres Personalbestandes seit anderthalb Decennien Jahr für Jahr ihn verzeichnet hat. Binnen dieser Zeit ist die frühere ziemlich stabile Zahl unserer Studirenden um mehr als das Dreifache überschritten worden. In der Geschichte der deutschen Hochschulen sonst ohne Beispiel, war ein solcher Aufschwung nur unter Verhältnissen möglich, wie ein glückliches Geschick sie unserm Sachsenlande beschieden hatte, unter der Huld und der Weisheit von Regenten, welche die Wissenschaft liebten und es verstanden, die Pflege derselben stets den rechten Händen anzuvertrauen. Und dessen ist die Universität auch jederzeit in Dankbarkeit eingedenk gewesen. Nicht umsonst weihete König Johann die Kette, welche der Leipziger Rector als Abzeichen seiner Würde heute trägt, zum Symbol jenes Bandes, welches die Universität unauflöslich an seinen Thron und sein königliches Haus gebunden habe. Und dieses Band war es denn auch, was die Vertreter der Universität im Laufe des verflossenen Jahres zwei Male nach Dresden geführt hat, Ihren Majestäten, dem Könige und der Königin, es auszusprechen, dass die Trauer und die Freude des Regentenhauses getreulich, wie von dem ganzen Lande, so auch besonders von der Universität getheilt werde. 235

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Schon in den ersten Tagen des neuen Amtsjahres bot das Ableben Ihrer Majestät der Königin Mutter Amalie dazu eine schmerzliche Veranlassung. Die fromme und edelsinnige Fürstin sollte ihrem Gemal, dem unvergesslichen König Johann, dem sie mehr als ein halbes Jahrhundert hindurch in allen Lebenslagen treu zur Seite gestanden hatte, auch im Tode schon nach wenigen Jahren nachfolgen. Es war ihr nicht mehr beschieden, den Tag zu erleben, an welchem das königliche Herrscherpaar unter dem Jubel und der Theilnahme des gesammten Landes das Fest des silbernen Ehejubiläums feierte, es feierte in denselben Räumen, die einst auch der hohen Eltern goldene Hochzeit gesehen hatten. Unter den Deputationen, die aus allen Theilen des Vaterlandes zu dem Jubelfeste entsendet waren, durfte die Universität um so weniger fehlen, als ihre Wünsche nicht bloss ihrem Könige, sondern auch ihrem Rector magnificentissimus galten. Nach alter akademischer Sitte überreichte sie dem Jubelpaare durch ihre Vertreter eine Tabula gratulatoria, die, wenngleich lateinisch geschrieben, doch von deutscher Gesinnung und deutscher Treue dictirt war und durch ihre künstlerische Ausführung der Bedeutung des Tages entsprechen sollte. Die huldvolle Aufnahme, die der Deputation geworden, musste von Neuem uns die Ueberzeugung gewähren, dass König Albert auch in der Liebe zu seiner Universität dem erlauchten Vater, dem Schöpfer ihrer gegenwärtigen Blüthe, nicht nachstehe. Und diese seine Gesinnung bethätigte Se. Majestät auch dadurch, dass Sie im Januar d. J. von den inzwischen neu erbauten und erweiterten akademischen Instituten, von der Entbindungsanstalt, dem botanischen Garten, der Veterinärklinik und dem Czermakianum mit lebhaftem Interesse Einsicht nahmen und deren Einrichtungen in eingehendster Weise sich erklären liessen. Seitdem sind diese Institute – mit Ausnahme des einer geeigneten Verwendung noch entgegensehenden Czermakianums – sämmtlich für die Zwecke der Universität in Anspruch genommen. Das Gelände des frühern botanischen Gartens ist bereits in den Besitz der Stadt übergegangen und wird als muthmassliche Stätte des spätern Reichsgerichtes dereinst in gleicher Weise eine Zierde derselben werden, wie es der neue botanische Garten für unsere Universität schon geworden ist. Fehlt demselben einstweilen auch noch der Schmuck der Bäume und schattigen Laubgänge, so sind dafür doch – und das ist für eine Lehranstalt die Hauptsache – die Einrichtungen und Apparate zum Studium und Unterricht um so zweckmässiger und vollendet bis in’s Einzelne. Unser neuer botanischer Garten darf sich dreist jenen Musteranstalten zuzählen, die unsere Universität in so vielen ihrer Institute zu eigen hat. Die hier namhaft gemachten Anstalten repräsentiren übrigens keineswegs die einzigen Bereicherungen, die unser Lehrapparat im Laufe des verflossenen Jahres erhalten hat. Die Vollendung des botanischen Gartens und der Veterinärklinik hat es endlich auch möglich gemacht, den seit lange geplanten und oftmals schon in den Rechenschaftsberichten der abtretenden Rectoren angekündigten Neubau des zoologischen und landwirthschaftlichen Institutes in Angriff zu nehmen. Schon erheben sich zu Füssen der physikalischen Anstalt zwei ansehnliche Gebäude von nahezu gleicher 236

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architectonischer Ausführung, die den zwischenliegenden Platz in wirkungsvoller Weise gegen die Umgebung abschliessen. Die Aussicht, den letzteren zu einem kleinen biologischen Versuchsgarten machen zu können, ist freilich dadurch, dass das Czermakianum in Ermangelung einer andern Baustelle darauf übertragen werden musste, zum grössten Theil illusorisch geworden. Man wird es begreiflich finden, dass ich das im Interesse der von mir an unserer Universität vertretenen Wissenschaft um so lebhafter bedaure, als derartige Einrichtungen unsern zoologischen Instituten heute nicht minder nothwendig sind, wie den botanischen. Wir dürfen die Hoffnung hegen, dass die neuen Gebäude gegen Ende des nächsten Sommers ihrer Bestimmung übergeben werden können, und das selbst dann, wenn die Uebertragung der zoologischen Sammlungen bis dahin noch nicht als möglich und ausführbar sich erweisen sollte. Und noch Anderes steht für diese Zeit in Aussicht. Das pathologisch-anatomische Institut wird durch neue Einrichtungen den veränderten und gesteigerten Bedürfnissen entsprechend umgestaltet. Der Plan für Erbauung eines dem städtischen Krankenhause verbundenen klinischen Hörsaales nebst Arbeitsräumen hat seine Genehmigung gefunden. Die Errichtung einer psychiatrischen Anstalt ist nach allen Seiten hin vorbereitet, und schliesslich wird auch die Verlegung der Augenheilanstalt in die Räume des jetzigen Taubstummeninstitutes nicht allzu lange mehr auf sich warten lassen, nachdem die Universität unter Zustimmung der Regierung mit letzterm einen Arealaustausch vereinbarte, der demselben die Möglichkeit geboten hat, an passender Stelle sich ein neues Heim zu gründen. Allerdings ist die Augenheilanstalt kein eigentlich akademisches Institut, sondern eine Privatstiftung mit eigner Verwaltung, allein auf Grund gewisser Bestimmungen ist dieselbe unsern Studirenden für die Zwecke des klinischen Unterrichtes zugänglich. Diesem Zwecke aber wird sie erst dann vollständig entsprechen können, wenn sie der bisherigen isolirten Lage entrückt ist und auch räumlich mit den übrigen klinischen Anstalten, die sie in wichtiger Weise ergänzt, in Verbindung tritt. Nach der Verlegung der Augenklinik werden unsere medicinischen und naturhistorischen Institute bis auf einige wenige sämmtlich in unmittelbarer Nähe beisammen sein. Es ist eine gar stattliche Reihe. Wo noch vor wenig mehr als einem Decennium in abgelegener, ärmlicher Gegend eine öde Sandfläche sich dehnte, da bilden dieselben heute einen eignen ausschliesslich akademischen Stadttheil, der durch den Umfang und die Grossartigkeit seiner Bauten für alle Zeiten davon Zeugniss giebt, wie Regierung und Land und Stadt Leipzig einig waren in dem Bestreben, die Wissenschaft zu fördern und ihr eine würdige Stätte zu bereiten. Weiter habe ich dankend noch hervorzuheben, dass das philologische Seminar, dem vorher schon die ansehnliche Bibliothek der von Ritschl geleiteten philologischen Societät durch Vermächtniss zugefallen war, durch eine ausserordentliche Geldbewilligung des hohen Ministeriums in den Stand gesetzt wurde, auch den bedeutenden epigraphischen Apparat unseres verstorbenen Collegen zu erwerben. Wenn ich von den Lehranstalten unserer Universität mich jetzt zu dem Lehrkörper wende und die Veränderungen überblicke, die im Laufe meines Amtsjahres darin stattfanden, dann drängt es mich, zunächst an dieser Stelle derer zu gedenken, die 237

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durch den Tod aus unserer Mitte geschieden sind. Leider sind es viele und schmerzliche Verluste, die ich zu verzeichnen habe. Um so schmerzlicher, als sie manche noch rüstige Kraft und manche Zierde uns raubten. Am 10. November des verflossenen Jahres starb der ausserordentliche Professor in der theologischen Facultät, Licentiat Dr. phil. Clemens Friedrich Brockhaus. Seit Ostern 1867 an unserer Universität für die kirchenhistorischen Fächer habilitiert, hatte er zwei Jahre später die Professur erlangt, die er neben dem Pfarramte zu St. Johannis bis an sein frühes Ende bekleidete. Sein feiner ästhetischer Sinn führte ihn vornehmlich auf die christliche Kunst und Kunstgeschichte hin, für die er als Lehrer und Leiter der jüngst hier errichteten christlich-archäologischen Sammlung unter unsern Studirenden reges Interesse zu wecken verstand. In weiteren Kreisen hat er sich besonders durch seine Monographie über Aurelius Prudentius einen geachteten Namen gemacht. Ihm folgte am 26. Januar d. J. unser berühmter Anatom und Physiologe, der Geheime Medicinalrath und ordentliche Professor Dr. Ernst Heinrich Weber, tief betrauert nicht bloss von unserer Universität, der er, wie früher als gefeierter und anregender Lehrer, so schliesslich noch als Senior durch den Glanz seines Namens voranleuchtete, sondern auch von der Wissenschaft, die er durch Methode und Forschung, wie Wenige, förderte und in die Bahnen wies, die heute sie wandelt. Von berufener Seite ist bei Gelegenheit der Trauerfeier, welche die medicinische Facultät pietätvoll zu Ehren des Dahingeschiedenen veranstaltete, die Bedeutung desselben und der Einfluss geschildert, den er auf die wissenschaftliche Gestaltung besonders der Physiologie gehabt hat. Je höher sein Werth aber war, desto schmerzlicher empfinden wir, was wir in ihm verloren. Allein wir fühlen auch, dass er, der sechzig Jahre hindurch der unsere gewesen, auch fernerhin es bleiben wird. Wie des Künstlers Hand in der Marmorbüste, die neben andern unsere Aula ziert, die charaktervollen Züge des Mannes den kommenden Geschlechtern überliefert hat, so ist auch die Erinnerung dessen, was er während eines langen und reichen Lebens an Arbeit und Erfolgen uns geschenkt hat, ein Unvergessliches, das in uns fortlebt für alle Zeiten. Kaum vierzehn Tage später, am 9. Februar, starb der ausserordentliche Professor bei der philosophischen Facultät, Hofrath Dr. phil. Hermann Fritsche. Ein treuer Schüler des unvergesslichen Gottfried Hermann hat derselbe 27 Jahre hindurch unermüdlich, trotz der Gebrechlichkeit seines Körpers, unserer Universität gedient und sowohl durch seine Vorlesungen, die sich besonders auf griechische und lateinische Dichter bezogen, wie auch durch seine Schriften, namentlich seine Ausgaben der Idyllen des Theocrit und der Satiren des Horaz, die Interessen der studirenden Jugend vielfach gefördert. Der 16. Juli endigte sodann das hochbetagte Leben des ordentlichen Honorarprofessors bei der philosophischen Facultät, des Dr. phil. Carl Friedrich August Nobbe, der im Jahre 1818, also vor jetzt 60 Jahren als Privatdocent der classischen Philologie an unserer Universität sich habilitirt hatte und 10 Jahre später zum ausserordentlichen Professor aufrückte. Die volle Kraft des rüstigen Mannesalters ist freilich einer ausseracademischen Thätigkeit, der Leitung des Nicolaigymnasiums, 238

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gewidmet gewesen, aber auch als Universitätslehrer hat sich der Verstorbene durch Wort und Vorbild bis in das späte Alter hinein in hohem Grade verdient gemacht. Innig vertraut mit den classischen Schriftstellern, im Besitze der freiesten und sichersten Herrschaft über die lateinische Sprache in Vers und Prosa, lebte und wirkte derselbe in pietätvoller Anerkennung alles dessen, was eine grosse philologische Vergangenheit uns überliefert hat. Die letzten Wochen des scheidenden Universitätsjahres sollten uns noch zwei weitere Verluste bringen. Am 8. October verstarb zu Marienbad, wo er seine seit längerer Zeit schon erschütterte Gesundheit zu kräftigen gesucht hatte, an einem Schlagflusse plötzlich der ausserordentliche Professor bei der medicinischen Facultät, Dr. Heinrich Friedrich Germann, der sich dadurch um unsere Universität ein bleibendes Verdienst erworben hat, dass er alsbald nach seiner Habilitation im Jahre 1849 unsere geburtshülfliche und gynäkologische Poliklinik begründete und deren Leitung auch dann noch längere Zeit hindurch fortführte, als dieselbe auf Antrag des damals neu eintretenden Professors der geburtshülflichen Klinik mit letzterer verbunden wurde. Erst nach 18jähriger höchst erfolgreicher Thätigkeit gab Germann, der inzwischen zum Professor ernannt war, wegen Kränklichkeit seine frühere Stellung auf, um fortan zumeist seiner Privatpraxis zu leben. In dieser hat er als vielgesuchter Arzt, unermüdlich und opferbereit, wie er war, bis an sein Lebensende eine umfangreiche und glückliche Wirksamkeit entfaltet. Kurz darauf, am 18. October, entriss uns der Tod noch ein hochverdientes und allverehrtes Universitätsmitglied, den Senior der Juristenfacultät, Geheimen Rath und Domherrn Dr. jur. Gustav Hänel, hochbetagt, wie Weber und Nobbe, und gleich diesen seit sechzig Jahren und darüber ununterbrochen an unserer Hochschule thätig. Der Verstorbene hat sich durch seine grossartigen Forschungen über die Quellen des Römischen Rechtes einen bedeutenden Namen gemacht und aus den Bibliotheken Spaniens, Italiens, Frankreich und Englands während einer siebenjährigen Entdeckungsreise einen früher unbekannten Reichthum wichtiger Materialien zu Tage gefördert. Berühmt unter den Schriften Hänels ist namentlich seine Ausgabe des Codex Theodosianus, deren umfassender handschriftlicher Apparat zum Theil mit grosser Mühe auf dieser Reise gesammelt wurde. Gleich ausgezeichnet durch eine seltene Urbanität seines Wesens, wie durch umfassende Gelehrsamkeit hat der Verstorbene seit 1838 das Lehrfach der juristischen Litteraturgeschichte und der Quellenkunde in hervorragender Weise vertreten und den Pflichten seines Amtes mit Frische und Selbstlosigkeit bis in die letzte Zeit hinein obgelegen. Auch die academische Jugend hat dem Tode ihre Opfer bringen müssen. Der Zahl nach bilden dieselben freilich einen nur kleinen Procentsatz unserer Studirenden – nicht mehr als 10 von circa 3000 –, aber wer möchte ermessen, wie gross der Verlust an Hoffnungen und Lebensfreude war, die mit ihnen zu Grabe gingen. Durch Berufung an andere Universitäten verloren wir den ausserordentlichen Professor bei der theologischen Facultät, Dr. theol. Ernst Schürer, der als Ordinarius nach Giessen ging, und den Privatdocent Dr. juris Woldemar von Rohland, der als 239

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Professor nach Dorpat übersiedelte. Wohl waren es jugendfrische und rüstige Kräfte, die wir in ihnen an unsere Schwesteranstalten abtraten, allein wir wissen, dass sie dem Universitätsleben erhalten bleiben und unter den neuen Verhältnissen zu einer noch freiern und ausgiebigern Entfaltung kommen werden. Und ihrer academischen Heimstätte werden dieselben, so dürfen wir hoffen, auch in der Ferne ein freundliches und dankbares Angedenken bewahren. Im Anschluss hieran erwähne ich noch, dass ein langjähriger Diener unserer Universität, der Oberpedell Aemilius Seyfert mit dem Beginn des diesjährigen Wintersemesters in den wohlverdienten Ruhestand getreten ist. Doch nicht blosse Verluste sind es, über die ich zu berichten habe. Gleichwie der lebendige Organismus beständig der Ergänzung bedarf und nur durch diesen den Stoffwechsel ermöglicht, von dem seine Leistungsfähigkeit abhängt, so verlangt auch der Organismus unserer Universitäten eine fortwährende Zuführung neuer Lehrkräfte, wenn der Aufschwung und das fruchtbare Wirken des academischen Lebens nicht erlahmen soll. Und so erwähne ich denn zunächst und vor Allem der Berufung des Breslauer Professors Dr. Julius Cohnheim, der durch Verordnung vom 24. Dec. 1877 als ordentlicher Professor der allgemeinen Pathologie und pathologischen Anatomie, sowie als Director des pathologisch-anatomischen Institutes in die Stelle eintrat, welche der Geh. Medicinialrath Professor Dr. Wagner bis zur Uebernahme des klinischen Lehramtes bei uns inne hatte und interimistisch auch noch bis zur Uebersiedelung seines Nachfolgers fortführte. Ueber die Stellung und Bedeutung seiner Wissenschaft und den Geist, in dem dieselbe zu behandeln sei, hat unser neuer College alsbald bei Antritt seiner hiesigen Professur in lichtvoller Rede sich verbreitet. Einen weiteren Zuwachs erfuhr die medicinische Facultät dadurch, dass der bisherige ausserordentliche Professor Dr. med. Franz Hoffmann unter dem 24. Juni d. J. zum ordentlichen Professor für experimentirende Hygiene befördert wurde, für eine Disciplin, deren Aufnahme in die Zahl der medicinischen Fachwissenschaften durch die Bedeutung völlig gerechtfertigt erscheint, welche die Gesundheitslehre in dem modernen Staate allmählich gewonnen hat. Ebenso wurde dem ausserordentlichen Professor Dr. med. Paul Flechsig, der bis dahin die histologische Assistentenstelle am hiesigen physiologischen Institute bekleidet hatte, eine ausserordentliche Professur für Psychiatrie übertragen und für später die Direction der neu zu errichtenden Irrenklinik in Aussicht gestellt. Auch die Lehrfächer der philosophischen Facultät wurden um einen neuen, bisher kaum jemals bei uns vertretenen Wissenszweig bereichert, indem der durch seine sinologischen Forschungen wohlbekannte Dr. phil. Conon Freiherr von der Gabelentz, bis dahin Bezirksgerichts-Assessor in Dresden, am 21. Juni d. J. zum ausserordentlichen Professor der ostasiatischen Sprachen an unserer Universität ernannt wurde. Unser verdienter Historiker, der ausserordentliche Professor Dr. phil. Woldemar Bernhard Wenck erhielt durch allerhöchste Verfügung vom 13. März den Titel und Rang eines ordentlichen Honorarprofessors. Ausserdem rückten aus der Zahl der 240

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Privatdocenten zu ausserordentlichen Professoren auf: bei der medicinischen Facultät der Dr. phil. Edmund Drechsel, bei der philosophischen die DD. der Philosophie: Carl Göring, Eilhard Wiedemann, Ernst Sigismund Christian v. Meyer, Anton Weddige, Albert Bernhard Frank und Goswin Freiherr von der Ropp. Auch die Habilitationen betreffen ausschliesslich die medicinische und philosophische Facultät, weisen dafür aber in beiden eine gar stattliche Zahl von Docenten auf. Nach den darüber mir gewordenen Mittheilungen habilitirten sich in der medicinischen Facultät: die Doctoren der Medicin Karl Huber für pathologische Anatomie, Johannes v. Kries für Physiologie, Carl Weigert für specielle pathologische Anatomie, Theodor Puschmann für Geschichte der Medicin, Adolf Strümpell für innere Medicin, Justus Graule für Physiologie. Ebenso in der philosophischen Facultät: die DD. der Philosophie Ernst Kalkowsky für das Fach der Geologie, Adolph Birch-Hirschfeld für romanische Philologie, Bruno Lindner für Sanscrit und vergleichende Sprachwissenschaft, Carl Chun für Zoologie und vergleichende Anatomie, Hugo Riemann für Musiklehre und Hugo Seeliger für Astronomie. Dr. Gustav Hirschfeld, der sich für classische Archäologie zu habilitiren gedachte, wurde noch vor vollständiger Absolvirung seiner Habilitationsleistungen als ausserordentlicher Professor nach Königsberg berufen. Promovirt wurden in der theologischen Facultät 3 zu Licentiaten, 1 zum Doctor, in der juristischen 20, der medicinischen 97, der philosophischen 73 zu Doctoren. Von den (acht) Jubelpromotionen der philosophischen Facultät erwähne ich namentlich der unseres Collegen, des ordentlichen Honorarprofessors Dr. Dindorf, der durch seine umfassenden lexicographischen und litterarischen Arbeiten und besonders die von ihm besorgten Ausgaben lateinischer Classiker den Ruf der Leipziger Philologenschule in die weitesten Kreise getragen hat. Was die Statistik unserer Studirenden betrifft, so erreichte deren Zahl, wie schon Eingangs bemerkt ist, im verflossenen Universitätsjahre, und zwar im Wintersemester, welches bekanntlich stets bei uns das besuchtere ist, eine Höhe, wie sie vordem noch niemals verzeichnet worden. Nach Ausweis unseres Personalbestandes waren es nicht weniger als 3036 rite immatrikulirte Studenten, welche damals unsere Universität besuchten, 998 Sachsen und 2038 Nichtsachsen, ungerechnet die 127 Personen, welche ohne Inscription die Erlaubniss zum Hören der Vorlesungen oder zur Benutzung der academischen Institute erhalten hatten. Im folgenden Sommersemester sank die Zahl der Studirenden auf 2861, ungerechnet wiederum die 87 sog. Hörer, zum grossen Theile junge Gelehrte und Docenten anderer Universitäten, die nach dem anderwärts bestehenden Usus ohne Anstand zur Immatriculation würden zugelassen sein. Unter den eingeschriebenen Studirenden befanden sich dieses Mal 1056 Sachsen, eine Zahl, deren Wachsthum durch die in unsern Gymnasien fast ausschliesslich auf den Ostertermin fixirte Abgangszeit seine natürliche Erklärung findet. Da nun die bis gestern Abend auf unserer Kanzlei verlangten Abgangszeugnisse 631 betragen, bis dahin aber 831 Studirende neu immatrikulirt sind, so würde die heutige Präsenzliste eine Zahl von 3061 wirklichen Studirenden aufweisen, wenn nicht erfahrungsmässig noch hinterher sich ein Ausfall ergäbe, der immerhin auf 241

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einige Procente veranschlagt werden darf. Freilich muss andrerseits berücksichtigt werden, dass auch die Zahl der Immatriculationen mit dem gestrigen Tage noch keineswegs ihren Abschluss gefunden hat. Wenn wir nun, was so ziemlich der Erfahrung entspricht, annehmen dürfen, dass die Zahl dieser nachträglichen Meldungen den nachträglichen Ausfall ausgleicht, dann werden wir für das nächste Semester auf mindestens die gleiche Zahl von Studirenden zu rechnen haben, wie im vergangenen Wintersemester. Zu demselben Resultate kommen wir durch Vergleichung der Inscriptionsziffern, die zur Zeit des vorjährigen Rectoratswechsels 767 betrugen. Auch die mit 594 bezifferte Zahl der damals ausgestellten oder verlangten Abgangszeugnisse zeigt gegen das diesjährige Ergebniss nur geringe Unterschiede. Nach den Studienfächern vertheilen sich die neu Inscribirten der Art, dass 89 der theologischen, 382 der juristischen, 89 der medicinischen und 271 endlich der philosophischen Facultät zufallen. Sachsen sind unter ihnen 105. Die übrigen sind Nichtsachsen, meist Preussen oder Angehörige anderer Reichslande, 113 auch Ausländer, grossentheils aus Russland und Amerika. Die Gesammtzahl der überhaupt von mir immatrikulirten Studirenden beläuft sich auf 1922. Sie ist die grösste, die bisher von unsern Rectoren erreicht wurde. Kein Zweifel hiernach: unser Leipzig ist eine gesuchte Universität. Dass sie es aber ist, das verdankt sie nicht bloss dem Reichthum und der Vollständigkeit ihrer Lehrmittel, auch nicht bloss dem Ruhme und der Gewissenhaftigkeit ihrer Professoren, sondern zum grossen Theile auch dem Fleisse und dem wissenschaftlichen Ernst ihrer Studirenden. Leipzig gilt als eine Universität, „in der viel gearbeitet wird“. Und sie verdient diesen Ruf, das beweisen ebensowohl die gefüllten Hörsäle und Laboratorien, wie die vielen und zahlreich besuchten wissenschaftlichen Vereine, die, aus der Initiative der Studirenden selbst hervorgegangen, für wechselseitige Anregung und gemeinsame Arbeit eine stets offne Arena abgeben. Das sog. Studentenleben, welches gewissen kleineren Universitäten ein so eigenthümliches Gepräge giebt, verliert sich bei uns in dem geschäftigen Treiben der Grossstadt oder bewegt sich doch in Formen, die für gewöhnlich nur wenig von den Normen des gemeinen bürgerlichen und geselligen Lebens abweichen. An Conflicten mit den Universitätsgesetzen fehlt es allerdings in keinem Semester. Auch mein Rectoratsjahr hat deren eine erkleckliche Menge aufzuweisen. Meist aber waren es Fälle von nur untergeordneter Bedeutung, wie sie überall vorkommen, wo unter ähnlichen Verhältnissen junge Männer in grösserer Anzahl beisammen sind. Es hält eben schwer, einem früher ungewohnten Maasse socialer und geistiger Freiheit gegenüber gleich von vornherein die richtige Stellung zu finden. Für einzelne Ausschreitungen hat während meiner Amtsführung sogar die ganze Schwere der akademischen Strafbestimmungen Anwendung finden müssen. So wurde im Laufe des Wintersemesters sechs Mal, im Sommersemester zwei Mal das Consilium abeundi verhängt, meist wegen Thätlichkeiten gegen Commilitonen. Natürlich sind derartige Vorkommnisse im höchsten Grade bedauerlich, allein es wäre unrecht, aus ihnen einen Schluss auf das Allgemeine zu ziehen. Nicht bloss, weil dieselben im Ganzen doch nur vereinzelt dastehen, sondern auch desshalb, 242

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weil sie vielfach von Studirenden ausgehen, welche mit den Gewohnheiten des heimischen Lebens nicht recht vertraut sind. Bei solcher Sachlage darf ich denn wohl ohne Anstand in das lobende Urtheil mit einstimmen, welches meine Amtsvorgänger so vielfach schon der Disciplin unserer Studentenschaft ertheilt haben. Der Geist, der in ihr die Herrschaft führt, ist immer noch derselbe Geist der Ordnung und der Ehrenhaftigkeit, der sie seit lange in hervorragender Weise auszeichnet und unsere Universität, wie wir hoffen, auch für die Zukunft zu einer Pflanzstätte der Bildung und Gesittung nicht minder, wie der Wissenschaft machen wird. Aber auch an patriotischer Begeisterung und idealem Sinn hat unsere akademische Jugend keinen Abbruch gelitten. Sie zeigte das, wie im Anfang dieses Jahrzehnts, als es galt, eine nationale Schmach zurückzuweisen, so auch neuerlich wieder in jenen Schreckenstagen, die den fluchwürdigen Attentaten auf das Leben unseres ehrwürdigen Heldenkaisers nachfolgten. Wohl standen wir Alle unter dem Eindrucke der erschütternden Ereignisse, auf das Tiefste ergriffen nicht bloss von dem Ungeheuerlichen der wiederholten Frevelthat, sondern weiter auch davon, dass es ein ehemaliges Mitglied unserer Universität gewesen, das dieselbe begangen, aber nirgends tönte der Schrei der Entrüstung lauter, als unter unsern Studirenden. In zahlreich besuchter Versammlung protestirten dieselben feierlich und öffentlich gegen jede, selbst äusserliche Gemeinschaft mit dem Königsmörder. Frisch fertig mit der That, fassten sie sogar den Entschluss, in corpore nach der Hauptstadt des Reiches zu ziehen, um ihre vaterländische Gesinnung, ihre Treue gegen Kaiser und Reich zum Ausdruck zu bringen und zu bezeugen, dass ein anderer Geist in Leipzigs Hörsälen wohne, als der Geist, aus dem die Frevelthat geboren sei. Und als die Ausführung dieses Entschlusses in Rücksicht auf den gefährdeten Zustand des hohen Verwundeten unterbleiben musste, da einten sie sich mit ihren Lehrern an heiliger Stätte zu einer Feier, in welcher die tief ernste Stimmung des Gemüthes, der Schmerz über die Frevelthat und die Freude über das Misslingen derselben einen würdigen Ausdruck fand. Solchen Thatsachen gegenüber muss der Vorwurf verstummen, als sei unsere heutige akademische Jugend an den Gütern des Herzens verarmt, und das Verbrechen, über welches wir trauern, das Resultat des modernen Universitätsleben und der wissenschaftlichen Freiheit. Bei einer frühern Gelegenheit habe ich der Einrichtungen gedacht, durch welche unsere Universität den immerfort wachsenden Bedürfnissen des Unterrichtes Rechnung zu tragen versucht hat. Darüber aber hat dieselbe keineswegs die Sorge für das leibliche Wohl ihrer Studirenden ausser Augen verloren. Dank namentlich der Munificenz des Senates, der während des verflossenen Jahres in der glücklichen Lage war, über die Erträgnisse einer für akademische Zwecke bestimmten Kasse frei zu disponiren. Dank auch der nie rastenden Privatwohlthätigkeit von Collegen und Leipziger Bürgern ist die Zahl der unter dem Rectorat Overbeck gegründeten Freitischstellen, die in erster Reihe den von der Wohlthat des Convictes ausgeschlossenen nichtsächsischen Studirenden zu Gute kommen, zunächst für zwei Semester um eine namhafte Zahl erhöht worden. Ebenso ist es möglich geworden, der 243

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gleichfalls von unserm Collegen Overbeck in’s Leben gerufenen studentischen Krankenkasse, die wegen der Beschränktheit der Mittel bisher nur den Bedürftigern unserer Studenten zugänglich war, aber schon in dieser engen Begrenzung als ein höchst segensreiches Institut sich bewährt hatte, eine solche Ausdehnung zu geben, dass sie fortan mit vollem Rechte eine allgemeine studentische Krankenkasse sich nennen darf. Allerdings hat die Durchführung dieser Reorganisation es nothwendig gemacht, den von unsern Studirenden zur Erhaltung des Institutes bisher geleisteten Beitrag um Einiges zu erhöhen, allein auch jetzt ist derselbe immer noch ein ausserordentlich kleiner und ausser Vergleich mit den sonst bei derartigen Anstalten üblichen Versicherungsprämien. Trotzdem aber dürfen wir uns der Hoffnung hingeben, dass die Kasse den an sie zu stellenden Ansprüchen, soweit diese in den Schranken der Billigkeit bleiben, jederzeit genügen werde. Ein mit der Verwaltung des Krankenhauses angebahnter Vertrag wird uns sogar, falls er zum Abschluss kommt, was wir der humanen Gesinnung unserer städtischen Behörden gegenüber kaum bezweifeln, die Mittel bieten, unsern kranken Commilitonen in einer noch wirksamern Weise, als früher, hülfreich zu sein. Mit schuldigem Danke muss ich hier auch erwähnen, dass der akademische Gesangverein Paulus die warme Theilnahme, die er unserer Krankenkasse schon bei der Gründung schenkte, weiterhin noch dadurch bethätigt hat, dass er dem Rectorate zwei Male den Reinertrag seiner Winterfeste im Belaufe von je 100 Mark für dieselbe zur Verfügung stellte. Beide Male hat diese Summe zur Vergrösserung des leider noch immer nur kleinen Stammkapitales Verwendung gefunden. Eine andere, unserer Universität durch testamentarische Verfügung zugefallene Schenkung liefert den Beweis, wie weit die Kreise sind, in denen dieselbe Anerkennung und Verständniss gefunden hat. Sie beruht auf einem Vermächtnisse der am 1. November 1877 zu Dresden verstorbenen Frau Auguste Gottliebe verwittwete Klötzer geb. Krumbholz, und besteht aus einem Kapitale von 9000 Mark, dessen Zinsen unter der Collatur des Stadtrathes von Dresden zu Stipendienzwecken dienen sollen. Die Universität wird das Gedächtniss der Stifterin dankbarst in Ehren halten. Soeben wird mir auch die Kunde, dass unser jüngst verstorbener College Geheimer Rath Hänel seine Bibliothek unserer Universität mit der Bestimmung vermacht habe, dass sie der hiesigen Universitäts-Bibliothek einverleibt werde. Unter den Fachgenossen ist dieselbe wegen ihres auserlesenen und kostbaren Inhaltes schon seit langer Zeit berühmt gewesen, zumal selbst unter den grössten und reichsten Bibliotheken des In- und Auslandes nur wenige sich befinden, die in Betreff der Geschichte und Quellenkunde des Römischen Rechtes Aehnliches aufzuweisen im Stande sind. Besonders reich an sehr alten und kostbaren Handschriften, sowie an den seltensten, kaum mehr erreichbaren Incunabeldrucken Deutschlands, Frankreichs und Spaniens, die der Dahingeschiedene meist auf seinen Reisen mit grossem Kostenaufwand erworben hatte, wird dieselbe fortan eine wahre Zierde unserer UniversitätsBibliothek bilden. Indem wir und unsere Nachfolger uns des Besitzes dieses kostbaren und seltenen Juwels erfreuen, wird auch der Name des hochherzigen Gebers in dankbarster Erinnerung unter uns fortleben. 244

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Die durch letztwillige Verfügung unseres ehemaligen Collegen, des Geheimen Hofraths Dr. jur. Albrecht im Jahre 1876 begründete Stiftung zur Förderung des Docentenberufes und der wissenschaftlichen Forschung an unserer Universität ist während meines Amtsjahres zum ersten Male in der Lage gewesen, die Zinsen des Stammkapitales statutengemäss zu verwenden und hat am Todestage des edlen Stifters, seinen Absichten entsprechend, die Summe von 11 000 Mark an hiesige meist unbesoldete Docenten und Habilitanten zur Vertheilung gebracht. Ebenso ist auch das von unserm Collegen und derzeitigen Senior, dem Geheimen Rathe Professor Drobisch aus dem Ertrage einer von seinen Schülern zu Ehren des geliebten und berühmten Lehrers veranstalteten Geldsammlung vor mehr als Jahresfrist gestiftete Stipendium zum ersten Male von dem Stifter selbst vergeben worden. Mag es dem allverehrten Greise vergönnt sein, die Collatur seines Stipendiums, die er sich für die Dauer seines Lebens vorbehalten hat, noch eine lange Zeit hindurch zu führen und in der frühern segensreichen Weise unter uns zu wirken. Zum Schluss meines Berichtes habe ich noch eines Ereignisses zu gedenken, das, wenngleich es die Universität nicht direct betraf, doch deren Theilnahme in ungewöhnlichem Maasse beanspruchte. Am 2. November des verflossenen Jahres feierte das Gymnasium zu St. Thomas seine Uebersiedelung aus engen und unzugänglichen, düstern Räumen in ein neues lichtes und würdiges Gebäude, würdig eben sowohl des Ruhmes der alten Thomana, wie der Stadt, die es derselben überwiesen hat. Die Theilnahme, welche die Universität diesem glücklichen Ereignisse zuwendete, war eine wohl verdiente. Denn nicht bloss, dass die Thomasschule derselben während eines Bestandes von fast vier Jahrhunderten eine zahllose Menge Studirender zugeführt hat, sie auch in älterer und neuerer Zeit vielfach mit gefeierten und berühmten Lehrern beschenkte – ich nenne unter ihnen nur Borner, dessen Gedächtniss unsere Universität noch heute, nach Jahrhunderten, hoch hält –, was beide noch fester und inniger mit einander verbindet, das sind gewisse, ich möchte fast sagen, geschwisterliche Beziehungen. Waren es doch die Räume des St. Thomasklosters, der Mutterstätte des heutigen Thomasgymnasiums, in denen unsere Universität mit ihren Professoren und Studenten nach der Auswanderung aus Prag zunächst ihre Heimat fand. Schon an der Wiege also sind beide Lehranstalten mit einander vereint gewesen. Und auch später haben sie gute und böse Tage getreulich mit einander getragen, auch beide, eine jede in ihrer Weise, nach Kräften dazu geholfen, den Sinn für die idealen Interessen in unserer Stadt zu wecken und zu erhalten. Und somit darf die Thomasschule denn jederzeit der Sympathie und der besten Wünsche der Universität gewiss sein. (Hierauf berichtete der Rector über die Resultate der bei Gelegenheit des letzten Rectoratswechsels von den Facultäten gestellten Preisaufgaben und über die neu ausgeschriebenen Fragen, für die hier beide Male auf das Programm des Professors Dr. phil. L. Lange „De plebiscitis Ovinio et Atinio“ verwiesen wird. Zum Schlusse folgte sodann die Vereidung des neuen Rectors und die Uebergabe der Amtsinsignien.) 245

Ernst Otto Stobbe (1831–1887)

31. October 1878. Rede des antretenden Rector’s Dr. Otto Stobbe. Reichskammergericht und Reichsgericht. Hochansehnliche Versammlung! Nach dem Gebrauch unserer Universität hat sich der neu antretende Rector mit einer Rede an seine Collegen, an die studirende Jugend und an die Freunde der Universität zu wenden, welche der Feier des Rectoratswechsels beiwohnen. Es ist Sitte, dass er sein Thema der Disciplin entnimmt, welche er an der Universität vertritt. Wenn im Allgemeinen die Wissenschaft des deutschen Rechts, deren Professur ich hier bekleide, sich nicht dessen rühmen kann, dass für ihre Stoffe und Ziele in weiteren Kreisen eine allgemeine Theilnahme herrscht, so hoffe ich doch, dass das Thema, welches ich mir heute erwählt habe, auf ein gewisses Interesse bei Ihnen Anspruch erheben kann. Auf die Wahl meines Themas wirkte der Umstand bestimmend ein, dass im Lauf des heute beginnenden Universitätsjahres ein Ereigniss bevorsteht, von welchem sich unser Reich, die Stadt und unsere Universität Heil und Segen für sich und für die Gesammtheit verspricht: ich meine die Eröffnung des Reichsgerichts in unserer Stadt. Dem Rechtshistoriker liegt es nahe, in einem geschichtlichen Ueberblick von dem alten Reichsgericht, von dem Gericht Karls d. Gr. und von der Thätigkeit des Reichskammergerichts zu sprechen und die Frage aufzuwerfen, wie das neue Reichsgericht, dem wir entgegensehen, sich zu seinen Vorläufern im alten deutschen Reich verhalten wird. Versetzen wir uns zurück in die Zeit Karls d. Gr., in die einzige Epoche unserer Vergangenheit, in welcher das deutsche Volk eine starke Reichsgewalt besass, so tritt uns der Kaiser als der Inhaber der Gerichtsbarkeit entgegen. Zwei Richtungen sind es ganz besonders, nach denen er seine Staatsgewalt entfaltet, er ist der oberste Kriegsherr und der oberste Richter; Heerbann und Gerichtsbann, das sind die hauptsächlichsten Zweige der Staatsgewalt. Wenn in den einzelnen Gauen die Grafen den Heerbann und den Gerichtsbann handhaben, so ist es der Kaiser, welcher ihnen diese staatliche Autorität, seinen königlichen Bann leiht, und über allen den Grafengerichten steht das Reichsgericht, welchem der König selbst vorsitzt. Hatte sich Jemand über die Handhabung des Banns in seinem Gau zu beschweren, war der Graf lässig und verweigerte seine Hülfe dem, welcher sein Gericht angegangen hatte, war der Gegner des Verletzten zu mächtig, als dass der Graf seinen Trotz beugen konnte, oder meinte eine Partei, dass das Urtheil, welches sie im Grafen247

Ernst Otto Stobbe

gericht erhalten, nicht dem wahren Recht entspräche, so war der Kaiser bereit die Beschwerde entgegen zu nehmen, als Hüter des Rechts das Unrecht zu strafen und dem Verletzten das seinige zu geben. Mit den Grossen seines Reichs, mit den Grafen, Bischöfen und Aebten, welche sich an seinem Hofe gerade aufhielten, und mit den vornehmsten Hofbeamten sass er an vielen Tagen im Jahr zu Gericht. Aber diese kaiserliche Gerichtsbarkeit war weit von Kabinetsjustiz entfernt. Denn der Kaiser ist es nicht, welcher den Streit entscheidet und das Urtheil fällt. Strenge unterschied man in alter Zeit zwischen dem Richter und den Urtheilern. Als Richter, den Gerichtsstab in der Hand, sitzt der Kaiser seinem Hofgericht vor; aber die Bischöfe, Grafen und sonstigen Beisitzer finden ihm das Urtheil. Der Kaiser spricht nicht Recht, sondern er leitet das Verfahren, verkündet das Urtheil und sorgt für die Exekution. Wie wenig war aber diese Institution geeignet, den Bedürfnissen der Wirklichkeit in energischer Weise Abhilfe zu schaffen! Was vermochten die besten Einrichtungen und der aufrichtigste Wille des Königs, wo so viele unüberwindliche Hindernisse der Durchführung des Rechts entgegenstanden! Welche Noth machte es dem Verletzten, besonders wenn er den untern, wenig bemittelten Schichten der Gesellschaft angehörte, auf den ungebahnten Wegen aus den entfernten Gegenden des Reichs die weite Reise an des Königs Hof zu unternehmen und dort seine Klage anzubringen! Wie wusste man denn, wo der König sich jetzt aufhielt, oder wo er später, wenn man ihn etwa erreichen konnte, sein Hoflager haben würde, ob er nicht vielleicht einen weiten Heereszug unternommen hätte, der ihn lange von der Erfüllung seiner gerichtsherrlichen Pflichten zurückhielte! Und wenn man den König glücklich erreicht hatte, wie lange dauerte es dann, bis der Gegner vor des Königs Hof entboten war. War schon zu Karls d. Gr. Zeiten die Reichsgerichtsbarkeit vielfach gelähmt, so war das unter seinen schwächeren Nachfolgern in viel höherem Maasse der Fall. Mit der Zerstörung der Einheit des Reichs verkommt auch die Gerichtsbarkeit des Kaisers. So wie die einzelnen Rechte der Staatsgewalt Schritt vor Schritt an die Landesherrn gelangen und die staatlichen Aufgaben in immer weiterem Umfange vom Reich auf die Territorien übergehen, so tritt auch die Gerichtsgewalt des Kaisers immer mehr in den Schatten. Jetzt erscheint der Landesherr als Inhaber der Gerichtsgewalt und sucht eifersüchtig die Eingriffe der Reichsgerichtsbarkeit abzuwehren. Wesentlich nur dann, wenn Territorialherren oder sonstige Reichsstände mit einander im Streit liegen, wird der Kaiser angerufen und auch dann ist seine Gerichtsbarkeit eine lahme Justiz. Wie viele Kaiser haben Jahre lang, manche den grössern Theil ihrer Regierungszeit ausserhalb der Grenzen des deutschen Reichs zugebracht! Oefter stritten mehrere Prätendenten um den Thron; ist der König gestorben, so fehlt es während des Interregnums bis zur Wahl des neuen Königs an jedem Herrn, welcher die streitsüchtigen Vasallen vor sein Forum hätte ziehen können. An Stelle der Klage wurde Fehde erhoben; statt des Richterspruchs entschied jetzt rohe Gewalt. Wer dem Gegner seine Burgen brach, wer ihm seine Dörfer verbrannte, wer ihn am hartnäckigsten befehdete und endlich lahm legte, der blieb auch Sieger im Streit über das Recht. 248

Antrittsrede 1878

Sodann aber erlangten auch mit der Zeit die grösseren Territorien die Befreiung von der kaiserlichen Gerichtsbarkeit, und mit einem Schlage wurde in der goldenen Bulle verordnet, dass die Unterthanen aller Kurfürstenthümer nur vor den Gerichten ihrer Landesherrn zu Recht stehen und nicht mehr vor die kaiserlichen Gerichte geladen werden sollten. Aber auch im übrigen Deutschland verlor die Hofgerichtsbarkeit des Kaisers immer mehr an Bedeutung, und seit dem Jahre 1450 ist uns kein Fall bekannt, dass der Kaiser oder in seiner Vertretung ein kaiserlicher Hofrichter mit den am Hof anwesenden Fürsten, Rittern und Hofbeamten einen Rechtsstreit entschieden hätte. Jetzt kommt eine neue Gerichtsbarkeit des Königs auf: an die Stelle des Hofs tritt die Kammer, an die Stelle des Hofgerichts die Kabinetsjustiz des Kammergerichts. Hatte der König bisher dem Gericht des Hofes nur vorgesessen und dessen Spruch verkündet, so übt er jetzt die Justiz in seiner Kammer; nicht besetzt er mehr sein Gericht mit Fürsten und Rittern, sondern er befragt jetzt seine vornehmen Beamten, seine studirten Geheimräthe, welche im Corpus juris Bescheid wissen, aber von dem im Volk lebenden Recht keine Ahnung haben, um ihren Rath. Er ist jetzt Richter und Urtheiler in einer Person und es hängt von seiner Willkür ab, welche Rathgeber er befragen und wie weit er auf ihren Rath bei seiner Entscheidung hören will. Aber wie zahlreich werden von nun an die Klagen über die Parteilichkeit und den schleppenden Gang der kaiserlichen Gerichtsbarkeit, über die unerschwinglich hohen Gerichtskosten, die Mängel der Exekution; selbst der Kaiser vermag nicht den Spruch seines Gerichts zur Vollführung zu bringen. Nur eine Stimme aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts will ich anführen: „So denn der Römische Kaiser ihr alleroberster Richter ist und sollte möglichst alle Richter und alle Ding, die vor ihn kämen, die unredlich wären, so regieren und strafen, so nehmen Könige, Fürsten und Herren alle Geld und Gut, wie ich das viel gesehen und vernommen habe, so dass kein armer Mann Recht gegen den reichen Mann bekommen kann. Darum ist das Recht auf Erden ein Spinnwebe, wie Sokrates sagt, lex est tela araneae. – Auch geschieht mehr übles von dem Römischen Könige. Wird an ihn appellirt und kommt ein armer Mann zu Hof, der kein Recht in andern Ländern bekommen kann, den lassen sie da liegen 10, 11 oder 20 Jahre, so lange bis er stirbt oder vor Armuth von dannen gehen mag, ungeholfen seines Rechts, so dass Niemanden Gericht von ihnen widerfahren kann. Das Recht der Welt ist verblindet und das sollte doch nicht sein; hier sollte doch eine Zuflucht sein alles weltlichen Rechts.“ Jetzt fordern die Kurfürsten und die Reichstage durchgreifende Reformen im Reichsjustizwesen, aber lange vergeblich. Wenn auch unter Kaiser Friedrich III. mancher Gesetzentwurf ausgearbeitet wird und der Kaiser die Berücksichtigung der Beschwerden verspricht, so war er doch später nicht Willens das Versprechen zu halten und die zugesagten Einschränkungen seiner Machtvollkommenheit ins Leben treten zu lassen. Drei Punkte sind es ganz besonders, welche zu Klagen und Reformvorschlägen Anlass gaben. Zunächst will man nicht, dass der Kaiser selbst Recht spreche oder willkürlich statt seiner einen Kammerrichter bestelle; das künftige Reichsgericht solle einen ständigen Präsidenten haben. Sodann, dass er nach 249

Ernst Otto Stobbe

Willkür Rathgeber zuziehe; man fordert ein ordentlich besetztes Gericht mit ständigen, besoldeten Beisitzern, welche nicht der Kaiser, sondern die Reichsstände auswählen sollten. Endlich verlangt man, dass das Kammergericht nicht mehr als ein persönliches Gericht des Kaisers dem Hof desselben folgen und mit ihm durch das ganze Reich wandern, sondern seinen festen Sitz in einer deutschen Stadt erhalten soll. Unter Maximilian erreichte man, was man so oft gefordert hatte. Freilich fehlte auch ihm die Neigung diese Reformen einzuführen. Aber als Mitregent seines Vaters Friedrichs III. hatte er sich auf dem Frankfurter Reichstage 1489 gebunden, und da er später der Beihülfe der Reichsstände bedurfte, um ein Heer gegen die Türken auf die Beine zu bringen, sah er sich auf dem Reichstage zu Worms im Jahre 1495 genöthigt, den Reichsständen eine Concession zu machen und sein Wort einzulösen. Hier wird der ewige Landfriede verkündet und eine Ordnung für das künftige Kammergericht erlassen. Das Gericht soll besetzt sein mit einem Richter, „der ein geistlich oder weltlich Fürst oder ein Graf oder Freiherr sei“, und mit 16 Urtheilern aus dem Reich deutscher Nation, zur Hälfte studirte Juristen, zur Hälfte dem Ritterstande angehörig. Den Richter ernennt der Kaiser, die Urtheiler bestellt er mit Rath und Willen der Stände. „Das Kammergericht soll gehalten werden im Reich an einer füglichen Stadt“; dreimal wöchentlich sollen seine Sitzungen stattfinden. Die Gerichtspersonen sollen ihre Bezahlung aus den Sporteln erhalten; „ob aber sollichs davon nicht volkomlich beschehen möcht, so solle das übrig von des Reichs Gefällen entrichtet werden“. Jetzt hatte man auf dem Papier ein ideales Kammergericht. Aber gleich bei der Eröffnung des Gerichts zeigte es sich, dass man mit der Ausführung der gesetzlichen Bestimmungen nicht Ernst machen wollte oder sich verrechnet hatte. Am 31. October 1495 – heute vor 383 Jahren – eröffnete Kaiser Maximilian in eigner Person zu Frankfurt a. M. im Hause Gross-Braunfels, welches das Reich auf 4 Jahre für einen jährlichen Zins von 30 Gulden gemiethet hatte, in feierlicher Sitzung das Gericht: unter Uebergabe eines Gerichtsstabes von schwarzbraunem Nussbaumholz, welcher auch in den folgenden Jahrhunderten bei feierlichen Sitzungen zur Hand war, übertrug er dem Grafen Eitel Friedrich von Zollern als erstem Kammerrichter seine kaiserliche Gerichtsbarkeit. Aber nicht 16 Beisitzer, wie auf dem Reichstage zu Worms beschlossen war, – nur 7 werden vereidigt und im Laufe des Jahres 1495 kommen auch nur noch 3 weitere hinzu. Schon nach Verlauf eines Jahres und dann noch öfter in der ersten Zeit seines Bestehens schloss das Gericht seine Sitzungen. Weil die Sporteln zum Unterhalt des Personals nicht ausreichten und auch an Reichsgefällen Mangel war, auf die es im übrigen verwiesen war, gingen die Beisitzer auseinander und bedurfte es dann wieder einer neuen Organisation, um das Gericht ins Leben zu rufen. Auch hat es in den ersten 30 Jahren seinen Sitz sehr häufig gewechselt: schon im Jahre 1496 wurde es nach Worms verlegt und hat dann abwechselnd zu Worms, Nürnberg, Augsburg, Regensburg, Esslingen getagt. Gelegentlich fordert wohl auch der Kaiser von dem widerstrebenden Reichstag die Zustimmung dazu, dass er es an seinem Hof haben dürfe. Im Jahre 1526 wurde es nach Speier verlegt, wo es mehr als anderthalb Jahrhunderte geblieben ist, bis Ludwig XIV. im Jahre 1689 die Stadt verwüsten liess. Als 250

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man die Gefahr der französischen Zerstörung herankommen sah, wurden die Akten zum Theil nach Frankfurt, Worms und Aschaffenburg geflüchtet. Was nicht in Sicherheit gebracht war, verbrannte entweder bei der Einäscherung der Stadt oder wurde von den Franzosen in Fässern und Kisten nach Strassburg geschleppt. Nur ein Theil dieser letzteren Akten – 500 Kisten – wurde von den Franzosen 8 Jahre darauf zurückgegeben. Bei der Art, wie damals die Reichsjustiz gehandhabt wurde und bei der geradezu bodenlosen Unordnung der Kanzlei war der Verlust der Akten kein grosses Unglück. Eine Masse von Streitigkeiten, zu deren Entscheidung das Kammergericht nie die Zeit gefunden hätte, war so auf summarischem Wege aus der Welt geschafft. Wohin sollte nun das Reichsgericht verlegt werden? Es ist für die staatlichen und wirthschaftlichen Zustände jener Zeit höchst bezeichnend, dass während gegenwärtig ein Gemeinwesen es als ein Glück betrachtet, wenn in seine Mitte eine grosse Behörde verpflanzt wird, damals eine Reichsstadt nach der andern dagegen protestirte, dass etwa in ihre Mauern das Gericht verlegt werden sollte. Hauptsächlich fiel dabei der Umstand ins Gewicht, dass verfassungsmässig das Personal des Kammergerichts zur Hälfte aus Protestanten, zur Hälfte aus Katholiken bestand. Da die Bevölkerung einer Stadt damals durchschnittlich einen einheitlichen konfessionellen Charakter an sich trug, lag allerdings die Befürchtung nahe, dass mit dem paritätischen Kammergericht bedenkliche religiöse Misshelligkeiten in der Stadt aufkommen würden. Wetzlar, damals eine ganz elende, kleine Stadt, erbot sich zur Aufnahme des Gerichts. Die Kommissare, welche von Reichswegen an Ort und Stelle geschickt waren, um sich zu orientiren, berichteten: „Es sei die Stadt zwar eine Reichsstadt, aber so ganz unansehnlich, dass das Kammergericht ohne Verminderung der ihm gebührenden Achtung und selbst ohne Nachtheil der Hoheit des heiligen Römischen Reichs darinnen nicht wohnen könne. Auch müsse man billig zweifeln, ob ein geschickter Mann eine Beisitzer- oder Prokuratorstelle an einem solchen Orte suchen würde.“ Trotzalledem wurde das Gericht nach vierjähriger Unterbrechung hierher verlegt. Ganz abgesehen davon, dass es an einem für die Sitzungen geeigneten Gebäude fehlte, liessen sich nicht einmal ausreichende Räume gewinnen, um die noch erhaltenen, auswärts lagernden und vermodernden Akten unterzubringen. So liess man sie denn an ihrem bisherigen Ort und schickte jedesmal, wenn ein Aktenstück gebraucht wurde, einen besondern Commissar dorthin, um es aufzusuchen. Ein Theil der nach Frankfurt geflüchteten Akten ist erst im Jahre 1752 nach Wetzlar geschafft worden; die zu Aschaffenburg lagernden hat man dort bis zum Jahre 1807 gelassen. – In Wetzlar hat das Gericht denn bis zur Auflösung des deutschen Reichs seine ruhmlose Existenz gefristet. Ich sage: ruhmlose Existenz. Denn in der That: es hat nach keiner Richtung hin seine Aufgabe erfüllt. Wie das heilige Römische Reich deutscher Nation allgemein verspottet und verhöhnt seinem sichern Untergange entgegen ging, so war auch das Kammergericht nicht geeignet, Respekt vor den Institutionen des Reichs einzuflössen, und unbetrauert ist es zu Grabe gegangen. Die Gründe dafür waren theils mehr äusserlicher, theils tief innerlicher Natur. 251

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Einer der Krebsschäden war es, dass die elende Finanzwirthschaft des deutschen Reichs es nicht gestattete, das Gericht voll zu besetzen. Nach der ursprünglichen Kammergerichtsordnnng sollte es 16 Beisitzer haben; aber diese Zahl wurde faktisch nicht erreicht. Theils aus diesem Grunde, theils weil das Gericht oft Jahre lang seine Thätigkeit ganz einstellte, blieben ausserordentlich viele Streitsachen unerledigt. Durchschnittlich kamen in einem Jahre doppelt so viel neue Sachen hinzu, als erledigt werden konnten. Nach einem, wohl übertriebenen Bericht vom Jahre 1646 sollten Gewölbe voll Akten seit mehr als 20 Jahren nicht geöffnet und schon im Jahre 1620 über 50,000 Sachen zurückgelegt sein, in denen niemals referirt worden sei. Um die Reste schneller aufzuarbeiten, wurde die Zahl der Beisitzer mehrmals – auf dem Papier – erhöht, im Westphälischen Frieden auf 50; auf dem Regensburger Reichstage von 1654 wurde das Gehalt für einen Beisitzer auf 1000 Thaler festgesetzt und zugleich verordnet, dass die Kosten der Besoldung durch Steuern der Reichsstände, durch die sogenannten Kammerzieler aufzubringen seien. Aber man weiss es ja, wie sich die Reichsstände ihren Reichspflichten zu entziehen suchten, und welche Noth es machte, die auf einem Reichstage bewilligten Steuern einzutreiben. So spärlich liefen die Gelder ein, öfter nur der zehnte Theil von dem, was zu zahlen war, dass faktisch nur 13 Mitglieder unterhalten werden konnten und auch ihnen oft längere Zeit ihr Gehalt nicht gezahlt wurde. Es gab jetzt Assessoren in partibus, welche Jahre lang, oft 10, 15 und mehr Jahre nach ihrer Proberelation und Präsentation daheim blieben und ihr Amt erst antraten, wenn eine besoldete Stelle aufgegangen, war, – ein neuer Grund, um bedeutendere Männer von der Bewerbung um Kammergerichts-Assessorstellen abzuhalten. Im Jahre 1720 setzte man die Zahl der Beisitzer von 50 auf 25 herab, erhöhte aber gleichzeitig ihr Gehalt von 1000 auf 2000 Thaler. Natürlich wurde die Noth dadurch nur grösser, da die Masse der zu erledigenden Prozesse mit jedem Jahr beträchtlich anschwoll. Die einzelnen Stände protestirten weiter gegen ihre Veranschlagung bei den Kammerzielern und blieben mit ihren Zahlungen im Rückstande; Baiern z. B. schuldete im Jahre 1747 52,000 Thaler, Brandenburg über 110,000 Thaler. So konnte man denn nicht 25, sondern nur 17 Assessoren besolden und brachte es erst im Jahre 1782 wirklich auf 25 Beisitzer. Zu allem Ueberfluss brachen öfter Streitigkeiten der bösesten Art unter den Mitgliedern aus, welche die Thätigkeit des Gerichts hemmten oder Jahre lang zum Stillstand brachten; so wurden beispielsweise von 1703 bis 1711, also 8 Jahre hindurch, gar keine Sitzungen abgehalten. Bei derartigen Mängeln der Gerichtsorganisation und dem überaus schleppenden Verfahren musste es als ein halbes Wunder erscheinen, wenn eine Partei, welche einen Prozess beim Kammergericht angestrengt hatte, das Ende desselben überhaupt erlebte. In der unbedingten Rathlosigkeit, wie dem völligen Bankerutt der Reichsjustiz zuvorzukommen sei, verfiel man auf ein höchst originelles Mittel, welches uns bei unsern geordneten Gerichtszuständen geradezu unbegreiflich erscheint. Der Reichstag von 1654 bestimmte, dass „alle diejenigen Parteien, welche ihre Akten gern 252

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expedirt sehen wollten, beim Kammergericht sich anmelden und dann nach ein, zwei oder drei Monat öfters wieder anmahnen, die Assessoren aber alsdann schuldig sein, solche Akten vor allen andern zu expediren, und den interessirten Parteien zu schleunigen Rechten zu verhelfen“. Jetzt wird förmlich Sturm auf das Kammergericht gelaufen, in hellen Haufen ziehen die Sollicitanten heran; bisweilen sollen sich gegen 250 Parteien in Wetzlar befunden haben, um ihre Sache zu betreiben. Es finden sich jetzt Personen, welche ein besonderes Gewerbe des Sollicitirens für die Parteien ausbilden, die Referenten in der Sache auszukundschaften und durch von ihnen vermittelte Bestechungen die Beschleunigung des Prozesses herbeizuführen suchten. Im Jahre 1774 wurde ein solcher Sollicitant zu 6 Jahren Gefängniss verurtheilt, weil er 116,000 Gulden zu Bestechungen verausgabt hatte; die Assessoren, denen die Annahme von Bestechungen nachgewiesen war, wurden ihres Amtes entsetzt. Um Missbräuchen in der Geschäftsführung zu begegnen und abzuhelfen, hatte man im Jahre 1532 jährliche Visitationen des Gerichts durch Deputirte des Kaisers und der Reichsstände beschlossen; auch durften die Visitatoren in streitigen Fällen Verfügungen erlassen. Die Zeit, in welcher diese Einrichtung, wenngleich auch mit manchen längeren Unterbrechungen in Uebung war, darf man als eine relative Blüthezeit des Reichskammergerichts bezeichnen. Aber wegen konfessioneller Schwierigkeiten mit Bezug auf die Vertretung der beiden Religionsparteien in der Kommission kamen die ordentlichen Visitationen am Ende des 16. Jahrhunderts ganz ausser Uebung. Nur ausserordentlicher Weise, wenn die Missstände gar zu schreiend waren, haben im 18. Jahrhundert einige ausserordentliche Visitationen stattgefunden. Die letzte ausserordentliche Visitation, welche Joseph II. bald nach seinem Regierungsantritt in der besten reformatorischen Absicht angeordnet hatte, und welche 10 Jahre von 1767 bis 1777 gewährt hat, besitzt darum für uns ein höheres Interesse, weil Goethe damals auf einige Zeit nach Wetzlar ging, um den Reichskammergerichtsprocess zu studiren und sich dadurch für die juristische Praxis weiter vorzubilden. Aber Jeder, der Dichtung und Wahrheit gelesen hat, weiss, dass er nicht viel Gefallen an diesen Studien fand und bald andere Wege wandelte. Indessen hat ihn die Erinnerung an jene Zeit veranlasst, in seiner Biographie einen kurzen Abriss über die Geschichte des Kammergerichts in seiner maassvollen und plastischen Weise zu schreiben und einiges über die Visitation zu berichten. „Ein ungeheurer Wust von Akten“, sagt er, „lag aufgeschwollen und wuchs jährlich, da die 17 Assessoren nicht einmal im Stande waren, das Laufende wegzuarbeiten. 20,000 Prozesse hatten sich aufgehäuft, jährlich konnten 60 abgethan werfen und das doppelte kam hinzu.“ Fast unbegreiflich sei es, „wie sich Männer finden konnten zu diesem undankbaren und traurigen Geschäft.“ „Aber was der Mensch täglich treibt, lässt er sich, wenn er Geschick dazu hat, gefallen, sollte er auch nicht gerade sehen, dass etwas dabei herauskomme. Der Deutsche insbesondere ist von einer solchen ausharrenden Sinnesart, und so haben sich 3 Jahrhunderte hindurch die würdigsten Männer mit diesen Arbeiten und Gegenständen beschäftigt.“ – Wenn auch in knapperer Weise, muss ich doch noch auf einzelne andere schlimme Schäden der alten Reichsgerichtsbarkeit hinweisen. Dahin gehört zunächst 253

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die entsetzliche Weitläufigkeit und Endlosigkeit des Verfahrens, welche die Aufnahme und weitere Fortbildung des römisch-kanonischen Prozesses gebracht hatte. Als das Kammergericht noch in Speier seinen Sitz hatte, sagte man mit einem unübersetzbaren Wortspiel: Spirae quidem res controversae spirant, sed noa exspirant. Decennien hindurch hielt man sich in den frühesten Vorstadien der Streitsache auf und verhandelte in bändereichen Akten über Dinge, welche für die Entscheidung des eigentlichen Prozesses ohne alle Bedeutung waren. In einem Prozess füllten die Aussagen der 684 vernommenen Zeugen Bände von 10,864 Blättern. Manches Referat war so langathmig gearbeitet, dass es mehrere Monate einen Senat beschäftigte. Von unendlich vielen Prozessen kann man sagen, dass Generationen darüber hinstarben, Berge von Akten geschrieben, alle Mühen, Sorgen und Kosten aufgewendet wurden und endlich das Resultat gleich Null war. Hatten aber wirklich die Parteien endlich ein Urtheil erlangt, wie schwer hielt es dann, besonders wenn der Verurtheilte etwa ein Reichsgraf oder noch vornehmerer Landesherr war, dem Spruch die Vollziehung zu verschaffen. Bestand doch sogar gesetzmässig die Möglichkeit, gegen das Urtheil des höchsten Gerichts noch ein weiteres Rechtsmittel, die Revision, einzulegen und dadurch die Exekution zu suspendiren; über die Revision sollten die Visitatoren des Reichskammergerichts zu befinden haben. Da nun aber zufolge dieser Bestimmung die Arbeitslast für die Visitatoren geradezu nicht mehr zu bewältigen war, überdies die Visitationen sehr unregelmässig abgehalten wurden und gegen das Ende des 16. Jahrhunderts ganz fortfielen, so brauchte der Verurtheilte nur das Rechtsmittel der Revision einzulegen, um die Rechtskraft und den Vollzug des Spruchs in alle Ewigkeit hinauszuschieben. Erst im Jahre 1654 wurde diesem Missbrauch durch neue Bestimmungen gesteuert. Aber wenn es sich um einen Prozess zwischen Reichsständen handelte, hielt man seit dem Westphälischen Frieden den Rekurs au den Reichstag für zulässig. Ueber ein aus juristischen Gründen gefälltes Urtheil, soll die Versammlung der Reichstagsgesandten entscheiden, welche auf ihren Bericht von ihrer Regierung nach politischen, nicht juristischen Rücksichten instruirt werden, wie sie ihre Stimme abgeben sollen. Welch’ entsetzliche Weitläufigkeit! Welche Lahmlegung der Justiz! Ein juristisches Urtheil soll von einer in den weitschweifigsten Formen verhandelnden, gesetzgebenden Versammlung im Wege diplomatischer Verhandlungen kritisirt oder abgeändert werden! Weiter! Das Kammergericht war wohl ein Reichsgericht insofern, als es vom Kaiser und den Reichsständen besetzt wurde, aber es umfasste nicht mehr ganz Deutschland. Die Kurfürsten und ebenso die Landesherrn der grossen Territorien strebten danach, ihre Länder gegen die Einwirkungen der kaiserlichen und der Reichsgerichtsbarkeit abzuschliessen und erlangten in der That auch seit der Mitte des 16. Jahrhunderts Privilegien, wonach ihre Unterthanen nicht vor den Reichsgerichten beklagt werden und gegen die Erkenntnisse ihrer Territorialgerichte keine Appellation an die Reichsgerichte gestattet sein sollte. Ihr Motiv war sicherlich nicht der Wunsch, ihre Länder und Unterthanen vor den Missbräuchen des Reichsgerichts zu schützen; – vielmehr war es der rücksichtsloseste Partikularismus: immer schrankenloser wollten sie die Staatsgewalt in ihrem Territorium ausbilden; die 254

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Souveränetät war ihr Ziel; sie wollten einen selbständigen Staat regieren, welcher sich um Kaiser und Reich nicht zu kümmern hat, in welchen von aussen her keine Eingriffe stattfinden dürfen. Doch standen sich jedenfalls diejenigen grösseren deutschen Staaten, welche die finanziellen Kräfte besassen, um ein ordentliches Obergericht zu unterhalten, besser bei ihrer territorialen Gerichtsbarkeit, als wenn noch eine Appellation an die Reichsgerichte zulässig gewesen wäre. Aber noch eins! Das Reichskammergericht war errichtet worden, um der kaiserlichen Willkür, der Kabinetsjustiz entgegen zu treten, und Maximilian hatte sich darin gefügt, dass er nicht mehr die Entscheidung von Streitigkeiten in eigner Person vornehmen oder den von ihm willkürlich gewählten Räthen überlassen sollte. Indessen, was er mit der einen Hand gegeben, suchte er mit der andern zu nehmen. Wenn er den Einfluss auf sein Kammergericht aufgegeben hatte, wollte er doch nicht auf seine kaiserliche Gerichtsbarkeit verzichtet haben. So liess er jetzt, wenn sich Jemand mit einer Klage an ihn wandte, die vor das Kammergericht gehört hätte, die Sache zu Wien durch seinen Reichshofrath, durch sein Regierungskollegium entscheiden, welches lediglich aus kaiserlichen Räthen bestand. Und unter den folgenden Kaisern entwickelte sich der Reichshofrath gegen Gesetz und Recht und gegen alle Beschwerden und Proteste der Reichsstände zu einem zweiten Reichsgericht, welches konkurrirende Gerichtsbarkeit mit dem Reichskammergericht übte. Dasselbe blieb in dauernder Abhängigkeit vom Kaiser; nicht bloss dass er ohne Beschränkung die sämmtlichen Räthe ernannte und selbst besoldete, das ganze Gericht hörte mit dem Tode des Kaisers auf und seine einzelnen Mitglieder bedurften nach der Wahl des neuen Kaisers einer neuen Bestallung. Auch wurde, wenn der Reichshofrath nicht mit überwiegender Majorität entschieden hatte und die entgegenstehenden Vota „auf stattlichen grundfesten Ursachen“ beruhten, die Sache mit einem Gutachten dem Kaiser vorgelegt und von ihm in höchsteigener Person entschieden. Also Kabinetsjustiz in unverhülltester Form! Noch ein konfessionelles Bedenken kam hinzu. Während für das Kammergericht nach reichsgesetzlichen Bestimmungen konfessionelle Parität galt, gehörten die Mitglieder des Reichshofraths sämmtlich der katholischen Konfession an. Und ein solches Kollegium, auf welches die Jesuiten in allen Angelegenheiten einen mächtigen Einfluss ausübten, sollte in einer Zeit, in welcher konfessionelle Fragen im Vordergrunde standen und überall hineinspielten, die wichtigsten Rechtsstreitigkeiten entscheiden! Allmählich fand man sich in diesen Bruch des Reichsstaatsrechts und war damit zufrieden, wenn nur einige Bedenken beseitigt wurden, insbesondere auch einzelne evangelische Reichshofräthe angestellt wurden. Mit dem längst vorausgesehenen Fall des deutschen Reichs fielen auch seine beiden Gerichte, unbetrauert von der deutschen Nation. Aus dem Reichskörper und seinen verschnörkelten Institutionen war längst alles Leben gewichen; die staatlichen Aufgaben konnten nur in den grösseren und mittleren deutschen Staaten ihre Verwirklichung finden. Seit dem Jahre 1806, welches die Souveränetät auch den kleinsten Territorien brachte, gab es nur Landesgerichte. Als dann nach der Periode des Rheinbundes und dem Sturz Napoleons auf dem Wiener Kongress über die künftige Gesammtverfassung Deutschlands verhandelt 255

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wurde, vertraten nationalgesinnte Staatsmänner und verschiedene Entwürfe auch die Nothwendigkeit eines Bundesgerichts, „ohne welches dem Rechtsgebäude in Deutschland der letzte und nothwendigste Schlussstein mangeln würde.“ Dasselbe sollte aber nicht die höchste Instanz in Civil- und Criminalsachen über den verschiedenen Territorialgerichten bilden, sondern nur für Streitigkeiten der Bundesglieder unter einander und für Beschwerden der Landstände oder Unterthanen über Verfassungsverletzungen der Regierungen kompetent sein. Da sich aber einzelne Souveräne, besonders die Könige von Baiern und Würtemberg gegen ein Bundesgericht, als eine Schädigung und Schwächung ihrer neu erworbenen Souveränetät mit aller Entschiedenheit erklärten, musste auf eine derartige Institution Verzicht geleistet werden. Auch die Reformprojekte der späteren Zeit heben die Nothwendigkeit eines Bundesgerichts seltener hervor. Dagegen trat in höherem Maasse das Verlangen nach einem gemeinschaftlichen Gesetzbuch in den Vordergrund. Freilich die Forderung, welche Thibaut im Jahre 1814 in seiner mit wohlthuender Wärme geschriebenen Schrift „über die Nothwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts“ gestellt hatte, war zunächst unerfüllbar; denn die einzelnen deutschen Staaten wollten ihrem Gesetzgebungsrecht nichts vergeben und von ihrer souveränen Staatsgewalt nichts zu Gunsten der Gesammtheit opfern. Ueberdies war v. Savigny mit dem ganzen Gewicht seiner Autorität dem Thibaut’schen Vorschlage entgegen getreten. In seiner, die Entwicklung unserer Jurisprudenz auf lange Zeit bestimmenden Schrift „vom Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“ erklärte er nicht nur das Verlangen nach einer gemeinsamen Codifikation für nicht zeitgemäss, sondern sprach auch seiner Zeit den Beruf zur Gesetzgebung ab. Allmählich wurde der Bann gebrochen und kamen andere Ansichten auf. Neue Gesetze über einzelne Theile des Rechts, besonders über das Strafrecht, waren länger nicht zu umgehen. Seit den vierziger Jahren unternahmen es auch einzelne Staaten für sich Entwürfe von Civilgesetzbüchern auszuarbeiten. Die wirthschaftlichen Interessen führten aber auch weiter dahin, dass sich die sämmtlichen deutschen Staaten auf vertragsmässigem Wege zur Herstellung gemeinschaftlicher Gesetze vereinigten: das lebhaft empfundene Bedürfniss nach einem gleichmässigen Recht für den Handelsverkehr war mächtig genug, um die in jeder sonstigen Beziehung sich partikulär gegen einander abschliessenden Bundesstaaten doch zu einer Einigung über gemeinschaftliche legislative Unternehmungen zu bringen. Noch in den Zeiten des alten deutschen Bundesstaates entstand die allgemeine deutsche Wechselordnung und das allgemeine deutsche Handelsgesetzbuch. Bei dieser Gelegenheit wurde denn auch die Forderung nach einem gemeinsamen deutschen Gerichtshof erhoben. Auf dem ersten deutschen Juristentage, welcher unter dem Vorsitz v. Wächter’s zu Berlin im Jahre 1860 abgehalten wurde, nahm man die Resolution an: „zu einer Einheit in der Rechtsanwendung kann nur ein höchster Gerichtshof führen, dessen sofortige Einführung bezüglich des bestehenden gemeinschaftlichen Rechts (Wechselordnung), sowie des zu schaffenden (Handelsrechts) wünschenswerth erscheint.“ Mit besonderer Energie trat Goldschmidt im folgenden Jahre, im Mai 1861 auf dem ersten allgemeinen deutschen Handelstage zu 256

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Heidelberg dafür ein. Das durch die gemeinsame Gesetzgebung erworbene Gut der Rechtseinheit könne nur durch Errichtung einer obersten Instanz, eines höchsten deutschen Gerichtshofs bewahrt werden. Ohne einen solchen obersten Gerichtshof stehe zu befürchten, dass in wenigen Jahren die einheitliche Grundlage von einem Chaos der widersprechendsten Gesetze und Urtheilssprüche der Einzelstaaten überwuchert sein, dass die bestehenden Rechtsverschiedenheiten durch verschiedenste Handhabung des Handelsgesetzbuchs nur vermehrt werden würden. Auf seinen Vorschlag wurde die Resolution angenommen: „Es möge durch Vereinbarung der deutschen Regierungen und Stände baldmöglichst ein gemeinsamer oberster deutscher Gerichtshof zur Erhaltung der Einheit und gemeinsamen Fortbildung des deutschen Handelsrechts ins Leben treten.“ Bei den Regierungen zeigte sich aber nirgends die Neigung, diese Resolution zu verwirklichen. Auch als der ohnmächtige deutsche Bund im Jahre 1866 zusammenbrach und an seine Stelle der norddeutsche Bund mit starker Centralgewalt und mit weit ausgedehnter Competenz trat, erhielt derselbe wohl die gemeinsame Gesetzgebung über das Obligationenrecht, Strafrecht, Handelsrecht und das gerichtliche Verfahren, dagegen nahm man in die Verfassung keine Bestimmungen auf, dass er auch die Gerichtsverfassung regeln und ein Reichsgericht an die Spitze der Territorialgerichte setzen solle. Man hielt es im allgemeinen für angemesen, mit solchen Einrichtungen so lange zu warten, bis die in Angriff genommene Reichsgesetzgebung über den Prozess zum Abschluss gediehen sei. Da überreichte im Jahre 1869 auf Antrag der Leipziger Handelskammer die Sächsische Regierung dem Bundesrath einen Gesetzentwurf betreffend die Errichtung eines obersten Gerichtshofs für Handelssachen und brachte der Bundesrat einen entsprechenden Gesetzentwurf beim Reichstag ein. Sowohl im Reichstag als in der Presse wurden sehr gewichtige Bedenken erhoben, ob denn der norddeutsche Bund nach seiner Verfassung kompetent sei mit Majorität die Einsetzung eines obersten Gerichtshofs zu beschliessen, ob bei der bestehenden mannigfachen Partikulargesetzgebung über Civilrecht und Prozess ein solcher Gerichtshof für ganz Deutschland überhaupt im Stande sein werde, seine Aufgabe zu lösen u. s. w. Doch überwog das Verlangen nach einheitlichem Recht und einheitlicher Rechtsprechung alle Zweifel; der Reichstag trat dem Vorschlage des Bundesraths bei und am 12. Juni 1869 wurde das Reichsgesetz betreffend die Errichtung eines obersten Gerichtshofes für Handelssachen allerhöchst vollzogen: der Sitz des Gerichts sollte Leipzig sein. In schwerer Zeit, aber nachdem doch bereits die Nachricht von dem Siege unserer Truppen bei Weissenburg hieher gelangt war, wurde das Bundesoberhandelsgericht am 5. August des Jahres 1870 durch dessen ersten Präsidenten Dr. Pape in geräuschloser Weise hier eröffnet. Die politischen Ereignisse hatten es dem Bundeskanzler und dem Präsidenten des Bundeskanzleramts unmöglich gemacht, diesen bedeutsamen Akt vorzunehmen. Ich will aus der Eröffnungsrede des Präsidenten Pape einige Worte hervorheben: „Es gilt nicht allein“, sagte er, „in einer grossen Zahl der wichtigsten Rechtssachen für das gesammte Bundesgebiet das Richteramt der höchsten und letzten Instanz zu verwalten, es gilt zugleich für eine einheitliche Anwendung und Entwickelung der Kraft bundesgesetzlicher Autorität geltenden 257

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Rechtsnormen zu sorgen, zu sorgen dafür, dass die Gemeinsamkeit dieser Rechtsform nicht verkümmere, dass sie zur vollen Wahrheit werde, und der deutschen Nation den von ihr erwarteten Segen bringe.“ Und dann weiter: „möge mit unserer Wirksamkeit eine Periode beginnen, wie sie dem deutschen Vaterlande für die Erhaltung und Befestigung eines der kostbarsten nationalen Güter, für die Entwickelung und Ausbildung eines einheitlichen nationalen Rechts noch nicht beschieden gewesen ist, selbst nicht zu der Zeit, als noch die altehrwürdigen Reichsgerichte vor Beginn ihres Verfalls in vollster Blüthe standen.“ Ich brauche hier nicht ein Zeugniss darüber abzugeben, worüber unter Praktikern und Theoretikern nur eine Stimme ist, dass das Gericht während seines achtjährigen Bestehens seine Aufgabe, wie sie bei der Eröffnung formulirt worden ist, in glücklichster Weise gelöst hat: soweit es durch seine Competenz dazu berufen ist, hat es die gesetzlich bestehende Rechtseinheit auch zu einer praktisch geltenden erhoben. Bei dem Vertrauen, welches das Gericht von seinem ersten Tage an besass und durch seine Rechtsprechung dann weiter erwarb, war es eine selbstverständliche Fortbildung, dass mit der Ausdehnung des Bundes auf Süddeutschland aus dem Bundesoberhandelsgericht ein Reichsoberhandelsgericht wurde, dass es mit dem Erwerbe von Elsass-Lothringen an die Stelle des Pariser Kassationshofes für die Reichslande trat, dass, wenn neue Reichsgesetze über Civilrecht, zum Theil auch über Strafrecht ergingen, vielfach ihm an Stelle der obersten Landesgerichte die Entscheidung in höchster Instanz übertragen wurde. Nach dieser mannigfaltigen Erweiterung seiner Competenz ist der Name Reichsoberhandelsgericht zu enge geworden. Aber die Tage des Reichsoberhandelsgerichts sind gezählt. Hatte die Verfassung dem Reich die Gesetzgebung über das Gerichtsverfahren gegeben, so wurde diese Bestimmung von den gesetzgebenden Faktoren in einem umfassenderen Sinne gehandhabt. Durch das Gesetz vom 27. Januar 1877 hat das Reich für seinen gesammten Umfang auch die Gerichtsverfassung geregelt und ein Reichsgericht mit fester Competenz angeordnet. Spätestens am 1. Oktober des kommenden Jahres soll das Gerichtsverfassungsgesetz in Kraft und das Reichsgericht ins Leben treten. Alle an dem betreffenden Tage beim Reichsoberhandelsgericht anhängigen Sachen gehen auf das Reichsgericht über; die Mitglieder des Reichsoberhandelsgerichts werden entweder beim Reichsgericht angestellt oder in den Ruhestand versetzt. So wird also mehrere Jahre, bevor wir ein gemeinsames bürgerliches Gesetzbuch erhalten, ein oberster Reichsgerichtshof die Spitze der Justizorganisation bilden: es ist von vorne herein dafür gesorgt, dass die Rechtseinheit, welcher wir auf dem Gebiet des Civilrechts entgegen gehen, auch in der Rechtsprechung erhalten wird. Die Frage über den Sitz des künftigen Reichsgerichts hatte man vorläufig offen gelassen. Aber auch an sie musste man bald herangehen. Mit grosser Leidenschaftlichkeit wurde sie in der Presse und in dem Reichstage verhandelt und zum Theil für eine eminent politische erklärt. Nach harten Kämpfen und Debatten ist Leipzig als Sitz des Gerichts bestimmt worden. Es würde mir nicht ziemen, in einer oratio pro domo auf die für Leipzig und gegen Berlin geltend gemachten Gründe hier einzugehen. Aber das Eine kann ich doch 258

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nicht verschweigen, dass ich mich nicht hineinzufinden vermag in die von bedeutsamer Seite ausgesprochene Befürchtung, dass an dem Tage, an welchem der Reichstag für Leipzig entschied, „die Entwickelung des deutschen Reichs einen rückläufigen Gang wenigstens in ihren Symptomen, in leisen Symptomen anfing.“ Auch darf man meines Erachtens nicht sagen, wie von anderer Seite gesagt ist: das alte Reichskammergericht verfiel, weil es nicht am Hofe des Kaisers residirte, weil sein Sitz nicht zugleich der Sitz der Centralgewalt war; darum ist für das kommende Reichsgericht Stagnation zu befürchten, wenn es nicht in den geistigen Brennpunkt des öffentlichen Lebens gestellt wird. Es ist auch nicht richtig, dass der alte Reichshofrath als zweiter Reichsgerichtshof entstand, weil das Reichskammergericht nicht am Hof des Kaisers residirte. Sondern weil die Kaiser kein von ihnen unabhängiges Reichsgericht wollten, haben sie ihrem Regierungskollegium gegen Recht und Verfassung allmählich jurisdiktionelle Gewalt erwirkt. Auch das muss ich bestreiten, dass dieser Reichshofrath eine zum Theil das Kammergericht überragende Stellung gewonnen habe. Seine Praxis hatte weder jemals das Ansehen im Volk, noch den Einfluss auf die Gestaltung unsers Rechts, wie ihn das Kammergericht trotz allen Verfalls und aller Verrottung besass. Dass die Zustände des Wetzlarer Gerichts sich hier nicht wiederholen werden, dafür ist, soweit menschliche Voraussicht reicht, gesorgt. Sowie unser Reich dem alten heiligen Römischen Reich in allem unähnlich sieht und nichts mit ihm gemein hat, als den Namen „Deutsches Reich“, so wird das Reichsgericht auch davor bewahrt bleiben die Erbschaft des Kammergerichts anzutreten. Noch lässt sich nicht übersehen, wie viele Richter erforderlich sein werden, um die hieher gelangenden Prozesse zu entscheiden. Aber die Reichsregierung wird darauf bedacht sein, das Gericht mit ausreichenden Kräften zu versehen, und der Reichstag wird ihr dafür die Mittel bewilligen, welche – anders als die alten Kammerzieler – regelmässig fliessen und ein Stocken der Geschäftsthätigkeit nicht aufkommen lassen werden. Durch die neue Prozessgesetzgebung ist der Verschleppung und dem Liegenbleiben der Prozesse vorgebeugt. Waren von dem alten Kammergericht zahlreiche Staaten eximirt und erstreckte sich seine Competenz schliesslich nur auf die kleineren Territorien, so lässt unsere Gesetzgebung solche Exemtionen nur in geringem Maasse zu. Sämmtliche bisherige oberste Landesgerichte, das Preussische Obertribunal, das Sächsische Oberappellationsgericht u. s. w. verschwinden mit dem 1. Oktober 1879; lediglich der Baierische oberste Gerichtshof wird in beschränkter Competenz die Gerichtsbarkeit behalten, welche für das übrige Deutschland auf das Reichsgericht übergeht. Der Gefahr, dass trotz gemeinsamer Gesetze das Recht der einzelnen Territorien doch ein verschiedenes wird, weil verschiedene Gerichte es verschieden anwenden, ist soweit dies überhaupt möglich ist, vorgebeugt und wir brauchen auch nicht zu befürchten, dass die Baierische Praxis sich allzu eigenartig entwickeln wird. Somit dürfen wir auf die Periode der letzten dreissig Jahre, was die Gesetzgebung und die Einigung unserer Nation in rechtlicher Beziehung betrifft, mit grosser Befriedigung zurückblicken und der Zukunft getrost entgegensehen. Wir besitzen einen Gesammtstaat mit einheitlicher Gesetzgebungsgewalt, wir haben ein einheitliches 259

Ernst Otto Stobbe

Handelsrecht, Strafrecht, Prozessrecht und zahlreiche Einzelgesetze, in nächster Zeit soll das Reichsgericht eröffnet werden, welches die Einheitlichkeit festhalten und ausbilden wird; wir erwarten, dass das Civilgesetzbuch, an dessen Herstellung ausgezeichnete Juristen aus den verschiedenen Theilen Deutschlands seit vier Jahren mit Gründlichkeit und Hingebung arbeiten, in nicht allzu ferner Zeit uns den Abschluss der Rechtseinheit bringen wird. Lassen Sie mich mit der Hoffnung schliessen, dass die Rechtswissenschaft mit der Gesetzgebung und der Praxis gleichen Schritt halten möge. Seit der Einsetzung des Reichskammergerichts, welches zur Aufnahme des Römischen Rechts wesentlich beigetragen hat, entwickelte sich in Deutschland die Wissenschaft des fremden Rechts, deren Leistungen während dieses Jahrhunderts unsern Stolz bilden. Hoffen wir, dass die neue deutsche Gesetzgebung und das Reichsgericht auch eine nationale Jurisprudenz erzeuge, welche den modernen Rechtsstoff bemeistert und in glücklicher Wechselbeziehung zur Praxis von ihr lernt und ihr vorarbeitet, dass das neue Reich das Ideal des Rechtsstaats immer weiter verwirkliche und die geistigen Kräfte der Nation zu höherer, selbständiger Entfaltung bringe. ***

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31. October 1879. Rede des abtretenden Rectors Dr. jur. Otto Stobbe. Bericht über das Studienjahr 1878/79. Hochansehnliche Versammlung! Nach dem Gebrauch unserer Universitäten hat am Tage des Rectoratswechsels der abtretende Rector einen Bericht über sein Amtsjahr zu erstatten. Ich vollziehe diese letzte Amtshandlung mit lebhaftem Dank dafür, dass dies Jahr für unsere Universität glücklich und ohne Störungen verlaufen ist und dass ich mich seitens der Herren Collegen wahrhaft collegialer Gesinnungen, seitens der Herren Studirenden liebenswürdigen Entgegenkommens und vollen Vertrauens jederzeit zu erfreuen gehabt habe. Vor allem habe ich mit Dank und Stolz es als ein Glück unserer Hochschule hervorzuheben, dass die huldvolle Gesinnung, welche Se. Majestät König Albert, unser Rector magnificentissimus, seit dem Tage, an welchem auf ihn die Krone überging, der Universität zuwendete, sich auch in diesem Jahre in reichem Masse bethätigt hat. Zweimal, am 15. Januar und am 16. Juni, hat Se. Majestät die Gnade gehabt in unsern Räumen zu verweilen und den Vorlesungen mehrerer Professoren beizuwohnen. Auch besuchte Se. Majestät damals mehrere während Seiner Regierung neu geschaffene oder reicher ausgebaute Institute, insbesondere den botanischen Garten mit seinen Gewächshäusern und Arbeitsräumen und das pathologisch-anatomische Institut, und nahm von ihren Einrichtungen genaueste Kenntniss. Dank der Munificenz der Regierung und des Landtags, welche für die Vervollständigung unserer Institute sehr beträchtliche Mittel in früheren Jahren bewilligt hatten, konnte der Bau neuer grossartiger Institute gefördert werden. In dem Viertel, in welchem während der drei letzten Lustren unsere sämmtlichen naturwissenschaftlichen und medicinischen Anstalten ihre Stätte gefunden haben, stehen jetzt zwei neue mächtige Gebäude vollendet da: das zoologische Museum und das landwirthschaftliche Institut, von denen dieses bereits bezogen ist, während jenes im Laufe des kommenden Jahres für Lehrzwecke geöffnet werden wird. Für die neu zu errichtende psychiatrische Klinik, für welche, abgesehen von dem Areal, die Summe von 750,000 Mark zur Verfügung steht, sind die Pläne festgestellt und es soll in nächster Zeit mit dem Bau vorgegangen werden. In den unserer Aula benachbarten Räumen, welche zur Zeit das zoologische Institut inne hat, soll nach einem Umbau die archäologische Sammlung aufgestellt werden. Auch ist es in Aussicht genommen, bei diesem Umbau den Raum für noch ein grösseres Auditorium zu gewinnen, über dessen Mangel bei der gesteigerten Frequenz unserer Universität bisher vielfach Klage erhoben worden ist. Wie bereits mein Herr Amtsvorgänger mittheilen konnte, hat unsere Bibliothek einen geradezu einzigen Zuwachs dadurch erfahren, dass ihr unser am 18. October 261

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v. J. verewigter College Geheimrath Hänel seine berühmte und kostbare Bibliothek vermacht hat. Aber erst jetzt, wo diese Schätze in unserer Bibliothek aufgestellt sind, lässt sich berichten, wie gross dies Vermächtniss ist. Wir sind durch dasselbe in den Besitz von 85 Handschriften und einigen Tausend Druckwerken gekommen. Unter den Handschriften befinden sich nicht weniger als 59 Pergament-Handschriften, welche ein reiches und noch durchaus nicht vollkommen ausgebeutetes Material für die Erkenntniss der Entwicklungsgeschichte des römischen, namentlich des spätrömischen und des canonischen Rechts bieten. Eine hervorragende Stelle nimmt unter ihnen der berühmte Codex Utinensis ein. Ausser diesen zunächst für den Juristen werthvollen Handschriften weist die Sammlung noch eine beträchtliche Zahl zum Theil älterer Manuscripte auf, welche Abschriften von Werken der altclassischen, namentlich lateinischen Literatur und der Kirchenväter und der Scholastiker enthalten. Wir finden hier vier Handschriften von Werken des Cicero, zwei von Livius, zwei von Vergil, ferner von Terenz, Eutropius, Florus, Boethius, weiter von Rufinus, Albertus Magnus, Nicolaus de Anglia. Auch Donatus ist vertreten und es dürften sich aus der genaueren Durchforschung des reichen Schatzes noch bedeutende Resultate für die verschiedensten Wissenschaften ergeben. Wie Hänel’s wissenschaftlicher Gesichtskreis über die Grenzen seines Fachs weit hinausging, so ist auch der Bestand der von ihm hinterlassenen Sammlung von Druckwerken nicht auf die juristische Literatur beschränkt, wenngleich in dieser letzteren, namentlich in der fast einzig dastehenden Sammlung von seltenen und kostbaren Drucken und Incunabeln unleugbar der Hauptwerth der Bibliothek liegt. Für einzelne Gebiete der Geschichte, namentlich der Gelehrten- und Literaturgeschichte Deutschlands wie der romanischen Völker hat der Verewigte mit einer Liebe und Sorgfalt und mit einem Verständniss gesammelt, dass man die glückliche Fügung nicht genug preisen kann, welche ihn und gerade zu einer Zeit nach Italien, Frankreich und Spanien führte, wo es für den Reisenden noch möglich war, derartige Seltenheiten käuflich zu erwerben. Der ganze Briefwechsel, den er uns hinterlassen hat, beweist, in wie grossartigen Verbindungen mit seinen Fachgenossen aller Länder er gestanden hat, aber auch wie gross die Achtung und Hochschätzung war, die ihm Alle entgegen brachten. Unsere Universität hat sich mehrfacher wohlthätiger Zuwendungen zu erfreuen gehabt. Der am 6. Juni d. J. zu Wurzen verstorbene Pastor emeritus Lessmüller hat durch testamentarische Verfügung eine neue Convictstelle gestiftet. Der vor 3 Jahren begründeten academischen Krankenkasse sind zu mehreren Malen aus den Kreisen der Studirenden nicht unbeträchtliche Summen zugeführt worden, so von dem academischen Gesangverein Paulus 303 Mark, von den zu der Feier der goldenen Hochzeit unsers Kaiserpaars und zur Savigny-Feier zusammengetretenen Comités die Summe von 112, resp. 142 Mark. Ueberhaupt betrug die Einnahme der academischen Krankenkasse im Kalenderjahr 1878 die Summe von 5474 Mark. Von dem Pauliner-Verein wurden überdies 150 Mark der Pensionskasse für Universitätsunterbeamte zugewendet. Die Albrechtstiftung befand sich zum zweiten Male in der Lage die Zinsen des von unserm verewigten Collegen Albrecht der Universität zugewendeten Kapitals 262

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stiftungsmässig zu vergeben. Es wurden 4200 Mark zu wissenschaftlichen Reisen an 3 Professoren, 5900 Mark zu Förderung wissenschaftlicher Arbeiten an 7 Docenten und 2700 Mark an 3 junge Gelehrte zum Zweck ihrer Habilitation, überhaupt 12,800 Mark verliehen. Was unsern Lehrkörper anbetrifft, so habe ich zunächst die in dem Leben unserer Universität seltene Thatsache zu erwähnen, dass in diesem Jahre keine Veränderung in dem Collegium der ordentlichen Professoren stattgefunden hat. Weder haben wir einen Verlust durch Tod oder Wegberufung zu beklagen, noch einen Zuwachs erhalten. Schmerzlich wurden wir durch den Tod des ausserordentlichen Professors der Philosophie Dr. Göring betroffen; er starb am 2. April d. J. zu Eisenach im Alter von 37 Jahren. Ursprünglich Philolog wandte er sich nach mehrjähriger Lehrthätigkeit an Gymnasien dem ausschliesslichen Studium der Philosophie zu und habilitirte sich 1874 für diese Disciplin. Schon vorher hatte er den ersten Band seines Hauptwerkes „System der kritischen Philosophie“ erscheinen lassen, dem 1875 der zweite folgte. In seinen Werken zeigte er sich als einen scharfen, kritischen und selbständigen Denker. Als akademischer Lehrer wusste er bald tiefer gehenden und dauernden Einfluss auf eine nicht geringe Zahl Studirender zu gewinnen. Ihre Lehrthätigkeit haben aufgegeben der Privatdocent der juristischen Facultät Rechtsanwalt beim Reichsgericht Dr. Reuling und die Privatdocenten der medicinischen Facultät Medicinalrath Dr. Siegel und Sanitätsrath Dr. Niemeyer. Erhebliche Verluste hat unsere Hochschule dadurch erfahren, dass jüngere, vielversprechende Lehrer dem Rufe an andere Universitäten gefolgt sind: der ausserordentliche Professor der Theologie Dr. Harnack ging als ordentlicher Professor nach Giessen, der ausserordentliche Professor der Geschichte Freiherr v. d. Ropp wurde als ordentlicher Professor an das Polytechnikum in Dresden, der Privatdocent der Medicin Dr. Puschmann als ausserordentlicher Professor für die Geschichte der Medicin nach Wien, der Privatdocent der Medicin Dr. Helferich als Director einer chirurgischen Poliklinik nach München, der Privatdocent der Philologie Dr. Götz als Extraordinarius der classischen Philologie und Mitdirector des philologischen Seminars nach Jena berufen. Haben wir so eine Einbusse an vortrefflichen Lehrkräften erlitten, so freuen wir uns doch, dass diesen Männern an andern Orten eine höhere Stellung im academischen Leben und durch Versetzung in einen neuen Boden die Gelegenheit zu reicherer Entwickelung ihrer wissenschaftlichen Individualität geboten ist. Befördert wurde an unserer Universität der bisherige Privatdocent und Assistent am pathologischen Institut Dr. med. Weigert zum ausserordentlichen Professor. Zahlreicher als der Abgang ist der Zugang neuer Lehrkräfte. Es habilitirten sich in der theologischen Facultät: Dr. phil. und Licent. theol. Victor Ryssel, Oberlehrer am Nicolaigymnasium, Dr. phil. und Lic. theol. König, Oberlehrer am Thomasgymnasium, der Predigtamtscandidat Victor Schultze, welchem durch Ministerialdecret zugleich die Verwaltung der christlich-archäologischen Sammlung an unserer Universität übertragen wurde. In der juristischen Facultät habilitirte sich Dr. jur. Weismann, in der medicinischen Dr. med. Moldenhauer, in der philosophischen 263

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Facultät Dr. Eduard Meyer für alte Geschichte, Dr. Wilh. Creizenach für neuere Literaturgeschichte, Dr. Herm. Ost für Chemie, Dr. Gustav Hahn für Geographie, Dr. Ludw. Holzapfel für alte Geschichte und Historiographie, Dr. Carl Rohn für Mathematik, Dr. Hermann v. Ihering für Zoologie und vergleichende Anatomie, Dr. Theodor Schreiber für Archäologie, Mythologie, Religionsgeschichte und griechische Sacralalterthümer. Möge ihnen allen eine gedeihliche und erfreuliche Wirksamkeit bei uns beschieden sein. Einen schweren Verlust erlitten wir durch den Tod des Quästor Haensel, welcher am 14. Januar nach kurzem Krankenlager starb. Er war ein treuer Beamter gewesen, welcher 18 Jahre hindurch sein schwieriges und verantwortliches Amt mit grosser Umsicht und Gewissenhaftigkeit verwaltet hatte und bei allen Lehrern der Hochschule in bestem Andenken bleiben wird. Zu seinem Nachfolger wurde von dem Plenum der ordentlichen Professoren der bisherige Cassirer des Universitätsrentamts Beer erwählt, dessen Stelle von der Regierung dem bisherigen Universitäts-Controleur Bernhardt übertragen wurde. Indem ich mich weiter zu statistischen Mittheilungen über unsere Studirenden wende, habe ich zu berichten, dass wir 13 von ihnen durch den Tod verloren und mit ihnen reiche Hoffnungen ihrer Familien begraben haben. Die Gesammtzahl unserer Studirenden weist gegen das Vorjahr eine nicht unerhebliche Steigerung auf. Im Winter-Semester 1877 auf 1878 hatte sie zum ersten Mal das dritte Tausend überschritten und betrug 3036 Studirende. In dem letzten Winter-Semester 1878 auf 1879 erreichte die Frequenz die Zahl 3061 und sank im Sommer-Semester dieses Jahres, – wie überhaupt das Sommer-Semester bei uns jederzeit das schwächere ist – auf 2936, welche Zahl aber noch um 75 grösser ist, als in dem vorhergehenden Sommer-Semester. Die Frequenz dieses Jahres ist also die höchste, welche unsere Universität je erreicht hat. Von den Studirenden des letzten Semesters waren 1111 Sachsen, 1825 Nicht-Sachsen und von diesen gehörten 273 ausserdeutschen Ländern an. Die Frequenz des begonnenen Semesters ist aber wiederum stärker als im vorigen Jahr. Gestern Abend betrug die Zahl unserer Studirenden 3196. Von den in diesem Semester von mir immatriculirten 893 Studirenden gehören 90 der theologischen, 410 der juristischen, 97 der medicinischen, 296 der philosophischen Facultät an; unter ihnen sind 105 Sachsen und 788 Nicht-Sachsen. Lassen Sie uns, meine Herrn Collegen, das grosse Vertrauen, welches uns entgegengebracht wird, als eine immer erneute Mahnung betrachten, mit dem Aufgebot aller unserer Kraft die Pflichten unsers Amtes als Lehrer und Forscher voll zu erfüllen. Möge der gute Ruf, welchen Leipzig sich errungen hat, und der Einfluss, welchen es auf die wissenschaftliche Ausbildung der academischen Jugend unsers Vaterlandes ausübt, auch in den kommenden Jahren keine Einbusse erleiden. Der Wahrheit gemäss darf ich es hier aussprechen, dass, was den Fleiss, den wissenschaftlichen Geist und die sittliche und gesellschaftliche Haltung unserer Studirenden betrifft, Leipzig hinter keiner deutschen Hochschule zurücksteht. Zweimal im verflossenen Jahre ergriff die studentische Jugend in ihrer Gesammtheit die Gelegenheit, ihren wissenschaftlichen und patriotischen Geist in festlicher 264

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Weise zu bethätigen, und ich denke, dass Jeder, sei es Studirender sei es academischer Lehrer, welcher an diesen Festen theilnahm, die Erinnerung an den sich hier kundgebenden hochfliegenden Sinn lebhaft bewahren wird. Das erste Mal war es, als es galt, am 21. Februar den hundertsten Geburtstag eines der grössten Gelehrten unsers Jahrhunderts, Karl Friedrich v. Savigny’s zu feiern. An dem Festactus, welchen die juristische Facultät hier in der Aula veranstaltet hatte, betheiligten sich Docenten und Studenten aller Facultäten. An demselben Abend fand ein grosser Festcommers statt, auf welchem sich gleichfalls Studirende aller Facultäten vereinigten. Sie bezeugten dadurch, dass sie die Universität nicht als eine lose Vereinigung von Fachanstalten betrachten, sondern von der Wahrheit ergriffen sind, dass, was auf einem Gebiet der unermesslichen Wissenschaft geleistet wird, auch allen ihren übrigen Zweigen zu gute kommt und einen Fortschritt des geistigen Lebens überhaupt bedeutet. Das andere Mal war es, als am 11. Juni die gesammte deutsche Nation das Fest der goldenen Hochzeit unsers Kaiserpaares feierte. Während der Senat den kaiserlichen Majestäten seinen Glückwunsch in einer Adresse darbrachte, vereinigte sich unsere academische Jugend zur Feier des Tages in studentischer Weise, um Zeugniss dafür abzulegen, dass die hingebende Begeisterung für das Kaiserhaus und die Treue zu Kaiser und Reich in der jungen Generation aller deutschen Stämme mit gleicher Kraft und Wärme lebt. Für den an unserer Hochschule herrschenden wissenschaftlichen Geist darf ich mich nicht bloss auf die Fülle unserer Hörsäle und Institute, sondern auch auf den Eifer, mit welchem in wissenschaftlichen Gesellschaften und Seminaren gearbeitet wird, und die Zahl der rite erfolgten Promotionen berufen. Die theologische Facultät verlieh einmal die Doctorwürde und neunmal die Licentiatenwürde. Von der juristischen Facultät wurden 17, von der medicinischen 80, von der philosophischen 81 Candidaten rite zu Doctoren promovirt. Mein Bericht würde aber einseitig sein, wenn ich es unerwähnt liesse, dass das Universitätsgericht öfter Veranlassung hatte, mit Strafen gegen Studirende vorzugehen, mehrmals auch mit schweren. Die Relegation musste in 2 Fällen, die Fortweisung von unserer Hochschule in 9 Fällen ausgesprochen werden. In drei Fällen waren es bürgerliche Vergehen schwerer Art, welche diese Strafen erforderlich machten, in den meisten Fällen Thätlichkeiten gegen Commilitonen. Wenn ich mein Bedauern darüber ausspreche, dass dieselben bei uns nicht ausgeblieben sind, so bemerke ich, nicht zur Entschuldigung, sondern zur Erklärung, dass solche Thätlichkeiten in den letzten Jahren auch auf andern Universitäten sich häufiger als früher ereignet haben und durch die in neuerer Zeit schärfer ausgebildeten Parteigegensätze hervorgerufen sind, in denen sich das studentische Leben bewegt. Am 1. October ist hier wie auf allen andern deutschen Hochschulen die academische Gerichtsbarkeit gefallen. Die academische Behörde hat jetzt nur bei Vergehen gegen die studentische Disciplin einzuschreiten und in Fällen, wo die Gerichte gegen einen Studirenden eine Untersuchung eröffnet haben, darüber zu entscheiden, ob auch eine Disciplinarstrafe eintreten soll. Es hat damit eine Institution ihr Ende erreicht, welche von Anbeginn der Universitäten an Bestand gehabt hat. In einer Zeit, welche alte Privilegien beseitigt und gleiches Recht für Alle schafft, durften die 265

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Universitäten nicht für die Aufrechterhaltung eines privilegirten Gerichtsstandes in die Schranken treten. Ja, wir hoffen, dass nach Beseitigung des Privilegs unsere Studirenden, die nicht mehr erwarten können, bei gewissen Vergehen mit Rücksicht auf althergebrachte Standesauffassungen milder beurtheilt zu werden, sich mit den Gesetzen noch seltener in Conflict setzen werden, als das bisher der Fall war. Das verflossene Jahr ist für unsere Verwaltung, insbesondere auch für den Senat ein sehr arbeitsreiches gewesen. Während die Zahl der Senatssitzungen im Jahr durchschnittlich neun zu sein pflegt, haben wir in diesem Jahre sechszehn Sitzungen abgehalten. Es war eine Reihe wichtiger Angelegenheiten zu ordnen: nach der Verordnung des Ministeriums waren neue Statuten für die Universität auszuarbeiten, der Entwurf der neuen, nach Aufhebung der Universitätsgerichtsbarkeit erforderlichen Disciplinarordnung für die Studenten zu begutachten, die Quästurverhältnisse zu ordnen; die neue Regelung des Communalsteuerwesens in unserer Stadt, durch welche die bisher eximirte Stellung der Professoren in sehr empfindlicher Weise getroffen wurde, erforderte sehr langwierige Verhandlungen mit den städtischen Behörden u. s. w. Alle diese Angelegenheiten sind im Wesentlichen zum Abschluss geführt. Noch habe ich einige unsere Universität berührende festliche Ereignisse zu erwähnen. Am 21. Juni feierte Se. Excellenz der Herr Staatsminister Dr. Freiherr von Falckenstein sein goldenes Ehejubiläum. Die Universität, die sich jederzeit der fürsorgenden und verständnissvollen Thätigkeit des Herrn Ministers zu erfreuen gehabt hat und deren Aufblühen mit seiner Wirksamkeit als Minister des Cultus und öffentlichen Unterrichts unmittelbar zusammenfällt, sprach dem hochverehrten Ehepaare durch eine Deputation ihren herzlichsten Glückwunsch aus. Am 13. August beging der Senior und Ordinarius der Juristenfacultät Se. Excellenz der Wirkliche Geheimrath Professor Dr. von Wächter sein sechzigjähriges Professorenjubiläum. Leider gestattete es nicht der Gesundheitszustand unseres hochverehrten Collegen, dass in der Weise, wie es seiner Bedeutung in der Wissenschaft und seiner Stellung zur Universität und Facultät entspricht, dieser Tag gefeiert wurde. Wenn wir Alle, Lehrer und Schüler, am meisten er selbst, es tief beklagen, dass diese eminente Lehrkraft nicht mehr vom Katheder herab ihre Thätigkeit entfaltet, so hat doch auch noch im letzten Jahre der Jubilar mit ungeschwächter geistiger Kraft an den Arbeiten des Senats und der Facultät eifrig theilgenommen. Wir hegen den sehnlichen Wunsch, dass es uns noch lange vergönnt sein möge, ihn den unsrigen zu nennen. Am 1. October ist in unserer Stadt das Reichsgericht eröffnet worden. Unsere Universität rechnet es sich zur hohen Ehre, dass der feierliche und verheissungsvolle Act in diesen Mauern, in unserer Aula stattfand. Vor einem Jahre habe ich an dieser Stätte von der Geschichte der Reichsgerichtsbarkeit geredet. Lassen Sie mich heute die Hoffnung aussprechen, dass der Segen, welchen das ganze Vaterland sich von diesem neuen Institut der Reichseinheit verspricht, in vollem Masse uns zu Theil werde und dass, worauf in bedeutungsvoller Weise bei den Eröffnungsfeierlichkeiten hingewiesen wurde, der Zusammenhang von Praxis und Wissenschaft durch Errichtung dieses Gerichtshofes neu belebt werden möge. 266

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Ich führe weiter die Ehrenpromotionen des letzten Jahres auf. Die theologische Facultät verlieh mit Rücksicht auf das bevorstehende Jubiläum der Kopenhagener Universität dem Professor Christian Harmensen die theologische Doctorwürde und bei Gelegenheit der Einweihung des neuen Gebäudes der Meissner Fürstenschule dem Professor zu St. Afra Dr. Höhne die Licentiatenwürde. Aus Anlass der SavignyFeier wurden von der juristischen Facultät honoris causa promovirt: Se. Excellenz der Königl. Sächsische Justizminister von Abeken, der Präsident des Oberappellationsgerichts zu Dresden von Weber, der Vicepräsident des Oberappellationsgerichts zu Dresden Paul Otto, der Vicepräsident des Reichsoberhandelsgerichts Hocheder, der Reichsoberhandelsgerichtsrath Wiener, der Königl. Preussische Oberverwaltungsgerichtsrath Struckmann, der Geheime Oberregierungsrath im Reichsjustizamt Hagens, der Geheime Oberfinanzrath Rüdorff zu Berlin. Bei seinem Scheiden von Leipzig verlieh die philosophische Facultät ihre Doctorwürde Sr. Excellenz dem Kaiserl. Wirklichen Geheimenrath Präsidenten des Reichsoberhandelsgerichts Dr. jur. Pape. (Hierauf berichtete der Rector über die Resultate der bei Gelegenheit des letzten Rectoratswechsels von den Facultäten gestellten Preisaufgaben und über die neu ausgeschriebenen Fragen, für die hier beide Male auf das vom 31. October datirte Programm, dem eine Abhandlung des Programmatars Professor Dr. Lange „De L. Marcii Philippi orationis apud Sallustium loco“ vorangeschickt ist, verwiesen wird. Zum Schlusse folgte sodann die Vereidung des neuen Rectors und die Uebergabe der Amtsinsignien.) ***

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Ludwig Lange (1825–1885)

31. October 1879. Rede des antretenden Rectors Dr. phil. et jur. Ludwig Lange, Professors der classischen Philologie. Ueber das Verhältniss des Studiums der classischen Philologie auf der Universität zu dem Berufe der Gymnasiallehrer. Hochansehnliche Versammlung! Zum Gegenstande meiner Ansprache habe ich ein Thema gewählt, das in engster Beziehung zu meiner akademischen Lehrthätigkeit steht, und das mir zugleich geeignet scheint, die Aufmerksamkeit einer so grossen und so verschiedenartigen Zuhörerschaft für einige Zeit in Anspruch zu nehmen. Ich werde sprechen über das Verhältniss des Studiums der classischen Philologie auf der Universität zu dem Berufe der Gymnasiallehrer. Es ist das ein Thema, das in den letzten Jahren mehrfach, namentlich von Schulmännern, verhandelt worden ist, und dessen Wichtigkeit einleuchtet, wenn man bedenkt, dass von der Art, wie wir Universitätsprofessoren der classischen Philologie dieses Verhältniss bei unserer eigenen Thätigkeit auffassen, zum guten Theile die Zukunft der Gymnasien und damit die Zukunft der allgemeinen Bildung der leitenden Classen der Gesellschaft abhängt. Die classische Philologie, welche ich in Verbindung mit mehreren hochgeschätzten Collegen an unserer Universität zu vertreten habe, verdankt ihre vergleichsweise hervorragende Stellung auf den Universitäten in letzter Instanz dem hohen Werthe, den die classischen Sprachen und Literaturen für die allgemeine Vorbildung der zu dem höheren Dienst in Staat und Kirche und zur Pflege der Wissenschaften berufenen Jugend besitzen, unmittelbar aber der eben aus diesem hohen Werthe sich ergebenden Nothwendigkeit eines besonderen Berufsstandes von classisch gebildeten Gymnasiallehrern. Dass die classischen Sprachen und Literaturen für jenen Zweck durch kein anderes Bildungsmittel zu ersetzen sind, ist durch langjährige Erfahrung zweifellos festgestellt. Wenn es bei der Vorbildung der Jugend darauf ankommt, die Empfänglichkeit für das Schöne und das Ideale mit einer für das ganze spätere Leben nachwirkenden Kraft zu erwecken, so kann darüber kein Zweifel sein, dass die formvollendeten 269

Ludwig Lange

Werke der Griechen und Römer, die Epen des Homeros, die Tragödien des Aeschylos und Sophokles, die Dialoge des Platon, die Poesien des Horatius und Vergilius, mit ihrem über die Sphäre des alltäglichen Lebens hinaus hebenden poetischen und philosophischen Gedankengehalte dazu mehr geeignet sind, als die Hervorbringungen der orientalischen Völker. Und wenn es ebenso darauf ankommt, schon in der Jugend den Keim zu legen für die Entwickelung opferfreudiger Vaterlandsliebe, wahrer Bürgertugend und unbedingten Gehorsams gegenüber den Gesetzen und der staatlichen Ordnung, so ist es ebensowenig zweifelhaft, dass das Studium der Geschichtswerke des Herodotos und Thukydides, des Livius und Tacitus, und das der Reden des Demosthenes und Cicero diess in höherem Grade vermag, als das Vertiefen in die literarischen Denkmäler der despotisch regierten und von Knechten bevölkerten Staaten des Orients. Aber nicht bloss die Culturen der andern Völker des Alterthums, sondern auch die der modernen Völker müssen rücksichtlich ihres Werthes für die Jugendbildung hinter der hellenischen und römischen Cultur zurückstehen. Zwar wird kein Verständiger leugnen, dass die Cultur der Deutschen, der Engländer und der Franzosen an Umfang und Tiefe der der Griechen und Römer überlegen ist. Aber die Sprachen dieser Völker eignen sich trotzdem weniger gut zum Mittel für die Jugendbildung, weil sie entweder, wie die französische, aus der lateinischen abgeleitet sind, oder, wie die deutsche und englische, nicht in jener Durchsichtigkeit der Bildungen und der Gebrauchsweisen vorliegen, welche die classischen Sprachen auszeichnet; die Literaturen aber der Deutschen, Engländer und Franzosen sind für die Jugendbildung aus dem Grunde weniger geeignet, weil gerade die besten Erzeugnisse derselben unter dem Einflusse historischer Entwickelungen und philosophischer Ideen stehen, deren volles Verständniss über dem Horizonte der Gymnasialjugend liegt. Gerade weil die Griechen und Römer das Jugendalter der Menschheit repräsentiren, sind ihre Literaturerzeugnisse dem Geiste der Jugend jedes Zeitalters congenial; und gerade weil ihre Werke der vollendetste Ausdruck des jugendlichen Schaffungsvermögens der Menschheit sind, so sind dieselben die denkbar gesundeste Nahrung für den jugendlichen Geist. Um nun die Sprachen und Literaturen der classischen Völker der Jugend zugänglich zu machen, um den wohlthätigen Einfluss, den sie auf die Jugend haben können, in Wirksamkeit zu setzen, bedarf es natürlich eines Standes von Lehrern, die sich in jene Sprachen und Literaturen so eingelebt haben, dass sie die in ihnen liegenden Bildungsmomente mit didaktischer Kunst und mit pädagogischem Tacte verwerthen können. Diesem Stande die für die Ausübung seines Berufs erforderliche wissenschaftliche Vorbildung zu geben, ist die Aufgabe der Universitätsprofessoren der classischen Philologie, gleichwie es Aufgabe unserer theologischen, juristischen und medicinischen Collegen ist, Prediger und Seelsorger, Richter und Anwälte, Aerzte und Wundärzte wissenschaftlich heranzubilden. Es ist diess freilich nicht unsere einzige Aufgabe; denn es liegt uns auch die Aufgabe ob, die Wissenschaft der classischen Philologie selbst zu fördern, d. h. in der wissenschaftlichen Erkenntniss und dem wissenschaftlichen Verständniss der Cultur der Griechen und Römer immer weiter vorzudringen. Indessen diese beiden Aufgaben sind im Grunde 270

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genommen doch nur eine. Wenigstens kann die erste nicht ohne die zweite gelöst werden; denn der eine wissenschaftliche Vorbildung voraussetzende Beruf des Gymnasiallehrers kann ohne ein selbständiges Erfassen der Wissenschaft und ihrer Untersuchungsmethoden, ohne die Befähigung vorkommenden Falls wissenschaftliche Probleme selbständig zu lösen, nicht segensreich geübt werden. Das Universitätsstudium der classischen Philologie unterscheidet sich auch in dieser Beziehung nicht von dem der Theologie, der Jurisprudenz und der Medicin, bei dem in gleicher Weise und aus demselben Grunde die Aufgabe der wissenschaftlichen Ausbildung für den Beruf des Geistlichen, des Richters und des Arztes eng verbunden ist mit der Aufgabe der Förderung der Wissenschaft selbst. Wie könnte auch der Universitätslehrer seine Schüler auf die für die Ausübung ihres Berufs erforderliche wissenschaftliche Höhe heben, wenn er nicht selbst im Stande wäre, durch seine Forschungen die Wissenschaft zu fördern, wenn er nicht selbst im Stande wäre, durch sein eigenes Vorbild seinen Schülern zu zeigen, in welcher Weise man wissenschaftliche Fragen anzugreifen, und mit welchen Mitteln man ihre Lösung zu erstreben hat! Jene Doppelheit der Aufgaben, welche alle Universitätslehrer aller Facultäten zu erfüllen haben, ist der Lebensnerv der Universitäten; auf ihr beruht der Unterschied der Universitäten von den Akademien einerseits und den Fachschulen andererseits, denen nur je eine der beiden Aufgaben gestellt ist. Ich glaube nicht bloss in meinem Namen, sondern auch in dem meiner Collegen es aussprechen zu dürfen, dass wir uns der uns obliegenden doppelten Aufgabe vollkommen bewusst sind, und dass wir gleich weit von der Absicht entfernt sind, blosse Techniker für die Ertheilung des Unterrichts in der griechischen und lateinischen Sprache heranzubilden, wie von der Absicht, die Wissenschaft selbst auf Kosten der Ausbildung unserer Schüler für ihren Beruf als Gymnasiallehrer zu fördern. Ob und in wie weit wir unsere Absicht verwirklichen, ob und wie wir unsere doppelte Aufgabe erfüllen, darüber steht mir selbstverständlich weder überhaupt noch von dieser Stelle ein Urtheil zu. Nur das möchte ich bemerken, dass, wenn wir, wie es den Universitätsprofessoren der classischen Philologie mitunter aus den Kreisen der erfahrenen Schulmänner zum Vorwurf gemacht wird, Neigung haben sollten die erste Aufgabe über der zweiten zu vergessen, wir dadurch, dass wir Examinatoren der wissenschaftlichen Prüfungscommission für Gymnasiallehrer sind, gar oft und nachdrücklich daran erinnert werden, gerade die erste Aufgabe nicht aus den Augen zu verlieren. Wenn aber die Resultate unserer Bestrebungen nicht immer den Erwartungen entsprechen, so ist diess bei der grossen Schwierigkeit der Vorbereitung für den Gymnasiallehrerberuf, welche die Studirenden zu überwinden haben, wohl erklärlich. Um aber diese Schwierigkeit, die auch für unsere Lehrthätigkeit eine Schwierigkeit ist, richtig zu würdigen, müssen wir zunächst fragen: was soll ein tüchtiger classisch-philologischer Gymnasiallehrer leisten? Die Beantwortung dieser Frage hängt ab von der Frage nach der zweckmässigsten Organisation des Gymnasialunterrichts. Dass derselbe nicht, wie in früheren Zeiten, lediglich auf die classischen Sprachen und Literaturen basirt sein kann, ist für mich ausser Zweifel. Die classisch-philologische Bildung, so unentbehrlich sie ist, reicht doch heutzutage nicht aus, um einen Jüngling, der ein wissenschaftliches Berufsfach 271

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ergreifen will, auszurüsten mit allen Waffen, die er im Kampfe des Lebens zu gebrauchen verstehen muss. Sie bedarf ohne Frage einer Ergänzung theils durch den Unterricht in der Muttersprache, den andern modernen Cultursprachen und der Geschichte, theils durch den Unterricht in der Mathematik und den Naturwissenschaften. Von diesen Unterrichtsgegenständen nehmen die Mathematik und die Naturwissenschaften, die französische und englische Sprache im Gesammtorganismus des Gymnasiums eine Nebenstellung ein. Es kann auch nicht wohl anders sein. Denn die Mathematik zunächst ist zwar ein vorzügliches Bildungsmittel für den Verstand und die Vorstellungskraft auf dem Gebiete der Zahlen und der räumlichen Grössen – ich erinnere an die imaginären Zahlen und an die vielbesprochene vierte Dimension –; aber je mehr die Mathematik den Verstand bildet, um so weniger ist sie geeignet Herz und Gemüth auszubilden; sie kann also, wo es auf eine allseitige und harmonische Ausbildung der im menschlichen Geiste schlummernden Kräfte ankommt, mit den auf historischen Grundlagen ruhenden Bildungsmitteln nicht gleichberechtigt concurriren. Die Naturwissenschaften ferner enthalten gewiss eine Anzahl der trefflichsten Bildungselemente für den jugendlichen Geist; sie schärfen die Beobachtungsgabe, fördern ein richtiges Verständniss der Causalitätsbeziehungen und klären das Urtheil über den Werth der auf dem Wege der Induction gefundenen Thatsachen. Auch lässt sich nicht leugnen, dass einzelne Partien derselben etwas Herz und Gemüth Ansprechendes haben. Aber auch sie können die Wirkung nicht ersetzen, welche das Studium der Sprachen – die übrigens auch ein Naturerzeugniss, und zwar das vollkommenste Naturerzeugniss der geistig-leiblichen Menschennatur sind – und das Studium der mustergültigen Werke der redenden Künste der Griechen und Römer hervorzubringen vermag. Sie müssen sich daher mit einem Antheil am Gymnasialunterrichte begnügen, der genügt, um den Abiturienten zur Ergänzung ihrer historisch-philologischen Bildung jenes Mass allgemeiner Bildung in naturwissenschaftlichen Dingen zu geben, das bei dem heutigen Stande der Cultur für jeden Gebildeten unentbehrlich ist. Die Kenntniss der französischen und englischen Sprache und ihrer Literaturen ist zwar ohne Frage für den wissenschaftlich Gebildeten gleichfalls durchaus unentbehrlich; aber während diese Sprachen und Literaturen im Organismus des Realschulunterrichts mit Recht eine hervorragende Bedeutung haben, so kann diess für die Gymnasien in gleichem Masse nicht gelten. Auf ihnen muss der Unterricht in den genannten Sprachen, eben weil die classischen Sprachen den Mittelpunct des Gymnasialunterrichts bilden und für die sprachlich-formale Bildung des Geistes vollständig genügen, mehr auf das Praktische gerichtet sein; die eingehendere Bekanntschaft aber mit den Literaturen der Franzosen und Engländer ist für die Altersstufe der Gymnasialschüler nicht allein nicht nothwendig, sondern, schon wegen der Gefahr der Ueberladung, nicht einmal erspriesslich. Es genügt, wenn auf den Gymnasien hierin ein fester Grund gelegt wird, auf dem während der Zeit des Universitätsstudiums weiter gebaut werden kann. Der Unterricht dagegen in der deutschen Muttersprache und in der Geschichte ist in ganz anderer Weise eine Ergänzung des classisch-philologischen Unterrichts. 272

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Die deutsche Sprache soll jeder gebildete Deutsche nicht bloss correct, sondern auch geschmackvoll zu gebrauchen verstehen. Die Entwickelung der deutschen Literatur, in der an verschiedenen Stellen der läuternde und erhebende Einfluss der classischen Literatur sich kundgiebt, zu kennen, ist eine mit nicht minderem Recht an jeden gebildeten Deutschen zu stellende Forderung; diese Forderung ist aber wiederum nicht ohne eine Kenntniss der Geschichte der deutschen Sprache zu erfüllen. Aber nicht bloss dieser praktisch-patriotische Gesichtspunct kommt in Betracht; der im deutschen Unterricht den Mittelpunct bildende deutsche Aufsatz ist auch aus dem Grunde von hervorragender Wichtigkeit, weil die grössere oder geringere Gewandtheit, mit der ein Schüler die deutsche Sprache zu gebrauchen versteht, der sicherste Prüfstein ist für die Wirkung, welche das Studium der formvollendeten classischen Schriftsteller auf ihn ausgeübt hat. Kurz der deutsche Unterricht hat eine zwar auch ergänzende, aber doch ebenbürtige Stellung im Organismus des Gymnasialunterrichts zu beanspruchen. Der Unterricht in der Geschichte endlich hat die engsten Beziehungen sowohl zum Unterrichte in den classischen Sprachen, wie zu dem in der deutschen Muttersprache. Herodotos und Thukydides, Caesar und Sallustius, Livius und Tacitus können nicht verstanden und den Schülern nicht erklärt werden ohne eine gründliche Kenntniss der griechischen und römischen Geschichte und ohne eine nur durch das Studium der Geschichte zu erwerbende wahrhaft historische Auffassung. Die Geschichte der deutschen Sprache und der deutschen Literatur zu verstehen und vorzutragen ist unmöglich ohne eine genaue Kenntniss der Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit. Die Lehrer der classischen Sprachen und des Deutschen werden sich in dem Erfolge ihres Unterrichts wesentlich gefördert sehen, wenn sie bei der Stellung von Aufgaben für die lateinischen und deutschen Aufsätze Kenntniss der Geschichte und Interesse für dieselbe voraussetzen dürfen; dem geschichtlichen Unterricht kommt hinwiederum die Bekanntschaft der Schüler mit den Historikern und Rednern des Alterthums und mit den Werken der Heroen der deutschen Literatur fördersamst zu statten. Bei dieser in der Natur der Sache liegenden innigen Beziehung des classischphilologischen, des deutschen und des historischen Unterrichts zu einander ist es dringend geboten, dass diese drei Unterrichtsfächer nicht etwa einseitigen, specialistisch gebildeten Fachlehrern, sondern vielmehr Classenlehrern anvertraut werden, die für alle drei Unterrichtsfächer möglichst gleichmässig ausgebildet sind, und die in ihrer Person der Jugend ein Vorbild sein können für das von ihr selbst zu erreichende Bildungsziel. Wollte man hier Fachlehrer vorziehen, so würde man das Princip der Centrifugalität, das sich leider nicht selten in der Thätigkeit der mathematischen und anderen unentbehrlichen Fachlehrer geltend macht, auf den Thron heben, während doch aller Unterricht auf ein gemeinsames Ziel, auf die harmonische Ausbildung des jugendlichen Geistes concentrirt sein soll. Der tüchtige classisch-philologische Gymnasiallehrer muss also im Stande sein nicht bloss den classisch-philologischen, sondern auch den deutschen und den historischen Unterricht zu ertheilen. Es ist diess erfreulicherweise auch der Grundgedanke unseres Prüfungsregulativs für die Candidaten des höheren Schulamtes. 273

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Indem die höchste Unterrichtsbehörde unseres Landes von jedem philologischen Candidaten ein Examen nicht bloss in den classischen Sprachen, sondern auch in der deutschen Sprache und in der Geschichte verlangt, spricht sie es deutlich aus, dass sie einseitig gebildete classische Philologen für die Gymnasien nicht gebrauchen kann. Indem sie sodann den Candidaten gestattet, je nach individueller Neigung entweder die classischen Sprachen oder die Geschichte als ihr Hauptfach zu bezeichnen, und es dabei den Candidaten der ersten Kategorie überlässt, ob sie neben den alten Sprachen auch die deutsche Sprache als Hauptfach bezeichnen wollen, schenkt sie den in der Ausdehnung der Wissensgebiete und in der Ungleichheit des Kräftemasses der Candidaten liegenden Umständen billige Rücksicht, welche der Erreichung des Ideals eines gleichmässig auf allen drei Gebieten ausgebildeten Lehrers entgegenstehen. Indem sie endlich eine Combination der deutschen Sprache und der Geschichte als Hauptfächer unter Ausschluss der classischen Sprachen nicht gestattet, erklärt sie unzweideutig, dass ihr mit historisch-germanistischen Lehrern, die nicht zugleich classische Philologen sind, nichts gedient ist, dass sie vielmehr die classische Philologie als unentbehrliche Grundlage auch für die Lehrthätigkeit im Deutschen und in der Geschichte betrachtet. Nur in einer Beziehung weicht unser Prüfungsregulativ von jenem Grundgedanken ab. Es gestattet den Theologen, wenn sie abgesehen von ihrer durch die theologische Prüfung bewiesenen Qualification für den Religionsunterricht noch eine weitere Lehrbefähigung nachweisen wollen, eine sogenannte pädagogische Ergänzungsprüfung in der pädagogischen Section der Prüfungscommission, bei der ausser der Pädagogik nur die deutsche Sprache und Literatur als obligatorisches Prüfungsfach erscheint, das Latein dagegen nur unter den facultativen Prüfungsfächern eine Stelle hat, das Griechische aber vollends durch seine Abwesenheit glänzt. Ob der Religionsunterricht, namentlich in den obern Classen des Gymnasiums, bei dieser Einrichtung gedeihen kann, ist mir sehr zweifelhaft. Ich glaube an dem Tage, an dem wir nicht bloss den Rectorwechsel, sondern vor Allem den welthistorischen Gedächtnisstag des Anbruchs einer neuen Aera für Wissenschaft und Völkerleben durch die Reformation feiern, das Recht zu haben meiner persönlichen Ansicht über die berührte Frage Ausdruck zu geben. Wer da weiss, dass diese neue Aera durch die Glaubensenergie Dr. Martin Luthers herbeigeführt worden ist, und dass der Aufschwung des deutschen Volkes aus der Finsterniss des Mittelalters zum Licht der Neuzeit sich vollzogen hat auf dem Boden des im innigsten Bunde mit den classischen Studien stehenden reformirten Glaubens; wer da weiss, welchen Werth Philipp Melanchthon, der praeceptor Germaniae, auf das Studium der classischen Sprachen gelegt hat, und wie in Folge dessen bis gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts Theologie und Philologie unzertrennlich zu sein schienen: der wird mit mir der Ueberzeugung sein, dass, wenn auch in Folge des Fortschritts der Wissenschaften die völlige Herstellung jener früheren Verbindung zwischen Philologie und Theologie unmöglich ist, doch die Trennung nicht weiter als nöthig durchgeführt zu werden brauchte. Ein theologischer Religionslehrer, der in den oberen Classen des Gymnasiums je zwei Religionsstunden, dazu den hebräischen Elementarunterricht für künftige Theologen und allenfalls ein paar deutsche Unterrichtsstunden ertheilt, 274

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befindet sich meiner Ansicht nach in einer höchst misslichen Lage. Er erscheint den Schülern als Fachlehrer, wie etwa der Lehrer der Mathematik oder der der neueren Sprachen, und es ist begreiflich, dass die Jugend das Fach, das er vertritt, ebendesshalb für ein Nebenfach ansieht. Und doch ist der Religionsunterricht gerade in den oberen Classen des Gymnasiums von ausserordentlicher Wichtigkeit. Wem die Erhaltung der sittlichen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft am Herzen liegt, der wird leicht ermessen, wie viel darauf ankommt, dass in den der Confirmation unmittelbar folgenden Jahren, die für die ganze künftige Lebensführung meist entscheidend sind, das tiefere Verständniss der heiligen Schrift, die Empfänglichkeit für die Sätze der christlichen Glaubens- und Sittenlehre, die Kenntniss der Geschichte der christlichen Kirche möglichst erweckt, gefördert und befestigt werde, wie viel darauf ankommt, dass schon die Schüler es einsehen lernen, dass das Christenthum sich nicht bloss äusserlich verträgt mit der humanen Bildung, sondern vielmehr in seinem ideellen Gehalte die höchste Blüthe der Humanität ist. Kann aber eine solche Einwirkung auf die Schüler erwartet werden von einem Lehrer, dem es bei seiner geringen Stundenzahl an der Gelegenheit mangelt, deren Individualität nur einigermassen kennen zu lernen? und der die Möglichkeit nicht hat bei Ertheilung des classisch-philologischen Unterrichts darauf hinzuweisen, wie sich die religiösen Ideen des Herodotos, des Aeschylos, des Sophokles, des Platon zu denen des Christenthums, wie sich überhaupt die heidnischen Religionen zu der christlichen verhalten? Ich sollte denken, dass diejenigen Theologen, welche Neigung zum Gymnasiallehrerberuf haben, es als eine Ehrensache ansehen müssten, sich nicht bloss für den deutschen, sondern auch für den classisch-philologischen Unterricht die Lehrfähigkeit zu erwerben. Allzu schwer kann ihnen diess nicht sein, da sie durch das Studium des neuen Testaments und der griechischen und römischen Kirchenväter ohnehin genöthigt sind mit der classischen Philologie Fühlung zu suchen. Halten wir übrigens für unsere weiteren Erörterungen fest, dass derjenige, der sich dem Berufe des classisch-philologischen Gymnasiallehrers widmen will, suchen muss sich eine wissenschaftliche Ausbildung in den classischen Sprachen und Literaturen, in der deutschen Sprache und Literatur und in der Weltgeschichte zu erwerben. Hier zeigt sich zunächst, dass nicht wir Professoren der classischen Philologie allein verantwortlich sind für die Resultate des Universitäts-Studiums der künftigen Gymnasiallehrer, sondern dass die Professoren der deutschen Sprache und der Geschichte diese Verantwortung mit uns theilen. Auch rücksichtlich meiner germanistischen und historischen Collegen kann ich übrigens auf Grund achtjähriger Erfahrung es aussprechen, dass sie ebenso wie wir sich der auch ihnen obliegenden doppelten Aufgabe, ihre Wissenschaften zu fördern und Lehrer für ihre Fächer wissenschaftlich auszubilden, vollkommen bewusst sind, dass sie ebenso wie wir diese Aufgaben nicht trennen, sondern sie als durchaus zusammengehörig betrachten. Die Schwierigkeit nun des Universitäts-Studiums der classischen Philologie für Schüler wie für Lehrer liegt offenbar darin, dass, wenn wir auch in der Theorie von der Zusammengehörigkeit beider Aufgaben überzeugt sind, in unserer Praxis doch leicht der Schein eines Widerspruchs der beiden Aufgaben hervortritt, ein 275

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Schein, durch den die Schüler erfahrungsmässig bisweilen auf eine falsche Bahn sich verirren. Unsere rein wissenschaftliche Aufgabe erfordert nämlich, dass wir Specialisten sind; und insofern wir in unseren Schülern den Sinn für wissenschaftliche Aufgaben entwickeln, ihre Fähigkeit solche zu lösen fördern sollen, können wir gar nicht anders, als dass wir sie lehren auf einem speciellen Gebiete mit der diesem Gebiete angemessenen Methode zu arbeiten. Denn dass die Wissenschaft ohne Specialisirung der Aufgaben nicht gedeihen kann, wird als allgemein anerkannt gelten können. Es ist diess in der für den Einzelnen unfassbaren Vielfältigkeit der wissenschaftlichen Objecte und Probleme einerseits, und in der Natur des unaufhaltsam bis in die entlegensten und schwierigsten Gebiete vordringenden Forschergeistes andererseits tief begründet. So ist denn auch seit einigen Decennien in der classischen Philologie eine weitgreifende Specialisirung eingetreten, bei der es für den Einzelnen nicht mehr möglich ist, das ganze Gebiet mit gleicher Wissenschaftlichkeit zu beherrschen. Wir haben nicht mehr classische Philologen wie August Boeckh, Ottfried Müller, Friedrich Gottlieb Welcker und Otto Jahn, die das ganze Gebiet der literarischen und monumentalen Alterthumskunde umspannten; statt dessen unterscheiden wir vielmehr schon Hellenisten und Latinisten; wir haben Specialisten auf dem Gebiete der Grammatik, auf dem der Mythologie, der Antiquitäten, der Archäologie; ja wir haben sogar bereits Specialisten für die Dichter, für die Historiker, für die Redner und für die Philosophen. Um nur bei den Sprachen und Literaturen die speciellen Aufgaben der Wissenschaft in grossen Umrissen zu charakterisiren, so gilt es dort: die Lautgesetze der griechischen und lateinischen Sprache, die nur unter sorgfältigster Vergleichung der übrigen indogermanischen Sprachen und ihrer Dialekte sicher erkannt werden können, fester zu begründen; die Formenbildungen, welche – wie die junggrammatische Schule uns zu lehren sich bemüht – theils unter der Herrschaft der mit „blinder Naturgewalt“ wirkenden Lautgesetze, theils unter der des proteusartigen Princips der falschen Analogie stehen, richtig verstehen zu lernen; die syntaktischen Erscheinungen im Gebrauche der Wortformen und in der Gestaltung der Sätze historisch zu erklären und die Eigenthümlichkeiten des Sprachgebrauchs der einzelnen Perioden und Schriftstellergattungen, ja jedes einzelnen Schriftstellers bis ins Einzelste zu verfolgen. Bei den Werken der Literatur aber kommt es darauf an, durch minutiöseste Vergleichung der erhaltenen Handschriften die älteste Ueberlieferung des Textes urkundlich festzustellen; die Frage nach der Echtheit oder Unechtheit ganzer Werke oder einzelner Theile derselben auf das Eingehendste zu prüfen; den Schriftsteller wo möglich in dem allmählichen Fortschritt bei der Ausarbeitung und schliesslichen Redaction seines Werkes zu belauschen; seine Abhängigkeit von Quellen oder Vorbildern, seinen Einfluss auf Nachahmer und Epitomatoren durch sorgfältigste Vergleichung zu ermitteln; die Kunstform seiner Werke nach den antiken und modernen Theorien der Poetik und Rhetorik zu analysiren; endlich den Inhalt jedes einzelnen Werkes nach allen seinen mythologischen oder historischen Beziehungen richtig zu würdigen und die oft dunkeln Anspielungen auf entlegene Thatsachen und Anschauungen oder auch auf verschollene Tagesmeinungen zu erklären. 276

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In ähnlicher Weise specialisiren sich die Aufgaben der Geschichte und Geographie der Griechen und Römer, der Mythologie und der Religionsgeschichte, der griechischen und römischen Alterthümer, der Archäologie, der Epigraphik und Numismatik; wobei noch darauf hingewiesen werden mag, dass alle diese einzelnen Gebiete ähnlich wie das Gebiet der Sprachen wissenschaftlich nicht endgültig durchforscht werden können bei einseitiger Beschränkung auf das classische Alterthum, dass der Forscher vielmehr oft genug in die Lage kommt auch auf die Forschungen der Aegyptologen und Orientalisten, der Keltologen und Germanisten, der Theologen und Juristen, der Historiker und Aesthetiker die eingehendste Rücksicht zu nehmen. Und ebenso specialisiren sich auch die Aufgaben der Germanisten und Historiker, deren wissenschaftlich bildender Einfluss auf die künftigen Gymnasiallehrer sich in edelem Wetteifer befindet mit dem der classischen Philologen. Bei dieser Mannigfaltigkeit der wissenschaftlichen Aufgaben erscheint die Specialisirung der Thätigkeit des einzelnen Forschers sehr natürlich. Und dieser Specialisirung entspricht nun nothwendig die Art, wie wir alle theils bei der Leitung von Uebungen in Seminarien und Gesellschaften, theils bei der Anleitung zur Ausarbeitung von Inauguraldissertationen auf die eigene wissenschaftliche Thätigkeit der künftigen Gymnasiallehrer einzuwirken suchen, wie wir auf sie einzuwirken suchen müssen, wenn anders wir unserer früher geschilderten Doppelaufgabe gerecht werden wollen. Der Schein des Widerspruchs der beiden uns obliegenden Aufgaben entsteht nun dadurch, dass gegenüber dieser specialisirenden Tendenz unserer wissenschaftlichen Lehrthätigkeit dasjenige, was für den künftigen Gymnasiallehrer immer die Hauptsache bleiben wird, das Einleben in die Sprachen und Literaturen der Griechen und Römer, allerdings bei unserer Lehrthätigkeit in den Hintergrund tritt. Allein daraus kann uns ein berechtigter Vorwurf nicht gemacht werden. Denn auf diesen Theil der von unsern Schülern zu bewältigenden Aufgabe können wir nur einwirken durch literaturgeschichtliche Vorlesungen und durch Interpretation von Schriftstellern. Aber die literaturgeschichtlichen Vorlesungen können durch das, was sie über die einzelnen Schriftsteller und ihre Werke mittheilen, natürlich nicht diejenige Vertrautheit mit denselben hervorrufen, die nur durch eigene aufmerksame Lesung erworben werden kann, und die exegetischen Vorlesungen können sich selbstverständlich nur auf einzelne Schriftsteller, oder vielmehr nur auf einzelne Werke einzelner Schriftsteller erstrecken. Wir müssen also erwarten, dass die künftigen Gymnasiallehrer gerade bei der Erfüllung dieses Theils ihrer Aufgabe selbst thätig sind und mit der durch die specialistischen Uebungen gewonnenen Methode sich auf einem möglichst weiten Gebiete der Literatur heimisch machen. Wir sind unsern Schülern gegenüber zu dieser Erwartung gerade so berechtigt, wie ihren Schülern gegenüber unsere theologischen und juristischen Collegen es sind, welche das Einleben in die heilige Schrift und in das Corpus Juris gleichfalls der Selbstthätigkeit ihrer Schüler überlassen. Die Herrschaft über das Material einer Wissenschaft kann überhaupt durch keinen Unterricht der Welt übermittelt werden; wer diese wahrhaft besitzen will, muss mit eigener Kraft Besitz davon ergreifen und sich durch fortdauernde eigene Thätigkeit im Besitze befestigen. 277

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Ich bin mir vollkommen bewusst, mit diesen Sätzen nichts Neues zu sagen, sondern etwas sehr Selbstverständliches. Aber nicht immer ist das Selbstverständliche dasjenige, was am meisten beachtet wird. Nicht selten wird es gerade seiner schlichten Selbstverständlichkeit wegen vernachlässigt. So ist es auch hier. Unsere studirende Jugend, die sich dem Berufe des Gymnasiallehrerstandes widmen will, vergisst es unter dem verlockenden Reize einer frühzeitig erweckten productiven wissenschaftlichen Thätigkeit auf diesem oder jenem Specialgebiete gar zu leicht, dass sie in erster Linie sich nicht dazu bestimmt hat, durch specialistische Untersuchungen die Wissenschaft zu fördern, sondern dazu, durch eine auf wissenschaftlichem Grunde ruhende Vertrautheit mit der griechischen, lateinischen und deutschen Sprache, mit der Literatur der Griechen, Römer und Deutschen, mit der Geschichte der alten, mittleren und neueren Zeit sich die Fähigkeit zu tüchtigen philologischhistorischen Gymnasiallehrern zu erwerben; sie vergisst es, dass jene specialistischen Uebungen für sie nicht Zweck, sondern Mittel zum Zweck sind. Darum habe ich mich in der Erwartung, dass viele Philologen, Germanisten und Historiker unter meinen heutigen Zuhörern sind, nicht gescheut auch das Selbstverständliche von dieser Stelle aus zu sagen; als classischer Philologe kann ich unseren Commilitonen nichts dringender ans Herz legen, als dass sie neben den specialistischen Studien, mögen dieselben auf das classische, germanistische oder historische Feld sich beziehen, ihr eigentliches Ziel nicht aus den Augen verlieren und das Wort, das Horatius einst den Pisonen zurief, auch sich gesagt sein lassen: vos exemplaria graeca nocturna versate manu versate diurna. Das volle sprachliche und sachliche Verständniss der classischen Schriftsteller, das volle Verständniss des formellen und materiellen Werthes ihrer Werke und der aus denselben für die Bildung der Gymnasialjugend zu schöpfenden Bildungsmomente, das ist es, was die unbedingte Voraussetzung für jede erspriessliche philologischhistorische Lehrthätigkeit ist, das ist es, wodurch der classisch gebildete Lehrer auf Verstand, Herz und Gemüth seiner Schüler bildend einwirken kann und soll. Es ist ein grosser Vorzug der grossen Universitäten vor den kleinen, dass die Wissenschaft auf ihnen durch eine grössere Zahl von Specialisten vertreten wird; dadurch ist es den Studirenden ermöglicht je nach Anlage und Neigung sich dasjenige specialistische Gebiet auszusuchen, auf dem sie ihre eigenen Kräfte üben wollen. Es ist weder möglich noch nöthig, dass jeder diess auf allen oder auf mehreren Gebieten thut. Wer auf einem Gebiete der philologisch-historischen Disciplinen methodisch zu arbeiten gelernt hat, dessen wissenschaftlicher Sinn ist hinreichend entwickelt, um nöthigenfalls auch auf andern sich später die erforderliche Arbeitsund Untersuchungsmethode anzueignen. Wer aber in den empfänglichen Jahren der akademischen Studienzeit es versäumt, einen festen Grund in der Kenntniss der Schriftsteller zu legen, der wird im Amte schwer die Zeit finden das Versäumte nachzuholen. Wer seine Zeit lediglich in specialistischen Studien verbraucht, der läuft ausserdem Gefahr bei seinem Unterrichte den Dingen, die ihm in seiner engen 278

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Sphäre als die wichtigsten erschienen sind, und die allein er genauer kennt, eine Wichtigkeit für die Schüler beizulegen, die ihnen im Gymnasialunterrichte durchaus nicht zukommt. Ein Lehrer, der, weil er besonders auf dem Gebiete der vergleichenden Sprachwissenschaft gearbeitet hat, die Lectüre des Homeros zu einem angewandten Cursus der vergleichenden Grammatik machen wollte; ein Lehrer, der, weil er besonders an antiquarischen Fragen sich geübt hat, die Lectüre des Demosthenes und Cicero unterbrechen wollte durch Vorträge über einzelne Capitel der griechischen und römischen Alterthümer; ein Lehrer, der, weil er einst in einer Dissertation de fontibus Livii oder de fontibus Plutarchi kühne Hypothesen scharfsinnig zu begründen versucht hat, die Lectüre des Livius und anderer Historiker benutzen wollte, um seine Schüler von der vermeintlichen Gedankenlosigkeit der alten Historiker im Ausschreiben ihrer Quellen zu unterhalten: ein solcher Lehrer würde sich ebenso schwer an der Jugend versündigen, wie diejenigen Lehrer früherer Zeiten es thaten, welche die Werke der Dichter und Prosaiker als Beispielsammlungen für die Regeln und Ausnahmen der Grammatik ansahen. Das philologische Universitäts-Studium unterscheidet sich von dem naturwissenschaftlichen dadurch, dass es bei lehrfreudigen Professoren und einer lernfreudigen Jugend und bei beiderseitigem richtigen Verständniss der Aufgaben ohne grossartige Institute fröhlich gedeihen kann, sobald nur für den nöthigen Büchervorrath gesorgt ist. Wir haben in Leipzig eine vortrefflich ausgestattete Universitätsbibliothek mit liberalster Verwaltung und humanen Beamten; wir haben auf ihr einen Lesesaal, in dem die Philologen, Germanisten und Historiker mehrere Stunden des Tages mit einer Fülle von Büchern arbeiten können und auch eifrig arbeiten; wir haben ausserdem kleinere Bibliotheken bei dem philologischen, dem deutschen und dem historischen Seminar, wie auch bei den Privatgesellschaften der einzelnen Professoren. So eifrig indess alle diese Bücherschätze benutzt werden, so genügt doch diess Alles nicht gegenüber dem Bedürfnisse der Hunderte von Studirenden der classischen Philologie, der Germanistik und der Geschichte, die lernbegierig unser Leipzig aufsuchen. Es ist meiner Collegen und mein eigener dringender Wunsch, dass uns ein hinreichend geräumiges Local gewährt werde, das jene kleineren Bibliotheken in sich aufnähme und zugleich eine Reihe von Lese- und Arbeitszimmern enthielte, die während des ganzen Tages von den Studirenden benutzt werden könnten. Gegenwärtig ist gegründete Aussicht vorhanden, dass, nachdem die naturwissenschaftlichen Institute im Wesentlichen vollendet sind, zunächst das archäologische Museum aus den dumpfen und engen Räumen, in denen es jetzt zusammengepfercht ist, hinüber geführt wird in die lichten oberen Räume unseres Augusteum, in denen, wenn sie nach dem Vorschlage des sachkundigen Directors desselben benutzt werden, die Schätze des Museums eine ebenso würdige wie instructive Aufstellung werden finden können. Hoffen wir, dass auch die Zeit nicht allzu fern sei, in der wir gleich anderen deutschen Universitäten ein Local besitzen für die Trias der classisch-philologischen, germanistischen und historischen Studien. Ein solches philologisch-historisches Museum würde nicht bloss äusserlich sichtbar das einträchtige Zusammenwirken der Vertreter jener drei Studiengebiete zur Erreichung eines gemeinsamen Ziels darstellen; es würde auch die Pflanzstätte sein, aus der 279

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gewaffnet mit dem Rüstzeug der philologisch-historischen Wissenschaften die Schaar derjenigen auszöge, welche berufen sind die Ausbildung der Elite der Jugend zu wahrer und edler Humanität zu leiten, an entscheidender Stelle den Idealismus zu fördern und den zum culturvernichtenden Pessimismus führenden Zeitströmungen entgegenzuarbeiten, welche berufen sind durch diese ihre erziehende Thätigkeit mitzuwirken zum Wohle unseres engeren Vaterlandes und somit an ihrem Theile auch die Macht und Herrlichkeit des deutschen Reichs für die Zukunft zu wahren. ***

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31. October 1880. Rede des abtretenden Rectors Dr. phil. et jur. Ludwig Lange. Bericht über das Studienjahr 1879/80. Hochansehnliche Versammlung! Als ich heute vor einem Jahre das Amt des Rectors der Universität an dieser Stelle antrat, war ich von banger Sorge erfüllt, ob nicht im Laufe meines Amtsjahres Ereignisse einträten, denen meine Kräfte nicht gewachsen sein würden; heute, im Begriff das Amt meinem Nachfolger zu übergeben, scheide ich aus demselben mit dem dankerfüllten Bewusstsein, dass die Zeit meines Rectorats glücklich für die Universität, glücklich für mich selbst verlaufen ist. An erster Stelle gebührt dafür nicht bloss mein, sondern unser aller Dank dem allmächtigen und allgütigen Gotte, dem Lenker und Regierer aller menschlichen Dinge, dessen Segen in dem verflossenen Jahre sichtlich auf unserer Universität geruht hat, und den ich, wie es in der Universitätskirche unser erster Universitätsprediger bereits gethan hat, auch an dieser Stelle in unser aller Namen bitte, dass er auch im nächsten Rectoratsjahre seinen gnädigen Schutz unserer Anstalt und dem neuen Oberhaupte derselben angedeihen lassen wolle. Nächst Gott aber gebührt unser Dank unserem allverehrten und geliebten Könige Albert, der als Rector perpetuus magnificentissimus unserer Universität auch in diesem Jahre seine Fürsorge für dieselbe sowohl durch sein Ministerium des Cultus und öffentlichen Unterrichts, als auch persönlich vielfach bethätigt hat. Nicht nur dass Se. Majestät einer Anzahl von Mitgliedern des Lehrkörpers eine ehrenvolle Anerkennung ihrer akademischen Wirksamkeit hat zu Theil werden lassen, Se. Majestät hat auch die Gnade gehabt, in diesem Jahre, wie in früheren, die Universität mit seinem allerhöchsten Besuche zu beehren. Die Tage des 2. und 3. Juli, an denen unser König mit eingehendstem Interesse bei mehreren Professoren Vorlesungen gehört und das bei Beginn des Wintersemesters eröffnete landwirthschaftliche Institut, wie auch das gerade in jenen Tagen mit seiner inneren Einrichtung fertig gewordene zoologische Museum einer aufmerksamen Besichtigung unterzogen hat, werden in unserer Erinnerung unvergessen sein. Daran, dass die Universität durch solche Beweise königlichen Interesses für sie, wie sie nun schon seit längerer Zeit sich fast jährlich wiederholen, sich zu lebhaftester Dankbarkeit verpflichtet fühlt, dass insbesondere wir Professoren in denselben einen Sporn zu immer erneuter Anstrengung empfinden, um dem in uns gesetzten Vertrauen nach besten Kräften zu entsprechen, hat zwar nie gezweifelt werden können. Aber bisher fehlte es unserer Universität an einer Gelegenheit, dieser Dankbarkeit und überhaupt der treuen Anhänglichkeit an den König, die in ihr nicht minder lebendig ist, als in andern Kreisen der Bevölkerung des Sachsenlandes, in regelmässiger 281

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Wiederkehr einen der Würde der Sache entsprechenden Ausdruck zu geben. Es gereicht mir daher zu hoher Befriedigung, von dieser Stelle aus verkünden zu können, dass auf Grund einer aus Professorenkreisen schon vor längerer Zeit erfolgten Anregung der akademische Senat einstimmig einen jene Lücke ergänzenden Beschluss gefasst, und dass das Plenum der ordentlichen Professoren vor wenigen Tagen diesem Beschlusse zugestimmt hat. Diesem Beschlusse entsprechend werden wir fortan durch einen in dieser Aula abzuhaltenden solennen Redeact den Geburtstag Sr. Majestät des Königs alljährlich feiern. Wir haben bei Fassung dieses Beschlusses die Hoffnung gehabt, dass die Behörden des deutschen Reiches, des Königreichs Sachsen und der Stadt Leipzig der von der Universität veranstalteten Feier des Königlichen Geburtstages anwohnen und derselben durch ihre Theilnahme den Charakter einer allgemeinen Festfeier verleihen werden. Die Anwesenheit zahlreicher Mitglieder dieser Behörden bei der heutigen Feier, denen ich meinen Dank für diesen Beweis ihrer Theilnahme an Allem, was die Universität betrifft, ausspreche, ist Bürge dafür, dass unsere Hoffnung auf sichere Erfüllung rechnen kann. Nächst Sr. Majestät dem Könige gebührt unser Dank dem Königlichen Ministerium des Cultus und öffentlichen Unterrichts, das auch in diesem Jahre fortgefahren hat, den Intentionen Sr. Majestät entsprechend die ihm von den Ständen des Königreichs bereitwillig dargebotenen Mittel zur Ausstattung der akademischen Institute und zur Ergänzung des Lehrkörpers der Universität in einsichtigster und zweckentsprechendster Weise zu verwenden. Von den Instituten erwähne ich zuerst das zoologische, welches mit Beginn des Sommersemesters von seinem neuen Gebäude Besitz nahm, wenn es auch noch bis in die Mitte desselben dauerte, bis die mühevolle Translocation des ungefähr 60 000 Objecte enthaltenden zoologischen Museums vollendet war. In Folge des Freiwerdens der dem zoologischen Institute und Museum bis dahin im Augusteum zugewiesenen Räume hat zunächst der im Bürgerschulflügel des Augusteum bisher befindliche aegyptologische Apparat in den an diese Aula unmittelbar angrenzenden Raum des Kirchenschulflügels verbracht werden können. Dadurch wurde es möglich in dem von diesem Apparate bisher eingenommenen Raume ein neues grosses Auditorium herzustellen, welches bei der grossen Frequenz unserer Universität schon seit zwei Jahren dringend ersehnt worden war. Zugleich ist daneben ein Seminarzimmer für das archaeologische Seminar und die aegyptologischen Studien eingerichtet und der der kirchlich archaeologischen Sammlung bisher zugewiesene sehr beschränkte Raum verdoppelt worden. Die Herrichtung der übrigen Räume des Augusteum aber ist wenigstens so weit gefördert worden, dass im Laufe des jetzigen Wintersemesters und spätestens in den Osterferien die nach kunstgeschichtlichen und ästhetischen Principien vorzunehmende Aufstellung der Gipsabgüsse des archaeologischen Museums und des aegyptologischen Apparats wird vollendet werden können. Unsere Universität wird dann in Beziehung auf die Möglichkeit intensiver Förderung archaeologischer Studien zwar nicht Berlin und München, aber doch denjenigen deutschen Universitäten gleichstehen, welche reichhaltige Gipssammlungen, in angemessenen Räumen zweckmässig und geschmackvoll aufgestellt, besitzen. 282

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Ferner sind in den vorigen Osterferien die im Paulinum belegenen Räumlichkeiten des medicinisch-poliklinischen Instituts und des chirurgisch-poliklinischen Instituts erweitert und einem Umbau unterzogen worden. Die zootomische Sammlung, die desshalb aus den früher im Paulinum innegehabten Räumen weichen musste, hat in dem landwirthschaftlichen Institute eine neue und schönere Stätte gefunden. Sodann ist während der Herbstferien das Local des historischen Seminars durch die Hinzunahme der früher dem physikalisch-technologischen Apparate zugewiesenen Räume in einer Weise erweitert worden, dass nunmehr alle Hindernisse als beseitigt erscheinen können, welche bisher einem erfolgreichen Quellenstudium einer grösseren Anzahl von Studierenden der Geschichte im Wege standen. Die Frage nach einer neuen Aufstellung des physikalisch-technologischen Apparats, der einstweilen in den ehemaligen Räumen des Universitäts-Rentamtes untergebracht ist, wird nur in Verbindung mit der Frage gelöst werden können, in welcher Weise besondere Räumlichkeiten für das philologische Seminar und Proseminar, wie auch für das deutsche Seminar beschafft werden sollen; denn diese Seminare bedürfen, um einer grösseren Zahl von Studierenden die Möglichkeit einer ungehinderten Benutzung des gelehrten Apparats zu verschaffen, solcher Räume nicht minder als das historische Seminar. Vor einem Jahre sprach ich an dieser Stelle die Hoffnung aus, dass die Zeit nicht allzu fern sei, in der wir ein Local besitzen würden, in dem die Bibliotheken und Arbeitsräume für die Mitglieder des classisch-philologischen, des deutschen und des historischen Seminars vereinigt wären. Ich gebe dieser Hoffnung auch heute Ausdruck und glaube, dass wir dem Ziele weit näher gekommen sind. Es ist erreicht, sobald die akademische Lesehalle auf ihr jetziges Local zu Gunsten des philologischen und des deutschen Seminars verzichtet; und ich bin überzeugt, dass sie dies, da für sie jene Räume bereits seit längerer Zeit zu eng geworden sind, gern thun wird, sobald ihr andere und weitere Räume geboten werden können. Dazu aber ist die Möglichkeit gegeben, sobald das archaeologische Museum seine jetzigen Räume, die für eine akademische Lesehalle äusserst günstig belegen sind, geräumt haben wird. Alles bisher Erwähnte tritt, was die Grösse der erforderlichen Anlagen betrifft, weit zurück hinter dem Bau der Irrenklinik der Universität, der im Laufe des Jahres so weit gefördert ist, dass die Gebäude nunmehr unter Dach stehen und der innere Ausbau begonnen werden kann. Es ist möglich diesen binnen Jahresfrist zu vollenden und die Gebäude schon im nächsten Universitätsjahre ihrer Bestimmung zu übergeben. Freuen wir uns, dass diese Ergänzung einer in dem Complex unserer medicinischen Institute und im Lehrplane der medicinischen Facultät bestehenden Lücke in solche Nähe gerückt ist. Das Interesse der medicinischen Facultät knüpft sich auch an die Heilanstalt für arme Augenkranke, deren Neubau auf dem ehemaligen Terrain der Taubstummenanstalt eben jetzt in Angriff genommen wird. Ich glaube, diese Anstalt, die als solche nicht der Universität, sondern dem Vereine für Augenkranke gehört, hier um desswillen nicht unerwähnt lassen zu dürfen, weil dem Vereine für die Ausführung des Neubaues mit Rücksicht auf das mit der Heilanstalt verbundene akademische Institut 283

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für Augenheilkunde vom Ministerium aus einem Universitätsfond ein nicht unbedeutender Zuschuss bewilligt worden ist. Selbst die Juristenfacultät ist diesmal bei den für Universitätszwecke unternommenen Bauten betheiligt. Da die in dem 1773 erbauten Collegium juridicum befindlichen Sitzungs- und Prüfungszimmer den erweiterten Verhältnissen nicht mehr genügten, auch das Bedürfniss nach Räumlichkeiten vorhanden war, um darin Seminarübungen mit Studierenden der Jurisprudenz zu halten, so ist ein Neubau des Collegium juridicum und des alten der Juristenfacultät im Jahre 1506 überwiesenen Petrinum, das mit den Anfängen unserer Universität verwachsen ist, beschlossen und der Abbruch der Gebäude vor Kurzem begonnen worden. Das Ministerium hat nicht bloss den Bauplan genehmigt, sondern auch zur Erleichterung der Beschaffung der sehr erheblichen Geldmittel für den Bau hülfreiche Hand geleistet. Für die ganze Universität aber, die den Zusammenhang der Wissenschaft mit dem evangelischen Glauben durch die Feier ihres Hauptfestes am Tage der Reformation bezeugt, ist es von Interesse, dass das Ministerium eine nicht unbedeutende Mittel erfordernde gründliche Renovation des Innern der Universitätskirche genehmigt hat; der Kürze der Zeit wegen konnte dieselbe in den abgelaufenen Herbstferien nicht ausgeführt werden; das nächste Reformationsfest wird aber sicher in der restaurirten Kirche gefeiert werden. Dass ein so grosser Organismus wie die Universität, bei dem so viel gebaut und bei dem auch nach anderer Richtung der nervus rerum gerendarum so stark in Anspruch genommen wird, eines Verwaltungsorgans nicht entbehren kann, durch welches das Finanz- und Bauwesen der Universität administrirt wird, liegt auf der Hand. Dass diesem Verwaltungsorgane Räume zu Gebote stehen, in denen es seine Thätigkeit möglichst frei und ungehindert entfalten kann, ist im Interesse der Universität gewiss wünschenswerth. Von den ehemaligen Räumen unseres Rentamts konnte man nicht behaupten, dass sie für die Zahl der Beamten und für den geschäftlichen Verkehr genügten, geschweige denn, dass sie in ihrer Erscheinung dem Werthe der in ihr verrechneten Summen entsprachen. Wir haben dem Ministerium also auch dafür zu danken, dass es dem Universitätsrentamte im Vorderpaulinum Räume überwiesen hat, die zwar nicht so imponirend sind, wie etwa die Geschäftsräume der Creditanstalt, aber doch hinreichend geräumig und freundlich, um den Beamten des Rentamts, insbesondere dem um die Universität wohlverdienten Vorstande desselben den Aufenthalt und die amtliche Thätigkeit darin angenehm zu machen. Eine Folge aber des durch die grosse Zahl von akademischen Instituten immer complicirter gewordenen Rechnungswesens ist es, dass innerhalb des Universitätsrentamts selbst die Stelle eines Rechnungsführers der akademischen Institute hat geschaffen werden müssen; dieselbe ist dem schon vorher im Universitätsrentamte angestellt gewesenen Controleur Albert Eduard Roth übertragen worden. Aber nicht bloss durch die Ausstattung der akademischen Institute hat das Ministerium seine Fürsorge für die Universität bethätigt, sondern auch durch die in Folge des Fortschritts der Wissenschaften nothwendig gewordene Ergänzung des Lehrkörpers. 284

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In der medicinischen Facultät ist Dr. Wilhelm Erb, früher ausserordentlicher Professor bei der medicinischen Facultät zu Heidelberg, durch die Ministerialverordnung vom 8. December 1879 als ordentlicher Professor der speciellen Pathologie und Therapie, sowie Director der ambulanten medicinischen Poliklinik berufen worden; derselbe hat die gedachten Aemter mit Beginn des Sommersemesters übernommen und seine Professur durch die am 16. Juni gehaltene Antrittsrede rite angetreten. In der philosophischen Facultät sind aber zwei neue Lehrstühle geschaffen worden, der eine für die englische Sprache und Literatur, der andere für die Geometrie. Jener wurde durch Ministerialverordnung vom 31. Mai dem bisherigen ausserordentlichen Professor Dr. Richard Wülcker unter gleichzeitiger Ernennung desselben zum ordentlichen Professor übertragen; dieser wurde durch Ministerialverordnung von demselben Datum mit dem bisher am Königlichen Polytechnicum zu München angestellten ordentlichen Professor Dr. Felix Klein besetzt, der am 25. October seine Professur durch Abhaltung seiner Antrittsrede rite angetreten hat. Von Beförderungen innerhalb des Lehrkörpers der Universität habe ich zu verzeichnen, dass in der juristischen Facultät durch Ministerialverordnung vom 19. Januar der ordentliche Professor des römischen Rechts Geheimrath Dr. Bernhard Windscheid zum Ordinarius und ersten Professor der Juristenfacultät ernannt worden ist, und dass in der philosophischen Facultät die ausserordentlichen Professoren Dr. Wilhelm Knop und Dr. Friedrich Karl Adolf Stohmann durch die Ministerialverordnung vom 7. Juni zu ordentlichen Honorarprofessoren befördert worden sind. Um mit den hervorzuhebenden Acten des Ministeriums des Cultus und öffentlichen Unterrichts, die in meinem Rectoratsjahre erfolgt sind, abzuschliessen, erwähne ich noch, dass dasselbe mittelst Decrets vom 15. März d. J. das im vorigen Rectoratsjahre ausgearbeitete Statut für die Universität Leipzig, den Senat, das Plenum, die Universitätsversammlung, die Facultäten und den Lehrkörper betreffend, welches an demselben Tage mit Allerhöchster Genehmigung und unter Zustimmung der in Evangelicis beauftragten Herren Staatsminister zu §§ 49 bis 56 durch Gesetz bestätigt worden ist, zur Ausführung gebracht hat. Abgesehen von minder wichtigen Bestimmungen ist neu in diesem Statute eine stärkere Vertretung der jetzt aus 36 Mitgliedern bestehenden philosophischen Facultät im akademischen Senate, die gesetzliche Feststellung der bisherigen Sitte, dass Professoren nur auf ihren eigenen Antrag pensionirt werden können, und die in §§ 49 bis 56 getroffenen Bestimmungen, durch welche das Verfahren gegen Disciplinarvergehen der Professoren geregelt worden ist. Diesen Bestimmungen entsprechend sind auch die zur Bildung der Disciplinarkammer und des Disciplinarhofes für Professoren erforderlichen Ernennungen durch Ministerialverordnung vom 3. Juni d. J. vollzogen worden. Wir hoffen alle, dass solche Disziplinarvergehen niemals vorkommen werden; sollten sie aber vorkommen, sollte ein Professor die Pflichten, die ihm sein Amt auferlegt, verletzen, oder sich durch sein Verhalten in oder ausser dem Amte der Achtung, des Ansehens oder des Vertrauens, die sein Beruf erfordert, unwürdig zeigen, so hoffen wir auch, dass dann zur Wahrung der Ehre der Universität, der Facultäten und des Lehrkörpers die gesetzlichen Bestimmungen mit voller Strenge gehandhabt werden. 285

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Der Tod hat in dem verwichenen Jahre aus dem Lehrkörper der Universität nur ein Opfer gefordert, aber ein Opfer von ungewöhnlicher Bedeutung. Am 15. Januar d. J. starb in dem hohen Alter von 82 Jahren und 23 Tagen der Ordinarius und erste Professor der Juristenfacultät, der Königl. wirkliche Geheimrath Carl Georg von Wächter Excellenz, der von 1833–36 und wiederum von 1852 bis zu seinem Ende unserer Universität angehört hat, und dem es noch wenige Monate vor seinem Tode, am 13. August 1879, vergönnt gewesen war, den Tag zu erleben, an dem er 60 Jahre zuvor das Amt eines Professors angetreten hatte. Die hervorragenden Verdienste des Geschiedenen um die juristische Wissenschaft und um unsere Universität, welche in der von der Juristenfacultät am 29. Februar d. J. veranstalteten Gedächtnissfeier durch den beredten Mund seines Nachfolgers im Ordinariate der Facultät einen ebenso warmen wie wahrheitsgetreuen Ausdruck gefunden haben, nochmals ausführlich zu schildern, ist weder nöthig noch der Bestimmung der gegenwärtigen Festversammlung angemessen. Indessen drängt es mich doch zu sagen, dass das Andenken an den langjährigen trefflichen juristischen Berather des akademischen Senats, an den unermüdlichen Lehrer und bis an sein Ende thätigen Schriftsteller, an den liebenswürdigen Collegen und väterlichen Freund der studirenden Jugend in den Kreisen der Universität bis in die fernste Zeit pietätsvoll gepflegt werden wird. Und wenn diejenigen, die den Verewigten persönlich kannten, vom irdischen Schauplatze abberufen sein werden, dann werden spätere Generationen von Professoren und Studierenden durch die freundlich ernsten Züge der in dieser Aula aufgestellten Marmorbüste an die hervorragende Stellung erinnert werden, die Wächter unter den Juristen Deutschlands und unter den Professoren unserer Universität eingenommen hat. Noch ein zweiter Todesfall, der in das Personal der Universitätsbeamten eine Lücke riss, hat uns schmerzlich berührt. Am 27. Januar d. J. erlag in noch rüstigem Alter in Folge schwerer Erkrankung unser erster Pedell Friedrich Wilhelm Strauss. Er hat der Universität 34 Jahre lang treu gedient und hat es verstanden, durch seinen unermüdlichen Pflichteifer, durch die Offenheit seines Wesens, durch die Biederkeit seines Charakters und durch die taktvolle ebenso bescheidene wie würdige Art seines Auftretens sich die Achtung seiner Vorgesetzten und der Studierenden in hohem Grade zu erwerben. Auch sein Andenken wird bei uns in Ehren bleiben. In die durch seinen Tod erledigte Stelle rückte der zweite Pedell Johann Wilhelm Dietrich, in dessen Stelle der Gerichtsdiener Carl Moritz Melzer ein; die Stelle des Gerichtsdieners beim Universitätsgericht wurde dem bisherigen Castellan der Juristenfacultät Carl Heinrich Just übertragen; da derselbe aushilfsweise auch zu Pedelldiensten verwendet wird, so hat ihm auf Antrag des akademischen Senats das Ministerium durch Verordnung vom 23. October d. J. den Titel eines Hilfspedellen verliehen. Durch Berufungen an andere Universitäten sind unserem Lehrkörper drei Docenten entzogen worden. Der Privatdocent der medicinischen Facultät Dr. Johannes von Kries folgte im Sommersemester einem Rufe als ausserordentlicher Professor nach Freiburg. Der ausserordentliche Professor der philosophischen Facultät Dr. Theodor Wilhelm Braune übernahm, gleichfalls in Folge ehrenvoller Berufung, 286

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mit dem Beginn des Sommersemesters die ordentliche Professur der deutschen Sprache und Literatur an der Universität Giessen. Endlich verliess uns vor Beginn des Wintersemesters der als ausserordentlicher Professor der englischen Sprache und Literatur nach Bonn berufene Privatdocent der philosophischen Facultät Dr. Moritz Trautmann. In Folge eigenen durch persönliche Verhältnisse bedingten Entschlusses schieden aus der Zahl der Privatdocenten die Privatdocenten der philosophischen Facultät Dr. Hugo Riemann und Dr. Hermann von Ihering. Während wir es bedauern, dass die zwei zuletzt Genannten für die nächste Zeit der akademischen Thätigkeit entsagt haben, wünschen wir den drei andern jungen Gelehrten, die im akademischen Lehramte verblieben sind und dieses nun an den im Westen unseres grossen Vaterlandes gelegenen Universitäten ausüben, Glück zu der in ihrem neuen Wirkungskreise ihnen gebotenen Gelegenheit zu erweiterter Thätigkeit. Wie es die Universität Leipzig sich zur Ehre rechnet, die an ihr gebildeten Lehrkräfte anderswo begehrt zu sehen, so hofft sie auch, dass die von ihr Ausgesendeten der alma mater Lipsiensis nicht bloss eine dankbare Erinnerung bewahren, sondern auch deren Sinn und Geist an ihren neuen Wirkungsstätten festhalten und auf ihre Schüler fortpflanzen werden. Trotz dieser Verluste hat sich die Zahl der Mitglieder des Lehrkörpers nicht vermindert. Denn es haben sich im Laufe des Jahres habilitirt: bei der theologischen Facultät der Lic. theol. und Dr. phil. Georg Hermann Schnedermann aus Chemnitz; bei der juristischen Facultät der Dr. jur. Rudolph Stammler aus Alsfeld und der Dr. jur. Carl Rudolph Wagner aus Riga; bei der medicinischen der Dr. med. Erich Harnack, seither Privatdocent an der Universität Strassburg, der jedoch von der erhaltenen venia legendi keinen Gebrauch machen wird, weil er inzwischen einen Ruf als ausserordentlicher Professor nach Halle angenommen hat, und zweitens der Dr. med. Albert Neisser aus Schweidnitz; bei der philosophischen Facultät endlich der Dr. phil. William Marshall für Zoologie und vergleichende Anatomie, der Dr. phil. Friedrich Techmer für allgemeine Sprachwissenschaft mit besonderer Rücksicht auf neuere Sprachen und Lautphysiologie, der Dr. phil. Carl von Bahder für ältere deutsche Sprache und Literatur. Wir wünschen allen diesen jungen Männern gute Erfolge in ihrer wissenschaftlichen und in ihrer Lehrthätigkeit. Akademische Grade wurden auf Grund bestandener Prüfungen im Ganzen an 180 Personen verliehen, nämlich der Grad eines Lic. theol. an 3, der Grad eines Dr. jur. an 25, der Grad eines Dr. med. an 69, der Grad eines Dr. phil. et magister liberalium artium an 83 Personen. Honoris causa wurden ausserdem promovirt in der theologischen Facultät, und zwar zum Dr. theol, der Lic. theol. und ordentliche Professor der Theologie in Tübingen Robert Benjamin Hübel, in der medicinischen Facultät aber zum Dr. med. der Professor an der königlichen Thierarzneischule zu Dresden Medicinalrath August Gottlob Theodor Leisering. Das Jubiläum eines Mitgliedes des Lehrkörpers zu feiern war der medicinischen und philosophischen Facultät vergönnt. Beide Facultäten hatten gleiches Recht zu dieser Feier. Denn es war der Senior der medicinischen Facultät, der dieses Jubiläum am 15. Februar d. J. beging, und es war die Verleihung des philosophischen Doctorgra287

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des, deren Jahrestag bei seiner sechzigsten Wiederkehr gefeiert wurde. Ihr Rector hatte die Ehre dem hochverdienten Jubilar, dem Geh. Medicinalrathe Dr. Radius, der an demselben Tage von Sr. Majestät zum Geheimrath ernannt wurde, die herzlichsten Glückwünsche zu diesem seltenen Feste im Namen der Universität darzubringen. Wenige Tage darauf, am 1. März beging das chirurgisch-poliklinische Institut, das in ausgezeichneter Weise den Charakter einer Humanitätsanstalt für Arme mit dem einer Bildungsanstalt für junge Chirurgen verbindet, die Feier seines fünfzigjährigen Bestehens durch einen in seinen Räumen abgehaltenen Redeact, zu dem der Director dieses Instituts Medicinalrath Dr. Benno Schmidt eingeladen hatte. Auch ihm wurde an diesem Tage eine allerhöchste Anerkennung seines verdienstvollen Wirkens durch die Ernennung zum Geheimen Medicinalrath zu Theil. Acte der Pietät gegen früher verstorbene Mitglieder des Lehrkörpers habe ich zwei zu verzeichnen. Im Frühjahr wurde das aus Universitätsmitteln errichtete Grabdenkmal des ordentlichen Professors der Juristenfacultät Geheimrath Dr. Hänel, der bei seinem am 18. October 1878 erfolgten Tode seine werthvolle Bibliothek unserer Universitätsbibliothek hinterlassen hat, auf dem neuen Friedhofe vollendet. Ebendaselbst wurde am 28. Mai das von Schülern des im Jahre 1876 verstorbenen Professors der philosophischen Facultät Geheimrath Dr. Ritschl dem Andenken ihres Lehrers gewidmete Grabdenkmal enthüllt. Es gereicht mir zur Freude hinzufüge zu können, dass der akademische Senat am 21. October beschlossen hat, eine von dem Comité der Schüler Ritschel’s dargebotene Marmorcopie der das Grabdenkmal schmückenden Büste des Verewigten anzunehmen und ihr in Anbetracht der ausgezeichneten und hervorragenden Verdienste des Mannes, der ein Menschenalter hindurch die vor ihm von Gottfried Hermann eingenommene Stelle, eines princeps philologorum Germaniae behauptet und unserer Universität elf Jahre lang zur Zierde gereicht hat, eine Stelle in dieser Aula neben der Büste Gottfried Hermann’s anzuweisen. Auch unserem verstorbenen Collegen Albrecht gebührt an diesem Tage ein Wort dankbarer und pietätsvoller Erinnerung. Die Zinsen des von ihm der Universität zur Unterstützung derer, die sich dem Berufe akademischer Lehrer widmen wollen oder gewidmet haben, hinterlassenen Capitals sind in diesem Jahre zum dritten Male, und zwar in der Gesammtsumme von 12,300 Mark vertheilt worden. Davon sind 4300 Mark an drei Professoren und einen Docenten zu wissenschaftlichen Reisen, 6800 Mark an sieben Docenten zur Förderung wissenschaftlicher Zwecke, 1200 Mark aber an zwei Habilitanden zur Förderung ihrer Habilitation vergeben worden. Ein seit längerer Zeit projectirter Act der Pietät gegen unseren grossen Philosophen Leibniz, den wir stolz sind den unseren nennen zu dürfen, ist der Ausführung näher gebracht worden. Der im Jahre 1846 auf Anlass der zweiten Säcularfeier des Geburtstags von Leibniz von der Universität und dem Rathe der Stadt Leipzig gesammelte Fond zur Errichtung eines Denkmals für den in Leipzig geborenen und auf der Leipziger Universität gebildeten grossen Gelehrten, dessen Colossalbüste unsere Aula ziert, ist nunmehr so weit angewachsen, dass der Contract mit dem Bildhauer Hähnel in Dresden, der die Ausführung des Denkmals übernommen hat, hat abgeschlossen und der 1. Juni des Jahres 1882 als Termin der Fertigstellung des 288

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Denkmals hat in Aussicht genommen werden können. Ich habe zu rühmen, dass bei dieser Gelegenheit das herzliche Einvernehmen zwischen Stadt und Universität sowohl in der gemeinschaftlichen Festsetzung der Vertragsbedingungen, als auch in der übereinstimmenden Wahl des Platzes für das Denkmal – es ist der Thomaskirchhof gewählt – sich von Neuem bethätigt hat. An Jubiläen anderer Lehranstalten sich zu betheiligen war die Universität zweimal in der Lage. Der Universität Pesth sprach sie bei deren am 11. Mai gefeierten Jubiläum ihre Glückwünsche durch ein lateinisches Gratulationsschreiben aus; der königlichen Thierarzneischule in Dresden aber überbrachte eine Deputation des akademischen Senats die Glückwünsche der Universität zur Feier ihres hundertjährigen Bestehens am 7. October. Von anderen Festlichkeiten, denen ich als Repräsentant der Universität beizuwohnen die Ehre hatte, hebe ich wegen ihrer besonders nahen Beziehung zur Universität hervor die am 12. April erfolgte Einweihung des neuen königlichen Gymnasiums, bei welcher ich dem Rector dieser Anstalt die Wünsche aussprach, welche die Universität wie für das Gedeihen der Gymnasien überhaupt, so für die kräftige Entwickelung dieser neuen Pflanzstätte wahrer Humanität und wahrer christlicher Gesinnung hegt. Und nun wende ich mich zu denjenigen, um derentwillen die Universität mit ihren Facultäten und Instituten besteht, auf deren religiöser, sittlicher und wissenschaftlicher Ausbildung die Hoffnung unseres engeren und weiteren Vaterlandes beruht, und deren seit vielen Jahren vortreffliche, ja musterhafte Haltung einen wesentlichen Antheil an der Blüthe unserer Universität hat, zu den Studierenden. Die Zahl derselben betrug heute vor einem Jahre 3196; sie erhob sich bis zum 1. December, an welchem Tage im Wintersemester die Liste geschlossen wird, abgesehen von 118 nicht immatriculirten Hörern, auf 3227, nämlich 1095 Sachsen und 2132 Nichtsachsen. Damit war die Zahl des Wintersemesters 1878/79 um 166 überschritten. Im Sommersemester sank die Zahl auf 3094 immatriculirte Studierende und 94 nicht immatriculirte Hörer; jene 3094 zerfielen in 1182 Sachsen und 1912 Nichtsachsen, von denen 251 ausserdeutschen Ländern angehörten. Es war das erste Sommersemester, in welchem die in den Sommersemestern stets etwas niedrigere Ziffer unserer Studierenden die Zahl 3000 überstieg. Die Frequenz des jetzigen Semesters übertrifft wiederum die des letzten Sommersemesters und wie es scheint auch die des vorigen Wintersemesters. Die Zahl der Abgangszeugnisse betrug gestern Abend 708. Neu immatriculirt aber waren seit Abschluss der Liste des Sommersemesters 847; es ergiebt sich also ein Ueberschuss der Immatriculirten über die Abgegangenen und stellt sich danach die Zahl der Studierenden für heute, ungerechnet 47 nicht immatriculirte Hörer, auf 3231. Die Gesammtzahl aber der von mir während meiner Amtsführung Immatriculirten betrug 2016, also 81 mehr als im Vorjahre. Auf die Facultäten vertheilen sich die neu immatriculirten 847 in folgender Weise. Der theologischen Facultät gehören davon an: 133, der juristischen 356, der medicinischen 98, der philosophischen 260. Von jenen 847 sind aus Sachsen 111, aus andern Ländern 736. Todesfälle sind unter den Studierenden während meiner Amtszeit 15 vorgekommen, wenig für die grosse Zahl, aber darum nicht minder schmerzlich für die Eltern 289

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und Angehörigen, die mit den in der Blüthe der Jahre Dahingerafften viele und schöne Hoffnungen zu Grabe trugen. Von den in neuerer Zeit im Interesse des leiblichen Wohls der Studierenden von der Universität getroffenen Veranstaltungen habe ich zuerst zu gedenken der unter dem Rectorate unseres Collegen Overbeck gegründeten, unter dem unseres Collegen Leuckart erweiterten studentischen Krankencasse. Die Einnahme derselben, die hauptsächlich auf den Beiträgen der Studierenden beruht, betrug im Rechnungsjahre 1879, dem ersten, in welchem die Bestimmungen der revidirten Statuten voll zur Geltung kamen, 9371 Mark gegen 5474 Mark im Jahre 1878. Es konnte daher aus den Ueberschüssen des Jahres 1879 der in den Statuten neben dem Capitalfond vorgesehene Reservefond mit einer recht ansehnlichen Summe begründet werden. Wie zweckmässig überhaupt die Einrichtungen getroffen sind, und in wie hohem Grade diese Krankencasse dem Bedürfnisse entspricht, das lehrt die Zahl der von mir den Studierenden, welche einen der angestellten Aerzte consultiren wollten, ausgestellten Scheine. Dieselbe betrug 746, gegenüber 371 im Vorjahre. Aus dieser gewaltigen Steigerung folgt übrigens nicht etwa, dass der Gesundheitszustand der Studierenden in meinem Rectorate schlechter gewesen sei, als im Jahre vorher, sondern nur, dass die Zweckmässigkeit der Einrichtung und die Bereitwilligkeit der angestellten Aerzte zu helfen in studentischen Kreisen immer mehr bekannt geworden ist. Freilich wurde dadurch die Nothwendigkeit herbeigeführt neben den beiden bisherigen Aerzten, Professor Dr. Heubner und Dr. Schön, vom 1. Juli an noch einen dritten Arzt in der Person des Dr. Tillmanns anzustellen. Ich glaube, Commilitonen, auch in Eurem Sinne zu handeln, wenn ich diesen Herren für die von ihnen in Eurem Interesse bewiesene Freudigkeit im Rathen und Helfen von dieser Stelle aus meinen wärmsten Dank ausspreche. Ein anderes im Rectorate unseres Collegen Overbeck zwar nicht gegründetes, aber auf weiterer Basis organisirtes Institut ist das der Privatfreitische, welches in Ergänzung des Convicts insbesondere für nichtsächsische Studierende segensreich wirkt. Die Mittel dieses hauptsächlich durch Privatbeiträge aus akademischen Kreisen unterhaltenen Instituts sind im Laufe des Jahres dadurch verstärkt worden, dass durch die am 12. Januar d. J. vom Ministerium bestätigte Stiftung des Localcomités der im September 1877 hier stattgefundenen General-Versammlung der deutschen Apotheker dem Institute ein Capital von 2800 Mark zugewachsen ist, aus dessen Zinsen der Stiftung entsprechend Freitische für Studierende der Pharmacie gewährt werden. Als ein nachahmungswerthes Beispiel hebe ich ferner hervor, dass ein angesehener Bürger dieser Stadt, der Kaufmann Philipp Batz, schon seit mehreren Semestern der Freitischcasse einen Beitrag zur Verfügung stellt, um bedürftigen Studierenden, besonders aus Hessen, Freitische zu gewähren. Diesem Institute für Privatfreitische habe ich auch diejenigen 100 Mark überwiesen, welche der Ortscentralausschuss des Juristenvereins zur Bethätigung seines Dankes für die Ueberlassung der Aula und einiger Auditorien während der Tage des 8.–11. September mir für akademische Unterstützungszwecke zur Verfügung gestellt hat. Wenn es nun aber auch eine recht erfreuliche Thatsache ist, dass im letzten Wintersemester 179 Freitische an 77 Studierende, im Sommersemester aber 224 Freitische an 98 290

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Studierende verliehen werden konnten, so bleibt eine Steigerung der Einnahmen des Instituts angesichts der Nachfrage immer noch sehr erwünscht. An anderweiten Stiftungen zu Gunsten der Studierenden habe ich zu erwähnen, dass das Capital des Drobisch-Stipendium, welches an dem Professorjubiläum unseres hochverehrten Seniors, des Geheimrath Drobisch, von Schülern und Verehrern desselben gestiftet worden ist, um die Studierenden der Universität zu gründlichen philosophischen Studien aufzumuntern, durch die Güte des Dr. Wolf in Altenburg eine Vermehrung von 400 Mark erhalten hat. Den Erwartungen, welche man an die studierende Jugend in Anbetracht der für ihre wissenschaftliche Ausbildung getroffenen Veranstaltungen zu stellen berechtigt ist, hat dieselbe durch sittliches Verhalten und durch ihren Fleiss auch in dem abgelaufenen Jahre entsprochen. Es war das erste Jahr nach Aufhebung der akademischen Gerichtsbarkeit, in Folge deren die Universität nur noch eine Disciplinargewalt über die Studierenden hat. Die Organe dieser Disciplinargewalt, der Universitätsrichter, das Universitätsgericht und das verstärkte Universitätsgericht haben theils direct bei Vergehen gegen die akademische Disciplin einzuschreiten, theils im Falle der Eröffnung einer gerichtlichen Untersuchung gegen einen Studierenden Seitens des competenten Gerichts darüber zu entscheiden, ob ausser der vom Gerichte erkannten Strafe noch eine Disciplinarstrafe eintreten soll. Da für die meisten Uebertretungen der Studierenden nunmehr das Polizeiamt Leipzig zuständig ist, so ist unter Zustimmung des Ministeriums (vom 15. October 1879) zwischen dem Universitätsrichter und dem Directorium des Polizeiamts die Vereinbarung getroffen worden, dass der Universitätsrichter in den Plenarsitzungen des Polizeiamts, dessen Mitglied er ist, über die gegen Studierende eingehenden Anzeigen das Referat hat. Dadurch ist die Vertretung der Interessen der Studierenden in wünschenswerther Weise gewahrt und zugleich die für die Beurtheilung der Studierenden nothwendige Auskunft über die einschlagenden persönlichen und studentischen Verhältnisse in zweckentsprechender Weise ermöglicht. Ein interessantes Ergebniss des in diesen neuen Formen geübten Verfahrens ist es, dass die im Carcer zu verbüssende Haftstrafe weit seltener erkannt worden ist, als in den Zeiten der akademischen Gerichtsbarkeit; dass dagegen der Gesammtbetrag der von den Gerichten erkannten Geldstrafen erheblich grösser ist, als der der früher vom Universitätsgerichte in einem gleichen Zeitraume erkannten. Die Fälle, in denen die eine oder andere Strafe erkannt werden musste, waren fast durchgehends leichterer Art. Als schwereres Vergehen wurde von den Gerichten insbesondere das Duell aufgefasst, und 6 Studierende desswegen mit zusammen 14 Monaten und 1 Woche Festungshaft bestraft. Zu schwereren Disciplinarstrafen aber gaben nur ein gerichtlich mit Geldstrafe belegter und zwei rein disciplinelle Fälle Veranlassung; zwei wurden mit der Fortweisung, einer mit der Exmatriculation bestraft. Es ist dies bei einer so grossen Zahl von Studierenden ein relativ sehr günstiges Ergebniss, zumal wenn man bedenkt, dass auch in den Sachen, bezüglich deren die gerichtlich erkannte Strafe uns noch nicht officiell bekannt geworden ist, oder bezüglich deren die gerichtliche Untersuchung noch schwebt, und deren discipli291

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nelle Bestrafung erst später eintreten kann, es sich nicht um sogenannte gemeine Verbrechen handelt. Ich hoffe, Commilitonen, dass Ihr den guten Geist, der in der Leipziger Studentenschaft herrscht, den Sinn für Sittlichkeit, Wohlanständigkeit und Ehrenhaftigkeit, von dem Ihr erfüllt seid, und ohne den ein so grosses Gemeinwesen nicht bestehen kann, auch unter dem Rectorate meines Nachfolgers bewähren werdet. Der Fleiss der Studierenden endlich hat auch in diesem Jahre den Erwartungen entsprochen, die wir auf Grund der Erfahrung einer langen Reihe von Jahren hegen durften. Ein Beweis dessen ist die grosse Zahl der vor den vier Facultäten mit Erfolg abgelegten Promotionsprüfungen und der vor den Staatsprüfungs-Commissionen wohl bestandenen Examina. Ein fernerer Beweis ist der starke Andrang zu den Seminaren, den Gesellschaften und den praktischen Uebungen der Institute, sowie die Frequenz unserer Vorlesungen. Endlich ist ein Beweis davon auch das erfreuliche Resultat der im vorigen Jahre ausgeschriebenen Preisbewerbung, zu dessen Verkündigung ich nunmehr schreite. Hierauf gab der Rector den Bericht über den Erfolg der Bewerbung um die bei dem letzten Rectoratswechsel ausgeschriebenen Preise und verkündete sodann die neu ausgeschriebenen Fragen. In beiden Beziehungen wird hier auf das vom 31. October datirte Programm verwiesen, dem der abtretende Rector in seiner Eigenschaft als Programmatar eine Abhandlung, betitelt: „Spicilegium criticum in Ciceronis orationem de domo“, vorangeschickt hat. Zum Schlusse folgte die Vereidigung des neuen Rectors und die Uebergabe der Amtsinsignien an denselben. ***

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Christoph Ernst Luthardt (1823–1902)

31. October 1880.

Rede des antretenden Rectors Dr. theol. et phil. Chr. Ernst Luthardt.

Die sittliche Würdigung des Berufs. Hochansehnliche Versammlung! Indem ich das Amt, welches das ehrenvolle Vertrauen meiner Herren Collegen mir übertragen, nach akademischer Sitte mit einer Rede antrete, darf ich vielleicht was ich zu sagen gedenke an die Erinnerungen des heutigen Tages anknüpfen. Es ist eine Eigenthümlichkeit unserer Universität, die Feier ihres Rectoratswechsels gerade am 31. October zu begehen. Wir werden diesem Brauche seine innere Berechtigung nicht absprechen können. Denn dass die mächtige Bewegung der Geister, an welche uns dieser Tag erinnert, auch, wenn wir von der nächsten religiösen Bedeutung absehen, für das gesammte geistige Leben unserer Nation und für die Pflege der Wissenschaft eine Epoche bezeichne, darüber wird unter uns wohl keine Verschiedenheit der Gedanken sein. Und wer eine Geschichte der deutschen Universitäten und ihres wissenschaftlichen Lebens schreiben wollte, würde an Wittenberg und seinen Erinnerungen jener Tage nicht vorübergehen können. Wenn ich an den Geist der Kritik erinnere, welcher seine Forschung durch die Ueberlieferungen oder auch Vorurtheile der Jahrhunderte hindurch bis zu den ersten Quellen erstreckt, oder an den Geist der unbestechlichen Wahrhaftigkeit, der dort eine so rücksichtslose Vertretung gefunden, so nenne ich nur etliche wesentliche Lebensbedingungen für die Erfüllung des wissenschaftlichen Berufs, die noch um manche andere vermehrt werden könnten. Höher aber vielleicht noch als dies werden wir das Andere stellen dürfen, dass wir gelernt haben, unsere wissenschaftliche wie alle Arbeit unter den Gesichtspunkt des Berufs zu stellen und zum Gegenstand sittlicher Würdigung zu machen. Denn, meine hochverehrten Herren Collegen, darin sind wir alle eins, dass was uns verbindet nicht bloss der sachliche Organismus der verschiedenen Wissensgebiete ist, deren Bearbeitung uns obliegt, sondern nicht minder die Gemeinsamkeit der sittlichen Betrachtungsweise unserer Thätigkeit. Denn so sehen wir Alle unsere Arbeit an, dass sie uns nicht bloss Sache etwa nur der Neigung oder des Interesses, sondern ein sittlicher Beruf ist im Dienste eines höheren Willens, dem wir uns verantwortlich wissen, und welcher uns einen jeden an seinen Platz gestellt und ihm 293

Christoph Ernst Luthardt

seine Aufgabe angewiesen hat, damit wir auf diese Weise ein jeder seinen Beitrag leisten zu der Erfüllung jener gemeinsamen Gesammt-Aufgabe, welche der Menschheit überhaupt gestellt ist. Hiervon nun lassen Sie mich zu Ihnen sprechen, von dieser sittlichen Würdigung des Berufs, indem ich, freilich nur mit flüchtigen Strichen, die geschichtliche Entwicklung seiner Auffassung zu zeichnen versuche. Denn wenn es uns auch jetzt geläufig, ja selbstverständlich ist, die mannigfaltigen Arbeitskreise unter den Gesichtspunkt des Berufs zu stellen und ihnen gleiche sittliche Würdigung zu Theil werden zu lassen, so ist dies doch nicht immer so gewesen. Sie wissen, dass in der Antike, vor Allem in der Zeit der ungebrochenen Antike der staatliche Gesichtspunkt der massgebende für das gesammte Leben und seine Thätigkeiten war. Für den staatlichen Verein zuhöchst galt der Einzelne als bestimmt; denn nur in ihm konnte er jene Eudämonie erreichen, in welche die Antike einstimmig das höchste Gut setzte. So bemass sich denn von hier aus die Würdigung des gesammten Lebens und aller einzelnen Glieder des Staatsvereins. Die geschichtliche Bedeutung, welche sie für diesen hatten, war massgebend auch für ihre sittliche Würdigung. Wir erinnern uns wohl Alle noch aus unserer Jugendzeit der innern Bewegung, mit der wir etwa jene Grabschrift vernommen, welche den Thermopylenkämpfern das Volk Lakedämons gesetzt, „weil in Gehorsam sie seine Gebote befolgt“, oder der lebhaften Theilnahme, mit welcher wir den Thaten des Patriotismus gefolgt sind, an denen besonders die römische Geschichte so reich ist. Und dass das alte dulce et decorum est pro patria mori auch unter uns seine Kraft noch nicht verloren hat, dafür legt jener Denkstein in unserer Aula Zeugniss ab, welchen wir den Gefallenen unserer Universität errichtet. Aber so berechtigt der staatliche Gedanke ist und so bedeutsam die Stellung, welche er im gesammten Umkreis dieses Lebens und seiner sittlichen Würdigung einnimmt – der oberste und für Alles massgebende zu sein ist er doch nicht berechtigt und fähig. Er bezeichnet doch immer nur einen Ausschnitt des Lebens, nicht den ganzen Umfang desselben. Indem aber nach der geschichtlichen Stellung und Bedeutung, welche die Einzelnen für den Staatsverband haben, auch die sittliche Würdigung ihrer Person und ihrer Lebensaufgabe sich bestimmt, wird ihr Werthung nothwendig unrichtig und ungerecht. Es sind bekannte Thatsachen, an die ich Sie erinnere. Geringer ist nach Aristoteles die Tugend des Weibes oder des Kindes oder des Unfreien als die des freien Bürgers, und die Arbeit steht in ihrem sittlichen Werth tief unter der politischen Thätigkeit. Der bloss staatliche Gesichtspunkt ist nicht im Stande den Gedanken des Berufs und der sittlichen Gleichheit des Berufs bei aller geschichtlichen Ungleichheit desselben zur Anerkennung zu bringen, schon um desswillen, weil er nicht die Erkenntniss der sittlichen Gleichheit der Persönlichkeit in sich schliesst. Die heilige Schrift sagt einmal: vor Gott ist kein Ansehn der Person, d. h. vor ihm, an diesem höchsten Massstab gemessen sind alle gleichwerthig. Aber in der menschlichen Gesellschaft ist allerdings Ansehn der Person und muss sein, d. h. für ihre Zwecke und Aufgaben sind nicht alle gleichwerthig. Indem die Antike diesen Massstab zum absoluten erhob, hat sie die natürlichen und geschichtlichen Unterschiede auch zu sittlichen gemacht und sich damit 294

Antrittsrede 1880

die Möglichkeit einer richtigen sittlichen Würdigung auch des irdischen Berufs verbaut. Aber sollte es nicht noch eine höhere Stufe des Lebens und einen höheren Standort seiner Beurtheilung geben? Allerdings, sagt z. B. Aristoteles, die Erkenntnisstugenden, die sogenannten dianoëtischen, stehen höher als die ethischen, d. h.: höher als das thätige Leben im Staatsverein steht das Leben der Betrachtung. So wird der Philosoph zum Ideal. Die philosophische Betrachtung aber fordert Musse und Enthaltung von der Unruhe des thätigen Lebens. So erscheint dieses demnach nicht sowohl als der Schauplatz denn vielmehr als die Schranke für die Verwirklichung des Ideals. Diese Gedankenreihe führt konsequent dazu, die sittliche Würdigung des irdischen Berufslebens zu verneinen. Dies also ist die Konsequenz der antiken Betrachtungsweise. Allerdings bezeichnet die Stoa insofern einen Fortschritt, als sie nicht bloss beim einzelnen Staatsverbande stehen blieb, sondern die Idee des allgemeinen Weltverbandes zu Grunde legte und von da aus die Aufgabe des Einzelnen bestimmte. Diese Denkweise ist vielfach in die allgemeine Bildung übergegangen. Vielleicht ihren schönsten Ausdruck hat sie in den Meditationen des kaiserlichen Philosophen Mark Aurel gefunden. Aber bei allem Schönen, ich bekenne zuweilen überraschend Schönen, was diese Meditationen enthalten – die Stimmung, welche durch sie hindurchgeht, ist die der Resignation, welche die letzte Antwort auf die Räthsel des Lebens in der Betrachtung sucht, wie alles Einzelne sich im Allgemeinen auflöse. Damit aber hört die Wirklichkeit auf ein Object der Ueberwindung durch die Arbeit zu sein. Der Blick Mark Aurel’s ist stetig auf den Tod gerichtet, der alles Einzelne in immer andere Formen wandelt; aber er weiss von keiner Zukunft, in welcher das Ziel alles Strebens erreicht werden soll. Wer aber nichts besseres kennt als jene Stimmung der Resignation, dem sind von vornherein die Flügel gelähmt, und vollends wessen letztes Wort, wie auch bei Mark Aurel, jenes bekannte patet exitus, d. h. der Selbstmord ist, der verneint damit den Gedanken eines Berufs, für dessen Erfüllung wir sittlich verantwortlich sind. Diese Denkweise aber, welche darauf verzichtet der Wirklichkeit Herr werden zu können, verlor sich entweder in jene Gestalten der Kyniker, welche das Ideal in die Verachtung des äusseren Lebens und seiner Thätigkeiten setzten, diese „Bettelmönche“ der ausgehenden Antike, oder in den Enthusiasmus der Neuplatoniker, welcher das Ideal auf dem Wege unmittelbarer Anschauung des Göttlichen zu erreichen meinte – der Vorläufer späterer Erscheinungen der mystischen Ekstase. Zweifach also – um das Gesagte zusammenzufassen – ist die Stufe der Antike: Entweder stellt sie das Leben unter den Gesichtspunkt des Staatsbürgers, oder unter den des Philosophen. Jenes ist die herrschende Betrachtungsweise der Menge, dies die Denk- und Lebensweise einer Auswahl. Keine von beiden wird dem Gedanken des Berufs gerecht und gelangt zur sittlichen Würdigung desselben. Es ist das Unterscheidende des Christenthums, dass es dem gesammten Leben eine durchgängige persönliche Beziehung zu Gott gegeben hat und von diesem Gesichtspunkte aus alle Lebensverhältnisse und Lebensthätigkeiten werthet. Damit ist ein Standort gewonnen, der eine umfassende Würdigung des gesammten Lebens 295

Christoph Ernst Luthardt

ermöglicht. Ist es derselbe höchste Wille, der einem Jeden gleicherweise seine Stellung und seine Aufgabe in dieser Welt angewiesen hat, so steht auch jede irdische Lebensaufgabe, so verschieden sie auch sein möge und so verschieden ihre geschichtliche Bedeutung, gleicherweise in Beziehung zu ihm wie in Beziehung zu jener höchsten Aufgabe der Menschheit, welche wir mit dem Namen des Reiches Gottes bezeichnen. So ist also erst durch die Beziehung der irdischen Lebensaufgabe auf jenen höchsten Willen die rechte sittliche Würdigung desselben ermöglicht und gegeben. Das ist die Denkweise, wie sie das Christenthum zur Geltung brachte. Wir machen öfter die Beobachtung, dass, wenn ein neues Princip in die Geschichte hereintritt, sich dieses Princip zuerst mit einer gewissen Einseitigkeit und Ausschliesslichkeit geltend macht, so dass es dem übrigen Leben abstract gegenüberzustehen und die Entwickelung der Geschichte mehr zu verneinen als zu erfüllen scheint. Wir werden uns nicht wundern dürfen, wenn sich diese Erscheinung auch hier wiederholt. Die Beziehung auf Gott, welche das Christenthum dem gesammten Leben gab, konnte leicht mit einer solchen Ausschliesslichkeit geltend gemacht werden, dass darüber die Bedeutung, welche das neue Princip für das irdische Leben hat, den Augen entschwand und es nicht die rechte Bejahung, sondern die Verneinung desselben zu sein schien. Und es war ja auch durch den ganzen Zustand der damaligen Welt motivirt genug, dass die Christen zu ihr mehr eine negative als eine positive Stellung einnahmen. Wir wissen aber, wie leicht man dazu kommt, Thatsachen in Principien zu übersetzen. Wenn wir die Aeusserungen der kirchlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte über die Stellung der Christen zu den irdischen Lebensverhältnissen überblicken, so sehen wir, wie schwankend ihr Urtheil darüber war und wie sehr es der nöthigen Sicherheit ermangelte. Ich hebe als Beispiel nur einen, allerdings einen vor anderen asketisch gestimmten, den Afrikaner Tertullian – um 200 – heraus und will nur mit wenigen Worten seine Stellung zu den drei grossen Gebieten, die uns vor allem interessiren, Haus, Staat und Culturleben charakterisiren. Wir haben die schönste Schilderung des christlichen Hauses von ihm, welche die volle sittliche Würdigung der Ehe erkennen lässt, ganz anders als es in der Antike der Fall war, in welcher je länger je mehr Wirklichkeit und Urtheil in schneidendem Widerspruch zur sittlichen Natur und Aufgabe dieses Verhältnisses stand. Und doch wieder stellt er die Ehelosigkeit in einer Weise sittlich hoch, dass diess einer Verkennung der sittlichen Würde der Ehe gleichkommt. Ferner trotz der Misshandlungen, welche die Christen von der römischen Staatsgewalt zu erfahren hatten, klingt doch auch bei diesem schroffen Afrikaner das civis Romanus sum durch, und vom Kaiser schreibt er: er gehört mehr uns Christen an als euch; denn wir beten für ihn. Und doch wieder meint er, dass den Christen nichts ferner liege als Politik, und die Bekleidung von Staatsämtern wie der Kriegsdienst erscheint ihm unverträglich mit dem christlichen Bekenntniss. Was aber das Culturleben betrifft, so schliesst er die Christen von einer ganzen Anzahl von Berufsthätigkeiten aus, die Philosophen verachtet er, als welche nur den unmittelbaren Wahrheitssinn verkehren, und der Pflege des Schönen in der Kunst stellt er in schroffer Weise die Idee des Heiligen gegenüber. 296

Antrittsrede 1880

Allerdings dürfen wir nach solchen Aeusserungen nicht ohne Weiteres die Wirklichkeit beurtheilen. Wir sehen nicht bloss die Ehe unter den Christen in vollen Ehren und Würden und in einer damals sonst unbekannten sittlichen Reinheit, so dass der heidnische Rhetor Libanius voll Bewunderung ausruft: Was haben die Christen doch für Frauen! Wir finden die Christen auch zahlreich in Staats- und Militärdienst und in den mannigfaltigsten Berufskreisen; und dass auch die künstlerische Verwendung des Schönen ihnen nichts Fremdes war, dafür haben wir zahlreiche Zeugnisse bis in die frühesten Zeiten zurück. Aber zu einer rechten Sicherheit des Urtheils über diess ganze Gebiet des irdischen Berufslebens wollte es doch lange Zeit nicht kommen. Man glaubte sie zu gewinnen, indem man eigenthümlicher Weise den Vorgang der Antike erneuerte. War man doch aus dem Gedankenkreis antiker Anschauungen herübergekommen. Zwei Stufen des Lebensverhaltens hatte die Antike unterschieden, die des Staatsbürgers und die des Philosophen. An die Stelle des Staates trat die Kirche, und – so befremdlich Ihnen diess im ersten Augenblick erscheinen mag – den Philosophen sah man im Mönche verwirklicht. Es gehörte zu den Aufgaben der ersten christlichen Jahrhunderte, der Kirche eine feste Stätte inmitten der irdischen Verhältnisse zu bereiten. Dies forderte eine ausgebildete Organisation der Kirche. So konnte man in diesem Gemeinwesen eine Parallele zum staatlichen Gemeinwesen sehen. Wenn schon der alexandrinische Gelehrte Origenes meint, die Christen hätten nicht nöthig, nach Staatsstellungen zu trachten, sie sollten lieber Kirchenämter suchen, so mussten solche Gedanken auf dem Boden der lateinischen Kirche des Abendlandes noch viel mehr eine Heimat finden. Das grosse Organisationstalent des römischen Geistes kam der Ausbildung der Kirche zu Gute und fand hier ein reiches Feld. Römische Beamte, wie Ambrosius, wurden Beamte der Kirche, und auf dem Bischofsstuhl Roms hat der römische Herrschergeist je und je seine Vertreter gehabt. Augustin aber hat in seinem Lebenswerk de civitate Dei den Gedanken ausgeführt, wie neben dem weltlichen Reich des Staates, das in der Herrschsucht seinen Ursprung und im römischen Reich seine höchste Verwirklichung habe, von Anfang an auf Erden der Gottesstaat hergegangen, welcher seine Wirklichkeit an der Kirche besitze. So erschien die Kirche als ein Staat, welcher die höhere Wahrheit des römischen bildet. Hier haben wir bereits vollständig die Grundlagen der mittelalterlichen Anschauung. In dem Masse nun, als die Fugen des Reichs unter den Stürmen der Zeit sich lösten, hat das Gebäude der Kirche sich gefestigt. Bei der tiefen Erschütterung der Gemüther, welche z. B. Alarich’s Eroberung und Plünderung Roms i. J. 410 weit in die Provinzen hinaus hervorrief, schien die Kirche allein noch der Halt und Hort der Zukunft zu sein. Der Herrschaftsberuf Roms schien auf die Kirche übergegangen; das alte stolze tu regere imperio populos Romane memento galt nun von ihr. So ist aus dem alten römischen imperium die römische Kirche, aus dem antiken pontifex maximus der christliche geworden, und an die Stelle der staatlichen Würdigung des Lebens trat nun die kirchliche. Aus dem staatlichen Gehorsam als der o297

Christoph Ernst Luthardt

bersten Pflicht wurde der kirchliche, und die staatliche Sittlichkeit der Antike setzte sich in die kirchliche Sittlichkeit um. Das ist die Erneuerung der ersten Stufe der antiken Lebenswürdigung auf dem Boden der Kirche, als der Massstab für das gewöhnliche Leben der christlichen Menge. Wie sich nun aber dort über dem Staatsbürger und seinen staatsbürgerlichen Tugenden der Philosoph erhob und die höhere sittliche Stufe philosophischer Tugendübung, wie sie nur einer aristokratischen Auswahl verstattet ist, so erhebt sich hier über der sittlichen Stufe der kirchlichen Menge die höhere sittliche Stufe der aristokratischen Auswahl des mönchischen Standes. Schon in der ausgehenden Antike war Philosophie Ausdruck für eine besondere Lebensweise geworden, die sich von der der Menge abhob. Was nun die stoischen und kynischen Philosophen erstrebten, das schien seine höhere Wirklichkeit in der Zurückgezogenheit und Enthaltung vom gewöhnlichen Leben und seinen Gütern und Genüssen zu finden, wie man sie hier zuerst innerhalb der übrigen Gesellschaft übte, mit oder ohne den Philosophenmantel, bald aber durch die äussere Flucht aus der Gemeinschaft und dem Verkehr mit den übrigen Menschen zu sichern suchte. Auf diesem Wege glaubte man die stoische Höhe des perfectum im mönchischen status perfectionis zu erreichen. Hatte man früher etwa das Christenthum selbst zuweilen als Philosophie, als die Philosophie schlechthin bezeichnet, so waren es nun die Mönche, welche Philosophen hiessen. Bis weit herunter erhielt sich in der griechischen Kirche dieser Sprachgebrauch. Von der griechischen Kirche aber übertrug sich dieses Ideal des Lebens in die abendländische; und wenn man auch hier mehr als es dort der Fall war mit der Beschaulichkeit die thätige Arbeit verband, so war es doch wesentlich die negative Stellung zu den Aufgaben des wirklichen Lebens, die in dieser Lebensweise ihren Ausdruck fand. Können wir’s auch verstehen, wie man dazu kommen konnte, die Einsamkeit des Sinai oder der nitrischen Wüste dem Treiben am verrotteten byzantinischen Hof oder auch den versumpften Zuständen der abendländischen Provinzen vorzuziehen, es war doch eine üble Verkennung der nächsten Berufspflichten, wenn Schülerinnen des mönchseifrigen Hieronymus thränenlos ihr Haus und ihre Kinder in Rom verliessen, um in der Abgeschiedenheit Bethlehems ein Leben höherer Heiligkeit zu führen. Dies ist denn nun auch die mittelalterliche Anschauung geworden. Entweder ist es der kirchliche Gesichtspunkt, welcher für die Beurtheilung und sittliche Werthung der irdischen Lebensgebiete und Thätigkeiten massgebend ist; oder es ist die Zurückziehung vom gewöhnlichen irdischen Leben, worein die höhere Vollkommenheit gesetzt wird. Jenes ist die Sittlichkeit des gemeinen Christenlebens, dieses die Stufe der Auserwählten. In beiden wiederholen sich die beiden Stufen der Antike. Auf keiner von beiden kommt es zu einer richtigen Werthung des irdischen Lebensberufs und seiner sittlichen Würde. Denn so wenig der staatliche Massstab der Antike, da er nur einen Ausschnitt des Lebens bezeichnet, das ganze Leben zu umfassen vermocht hat, so wenig vermag es dieser kirchliche. Es kann doch nicht alles Thun kirchlich sein. Es bleibt doch ein grosses Gebiet sogenannter weltlicher Thätigkeiten übrig, welche nicht 298

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ohne Weiteres danach gewürdigt werden können, ob sie dem äusseren Kirchenverbande dienen und sich unterordnen. Der Handel der Genuesen beruhte auf Verträgen mit den Ungläubigen des Orients, welche doch kirchlich als rechtlos galten. Künste und Wissenschaften hatten doch nicht bloss kirchliche Aufgaben, und das Leben konnte nicht ohne eine Fülle von Berufsthätigkeiten weltlicher Natur bestehen: es kann nicht Alles vom äusseren kirchlichen Gemeinwesen umspannt werden; noch weniger können Alle Mönche werden – wo sollten von allem Andern zu schweigen schliesslich die Mönche selbst herkommen? Wie nun? Alle jene Gebiete und Thätigkeiten mussten sein. Aber nach jener Betrachtungsweise fragte sich: durften sie auch sein? Sie konnten etwa als erlaubt gelten, aber ob auch im vollen Sinn als sittlich berechtigt? als gleichberechtigt mit dem kirchlichen Dienst? Es schien nichts übrig zu bleiben, als das Recht dieser Berufsthätigkeiten sich durch kirchliche Leistungen zu erkaufen, um ein gutes Gewissen dazu zu haben. Und doch zu einem wahrhaft guten Gewissen und zur vollen Sicherheit, dass man damit auf gottgewiesenem und göttlich berechtigten Wege stehe, kam man nicht. Es war die mächtige Bewegung jener Tage, an welche uns das Gedächtniss des heutigen Tages erinnert, welche durch ihre neugewonnene Erkenntniss vom Berufe zu einem guten Gewissen auch für die Arbeit des sogenannten weltlichen Lebens verhalf. Diese Erkenntniss hat ihre Vorbereitung gehabt, wenigstens für das Gebiet des staatlichen Lebens. Vor Allem waren es die Kämpfe Ludwig’s des Bayern mit der päpstlichen Gewalt, welche hierfür von Bedeutung wurden. Zur vollen Klarheit gebracht aber und durchschlagend wurde diese Erkenntniss doch erst durch Luther im Zusammenhang mit seiner centralen Erkenntniss von der Gerechtigkeit des Menschen vor Gott allein durch den Glauben, und zugleich dehnte er was von der weltlichen Obrigkeit galt auf das gesammte Gebiet des von Gott geschaffenen und geordneten weltlichen Lebens aus. Von ihm aus sind diese Gedanken Eigenthum der modernen Zeit überhaupt geworden. Er wird nicht müde die Lehre vom Beruf zu predigen. Niemand ist ohne Beruf. Einem Jeden hat Gott in dieser Welt eine Stellung angewiesen, aus welcher ihm seine Aufgaben erwachsen. In diesem Beruf hat er Gottes Willen zu erkennen, wie er ihm gilt, und in diesem Sinn seinen Beruf zu erfüllen. Alles unser Thun soll berufsgemäss sein. Und das ist die rechte Heiligkeit, dass wir um Gottes Willen unseres Berufs warten, nicht, dass wir besondere Werke der Heiligkeit erdenken und die weltlichen Geschäfte meiden. So soll denn ein Jeder wissen, dass er mit gutem Gewissen in seinem irdischen Berufe steht und eben darin Gott und seinen Gedanken dient. Von da aus gestaltet sich ihm nun auch der Organismus des sittlichen Lebens, innerhalb dessen einem Jeden seine besondere geschichtliche Stellung angewiesen ist. Wenn Einfachheit ein Zeichen der Wahrheit ist, so wird man diesem System der sittlichen Betrachtungsweise die Eigenschaft der Einfachheit nicht absprechen können. Drei Grundordnungen des irdischen Lebens gibt es – so lehrt er –: die häusliche, die bürgerliche oder staatliche und die kirchliche Gemeinschaft. Das 299

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sind die drei göttlichen Stifte, die rechte göttliche Hierarchie. Das Mittelalter – auch der grosse Ethiker des Mittelalters Thomas Aquinas – war über den Gegensatz des Geistlichen und Weltlichen, des Priesters oder Mönches und des Laien nicht hinausgekommen. Der bürgerliche Stand und Beruf, lehrt Luther – so verschieden Ursprung und Wesen der bürgerlichen und der kirchlichen Gemeinschaft ist – ist nicht minder göttlich und heilig wie der kirchliche. Vor allem lehrt er das göttliche Recht der Ehe und des häuslichen Lebens. Wer in diesem Stande steht, soll wissen, dass er einem heiligen Stande angehört und einem göttlichen Berufe dient, der besser ist als aller Karthäuser und Barfüsser Heiligkeit; und dies gilt bis zur Arbeit der geringsten Dienstmagd, welche in Gottes Namen und im Glauben an Christum ihres Dienstes wartet. Mit welchem Nachdruck er aber das göttliche Recht der Obrigkeit gelehrt, ist bekannt. Und er durfte wohl von sich rühmen, dass seit der Apostel Zeit das weltliche Schwert und Obrigkeit nie so klärlich beschrieben und herrlich gepriesen sei. Nicht erst von der Kirche hat die Obrigkeit ihr Recht; sie trägt es in sich selbst auf Grund der Stiftung Gottes, der das irdische Leben in solche Ordnung gefasst hat. Wer in diesem Stande steht, der steht daher in einem göttlichen und seligen Stande; es kommt nur darauf an, dass er sein Werk auch im rechten Sinn thue. Eine spezielle Anwendung davon hat er auf besonderen Anlass hin auf den Kriegsdienst gemacht, indem er in einer seiner schönsten Schriften davon handelt, „ob Kriegsleute auch in einem seligen Stande sein können“ und diese Frage mit aller Zuversicht bejaht. Und nur mit Einem Worte darf ich vielleicht noch an seine Stellung zu den Berufsaufgaben des Culturlebens in Wissenschaft und Kunst erinnern. Mit hohen Worten redet er von den Sprachen als der Scheide, darin das Messer des Geistes steckt. „So hart wir über dem Evangelium halten, so hart lasst uns über den Sprachen halten.“ An die Rathsherren der Städte richtet er, wie Sie wissen, dringende Ermahnungen Schulen aufzurichten, dass darin tüchtige Männer zu Pfarrherren, Amtleuten und allerlei nützlichem Werk geschickt erzogen werden; und auch die Errichtung von Mädchenschulen liess er sich angelegen sein. Es ist ja bekannt, dass von ihm aus eine neue Periode des Schulwesens begonnen. Wie offenen Sinnes er aber für alle Künste war und sie pries als edle Gaben Gottes, mit denen Gott dies arme Leben geschmückt, und wie er insonderheit seine Frau Musika geliebt und mit herzigen Worten besungen, bedarf nur dieser Erinnerung. So erschliesst sich ihm von seinem Grundgedanken des persönlichen Verhältnisses zu Gott in der Glaubensgerechtigkeit aus die ganze weite Welt der Schöpfung und ihrer Ordnungen und Berufsthätigkeiten, und schliesst sich mit der Gemeinschaft des neuen geistlichen Lebens in der Kirche zu einem grossen System des sittlichen Lebens zusammen, in welchem wir Gottes Willen zu erkennen und in seinem Dienst zu stehen die fröhliche Gewissheit haben dürfen. Eben damals eröffneten sich ungeahnte Welten für die Erkenntniss und die Besitzergreifung, und mit ihnen ein neuer grosser Schauplatz für die gesteigerte Thätigkeit des Geistes und Wirkens, welche charakteristisch für die moderne Zeit geworden ist. Es war von entscheidender Bedeutung, dass mit derselben Epoche 300

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eine Erkenntniss und Lehre zusammentraf, welche der modernen Menschheit zugleich zu einem guten Gewissen für diese ihre gesteigerte Thätigkeit zu verhelfen geeignet war. Es waren nicht schlechthin neue Gedanken, welche Luther aufbrachte. Er hat nur die Consequenzen aus der christlichen Grunderkenntniss gezogen – Wahrheiten, die nie völlig ausgestorben waren, nur in der Doctrin und in der kirchlichen Praxis getrübt und verdunkelt. Uns sind es jetzt geläufige Gedanken; sie sind in das allgemeine Bewusstsein übergegangen. Welche Geschichte sie seitdem durchgemacht, dies zu verfolgen wäre nicht ohne Interesse, liegt aber jenseits der Grenzen, welche ich mir glaubte ziehen zu sollen. Ich wollte bei der Erinnerung stehen bleiben, zu welcher der heutige Tag mir Anlass gab. Unser Beruf hier ist die wissenschaftliche Erkenntniss – ihre Pflege, Förderung, Mittheilung. Im Gehorsam gegen jenen höchsten Willen, der einem jeden seinen Platz auf Erden und seine Aufgabe anweist, stehen wir jeder auf seinem Posten und dienen, so viel oder so wenig wir beitragen mögen zur Gesammtaufgabe unseres Geschlechts, doch jeder an seinem Theil jenem letzten Zweck der Geschichte, in welchem sich alle sittlichen Zwecke zur einheitlichen Wirkung zusammenschliessen sollen. Denn das letzte Ziel auch der Erkenntniss ist sittlicher Natur, und auch die höchste Begabung empfängt ihre Würde und wahren Werth erst durch die Gesinnung. Die Stunden des heutigen Tages sind festlicher Feier und jugendlicher Freude geweiht. Morgen treten wir wieder an die Arbeit. Lassen Sie uns, meine Herren Commilitonen, bei unserer Arbeit dies Bewusstsein stets gegenwärtig halten, dass es ein sittlicher Beruf ist, den wir alle erfüllen, im Gehorsam gegen den Willen Gottes und im Dienst der letzten Zwecke der Menschheit. Der aber, von dem aller Segen kommen muss, der möge auch diese unsere Arbeit segnen und dieses Jahr! ***

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31. Oktober 1881. Rede des abtretenden Rektors Dr. theol. et phil. Christoph Ernst Luthardt. Bericht über das Studienjahr 1880/81. Hochansehnliche Versammlung! Ein Jahr ist ein geringer Zeitraum in der Geschichte eines Instituts, welches, wie unsere Universität, nach Jahrhunderten zählt. Und doch ist er gross genug, um vieles Unangenehme und Schwere in sich schliessen zu können. Um so mehr haben wir heute, da wir am Schlusse des nun abgelaufenen Rektoratsjahres 1880/81 stehen, Grund Gott Dank zu sagen, dass es uns in diesem Jahre vergönnt gewesen, unter seinem Schutz und Segen ungestört unseren Berufsarbeiten leben zu können. An diesen Dank gegen Gott drängt es mich den Ausdruck unseres ehrfurchtsvollsten Dankes gegen Se. Majestät den König, unseren Rector perpetuus magnificentissimus, anzuschliessen, dessen Huld und Gnade unserer Universität und ihren Aufgaben ununterbrochen zugewandt geblieben ist. Wenn wir heuer zum ersten Male am 23. April den allerhöchsten Geburtstag Sr. Majestät in dieser unserer Aula in akademischer Feier in Gegenwart einer grossen und auserlesenen Versammlung mit einer Rede des Prorektors festlich begingen, so ist es nur eine alte Schuld, welche wir damit abzutragen begonnen haben. Im Einklang mit den Intentionen Sr. Majestät hat das königliche Ministerium für Cultus und öffentlichen Unterricht seine unablässige und erfolgreiche Fürsorge um die Förderung der akademischen Interessen auch in diesem Jahre uns zu Theil werden lassen und uns dadurch zu lebhaftem Danke verpflichtet; und nicht minder haben die übrigen staatlichen und die städtischen Behörden jene Fürsorge durch freundliches Entgegenkommen in dankenswerthester Weise unterstützt. Mir speziell aber ist es Bedürfniss, am Schlusse meines Rektorats meinen Herren Kollegen noch besonders Dank zu sagen für das freundliche Wohlwollen, welches sie mir entgegengebracht, und für die vielfache Unterstützung, welche ich in meiner Amtsführung von ihnen erfahren, und wodurch sie mir dieselbe so wesentlich erleichtert haben. Und dass das Verhältniss zwischen dem Rektor und den Studirenden ein durch nichts getrübtes volles Vertrauensverhältniss war, darf ich mit Freuden rühmen. Um zu meinem Bericht über das verflossene Verwaltungsjahr selbst überzugehen und mit den Instituten unserer Universität zu beginnen, darf ich vielleicht an jene Mittheilung des vorjährigen Berichtes erinnern, dass durch die Ueberführung des umfangreichen zoologischen Museums in seine neuen Räume die bisher von ihm eingenommenen, zur Seite unserer Aula, für die Gipsabgüsse des archäologischen Museums in Verbindung mit dem ägyptologischen Apparat frei geworden. Dadurch ist es möglich geworden, das Material, welches in dieser Sammlung vereinigt ist 302

Jahresbericht 1880/81

und eine fortwährende Vermehrung erfährt, ganz anders als früher zur Geltung zu bringen und für den wissenschaftlichen Unterricht nutzbar zu machen. Auch die kleine, noch in ihren Anfängen befindliche, aber Dank der empfangenen Unterstützung von Seiten des königlichen Ministeriums in erfreulichem Aufblühen begriffene kirchlich-archäologische Sammlung hat eine, wenn auch bescheidene Stätte gefunden, an deren Stelle mit der Zeit hoffentlich eine ausreichendere Lokalität wird treten können. In die Räume aber, welche bisher das archäologische Museum innegehabt, konnte nunmehr die akademische Lesehalle einziehen und sich hier in einer Weise einrichten, dass sie ihrem Zwecke viel vollständiger als bisher entsprechen kann. Jeder Besucher wird sich an der musterhaften Einrichtung erfreuen, welche wohl geeignet ist, auch auf weitere Kreise Anziehung auszuüben. Die früheren Lokalitäten der Lesehalle aber sind von dem philologischen und dem deutschen Seminare in Besitz genommen, und die in diesen Tagen erfolgte Eröffnung derselben ist von den Studirenden mit Freuden begrüsst worden. Dass das historische Seminar sich schon vorher in den höher gelegenen Räumen häuslich eingerichtet, ist schon im vorjährigen Berichte erwähnt. In das Czermak’sche Spektatorium, welches Jahre lang unbenutzt dagestanden, sind im Laufe dieses Jahres nach den nöthigen Vorbereitungen die Mathematiker eingezogen und freuen sich, hier für ihre Vorlesungen und Uebungen eine Heimat gefunden zu haben, ohne dass doch das Spektatorium seiner ursprünglichen Bestimmung dadurch entzogen werden soll. So haben sich, wie Sie sehen, die Lehrmittel und Uebungsräume unserer Universität auch im vergangenen Jahre in einer Weise erweitert, welche den Studien zu erwünschter Förderung zu gereichen geeignet ist. Auch der Bau der grossen Irrenanstalt ist soweit gediehen, dass sie mit dem Beginn des nächsten Semesters ihrem Gebrauch wird übergeben werden können. Und der stattliche Neubau des Iuridicums steht bereits unter Dach und wird ebenfalls bald seiner Bestimmung zu dienen im Stande sein. Ich kann aber dies Gebiet der Bauten nicht verlassen, ohne auch der Renovation unsrer Paulinerkirche Erwähnung zu thun, dieses geschichtlich und architektonisch interessanten Kirchengebäudes, welches die Universität für ihre Gottesdienste und religiösen Feierlichkeiten im Komplexe ihrer übrigen akademischen Gebäude auf ihrem alten historischen Boden zu besitzen sich freut. Der Zustand der Kirche hatte seit längerer Zeit eine Renovation wünschenswerth gemacht. Bei der Beschränktheit der Mittel mussten wir allerdings auf einen eigentlichen Umbau verzichten und uns darauf beschränken, dem Gebäude im Innern ein neues Gewand zu geben. Heute am Reformationsfeste ist die Kirche ihrem gottesdienstlichen Gebrauch wiedergegeben worden, und der Eindruck, den sie in dieser ihrer neuen Erscheinung auf die versammelte Gemeinde gemacht hat, ist gewiss bei Allen ein freundlicher und erfreulicher gewesen. Möge sie stets zahlreiche Schaaren von Andächtigen in ihren Räumen versammeln. Indem ich mich zu den Veränderungen wende, welche der Lehrkörper unserer Universität erfahren hat, so habe ich hier vor Allem zu erwähnen, dass in Anerken303

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nung ihrer Verdienste um die Universität und die Förderung der Studien die ausserordentlichen Professoren Dr. Konrad Hermann und Dr. Adolph Mayer am 3. März d. J. zu ordentlichen Honorarprofessoren ernannt worden sind. Zu unserem Schmerze aber haben wir zwei Todesfälle zu beklagen, welche unser innigstes Mitgefühl herausforderten. Am 18. März d. J. starb, nachdem er nur wenige Tage krank gewesen, Allen überraschend, der a. o. Prof. Dr. Otto Loth. Er hatte es stets geliebt sein reiches und gründliches Wissen hinter bescheidener Zurückhaltung zu verbergen. Eben sollte er die Frucht seiner umfassenden Studien ernten; da wurde er uns und der Wissenschaft so jäh entrissen. Wir haben ihm das Geleite zur Bahn gegeben, welche den Todten zu seinen greisen Aeltern in Meissen brachte, deren Stolz und Freude er im Leben war. – Fast noch erschütternder war der Heimgang unseres Kollegen, des Geh. Hofraths Prof. Dr. Karl Bruhns, Direktors der Sternwarte. Sie wissen, wie er aus geringen Verhältnissen durch die energische Kraft seines Willens und die reiche Begabung seines Geistes zu jener allgemein anerkannten Bedeutung in seiner Wissenschaft und zu der weitreichenden erfolgreichen Lehrerthätigkeit sich emporgeschwungen hat, durch welche er mehr als 20 Jahre lang eine Zierde unserer Universität war. Und wie viel wir in den Geschäften der Verwaltung seiner allzeit bereiten rüstigen Kraft und Thätigkeit zu Danke verpflichtet waren, ist noch in unser Aller Gedächtniss. Nachdem wir uns lange mit der Hoffnung geschmeichelt, dass er uns werde erhalten bleiben, ist er uns am 24. Juli d. J. zu unserm tiefen Schmerze entrissen worden. Die Worte des Nachrufs, die wir ihm am Sarge widmeten, und das feierliche Geleite, welches unsre akademische Jugend ihm zu seinem Grabe gab, waren das Einzige, womit wir unseren Kollegen noch ehren konnten. Wir werden den beiden heimgegangenen Kollegen stets ein dankbares Gedächtniss bewahren. Als Bruhns’ Nachfolger ist Dr. Heinrich Bruns, a. o. Prof. der Mathem. u. Astron. in Berlin zum ord. Prof. der Astronomie und Direktor der Sternwarte ernannt (23. Sept.) und wird mit dem 1. April des nächsten Jahres in diese Stellung bei uns eintreten. Wir heissen ihn im Voraus willkommen. In Folge von Berufungen nach auswärts haben uns verlassen: aus der medicinischen Fakultät der a. o. Prof. Dr. Friedrich Ahlfeld, welcher mit Ostern d. J. einem Rufe als ord. Professor und Direktor der geburtshülflichen Klinik nach Giessen folgte und so die Zahl der schon früher von hier nach Giessen zahlreich berufenen Kollegen vermehrte; aus der philosophischen Fakultät der a. o. Professor Dr. Frank, welcher mit Anfang vergangenen Sommersemesters als Professor an die landwirthschaftliche Hochschule in Berlin übersiedelte; der Privatdocent Dr. Hugo Seeliger, welcher am Ende des Sommersemesters zum Direktor der herzoglichen Sternwarte nach Gotha berufen wurde, und der Privatdocent Dr. Karl Göbel, welcher am Schluss des Sommersemesters, nachdem er sich eben erst bei uns habilitirt hatte, als a. o. Professor an die Universität Strassburg ging. Es kann uns nur zu freudiger Genugthuung gereichen, wenn die jüngeren Docenten unsrer Universität von anderen Hochschulen begehrt werden und wir so eine mittelbare, über unsere nächsten Grenzen hinausreichende Wirksamkeit auszuüben Gelegenheit erhalten. Wir begleiten die von uns Geschiedenen mit unseren besten Wünschen. 304

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Ein schwerer Verlust hatte uns gedroht, ist uns aber zu unsrer grossen Freude und Genugthuung erspart worden. An die Stelle des verstorbenen Pandektisten Bruns in Berlin hatte Geh. Rath Dr. Windscheid im Dezember vor. J. einen Ruf dorthin erhalten, denselben aber aus eigener Bewegung und in Anhänglichkeit an unsre Universität abgelehnt. Rektor, Kollegen, Studenten und Stadt haben ihm ihren Dank dafür ausgesprochen, und ebenso ist ihm von allerhöchster Stelle aus die Anerkennung dafür zu Theil geworden. Freilich müssen wir uns darein finden, dass er durch die Theilnahme an der Gesetzgebungskommission in Anspruch genommen, in diesem Winter uns entzogen ist. Wir hoffen, dass sich die Interessen des Reichs und die unserer Universität in einer für beide Theile befriedigenden Weise ausgleichen werden. Wir haben eine Reihe von Habilitationen zu verzeichnen, wodurch unser Lehrkörper neue, zukunftreiche Kräfte gewonnen hat. Es haben sich habilitirt in der juristischen Fakultät: Dr. Heinrich Theodor Schwalbach für Civil-Prozess; in der medicinischen Fakultät: Dr. Meier Sänger, seither Assistent an der geburtshülflichen Poliklinik hier; Dr. Alphons Kölliker, Assistent an einer Hallischen Universitätsklinik; Dr. Rudolph Emmerich, 1. Assistent am hygienischen Institut hier; in der philosophischen Fakultät: Dr. Paul Hermann Fraisse aus Memel für Zoologie; Dr. Friedrich Schur aus Macijewo in der Provinz Posen für Mathematik; Dr. Wilhelm Grube aus Petersburg für ostasiatische Sprachen. Wir heissen diese neuen Kollegen willkommen und rufen ihnen ein herzliches Glück auf zu. Dass Dr. Karl Göbel aus Billigheim in Baden sich am 24. Juni für Botanik habilitirt hatte, aber mit Schluss des Sommers uns bereits wieder verlassen, um als a. o. Professor nach Strassburg zu gehen, habe ich bereits erwähnt. Promovirt wurden in der theologischen Fakultät 1 Doktor der Theologie und 6 Licentiaten, worunter einer honoris causa; in der juristischen Fakultät 24 Doktoren, einschliesslich einer Ehrenpromotion, in der medicinischen 71, und in der philosophischen 81. Auch bei unsrer Universitätsbibliothek haben Personalveränderungen insofern stattgefunden, als zwei neue Kräfte eintraten, welche beide unser spezielles Interesse erwecken. Am 1. März wurde Dr. Walther Bernhard Wilhelm Schmidt als 3. Assistent angestellt, ein Sohn unseres früheren, zu früh abgerufenen juristischen Kollegen Prof. Dr. Bernhard Schmidt; und am 14. Oktober ist als Volontair verpflichtet worden Dr. Eduard Zarncke, der Sohn unsres neuen Rektors Magnificus. An diese Personalien schliesse ich noch eine kurze Mittheilung über die Verwendung der Albrechtstiftung. 4200 Mark sind in diesem Jahre an zwei Professoren und drei Privatdocenten zu wissenschaftlichen Reisen, 7859 an zehn Privatdocenten zur Förderung wissenschaftlicher Zwecke, in einzelnen Fällen mit Reisen verbunden, im Ganzen also 12,050 Mark aus den Zinsen dieser hochherzigen Stiftung unseres verstorbenen Kollegen gegeben worden, welcher so noch nach seinem Tode reichen Segen stiftet. Zu den Veränderungen im Kreise unsrer Beamten übergehend, erwähne ich vor allem, dass (im Zusammenhang mit der Veränderung in der Universitätsgerichtsbarkeit) durch Verordnung vom 15. Novbr. vor. J. Universitäts-Sekretair, nunmehr 305

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Universitätsrath Dr. Meltzer von seinem Amt als Assessor des Universitätsgerichts enthoben und zum ständigen Vertreter des Universitätsrichters, in Behinderungsfällen des Letzteren, ernannt worden ist. Dagegen hatten wir den am 28. Dezember vor. J. erfolgten Tod unseres Gerichts-Registrators Ernst Wilhelm Semm zu beklagen, welcher seit dem 16. Dezember 1860 diese Stelle inne gehabt und mit Treue verwaltet hat. An seiner Statt ist durch Verordnung vom 22. März der seitherige 1. Expedient beim Universitätsgericht Wilhelm Julius Grosse zum Registrator, der 2. Expedient Reinhold Friedrich August Schmidt zum ersten, und der seitherige Expedient und Protokollant beim Amtsgericht zu Leipzig Hermann Robert Böhme zum zweiten Expedienten beim Universitätsgericht ernannt und in Pflicht genommen worden. Damit stehen uns denn wieder die ausreichenden Kräfte zur Verfügung, wie sie zur Erledigung der besonders am Anfang und am Schluss der Semester sich drängenden Geschäfte, aber auch sonst, erforderlich sind. Die Universität hatte im Laufe dieses Jahres mehrfach freudigen Anlass, sich an Jubiläen zu betheiligen. Am 6. Januar beging der bisherige Rektor der Thomasschule Prof. Dr. Eckstein sein 50jähriges Lehrerjubiläum, woran sich in den letzten Wochen das Gedächtniss seines 50jährigen Doktorats schloss. In der Reihe der Glückwünschenden und Festfeiernden, welche von Nah und Fern aus den verschiedenen Kreisen seiner früheren und späteren Wirksamkeit sich um den rüstigen Jubilar an jenem Tage gesammelt hatten, durfte auch die Universität, von ihrem Rektor und der Deputation der philosophischen Fakultät vertreten, nicht fehlen. Prof. Dr. Hartenstein in Jena, lange Jahre und Jahrzehnte unser Kollege und im Vorstand unsrer Universitätsbibliothek, feierte am 19. März d. J. sein 50jähriges Doktorjubiläum. Ausser der Deputation der philosophischen Fakultät beglückwünschte ihn auch die Universität durch ein Schreiben des Rektors. Und in diesen Tagen holten wir die Beglückwünschung unseres langjährigen und vielverdienten Kollegen Hofrath Prof. Dr. Marbach nach, welcher vor fünfzig Jahren am 20. August 1831 in Halle das Magisterium erworben, aber seine fast fünfzigjährige vielseitige Wirksamkeit unsrer Universität gewidmet hatte. Und ebenfalls in den Ferien am 27. September waren es 25 Jahre, dass wir den Geh. Medicinalrath und Direktor der Entbindungs-Anstalt Prof. Dr. Credé den unsern nennen dürfen, von dessen umfassender Wirksamkeit die Ausdehnung, welche die von ihm geleitete Anstalt gewonnen hat, Zeugniss ablegt. Besonders von Seiten seiner zahlreichen Schüler hat er ehrenvolle Zeichen dankbarer Anhänglichkeit empfangen. Wir dürfen von der rüstigen Kraft des Jubilars hoffen, dass seine umfassende Thätigkeit uns noch lange Jahre ungemindert erhalten bleiben werde. Auch den 80jährigen Geburtstag unseres früheren Cultusministers Sr. Excellenz des königl. Hausministers Freiherrn Dr. von Falkenstein, dessen Name mit dem Aufschwung unserer Universität untrennbar verbunden ist und in ihren Annalen in dankbarem Gedächtniss bis in späteste Zeiten fortleben wird, glaubten wir nicht achtlos vorübergehen lassen zu sollen. Wir haben ihm zu jenem Tage, den 15. Juni d. J., unsere ehrerbietigsten Glückwünsche dargebracht. Die Geistesfrische seines Alters lässt uns hoffen, dass ihm noch manches Jahr von Gott vergönnt sein wird, Zeuge der Blüthe unsrer Universität zu sein. 306

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An diese festlichen Erinnerungen füge ich die Mittheilung an, dass die Marmorbüste, welche unserem verstorbenen Kollegen Geh. Rath Dr. Ritschl von Schülern und Freunden desselben für unsre Aula bestimmt gewesen, durch die Hand seines Nachfolgers in der Professur, unseres Kollegen Dr. Ribbeck übergeben worden, und dass die nöthigen Anstalten getroffen sind, um in Kürze ihre Aufstellung hier zu bewirken. Sie wird eine werthvolle Bereicherung der ehrwürdigen Erinnerungen sein, die uns von den Wänden unsrer Aula grüssen. Ich würde ein Unrecht gegen unsere Studenten zu begehen glauben, wenn ich von der Feier schweigen wollte, welche dieselben am 18. Januar d. J. zum zehnjährigen Gedächtniss der Gründung des deutschen Reiches veranstaltet. In verschiedenen Kreisen vereinigten sich die Schaaren unsrer Studirenden zur festlichen Begehung dieses Tages. Die grösste Zahl, mehr als 1500, waren unter dem Präsidium des Prinzen Ernst von Sachsen-Meiningen, welcher damals als stud. jur. uns angehörte, zum festlichen Kommers im grossen Saale der Centralhalle versammelt, und allen Theilnehmern werden jene Stunden der gehobenen nationalen Begeisterung bei der würdigsten Haltung unsrer akademischen Jugend unvergesslich sein. Das führt mich denn auf die Statistik unsrer Studenten. Die Zahl derselben hatte im vorigen Wintersemester, ohne die sonst zum Besuch von Vorlesungen zugelassenen Nichtimmatrikulirten, 3326 betragen, nämlich 1162 Sachsen und 2164 Nichtsachsen. Im Sommer sinkt erfahrungsgemäss diese Zahl immer etwas. So betrug sie im letzten Sommersemester ohne die 93 Nichtimmatrikulirten 3183, die höchste Ziffer, welche wir bis dahin im Sommer erreicht hatten, nämlich 1290 Sachsen und 1893 Nichtsachsen. Auf die einzelnen Fakultäten hatte sich diese Zahl so vertheilt, dass 561 der theologischen, 838 der juristischen, 457 der medicinischen, 1327 der philosophischen Fakultät angehörten. Bis vorgestern, Sonnabend den 29. Oktober Abend nun sind 670 Abgangszeugnisse ausgestellt, dagegen 782 Studenten inskribirt worden und zwar 109 Sachsen und 673 Nichtsachsen; nach den Fakultäten vertheilt: 139 von der theologischen, 256 von der juristischen, 111 von der medicinischen und 276 von der philosophischen Fakultät. Die Gesammtzahl der Inskriptionen dieses Jahres 1880/81 beläuft sich auf 1984, im vorigen Jahr auf 2016, = 32 mehr. Die Ziffer unsrer Studirenden überhaupt stellt sich heute auf 3295, um 112 mehr als im vergangenen Sommer und um 64 mehr als an diesem Tage im vorigen Jahre. Sie sehen also, dass wir die Höhe, die wir eingenommen, reichlich behauptet haben. Wenn wir bei dieser Anzahl im Laufe dieses Verwaltungsjahres 12 von unseren Studirenden durch den Tod verloren haben, so wird man diese Zahl im Vergleich zu jenen mehr als Dreitausenden nicht gross finden können. Freilich für den Schmerz ihrer Angehörigen und für unsere Wünsche ist sie noch immer viel zu gross, und viel schöne und edle Hoffnungen der Aeltern und des Vaterlandes sind mit diesen zwölf Jünglingen begraben. Leider haben wir unter diesen Zwölfen auch Einen zu beklagen, der seinem Leben durch Gift selbst ein Ende gemacht hat. Wir wissen nicht, welche Umnachtung des Gemüthes ihn zu diesem unseligen Schritte geführt hat. Es bleibt uns nichts übrig, als seine Seele der Gnade Gottes zu befehlen. An Erkrankungen hat es der Natur der Sache nach bei einer so grossen Zahl nicht gefehlt, wenn auch die Zahl der wirklichen Erkrankungen nicht nach der Zahl 307

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der Konsultationen bei den Aerzten unserer Allgemeinen studentischen Krankenkasse zu bemessen ist. Solcher Konsultationen haben in diesem Jahre 961 stattgefunden. Sie sehen daraus, dass unsere Aerzte nicht wenig in Anspruch genommen werden und unser aller lebhaften Dank verdienen. Wir mussten bedauern, dass Professor Dr. Otto Heubner, durch seine übrige Thätigkeit zu sehr in Anspruch genommen, sich genöthigt gesehen hat, mit dem 15. Mai von jener Stellung als Arzt bei unserer Krankenkasse zurückzutreten. Um so mehr wünschen wir uns Glück, in Dr. Wilhelm Konrad Blass einen so vortrefflichen Ersatz gefunden zu haben. Die zahlreichen Bedürfnisse, welche durch die mannigfachen Krankheitsfälle an uns herantraten, liessen uns die Wohlthat der studentischen Krankenkasse immer wieder von Neuem dankbar empfinden. Ihre finanziellen Verhältnisse sind so, dass wir in einzelnen Fällen auch bedeutendere Unterstützungen zu längeren Kuren anweisen konnten. Auch anderweitige Stiftungen habe ich in erfreulicher Zahl zu verzeichnen, welche unseren Studenten zu Gute zu kommen bestimmt sind. Mittelst Verordnung vom 10. December vor. Jahres ist eine Stipendienstiftung bestätigt worden, welche von einem Jubilardoktor der Medicin, der ungenannt bleiben will, mit einem Kapital von 6000 Mark errichtet worden, zu zwei Stipendien für zwei Studirende der Medicin aus Sachsen, welche die Kliniken besuchen. Durch Verordnung vom 22. Februar d. J. hat das Ministerium die von Frau Amalie verw. Lehrer Schierholz hier errichtete Konviktstelle bestätigt. Nicht minder ist unter dem 10. August die Stiftung von 6 Freistellen im Konvikt genehmigt worden, deren Stifter für die Dauer seiner Lebenszeit ungenannt bleiben will. Wir wiederholen hier öffentlich den Dank, den wir schon früher den edlen Gebern auszusprechen Gelegenheit genommen haben. Auch die Privatfreitische haben sich erfreulich gemehrt. So hat u. a. der dankenswerthe Eifer des Herrn Kaufmann Philipp Batz hier die für Hessen bestimmten wöchentlichen Freitische von vier auf zwölf Plätze zu erhöhen gewusst. Auch einer anderen Stiftung muss ich noch mit öffentlichem Danke Erwähnung thun, welche sich an die 25jährigen Jubiläen der beiden ersten Professoren an der theologischen Fakultät anschliesst, die, das eine vor sechs Jahren, das andere in diesem Jahre, am 14. März, stattgefunden haben. Ein grösserer Kreis von Schülern und Freunden der Beiden, vorwiegend aus Sachsen, hat ein Kapital von 7000 M. gesammelt, dessen Zinsen jährlich zu zwei Stipendien für solche Theologen „aus dem deutschen Reiche“ verwendet werden sollen, „welche sich für das geistliche Amt innerhalb der evangelisch-lutherischen Kirche bestimmt haben“ und welches den Namen Kahnis-Luthardt-Stiftung führen soll. Auf die am 25. Juli d. J. erfolgte ministerielle Genehmigung hat das Rentamt die Verwaltung des Kapitals bereits übernommen und im nächsten Jahre wird eine erste Vertheilung möglich sein. So hat die Theilnahme für die Blüthe unserer Universität in erfreulichster und dankenswerthester Weise im Interesse unserer Studirenden sich mannigfach bethätigt. Und ich freue mich, hier öffentlich aussprechen zu können, dass der Fleiss und das sittliche Verhalten unserer Studenten dieser wohlwollenden Theilnahme stets entsprochen hat. Dass einzelne Ausschreitungen vorkommen, kann bei einer Zahl 308

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von mehr als dreitausend jungen Männern und bei dem grossen Maass von Freiheit, das sie geniessen, nicht anders erwartet werden. Aber getrost kann ihre Gesammthaltung die Vergleichung mit jeder anderen Gesellschaftsklasse gleichen jugendlichen Alters herausfordern. Was aber mehr ist als die Legalität des äusseren Verhaltens ist diess – und diess Zeugniss können wir unseren Studenten geben –, dass die Ideale des Lebens ihre Macht über die Gemüther unserer akademischen Jugend nicht verloren haben, sondern ihre erhebende und vor dem Niedrigen und Gemeinen bewahrende Wirkung ungeschwächt auszuüben fortfahren. Gehen auch, wie in diesem Jahre mehrfach, die Wogen zuweilen etwas hoch, so haben sie doch stets das Bett eingehalten, und ein gutes Wort hat bei unseren Studenten auch stets eine gute Statt gefunden. Möge denn unsere Universität noch in ferne Zeiten hinaus eine Stätte bleiben, an welcher die Ideale des Wahren, Guten und Edlen stets eine thatkräftige und für das Wohl unseres Volkes und Vaterlandes segensvolle Pflege finden! Und Gott gebe dazu reiches Gedeihen! Hierauf gab der Rektor Rechenschaft von dem Erfolg der ausgeschriebenen Preisarbeiten und verkündete die von den Fakultäten für das nächste Jahr gestellten Themata. Für beides wird auf das Programm vom 31. Oktober verwiesen, welches vom Programmatar im Anschluss an eine Abhandlung unter dem Titel: „De diebus ineundo consulatui sollemnibus interregnorum causa mutatis“ veröffentlicht ist. Zum Schluss erfolgte die Vereidigung des neuen Rektors und die Uebergabe der Amtsinsignien an denselben. ***

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Friedrich Zarncke (1825–1891)

31. October 1881. Rede des antretenden Rektors Dr. ph. Friedrich Zarncke. Über Geschichte und Einheit der philosophischen Fakultät. Hochverehrte Anwesende! Unter den vier Fakultäten, in welche nach altüberlieferter Weise die deutschen Universitäten sich gliedern, trägt diejenige, der ich anzugehören die Ehre habe, die s. g. philosophische, einen von den übrigen augenfällig abweichenden Charakter. Während die drei s. g. oberen Fakultäten einen engeren, ziemlich sicher begränzten Kreis umfassen, scheint es bei der philosophischen an einer Gränze ganz zu gebrechen. Ausser der Wissenschaft, auf die ihr Name zunächst hinweist, finden wir in ihr vertreten das gesammte Gebiet der Sprachen, soweit es wissenschaftlicher Erörterung zugänglich geworden ist, die Geschichte und Kunstgeschichte, die Staatswissenschaften und Nationalökonomie, die Pädagogik, die gesammten Naturwissenschaften mit alleiniger Ausnahme der Physiologie, die Mathematik und Astronomie, neuerdings auch die Landwirthschaftslehre, unter deren Fittichen wieder technologische Disciplinen und selbst die Thierheilkunde bei uns Unterschlupf gefunden haben. Das ist in der That eine bunte Mannigfaltigkeit, für die ein einheitlicher Mittelpunkt sich zunächst nicht zu bieten scheint1, und man darf den akademischen Scherz nicht so übel nehmen, der unsere Fakultät wohl einmal die Universitätsrumpelkammer getauft hat, in die eben Alles hineingepackt werde, was man anderweitig nicht recht unterzubringen wisse. Es lohnt sich wohl, die Frage zu erörtern, ob in dieser neckenden Bezeichnung etwa ein Körnchen Wahrheit enthalten sei. War vielleicht die phi1

Diejenige Wissenschaft wenigstens, nach der die Fakultät ihren Namen führt, gewährt ihn nicht. Ja, bei Beurtheilung der in dieser Fakultät erlangten Ausbildung wird sie nahezu desavouirt. Denn bei den Schlussprüfungen, die der Staat seinen jungen Gelehrten auferlegt, ist nicht nur die Stellung philosophischer Themata ausdrücklich ausgeschlossen, es werden auch den jungen Doktoren, die durch eine gedruckte Dissertation tüchtige Leistungen in der Philosophie dokumentirt haben, sogar die Vortheile vorenthalten, die auf den andern Wissensgebieten durch entsprechende Leistungen erlangt werden.

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losophische Fakultät von Anfang an jene bequeme letzte Kategorie, ohne die eine systematische Gliederung in der Praxis nicht scheint auskommen zu können? jenes letzte Kapitel, das wir wohl „Vermischtes“ oder „Allerlei“ oder sonstwie zu benennen pflegen? Und wenn dies nicht der Fall war, welches war die ursprüngliche Einheit? und wie ist aus dieser die gegenwärtige, scheinbar so verwirrende Vielgliedrigkeit geworden? oder steckt doch in dieser vielleicht noch eine Einheit? Auf diese Fragen lassen Sie uns heute versuchen die Antwort zu finden. Wenn wir uns über den ursprünglichen Zweck einer Organisation, eines Ordens, einer Zunft, einer Korporation, unterrichten wollen, so wird es zunächst gerathen sein, uns darnach umzusehen, ob dieselbe ein altüberliefertes Erkennungszeichen besitzt, ein Symbol, ein Wappen, ein Siegel. Denn zweifelsohne werden die Gründer in einem solchen ihre Gedanken über die Tendenz ihrer Stiftung niederzulegen versucht haben. Derartige Symbole nun besitzen die vier Fakultäten unserer Universität in ihren Siegeln, und gleich die drei oberen täuschen uns nicht in unsern Erwartungen. Da zeigt uns das theologische Siegel den geistlichen Hirten, das juristische die Vertreter des päpstlichen und kaiserlichen Rechtes, auf dem der Mediciner fehlt es nicht an der Mörserkeule des Apothekers und an dem bekannten Glase des Arztes. Was aber bietet uns die philosophische Fakultät? Wir besitzen ihr Siegel auf unserm Archive noch in seiner ursprünglichen Gestalt, von roher Arbeit, zwei Felder enthaltend. Das obere stellt, um es gleich richtig zu sagen, einen ältlichen Mann dar, der einen Knaben auf dem Schosse hat; das untere zeigt drei Figuren, wieder einen ältlichen Mann mit einem rundlichen Instrumente in der Hand, in lehrender Haltung, vor sich zwei jüngere, wie es scheint in den Händen Tintenfässer haltend. Dies zu deuten ist man seit Anfang des vorigen Jahrhunderts beflissen gewesen, und in einer unserer Fakultät recht schmeichelhaften Weise. Eine Abbildung v. J. 1709, die bei Gelegenheit des damaligen Universitätsjubiläums erschien, fasst das rundliche Instrument auf dem untern Felde als einen Hirtenstab, sieht also in seinem Träger einen Bischof, einen Geistlichen; aus der Figur ihm gegenüber macht sie, freilich ohne erkennbare Anknüpfung, einen Juristen. Wie sie aber dann die Person in der Mitte gedeutet, das erräth wohl so leicht Niemand. Es soll der König Salomo sein, und dieser als Symbol der philosophischen Fakultät gelten: also die philosophische Fakultät, den Herren Theologen und Juristen die Tiefen salomonischer Weisheit eröffnend. An der philosophischen Belehrung der Herren Mediciner scheint der Deutende verzweifelt zu haben. Bald darauf trat auch eine Deutung des obern Feldes auf. Man glaubte nun auf ihm die Jungfrau Maria mit dem Christuskinde zu erblicken, und da diese das Symbol des Rektoratssiegels ausmacht, so sah man auf jenem oberen Felde die Anerkennung ausgesprochen, dass die philosophische Fakultät die eigentlich dominirende der Universität sei. Das war eine stolze Deutung, und wir Mitglieder der philosophischen Fakultät könnten uns dieselbe schon gefallen lassen, aber richtig war sie nicht. Denn das erwähnte rundliche Instrument ist ganz deutlich ein Astrolabium älterer Konstruktion, und damit ist die Erklärung des untern Feldes gegeben. Es bezeichnet die Lehre der mathematisch-astronomischen Wissenschaften, jener vier höheren Disciplinen, 312

Antrittsrede 1881

die man unter dem Namen des Quadrivium zusammenfasste; Jünglinge sind es, die den Unterricht empfangen. Und dem gegenüber erklärt sich nun auch das obere Feld ohne Weiteres; es stellt den bekannten παιδαγωγός dar, der einen Knaben in den Anfangsgründen unterrichtet; es ist die disciplina incunabulis, das s. g. Trivium, das hier symbolisirt wird. Gemeinsam also geben beide Felder die s. g. septem artes liberales, wie denn ja auch die höchste Auszeichnung unserer Fakultät, das Magisterium oder, wie wir es seit einigen Decennien um der Gleichheit mit den andern Fakultäten willen nennen, das philosophische Doktorat, seine Träger noch heute als Magistri liberalium oder bonarum artium prädicirt. In der Aufgabe, diese zu lehren, erkannten also die Gründer unserer Fakultät deren eigentlichen Zweck ausgesprochen. Mit dieser Hindeutung aber werden wir hinausgewiesen in eine Perspektive von nahezu 2000 Jahren, mitten hinein in die Blüthezeit des klassischen Alterthums auf römischem Boden. Lassen Sie uns an den Ausgangspunkt dieser Entwicklung treten. Es war um die Zeit bald nach dem ersten punischen Kriege, als sich der römischen Gemüther die Vorliebe für die griechische Bildung zu bemächtigen begann. Vergebens lehnte sich der altrömische Geist gegen diese Invasion auf, die ihm als eine Vergiftung erschien. Der unversöhnlichste Feind griechischer Bildung, Marcus Porcius Cato, fasste noch einmal den Inhalt des dem Altrömer Wissenswerthen in seinen praecepta ad filium kurz zusammen. Er handelte über die wesentlichsten Dinge des praktischen Lebens, über den Landbau, über Kriegskunde, über Heilkunst, gab Rechtsbelehrungen und Anweisungen zur Beredtsamkeit, die in dem schönen und für ihn charakteristischen Satze gipfelten: rem tene, verba sequentur. Aber der Reiz des Neuen, und der feine geistreiche Anstrich der griechischen Bildung überwogen, und kaum waren hundert Jahre nach Cato’s Tode dahingegangen, so hatte sie einen völligen Sieg über das Altrömerthum davongetragen. Was sie an sachlich Neuem brachte, waren besonders die s. g. mathematischen Wissenschaften, also das später s. g. Quadrivium, Geometrie, Arithmetik, Astronomie und daneben Musik umfassend, deren Behandlung ganz wesentlich eine mathematische war. Weit wichtiger aber war, dass sich nun auch auf römischem Boden ein ganz neuer Begriff entwickelte, der des wissenschaftlich durchgebildeten Mannes, der Begriff einer wissenschaftlichen Vorbildung, die dem praktischen Berufe vorangehen, ihn höchstens vorbereiten, von ihm sonst aber unabhängig sein sollte. In Griechenland war dieser Begriff bereits geläufig gewesen, wenn auch in den Einzelheiten noch nicht streng systematisch gegliedert, auf römischen Boden verpflanzt gehörte er nunmehr der Weltgeschichte an. Mit ihm haben wir es hier zu thun, er ist, um es gleich zu sagen, der Keim der philosophischen Fakultäten geworden. Nicht gleich zwar war er in voller Reinheit herausgearbeitet. Als zum ersten Male Marcus Terentius Varro, der Zeitgenosse des Caesar und Cicero, in einem encyclopädischen Werke der neuen Bildung Rechnung trug, bot er allerdings bereits in reinlicher Systematik das volle Trivium und Quadrivium, aber diese Disciplinen erschienen bei ihm noch verbunden mit zwei rein praktischen, der Baukunst und der Medicin. Erst einer späteren Zeit gelang es, die allgemein bildenden Elemente 313

Friedrich Zarncke

rein herauszuschälen. Dies geschah durch den Afrikaner Marcianus Capella, der m. E. nicht nach, sondern vor Augustin anzusetzen ist2. Er erst entfernte Baukunst und Medicin aus dem System des Varro, weil, wie er sagt, sie nur irdischen Zwecken dienten, mit dem Himmlischen Nichts zu thun hätten. Er also zuerst bot die septem artes als geschlossenes System, in jenem Werke, das den wunderlichen Titel führt: Von der Vermählung der Philologie mit dem Mercur, de nuptiis Mercurii et Philologiae. Marcian steht bei unsern Philologen und Philosophen übel angeschrieben, ich meine doch mit Unrecht. Obwohl seine Sprache die Schwächen der silbernen Latinität nicht verleugnet, so kann ich doch nicht finden, dass seine Excurse pueril seien, und die seinem Werke und jenem Titel zu Grunde liegende Auffassung erscheint mir gross und edel gedacht. Die Philologie bedeutet ihm, in Anknüpfung an den Begriff des λόγος in der Lehre der Neuplatoniker, das höchste Erkenntnissstreben des menschlichen Geistes. Dieses soll als ein göttliches gekennzeichnet werden, indem es durch die Vermählung mit dem klugen und vielgewandten Götterboten eingeführt wird in die Welt der Unsterblichen. Am Hochzeitsfeste schenkt nun der junge Gatte seiner Anvermählten 7 Mägde, und diese 7 Mägde sind eben jene 7 Disciplinen des Trivium und Quadrivium, die also nur als die Dienerinnen des höchsten Erkenntnisstriebes aufgefasst werden, nicht als trügen sie, wie wohl selbst heute noch Mancher es sich einbildet, ihren Zweck in sich selber. Das ist doch gewiss eine tiefsinnige Idee. Dies Buch nun erlangte bald ein canonisches Ansehen und ward das grundlegende Werk für die Bildung des Mittelalters. Bereits dem Gregor von Tours galt es als solches, Notker III. von St. Gallen hat es ins Deutsche übertragen und commentirt, Wibald von Corvey in ihm den Inbegriff aller Schulweisheit erblickt, und noch Ulrich von Hutten begrüsste eine neue Ausgabe desselben mit denselben Prädikaten. Eine Unzahl von Handschriften, von Erwähnungen und Benutzungen beweist den allgemeinsten Gebrauch, und Boethius, Cassiodor, Beda und Alcuin, die später ähnliche Werke verfassten, haben nie eine so massgebende Bedeutung erlangt. Als Träger dieser encyclopädischen Bildung der septem artes fühlten sich also im Jahre 1409 die Männer, welche unsere Fakultät begründeten. Sie waren dabei formell in ihrem Rechte, materiell schon nicht mehr so ganz. 2

Marcianus Capella fand noch das System des Varro vor. Er erst entfernte die Architektur und Medicin und motivirt diese Entfernung ausdrücklich, de nupt. 9, 890: verum superum pater licet insinuatione germanae ut properaret admonitus tamen nequid nuptialibus derogaret ornatibus aut tantae eruditionis examen deliciosa festinatione convelleret, qui probandarum numerus superesset nihil afferens festinationis exquirit. cui Delius Medicinam suggerit Architectonicamque in praeparatis adsistere ,sed quoniam his mortalium rerum cura terrenorumque sollertia est nec cum aethere quicquam habent superisque confine, non incongrue, si fastidio respuuntur, in senatu caelico reticebunt ab ipsa deinceps virgine explorandae discussius‘. Es wird dann noch die Musik aufgerufen. Dagegen Augustin in den Retractationes I, 6 behandelt die Siebenzahl bereits als festgegeben: … etiam disciplinarum libros conatus sum scribere … sed earum solum de grammatica librum absolvere potui ... et de musica sex volumina ... de aliis vero quinque disciplinis … Wenn in der Aufzählung dann statt der Astronomie die nichtssagende allgemeine Bezeichnung philosophia erscheint, so halte ich das für einen Fehler, denn im Liber de ordine II, 37 nennt Augustin neben der Geometrie ausdrücklich die Astrologie.

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Antrittsrede 1881

Formell waren sie es, denn zum Trivium und Quadrivium zurück führte in der That der Entwicklungsgang ihrer Fakultät, ja der der ganzen Universität. Die europäischen Universitäten haben einen doppelten Ausgangspunkt. Sie sind zum Theil entstanden aus juristischen und medicinischen Fachschulen, so Bologna, Salerno, Montpellier. Ein anderer Theil aber ist hervorgegangen aus jenen höhern Schulen, in denen die allgemeinere wissenschaftliche Vorbildung überliefert, in denen ausser dem Trivium auch das Quadrivium gelehrt wurde. Solcher Schulen gab es im Beginn des Mittelalters, zumal in Frankreich, nicht wenige. Aus ihnen wurden später die philosophischen Fakultäten, und ihre Führerin zur Universitätsentwicklung ist Paris geworden. Sämmtliche deutsche Universitäten sind dann nach dem Muster dieser, direkt oder indirekt, gestiftet worden. In ihnen allen ist wie in Paris die philosophische Fakultät, oder, wie sie sich ihrem Ursprunge nach richtiger nannte, die Facultas artium, die Artistenfakultät, die Grundlage, die drei oberen waren nur hinzugetreten, halb als Gäste; sie wurden als höhere respektirt, aber ihrerseits hatten sie wieder die Facultas artium als ihre unausweichliche Voraussetzung, als ihre pia nutrix anzuerkennen. Der akademische Grad, ursprünglich bekanntlich nicht ein Titel, sondern die Ertheilung der Lehrbefugniss, sollte in den obern Fakultäten eigentlich erst gewährt werden, wenn er vorgängig in der philosophischen erlangt worden war. Am treuesten haben dies bei uns bis vor nicht langer Zeit die Mediciner eingehalten; die Juristen, die in früheren Jahrhunderten gerne centrifugalen Tendenzen huldigten, haben sich diesem Verlangen frühe entzogen. Aber unangetastet blieb das Gesetz, dass nur das Magisterium der Artistenfakultät die eigentlichen Universitätsrechte gewährte. Noch vor wenigen Decennien konnte nur wer Magister war Rektor werden, nur ein solcher den Nationen angehören, nur er an den Einkünften der Universität Theil haben. Ja, bis vor wenigen Jahren wies noch unser Vorlesungsverzeichniss jene alte grundlegende Bedeutung der philosophischen Fakultät auf, indem die Vorlesungen dieser denen der drei oberen Fakultäten vorausgingen, und unter dem Titel „Allgemeine Studien“ den sog. „Fakultätsstudien“ entgegengestellt wurden. Also formell war die Leipziger Fakultät im Jahre 1409 vollaus in ihrem Rechte, wenn sie sich als die Vertreterin der septem artes betrachtete. Materiell aber nicht mehr so ganz. Denn die Zeit war bereits hinausgeeilt über jene 7 Disciplinen. Allerdings vorhanden waren sie noch. Sehen wir uns das Vorlesungsverzeichniss unserer Fakultät an, wie es aus Prag mitgebracht wurde und wie es das ganze 15. Jahrhundert hindurch im Gebrauch geblieben ist3, so finden wir darin auf dem Gebiete 3

Das Verzeichniss der Vorlesungen, wie es aus Prag mitgebracht ward, ist dieses, wobei die Bücher des Aristoteles mit einem Stern versehen sind: 1) Ad gradum baccalariatus. Tractatus Petri Hispani, Priscianus brevior, *vetus ars, *priorum, *posteriorum, *elencorum, *phisicorum, *de anima, sphera materialis. 2) Ad gradum magisterii. *Topicorum, *de celo, *de generacione, *metheororum, *parva naturalia, *ethicorum, *politicorum, *yconomicorum, perspectiva communis, theorica planetarum, Euclides, loyca Hesbri, arismetrica communis, musica Muris, *metafisica. Hierzu stimmen noch die Statuten vom Jahre 1499, nur wird bei den Libri ad gradum baccalariatus noch hinzugefügt: Donatus minor, secunda pars Alexandri vel Florista, algorismus et computus et

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des Triviums für die Grammatik den Priscianus brevior, später auch wohl den Donatus minor oder die secunda pars des Alexander de villa Dei, für die Dialectik die Tractate des Petrus Hispanus, und die Logik des Hesbrus (wohl eigentlich Hentisberus), für die Rhetorik irgend einen liber rhetoricalis (doch nicht immer genannt); ferner auf dem Gebiete des Quadriviums für die Geometrie den Euclid und die sog. perspectiva communis, für die Arithmetik die arismetrica communis, für die Astronomie die sphaera materialis des Johannes de Sacrobosco und die theorica planetarum, für die Musik endlich die musica des Johannes de Muris. Aber diese Vorlesungen schwimmen wie verloren in einer sie weit überwiegenden und überwogenden Anzahl anderer. Was sind das für Vorlesungen und woher waren sie gekommen? Hier werden wir hingeführt auf einen der bedeutsamsten, wenn nicht den allerbedeutsamsten Vorgang im wissenschaftlichen Geistesleben des Mittelalters. Jener grosse Denker des Alterthums, den Heinrich Heine mit einem so treffenden, nur für diese Stelle etwas zu kräftigen Epitheton belegt hat (Romanzero 1851, S. 234; Iehuda ben Halevy III, 8), Aristoteles, war aus dem Nebel halben Vergessens wieder in voller Gestalt hervorgetreten, und hatte seinen eigenen Platz in Anspruch genommen vor jenen Schriftstellern, die doch meist nur seine Excerptoren gewesen waren. Wir wissen, dass dieser Umschwung seit der Mitte des 12 Jahrhunderts allmählig eingetreten war, dass er durch Friedrich II. in bedeutsamer Weise gefördert ward, und dass er im Laufe des 13. und der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts zum Abschluss gelangte. Schon ein Pariser Statut von 1215, das freilich nur kurze Zeit als Programm der Opposition in Geltung blieb, weist dem Aristoteles ein ziemlich weites Terrain an; als seit der Mitte des 14. Jahrhunderts unsere deutschen Universitäten gegründet wurden, war der Process schon entschieden, damals stand Aristoteles bereits als Alleinherrscher da. Wie sehr, das beweist ein Blick auf das schon genannte Vorlesungsverzeichniss. Von den 24 Vorlesungen, die zur Erlangung des Magistergrades obligatorisch waren, bestanden 15 in Erklärung einzelner Werke des Aristoteles, und von den sämmtlichen auf uns gekommenen Schriften dieses kann ich nur die wenigen über die Thiere (περὶ τὰ ζῶα etc.) nicht mit Sicherheit in unserm Kursus nachweisen. Wenn also unsere würdigen Vorgänger im Jahre 1409 das Trivium und Quadrivium in ihrem Siegel zur Darstellung brachten, so übersahen sie, dass sie einen wichtigen, damals schon den wichtigsten Theil ihres Wissens und Lehrens nicht mit zum Ausdruck brachten. Ihr Lehrinhalt war nicht mehr ein zweigliedriger, er war ein dreigliedriger geworden, und diese drei Glieder hiessen: Trivium, Quadrivium und Aristoteles. Es war an die Stelle einer artistischen Fakultät in der That bereits eine philosophische getreten, und es ist nur merkwürdig, dass sie damals nicht auch diesen Namen schon führte. Aber noch immer hiess sie Facultas artium, wie die alte Pariser, und der Name der philosophischen trat wenigstens bei uns erst ein, als jenes Uebergewicht der Philosophie bereits wesentlich wieder abgeminaliquis liber in rethorica. In den Libri ad gradum magisterii erscheinen nur statt der logica Hesbri die ,rethoricorum Aristotelis‘.

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Antrittsrede 1881

dert war. Zum ersten Male finde ich den ,Namen Collegium philosophicum‘ im Jahre 1550, aber noch bis ins 17. Jahrhundert hinein nicht selten den althergebrachten. Freilich mag die Sprache des täglichen Lebens der offiziellen vorausgeeilt sein. So war der Lehrstoff mächtig gewachsen. Aber die Auffassung, dass er eine Einheit ausmache, dass er in seiner Totalität den geistigen Inhalt des wissenschaftlich gebildeten Mannes abzugeben habe, diese Auffassung war noch immer lebendig. Sie dokumentirte sich am schlagendsten durch eine Bestimmung, die uns heute unglaublich erscheint: jeder Lehrende innerhalb der Fakultät musste jede der vorgeschriebenen 24 Vorlesungen ihres Kursus zu halten im Stande sein. Die Vorlesungen wurden halbjährlich, zu Zeiten durch das Loos, zu Zeiten durch Wahl, unter die Mitglieder der Fakultät vertheilt. Das waren die Lectiones volventes, die „walzenden“ Vorlesungen, die nach kurzen Uebergangsstadien erst im Jahre 1557 aufgehoben worden sind. Wie sah es nun mit der in dem neuen Kursus gebotenen wissenschaftlichen Bildung aus? Sie trug einen überaus merkwürdigen Charakter. In der Dialektik hatte der Meister der formalen Logik seinen Einzug in den Kursus der septem artes gehalten, seine logischen und dialektischen Schriften waren und blieben es auch, die den massgebendsten Einfluss auf die Geister gewannen. So haben die Fragen der formalen Logik ein paar Jahrhunderte hindurch in dem Vordergrunde des geistigen Interesses gestanden. Während wir heute wohl geneigt sind, die Logik mit den bekannten Worten des Mephistopheles von uns abzuhalten, waren die Köpfe damals ganz und gar angefüllt mit logischen Kategorien. Die mannigfaltigen Arten des Urtheils, die verschiedenen Schlussfolgerungen waren die Parole, und der Scharfsinn suchte sich auf diesem Gebiete in tausend und abertausend neuen Feinheiten und Spitzfindigkeiten zu üben. In Wirklichkeit verliess man die Geleise des Meisters, indem man ihn zu überbieten suchte, und bis zu krankhafter Verirrung steigerte sich jenes Bemühen durch die solennen Disputationen auf den Universitäten. Die Artistenfakultät ward zur Arena, die Lehrer wie die Studirenden zu kampfgeschulten Gladiatoren. Kaum dürfte sich in der Geschichte des Denkens ein grösserer Unterschied auffinden lassen, als wenn wir den geistigen Inhalt eines damaligen Kopfes vergleichen wollten mit dem eines heutigen. Da der Lebende bekanntlich stets Recht hat, so fühlen wir uns heute zu einem vornehmen Lächeln über jene Wendung des geistigen Interesses berechtigt, die uns werthlos und unfruchtbar erscheint. Würden wir aber einen Repräsentanten jener Zeit leibhaftig unter uns zu citiren vermögen, er würde vor uns keineswegs die Waffe ins Korn werfen. Unsere Eisenbahnen und Telegraphen würden ihm imponiren, unsere Geistesbildung wenig. Schon dass wir wissenschaftliche Gegenstände nicht mehr in der vornehmen, exclusiven Sprache der Gelehrten verhandeln, würde seine Achtung herabstimmen. Was uns wissenschaftlich beschäftigt, die korrekte Feststellung des Thatsächlichen in Natur und Geschichte, das würde er für Bagatelle erklären; dass aber nicht mehr ein Jeder von uns im Stande ist über die Vorgänge seines Denkens und Schliessens Rechenschaft zu ertheilen, und über alle logischen Finessen Auskunft zu geben, einen eleganten Schluss zu konstruiren, mit Gewandtheit dem Gegner ein Bein zu 317

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stellen, und selber mit kunstvollem Geschick sich aus der Schlinge zu ziehen, das würde ihn mit voller Verachtung für eine so bedauernswerthe Degeneration seiner Nachkommen erfüllen. Eine Opposition gegen diese Richtung hat sich allerdings schon früh, fast von Anfang an, geltend gemacht, und der Geist des klassischen Alterthums war es, auf den sie sich stützte. In Frankreich trat der Gegensatz schon in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts hervor: Orleans, die Universität der „Autoren“, galt als die berufene Gegnerin des aristotelisirenden Paris. In Italien haben dann die Humanisten von allem Anfang an das Ueberwiegen der logischen Disciplinen und die Art ihrer Behandlung angefochten, desgleichen die deutschen. Aber lange machte die Scholastik, im sichern Besitze der Katheder, den Angriffen gegenüber einfach die Augen zu, auch hier in Leipzig, wo im Beginn des 16. Jahrhunderts der Kampf erbittert herüber und hinüber wogte, bis die Einführung der Reformation die alte Richtung aus dem Sattel hob, die freilich in manchen Symptomen noch bis in die letzten Decennien bei uns fühlbar geblieben ist. Wir überspringen die Schwankungen der Uebergangszeit. Mit der Reorganisation unserer Universität im Jahre 1557 treten wir definitiv in die neue Zeit ein. Damals wurden, wie angegeben, die walzenden Lektionen definitiv abgeschafft, indem bestimmt wurde, dass der einmal ertheilte Lehrauftrag nur aus besonderen Gründen zurückgezogen werden dürfe. Es wurden 9 solcher Lehraufträge festgesetzt: das sind jene 9 Professuren alter Stiftung, die die meisten von uns noch gekannt haben. Zunächst freilich hatte die neue Einrichtung eine höchst unerwartete Folge. Da in der Universität volle Freiheit waltete, sich aus der Artistenfakultät in eine der obern hinüber zu habilitiren, so kam dies auch bei solchen Männern vor, die von der philosophischen Fakultät mit Lehrauftrag betraut waren, die mit andern Worten eine philosophische Professur inne hatten. Vergebens lamentirte die Fakultät hinter diesen Auszüglern her, die sich mit einem so werthvollen Packen Fakultätseigenthum über die Grenze gemacht hatten. Auf eine energische Klage erforderte der Churfürst im Jahre 1615 Bericht von den obern Fakultäten, aber der geheimräthlichen Weisheit dieser gelang es, die doch so sonnenklare Beschwerde der Artisten zu eludiren. So konnte es also vorkommen, dass der philosophische Kursus in seinen Vertretern durch sämmtliche 4 Fakultäten vertheilt war. Auch Reverse halfen nicht. Noch zur Zeit als Goethe bei uns studierte war z. B. der Professor der Eloquenz (Ernesti) Mitglied der theologischen Fakultät. Noch ein anderer Umstand ist in Betreff der nunmehrigen Gestaltung des Kursus zu erwähnen. Nicht immer war jeder Lehrauftrag einem besonderen Gelehrten zuertheilt. Man legte auch wohl zwei zusammen. Der doppelt Betraute pflegte dann wohl die eine Professur für die Hälfte des festgesetzten Gehaltes zu vertreten, was der Fakultätssäckel, aus dem die Besoldungen flossen, höchst angenehm verspürte. So entsprach keineswegs immer die Zahl der Professoren der Zahl der Professuren. Doch sehen wir von diesen Aeusserlichkeiten ab und wenden wir uns zum Kursus selber. Wie verhalten sich die nunmehr gegründeten 9 Lehraufträge zu jener früheren Dreitheilung, die wir als Trivium, Quadrivium und Aristoteles unterschieden? 318

Antrittsrede 1881

Das Trivium sehen wir in voller Ausrüstung. Je eine Professur der Grammatik, der Dialektik und der Rhetorik ist ihm gewidmet4. Um so stiefmütterlicher finden wir das alte Quadrivium behandelt. Die Musik ist ganz in Wegfall gekommen, Astronomie und Arithmetik sind zusammengeworfen, das Quadrivium hat also nur noch 2 Professuren behalten. Für die Lehre des Aristoteles sind 3 Professuren bestimmt, eine für das Organon, eine für die Ethik und Politik, eine dritte für die Physik. Dazu kam, die Neunzahl erfüllend, eine Neuschöpfung aus dem humanistischen Lager, die Professur der Poesie, also der Anfang einer neuen, einer vierten Gruppe. Lassen Sie mich in kurzer Zusammenfassung dem weiteren Schicksale dieses Kursus folgen. Das Trivium blieb im Besitze seiner 3 Professuren, nur änderte die Professur der Rhetorik ihren Namen in den der Eloquenz, ebenso blieben die 3 Professuren des Aristoteles, obwohl sachlich der Meister allmählig mehr und mehr in den Hindergrund trat. Mit dem alten Quadrivium aber ging es immer mehr abwärts. Man begnügte sich bald für dasselbe mit nur einer Professur der Mathematik. Dagegen vermehrte sich die vierte Gruppe, die Gruppe der Neuschöpfungen, wenn auch nur um 3 Professuren. Im Jahre 1581 ward ein Lehrauftrag für Geschichte gegründet, der freilich meist mit einer andern Professur verbunden blieb; faktisch machte ihm, wenn auch nicht gleich anfangs, eine Professur des Quadriviums Platz; im Jahre 1808 ward eine Professur der historischen Hülfswissenschaften gestiftet, aus der später eine zweite Professur der Geschichte ward. Dafür wurde die Professur der Poesie als selbstständige wieder aufgegeben und mit der der Eloquenz verbunden. Im Jahre 1842 endlich ward die Professur der Nationalökonomie errichtet, und um für sie Raum zu gewinnen, eine Professur der Philosophie mit der der Mathematik combinirt. So war der letzte Rest des Quadriviums nicht einmal mehr durch einen eigenen Lehrer vertreten. Es sollte noch tragischer mit ihm auslaufen. Denn ehe noch die Gruppe der 9 alten Professuren definitiv aufgelöst ward (Ende 1868) hatte der Vertreter der combinirten zwei Professuren dem Lehrauftrage für die Mathematik entsagt (19. Dec. 1866, bestätigt 20. Dec. 1867), ohne dass dafür innerhalb der 9 alten Professuren ein Ersatz hätte geschaffen werden können, so dass das früher so stolz gebietende Quadrivium nunmehr im Kreise des alten Kursus völlig verschwunden war. Bei der Auflösung dieses im Jahre 1868 bestand also derselbe seiner geschichtlichen Entstehung nach wieder nur aus 3 Gruppen, jede zu 3 Professuren. Aus den 3 Professuren des Trivium waren geworden 2 Professuren der Philologie und eine der Philosophie, als die 3 alten Aristotelesprofessuren erschienen jetzt eine zweite Professur der Philosophie, die der Staatswissenschaften und die der Physik. Den Neuschöpfungen gehörten an die 2 Professuren der Geschichte und die der Nationalökonomie. Man sieht, dem Namen nach hatten sich alle Professuren verschoben – und im Laufe der Zeit noch mannigfaltiger, als diese 4

Eigentlich war der Verlauf dieser: Es gab anfangs eine eigene Professur utriusque linguae, die mit der des Organon verknüpft war, da ihr erster Träger Camerarius beides zu vertreten im Stande war, die Professur der lateinischen und griechischen Grammatik bestand daneben (zuweilen unter 2 Lehrer getheilt). Später wurde nach Reorganisation der Gymnasien die letztere, die es mehr mit den Anfangsgründen zu thun gehabt hatte, aufgehoben. So trat die Professur utriusque linguae nachdem sie von der des Organon getrennt war, nicht eigentlich formell, aber doch faktisch an ihre Stelle.

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kurze Darlegung ergeben konnte –, nur nicht die der Physik, diese freilich wohl um so mehr ihrem innern Gehalte nach5. Aber als im Jahre 1868 die letzte Sonderstellung jener Professuren des alten Kursus aufgehoben ward, waren sie schon lange nicht mehr die einzigen Vertreter der philosophischen Fakultät6. Schon im 16. Jahrhundert fing man an, auch ausserordentliche Lehraufträge zu ertheilen, z. B. in Betreff des Hebräischen, woraus dann im Laufe der Zeit die s. g. ausserordentlichen Professuren geworden sind. Seitdem die Regierung auf die Universität eine eingreifendere Einwirkung ausübte, erlaubte sie sich auch, neue Professuren zu creiren, die aber nicht der eigentlichen Fakultät zugezählt wurden und nicht über die Lebensdauer ihres Inhabers hinaus gesichert waren. Zu Goethe’s Studienzeit gab es zwei solche Ordinariate neuer Stiftung (eins der Philosophie, eins der Oekonomie), und daneben 11 ausserordentliche Professuren. Als 1868 der Begriff jener alten Professuren erlosch, existirten bereits 15 Ordinariate neuer Stiftung. Dürften wir den alten Gegensatz bis auf heute fort5

6

Am 2. December 1868 theilte Wuttke der Fakultät mit, dass durch eine ihm gewährte Entschädigung der letzte Rest der Vorrechte der alten Professuren getilgt sei. Die nachstehende Tabelle über einzelne herausgegriffene Jahre mag ein ungefähres Bild der Entwicklung der Professuren alter Stiftung geben: 1558

1610

I. Trivium.

1768

1830

(Deutsch, im Adresskalender.)

1868 (Letzte Vertreter.)

1. Grammatik.

1. Utriusque linguae.

1. Lat. u. Griech.

1. Griech. und Römisch.

2. Dialektik.

2. Dialectica.

2. Vernunftlehre.

2. Philosophie.

3. Rhetorik.

3. Oratoria.

3. Eloquenz.

3. Dichtkunst u. Beredtsamkeit.

1) 1. Prof. s. class. Philologie (G. Curtius). 2) 1. Prof. d. Philosophie [u. Mathematik, 1842–67] (Drobisch). 3) 2. Prof. d. class. Philologie (Klotz).

Mathematum.

Mathematik.

Mathematik.

(Vacat, s. o. I, 2.)

1. Dialektik (Organon) u. utriusque linguae.

1. Organi Aristotelici.

1. Metaphysik.

1. Theoretische Philosophie.

1) 2. Prof. d. Philosophie (Weisse †).

2. Ethik u. Politik. 3. Physik.

2. Philos. practica.

2. Moral u. Politik.

2. Prakt. Philosophie u. Politik.

2) Staatswissenschaften (Ahrens).

3. Physiologia.

3. Naturlehre.

3. Physik.

3) Physik (Hankel).

II. Quadrivium. 1. Mathematik. 2. Arithmetik u. Astronomie. III. Aristoteles.

320

Antrittsrede 1881

setzen, so wäre ihre Zahl jetzt auf 27 gestiegen, hätte also die Vertretung des alten Kursus um das Dreifache überflügelt, denn wir haben zur Zeit in unserer Fakultät 36 ordentliche Professuren, dazu noch 10 ordentliche Honorarprofessuren und 22 Extraordinariate. Auffallend ist, dass die Naturwissenschaften erst so spät eine umfassendere Vertretung erlangt haben. Man hätte glauben dürfen, dass die Schriften des Aristoteles, den man ja auch den Begründer der Naturwissenschaften genannt hat, ihnen früher Zugang verschaffen würden. Aber es blieb Jahrhunderte lang eintönig bei der Professur der Physik, die auch wohl die der Physiologie oder der Naturlehre betitelt ward. Erst 1775 ward ein Extraordinariat für Naturgeschichte, d. h. für die drei Naturreiche, geschaffen. Hieraus ward später ein Ordinariat neuer Stiftung, und erst nach 1830 haben sich hieraus allmählig die selbstständigen Professuren der Mineralogie, Botanik und Zoologie entwickelt. Bald trat dann auch eine, später zwei Professuren der Chemie und eine, später ebenfalls zwei, der Astronomie (als Extraordinariat bereits 1809) hinzu. Alles natürlich Professuren neuer Stiftung. Doch wir haben uns durch dies Eingehen auf Einzelheiten bereits zu weit von unserm Thema entfernen lassen. Kehren wir zu ihm zurück. Wie steht es gegenwärtig um die Einheit der Fakultät? In dem alten Sinne existirt sie offenbar nicht mehr. Niemand wird noch den Inhalt sämmtlicher in ihr gelehrter Fächer für die Voraussetzung wissenschaftlicher Bildung erklären wollen, wie Niemand mehr an die Forderung denkt, dass jede in der philosophischen Fakultät angekündigte Vorlesung noch von jedem Mitgliede derselben müsse gehalten werden können. Wann und wie ist nun eine Verschiebung in der Auffassung des Zweckes eingetreten? Im Jahre 1557, das wir oben als ein Epochenjahr behandeln mussten, war sie es noch nicht. Was damals geboten wurde, ward noch als Wissensinhalt des wissenschaftlich Gebildeten verlangt. Jene Verschiebung ist auch überhaupt nicht durch einen erkennbaren Akt innerhalb der Fakultät vor sich gegangen. Sie vollzog sich allmählig und die bewegende Ursache lag ausserhalb der Fakultät. Sie beruhte in der Ausbildung der Gymnasien. In frühern Zeiten hatte die philosophische Fakultät einen wesentlichen Theil dessen, was heute das Gymnasium bietet, mit vertreten; kaum 1558

1610

1768

1830

1868

IV. Neuschöpfungen. Poetik.

1. Poetica.

1. Poesie.

Vacat (s. o. I, 3).

2. Historiarum (seit 1579/81).

2. Geschichte.

1. Geschichte.

1) Geschichte (G. Voigt).

2. Histor. Hülfswissenschaften (seit 1808).

2) Historische Hülfswissenschaften (Wuttke), dann seit 1876 2. Prof. der Geschichte 3) Nationalökonomie, praktische Staats- und Cameralwissenschaften, seit 1842. (Roscher).

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der Baccalaureus konnte sich mit einem guten Gymnasialabiturienten von heute vergleichen. Als nun die Gymnasien emporblühten, da übertrug sich seit dem Beginne des 17. Jahrhunderts die Forderung der wissenschaftlichen Vorbildung der Hauptsache nach auf sie; die Artistenfakultät konnte allmählig beginnen, sich dieses Zweckes zu entschlagen und an seine Stelle einen anderen zu setzen. An die Stelle der wissenschaftlichen Bildung trat nun der Begriff der wissenschaftlichen Forschung. Aber welcher Forschung? Denn wissenschaftliche Forschung macht ja den Inhalt auch der andern Fakultäten aus. Hier nun zeigt sich, wie ein richtiges Taktgefühl die alten Ziele hinein erhalten hat in die neue Zeit. Was den Inhalt der philosophischen Fakultät ausmacht, ist auch heute noch diejenige Forschung, die im Dienste des höchsten Erkenntnissstrebens des menschlichen Geistes steht, die es nicht zu thun hat mit einem auf die menschlichen Verhältnisse gerichteten praktischen Zwecke, die vielmehr einzig und allein das Wesen der Dinge, wie es sich in Natur und Geschichte offenbart, zu ergründen bemüht ist. Damit war die alte encyclopädische Umgränzung definitiv aufgegeben, und bis zu höchster Mannigfaltigkeit hat sich nun im Dienste jener Forschung Disciplin neben Disciplin entwickelt, aber jener ideale Zweck hielt sie immer zu einer idealen Einheit zusammen. Stets erhielt sich das Gefühl rege, dass die Disciplinen der philosophischen Fakultät immer noch die Dienerinnen jener hehren Göttin der Philologie im Sinne des Marcianus Capella seien. Freilich haben sich nun im Laufe der letzten Decennien einige hochachtbare Elemente in die Fakultät gemischt, die gleich den oberen Fakultäten den Bedürfnissen der menschlichen Existenz und des menschlichen Zusammenlebens zu dienen beflissen sind. Sie sind gastlich bei uns aufgenommen worden, da ihnen ein eigenes Heim innerhalb der Universität noch nicht gegründet war, und ihre Vertreter gereichten und gereichen unserer Fakultät zu hoher Zierde. Aber wenn einmal beschlossen werden sollte, woran doch schon gedacht worden ist, auch den praktischen und technischen Fächern, deren wissenschaftliche Ausbildung unsere Bewunderung erregt, in grösserem Umfange einen Platz an den Universitäten zu gewähren, dann werden sie, wie es sich gebührt, gemeinsam eine eigene Gruppe bilden, eine fünfte Fakultät, und, wenn auch ungerne, wird dann die philosophische Fakultät liebgewordene Freunde wieder aus ihrer Mitte entlassen müssen. Dann erst wird das umfassendste encyclopädische System, das des Isidor, vollständig hergestellt sein, welches zuerst die septem artes, dann die Theologie, Jurisprudenz und Medicin, und darauf die ganze Masse der praktischen und technischen Gebiete behandelte. Die Frage einer fünften, einer technisch-realistischen Fakultät ist im Jahre 1836 bei uns lebhaft zur Sprache gekommen, als es sich um die Gründung einer Professur für technische Chemie handelte; es finden sich eingehende Gutachten bei den Akten, aber eine Einigung wurde nicht erzielt. Dagegen jener Gedanke, der auf einigen mittleren Universitäten Deutschlands zur Ausführung gekommen ist, die rein wissenschaftlichen Disciplinen der Fakultät in 2 Gruppen zu zerreissen, ist bei uns nie auch nur diskutirt worden. So lebendig ist bei uns stets das Gefühl für die Einheitlichkeit des uns gemeinsam gesteckten Zieles geblieben. Ich komme zum Schlusse. 322

Antrittsrede 1881

Wenn ich unserer Fakultät die stolze Aufgabe vindiciren durfte, die Dienerin des höchsten menschlichen Erkenntnisstriebes zu sein, so hoffe ich dem Missverständnisse nicht ausgesetzt zu sein, als solle damit ein Vorzug vor den Aufgaben der übrigen Fakultäten in Anspruch genommen werden. Von einer solchen hochmüthigen Bevorzugung einer Seite der menschlichen Thätigkeit vor anderen, die z. B. dem Griechen so ganz geläufig war, sind wir ja überhaupt allmählig mehr und mehr zurückgekommen. Der Werth einer Thätigkeit bestimmt sich nach ihrer Nothwendigkeit für das Gedeihen der Gattung, für die Entwickelung und Ausbildung des menschlichen Geschlechtes. Wir wissen heute selbst jenen klugen Ueberlegungen voll gerecht zu werden, die sich in den technischen Erfindungen oft so wunderbar dokumentiren, wie sollte man es wagen können, einen Vorzug der Aufgaben unserer Fakultät behaupten zu wollen vor denen ihrer Schwesterfakultäten, ohne deren weise Führung und scharfsinnige Forschung das Menschengeschlecht und das Menschengemüth den verderblichsten Störungen ausgesetzt sein würde? Stolz wollen vielmehr wir Vertreter aller Fakultäten darauf sein, dass wir gemeinsam einer jener grossen Körperschaften unsers Vaterlandes angehören, denen die Aufgabe gestellt ist, die höchsten Ergebnisse des gelehrten Denkens in sich darzustellen und sie einer für die Wissenschaft begeisterten und ihrer hohen Zukunftsaufgabe wohl bewussten Jugend treu zu überliefern. Mit diesem freudigen Gefühle gemeinsamer höchster Ziele lassen Sie uns auch heute eintreten in ein neues Jahr unseres Wirkens. Möge des Himmels reichster Segen auf ihm ruhen! ***

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31. October 1882. Rede des abtretenden Rectors Dr. ph. Friedrich Zarncke. Bericht über das Studienjahr 1881/82. Hochverehrte Anwesende! Es ist ein stilles und ruhig verlaufenes Jahr, über welches ich heute beim Scheiden aus meinem Amte vor Ihnen berichten soll, und gering nur ist die Zahl bedeutenderer Vorkommnisse, die ich zu erwähnen haben werde. Aber es würde eine sehr irrige Folgerung sein, wollten wir hieraus die Empfindung entnehmen, als sei das vergangene Jahr für unsere Universität ein Jahr geringerer Blüthe gewesen. Das Gegentheil ist der Fall. Der Ausbau unserer Universität zu einer Deutschen Hochschule ersten Ranges, wie ihn seit einer Reihe von Jahren die Munificenz des Cultusministeriums unter voller Zustimmung der Fürsten wie der Stände unseres Landes ins Auge gefasst hatte, darf in der Hauptsache als abgeschlossen angesehen werden. So lange jenes Ziel noch nicht erreicht war, da hatten unsere Rectoren freilich jährlich Viel zu berichten von dem Zuwachs, den unsere Universität von Neuem erworben, von der Vermehrung ihrer Professuren, ihrer Lehrmittel, ihrer Institute. Seit das Ziel erreicht worden, ist ein ruhiger Bestand ohne grosse Aenderungen das Erwünschteste, was uns zu begegnen vermag. Denn die Wissenschaft bedarf der Ruhe, sie gedeiht nicht im Wechsel und Schwanken. Und so dürfen wir denn doppelt sicher sein, gerade weil das letzte Jahr ein stilles gewesen ist, dass es der Keime und Anregungen viele wird ausgestreut haben, die sich früher oder später, so Gott will, zu reifer Frucht entwickelt, zeigen werden. In jenem Zukunftsprogramm, dessen ich erwähnte, nahmen die medicinischen Anstalten und die an sie sich anschliessenden naturwissenschaftlichen eine besonders bedeutende Stelle ein. Fast Jahr für Jahr haben wir neue mächtige Bauten entstehen sehen, und nahezu ist ein eigener academischer Stadttheil, ein medicinisches Viertel, aus der Erde gewachsen. Den Abschluss des hierbei erstrebten Systems haben wir in diesem Jahre geschaut, indem am 2. Mai die letzte der geplanten Anstalten, die Irrenklinik, in Gegenwart des Herrn Cultusministers und eines zahlreichen auserlesenen Zuhörerkreises durch den kurz vorher zum Director ernannten Professor Dr. Paul Flechsig eröffnet wurde. – Auf eine weitere Bereicherung in der Vertretung der medicinischen Disciplinen ward eine Aussicht eröffnet durch ein Legat von 15 000 M., das der verstorbene Dr. Fried. Adolf Huth als Beihülfe zur Errichtung eines Lehrstuhles für Zahnheilkunde gestiftet hat. Die juristische Facultät vollzog am gestrigen Tage, auch sie geehrt durch die Gegenwart des Herrn Cultusministers, die feierliche Einweihung ihrer neuen, glänzenden Räume, jenes Doppelpalastes, der seine mächtigen Fronten nach zwei Strassen wendet. Es ist dies neue Collegium Juridicum nicht nur ein Beweis von der 324

Jahresbericht 1881/82

blühenden Lage der genannten Facultät und ihrer Mittel, sondern es bedeutet auch eine Bereicherung der juristischen Studien, für deren Jünger durch Seminarräume und Arbeitszimmer fortan auf das Willkommenste gesorgt sein wird. Die philosophische Facultät, die schon seit langen Jahren durch eine reiche Fülle der mannigfaltigsten Professuren sich vor ihren Schwestern im Deutschen Reiche hervorgethan, hat ebenfalls eine bedeutsame neue Einrichtung zu verzeichnen, ich meine die Anlegung von Bibliotheks- und Arbeitsräumen für die Mitglieder des classischen und des deutschen Seminars. In diesen schönen, hellgelegenen, im Winter wohl erwärmten und erleuchteten Sälen hat nun der Studierende, der selber wissenschaftlich zu arbeiten lernen will, ein trauliches Heim gefunden, das in der Hauptsache ihm wohl Alles gewährt, was ihn in seinem Bestreben zu fördern vermag. Auch verdanken wir einer freigebigen ausserordentlichen Unterstützung des Königl. Ministeriums, dass der Bestand der academischen Lesehalle, die allen Studierenden zu Gute kommt, definitiv gesichert zu sein scheint. Eine erwünschte und dankbar begrüsste Bereicherung unserer Lehrmittel erwuchs uns von einer nicht zur Universität gehörenden Stelle, indem der Director der hiesigen Kunstacademie, Herr Hofrath Nieper, sich erbot, den Studierenden der Universität Unterweisung in Schattenlehre, Perspective, Freihandzeichnen und Malen zu ertheilen, und so einen Verkehr zwischen der Kunstacademie und der Universität wieder ins Leben zu rufen, der zu den Zeiten des unvergessenen Adam Friedrich Oeser so lebhaft geblüht hatte. Gern ist der academische Senat darauf eingegangen, mit Genehmung des Königl. Ministeriums die so entgegenkommend angebotenen Lectionen in das Verzeichniss unserer Vorlesungen aufzunehmen. Eine Erweiterung des Einflusses unserer Hochschule darf ich es auch wohl nennen, dass seit dem letzten Jahre zwischen den deutschen Universitäten und den französischen Academien ein vollkommener Austausch ihrer gelehrten Arbeiten hergestellt worden ist. Die Jahressumme unserer academischen Schriften, Programme, Dissertationen, Verzeichnisse wird in einfach geregelter Weise am 1. October über Paris an die siebzehn französischen Facultäten eingesandt, während wir dagegen am 1. November die Schriften sämmtlicher französischen Facultäten von dort zugesandt erhalten. So werden fortan beide Nationen eine vollständige Uebersicht über die gelehrte Bewegung an ihren höchsten Bildungsanstalten zu gewinnen im Stande sein. Möchten sie doch auf diesem Felde edelsten Wetteifers um den Sieg ringen und des politischen Haders vergessen. Zu der Vermehrung der Studienmittel rechne ich auch die für das leibliche Wohl unserer Studierenden neu gegründeten Beneficien. In dieser Beziehung habe ich nicht weniger als meine Herren Vorgänger Erfreuliches zu berichten. Der bereits genannte Dr. F. A. Huth vermachte ein Capital von 12 000 M. zur Errichtung zweier Stipendien. Ehre dafür und Dank seinem Andenken. Besonders rührend aber ist die Stiftung einer Mutter, die ihren einzigen Sohn in der Blüthe seiner Jahre als Student unserer Hochschule verloren hat. Um das Gefühl des Glücks, das ihr einst seine Geburt gewährte und das die jährliche Wiederkehr jenes Tages erneute, gewissermassen dauernd zu machen, hat sie bestimmt, dass alljährlich am Geburtstage ihres Kindes die Zinsen eines Capitals von 15 000 M. an einen würdigen und 325

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bedürftigen Studierenden verliehen werden sollen. So ist die Richard-GaudlitzStiftung entstanden, und so wird in sinniger Weise jener Tag für alle Zeiten zu einem Freudentage für ein Mitglied unserer Universität werden, und der Name des Geschiedenen an der Stelle, wo seine sterbliche Hülle so früh dahin sank, in dankbarer Erinnerung fortleben. Auch die schöne Einrichtung unserer Universität, Studierenden freie Speisung zu gewähren, hat willkommenen Zuwachs erfahren. Herr Fr. Joh. Robisch in Döbeln stiftete eine vollständige Convictstelle, und die s. g. Privatfreitische, die zum grössten Theil durch freiwillige Beiträge seitens der Mitglieder und Freunde der Universität erhalten werden, empfingen wesentliche Förderung, besonders auch in diesem Jahre wieder durch das nicht ermüdende Wohlwollen des hessischen Hülfsvereins und seines Vorsitzenden, des Herrn Philipp Batz. Allen diesen, die unserer studierenden Jugend so gütig gedacht, spreche ich im Namen unserer Hochschule den herzlichsten Dank aus. Dankbar sei auch noch eines schönen Geschenkes gedacht, das uns in den letzten Tagen geworden ist. Es wird Ihnen jenes bedeutende Vermächtniss wohl noch unvergessen sein, welches vor einigen Jahren Herr Dr. von Römer den botanischen Instituten zugewandt hat. Dieser Tage ist eben diesen von einer Seite, die nicht näher bezeichnet sein will, ein vorzüglich ausgeführtes Portrait jenes verdienten Mannes übergeben worden, das nun auch sein Bild gegenwärtig erhalten wird in den Räumen, die ihm so viel verdanken. Wende ich mich jetzt zu dem Lehrkörper unserer Universität, so sind grosse Veränderungen in demselben nicht zu verzeichnen. Durch Berufung von auswärts brauchte derselbe nicht vermehrt zu werden, auch im Innern haben nur wenige Verschiebungen stattgefunden. Eine besondere Freude für Viele ist es gewesen, dass ein um die musikalische Leitung unseres Gottesdienstes und unserer Feste und um die musikalische Ausbildung unserer Studierenden hochverdienter Mann, unser Dr. Langer, zum Professor ernannt wurde. Es war mir vergönnt, diese Ernennung bei Gelegenheit des 60jährigen Jubiläums unseres Universitätssängervereins zu St. Pauli verkünden zu können, und ich werde des Jubels nicht vergessen, den diese ihrem verehrten Director gewährte Auszeichnung im Kreise seiner Schüler und Freunde hervorrief. – Der a. o. Professor der ostasiatischen Sprachen, Dr. Hans Georg Conon von der Gabelentz, der diesem fernen Wissensgebiete schnell an unserer Universität eine Stätte zu bereiten verstanden hat, ward in Anerkennung dieses Verdienstes zum ordentlichen Honorarprofessor ernannt, der Privatdocent Dr. Anton Edzardi zum ausserordentlichen Professor. Leider sollte er sich dieser Auszeichnung nur wenige Tage erfreuen. Wir empfehlen auch für ferner die jugendliche Schaar aufstrebender Gelehrter, die an unserer Universität ihre academische Laufbahn begonnen haben, dem so oft bewährten Wohlwollen des Königlichen Ministeriums, welches mit uns in der Ansicht übereinstimmt, dass auch dem gelehrten Nachwuchse, der Reserve gewissermaassen unserer deutschen academischen Armee, zu Zeiten eine Aufmunterung nöthig ist, wenn sie die Freudigkeit des Schaffens und jene Elasticität behalten soll, die von ihr verlangt werden muss, wenn nun später einmal sie selber in die erste Linie einrücken soll. 326

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Wie viel Tüchtigkeit in diesen unsern jugendlichen Lehrkräften vorhanden, und wie gross die Anerkennung ist, die ihnen und damit unserer Universität als ihrer Pflegstätte gezollt wird, das beweisen auch in diesem Jahre eine Anzahl ehrenvoller Berufungen, die aus jenem Kreise nach auswärts erfolgt sind. So verliessen uns die Privatdocenten des römischen Rechtes, Dr. Otto Lenel, um einem Rufe als ordentlicher Professor an die Universität Kiel, Dr. Rud. Stammler, um einem solchen als a. o. Professor an die Universität Marburg zu folgen, ferner der Privatdocent der ostasiatischen Sprachen, Dr. Wilhelm Grube, um als Conservator des asiatischen Museums bei der Academie in St. Petersburg einzutreten. An unserer Universitätsbibliothek, deren Bedeutung für unsere Studien, seit sie sich eines namhaften Jahreszuschusses erfreut, in mächtigem Wachsen begriffen ist, wurde der um alle Hülfesuchenden so verdiente erste Bibliothekar, Dr. Joseph Förstemann, zum zweiten Oberbibliothekar, und der bisherige erste Custos, Dr. Bruno Stübel, zum Bibliothekar ernannt. Zu unserer Freude ist die Zahl derer, welche unsere Universität zum Ausgangspunkte ihrer academischen Wirksamkeit gewählt haben, auch im letzten Jahre eine nicht geringe gewesen. In der theologischen Facultät habilitirte sich der Lic. d. Theol., Dr. phil. Friedr. Loofs, in der medicinischen die Doctoren Max von Frey, Ernst Lesser, Richard Altmann, Albert Landerer und Emil Kraepelin, in der philosophischen Dr. Walter Dyck für Mathematik, Dr. Paul Harzer für angewandte Mathematik, besonders Astronomie, die Doctoren Hermann Ambronn und Alfred Fischer, beide für Botanik, Dr. Rich. Schubert Ritter von Soldern für Philosophie, und Arthur Hantzsch für Chemie. Zum geistigen Leben einer Universität und zu den Pflichten der academischen Lehrer gehören auch die Promotionen, durch welche die hervorragenderen unter den Studierenden sich ein Zeugniss ihrer besonderen Tüchtigkeit zu erwerben suchen. Die Promotionen sind an einer so stark besuchten Universität, wie die unserige es ist, oft eine schwerdrückende Last für die betreffenden Lehrer, zumal in der philosophischen Facultät, in der sie überdies am meisten begehrt zu werden pflegen, und nur die Auffassung, dass es sich hier in erster Linie um eine Pflicht gegen die deutsche Jugend handle, der wir uns nicht entziehen dürfen, kann die Bürde auf die Dauer erträglich erscheinen lassen. Die Ziffern der in diesem Jahre vorgekommenen Promotionen sind die folgenden. In der theologischen Facultät fanden 5 statt, 4 zum Dr. theol., darunter 2 honoris causa, und eine zum Licentiaten der Theologie; in der juristischen 46 zum Dr. jur. utriusque, darunter 2 Ehrenpromotionen; in der medicinischen 87, darunter eine Ehrenpromotion, 81 von approbirten Ärzten und 5 von nichtdeutschen Studenten der Medicin; in der philosophischen 95, darunter keine Ehrenpromotion. Nach diesem Blick auf das wissenschaftliche Leben an unserer Universität gehe ich über zu den einzelnen Ereignissen, die sich während der Dauer meines Amtes zugetragen haben. Da erwähne ich an erster Stelle in freudiger Rückerinnerung, dass auch in diesem Jahre Se. Majestät unser König die Universität mit seinem Besuche beehrt hat. Es waren die Tage des 1. u. 2. Februar, die von Seiten des erlauchten Fürsten durchaus 327

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unserer Hochschule und ihren Anstalten gewidmet wurden. Innig beglückt es mich, auch an dieser Stelle die Worte Sr. Majestät wiederholen zu können, dass er mit Allem, was er bei uns gesehen und gehört habe, auf das Beste zufrieden gewesen sei, und dass ich dies meinen Collegen ausdrücklich aussprechen möge. Unserem Danke für die Königliche Huld wusste unser Herr Prorector bei der Feier des Königlichen Geburtstages am 23. April beredten Ausdruck zu geben. Am 6. November begrüsste ich im Auftrage der philosophischen Facultät der Universität Halle Herrn Hofrath Dr. Marbach, um ihm das Jubeldiplom seiner vor 50 Jahren in Halle erfolgten Promotion nachträglich zu überreichen. Der Tag der Promotion war in die Ferien gefallen und somit eine academische Feier desselben unmöglich gewesen. Am 2. April beging der Geh. Rath Dr. Radius das 60jährige Jubiläum seiner Promotion zum Dr. der Medicin. Hochgeehrt durch eine glänzende Auszeichnung seitens Sr. Majestät des Königs und getragen von allgemeinster Anerkennung, feierte der Jubilar den Tag mit uns in heiterstem Beisammensein und wir Alle mussten von Neuem die wunderbare Frische des Mannes anstaunen, der sich wie ein Jüngling unter uns bewegte, und an sich selber bewies, was seine Kunst vermocht habe und noch vermöge. In den Tagen des 1.–4. August betheiligte sich unsere Universität an dem 300jährigen Jubiläum der Alma Julia-Maximiliana in Würzburg, der die Collegen Zirkel und His unsere Glückwünsche überbrachten. Am 16. August war es dem Senior unserer Universität und der philosophischen Facultät, dem Geh. Rath Dr. Drobisch, vergönnt, seinen 80. Geburtstag in voller körperlicher und geistiger Frische zu erleben. Möge der verehrte Mann, dessen Büste einst unsere Aula zieren soll, noch lange unter uns wirksam sein, und möge uns die Freude beschieden werden, bald einen Tag begehen zu können, wie er kaum ein zweites Mal bei einem Lehrer unserer Universität vorgekommen sein dürfte, den Tag seiner 80jährigen Zugehörigkeit zu unserer Hochschule, in deren StudentenMatrikel er am 30. April 1804 eingetragen worden ist. Aber auch schmerzliche Tage hat mein Amtsjahr zu schauen gehabt. Der Anfang desselben freilich verlief in erfreulichster Weise. Schon war die Hälfte meines Rectorats dahin, schon hatte das Sommersemester begonnen, und noch hatte ich keinen Verlust zu verzeichnen gehabt: da trat der Todesengel auch an unsere Universität heran, und Opfer auf Opfer hat er seitdem gefordert. Am 20. April starb der a. o. Professor Tuiscon Ziller, der sich durch die Energie, mit welcher er die Consequenzen der Herbartschen Philosophie für die Praxis der Pädagogik zog, eine hervorragende Wirksamkeit und einen weithin geachteten Namen geschaffen hatte. Wenige Tage darauf, am 25. April, verschied der ord. Professor der physikalischen Astronomie, Joh. Carl Friedr. Zöllner. Zöllner ist lange Jahre hindurch eine der Hauptzierden unserer Universität gewesen, und Vielen unter uns ein lieber und anregender Genosse; seine glänzenden Arbeiten über die physischen Eigenschaften der Weltkörper sichern seinem Namen eine dauernde Stelle in der Geschichte der Wissenschaften, die er um eine neue vermehrt hat. Leider hatte eine Richtung seines 328

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Denkens, die ihn in den letzten Jahren gefangen nahm und sein Verhalten zu bestimmen besann, allmählig einen trüben Schatten auf seine Verdienste geworfen und ihn seinen Collegen und Freunden entfremdet. Die versöhnende Macht des Todes bethätigte sich aber auch hier. Zahlreich haben wir uns an seinem Sarge eingefunden und theilnehmend den erhebenden Worten gelauscht, in denen ein uns allen theurer College es verstand, den Eigenschaften und Handlungen des Heimgegangenen gerecht zu werden. Am 6. Juni raffte nach längerem Kränkeln ein dennoch unerwarteter Tod den a. o. Prof. Dr. Anton Edzardi in der Blüthe seiner Jahre dahin, wenige Tage nachdem ihm die Freude geworden war, von dem Königl. Ministerium zum a. o. Professor ernannt zu werden. Edzardi hatte sich durch eine ungemein rege litterarische Thätigkeit, durch Feinheit und Gewissenhaftigkeit der Forschung frühe einen geachteten Namen gemacht. Für unsere Universität hatte er noch die besondere Bedeutung, dass er das Studium der altnordischen Sprachen und Litteraturen an unserer Universität als Specialist zu erweitern und zu vertiefen bemüht war; mit gutem Erfolge, der nun freilich durch seinen Tod wieder in Frage gestellt ist. In der Nacht vom 21./22. Juli erlöste der Tod von längeren Leiden den a. o. Professor Dr. Herm. Höck, dessen reicher Begabung und Gelehrsamkeit es im Leben vielleicht nur an der rechten ernsten Concentration der Kräfte gefehlt hatte, um ihn Höheres erreichen zu lassen, als ihm leider wirklich zu Theil geworden ist. Am 16. September starb der a. o. Professor Dr. Otto Delitsch, innig betrauert von Allen, die ihm als Lehrer wie als Menschen näher getreten waren. Der Heimgegangene hatte an unserer Universität mit Eifer die geographischen Wissenschaften gepflegt, in denen er sich durch umfassende Kenntnisse, durch Exactheit und Zuverlässigkeit des Urtheils eine anerkannte Stellung verschafft hatte; eine Reihe dankbarer Schüler bekennt sich zu ihm und Vieles schuldet der geographische Unterricht in den Schulen unseres Landes seiner directen und indirecten Wirksamkeit. Damit treten wir ein in das neue Semester, und auch dieses schon, obwohl erst wenige Tage seit seinem Beginn verflossen sind, hat uns ein schmerzliches Ereigniss gebracht, das uns um so schmerzlicher berührt hat, als wir uns bei ihm vor ein Räthsel gestellt sehen, das ganz zu lösen vielleicht nicht gelingen wird. Am 20. October endete sein Leben der Privatdocent der juristischen Facultät, Dr. Heinrich Theodor Schwalbach, ein junger Gelehrter, reich ausgestattet mit den Gütern dieses Lebens, ausgezeichnet durch seltene und frühreife Begabung, die ihn schon in jungen Jahren und fast spielend erreichen liess, was Andern erst später und schwerer zu Theil zu werden pflegt. Nicht zum Richter berufen, stehen wir tiefergriffen vor den uns unverständlichen verworrenen Gedankengängen einer Menschenseele, und rufen dem Geschiedenen ein warmes „Ruhe sanft!“ nach in sein frühes Grab. Wir bleiben leider im Banne der eben erregten schmerzlichen Empfindung, wenn ich jetzt der aus der Zahl unserer Studierenden durch den Tod Ausgeschiedenen gedenke. Ein günstiges Geschick hat sichtlich über unsern jungen Freunden gewaltet, aus der Zahl von durchschnittlich 3300 sind nur 11 durch den Tod abgerufen worden, aber von diesen 11 sind nur 6 eines natürlichen Todes gestorben. Einer von ihnen ward im Duell erschossen und vier haben durch Selbstmord 329

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geendet. Geben wir uns der Hoffnung hin, dass dieses erschreckende Zahlenverhältniss nur ein unglücklicher Zufall, nicht aber das Symptom eines tiefer liegenden Übels sei. Noch habe ich aus dem Kreise unserer Universitätsverwandten den Tod eines früheren achtbaren Beamten zu erwähnen. Am 20. October starb der emeritirte Oberpedell Emil Seifart, dessen langjährige Dienste bei seinen Vorgesetzten wie bei seinen Amtsgenossen in freundlicher Erinnerung bleiben werden. Aber auch über den Kreis unserer Hochschule hinaus hat der Tod eines edlen Mannes uns in tiefbewegte Mitleidenschaft gezogen. Am 14. Januar starb der Staatsminister a. D. und Minister des Königl. Hauses, Freiherr Joh. Paul von Falkenstein, von 1853–1871 der Vorstand des Cultusministeriums. Unzweifelhaft ist er es, dem das Aufblühen unserer Universität an erster Stelle verdankt wird. Sein warmes, für die Wissenschaft glühend begeistertes Herz durchbrach zuerst die bureaukratischen Gewöhnungen in der Behandlung der Universitäts-Angelegenheiten, sein freier unbefangener Sinn verstand es, alle anderen Rücksichten schweigen zu heissen, wo es sich um Fragen der Wissenschaft handelte. So hat er Leipzig aus einer sächsischen zu einer deutschen Universität gemacht, und ein freudiges Echo hat ihm von allen Seiten unseres Vaterlandes geantwortet, dessen Jugend bald gerne zu uns eilte. Am 17. Januar begab sich der Rector mit den Decanen nach Dresden, um der feierlichen Einsegnung der Leiche in der Wohnung des Heimgegangenen beizuwohnen, und am 18. fanden wir in Frohburg Gelegenheit, am Sarge des Verewigten den Gefühlen des Dankes Ausdruck zu geben, die unsere Universität immerdar für ihn empfinden wird. Es war für Ihren Rector eine innige Genugthuung, in die Worte des allgemeinen Dankes die Empfindung des eigenen persönlichen legen zu können, zu dem er sich dem hochdenkenden Manne zeitlebens verpflichtet fühlen wird. Was der Freiherr von Falkenstein an unserer Hochschule ausgesäet hat, das ist zu schöner Blüthe entwickelt und weiter gepflegt worden unter seinem Nachfolger. Dieser, aus unseren eigenen Kreisen hervorgegangen, deren Zierde er einst war, hat die auch ihm ans Herz gewachsene Anstalt noch stolzer zu entwickeln gewusst, als selbst sein Vorgänger es zu planen vermochte. Dass wir dem verehrten Manne unsern Dank dafür heute Aug’ in Auge aussprechen können, ist eine besondere Freude, die uns an diesem Tage zu Theil geworden ist. Wie unverkürzt die Blüthe unserer Universität fortbesteht, das zeigt auch heute die Ziffer unserer Studierenden, wenn wir auch, wie das nie anders hat erwartet werden können, den Vorrang der Zahl wieder an die Hochschule unserer Reichshauptstadt haben abtreten müssen. Die Gesammtziffer der während meines Rectorates Immatriculirten betrug 1918, und zwar wurden davon 252 nachträglich im Anschluss an die Winterimmatriculation meines Herrn Vorgängers, 832 im Laufe des Sommersemesters und 834 zum Beginn des gegenwärtigen Wintersemesters, also während der letzten 14 Tage, aufgenommen. Die eigentliche Frequenz der rite Immatriculirten ergiebt sich durch folgende Rechnung. Während des Sommers betrug ihre Anzahl 3111, davon haben bis heute unsere Universität verlassen 686, neu immatriculirt wurden bis heute, wie angegeben, 834, also ist die Gesammtziffer am heutigen Tage 3259, oder 148 mehr 330

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als im Sommersemester, während im Vergleich zu der Frequenz heute vor einem Jahr die Zahl um ein Geringes, um 39, nachsteht. Auf die einzelnen Facultäten vertheilen sich die 834 neu Immatriculirten folgendermassen: Theologen 156, Juristen 276, Mediciner 151, Philosophen 251; leider ist es zur Zeit noch nicht möglich gewesen, die letztere Ziffer auf die einzelnen Hauptdisciplinen der philosophischen Facultät zu vertheilen. Wir freuen uns, dass die Jugend Deutschlands und des Auslandes in so grossen Schaaren unsere Universität zu ihrer Bildungsstätte erwählt, mehr aber noch freuen wir uns dessen, und Ihr Rector spricht dafür an dieser Stelle seine besondere Anerkennung und seinen Dank aus, dass der Geist, der unsere Studentenschaft beseelt, „immer noch“, wie einst ein scheidender College an dieser Stelle gesagt hat, „derselbe Geist der Ordnung und Ehrenhaftigkeit ist, der sie seit lange in hervorragender Weise auszeichnet, und der unsere Universität, wie wir hoffen, auch für die Zukunft zu einer Pflanzstätte der Bildung und Gesittung nicht minder als der Wissenschaft machen wird“. Hierauf gab der Rector Rechenschaft von dem Erfolg der ausgeschriebenen Preisarbeiten und verkündete die von den Facultäten für das nächste Jahr gestellten Themata. Für Beides wird auf das betreffende Programm vom 31. October verwiesen. Zum Schlusse erfolgte die Vereidigung des neuen Rectors und die Uebergabe der Amtsinsignien an denselben. ***

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Wilhelm His (1831–1904)

31. October 1882.

Rede des antretenden Rectors Dr. med. Wilhelm His. Über Entwickelungsverhältnisse des academischen Unterrichts. Hochverehrte Anwesende! Mit Beginn dieses Semesters sind es 10 Jahre, seitdem ich hier in Leipzig, 25 Jahre seitdem ich in meiner Vaterstadt Basel die Professur angetreten habe. Während ich hier zur Bewältigung des anatomischen Pensums mit einem befreundeten Collegen verbündet bin, lag mir in Basel die Vertretung, sowohl der Anatomie, als der Physiologie nach deren ganzem Umfange ob. Die Vereinigung der beiden Fächer in einer Hand war in der Zeit meiner Ernennung noch an den meisten Universitäten aufrecht erhalten. Bis zum Jahre 1855 hatten meine Vorgänger in der Baseler Professur auch noch die vergleichende Anatomie zu lehren, und in Berlin habe ich im Beginn der fünfziger Jahre binnen zwei Semestern, allerdings bei einem der mächtigsten Lehrer unseres Jahrhunderts, bei Johannes Müller einen Vorlesungscyklus gehört, welcher zu all den aufgezählten Fächern die pathologische Anatomie mit umfasste. Vor kaum einem Menschenalter war somit an der grössten Universität Deutschlands ein einziger Mann im Fall, einen Complex von Fächern zu vertreten, der sich heute selbst an den kleinsten Universitäten auf mindestens vier Träger vertheilt. Ich sage auf mindestens vier, denn an manchen Anstalten ist die Scheidung der Fächer entweder schon weiter fortgeschritten, oder doch im Fortschreiten begriffen. An mehreren Universitäten, vorweg an österreichischen, ist von der anatomischen Hauptprofessur eine solche für mikroskopische Anatomie abgetrennt worden. Auch die Anthropologie beginnt mehr und mehr sich zu emancipiren und vollends nimmt die Entwickelungsgeschichte eine Bedeutung und einen Umfang an, die es unwahrscheinlich erscheinen lassen, dass sie sich auf die Dauer mit der Rolle eines blossen Zweigfaches begnügen wird. Die Physiologie ihrerseits umfasst ein so breites Arbeitsgebiet und sie stellt an ihre Vertreter, in Betreff der Vorbildung nicht minder, als in Betreff der Geistes333

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kraft so bedeutende Anforderungen, dass Manche unter den Neueren darauf verzichtet haben, denselben in vollem Umfang gerecht zu werden. Bereits erhebt sich vielfach der Ruf nach einer Trennung zunächst der physikalischen von der chemischen Physiologie, ein Ruf, dem an einzelnen Universitäten wie z. B. in Strassburg in aller Form Genüge geleistet worden ist. Erst seit wenigen Dezennien selbstständig dastehend, zeigt auch die pathologische Anatomie bereits Neigung zu weiterer Zerklüftung; die experimentelle Richtung beginnt ihre eigenen Wege zu gehen und von der rein anatomischen sich zu trennen, und seit mehreren Jahren besteht in Wien neben der Professur für pathologische Anatomie eine solche für experimentelle Pathologie. Angesichts dieser fortschreitenden Bewegung erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass vielleicht schon beim Eintritt in das nächste Jahrhundert die Fächer, welche der eine Johannes Müller noch im Jahre 1852 gleichzeitig gelehrt hat, zu ihrer Deckung nicht vier, sondern acht bis zehn Professuren beanspruchen werden. Es ist dies ein auffallender Zerklüftungsvorgang, indessen steht er nicht isolirt da, sondern erscheint als besonderes Beispiel eines allgemeinen Entwickelungsprozesses, dem fast alle unsere Universitätsfächer, die einen in geringerem, die anderen in höherem Grade unterworfen sind. Und so mag es mir vielleicht gestattet sein, diesen Entwickelungsprozess, seine Bedingungen und seine möglichen Folgen vor Ihnen hier zur Sprache zu bringen. Behufs Constatirung der thatsächlichen Verhältnisse liegt es am nächsten an unsere Universität Leipzig anzuknüpfen, die nicht nur ihrer Stiftungszeit nach zu den ältesten gehört, sondern die auch, dank der Fürsorge der Landesfürsten, frühzeitig zu den bestdotirten mitzuzählen war. Bald nach ihrer Reconstruirung durch Herzog Moriz im Jahre 1542 ist dieselbe mit 22 ordentlichen Professuren ausgestattet worden, einer für jene Zeit sicherlich hohen Zahl. Von den nach ihren Fächern streng normirten Stellen sind 4 der theologischen, 5 der juristischen, 4 der medicinischen und 9 der philosophischen Facultät zugewiesen worden. Dazu kam bald noch eine Professur der hebräischen Sprache die lange zwischen theologischer und philosophischer Facultät in der Schwebe hing. Dieser Normalbestand der Facultäten wurde durch lange Zeit festgehalten und findet sich z. B. laut den Acta Lipsiensium academica noch im Jahre 1723 völlig unverändert. Es sind dies die sogen. Professuren alter Stiftung, denen im Laufe des vorigen Jahrhunderts noch eine Anzahl Professuren neuer Stiftung beigefügt worden sind. Mit letzteren ist man sparsam verfahren, und noch beim Beginn unseres gegenwärtigen Jahrhunderts zählt der Lectionscatalog nur 26 Ordinarii, wovon 7 Juristen und nur 9 Philosophen. Selbstverständlich haben die Ordinariate damals sowenig, wie heute, die volle Lehrkraft der Universität repräsentirt. Abgesehen von den frei wirkenden Lehrern, waren unter den Honorarprofessoren und den Extraordinarien auch jeweilen solche, denen eine bestimmte Aufgabe officiell zufiel. So sind innerhalb der philosophischen Facultät die naturhistorischen Fächer und die Astronomie, innerhalb der medicinischen sogar die klinischen Fächer längere Zeit hindurch extra ordinem verwaltet worden. Der Catalog des Jahres 1801 z. B. weist 36 Professores extraordinarii auf, von denen nicht weniger als 23 Philosophen und 6 Juristen 334

Antrittsrede 1882

gewesen sind1. Insofern nun aber die officielle Werthschätzung der Lehrfächer ihren entscheidenden Ausdruck in der Erhebung derselben zu Ordinariaten erhält, mag es zweckmässig erscheinen, zunächst zu verfolgen, wie sich die Zahl dieser letzteren im Laufe der Jahre umgeändert hat. Der Leipziger Catalog vom Jahre 1830 zeigt einen Bestand von 33 Ordinarien und zwar sind dabei die Mediciner besonders im Vortheil. Es fallen nämlich je 6 Lehrstühle auf die Theologen und Juristen, 9 Lehrstühle auf die Mediciner und 12 Lehrstühle auf die Philosophen. Unser diesmaliger Wintercatalog zählt an Professores Ordinarii 64 nämlich: 8 Theologen, 10 Juristen, 11 Mediciner und 35 Philosophen. Unter unsern 11 Honorarprofessoren und 36 Professores extraordinarii aber sind, wenn ich richtig zähle, wenigstens ein Dritttheil, die als Institutsvorsteher oder in anderer Weise officiell gestellte Aufgaben erfüllen. Seit einem halben Jahrhundert hat sich, obigen Angaben zufolge, die Zahl der ordentlichen Professuren bei uns nahezu verdoppelt, die der philosophischen beinahe verdreifacht; die drei Fachfacultäten sind am Zuwachs etwas weniger betheiligt, am wenigsten die juristische, die, wie es scheint, frühzeitig die wünschbare Vollzähligkeit zu erreichen vermocht hat. Ich möchte die geehrte Versammlung nicht allzusehr mit Zahlen ermüden, indessen mag es mir der Vergleichung halber erlaubt sein, die Zuwachsverhältnisse von zwei anderen grösseren Universitäten, von Göttingen und von Berlin mit herbeizuziehen. Göttingen, das gleich bei seiner Gründung reichlich ausgestattet worden ist, zählte, laut dem Lectionscatalog von 1781, vor hundert Jahren 36 ordentliche Professuren, 1830 sind es deren 38, diesen Winter 57, und zwar haben seit 100 Jahren zugenommen: die theologischen Professuren von 4 auf 6, die juristischen Professuren von 7 auf 9, die medicinischen Professuren von 6 auf 10, die philosophischen Professuren von 19 auf 32. Berlin, das im Jahre 1811 26, im Jahre 1830 48 ordentliche Professuren besessen hatte, zählt deren heute 68: 7 theologische, 10 juristische, 13 medicinische und 38 philosophische. Auch hier, wie in Leipzig und wie in Göttingen haben zwar alle vier Facultäten an der Zunahme Theil genommen, weitaus am ergiebigsten aber die philosophische, die im Jahre 1811 nur 13, im Jahre 1830 nur 22 Mitglieder gezählt hatte. Ähnliche Verhältnisse kehren auch bei andern Universitäten sowohl bei grösseren als bei kleineren wieder, bei letzteren sind sie zum Theil noch auffallender. Die Zusammendrängung verschiedener, heutzutage unvereinbarer Fächer in einer Hand hat hier in noch grösserer Ausdehnung bestanden und auch das Vorhandensein von Lücken wurde an kleineren Anstalten minder schwer ertragen. So zählte Kiel noch im Jahre 1853 nur 5 Ordinarien der philosophischen Facultät, heute sind es deren 23. 1

1801. Theologen: Ord. 5, Extraord. 4, zusammen 9. Juristen: Ord. 7, Extraord. 6, zusammen 13. Mediciner: Ord. 5, Extraord. 3, zusammen 8. Philosophen: Ord. 9, Extraord. 23, zusammen 32. Unter den 23 philos. Extraordinarien findet sich auch ein Ordinarius der medic. Facultät E. Platner, so dass die Gesammtzahl der Professuren nur 61 beträgt.

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Dass die so allgemein und so ausgiebig erfolgte Zunahme der Lehrstühle an unseren Universitäten ihren nächsten Grund in der rasch erfolgten Zunahme des Wissensstoffes hat, das bedarf kaum eines besonderen Hinweises. Manche unserer heutigen Wissensgebiete wurzeln mit ihrem wesentlichen Inhalte in den letzten drei oder zwei Jahrhunderten, bei einigen wie bei den auf mikroskopischer Forschung beruhenden, zählt sich das Alter sogar nur nach Jahrzehnten. Allein auch in den Wissenschaften älteren Datums haben veränderte Gesichtspunkte ungeahnte Erweiterung des Arbeitsfeldes herbeigeführt, und wenn unsere Leipziger Cataloge in verflossenen Jahren Vorlesungen über Psychophysik und über physikalische Astronomie gebracht haben, so beweist dies, dass auch die allerehrwürdigsten unter den Wissenschaften, die Philosophie und die Astronomie ihre Gränzlinien über neue Gebiete hinaus vorgeschoben haben. Es ist durchaus verständlich, dass vermöge ihrer umfassenden Aufgaben die philosophische Facultät von der Nothwendigkeit des Zuwachses am mächtigsten musste betroffen werden. Wenn nun aber gerade in Leipzig das verhältnissmässige Wachsthum so erheblich, soviel erheblicher z. B. als in Göttingen ausgefallen ist, so liegt der Hauptgrund hiervon in der eigenthümlich scharfen Umgränzung, welche die Leipziger Facultät aus früheren Jahrhunderten mitgebracht und unverhältnissmässig lange festgehalten hatte. Mein sehr verehrter Vorgänger hat als competentester Berichterstatter im verflossenen Jahre die Entstehungsgeschichte und die allmählige Umbildung der 9 alten Normalprofessuren der philosophischen Facultät geschildert und dabei nachgewiesen, welche von den heutigen Lehrstellen noch in jenen alten Stiftungen wurzeln. Es ist nicht ohne Interesse, zu verfolgen, in welchen Zeitabschnitten und in welcher Reihenfolge der alte enge Facultätskörper ausgeweitet worden und allmählig zu jener freien Gestaltung gelangt ist, deren er sich heute erfreut. Unter den 9 Normalfächern der alten philosophischen Facultät hatte von allen Naturwissenschaften nur die Physik Platz gefunden. Die beschreibenden Naturwissenschaften und die Chemie waren ausgeschlossen und auch die Astronomie nicht berücksichtigt. Allerdings genoss die Chemie seit dem vorigen Jahrhundert Gastrecht bei den Medicinern und auch die naturwissenschaftlichen Fächer fanden hier beiläufig gewährte Unterkunft. Im Jahre 1812 beginnt zunächst die Astronomie und im folgenden Jahre die Naturgeschichte den Sitz in der philosophischen Facultät zu erobern. Die Vertreter dieser Fächer (die Professoren Mollweide und Schwägrichen) hatten zuvor als Extraordinarii gewirkt, der eine allerdings nur ein, der andere aber zehn Jahre lang. Das astronomische Ordinariat wurde als solches nicht unbedingt festgehalten, denn nach dem Abgang von Professor Mollweide musste Professor Möbius ebenfalls manches Jahr als Extraordinarius dienen, ehe er (1844) in die Facultät aufgenommen wurde, und auch unserem, so früh von uns geschiedenen Freunde Bruhns ist diese Vorstufe nicht erspart geblieben. Die Zusammenfassung der Naturgeschichte der drei Reiche in einer Hand hat sich noch bis zum Jahre 1845 erhalten, von da ab traten Professor Kunze für Botanik, Prof. Naumann für Mineralogie und zwei Jahre später Professor Pöppig für Zoologie ein, während der alte Vertreter der Naturgeschichte noch während mehrerer Jahre fortfuhr, ein encyklopädisches Colleg anzuzeigen. 336

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Ein besonderer Lehrstuhl für Chemie und zwar für technische Chemie erscheint innerhalb der philosophischen Facultät im Jahre 1836 (durch Professor Erdmann vertreten). Erst 1865, bei der Berufung des Herrn Collegen Kolbe ist dann auch der bis dahin der medicinischen Facultät angehörige (zuletzt von Professor Kühn besetzte) Lehrstuhl der allgemeinen Chemie an die philosophische Facultät übergegangen. Nur allzukurz, von 1871–1875, haben wir die Freude gehabt, an unserem unvergesslichen Collegen Peschel einen besonderen Vertreter für Geographie und für Anthropologie zu besitzen. Weit mühsamer noch als die naturwissenschaftlichen Fächer haben die ausserclassischen Sprachen ihren Sitz in der Facultät erwerben müssen. Erst 1844 tritt mit Moriz Haupt die Professur für deutsche Sprache und Litteratur in den Kreis ein, 1849 mit Professor Brockhaus die Professur für ostasiatische, 1862 mit Herrn Collegen Ebert diejenige für romanische Sprachen. Die übrigen philologischen Lehrstühle, für Aegyptologie, für slavische und für englische Sprachforschung sind, wie bekannt, Schöpfungen des eben verflossenen Jahrzehntes. Vergleichen wir noch einmal den alten Facultätsaufbau, wie er bis tief in unser Jahrhundert sich erhalten hatte, mit dem jetzigen, so sind von den alten Professuren nur diejenigen für Physik und für Staatswissenschaften ungetheilt geblieben, alle übrigen haben sich, theils einfach, theils mehrfach gespalten. Darüber hinaus sind aber noch eine Reihe von neuen Lehrstühlen entstanden, welche sich selbstständig ihren Raum in der Facultät erkämpft haben2. Es sind, wie man wohl bemerkt, nicht die Naturwissenschaften allein, ja nicht einmal sie in überwiegender Weise, welche das alte Kleid der philosophischen Facultät zersprengt haben. Auch wird man denen unter ihnen, welche am Ziele angelangt sind, kaum den Vorwurf allzugrosser Jugendlichkeit machen dürfen. Botanik, Zoologie und Mineralogie, sowie vor Allem die Astronomie sind aus gutem altem Geschlecht, und wenn allenfalls die Chemie nach ihrer Entstehung jüngern Datums ist, so hat diese Wissenschaft ihre Entwickelungszeit so gut wahrgenommen, dass sie heute an Mächtigkeit hinter keiner der anderen zurücksteht. Die rasche Mehrung vorhandenen Wissensstoffes muss an und für sich schon bestimmender Grund sein, da wo die Aufgabe besteht, der jüngeren Generation den Stand jeweiligen menschlichen Wissens zu übertragen, die Lehrstühle in steigendem Maasse zu vermehren. Von fast noch durchgreifenderer Bedeutung aber ist die veränderte Methode des Lehrens selbst. Es hat sich seit Beginn unseres Jahrhunderts die Form des Unterrichts völlig verändert, zunächst allerdings und am intensivsten auf naturwissenschaftlichem Gebiete, von da ausgehend aber auch auf Gebieten, die mit diesem nur sehr mittelbare Berührung haben. Es sind die Anforderungen, 2

An Stelle der früheren zwei Professuren für Philosophie zählen wir heute drei; die Professur für orientalische Sprachen hat sich verdoppelt; an Stelle der zwei Professuren für classische Philologie (utriusque linguae und eloquentiae) sind heute deren vier. Die Mathematik zählt drei Ordinarien, die Geschichte zwei, und, wenn wir zu den geschichtlichen Hülfswissenschaften Nationalökonomie, Archäologie und Kunstgeschichte rechnen, so sind diese durch drei Lehrstühle vertreten.

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welche an den heutigen Lehrer gestellt werden, grossentheils abweichend von denjenigen früherer Perioden; sie verlangen, wenn auch vielleicht keine grössere, so doch jedenfalls eine andere Arbeit von ihm. – Nachdem ich Eingangs dieser Besprechung von Wahrnehmungen im Entwickelungsgang der medicinischen Facultät ausgegangen bin, ist es wohl am angemessensten, wenn ich auch für die folgenden Erörterungen auf diesen Ausgangspunkt zurückkehre. Indem ich die Umbildung des hiesigen Medicinstudiums im Verlaufe unseres Jahrhunderts verfolge, wird die Gelegenheit nicht fehlen, wieder zu Gesichtspunkten allgemeinerer Bedeutung durchzudringen. Es umfasste die Leipziger medicinische Facultät im Beginn des vorigen Jahrhunderts vier Professuren, laut den Statuten waren dieselben für Therapie, für Pathologie, für Physiologie und für Chirurgie bestimmt. Mit der letzteren wurde in der Folge auch die Anatomie verbunden. Als fünfte Professur (neuer Stiftung) ist im Beginn des vorigen Jahrhunderts diejenige für Chemie hinzugekommen. In dieser Grundzusammensetzung finden wir die Facultät noch beim Eintritt in unser Jahrhundert, und ich greife, um ein Bild der damaligen Lehr- und Lernthätigkeit zu gewinnen, heraus, was der Lectionscatalog vom Jahre 1801 darüber mittheilt. Da ist zunächst die Bemerkung vorauszusenden, dass sich’s unsere Herren Vorgänger keineswegs bequem gemacht haben, die meisten von ihnen lesen täglich dreimal und bringen es zu einer wöchentlichen Stundenzahl von 16 und selbst darüber bis zu 20. Als Vertreter der Physiologie erscheint der damals hochangesehene Ernst Platner, der mit einem Fusse in die philosophische Facultät hinüberreicht. Sein Pensum umfasste Vorlesungen und Examinatorien über Physiologie, dazu besondere, über zwei Semester sich erstreckende Vorlesungen über physiologische Litteraturgeschichte, Vorlesungen über Logik, Metaphysik, Moralphilosophie und Ästhetik und, als ob dies Alles seine Thätigkeit nicht zu erschöpfen vermöchte, Vorlesungen über Augenkrankheiten. In seinem Normalfach ist indessen Platner nicht Alleinherrscher; seine Collegen von der Chirurgie, von der Therapie und sogar derjenige von der Chemie ertheilen gleichfalls physiologische Vorlesungen, zum Theil an dasselbe Lehrbuch wie er, zum Theil an andere sich haltend. Der Anatom und Chirurg (Haase) liest ausser über Anatomie und über Physiologie auch über Capitel der Pathologie und über gerichtliche Medicin, wogegen die Chirurgie in seinem Pensum zurücktritt. Der Patholog (Ludwig) und der Therapeut (Hebenstreit) decken sich mit ihren Vorlesungen über’s Kreuz, dabei liest der Patholog nicht nur die seinem Collegen zukommende Materia medica, sondern er zeigt auch Botanik mit Excursionen, Entomologie und Helminthologie und schliesslich sogar Mineralogie an, letztere unter Hinweis auf ein selbstgeschriebenes Lehrbuch. Am fleissigsten scheint der Chemiker (Eschenbach) gewesen zu sein, der in 16–20 wöchentlichen Stunden ausser seinen chemischen und pharmaceutischen Collegien auch solche über Metallurgie, ferner Examinatorien über Anatomie und Physiologie und endlich medicinische Styl- und Disputirübungen anzeigt. Bei diesen Anzeigen ist, neben der so unscharf durchgeführten Fachtrennung und neben der Breite des Feldes, das jeder Einzelne zu umfassen sucht, ein anderer Punkt besonders auffallend, es ist dies die ausserordentlich magere Ausstattung des 338

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Lectionscatalogs mit Demonstrationen. Alle Vorlesungsanzeigen weisen auf ein besonderes Lehrbuch hin, nach welchem der Gegenstand durchgenommen wird. Der eine liest die Physiologie duce Metzgero, ein anderer duce Blumenbachio, die Pathologie wird duce Gaubio oder ex Arnemanno, die Therapie ex institutionibus patris, die Materia medica praeeunte Linneo gelehrt. Selbst die anatomische Vorlesung, bei der man am ehesten Freiheit vom geschriebenen Buchstaben erwarten sollte, wird vom Lehrer ex suis schedulis et compendio vorgetragen. Die heutzutage ziemlich verschollene Autorität Metzger’s scheint damals besonders beliebt gewesen zu sein, denn ausser für die Physiologie wird sie auch für die Chirurgie und für die gerichtliche Medicin von den meisten Lehrern als leitende vorangestellt3. Zwei Gebiete des medicinischen Unterrichts, die Anatomie und die Botanik, haben, wie anderwärts, so auch hier früh das Privilegium demonstrativer Behandlung genossen. Ferner erfahren wir aus den Catalogen, dass der Chemiker seine Vorlesungen mit Experimenten verknüpft hat. Derjenige Unterricht dagegen, in welchem der heutige Mediciner den Hauptschwerpunkt findet, der klinische, wird noch 1801 in Leipzig von keinem der fünf Ordinarien geführt, sondern er ist durch den Extraordinarius Chr. Martin Koch vertreten. Erst seit dem Jahre 1799 ist überhaupt dieser Unterricht officiell organisirt worden, nachdem wenige Jahre vorher eine Art von freiwilliger Klinik bestanden hatte. Wir haben heutzutage Mühe, uns ein klares Bild von der Schulung junger Mediciner vor Existenz einer Klinik zu machen. Ich hatte gehofft, in den alten Examenbestimmungen Auskunft darüber zu finden, allein so ausführlich sich diese über die zahlreichen vorgeschriebenen Formalitäten und über die dabei zu bezahlenden Floreni aurei auslassen, so knapp sind sie in sonstiger Hinsicht. Nur soviel erfahren wir, dass die Examinanden mit Erläuterungen von Abschnitten aus Hippokrates Aphorismen, sowie aus Galen’s und aus Avicennas Schriften zu beginnen hatten, und dass nachher die Reihenfolge des Examinirens vom jüngsten Assessor zum Dekan hinaufstieg. Es scheint übrigens, als ob die Staatsregierung den neupromovirten Aerzten, trotz all ihrer Gelehrsamkeit, nicht allzuviel Einsicht zugetraut habe, denn ich finde in einem kursächsischen Mandat vom Jahre 17684 die Bestimmung, dass die frisch promovirten Aerzte während der ersten zwei Jahre ihrer Praxis ohne Zuziehung der Amts- oder Stadtphysici, oder anderer erfahrener Medici (ausser im 3

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Es bietet ein gewisses Interesse festzustellen, worauf denn die Beliebtheit dieses viel benützten Autors basirt gewesen ist. Derselbe hat Tugenden besessen, die noch heute den Verfassern von Lehrbüchern hoch angerechnet werden: knappe compendiöse und dabei doch klare Darstellung und eine sehr objective Behandlungsweise des Gegenstandes. Das physiologische Compendium, von dem ich ein Exemplar auf der Bibliothek vorgefunden habe, umfasst genau eintausend kurz gehaltene Paragraphen. Es ist im Hallerschen Sinn abgefasst und seine Paragraphen sind in weit überwiegender Zahl rein anatomische Sätze. Unter den nichtanatomischen begegnen wir zum Theil solchen Wahrheiten, von denen anzunehmen ist, sie seien auch damals unbestritten gewesen und ihr Verständniss habe dem Studirenden nicht viel Kopfzerbrechen gekostet. So lautet z. B. § 2: „Leben, Gesundheit, Krankheit und Tod sind die Gränzen der menschlichen Laufbahn. Erstere beide sind dem Menschen erfreulich, die letzteren unangenehm und zuwider.“ Mandat wegen Errichtung eines Sanitätscollegiums vom Jahre 1768.

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Nothfall) keine wichtigen Curen unternehmen durften, bei Strafe der Remotio a praxi. Wenn die Aerzte mit einer so vorwiegend litterarischen Erziehung unvermittelt in die Praxis hinausgeworfen wurden, so dürfen wir uns nicht wundern, dass gar manche von ihnen ihr Heil in künstlich ausgedachten Systemen zu finden versucht haben. Es ist dies die Zeit des Stimulismus und Contrastimulismus, die Zeit der kühnsten naturphilosophischen Conceptionen und die der frisch emporstrebenden Homöopathie. Durch eine Reihe von Jahren hindurch (von 1812 bis 1821) erscheint sogar der Begründer der letzteren mitten unter den Docenten unseres Cataloges mit Vorlesungen über sein „Organon der rationellen Heilkunst“. Es ist hier nicht der Ort zu entwickeln, wie zunächst von Frankreich aus durch Bichat und seine Schüler, durch Laennec, Dupuytren, Magendie u. A. ein positiverer Zug in die medicinische Wissenschaft gebracht worden ist und wie dieser auch in Deutschland mehr und mehr an Ausbreitung und an Kraft gewonnen hat. Für die Leipziger Schule fällt unstreitig der erste Wendepunkt der neuen Entwickelungsperiode mit der Errichtung der Klinik zusammen. Das Bedürfniss eines solchen Instituts war schon geraume Zeit hindurch empfunden worden, aber die Errichtung eines besonderen Universitätsspitales scheiterte am Kostenpunkte und die Benutzung des städtischen Spitales stiess auf Schwierigkeiten administrativer Art. Der Geh. Kriegsrath Müller, derselbe, dessen Denkmal die öffentlichen Anlagen an der Parkstrasse ziert, wird als Derjenige genannt, der auf Seiten der städtischen Verwaltung zuerst die Hand zur neuen Einrichtung geboten hat5. Die zu überwindenden Vorurtheile waren sicherlich nicht gering, und die Nachwelt schuldet dem Manne Dank, der die Bahn gebrochen hat. Seitdem hat man wohl in Leipzig, wie anderwärts, genügend erfahren, dass eine Klinik, weit entfernt, ein städtisches Spital zu schädigen, durch den ihr innewohnenden Geist wissenschaftlicher Controlle demselben zum fortlaufenden Segen gereicht. Die Verbindung der Spitalklinik mit der Facultät ist Anfangs ziemlich lose geblieben; auch hat ein besonderer Unstern über jener gewaltet, insofern sie dreimal binnen zehn Jahren ihren Vorsteher verloren hat6. Erst der vierte klinische Lehrer C. A. Clarus ist 1812 als solcher in den Facultätskörper eingerückt und zwar als siebenter Ordinarius. Den sechsten Platz hatte zwei Jahre zuvor der Geburtshelfer Jörg erhalten. Die chirurgische Klinik hat in der ersten Zeit nur als eine Dependenz der medicinischen bestanden und ist von dem dem Spitalarzt untergebenen Chirurgen geführt worden. Von 1810 ab erscheint dieselbe im Catalog angezeigt und zwar von dem Privatdocenten Dr. Gehler, Demonstrator chirurgicus in Instituto clinico. Sein Nachfolger C. A. Kuhl beginnt (1813) gleichfalls als Privatdocent, rückt dann aber auf und erreicht endlich 1824 in der Facultät den officiellen Sitz des Professor chirurgiae ordinarius. Diese Professur, wie wir früher sahen, eine von den ältesten Stiftungen, hatte zwar keinen Augenblick aufgehört zu bestehen, aber sie war ohne allen Verband mit der Klinik geblieben. Von der anatomischen Lehrstelle hat sie sich unter 5 6

S. die philos. Dissertation de schola Lipsiensium clinica von M. G. Müller und C. F. H. Beck, 1809. Koch † 1803, Hebenstreit † 1804, Reinhold † 1809.

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Rosenmüller abgelöst, der dafür kein Interesse gehabt zu haben scheint. 1812 übernahm sie der gelehrte Kühn an Stelle der bisher verwalteten therapeutischen Professur, später (1820) gab er die Chirurgie seinem alten Collegen Ludwig ab, der sie dann bis zu seinem Tode 1823 behalten hat. Nicht minder blieb dann Kühn bis zum Jahre 1840 Nominalprofessor für Physiologie und Pathologie. Im Jahre 1816 zeigte Dr. Cerutti die ersten Vorlesungen über pathologische Anatomie an und zwar sofort in Verbindung mit Demonstrationen. Er hat dieselben fortgeführt bis er 1838 als Professor der Therapie in die Facultät eintrat. An seiner Stelle übernahmen der Reihe nach C. E. Hasse, C. Bock und schliesslich unser College E. Wagner das Fach, welch letzterer ihm dann (1862) zum Platz in der Facultät verholfen hat. Endlich bringt der Catalog von 1817 zum ersten Male den Namen des jugendlichen Ernst Heinrich Weber. Anatomiam generalem, experimentis chemicis et anatomicis probatem zeigt derselbe an, und im nächsten Semester physiologiam, anatomia comparata illustratam. Da heisst es nicht mehr duce Metzgero oder duce Blumenbachio. Das Originalgenie des grossen Forschers weiss seine Wege selbst zu bahnen, auf denen es den Zeitgenossen bald um Jahrzehnte vorausgeeilt ist. 1821 ist E. H. Weber an die Stelle von Rosenmüller als Anatom eingerückt, die fernere Bezeichnung als Physiologe hat er erst 1841 nach Kühns Tod angenommen. Die wissenschaftliche Welt hatte nicht bis dahin gewartet, ihm diesen Titel zu verleihen. Es bezeichnet das Ende des zweiten Jahrzehntes unseres Jahrhunderts den Zeitpunkt, in welchem für Leipzig der Umbau der alten gelehrten Medicinschule in die neue, auf naturwissenschaftlicher Arbeitsweise basirte sich vollendet hat. Der naturgeschichtliche und der anatomische Unterricht sind nunmehr fest geordnet; die Physiologie ist von den Händen eines Forschers ersten Ranges ergriffen worden; die pathologische Anatomie wird in demonstrativen Vorlesungen gelehrt und sämmtliche Kliniken sind in regelrechtem Gange7. Als ergänzende Elemente erscheinen endlich, vom Jahre 1821 ab, auch noch besondere Vertreter für Psychiatrie (Heinroth) und für gerichtliche Medicin (Puchelt), und die Universität zählt jetzt nicht weniger denn neun Ordinarien8. Allmählig treten die älteren Herren vom Schauplatz zurück: 1818 erscheint Platner zum letzten male im Catalog, 1823 Ludwig und endlich 1840 Kühn. Hochachtbare Gelehrte und treue Lehrer sind in diesen Männern dahingeschieden, und wohl dürfte sich die Facultät glücklich schätzen, wäre es ihr vergönnt, auch heute noch einzelne Vertreter der alten Schule unter ihren Mitgliedern zu zählen, als heilsames Gegengewicht gegen den unhistorischen Sinn der jüngern Generation. Ein halbes Jahrhundert ungefähr nach dem ersten so bedeutsamen Umbau der Leipziger Universität und speciell ihrer medicinischen Facultät hat ein zweiter begonnen, diesmal nicht nur im bildlichen, sondern grossentheils im wörtlichen Sinn. 7

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Eine Schola policlinica ambulatoria wird zuerst 1812 von Puchelt angezeigt. Das jetzige chirurgischpoliklinische Institut datirt, laut der Jubiläumsschrift von Herrn Collegen B. Schmidt, auf das Jahr 1830 zurück. Im Catalog von 1821 erscheint als jüngster Privatdocent auch unser hochverehrter Senior, Herr Geh. Rath Radius mit einer Vorlesung über Semiotik.

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Bei diesem Umbau hat es sich darum gehandelt, den fortgeschrittenen Anforderungen gemäss, die Unterrichts- und die Arbeitsmittel der Universität auf die höchstmögliche Stufe zu bringen. Die im Laufe dieser letzten zwei Jahrzehnte erstandenen Neuschöpfungen an Instituten und Sammlungen legen davon Zeugniss ab, mit welch grossartiger Liberalität die Königl. sächsische Regierung das gesteckte Ziel erstrebt hat. Die Früchte dieser Leistungen sind auch, wie wir Alle wissen, für die Universität nicht ausgeblieben, und weit in deutsche und fremde Lande hinaus hat das hier gegebene edle Beispiel fördernd und anregend gewirkt. Die Umwälzung im Character des Unterrichts, wie ich sie für die Leipziger Schule zu skizziren versucht habe, hat sich in einer dem Wesen nach übereinstimmenden Weise an allen Hochschulen vollzogen, an den einen etwas langsamer, an anderen etwas rascher. Auch sind wir jetzt nach Besprechung concreter Verhältnisse wohl besser als zuvor im Stande zu präcisiren, worin denn unsere heutige Lehrweise von der älteren abweicht. Weit mehr, als wir dies thun, begnügten sich unsere wissenschaftlichen Vorfahren im Allgemeinen damit, die Unterlagen ihres Wissens durch angesehene Autoritäten litterarisch zu stützen. Dabei legten sie ein Hauptgewicht auf die formell correcte Verknüpfung der gegebenen Begriffe zum geschlossenen, logisch fest gegliederten System. Hatte nur der Schüler den Aufbau des Systemes gehörig erfasst, so war es ihm bei jener Gewandtheit, wie sie die viel bessere dialectische Schulung älterer Zeit gewährte, nicht schwer, für jeden sich darbietenden Specialfall die passende Categorie zu finden und seine Auffassung gegen abweichende Meinungen mit Schärfe zu verfechten. Heutzutage sind wir gegen jene geschlossenen, Himmel und Erde lückenlos umfassenden Systeme sehr misstrauisch geworden. Nicht als ob nicht auch in uns jenes tief menschliche Bedürfniss sich regte, nach logischer Verknüpfung all unserer Kenntnisse und Vorstellungen; allein wir sind immer mehr zum Bewusstsein durchgedrungen, dass unser Wissen Stückwerk ist, und dass zwischen dessen klare und verständliche Elemente unendlich viele zur Zeit ungelöste, vielleicht auch geradezu unlösbare Fragen sich einschieben. Demgemäss ist unser wissenschaftliches Urtheil viel vorsichtiger und viel zurückhaltender geworden. Unser Bestreben geht darauf aus, vor allem die Gränzen unseres Wissens klarzustellen und dann schrittweise, wo nur immer die Möglichkeit sich bietet, diese Gränzen weiter vorzuschieben. Sicherung unserer thatsächlichen Unterlagen und stetige Mehrung derselben sind die Grundoperationen unserer wissenschaftlichen Arbeit geworden. Was nützen in der That die feinsten Schlüsse, was die geistvollsten Systeme, wenn die in Betracht kommenden Voraussetzungen anfechtbar sind? Wie bei der wissenschaftlichen Arbeit, so tritt auch bei unserer heutigen Lehrweise der Respect vor der Thatsache in den Vordergrund, und wir bemühen uns in erster Linie auch unsere Schüler dazu zu erziehen. Beim naturwissenschaftlichen und somit auch beim medicinischen Unterricht ist unsere Sorge, dem Anfänger die Kunst unbefangener Beobachtung beizubringen. Wir halten ihn an, die Sinneswahrnehmungen scharf zu trennen von den daran sich anknüpfenden Schlussfolgerungen, 342

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wir warnen ihn vor der Beeinflussung durch vorgefasste Meinungen und belehren ihn über die Täuschungsquellen, die in unsern eigenen Sinnen sowie in unsern besten Apparaten enthalten sind. Vor allem aber suchen wir den Schüler dazu zu bringen, dass er sich angewöhnt, das Gebiet eigener Erfahrungen selbständig zu klaren Begriffen zu verarbeiten. So klein Anfangs das Capital an solch eigenem Erwerb sein mag, so gewährt es dem Besitzer doch bald das Gefühl einer bestimmten geistigen Freiheit und Unabhängigkeit, das Gefühl des tüchtigen Menschen. Solch kritische Schulung der heranwachsenden Jugend ist keineswegs mehr das Praerogativ naturwissenschaftlicher Lehrer. Unsere Lectionscataloge zeigen theologische und juristische, historische und philologische Seminare an und liefern damit den Beweis, dass bei allen Facultäten das Bedürfniss der persönlichen Anleitung der Schüler zur Kritik ein dringliches geworden ist. Es sind diese kritischen Schulungen an Stelle der frühern Disputatorien getreten, und wenn es bei den geistigen Fechtübungen der letzteren für das ehrenvollste mag gegolten haben, auch aus verzweifelter Lage siegreich sich herauszuschlagen, so tadeln wir heute den Schüler, der den Versuch macht, durch Redewendungen die Stellen zu verheimlichen, an denen ihm der sichere Grund mangelt. Was hat nun aber diese, vorwiegend auf Schärfung der Kritik hinstrebende Form der Schulung mit der Spaltung der Lehrfächer zu thun? Der Zusammenhang ist leicht nachzuweisen. So lange es sich um blosse Ueberlieferung systematisch geordneter Begriffe in dogmatischer Form handelt, ist ein fleissiger Gelehrter mit Hilfe der nöthigen Lehrbücher, der duces Arnemann, Gaubius und Metzgerus im Stande, ein ausgedehntes Gebiet als Lehrer zu umspannen, ja selbst vom Ueberspringen von einem Fache auf ein anderes, mehr oder minder entlegenes, wird ihn kein inneres Hinderniss abhalten. Wenn wir hören, dass in einem frühern Jahrhundert die Lehrfächer innerhalb der philosophischen Facultät jedes Jahr frisch ausgelost wurden und dass auch nach Beseitigung dieses Modus noch die Verpflichtung bestand, dass ein jedes Facultätsmitglied allen Fächern gerecht sein musste, so ist diese heutzutage undenkbare Einrichtung dadurch verständlich, dass in jenen Perioden die Bedeutung der allgemeinen Gelehrtenbildung über diejenige der Fachbildung weit überwog, während wir nunmehr auf dem entgegengesetzten Standpunkt stehen. Sowie verlangt wird, dass der Lehrer die wissenschaftlichen Ergebnisse seiner Disciplin anstatt blos in dogmatischer Form, auch nach ihrer Begründung dem Schüler mittheile, so fällt eine Hauptseite des Unterrichts in die wissenschaftliche Methodik. Diese aber spaltet sich, abgesehen von gewissen allgemein giltigen Grundsätzen, nicht allein nach den einzelnen Fächern, sondern innerhalb der einzelnen Fächer auch vielfach nach den einzelnen Fragen. Je feiner dabei in jedem Fach die wissenschaftliche Methodik sich ausbildet, um so mehr gestaltet sie sich zu einer besondern Kunst, deren sichere Handhabung oft nur durch jahrelange Arbeit erworben wird. Auf naturwissenschaftlichem Gebiet handelt es sich dabei vielfach um Erlangung technischer Fertigkeiten, ohne die z. B. kein Physiker, kein Chemiker, kein Anatom auszukommen vermag. So sehr man geneigt ist, den wissenschaftlichen Gedanken höher zu stellen, als die oft recht minutiösen technischen Hantirungen, so ist doch kein Zweifel, dass wir den letzteren zum Theil die bedeutendsten Fort343

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schritte verdanken und dass dieselben trotz aller anscheinenden Geistlosigkeit nicht ungestraft dürfen missachtet werden. Vom Lehrer verlangen wir nun die Beherrschung der Methodik seines gesammten Gebietes, damit er im Stande sei, auch den Schülern einen Einblick in dieselbe zu gewähren. In den Instituten der Neuzeit wird schon deshalb ein von Jahr zu Jahr sich steigerndes Gewicht auf die Vervollkommnung der demonstrativen Unterrichtsmittel gelegt, weil dadurch die Leistungskraft des Lehrers und die Fassungskraft der Schüler in ausgedehntem Maasse erweitert werden. Wofern man nun vom Grundsatze ausgeht, dass nur der Besitz wissenschaftlicher Methodik den Forscher ausmacht, und dass dieser allein berufen ist, das von ihm beherrschte Gebiet zu lehren, so ergiebt sich, wenigstens für rasch sich ausbildende Disciplinen als unabweisbare Folge, dass das Gebiet, welches der Einzelne umfassen kann, immer mehr sich einengen muss. Wenn, um ein specielles Beispiel zu verfolgen, der Anatom in früheren Jahrzehnten noch im Stande gewesen ist, die Physiologie zu lehren, so war dies der Fall, nicht allein, weil damals die sicheren Lehren dieser Wissenschaft fast auschliesslich auf anatomischer Basis ruhten, sondern weil auch im Uebrigen die physiologischen Forschungsmethoden so einfacher Natur waren, dass ein jeder ordentlich geschulte Mediciner dieselben zu handhaben vermochte. Ganz anders liegt die Sache heute: die physiologische Chemie, die physiologische Optik, die Thermo- und die Electrophysiologie, die Physiologie der Gewebe, die Gehirnphysiologie, und wie die Zweiggebiete der einen Wissenschaft alle heissen mögen, sie haben im Lauf der wenigen Jahrzehnte eine so grosse Summe der feinsten methodischen Hülfsmittel geschaffen, und die Kritik ihrer Verwerthung hat dann wieder zu so umfangreichen und verwickelten Discussionen geführt, dass es nicht nur für die Anatomen unmöglich geworden ist, dem Gange zu folgen, sondern dass auch die engeren Fachleute die Gefahr vor sich sehen, dass ihnen die Wellen über dem Kopfe zusammenschlagen. Nun ist der oben ausgesprochene Grundsatz, wonach Jeder nur berechtigt ist, über das von ihm als Forscher beherrschte Gebiet zu lehren, offenbar in voller Strenge gar nicht durchführbar. Jeder von uns Lehrern, und dies gilt wohl nicht allein von naturwissenschaftlichen, erfüllt seine Stellung vermöge einer Art von Compromiss. Neben den Gebieten souveräner, durch eigene Forschung gesicherter Herrschaft liegen solche, in denen wir zwar der Stütze fremder Autorität nicht ermangeln können, für die wir uns aber denn doch vermöge unserer anderweitigen Erfahrung genügendes kritisches Verständniss bewahrt haben. Wie weit wir dies Aussengebiet auszudehnen und in welchem Maasse wir dasselbe zu beherrschen vermögen, das ist Sache persönlicher Arbeit und persönlicher Begabung, und über dies hinaus der gesammten Lebensführung. Darin liegt ja zum nicht geringen Theil der individuelle Werth der einzelnen Lehrer, dass ein jeder wieder in besonderer Art sein Gebiet ergreift und erfüllt. Ich verweile nicht länger bei diesen Verhältnissen, sondern wende mich zur Frage: Welche Folgen haben wir zu gewärtigen, wenn die fernere Entwickelung der Wissenschaften zu immer weiter gehender Differenzirung und Zerspaltung der Fächer führt? 344

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Wären wir beauftragt, Budgete festzustellen, so möchte uns die Perspective einer progressiven Vermehrung von Lehrstühlen und von Instituten erschrecken. Uns drückt indess diese Sorge nicht und ich lege ihr auch deshalb geringe Bedeutung bei, weil erfahrungsgemäss im Laufe der Zeit die Mittel immer zu finden sind, wo es darauf ankommt, erstrebenswerthe Ziele zu erreichen. Dafür liegen uns aber zwei andere Punkte nahe, einmal: die Folgen der Fachzersplitterung für das Gedeihen der Wissenschaften selbst und des wissenschaftlichen Sinnes unter den Menschen, sowie diejenigen für die Entwickelung des Unterrichts. Es ist kein Zweifel, dass die zunehmende Zertheilung der Arbeitsfelder für jeden der betheiligten Arbeiter die Gefahren eines verengten Horizontes mit sich bringt. Schon jetzt sehen wir häufig, dass Fragen, die einer vielseitigeren Behandlung bedürfen, deshalb zu keiner gesunden Entwickelung kommen, weil von den verschiedenen Arbeitern ein jeder sich darauf steift, dieselbe gerade nur von seiner besonderen Ecke aus zu betrachten. Auch wissen wir, dass eine allzuweit gehende Vertiefung in die Methodik eines Gebietes leicht dahin führen kann, aus dem blosen Mittel den Hauptzweck zu machen, oder wohl auch grosse Arbeitsmengen auf untergeordnete Spielereien zu verschwenden. Dabei kann es sich indessen immer nur um vorübergehende Uebelstände handeln. Der Drang, von den besonderen Erfahrungen wieder zu den allgemeineren Gesetzen aufzusteigen, liegt zu tief in der menschlichen Natur, als dass er auf die Dauer unterdrückt werden könnte. Es wird, man darf dies wohl sicher prophezeien, bis in alle Zukunft hin nicht an gross angelegten Naturen fehlen, welche über die engen Fachgränzen hinaus zu Conceptionen umfassenderer Art sich emporschwingen werden. Grosse Gedanken wirken sammelnd, und es pflegen unter deren Einfluss die Bestrebungen von scheinbar weit auseinander gehenden Richtungen wieder nach gemeinsamen Mittelpunkten hingelenkt zu werden. Wo aber die Kraft der Einzelnen nicht ausreicht, da tritt die wissenschaftliche Association in ihr Recht, die schon heute als ein kräftiges Hülfsmittel zur Bewältigung grosser Wissensgebiete sich erweist und von der wir voraussehen können, dass sie in Zukunft noch weit bedeutendere Dimensionen und dem entsprechend weit schärfere Organisation annehmen wird. So wie die Dinge heute stehen, erscheint die Wissenschaft nicht als ein in Trümmer zerfallendes Bauwerk, sondern als ein mächtiger Baum, dessen Kraft und Säftereichthum wächst, je vielverzweigter und je tiefer sich seine Wurzeln ausbreiten. Von ganz anderer Bedeutung als die Gefahren einer Verkümmerung unserer Wissenschaften infolge atomistischer Zersplitterung erscheinen mir die Schwierigkeiten, die sich mehr und mehr für die Organisation des Unterrichts ergeben: So lange wir Universitätslehrer nur Gelehrte zu erziehen haben, so hindert uns Niemand, mit unseren Schülern beliebig tief und auf beliebig lange Zeit in die Schachte hinabzusteigen, und wenn schliesslich nur noch Einzelne folgen, so wissen wir, dass sie dies aus freien Stücken thun und dass sie uns dankbar sind, wenn wir sie an eben die Stellen hinbringen, wo sie mit ihrer eigenen Arbeit einsetzen können. Eine wesentliche, in den Intentionen der Regierungen wohl die wesentlichste Bedeutung unserer Anstalten liegt aber darin, dass wir Fachschulen sind. Die damit 345

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uns zufallende Aufgabe, junge Männer zu einer Reihe von höheren Berufsarten geistig vorzubereiten, fällt mit der rein wissenschaftlichen nicht unbedingt zusammen. Denkbar wäre es ja, dass der Staat für die einzelnen Berufszweige besondere Schulen errichten und dabei völlig absehen könnte von aller weitergehenden Forscher- oder Gelehrtenbefähigung der dabei anzustellenden Lehrer. Wir halten es für eines der schönsten Vorrechte der Universitäten, ein Vorrecht, das sie z. B. vor den in anderer Hinsicht verwandten Academien voraus haben, dass ihnen die höchste Erziehung junger Staatsbürger anvertraut ist, und wir erkennen darin die grosse Werthschätzung, welche die streng wissenschaftliche Thätigkeit als solche in der öffentlichen Meinung seit Jahrhunderten behauptet hat und heute noch behauptet. Auch hinsichtlich der höchsten Berufsbildung stellt nun aber der Staat die berechtigte Forderung, dass sie innerhalb eines gegebenen, in der Regel auf vier oder auf fünf Jahre normirten Zeitraumes sich vollenden könne. Das vorgeschriebene Zeitmass erlaubt nur eine gewisse Ausdehnung des Schülerpensums, und indem eine jede Fachzerspaltung eine Mehrbelastung des letzteren bringt, so tritt schliesslich ein Zeitpunkt ein, wo der ins Unendliche sich ausbreitende Strom der Wissenschaft an der sehr endlichen Capacität der Recipienten sich brechen muss. Am intensivsten haben sich bis jetzt die Folgen der Fächerspaltung innerhalb der philosophischen und der medicinischen Facultät geltend gemacht. Erstere hat sich längst damit geholfen, dass sie von ihren Doctoranden nicht mehr den Nachweis von Kenntnissen in allen von ihr gelehrten Fächern, ja auch nicht einmal in allen Fächern einer Abtheilung verlangt. Sie gestattet die Wahl von Fächern innerhalb eines bestimmten, allmählig wohl immer enger werdenden Kreises. Der medicinischen Facultät steht dieser Ausweg nicht offen, dieselbe hat die früher bestandenen Partialprüfungen für Chirurgie oder für Geburtshilfe allein längst abgeschafft, weil sich allenthalben die Ueberzeugung Bahn gebrochen hat, dass die medicinische Bildung nur als Ganzes aufgefasst und nicht willkürlich in Stücke zerschnitten werden kann. Je mehr nun aber im Bereich unserer Facultät die wissenschaftlichen Grundfächer an Breite zunehmen, je mehr anderseits die praktischen Specialitäten sich emancipiren, um so schwieriger wird unsere Stellung. Unter den Vorbereitungsfächern hat man die der Bildung förderlichen von den unerlässlichen Grundlagen geschieden, und, so bedauerlich dies sein mag, von den ersteren bereits mehrere fallen lassen. Wir dringen auf eine Vermehrung der staatlich normirten Studienzeit, deren Dauer, wesentlich unter dem Einfluss der Kriegsbehörden, von den früher festgesetzten fünf auf unzureichende vier Jahre herabgedrückt worden ist. Wir streben darnach, in der gymnasialen Vorbereitung der jungen Leute Aenderungen zu erreichen, die sie befähigen, rascher in den Geist naturwissenschaftlichen Unterrichts sich einzuleben. Allein alles das wird, falls erreichbar, vielleicht nur auf Jahrzehnte hinaus den vorhandenen Schwierigkeiten begegnen. Im Augenblick waltet der Kampf mit den Specialitäten, deren jede mit den trefflichsten Gründen von der Welt die Rechte des Examenfaches zu erkämpfen sucht. Die Facultäten widerstreben, weil sie, mit der Verantwortlichkeit für das Gesammtstudium belastet, jede weitergehende Zersplitterung als eine Gefahr grösserer Studienverflachung ansehen müssen. 346

Antrittsrede 1882

Unwillkürlich bin ich wieder auf mein besonderes Facultätsgebiet hingedrängt worden. Vielleicht ist aber ein Jeder von Ihnen im Stande gewesen, auf seinem eigenen Gebiete entsprechende Illustrationen zu finden, und so ist es wohl eine Sache gemeinsamen Interesses, zu untersuchen, nach welchen Richtungen den für den Unterricht vorhandenen und voraussichtlich immer grösser werdenden Schwierigkeiten begegnet werden kann. Es handelt sich hierbei um ein Problem, das einer ganzen Zeitperiode gestellt ist, und insofern darf ich annehmen, dass Sie nicht von mir als Einzelnem dessen Lösung erwarten werden. Ja, indem die Schwierigkeiten ihren letzten Grund in dem Conflict finden zwischen der endlichen Beschränkung individueller Fassungsgabe und dem unendlichen Reichthum wissenschaftlicher Entfaltung, so ist eine absolute Lösung des gestellten Problems überhaupt nicht vorauszusehen. Es wird sich immer in der einen oder der andern Weise um eine Zerschneidung des Knotens handeln, bei der zu erwägen sein wird, an welcher Stelle die erwachsenden Nachtheile die geringst möglichen sind. Der einfachste Weg zu einer Condensation des Unterrichts würde in einer Rückkehr zur früheren dogmatischen Form liegen. Nach unserer heutigen Auffassung genügt diese aber den Anforderungen an einen streng wissenschaftlichen Unterricht nicht mehr, und jedenfalls dürfte man höchstens daran denken, partiell zur alten Behandlungsweise zurückzukehren. Ein anderer, den principiellen Rückschritt vermeidender Weg führt dahin, dass man in noch allgemeinerer Weise, als dies zur Zeit geschieht, orientirende Vorlesungen neben denen hergehen lässt, welche das Fach nach seiner vollen Breite behandeln. Zwischen speciellen Fachvorlesungen und sogenannten populären liegen als Mittelform solche Vorträge, in denen die Kernfragen einer Wissenschaft für kritisch gebildete Zuhörer behandelt werden. Auf letztern Punkt fällt dabei das Schwergewicht, denn die Gefahr, dass durch Uebersichtsvorlesungen Oberflächlichkeit und Dilettantismus gepflegt werden, fällt nur dann hinweg, wenn durch die anderweitige geistige Erziehung in dem Schüler die Fähigkeit zu scharfer sachlicher Beurtheilung natürlicher und menschlicher Dinge zur Ausbildung gebracht worden ist und wenn er somit jederzeit ein klares Bewusstsein von den Gränzen seiner Urtheilsberechtigung besitzt. Inwieweit nun eine derartige Condensation des Unterrichtes möglich ist, und was dadurch erreicht werden kann, das ist wohl in allgemeiner Weise kaum discutirbar. Innerhalb eines jeden Studienganges liegen Gebiete, deren Detail zu kennen unerlässlich ist, andere, bei welchen der sichere Besitz der maassgebenden Grundvorstellungen genügt. Allerdings ist es ein eigenes Ding um die Mittheilung der letzteren, und es kennen wohl alle Lehrer die bei den Prüfungen stets wiederkehrende Erfahrung, dass das zerstreute Detail einer Wissenschaft von den Schülern sehr viel leichter zurückbehalten wird, als deren Fundamentalbegriffe. Zur Aneignung von jenem bedarf es eben der blossen Gedächtnissaufnahme, zur Erwerbung von letzteren der selbständigen Geistesarbeit. Vielleicht wird es immer nur die Kunst weniger, besonders begabter Lehrer bleiben, ihren Stoff so zu gliedern, dass auch bei knapper Form der Zuhörer einen Begriff von dem tieferen Inhalt der Sache bekommt. Nach einer ganz anderen Richtung hin, als der eben angedeuteten, lässt sich erwarten, dass der wissenschaftliche Unterricht an concentrirter Leistungsfähigkeit 347

Wilhelm His

noch gewinnen kann. In sehr viel reicherem Maasse als unseren Vorgängern sind uns wissenschaftliche Unterrichtsmittel der verschiedensten Art zu Gebote gestellt und, wenigstens auf naturwissenschaftlichem Gebiete, sind wir mit deren Hülfe oft im Stande, dem Schüler binnen weniger Stunden klar zur Anschauung zu bringen, was wir vielleicht bei unvollkommenen Hülfsmitteln nur sehr mühsam und allmählig uns angeeignet haben. Die in dieser Richtung im Laufe verhältnissmässig kurzer Zeit gemachten Fortschritte sind ausserordentlich, und doch sind wir damit sicherlich noch in den ersten Anfängen. Insbesondere glaube ich, dass wissenschaftliche Anstalten in noch weit höherem Maasse als bisher der fortlaufenden Weiterbildung von Gelehrten und akademischen Lehrern können dienstbar gemacht werden. Bis jetzt ist bei der überwiegenden Zahl unserer Anstalten das besondere Universitätsbedürfniss massgebend, und deren Vorsteher sind, weil sie zugleich Lehrer sind, darauf angewiesen, in erster Linie für ihre eigene und ihrer Schüler Belehrung zu sorgen. Immerhin besitzen wir, ganz abgesehen von Bibliotheken und von grossen Landesmuseen, schon jetzt einige Anstalten, welche von directen Lehrzwecken absehen und nur die Aufgabe verfolgen, den betreffenden Fachgelehrten einestheils rasche Anschauung über grössere Gebiete, anderntheils auch das Material und die Gelegenheit zu besonderen Arbeiten zu gewähren. Dahin gehören z. B. die verschiedenen, am Seestrande errichteten zoologischen Stationen, vorab die schon so einflussreich gewordene Dohrnsche Station in Neapel, dahin gehört, soweit meine Kenntniss reicht, auch das deutsche archäologische Institut in Rom. Die Errichtung solcher, ausser aller Universitätsverpflichtungen liegender wissenschaftlicher Centralanstalten ist der weitesten Ausbildung fähig, und kann meines Erachtens für die Zukunft wissenschaftlicher Entwickelung und wissenschaftlicher Lehre von grösster Bedeutung werden. Derartigen Anstalten ist die Aufgabe zu stellen, dass sie alles auf bestimmte Fragen eines Gebietes bezügliche Material in grösster Vollständigkeit sammeln, dasselbe in grösster Uebersichtlichkeit ordnen und es mit grösster Liberalität Denen, die desselben bedürfen, zugänglich machen. Bei Errichtung solcher Centralanstalten können internationale Association und internationaler Wetteifer in gleicher Weise in Anspruch genommen werden. Beispiele von der grossen Leistungskraft des internationalen Wetteifers bei Ergreifung wissenschaftlicher Aufgaben liegen ja bereits in genügendem Maasse vor, in den grossen Expeditionen zur Erforschung geographischer Fragen, in den Unternehmungen zur Ermittelung astronomisch wichtiger Verhältnisse, sowie in denjenigen zur Bestimmung der Tiefseefaunen. Fragen von ähnlicher Tragweite, wie die also unternommenen, besitzt aber wohl jede von unseren Wissenschaften und bei Sammlung und Organisation der Arbeit sollte es nicht schwer sein, nach sehr verschiedenen Richtungen hin die zur Erfüllung grosser Aufgaben erforderlichen Mittel in Fluss zu bringen. Denn wie zu keiner Zeit, soweit unsere Kenntniss menschlichen Culturlebens reicht, die wissenschaftliche Arbeit so breit und so eindringlich sich entwickelt hat, so ist sie auch noch nie von so allgemeiner, durch alle Kreise der Völker hindurch sich erstreckender Theilnahme getragen worden. Ich gelange zum Schluss und präcisire noch einmal unsere heutige Stellung: Von Jahr zu Jahr grösser wird der den Universitäten anvertraute wissenschaftliche Schatz, 348

Antrittsrede 1882

von Jahr zu Jahr höher wächst ihre Verantwortlichkeit bei dessen Verwaltung. Nach der einen Seite hin ist die heranwachsende Generation immer tiefer einzuführen in den Geist und in die Ergebnisse gründlicher und gewissenhafter Einzelforschung, nach der andern Seite aber bleibt die Grundforderung bestehen, in der academischen Jugend einen weiten, idealen Sinn wach zu halten, ihr das Verständniss zu eröffnen für den innern Zusammenhang aller wissenschaftlichen Arbeit, in ihr die Ueberzeugung zu begründen von der Nothwendigkeit des Anschlusses an eine jegliche höhere Bestrebung unseres Geschlechts. ***

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31. October 1883. Rede des abtretenden Rectors Dr. med. Wilhelm His. Bericht über das Studienjahr 1882/83. Hochverehrte Anwesende! Bevor ich das mir anvertraute Amt dem von der Universität erwählten neuen Oberhaupte übergebe, liegt es mir ob, Bericht abzulegen über die wichtigeren Vorkommnisse des verflossenen Amtsjahres. Im Allgemeinen lässt es sich wohl als ein Jahr ruhigen Gedeihens für unsere Universität bezeichnen und auch die Ueberzeugung darf ich aussprechen, dass dasselbe für Lehrer wie Studirende eine Periode fördernder Arbeit umschlossen hat. In diesem Jahre, gleich wie in früheren, hat die Universität thatsächliche Beweise bekommen von dem huldvollen Wohlwollen, welches Seine Majestät König Albert ihr zuzuwenden nicht müde wird. Es hat unser Rector Magnificentissimus während seines vom 2. bis zum 5. Februar d. J. andauernden Aufenthaltes in Leipzig bei einer Reihe unserer Collegen Vorlesungen angehört und mehrere Institute auf das Eingehendste besichtigt. Die von Seiner Majestät bei diesen verschiedenen Anlässen, sowie die zum Schluss bei der Abreise gethanen Aeusserungen haben abermals bestätigt wie die Universität bei ihrem obersten Landesherrn eines warmen, einsichtigen und bis in’s Einzelne hineinreichenden Interesses sich erfreuen darf. Zwei unserer Institute, das physikalische und das botanische haben diesmal die besondere Ehre erfahren, von Ihrer Majestät der Königin besucht zu werden. Wenige Monate nach dem für die Stadt Leipzig und für die Universität so erfreulichen Besuch Ihrer Majestäten sind wir alle tief ergriffen worden durch die Schrekkensnachricht von dem in Mylau geschehenen Unglücke und von der wunderbaren Bewahrung des Lebens Seiner Majestät. In einer an König Albert sofort abgesandten Depesche hat die Universität den Empfindungen ihrer Theilnahme Ausdruck gegeben und hierauf umgehende Antwort von Seiner Majestät erhalten. Von grösseren baulichen Schöpfungen rein academischer Natur ist diesmal Nichts zu berichten. Indessen verdient ein Privatinstitut hier erwähnt zu werden, das nach seiner Entstehung und nach seiner Verwendung der Universität sehr nahe steht. Die seiner Zeit von dem verstorbenen Prof. Ritterich begründete Anstalt für arme Augenkranke hat im April dieses Jahres ihr neu errichtetes Gebäude an der Liebigstrasse bezogen. Auf früherem Universitätsboden stehend, von einem Mitgliede unserer medicinischen Facultät ärztlich geleitet und von jeher eine Stätte academischer Lehrthätigkeit wird die Anstalt auch in der Folge fortfahren, dem ärztlichen Unterricht zu dienen. Mit Rücksicht hierauf ist vom Königlichen Ministerium ein Beitrag zur Herstellung geeigneter Unterrichtsräume bewilligt worden, und so dürfen wir wohl fortan die stattliche, den Eingang unseres Institutsviertels zierende Anstalt dem weiteren Kreis unserer academischen Anstalten mit beizählen. 350

Jahresbericht 1882/83

Weitreichende Ideen haben zur Zeit meines vorjährigen Amtsantrittes in der Luft geschwebt über die Errichtung eines Prachtbaues zur Aufnahme der Bibliothek. In Verbindung damit wurde die Herstellung neuer Auditorien und grossartigerer Senatsräume besprochen. Ich weiss nicht, ob Ihnen mein Nachfolger über’s Jahr positivere Aussichten wird eröffnen können. Vorläufig hat sich herausgestellt, dass bedeutende Schwierigkeiten müssen überwunden werden, bevor die angedeuteten Ideen schärfere Gestalt zu gewinnen vermögen. Wir vertrauen indess, dass die hohe Regierung in dieser, wie in anderen Fragen, ein offenes Auge für das Wohl der ihr unterstellten Anstalt haben, und dass sie im geeigneten Augenblick kein Bedenken tragen wird zur That zu schreiten. Zwei grosse Stipendienstiftungen sind in diesem Jahre der Universität zugewendet worden. Die eine von 24 000 Mark ist ein Vermächtniss des am 22. März d. J. in Dresden verstorbenen Oberstabsarztes a. D. Ludwig Robert Rössig und von dessen, ihm im Tode vorausgegangener Ehefrau Charlotte Dorothea geb. Schuster. Es sollen aus den Zinsen der Rössigstiftung sächsische Studirende der Medicin unterstützt werden, mit Bevorzugung derer vom Namen Rössig. Die zweite oder die Gehe-Winklersche Stiftung umfasst ein Legat von 30 000 Mark. Dasselbe ist von dem am 22. Juni 1882 verstorbenen Dresdner Kaufmann Franz Ludwig Gehe mit der Bestimmung vermacht worden, dass die Zinsen zu einem einzigen, vom Senat zu vergebenden Stipendium sollen verwendet werden. Bei der Perception geben gewisse, im Testament näher ausgeführte Verwandtschaftsbeziehungen einen Vorzug, im Uebrigen sollen Predigersöhne hauptsächliche Berücksichtigung finden. Das Institut der academischen Freitische, zu welchem die Beiträge Seitens von Mitgliedern und Freunden der Universität jedes Jahr von Neuem gezeichnet zu werden pflegen, erfreut sich fortlaufender Theilnahme. Es ist dies eines der wenigen Beneficien, welche auch nichtsächsischen Studirenden zu Gute kommen; speciell für hessische Stammesgenossen ist dies Jahr, gleich wie früher, der hessische Hülfsverein und dessen Vorsitzender Herr Philipp Batz in dankenswerther Weise eingetreten. Von den das Leben der Universität und ihrer Angehörigen regelnden statutarischen Ordnungen sind einige durch den Senat überarbeitet worden. In erster Linie das Statut für die allgemeine Wittwen- und Waisencasse der Universität. Herr Geheimrath Drobisch hatte sich der mühevollen und ausserordentlich dankenswerthen Arbeit unterzogen die mathematischen Unterlagen des Statuts festzustellen und durchzurechnen. Ich benutze den Anlass, demselben von dieser Stelle aus den besten Dank der Universität für seine gemeinnützigen Bemühungen auszusprechen. Auch das Statut, welches die Verwendung der so segensvollen Albrechtstiftung regelt, ist gemäss der vor 6 Jahren festgesetzten Bestimmung revidirt und in einigen Punkten den seither gemachten Erfahrungen angepasst worden. Es konnten aus der grossartigen Stiftung in diesem Jahre 12 500 Mark an Docenten der Universität, theils zur Unterstützung wissenschaftlicher Reisen, theils zu sonstiger Förderung von wissenschaftlichen Arbeiten vertheilt werden. Der Senat hat überdies Anlass gehabt mit Durchsicht der Immatriculations- und Disciplinar-Ordnung und im Anschluss daran auch mit einigen Paragraphen der Quä351

Wilhelm His

stur-Ordnung sich zu befassen, und es sind die umgeänderten und vom Königlichen Ministerium genehmigten Ordnungen mit Beginn dieses Semesters in Kraft getreten. In dem Collegium der ordentlichen Professoren ist mit Beginn dieses Jahres eine Lücke ausgefüllt worden, die seit dem Jahre 1876 schmerzlich empfunden worden war. An die Stelle unseres damals dahingeschiedenen unvergesslichen Collegen Peschel ist Ferdinand Freiherr von Richthofen zum Professor der Geographie ernannt worden, und in allen Kreisen der Universität ist die Freude gross gewesen, dass wir diesen Namen fortan zu den unserigen zählen dürfen. In der juristischen Facultät haben wir zwar keinen neuen Namen zu verzeichnen, wohl aber freuen wir uns, dass deren Ordinarius Herr Geheimer Rath Prof. D. Windscheid mit Beginn dieses Semesters wieder zu uns zurückgekehrt ist, nachdem er wegen seiner Arbeiten im Dienste der Reichsgesetzgebung durch mehr denn zwei Jahre von uns hatte wegbleiben müssen. Aus der medicinischen Facultät haben wir am Schluss des Wintersemesters Herrn Collegen Erb an dessen heimathliche Universität Heidelberg zurückgeben müssen. Herr Professor Erb hatte sich während der drei Jahre seines Hierseins durch sein frisches loyales Wesen die Sympathien nicht nur der Collegen und Schüler, sondern auch der weitesten Kreise der Bevölkerung erworben, und wir haben es schwer bedauert, dass die Lage der Verhältnisse nicht erlaubt hat, ihn bleibend für uns zu erhalten. Dafür aber heben wir mit besonderer Befriedigung hervor, dass ein anderer uns drohender Verlust, die unter sehr lockenden Bedingungen angebahnte Wegberufung unseres Collegen Wundt nach Breslau durch richtiges Eingreifen des Königlichen Ministeriums ist abgewendet worden. Als Frucht aus den Verhandlungen kann die Universität die officielle Errichtung eines Laboratoriums für experimentelle Psychologie verzeichnen. Von den jüngeren an unserer Universität thätigen Kräften hat uns dies Jahr eine grössere Zahl verlassen, um in auswärtige Wirkungskreise einzutreten: Aus dem Kreise theologischer Docenten die Herren Lic. theol. D. phil. Wilhelm Lotz und Lic. theol. D. Georg Schnedermann. Ersterer, der sich eben erst habilitirt hatte, ist als Repetent und Privatdocent an die Universität Erlangen übergegangen, letzterer hat die vom Verein für christlich-theologische Wissenschaft an der Universität Basel fundirte Stellung angenommen. Die medicinische Facultät hat den im Laufe des Sommers zum Extraordinarius ernannten D. Christian Gerhardt Leopold an die Hauptstadt Dresden abgegeben, wo derselbe die Direction der Entbindungsanstalt übernommen hat. – Ferner ist der seit vorigem Jahre habilitirte D. Emil Kraepelin nach München übersiedelt um in eine Assistentenstelle an der dortigen Landesirrenanstalt einzutreten. Aus der philosophischen Facultät ist mit Beginn des Sommers Herr D. Wilhelm Creizenach einem Rufe als ausserordentlicher Professor der deutschen Sprache und Litteratur nach Krakau gefolgt. Ferner ist Herr D. Carl Chun zum ordentlichen Professor der Zoologie und Director des zoologischen Museums nach der Universität Königsberg berufen worden und hat seine dortige Stellung mit Beginn des Wintersemesters angetreten. 352

Jahresbericht 1882/83

Wir wünschen allen diesen Männern in ihrem neuen Wirkungskreise bestes Gedeihen und hoffen, dass die von hier ausgehende wissenschaftliche Saat allenthalben reiche Frucht tragen möge. Zu ausserordentlichen Professoren sind in der medicinischen Facultät die Herren Doctoren Ch. G. Leopold und Adolph Strümpell ernannt worden, in der philosophischen Facultät der bisherige Privatdocent für vergleichende Sprachwissenschaft Herr D. F. Carl Brugmann. – Herr Prof. Strümpell hat an Stelle von Herrn Prof. Erb die Leitung der medicinischen Poliklinik und die Vorlesungen über specielle Pathologie übernommen. In erfreulicher Weise kann auch diesmal wieder ein auf alle Facultäten sich vertheilender Zuwachs an jungen Lehrkräften verzeichnet werden: in die Zahl der theologischen Docenten ist ausser dem schon oben genannten Herrn Lic. Wilhelm Lotz, Herr Lic. D. Paul Ewald aus Leipzig eingetreten, in die der juristischen Herr D. jur. Conrad Hellwig aus Zierenberg bei Cassel, in die Zahl der medicinischen Docenten, der aus Japan zurückgekehrte D. Botho Scheube und Herr D. Paul Julius Möbius. Als Docenten an der philosophischen Facultät haben sich endlich habilitirt: Herr D. phil. Otto Crusius für classische Philologie und Herr D. Rudolf Kögel für deutsche Sprache und Litteratur. Rehabilitirt für das Fach der romanischen Sprachen und Litteratur hat sich Herr D. Franz Settegast, bisher ausserordentlicher Professor an der Universität Zürich. Durch Verordnung des Königlichen Ministeriums ist ihm verwilligt, den in Zürich verliehenen Titel auch fernerhin zu führen, jedoch ohne Aenderung seiner amtlichen Stellung als Privatdocent an der Universität. Durch den Tod haben wir einen älteren, seit Jahrzehnten vom Universitätsdienst zurückgetretenen Lehrer, Herrn Prof. ord. hon. Wilhelm Dindorf verloren, daneben aber einen jugendlichen, vor wenigen Jahren mit vollen Lebenshoffnungen bei uns eingetretenen Gelehrten, Herrn D. William Rolph. Letzterer hatte sich leider Krankheitshalber bald nach seiner Habilitation bei uns beurlauben müssen. Seine Anhänglichkeit an die Universität hat er dadurch bezeugt, dass er seine Bibliothek und seine Instrumente dem Institut vermacht hat, an welchem er unter Leitung unseres verehrten Herrn Collegen Leuckart thätig gewesen war. Einen ferneren Verlust hat die Universität erlitten, der allerdings nicht unseren Lehrkörper, wohl aber den Kreis unserer Beamten betrifft. Der Universitätsförster Herr Otto Berthold, ein Mann in den kräftigsten Jahren und vielfacher Familienvater ist im Verlauf des vorigen Monats einer Lungenentzündung erlegen. Er war ein tüchtiger treuer Beamter, seiner Stellung vollauf gewachsen und es wird schwer sein, ihn in befriedigender Weise zu ersetzen. Die Universität hat im Laufe des Jahres Anlass gehabt, eine Reihe von Festlichkeiten theils selbst zu begehen, theils in der einen oder anderen Form mitfeiern zu helfen. Zunächst gedenke ich der 50jährigen Jubelfeier der Universität Zürich. Der Senat hatte den berichterstattenden Rector dahin gesandt, wohl als eine lebende Anerkennung jenes einheitlichen Bandes, welches die Universitäten Deutschlands mit denen der Schweiz verbindet. Ich gedenke ferner des 50jährigen Amtsjubiläums Seiner Excellenz des Herrn Reichsgerichtspräsidenten D. Simson. Diesen hochangesehenen Mann durch eine, 353

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aus Rector und Decanen bestehende Deputation zu begrüssen, hatte sich die Universität zur besonderen Ehre gerechnet. Aus unserem eignen Kreise hebe ich vor Allem hervor das 60jährige Doctorjubiläum unseres allverehrten Seniors Geheimrath Moritz Wilhelm Drobisch. Dasselbe fiel auf den 21. September und unser Herr Prorector in Begleitung der anwesenden Facultätsdecane und verschiedener Mitglieder der philosophischen Facultät hat sich an dem Tage bei dem Herrn Jubilar eingestellt, um ihm von der ehrfurchtsvollen Gesinnung der Universität Zeugniss abzulegen. Das 50jährige Doctorjubiläum haben gefeiert: am 21. Februar der ordentliche Honorarprofessor D. Hoelemann und im darauffolgenden Monate der kaiserliche russische Staatsrath und hiesige ordentliche Honorarprofessor D. Ludwig Strümpell. Möge diesen Männern noch ein langes segensreiches Wirken an unserer Universität vergönnt sein. Nach auswärts hat die Universität als solche, zugleich mit der philosophischen Facultät, ihren Glückwunsch zum 50jährigen Doctorjubiläum des um Sachsens Unterrichtswesen so hochverdienten Geheimen Rath a. D. D. Robert Otto Gilbert in Dresden ergehen lassen. Einige Begrüssungen ähnlicher Art sind durch die Facultäten vorgenommen worden. Die medicinische Facultät hatte Anlass Herrn Geh. Hofrath D. Carl Ewald Hasse, zuletzt Professor der medicinischen Klinik in Göttingen eine Tabula gratulatoria zu schicken. Herr Hasse, aus Leipzig gebürtig, hatte vom Jahre 1838 ab bis zum Jahre 1844 bei uns das Fach der pathologischen Anatomie vertreten und sich in seiner nachherigen Laufbahn den Ruf eines der geachtetsten klinischen Lehrer erworben. Fernere Jubeldiplome hat die Facultät an drei vor 50 Jahren hier promovirte practische Aerzte übersandt. Die philosophische Facultät hat, ausser ihrer Beteiligung an früher genannten Jubiläen, Begrüssungen an Herrn Geheimrath Prof. D. Hase Exc. in Jena und an ihr auswärts weilendes Mitglied Herrn Prof. D. Minkwitz ergehen lassen. Am 26. Mai d. J. feierte der ordentliche Professor der theologischen Facultät Herr Geh. Kirchenrath D. Lechler sein 25jähriges hiesiges Professorenjubiläum, das dadurch noch besonders an Bedeutung gewonnen hat, weil mit diesem Zeitpunkt der genannte Herr College sein Amt als Pastor zu St. Thomas niedergelegt hat, um sich ausschliesslich der Universitätsthätigkeit zu widmen. An der von der theologischen Facultät veranlassten Feier hat sich der heutige Berichterstatter mit betheiligt. Auch die philosophische Facultät zählt in unserem, um die Universität in so mannigfacher Weise verdienten Herrn Prorector ein Mitglied, das am verflossenen 29. September seit 25 Jahren als Professor in Leipzig gewirkt hat. Der Herr Jubilar hatte sich indessen den Kundgebungen, die wir ihm so gerne dargebracht hätten, bescheidentlich entzogen. Die grossartigste Feier, an welcher die Universität in diesem Jahre theilgenommen hat, ist die vor wenig Tagen erfolgte Enthüllung des Leibnizdenkmals gewesen. Die Universität hatte um so mehr Grund bei würdiger Gestaltung der Feier mitzuwirken, als ja die erste Anregung aus ihrem Kreise und zwar von unserem, uns an 354

Jahresbericht 1882/83

dem Tage durch seine Gegenwart erfreuenden Senior ausgegangen war. Das durch einträchtiges Zusammenwirken von Universität und Stadt zu Stande gekommene Fest, die Feier in der Aula, der Festzug und der Enthüllungsakt selbst haben wohl, trotz der Ungunst der Witterung, allen Theilnehmern einen würdigen Eindruck hinterlassen. So schön solche Feiertage sind, so erhebend sie wirken mögen, so liegt doch, wie wir Alle wissen, die Kraft unserer Universität in der täglich wiederkehrenden Arbeit des Lehrens und des Lernens. Ob die Lehrenden ihrer Aufgabe gewachsen sind, dass ermisst sich einigermassen, wenn auch keineswegs mit mathematischer Genauigkeit, aus der Frequenz der Universität. In der Hinsicht sind wir nicht hinter früheren Jahren zurückgeblieben. Die Zahl immatriculirter Studierenden betrug: im Wintersemester 1882/3 3314 gegen 3317 im Vorjahre, im Sommersemester 1883 3097 gegen 3111 im Vorjahre. Die Zahl der von mir Immatriculirten hat gestern Abend 1925 betragen. Davon sind 834 in diesem Semester, 867 im Sommersemester und 224 im vorigen Wintersemester immatriculirt worden. Die Gesammtziffer der Immatriculationen differirt nur um ein Plus von 7 von derjenigen meines Herrn Vorgängers. Unsere Winterimmatriculationen stehen sich gleich mit 834. Dabei zeigt sich aber eine etwas andere Vertheilung nach den Facultäten, indem die Theologen und Juristen diesmal mehr in den Vordergrund treten. Es beträgt die Zahl der seit Beginn des Semesters von mir immatriculirten Theologen 182 gegen 156 im Vorjahr, Juristen 292 gegen 276 im Vorjahr, Mediciner 123 gegen 151 im Vorjahr, Philosophen 237 gegen 251 im Vorjahr. Unter Zugrundlegung der Frequenzziffer des Sommersemesters und der Anzahl der ausgetheilten Abgangszeugnisse beträgt heute die Zahl der immatriculirten Studirenden 3363 gegen 3259 im gleichen Zeitpunkte des vorigen Jahres. Aus der Zahl unserer Studirenden haben wir im Laufe des Jahres 13 durch den Tod verloren, darunter eine Anzahl junger Männer, welche ihren Eltern und ihren Lehrern Grund zu den schönsten Hoffnungen gegeben hatten. Leider umfasst die Ziffer der Todesfälle auch diesmal zwei Fälle von Selbstmord. Der Fleiss der Studirenden ist wohl, mit Abrechnung gewisser unvermeidlicher Ausnahmen, als ein allgemein befriedigender anzuerkennen. Das Verhältniss der Studirenden zu ihren Lehrern ist jedenfalls durchweg ein Verhältniss ungestörten Vertrauens geblieben. Auch als Rector habe ich die Freude gehabt, bei verschiedenen Anlässen zu constatiren, wie die hiesigen Studirenden gewohnt sind, in ihren Professoren und in dem Rector väterliche Freunde zu sehen, deren Rath sie bei vorhandenen Schwierigkeiten vertrauensvoll einholen können. Möge dies, für ein gedeihliches Zusammenarbeiten unerlässliche Verhältniss sich jederzeit bei uns erhalten. Bei zwei Anlässen hat sich ein grösserer Theil der Studentenschaft zu gemeinsamem Wirken verbunden. Das erste Mal bei dem grossartigen patriotischen Commers vom 18. Januar zur Feier der Errichtung des deutschen Reiches und zu derjenigen der silbernen Hochzeit des kaiserlichen kronprinzlichen Paares, das zweite Mal bei dem Festzuge der Erfurter Lutherfeier. Man kann es nicht genug begrüssen, wenn die jungen Männer, welche später für das Wohl desselben grossen Vaterlandes 355

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zusammenzuarbeiten berufen sind, zeitig sich gewöhnen, Unterschiede persönlicher Auffassung höheren Principien unterzuordnen und auch mit temporären Gegnern an gemeinsamen Aufgaben zusammenzuwirken. Ich gedenke zum Schluss derjenigen, welche, nach Abschluss ihrer Studienzeit, ihr Wissen durch abgelegte Prüfungen bewährt haben. An Staatsprüfungen sind hier laut Mittheilungen der Königlichen Kreishauptmannschaft mit Erfolg abgelegt worden: 57 theologische Candidatenexamina, 55 Examina von Candidaten der Rechte, 61 ärztliche Approbationsprüfungen, 99 Prüfungen für das höhere Schulamt und 48 pharmaceutische Prüfungen. Innerhalb der Facultäten aber verzeichnen wir 5 Promotionen von Licentiaten der Theologie, 80 juristische Doctorpromotionen, 92 Promotionen von Doctoren der Medicin und 98 von Doctoren der Philosophie, bei 136 erfolgten Meldungen. Honoris causa zu Doctoren creirt wurden: bei der juristischen Facultät Herr Geh. Oberjustizrath Carl Dietrich Adolf Kurlbaum in Berlin und bei der philosophischen Facultät Herr Prof. Ludwig Nieper, Director der Kunstakademie. Es kann hochverehrte Anwesende ein Bericht, wie der heutige, nur eine Aufzählung äusserlicher Vorgänge und Erscheinungen geben; auf das innere Leben des reich verzweigten Organismus einzugehen, ist der Natur der Sache nach unmöglich. Davon, dass dies Leben zur Zeit ein kräftiges und gesundes ist, davon haben wir wohl Alle das Bewusstsein; an uns Allen aber, an Lehrern, Studirenden und Beamten ist es dafür zu sorgen, dass dies auch fernerhin so bleibe. Hieran anschliessend fand die Verkündigung der Preisfragen statt, sowie die Eidesleistung des neuen Rectors und die Uebergabe der Amtsinsignien an denselben. ***

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Max Heinze (1835–1909)

31. October 1883. Rede des antretenden Rectors Dr. ph. Max Heinze.

Über den sittlichen Werth der Wissenschaft. Hochverehrte Anwesende! Die letzte Function des Rectors unserer Universität vor Uebergabe des Amtes an seinen Nachfolger ist es, wie wir es soeben vernommen haben, die Urtheile über Bearbeitungen von Preisaufgaben zu veröffentlichen und die für das nächste Jahr gestellten Preisthemata mitzutheilen. Es ist so mit dem Wechsel des Rectorats ein geistiger Wettkampf an der Universität zum Abschluss gekommen, die Arena zu einem neuen Wettlauf ist eröffnet; Freiwillige, die Geschick und Kraft genug zu haben meinen, werden aufgefordert, in die Schranken zu treten. Das Gebiet der Wissenschaft soll dabei den Kampfplatz abgeben, das Gebiet, mit dem es unsere Universitäten überhaupt zunächst zu thun haben, welche „Pflanzstätten der höheren Geistesbildung“ sein sollen, und zwar in einer doppelten Weise: Einmal wird die Wissenschaft hier gepflegt als eine zu fördernde, indem jedes Mitglied einer Universität nach seinen Kräften an der Forschung teilzunehmen hat, und wenn es dieselbe auch nur in einem kleinen Stücke vorwärts bringt, sodann aber als eine zu lehrende, indem der Lehrer das, was er als Wahrheit gefunden hat, an die studirende Jugend überliefert, jedoch nicht nur als zwar festes aber todtes Wissen, sondern mit diesem Wissen soll zugleich in die empfänglichen Seelen gepflanzt werden der Sinn für die Wahrheit, die Liebe zur Erkenntniss, der Trieb, selbst weiter zu forschen, d. h. die lebendige Wissenschaft, die einmal aufgenommen, nicht ruhen lässt, sondern weiter strebt. Freilich haben die Universitäten noch eine andere Aufgabe, als in diesem doppelten Sinne die Wissenschaft zu pflegen: Sie sollen die Lernenden auch für den künftigen Beruf ausbilden. Die Forschung muss demgemäss Beziehung zu dem Leben suchen, und die Wissenschaft in ihrer Anwendung, sofern sie das Leben in seiner Mannigfaltigkeit regelt, heilt, bessert und fördert, muss berücksichtigt werden. Eine niedrige Auffassung unserer höchsten Bildungsanstalten würde es aber sein, wenn der letzterwähnte Zweck als der einzige oder auch der alles Uebrige beherrschende angesehen würde. Die Universitäten unterlägen so bald der Gefahr, 357

Max Heinze

ausser der Wissenschaft stehenden Zwecken zu dienen, mehr und mehr technische Anstalten zu werden. Die wahre Weihe, welche für das Leben des Einzelnen dauern soll, erhält das akademische Studium nicht durch die Sorge um das spätere tägliche Brod, nicht durch das wirthschaftliche Abwägen von Einsatz und Gewinn, sondern durch das Athmen in der reinen Luft der Wissenschaft, ohne Bedenken darüber, ob dies für das praktische Leben auch etwas nütze. Nicht nur Institute, um junge Männer zum Staats-, Kirchen- und Schuldienst und anderen bürgerlichen Berufsarten auszubilden, sind unsere Universitäten, sondern „Königsburgen der besten und erhabensten Beherrscherin der Welt, der Sophia“ sollen sie sein, wie sich ein erlauchter deutscher Fürst des 17. Jahrhunderts ausgedrückt hat. In diesem Sinne und mit dieser Bestimmung vornehmlich sind sie gestiftet und zur Zeit der Reformation erneuert worden mit Hülfe des von Luther ausgehenden Geistes. Wenn wir, die Lehrer, nun unser Leben an die Wissenschaft setzen, und andererseits Sie, meine Herren Commilitonen, die ideale Zeit Ihrer Jugend auf dieselbe verwenden, so scheint die Frage nicht ungerechtfertigt: Ist denn die Wissenschaft, ohne dass der praktische Nutzen berücksichtigt wird, ein so hohes Gut, das solche Arbeit lohnte? Giebt es nicht höhere Güter noch, die ganz ausser ihrem Bereiche liegen, zu deren Erlangung sie nicht einmal als vorzügliches Mittel dienen kann? Der Königsberger Weise beginnt eine seiner Schriften: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch ausser derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“ Wir werden hiermit bei der Frage nach dem höchsten Gute auf das sittliche Gebiet gewiesen, und Niemand wird leugnen wollen, dass für uns das unbedingt Werthvolle auf diesem liegt, mögen wir dieses unbedingt Werthvolle nun bestimmen als die höchste innere Befriedigung oder als die Unterordnung unter das sittliche Gebot, wenn auch dies Beides nicht streng von einander gesondert zu denken sein wird. Hat doch sogar die eiserne Moral Kants in das vollendete Gut die Glückseligkeit mit eingeschlossen. Wie stellt sich nun zu diesem höchsten Werthe das Wissen? Mühen wir uns an den Stätten der Wissenschaft vielleicht ab, ohne dabei um den höchsten Preis zu kämpfen? Fragen wir bei früheren Denkern nach, so finden wir da einen Zwiespalt der Meinungen. Fortschritt in dem Wissen erkennt man allgemein an, in Folge dessen auch eine Zunahme der Cultur – denn von dem Wissen fallen die Früchte für diese ab, auch ohne dass es beabsichtigt ist –, eine höhere Entwickelung der Sittlichkeit jedoch soll nicht damit verbunden sein. Das Wissen ist eine Macht, welche dem Menschen mehr und mehr die Herrschaft über die Natur giebt und ihn die Mittel zur Erhaltung, Beförderung und Verfeinerung des Lebens lehrt, so dass in dieser Beziehung ein grosser Unterschied zugegeben wird zwischen der jetzigen Zeit und den früheren Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden, aber die Hauptsätze, welche die Moralsysteme ausmachen, sollen, soweit man in der Geschichte zurückgreift, bekannt gewesen und dieselben geblieben sein, so dass ein Causalitätsverhältniss zwischen Wissen und Sittlichkeit verneint, oder sogar Gefahr für die Moral von Seiten der Wissenschaft behauptet wird. 358

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Sah doch der Natur- und Einfaltschwärmer Rousseau, der den Bruch mit der Geschichte nicht scheute, die Wissenschaft als die Erfindung eines dem Menschen feindlichen Gottes an. Durch Kunst und Wissenschaft, durch Nachdenken sei die Unschuld und ihr Glück gestört. Aehnliche, wenn auch nicht ganz so schroffe Ansichten theilte der englische Verfasser einer in Deutschland viel gelesenen und hochgeschätzten Geschichte der englischen Civilisation, und in Folge dessen sind derartige Anschauungen bei uns allgemeiner geworden. Es liesse sich nun wenigstens der Wahrscheinlichkeitsbeweis liefern, dass in Folge bestimmter Erkenntnisse gewisse Gesetze der Moral sich erst gebildet und zur Geltung gekommen sind. So, um hier nur eines zu erwähnen, ist das Gebot der allgemeinen Menschenliebe erst anerkannt worden, nachdem man zu der Einsicht gekommen war, dass wir Menschen alle gleichen Wesens sind, alle Theil haben an dem Göttlichen, also zu dem Bewusstsein der Zusammengehörigkeit des ganzen Menschengeschlechtes. Und mit der allgemeineren Verbreitung dieser Erkenntniss ist auch der sittliche Grundsatz, durch den zugleich die Sclaverei principiell gerichtet ist, in weitere Kreise gedrungen und in diesen lebendig geworden. Man braucht nur an die zahlreichen Wohlthätigkeitsanstalten der verschiedensten Art zu denken, um sich davon zu überzeugen, dass die Uebung der Humanität ganz andere Ausdehnung in der Gegenwart gewonnen hat, als dies z. B. zur Zeit römischer Kaiser der Fall war, wiewohl das Princip derselben damals wenigstens von Einzelnen schon ausgesprochen wurde. Es ist offenbar eine Verkennung oder wenigstens eine nicht stichhaltige Erklärung der vorliegenden äusseren Thatsachen, aus denen zunächst man auf den sittlichen Zustand eines Zeitalters den Schluss ziehen muss, zu leugnen, dass überhaupt mit der fortschreitenden Entwickelung der Menschheit eine Steigerung, Verfeinerung und Ausbreitung des sittlichen Bewusstseins verbunden sei. Es scheinen allerdings auf dem Gebiete der Moral nicht selten retrograde Bewegungen vorzukommen, namentlich in local beschränkter Weise ist häufig ein staunenswerthes und rasches Fallen zu beobachten. Das ist aber das Gesetz der geschichtlichen Entwickelung überhaupt, dass sie nicht in gerader Linie vor sich geht, sondern in Curven sich vorwärts bewegt. Wir bemerken dies sogar, wo es am wenigsten der Fall sein sollte, auf intellectuellem Gebiete. In Anlehnung an Rousseau, aber weniger das Missverhältniss zwischen Bildung und Tugend betonend, lehrt die krankhafte, jetzt mehr und mehr wieder im Verschwinden begriffene Richtung des Pessimismus, dass Erkenntniss und Glück nicht in gleichmässigen Proportionen steigen, sondern dass vielmehr ein umgekehrtes Verhältniss stattfinde: Je mehr Erkenntniss, desto weniger Glückseligkeit. „Wo viel Weisheit ist, da ist auch viel Grämens“, so klagt schon der Prediger Salomo. Und den Satz: Qui auget scientiam auget dolorem, haben Schopenhauer und seine Anhänger zu dem ihrigen gemacht. In dem Maasse, wie die Erkenntniss zur Deutlichkeit gelangt, das Bewusstsein sich steigert, wächst auch in der Stufenleiter der Wesen die Qual, die also in den Menschen unter allen Geschöpfen den höchsten Grad erreicht, und bei diesen um so stärker wird, je intelligenter das Individuum ist. Der, in welchem der Genius lebt, hat am meisten zu leiden. – Eine trostlose Aussicht für die Menschheit, deren Wissensschatz immer grösser wird, eine trostlose Aussicht für das Indivi359

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duum, das stets danach trachtet, seine Intelligenz zu erhöhen und zu erweitern, trostlos namentlich für uns Lehrer an der Universität, die wir die Aufgabe haben, die Wissenschaft zu fördern und sie in den Seelen der Lernenden zu vervielfältigen! Um bei ihr nicht zu verzweifeln, dazu gehört die ganze Lehre von dem Elend der Welt überhaupt, welche gipfelt in der Nothwendigkeit, dem Lebens- und Weltprocess, als etwas Unvernünftigem, ein Ende zu machen, in der Art, dass durch Erhöhung der Intelligenz diesem ersehnten Ziele zugearbeitet wird. So wäre die Erkenntniss schliesslich doch wieder dazu behülflich, vom Elend des Daseins zu erlösen. Man übersieht offenbar bei dieser ganzen Anschauung, dass die Wissenschaft im Laufe der Jahrhunderte mehr und mehr Mittel zur Verminderung des Uebels und zur Erzeugung von positiver Lust gefunden hat, dass heutigen Tags für den Einzelnen die Möglichkeit, sich einen Zustand relativen Wohlseins zu verschaffen, im Durchschnitt eine grössere ist, als in früheren Zeiten. So kann an eine Minderung des Glücks der Menschheit im Allgemeinen nicht geglaubt werden. Sodann vergisst man, dass der Einzelne, abgesehen von äusseren Vortheilen, die er sich durch Kenntnisse erwerben kann, im Erkennen selbst Befriedigung findet, mag er sich dies nun gewinnen durch eigene Forschung oder es überliefert erhalten. Die menschliche Seele ist einmal dazu angelegt, wissen zu wollen, und wenige Genüsse kommen dem gleich, den sie empfindet, wenn zu dem vorhandenen Besitz Neues hinzutritt. Ganz anders als Schopenhauer und seine Nachfolger dachten hierüber schon die ältesten griechischen Philosophen, von denen der eine das Glück des Lebens bestimmt haben soll als die Anschauung und Erkenntniss der Welt, und der andere das Entdecken einer wissenschaftlichen Begründung dem Besitz des Perserreichs in der Theorie vorzog. Wird für die bildungs- und fortschrittsfeindliche Richtung geltend gemacht, dass durch Erhöhung der Intelligenz die Reizbarkeit bedeutend gesteigert würde, und so von einem geistig hochstehenden Menschen die Nadelstiche des tagtäglichen Lebens in ähnlich intensiver Weise empfunden würden, wie Keulenschläge von einem seinem Intellect nach Untergeordneten, so vergibt man, dass bei überhaupt gesteigerter Empfindsamkeit auch die für die Freuden des Lebens stärker in Anspruch genommen wird, so dass auf der Höhe der Intelligenz wenigstens ein Ausgleich stattfinden müsste. In der Entwickelung der Philosophie ist nun freilich im Ganzen eine Richtung geltend gewesen, welche eine Incongruenz zwischen Erkenntniss und sittlicher Vollkommenheit nicht annimmt, im Gegentheil die Abhängigkeit des sittlichen Zustandes von der grösseren oder geringeren Einsicht lehrt. Schon der Erste, dem wir überhaupt eine genauere Erforschung und Bestimmung der sittlichen Verhältnisse zu danken haben, vertritt in der bestimmtesten Weise den Intellectualismus auf dem Gebiete der Moral. Tugend ist Wissen, so lautet der Satz, mit welchem für unsere abendländische Welt die denkende Betrachtung und principielle Erörterung der ethischen Probleme anhebt. Tugend ist Wissen, dieser Satz hat eine grosse Bedeutung in der Geschichte der Philosophie; er ist bis auf die 360

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Gegenwart nach allen Seiten hin erwogen und gewendet worden, und seine Kraft hat er heutigen Tages noch nicht verloren. Nur das Handeln kann gebilligt werden, welches dem Menschen in Wahrheit nützlich ist. Was aber Unheil oder Schaden bringt, steht nicht für jeden Einzelnen von vornherein fest, das muss und kann gelernt werden, und nur wenn der Einzelne eine sichere, über der subjectiven Willkür stehende Kenntniss erworben hat, wird er das in Wahrheit Vortheilhafte, das Richtige thun, muss es aber dann auch thun: handelt er nicht recht, so fehlt es ihm an der nöthigen Einsicht. Um Jemanden zu einem Tugendhaften zu machen, kommt es also nur darauf an, seinen Intellect zu bilden: die Wissens- und Weisheitslehrer sind zugleich die Tugendlehrer. Man sieht leicht, dass diese auf das Engste mit der Einsicht verbundene Moral keine unbedingte ist, sondern selbst ihr Maass an dem Nützlichen und an der Glückseligkeit hat. Auf der Höhe der griechischen Philosophie wurde der Werth des Wissens im Ganzen gleich sehr betont. Der Philosoph, welcher im Alterthum häufig den Beinamen der Göttliche hat, vielleicht zum Theil deshalb, weil er als höchstes Ziel des Menschen die Verähnlichung mit der Gottheit ansah, er wollte die vollendete Tugend sich doch nur auf das Wissen gründen lassen, während allerdings die unvollkommene der grossen Menge sich auf Uebung stützen könne. Es wird so ein Unterschied zwischen höherer und niederer, zwischen philosophischer und gewöhnlicher Tugend angenommen, der eine geistige und sittliche Aristokratie begründet. Auch die aristotelische Ethik, welche bis in die neuere Zeit als die mustergiltige angesehen wurde, stellt die Einsicht in den Vordergrund, ohne die eine praktische Tugend unmöglich ist, zugleich aber erhebt sich über das im Handeln sich offenbarende sittliche Leben das theoretische, das nur bei dem der Betrachtung der Welt und des Menschen sich hingebenden Philosophen gefunden wird und zugleich das wahrhaft glückselige ist – auch hier eine Kluft zwischen höherer und niederer Sittlichkeit, die durch die Grade des Intellects bedingt wird. Ein Leben ganz nach Vernunft und Begriffen geordnet verlangte die Stoa, die sogar alle zu starken Erregungen des Gefühls als irrthümliche Vorstellungen auffasste. Nur der Weise aber versteht es, das Einzelne den erkannten allgemeinen Gesetzen richtig unterzuordnen, und ist so allein der Tugendhafte. Freilich wird in der Stoa nicht nur das specifisch sittliche Wissen wie bei Sokrates verlangt, sondern die Einsicht in den ganzen Weltzusammenhang, also physikalisches Wissen, damit das Individuum sein Leben entsprechend der Ordnung des Ganzen einrichten und regeln könne. Alles Wissen hat demnach eine ethische Bestimmung. Sogar die heftigsten Gegner der Stoa kamen doch mit ihr darin überein, dass nur durch eine bestimmte Einsicht in den Weltzusammenhang das Leben seinem Ziele entgegengeführt werden könne. Die Anfänge der christlichen Philosophie, die eng mit der Stoa und dem Platonismus in Verbindung stehen, verleugnen diese auf dem ethischen Gebiete nicht. Der vollkommen Wissende lebt vernunftgemäss, nur seine Werke sind vollkommen gute Werke, ja er ist vermöge seiner Einsicht schon hier auf Erden ein im Fleische wandelnder Gott. Und wenn dem scharf- und tiefsinnigsten der katholischen Kirchenlehrer des Mittelalters, Thomas von Aquino, der oberste Zweck des menschlichen 361

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Lebens das Wissen ist, zuhöchst die Gotteserkenntniss, und der Wille nach ihm bedingt ist durch die Einsicht, so beweist dies deutlich den Zusammenhang der mittelalterlich-christlichen Speculation mit der griechischen Philosophie. Seit dem Erwachen einer selbständigen von der Theologie und ebenso von den antiken Denkern sich loslösenden Philosophie wurde doch wiederum das sittliche Leben in nächste Beziehung zu der Erkenntniss gebracht. Wenn Spinoza eine Abhandlung schrieb über die Verbesserung des Verstandes, so war der Endzweck dieses Tractats nur ein ethischer, und wenn er das richtige Erkennen als Das ansieht, was aus dem Wesen des Geistes mit innerer Nothwendigkeit folge, so bezeichnet er dieses zugleich als das höchste Ziel des Menschen. Es kommt darauf an, dass man die Dinge als nothwendig betrachtet oder unter der Form der Ewigkeit, um alles Leiden zu entfernen und die volle Seligkeit zu geniessen. Als einen Antipoden Spinozas fühlte sich Leibniz, dessen heute hier wieder zu gedenken uns wohl ziemt, nachdem wir erst vor wenig Tagen die Erinnerung an ihn auch an dieser Stätte besonders wachgerufen haben. So sehr er selbst den vollen Gegensatz seiner Philosophie zu der des Spinoza betonte, in der Ethik lehrte er doch Aehnliches wie dieser. Wenn das Wesen der Seele nach ihm in Vorstellungen besteht, so kann die Vollkommenheit auch nur in einer bestimmten Qualität der Vorstellungen gefunden werden, und so ist es auch: Klare und deutliche Vorstellungen in möglichst grosser Anzahl unterscheiden die überhaupt und auch sittlich höher stehende Monade von der eine niedrigere Stufe einnehmenden, und wenn der Mensch seinem ursprünglichen Triebe nach immer dauernder Befriedigung nachkommt, so strebt er nach nichts Anderem, als seine Verworrenheit in intellectueller Beziehung in volles und richtiges Erkennen zu verwandeln. Das Wollen ist durchaus abhängig von dem Wissen, falsche Urtheile und oberflächlich gebildete Begriffe sind Ursachen für sittliche Vergehen. Aufklärung thut Noth, um dem moralischen Elend ein Ende zu machen, Aufklärung auch darüber, dass wir unsere eigene Vollkommenheit und Glückseligkeit von der Anderer nicht trennen dürfen, vielmehr über das Glück Anderer Freude empfinden, d. h. Liebe üben müssen. Je mehr Aufklärung, desto mehr Streben das Wohl Anderer zu befördern. Auf die Kenntniss des Zusammenhangs aller einzelnen Glieder der Welt kommt es an. Hier zeigt sich der sokratisch-stoische Satz von dem sittlichen Werthe des Wissens in seiner vollen Bedeutung, wie sie nicht bestimmter in der antiken Welt selbst ausgesprochen war. Es ist bewundernswerth, welch’ allgemeinen Beifall dieser Lehre, nur in verflachter Form, das vorige Jahrhundert zollte. Auf Leibniz folgte die Zeit der Aufklärung, der Philosophie, welche glaubte, es zur vollen Reife und Mündigkeit der Vernunft gebracht zu haben, und sich in diesem Bewusstsein, als dem volles Glück spendenden, sonnte, und welche sich für verpflichtet hielt, den Unmündigen, d. h. den Unaufgeklärten, mit der Aufhellung der Vernunft Tugend und Glück aufzuzwingen. Der süsse Wahn, es in der Ausbildung des menschlichen Geistes bis zur höchsten Stufe schon gebracht zu haben, wurde durch den in der Aufklärung selbst herangewachsenen Lessing zerstört, der das Ziel der Entwickelung ebenfalls in der Klärung und Verdeutlichung aller Vorstellungen sah, aber dieses Ziel nicht als schon erreichtes, sondern als ein in unendlicher Ferne liegendes betrachtete, und so 362

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ein ethisches Ideal aufzeigte, dem man sich mehr und mehr nähern könne, dessen Realisirung aber nicht abzusehen sei. Mit Lessing hat ein etwas später lebender Denker viel Aehnlichkeit, obwohl von ihm getrennt durch die volle Umwälzung, die Kant auf dem Gebiete der Philosophie hervorgebracht hatte. Es ist dies Johann Gottlieb Fichte, wie Lessing und Leibniz ein Sachse von Geburt, der einen ethischen Idealismus lehrte, wie kaum ein zweiter Philosoph der neueren Zeit, und zugleich eine vollkommen ethische Persönlichkeit war. Er scheute sich nicht als Mann der Rede, in schwerbedrängter, kampfvoller Zeit sein Leben für die Belehrung der deutschen Nationen in die Schanze zu schlagen. Er wollte nicht nur denken, sondern auch handeln. Und das Lebenswerk dieses Mannes war eine Wissenschaftslehre, eine Ableitung und Erklärung alles Wissens aus seinem Begriffe, und durch diese Wissenslehre glaubte er die deutsche Jugend sittlich und national erziehen zu können. Er nahm in seiner Speculation und in seinem Planen einen kühnen Flug, dem nicht jeder folgen mag, er bestimmt auch das Wissen in eigener Art, aber die Verbindung zwischen Sittlichkeit und Wissen tritt bei ihm hervor. Es mag genug sein an dieser stattlichen Reihe von Denkern erster Grösse, welche die Moral auf das Erkennen sich gründen lassen! Entweder sehen sie in dem Erkennen als solchem die sittliche Vollendung, da in diesem der Mensch seinem Wesen nachkomme, seine Bestimmung erreiche, oder sie nehmen ein specifisch sittliches Wissen als nothwendig an, um zum höchsten Ziele zu gelangen. Den Letzteren ist nur eine bestimmte Art des Wissens Tugend, die Ersteren müssen in jedem Erkennen der Wahrheit Tugend erblicken. Wie stellen wir uns nun zu der Frage? Dass mit dem Erkennen schon, in welcher der beiden Arten man es auffassen möge, das Sittliche gegeben sei, diese Ansicht werden heutigen Tages Wenige theilen. Einer meiner Vorgänger im Rectorate hat vor drei Jahren hier an dieser Stelle über die sittliche Würdigung des Berufs in treffendster Weise gesprochen: Ein jeder hat in seinem Beruf Gottes Willen zu erkennen, seine Pflicht zu erfüllen und sich der sittlichen Idee zu nähern. So besitzt kein Beruf, auch nicht unser wissenschaftlicher, keine menschliche Thätigkeit, auch nicht die des Erkennens und Denkens, das Privilegium der Sittlichkeit. Und doch, wenn man bedenkt, wie in dem Erkennen ein specifisch menschlicher Trieb befriedigt, wie das Wesen des Menschen durch dasselbe erhöht wird, wie rein und gross die Freude bei dem Fortschreiten desselben ist, wird man eine Erklärung dafür haben, dass man in dem klaren und deutlichen Erkennen überhaupt, an dem jeder mehr oder weniger theilnehmen kann, die Vollendung des Menschen, auch die sittliche gesehen hat. Jedenfalls ist das Ziel, welches die Beschäftigung mit der Wissenschaft sich setzen muss, ein höheres als das vieler anderer Thätigkeiten, weil von ihr die Entwickelung der Erkenntniss und in Folge dessen die Erhöhung des Wohlbefindens und auch der Sittlichkeit der Menschheit abhängt, und mit dem Erreichen des Ziels ist eine hohe Stufe der Sittlichkeit erstiegen. Was die Abhängigkeit der Moral von einem speciell sittlichen Wissen betrifft, so kann nicht geleugnet werden, dass ein bestimmtes System von bewussten Grundsätzen, untergeordnet unter einen höchsten, zur Regelung und sittlichen Gestaltung 363

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des Lebens viel beitragen kann, wenigstens grössere Sicherheit giebt für sittliche Entschliessungen, als wenn man sich auf Neigung und moralischen Trieb verlässt, um jeden Augenblick das Rechte zu finden. Zu dem sittlichen Character gehört die Consequenz, diese ist aber nicht möglich ohne sittliche Grundsätze; deshalb wird auch zur sittlichen Bildung die Wissenschaft der Ethik nicht ohne Bedeutung sein, wie schon der Stagirite seine Ethik verfasst hat, nicht nur um gute Menschen zu beschreiben, sondern um seine Leser zu solchen zu machen. Dass freilich zu dem Wissen um das Sittliche noch andere Factoren treten müssen, um Sittlichkeit zu Stande zu bringen, ist jetzt allgemein anerkannt. Ist so eine Berechtigung der Ansichten von dem Zusammenhange der Wissenschaft mit dem Moralischen erklärt, so ist weiterhin darauf hinzuweisen, dass die Beschäftigung mit den Wissenschaften nicht nur als Erfüllung eines hohen Berufes ihren sittlichen Werth hat, sondern ihr noch besonders moralisch bildende Kraft innewohnt, wobei ich freilich nur Weniges und dies auch nur oberflächlich berühren kann. Wenn als eine Haupttugend des Christen und des Menschen die Demuth gilt, die schon in der Sophrosyne der Griechen vorgebildet war – nun die Jünger der Wissenschaft sind besonders in der Lage, sie in ihrem Berufe zu lernen und auch sonst in das Leben zu übertragen. Die Idee der Wissenschaft als volle Einsicht in die gesetzmässige und systematische Ordnung der Totalität der Dinge wird nie erreicht. Es ist dem Menschen mit ihr eine unendliche Aufgabe gestellt, und nur bei einer solchen ist das Streben zu immer weiterer Vervollkommnung fortwährend rege zu erhalten, aber zugleich das Bewusstsein der Schranken, die dem Individuum, wie der Menschheit überhaupt, gesteckt sind. So kann der Gedanke nicht aufkommen oder sich wenigstens nicht dauernd erhalten, wie herrlich weit es der Mensch gebracht habe. Je tiefer der Einzelne in die Wissenschaft eindringt, um so mehr lernt er die Begrenzung seines Horizontes einsehen, nur der auf der Oberfläche sich haltende wird von Dünkel über das von ihm Erreichte erfüllt. Ist der Schritt in der Erkenntniss, den eine wissenschaftliche Grösse gethan hat, auch weit und sicher, es öffnen sich dem Blick von dem gewonnenen Standpunkt aus auf einmal neue Fernen; es kommt diesem Unendlichen gegenüber zu dem Erkennen der Grenzen, und eine Selbstüberhebung kann nicht Platz greifen. Ferner: der wissenschaftlich Forschende sucht, ohne äusseren Vortheil im Auge zu haben, die Wahrheit, nur die Idee leitet ihn bei seiner Thätigkeit; von sich sieht er dabei ab. Er lernt überhaupt sein eigenes Interesse hintansetzen und sich in den Dienst einer höheren allgemeineren Macht stellen. Es soll nicht geleugnet werden, dass auch in andern Berufsarten eine gleiche selbstsuchtlose Beschäftigung vorkommen kann; sie wird überall da gefunden werden, wo der Arbeitende sich von seinem Pflichtgefühl leiten lässt. Aber das Ziel selbst verlangt nicht bei allen andern Berufskreisen diese volle Hingabe der Persönlichkeit. Wird so in der Wissenschaft eine Freiheit von Selbstsucht gefördert und gewonnen, so auch noch eine andere Art von Freiheit, nämlich die von allen möglichen Rücksichten nach aussen hin. Freiheit von menschlichen Autoritäten, Freiheit von Vorurtheilen gehört dazu, um in der Wissenschaft etwas zu leisten. Zwar tritt der 364

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Forschende in ererbtes Besitzthum ein, aber es steht ihm das Recht zu, häufig genug gebietet es ihm die Pflicht, auch das von den höchstgeachteten Namen Ueberkommene aufs neue zu durchdenken und daraufhin zu prüfen, ob es festes Besitzstück sei. Nur aus wissenschaftlich zwingenden Gründen hat das, was Wissenschaft hält und gewinnt, seine Geltung, nicht aber durch von aussen her wirkende Motive. – Ordnet der Jünger der Wissenschaft sich und alles Andere der Idee der Wissenschaft unter, dann wird auch sonst auf sittlichem Gebiete bei ihm das Gesetz über das persönliche Belieben, das Allgemeine über das Individuelle leicht die Herrschaft erlangen. Diese doppelte Freiheit bewährte in hervorragender Weise der Mann, an dessen befreiende That uns das heutige Fest auf das Lebhafteste erinnert, der Mann, dessen Andenken in den nächsten Tagen nicht nur hier in Leipzig, wo wir das Reformationsdenkmal erblicken werden, sondern von der ganzen evangelischen Welt auf erhebende Weise gefeiert werden soll. Unsere Universität hat in bewegter Zeit für ihr Hauptfest den 31. October gewählt, wohl durch den Gedanken mit bestimmt, dass eine innere Beziehung zwischen der Universität und jenem kühnen Vorgehen Luthers bestehe. Nun, ein Lehrer der Universität war Luther selbst, die Thesen, die er damals an die mit der Universität eng verbundene Kirche anschlug, waren akademische Thesen, über die er in akademischer Weise disputiren wollte, und zwar, wie er in der Ueberschrift derselben ausdrücklich sagt, aus Liebe und Streben, die Wahrheit an das Licht zu stellen. Auf die Wahrheit also, welche das Ziel der an den Universitäten gepflegten Wissenschaft ist, kam es Luther an, ihm zunächst auf die christliche Wahrheit. Die Freiheit der Wissenschaft, das Recht der unbehinderten Forschung, ergiebt sich aus der evangelischen Lehre von der Freiheit des Christenmenschen, der zwar an Gottes Wort gebunden, aber von anderen Autoritäten gelöst ist. Von Wittenberg ging die Reformation der Universitäten aus – sie hat allerdings nicht Luther, sondern Melanchthon zum Mittelpunkt, der schon in seiner Antrittsrede 1518 von dem neuen Leben sprach, das durch das Zurückgehen auf das Alterthum in die Universitäten dringe. Es wäre dieses neue Leben aber in Wittenberg und auf anderen deutschen Universitäten kaum kräftig gewesen ohne das Gefühl der Befreiung, das durch Luther rege geworden war. Wir sehen dies an der Universität Wien, die lange Zeit der neueren Entwickelung fern blieb. Wurde ja doch auch durch die Reformation erst theologische Wissenschaft, sowie theologische Forschung, nach der Gebundenheit des Mittelalters möglich! Wie hoch Luther selbst nun den Werth des Wissens für das religiös-sittliche Leben schätzte, wie er in seiner Schrift an den christlichen Adel deutscher Nation auf Verbesserung der Universitäten drang, wie sein Schreiben an die Rathsherren aller Städte deutschen Landes als „der Stiftungsbrief“ der höheren Schulen bezeichnet werden kann, ist hinlänglich bekannt. Er hält die Sprachen hoch als das Mittel, durch welches das Evangelium zu uns gekommen sei, oder als die Scheide, darin das Messer des Geistes stecke; er weiss aber auch die Dialektik und Logik, die Mathematik und besonders die „Historien“ zu würdigen. Von diesen letzten sagt er, dass sie die Gewissen schärfen, und von den Historienschreibern, dass sie ein Löwenherz 365

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haben müssen, unerschrocken die Wahrheit ohne Menschenfurcht zu berichten. Wie er für eine niedrigere Stufe seinen kleinen Katechismus schon mit den Worten schliesst: „Ein jeder lerne seine Lection, dann wird es wohl im Hause stehn“, so nennt er im Allgemeinen löbliche Schulen geradezu den Brunnen alles sittlichen Wesens im menschlichen Leben. Damit bestätigt er, dass er die Wissenschaft und das Wissen nicht als bedeutungslos für die Sittlichkeit ansieht. Wir Lehrer an der Universität haben das Banner der Wissenschaft hoch zu halten und jüngere Kräfte unter demselben zur Hingabe und Begeisterung zu sammeln. Wenn Sie, meine geehrten Herren Commilitonen, auf dieses in seiner Reinheit schauen und von ihm sich führen lassen, werden Sie den schönsten Lohn aus Ihrer akademischen Zeit mit hinwegnehmen; es wird dann das von der hehren Königin ausstrahlende Licht Ihren Lebensweg, der bei den meisten von Ihnen die Richtung zur Praxis nimmt, erhellen, und Sie werden durch Erfüllung Ihres hiesigen Berufs, durch die Arbeit um die Erkenntniss, nicht von dem höchsten Ziele abgelenkt, sondern ihm vielmehr zugeführt werden. Mit dem wissenschaftlichen Idealismus, den Sie hier als herrlichsten Preis sich erringen, ist Ihnen zugleich der ethische näher gekommen. Ohne unsere Mühe wird uns freilich weder das Gute noch das Wahre in den Schoss geworfen, darum mit Kraft und Ausdauer an die Arbeit des neuen Studienjahres, für das uns Gott seinen Segen geben möge! ***

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31. October 1884. Rede des abtretenden Rectors Dr. phil. Max Heinze. Bericht über das Studienjahr 1883/84. Hochansehnliche Versammlung! Den Rückblick auf das verflossene Jahr, das 475te seit Gründung unserer Universität, beginne ich mit dem Danke gegen Gott, der unserer Hochschule trotz mancher Verluste, die wir erlitten, seinen gnädigen Schutz gewährt hat. Wird der Zweck unserer Anstalt bei ruhigem Gedeihen am sichersten erreicht, so haben wir Grund, mit dem Jahre zufrieden zu sein. Ehrfurchtsvollen Dank schulden wir ferner dem allerdurchlauchtigsten König, unserem Rector Magnificentissimus, der auch in diesem Jahre wie bisher Seine Huld unserer Hochschule zugewendet hat. Wie die ganze Bevölkerung Sachsens hat die Universität an dem schweren Trauerfalle, von welchem unser durchlauchtigstes Herrscherhaus betroffen wurde, den aufrichtigsten und schmerzlichsten Antheil genommen, und sie hat nicht verfehlt, Seiner Majestät dem Könige selbst, sowie Seiner Königlichen Hoheit dem Prinzen Georg Beileidsadressen zu übermitteln, auf welche bald gnädige Antworten eingelaufen sind. Ein Besuch, den Seine Majestät unserer Anstalt schon bestimmt auf mehrere Tage zugedacht hatte, wurde zu unserem grossen Leidwesen durch das traurige Ereigniss verhindert. Jedoch erwies Seine Majestät im Verlauf des Sommers während eines Aufenthaltes in Leipzig dem akademischen Gesangverein Arion die Ehre, seinem Concerte beizuwohnen, – ein in der Geschichte des Vereins denkwürdiger Tag! Das Ministerium des Cultus und öffentlichen Unterrichts hat in gewohnter Weise seine Fürsorge für das Wohl und die Weiterentwickelung der Universität bezeigt, und es gebührt ihm unser aufrichtigster Dank dafür. Obwohl keine bedeutenden Bauten ausgeführt, keine neuen Institute grossartigen Stils wie bis vor wenigen Jahren errichtet worden sind, so haben doch auch in letzter Zeit einige Erweiterungen für Zwecke unserer Anstalt stattgefunden. Das hygienische Institut, welches bis jetzt mit sehr bescheidenen Räumen sich begnügen musste, wird nächstdem ein ganzes Stockwerk des bisherigen pathologischen Instituts einnehmen und ist schon im Rohbau fertiggestellt. Ferner ist mit Beginn dieses Halbjahres ein zahnärztliches Institut eröffnet worden in Räumen an der Göthestrasse, welches dazu bestimmt ist, für geringes Entgelt zahnärztliche Hülfe zu leisten und Studierende in der Zahnheilkunde auszubilden. Der Frage nach einem umfangreicheren Bibliotheksgebäude, sowie nach Beschaffung neuer Auditorien- und Senatsräume ist die hohe Regierung näher getreten; eine endgiltige Entschliessung hat aber noch nicht getroffen werden können. Wir haben jedoch das feste Vertrauen, dass die für uns höchst wichtige Angelegenheit in einer für die Universität gedeihlichen Weise erledigt werde. 367

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Hier sei sogleich angefügt, dass die Bibliothek eine nicht unwichtige Vermehrung erfahren hat durch Erwerbung einer Sammlung von 632 Sanskrithandschriften, unter denen sich manche werthvolle befinden. An Stiftungen für unsere Universität habe ich zu meiner Freude mehrere zu erwähnen: Im Jahre 1704 hatte ein hiesiger Bürger Johann Friedrich Richter ein Vermächtniss von 2000 Rl. für „arme Studiosos“ ausgesetzt und bestimmt, dass diese Summe auf seinem Grundstück hypotheciert werde. Die Universität hat erst im laufenden Jahre Kenntniss von dem Legat erhalten und die Auszahlung des Capitals an sie erwirkt. Die Zinsen desselben werden künftighin für Freitische verwendet werden. Diese Einrichtung der akademischen Freitische, die sich mehr und mehr bewährt, hat sich auch im verflossenen Jahre durch Beiträge der Professoren und anderer der Universität Wohlgesinnter erhalten. Dankbarst sei hier der besonderen Beihülfe des Herrn Phil. Batz gedacht. Ferner hat der am 16. Mai 1884 zu Berlin verstorbene Gymnasialdirector Dr. Rudolf Lorentz im Andenken an seine Studienzeit an hiesiger Universität derselben ein Vermächtniss von 12 000 Mark ausgesetzt, von dessen Zinsen zwei bedürftige Studierende der classischen Philologie Stipendien auf je drei Jahre erhalten sollen. Schliesslich hat die am 12. August 1884 zu Leipzig gestorbene Frau Charlotte Emma Henriette verw. Dr. Seyfried, geb. Grabenstein, 3000 Mark der Universität hinterlassen, mit der Bestimmung, dass die Zinsen davon ein deutscher mittelloser Student unserer Universität erhalte. – Dank den Gebern noch nach ihrem Tode, dass sie unserer Studierenden in so edelmüthiger Weise gedacht haben! Wenden wir uns nun den Festen zu, welche unsere Hochschule beging, oder an denen sie theilnahm, so ist vor allem des 400. Geburtstags Luthers zu gedenken, der wie überall in evangelischen Landen, so auch bei uns in dankbarster Hochschätzung dessen, was uns durch den Reformator geworden, gefeiert wurde, und zwar durch Festgottesdienste und durch einen Festactus hier in der Aula, wobei unser hochverehrter Senior der theologischen Facultät Domherr Dr. Kahnis die Rede hielt, sodann durch Betheiligung an dem Festzuge und an der Enthüllung des Reformationsdenkmals, und endlich durch einen stark besuchten und belebten Commers der Studenten, dem auch eine Anzahl Professoren und Docenten beiwohnte. Den Geburtstag Seiner Majestät unseres Königs beging die Universität in der üblichen Weise mit einem feierlichen Actus in der Aula, wobei der Prorector Professor Dr. His sprach. Besonders erfreulich war es, dass unsere drei ältesten Collegen Tage der Erinnerung erlebten, wie sie selten im akademischen Leben vorkommen. Am 30. April waren 80 Jahre verflossen, dass unser allverehrter Senior Geheime Rath Professor Dr. Drobisch hier in Leipzig als Knabe zartesten Alters nach damals häufig vorkommendem Gebrauch immatriculiert worden war, und am 31. Mai 60 Jahre, dass er sich an unserer Hochschule habilitiert hatte. Leider musste die beabsichtigte ehrerbietige Begrüssung durch eine Deputation der Universität auf bestimmten Wunsch des Jubilars unterbleiben. 368

Jahresbericht 1883/84

Am 4. März feierte Geheime Rath Professor Dr. Fleischer sein 60jähriges Jubiläum als Doctor philosophiae, und am 3. October Professor Dr. Fechner den Tag, an dem er vor 50 Jahren zum ordentlichen Professor unserer Universität ernannt worden war. Beide Jubilare, die hohe Auszeichnungen seitens der Regierung erhielten und die Tage in bewundernswerther Frische des Körpers und Geistes verlebten, wurden ehrerbietigst von dem Rector und Decanen, sowie von Deputierten der philosophischen Facultät begrüsst und beglückwünscht. Ferner erlebte am 14. Mai der ordentliche Honorar-Professor der Theologie Dr. Hölemann die 50jährige Wiederkehr des Tages seiner Habilitation in unserer philosophischen Facultät und erhielt nachträglich, da der Tag nicht bekannt gewesen war, Beglückwünschungen des Rectors und der Collegen. – Möchten die hochverdienten Männer ihre Kräfte noch ferner sich erhalten und eine Reihe von Jahren weiter zu wirken im Stande sein, zum Besten unserer studierenden Jugend und der Wissenschaft! Am 30. November beging sein 25jähriges Jubiläum als ordentlicher Professor an unserer Universität Geh. Hofrath Dr. Overbeck und erfuhr an diesem Tage durch die mannigfachsten Beweise, wie hoch er von Collegen, Freunden, Schülern geschätzt ist. Durch Einladungen dazu aufgefordert betheiligte sich unsere Universität an mehreren Jubelfeiern von Schwesteranstalten, zunächst an dem 300jährigen Jubiläum der Universität Edinburgh, indem sie als Deputierten Professor Dr. Carus dorthin sandte, ferner an dem 50jährigen der Universität Bern, welchem Geh. Hofrath Professor Dr. Ribbeck als unser Vertreter beiwohnte, und endlich an dem 50jährigen der Universität Kiew durch ein Glückwunschschreiben. Am 5. Mai beging die Realschule I. Ordnung, das jetzige Realgymnasium hiesiger Stadt, die Gedenkfeier ihres 50jährigen Bestehens, wobei ich in Begleitung des Decans der philosophischen Facultät der Anstalt die Glückwünsche unserer Hochschule überbrachte und zugleich die Freude hatte, dem derzeitigen Rector des Realgymnasiums Professor Giesel das Diplom als Ehrendoctor der Philosophie im Namen der philosophischen Facultät zu überreichen. An Ehrenpromotionen, welche die einzelnen Facultäten vornahmen, besonders bei Gelegenheit der Lutherfeier, habe ich folgende zu verzeichnen. In der theologischen Facultät wurden honoris causa vier Doctoren creiert: Seine Excellenz der Staatsminister Dr. von Gerber, Oberconsistorialrath Anacker in Dresden, Consistorialrath Dr. Dibelius in Dresden und Superintendent Dr. Michel in Grosszschocher, und sieben Licentiaten; in der medicinischen wurde zum Ehrendoctor ernannt Carl Theod. Seeger, praktischer Arzt in Meckwitz, und die philosophische Facultät verlieh den Ehrengrad ausser dem vorhin schon Genannten dem Domherrn Professor Dr. Kahnis, dem Oberhofprediger Dr. Kohlschütter in Dresden und dem Musikdirector Professor Riedel hier. Wenn ich jetzt zu den Veränderungen in dem Personalstand der Universität übergehe, so gedenke ich zuerst pietätsvoll der Collegen, die uns durch den Tod entrissen worden sind, und zwar haben wir zu unserem tiefen Schmerze viele und schwere Verluste zu beklagen. 369

Max Heinze

Am 25. December erlag seinen langen und schmerzvollen Leiden im 51. Jahre seines Lebens der ordentliche Professor der Geschichte und Director des historischen Seminars Dr. Carl von Noorden, der unserer Universität beinahe 7 Jahre angehört hatte. Eine reich angelegte Natur, die für künstlerische Seiten des Lebens volles Verständniss hatte, aber die ganze Kraft doch bald der Wissenschaft zuwendete, hat er sich durch seine auf den mühevollsten und sorgsamsten Studien beruhende „Europäische Geschichte im 18. Jahrhundert“ eine Stelle unter den gefeierten Historikern Deutschlands gesichert, und er gilt als ein Muster der politischen Geschichtsschreibung. Sein Vortrag fesselte durch den tiefen Gehalt, indem die sittlichen Ideen in den Vordergrund traten, wie durch die wohldurchdachte Form die Studierenden ebenso wie weitere Kreise und wirkte besonders auf solche, die mit dem Material der historischen Einzelheiten schon vertraut waren. Seine eigentliche Schöpfung hier in Leipzig ist das historische Seminar, in welchem er seine Schüler zu strengster Arbeit, zu eigenem Forschen und Denken auf das Erfolgreichste anleitete, und das sich unter seiner Direction und unter Beihülfe anderer bewährter Collegen bald eines bedeutenden Rufes erfreute. Mit der Universität betrauern seinen viel zu zeitigen Hingang zahlreiche treue Freunde und eine grosse Anzahl dankbarster Schüler, die ihm für das Beste ihrer historischen Leistungen verpflichtet sind. Am 7. März verschied nach kurzer Krankheit der Geheime Rath und ordentliche Professor der Hygiene und Pharmakologie Dr. Justus Radius, Senior der medicinischen Facultät, 86 Jahre alt, der letzte unserer Universität, der im vorigen Jahrhundert geboren war. Schon 1821 wurde er Docent hier in Leipzig, 1825 ausserordentlicher und 1841 ordentlicher Professor. 1882 hatte er sein 60jähriges Jubiläum als Doctor medicinae in voller Rüstigkeit gefeiert, so dass man für ihn noch längere Jahre des Lebens erhoffen konnte, und bis kurz vor seinem Tode kam er seinen Pflichten mit seltener Treue nach. Seine akademische Thätigkeit erstreckte sich anfänglich auf Augenheilkunde, allgemeine Pathologie und Hygiene, späterhin war sie fast ausschliesslich der Pharmakologie gewidmet. Als praktischer Arzt ist er sehr geschätzt gewesen, und von der Vielseitigkeit seines Wissens zeugen verschiedene Abhandlungen, sowie die von ihm besorgte Ausgabe der Werke mehrerer älterer Mediciner. Eine durchaus gewissenhafte, unermüdlich thätige und höchst wohlwollende Persönlichkeit erwarb er sich die Achtung und Liebe aller Derer, die ihn genauer kennen lernten, nicht am wenigsten die seiner Standesgenossen, der Aerzte, wofür einen sprechenden Beweis lieferte die an seinem 50jährigen Doctorjubiläum durch freiwillige Beiträge begründete Radiusstiftung zu Gunsten nothleidender Aerzte und ihrer Hinterlassenen. Am 19. März hatten wir das Hinscheiden des ausserordentlichen Professors der Geschichte Dr. Heinrich Brandes zu beklagen, der 1819 geboren, seit 1850 habilitiert, 1865 zum ausserordentlichen Professor aufrückte. Er war der Sohn des Professors der Physik, der 1834, also vor 50 Jahren, als Rector unserer Universität starb. Ein schlichter, bescheidener, zuverlässiger Charakter lebte er ausschliesslich der Wissenschaft, immer bereit zu jeglicher Beihülfe. Besonders angezogen wurde er von den Schwierigkeiten, welche den Ursprung und das Alterthum von Völkern und Staaten umhüllen, und er gab sich daher besonders ethnographischen und chrono370

Jahresbericht 1883/84

logischen Studien hin. Diese bevorzugte er auch in seiner historischen Gesellschaft, die er seit langen Jahren um sich zu versammeln liebte, doch ohne Einseitigkeit sowohl dem alten Orient wie der hellenischen Welt und ebenso der älteren deutschen Geschichte zugewendet. Am 13. Juli verschied 48 Jahre alt der ausserordentliche Professor der Chemie Dr. Ernst Carstanjen, der 16 Jahre lang an unserer Hochschule eine erfolgreiche Thätigkeit ausgeübt und namentlich dem chemischen Laboratorium seine Kräfte gewidmet hatte. Aus der Arbeit in diesem sind auch seine werthvollen Experimentaluntersuchungen, die in dem Journal für praktische Chemie erschienen sind, hervorgegangen. Durch die Frische und Geradheit seines Wesens hat er sich bei allen, die ihm näher getreten sind, ein liebevolles Andenken gesichert. In der Nacht vom 14. zum 15. August verschied im 46. Lebensjahre nach langer schwerer Krankheit der ordentliche Professor der allgemeinen Pathologie und pathologischen Anatomie Dr. Julius Cohnheim, auf das tiefste betrauert von unserer Universität, seinen vielen dankbaren Schülern und dem grossen Kreis seiner Freunde, die er durch seltene Eigenschaften des Charakters und Herzens eng an sich zu fesseln gewusst hatte. Zu den Unsrigen hat er 6 1/2 Jahre gezählt, aber trotz dieser kurzen Zeit ist seine Wirksamkeit als Lehrer in den Vorlesungen und als Director des pathologischen Instituts von eingreifender Bedeutung gewesen. Er besass das grosse Geschick, trotz des Einflusses, den er auf seine Schüler ausübte, die selbständige und eigenthümliche Entwickelung derselben in keiner Weise zu hindern, vielmehr auf die Besonderheiten mit Hingebung einzugehen. Kritische Schärfe und genaueste Beobachtung des Einzelnen fand sich bei ihm in glücklicher Verbindung mit dem Sinne für das Allgemeine und der Befähigung, in zusammenfassender Weise zu schaffen. Durch seine Entdeckungen, namentlich durch die der Emigration weisser Blutkörperchen, sowie durch Anwendung neuer Methoden in der von ihm befolgten experimentellen Richtung, hat er Grosses für die Wissenschaft der Medicin geleistet. Am 20. August wurde uns durch den Tod entrissen der ordentliche Professor des Civilprozesses Geheime Hofrath Dr. Ernst Robert Osterloh, Senior der juristischen Facultät, der das 71. Jahr vollendet, bis zur todbringenden Krankheit sich stets des frischesten Wohlseins erfreut und beinahe bis zum Schluss des Sommerhalbjahrs seine Pflichten als Lehrer erfüllt hatte. Nachdem er unmittelbar aus dem praktischen Beruf zum ordentlichen Professor ernannt worden war, wirkte er 34 Jahre lang an unserer Universität. Mit welcher gewissenhaften, beinahe peinlichen Sorgfalt er allen Pflichten, nicht nur denen des Lehramts nachkam, ist seinen Collegen wie der grossen Zahl seiner dankbaren Schüler und allen Studierenden, die ihm in anderen Beziehungen nahe kamen, hinreichend bekannt. Mit Hingebung leitete er beinahe 15 Jahre lang das Königliche Convictorium an unserer Universität, wobei er manche nicht unwichtige Reformen vornahm, und unvergesslich wird er allen Mitgliedern des Universitäts-Sängervereins zu St. Pauli sein, als dessen Vorsteher er über 10 Jahre fungierte, zugleich der treuste Berather desselben. Noch bei den letzten Ehren, die dem Verschiedenen erwiesen wurden, zeigte der Verein in schöner Weise, wie tief er den Verlust empfand. 371

Max Heinze

Am 27. August während eines Aufenthaltes in Kolberg starb der Privatdocent der Medicin Dr. Emil Apollo Meissner, im 57. Jahre, der seit 1856 an unserer Hochschule habilitiert war und sich in seiner akademischen Thätigkeit auf Vorträge und Repetitorien über Geburtshülfe beschränkt hatte. Als praktischer Arzt sehr gesucht und von seinen Collegen wegen seiner Gefälligkeit und seines Eifers für die Interessen des ärztlichen Standes hochgeschätzt, legte er stets grossen Werth auf seinen Zusammenhang mit der Universität und nahm an allen Angelegenheiten derselben regsten Antheil. Am 17. October entschlief in Merseburg, seinem Geburtsorte, wohin er sich 1882, durch Krankheit genöthigt, zurückgezogen hatte, Dr. August Rudolf Brenner, 63 Jahre alt. Lange Zeit in Russland als Arzt thätig, wurde er 1877 zum ausserordentlichen Professor an unserer Universität ernannt, hielt als solcher Vorträge über Elektrotherapie und leitete eine Poliklinik für diese Specialität. Vorteilhaft hat er sich bekannt gemacht durch seine „Untersuchungen und Beobachtungen auf dem Gebiete der Elektrotherapie.“ Wenden wir uns, nachdem wir den theuern Verewigten wehmüthige Erinnerung gewidmet haben, den Lebenden wieder zu, so habe ich zunächst die Berufung zweier neuer ordentlicher Professoren zu berichten, die in ihren Fächern als Meister schon hinreichend bekannt sind. Mit Anfang dieses Semesters sind bei uns eingetreten und haben ihre Thätigkeit in unserer Reihe begonnen: Dr. Wilhelm Maurenbrecher als ordentlicher Professor der Geschichte und Director des historischen Seminars, zuletzt in Bonn, und Dr. Rudolf Böhm als ordentlicher Professor der Pharmakologie und Director des noch zu errichtenden pharmakologischen Instituts, bisher in Marburg. Möchten die beiden Herren Collegen sich bei uns recht bald heimisch fühlen! Zum ordentlichen Professor wurde befördert der hiesige ausserordentliche Professor und Director der Irrenklinik Dr. Paul Flechsig, sowie zum ausserordentlichen Professor der Theologie der Licentiat Hermann Guthe und zum ausserordentlichen Professor der Medicin und Director des zahnärztlichen Instituts Dr. Friedrich Louis Hesse. Nach andern Universitäten oder höheren Lehranstalten wurden berufen und schieden so von uns – alle aus der philosophischen Facultät: der ausserordentliche Professor Dr. Karl Brugmann als ordentlicher Professor an die Universität Freiburg, der Privatdocent Dr. Adolf Birch-Hirschfeld, als ordentlicher Professor an die Universität Giessen, der Privatdocent Dr. Hermann Ost als Docent an die technische Hochschule zu Hannover, der Privatdocent Dr. Walther Dyck als ordentlicher Professor an die technische Hochschule zu München, und der Privatdocent Dr. Gerhard Christian Friedrich Luerssen als Professor an die Forstakademie zu Eberswalde. Ausgetreten aus der Reihe unserer Privatdocenten, um sich anderwärts zu habilitieren, sind der Licentiat der Theologie Victor Schultze, der sich nach Greifswald gewendet hat, und Dr. ph. Robert Friedberg, der nach Halle übergesiedelt ist. Wenn wir diese stattliche Zahl frischer Lehrkräfte auch ungern haben ziehen sehen, so wissen wir doch, dass für das akademische Leben solcher Wechsel nothwendig ist, 372

Jahresbericht 1883/84

und zugleich haben wir uns freuen müssen über den hohen Grad der Anerkennung, der in den Berufungen liegt. Unsere besten Segenswünsche haben die uns nun Fernen nach ihren neuen Wirkungsstätten begleitet. Ein ungünstiges Zeichen für unsern Lehrkörper würde es nun sein, wenn sich keine jüngeren Kräfte in denselben aufnehmen liessen, durch welche neues Leben zuströmt. Zum Segen der Universität haben wir über Mangel an solchen noch nicht zu klagen gehabt. Auch in diesem Jahre sind hinzugekommen durch Habilitation in der theologischen Facultät: Licentiat Dr. René Gregory, in der medicinischen: Dr. Oswald Vierordt, Assistent an der medicinischen Klinik, in der philosophischen: Dr. Robert Scholvin für slavische Sprachen, Dr. Henry Settegast für Landwirthschaft, Dr. Johannes Felix für Paläontologie und Zoologie, Dr. Friedrich Hanssen für classische Philologie. Von sonstigen Veränderungen ist noch zu erwähnen, dass nach Abgang des Licentiaten Victor Schultze die Leitung der christlich-archäologischen Sammlung dem Privatdocenten Dr. Loofs übertragen wurde, sowie dass aus dem Dienst der Bibliothek der bisherige Assistent Dr. Trautscholdt ausschied, um Lehrer an einem hiesigen Gymnasium zu werden. – Die erledigte Universitätsförsterstelle ist wieder besetzt worden mit dem bisherigen Stiftsförster Ernst Richard Weiske. Sodann starb am 11. December im besten Mannesalter Carl Moritz Melzer, der über 10 Jahre als Gerichtsdiener und Hülfspedell, später als 3. Pedell fungiert hatte. Er steht bei uns im guten Andenken eines gewissenhaften, straffen und gefälligen Dieners der Universität. Dritter Pedell wurde nun der bisherige Hülfspedell und Gerichtsdiener Karl Heinrich Just, und die dadurch erledigte Stelle erhielt der bisherige Bote beim hiesigen Armenamte Gustav Albert Starke. Zum Schluss habe ich zu berichten, dass von Seiner Majestät dem König das Prädicat „Universitätsstallmeister“ dem Inhaber eines hiesigen Reitinstituts Johann Hermann Bujarsky ertheilt worden ist. Was die Frequenz unserer Universität betrifft, so steht die Gesammtziffer der von mir Immatriculierten um 14 hinter der unter dem vorigen Rectorat Inscribierten zurück, nämlich 1911 gegen 1925. Die Zahl unserer Studierenden im vorigen Winter war die höchste, die wir bisher erreicht haben, 3433 gegen 3314 im vorhergehenden Winter, auch im Sommer war sie im Vergleich zu dem des Jahres 1883 höher, nämlich 3160 gegen 3097. Die Zahl der in diesem Winter bis gestern Immatriculierten beträgt 778 gegen 834 im Vorjahr, und zwar gehören von diesen 148 der theologischen Facultät an gegen 182 im Vorjahr, 243 der juristischen gegen 292, 144 der medicinischen gegen 123, und 243 der philosophischen gegen 237. Abgangszeugnisse haben in diesem Winter genommen 660, so dass die Gesammtsumme der jetzt bei uns immatriculierten Studenten 3278 beträgt, 85 weniger als im vorigen Winter, ein Ausfall, der durch die noch bevorstehenden Inscriptionen vielleicht gedeckt wird. Durch den Tod sind uns 11 unserer Studierenden genommen worden, ein sehr geringer Procentsatz, aber freilich wiegt der Verlust schwer genug, wenn wir daran denken, wie viele blühende Hoffnungen dabei zu Grabe getragen worden sind. Leider habe ich unter der Zahl auch zweier Selbstmorde zu erwähnen. 373

Max Heinze

Der Geist der Gesetzlichkeit ist unter unseren Studierenden zu loben gewesen, insofern als wir wegen schwerer Vergehen nur sehr wenig harte Strafen haben zuerkennen müssen, dagegen sind allerdings häufig Uebertretungen aller Art zu verzeichnen, und wünschenswerth ist es, dass die Zahl dieser künftig wesentlich abnehme. Verschiedentlich habe ich Gelegenheit gehabt, bei Differenzen zwischen Studierenden zu vermitteln, und ich freue mich constatieren zu können, dass ein wohlgemeintes Wort immer auf einen guten Boden gefallen, und dass mir viel Vertrauen entgegengebracht worden ist. Eine Hauptbedingung für das weitere Gedeihen unserer Hochschule ist der Fleiss und der wissenschaftliche Sinn unserer Studierenden. Ich glaube, wir können in diesem Punkte ein gutes Zeugniss ausstellen, trotz meines nachherigen Berichtes über die Lösungen der Preisaufgaben. Hier an diesem Platze ist vor 6 Jahren gesagt worden: „Leipzig ist eine Universität, an der gearbeitet wird“, und ich glaube, das können wir noch heute sagen. Das wissenschaftliche Streben zeigt sich auch in den vielen Vereinigungen, deren Schwerpunkt geistige Interessen bilden, und in denen ein schöner wissenschaftlicher Wetteifer unter Freunden besondere Pflege findet. Der Fleiss unserer Studierenden hat sogar durch die 8 Tage lang in unserer Stadt hoch wogende Feststimmung bei Gelegenheit des allgemeinen deutschen Bundesschiessens, durch die alles Andere überfluthet zu werden in Gefahr schien, keine wesentliche Schmälerung erlitten, was um so mehr bedeuten will, als diese Festtage an das Ende des Semesters fielen. Ich weiss es, dass wir vielfach von anderen Universitäten um die Qualität unserer Zuhörer beneidet werden – sorgen Sie dafür, meine Herren Commilitonen, darum bitte ich Sie, dass uns dieser Vorzug auch ferner bleibe! – Sind wir Lehrer und Studierende von lebendigem und thatkräftigem Pflichtgefühle erfüllt, dann ist das Wohl unserer Universität auch für die weitere Zukunft gesichert. Ein äusseres Zeugniss für den wissenschaftlichen Eifer unserer akademischen Jugend liegt vor in den zahlreichen Promotionen, die rite erfolgt sind, und zwar wurden promoviert: in der theologischen Facultät 1 Doctor und 4 Licentiaten, in der juristischen Facultät 84 Doctoren, in der medicinischen Facultät 119 Doctoren, in der philosophischen Facultät 107 Doctoren bei 150 Meldungen und 28 Abweisungen. Damit bin ich an das Ende meines Berichtes gelangt. Aber ehe ich mein Amt als Rector übergebe, ist es mir noch Bedürfniss, Ihnen, meine hochverehrten Herren Collegen, zunächst für das Vertrauen, das Sie mir bei der Wahl geschenkt, auch heute noch einmal meinen aufrichtigsten und wärmsten Dank zu sagen, sodann aber für die reichliche Nachsicht und Hülfe, die Sie mir während meiner Amtsführung freundlichst haben angedeihen lassen. Möchte es mir gelungen sein, einigermassen Ihr Vertrauen zu rechtfertigen! Hierauf berichtete der Rector über die Resultate der im vorigen Jahre ausgeschriebenen Preisaufgaben und verkündete die für das nächste Jahr gestellten Themata; für Beides wird auf das Programm des Programmatarius Geh. Hofrath Professor Dr. L. Lange: De viginti quattuor annorum cyclo intercalari commentatio, verwiesen. Schliesslich fand die Vereidung des neuen Rectors und die Uebergabe der Amtsinsignien an denselben statt. 374

Bernhard Windscheid (1817–1892)

31. October 1884. Rede des antretenden Rectors Dr. jur. Bernhard Windscheid. Recht und Rechtswissenschaft. Hochansehnliche Versammlung! Die erste Pflicht, welche der neu eintretende Rector unserer Universität zu erfüllen hat, ist, sich durch einen wissenschaftlichen Vortrag in das ihm durch das Vertrauen seiner Collegen übertragene Amt einzuführen. Es ist naheliegend, ja selbstverständlich, dass der Gegenstand dieses Vortrages demjenigen Gebiete der Wissenschaft entnommen werde, welches der Redende vertritt. Dabei ist jedoch die Gefahr nicht ausgeschlossen, dass der gewählte Gegenstand sich dem Interesse und dem Verständniss der nicht diesem Wissensgebiete Angehörigen in grösserem Masse entziehe, als wünschenswerth ist. Ich versuche dieser Gefahr zu entgehen, indem ich Ihnen einige allgemeine Betrachtungen über die Wissenschaft, welcher mein Leben gewidmet ist, vorlege, über ihre Ziele und ihre Mittel, über einige der Probleme, an denen sie arbeitet, und mich dabei nicht auf den Standpunkt des Fachgenossen, sondern auf den Standpunkt des wissenschaftlich Gebildeten überhaupt stelle. Diesem biete ich einen Beitrag zum Verständniss einer geistigen Arbeit, vor welcher er Achtung hat, weil er selbst geistige Arbeit verrichtet; dem Fachgenossen kann ich kaum etwas Anderes gewähren, als – mag er nun dem Gesagten Zustimmung schenken, oder sich durch dasselbe zum Widerspruch aufgefordert fühlen – vielleicht den Anlass, die eigenen Anschauungen über das, was die Rechtswissenschaft ist, was sie soll und was sie kann, einer Prüfung zu unterziehen. Dass ich nur die Hauptpunkte berühre und vielfach mehr frage als antworte, findet seine Erklärung und seine Rechtfertigung in der Umfassendheit des Gegenstandes und in der Kürze der mir gewährten Zeit. Die Rechtswissenschaft ist die Wissenschaft vom Rechte. Glauben Sie nicht, dass über die Frage, was das Recht ist, Übereinstimmung herrscht. Zwar darüber ist man bald einverstanden, dass das Recht ein Inbegriff von Vorschriften ist, welche die natürliche Freiheit beschränken, welche dem Menschen gebieten, zu thun, was er nicht thun möchte, zu unterlassen, was er thun möchte. Aber es gibt andere Vorschriften, welche den gleichen Inhalt haben, die Vorschriften des Sittengesetzes, und, was erst in der neuesten Zeit durch einen geistvollen Vertreter der deutschen 375

Bernhard Windscheid

Rechtswissenschaft, vielleicht den geistvollsten unter den jetzt lebenden, in den Kreis wissenschaftlicher Untersuchung gezogen worden ist, die Vorschriften dessen, was man im Gegensatz zum Sittengesetze die Sitte nennt. Doch lassen wir die Sitte, als das verhältnissmässig Untergeordnete: welches ist der Unterschied zwischen dem Rechtsgesetz und dem Sittengesetz? Eine sehr verbreitete, ja die herrschende Meinung sieht den Unterschied darin, dass die Erfüllung der Vorschriften des Rechtsgesetzes erzwungen wird, während die Erfüllung der Vorschriften des Sittengesetzes dem Gewissen des Einzelnen überlassen bleibt. Ich glaube nicht, dass damit der Kern des Gegensatzes getroffen ist. Die Erfüllung der Vorschriften des Völkerrechts wird nicht erzwungen, oder nur zufälligerweise erzwungen, falls dem Berechtigten die grössere physische Macht beiwohnt: und doch werden wir von der Forderung nicht abstehen dürfen, dass das Völkerrecht als wirkliches Recht anerkannt werde. Ich sehe das eigentliche Wesen des Gegensatzes darin, dass die Vorschriften des Sittengesetzes um des Verpflichteten willen gegeben sind, die Vorschriften des Rechtsgesetztes um Dessen willen, gegen den die Verpflichtung erfüllt werden soll. Die Vorschriften des Sittengesetzes sagen dem Menschen: sei so und nicht anders, damit du gut seiest; die Vorschriften des Rechtsgesetzes sagen: sei so und nicht anders, damit der dir Gegenüberstehende etwas habe, was er sonst nicht haben würde. Das Recht ist die Ordnung der in der Welt vorhandenen Willensmächte. Die in der Welt vorhandenen Willen, ihrem natürlichen Triebe überlassen, stossen aufeinander, befehden sich, suchen sich einer den andern zu unterwerfen: das Recht schafft für jeden Willen einen Raum, innerhalb dessen die fremden Willen von ihm abprallen, innerhalb dessen er gebietet. Das Recht ist in erster Linie nicht Einschränkung, sondern Anerkennung der menschlichen Freiheit; die Einschränkung ist nur die andere Seite der gewährten Anerkennung. Das Rechtsgesetz legt Pflichten nur dadurch auf, dass es Rechte gewährt; das Sittengesetz legt nichts als Pflichten auf. Liebt man eine Zuspitzung des Ausdrucks, so mag man sagen: das Rechtsgesetz gewährt Rechte, das Sittengesetz legt Pflichten auf. Ich kann nicht weiter gehen, ohne darauf hinzuweisen, dass es nicht bloss Einzelwillen in der Welt gibt, sondern auch Gesammtwillen. Wir schreiben der Corporation, der Gemeinde, dem Staate einen Willen zu. Ich weiss sehr wohl, dass ich hiermit ein Problem berühre, mit welchem die Wissenschaft seit Jahrhunderten ringt: wie ist es möglich, dass eine Gemeinschaft, welche kein Mensch ist, einen Willen habe, welcher von dem realen Willen der die Gemeinschaft bildenden Menschen verschieden ist? Ich darf an dieser Stelle auch nicht den Versuch machen wollen, etwas zur Lösung dieses Problems beizutragen: ich beschränke mich darauf, die Anerkennung der Thatsache zu constatiren. Dieser Thatsache kann sich Niemand entziehen und entzieht sich Niemand. Vor Allem der Wille des Staates ist eine Thatsache, die sich in jedem Momente unseres Daseins fühlbar macht, bald in erwünschter, bald in unerwünschter Weise; aber ohne den wollenden Staat vermögen wir nicht zu existiren. An diesem Punkte entrollt sich vor unserem Auge ein Bild von fesselnder Gewalt. Der Mensch hat seine Aufgabe, die Gemeinschaften, in denen sich das Leben der Menschheit entwickelt, haben ihre Aufgabe. Diese Aufgabe können sie nicht erfüllen, wenn ihr Wille nicht in gewissem Masse anerkannt wird. Sie bedürfen eines 376

Antrittsrede 1884

befriedeten Raumes, innerhalb dessen sie sich frei bewegen, innerhalb dessen sie ihre Kräfte entfalten können. Diesen Raum schafft ihnen das Recht. Das Recht ist nicht die Vollendung der Dinge; aber ohne das Recht wäre nicht die Vollendung. Die höchsten Ziele der Menschheit werden nur durch freien Aufschwung der Kräfte erreicht; aber dieser Aufschwung wäre nicht möglich ohne das Recht. Das Recht ist es, welches den Boden bereitet für alle menschliche Cultur. Sagen Sie, das Recht sei eine Magd; aber dann fügen Sie hinzu: eine Magd, die eine Königskrone trägt. Die Rechtswissenschaft müht sich nicht bloss mit dem Begriff des Rechts, sie müht sich auch mit dem Begriff der Berechtigung, dessen, was man gemeinhin Recht im subjectiven Sinne oder subjectives Recht nennt. Auch hier herrscht alles Andere, als Übereinstimmung. Wenn es thunlich wäre, Ihnen einen Einblick in die über den Begriff des subjectiven Recht gerade in der neueren Zeit geführten Untersuchungen zu gewähren, Sie würden erstaunen über den Widerstreit der aufgestellten Meinungen, einen Widerstreit, der fast die Aussicht auf Verständigung auszuschliessen scheint. Ist das Recht Willensmacht, ist es rechtlich geschütztes Interesse, ist es Normenschutz? Ich bezeichne kurz meine Auffassung. Alle Rechtsordnung verfährt in der Weise, dass sie an gewisse Thatsachen gewisse rechtliche Folgen anknüpft. So oft sich ein Thatbestand bestimmter Art verwirklicht, wird lebendig ein Spruch der Rechtsordnung von dem in der Rechtsvorschrift bezeichneten Inhalt zu Gunsten des in der Rechtsvorschrift bezeichneten Individuums. Dieser Spruch ist dem bezeichneten Individuum zu eigen gegeben; ob es von demselben Gebrauch machen, und im Besonderen, ob es die von der Rechtsordnung zum Zweck der Durchsetzung ihres Spruches gebotenen Mittel in Anspruch nehmen will, ist ihm anheimgegeben. So ist das Recht sein Recht geworden. Ich kann mir nicht versagen, hier noch einen besonderen Punkt zu berühren. Man streitet nicht bloss über den Begriff des subjectiven Rechts, sondern auch über seinen möglichen Inhalt. Eine der brennendsten Fragen der gegenwärtigen rechtswissenschaftlichen Bewegung ist: giebt es auch Rechte, deren Inhalt es ist, etwas thun zu dürfen? (Auf das objective Recht bezogen lautet die Frage: giebt es erlaubende Rechtssätze?) Während von der einen Seite diese Frage mit Energie bejaht wird, wird von der anderen Seite ebenso entschieden behauptet, dass der Inhalt des subjectiven Rechts immer nur der sei, dass ein Anderer etwas thun oder nicht thun soll. Um ein Beispiel anzuführen, so wird auf der einen Seite behauptet, das Eigenthum gewähre dem Eigenthümer das Recht, über die seinem Eigenthum unterworfene Sache in beliebiger Weise zu verfügen; von der anderen Seite wird gesagt, dieses sogenannte Verfügungsrecht des Eigenthümers sei nur ein anderer Ausdruck für sein Recht, den ihm Gegenüberstehenden zu verbieten, ihn an der beliebigen Verfügung zu verhindern. Ich enthalte mich der abschliessenden Entscheidung, will aber doch darauf aufmerksam machen, dass, was den Eigenthümer angeht, die Rechtsordnung keine Veranlassung hat, ihm eine Erlaubniss gegenüber der Sache zu geben, deren naturgemässe Bestimmung es ist, dem Menschen zu dienen, und dass daher die ihm gewährte Erlaubniss doch wohl eine Erlaubniss gegenüber den Anderen ist, und eine einem Andern gegenüber gewährte Erlaubniss kaum etwas Anderes sein möchte, als ein an ihn gerichtetes Verbot. – 377

Bernhard Windscheid

An dieser Stelle höre ich aus der Versammlung, zu welcher ich die Ehre habe, zu reden, zwei Fragen heraus, auf die ich Antwort schuldig bin. Die eine: warum plagt ihr Juristen euch mit so abstracten Fragen? Die andere: wenn ihr es thut, ist das noch Jurisprudenz? Auf die erste Frage gebe ich zur Antwort, dass eine Wissenschaft, welche darauf verzichten wollte, den Begriff ihres Gegenstandes zu bestimmen, den Namen einer Wissenschaft nicht mehr verdienen würde. Und des Ferneren, dass Jeder, welcher in rechtswissenschaftlichen Fragen gearbeitet hat, aus eigener Erfahrung weiss, dass wir nicht selten bei der Untersuchung des speziellsten Punktes auf die höchsten und allgemeinsten Begriffe zurückgeworfen werden, und ohne ihre Feststellung kein sicheres Resultat zu erzielen ist. Somit – und das ist die Antwort auf die zweite Frage – sieht sich allerdings der Jurist vielfach genöthigt, auf das Gebiet der Philosophie überzuschreiten, und die Feststellung von Begriffen zu unternehmen, welche die Philosophie mit Recht auch als zu ihr gehörig in Anspruch nimmt. Er wird das nicht thun, wo er in der philosophischen Lehre feste und anerkannte Resultate vorfindet; wo diess nicht der Fall ist, muss er den Versuch machen, sich selbst seinen Weg zu bahnen. Ein neuerer Schriftsteller, welcher die ausserordentlich praktische Materie von dem Einfluss des Irrthums auf die Gültigkeit der Rechtsgeschäfte bearbeitet hat, beginnt damit, zu fragen: was ist ein Rechtsgeschäft? Ein Rechtsgeschäft ist eine Handlung. Was ist Handlung? Eine Handlung ist Willensäusserung. Was ist Wille? Die Psychologen, sagt er, streiten; mir bleibt nichts übrig, als die Untersuchung selbständig zu führen – und so beschäftigt sich ein nicht geringer Theil seines Buches mit den Begriffen von Wille und Handlung. Die Strafrechtswissenschaft hat diess übrigens längst gethan. Ich komme auf diesen Punkt noch zurück. – Und wo ist denn nun dieses Recht, von dem gesagt wurde, dass es die Grundlage der menschlichen Existenz bilde? Es ist ein alter nie ausgeträumter Traum der Menschheit, dass es ein einiges, festes, unwandelbares Recht gebe. Dieses Recht sei das Recht der Vernunft. Was der Vernunft entspreche, sei eben deswegen Recht, nothwendig, für alle Zeiten, an allen Orten. Diese Vorstellung drängt sich nicht bloss dem Laien auf; es ist bekannt, in welchem Masse sie zeitweilig auch die Wissenschaft beherrscht hat. Jetzt ist sie in der Wissenschaft als irrig erkannt; vollständig beseitigt ist sie nicht. Es ist in der neueren Zeit wiederholt und mit Recht hervorgehoben worden, wie leicht auch diejenigen, welche sich der besseren Erkenntniss nicht verschliessen, ja sie mit Energie vertreten, in die alten naturrechtlichen Gedankengänge zurückfallen. Es ist das auch nicht zu verwundern. Denn wer will leugnen, dass, wenn wir ein Organ desjenigen hätten, was die bezeichnete Vorstellung die menschliche Vernunft nennt, wir uns seinen Aussprüchen unwandelbar zu fügen hätten. Aber ein solches Organ existirt nicht; es existirt ebenso wenig, wie jene menschliche Vernunft selbst existirt. Es gibt nur eine Vernunft des einzelnen Menschen, der freilich schwer verlernt, seine Vernunft für die Vernunft zu halten. Das gilt für alle Zweige der menschlichen Erkenntniss, es gilt auch für die Rechtserkenntniss. Nicht, was ich für Recht halte, ist Recht, sondern Recht ist nur, was die Gemeinschaft, zu welcher ich gehöre, 378

Antrittsrede 1884

als Recht erkannt, und, weil sie es erkannt hat, als Recht ausgesprochen hat. Vollzieht sich in dem Einzelnen eine Rechtserkenntniss, welche über die Erkenntniss der Genossen hinausgeht, so wird diese Erkenntniss, der Natur jeder Erkenntniss gemäss, streben, sich zur Erkenntniss der Gemeinschaft zu machen, und, wenn diess gelingt, wird sie sich über kurz oder lang in gesetzlicher Vorschrift oder in der Thatsache der Uebung als Recht verwirklichen. Dieser Prozess wird immer eine gewisse, oft eine lange Zeit in Anspruch nehmen; bis er abgeschlossen ist, ist das von dem Individuum als Recht Erkannte nicht Recht. Ich sagte, das Recht verwirkliche sich in der Gemeinschaft. Wie ist diese Gemeinschaft näher zu bestimmen? Als Volksgemeinschaft? Als Staatsgemeinschaft? Kann Recht auch auf dem Boden einer anderen Gemeinschaft entstehen? Wer denkt nicht im Besonderen sofort an die kirchliche Gemeinschaft? Auch hier muss ich mich auf die Bezeichnung der Frage beschränken, ohne die wissenschaftliche Lösung unternehmen zu dürfen. Ich bleibe bei demjenigen Fall stehen, welcher jedenfalls der Haupt- und Normalfall ist: das Recht verwirklicht sich in der Volksgemeinschaft. Die Völker sind Individuen, wie die Menschen. Sie entstehen, wachsen, sterben ab. Im Laufe ihres Lebens schreiten sie, wenn die in sie gelegte geistige Kraft ausreicht und die Verhältnisse günstig sind, zu immer höherer Cultur fort. Damit entwickelt, bereichert, verfeinert sich ihr Recht, welches eben der Ausdruck der Erkenntnissstufe ist, zu welcher sie als Volk gelangt sind. Und was dem einzelnen Volke nicht beschieden ist, erreicht das andere, vielleicht bloss mit den Mitteln der eigenen geistigen Anlagen, vielleicht unter dem befruchtenden Einfluss der von anderen Völkern entlehnten Gedanken. So gibt es einen Fortschritt im Rechte, und es entsteht die interessante Aufgabe, das Fortschreiten der Rechtsidee durch die verschiedenen Völker zu verfolgen. In der neueren Zeit wird diese Aufgabe mit erhöhtem Eifer ins Auge gefasst. Die vergleichende Rechtswissenschaft beginnt einen selbständigen Platz unter den einzelnen Disciplinen der Rechtswissenschaft in Anspruch zu nehmen. Sie darf freudigen Willkommens sicher sein; nur wird die Frage erlaubt sein, ob sie nicht mehr Culturgeschichte, als Rechtswissenschaft ist? Denn das freilich darf nie vergessen werden, dass die letzten Ziele der Rechtswissenschaft praktische Ziele sind. Die Rechtswissenschaft ist eine praktische Wissenschaft. Das ist ihre Ehre. Es gibt eine Auffassung, nach welcher der wahren Wissenschaftlichkeit durch die Verfolgung praktischer Ziele Eintrag geschehen soll. Jedenfalls in unseren Akademien der Wissenschaften hat die Rechtswissenschaft als solche keinen Platz. Wir lassen uns dadurch nicht irre machen und halten unsere Aufgabe unentwegt fest im Auge. Wir wissen, dass die Rechtswissenschaft dazu da ist, um mitzuwirken, dass ein Recht vorhanden sei und ein Recht gesprochen werde, welches menschliche Interessen und Bedürfnisse, wie sie nun zu dieser Zeit und an diesem Orte begriffen werden, zu befriedigen im Stande ist. Es ist schön, sich im Aether reiner Erkenntniss zu wiegen; es ist schöner, für das Wohl der Menschheit zu arbeiten. Gestatten Sie, dass ich die Arbeit der Rechtswissenschaft nach ihren praktischen Zielen etwas näher verfolge. Ich hebe folgende Punkte hervor. 379

Bernhard Windscheid

Die jetzt lebende Generation der deutschen Juristen ist erzogen in dem Dogma, dass die Erforschung eines jeden positiven Rechts, um ihr Ziel vollständig zu erreichen, und namentlich auch um das anzuwendende Recht mit Sicherheit zu erkennen, auf historischem Wege zu erfolgen habe. An dieser Ueberzeugung ist festzuhalten. Denn es ist eine der Wirklichkeit nicht entsprechende Auffassung, ein gegebenes Recht bloss anzusehen als etwas, was ist; es ist ein Gewordenes. Jedes gegebene Recht ist ein einzelner Punkt in der Entwickelung des geistigen Lebens des Volkes; es ist das Product von Factoren, welche der Vergangenheit angehören. Nur aus der Erkenntniss dieser Factoren kann die volle Erkenntniss des Productes gewonnen werden. Dies ist allgemein wahr; eine ganz besondere Wahrheit aber hat es für Deutschland. Der Rechtszustand in Deutschland hat sich in höchst eigenthümlicher Weise entwickelt. Es ist dies namentlich die Folge einer Thatsache, welche zu den merkwürdigsten Thatsachen aller Geschichte gehört, dass in Deutschland ein fremdes Recht, das römische Recht, aufgenommen worden ist, nicht etwa bloss mit der Kraft wissenschaftlicher Autorität, sondern schlechthin als Gesetz. In Deutschland fand das römische Recht einheimisches Recht vor, welches auf langer geschichtlicher Entwickelung beruhte; das römische Recht brachte seinerseits eine Geschichte von weit über tausend Jahren mit; aus dem Zusammenstoss beider Rechte hat sich ein neuer Entwickelungsprozess ergeben, welcher nun schon mehr als drei Jahrhunderte ausfüllt – wie ist es möglich, Einsicht in das Recht der Gegenwart zu gewinnen, wenn man bloss bei dieser Gegenwart stehen bleibt? Sie werden vielleicht sagen, dass die Hülfe bei einer zusammenfassenden und abschliessenden Gesetzgebung zu suchen sei. Solche Gesetzgebungen haben wir ja in Deutschland – wenn wir auch von Oesterreich als nicht zum Reich gehörig absehen, in Preussen, in Sachsen; am Rhein gilt das französische Gesetzbuch; das Reich besitzt Gesetzbücher auf dem Gebiete des Strafrechts, des Prozessrechts, des Handels- und Wechselrechts; ein deutsches Gesetzbuch auf dem Gebiete des übrigen Civilrechts werden wir haben, in absehbarer Zeit. Aber alle diese Gesetzbücher ruhen auf dem zur Zeit ihrer Abfassung geltenden Recht; ihre Grundlage ist das geltende Recht, oder vielmehr diejenige Erkenntniss des geltenden Rechts, welche ihren Verfassern beiwohnte. So hängt von der Ergründung dieser Erkenntniss die Erkenntniss des Gesetzbuches, von der Kritik derselben dessen Kritik ab. Das ist freilich eine Einsicht, die immer Mühe gehabt hat, durchzudringen; für den sogenannten gesunden Menschenverstand ist jedes Gesetzbuch ein Bruch mit der Vergangenheit, und die Geschichte lehrt, dass auch in der Wissenschaft diese Auffassung kürzere oder längere Zeit die Herrschaft zu führen pflegt. Das ist die Periode der sogenannten Auslegung des Gesetzbuchs aus sich selbst. Aber die Geschichte lehrt auch, dass diese Periode eine vorübergehende ist, und der Isolirungsmethode gegenüber sich die geschichtliche Methode Bahn bricht. Ein hervorragendes Beispiel bietet das Oesterreichische bürgerliche Gesetzbuch. Es ist das bleibende Verdienst eines einzelnen Mannes, Unger’s, die Behandlung des österreichischen Gesetzbuchs auf seine geschichtlichen Grundlagen zurückgeführt zu haben, und man geht nicht zu weit, wenn man sagt, dass dadurch die Oesterreichische Rechtswissenschaft umgewandelt worden ist. Auf den gleichen Weg hat sich bald auch die Behandlung des Preussischen Rechts begeben. 380

Antrittsrede 1884

Aber wie hoch auch die Bedeutung der Rechtsgeschichte für die praktischen Ziele der Rechtswissenschaft anzuschlagen ist: sie ist doch für dieselben nur Hülfswissenschaft. Ich weiss nicht, ob ich nöthig habe, mich gegen ein Missverständniss zu verwahren. Ich sage nicht, dass die Rechtsgeschichte Hülfswissenschaft ist. Die Rechtsgeschichte hat die volle Ehre einer selbständigen, auf sich beruhenden Wissenschaft. Es ist eine würdige Aufgabe, die Entwickelung des Rechts eines Volkes zu verfolgen lediglich um ihrer selbst willen, ohne Hinter- und Nebengedanken. Aber die Rechtsgeschichte, wenn sie sich auf diesen Standpunkt stellt, ist mehr ein Zweig der Geschichte, als der Rechtswissenschaft. Die Geschichte eines Volkes soll das gesammte äussere und innere Leben des Volkes zur Darstellung bringen, und wahrlich eine wesentliche Seite seines inneren Lebens ist sein Recht. Aber mit seinem Recht ist es nicht anders, als mit seiner Literatur, seiner Kunst, seinen wirthschaftlichen Verhältnissen. Für die specifischen Zwecke der Rechtswissenschaft hat die Rechtsgeschichte Werth nur insofern, als sie etwas beiträgt zur Erkenntniss des anzuwendenden Rechts. Dies zu betonen, haben gerade diejenigen die dringendste Veranlassung, welche am meisten davon überzeugt sind, dass die volle Erkenntniss des anzuwendenden Rechts in zahlreichen Fällen ohne Zurückgehen auf seine geschichtliche Entwickelung nicht möglich ist. Denn alle Uebertreibung rächt sich, und der Jurist, dem gesagt wird, dass ihm die Rechtsgeschichte um ihrer selbst willen nöthig sei, gelangt leicht dazu, sie ganz wegzuwerfen. Wir sind keine Gelehrten und wollen keine sein; aber die Gelehrsamkeit ist uns nöthig zu unseren Zwecken, und in diesem Sinne suchen wir sie uns anzueignen. Nicht anders verhält es sich mit der philosophischen Ergründung der Rechtsbegriffe, von der ich oben sprach. Es liegt ein grosser Reiz in derselben, und vielleicht ein um so grösserer, als der Jurist sich damit auf ein Gebiet begibt, auf dem er, wenigstens regelmässig, der technischen Schulung entbehrt; die Anspannung der Kräfte und die Freude des Findens ist um so grösser. Aber auch hier soll der Jurist sich im Bewusstsein erhalten, welches die specifische Aufgabe seiner Wissenschaft ist. Um ihrer selbst willen ist ihm auch diese Begriffsergründung nicht gestattet, sondern nur als Mittel zum Zweck. Ich weiss nicht, ob die neuere deutsche Rechtswissenschaft hier überall die richtigen Grenzen eingehalten hat. Freilich sind sie schwer zu finden, und die Richtung selbst, die übrigens in ihrem Ursprunge auf Puchta zurückgeht, hat nicht bloss in den Anforderungen wissenschaftlicher Erkenntniss, sondern auch, wie bereits bemerkt wurde, in dem praktischen Bedürfniss ihre volle Rechtfertigung. Es gibt für die Aufgabe der Rechtswissenschaft, das vorhandene Recht zu erkennen, noch eine andere, schwerwiegende Frage, an der ich nicht vorbeigehen kann. Ich bleibe zum Zweck der Vereinfachung bei dem Hauptfalle stehen, dass das zu erkennende Recht in einem Gesetze enthalten ist, und nehme auf den verhältnissmässig weniger wichtigen Fall des Gewohnheitsrechtes keine Rücksicht. Das Gesetz ist eine in Worten ausgedrückte menschliche Rede; Worte sind Zeichen für Gedanken; die Aufgabe ist, die Gedanken zu erkennen, welche der Gesetzgeber durch die gebrauchten Wortzeichen hat ausdrücken wollen. Hierüber ist man natürlich einverstanden. Aber nicht einverstanden ist man über Folgendes. Alles menschliche Denken ist nur ein Versuch, die Gedankenbilder zu ergreifen, welche dem Den381

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kenden vorschweben, ein Versuch, welcher mehr oder minder vollständig, oft recht unvollständig gelingt. Der Gesetzgeber unterliegt der allgemeinen Schwäche der menschlichen Natur. Wie nun, wenn er den Gedanken, welchen er hat denken wollen, unvollkommen gedacht hat, zu weit, zu enge, vielleicht qualitativ anders: darf dann die wissenschaftliche Auslegung den Gedanken, welchen er eigentlich hat denken wollen – vorausgesetzt natürlich dass sie ihn mit Sicherheit erkennt – zur Geltung bringen, darf sie aussprechen, dass dieser ungedachte Gedanke Recht sei? Diese Frage ist zu allen Zeiten verschieden beantwortet worden, vorwiegend wohl in verneinendem Sinn. Ich für meinen Theil stehe nicht an, mich mit Entschiedenheit für ihre Bejahung auszusprechen. Nach meiner Überzeugung ist jede Gesetzgebung ohnmächtig ohne eine ihr zur Seite stehende hülfreiche Jurisprudenz, welche ihre Gedanken aus-denkt. Ich betone dabei ausdrücklich, dass ich hier wie im Laufe dieses ganzen Vortrages die Jurisprudenz nicht mit theoretischer Jurisprudenz identificire. Man sollte überhaupt nicht, wie das hergebracht ist, zwischen theoretischer und praktischer Rechtsarbeit unterscheiden, sondern zwischen wissenschaftlicher und unwissenschaftlicher. Es gibt sehr wissenschaftliche Praktiker und sehr unwissenschaftliche Theoretiker, wie umgekehrt. Aber gerade der Praktiker weiss am Besten, wie wenig oft mit dem Gesetze die Anforderungen der Gerechtigkeit befriedigt werden können, wenn darauf verzichtet wird, die unfertigen Gedanken des Gesetzgebers fertig zu denken. Es ist diess ein Punkt von der äussersten Wichtigkeit, und es ist unbedingt nothwendig, dass man sich denselben klar zum Bewusstsein bringe und scharfe Stellung nehme zu der Frage: beschränkt sich die Aufgabe der Auslegung darauf, den Gedanken festzustellen, welchen der Gesetzgeber gedacht hat, als er die im Gesetz enthaltenen Worte gebrauchte, oder darf und muss sie weiter gehen und hinter dem von dem Gesetzgeber wirklich gedachten Gedanken denjenigen hervorziehen, den er eigentlich hat denken wollen? Ich kenne sehr wohl den Grund, welcher so Viele abhält, der Auslegung diese weitergehende Befugniss zuzuerkennen. Der Auslegende, sagt man, darf sich nicht über das Gesetz stellen. Aber das thut er nur dann, wenn er die eigenen Gedanken dem Gesetzgeber unterschiebt; das thut er dann nicht, wenn er die Gedanken enthüllt, welche der Gesetzgeber hat denken wollen. Es ist zuzugeben, dass die Grenze zwischen dieser Enthüllung und jener Unterschiebung eine flüssige ist, und die Enthüllung leicht in die Unterschiebung überschlägt; aber ebenso geht auf der anderen Seite die Feststellung des vom Gesetzgeber wirklich gedachten Gedankens, welche Niemand der Auslegung bestreitet, unvermerkt in jene Enthüllung über; auch hier ist die Grenze eine flüssige. So mag und soll man denn warnen vor einer leichtfertigen Handhabung jener höchsten und edelsten Thätigkeit der rechtswissenschaftlichen Auslegung; sie ihr zu untersagen, setzt die Wissenschaft herab und schädigt die Gerechtigkeit. Auch ist dafür gesorgt, dass die Auffassung, gegen welche ich mich wende, keinen zu grossen Schaden anstifte. Denn einmal lässt sie sich in der Zulassung der s. g. Analogie eine Hinterthür offen, durch welche Vieles, wenn auch nicht Alles, wieder hineinschlüpfen kann, was sie im Prinzip verwirft; und sodann, wenn eine Auslegung der hier fraglichen Art wirklich zwingende Gründe für sich hat, so entzieht sich ihr Niemand, und der das Gesetz anwendende Richter am Wenigsten. 382

Antrittsrede 1884

Die Aufgabe der Rechtswissenschaft beschränkt sich nicht auf die Erkenntniss des anzuwendenden Rechts. Die Rechtswissenschaft hat eine Aufgabe zu erfüllen auch bei der Schaffung neuen Rechts. Hier nun liegt es mir vor Allem am Herzen, auszusprechen, dass die Rechtswissenschaft die ihr der Gesetzgebung gegenüber angewiesene Stellung nicht überschätzen soll. Nicht immer, und in zahlreichen Fällen nicht, ist der Jurist als solcher der berufene Gesetzgeber. Zwar wenn es sich etwa um die Entwerfung einer Grundbuchordnung handelt, oder um die Frage, ob in Strafsachen Berufung bestehen soll, wird man sich vorzugsweise an den Juristen wenden, vielleicht auch, wenn gefragt wird, ob dem ungerecht Verurtheilten Entschädigung gewährt werden soll. Aber nun nehmen Sie etwa die Ordnung der Ehescheidung, und im Besonderen die Frage, ob Ehescheidung nur wegen Schuld zulässig sein soll oder auch aus anderen Gründen, die Ordnung der gewerblichen Thätigkeit, ob unbedingte Freiheit derselben zu gewähren oder ein gewisses Mass der Beschränkung aufzuerlegen sei, Gesetze zur Abhülfe der socialen Noth, Gesetze, durch welche das Verhältniss zwischen Staat und Kirche geregelt werden soll, oder, um noch ein Kleines gegenüber so grossen Dingen zu nennen, die Ordnung des immer mehr sich geltend machenden Chekverkehrs: welcher Jurist hätte den Muth zu sagen, dass ihm bei Gesetzen dieser Art eine ausschlaggebende Stimme zukomme? Die Gesetzgebung steht auf hoher Warte; sie beruht in zahlreichen Fällen auf ethischen, politischen, volkswirthschaftlichen Erwägungen, oder auf einer Combination dieser Erwägungen, welche nicht Sache des Juristen als solchen sind. Aber auf der andern Seite ist denn doch dem Gesagten gegenüber ein Zweifaches zu betonen. Einmal, dass auch, wo der Rechtswissenschaft die Entscheidung über den Inhalt des zu erlassenden Gesetzes nicht zusteht, von ihr ein wesentlicher Beitrag zu demselben erwartet wird. Aus der Rechtswissenschaft entlehnt der Gesetzgeber einen guten Theil der Begriffe, in denen er seinen Willen zum Ausdruck bringt. Bei Weitem nicht immer schafft der Gesetzgeber diese Begriffe selbst; zahlreiche Begriffe nimmt er, wie er sie vorfindet. Hat nun die Rechtswissenschaft den Inhalt dieser Begriffe klar und erschöpfend bestimmt, so wird auch seine Anordnung klar und erschöpfend sein; wo nicht, so wird sie zu Zweifeln und Fragen Anlass geben. Als das deutsche Handelsgesetzbuch den Satz aufstellte, dass der Frachtführer für das übernommene Gut im Principe auch ohne Verschuldung hafte, nur in Ausnahmefällen nicht, und namentlich nicht im Falle der höheren Gewalt, hat es nicht unternommen, zu bestimmen, was unter höherer Gewalt zu verstehen sei; es hat sich darauf verlassen, dass dieser Begriff in der Wissenschaft feststehe, was denn freilich keineswegs der Fall ist. Die deutsche Civilprozessordnung enthält den Satz, dass auf blosse Feststellung eines streitigen Punktes in allen Fällen geklagt werden könne, in denen ein rechtliches Interesse des Klägers vorliegt; eine Theorie über den Inhalt dieses Begriffes ist noch zu schaffen. Wenn der Gesetzgeber einen von ihm gewährten Anspruch auf eine gewisse Zeit beschränken will, so ist es naheliegend, dass er sagt: der Anspruch verjähre durch Ablauf dieser Zeit. Damit hat er aber alle in dem Rechte, unter welchem er spricht, in Betreff der Anspruchsverjährung geltenden Bestimmungen für anwendbar erklärt, also z. B. dass sie durch eine gewisse Thätigkeit des Berechtigten oder durch Anerkennung des Verpflichteten 383

Bernhard Windscheid

unterbrochen werde, dass sie gegenüber gewissen Personen, etwa Unerwachsenen, nicht laufe u. dgl. Möglich nun, dass er dies wirklich gewollt hat, möglich aber auch, dass sein Wille ist, dass nach Ablauf der bestimmten Frist der Anspruch schlechthin seine rechtliche Existenz verlieren solle. Dann ist der Ausdruck Verjährung nicht correct; der correcte Ausdruck ist Erlöschen des Anspruchs. Aber es ist noch nicht lange her, dass der Gegensatz zwischen Verjährung und Erlöschen des Anspruchs von der Wissenschaft mit genügender Schärfe hervorgehoben worden ist, und so lassen frühere Gesetze Raum für den Zweifel, ob das, was sie Verjährung nennen, wirklich als Verjährung gemeint sei. Bei dem künftigen deutschen Civilgesetzbuch wird jeder Zweifel dieser Art ausgeschlossen sein. Dies ist das Eine, dazu kommt ein Zweites. Es gibt Fälle der Gesetzgebung, welche zwar nicht alltäglich, aber ausserordentlich wichtig sind, in denen allerdings die Gesetzgebung in die erste Linie tritt. Es sind das die Fälle, in denen die Gesetzgebung es unternimmt, das gesammte Recht eines gewissen Gebietes, oder vielleicht aller Gebiete, in einem einheitlichen Gesetzbuch zusammenzufassen. Auch in diesen Fällen ist die Absicht, das bestehende Recht zu ändern, nicht ausgeschlossen; ja es mag sein, dass diese Absicht den Anstoss zur Gesetzgebung gibt. Aber wie sehr auch der Gesetzgebung das neu zu gründende Recht am Herzen liegen mag, es bleibt immer ein breiter Raum übrig, auf welchem sie das bestehende Recht nicht ändern, sondern nur revidiren und in neuer Form wiedergeben will. Und hier empfängt sie, wenn nicht ausschliesslich, doch vorzugsweise aus der Hand der Rechtswissenschaft, welche sie vorfindet. Wenn es sich in einem Civilgesetzbuch darum handelt, zu bestimmen, welchen Einfluss auf den rechtlichen Bestand eines Rechtsgeschäfts ein Irrthum hat, der bei demselben untergelaufen ist, oder in welchen Fällen der Schuldner sich darauf berufen kann, dass ihm die ihm obliegende Leistung unmöglich sei, oder ob die Nachtheile, welche den Gläubiger treffen, der unberechtigter Weise die von dem Schuldner angebotene Leistung nicht annimmt, auch dann eintreten, wenn der Gläubiger ohne seine Schuld der Meinung gewesen ist, dass er nicht anzunehmen brauche, oder ob die Anspruchsverjährung durch eine dem Anspruch entgegenstehende Einrede gehemmt wird – so gibt in diesen und unzähligen anderen Fällen die Rechtswissenschaft der Gesetzgebung nicht bloss die Form, sondern auch den Inhalt der zu treffenden Bestimmung. Es ist eine schwere Verantwortung, welche derjenige auf sich nimmt, der an einer Codification solcher Art mitzuarbeiten berufen ist. Das Gesetzbuch wird in grossen Partieen nichts Anderes enthalten, als was seine Verfasser von dem geltenden Recht gelernt haben, durch sich oder durch Andere; je tiefer sie dasselbe durchdrungen, je innerlicher sie dasselbe erfasst, zu je grösserer Klarheit und Durchsichtigkeit sie die Begriffe desselben in sich durchgearbeitet haben, desto besser wird das Gesetzbuch sein. Die Rechtswissenschaft feiert in Fällen dieser Art ihren Triumph, und besteht ihre Probe. Ich habe mich über diesen Punkt kürzer fassen müssen, als mir lieb ist. Aber ich muss noch Zeit behalten, um ein besonderes Wort an Sie zu richten, meine Herren Studirenden. Die ältesten Statuten der Universität München schreiben vor, dass jährlich der jeweilige Rector eine Ansprache an die Studirenden richte, um sie zu 384

Antrittsrede 1884

guten Sitten zu ermahnen. Das zu thun möchte ich nicht unternehmen; es hiesse daran zweifeln, dass Ihnen gute Sitten eigen sind. Wohl aber drängt es mich, Sie am Beginnen dieses neuen Studienjahres mit einem Worte warmer Theilnahme zu begrüssen, und Sie daran zu erinnern, dass, wenn wir Sie mit einem althergebrachten Namen Commilitonen nennen, dies heisst, dass Sie mit uns zu gleichem Dienste verpflichtet sind, zum Dienst der Wissenschaft. Für die Wissenschaft arbeiten Ihre Lehrer mit Hingebung, und nicht bloss für die Wissenschaft als solche, sondern auch für die Ueberlieferung derselben an Sie. Glauben Sie, dass für den echten akademischen Lehrer jede Vorlesung eine That ist, dass er in jeder Vorlesung mit seiner Aufgabe ringt, in jeder Vorlesung sein Bestes giebt. Erwidern Sie diese Hingebung mit gleicher Hingebung. Bedenken Sie, dass der gesammte akademische Unterricht auf das Princip der absoluten Freiheit des Lernenden gestellt ist, und dass es für den Edlen keinen grösseren Zwang gibt, als die Freiheit, welche ihm gewährt wird. An die Rechtsbeflissenen unter Ihnen richte ich die Mahnung, sich im Bewusstsein zu erhalten die Erhabenheit der Lebensstellung, zu der Sie sich vorbereiten. Der Richter ist auf dem Gebiete der Rechtssprechung der Träger der staatlichen Souveränetät. Das vom Richter gesprochene Urtheil kann keine Macht umstossen, und Niemand, als der Richter, ist befugt, ein solches Urtheil zu sprechen. Das vermag nicht König, nicht Kaiser. Wer möchte schwach befunden werden gegenüber solcher Ehre? Allen lege ich ans Herz, dass Sie sich bei Ihren Studien in gleicher Weise vor zu grosser Verallgemeinerung wie vor zu grosser Specialisirung hüten. Die Jugend greift, wie nach den höchsten Kränzen, so nach den höchsten Ideen. Die Welt zu begreifen und die Welt zu beglücken, erscheint ihr nicht schwer. Sie ist schnell bereit, Principien aufzustellen und für die abstracte Durchführung derselben einzutreten. Sie weiss noch nicht, dass die Wahrheit, oder was der Mensch die Wahrheit nennt, sich in einer ununterbrochenen Reihe von Vermittelungen bewegt, und dass die Vermittelungen nur durch mühevolle Durcharbeitung des Besonderen erworben werden. Vor allen Erfolg haben die Götter den Schweiss gestellt. Zum Kern des Wissens wird Niemand durchdringen, der sich nicht dazu erzogen hat, im harten Holz zu bohren, und Niemand soll versuchen zu fliegen, der nicht gehen gelernt hat. Aber verlieren Sie sich auch nicht im Besonderen. Halten Sie sich den Blick frei auch über die Grenzen des Ihnen zunächst angewiesenen Studienkreises. Zu allen Zeiten haben die Wissenschaften neues Leben dadurch gewonnen, dass sie sich andere Wissenschaften dienstbar gemacht haben, und schon von dem alten römischen Juristen Antistius Labeo wird gerühmt, dass er „ceterarum quoque bonarum artium non expers fuit.“ Lassen Sie an sich das Wort zur Wahrheit werden, dass die Universitäten auch universitas literarum sein sollen. Und nun ein Letztes, mit dem ich zu dem Gegenstand dieses Vortrages zurückkehre. Es ist eine falsche Vorstellung, dass das Recht nur dazu da sei, um dem Unrecht entgegenzutreten, dass es, wie man wohl gesagt hat, nur in seinem Bruche lebendig werde. Der Bruch des Rechts ist ein Uebelstand, der, wie jede menschliche Unvollkommenheit, ertragen werden muss. Sein höchstes Leben lebt das Recht aus, wenn diejenigen, an welche es sich richtet, sich ihm freiwillig unterwerfen, wenn es mit ihnen eins wird, wenn der Rechtsbefehl sich in ihnen zur Gesinnung 385

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der Gerechtigkeit gestaltet. Und so rufe ich Ihnen mit den Worten des alten Dichters zu: discite iustitiam! Das Wort ergeht an uns Alle, nicht bloss an die Studirenden. Und ich fahre fort mit den Worten des Dichters: Discite iustitiam moniti nec temnere divos! ***

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31. October 1885. Rede des abtretenden Rectors Dr. iur. Bernhard Windscheid. Bericht über das Studienjahr 1884/85. Hochansehnliche Versammlung! Der Bericht, welchen in jedem Jahre der abtretende Rector unserer Universität über das abgelaufene akademische Jahr erstattet, berührt nur die äusseren Ereignisse. Das innere Leben der Universität lässt er unberührt, und muss er unberührt lassen. Denn die Wandlungen, welche sich in dem geistigen Leben einer wissenschaftlichen Corporation vollziehen, sind nicht mit dem Masse eines Jahres zu bemessen; sie treten erst nach viel längeren Zeiträumen sichtbar hervor. Sie sind desswegen nicht weniger tief eingreifend, nicht weniger umgestaltend. Nicht mehr ganz fünfundzwanzig Jahre sind es, die uns von dem Tage trennen, an welchem die Universität Leipzig die Feier ihres einhalbtausendjährigen Bestehens begehen wird. Ohne Zweifel wird dann eine kundige Hand den Wechsel der Standpunkte schildern, die sie seit dem Jahre 1409, der Entwickelung des geistigen Lebens der Nation folgend, eingenommen hat, und in gerechter Abwägung feststellen, in welchem Masse sie ihrerseits fördernd und bestimmend in das geistige Leben der Nation eingegriffen hat. Dann wird auch dargelegt werden, wie unsere Universität, einst eine selbständige Corporation, die sich selbst ihre Gesetze gab und aus eigenen Mitteln ihre Bedürfnisse bestritt, allmälig zur Staatsanstalt geworden ist. Unsere Universität theilt darin das Schicksal aller älteren Universitäten. Wir beklagen dasselbe nicht. Wir betrachten es als ein Glück, in das grosse Gefüge des Staates eingeordnet zu sein; wir gehorchen gern, und kennen genau den Entgelt, den wir dafür eintauschen. Wenn das für alle Universitäten wahr ist, so hat es eine ganz besondere Wahrheit für die unsrige. An der Spitze unseres Staates steht ein Monarch, der unsere Universität als ein kostbares Juwel in seiner Krone hoch hält, der nicht bloss den Namen unseres obersten Rectors führt, sondern auch ein Herz hat für das Wohl der Anstalt, der es vergönnt ist, sich mit seinem Namen zu zieren. Es hat wenige Jahre seit seinem Regierungsantritt gegeben, in denen er uns nicht mit seinem hohen Besuche geehrt und beglückt hätte. So ist auch im verflossenen Jahre wieder, am Tage des 24. Januar, Seine Majestät in unserer Mitte erschienen, hat eine Anzahl von Vorlesungen besucht, und ist mit dem ihm eigenen feinen Verständniss den Vorträgen der Docenten gefolgt. Den Geburtstag Seiner Majestät hat die Universität auch in diesem Jahre durch einen feierlichen Actus und eine von dem Prorector Hofrath Dr. Heinze gehaltene Festrede gefeiert. Als ein besonderes freudiges Ereigniss aber begrüssen wir es, dass ein Mitglied des Königlichen Hauses, Seine königliche Hoheit Prinz Friedrich August, in die Zahl unserer akademischen Bürger eingetreten ist, der erste Studirende dieser Hochschule aus königlich sächsischem Hause. Wir geben 387

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uns der Hoffnung hin, dass der erlauchte Prinz sich wohl in unserer Mitte fühlt, und dass er dereinst mit freudiger Erinnerung auf die hier verlebte Zeit zurückblicken wird. Auch die hohe Staatsregierung ermüdet nicht in der Fürsorge für die Universität, sowohl was die Lehrkräfte, als was die wissenschaftlichen Hülfsmittel angeht. In letzterer Beziehung ist es als ein hervorragendes Ereigniss in dem Leben der Universität zu bezeichnen, dass in dem verflossenen Jahre die Befriedigung eines längst empfundenen Bedürfnisses feste Gestalt angenommen hat. Für die Errichtung eines neuen Gebäudes für die Universitätsbibliothek ist ein Bauplatz angekauft, und es ist zur Gewinnung von Bauplänen eine öffentliche Concurrenz ausgeschrieben worden; die eingegangenen Baupläne, über welche das ernannte Preisgericht bereits sein Urtheil abgegeben hat, werden in den nächsten Tagen zur öffentlichen Ausstellung gebracht werden. Allerdings hat, was den gewählten Bauplatz angeht, im Schosse der Universität das Bedenken nicht unterdrückt werden können, ob er nicht weiter von dem Mittelpunkt der Stadt entfernt sei, als mit den Interessen der Docenten und Studirenden vereinbar sein möchte, und der akademische Senat hat nicht verfehlt, diesem Bedenken dem vorgesetzten königlichen Ministerium gegenüber wiederholt ehrerbietigsten Ausdruck zu geben. Das königliche Ministerium hat nicht geglaubt, diesem Bedenken Rechnung tragen zu sollen, und es bleibt uns nichts übrig, als zu hoffen, dass die fortschreitende räumliche Entwickelung unserer Stadt die aus der Lage des neuen Bibliothekgebäudes sich ergebenden Uebelstände immer mehr verschwinden machen oder doch weniger fühlbar erscheinen lassen wird. Von sonstigen Bauunternehmungen für die Zwecke der Universität ist zu berichten, dass der Aufbau eines zweiten Stockwerkes auf das Gebäude des Pathologischen Instituts für die Bedürfnisse des Hygieinischen Instituts vollendet ist und die neugeschaffenen Räume ihrer Bestimmung übergeben worden sind; ferner dass dem pathologischen Institut ein neuer Sectionssaal angefügt, der Gebäudecomplex der Irren-Clinik durch eine neue Isolir-Baracke vermehrt, und bei der Sternwarte ein Erweiterungsbau ausgeführt worden ist. Die Errichtung eines Gebäudes für das pharmakologische Institut, in welchem Gebäude zugleich Räume für die medicinische und die chirurgische Poliklinik, so wie die Districts-Poliklinik beschafft werden sollen, ist bis zur Genehmigung durch die Ständeversammlung vorbereitet. Wenn ich mich zu den Veränderungen wende, welche im verflossenen Jahre in dem Lehrkörper der Universität eingetreten sind, so drängt sich in den Vordergrund der Schmerz über die tief empfundenen Lücken, welche die unerbittliche Hand des Todes in unseren Reihen gerissen hat. Es sind schwere Verluste, von denen ich zu berichten habe. Am 25. November des vorigen Jahres wurde durch einen Herzschlag jäh hinweggerafft der ordentliche Professor der Chemie Geh. Hofrath Dr. Hermann Kolbe, geboren 1818, Schüler Wöhler’s in Göttingen von 1838 an, Assistent Bunsen’s in Marburg 1842, dessen Nachfolger in der ordentlichen Professur der Chemie daselbst 1851, nach Leipzig berufen 1865. Unter den Forschern, welchen die heutige Chemie ihre Einsicht in die Constitution der chemischen Verbindungen und ihre gegenseiti388

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gen Beziehungen verdankt, steht Kolbe in erster Reihe, ja er gehört zu den hervorragendsten Mitbegründern derselben. In der Entwickelung seiner theoretischen Anschauungen ging er dabei durchaus eigenartige Wege, und griff in Gefühl der Verantwortlichkeit für die erkannte Wahrheit seine wissenschaftlichen Gegner oft scharf und bitter an. Aber auch von seinen Gegnern ist seine grundlegende Bedeutung allgemein und im höchsten Grade anerkannt. In der Geschichte der Wissenschaft wird seine Arbeit und der Ruhm seines Namens glanzvoll weiterleben. Am 3. Juni dieses Jahres erlag einer tückischen Krankheit, die lange an ihm gezehrt hatte, ein junges, vielversprechendes Leben. Fern von der Heimath, in Weesen am Wallenstädter See, starb Dr. Rudolf Wagner, ausserordentlicher Professor der Jurisprudenz. Der Heimgegangene, geboren in Riga 1851, hatte sich bereits in studentischen Jahren an unserer Universität durch wissenschaftlichen Sinn und bedeutende Begabung hervorgethan. Schon früh wandte er sich derjenigen juristischen Disciplin zu, welche ihm auch in der Folgezeit die wesentlichste Förderung verdankt hat, dem Seerecht; sein von der Theorie wie von der Praxis mit grösstem Beifall aufgenommenes „Handbuch des Seerechts“, von dem 1884 der erste Band erschienen ist, ist leider unvollendet geblieben. Auch sein durch seine Krankheit bedingter mehrmaliger Aufenthalt in der Schweiz und später in Italien ist für die Wissenschaft nicht ohne Frucht geblieben. Der jeden eitlen Schein verachtende, methotisch arbeitende Forscher wandte sich der historischen Ergründung der ihn umgebenden Rechtsverhältnisse zu, und insbesondere haben seine Publicationen über das Recht Graubündtens auch in der Schweiz lebhafte Anerkennung gefunden. Wagner war eine echt wissenschaftliche Natur; mit Schmerz vergegenwärtigen wir uns, wie viel er bei längerem Leben noch geleistet haben würde. Das akademische Jahr neigte sich seinem Ende zu, und es schien, als sollte die Universität das neue Jahr beginnen, ohne einen ferneren Trauerfall beklagen zu müssen. Da brachte uns der Monat August, bereits nach Eintritt der Herbstferien, zwei neue Verluste. Am 12. August 1885 starb während eines Badeaufenthaltes unerwartet in Folge eines Schlaganfalles der ordentliche Professor der klassischen Philologie Geh. Hofrath Dr. Georg Curtius. Geboren 1820, Privatdocent in Berlin 1846, Professor in Prag 1849, in Kiel 1854, gehörte er unserer Universität seit 1862 an. Seine Lebensaufgabe war die Einführung der Methode und der Resultate der von Bopp begründeten vergleichenden Sprachwissenschaft in die Erforschung der classischen Sprachen. Seine Hauptwerke, durch die er den Ruhm seines Namens begründet hat, sind seine in zahlreichen Auflagen verbreitete „Griechische Schulgrammatik“ (1852), die „Grundzüge der griechischen Etymologie“ (5. Auflage 1879), und das zweibändige Werk über das „Verbum der griechischen Sprache“ (1876, 2. Auflage 1879/80). Durch die Ruhe, Klarheit und innere Wärme seines Vortrages, sowie durch die edle Milde seiner Persönlichkeit übte er einen bedeutenden Einfluss auf seine Schüler aus, die ihm in aussergewöhnlicher Anzahl, auch vom Auslande, zuströmten. Ganz seiner Wissenschaft hingegeben hat er das Wohl der Universität in warmen Herzen getragen, und als eine hohe Zierde derselben sich in ihrem Andenken ein unvergängliches Denkmal gestiftet. 389

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Wenige Tage später, am 18. August, folgte dem Genossen nach längerer Krankheit der Geh. Hofrath Dr. Ludwig Lange, ebenfalls Professor der klassischen Philologie, geb. 1825, auf der Universität Göttingen gebildet wo er sich auch habilitirte, 1855 ordentlicher Professor in Prag, 1859 in Giessen, seit 1871 in Leipzig. Vor allen anderen Proben seiner vielseitigen und gründlichen Gelehrsamkeit ist das dreibändige Werk „Römische Alterthümer“ (seit 1862, dritte Auflage 1875 und 1879) ein Denkmal seines Fleisses und seiner eindringenden Forschung. Sein sorgsam erwägender Verstand und seine nüchterne Wahrheitsliebe vermied die Wege kühner, leicht willkührlicher Construction, während er nicht verschmähte, auch das Kleinste eingehender Prüfung und Erklärung zu unterziehen. Die Selbständigkeit seines Characters bewährte sich in der unbefangenen Meinungsäusserung, die Redlichkeit desselben in dem loyalen Verhalten zu den Collegen und in der väterlichen Fürsorge für die Studirenden. Auch er wird uns unvergessen bleiben. Wenn der Tod ein Glied der Universität hinwegnimmt, so empfindet sie das als reinen Verlust. Anders wenn ein Glied durch Berufung in einen anderen, höheren oder weiteren Wirkungskreis ausscheidet. Mag auch die Universität die Lehrkraft des Berufenen ungern entbehren, so muss sie sich doch freuen, dass er einer natürlichen Entwickelung folgt, und darf nicht vergessen, dass nicht der letzte Grund der Blüthe der deutschen Universitäten der ist, dass einer jeden fortwährend von Aussen neues Blut zugeführt worden ist. In diesem Sinne berichte ich von folgenden Veränderungen in dem Lehrkörper der Universität. Aus der juristischen Facultät ist der Privatdocent Dr. Conrad Hellwig als ausserordentlicher Professor des römischen Rechtes an die Universität Rostock berufen worden. Aus der philosophischen Facultät sind berufen worden die ausserordentlichen Professoren: Dr. Eduard Meyer als ordentlicher Professor der Geschichte an die Universität Breslau, Dr. Friedrich Gustav Hahn als ausserordentlicher Professor der Geographie an die Universität Königsberg, Dr. Carl Rohn als ausserordentlicher Professor der Mathematik an das Polytechnikum zu Dresden; sodann der Privatdocent Dr. Arthur Rudolf Hantzsch als Professor der Chemie an das Polytechnikum zu Zürich. Aus der medicinischen Facultät sind ausgeschieden der ausserordentliche Professor Dr. Karl Weigert in Folge eines Rufes als Lehrer an dem Senkenberg’schen Institut zu Frankfurt a. M.; ferner die Privatdocenten Dr. Botho Scheube und Dr. Rudolf Emmerich; dem ersten ist unter Ernennung zum Fürstl. Reussischen Sanitätsrath die Stellung als Land- und Stadtphysicus übertragen worden, der zweite hat sich an der Universität Münster habilitirt. Den Verlusten stehen werthvolle Erwerbe gegenüber. Die juristische Facultät hat für den im vorigen Jahr verstorbenen trefflichen Collegen Osterloh den Geheimen Hofrath Dr. Oscar Bülow, bis dahin ordentlicher Professor an der Universität Tübingen, als Professor der beiden Processe gewonnen; er ist mit dem Sommersemester eingetreten. Gleichfalls mit dem Sommersemester ist an Stelle des uns im vorigen Jahr durch einen zu frühen Tod entrissenen, unvergessenen Collegen Cohnheim Medicinalrath Dr. Felix Victor Birch-Hirschfeld, bisher Prosector und Oberarzt am Krankenhause zu Dresden, als ordentlicher Professor der Pathologie und der pathologischen Anatomie und Director des pathologischen Institutes eingetreten. Die Stelle des geschiedenen Collegen Kolbe ist mit dem Beginn des Wintersemester 390

Jahresbericht 1884/85

durch den als ordentlichen Professor der Chemie und Director des chemischen Laboratoriums von Würzburg hierher berufenen Dr. Johannes Wislicenus wieder besetzt worden. Wir begrüssen die neuen Collegen auf das Herzlichste in unserer Mitte, und geben uns gern der Hoffnung hin, dass sie sich unter uns bald heimisch fühlen und dass sie an unserer Anstalt den Boden für die Entfaltung einer reichen und gedeihlichen Wirksamkeit finden werden. Habilitationen sind bloss in der juristischen und der philosophischen Facultät vorgekommen. In der juristischen Facultät haben sich habilitirt: der LandgerichtsAssessor Dr. Carl Georg Paul Grützmann aus Wurzen für sächsisches Recht, und der Amtsgerichts-Referendar Dr. Georg Heinrich Adolf Emil Sehling aus Essen für Kirchenrecht. In der philosophischen Facultät: Dr. Eduard Zarncke aus Leipzig für classische Philologie; Dr. Albrecht Zimmermann aus Braunschweig für Botanik; Dr. Traugott Ernst Friedrich Hasse, Director des statistischen Bureaus der Stadt Leipzig, für Statistik; Dr. Heinrich Brockhaus aus Leipzig für mittelalterliche und neuere Kunstgeschichte; Dr. Emil Schmidt aus Obereichstadt für Anthropologie und Ethnologie; Dr. Robert Behrens aus Harburg für Chemie; Dr. Heinrich Karl Otto Körting aus Leipzig für romanische Sprachen und Literatur; Dr. Otto Friedrich Warschauer aus Liegnitz für Staatswissenschaften; Dr. Ernst Otto Beckmann aus Solingen für Chemie; Dr. Karl Bischoff aus Würzburg für Chemie. Die Privatdocenten sind die Zukunft der Universitäten; wir wünschen jedem der neu eingetretenen Herren, dass er den Marschallstab im Tornister tragen möge. Ich füge an dieser Stelle hinzu, dass an der Universitäts-Bibliothek für den bereits im vorigen Jahr ausgeschiedenen Dr. Dr. Martin Trautscholdt Dr. Robert Abendroth als Assistent angestellt worden ist. Von den Scheidenden und Kommenden wendet mein Bericht sich zu den Bleibenden, und verzeichnet die bemerkenswerthen Thatsachen, die sich in Betreff ihrer in diesem Jahre zugetragen haben. Und da ziemt es sich, dass ich in den Vordergrund stelle, dass es drei hochverdienten Mitgliedern der Universität vergönnt gewesen ist, in dem abgelaufenen Jahre Jubiläen seltener Art zu feiern. Am 3. März 1885 beging der ordentliche Professor der Theologie Geheimer Kirchenrath Dr. Franz Delitzsch, am 31. Mai beging der ordentliche Honorarprofessor in der philosophischen Facultät Dr. Karl Biedermann die Feier des Tages, an welchem sie vor 50 Jahren zu Doctoren der Philosophie promovirt worden sind. Am 19. October d. J. feierte der ordentliche Professor der orientalischen Sprachen Geheimer Rath Dr. Heinrich Leberecht Fleischer das noch seltenere Fest des vollendeten fünfzigsten Jahres der ordentlichen Professur. Der akademische Senat hat in Vertretung der Corporation diesen Männern die Gefühle freudiger und herzlicher Theilnahme mündlich und schriftlich ausgedrückt und den Wunsch ausgesprochen, dass sie der Universität noch lange in der seltenen geistigen Frische, welche sie auszeichnet, erhalten bleiben mögen. Das fünfundzwanzigste Jahr der ordentlichen Professur haben in diesem Jahre vollendet Dr. Otto Müller aus der juristischen und Dr. Anton Springer aus der philosophischen Facultät. Auch dieser Männer ist an ihrem Ehrentage gebührend gedacht worden; wir wünschen, dass sich auch ihnen die Zahl 25 zur Zahl 50 runden möge. 391

Bernhard Windscheid

Beförderungen sind folgenden Gliedern unserer Universität zu Theil geworden. Der ausserordentliche Professor für Assyriologie Dr. Friedrich Delitzsch wurde zum ordentlichen Honorarprofessor ernannt. Zu ausserordentlichen Professoren wurden ernannt: in der theologischen Facultät die Privatdocenten und Licentiaten der Theologie Dr. Ryssel und Dr. König, in der juristischen Facultät der Privatdocent Dr. Jacob Weismann; in der philosophischen Facultät die Privatdocenten und DD. Robert Sachse, Eduard Meyer, Karl Rohn, Friedrich Gustav Hahn, William Marshall, Theodor Schreiber, Friedrich Schur. Einige Aenderungen haben sich in der Leitung der akademischen Institute und der Vertretung der akademischen Aemter ergeben. Zum Mitdirector des philologischen Seminars wurde an Stelle des Geh. Hofraths Dr. Curtius schon vor dessen Ableben Professor Dr. Lipsius berufen. Die Leitung und Verwaltung der technologischen Sammlung der Universität ist dem Professor Dr. Eilhard Wiedemann übertragen worden. Das von dem Geh. Hofrath Lange verwaltete Amt des Programmators der Universität ist mit dem 1. April d. J. auf den Geh. Hofrath Professor Dr. Ribbeck übergegangen. Zum Mitglied der akademischen Verwaltungsdeputation an Stelle des geschiedenen Collegen Osterloh wurde Hofrath Professor Dr. Heinze vom akademischen Senat gewählt und als solcher von dem vorgesetzten Ministerium bestätigt. Die Zahl der von den Facultäten vollzogenen Promotionen ist folgende. Die theologische Facultät hat die Würde eines Doctors der Theologie ein Mal honoris causa, die Würde eines Licentiaten der Theologie zwei Mal verliehen. Zu Doctoren beider Rechte sind promovirt worden 75, zu Doctoren der Medicin 116, zu Doctoren der Philosophie 118, während die Gesammtzahl der Meldungen in dieser Facultät 165 betragen hat. Die Promotionen bilden den natürlichen Uebergang von den Docenten zu den Studenten. Es gereicht mir zur aufrichtigen Freude, an dieser Stelle aussprechen zu dürfen, dass die Studentenschaft der Universität Leipzig in dem verflossenen Jahre durch ihr Verhalten die Würde ihres Standes gewahrt und der Universität, welcher sie angehört, Ehre gemacht hat. An einzelnen Ausschreitungen hat es nie und so auch in diesem Jahre nicht gefehlt, und die Strafgewalt des Staates wie die Disciplinargewalt der Universität haben in einer nicht gerade übermässig seltenen Anzahl von Fällen ihres Amtes walten müssen. Die Ordnung muss aufrecht erhalten werden; aber die Strafe darf eine milde sein, so oft das Vergehen mit Ehrenhaftigkeit der Gesinnung verträglich ist. Wo diess nicht der Fall ist, sind wir unerbittlich. Ich darf nicht verschweigen, dass wir uns in einem Fall genöthigt gesehen haben, über einen Studirenden die schwerste Strafe, die Strafe der Ausstossung, auszusprechen, nachdem er von dem zuständigen Gericht wegen gemeinen Verbrechens verurtheilt worden war. Solche betrübenden Fälle bleiben keiner Universität erspart; aber Gott sei Dank! sind sie vereinzelt und nicht im Stande, den reinen Schild der Studentenschaft zu beflecken. Die Zahl der immatriculirten Studirenden betrug im Wintersemester 1884/85 3281, im Sommersemester 1885 3075. Bis gestern Abend waren Abgangszeugnisse ertheilt 606 (gegen 660 im vorigen Winter), während die Zahl der Imatriculirten 392

Jahresbericht 1884/85

777 (gegen 778 im vorigen Winter) beträgt. Hiernach stellt sich ein augenblicklicher Bestand von 3246 heraus. Wenn man auf Grund der Erfahrung annehmen darf, dass der fernere Abgang, welcher sich bis zum 1. December, dem Normalrechnungstage des Wintersemesters, voraussichtlich vollziehen wird, durch die bis dahin noch zu Immatriculirenden gedeckt wird, so wird die Frequenz des beginnenden Wintersemesters hinter der Frequenz des vorigen Wintersemesters nur um Weniges zurückbleiben. Von den bisher Immatriculirten gehören an: der theologischen Facultät 163 (gegen 148 im vorigen Winter), der juristischen 232 (gegen 243 im vorigen Winter), der medicinischen 147 (gegen 144 im vorigen Winter), der philosophischen 235 (gegen 237 im vorigen Winter). Es mag gestattet sein, an dieser Stelle einen kurzen vergleichenden Blick auf die Frequenzverhältnisse der letzten zehn oder elf Jahre zurückzuwerfen. Im Wintersemester 1874/75 – (ich hebe die Wintersemester heraus, weil in ihnen die Frequenz auf unserer Universität immer die grössere ist) – sind 983 Studirende immatriculirt worden; im Wintersemester 1884/85 ebenfalls 983. Zwischen diesen beiden Semestern zeigen die Ziffern der Immatriculirten eine grosse Constanz. Die geringste Ziffer ist 1006, die höchste 1112 (1879/80). Der Gesammtbestand der Studirenden betrug im Wintersemester 1874/75 2947, ist 1877 zuerst über 3000 gestiegen, und seitdem nicht unter diese Ziffer gesunken. Die höchste Ziffer in der Zwischenzeit war 3433 (1883). Grösser ist der Wechsel in den einzelnen Facultäten. Die theologische Facultät zählte im Wintersemester 1874 385 Zuhörer, sank 1876 auf 328, und ist seitdem stetig bis auf 696 im Wintersemester 1884/85 gestiegen. In gleicher Weise hat sich die Zahl der Studirenden der Medizin, die 1874/75 395 betrug, von ihrem niedrigsten Standpunkte von 364 im Wintersemester 1876 stetig bis zu 695 im Wintersemester 1884 gehoben. Dagegen zählte die juristische Facultät, die 1874 1073, 1875 sogar 1130 Zuhörer hatte, im Wintersemester 1884/85 nur noch 691. Constanter sind die Zahlen in der philosophischen Facultät; 1874: 1105, 1884: 1199, dazwischen als niedrigste Ziffer 1089, als höchste 1382. Durch den Tod hat die Universität im verflossenen Jahr 18 Studenten verloren, darunter leider 4 durch Selbstmord. Wir bieten unseren Studirenden nicht bloss geistige Nahrung; in zahlreichen Fällen sind wir auch in der Lage, ihnen eine materielle Beihülfe gewähren zu können. Allerdings sind uns dabei vielfach, ja regelmässig die Hände dadurch gebunden, dass die Unterstützungen, über welche wir verfügen, stiftungsgemäss Studirenden, welche dem sächsischen Staatsverbande nicht angehören, nicht zugewendet werden können. Um so segensreicher wirkt das Institut der s. g. Professorenfreitische, dessen Begründung nicht das kleinste der mannichfachen Verdienste ist, die sich unser College Overbeck während seines Rectorats (1875–76) um die Universität erworben hat. Es sind zunächst Beiträge der akademischen Lehrer, welche es uns ermöglichen, Freitische ohne Rücksicht auf Staatsangehörigkeit zu verleihen. Zu unserer Freude sind uns aber im Laufe der Zeit zu dem gedachten Zwecke auch Zuwendungen von anderer Seite zu Theil geworden, so regelmässig schon seit längerer Zeit, und auch in diesem Jahre wieder, durch Herrn Philipp Batz hierselbst und den hier bestehenden Hessenverein. Eine bedeutende Summe zu dem gedachten Zweck sodann, die 393

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Summe von 8000 M., ist uns in diesem Jahre durch die letztwillige Verfügung der verwittweten Frau Auguste Elisabeth Lohmann, geb. Pensa, zu Theil geworden. Ein anderer Wohlthäter, der Privatmann Ernst Klein, hat der Universität ein Capital von 1000 M. mit der Bestimmung vermacht, dass die Jahreszinsen an einen Studirenden aus dem Elsass vergeben werden sollen. Wir sagen für diese hochherzigen Gaben unseren freudigen Dank und erstrecken diesen Dank ausdrücklich auch auf die Testamentsexecutoren, die Herren Rechtsanwalt Scheuffler und Rechtsanwalt Metzsch hierselbst, durch deren Bereitwilligkeit es ermöglicht worden ist, die genannten Vermächtnisse früher, als die Verpflichtung dazu vorlag, zur Auszahlung zu bringen. Aus der segensreich wirkenden Stiftung unseres verewigten Collegen Albrecht sind in diesem Jahre an 14 Professoren und Docenten 11 800 M. verwilligt worden, und zwar 2700 M. zum Zweck der Habilitation, 5100 M. zur Förderung wissenschaftlicher Arbeiten, 4000 M. zum Zweck wissenschaftlicher Reisen. Ich darf meinen Bericht nicht schliessen, ohne eines Wechsels zu gedenken, der in einer Königlichen Behörde, welche mit der Universität auf das Engste verbunden ist, eingetreten ist. Der langjährige Vorstand des Universitäts-Rentamts, Franz Graf, ist, nachdem er am 1. Mai sein fünfzigjähriges Staatsdiener-Jubiläum gefeiert hatte, bei welcher Gelegenheit er durch den Rector im Namen der Universität mit herzlichem Glückwunsch begrüsst und von der Staatsregierung durch die Verleihung des Titels eines Königlichen Oberrechnungsraths ausgezeichnet wurde, mit dem 1. October d. J. in Folge seines Ansuchens in den wohlverdienten Ruhestand getreten. Er hat sich während seiner Amtsführung um die Erhaltung und Vermehrung des Vermögens der Universität und ihres Stipendienfond hoch verdient gemacht. Was Fleiss, Umsicht, Geschäftserfahrung, Treue und Gewissenhaftigkeit zu leisten vermögen, hat er der Universität geleistet; sie spricht ihm dafür auch an dieser Stelle warmen Dank aus. An seine Stelle ist Commissionsrath Ernst Gebhardt, bisher Vorstand der Kassen- und Rechnungsexpedition bei dem Kön. Cultusministerium getreten. Derselbe hat sich in seiner bisherigen Amtsführung den Ruf eines ausgezeichneten Beamten erworben, und so dürfen wir vertrauen, dass auch in seinen Händen die ökonomischen Interessen der Universität wohl aufgehoben sein werden. Mein Bericht ist zu Ende. Ich schliesse ihn mit dem wiederholten Ausdruck des Dankes an Sie, meine Herren Collegen, für das Vertrauen, welches sie mir durch die Wahl zum Rector dieser Universität bewiesen haben. Möchte es mir gelungen sein, diesem Vertrauen zu entsprechen! Hierauf berichtete der Rector über die Resultate der Bewerbung um die im vorigen Jahre ausgeschriebenen akademischen Preise und verkündete die Aufgaben für die Preisbewerbung des Jahres 1885/86. Für Beides wird auf eine besondere Beilage verwiesen. Schliesslich fand die Vereidigung des neuen Rectors und die Uebergabe der Amtsinsignien an denselben statt. *** 394

Ferdinand Zirkel (1838–1912)

31. October 1885.

Rede des antretenden Rectors Dr. phil. Ferdinand Zirkel.

Das Experiment in der Geologie. Hochansehnliche Versammlung! Erst gegen das Ende des verflossenen Jahrhunderts geschah es, dass die unreifen Muthmassungen über die Entstehung unseres Erdkörpers, die verfrühten Theorieen über das Hervorgehen desselben aus dem Chaos, mit denen sich die Einbildungskraft allzu lange beschäftigt hatte, verschwanden vor der aufmerksamen und strengen nüchternen Beobachtung. In dem grössten Theile des achtzehnten Jahrhunderts war von einer wissenschaftlichen Induction, welche prüfend und vergleichend auf Grund immer neu verbürgter Thatsachen zum umfassenden und beherrschenden Gesetz vorschreiten will, in der Geologie kaum die Rede, wie früher erging man sich auch in jener Zeit fast nur in den Formen des einseitig deductiven Denkens, welches hier in eine völlig ungereimte Speculation ausartete. Männer, wie Füchsel, Lehmann, Voigt, v. Charpentier, Horaz Benedict v. Saussure begriffen es dann wieder, nahezu 200 Jahre nach ihrem Ahnherrn Georg Agricola, dass es vor Allem gelte, die Natur der Gebirgsmassen, welche die Erdkruste bilden, sorgfältig zu erforschen, zugleich mit der Art ihres Aufbaues und ihrer Anordnung und mit den so verschiedenen organischen Ueberresten, welche darin begraben sind. Allerdings gerieth die Geologie im Vergleich mit anderen Naturwissenschaften gar bald noch einmal in eine Ausnahmestellung, indem Werner dem verhängnissvollen Widerspruch anheimfiel, Induction und Deduction getrennt von einander und ohne harmonische Zusammenwirkung ihre besonderen Wege wandeln zu lassen: während ein umfangreiches Studium der geognostischen Erscheinungen angestrebt und auch methodisch durchgeführt wurde, fand es die Speculation noch immer unbequem, sich auf diese Resultate zu stützen, ging sie wie früher ihre eigene luftige Bahn. So ward Werner zugleich der Vater einer wissenschaftlichen beschreibenden und der Urheber einer unwissenschaftlichen genetischen Geognosie, welche die wichtigsten Gesetze der Naturforschung auf den Kopf stellte und die Erdfeste interpretirte zu Gunsten einer unglücklichen Universalhypothese. So gross hatte sich die hinreissende Gewalt seines Vortrags, der Zauber seiner Persönlichkeit erwiesen, dass auch Männer wie 395

Ferdinand Zirkel

Leopold v. Buch, Alexander v. Humboldt anfänglich noch fortfuhren, in ihren geologischen Theorieen theilweise den realen Boden zu verlassen, zu einer Zeit, als die übrigen Naturwissenschaften, vielleicht umgekehrt, nur zu sehr geneigt waren, sich mit der Einheimsung erfahrungsmässig gewonnener Gesetze zu begnügen und „der Sicherheit die Tiefe zu opfern.“ Dass auch auf dem Gebiete der Geologie die aprioristische Speculation immer mehr verblasste, eine kühle Reserve, ja Scheu gegen rein deductive Operationen ihre Einkehr hielt, das ist zum guten Theil, wenigstens auf deutschem Boden, das Werk einer bergmännischen Oppositionspartei. Der freudige Drang, möglichst viel unter die Herrschaft der Sinne zu bringen, das gesunde Verständniss für die gemachten Wahrnehmungen und die würdige Zurückhaltung selbst in daraus zu entwickelnden, aber doch vielleicht verfrühten Schlüssen spiegelt sich ab z. B. in den vor 65 Jahren geschriebenen Erstlingsarbeiten des ausgezeichneten Mannes, den wir, als vierundachtzigjährigen, vor wenigen Wochen das Ehrenpräsidium des internationalen Geologencongresses in Berlin übernehmen sahen, des Oberberghauptmanns Heinrich v. Dechen. So stand also, Decennien lang, in einer neuen Epoche der Geologie die Beobachtung allein im Vordergrunde, welche das Thatsächliche feststellte und auch bei der Erklärung wichtiger Fragen den eigentlichen Führer abgab, zugleich aber sich paarte mit der vorurtheilslosen logischen Folgerung, die ihrerseits, wenngleich theilweise nur mit Hülfe von Analogieschlüssen, das Zustandekommen der Erscheinungen verstehen lehrte. Das Material und der Aufbau der grossen aus dem Wasser abgesetzten geschichteten Gebiete mit den Myriaden darin enthaltener animalischer und vegetabilischer Ueberreste, die zeitliche Aufeinanderfolge der verschiedenen Niederschläge und ihrer fossilen Faunen und Floren wurden sorgfältig studirt, während ein Heer von anderen fleissigen und besonnenen Forschern die zugänglichen Lagerungsverhältnisse der Eruptivgesteine, ihre mineralogische und chemische Zusammensetzung zu ergründen unternahm. Ebenso ist es die Methode der Beobachtung und logischen Schlussfolgerung ganz allein gewesen, welche gelehrt hat, dass die in den Gebirgsketten gewundenen Schichten nicht mehr dieselbe Lage einnehmen, in der sie ursprünglich zum Absatz gelangten, dass sie unter dem Einfluss einer grossen Kraft durch seitliche Pressungen und Stauchungen gefaltet und aufgerichtet wurden. Der grösste Schatz unserer Kenntnisse über die Thätigkeit hier des Vulkanismus, dort des Wassers auf Erden, über die geologische Wirkung der Zeit ist das Ergebniss der unmittelbaren objectiven Wahrnehmung. Nicht minder hat die umsichtige Beobachtung und Vergleichung den Grund gelegt zu den wichtigen und gefestigten Folgerungen über die Bildungsweise der Erzgänge, jener mit metallischen Substanzen theilweise erfüllten Spalten, sowie zu den Gesetzen der manchfachen Umwandlungsvorgänge, welche sich am Stoff des starren Steinreichs und an den bunten Formen der organischen Lebewelt abgespielt haben. Eine Naturwissenschaft, welche auf genetische Erklärungen verzichtet, hört auf Wissenschaft zu sein. Um der causalen Betrachtungsweise zu genügen, finden wir entweder in der Natur einen zweckentsprechenden Fall, bei welchem ein Antecedens und dessen Folge, eine Wirkung und deren vorhergehende Ursache beobachtet 396

Antrittsrede 1885

werden kann, oder wir bereiten uns durch künstliche Anordnung der begleitenden Erscheinungen einen solchen, wir experimentiren. Selbst die tiefstgehende und ausgedehnteste Beobachtung ist oft nicht im Stande, eine wirkliche Beweisführung zu ersetzen oder sämmtliche Umstände bei den Erscheinungen und Vorgängen klar zu begreifen. So findet denn die Beobachtung, wie Daubrée sagt, glücklicherweise einen Bundesgenossen in dem Experiment, in dem künstlichen Versuch, welcher die allgemeine Grundlage der physikalischen Wissenschaften, der Prüfstein jeglicher Theorie ist, und sich seit den Tagen Galilei’s wunderbar fruchtbringend für den menschlichen Geist erwiesen hat. Auch in der Geologie hat diese Methode, die von der Natur dargebotenen Erscheinungen künstlich nachzubilden, in den letzten Jahrzehnten den ihr gebührenden Platz eingenommen, und damit ist diese, anfänglich ganz und gar hypothetisch gewesene Wissenschaft, welche später den positiven Weg der alleinigen planmässigen Wahrnehmung des Vorhandenen betreten hat, zu einer dritten Periode ihrer Entwickelung gelangt, indem die absichtliche Herbeiführung des Geschehens auch in ihrem Dienste zur Beschaffung empirischer, für die logische Folgerung verwerthbarer Daten eine Rolle spielt, und die Leuchte des Versuchs den Weg erhellt, den die Beobachtung ruhig fortschreitet. An sich selbst hat sie es jetzt erfahren, was Baco von Verulam einst prophetisch vorahnte, dass sie aufgeklärt werden müsse „durch das Eisen und das Feuer der Erfahrung.“ Werner, ja noch Leopold v. Buch hat ebenso wenig experimentirt, wie Aristoteles oder Plinius. Nichts bezeichnet aber mehr den Charakter der modernen Epoche, als dass jetzt die experimentirende Thätigkeit schon von dem Anfänger in der Forschung wie etwas Selbstverständliches, und manchmal ohne dass der Gegensatz zum blossen Beobachten, der von Probiren und Studiren, recht ins Bewusstsein gelangt, ausgeübt wird. Während es für die Physik allenthalben eine mehr oder weniger leichte Aufgabe ist, im Experiment eine Nachbildung aller Einzelheiten der die Vorgänge beeinflussenden Umstände zu geben, und auch die organischen Naturwissenschaften sich hier des gewichtigen Vortheils der beliebigen Variation erfreuen, gilt dies für die Geologie und Mineralogie keineswegs in ähnlichem Maasse. Auf dem Gebiet der physiographischen und der historischen Geologie im Verein mit der Paläontologie ist der Versuch, der Natur der Sache nach, überhaupt fast ausgeschlossen. Der Aufbau der Erdfeste, die mechanischen und chemischen Kräfte, welche bei der ursprünglichen Bildung und der allmählichen Veränderung des Gesteinsmaterials sowie der Oberflächengestaltung der Erde mitgewirkt haben und noch wirken, also die architektonische, die dynamische und die petrogenetische Geologie, das sind die hauptsächlichen Bereiche, welche hier in Frage kommen. Und auch in Bezug auf diese einzelnen, immerhin partiellen Abschnitte der Wissenschaft ist Licht und Schatten des Experiments nicht gleichmässig vertheilt. Bei den mechanischen Problemen stehen wir vielfach einerseits gewaltigen Massen von ausserordentlichem Umfang, geringer Beweglichkeit, beschränkter Handhabung, andererseits zwar ebenfalls gewaltigen, aber doch mehr einheitlichen und einfacheren Kräften gegenüber, die ihrer Art nach wohl im Versuch angewandt werden können, wenn auch die Intensität mit unseren armseligen Hülfsmitteln abweichend 397

Ferdinand Zirkel

ausfallen muss. Angesichts der Schwierigkeit, die Gesteinsmassen als solche, selbst in sehr reducirtem Grössenmaassstab zu benutzen, ist man mehrfach, um wenigstens eine Vorstellung über mechanische Beeinflussungen derselben zu erlangen, auf die Anwendung anderer Ersatzmaterialien, damit aber dann auch auf die allerdings nicht unbedenkliche Gattung der Analogieschlüsse angewiesen. Dem Verständniss kann freilich auch die Benutzung von Thon oder Glas oder Wachs einigermaassen den Weg ebnen, eine endgültige Entscheidung wird aber dadurch nicht geliefert. Wenn bei dem blos mechanischen Experiment die Natur des Objectes sich manchfach hinderlich erweist, so bereitet bei dem chemisch-physiologischen Versuch des Geologen vor Allem die Natur des Wirkungsmittels wohl Schwierigkeiten, insofern es sich zwar um kleine Massen, aber um mehr verschiedenartige und complicirte Kräfte handelt, deren Summirung künstlich zu copiren nicht gelingt. Ein beiden Gebieten geltender Einwurf ist anfangs oft gegen die Einführung und Ausnutzung der Versuchsmethode erhoben worden: dass es dem experimentirenden Geologen während der kurzen Frist des Menschenlebens an einem Hauptagens, an dem gewaltigen Factor der Zeit gebricht, welche der Natur bei ihren Bildungen im unendlichen Maasse zu Gebote steht, und dass er so überhaupt nur unvollkommen die grossartigen Arbeiten in jener unermesslichen Werkstätte nachzuahmen vermöge. Ist auch die Ungunst dieser Lage nicht zu verkennen, soviel steht fest, dass die allgemeinen Gesetze, nach denen mechanische Wirkungen, physikalische Prozesse, chemische Auflösungen, Zersetzungen und Verbindungen in der Natur von Statten gehen und allezeit von Statten gingen, hier keine wesentlich anderen sind, wie dort im Laboratorium, und dass es immerhin eine ganze Fülle von Problemen gibt, die auch einer Lösung in verhältnissmässig kurzem Zeitraum zugänglich sind, an die man sich kühnlich wagen durfte, an die man sich mit Erfolg gewagt hat. Daneben ist es dann wohl auch gestattet, in unserem künstlichen Versuch eine verstärkte Intensität der angewandten Wirkungsmittel einzuführen, zu erproben, ob das, was die Natur in den Gebirgen vorausgesetzter Weise durch eine gelinde Wärme während Jahrtausenden zu Wege bringt, nicht etwa durch höhere Temperatur binnen weniger Wochen erzielt werden kann, den Druck durch Temperatur zu ersetzen und umgekehrt, zu ermitteln, ob jene Krystallisationen in den Felsen, die da ohne Zweifel aus ganz verdünnten wässerigen Lösungen entstehen, welche ungemessene Zeitläufte hindurch auf den Steinklüften still einhersickern, nicht nachgeahmt werden können dadurch, dass man kürzere Frist concentrirtere Solutionen einwirken lässt. Da das Resultat einer natürlichen Einwirkung vielfach nicht durch die lange Dauer derselben experimentell zur Anschauung gebracht werden kann, so bleibt eben nur der, übrigens in vielen Fällen durchaus berechtigte Ausweg, durch künstlich forcirten Wechsel der physikalischen Zustände die Geschwindigkeit der Reactionen zu erhöhen. Bei alledem hängen aber, wie Vogelsang mit Recht hervorhebt, unsere Anschauungen immerhin ab von der physikalisch-chemischen Arbeitszone, in welcher wir thätig sind: „Die Begriffe über die Wirkungen von Temperaturveränderungen, über Schmelzbarkeit, Löslichkeit u. s. w. würden ganz andere sein, wenn unsere 398

Antrittsrede 1885

Laboratorien etwa auf dem tiefsten Meeresboden, oder in einer so leichten Atmosphäre gelegen wären, wie sie den Gipfel des Chimborazzo umspielt“. Eine andere früher mehrfach vernommene Einrede besteht darin, dass die zur Vorsicht mahnende Ungewissheit vorliegt, ob unser Versuch auch in der That unter den sämmtlichen wesentlichen Bedingungen erfolgt, unter denen die Natur in den Gebirgsmassen operirt, wo allerdings dasselbe Resultat durch sehr verschiedene Ursachen hervorgebracht werden kann. Schon bei der Bildung nur eines Krystalls im Erdenschoosse ist es ja möglich, dass eine ganze Menge von eigenthümlichen Verhältnissen, der Einfluss von bedeutsamen Nebenumständen mitgespielt hat, die uns vielleicht zum Theil unbekannt sind, also auch nicht in unserem künstlichen Versuch, das Mineral nachzubilden, eingeführt werden können. Selten wiederholt sich ein geologisches Ereigniss in genau übereinstimmender Weise. Eine und dieselbe Mineralart ist an verschieden beschaffenen Orten auch auf sehr abweichendem Wege ins Dasein gerufen, hier durch Krystallisation aus nassen Flüssigkeiten, dort als Ausscheidungsprodukt eines gasförmigen Zustandes, dort wieder durch Erstarrung aus einer geschmolzenen Masse. Wenn es nun auch gelingt, auf einem dieser drei Bildungswege das betreffende Mineral experimentell im Laboratorium zu erzeugen, so kann daraus freilich noch nicht gefolgert werden, dass dasselbe nun gerade auch an einem bestimmten Orte auf diese und keine andere Weise von der Natur gebildet sein muss. Bedient die Natur sich aber sehr verschiedener Mittel, um zu demselben Zweck zu gelangen, so ist es ja in vielen Fällen möglich, diese auch in ihrer Einwirkung wechseln zu lassen, und dann die Bedingungen, welche mit jedem örtlichen Vorkommniss verträglich und nicht verträglich sind, selbst ihrerseits zu erkennen, um sie in die engsten Grenzen einzuschliessen und so das Feld der Hypothesen von allen Seiten her zu beschränken. Andererseits wäre zwar das Experiment vielleicht ermöglicht, es hätte aber den besten Theil seiner Beweiskraft eingebüsst. Doch ist Angesichts aller dieser Mängel des experimentellen Vorgehens wohl zu erwägen, dass es die Absicht nicht sein kann, und niemals gewesen ist, die Beobachtung der Natur durch den geologischen Versuch zu ersetzen. Die erstere Methode bleibt die Basis jedweder Erkenntniss, welcher nur deutend und erläuternd zur Unterstützung das Experiment an die Seite gestellt wird. Wäre der Versuch der Nachahmung ohne die vorhergegangene gründliche Erkennung der Sachlage allemal thöricht, so ist die Bedeutung dieser Wahrnehmung ohne den erklärenden Versuch in zahlreichen Fällen unvollkommen. Viele solcher Erscheinungen gibt es auf Erden, von denen selbst eine ausserordentliche Menge von directen Beobachtungen noch nicht den Schleier hat lüften können, und hier ist gerade, wie Daubrée so treffend bemerkt, der Punkt, wo der Hebel des Versuchs angesetzt werden müsste, um, wenn von der einen Methode nichts erheblich Neues mehr erwartet werden kann, vielleicht von der anderen die wünschenswerthe Belehrung zu erlangen. Wo es sich um die genetische Erkenntniss einer abgeschlossenen früher erfolgten Thatsache handelt, da ist diejenige Erklärung die befriedigendste, welche in den aktiven, vor unseren Augen sich abspielenden geologischen Phänomenen die meisten Analogieen findet. Und diese Processe, die noch jetzt auf der Oberfläche der Erde 399

Ferdinand Zirkel

vor sich gehen, in mancher Hinsicht die modificirte Fortsetzung der früheren, sie sollten gleichsam die Schule des Experimentators bilden, wo er die Versuche studirt, welche die Natur hier gewissermaassen eigenhändig zu seinem Besten vornimmt. So unterrichtet darf er daran gehen, Versuche zu ersinnen und zu leiten zur Aufhellung auch der zahlreichen geologischen Vorgänge, welche sich heutigen Tages wenigstens offenbar vor unseren Blicken überhaupt nicht wiederholen, sondern als einzige Zeugen ein Endergebniss hinterlassen haben, das keine Spur der vermittelnden Thätigkeit mehr bewahrt, wodurch es hervorgebracht wurde. Wie allgemein angenommen wird, ist es der Schotte Sir James Hall (1762–1831), welcher die Ehre beanspruchen darf, bewusster Weise die ersten geologischen Experimente angestellt zu haben. Und zwar spielten sich dieselben gleich auf ganz verschiedenen Gebieten ab. Angeregt durch die sonderbaren Stauchungen der Grauwackenschieferschichten an seiner heimatlichen Felsenküste, sowie durch seines Landsmanns Hutton Lehre über die Veränderung der Schichtenlagerung durch vulkanische Gesteine, versuchte er ähnliche Anblicke nachzubilden, indem horizontal übereinander ausgebreitete Lagen von Tuch oder von abwechselnd gefärbtem Thon oben mit Gewichten beschwert und einem seitlichen starken Druck ausgesetzt wurden, welcher völlig analoge und höchst unregelmässige Biegungen und Aufstauchungen der Lagen veranlasste. Die Einfachheit des Vorgangs, der uns vielleicht so selbstverständlich erscheint, als ob er kaum einer Erprobung durch ein besonderes Experiment bedürfe, schmälert keineswegs das Verdienst des unvergesslichen Forschers, dessen Zeitgenossen in jenen alten Tagen, da phantastische Speculation alles überwucherte, nur zum ganz geringen Theil begriffen, welch eine überwältigende Beweiskraft dem Versuche innewohnt. Krystallisation war damals nur auf nassem Wege bekannt, und die Hutton’sche Theorie, dass die krystallinischen Gesteine aus feuerflüssiger Schmelzung hervorgegangen seien, wurde mit der Behauptung abgefertigt, dass geschmolzene Materialien bei der Erstarrung nur homogene Schlacken, oder glasähnliche Massen zu liefern vermöchten. Hall zeigte darauf, dass schottisches Basaltgestein, in grösseren Partieen künstlich geschmolzen zwar bei rascher Abkühlung eine glasige Masse bildet, bei verlangsamter aber ein krystallinisches Gefüge annimmt, und dass sich nach Belieben durch richtige Modification der Erstarrung grob- oder feinkörnige krystallinische Massen hervorbringen lassen. Das Charakteristische besteht hier auch darin, dass Hall sich nicht irre machen liess, als ein geschmolzenes kleines Basaltstückchen in der That zuerst ganz glasig erkaltete. Schon damals wusste man so gut wie heute, dass der kohlensaure Kalk, der Hitze ausgesetzt, seine Kohlensäure verliert, und Hutton’s Gegner folgerten aus dem Umstande, dass man so oft körnige Kalklager von krystallinischen Gesteinen eingeschlossen findet, die Unmöglichkeit, dass letztere aus dem Feuerfluss hervorgegangen seien. Da trat abermals Hall für ihn ein, und bewies, dass der Kalkstein, im geschlossenen Flintenlauf unter dem Druck der entweichenden Kohlensäure ausserordentlich stark erhitzt, einen Theil dieses Gases zurückhält und unter diesen veränderten Bedingungen zum zuckerkörnigen krystallinischen Marmor wird. Es hat mehrere Jahrzehnte nach Hall gewährt bis wieder mechanisch-geologische Probleme experimentell geprüft wurden. Damals handelte es sich um eine Erschei400

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nung, welche lange Zeit die Beobachter in Aufregung versetzt hatte, um die sog. transversale oder falsche Schieferung, welche darin besteht, dass in den muldenund sattelförmig gebogenen Schichten, namentlich des Thonschiefers und Grauwackenschiefers die Schieferigkeit und Hauptspaltbarkeit nicht mit der ursprünglichen Schichtung zusammenfällt, sondern dieselbe regelmässig quer durchschneidet. Allerhand mysteriöse Ursachen, polare und elektrische Kräfte, galvanische Ströme, Krystallisationsanstösse wurden von den speculativen Geologen zur Erklärung angerufen, bis ein bescheidener Praktiker, der Bergmeister Baur 1847 des Räthsels Lösung fand: Die in vielen Gebirgen so weitverbreitete falsche Schieferung ist eben das Resultat der Stauung und Zusammenschiebung der Schichten; sie besteht in einer Richtungsveränderung der kleinsten Gesteinstheilchen, welche sich unter dem faltenwerfenden seitlichen Druck senkrecht auf die Direction des letzteren stellten. Der Engländer Sorby that den gewichtigen Schritt, auf künstlichem Wege die Nachbildung dieser mechanischen Vorgänge zu versuchen, welche er auch bei der mikroskopischen Prüfung der Schieferpräparate mit deutlich lesbaren Zügen als in der That einstmals wirksam gewesen erkannt hatte. Eine plastische Thonmasse, in welche Schüppchen von Eisenglimmer ganz regellos eingeknetet waren, wurde in einem Cylinder einer starken einseitigen Pressung unterworfen, welche zur Folge hatte, dass alle Lamellen innerhalb des Thons sich parallel, und rechtwinkelig auf die Druckrichtung anordneten. Keiner hat in der Folge das mechanische Gebiet eingehender und erfolgreicher bearbeitet, als A. Daubrée, vormals Professor an der Strassburger Facultät, dann Director der Pariser Ecole des mines und oberster Generalinspector des französischen Bergwesens. Seine während 40 Jahren mit grossem Scharfblick ersonnenen und mit bewundernswerther Consequenz durchgeführten experimentellen Untersuchungen beziehen sich auf die Entstehung der Geschiebe, des Sandes und Schlammes, den Transport dieses Detritus durch die Wasserläufe, die Bedeckung der Gesteine mit Schrammen zur Erklärung der glacialen Wirkungen, auf die Schichtenbiegungen, auf die Zerreissungsspalten in der Erdkruste mit Rücksicht auf ihre Richtung und Vertheilung, auf die Torsionserscheinungen, die Ausbildung der Schieferung und die Verzerrung der Versteinerungen durch Druck, nicht minder auch auf die grossen Structurzüge der Gebirgsketten. Diesem wahrhaft hochverdienten Manne verdanken wir auch vor einigen Jahren das grosse zusammenhängende Werk „Etudes synthétiques de géologie experimentale. Paris 1879“. Bei den grossartigen vulkanischen Erscheinungen gewahren wir wie fortwährend enorme Massen von Wasser im Zustande des Dampfes sich aus der Tiefe entbinden. Da es nun wahrscheinlich ist, dass dieser unaufhörliche Verbrauch wenigstens theilweise wieder durch eine von der Oberfläche ausgehende Speisung ersetzt wird, welche nicht durch klaffende Klüfte und Spalten ihren Weg nehmen kann, indem dann das Wasser durch diese immer wieder in Dampfesform seinen Rückweg nehmen müsste, so erhebt sich die Frage, wie das oberflächliche Wasser durch die vorhandenen feinsten Poren, durch die mikroskopischen Haarspältchen der Gesteine in das Erdinnere zu dringen vermag, da doch von unten ein gewisser und beträchtlicher Gegendruck ausgeübt wird. Fussend auf den geistvollen Versuchen von Jamin 401

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hat abermals Daubrée durch einen einfachen Apparat diese Möglichkeit erwiesen. Steht Wasser oberhalb einer Sandsteinplatte, welche sich in einem Blechkasten befindet, so sammelt sich dasselbe, nachdem der Kasten stark erhitzt wird, in der That mit Schnelligkeit unterhalb der Platte als Dampf an: es sickert von oben her durch die Poren des Steins vermöge der Capillarkraft, der raschen Verdampfung, sowie der schnellen Abtrocknung der heissen Gesteinswand und speist ununterbrochen den unteren Dampfraum. Bei dieser Gelegenheit muss auch der wichtigen Versuche von Robert Bunsen (1847) und Müller gedacht werden, durch welche der Mechanismus der intermittirenden heissen Springquellen, das erhabene und grossartige Spiel der Geysir eine überraschend einfache Erklärung erhielt, indem der Sitz der die Wassermassen emporschleudernden Kraft nicht wie früher in unterirdischen, abwechselnd dampferfüllten Höhlungen, sondern nur in dem Geysirrohre selbst gesucht wurde. Für geophysikalische Vorstellungen sehr bedeutungsvoll sind Gustav Bischof’s Experimente über die Abkühlungsgesetze grosser Kugeln von geschmolzenem Basalt: die Messungen ergaben, dass die Temperatur mit der Tiefe fortwährend zunimmt, dass aber andererseits die Progression der Wärmezunahme mit der Tiefe fortwährend abnimmt. Indem dies durchaus dieselbe Erscheinung ist, welche an unserem Erdkörper durch genaue Temperaturbestimmungen in tiefen Bergwerken, in Bohrlöchern und artesischen Brunnen festgestellt wurde, gilt diese schlagende Uebereinstimmung der innerlichen Wärmevertheilung in Bischof’s geschmolzener erstarrender Basaltkugel selbstverständlich denjenigen als hochwichtiges Argument für die Richtigkeit ihrer Theorie, welche den einstmals feuerflüssigen Zustand unseres Planeten behaupten. Diese Beispiele mögen genügen, um Absicht und Ausführung der auf das Studium mechanischer und ähnlicher Actionen angewandten experimentellen Methoden zu charakterisiren, welche hin und wieder helle Streiflichter auf manche Kapitel der Wissenschaft werfen. Die Geologie hat es aber nicht nur mit grossen, so deutlich vor Augen tretenden und stellenweise noch immer unliebsam fühlbar werdenden Mächten, sondern auch mit den mehr in der Stille wirkenden physikalischchemischen Vorgängen innerhalb der Erdkruste zu thun. Im vollen Gegensatz zum ersten Drittel dieses Jahrhunderts, welches bei den geologischen Forschungen die Lehren der Chemie entbehren zu können glaubte, ja in überlegenem Selbstgefallen die abenteuerlichsten Processe als möglich oder obwaltend annahm, haben in den letzten vierzig Jahren – Dank insbesondere der unermüdlichen Untersuchungen und ernsten Mahnrufe von Bischof, der scharfsinnigen Anregungen von Bunsen – die chemischen Arbeiten immer grösseren Einfluss auf die Behandlung geologischer Probleme, auf unsere Anschauungen über die Ausbildung und Umbildung der Steinmaterialien geübt. Es ist von vorn herein klar, dass man der Frage nach der speciellen Entstehung der Mineralien im Erdenschooss um ein gutes Theil näher rückt, wenn es gelingt, dieselben auf künstlichem Wege in übereinstimmenden Gestalten dadurch zu erzeugen, dass entweder die Elemente synthetisch zu einer Verbindung zusammengefügt oder andererseits die Bedingungen erfüllt werden, unter denen eine bereits existirende oder prädisponirte Verbindung feste Krystallform anzunehmen bestrebt ist. Doch leuchtet es ebenso ein, dass die Darstellung 402

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einer krystallisirten Substanz künstlich sehr wohl nach einer bestimmten Methode erfolgen kann, ohne dass dieselbe nun in der Natur auf genau demselben Wege entstanden zu sein braucht. Krystallisirte Mineralien werden in der Natur erfahrungsgemäss auf dreierlei verschiedene Weise gebildet, nämlich durch Ausscheidung aus nassen Lösungen, durch Sublimation aus Gasen und Dämpfen, sowie endlich durch Festwerdung aus dem Schmelzfluss, und diese drei Hauptwege, sammt den einzelnen Modificationen, deren sie fähig sind, hat auch der Versuch erfolgreich beschritten. Ein besonders weitverbreiteter Vorgang scheint die Mineralbildung durch gegenseitige Zersetzung wässeriger Solutionen zu sein, wobei die Schönheit und Grösse der natürlichen Krystalle auf die Annahme einer sehr starken Verdünnung der Solutionen und einer sehr langen Wachsthumsdauer führt. Da die Flüssigkeiten, welche so im Laboratorium zur Gewinnung von Niederschlägen verwendet werden, allzu stürmisch auf einander zu reagiren pflegen und die Präcipitate nur als unscheinbare Pulver ausfallen, so hat man sehr glücklich und richtig darnach getrachtet, durch ganz allmähliche Diffusion die Einwirkung künstlich zu verlangsamen, und so in Bechergläsern Krystalle erzeugt, die an Umfang, Flächenreichthum und Glanz den natürlichen nicht nachstehen. In geologischer Hinsicht sind diese Versuchsergebnisse vor allem bedeutungsvoll für das Verständniss von der Bildung der Erzgänge. Weist eine grosse Zahl wohl erforschter Beziehungen darauf hin, dass es eine nasse Thätigkeit gewesen ist, welche hier ehemalige Spalten mit metallischen und nicht metallischen Mineralien erfüllte, so ist es in sehr befriedigender Weise, insbesondere durch Sénarmont gelungen, weitaus die Mehrzahl solcher Substanzen aus wässerigen Flüssigkeiten, ohne übermässige Complication, blos mit Hülfe von Kohlensäure, von Carbonaten, Schwefelwasserstoff und Schwefelalkalien in der That fest und krystallisirt herzustellen, die Hauptvertreter der Schwefelmetalle, kohlensaure, schwefelsaure, phosphorsaure Salze von Eisen, Kupfer, Blei, ferner Flussspath, Quarz, Schwerspath, Kalkspath und andere Gangmassen. Bei der künstlichen Mineralnachahmung auf dem Wege der Sublimation wiederholen sich ganz analoge Vorgänge und wenn einerseits die Beobachtung an Lavaergüssen und Hüttenschlacken lehrt, dass eine grosse Menge von Mineralien, vorwiegend Silicate, fähig ist, auch aus dem Schmelzfluss heraus ihre Individualisirung zu gewinnen, so ist es andererseits sehr vielfach, zuerst durch Mitscherlich, geglückt, dieselben durch absichtliches Zusammenschmelzen ihrer betreffenden Bestandtheile aus dem homogenen Gluthfluss schön krystallisirt zu erzielen, z. B. Feldspath, Augit, Leucit, Nephelin, Granat, mit allen Details der für die natürlichen Gebilde charakteristischen, mikroskopischen Structur, ihrer etwaigen Zwillingsbildungen und dergleichen. Wie belangreich aber auch diese Versuche für die Beurtheilung der Mineralgenese sind, der Geologie liegt weniger das Studium der einzelnen Mineralindividuen, als vielmehr das ihrer gesetzmässigen Aggregate, das der Gesteine und Felsarten ob. Unter ihnen nehmen die gemengten krystallinisch-massigen und -schiefrigen Gesteine, wie in jeder anderen, so auch in genetischer Hinsicht das grösste Interesse in Anspruch, mehr als Kalkstein oder Sandstein oder Thon, und an sie, den alten Lieblings-Tummelplatz unbegründeter und begründeter Speculation, hat sich auch 403

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mit einigem Erfolg das Experiment gewandt. Zur Correctur irriger Vorstellungen trug namentlich der von Bunsen glänzend gelieferte Nachweis bei, dass in einem Gemisch verschiedener chemischer Verbindungen, wie es der homogene Gluthfluss der Eruptivgesteine darstellt, der Erstarrungspunkt einer einzelnen Verbindung keineswegs dem Schmelzpunkt derselben entspricht. Für die Auffassung der magmatischen Vorgeschichte eines Eruptivgesteines, für die Erkenntniss der Beziehungen, welche die Reihenfolge in der Auskrystallisirung seiner verschiedenen Gemengtheile beherrschen, und die specielle Ausbildung der makro- oder mikroskopischen Structur bedingen, liegen nur spärliche durch den Versuch gewonnene Anhaltspunkte vor. Glücklichen Forschungen auf diesem dunklen Gebiete wird verdienter Beifall zu Theil werden. Vielleicht ist er nicht mehr allzufern, denn gerade die letzten Jahre haben auf einem verwandten Felde, welches als unfruchtbar und öde geltend, fast gemieden wurde, die staunenswerthen Resultate von Fouqué und Michel-Lévy zu verzeichnen; dem alten Ruhm der experimentirenden französischen Geologen fügten sie neuen Glanz hinzu, als sie unter Bedingungen, deren Vorhandensein in der Natur nicht bestritten werden kann, sogar ganze typische Gesteinsmassen als Erstarrungsproducte künstlicher Schmelzmagmen darstellten, Augitandesit, Leucittephrit, leibhaftigen Basalt mit allen mikroskopischen Gemengtheilen und demselben Gefüge wie jene Felsarten, die aus der geheimnissvollen unterirdischen Werkstätte herstammen. Sollten die mineralogisch und structurell petrographischen Gegensätze, welche sich innerhalb einer Reihe von chemisch fast übereinstimmend zusammengesetzten Gesteinen – wie z. B. zwischen Granit, Quarzporphyr und Rhyolith, oder zwischen Diorit, Hornblendeporphyrit und Andesit – offenbaren, nicht sowohl der Ausdruck eines verschiedenen geologischen Eruptionsalters sein, als vielmehr von der abweichenden Tiefenstufe abhängen, in welcher die einzelnen Magmen zur Erstarrung gelangten, so wird es dereinst vielleicht noch einmal gelingen, vermittels einer Modification des Druckes und der Wasserdampf-Durchtränkung aus einer gegebenen Schmelzmasse die verschiedenen Gesteinstypen hervorgehen zu lassen, deren dieselbe fähig ist. Schliesslich verdienen noch Erwähnung die Versuche über die Ausbildung von liquiden und glasigen Einschlüssen in mineralischen Gemengtheilen, über die Einwirkung geschmolzener Massen auf eingetragene fremde Gesteinsbrocken und Mineralien, diejenigen über die Volumveränderungen beim Übergang aus dem gluthflüssigen in den starren Zustand. Wie dem Mineralogen über die pathologischen Umwandlungsprocesse, welchen ein Krystallindividuum zum Opfer fällt, jetzt schon eine ausserordentliche Fülle von experimentellen Erfahrungen zur Seite steht, so darf auch der Geologe auf manche Erprobungen betreffs der Alterationen, die sich an seinen grösseren zusammenhängenden Massen vollziehen, zurückblicken. Mit dem Namen Metamorphismus pflegt man den Complex derjenigen typischen Veränderungen an den Felsgesteinen und in den Gebirgsmassen zu begreifen, durch welche deren Gefüge und Zusammensetzung einen wesentlich neuen und von dem ursprünglichen abweichenden petrographischen Charakter gewonnen hat. Eruptivmassen namentlich jüngeren Alters haben so das durchbrochene Nebengestein an der Berührungsstelle oder da wo 404

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abgerissene Bruchstücke des letzteren eingeschlossen wurden, in einen anderen Zustand versetzt, bei welchem die Wirkungen einer hohen Temperatur nicht zweifelhaft sind, und die Erscheinungen dieser kaustischen Contactmetamorphose, die prismatische Absonderung von Thonen, Sandsteinen, Kalksteinen, deren Frittung, Verglasung, Verschlackung, die Vercokung von Braunkohlen und Steinkohlen sind Effecte, welche auch in dem künstlichen Versuch an den betreffenden Materialien durch Gluthhitze auf ganz übereinstimmende Weise schon früh erzielt werden konnten. Eine andere Art der Contactmetamorphose knüpft sich an die Eruption älterer krystallinischer Massengesteine und besteht vorwiegend in einer Umwandlung des gewöhnlichen Thonschiefers in Fleckschiefer, Fruchtschiefer, Knotenschiefer, Chiastolithschiefer, Andalusithornfels u. s. w., und dieser, die granitische Durchbruchsstelle umgürtende Hof von veränderten Schiefern, der an den verschiedensten Punkten der Erde in auffallend übereinstimmender Wiederholung in sich gegliedert ist, verläuft nach aussen, unter allmählicher Abnahme der Intensität der Metamorphose, in den gemeinen unveränderten Schiefer. Wenn es wahrscheinlich ist, dass bei diesem Contactmetamorphismus nicht sowohl trockene Gluth wirksam war, als vielmehr das bei der Erstarrung des Eruptivgesteins aus diesem ausgeschiedene überheisse Wasser die mineralischen und structurellen Veränderungen des Nebengesteins hervorbrachte, so darf man mit Recht in den berühmten Experimenten, welche Daubrée über die mineralbildende Kraft des überhitzten Wassers anstellte, Vorgänge erblicken, die eine gewisse Aehnlichkeit mit den natürlichen contactmetamorphischen besitzen und wenigstens eine Vorstellung über das Zustandekommen der letzteren gestatten. Verschiedene Substanzen wurden mit geringer Menge von Wasser in ein Glasrohr, dann in ein eisernes Rohr eingeschlossen und mehrere Wochen in der dunklen Rothgluth auf der Deckplatte eines Gasretortenofens erhalten. Glas wandelt sich dabei in ein wasserhaltiges Silicat von zeolithischer Natur um, während gleichzeitig unzählige wasserklare Krystalle von Quarz und auch dunkelgrüne von Augit gebildet werden, aus Thon entsteht eine Menge von perlmutterweissen glimmerähnlichen Schüppchen, Tannenholzstückchen verändern sich unter dem Einfluss des überhitzten Wassers in eine anthracitische Substanz. Für eine andere eigenthümliche und doch verwandte Aeusserung des Contactmetamorphismus, das locale Erfülltsein der von dem Eruptivgestein durchbrochenen Kalksteine mit vielen fremden Mineralien, wie Granat, Vesuvian, Spinell, Wollastonit, Gehlenit, Skapolith, Pyroxen, ist bis jetzt eine auch nur annähernd experimentelle Nachahmung noch nicht gelungen. Verschieden von diesem localen Contactmetamorphismus, der sich allemal an das Dasein einer Eruptivmasse bindet, ist der regionale Metamorphismus, welcher nicht auf eine solche wirkende Ursache zurückgeführt werden kann; er äussert sich in dem Auftreten sehr umfangreicher Gebiete von Gneissen, Glimmerschiefern, Phylliten und anderen krystallinischen Schiefern, für welche die begründete Vermuthung vorliegt, dass sie in ihrem ursprünglichen Zustande klastische nichtkrystallinische Massen, wie Thonschiefer, Grauwacke und dergleichen dargestellt haben. Eingelagerte massige Eruptivgesteine sind, wie man jüngst mehrfach erkannte, unter Verwischung ihrer mineralogischen und structurellen Charaktere mit in diese 405

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grossen regionalen Umwandlungsvorgänge hineingezogen worden und haben dabei Producte geliefert, deren Aussehen die ursprüngliche Entstehungsweise dieser Felsarten nicht oder kaum mehr verräth. Die oft, wenn auch nicht stets erfolgte Wahrnehmung, dass die krystallinische Beschaffenheit jener Schiefer in demselben Grade zunimmt, wie die Störung ihrer normalen Lagerung, scheint darauf zu verweisen, hier in der gebirgsbildenden seitlich stauenden und faltenden Kraft eine Ursache des jetzigen krystallinisch umgewandelten Zustandes solcher Gesteinscomplexe zu erblicken, den sie anfänglich nicht besassen; dabei ist, wie es scheint, auch der Druck aufgelagerter Massen nicht ohne ähnlichen Erfolg geblieben. Allerwegen gibt sich makroskopisch und mikroskopisch immer mehr erkennbar kund der Zusammenhang zwischen den intensiven mechanischen Phänomenen, die sich in der Gebirgserhebung und Gebirgspressung aussprechen und zwischen den chemischmineralogischen Umwandlungen und Neugestaltungen des Stoffs sowie den Veränderungen der Structur. Und zwar scheint es, dass die mechanischen Wirkungen nicht etwa nur den Raum lieferten für die Mineralneubildungen, sondern dass sie auch die molecular-chemischen Umsetzungen innerhalb des Gesteins selbst direct veranlassten. Eigentlich ist es Sorby gewesen, der schon 1865 die convertibility of mechanical pressure into chemical action für die Deutung geologischer Erscheinungen in Anspruch genommen. Wessen der gebirgsbildende Druck auch für den Verlauf von chemischen Processen innerhalb der in Faltung begriffenen und zusammengepressten Gesteinsmassen fähig sein dürfte, dafür bieten einen trefflichen Hinweis die überaus werthvollen Experimente von Spring, welcher (1880) schwarzen krystallinischen Kupferglanz (Halbschwefelkupfer) als chemische Verbindung zu Stande brachte, indem er ein mechanisches Gemenge von Kupferfeilspänen und grobem Schwefelpulver einem Druck von 5000 Atmosphären unterwarf. Auf manchem dunklen Gebiet, auf dem die blosse Beobachtung für viele Fragen die exacte Antwort schuldig bleibt, harrt noch manch ein wichtiges Problem der experimentellen Lösung. Dennoch ist es schon jetzt auf zahlreichen Wegen dem Forscher vergönnt, sich an Producten zu erfreuen, die durch eigene Kunst in einer Spanne seines kurzen Lebens erzeugt, und doch mit denen durchaus analog sind, welche die Natur in tausend Jahren langsam heranreifen lässt, und das hier Erreichte gibt der Hoffnung Raum, dass fernere Bestrebung andere Räthsel mit nicht minderer Anmuth lösen werde. Ich schliesse mit den denkwürdigen Worten unseres grossen Leipziger Stadtkindes, dessen ehernes Bild sich auf dem Thomaskirchhof erhebt, mit den Worten, die Gottfried Wilhelm Leibniz in seiner Protogaea vor fast zweihundert Jahren mit wahrhaft prophetischem Geiste ausspricht: „Der würde nach meiner Meinung ein grosser Mühe werthes Werk verrichten, der die aus dem Schoosse der Erde hervorgeholten Producte sorgfältig mit denen des Laboratoriums vergleichen wollte; denn dann wird vor unseren Augen oftmals die wunderbare Aehnlichkeit zu Tage treten, die zwischen dem natürlich Gewachsenen und dem künstlich Erzeugten besteht. Obwohl der überreiche Schöpfer aller Dinge verschiedene Mittel in seiner Macht hat, um dasselbe Gebilde entstehen zu lassen, so gefällt er sich dennoch in der Beständigkeit mitten in der Verschiedenheit seiner Werke, und es ist schon ein 406

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grosser Schritt vorwärts in der Erkenntniss der Dinge, auch nur ein Mittel gefunden zu haben, sie hervorzubringen. Neque enim aliud est natura quam ars quaedam magna“. Auf dem vierhundertsiebenundsiebenzigsten Studienjahre aber, welches unsere ehrwürdige Universität so eben frisch und kräftig begonnen hat, möge des Himmels reicher Segen ruhen, für alle die lernenden und lehrenden Mitglieder, in ernster Arbeit und fröhlichem Gedeihen. ***

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31. October 1886. Rede des abtretenden Rectors Dr. phil. Ferdinand Zirkel. Bericht über das Studienjahr 1885/86. Hochverehrte Anwesende! Bevor ich im Namen der akademischen Körperschaft meinen Nachfolger, den neugewählten Rector, in Pflicht nehme und damit das Amt niederlege, welches mir durch das nachsichtsvolle Vertrauen meiner Collegen auf ein Jahr übertragen wurde, verlangt es ein alter Brauch, zu einem kurzen Rückblick auf diesen verflossenen Zeitraum, auf das vierhundertsiebenundsiebenzigste Studienjahr unserer Universität einzuladen. Ein Jahr ruhigen und friedlichen Gedeihens liegt hinter uns, während dessen Lehrer und Studirende in erwünschter Weise ungestört ihren Berufsarbeiten nachgehen konnten, und es drängt uns in dieser Stunde, dafür den Dank zum Himmel zu senden. Zunächst gedenken wir in freudigster Rückerinnerung, dass auch in diesem Jahre Se. Majestät unser König Albert die Universität Leipzig mit seinem Besuche beglückt hat. Es waren die festlichen Tage vom 16. bis 20. Februar, die von Seiten des Allerdurchlauchtigsten Rector magnificentissimus grösstentheils unserer Hochschule und einzelnen ihrer Anstalten gewidmet wurden, in deren Verlauf Se. Majestät nicht weniger als zwölf akademischen Vorlesungen die Ehre der allerhöchsten Theilnahme schenkte. Wenn es in anderen Ländern mit zahlreichen Hochschulen selbstverständlich ausgeschlossen ist, dass der Monarch an dem Wohl und Wehe der einzelnen persönlichen Antheil nimmt, so giebt es doch ausser dem unseren kein anderes ähnlicher Grösse, welches so noch einmal das erhebende Beispiel darbietet, dass der Landesfürst selber fast alljährlich die akademischen Hallen zu besuchen geruht, offenen Auges für das, was Noth thut, offenen Ohres für Alles, was uns bewegt, mit huldreichstem Interesse hier wie bei jeder anderen Gelegenheit den Fortgang unserer Entwickelung verfolgend. Und unser innigster und ehrfurchtsvoller Dank für diese königliche Gnade, deren sich die Universität heuer wiederum zu rühmen hat, steht tief im Herzen eingeschrieben. Eine Nachfeier des in die Ferien fallenden Geburtstages Sr. Majestät wurde am Sonntag den 2. Mai durch einen Festactus in der Aula begangen, bei welchem der Prorector, Geheimer Rath Windscheid, die Festrede hielt. Während des Wintersemesters durfte noch der Name Sr. Königlichen Hoheit des Prinzen Friedrich August den Anfang des Verzeichnisses unserer akademischen Bürger schmücken, und am 11. März wurde Höchstdemselben im Beisein seiner bisherigen Lehrer das lateinische Abgangszeugniss feierlich durch den Rector überreicht. Mit wachsender Befriedigung haben wir gesehen, wie Prinz Friedrich August sich hier als Student unter Studenten gefühlt, wie er regen Antheil genommen hat 408

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an ernster wissenschaftlicher Arbeit, frohmüthigen Antheil auch an den Verfügungen dieser „blühenden goldenen Zeit“. Und wenn es in der That freundliche Gesinnungen sind, mit denen unser hoher Commilitone dem akademischen Leben in dieser guten Stadt ein Ende gemacht hat, dann dürfen wir den Wunsch hinzufügen, dass dieselben der Anstalt, an der des erlauchten Prinzen Gegenwart nicht vergessen werden wird, treu bewahrt werden mögen, für alle die langen Jahre eines glücklichen und segensreichen Lebens, die Sr. Königlichen Hoheit noch beschieden seien. Auch in diesem Jahre hat die Universität sich vieler thatsächlicher Beweise zu erfreuen gehabt von der unablässigen Fürsorge, mit welcher das Ministerium des Cultus und öffentlichen Unterrichts in gewohnter Weise die akademischen Interessen, sowohl was die Lehrkräfte, als was die wissenschaftlichen Hülfsmittel betrifft, erfolgreich zu fördern bestrebt ist, und gern erfüllen wir die Verpflichtung, dafür an dieser Stelle unseren lebhaften Dank zum Ausdruck zu bringen. Viele meiner Amtsvorgänger haben Jahr auf Jahr von der Inangriffnahme oder der Ausführung mächtiger Neubauten, insbesondere für naturwissenschaftliche und medicinische Zwecke zu berichten gehabt. Der stattlichen Reihe von Anstalten, welche in jenem Stadttheil vereinigt sind, wird augenblicklich das auf der Ecke der Nürnberger- und Liebigstrasse sich gegenüber der Anatomie erhebende Gebäude für das pharmakologische Institut und die Polikliniken als Schlussstein eingefügt, und damit dürfen diese durch die Munificenz des Cultusministeriums und der Stände unseres Landes ins Leben gerufenen grossen Unternehmungen der Hauptsache nach als beendigt gelten. Die für den Bau zur Verfügung gestellte Summe von rund 425 000 Mark wird es ermöglichen, die Einrichtungen für alle darin aufzunehmenden akademischen Lehrinstitute dem heutigen Stande der betreffenden Wissenschaften entsprechend zu gestalten. – Für den Neubau der Universitätsbibliothek sind ebenso die erforderlichen Mittel zur Erwerbung eines Bauplatzes und zur Deckung der vorläufig auf rund 2 150 000 Mark veranschlagten Baukosten bewilligt. Der Bau, welcher der Natur der Sache nach aussergewöhnlich zahlreiche und langwierige vorhergehende Erwägungen erheischt, wird im nächsten Frühjahr beginnen. Der im Wege der öffentlichen Concurrenz gewonnene Plan verspricht ein Gebäude, das der Universität zur Ehre und dem Stadttheil, in welchem es sich erhebt, zur besonderen Zierde gereichen wird. – Die Zahl der bisherigen akademischen Lehrinstitute ist durch das kirchengeschichtliche Seminar vermehrt worden; die demselben in dem dritten Stock des nördlichen Flügels vom Vorderpaulinum überwiesenen Räume werden im Anfang November zur Eröffnung gelangen. Ausserdem sind auch in derselben Etage zweckmässigere und ausgedehntere Localitäten für den bisher im Erdgeschoss des Senatsgebäudes untergebrachten Geographischen Apparat und für geographische Uebungen hergerichtet worden. Das nützliche und bewährte Institut der akademischen Lesehalle, welchem in Folge finanziell misslicher Lage fast die Nothwendigkeit der Auflösung drohte, wurde auf den Vorschlag des Senats durch eine Ministerial-Entscheidung, die ihm weitere Geldmittel zuführte, glücklicherweise am Leben erhalten. Zugleich hatte der Senat Veranlassung, sich mit einer neuen zweckmässigeren Fassung der Statuten der Lesehalle zu beschäftigen, welche von Seiten des Ministeriums Bestätigung erlangte. 409

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An vier für unsere Stadt bedeutungsreichen Ereignissen hat die Universitätsvertretung in Folge einer an sie ergangenen Einladung theilgenommen: am 27. December an der feierlichen Einweihung der neuen Petrikirche, am 23. Mai an der festlichen Legung des Grundsteins für das Prachtgebäude des Börsenvereins deutscher Buchhändler, am 1. September bei der Fertigstellung des umgebauten städtischen Museums und des davor sich erhebenden wirkungsvollen Monumentalbrunnens, am 29. September bei der durch die Gegenwart Sr. Majestät des Königs verherrlichten Einweihung der neuen Börse auf dem Blücherplatz. In den Tagen vom 2. bis 7. August betheiligte sich unsere Universität, vertreten durch Rector und Prorector an der fünfhundertjährigen Jubelfeier der ältesten Hochschule im jetzigen deutschen Reich, der ehrwürdigen und jugendfrischen Alma Ruperto-Carola in Heidelberg. Auch viele Collegen hatten sich dorthin begeben, um in Erinnerung an eine einstmalige Lehrthätigkeit oder Studienzeit in Altheidelberg jene weihevollen Tage mit zu durchleben, die in ihrem glänzenden und durch nichts getrübten Verlauf Jedem unvergesslich bleiben werden. Ein anderer Gedenktag unserer eigenen Geschichte ist in der Stille vorübergegangen: am 3. August kehrte der Tag wieder, an dem vor fünfzig Jahren das Hauptgebäude unserer Universität, das damals neuaufgeführte Augusteum durch einen grossen Festzug und einen solennen Actus in der Aula seine Weihe erhielt, bei welcher Prinz Johann, Herzog zu Sachsen, der nachmalige Landesherr, goldene Worte an die Versammlung richtete. Sechs akademische Lehrer, die schon damals wirkten, die heute noch nach fünfzig Jahren unter uns weilen, wohnten der Feier am 3. August 1836 bei, und verknüpfen die Gegenwart mit der Vergangenheit, die verehrten Collegen Drobisch, Fechner, Fleischer, Jacobi, Marbach, Biedermann, ein siebenter Docent, G. Hartenstein, lebt nach langer verdienstlicher Thätigkeit in Leipzig zur Zeit in Jena. Vor hundert Semestern für alle Zwecke vollauf ausreichend gewesen, kann unser Augusteum, selbst nachdem mehrere Institute nebst ihren Sammlungen und Hörsälen aus demselben entfernt wurden, in räumlicher Beziehung jetzt den Ansprüchen der Neuzeit nicht mehr ganz Genüge leisten, welche auch auf dem Gebiete der Lüftung, Erwärmung, Beleuchtung berechtigte Wünsche nach einzuführenden Verbesserungen erhebt. Viele Hoffnungen auf Beseitigung tief empfundener Schwierigkeiten knüpfen sich in dieser Hinsicht an die beschlossene Verlegung der Universitätsbibliothek und den dadurch zwischen dem Augusteum und dem Paulinum frei werdenden Platz. Am 1. September war ein halbes Jahrhundert verstrichen, seitdem der Geh. Hofrath Prof. Dr. Wilhelm Hankel seine Lehrerlaufbahn an der damaligen Realschule in Halle begann. Dem hochverdienten Jubilar, welchen Se. Majestät der König durch Ernennung zum Geheimen Rath auszuzeichnen geruhte, wurden von Seiten der Universität deren herzliche Glück- und Segenswünsche dargebracht. Gelegentlich des auf den 10. Mai fallenden fünfzigjährigen Doctorjubiläums des ausserord. Prof. Dr. Woldemar v. Frege, welches derselbe ganz in der Stille zu erleben vorzog, wurde von Seiten der juristischen Facultät das Diplom erneuert. Ferner beglückwünschte die philosophische Facultät zum fünfzigjährigen Doctorjubiläum die Herren Geh. Oberregierungsrath Bonitz in Berlin und Geheimrath von Walther in St. Petersburg. 410

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Von Ehrenpromotionen, welche die einzelnen Facultäten vornahmen, habe ich folgende zu verzeichnen: In der theologischen Facultät wurde honoris causa zum Doctor promovirt Herr Johannes Theodor Oscar Pank, Superintendent und Pastor zu St. Thomae dahier; ferner zum Licentiaten der Pfarrer Herr Friedrich Heinrich Immisch in Göda bei Bautzen. Die juristische Facultät verlieh diesen ihren höchsten Ehrengrad einem um das Gedeihen unserer Universität in besonderem Maasse verdienten Manne, dem Geheimen Rath und stellvertretenden Director im Ministerium des Cultus und öffentlichen Unterrichts, Herrn Friedrich Ernst Petzoldt in Dresden, und vollzog damit einen Act der Anerkennung, welcher auch der anderen Facultäten freudige Befriedigung erregte. Von der medicinischen Facultät wurde mit dieser Ehre bedacht der königl. Bezirksthierarzt Herr Friedrich Albert Prietsch dahier, sowie Herr Karl Wilhelm Bergmann aus Grossröhrsdorf, letzterer bei Gelegenheit des fünfzigjährigen Jubiläums seiner Ernennung als Medicinae Practicus Seitens der vormaligen medicinisch-chirurgischen Akademie zu Dresden; von der philosophischen der Rector des hiesigen kgl. Gymnasiums, Herr Prof. Richard Richter. Die schöne alte Einrichtung unserer Universität, bedürftigen Studirenden freie Speisung zu gewähren, hat unter der umsichtigen und humanen Verwaltung unseres Collegen Hofrath Heinze vielen Nutzen gestiftet, und die namentlich für Nichtsachsen eingerichteten sog. Privatfreitische, zu deren Erhaltung Mitglieder und Freunde der Universität freiwillige Beiträge spenden, empfingen auch in diesem Jahre wesentliche Förderung, unter Anderem wieder durch die wohlwollende Antheilnahme des hessischen Hülfsvereins und seines Vorsitzenden, des Herrn Philipp Batz. Wenn der jedesmalige Rector in seinem Jahresbericht den Namen dieses trefflichen Mannes in Dankbarkeit zu erwähnen nicht unterlässt, so war es mir eine besondere Genugthuung, ihm am 11. December zur Feier seines fünfzigjährigen Jubiläums als Leipziger Bürger die aufrichtigen Glückwünsche der Universität darbringen zu dürfen. Von der hochherzigen Stiftung unseres Collegen Albrecht, welche nach seinem Tode noch so reichen Segen spendet, sind aus den Zinserträgnissen in diesem Jahr 10 800 Mark drei Professoren und neun Privatdocenten theils zur Unterstützung wissenschaftlicher Reisen, theils zur sonstigen Förderung wissenschaftlicher Arbeiten zugewendet worden. Was Legate betrifft, so gelangte die Universität in diesem Sommer nach dem Ableben der bisherigen Nutzniesserin in den Besitz eines von dem bereits 1858 verstorbenen Advocaten Dr. Karl Wilhelm Riedel testamentarisch vermachten Betrages von 3000 Mark, welches Vermächtniss zur Errichtung eines Stipendiums für einen Studirenden, zunächst aus der Riedel’schen Familie, bestimmt ist. – Die Wittwe des im Mai 1884 verstorbenen Collegen, Geheimen Raths Justus Radius, hat aus dem Nachlass ihres Mannes der Universitäts-Bibliothek eine grosse Reihe medicinischer Zeitschriften und sonstiger medicinischer Schriften geschenkt. Ebenso ist der Bibliothek von dem am 11. December des vorigen Jahres hier verstorbenen angesehenen Arzt Dr. Herrmann Heinrich Ploss durch letztwillige Verfügung die medicinische und naturwissenschaftliche Abtheilung seiner sehr umfangreichen und werthvollen Bibliothek zugefallen, und ist dieses im höchsten Grade anerkennens411

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werthe Legat von der Universalerbin des Dahingeschiedenen, Frau verw. Dr. Schrekkenberger, der Bibliothek in liberalster Weise überantwortet worden. Indem ich mich jetzt zu den Veränderungen wende, die im Personalstande unserer Universität stattgefunden haben, muss zuerst pietätsvoll der Collegen gedacht werden, welche uns durch den Tod entrissen worden sind. Noch war der Verlust nicht verschmerzt, den die Universität durch das Hinscheiden von Georg Curtius und Ludwig Lange erlitten hatte, als eine neue Trauerbotschaft anlangte, durch welche die Vertreter der klassischen Alterthumswissenschaft betroffen wurden. Am 15. November 1885 endete das lange segensreiche und ruhmwürdige Leben Friedrich August Eckstein’s. Geboren am 6. August 1810 zu Halle, war er 1863 einem Ruf als Rector an unsere Thomasschule gefolgt, und gleichzeitig zum ausserordentlichen Professor an der Universität ernannt worden. 1881 legte er, fünfzig Jahre nach dem Beginn seiner Laufbahn als Lehrer, das Rectorat der Thomana nieder, um seine immer mehr dahinschwindenden Kräfte nur noch in den Dienst unserer Hochschule zu stellen. In ihm ist einer der bewährtesten Pädagogen und Scholarchen dahingeschieden, der mit feinem Verständniss und scharfem Blick erkannte, wie am Besten den Bedürfnissen der heranwachsenden Generation an geistiger und allgemeiner Bildung Rechnung zu tragen sei, ein Gelehrter von bedeutendem Verdienst, ein Meister der lateinischen Rede. Mit der Universität betrauern seinen Hingang zahlreiche treue Freunde, die philologischen Wanderversammlungen, auf denen er als regelmässiger allverehrter Besucher zu erscheinen pflegte, vor allem aber auch eine durch ganz Deutschland zerstreute Schaar dankbarer Schüler, die ihm für den besten Theil ihrer ersten Erziehung und Ausbildung verpflichtet sind. Am 29. December 1885 verschied zu Heidelberg, wohin er sich zurückgezogen hatte, der ausserordentliche Professor Dr. Johannes Minckwitz, geboren am 21. Januar 1812 zu Lückersdorf bei Camenz, schon seit längerer Zeit nicht mehr unserer Universität angehörig. Grössere Anerkennung als ihm durch seine Bestrebungen auf dem Gebiet der Dichtkunst zu Theil wurde, gewann er durch seine Schriften über Poetik, durch die Gewandtheit seiner Uebersetzung griechischer Tragiker, sowie durch seine Kennerschaft Platons. Fast schien es, als sollte dieser Bericht, erfreulicher als die meisten der letzten Jahre, ein weiteres betrübendes Ereigniss dieser Art nicht mehr zu verzeichnen haben, da entschlief am 28. September der ordentliche Honorarprofessor in der theologischen und zugleich Privatdocent in der philosophischen Facultät, Hermann Gustav Hölemann; in ihm ging einer der ältesten Lehrer unserer Universität zur Ruhe – er war geboren am 8. August 1809 zu Bauda bei Grossenhain – der vor einigen Jahren sein goldenes Magisterjubiläum und 1884 sein goldenes Docentenjubiläum hatte feiern können. Der Exegese des alten und neuen Testamentes war seine akademische und schriftstellerische Thätigkeit vorwiegend gewidmet, und gern unternahm er es, die Auslegungen in lateinischer Sprache, die er mit seltener Gewandtheit beherrschte, zu geben. Auch in die Redaction von Fachblättern einer strenger kirchlichen Richtung hat der nun verewigte Gelehrte thätig mit eingegriffen. Ein aussergewöhnlich reichliches Kommen und Gehen von Lehrkräften hat in dem verflossenen Jahre an unserer Universität stattgefunden. Es schieden aus, um 412

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an anderen Hochschulen einen neuen Wirkungskreis zu eröffnen: Der ord. Professor der Mathematik Dr. Felix Klein, welcher in gleicher Eigenschaft einem Rufe nach Göttingen folgte; der ord. Professor der Geographie Dr. Ferdinand Freiherr von Richthofen, der nach Berlin übersiedelte, um an der dortigen Universität die neubegründete Professur für physikalische Geographie zu übernehmen; wir dürfen uns Angesichts dieses schwerwiegenden Verlustes einigermaassen damit trösten, dass es vielleicht weniger die Schwesteranstalt ist, welche diesen ausgezeichneten Mann nach Berlin zog, als vielmehr die Zuversicht, in den weiten und einflussreichen Kreisen der Reichshauptstadt besser noch als von hier aus für die Förderung der Erdkunde wirken zu können. Noch verliess uns wieder nach nur halbjährigem Aufenthalt der ord. Professor der klassischen Philologie Dr. Erwin Rohde, der es vorzog, seine Thätigkeit an der Universität Heidelberg fortzusetzen. – Ferner wurden von hier aus berufen: Der ausserordentliche Professor Dr. Adolf Strümpell als ord. Professor der Medicin und Director der Klinik nach Erlangen; der ausserord. Professor Dr. Eilhard Wiedemann als Professor der Physik an die technische Hochschule in Darmstadt; der ausserord. Professor Dr. August Rauber als ord. Professor der Anatomie an die Universität Dorpat; der ausserord. Professor Dr. Rudolf Hirzel als ausserord. Professor der klassischen Philologie an die Universität Jena; der Privatdocent Dr. Otto Crusius als ord. Professor der klassischen Philologie an die Universität Tübingen; der Privatdocent Dr. Justus Gaule als ord. Professor der Physiologie an die Universität in Zürich; der ausserord. Professor Dr. Jacob Weismann als ord. Professor in der juristischen Facultät an die Universität Greifswald. Endlich übernahm der Privatdocent Dr. Paul Harzer eine Stellung als Astronom-Adjunct an der Sternwarte zu Pulkowa. Diese letzteren ehrenvollen Berufungen nach auswärts beweisen wiederum, wie viel strebsame und tüchtige Kraft auch in unseren jugendlicheren Collegen vorhanden und wie gross die Anerkennung ist, die ihnen und damit unserer Universität als ihrer Pflegstätte gezollt wird. Indem wir die von uns Geschiedenen und ungern Entbehrten mit besten Wünschen begleiten, freuen wir uns der Thatsache, eine über unsere nächsten Zwecke hinausreichende Wirksamkeit unmittelbar ausüben zu dürfen. – Einen akademischen Lehrer, einen ausserordentlichen Professor, ereilte das Schicksal, auf dem Disciplinarwege aus der Körperschaft ausgeschlossen werden zu müssen. Zwei uns drohende Verluste sind glücklicherweise nicht eingetreten, der Weggang unserer Herren Collegen Wach nach Berlin und Lipsius nach Heidelberg. Wenn ich durch Hervorhebung dieser Thatsachen vielleicht meine Befugniss überschreite, indem die betreffenden Verhandlungen nicht zur amtlichen Kenntniss des Rectorats gelangt sind, so mag als Entschuldigung das aufrichtige Gefühl der Befriedigung und Dankbarkeit gelten, mit welchem wir diese hochverdienten und allverehrten Männer auch heute noch in unserer Mitte erblicken. Den eben genannten Abgängen haben wir eine Reihe werthvoller Erwerbungen gegenüberzustellen. Es traten ein im verflossenen Sommersemester: Der badische Geh. Hofrath Prof. Dr. Kurt Wachsmuth von Heidelberg und Prof. Dr. Erwin Rohde von Tübingen, beide als ord. Professoren der klassischen Philologie an Stelle der uns durch den Tod im vorigen Jahre entrissenen Collegen Curtius und Lange; des 413

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letzterwähnten Name wurde soeben auch unter den Ausgeschiedenen verzeichnet. Sodann Prof. Dr. Sophus Lie aus Christiania, als ord. Professor der Mathematik, ein Ersatz für den abgegangenen Prof. Klein. Ferner wurden ernannt für das beginnende Wintersemester: Der kais. russische wirkliche Staatsrath Prof. Dr. Friedrich Albin Hoffmann in Dorpat zum ord. Professor in der medicinischen Facultät und Director der Poliklinik; der Prof. Dr. Theodor Brieger in Marburg zum ord. Professor der Kirchengeschichte in Folge der anhaltenden Erkrankung unseres verehrungswürdigen Collegen, des Seniors der theologischen Facultät, Domherrn Prof. Dr. Kahnis; der Prof. Dr. Friedrich Ratzel vom Polytechnicum in München zum ord. Professor der Geographie an Stelle des uns verlassenden Prof. Dr. von Richthofen. Wir freuen uns, diese von auswärts gekommenen Männer, die weit über mein Lob erhaben sind, zu den unseren zählen zu dürfen, und rufen namentlich denjenigen, welche erst jetzt im Winter ihre Thätigkeit begonnen haben, ein herzliches Willkommen und den Wunsch zu, dass sie sich hier bald heimisch fühlen mögen. Weiterhin wurde der Director des Königlichen Gymnasiums dahier, Prof. Dr. Richard Immanuel Richter auch zum ausserord. Professor in der philosophischen Facultät berufen, mit dem Lehrauftrage für das Fach der Gymnasialpädagogik und unter Ernennung zum Director der philologischen Abtheilung des pädagogischen Seminars. Schliesslich erhielt der Dr. Hermann Howard dahier eine Ernennung zum ausserord. Professor in der philosophischen Facultät, mit dem Auftrage, Vorlesungen über landwirthschaftliches Rechnungswesen und einschlagende Disciplinen an dem landwirthschaftlichen Institut zu übernehmen. Auch die Zahl derjenigen, welche unsere Universität zum Ausgangspunkt ihrer akademischen Laufbahn gewählt haben, ist zu unserer Genugthuung im verflossenen Jahr keine geringe gewesen und neue zukunftsreiche Kräfte sind dadurch für unseren Lehrkörper gewonnen. In der juristischen Facultät habilitirten sich der k. s. Regierungsrath Dr. Georg Haepe und der Landgerichtsrath Dr. Johann Moriz Erich Danz, in der medicinischen Facultät die praktischen Aerzte hierselbst Dr. Paul Philipp Wagner und Dr. Hermann Lenhartz; in der philosophischen Facultät Dr. Friedrich Engel und Dr. Eduard Study, beide für Mathematik, Dr. Wilhelm Wollner aus Moskau für slavische Philologie, Dr. Wilhelm Busch aus Bonn für Geschichte, vorzugsweise des Mittelalters und der Neuzeit, Dr. Wilhelm Hallwachs aus Darmstadt für Physik. Beförderungen hier wirkender Lehrkräfte sind diesmal nur innerhalb der philosophischen Facultät vorgekommen: zu ausserordentlichen Professoren wurden ernannt die bisherigen Privatdocenten Dr. Karl von Bahder, Dr. Paul Hermann Fraisse, Dr. Franz Settegast und Dr. Henry Settegast, letzterer mit dem Auftrage, die Vorlesungen über Thierzucht und Pflanzenbau an dem landwirthschaftlichen Institut zu übernehmen. Rite promovirt wurden in der theologischen Facultät 1 Doctor und 1 Licentiat, zu Doctoren beider Rechte 71, zu Doctoren der Medicin 162, zu Doctoren der Philosophie 141, während die Zahl der von dieser Facultät abgewiesenen Bewerbungen 22 betragen hat. 414

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Im Kreise unserer Beamten hat keine Veränderung Platz gegriffen. Diejenigen, welche davon Kunde hatten, erfreuten sich am 1. December der Thatsache, dass an jenem Tage vor 25 Jahren der jetzige Universitätssecretär Herr Universitätsrath Dr. Meltzer seine inzwischen so vortrefflich bewährte Kraft in den Dienst der Hochschule gestellt hatte. Was die Frequenz unserer Universität betrifft, so betrug dieselbe im Wintersemester an Immatriculirten 3288, darunter 1374 Sachsen, 1914 Nichtsachsen; im Sommersemester 3060, nämlich 1408 Sachsen, 1652 Nichtsachsen. Für das laufende Semester ergeben sich gemäss dem gestern vorgenommenen provisorischen Abschluss folgende Ziffern: Von der Sommerfrequenz sind abgegangen 588 (gegen 606 an demselben Termin im Vorjahr), während von mir neu immatriculirt wurden 788 (gegen 777 im Vorjahr), darunter 118 Sachsen und 670 Nichtsachsen; dies macht für den heutigen Tag einen Bestand von 3260 immatriculirten Studirenden, das ist 14 mehr als heute vor einem Jahr. Von den 788 neu zugegangenen gehören zur theologischen Facultät 166, juristischen Facultät 264, medicinischen Facultät 121, philosophischen Facultät 237. Verglichen mit den von meinem Herrn Vorgänger heute vor einem Jahr verkündigten Ziffern ergiebt sich, dass die Zahl der neu inscribirten Theologen fast genau übereinstimmt mit der damaligen (diesmal 3 Theologen mehr), dass auch die Zahl der zur philosophischen Facultät gehörigen fast identisch ist (diesmal 2 derselben mehr), dass dagegen die Menge der Juristen eine kleine Vermehrung (um 32), die der Mediciner eine kleine Verminderung (um 26) erfahren hat. Sofern der weitere Abgang bis zum Normal-Rechnungstage des Wintersemesters, dem 1. December, durch die bis dahin noch erfolgenden Immatriculationen gedeckt werden sollte – was in der Regel zu geschehen pflegt – würde gegen das verflossene Wintersemester wohl eine, freilich ganz geringfügige Erhöhung der Frequenz zu verzeichnen sein. Ein ruhiger und gesicherter Bestand ohne grosse Schwankungen – wie er sich in den letzten Jahren herauszustellen scheint – ist in der That das Erwünschteste, was uns zu begegnen vermag, und bei einer Universität, welche wie die unserige von jeher in der Tüchtigkeit ihrer Lehrer, in der Arbeitsamkeit und dem Wohlverhalten der Studirenden, sowie namentlich auch in dem gegenseitigen fruchtbringenden Verkehr dieser beiden Factoren ihre Stärke gesucht hat, kann ein Stillstand in der Zahl der Immatriculirten keineswegs als ein Rückgang in der Erfüllung ihrer Bestrebungen gelten. Aus der Reihe der Commilitonen sind uns 21 durch den Tod genommen worden. Bildet eine solche Zahl auch angesichts der grossen Frequenz einen nicht ungünstigen Procentsatz, so kann diese kalte statistische Erwägung doch nicht das Maass der schmerzlichen Trauer vermindern, welches auch wir bei dem Verlust dieser jungen, in der Blüthe ihrer Jahre entschlafenen Freunde empfinden, mit welchen gewiss so viele schöne Hoffnungen ihrer Angehörigen hingeschwunden sind. Wenden wir uns wieder ins Leben zurück, so hat der Fleiss und der sittliche Ernst der Studirenden wenig zu wünschen übrig gelassen und ich darf ihnen wohl im Namen aller Docenten das Zeugniss ausstellen, dass auch diese Generation fortgefahren hat, den alten Ruhm Leipzigs aufrechtzuerhalten, den einer arbeitsamen Universität und den der Stätte eines ebenso fröhlichen wie anständigen Studenten415

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lebens. Macht auch die Gesammtsumme der kleinen Ueberschreitungen der Disciplinargesetze abermals keine ganz geringe Zahl aus, so handelt es sich doch hier meistens um Vorkommnisse, bei denen momentaner, im Bewusstsein der Freiheit hervorbrechender jugendlicher Uebermuth, oder ein leider zeitweilig eingetretenes geringes Maass von Zurechnungsfähigkeit das Hauptmotiv abgaben. Und bei der ganzen Schaar von weitaus über 3000 Studenten waren wir nur bei zweien gezwungen, in Folge einer wirklich unehrenhaften Handlung die ganze Strenge des Gesetzes walten zu lassen und die Relegation zu verhängen. Wo es mein Amt, welches den ununterbrochenen Verkehr mit den Commilitonen zur Folge hatte, mit sich brachte, dass diese oder jene schwierigere Angelegenheit behandelt werden musste, da ist mir in voller Wahrheit keine einzige unangenehme Erfahrung begegnet, und die dankerfüllte Erinnerung an diesen erfrischenden und ungetrübten Umgang mit der Studentenschaft wird immerdar freudig in mir fortleben. Nicht geringe Anerkennung verdienen auch die Bestrebungen jener zahlreichen fachwissenschaftlichen Vereinigungen, welche ihren Zweck suchen und erreichen in der Förderung geistiger Interessen, und von dem echt patriotischen Sinn unserer akademischen Jugend gibt ein Zeugniss ab der grossartige Commers vom 18. Januar zur Feier der Erstehung des Deutschen Reiches, wo in den Räumen der Centralhalle die nationale Begeisterung allerlei sonst unter den Theilnehmern bestehende Gegensätze vergessen liess. Am Schlusse meines Berichtes angelangt, welcher wie immer, nur äusserliche, mehr statistische Momente hervorzuheben, und auf das innerliche Leben der Hochschule, auf den Fortschritt der geistigen Arbeit derselben nicht einzugehen vermag, bleibt mir das Bedürfniss, meinen Herren Collegen noch besonderen Dank zu sagen für das vielfache Wohlwollen, welches sie mir entgegengebracht, für die freundliche Unterstützung und Erleichterung, die mir in meiner nicht ohne Sorge angetretenen Amtsführung von ihnen zu Theil geworden ist. Unsere vielgeliebte Universität aber sei noch in ferne Zeiten hinaus dem Schutz des Höchsten empfohlen, dass sie froh und fruchtbar gedeihe zum Wohle des Volkes und Vaterlandes! Hierauf gab der Rector Rechenschaft von dem Erfolg der ausgeschriebenen Preisarbeiten und verkündete die von den Facultäten für das nächste Jahr gestellten neuen Themata. Für beides wird auf das betreffende besondere Programm vom 31. Oktober verwiesen. Zum Schluss erfolgte die Vereidigung des neuen Rectors und die Uebergabe der Amtsinsignien an denselben. ***

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Woldemar Schmidt (1836–1888)

31. October 1886. Rede des antretenden Rectors Dr. theol. Woldemar Schmidt. Zur Charakteristik der neutestamentlichen Schriftauslegung in ihrer neueren Entwickelung. Hochansehnliche Versammlung! Ein Jahrestag wie der, welchen wir heute festlich begehen, lässt Lehrende wie Lernende unwillkührlich nach der Arbeit fragen, die im verwichenen Studienjahr ausgerichtet ward, – nach den Samenkörnern, welche wir ausstreuen oder auch aufnehmen, nach den Früchten, welche wir ärnten oder auch wachsen sehen durften. Doch über die Schranken hinaus, innerhalb deren die Kraft des Einzelnen sich halten musste, lenkt er den Blick wohl zugleich auf das weite Gebiet der Wissenschaft, in deren Dienst ein Jeder sich stellte, – auf die Geschichte, die sie durchlaufen, auf die Entwickelung, in der sie dermalen begriffen ist. Zwar wissen wir, Wandelungen lassen sich hier nur selten durch Tage oder Jahre markiren; denn Hebungen und Senkungen im Geistesleben treten wahrnehmbar nur allmälig und zumeist erst nach der Zeit hervor, aus welcher sie geschichtlich zu verstehen sind. Aber es giebt doch Erscheinungen, welche den Wechsel der Standpunkte uns klar erkennen lassen; es giebt Persönlichkeiten, in welchen ganze Richtungen gleichwie verkörpert vor uns stehen. Wenn ich nun jetzt die Ehre habe, das Amt eines Rectors dieser Hochschule vor Ihnen anzutreten, so konnte von solchen Erwägungen aus mir der Gegenstand kaum fraglich sein, welchen mein durch academischen Brauch geforderter Vortrag zu seinem Inhalt haben soll. Zur Charakteristik der neutestamentlichen Schriftauslegung in ihrer neueren Entwickelung versuche ich Einiges zu bieten, so zwar, dass von dieser Geschichtsbetrachtung aus zugleich resultiren mag, wo unseres Erachtens für die neutestamentliche Exegese vornehmlich das Bedürfniss der Gegenwart liegt. Der Fachwissenschaft entstammend, welcher ich zu dienen suche, wird der Gegenstand allgemeineres Interesse ansprechen dürfen, und seine Behandlung vielleicht nicht völlig leer ausgehen, wenngleich ich oft nur andeuten, nicht ausführen kann. Die „neuere“ Entwickelung protestantischer Schrifterklärung weist auf energische ältere Anfänge zurück. Wo anders hätten wir sie zu suchen als in der Zeit, an deren 417

Woldemar Schmidt

Anbruch uns der 31. October erinnern will? Kräftige Impulse sind in der That mit ihr wie nirgends sonst gegeben. Es ist principieller Bedeutung, dass die Kirchen deutscher wie schweizerischer Reformation von Anfang an auf das Fundament des Wortes Gottes, nicht auf das schwankende Bret der Überlieferung sich stellten. Der Schrift allein in der Sphäre des Religiösen normatives Ansehen beizulegen, ist Lebensprincip des Protestantismus; er steht, so lange er bei diesem Grundsatz bleibt, gleichwie er mit der Verläugnung desselben fallen würde. Und wir erinnern uns der Entwickelung, durch welche Luther der Wahrheit dieses Grundsatzes gewiss geworden ist. Sein Ringen in der Klosterzelle erwies sich als eitel, ernstester Anfechtungen ledig zu werden; sein fruchtloses Bemühen, das verklagende Gewissen zum Schweigen zu bringen, liess ihn das drückende Joch mittelalterlicher Bussübungen fühlen. Wie der Dichter sagt: „Er trug den Kampf in breiter Brust verhüllt, Der jetzt der Erde halben Kreis erfüllt; Sein Geist war zweier Zeiten Schlachtgebiet, Mich wundert’s nicht, dass er Dämonen sieht“. Erst in der Schrift, nach ihrem ursprünglichen Sinn begriffen, insbesondere im Neuen Testamente ging ihm das Licht heilsamer Erkenntniss auf. Nicht als ob damit eine neue Doctrin entdeckt worden wäre: Realitäten des Herzens vielmehr, tiefste Empfindungen waren entzündet worden. Zur Lehre wurden sie erst umgeprägt, als auch Andere sich in das Licht des Schriftworts stellten, und der römische Gegensatz Rechenschaft über die Lebensgrundsätze ihrer Gemeinschaft erheischte. Befremdet es da, wenn das dogmatische Interesse die Arbeit des Exegeten beherrschte? wenn aus Gründen des Glaubensbedürfnisses der paulinische Typus sehr entschieden in den Vordergrund gerückt, und die Eigenthümlichkeit der übrigen Schrift weitaus nicht hinreichend gewürdigt ward? Ja noch mehr! Lässt sich’s denken, dass das folgende Jahrhundert vorher Versäumtem gerecht werden konnte? Es ist die Zeit, wo der Interpret dicta probantia für die Zwecke der Schuldogmatik illustrirte und in seiner Freiheit durch einen absolut supranaturalen, „doketischen“ Inspirationsbegriff von vornherein behindert war; wo die Exegese der Polemik Handreichung that und die gesamte Theologie einem Rüsthaus zu confessionellen Kämpfen glich. Und es ist weiterhin die Zeit, in welcher der Pietismus die Schriftauslegung weniger zu einem Werke der Wissenschaft als zu einer Uebung der Andacht werden liess; in welcher der Literalsinn verdunkelt ward und die angeblich fruchtbarste Erklärung als die beste galt. Nicht in dieser Periode des Protestantismus konnte eine Weiterführung der Exegese beschlossen liegen. Vergegenwärtigen wir uns, wodurch sie bedingt gewesen wäre, m. a. W. was aller Auslegung, auch der neutestamentlichen, Grunderforderniss ist. Sie hat eine philologische Leistung zu sein, weil für den Autor das Wort als unmittelbare Aeusserung des Geistes, die Rede als Gewand des Gedankens diente; und sie hat ein Stück Geschichtsforschung zu sein, weil jede Schrift als eine Geistesthat genommen sein will, auf’s engste verflochten mit der Zeit, in welcher sie geboren, mit den Bedürf418

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nissen, für welche sie bestimmt, mit der Eigenart dessen, durch welchen sie entstanden ist. Ihrer Nothwendigkeit, wenngleich nicht ihrer Schwere nach schon von Luther begriffen, sind beide Forderungen nie so nachdrucksvoll, aber nie auch so einseitig geltend gemacht worden wie am Ausgang des vorigen Jahrhunderts; und wir werden hinzufügen dürfen, sie in die Praxis einzuführen und, zu festerem Ausbau der Schrifttheologie, vor Allem auf ein gesünderes Mass zu bringen, ist das Arbeitsziel nicht weniger gewesen, welche seit jener Zeit der theologischen Fakultät zu Leipzig angehörten. Vorerst die Forderung, in der sprachlichen Seite des Neuen Testaments das Object wissenschaftlicher Untersuchung zu sehen. Denn wer gedächte nicht Johann August Ernesti’s, des feinsinnigen Kenners classischer Literatur, dessen institutio interpretis Novi Testamenti (1761 u. ö.) für Jahrzehnte Wegweiser blieb? Den Sinn der Worte in den göttlich inspirirten Büchern nur so zu suchen und zu finden, wie er in anderen, d. i. menschlichen Büchern gesucht und gefunden werden muss, galt ihm als hermeneutisches Princip, wie denen, welche er als seine, d. i. die sogenannte Leipziger Schule um sich sammelte, einem Dathe, Morus, Rosenmüller u. A. Und doch wie wenig kam durch sie die Sprachwissenschaft über Unsicherheiten und die Auslegung über phrasenhafte Oberflächlichkeit hinaus. Thatsächlich konnte die „philologische“ Schriftinterpretation noch keine sonderlich erfolgreiche sein, weil der neutestamentlichen Gräcität zeither keine ausreichende Beachtung geschenkt worden war. Haltlose Anschauungen zumal über den Begriff eines Hebraismus liessen das Recht des Buchstabens verkümmern und in der Exegese eine Willkür um sich greifen, welche nicht zum wenigsten dem Rationalismus zu Gute kam. Erst Späteren war es aufgehoben, durch ernste, gediegene Arbeit hier Wandel zu schaffen; unter ihnen dem vornehmlich, welcher heute vor 45 Jahren an dieser meiner Stelle stand: Georg Benedict Winer. Wusste er doch die rationale Sprachforschung seines Lehrers, unseres Gottfried Hermann, aus dem Gebiet der classischen Gräcität in das der biblischen einzuführen und mit seiner „Grammatik des neutestamentlichen Sprachidioms“ (1822 u. ö.) reichlich das zu geben, was ihr Titel verheisst, „eine sichere Grundlage der neutestamentlichen Exegese“. Aber neben dem Anwalt der grammatischen Interpretation steht am Ausgang des vorigen Jahrhunderts der der historischen. Denn Ernesti’s Zeitgenosse, Johann Salomo Semler in Halle, trat rückhaltslos für den Gedanken ein, dass der Autor allein aus seiner geschichtlichen Persönlichkeit, seine Schrift allein aus dem Zweck ihrer Abfassung zu verstehen sei. Und wer wird das Gewicht dieser Forderung verkennen, wer der Wahrheit derselben sich verschliessen wollen? Freilich wieviel Haltloses, Irriges sehen wir der Auslegung Semlers beigemengt; wie ist das unleugbare Wahrheitsmoment, dem er nachging, von ihm selber fast verschüttet worden! Nicht dies haben wir im Sinne, dass er dem Alten Testament so wenig wie der johanneischen Apokalypse höhere Bedeutung abzugewinnen vermochte: schwerer wiegt, dass der objective Schriftgehalt überhaupt ihm unter den Händen nahezu zerrinnen musste. Der biblische Autor, so betont er, ein Kind seiner Zeit und die Schrift desselben eine Rede zu Solchen, welche nach Denkart und Sitte mit ihm im gleichen Boden wurzelten. Für den Autor daher keine Gedanken-Mittheilung ohne Accom419

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modation an seine Leser, und für uns, das nachgeborene Geschlecht, kein Verständniss jener Rede ohne Beachtung der Differenz, welche zwischen unserm Standpunkt und dem des biblischen Autors besteht. Alles Locale und Temporale ist abzustreifen, soll das allgemein Gültige und Bleibende erkannt, der Buchstabe, die werthlose Schlacke des Orts und der Zeit, ist abzustossen, soll das unveräusserliche Gold der Wahrheit gewonnen werden. Dieses Bleibende aber ist – mit Semlers Worten zu reden – „was zu unserer moralischen Ausbesserung dient“; die Wahrheit des Christenthums liegt „in neuen besseren Grundsätzen von innerer Verehrung Gottes.“ Es wird in unseren Tagen kaum Solche geben, welche diese Anschauungen noch ungetheilt sich aneignen mögen. Die Frucht ihrer Auslegung würden, wie treffend gesagt ward1 „nur flache Notizen“ sein, „eine Gallerie von Zeiterkenntnissen, in Mitten der Thron der Vernunft, um welchen alle Wellen spielen und an welchem alle Wellen sich brechen.“ Und wird überhaupt von streng historischer Schrifterklärung sich reden lassen, wenn wie hier eine von aussen entlehnte Weltanschauung dem Urtheil des Interpreten vorschnell Schranken setzt und damit eine rein aus historischen und scientifischen Prämissen erwachsene Prüfung nahezu zur Unmöglichkeit wird? Soll der Gedanke der Schrift correct zum Austrag kommen, so hat der Geist, welcher den Interpreten leitet, niemals ein dem Schriftwort fremder, d. h. nicht der irgend einer Schule zu sein. Warum dürfte er es sein? Immer würde er ja zum Einlegen, nicht zum Auslegen führen. Und warum müsste er es sein? Die Schrift ist ja kein leeres Blatt, welches von aussen her zu beschreiben, ist kein todter Buchstabe, welcher erst künstlich zu beleben ist. Wo dieses Grundgesetz der Hermeneutik seine volle Geltung verliert, wird immer die Objectivität der Untersuchung beeinträchtigt sein; und darum behält der Widerspruch, welchem hier Raum zu geben war, zumeist auch der Kritik gegenüber sein Recht, welche im besonderen Masse die geschichtliche zu sein für sich in Anspruch nimmt, mag dieselbe in ihrer ursprünglichen, reinen Gestalt oder wie nachmals als eine abgeschwächte, moderierte uns entgegentreten. Es ist von hohem Interesse wahrzunehmen und doch zeither fast völlig unbeachtet geblieben2, wie Semlers Ansicht über Entstehung des neutestamentlichen Kanon wesentliche Momente von dem enthält, was nachmals innerhalb der neueren Tübinger Schule zum Ausdruck gelangt, und umgekehrt wie das Resultat der Baur’schen Kritik in gröberen Umrissen schon bei Semler entgegentritt. Wenn Baur zur Hauptaufgabe seiner Lebensarbeit sich die Beantwortung der beiden Fragen setzte, auf welchem Wege es zur Bildung unseres Neuen Testaments kam, und von da aus rückwärts schliessend, wie der eigentliche Gehalt der Lehre und des Lebens Jesus zu normiren sei, so wurden dogmatische Voraussetzungen von ihm vielleicht fern gehalten, aber dafür philosophische Prämissen eingeführt, welche nur energischer zu wirken pflegen. Er will Geschichte erzählen, kennt aber als Historiker kein wirkliches Geschehen, sondern nur einen nothwendigen Process 1 2

Lutz, Hermeneutik, Pforzheim 1849, S. 168. Vergl. aber Tholuck, Artikel Semler in Herzogs R.-E. 2. Aufl. Bd. XIV. S. 114. und Ehrenfeuchter, Christenthum und moderne Weltanschauung 1876. S. 186.

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des Werdens. Von bestimmten Präsumtionen aus wird Zeit gesucht und Zeit gewonnen für einen ununterbrochenen Gedankenprocess. Nach armen, kleinen, jüdischen Anfängen hat sich das Christenthum allmälig zu der Gestalt entwickelt, welche jetzt aus dem Neuen Testamente erkennbar ist. Das Urchristenthum seinem Wesen nach Judenchristenthum, kein Sauerteig, der die Menschheit durchdringen, kein Lebensprincip, das die gesammte Geisterwelt umfassen konnte. Erst Paulus hat den Bruch mit Tempel und Gesetz vollzogen und das Christenthum zur Höhe der Weltreligion emporgehoben, – nicht plötzlich, wie durch magisch wirkende Verkündigung, denn das jüdische Element war eine Schranke, welche nur langsam überschritten werden konnte; wohl aber so, dass er den übrigen Aposteln energisch sich entgegenstellte und einen Gegensatz begründete, der nicht vor Mitte des zweiten Jahrhunderts seinen Ausgleich fand. In dieser folgenreichen Entwickelungsperiode war der Eine Christus thatsächlich zertheilt (1 Corinth. 1, 13.), Einigkeit im Geist (Eph. 4, 3.), ein consensus des apostolischen κήρυγμα nicht zu finden, und nahe am Ausgang dieser Zeit, welche vom Erbtheil der Apostel zehrte, steht die Abfassung der ungleich meisten unserer neutestamentlichen Schriften, der Geistesproducte Solcher, welche über bisher waltende Gegensätze einen versöhnenden Schleier werfen wollten. Wir halten die Vorandeutungen für ganz unverkennbar, welche zu dieser Auffassung der christlichen Urzeit Semler bietet. Hier wie dort am Anfang der christlichen Entwickelung ein Christus, welcher über die Erkenntnisssphäre der Zeitgenossen so wenig hinausging, dass das Specifische seiner Verkündigung selbst den nächsten Jüngern noch verborgen blieb; hier wie dort im Fortgang dieser Entwickelung ein Paulus, durch welchen der Universalismus des Christenthums erst zum Durchbruch kam; und hier wie dort am Ausgang der Entwickelung das Zustandekommen einer Literatur, durch welche die Versöhnung zweier vorher feindlicher Parteien uns verbürgt wird. Mag hierbei die geschichtliche Erkenntniss des Einen, Semler’s, durch den aufkommenden Rationalismus, und die des Anderen, Baur’s, durch die Grundgedanken des Hegelianismus beeinflusst sein, so wird doch Beiden gegenüber gelten, dass die wahre geschichtliche Betrachtungsweise religiöses Leben nicht nach fremden Massstäben messen darf. Dennoch zur Vorstufe besserer Erkenntniss ist Semler’s Theorie geworden, so sehr dass von ihm „der Aufgang der neuen Theologie“ datirt werden mag3. Welch’ nachhaltige Entwickelung ist thatsächlich durch ihn eingeführt; welche tief gehende Wandelung in der Betrachtung des Schriftworts hat mit ihm ihren Anfang genommen! Ward es vorher überwiegend als gegebenes Ganze angeschaut, in sich identisch, weil seine Verfasser in gleicher Weise Antheil am Geiste Gottes haben, so gewöhnt sich von jetzt ab die exegetische Forschung, dieses Wort immer mehr in das Licht seiner eigenen Geschichte zu stellen. Wo diese Forschung als wahrhaft historisch sich erwies, hat sie darin ihre Aufgabe gesucht, die Eigenthümlichkeit der einzelnen Schriften zu erkennen, ohne doch den Begriff der Schrift zu verlieren, und nicht minder den Begriff der Schrift zu erfassen, ohne die Mannigfaltigkeit ihrer Schriften zu übersehen; Einblick zu erlangen in die Strahlenbrechung der Einen Lichtsubstanz, 3

Ehrenfeuchter a. a. O. S. 177.

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in den geschichtlich bedingten Fortschritt neutestamentlicher Lehraussagen, in die individuellen Differenzen, welche an etlichen Punkten selbst zu relativen Gegensätzen werden; mit dem zu reden, welcher vielleicht am erfolgreichsten in dieser Arbeit stand, „statt von vornherein auf eine durchaus unhaltbare Weise Gottes Wort und heilige Schrift zu indentificiren, vielmehr das Wort Gottes in der Schrift zu erkennen“4. Uns dünkt, solche Arbeit hat schon viel zu tiefe Wurzel geschlagen, als dass sie der Kirche des Protestantismus je wieder könnte entrissen werden. Einer Forderung echter Hermeneutik ward dabei, wie wir aussprechen dürfen, mit wachsendem Erfolge Rechnung getragen: der, dass der Interpret in den Geist des Autors sich versenkend zugleich die Tragweite des neutestamentlichen Wortes zu ermitteln und den Inhalt desselben mit der Gegenwart zu verknüpfen sucht. Nicht als ob hierin eine Ueberschreitung der Auslegerpflicht beschlossen läge, sofern Schrifterklärung mit Schriftanwendung verwechselt würde. So gewiss das grammatisch-historische Princip nur als „das negative Regulativ der Auslegung“5 bezeichnet werden muss, so gewiss wird die positive Aufgabe des Exegeten erst dann ihrer Lösung zugeführt, wenn von der Schale nach dem Kern, von dem sprachlichen Gewand nach jenem geistigen Mittelpunkt geleitet wird, „in welchem die Idee in ihrer ewigen Wahrheit leuchtet“6. Denn Gottesgedanken bleibenden Werthes verspricht die Schrift an uns heranzubringen. Die Geschichte, welche sie erzählt, heisst sie als allmälige Verwirklichung göttlicher Rathschlüsse anschauen, welche die Zeit ihrer Erfüllung überdauern; und die Lehre, welche sie vermittelt, soll als Gabe für den inwendigen Menschen gelten. Eben diesen Gottesgedanken auf der Basis grammatisch-historischer Forschung denkend nachzugehen, liess die neuere Schriftinterpretation je mehr und mehr ihre Aufgabe werden, wo sie anders ihre Aufgabe recht verstanden hat. Wie nun, ist solche Arbeit etwa von einem Vorurtheil dictirt? wird sie um deswillen in bestimmten Geleisen gehen müssen und Prätentionen dogmatischer Exegese zu den ihrigen machen? Kein Vorwurf würde ernstlicher den Werth derselben in Frage stellen, kein Einwand kräftiger überhaupt ihr Recht bedrohen. Denn historische Gründe können nicht zu Worte kommen, wo dogmatische das Urtheil des Interpreten gefangen halten. „Den Inhalt der Schrift“, sagt Meyer7 treffend, „nach kirchlicher Voraussetzung zu ermitteln, ist und bleibt, soviel man auch dagegen excipire und clausulire, eine von vornherein bestochene Procedur, bei welcher man hat, ehe man sucht, und findet, was man hat“. Wohl steht die evangelische Schriftauslegung in innerem Zusammenhang mit der dogmatischen Erkenntnis der Kirche. Weil Christus so wenig wie die Apostel fertige Formeln boten, nach welchen der Christ in den Wirren nachfolgender Zeiten mühelos zu greifen hätte, sah sich die Kirche vor die Aufgabe gestellt, das mit Christo gesetzte neue Leben in begrifflichem Ausdruck zu fassen, um zu dem Besitz einer in ihr geltenden Lehre hindurchzu4 5 6 7

Bleek, Beiträge zur Evangelien-Kritik, 1846, Vorwort S. XVI. Usteri, Commentar über den Brief an die Galater, Vorrede S. VI. Umbreit, Theolog. Stud. u. Krit. 1832. S. 656. Commentar zum Evang. Matth., Göttingen 2. Aufl., Vorrede S. XII.

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dringen; und wo sie in gottgewollten Bahnen blieb, ging sie zurück zu dem Worte Gottes. Mit dem Inhalt desselben im Glauben geeint, hat sie den theoretischen Process durchlaufen, vor den sie durch das Bedürfniss der Zeit sich gewiesen sah, und am Ausgang desselben stand die Entscheidung, welche wieder das kirchliche Leben beeinflusste, sofern sie zum Band der Gemeinschaft ward8. Aber eben deshalb darf nicht das Abgeleitete am Anfang stehen. Der Process der Auslegung kann von der kirchlichen Lehrnorm nur insoweit sich normiren lassen, als diese selbst nach der Schrift beurtheilt sein, in der Schrift ihr Correctiv finden will. Sind’s Gottesgedanken bleibenden Werthes, Aufschlüsse religiös-ethischer Bedeutung, welche die Schrift uns darzureichen verspricht, so suchen wir den rechten Erfolg ihrer Auslegung, wo der Interpret seinen Geist in lebendiger Wechselwirkung mit dem des Schriftworts erhält. Bleibt doch Congenialität des Exegeten und des Autors nach dem Gesetze aller Hermeneutik Bedingung für correctes Verständniss der fremden Rede. Wer Cicero’s Briefe, wer Vergils Eclogen recht begreifen will, muss, wie Luther fordert, zwanzig Jahre in einem feinen Regiment gestanden, muss mit den Hirten selbst gelebt haben. Wie können nun Gottesmänner, welche auf den Höhen der Menschheit wandelten, voll verstanden werden, wenn der betrachtende Blick über die Niederungen wechselnder Tageserkenntnisse sich nicht zu erheben vermag? Wie werden Schriften, in welchen die göttliche Liebe zu uns redet, rechte Würdigung finden, wenn, die Subjectivität des Interpreten in die Gedanken dieser Liebe einzugehen verwehrt? Ob deren Auslegung dann die psychologische oder die pneumatische oder, was uns mehr anmuthen würde, die religiöse, die theologische genannt werden mag – was ist am Namen gelegen? – zielbewusst, erfolgreich wird sie sein, wenn mit der grammatisch-historischen Erforschung des Schriftworts sich eine vom Geiste der Schrift getragene Arbeit verknüpft, welche in der menschlichen Rede urchristlicher Zeugen das Gefäss göttlicher Gedanken erkennt. – Neue Arbeitszeiten, die uns erschlossen werden, weisen mahnend auf den Ernst der Aufgabe hin, welche uns befohlen ist. Auch der heutige Tag lässt solche Mahnung an Alle ergehen, welche Glieder dieser Hochschule sind. Die Wissenschaft lebt nur in der Arbeit, gedeiht nur durch die Arbeit. Wohl, es macht die Schranke unseres Wesens aus, dass wir nichts nehmen können, es werde uns denn gegeben von oben. Aber nichts giebt Gott dem Menschen fertig. Was wir besitzen wollen, müssen wir erwerben. Des Menschen köstlichste Güter sind Siegespreise. Ich bin gewiss, dass das Ihnen klar vor der Seele steht, meine geehrten Herren Commilitonen. Unsere Universität hat vollen Anspruch auf den Ruhm, eine Stätte treuer Arbeit zu heissen. Behütet von einem edeln Monarchen, welcher in der Sorge für sein Volk seine oberste Pflicht erkennt, und hineingestellt in ein bürgerliches Gemeinwesen, welches in sich selbst den Beweis der Kraft und der Tüchtigkeit trägt, ist sie zu ihren Bürgern der guten Zuversicht, dass sie der Wissenschaft, welcher sie leben, ihre ganze Kraft und treue Hingebung entgegenbringen. Diesen Ruhm, meine Herren, wollen Sie ängstlich wahren, um ihn ungeschmälert auf die zu vererben, welche 8

S. m. Abhandlung über den Begriff des kirchlichen Dogma’s, Jahrbücher für deutsche Theologie 1873. S. 413.

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nach Ihnen kommen. In der Art, wie Sie die Gegenwart nützen, liegt der Schlüssel Ihrer Zukunft. Das Leben ist ein unerbittlicher Richter. Sie haben die Freiheit, von Ihrer Pflicht gering zu denken und dem sich zu entziehen, was Ihres Universitätslebens bester Inhalt ist. Aber nicht der ist wahrhaft frei, welcher keine Schranke kennt und eigenwillig sich über das Gesetz erhebt. Darum nunquam deorsum! Wer des Lebens höchste Güter sich zu eigen machen will, darf nicht stille stehen, noch weniger abwärts gehen. So wollen denn wir, Lehrende wie Lernende, zu ernster, treuer Arbeit unsere Hände in einander legen, und der, welcher der Urquell alles Segens ist, sei mit uns im neuen Studienjahre. – ***

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31. October 1887. Rede des abtretenden Rectors Dr. theol. et phil. Woldemar Schmidt. Bericht über das Studienjahr 1886/87. Hochansehnliche Versammlung! Als ich vor Jahresfrist an dieser Stelle stand, haben wohl Viele von denen, welche in mein neues Amt mich geleiteten, mit mir die Sorge getheilt, dass um schwerer politischer Ereignisse willen dem guten Anfang kein friedereicher, fruchtbringender Fortgang folgen werde; und oft genug wird diese Sorge seitdem wiedergekehrt sein. Dennoch blicken wir heute auf eine ungestörte, ruhige Arbeitszeit zurück, nach Tagen banger Unsicherheit und Schwankens am wenigsten dessen vergessend, der die Geschicke der Völker in seiner Hand hält und zu unserer Säearbeit den Sonnenschein des Friedens gab. Der kleinen Welt unserer Universität ist die andauernde Ordnung im weiten Völkerleben sichtlich zu Gute gekommen. Nicht als wären schmerzliche Verluste von uns fern geblieben. Aber scheide ich jetzt aus dem mir anvertrauten Amte mit kurzer Berichterstattung, so darf ich das verwichene Studienjahr als eine Zeit gedeihlicher Entwickelung bezeichnen. Wir wissen, wem beim Rückblick auf sie der Zoll ehrfurchtsvollster Dankbarkeit darzubringen ist: dem edeln Monarchen, den wir mit freudigem Stolz an der Spitze unseres Staates sehen, und den wir zugleich unsern Allerdurchlauchtigsten Rector nennen dürfen. Denn die Treue, mit welcher König Albert Wissenschaft und Gesittung als wahren Reichthum seines Volkes pflegt, hat von Neuem die Stätte unseres Forschens und Lernens erfahren. Wie unser König und Herr ihr unbehindertes Gedeihen allezeit den Gegenstand seiner Sorge sein lässt, so lenkte derselbe auch in diesem Jahre nach ihr seine Schritte. Der 28. und 29. Januar waren die festlichen Tage, an welchen Seine Majestät in unseren Räumen weilte, um von unseren beruflichen Interessen huldvollst Kenntniss zu nehmen, fünf Vorlesungen unserer Collegen beizuwohnen und unsere Sternwarte eingehend zu besichtigen. Dem letztgenannten Institute wie einem jener Vorträge wurde zugleich die besondere Ehre des Besuches Ihrer Majestät der Königin zu Theil. Den Geburtstag Seiner Majestät hat die Universität in dieser Aula durch einen Actus festlich begangen, bei welchem der Prorector Geheimer Bergrath Dr. Zirkel die Festrede hielt. Mit der gnädigen Fürsorge unseres Landesherrn hat die der Universität zugewendete Thätigkeit des Königlichen Ministeriums des Cultus und öffentlichen Unterrichts nur im Einklang gestanden. Neben Gewährung dessen, was unser akademisches Gemeinwesen alljährlich erheischt, ist sie nicht am wenigsten auf Zuführung neuer Lehrkräfte gerichtet gewesen. Zu lebhaftestem Danke verpflichtet uns das Wohlwollen und die Energie, in welcher die hohe Behörde unsre Interessen gewahrt hat. 425

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Elf Jahre hindurch hatten wir das Glück, die hohe Staatsregierung durch Herrn Kreishauptmann Otto Georg Grafen zu Münster unter uns vertreten zu sehen. Der Zeitraum war lang genug, in den manichfaltigsten Lagen die warme Theilnahme uns erkennen zu lassen, in welcher derselbe Bedürfnissen und Wünschen der Universität förderlich und auch uns persönlich zugethan war. Nur mit aufrichtigstem Bedauern konnte uns daher die Nachricht erfüllen, dass Graf zu Münster aus Gesundheitsrücksichten für den 1. October Enthebung von den ihm anvertrauten Aemtern erbeten habe. Noch ehe Urlaub und Ferienzeit gemeinsamem Wirken ein Ziel setzte, gaben am 10. Juli der Rector und die Decane der Dankbarkeit Ausdruck, zu welcher die Universität gegen den Scheidenden sich dauernd verpflichtet fühle; und heute, wo derselbe nicht mehr in unserer Mitte weilt, sind wir bei ihm mit dem Wunsche, dass nach einem Leben in hingebender Treue und Arbeit ihm noch lange Jahre der Ruhe beschieden seien. Mit dem Amte eines Königlichen Regierungsbevollmächtigten wurde von Seiner Majestät dem König Herr Kreishauptmann Georg Otto von Ehrenstein betraut. Wir haben die Ehre, denselben hier zum ersten Male zu begrüssen. Unser volles Vertrauen und wohlbegründete Hoffnungen für unsere Universität bringen wir ihm entgegen. Wende ich mich jetzt den Veränderungen zu, welche in dem Lehrkörper der Universität stattgefunden haben, so gedenke ich zuvörderst der Verluste, welche auch im letztverflossenen akademischen Jahre uns nicht erspart bleiben sollten. Drei Amtsgenossen sind durch den Tod uns entrissen worden. Am 6. März starb nach längerem Leiden der ausserordentliche Professor in der medicinischen Facultät Dr. med. et phil. Karl Heinrich Wilhelm Reclam. 1821 in Leipzig geboren, ist der Verewigte lebenslang mit unserer Stadt und vierzig Jahre hindurch amtlich mit unserer Universität verbunden gewesen. Seine Bestrebungen auf dem Gebiete der Gesundheitslehre haben seinen Namen weithin bekannt gemacht; edle Uneigennützigkeit bei Ausübung des ärztlichen Berufes wird ihn bei Vielen unvergessen sein lassen. Nicht lange nach Beginn des Sommer-Semesters wurden in rascher Folge zwei andere Collegen von ihrem Arbeitsfelde abgerufen. Am 18. Mai verschied ferne von uns, zu Vaihingen in Württemberg im Hause seiner Mutter, der ausserordentliche Professor in der medicinischen Facultät und erste Assistent am pathologischen Institute Dr. med. Carl Huber. Die Beförderung zur Professur und eine während der Osterferien unternommene wissenschaftliche Reise nach Alexandrien sollten für ihn die letzten Lebensfreuden sein. Eine schnell sich entwickelnde Krankheit knickte sein Leben, als es kaum bis zur Mitte seiner Tage gekommen war. Aber die aufopfernde, unermüdliche Treue, in welcher der früh Vollendete die Studien unserer jungen Mediciner förderte, hat es für Viele in sonderlicher Weise fruchtbringend und gewinnreich gemacht. Am folgenden Tage entschlief im 56. Lebensjahre der ordentliche Professor in der juristischen Facultät, Geheimer Hofrath Dr. jur. Johann Ernst Otto Stobbe. In ernster Gedächtnissfeier haben wir am 28. Juni als dem Geburtstag des Heimgegangenen hier unter dem Wort des derzeitigen Decans der juristischen Facultät, 426

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Geheimen Hofraths Dr. Friedberg, gestanden, um das Bild des hervorragenden Gelehrten, des einflussreichen akademischen Lehrers, des treuen, für Viele unersetzlichen Freundes an unserer Seele vorübergehen zu lassen. Wir halten es fest in dankbar ehrender Erinnerung. Und nicht blos wir, die jetzt Lebenden. Stobbe hat wie in der Geschichte seiner Wissenschaft so im Andenken unserer Universität sich ein Denkmal gesetzt, das noch zu späten Geschlechtern reden wird. In nicht wenigen unserer Collegen liess das verwichene Jahr leider den Entschluss reifen, aus Gesundheitsgründen Enthebung von Amtspflichten, insbesondere von der Leitung der ihnen unterstellten Institute zu erbitten. Für die Zeit vom 1. April an ward diese Bitte gewährt dem ordentlichen Professor in der philosophischen Facultät, Geh. Rath Dr. phil. et med. Wilhelm Hankel und dem ordentlichen Professor in der medicinischen Facultät, Geh. Medicinalrath Dr. med. Karl Sigmund Franz Credé; weiterhin vom 1. Mai an dem ordentlichen Professor in der philosophischen Facultät, Geh. Hofrath Dr. phil. et med. August Schenk und vom 1. October an dem ordentlichen Honorarprofessor in der philosophischen Facultät Dr. phil. Wilhelm Knop. Mit dem lebhaftesten Bedauern sahen wir die hochverehrten Männer aus Aemtern scheiden, welche sie Jahrzehnte hindurch zur Ehre deutscher Wissenschaft und zum Ruhme unserer Universität ihre Kraft gewidmet haben. Aber unsere Freude ist, dass sie persönlich mit uns verbunden bleiben, und unser Wunsch und unsere Hoffnung ist, dass sie, soweit es ihre Körperkraft gestattet, auch ferner die Schätze ihres Wissens in den Dienst unserer Studirenden stellen. Ein akademischer Lehrer ist mit dem erbetenen Rücktritt uns auch äusserlich entrückt worden: der lector publicus der Musik, Professor Dr. phil. Hermann Langer, welcher gleichfalls am 1. October seiner zeitherigen Functionen enthoben worden ist. 45 Jahre lang hatte er des ihm gewordenen Lehrauftrags erfolgreich sich angenommen, als Organist zu St. Pauli und Universitäts-Musikdirector um die musikalische Leitung unserer Gottesdienste und unserer Feste sich namhafte Verdienste erworben und vor Allem als Director unseres Universitäts-Sängervereins die ganze Frische seines für die Kunst begeisterten, mit der Jugend fühlenden Herzens an den Tag gelegt. Möchten ihm in Dresden, seiner neuen Heimath, Jahre ungetrübter Ruhe bescheert sein. Und noch andere Collegen sind aus unserem Verbande ausgeschieden. Aus der theologischen Facultät ist der ausserordentliche Professor Lic. theol. Dr. phil. Friedrich Loofs als ausserordentlicher Professor an die Universität Halle berufen worden; aus der juristischen der Privatdocent Dr. jur. Theodor Kipp als ausserordentlicher Professor gleichfalls an die Universität Halle, und aus der philosophischen Facultät der ausserordentliche Professor und erste Assistent am chemischen Laboratorium Dr. phil. Carl Bischoff als ordentlicher Professor an das Polytechnikum zu Riga. Wir missen die Genannten hinfort nur ungern, freuen uns aber mit ihnen, dass sie in einen weiteren und höheren Wirkungskreis eingetreten sind, und hoffen, dass sie auch da unserer Universität und uns persönlich ein treues Andenken bewahren werden. Doch nicht blos von Verlusten, welche wir erlitten, habe ich zu berichten; auch zahlreicher und namhafter Erwerbungen habe ich vor Ihnen zu gedenken. Mit Beginn des Sommer-Semesters traten bei uns ein der mit uns schon früher verbundene Dr. phil. Friedrich Carl Brugmann, bisher ordentlicher Professor an der Universität 427

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Freiburg, als ordentlicher Professor der indogermanischen Sprachwissenschaft und Dr. med. Paul Zweifel, bis dahin ordentlicher Professor an der Universität Erlangen, als ordentlicher Professor und Director des Instituts für Geburtshülfe und Frauenkrankheiten. Am Anfang dieses Semesters aber sind zu uns gekommen Dr. jur. et theol. Rudolf Sohm, zeither ordentlicher Professor an der Universität Strassburg, an Stelle des uns durch den Tod entrissenen Collegen Dr. Stobbe; Dr. phil. Wilhelm Pfeffer, bis dahin ordentlicher Professor an der Universität Tübingen, als ordentlicher Professor der Botanik und Director des botanischen Gartens; Dr. phil. Wilhelm Ostwald, vordem Professor der Chemie am Polytechnikum zu Riga, als zweiter ordentlicher Professor für Chemie und Director des zweiten chemischen Instituts. In die durch Dr. Langers Weggang erledigten Aemter ist Professor Dr. phil. Hermann Kretzschmar, zeither akademischer Lehrer der Musik zu Rostock, berufen worden. Wir begrüssen die verehrten Männer, insbesondere die, welche jetzt erst ihre Wirksamkeit begonnen haben, mit dem aufrichtigen Wunsch, dass Leipzig ihnen eine liebe Heimath und unsere Universität für lange Jahre eine Stätte reicher Aussaat wird. Von unseren Leipziger Collegen wurde für die Zeit vom 1. April an Geheimer Hofrath Professor Dr. phil. et med. Gustav Wiedemann zum ordentlichen Professor der Physik und Director des physikalischen Instituts ernannt. Zu ordentlichen Honorar-Professoren sind befördert worden die ausserordentlichen Professoren in der medicinischen Facultät Geheimer Medicinalrath Dr. med. Benno Gottlob Schmidt und Dr. med. Richard Leonhard Otto Heubner, der Letztere zugleich unter Ertheilung des Lehrauftrags für Pädiatrie. Zu ausserordentlichen Professoren dagegen wurden ernannt in der theologischen Facultät Lic. theol. Dr. phil. Friedrich Loofs, der jedoch inmittelst schon ausgeschieden ist, und Lic. theol. Dr. phil. Paul Ewald; in der medicinischen Facultät der Professor Dr. med. Richard Altmann und Dr. med. Carl Huber, welcher seitdem durch den Tod uns genommen ward; in der philosophischen Facultät Dr. Ernst Hasse, der jüngst weggerufene Dr. Carl Bischoff und Dr. Bruno Lindner. Habilitationen haben in der juristischen, der medicinischen und der philosophischen Facultät stattgefunden. In die erstgenannte sind als Docenten eingetreten Dr. jur. Arthur Benno Schmidt für die Fächer des deutschen Rechts, Dr. jur. Theodor Kipp, inmittelst nach Halle berufen, für römisches Recht, Dr. jur. Friedrich Stein für beide Processe und Strafrecht und Dr. jur. Richard Carl Bernhard Schmidt für Civilprocess. In der medicinischen Facultät habilitirte sich der Assistenzarzt an der mit der chirurgischen Klinik vereinigten Poliklinik Dr. Karl Hermann Karg; und in die philosophische Facultät traten ein Dr. H. Wenzel für vergleichende Sprachwissenschaft, Dr. Georg Erler für Geschichte, Dr. August Huber für orientalische Sprachen, Dr. Walther König für Physik, Dr. Alfred Hettner für Geographie und Dr. Alfred Odin für romanische Sprachen. Es kann nur hocherfreulich sein, dass junge zukunftsreiche Kräfte unser Katheder zum Ausgangspunkt ihres akademischen Wirkens wählen. Wir heissen darum auch diese neuen Collegen unter unseren besten Wünschen willkommen. Inwieweit die Leitung unserer akademischen Institute durch die in unserem Lehrkörper stattgehabten Veränderungen berührt worden ist, erhellt aus meinen 428

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vorigen Mittheilungen. Zur Ergänzung habe ich beizufügen, dass Geheimer Hofrath Dr. Wiedemann im Sommer-Semester wie bisher auch das physicalischchemische Laboratorium geleitet hat; dass für dasselbe Semester mit der Leitung des botanischen Gartens Dr. phil. Alfred Fischer und mit der des botanischen Laboratoriums Dr. phil. Hermann Ambronn beauftragt waren, und dass die Direction der kirchlich-archäologischen Sammlung mit Professor Loofs’ Weggang bis auf Weiteres in die Hände des Lic. theol. Dr. phil. Caspar René Gregory gelegt worden ist. Das bisherige landwirthschaftlich-physiologische Institut, welches sich am Kuhthurme befand, und das agricultur-chemische Institut sind mit einander vereinigt worden und das aus der Verschmelzung beider hervorgegangene neue agriculturchemische Institut, welches unter der Leitung des Professor Dr. Stohmann steht, hat in den Räumen des früheren physikalisch-chemischen Instituts seine Heimath gefunden. Knüpfe ich hieran Mittheilungen über die im letzten Jahre vollzogenen Promotionen, so habe ich zwei Ehrenpromotionen zu verzeichnen, welche von der juristischen Facultät vollzogen wurden. Ihren höchsten Ehrengrad verlieh dieselbe dem Herrn Reichsgerichtsrath Wilhelm Hermann Heinrich Langerhans und dem Königlichen Regierungsbevollmächtigten Grafen zu Münster, welchen wir nunmehr trotz seines Scheidens Einen der Unseren nennen dürfen. Die medicinische Facultät promovirte honoris causa den practischen Arzt Christian Heinrich König in Liebstadt. Rite promovirt wurden im Ganzen 376 Personen. Die theologische Facultät verlieh die Würde eines Doctors ein Mal und die eines Licentiaten zwei Mal; zu Doctoren beider Rechte wurden 57 promovirt, zu Doctoren der Medicin 194, und zu Doctoren der Philosophie 112, während die Zahl der Meldungen bei dieser Facultät 144 betrug. – In ihrem äusseren Besitzstande ist die Universität, wie wir mit freudigem Danke sagen dürfen, nicht ohne Bereicherung geblieben. Denn zu den zahlreichen Neubauten, über deren Vollendung alljährlich berichtet werden konnte, hat sich ein stattliches Gebäude gesellt, welches an der Ecke der Nürnberger- und Liebigstrasse aufgerichtet ward. Das pharmakologische Institut und die Universitäts-Polikliniken, für welche es bestimmt ist, werden es voraussichtlich noch im Laufe des neuen Monats in Benutzung nehmen. Zum Neubau der Universitäts-Bibliothek ist während des Sommers mit den Gründungsarbeiten begonnen worden. Nicht unwichtig ist auch die unter Vorbehalt Ständischer Genehmigung erfolgte Erwerbung der alten Buchhändler-Börse. Damit ist das Areal der vormaligen Bursa Bavarica wieder an die Universität gekommen, und zugleich der umfängliche Grundbesitz an der Ritterund Göthestrasse in wünschenswerther Weise arrondirt worden. Der Pietät eines früherhin in Leipzig Studirenden, der seinen Namen bei seinen Lebzeiten zu verschweigen uns zur Pflicht gemacht hat, haben wir eine Schenkung im Betrage von 5000 Mark zu danken. Die Erträgnisse des Capitals sollen nach dem Tode des Stifters zu Stipendien verwendet werden, welche der Senat an würdige und bedürftige, mit den Aeltern des Stifters verwandte oder, in Ermangelung solcher, an andere, vorzugsweise aus Leipzig gebürtige Studirende unserer Universität zu vergeben hat. In den letzten Wochen meines Rectorates hatte ich noch die 429

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Freude eine neue Convictstelle errichtet zu sehen. Die Wittwe eines hier verstorbenen Rechtsanwaltes, welche ungenannt bleiben will, hatte uns zu diesem Zweck im Sinne ihres Ehegatten 5000 Mark offerirt. Nachdem der akademische Senat diese Stiftung angenommen und solche Seiten des Königlichen Ministeriums Genehmigung gefunden hatte, war es mir eine besonders angenehme Pflicht, der wohlthätigen Stifterin unsern Dank zum Ausdruck zu bringen. Ueberdem sind Zuwendungen zu Gunsten der so genannten Privatfreitische uns von Mitgliedern und Freunden der Universität auch im letztverwichenen Jahre gemacht worden, in sonderlich dankenswerther Weise wieder von dem hier bestehenden Hessenverein und dessen Vorsitzendem, Herrn Philipp Batz. Je mehr wir bei Stipendien-Verleihungen stiftungsgemäss an Solche gewiesen sind, welche dem sächsischen Staatsverbande angehören, desto erfreulicher ist’s für uns, Mittel in unsere Hände gelegt zu sehen, welche auch Nichtsachsen zu Gute kommen können. Die grossartige Stiftung unseres verewigten Collegen Albrecht liess von Neuem 13,300 Mark zur Verwendung bringen, nach Vorschrift ihres Statuts theils zur Unterstützung wissenschaftlicher Reisen theils zu sonstiger Förderung wissenschaftlicher Arbeiten. Richteten wir vorhin den Blick auf den Kreis der Docenten, so trat uns das Bild eines nicht eben gewöhnlichen Wechsels entgegen. Es fehlte aber auch nicht an Tagen, welche des Kommens und Gehens uns vergessen und Solcher gedenken liessen, welche an einem besonderen Marksteine ihres Amtslebens unter uns angekommen waren. Auf die Höhe eines seltenen Erinnerungstages sah sich unser verehrungswürdiger Senior, Geheimer Rath Dr. Drobisch, am 8. December gestellt, wo seit seiner Ernennung zum ordentlichen Professor an unserer Universität sechszig Jahre verflossen waren. Nur dem ausdrücklichen Wunsch des Herrn Jubilars sind wir gefolgt, wenn wir Kundgebungen dankbarer Verehrung zurückgehalten haben. Aber uns Allen wird gegenwärtig gewesen sein, was beim Rückblick auf diese inhaltreiche Vergangenheit sich von selbst auf die Lippen gelegt haben würde. – Zwei unserer Collegen durften unlängst auf ein 25jähriges Wirken im hiesigen Ordinariate zurückschauen: am 11. März Dr. Hermann Masius und am 10. Juni Dr. Adolf Ebert. Collegen, Freunde, Schüler haben in manichfacher Weise ihre Treue und Dankbarkeit ihnen an den Tag gelegt. Das Andenken zweier Männer, welche bis vor wenig Jahren unter uns als Zierden ihrer Wissenschaft gestanden haben, ehrte die Pietät ehemaliger Schüler; denn am 20. November ward im grossen Hörsaal des chemischen Laboratoriums eine von Johannes Schilling’s Meisterhand geschaffene Büste Dr. Hermann Kolbe’s, und am 30. Juni auf der Ruhestätte Dr. Georg Curtius’ ein mit dem Medaillon des Verewigten geschmücktes Denkmal enthüllt. – Sehen wir hinüber über den Kreis der Docenten. Aus der Verwaltung unserer Bibliothek ist mit dem 1. October in Folge eines ehrenvollen Rufes an die Königliche öffentliche Bibliothek zu Dresden der Bibliothekar Dr. phil. Ernst Bruno Stübel ausgeschieden, ein in achtzehnjähriger Arbeit bewährter, von uns aufrichtig werthgeschätzter Beamter. Die erledigte Stelle hat ihre Besetzung gefunden, indem die Custoden und Assistenten in die entsprechend höheren Stellen aufgerückt sind, und 430

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die Stelle eines vierten Assistenten dem Dr. phil. Otto Günther übertragen worden ist. Dabei wurde der nunmehrige erste Assistent Dr. phil. Wilhelm Sieglin zum Custos bei dem Münzkabinet ernannt. Durch den Tod wurde am 16. Mai ein Mann abgerufen, welcher länger als dreissig Jahre mit uns verknüpft gewesen war: der Universitäts-Buchhändler und -Buchdrucker Bacc. jur. Alexander Edelmann, im Universitätsverbande wie als Bürger unserer Stadt gleich hochgeachtet. Dem Sohne, als dem nunmehrigen Inhaber der Firma, Herrn Victor Edelmann, haben wir übertragen, was den Verewigten zu einem von der Universität Prädicirten werden liess. Einem unserer Universitäts-Beamten, dem Quästor Carl August Beer, war am 1. August die Feier des Tages vergönnt, an welchem ihm vor 25 Jahren eine erste Anstellung im Universitäts-Rentamt zu Theil geworden war. Wir gedachten dankbar der Gewissenhaftigkeit und Umsicht, mit welcher derselbe seines verantwortungsreichen, schwierigen Amtes wartet. Oberpedell Friedrich Emil Rühle ist am 1. Juli in den wohlverdienten Ruhestand getreten, ein Mann, welcher durch langjährige Berufstreue und durch tactvolles Verhalten gegen die Studirenden sich unsere Anerkennung erworben hat und darum gewiss sein kann, dass seine Dienstleistungen in freundlicher Erinnerung bleiben. Vom Plenum der ordentlichen Professoren war bereits der Beschluss gefasst worden, in die vacant werdende erste Pedellstelle den Pedell Johann Wilhelm Dietrich aufrücken zu lassen, als dieser nach kurzer Krankheit am 19. Juni verstarb. Die ihm zugedachte Beförderung sagt schon, dass er das Lob eines zuverlässigen, gewissenhaften Dieners genoss. Zum ersten Pedell wurde nunmehr, für die Zeit vom 1. October an, der Pedell Carl Heinrich Just ernannt; zum zweiten der frühere Hülfspedell und Gerichtsdiener Gustav Albert Starke, und zum dritten Pedell Gustav Martin, bis dahin Diener der philosophischen Facultät. Hülfspedell und Gerichtsdiener wurde Paul Schade, vordem Vicefeldwebel bei einem der hiesigen Regimenter. – Anlangend die Frequenz der Universität, die Statistik unserer Studirenden, habe ich leider mitzutheilen, dass 9 von ihnen durch den Tod hinweggenommen wurden. Die Zahl mag nicht gross sein im Vergleich zu den Vielen, welche hier ein- und ausgehen; aber sie umschliesst eine Fülle von Hoffnungen, welche Angehörige und Vaterland mit unseren jungen Freunden begraben haben. Die Gesamtziffer der während meines Amtsjahres Immatriculirten belief sich auf 1871. Von ihnen wurden im Anschluss an die Winterinscription meines Herrn Vorgängers noch 241 aufgenommen; während des Sommer-Semesters 877, und während der beiden letztvergangenen Wochen 753. Unter diesen jetzt zu uns Gekommenen gehören 144 der theologischen Facultät an, 283 der juristischen, 139 der medicinischen und 187 der philosophischen Facultät. Im Winter-Semester betrug die Zahl der rite Immatriculirten 3251, nämlich 1397 Sachsen und 1854 Nichtsachsen; im Sommer-Semester dagegen 3076, darunter 1445 Sachsen und 1631 Nichtsachsen1. 1

Dahin will die „Hauptübersicht“ des letzten Personal-Verzeichnisses (S. 119.) berechtigt sein.

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Woldemar Schmidt

Von ihnen haben 636 Abgangszeugnisse genommen. Sind nun in diesem Winter, wie bemerkt, 753 neu zugezogen, so ergiebt sich für den heutigen Tag ein Bestand von 3193 rite Immatriculirten. Vergleichen wir die gemachten Angaben mit dem, was wir vor Jahresfrist von dieser Stelle aus erfuhren, so finden wir, dass die Zahl unserer Studirenden während des letzten Winters hinter der des vorausgehenden um 37 zurückblieb; dass sie dagegen im vorigen Sommer um 16 höher war als im Sommer 1886, und dass der gegenwärtige Bestand dem des 31. October 1886 um 67 nachsteht. Des gestrigen Sonntags wegen war die Immatriculation unter meinem Rectorate einen Tag früher als im Vorjahre abzuschliessen, und daher lässt sich sagen, dass die Frequenz auch während meiner Amtirungszeit ungefähr auf der Linie geblieben ist, welche sie in den letzten Jahren eingehalten hat. „Solch’ ein ruhiger und gesicherter Bestand ohne grosse Schwankungen ist“, wie mein Herr Amtsvorgänger gewiss mit Recht gesagt hat, „in der That das Erwünschteste, was uns zu begegnen vermag, und bei einer Universität, welche wie die unsrige von jeher in der Tüchtigkeit ihrer Lehrer, in der Arbeitsamkeit und dem Wohlverhalten der Studirenden, sowie namentlich auch in dem gegenseitigen fruchtbringenden Verkehr dieser beiden Factoren ihre Stärke gesucht hat, kann ein Stillstand in der Zahl der Immatriculirten keineswegs als ein Rückgang in der Erfüllung ihrer Bestrebungen gelten.“ Zur besonderen Freude und Befriedigung gereicht es mir auszusprechen, dass das sittliche Verhalten unserer akademischen Jugend auch im verwichenen Jahre den schönen Traditionen unserer Universität treu geblieben ist. Ich sage damit nicht, dass unser Disciplinargericht von strengeren Massnahmen abzusehen jederzeit in der Lage gewesen sei. Vielmehr waren wir in einem Fall veranlasst, eine Entfernungsstrafe und in zwei Fällen Androhung einer solchen auszusprechen. Ueber eine seit langen Jahren in Activität bestehende Kategorie studentischer Corporationen musste am Ausgang des Winter-Semesters die durch das Gesetz geforderte Strafe zeitweiliger Aufhebung verhängt werden. Aber ich bin weit davon entfernt, derartige ernstere Erfahrungen massgebend werden zu lassen für ein Urtheil über die Haltung unserer gesamten Studentenschaft. Wenn ich heute auf mein Amtsjahr frohen Herzens zurückschauen darf, so danke ich das nicht am wenigsten der sittlichen Tüchtigkeit derer, welche mit uns als ihren Lehrern verbunden sind: dem Vertrauen, mit welchem sie mir und meinem Worte begegneten, dem wissenschaftlichen Streben, welches unter uns eine feste Heimath behielt, der lebendigen Begeisterung für Kaiser und Reich, für König und Vaterland, welche wiederholt und zumeist in den Abendstunden des 18. Januar edeln Ausdruck gewann. Commilitonen, glauben Sie mir, die Erinnerung hieran wird in mir unauslöschlich sein; aber sorgen Sie ängstlich dafür, dass auf eine spätere Generation unverkümmert übergeht, was jetzt der mater Lipsiensis Schmuck und Freude ist. Ich bin am Ende meiner Berichterstattung. Nur wollen Sie, meine hochgeehrten Herren Collegen, mich noch ein rückhaltloses Bekenntniss vor Ihnen ablegen lassen: was ich in meinem Verwaltungsjahre etwa geleistet habe, wäre mir nicht möglich gewesen ohne die Gewissheit, in Ihrem Vertrauen zu stehen, und noch weniger möglich ohne Ihre thatkräftige Unterstützung. Darum reiche ich Ihnen im Geiste 432

Jahresbericht 1886/87

jetzt die Hand zum Danke, unsere Arbeit im Dienst unserer Hochschule zugleich dem befehlend, welcher jedes gute Werk zu fördern verheissen hat. Hierauf berichtete der Rector über den Erfolg der Bewerbung um die ausgeschriebenen akademischen Preise und verkündete die von den Facultäten für das neue Jahr gestellten Themata. Für Beides wird auf das betreffende besondere Programm vom 31. October verwiesen. Schliesslich erfolgte die Vereidigung des neuen Rectors und die Uebergabe der Amtsinsignien an denselben. ***

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Otto Ribbeck (1827–1898)

31. October 1887. Rede des antretenden Rectors Dr. phil. Otto Ribbeck. Aufgaben und Ziele einer antiken Litteraturgeschichte. Hochansehnliche Versammlung! Die einleitenden Worte, mit welchen der neugewählte Rector sein Amt antritt, pflegen der wissenschaftlichen Aufgabe zu gelten, zu der er verpflichtet ist und sich durch innere Neigung berufen glaubt. Als einer der Arbeiter in dem weiten Gebiet der classischen Alterthumswissenschaft suche ich die Erkenntniss des antiken Menschen und seines Lebens an meinem Theile zu fördern. Wenn die Geschichte überhaupt den Anspruch machen darf, mit der Fackel der Vergangenheit die Gegenwart zu beleuchten, so ist der Erforschung des Griechen- und Römerthums in erster Linie seit Beginn unseres wissenschaftlichen Lebens diese belehrende und erziehende Wirkung zuerkannt worden, und wird ihr hoffentlich zugestanden werden, so lange der historische Sinn über banausische Verächter oder in die Luft bauende Weltverbesserer die Oberhand behalten wird. Denn die griechisch-römische Geistescultur ist die Grundlage und das Ferment aller späteren Bildung geworden. Ohne auf jene zurückzublicken können wir diese, können wir uns selbst nicht verstehen. Beide Völker haben in einem abgeschlossenen Entwicklungsgange die ihnen verliehene Kraft vollkommen ausgebildet, so dass das Ergebniss ihrer welthistorischen Mission klar vor unseren Augen liegt; sie haben ewige Ideen, zu deren Verwirklichung sie berufen waren, in reinen, scharfen Zügen ausgeprägt, haben leuchtende Vorbilder und Normen geschaffen, welche nicht binden, sondern befreien und begeistern. Um ihre Hinterlassenschaft auszunützen, suchen wir uns bis ins Einzelne zu vergegenwärtigen, wie jene höchstbegabten Vorfahren, denen wir uns stammverwandt fühlen, gelebt, gedacht, empfunden, was sie gewollt und geschaffen haben. Aber wir graben auf einem Trümmerfeld, und weil wir von der alten Herrlichkeit soviel als möglich wieder aufbauen möchten, so dürfen wir das Einzelne und Kleine nicht verwerfen, weil wir nicht wissen können, welche Lücke auch das unscheinbarste Steinchen einmal auszufüllen vermöchte. Die Philologie darf sich der bescheidenen Sorgfalt einer sparsamen Verwalterin nicht schämen, welche nichts umkommen lässt, ohne deshalb im Kehricht zu versinken. 435

Otto Ribbeck

Von allen Denkmälern jener überreichen Vorwelt sind und bleiben aber die Schriften die beredtesten Zeugnisse des antiken Geistes: sie müssen fort und fort als der unverrückbare Mittelpunkt für das philologische Studium gelten. Mag es mehr und mehr gelingen, die Ruinen ganzer Städte wieder aufzufinden, Nekropolen aufzudecken, Goldschätze und herrliche Bildwerke ans Licht zu schaffen: Alles wird doch erst recht geniessbar und lehrreich durch die Erläuterungen, welche die litterarischen Quellen bieten; ja wenn auch kein einziger, greifbarer Ueberrest des Alterthums unserer Anschauung zu Hülfe käme, so würde doch sein hehres Bild vor unserem inneren Auge zwar minder ausgeführt und in vielen Einzelheiten unklarer dastehn, aber in den wesentlichen Umrissen nicht unvollständiger. Die Litteratur allein trägt uns in den vollen Strom der geistigen Bewegung, in ihr schlägt das Herz der Nation. Diesen Strom von seiner Quelle aus zu verfolgen, seine Zuflüsse zu verzeichnen, jede Welle zu betrachten, die genialen Menschen, welche ihn geleitet und gespeist haben, neu zu beleben, ihre Schöpfungen zur Anschauung zu bringen, ist eine reizvolle und noch lange nicht erschöpfte Aufgabe. Sie wird für den classischen Philologen überaus erschwert durch die schon berührte Unvollständigkeit der Ueberlieferung. Während der Litterarhistoriker neuerer Zeiten gewöhnlich nur ins Volle zu greifen braucht, um seine Bilder saftig und plastisch zu gestalten, Thatsachen festzustellen und Beziehungen aufzudecken, hat der des Alterthums nur zu oft die einzelnen Stifte zu einem mühseligen Mosaikgemälde von allen Enden her zusammenzusuchen; das gebotene dürftige und oft unzuverlässige Material erfordert die sorgfältigste Prüfung, und zur Ergänzung der Lücken ist manche Hülfslinie nöthig. Aber die Noth hat zur Tugend der kritischen Methode geführt und die classische Philologie darf sich rühmen, hierin der gesammten Geschichtswissenschaft wegweisend vorangeschritten zu sein. Ich will es versuchen unser Geschäft und dessen Ziele in seinen einzelnen Stadien kurz andeutend zu schildern. Vorgearbeitet haben uns ja die Alten selbst, aber ihre mannigfaltigen, einst sehr umfangreichen Aufzeichnungen besitzen wir nur zum allerkleinsten Theil, meist in verstreuten Brocken und Excerpten aus zweiter und dritter Hand. Gewiss wäre zu wünschen, dass die Bruchstücke der litterarhistorischen Schriften der Griechen und Römer in einer kritischen Sammlung bequem vereinigt würden. Aber besässen wir auch den ganzen Schatz unversehrt, so würde doch diese Quelle der Belehrung unserem Bedürfniss nur mässig genügen, denn die Kunst der Forschung war noch unentwickelt, und viele Fragen, die wir zu stellen haben, lagen dem Gesichtskreis der Alten fern oder wurden grade durch die Nähe der Gegenstände von selbst erledigt. Für chorische Lyrik und Dramen könnten uns amtliche Aufzeichnungen, Siegerlisten u. dgl., wenn sie vollständig erhalten wären, ein unschätzbares, chronologisch gesichertes Gerüst bieten, aber nicht mehr. Auf dieser Grundlage hat nach dem Abschluss der classischen Periode Aristoteles sein berühmtes Urkundenbuch der Didaskalien aufgebaut, dessen leider zu spärliche Reste die festen Stützen für combinatorische Schlüsse bieten. In geselliger Unterhaltung spielten von Alters her litterarische Fragen eine grosse Rolle: natürlich war die Beantwortung oft mehr witzig und sinnreich improvisirt als gründlich. Die Wissbegierde über Schriftsteller war 436

Antrittsrede 1887

vor Allem auf das Persönliche gerichtet, ihre Herkunft, ihre Lehrer Schüler Freunde Widersacher. Welche Männer gleichzeitig auf verschiedenen Gebieten gewirkt oder in demselben Kreise vereinigt gewesen seien, vergegenwärtigte man sich gern, nicht ohne den Zahlen etwas nachzuhelfen, um die gewünschte Gruppirung, den Synchronismos zu erzielen. Solche Improvisationen wurden aufgezeichnet oder Mittheilungen ähnlichen Charakters in dieses anspruchslose Gewand gekleidet. Da sicher beglaubigte Nachrichten über Verhältnisse von Privatleuten, die erst nach und nach zu Namen und Ansehen gelangt waren, in der Regel fehlten und durch mündliche Mittheilungen von Hörensagen ersetzt werden mussten, so wurde in sorglosem Spiel oder bewusster Freude an phantastischer Erfindung, an Klatsch, Spott, Verleumdung oder Vergötterung das Andenken berühmter Männer mit einem Gewebe unverbürgter, oft unmöglicher Fabeleien umsponnen. Die ungezügelte Laune der Komödie, die öffentliche Redefreiheit, Neid und Eifersucht des Nebenbuhlers, die Galle des Satirikers und Pamphletisten ergoss eine Fluth von gut- und bösartigen Lügen grade über die hervorragendsten Persönlichkeiten; auch Lob und Schmeichelei in Poesie und Prosa, Grabreden und Epigramme trugen das ihrige bei. Aus diesem Born von Dichtung und Wahrheit wurden mit entschiedener Vorliebe für das Pikante jene alten Biographien zusammengebraut, nicht zum Zweck ernster Belehrung, sondern zur Unterhaltung, deren beliebteste Würze Anekdoten und Apophthegmen bildeten. Nicht einmal der Dialog des Aristoteles über Dichter, ein Jugendwerk in freier Form, verschmähte sie, wenn auch allen Nachrichten, welche auf einen solchen Gewährsmann zurückgeführt werden können, die relativ höchste Glaubwürdigkeit zugeschrieben werden darf. Auch die Entstehung und die Entwickelungsgeschichte einzelner Litterargattungen, besonders der Tragödie und Komödie, beschäftigte die Wissbegier: die Anfänge und die allmäligen Neuerungen suchte man zu ermitteln. Aber viel Unkraut von thörichten Einfällen, missverstandenen Legenden, verworrenen Combinationen hat den Boden glaubhafter Thatsachen überwuchert. Ganze Litteraturgruppen wurden zur Ausfüllung von Lücken erfunden: Mythos und Roman beherrscht besonders die prähistorische Periode. Localer Patriotismus suchte die Ehre sogenannter Erfindung dem Einen streitig zu machen, dem Andern zuzuwenden. Früh erwachte durch die musischen Wettkämpfe die ästhetische Kritik. Eine offene Stätte fand sie auf der komischen Bühne: natürlich muss man die Einseitigkeiten und Uebertreibungen der Caricatur in Rechnung ziehen. Objective Massstäbe der formalen Technik wurden in den Schulen der Rhetoren, Sophisten und Philosophen ausgebildet und eine Kunstsprache von unübertroffenem Reichthum und bewundernswerther Feinheit geschaffen. Den mächtigsten Anstoss zu litterarischen Studien in grossem Stil und weitem Zusammenhange hat bekanntlich die Gründung der alexandrinischen Bibliothek gegeben. Schon die Sichtung und Bezeichnung der angehäuften Schätze, dann die Anfertigung der berühmten Kataloge war eine Arbeit, welche Wissen, Umsicht, Scharfsinn und Genauigkeit in bisher unerhörtem Grade forderte, eben deshalb aber auf den ersten Wurf unmöglich vollkommen gelingen konnte. Ohne klaffende Lücken und vielfache Versehen konnte dieses Werk des Kallimachos nicht zu 437

Otto Ribbeck

Stande kommen: für Nachfolger musste sich durch neue Erwerbungen wie durch erneute Prüfung reichlicher Stoff zu Ergänzungen und Verbesserungen bieten. Keiner unter den alexandrinischen Bibliothekaren hat sich durch litterarhistorische Forschung in weitem Umfang so verdient gemacht als Aristophanes von Byzanz. Besonders werthvoll waren die Einleitungen, welche er zu den einzelnen Dramen der Classiker lieferte, wenn sie auch nur das Nöthigste zur Orientirung enthielten: ausser den amtlichen Angaben über die Aufführung eine Skizze des Mythos, dessen Behandlung bei Vorgängern und das Verhältniss zu ihnen, kurze Bemerkungen über Scenisches, über Charakter und Werth des Stückes. Auch in systematisch angelegten Monographien wurden einzelne Gattungen und Perioden, wie durch Eratosthenes die alte Komödie, gelehrter und umsichtiger als früher durchgearbeitet. Der von den Alexandrinern vernachlässigten prosaischen Litteratur, namentlich den Rednern wandten die pergamenischen Gelehrten ein gründlicheres Studium zu. Nach solchen Vorbereitungen waren zusammenfassende Werke möglich, wie die Theatergeschichte des Juba oder die Geschichte der musischen Künste von dem jüngeren Dionysius aus Halicarnass oder die Schrift des Caecilius aus Kalakte über die zehn attischen Redner. Aber der Stoffreichthum und das Ansehen dieser wie anderer Repertorien ist grade ihr Verderben geworden, denn sie wurden zusammengezogen und geplündert, dann geriethen sie in Vergessenheit: nur Uebersichten und entlehnte Fetzen sind leider erhalten, mag auch aus den Trödelkammern späterer Compilatoren noch mancher werthvolle Lappen zu retten sein. Die Römer sind bei den Griechen in die Schule gegangen. Auch bei ihnen hat die früh von dem pergamenischen Schulhaupt unmittelbar empfangene Anregung zunächst zu dilettantischen, mehr schöngeistigen als gründlichen Versuchen geführt, bis Varro’s universale Arbeitskraft sich auch diesem Gebiete des Wissens zuwandte. Mit richtigem Takt griff er die beiden populärsten Gattungen der heimischen Poesie zu monographischer Erörterung heraus: die Satire, um sie als originale Schöpfung seiner Nation in Anspruch zu nehmen, und die Bühnendichtung, welche gewissermassen abgeschlossen vor ihm lag, aus ihr aber vorzugsweise die Komödie mit ihren mannigfachen Spielarten, und zu besonderer Untersuchung wiederum die plautinischen Komödien, deren bunte Masse der höheren Kritik eine bedeutende, zwar schon von früheren angerührte, aber noch nicht befriedigend gelöste Aufgabe bot. Wie Aristoteles hat er ferner in umfassenderen Werken über Dichter und über Dichtungsarten dort das biographische, hier das Material zur Beschreibung der Gattungen und ihrer Entwickelung zusammengestellt. Aus diesen Schatzkammern vornehmlich haben Spätere ihre beste Weisheit geschöpft, namentlich auch Sueton wenigstens in dem einen Abschnitt seines nach den Kategorien der Dichter, Redner, Geschichtschreiber, Philosophen, Grammatiker und Rhetoren gegliederten Werkes über berühmte Männer, welches neben ausgiebigen Biographien auch zu den einzelnen Büchern der allgemeinen Einleitungen über Anfänge, Fortschritte, Spielarten jeder Gattung nicht entbehrte. Man sieht durch die Anlage noch die Erinnerung an die kallimacheischen Pinakes hindurchschimmern. Wäre das Ganze erhalten, so besässen wir einen brauchbaren Leitfaden durch alle Gebiete der römischen Litteratur mit Ausschluss der Fachgelehrsamkeit bis auf Domitian. Aber nur vom 438

Antrittsrede 1887

letzten Theil ist in authentischer Fassung eine grössere zusammenhängende Partie gerettet, und zwar durch die Hand desselben deutschen Klosterbruders, dem wir das geistvolle Gespräch von den Rednern, ein Kleinod für den Litterarhistoriker, verdanken. Denn grade hier sind, was sonst vermisst wird, die Wandlungen des Geschmackes und der stilistischen Darstellung in Beziehung zu den gesellschaftlichen und politischen Zuständen gesetzt. Man spürt den Blick des echten Historikers und ist von der feinen Charakteristik der geistigen Strömungen um so mehr überrascht, da die alten Geschichtschreiber es sonst in der Regel unter ihrer Würde gefunden haben, der schönen Litteratur Erwähnung zu thun. Auch nach dem Wiedererwachen der humanistischen Studien ist man lange Zeit über die Sammlung von Material und Notizen nicht hinausgekommen. Erst Richard Bentley hat die schöpferisch kritische Methode der Forschung gelehrt, welche zunächst in der Schule der holländischen Hellenisten des vorigen Jahrhunderts, dann in Wolfs Prolegomenen zum Homer so edle Frucht getragen; aber erst seit der classischen Periode unserer eignen Litteratur ist der jetzt so geläufige Begriff einer antiken Litteraturgeschichte als einer der wichtigsten Aufgaben der Philologie fester ins Auge gefasst und mit wachsendem Verständniss gepflegt worden. Wenn ich mich nunmehr anschicke, die Fragen, welche sich der Arbeiter auf diesem Gebiete zu stellen hat, flüchtig zu überschauen, so darf ich, um nicht den Blick zu verwirren, erläuternde Beispiele wohl auf die Poesie beschränken, da die Blüthe der schönen Litteratur auch an ihren Erforscher und Darsteller die feinsten Anforderungen stellt. Die unentbehrlichste Grundlage für alle litterarhistorische Arbeit sind natürlich die Schriften selbst. Hier stösst der classische Philolog sofort auf das bedenklichste Hinderniss: denn was er beschreiben und beurtheilen soll, ist zum grossen Theil entweder ganz verloren, nur durch das eine oder andere Zeugniss bekannt, oder in zerstreuten Anführungen, vielleicht nur in einzelnen Wörtern erhalten, oder doch lückenhaft überliefert, durch den Zahn der Zeit, durch die Schuld nachlässiger oder unwissender Abschreiber oder willkürlicher Schlimmbesserer mannigfach verstümmelt, entstellt, verwahrlost. Im günstigeren Fall hat vor Allem die Wortkritik, die diplomatische im Verein mit der divinatorischen ihr subtiles Geschäft zu verrichten, und gleich hier macht sich geltend, was aller philologischen Thätigkeit eigenthümlich ist, dass alle ihre Operationen ineinandergreifen und einander bedingen, so dass es den Fernstehenden scheinen kann, als bewegten wir uns im Kreise. Denn dem Textkritiker muss bereits durch Beobachtung und unmittelbare Anschauung nicht nur ein Bild der schriftstellerischen Individualität und Manier, sondern auch eine bestimmende Ansicht von dem Werth der handschriftlichen Ueberlieferung bis ins Einzelne ausgeführt und im Ganzen erfasst vorschweben, damit er im Stande sei, dem Verfasser das Seine gleichsam wiederzugeben. Der Text des Plautus z. B. und das Urtheil über seine Kunst gestaltet sich ganz verschieden je nach dem Vertrauen, welches der Kritiker den Handschriften schenkt. Aber vorurtheilsloses Studium der Textgeschichte, die Macht des inductiven Beweises aus einer Fülle von Einzelfällen, die Erwägung schwerwiegender Zeugnisse und die Vergegenwärtigung der allgemeinen Grundsätze antiker Formgebung befreit von dem todten Glauben an 439

Otto Ribbeck

schwankende Buchstaben wie von leichtfertiger Skepsis. Wir wissen ferner, dass erklärende Bemerkungen und Zusätze eines Lesers, Variationen, Ausführungen und Erweiterungen von der umarbeitenden Hand des Verfassers oder eines Redactors in den Text gerathen, dass bei Gelegenheit wiederholter Aufführung ganze Scenen hinzugetreten sind. Ohne Ausscheidung solcher Elemente ist eine zutreffende Würdigung des Zusammenhanges und der Composition nicht denkbar. Fordert man mit Recht von dem feineren Textkritiker eine gewisse Congenialität mit seinem Autor, so bedingt die Ergänzung grösserer Lücken oder gar die Behandlung von Bruchstücken einen gewissen Grad schöpferischer Begabung. Schon die Entdeckung dichterischer Reste, wenn sie stillschweigend in eine Prosaschrift verwebt sind, ihre Ausscheidung und Neugestaltung setzt einigen künstlerischen Sinn voraus. Dann der Wiederaufbau eines poetischen Kunstwerkes aus gegebenen Elementen: auch in den bescheidensten Linien wird er dem nüchternen Scharfsinn ohne nachdichtende Phantasie noch weniger gelingen, als dem höchsten Dichtergenius ohne die sichere Technik des Philologen. So hat auch Göthe’s schöne Herstellung des euripideischen Phaethon, wobei ihm Göttlings Rath zur Seite stand, noch Manches zu überlegen und zu bessern gelassen, wenn auch die Textgrundlage sich nicht durch neue Prüfung, die wieder neue Räthsel bietet, bedeutend erweitert hätte. Mancher haltbare Aufbau aus Trümmern ist uns doch mit der Zeit gelungen. Die Philologie würde auf einen ihrer höchsten Genüsse und auf weite Strecken ihres Gebietes verzichten, wenn sie Versuche solcher Art vornehm verschmähen oder kleinlaut an ihrem Gelingen verzagen wollte. Die wetteifernde Durcharbeitung, welche der gleiche Sagenstoff in verschiedenen Gattungen und Perioden der griechisch-römischen Poesie und der bildenden Kunst erfahren hat, lehrt uns die mannigfachen Gestalten und Motive kennen, die nacheinander geschaffen sind. Auf dem Wege vergleichender Analyse suchen wir Entlehntes auf die Quelle zurückzuführen, und indem wir den gesammten Stoff in seiner reichen Entfaltung vor uns ausbreiten, sein Werden und Wachsen überblikken, vermögen wir zu sagen, welche Gestalt ihm in einer bestimmten Phase seiner Geschichte eigen oder in einer bestimmten Dichtung gegeben sein mag. Von der im Alterthum hochgeschätzten ovidischen Tragödie Medea sind nur zwei einzelne Verse erhalten, welche über den Inhalt nicht mehr verrathen, als dass er der euripideischen ähnlich gewesen sein mag. Das Drama hat dem Dichter schon in seiner Jugendperiode im Sinn gelegen, er hat mit Unterbrechungen schon früh daran gearbeitet. Nun befindet sich unter seinen Jugendgedichten, den elegischen Heroinenbriefen, eine Epistel der Medea an Jason, im Ganzen gleichfalls der euripideischen Situation entsprechend, aber mit eigenthümlichen, sehr dramatischen Zügen, welche als Erfindung des Ovid um so mehr gelten dürfen, als derselbe sich zu wiederholen keineswegs vermieden hat. Es ist eine rhetorische Vorstudie zu seiner Tragödie. Dazu kommt, dass Seneca, welcher soviel aus Ovid entlehnt hat, in seiner Tragödie Medea zum Theil die gleichen Motive bringt, so dass durch Combination beider Quellen ein Bild des verlorenen Werkes zum Vorschein kommt. Ovid hat nämlich die Leidenschaft der Medea noch über das euripideische Maass hinaus gesteigert. Wie eine Bacchantin rast sie nach eigenem Geständniss: „hierhin 440

Antrittsrede 1887

und dorthin werde ich gerissen wie eine gotterfüllte.“ Und ganz entsprechend schildert die Amme bei Seneca ihr Gebahren: wie eine Mänade auf dem Gipfel des Pindus oder auf den Bergjochen von Nysa schwärmt, so läuft sie in wilder Bewegung hin und her, die Zeichen rasender Wuth im Antlitz tragend. Die ovidische Epistel nimmt an (was auch zur Begründung der schriftlichen Ansprache dient), dass Jason die gefährliche Kolchierin bereits aus seinem Hause verbannt hat, noch ehe diese von der beabsichtigten zweiten Ehe wusste. Sie hat aber ihre beiden Söhne mitnehmen dürfen und hängt noch an ihrem Gatten. Da plötzlich klingen die Töne des Hymenaeus an ihr Ohr, sie hört Flötenmelodien, sieht Fackelschein; näher und näher kommen die Hochzeitsrufe; die Diener sind verlegen, weinen verstohlen, keiner wagt der Herrin Bescheid zu geben, bis endlich der jüngere ihrer Knaben, der draussen vor der Thür gestanden, hereinkommt und der Mutter meldet, dass es Jason ist, der den Festzug führt. Da zerreisst sie ihr Gewand, schlägt ihre Brust: kaum hält sie sich hinauszustürzen und ihre Hand auf den Treulosen zu legen, der ihr gehöre. Dieser ganze Vorgang ist hochdramatisch und konnte sehr wohl die Tragödie eröffnen. Auch Seneca hat ihn benutzt, aber verdorben. Denn bei ihm ist Medea von Anfang an von der bevorstehenden Vermählung unterrichtet: gleich im Prolog schwelgt sie in Racheplänen. Als dann der Chor korinthischer Frauen mit seinem Hochzeitslied einzieht, macht der neue Wuthausbruch der Gekränkten keine Wirkung mehr. Auch den Inhalt und Gang der unvermeidlichen Auseinandersetzung zwischen Jason und Medea können wir aus dem Brief errathen, und wenn die Schreiberin am Schluss desselben andeutet, dass sie die grause That, mit der sie droht, vielleicht bereuen werde, so darf man fragen, ob sie etwa auch im Drama nach vollzogener Rache solcher Stimmung verfallen sei, wodurch dann freilich die dämonische Grösse ihres Charakters zu Gunsten des einfach menschlichen etwas eingebüsst haben würde. Schwieriger wird das Verfahren, wo der gesammte Stoff eines Buches aus den Bruchstücken allein errathen werden kann und diese selbst der Verbesserung und Erklärung bedürfen. Aber der Gattungscharakter wenigstens ist bekannt und der Gedankenkreis, in welchem sich der Verfasser zu bewegen pflegt. So erhalten die höchst verdorbenen Reste der Satiren des Lucilius zum Theil aus der attischen Komödie, die nicht weniger schwierigen Fragmente der menippeischen Satiren Varro’s unter Andrem aus der Litteratur der Kyniker, den Schriften des Lukian und ähnlichen Quellen mehrfach Heil und Aufklärung. In einem andren Fall, wie bei der sogenannten theognideischen Spruchsammlung, handelt es sich darum, aus einem bunten Conglomerat zerstreuter Versgruppen von Elegien verschiedener Dichter die fremden Bestandtheile ihren Verfassern zurückzugeben, den echt theognideischen Kern aber herauszuschälen, die verschiedenen Schichten desselben zu sondern und die stimmungsvolle Poesie des megarischen Ritters sowie seine markige Persönlichkeit zur Anschauung zu bringen. Hier kommt uns ausser bestimmten Zeugnissen, auf Grund deren wir das Fremde ausscheiden, die allgemeine Kenntniss der Lebensverhältnisse des Theognis, der Parteikämpfe, in die er verwickelt war, und seiner Grundsätze zu Hülfe. In der That beruht der Werth aller persönlichen und biographischen Nachrichten über den einzelnen Autor in dem Beitrag, welchen sie zum Verständniss seiner 441

Otto Ribbeck

Werke und seiner geistigen Eigenart liefern, während Anekdoten und Legenden höchstens lehren können, wie das Andenken an eine berühmte Persönlichkeit in der Vorstellung der Menge gelebt habe, die, wie bei der Sappho, eine sehr schiefe und verworrene gewesen sein kann. Was vollends über mythische Gestalten wie Linos, Orpheus, auch Homer erzählt wird, hat den Werth selbständiger Dichtung, in der alte Traditionen über die Urgeschichte des Liedes, das Epos der Sängerschulen und den Stand der Rhapsoden nachklingen. Aber je leibhaftiger die Gestalt des Autors aus der Mitte einer reichen Umgebung Mitlebender uns entgegentritt, desto klarer und eindrucksvoller müssen uns die Schöpfungen seines Geistes werden. Daher ist es eine Hauptpflicht des Litterarhistorikers nicht nur ein anschauliches Gesammtbild jeder einzelnen Culturperiode vor Augen zu stellen, sondern auch die in ihr wirkenden, in Eintracht oder Streit miteinander verkehrenden Menschen, die Hauptund Nebenpersonen der Zeitbühne möglichst zum Leben zu erwecken. So vertraut sollten uns z. B. alle Beziehungen der aristophanischen Komödie, der horazischen Gedichte sein: aber wie oft werden wir mit dünnem Scholiastenbrei abgespeist! Und wir müssen noch für jedes Körnchen glaubhafter Belehrung dankbar sein und eins zum andern tragen, auf einen günstigen Sonnenstrahl hoffend, der plötzlich einmal aus entlegenem Winkel die todte Stelle beleuchtet und den Keim des Verständnisses befruchtet. Auch den Herzensgeheimnissen des lyrischen Dichters möchten wir auf die Spur kommen: scheint er uns doch selbst durch seine Geständnisse den Schlüssel zu bieten. Wir suchen die Liebesgedichte an Lesbia, Delia, Cynthia auf eine Schnur zu reihen, die Andeutungen und Voraussetzungen derselben in Zusammenhang zu bringen. Aber es wäre pedantisch, den Poeten wie ein Verhörrichter zu scharf beim Worte zu nehmen: mit gutem Recht und absichtlich hat er Dichtung und Wahrheit gemischt, die einzelnen Nummern nicht nach der Zeitfolge, sondern nach ästhetischen Gesichtspunkten geordnet. Auch die Züge derselben Gestalt verwandeln sich unter der Hand. Besonders muss man Conventionelles von Individuellem zu unterscheiden wissen. Von hohem Interesse bleibt der Entwicklungsgang des Autors, die Abfassungszeit und Reihenfolge seiner Schriften, die daraus zu erschliessende Geschichte seines Geistes. Für diese chronologische Daten zu gewinnen wäre an sich wichtiger als die haarscharfe Bestimmung des Geburts- und Todesjahres, wenn nicht an diesen beiden Polen so viele Entscheidungen eingreifender Art hingen. Desto mehr sind die Lücken unserer Ueberlieferung grade in diesen Punkten zu beklagen. Nur zu oft, wenn sie nicht ganz versagt, beruht sie auf ungefährer, willkürlicher Schätzung und voreiligen Schlüssen nicht ohne die gröbsten Irrthümer und Verwechselungen. Man wusste allenfalls, in welchem Jahr oder welcher Olympiade Einer gestorben, in welchem Lebensalter er abgeschieden, dass er Zeitgenosse eines Andern gewesen sei, oder um welche Zeit ungefähr er in Ansehn gestanden habe. Von dergleichen Anhaltspunkten aus rechnete man mit conventionellen Zahlen vor- und rückwärts. Kam dann noch ein Unwissender, der gleichnamige Autoren (das Capitel von den Homonymen hat ja schon die Alten beschäftigt) oder ein späterer Compilator, welcher die zur Zeitbestimmung dienenden, oft ähnlichen oder gar identischen Archonten442

Antrittsrede 1887

oder Consulnamen verwechselte, oder vertauschte ein Abschreiber ähnliche Namensoder Zahlzeichen, so konnte heillose Verwirrung entstehen. Daher ist die Controle und Berichtigung der überlieferten chronologischen Angaben eines der mühseligsten und verdriesslichsten Geschäfte des Philologen. Wie häufig nöthigt ihn die Bestimmung eines Hülfsfactors für seine Rechnung zu weiten Ausflügen auf dornige Nebenpfade, die selbst erst gangbar gemacht werden müssen! Nur wenn man die ganze Zeittafel klar übersieht, kann durch umsichtige Combination die Einreihung vermisster Daten erfolgen. Was aber die Abfassungszeit der einzelnen Schriften eines Autors betrifft, so kommen uns ausser amtlichen Aufzeichnungen über die Aufführung von Dramen, wenn sie unversehrt überliefert sind, und mancherlei beiläufigen Mittheilungen oder ausdrücklichen Angaben aus gelehrten Quellen in besonders günstigen Fällen auch die eignen Aussagen des Verfassers zu Hülfe, aber selbst diese sind bei der gern nur andeutenden oder umschreibenden Ausdrucksweise der Alten, zumal der Dichter, manchen Zweifeln der Auslegung unterworfen. Zum Glück pflegen noch andere Momente in die Entscheidung einzugreifen: Beziehungen auf Zeitverhältnisse und Personen, auf andre Schriften, und zwar gewollte und unabsichtliche, Beobachtungen der stilistischen und metrischen Form. Wenn man nur die Beweiskraft solcher Eigenheiten immer vorsichtig erwöge, nicht gewissen Besonderheiten, die sich aus der Richtung und Anlage der vorliegenden Schrift, aus dem Charakter einer Stelle natürlich ergeben oder auch auf eine zufällige, vorübergehende Laune, eine augenblickliche Nachlässigkeit geschoben werden können, das Gewicht entscheidender Kriterien beimässe! Wenn man sich überhaupt beschiede nur beweisen zu wollen, was sich wirklich zur Ueberzeugung bringen lässt, und nicht mit ziellosen Discussionen gar zu viel Zeit und Kraft verschwendete! Der Dichter des Alterthums, in fester Schultradition gebildet, schafft seine Werke in bewusstem Anschluss an seine Vorgänger. Aus gegebenem Sagenkreise schöpft der griechische Tragiker seine Stoffe, welche im Epos und in der Lyrik bereits mannigfach durchgearbeitet, im Drama zu höherer psychologischer Entwickelung und ethischer Vertiefung gelangen, und wetteifernd sucht der Nachfolger dem Problem eine neue Seite abzugewinnen, Schwächen der älteren Auffassung, der Charakteristik, der Motivirung, der Handlung (nicht ohne verdeckten Hinweis darauf) zu verbessern. In jeder Gattung und Spielart waltet das Streben nach stetiger Kunstentwickelung, wobei das Gelungene ohne Bedenken angenommen, nachgeahmt, für den Verstehenden anerkannt wird. Eine feine Musik leiser Anklänge durchzieht die alte Litteratur. Wer diese Harmonien und Dissonanzen zu deuten versteht, dem erschliesst sich erst das Concert der Autoren und Schriften untereinander. Die Römer haben Selbständigkeit des Geschmackes zunächst nur durch freie Auswahl aus den Schätzen ihrer griechischen Meister bewährt. Aus hier und da entlehnten Edelsteinen haben sie in neuer Zusammensetzung und Fassung eigenthümliche Kunstwerke geschaffen. Bald machte auch bei ihnen die Schule ihre bindende und bildende Macht geltend, so dass wir in römischer Poesie der doppelten Quelle griechischen und nationalen Bodens nachzugehen haben. Nichts ist lehr- und genussreicher als dieses vergleichende Studium gleichartiger Dichtungen, welches auch für die Zeitbestimmung von Wichtigkeit sein kann. Da kann es denn vorkommen, dass Einer die Sachen 443

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auf den Kopf stellt und ein Hysteron proteron schafft, wie bei der Frage, ob die sophokleische Elektra älter sei als die euripideische oder umgekehrt. Ein eigenthümliches Problem stellt uns die kritisch-historische Betrachtung der homerischen Gedichte. Sie sind der Abschluss einer lange in Sängerschulen gepflegten, höchst mannigfaltigen Kunstübung. Auszüge, Theile, Andeutungen älterer Heldenlieder, verschiedenartiger Behandlung des gleichen Stoffes sucht man herauszuschälen; man glaubt eine Ilias, eine Odyssee oder mehrere vor Homer hinter der abschliessenden Fassung, die uns vorliegt, zu entdecken, und sucht so zu den Anfangen der epischen Poesie durchzudringen. Dass die Pfade in diesem Dickicht, welche von verschiedenen Seiten her eingeschlagen werden, sich noch kreuzen und gelegentlich in die Irre führen, darf doch vor erneuerten Entdeckungszügen, welche Neuland zu erobern trachten, nicht abschrecken. Noch einen dunklen Wald hat der Durchforscher der alten Litteratur zu bewältigen: die Menge untergeschobener, pseudonymer und anonymer Schriften, welche auf üppigem Boden wild aufgeschossen ist. Die eigenthümliche Organisation öffentlicher Aufführungen, die Art des Buchhandels, die Leichtgläubigkeit des Publicums, Eitelkeit, Uebermuth und Bescheidenheit, Bosheit und Laune der Schriftsteller, mannigfache Zufälle der Ueberlieferung haben dazu beigetragen. Zur Warnung vor blindem Vertrauen wäre es nützlich, einmal die lange Liste ausdrücklich bezeugter oder sicher gestellter Pseudepigrapha aller Art in kritischer Beleuchtung vorzulegen. Wenn die Mittel unserer ausgebildeten Methode uns meist in den Stand setzen das Urtheil der Unechtheit scharf zu begründen, auch Zeit und Verwandtschaft zu bestimmen, so wird sie auf Nennung eines Verfassers verständigerweise verzichten, wo ihr nicht durch sichtbare Spuren der Weg gewiesen wird. Alle bisher genannten Aufgaben betreffen eigentlich den unentbehrlichen Unterbau, die äusseren Voraussetzungen geschichtlicher Betrachtung, aber zu ihrer Lösung muss die Anschauung des Ganzen und die eingehende Kenntniss der Theile beständig zu Hülfe genommen werden. Was aber das einemal Mittel der Forschung, ist das andremal ein Ziel derselben. Nachdem der Boden nach Möglichkeit geebnet, der Ausblick geöffnet ist, wollen wir nun ein ausgeführtes Gesammtbild vor uns entrollt sehen, dem Luft, Horizont, Perspective, Rundung und Farbe nicht fehle, soweit eben die Mittel der Darstellung reichen. In gesonderten und doch nicht auseinanderfallenden Gruppen sollen die Meister mit ihren Gehülfen und Schülern nicht nur fertig hingestellt, sondern es soll erzählt werden, wie sie geworden sind, woran sie angeknüpft, was sie erlebt und erlitten, gewollt und erreicht, wie sie auf Zeitgenossen und Nachkommen gewirkt, welchen Beitrag sie zu dem grossen Geistescapital der Menschheit hinzugebracht haben. Den Schatz ihrer Ideen, die Bilderreihe ihrer Phantasie wollen wir überblicken, die Wärme und Tiefe ihrer Empfindung, den Grad ihrer künstlerischen Gestaltungskraft und ihrer formalen Meisterschaft ermessen, auch ihren Schwächen und Verirrungen nachgehn, die Mittel ihrer Kunst begreifen und die Grenzen derselben bestimmen. Wir wollen ihre einzelnen Werke, wie sie im Geiste des Verfassers geboren sind, der Reihe nach entstehen sehen und in ihr Verständniss eingeführt werden. Nur dazu soll die unentbehrliche Analyse des Inhaltes dienen, dass wir angeregt werden näher zu treten und durch eignes Studium 444

Antrittsrede 1887

den allgemeinen Eindruck zu vertiefen, nicht etwa, dass die genauere Kenntniss durch ein Excerpt erspart bleibe. Auch der Betrachter von Grund- und Umrissen herrlicher Bauten und Bildwerke glaubt nicht auf die Anschauung dieser selbst verzichten zu müssen. Aber über die einzelnen Schriftsteller und Schriften hinaus haben wir den geistigen Stempel, welcher jeder Periode des Völkerlebens aufgeprägt ist, aus der Summe ihrer litterarischen Leistungen, und deren Verhältniss zu den allgemeinen Zuständen zu ermitteln, wenn es auch nicht grade erforderlich oder thunlich ist, die Fülle der Gestalten in eine starre Formel zu zwängen. Ergiebiger ist der Längendurchschnitt, welcher, wie schon berührt, die Geschichte der Stoffe, oder die Geschichte einer Litteraturgattung durch die Perioden hindurch von ihren Anfängen bis zu den letzten Ausläufern verfolgt. So lohnt es sich die mannigfaltigen Formen und Gesetze des Erzählens von der Ilias bis auf die rauschenden Dionysiaka des Nonnos zu verfolgen, die Entwickelung des mythisch-heroischen und des historischen Epos, des erzählenden Hymnus, des zierlichen Epyllions und des genrehaften Idylls: der Gang und Aufbau der Erzählung, die Elemente und Beiwerke, deren Verwendung und Behandlung, die Mitwirkung der Götter und Dämonen, die Episoden, die Schilderungen, Gleichnisse, Reden, Gedanken und Affecte, die reiche Rüstkammer der rhetorischen Mittel, die Eigenheiten des Stils und des Versbaues, – welche Fülle des Stoffs für den feinen Beobachter, der es versteht die gesammelten Thatsachen mit historischem Blick zu durchdringen und die rechten Schlüsse daraus zu ziehen! Aehnliche, zum Theil andre Momente der Vergleichung bietet die Geschichte des Drama’s: ausser den Mythen die tragischen und komischen Motive, die Charaktertypen, die Leidenschaften, Thorheiten und Schwächen, die ethischen und religiösen Anschauungen, Composition, Haltung des Chors, Behandlung der lyrischen Theile und des Dialogs, die Mittel der tragischen und komischen Wirkung, – ich will nicht ermüden durch weitere Aufzählungen von Fragen, die sich jedem Kenner ungesucht aufdrängen. Ich gedenke noch der Elegie, deren Geschichte eine besonders wechsel- und bedeutungsvolle ist. Wo man sich in dieser Richtung auch hinwende, überall öffnen sich gleichsam auf Schritt und Tritt einladende und reizvolle Wege der Untersuchung. Diese Weise litterar-historischer Betrachtung leistet der Geschichte des Geschmackes und der schriftstellerischen Kunst, insbesondere der Poetik, nicht minder der Ethik und Religionsgeschichte, ja der gesammten Culturgeschichte die erheblichsten Dienste. So verjüngt sich die altersgraue Philologie, indem sie voller und voller gleichsam Athem schöpft und ihre Kreise zugleich immer weiter zieht. Am Beginn des neuen Studienjahres gedenken gewiss auch Sie, meine Herrn Commilitonen, mit freudiger Spannung der bevorstehenden Arbeit. Wie aus dem Stall ein Ross, bisher an der Krippe genähret, Wenn es die Halfter zerrissen, die Ebene lang im Galopp läuft, Zum breitwallenden Strom, wo es fröhlich zu baden gewohnt ist, Vornehm: hoch auf hebt es das Haupt, und über die Schulter Fliegen die Mähnen umher, im Gefühl der prächtigen Jugend Tragen es leicht die Kniee zur Schaar der Weidegenossen, 445

Otto Ribbeck

so ungefähr mag manchen der Ankömmlinge sein frischer Jugendmuth auf unsere akademischen Weiden tragen. Mögen Sie hier zu finden wissen, was Sie stark und für die Bahn, der Sie sich aus freiem Antrieb bestimmt haben, tüchtig macht. Glauben Sie, dass von allen Genüssen, welche Ihnen der lockende Baum des Lebens bieten kann, keiner erhebender und nachhaltiger ist als die Uebung der geistigen Kraft in besonnener Arbeit. Bewahre Sie Ihr Genius sowohl vor dem trüben Sumpf als vor der dürren Haide. Und so mit Gottes Hülfe voran und empor! ***

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1. November 1888. Rede des abtretenden Rectors Dr. phil. Otto Ribbeck. Bericht über das Studienjahr 1887/88. Hochansehnliche Versammlung! Ein Jahr der Trauer, wie kein zweites uns wieder beschieden sein möge, liegt hinter uns. Am 9. März ist unser ruhmreicher, heissgeliebter Kaiser Wilhelm I., der Einiger Deutschlands, hochbetagt von hinnen geschieden, und es war, als ob nicht nur Deutschland, sondern allen uns befreundeten Völkern der Vater gestorben wäre. Nachdem am 19. März der Rector den Bestattungsfeierlichkeiten in Berlin beigewohnt hatte, beging unsere Universität am 22. März, dem Geburtstage Sr. Hochseligen Majestät, das Gedächtniss des Unvergesslichen durch eine Rede ihres zeitigen Oberhauptes. Mit tiefer Wehmuth sahen wir den herrlichen Sohn, einst den Stolz und die Freude des Volkes, jetzt von hoffnungsloser Krankheit getroffen den Thron seiner Väter besteigen. Seine Tage waren gezählt. Wie ein Schatten flog sein wachsbleiches Antlitz an jenem düstren Märzabend an uns vorüber. Mit Kummer verfolgten wir den unaufhaltsamen Fortgang seiner entsetzlichen Leiden, mit Rührung die heldenmüthige Hingebung des Sterbenden an seine Herrscherpflicht. Am 15. Juni hatte das tragische Geschick Kaiser Friedrichs III. sich erfüllt. Ein akademischer Trauergottesdienst in der Paulinerkirche am 18. war seinem Andenken gewidmet. Und der helle Tag ist uns wieder aufgegangen. Ein jugendkräftiges, willensstarkes, hochgesinntes und erleuchtetes Haupt ist unsrem gesegneten Vaterlande in Kaiser Wilhelm II. erstanden, und mit stolzer Befriedigung sahen wir seinen Thron umgeben von den bundestreuen Fürsten Deutschlands, den mächtigen Säulen des Reiches. So fühlen wir den Boden fester wie je unter den Füssen, und die Friedensbotschaft, mit welcher der neue Morgen uns begrüsste, breitet wie die aufgehende Sonne ihr erwärmendes Licht über die gebildeteren Völker der Erde. In friedlichem Siegeszuge ohne Gleichen hat unser junger Kaiser die Herzen des europäischen Nordens wie des Südens erobert, und noch erbeben die unsrigen von der Begeisterung, welche der gestrige Besuch der Kaiserlichen Majestät in dieser Stadt erregt hat. Gott segne fürderhin die Regierung des erhabenen Herrn zum Heile Deutschlands und der Welt! Je drohender die Erschütterungen waren, welche den Bau unsres Gesammtvaterlandes trafen, desto dankbarer durften wir sein, dass unser innig geliebter und verehrter Landesherr, Se. Maj. König Albert, sich ungeschwächter Kraft und Gesundheit erfreute. So beging die Universität mit besonders erhobenem Herzen den Geburtstag ihres Rector magnificentissimus durch einen feierlichen Actus in der Aula und eine Festrede des Geh. Bergrathes Prof. Dr. Zirkel. Zwei Monate früher, in den Tagen 447

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vom 20. zum 23. Februar, genoss unsre Alma mater die schon zur theuren Gewohnheit gewordene Allerhöchste Auszeichnung, Ihren Königlichen Rector perpetuus in den Hörsälen wie in den wissenschaftlichen Instituten abermals seine verständnissvolle und ausdauernde Theilnahme an ihren Arbeiten bekunden zu sehen. Ein besondrer Glanz wurde einigen dieser Besuche durch die Begleitung Ihrer Majestät der Königin verliehen. Wenn kaum ein Jahr zu vergehen pflegt, in dem wir nicht den Hingang eines oder mehrerer Collegen zu beklagen hätten, so habe ich heute mit tiefem Schmerz von ungewöhnlich vielen und schweren Verlusten zu berichten, von welchen der Lehrkörper unsrer Hochschule durch den Tod betroffen ist. Allein fünf Ordinarien sind uns entrissen worden, zwei darunter ganz unerwartet auf der Höhe einer gesegneten Wirksamkeit. An der Spitze dieser bleichen Schaar steht einer unsrer ehrwürdigsten Nestoren, der ordentliche Professor der Physik Dr. ph. et med. Theodor Fechner. Er starb am 18. November des vorigen Jahres im 87. seines Lebens. Der originelle Denker hatte sich, durch ein Augenleiden gezwungen, schon lange von seiner Lehrthätigkeit wie von dem gesammten äusseren Leben der Universität zurückgezogen, aber in dem Sternenkranz grosser Forscher, welcher einer Universität für alle Zeiten und Völker Ruhm verleiht, leuchtete der Name des Schöpfers der Psychophysik, des Begründers der experimentellen Aesthetik und Psychologie, als eines der glänzendsten von den unsrigen. Die Sorgfalt des exacten Forschers, die Schärfe des Dialektikers verband sich in dieser genialen Natur mit der Phantasie des Dichters und Sehers, die Innigkeit religiöser Anschauung mit kindlich naivem Spiel des Humors. Er war ein Weiser im Stil des Alterthums, bedürfnisslos, der Welt des Tages entsagend, im Lichte der ewigen Ideen lebend. Am 23. December verschied der Geh. Medicinalrath und ausserordentliche Professor Dr. med. Hugo Sonnenkalb. Seit 1843 als Docent, seit 1851 als prof. extr. an der Universität thätig, hat er während dieser langen Reihe von Jahren das wenig bebaute Gebiet der gerichtlichen Medicin in verdienstlicher Weise vertreten. Uns allen, auch seinen Nächsten ganz überraschend ereilte in der Nacht zum 31. Januar d. J. ein jäher Tod den Prorector der Universität, Professor Dr. theol. et phil. Woldemar Schmidt. Noch am Morgen des vorhergehenden Tages hatten ihn seine Zuhörer scheinbar gesund auf dem Katheder gesehen. So hat der arbeitsfreudige, gewissenhafte fast bis zur letzten Stunde die ganze Kraft seiner zarten Natur der Ausübung seiner Berufspflicht gewidmet. Er stand noch auf der Höhe des Lebens, im 52. Jahre. Seit 1866 als ausserordentlicher, seit 1876 als ordentlicher Professor unter uns thätig, auf den litterarischen Markt nur mit wenigen, aber gediegenen Arbeiten hervortretend, suchte und fand er volle Befriedigung in der Wirksamkeit als akademischer Lehrer, als treuer Helfer und Berather der Studierenden, als mild vermittelnder und doch überzeugungsfester College. Und noch im letzten Jahre hat er als Rector durch seine treffliche Geschäftsführung wie durch die harmonische Liebenswürdigkeit seines Charakters sich von allen Seiten herzliche Zuneigung und Hochachtung erworben. Ein vir bonus im edelsten Sinne war es, dessen Hingang wir betrauerten. 448

Jahresbericht 1887/88

Kaum hatten wir unsre erschütterten Gemüther einigermassen gesammelt, da erlag unser trefflicher Kliniker, der Geh. Medicinalrath, Professor der speciellen Pathologie und Therapie, Dr. med. Ernst Leberecht Wagener, einer tückischen Krankheit, die anfangs scheinbar unbedenklich nach kurzem Verlauf am 10. Februar zum Tode führte. Auch er hatte noch nicht das sechzigste Lebensjahr erfüllt. Noch vor kurzem, am 20. December v. J. hatte er in vollem Wohlsein inmitten zahlreicher Schüler von nah und fern sein 25jähriges Professorenjubiläum gefeiert. Unsrer Universität hat er vom Beginn seiner Laufbahn, seit seiner Habilitation im Jahre 1855, ja seit seiner Studienzeit angehört. Im Jahre 1860 zum ausserordentlichen, 1862 zum ordentlichen Professor ernannt, hat er als solcher zunächst und als der erste in dieser Stellung die Fächer der allgemeinen Pathologie und pathologischen Anatomie vertreten, daneben aber die medicinische Poliklinik geleitet, bis er im Herbst 1877 Wunderlich’s Nachfolger wurde. Durch seine rege Betheiligung, so schreibt einer seiner nächsten Schüler, an dem Ausbau des grundlegenden Faches der pathologischen Anatomie, sowie nicht minder durch seine zahlreichen klinischen Arbeiten, in welchen ein umfangreiches Beobachtungsmaterial mit musterhaftem Fleiss und unbestechlicher Wahrheitsliebe verwerthet ist, hat er an der Entwickelung der medicinischen Wissenschaft im Verlauf der letzten dreissig Jahre einen wesentlichen Antheil gehabt. Aber bedeutender noch war seine Wirksamkeit als Arzt und klinischer Lehrer. Nicht nur machte die durch gründliche Untersuchung und reiche Erfahrung gewonnene Schärfe seines Blickes ihn zum Meister der Diagnose: seine echt menschliche, zarte Theilnahme und der Zauber seiner hellen, offenen Persönlichkeit gab seinem Erscheinen am Krankenbette jene wunderbare Wirkung, dass der Leidende schon durch seinen blossen Zuspruch sich erleichtert fühlte. Die Arbeit war ihm eine Lust, die ihm leider verhängnissvoll werden sollte. Als wir ihn zur letzten Ruhe geleiteten, haben Tausende aus dankerfülltem Herzen dem hingebenden Wohlthäter ihren wehmüthigen Gruss nachgesandt. An demselben 10. Februar erlöste ein sanfter Tod den Professor der orientalischen Sprachen, Geheimrath Dr. ph. th. et iur. Heinrich Leberecht Fleischer von längeren Leiden, kurz vor Ablauf seines 87. Lebensjahres. Auch dieser theure College ist unsrer Universität während der ganzen Zeit seiner akademischen Thätigkeit, welche mehr als ein halbes Jahrhundert umfasste, trotz mächtiger Versuchungen unbeirrt treu geblieben. Aber seine belehrende und berathende Stimme drang dessen ungeachtet weit über die Grenzen Leipzigs hinaus. Er war der praeceptor Germaniae für die lebende Generation der Orientalisten, deren Arbeiten er anregte, leitete und aus dem Schatz eignen Wissens grossmüthig bereicherte. Er hat die von seinem Pariser Lehrer Silvestre de Sacy auf dem Gebiet des Arabischen zuerst eingeführte Methode philologischer Genauigkeit nach Deutschland verpflanzt und nicht nur für Herausgabe arabischer Texte fruchtbar gemacht, sondern auch der Erforschung der Syntaxis durch Zurückgehen auf die Nationalgrammatiker, deren Studium von de Sacy kaum begonnen war, neue Bahnen eröffnet. Bis in das höchste Alter blieb dem weltberühmten Gelehrten die Frische seiner Natur und die unbefangene Heiterkeit eigen, welche der ehrwürdigen Erscheinung solchen Reiz verlieh. Zahlreiche Schüler wissen das gleichmässige, ausdauernde Wohlwollen ihres grossen Meisters zu rühmen, 449

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dessen Andenken in der Geschichte der semitischen Philologie für alle Zeiten fortleben wird. Nach kurzer Krankheit verschied am 13. März Dr. med. Carl Hermann Schildbach, dessen Einsicht und Erfahrung auf orthopädischem Gebiet eine lange Reihe von Jahren in hohem Ansehen gestanden hat. Einem Auftrage des K. Min. folgend hat er im J. 1875 die orthopädische Universitäts-Poliklinik eingerichtet und dieses segensreiche Institut während eines Decenniums uneigennützig geleitet zur Belehrung Studierender wie zum Wohl zahlreicher seiner Behandlung anvertrauter Kinder. Kurz nach ihm, am 22. März starb in Lana bei Meran ein junger Orientalist, der Privatdocent in der philosophischen Facultät, Dr. phil. Anton Huber. Endlich am 20. Juni ging nach mehrjährigen Leiden der erste Professor der Theologie und Senior der theologischen Facultät, Domherr Dr. th. et ph. Carl Friedrich August Kahnis, 74 Jahre alt, zur ewigen Ruhe. Im Jahre 1850 von Breslau nach Leipzig berufen hat der ehrwürdige Mann 38 Jahre lang hier gelehrt, und Tausende von begeisterten Schülern sind zu seinen Füssen gesessen. Das markige, zündende Wort stand ihm in schriftlicher wie in mündlicher Rede zu Gebot. Nicht nur die von ihm vorzugsweise durchforschten Gebiete der Dogmatik und Kirchengeschichte beherrschte er, auch die Schätze humaner Bildung standen seinem reichen, empfänglichen Geist offen. Den Blick meist nach innen gekehrt, hat er doch nicht selten auch über Welt und Menschen ein überraschend treffendes Urtheil gefällt: eine anima candida und doch ein tapferer Streiter für seine Ueberzeugungen in Kirche und Staat; ein warmer Freund der studierenden Jugend, ein liebenswürdiger College. Zum grösseren Theil sind die durch den Tod gerissenen Lücken in unsrem Lehrkörper wieder ausgefüllt worden. Schon im vorletzten Jahresbericht konnte der Eintritt unsres Collegen Brieger an Stelle des erkrankten Professor Kahnis gemeldet werden. Der Lehrstuhl von Woldemar Schmidt ist an Professor Dr. Theodor Zahn übergegangen, welcher von Erlangen berufen ist, die Professur und die Klinik Wagners an den bisherigen Director der Staats-Krankenanstalten zu Hamburg, Dr. Heinrich Curschmann. Beide Collegen, welche ihre neue Wirksamkeit mit dem Wintersemester begonnen haben, begrüssen wir mit dem Wunsche, dass dieselbe eine lange und für alle Theile gesegnete sein möge. Hoffen wir, dass es bald gelingen möge, auch Fleischers noch verwaisten Lehrstuhl würdig zu besetzen, damit das alte Ansehen der Leipziger Universität als eines Mittelpunktes gelehrter Sprachstudien neu befestigt werde. Eine ziemlich grosse Anzahl ordentlicher und ausserordentlicher Professoren, welche im vorhergegangenen Jahre neu berufen oder befördert waren, haben ihre solenne Antrittsvorlesung in der Aula gehalten: nämlich die Professoren Pfeffer, Ostwald, Hesse, Ewald, Hasse. Keiner unsrer ordentlichen Professoren hat während dieses Jahres unsre Universität mit einer andern vertauscht. Dagegen sind wiederum an mehrere jüngere Collegen ehrenvolle Rufe von aussen ergangen, welchen dieselben gefolgt sind. Mit Ablauf des Wintersemesters verliess uns der ausserordentliche Professor und Assistent am mathematischen Seminar, Dr. Friedrich Schur, um eine ordentliche Professur 450

Jahresbericht 1887/88

der Mathematik an der Universität Dorpat anzutreten. Im Lauf des Sommersemesters nahm der kurz zuvor zum prof. extr. in der juristischen Facultät beförderte Dr. iur. Emil Sehling einen Ruf als ordentlicher Professor an die Universität Kiel an. Ebenso hat der ausserordentliche Professor Dr. Eduard König in der theologischen Facultät eine ordentliche Professur für alttestamentliche Exegese an der Universität Rostock erhalten, und Dr. Rudolph Kögel in der philosophischen Facultät, welcher gleichfalls vor wenigen Wochen zum ausserordentlichen Professor in derselben ernannt war, ist als ordentlicher Professor der deutschen Sprache und Litteratur zur Universität Basel übergetreten. Unsre besten Wünsche haben die scheidenden, von denen jeder einen Grenzposten deutscher Wissenschaft bezog, auf ihrem Wege begleitet. Ausserdem sind mehrere Privatdocenten der philosophischen Facultät von hier an andre Universitäten übergesiedelt: Dr. Wilhelm Hallwachs ist als erster Assistent an das physikalische Institut in Strassburg, Dr. Albrecht Zimmermann in gleicher Eigenschaft an das botanische Institut in Tübingen übergegangen; der Privatdocent der Mathematik Dr. Eduard Study hat sich für dasselbe Fach in Marburg habilitirt. In die Reihe unsrer Privatdocenten sind dagegen neu eingetreten: in der juristischen Facultät Dr. Peter Klöppel, Rechtsanwalt beim Reichsgericht; in der medicinischen während des Wintersemesters 1887/8 Dr. Albert Döderlein, Assistenzarzt am gynäkologischen, und Dr. Ludolf Krehl, Assistenzarzt am klinischen Institut; im Sommer Dr. Otto Schwarz, Assistenzarzt am medicinisch-poliklinischen Institut. In der philosophischen Facultät haben die venia legendi erhalten vom Frühling 1888 an Dr. Felician Gess für Geschichte, vom begonnenen Wintersemester an Dr. Gustav Schirmer für keltische und englische Sprache und Litteratur, Dr. Conrad Cichorius für alte Geschichte und classische Philologie. Noch in den allerletzten Tagen sind hinzugetreten die Privatdocenten Dr. Ewald Flügel für englische Philologie, Dr. Ernst Elster für deutsche Litteratur und Sprache, Dr. Heinrich Simroth für Zoologie, und Dr. Oswald Külpe für Philosophie. Man sieht, dass für Nachwuchs in unsrem akademischen Musenhain ausgiebig gesorgt ist. Möge den jungen Priestern der Wissenschaft, nachdem sie die ersten Weihen empfangen haben, ihr Genius stets hülfreich zur Seite stehn! Ueberblicken wir ferner die Veränderungen, welche in dem weiteren Kreise unsrer Universitätsbeamten eingetreten sind, so hat auch hier der Tod einige Opfer gefordert. Durch ihn hat die Bibliothek am 17. April d. J. ihren zweiten Custos, Dr. Hermann Meister verloren, welcher ihr seit Michaelis 1876 treue und erspriessliche Dienste gewidmet hatte. Zum Ersatz sind die jüngeren Assistenten in die entsprechenden höheren Stellen hinaufgerückt, die hiernach erledigte des vierten Assistenten ist dem Cand. theol. Otto Kippenberg (aus Deideroda bei Göttingen) übertragen worden. Ferner hat in Folge einer Anregung von Seiten der Königl. Griechischen Regierung das Königl. Ministerium genehmigt, dass Dr. Eugenios Zomarides aus Epiros vom 15. October d. J. an als Volontär beschäftigt werde. Auch ist dem zweiten Oberbibliothekar Dr. Förstemann der Titel Hofrath verliehen worden. In der UniversitätsCanzlei ist die Stelle des ersten Expedienten durch den am 10. August erfolgten Tod ihres bisherigen Inhabers Reinhold Friedrich August Schmidt erledigt worden. Seit Ostern 1876 angestellt, ist er, soweit ihm nicht wiederholte Krankheitsanfälle 451

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hinderlich waren, seinen Pflichten mit Eifer nachgekommen. Der Registrator Wilhelm Julius Grosse hat das Prädicat Canzlei-Secretär erhalten. Endlich hat der akademische Senat dem hiesigen Buchbindermeister Friedrich Julius Crusius in Anerkennung ausgezeichneter Arbeiten für die Universitätsbibliothek das Prädicat „UniversitätsBuchbinder“ ertheilt. Auch an Promotionen ist wieder kein Mangel gewesen. Rite promovirt sind in der juristischen Facultät 65, in der medicinisehen 202 approbirte Aerzte und 3 dem deutschen Reiche nicht angehörige Candidaten der Medicin; in der philosophischen 128, bei 163 Meldungen. Honoris causa sind von der theologischen Facultät auf Anlass der 25. Jahresfeier des Predigercollegiums zu St. Pauli am 10. November promovirt 5 frühere Mitglieder des Collegiums, und zwar zu Doctoren der Theologie Consistorialrath Lic. theol. Ernst Friedrich Kühn, Archidiaconus an der Kreuzkirche zu Dresden; Pastor primarius und Superintendent Dr. phil. Carl Julius Richter in Freiberg; Pfarrer und Superintendent Lic. theol. und Dr. phil. Heinrich Friedrich August Nobbe in Leisnig; zu Licentiaten Oberpfarrer und Superintendent Paul Hugo Noth in Schneeberg; Oberpfarrer und Superintendent Dr. phil. Ernst Oswald Schmidt in Annaberg; ferner aus gleichem Anlass zum Doctor der Theologie am 25. Juni d. J. der Hauptpastor an St. Peter, Lic. Dr. Ernst Bruno Hartung; von der juristischen Facultät Geh. Justizrath Heinrich Rudolph Schurig, vordem Präsident des hiesigen Landgerichtes, bei Gelegenheit seiner Uebersiedelung nach Dresden als vortragender Rath im Königl. Justizministerium; von der medicinischen die praktischen Aerzte Carl Friedrich Brause in Groitzsch, und August Wilhelm Kessler in MittelLeutersdorf; von der philosophischen auf Anlass der Einweihung des neuen Conservatoriums Musikdirector Salomon Jadassohn, Lehrer der Theorie der Musik und der Compositionskunde an dieser Anstalt; und am Tage der Enthüllung des Siegesdenkmals der Schöpfer desselben, Rudolf Siemering, Professor an der Kunstakademie in Berlin. Zweien ihrer Doctoren hat dieselbe Facultät ihre Diplome auf Anlass des fünfzigjährigen Jubiläums derselben glückwünschend erneuert: dem Geh. Hofrath Dr. Petzoldt, Bibliothekar a. D. in Dresden, und Pastor Rosenmüller in Zwickau. Ihr goldnes Doctorjubiläum der Philosophie begingen zwei hochverdiente Collegen, Geh. Kirchenrath Baur am 8. und Geh. Rath Roscher am 10. September. Da beide Gedenktage in die Ferien fielen, so holte der akademische Senat durch den Mund des Rectors in Begleitung der Decane seine Glückwünsche am 20. October nach, während die philosophische Facultät ihrem Genossen, Geh. Rath Roscher durch den Prodecan und Professor Fricker eine von diesem verfasste Festschrift überreichen liess. Von den Personen wenden wir uns zu den wissenschaftlichen Anstalten, deren Veränderungen als Verbesserungen zu begrüssen sind. Unter den Neubauten, welche der unermüdlichen Fürsorge der Königl. Regierung für die Bedürfnisse der Universität verdankt werden, nimmt das höchste Interesse der gesammten akademischen Gemeinde der bereits im vorigen Jahre erwähnte Bau der Universitäts-Bibliothek in Anspruch. Derselbe ist soweit gefördert, dass noch für das laufende Jahr die Aufstellung des grösseren Theiles vom Dachwerk in Aussicht genommen werden kann. In drei Jahren hoffentlich wird das palastähnliche Gebäude, welches auf jenem 452

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Sammelplatz monumentaler Bauwerke einen gewaltigen Raum einnimmt, auch im Innern soweit vollendet sein, dass die Uebersiedelung unsrer Bücherschätze in das neue prachtvolle Heim erfolgen kann. Endgiltig beschlossen ist ferner ein grossartiger Neubau für die geburtshülfliche und gynäkologische Klinik im Johannisthal an Stelle des Trierschen Institutes am Grimmaischen Steinweg. Nachdem die hohe Ständeversammlung in liberalster Weise die Summe von 1 200 000 Mark hierzu bewilligt hat, sind die Pläne für die Ausführung nahezu fertig gestellt. Durch die Uebersiedlung des pharmakologischen Institutes in sein neues stattliches Gebäude in der Liebigstrasse ist in dem Beguinenhause der Universitätsstrasse eine Etage frei geworden, wodurch sowohl dem philologischen als auch dem Institut für experimentelle Psychologie eine bescheidene Ausdehnung ihrer Räumlichkeiten gewährt wurde. Freilich ist auch hierdurch dem sehnlichen und im Interesse der Gesundheit der Betheiligten gewiss berechtigten Wunsch nach mehr Licht, reinerer Luft und weniger Strassenlärm noch keineswegs Genüge geleistet. Endlich ist das Bornerianum genannte Auditoriengebäude, um vielfache Klagen zu beseitigen, mit einer Centralheizungs- und Ventilations-Anlage versehen worden. Durch die energischen Bemühungen der hierbei mitwirkenden Organe, besonders unsres UniversitätsRentmeisters, ist es trotz ungeahnter und erneuter Schwierigkeiten möglich geworden, diese Umgestaltung während der Ferien zu bewerkstelligen, ohne dass die Vorlesungen eine erhebliche Störung erleiden mussten. Einen neuen kostbaren Schmuck verdankt unsre Aula der Freigebigkeit der Königl. Regierung. In Anerkennung der ausserordentlichen Verdienste unsrer verstorbenen Collegen Fechner und Fleischer hat dieselbe auf Antrag des akademischen Senates die erforderlichen Mittel zur Herstellung zweier Marmorbüsten dieser hervorragenden Gelehrten bewilligt. Die Büste von Fechner ist ein vorzügliches Werk des Prof. Dr. Kietz in Dresden, die Fleischer’sche ist bereits vor mehreren Jahren durch die Meisterhand Schillings für die Familie hergestellt. Durch ein glückliches Abkommen ist es gelungen, letztere in den Besitz der Universität zu bringen. Und so begrüssen wir heute zum ersten Male die treffend ähnlichen Bildnisse unserer unvergesslichen Amts-Genossen in dieser akademischen Walhalla. Einem dritten ausgezeichneten Forscher und Lehrer der Universität, unserem vor mehreren Jahren schon verstorbenen Julius Cohnheim haben zahlreiche Schüler und Freunde aus der Nähe und Ferne ein Denkmal an seiner Grabstätte gestiftet, ein sinnvolles Marmorrelief von ergreifender Schönheit, ein Werk Rud. Siemering’s, welches am 27. Mai d. J. enthüllt worden ist. Dankbar haben wir zwei wohlthätige Stiftungen zu erwähnen. Zu Anfang des Wintersemesters 1887/8 stiftete der Königl. Sächs. Zollinspector Gustav Oscar Weber zu Lübeck in Erfüllung des letzten Wunsches und zum Andenken an seinen verstorbenen einzigen Sohn Oscar Hans ein Capital von 1000 Mk., dessen Zinsen zu Freitischen an bedürftige und würdige Studierende der Pharmacie, welche dem pharmaceutisch-naturwissenschaftlichen Verein an hiesiger Universität angehören, verwendet werden sollen. So sind die an sich spärlicheren Mittel, auch solchen, welche nicht zu den sächsischen Landeskindern zählen, ihren Lebensunterhalt zu erleichtern, wiederum in erfreulicher Weise vermehrt worden. Dass der Hessenverein 453

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unter dem bewährten Vorsitz des Herrn Philipp Batz auch im verflossenen Jahr seine milde Hand offen gehalten hat, sei hier mit wiederholter Anerkennung hervorgehoben. Ferner hat unser verstorbener College Wagner zur Begründung von Freistellen im städtischen Krankenhause zu Leipzig letztwillig die Summe von 20 000 Mk. hinterlassen; und nachdem gewisse Modalitäten der Verwendung nach gutachtlichen Vorschlägen der medicinischen Facultät geregelt sind, ist durch Verordnung des Königl. Ministeriums vom 10. März d. J. die Annahme der Stiftung, welche der hingebenden Fürsorge des treuen Klinikers für seine Kranken ein schönes Denkmal setzt, genehmigt worden. Den forschungslustigen Docenten aller Facultäten hat auch im vergangenen Jahre wieder unsere Albrechtstiftung ihr segensreiches Füllhorn ausgeschüttet. Im Ganzen ist die bisher noch nicht erreichte Summe von 13 350 Mk. zur Vertheilung gekommen, davon 10 550 Mk. zur Förderung wissenschaftlicher Arbeiten, und 2800 Mk. für wissenschaftliche Reisen. Neben schmerzensreichen Ereignissen hat es auch an festlichen Anlässen erhebender Art in diesem Jahr nicht gefehlt, und die Universität hat sich zur Ehre gerechnet, ihre Theilnahme daran durch geeignete Vertretung zu bethätigen. Den Anfang machte am 10. November v. J. das fünfundzwanzigjährige Stiftungsfest des Predigercollegiums zu St. Pauli, welches sich der Leitung unsres verehrten Collegen Baur zu erfreuen hat. Am 5. December wurde das neuerrichtete Gebäude des Königl. Conservatoriums der Musik, und am Cantatesonntag, dem 29. April d. J., in Gegenwart Sr. Maj. des Königs der Palast des deutschen Buchhändlerhauses feierlich eröffnet. Bei letzterem, die litterarischen Interessen der Universität so nahe berührenden Anlass wurde auch dem zeitigen Rector derselben das Wort zu einer glückwünschenden Ansprache verstattet. Ein glänzendes auswärtiges Fest, welches die ganze akademische Welt anging, fiel in die Mitte des Sommersemesters. Die altehrwürdige Universität Bologna feierte in den Tagen vom 10. bis 14. Juni ihr 800jähriges Jubiläum. Der akademische Senat sandte aus seiner Mitte als Abgeordnete der Leipziger Universität die Professoren Geh. Hofrath Dr. Friedberg und Geh. Bergrath Dr. Zirkel. Dieselben überbrachten unsre Glückwünsche in althergebrachter Form einer tabula gratulatoria. Aber auch unsre Studentenschaft blieb nicht zurück. Nachdem zu dem gemeinsamen Zweck eine lobenswerthe Einigung aller Vereine bewirkt worden war, begaben sich drei Deputirte mit einer glückwünschenden Adresse zu der hochbetagten Schwesteranstalt, und nach der Heimkehr wussten sie nicht genug zu erzählen von der begeisterten und gastfreundlichen Aufnahme, welche sie von Seiten der italischen Commilitonen wie der Bevölkerung erfahren hatten. So ist das Band gegenseitiger Achtung und Zuneigung, welches uns mit dem hochbegabten und liebenswürdigen Volk jenseits der Alpen inniger als seit lange verknüpft, auch um die studierende Jugend Deutschlands und Italiens geschlungen und die Gewähr gegeben, dass die zu Männern heranreifende Generation das schöne Erbe bewahren werde. Leider waren die Vorlesungen bereits geschlossen und die Sommerferien in ihr Recht eingetreten, als am 18. August, dem Gedenktage der Schlacht von St. Privat, auf hiesigem Markte das herrliche Siegesdenkmal enthüllt wurde, welches zur 454

Jahresbericht 1887/88

Erinnerung an den ruhmreichen französischen Krieg von 1870/1 die Kunst Rud. Siemering’s entworfen und gestaltet hat. Bei der stolzen Feier, deren Glanz durch die Anwesenheit Ihrer Majestäten des Königs und der Königin sowie der Prinzen Georg und Friedrich August ungemein erhöht wurde, bei welcher zu allgemeiner Freude auch Generalfeldmarschall Graf Moltke erschienen war, wurde der damals auf einer Urlaubsreise begriffene Rector durch den zeitigen Prorector, Hofrath Prof. Dr. Heinze vertreten. Gekrönt ist die Reihe grosser Festtage durch den gestrigen, welcher durch die Anwesenheit des Kaisers Wilhelm und unsres Königs die höchste Weihe empfangen hat. Oft ist von Berufneren hervorgehoben worden, wie werthvoll namentlich der Juristenfacultät unsrer Universität die unmittelbare tägliche Fühlung mit dem Reichsgericht ist, und so begrüssen wir den feierlichen Act, welcher dieser hohen Behörde ein festes Heim in unsrer Stadt sichert, mit besonderer Freude und Genugthuung. Wenn alle Herzen in dieser Stadt gestern höher schlugen, so musste unsre studierende Jugend, auf welcher ein gutes Theil Zukunft des deutschen Vaterlandes beruht, sich nicht am wenigsten von der Bedeutung des Tages zu ernster Begeisterung und heiligen Vorsätzen emporgetragen fühlen. Unsre Commilitonen haben bei diesem wie bei manchem andren Anlass dieses ereignissschweren Jahres, vor Allem durch ihre Betheiligung an der Bestattung Kaiser Wilhelm’s I., durch die studentische Trauerfeier für Kaiser Friedrich, durch das schöne Erinnerungsfest an die Gründung des geeinten deutschen Reiches am 18. Januar wiederholt und von neuem gezeigt, dass der Geist der Treue und der Vaterlandsliebe in ihnen lebendig ist. Der Wahrheit gemäss darf ich rühmen, dass ich bei jeder Gelegenheit, welche mich mit grösseren oder kleineren Kreisen unsrer Studentenschaft oder auch mit Einzelnen zusammenführte, stets meine Freude gehabt habe an dem wackeren, ehrenhaften und anständigen Sinn, welcher mir entgegentrat, an der Empfänglichkeit für die Ideale und dem Eifer, an deren Pflege nach Kräften mitzuwirken. Immerhin wäre zu wünschen, dass Uebertretungen der polizeilichen Ordnung seltener vorgekommen und die Zahl der hierdurch nöthig gewordenen Straffälle eine geringere wäre. Zwei unwürdige Subjecte haben aus dem sonst gesunden Körper für immer ausgestossen werden müssen. Durch den Tod hat unsre Universität im verflossenen Jahre leider auch 11 Studierende verloren. Dagegen hat sich der Besuch derselben während meines Amtsjahres im Vergleich zu dem vorhergehenden noch gehoben. Es wurden nämlich vom 1. November vorigen bis mit 30. October dieses Jahres im Ganzen 1891 Studierende neu inscribirt, und zwar bis zum Schluss des vorigen Wintersemesters im Anschluss an die von meinem sel. Vorgänger bereits vollzogenen Immatriculationen noch 248, im darauf folgenden Sommer 934 und bis zu dem genannten Tage des laufenden Semesters 709. Die Gesammtsumme der rite immatriculirten Studenten betrug im Winter 1887/8: 3288 gegen 3251 des Winters 1886/7, darunter 1446 Sachsen und 1842 Nichtsachsen, während im Winter 1886/7 1397 Sachsen und 1854 Nichtsachsen immatriculirt waren. Das Sommersemester zeigte eine ungewöhnlich geringe Abnahme: die Ziffer der Immatriculirten belief sich auf 3208 (132 mehr als im vorigen 455

Otto Ribbeck

Sommer), darunter 1522 Sachsen und 1686 Nichtsachsen (gegen 1445 Sachsen und 1631 Nichtsachsen des Vorjahres). Auch für den gegenwärtigen Winter ist der Abgang ein geringerer als im vorigen: damals betrug er bis zum 31. October 636, heute nur 595, so dass der Bestand unsrer Studentenzahl sich an diesem Tage bereits auf 3322 beläuft gegen 3193 am Schluss des vorigen Amtsjahres: also ein Mehr von 129. Die seit dem 15. October d. J. neu immatriculirten 709 Studierenden vertheilen sich unter die vier Facultäten folgendermassen: es gehören 139 der theologischen, 262 der juristischen, 137 der medicinischen, 171 der philosophischen Facultät an. Möge unsre theure Universität zu immer höherer Bedeutung für die Wissenschaft und das Vaterland ansteigen, möge das schöne Verhältniss zwischen Lehrenden und Lernenden, auf welches wir stolz sein dürfen, immerdar bestehen und sich immer von frischem erneuern. Ihnen aber, meine hochverehrten Herrn Collegen, darf ich bei meinem Scheiden von diesem höchsten Ehrenamte meinen frohen und aufrichtigen Dank sagen für alle Unterstützung durch Rath und That, für das reiche Maass von Wohlwollen und Nachsicht, womit Sie mir die Ausübung meiner Pflicht erleichtert und angenehm gemacht haben. Und wenn diese Nachsicht sich in ganz ungewöhnlicher Weise noch um einen Tag über das Ihren Rectoren gesetzte Ziel erstreckt hat, so habe ich die Umstände zu preisen, welche meine Amtsführung mit so glänzendem Ausgang gekrönt, und Ihren Edelmuth, welcher ihr denselben gegönnt hat. Hieran schloss sich der Bericht über den Erfolg der akademischen Preisbewerbung und die Verkündigung der neuen Aufgaben. Ueber beides wird wie bisher durch eine besondere Schrift demnächst vollständige Mittheilung gemacht werden. Schliesslich erfolgte die Uebergabe der Amtsinsignien an den neuen Rector und dessen Vereidigung durch den abtretenden. ***

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Franz Hofmann (1843–1920)

1. November 1888. Rede des antretenden Rectors Dr. med. Franz Hofmann. Die Quellen und die Ausbreitung der Volkshygiene. Hochansehnliche Versammlung! Der freiheitliche Rahmen der Universitäten gestattet, dass sich denselben neue Fächer und Wissensgebiete einreihen lassen, dass im Sinne einer fruchtbringenden Arbeitsvertiefung Disciplinen sich theilen und abzweigen, und wiederum solche, deren Grundlagen erschöpft oder verbraucht sind sich gänzlich auflösen und verschwinden. In der Beweglichkeit der Aufgaben und ihrer Ziele liegt ein Hauptgrund, wesshalb unsere Hochschulen trotz des Festhaltens an bestimmten, altehrwürdigen Formen und Gepflogenheiten den Wechsel der Zeiten so leicht ertragen und den jeweiligen Anschauungen der Zeitgenossen entsprechen. Die Universitäten altern nicht und bleiben die Sammelplätze geistiger Arbeit. Ungemessen, an Jeden der Nutzniesser sein will, werden die errungenen Schätze der Erkenntniss vertheilt. Der Reichthum und die Vielseitigkeit ihrer Bestrebungen erlaubt, dass die weitesten Kreise der Bevölkerung die Früchte des idealen Schaffens thatsächlich empfangen. Die deutschen Universitäten verkörpern darum in sich alle zeitgemässen Strömungen, und ihre Geschichte ist die Geschichte des Volkes. Es ist naturgemäss, dass an den Universitäten, ebenso wie im Leben des Individuums und der Völker einzelne Ideen und bewegende Motive zeitweilig mehr zurücktreten, während andere in einem raschen, mächtigen Aufblühen begriffen sind. Zu den Disciplinen, welche erst in ganz neuer Zeit Aufnahme in den Kreis der wissenschaftlichen Lehrfächer gefunden haben, gehört die Hygiene. Als ein selbständiges und mit den unentbehrlichen Attributen der Forschung ausgerüstetes Fach, ist sie kaum 20 Jahre alt, und offenbart sich ihrem Wesen und Streben nach als ein ganz modernes Kind der Gegenwart. Aus unbedeutenden Anfängen hervorgegangen, hat sie als Wissenschaft schnell, eine fast überstürzte Entwicklung genommen, ganz verschieden von den übrigen medicinischen Fächern. Mit Gewalt stürmt sie auch gegen den Willen des Lehrers aus den Hörsälen und wissenschaftlichen Arbeitsstätten hinaus in das Leben, und dringt als einflussreiche, 457

Franz Hofmann

bald warnende, bald befehlende Macht sowohl in Paläste wie in die ärmsten Hütten. Sie steht nicht an, dem Einzelnen wie den Gemeinden und selbst dem Staate ihre Forderungen zu stellen. Es dürfte darum die Betrachtung gerechtfertigt sein, wie gerade dieses junge Fach in so kurzer Frist üppige Ranken und feste Wurzeln in das staatliche Leben senden und sogar umgestaltend in die Verhältnisse der Völker eingreifen konnte. Selbstverständlich ist die Gesundheitspflege nicht etwa erst in unserer Zeit neu erfunden oder entdeckt worden. Jedes denkende Individuum gelangt auf dem einfachen Wege der Selbstbeobachtung zu einem Schatze werthvoller hygienischer Kenntnisse. So zutreffend und richtig aber auch viele dieser subjectiven Wahrnehmungen sein mögen – eine Wissenschaft sind sie noch lange nicht, denn es fehlt der einheitliche zielbewusste Gedanke die losen Resultate der gelegentlichen Beobachtung zu einem harmonischen Bau zu vereinigen. Wohl veranlassten zeitweilig äussere Nothlagen und Bedrängnisse die unbearbeiteten Bausteine der empirischen Hygiene aufzuraffen und zu einem hastigen und gebrechlichen Schutzbaue zu verbinden. Aber wie wurde gebaut? Die Schutzmassregeln gegen ansteckende Krankheiten glichen in Form und Wesen ganz den Massregeln, wie sie gegen Verbrecher gebraucht wurden. Denn nicht die Krankheitsursachen, sondern die unglücklichen Kranken selbst wurden verfolgt, bestraft, eingesperrt und ausgestossen. Blättert man die Schriften der sogenannten Gesundheitspflege durch, wie sie noch vor vier Decennien erschienen und sich dem Zeitsinne entsprechend als Diätetik für Gesunde, als Glückseligkeitslehre, als medicinische Fastenpredigten und dgl. betitelten, so versteht man leicht, dass mit einer solchen Auffassung und Behandlung der Gesundheitspflege, für die Wissenschaft Nichts, für die Praxis nur wenig zu erreichen war. Dem Gelehrten erschien es damals besonders wichtig, die verschiedenen Arten von Gesundheit spitzfindig zu kennzeichnen. Man unterschied eine athletische, eine mittlere, eine elastische, eine zärtliche und eine schwache Gesundheit. Zur Erhaltung einer jeden dieser einzelnen Unterarten von Gesundheit wurden specielle Verhaltungsmassregeln breit discutirt. Und selbst da, wo sich diese angebliche Gesundheitspflege zu wirklichen Vorschlägen und zu practischem Handeln aufschwang, geschah es fast immer in dem Wesen einer abgeschwächten Therapie. Das Rüstzeug, um den Menschen langlebig und glückselig zu machen, bestund in diätetischen Mitteln, in Einreibungen mit Wässern und Salben, und vor Allem in kräftigen Purgirmitteln, in Schröpfköpfen und in recht ergiebigen Aderlässen. Die erste kräftige und nachhaltende Anregung, die Gesundheit den Gesunden zu erhalten, gab unstreitig das Auftreten der Cholera in Europa. Mit einer nie gekannten Heftigkeit hielt diese verheerende Seuche ihren Umzug, begleitete die marschirenden Heere, kettete sich an die volksreichen Städte, und wusste ganz einsam gelegene Ortschaften aufzufinden. Wohl keine Krankheit hätte die Trägheit und Gleichgültigkeit der Menschen vor Missständen in gleichem Grade aufzurütteln vermocht, als die Cholera. 458

Antrittsrede 1888

Mit Vorliebe befällt sie kräftige und gesunde Personen. Zwischen Beginn der schrecklichen Erkrankung und dem Tode zieht sich in der Regel kaum die Gnadenfrist, welche dem verurtheilten Verbrecher bewilligt wird. Mit gleicher Heftigkeit erfasst sie den Armen wie den Reichen, und mit der Gewissheit von 1 : 1 tödtet sie, wen ihre eisige Hand berührt hat. Die Plötzlichkeit und Sicherheit der Schläge, die sie austheilt, rauben selbst muthigen Menschen alle Hoffnung und Zuversicht für das eigene Leben. Niemand weiss, ob er den nächsten Tag noch lebt. Neben diesen Schrecken zeigt die Cholera wieder ihre ganz unerklärlichen Launen. Nicht jede Stadt ist ihr genehm, und wie sie unter den Städten auswählt, einzelne immer meidet, so herrscht sie auch innerhalb der von ihr ergriffenen Stadt ganz nach Belieben, verschont bestimmte Stadttheile und Strassen. Ja in einem Hause erkrankt Niemand und in dem Nachbarhause sterben sämmtliche Bewohner. Nicht nur nach Ort, auch nach Zeit geht die Cholera ihren eigenen Weg und zieht sich in einzelnen Monaten ganz zurück, als ob sie vom Würgen ausruhen und im Verstecke neue Kräfte sammeln wollte. In den Frühjahrsmonaten März und April gedeiht sie nicht, in den Herbstmonaten September und October hält sie ihre reichste Ernte. So erlagen in Preussen während der Choleraepidemien von 1848–1859 in den Monaten März 212, in den Monaten April nur 112 Personen an Cholera, im September hingegen tödtete sie 56 561 und im October 36 271 Menschen. Wie ein Feuerbrand flammt sie auf, erreicht rasch ihren Höhepunkt, um dann ebenso schnell wieder abzusinken und in einzelnen verschleppten Fällen auszuklingen. Dieses örtlich und zeitlich verschiedene Auftreten führte nothwendig zu dem Gedanken, dass die Ursachen dieser Krankheit von äusseren Verhältnissen beeinflusst werden. Der Cholera gegenüber erwies sich alle ärztliche Kunst als machtlos und ist es auch jetzt noch. Wollte man die Bevölkerung nicht in die Zustände starrer Todesfurcht oder tobenden Wahnsinnes verfallen lassen, wie dies früher bei uns und noch vor drei Jahren in Italien der Fall war, wo die Aerzte als absichtliche Verbreiter der Krankheit beschuldigt und verfolgt wurden, so blieb nur die Prüfung der Krankheitsursachen, der Wohnungszustände und der Lebensbedingungen des Volkes übrig. Es ist Pettenkofers hervorragendes Verdienst, der Hygiene eine beobachtende und experimentelle Richtung gegeben zu haben, an Stelle der früheren speculativen Bestrebungen. Mit voller Klarheit fasste er den Gedanken auf, dass der menschliche Körper – jung oder alt, gesund oder krank – in ununterbrochener Wechselwirkung und Abhängigkeit von seiner Umgebung sich befinde, und dass es vor Allem nothwendig sei, diese Einflüsse in ihrem vollen Werthe und Causalzusammenhange festzustellen. Bei der Vielgestaltigkeit des Lebens sind diese Bedingungen äusserst verwickelt und das Arbeitsgebiet der Hygiene erstreckt sich in ungemessene Breiten. Es greift in die überfüllten Schulen; wir finden es in den Fabriken, in den Gefängnissen und in Hospitälern, nicht minder in den Tiefen der Bergwerke, wie auf dem schwankenden Schiffe. Es zieht mit dem Heere in die Schlachten und begleitet den kühnen Forschungsreisenden in die fernen Erdtheile. Denn überall, wo Menschen leben, sei es in der Fülle ihrer Wünsche oder in äusserster Noth und Drangsal, immer sind sie 459

Franz Hofmann

den jeweiligen Einwirkungen ihrer Umgebung unterworfen. Die ganze Jugendkraft der neuen Disciplin und das Feuer der Begeisterung gehörte dazu, um an die Bearbeitung eines Gebietes von solcher Ausdehnung zu schreiten. Unsere Hochschulen verhielten sich der neu auftauchenden Richtung gegenüber kühl und zurückhaltend. In den anderen naturwissenschaftlichen und medicinischen Disciplinen waren neue, exacte Untersuchungsmethoden gefunden. Jeder Tag brachte der Chemie, der Physik herrliche Entdeckungen und überraschende Fortschritte. Der Anatomie diente das Mikroskop um Wunder im Bau des menschlichen Körpers zu sehen, und die Physiologie, die reichen Erfahrungen der Hilfswissenschaften ergänzend und ausnützend, schuf durch geistreich ersonnene Experimente ungeahnte Klarheit in die verwickelten Functionen des lebenden Organismus. Eine Hochfluth von Wissen strömte aus den regen Werkstätten der Medicin. Die Hygiene konnte an diesem Wettbetriebe nicht Theil nehmen, ihr war ein selbstthätiges, methodisches Arbeiten unmöglich, denn sie verfügte über keine Arbeitsplätze. Pettenkofer allein standen in dieser Zeit, abgetheilt vom Münchener physiologischen Institute ein Paar Zimmerchen zu Diensten, höchst bescheiden für ihn und seinen Assistenten eingerichtet. In dem medicinischen Unterrichte der Universität war die Vorstellung, dass das ärztliche Studium und der Arzt nur dem kranken Menschen gehöre, so tief eingewurzelt, dass die Beschäftigung im Interesse des gesunden nicht bettlägerigen Menschen für überflüssig und sogar für schädlich gehalten wurde. Noch sind nicht 12 Jahre verstrichen, dass ein hervorragender Kliniker in einer werthvollen Studie über Lernen und Lehren der medicinischen Wissenschaften die Hygiene als eine ihm ganz unverständliche Schwärmerei bezeichnet. Die Hygiene fordere für den Menschen Gesundheit und langes Leben. Gesundheit hänge aber vielmehr von Erblichkeitsverhältnissen als von andern socialen Bedingungen ab, und was das lange Leben beträfe, so sei dies Geschmackssache. Denn der Character unserer Zeit laute: Rasch und genussreich, wenn auch ungesund leben und rasch verderben ist besser als gesund, lange und langweilig zu leben. Die Uebervölkerung und Steigerung der Concurenz sei am meisten zu fürchten, und es schade Nichts, wenn Epidemien und Krieg jährlich tüchtig aufräumen. Dem berühmten Arzte erschien darum auch der Unterricht der Hygiene an den Universitäten unnöthig, beziehungsweise sogar schädlich, weil sie des Studirenden Zeit beanspruchen und ihn vom Studium der Krankheiten abhalten könnte. Gewiss giebt es weit höhere Güter als Gesundheit, als langes Leben. Mit Freuden wird jeder tüchtige Mann für das Vaterland, für die Pflicht sein Leben opfern. Ruft aber das Vaterland, so wollen wir nicht mit siechem, elenden Körper dem grausamen Zwecke einer Entvölkerung dienen, sondern möglichst kräftig und gesund vorwärts dringen, und unseren Rechtes uns erwehren. Die Uebervölkerung eines Staates wird überdem keineswegs nur durch die vermehrte Zahl der Einwohner bestimmt. Sie tritt ein, und zwar schroffer und verhängnissvoller für die Gesammtheit, selbst bei abnehmender Bevölkerung, wenn in Folge ungünstiger, sanitärer Zustände die durchschnittliche Arbeitstüchtigkeit geringer wird, die Manneskraft auf die Leistung des Knaben herabsinkt und die Zahl der 460

Antrittsrede 1888

Siechen, der drittel, halb und ganz Erwerbsunfähigen steigt. Diese müssen dann von den Uebrigen gepflegt und aufgehalten werden, und einer muss verdienen und erarbeiten, was zwei und drei verzehren. Zum Glücke blieben die Stimmen vereinzelt, welche in vermeidbarem Elende Vortheil für das Wohl der Menschen erblickten. Nicht mehr konnte in unserem Zeitalter der zündende Gedanke unterdrückt werden, dass es ausser Volkskrankheiten und Volkselend auch eine Volksgesundheit gebe. Die grosse wirthschaftliche Bewegung, welche Deutschlands Einheit hervorrief, der enorme Aufschwung, welchen Industrie und Gewerbe durch die Freizügigkeit, durch die Verkehrserleichterungen, durch die Vervollkommnung aller technischen Hilfsmittel errungen hatten, konnte nicht ohne Rückwirkung auf die Gesundheitsbestrebungen bleiben. Im Volke wuchs die Zuversicht, dass unendlich viel unverschuldetes Elend und beklagenswerthe Noth gemildert und verhütet werden könne. Die deutschen Aerzte schlossen sich dieser Strömung begeistert an und traten überall an die Spitze der Bewegung. Man schöpfte die Beobachtungen aus dem täglichen Leben und der nächsten Umgebung, und erstaunte, seine Verhältnisse, sein eigenes Heim so unerkannt zu finden, wie ein fernes Land. Die Erinnerungen an die Choleraepidemien, sowie das Ueberhandnehmen von Typhus in einzelnen Städten lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit frühzeitig auf die Schädlichkeiten, welche vom schlechten Trinkwasser, von Verunreinigungen des Bodens, von fehlender oder ungenügender Entwässerung ausgehen. Der Volkswille und die Volksfurcht waren die treibenden Kräfte, welche die Gemeinden dazu drängten, mit allen Mitteln Verbesserungen vorzunehmen. Man wollte und konnte nicht mehr auf wissenschaftliche Forschungen und Resultate warten. Der Wille wurde zur That, es wurde projectirt und wurde gebaut, und die fertigen Anlagen waren zugleich die ersten Versuche im grossartigen Stile. Doch die beste Absicht und der grösste Eifer können da Misserfolge nicht abwenden, wo die ausreichende Sachkenntniss fehlt. Der vorausgesagte und sicher erwartete Nutzen mancher sanitären Anlage trat nicht ein, grosse Summen waren geopfert, theures Lehrgeld bezahlt, und unerquickliche Streitigkeiten erhoben sich darüber, wem die Schuld der falschen Berathung beizumessen sei. Ein Rückschlag konnte nicht ausbleiben, aber er lähmte die Bewegung nicht im Mindesten, sondern trieb immer schärfer und dringender zu der Forderung, dass dem Volke Gelegenheiten der methodischen Bearbeitung und Sammlung hygienischer Bedürfnissfragen geschaffen werden müssen. Die Gesundheitscommissionen, welche bisher als freiwillige Kräfte erstanden waren, haben an einzelnen Orten Vortreffliches geleistet; dem allgemeinen Bedürfnisse aber konnten sie in Folge ihres localen Characters und ihrer localen Bestrebungen nicht genügen. Der deutsche Reichstag trat als Helfer der Nothlage auf, und in der Sitzung des 28. November 1875 wurde von ihm die Bewilligung der Mittel ausgesprochen, welche für die Errichtung und den Geschäftsbetrieb eines Reichsgesundheitsamtes nothwendig waren. Es war ein hochbedeutsamer Beschluss. Durch denselben haben Volksvertretung wie Regierung die Bestrebungen der Gesundheitspflege als voll beachtenswerth bezeichnet, die Nothlage des Volkes anerkannt. 461

Franz Hofmann

Für das neu zu errichtende Amt fehlte jedes Vorbild. Es war die erste Schöpfung in der Welt, mit der ausgesprochenen Absicht, nur den Zwecken des Volkswohles zu dienen, und seine Organisation gestaltete sich nicht leicht. Doch der Reichskanzler Bismarck stand an seiner Wiege, und dessen directe, persönliche Fürsorge gab dem Amte das feste Gefüge, welches es bis heute bewahrt hat, durch welches es so Grosses leistet. Dem Reiche gegeben, sollte das Gesundheitsamt vor Allem der Regierung als berathendes Organ zur Seite stehen, und in Fragen der öffentlichen Gesundheitspflege die sachgemässen Vorschläge bearbeiten. Mit dieser Forderung erhoben sich jedoch sofort wieder dieselben Schwierigkeiten, welche bereits die Gemeinden zu beklagen hatten, dass die Hygiene nach vielen Richtungen hin zu wenig sichere Unterlagen bot. Die Schwierigkeiten traten um so fühlbarer hervor, als dem Gesundheitsamte des Reiches grössere und verantwortungsvollere Arbeiten zufielen. Darum übernahm das Reichsgesundheitsamt die weitere Aufgabe, selbstständige Untersuchungen auszuführen, um seine Vorschläge auf wissenschaftliche Resultate stützen zu können. Fachkräfte für hygienisches, chemisches und statistisches Arbeiten wurden als ständige Mitglieder berufen, umfangreiche und zweckmässige Laboratorien und Versuchsräume hergestellt, und das Reichsgesundheitsamt, – seinem Endzwecke nach ein berathendes Organ, – erstand thatsächlich als das erste hygienische Institut, grossartig angelegt und im Besitze und Dienste des deutschen Reiches. Die Reichhaltigkeit der Einrichtungen, die Grösse der Dotirung erlauben in dem Amte die Ausführung von Forschungsarbeiten, wie sie weder in Einzelstaaten, noch in grösseren wissenschaftlichen Verbänden möglich sind. Denn zu Allem, was das Amt ist und hat, kommen die Hülfsmittel und die gewaltige Autorität des Reiches hinzu. Allbekannt sind die Früchte und Leistungen, welche dieses Reichsinstitut seit den wenigen Jahren seines Bestehens der Regierung, dem deutschen Volke und der hygienischen Wissenschaft gewährt hat. Ich brauche nur an die Epoche machenden Arbeiten über die Ursachen und die Verbreitung ansteckender Krankheiten und deren Vorbeugungsmassregeln zu erinnern, wie wir sie Robert Koch und seinen Mitarbeitern im Gesundheitsamte verdanken, oder an die Segnungen des Impfgesetzes, welches Deutschland von Blatternepidemien verschont hält, während in den Nachbarstaaten Tausende von Menschen dieser Krankheit erliegen, an die wichtigen Gesetze gegen die massenhaft geübten, frevelhaften Nahrungs- und Genussmittelfälschungen, um verständlich zu machen, weshalb auch ausserdeutsche Staaten wie Italien und Oesterreich sich gegenwärtig lebhaft bemühen, eine gleich segensreich wirkende Institution zu erlangen. Aus den Wünschen und Bedürfnissen des Volkes hervorgegangen, hat das Reichsgesundheitsamt seine Aufgaben ganz erfasst und trotz der hohen Stellung seine Volksthümlichkeit bewahrt. Es beweist dies der Eifer, mit welchem es bemüht ist, nicht nur die Resultate seiner wissenschaftlichen Forschung Jedermann zugänglich zu machen, sondern auch das Interesse für Hygiene im Publikum möglichst zu fördern. Von ihm werden die Erkrankungen und Sterbefälle aus dem ganzen deutschen Gebiete zusammengezogen. Mit einer Raschheit und Sicherheit, wie sie nur diesem 462

Antrittsrede 1888

Amte möglich ist, wird das ernste Bild des Auf- und Abwogens von Krankheit und Tod dem ganzen Volke gezeigt, und das Nothsignal gegeben, wohin sich Schutz und Arbeit zu richten haben. Wenden wir uns zu den deutschen Universitäten! Auch sie blieben weiterhin nicht mehr ruhige Zuschauer einer Geistesbewegung, welche bereits sichtbare Früchte trug. Der Grund, weshalb die Hochschulen so lange mit der Aufnahme des Faches zögerten, lag bestimmt nicht in einem Uebelwollen gegen die Bestrebungen der Hygiene. Dem Geiste der Universitäten widersprach aber das zersplitterte Wissen, das hastige Drängen nach Tagesfragen und Augenblicksbedürfnissen, wie sie die im Volke wurzelnde practische Hygiene beansprucht. An den Hochschulen gilt es sichere und geläuterte Erfahrungssätze in die Sphäre der Wissenschaft zu erheben, hier ist es nothwendig die Solidaridät mit den übrigen Fächern der Medizin zu pflegen und den Zusammenhang mit dem Ganzen aufrecht zu erhalten. Die Hygiene musste also vorerst die nothwendigen Voraussetzungen für den academischen Unterricht, wie für das kritische, wissenschaftliche Arbeiten erwerben, sich vom Staube des alltäglichen Lebens befreien, eine höhere Umbildung durchmachen, welche nicht nur Zeit erforderte, sondern manche Schwierigkeiten bot in Folge ihrer Abstammung und ihres Ausgangspunktes von der practischen Hygiene. Nach dem Vortritte von München, war unsere Hochschule die Erste in Deutschland, welche sich jetzt vor 10 Jahren der Errichtung eines hygienischen Institutes rühmen konnte; Dank der Anregung der medicinischen Facultät und dem bereitwilligen Entgegenkommen der hohen Regierung, die von jeher in Fragen des öffentlichen Wohles das wärmste Interesse bethätigt. Im Laufe der allerletzten Jahre folgten nahezu sämmtliche deutschen Universitäten in der Errichtung hygienischer Lehrstühle, so dass dem jungen Arzte nunmehr überall die Gelegenheit zu Theil wird, sich in den Grundzügen der Gesundheitspflege zu unterrichten. Die neuen Arbeitsstätten erweisen sich schon jetzt als feste Krystallisationspunkte einer emsigen und vielseitigen Thätigkeit, welche sich gegenwärtig mit Vorliebe den hochinteressanten und wichtigen Fragen der Bacterienkunde zuwendet. In den Gläsern und Wärmeschränken der Institute finden sich ganze Sammlungen der giftigen Organismen. Man züchtet die Keime des Typhus, der Cholera, der Lungenentzündung, der Tuberculose, der Eiterfieber u. s. w. wie der Gärtner seine Blumen. Man prüft und verfolgt ihr Wachsthum und ihre Lebenseigenschaften und lernt ihr Verhalten im Trinkwasser, im Erdboden, in den Wohnungsräumen kennen und die versteckten Bedingungen, wie sie durch die Luft, durch Personen, durch Speisen als unsichtbare tödtliche Feinde vertragen und verschleppt werden. Das häufige Arbeiten mit den gefährlichen Organismen wird selbst wieder zum Vortheile der übrigen Menschen. Es zwingt zur eigenen grössten Vorsicht und lehrt und giebt die beruhigende Sicherheit, dass man die Schädlichkeiten im Laboratorium bereits wirklich beherrschen kann und im practischen Leben mehr und mehr wird beherrschen lernen. Mit der Erstehung der hygienischen Institute und des Reichsgesundheitsamtes sind lang ersehnte Wünsche der ärztlichen Kreise und des Publikums erfüllt. Irrig aber wäre es zu glauben, dass mit deren Forschungsarbeiten allein auch die egoistischen 463

Franz Hofmann

Forderungen befriedigt wären, welche die weiteren Kreise des Volkes hegten. Das Publikum wollte und will an der hygienischen Belehrung selbst Antheil nehmen, dieselbe rasch und unmittelbar empfangen und zu seinem eigenen Nutzen verwerthen. Wie sich im Volke die Begriffe von Recht und Unrecht, von Gut und Schlecht als mächtige Factoren des Zusammenlebens und der Gesittung eingewurzelt haben und die Handlungen und Unterlassungen der Menschen bestimmen, so ist es auch gerechtfertigt, ja nothwendig, dass die Bevölkerung bestimmte Begriffe der Gesundheitspflege auffasst und hochhält um nicht an der körperlichen Gesundheit so häufig Schiffbruch zu leiden, wie es in der That geschieht. Dem Geiste echter Wissenschaft widerspricht es aber nicht, wenn die gefundenen Lehrsätze in das Leben hinausgetragen werden und die Resultate angestrengten Nachdenkens und Arbeitens dazu dienen, die Leiden der Menschheit zu lindern. Auf einer möglichst weiten Verbreitung richtiger hygienischer Kenntnisse beruht der Fortschritt, welchen das Wohl der Individuen und der Völker erreichen kann. Die Gesundheitszustände der einzelnen gleichzeitig lebenden Menschen geben den Gesundheitswerth der Bevölkerung. Eine genaue Feststellung desselben, hat für den Staat wie für die Hygiene etwa die gleiche Bedeutung, wie für die Landwirthschaft die Ermittlung der Bonität der Felder und Wiesen, oder für die Armee die Prüfung der Güte des Kriegsmateriales. In den Culturstaaten giebt es nur eine Gelegenheit, die durchschnittliche Körperbeschaffenheit der Bevölkerung kennen zu lernen und zwar bei den ärztlichen Untersuchungen zum Zwecke der Recrutenaushebungen. Das Militär erblickt in denselben blos ein Mittel, Brauchbare von Unbrauchbaren zu scheiden. Sind letztere bezeichnet und aus den Listen gestrichen, so sinken sie wieder unbeachtet in die Masse des Volkes zurück. Unsere Sitten und Lebensgewohnheiten wirken schon frühzeitig furchtbar vernichtend auf das Menschenleben und die Gesundheit. 25, 30, sogar 40 Prozent der Neugebornen werden bei uns schon in dem ersten Lebensjahre dahingerafft. Von 100 im deutschen Reiche gebornen Menschen stirbt fast die Hälfte, nämlich 41 Prozent, bevor sie nur das 21. Lebensjahr erreicht haben. Man sollte glauben, dass durch eine solche Halbirung der Bevölkerung die schwächlichen Individuen ausgemerzt sind, nur Kräftige und Gesunde übrig bleiben. Erfolgt aber im 21. Lebensjahre bei Gelegenheit der Recrutenaushebung die ärztliche Kritik des bestehenden Gesundheitszustandes, so müssen dennoch wieder 40–50 Procent der männlichen Jugend aus keinem anderen Grunde, als wegen Körperschwäche und wegen Gebrechen minderwerthig und unbrauchbar bei Seite gestellt werden. Diese Untauglichen sind nicht in dem gewöhnlichen Sinne krank, sondern in der Mehrzahl die unglücklichen Beweise vermeidbarer Schädlichkeiten, welche ihre verderblichen Wirkungen theils offen, theils in versteckten Formen äusserten, mit der unheimlichen Macht kleiner aber constant wirkender Gewalten. Sollen also die feststehenden und anwendbaren Sätze der Hygiene zur Hebung des allgemeinen Gesundheitszustandes wirklich dienstbar gemacht werden, so sind die Wege zu ebnen und die Bahnen zu ziehen, auf welchen sich die Kenntnisse ausbreiten und tief in das Volksbewusstsein versenken lassen. 464

Antrittsrede 1888

Nach dieser Richtung stellten sich der Hygiene freiwillig und von Anbeginn unermüdliche Hilfskräfte zur Verfügung. Voran steht die Macht der Tagespresse, die sich überbietet, neue Erfahrungen, wichtige Fortschritte zu berichten – oder als öffentlicher Ankläger gegen Missstände aufzutreten. Wägt man vorurtheilslos ab, was diese flüchtigen Kundgebungen des Tages, deren Ziel ja immer ein Unmittelbares und auf die momentanen Interessen und Neigungen gerichtetes ist, dem Publikum an wirklicher Belehrung und Aufmunterung in gesundheitlichen Fragen gebracht haben, so überwiegen diese Gaben weitaus die Nachtheile, welche die unlauteren Motive der Reclame und des Eigennutzes hervorrufen konnten. Den tiefgehendsten und kräftigsten Impuls hat die Volkshygiene jedoch durch die rege Vereinsthätigkeit gewonnen, welche sich an den grösseren Orten zur vollen Blüthe entwickelte. Alle die zahlreichen hygienischen Vereinigungen aber überragt durch seine vortreffliche Organisation, durch sein practisches und einfaches Programm ein Verein, dessen Bedeutung und Einfluss durch ganz Deutschland zu verfolgen ist. Dass in den deutschen Städten eine grosse Anzahl der schönsten und am schwierigsten auszuführenden, sanitären Anlagen zu einer Zeit bereits fertig gestellt wurde, in welcher die wissenschaftliche Hygiene noch gänzlich brach lag, ist dem deutschen Vereine für öffentliche Gesundheitspflege zu verdanken. Derselbe ist ein nationaler Wander- und Agitationsverein im besten Sinne, der alle Gauen Deutschlands, vom Rheine bis an die Ost- und Nordsee durchzieht, absichtlich solche Städte aufsucht, wo sanitäre Anregungen in bestimmter Richtung gegeben werden sollen oder, wo vortrefflich gelungene Werke zur Belehrung und Nacheiferung gezeigt werden können. Fast sämmtliche grösseren deutschen Städte sind Mitglieder dieses Vereines, und an seinen Berathungen und Beschlüssen nehmen nicht nur die Fachgenossen sondern im gleichem Grade die Vertreter von Gemeinden, die Abgesandten der Regierung Theil. Während der Fachmann in die eine Wagschaale sein bestes Wissen und die weitgehendsten sanitären Forderungen legt, belastet der für die Ausführung verantwortliche Gemeinde- und Regierungsvertreter die andere Schaale mit den Bedenken concurrirender Umstände und finanzieller Erwägungen. Alle Vorschläge müssen öffentlich die strenge Probe richtiger theoretischer Durcharbeitung und zugleich die der practischen Ausführbarkeit bestehen und der lebendige Gedanke und die Ueberzeugung, dass eine hygienische Massregel nicht blos gut, zweckmässig, nothwendig sondern wirklich ausführbar ist, wird in diesem Vereine direct in die Kreise übergeleitet und von den Personen aufgenommen, welchen in jedem Staatsleben die Gewalt und die Mittel der Ausführung zukommen. Der deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege ist der selbstständige Schöpfer eines wichtigen Zweiges der practischen Gesundheitspflege geworden, durch ihn ist in Deutschland die Communal-Hygiene entstanden. Den Gemeinden sind die sanitären Werke, welche der gegenwärtigen Zeitperiode angehören, nicht wie eine reife Frucht in den Schooss gefallen. Sie haben sich dieselben, frei aus sich selbst heraus, ohne Mitwirkung des Staates oder staatlicher Anstalten durch eigenes Mitarbeiten und Mitberathen erworben und sich hierdurch auch die Freude und das warme Interesse für weitere sanitäre Verbesserungen thatkräftig erhalten. 465

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Wie tief diese Einrichtungen mit dem Leben und Treiben der Menschen verwachsen sind, zeigt sich darin am besten, dass ihre Anwesenheit kaum beachtet und ihre Nutzniessung als selbstverständlich angesehen wird. Man denke sich, um nur ein Beispiel anzuführen, auf einige Monate die Zufuhr des Wassers unterbrochen oder die Ableitungskanäle in Haus und Strassen verstopft, wie unerträglich, ja wie unmöglich würde Jedem ein Zustand erscheinen, der vor 20 und 30 Jahren noch als zufriedenstellend betrachtet wurde. Und nicht in der Annehmlichkeit und Bequemlichkeit, sondern in den sanitären Wirkungen liegt der Hauptwerth solcher Anlagen. Werden doch z. B. in den Leipziger Schleussen Tag für Tag gegen 30 000 C. M. Wasser mit weit über 20 000 kgr. fester Schmutzbestandtheile aus dem Bereiche der Wohnungen, der Häuser entfernt und um diesen Theil der Boden, die Wohnungen, die ganze Stadt reiner und gesünder erhalten. Die Gemeinden können die Gesundheitspflege an dem Individuum nicht selbst ausüben. Sie bieten nur, soweit es in ihrer Macht liegt, die Mittel, über welche der Einzelne sonst nicht verfügen würde. In letzter Linie hängt es also immer von dem Individuum ab, in wie weit es von verderblichen Gewohnheiten zurücktreten und die dargebotenen Mittel, die entgegengebrachten Rathschläge der Hygiene annehmen will oder nicht. Drei Güter, unentbehrlich für jedes Menschenalter spendet die Natur in unermesslicher Fülle und ohne dass sie ihr vom Menschen mit Mühe und harter Arbeit abgerungen werden müssen: das himmlische Tageslicht, die bewegliche reine Luft, und ein Stückchen Erde, um sich auf ihr frei zu ergehen. Welchen Kampf muss heute noch die Hygiene führen, damit diese Güter in dem nothwendigen, niedrigsten Maasse jedem Menschen zugewendet werden. Wie sind die Wohnungen der ärmeren Bevölkerung beschaffen. Welcher sanitäre Zündstoff ist in denselben aufgehäuft und wird von hieraus auf den tausendfachen Wegen des Verkehres der ganzen Stadt mitgetheilt. Welche Wohn- und Schlafräume sind selbst bei den besseren Ständen zu finden, den eigenen Kindern, dem Gesinde angewiesen. Diese Schattenseiten hygienischer Zustände können, wie viele andere, nur langsam beseitigt werden in dem Grade als die Erkenntniss und der Wille des einzelnen Menschen erstarkt. Die werthvollsten Wächter und Träger des Gesundheitsgedankens sind darum die Gebildeten des Volkes. Unkenntniss, Stumpfsinn und auch absichtliches Widerstreben sind die betrübenden Ursachen, dass der Arme und minder Wohlhabende so überaus häufig an den Segnungen der Gesundheitspflege keinen Antheil hat. Die Volkshygiene steigt und fällt mit dem Bildungsgrade des Volkes. In den letzten Jahren macht die practische Hygiene einen Vorstoss nach einer Richtung, welche weit in das Leben und in die Zukunft der Menschen hinausgreift. Mit wachsendem Interesse wenden sich unsere Bearbeitungen der Schule zu und dies mit vollem Rechte. Die Tüchtigkeit und die in keinem Lande erreichte hohe Ausbildung der Lehrkräfte hat bei uns in langjähriger Entwickelung die geistigen und hiermit auch die körperlichen Anforderungen an die Jugend zu maximalen Leistungen gesteigert. Nach Ansicht ruhiger Beobachter werden von Kindern qualitativ und quantitativ Leistungen verlangt, wie sie kaum Erwachsenen zugemuthet werden, so 466

Antrittsrede 1888

das man, ob mit Recht oder Unrecht möchte ich dahingestellt sein lassen, die Schule für eine ganze Reihe von Gesundheitsschädigungen verantwortlich macht. Ein lebhafter Streit ist zwischen Schule und Gesundheitspflege über die sanitäre Beaufsichtigung namentlich über die Einführung von Schulärzten entbrannt und wird leider nicht als eine hygienische sondern als eine Machtfrage behandelt. Es ist begreiflich, dass das Einschieben einer zweiten ausserhalb der Schule stehenden Macht, welche das gesundheitliche Verhalten der Kinder frei, nach eigner Ueberzeugung prüfen und beobachten will, um so mehr als ein lästiger Eingriff empfunden wird, als das Recht in der Schule und möglicher Weise selbst der Umfang und die Art des bisherigen Unterrichtens hierdurch gefährdet erscheinen. Der Ausgang dieses Ringens ist nicht zweifelhaft. Die Hygiene wird in die Schule eindringen, nicht mit Gewalt sondern von den Lehrern selbst freudig aufgenommen. Zwischen Schule und Hygiene besteht kein principieller Gegensatz. Was letztere anstrebt und mehr und mehr erreichen wird, ist die Anerkennung ihrer Grundsätze im Interesse des Schulkindes, welches der Schule nur geliehen ist und dem Staate, den Eltern und seiner eigenen Zukunft gehört. Nach mehrfachen Richtungen hat die Hygiene bereits erfolgreichen Einzug in die Schule gehalten. Die grossen Fortschritte in den Schulbauten, die Verbesserungen in Heizung und Lüftung, in Schuleinrichtungen sind von allen Lehrern gerne angenommen worden, und Niemand möchte sie mit Rücksicht auf das eigene und der Kinder Wohl wieder verlieren. Einen Zweig trefflicher Schul-Gesundheitspflege bilden die Feriencolonien, welche bei Lehrern wie bei Eltern die Erkenntniss wachrufen und lebendig erhalten, dass körperliche Schwäche vielfach ein vermeidbares und mit leichten Mitteln zu beseitigendes Elend ist. Selbst auf dem Gebiete der Epidemien und der ansteckenden Krankheiten sind die Lehrer nicht blos berufen sondern an dem energischen Versuche bereits mitbetheiligt, um die durch die Schulen bedingte Verbreitung von Scharlach, Masern, Diphtherie, Keuchhusten zu bekämpfen, soweit dies irgend möglich ist. Schon jetzt ist wahrzunehmen, dass sich auf Grund der gegebenen strengen Vorschriften geradezu aus den Schulen heraus ein geordnetes Vorbeugesystem gegen die genannten Krankheiten entwickelt, dessen Werth in dem zielbewussten Zusammenwirken der Schule und des behandelnden Arztes liegt und dahin führt, dass in den Familien selbst richtige Grundsätze über die Krankheitsverbreitung und über die geeignetsten Schutzmassregeln sicheren Eingang finden. So sehen wir, dass die Gesundheitspflege überraschend schnell zu einem Gemeingute der Menschen wurde und sich wie eine natürliche Offenbarung weiter und weiter ausbreitet. Niemand vermag sich ihren Einflüssen mehr zu entziehen. Die Volkshygiene hat bei uns die Empfindlichkeit des einzelnen Menschen wie der Gesammtheit gegen Schädlichkeiten erhöht. Die Unduldsamkeit gegenüber Gefahren ist gewachsen und steigert sich zu einem dringenden Rechtsanspruche auf Gesundheit überall da, wo äussere, vermeidbare Bedrohungen gefunden sind oder auch nur vermuthet werden. Die Bestrebungen der practischen Gesundheitspflege haben aber fernerhin auch erzieherisch im Volke gewirkt, und den Sinn für Humanität, für Mitleid und Wohlthätigkeit mächtig angeregt. Die zahlreichen, herrlichen Werke der uneigennützigen Nächstenliebe, wie sie in der Errichtung von Hospitälern, Siechen467

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häusern, in der Armenpflege, in Vereinsbestrebungen zu so schönem Ausdrucke kommen, geben den treffendsten Beweis des auf den Nebenmenschen überquellenden Gedankens werkthätiger Gesundheitspflege. Sie, meine Herren Commilitonen, welche sich im emsigen Studium vorbereiten, der leidenden Menschheit einst Hülfe und Trost zu spenden, werden im Leben ganz andere Verhältnisse vorfinden, als sie vor wenigen Jahrzehnten noch bestanden. Ihre Bemühungen würden unvollständig bleiben, wollten Sie sich nur auf das stricte Erkennen und Heilen von Krankheiten beschränken. Das Publikum verlangt jetzt nicht blos Hilfe in Leiden, sondern betrachtet den Arzt als seinen berufenen hygienischen Berather und Sachverständigen. Ihre Wirkungssphäre wird hierdurch allerdings umfangreicher, schwieriger zugleich aber höher und erfolgreicher. Möge Sie in allen Lagen Ihres künftigen schweren und ernsten Berufes der Geist echter Wissenschaft und aufopfernder Menschenliebe führen und leiten. ***

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31. October 1889. Rede des abtretenden Rectors Dr. med. Franz Hofmann. Bericht über das Studienjahr 1888/89. Hochansehnliche Versammlung! Bevor ich das hohe Ehrenamt niederlege, zu welchem mich das nachsichtsvolle Vertrauen meiner Herren Collegen auf ein Jahr berufen hat, fällt mir als letzte Pflicht zu in kurzem Rückblicke über die wesentlichen Ereignisse des abgelaufenen Studienjahres zu berichten. Mein Amtsjahr hat einen Tag später begonnen, als nach den überlieferten Gepflogenheiten sonst üblich ist – aber dieser Tag ging der Universität nicht verloren, denn sie war Zeuge der Grundsteinlegung auf welchem der feste Bau des deutschen Reichsgerichtes jetzt in die Höhe steigt. Wenn wir uns jenes herrlichen Festtages erinnern, zu welchem sich Ihre Majestäten der deutsche Kaiser Wilhelm II. und unser allgeliebter Landesherr König Albert mit seinem erlauchten Bruder Prinz Georg in unserer Stadt eingefunden hatten, so erfüllt uns besondere Freude, dass es dem scheidenden und dem designierten Rector, gleich Doppelzeugen der Universität, vergönnt war, an dieser das ganze deutsche Volk berührenden Feier Antheil zu nehmen. Das verflossene Studienjahr darf als eine Periode friedlicher, gedeihlicher Entwickelung und als eine Zeit erfreulicher Feste bezeichnet werden. Wie in früheren Jahren, so lenkte auch dieses Jahr unser Allerdurchlauchtigster König Albert seine Schritte zu uns, um in der Zeit vom 28. Februar bis 4. März unsere Hochschule und einzelne ihrer wissenschaftlichen Anstalten mit seinem hohen Besuche zu beehren und zu beglücken. Die gnädige Fürsorge und die verständnissinnige, warme Theilnahme, welche König Albert der Wissenschaft und unseren Arbeiten zuwendet, bekundete Sr. Majestät, indem die Auszeichnung des Allerhöchsten Besuches diesmal ausser den neu berufenen Collegen besonders den 3 hochgeschätzten Jubilaren zu Theil wurde, die das seltene Fest ihres 50-jährigen Doctorjubiläums in voller Rüstigkeit zu feiern das Glück hatten. Da der Geburtstag Sr. Majestät in die Ferien fiel, wurde die Erinnerung dieses Tages am 29. April mit Beginn des Semesters durch einen Festactus in der Aula nachgeholt, bei welchem Herr Prorector Geheimer Hofrath Ribbeck die Rede hielt. Ein glänzendes Fest, welches in diesem Jahre alle Kreise der Bevölkerung freudig bewegte, war dem Gedächtnisse der 800jährigen Verbindung unseres Landes mit seinem erlauchten Herrschergeschlechte gewidmet. Bereits im December vorigen Jahres trat ein allgemeiner Landesausschuss, dem auch der Rector der Universität als Mitglied angehörte, zusammen, um die einheit469

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liche Gestaltung dieser Feier vorzubereiten. Eine Reihe festlich-froher Tage vom 16. bis 19. Juni führte im ganzen Lande zu den vielseitigsten Kundgebungen treuer Ergebenheit und Liebe für das angestammte Fürstenhaus. Tief in unsere Herzen ist eingeschrieben, was die Universität Leipzig seit Jahrhunderten den Fürsten des Hauses Wettin schuldet. Es entsprach den Empfindungen sämmtlicher Glieder der Universität, ein solches Jubelfest seltenster und schönster Art nicht bloss durch Huldigungsakte vor Sr. Majestät dem Könige, sondern auch durch die allgemeinste Betheiligung der Studirenden freudigst zu begehen. Sonntag den 16. Juni wurde die allgemeine Landesfeier in der reichgeschmückten Universitätskirche, in Anwesenheit der Professoren und Studirenden, mit einem Festgottesdienste eingeleitet. Der Abend dann vereinte die Spitzen der hiesigen Staatsbehörden, des Reichsgerichtes, des Militärs und der Stadt, sowie die Professoren in dem grossen Theater, woselbst von den Studirenden der Universität ein zu diesem Tage von Henzen gedichtetes Festspiel „Konrad von Wettin“ patriotischen Gesinnungen Ausdruck gab. Vom Rathe der Stadt Leipzig war das ganze Theater bereitwilligst der Universität zur Verfügung gestellt worden, und somit Raum geboten, dass die gesammte Studentenschaft mit ihren zahlreichen Verbindungen und Vereinen in ihren festlichen, farbenprächtigen Abzeichen der hochgehenden Stimmung schönste Weihe verleihen konnte. Montag den 17. Juni geruhten Sr. Majestät der König die aus dem Rector und den Decanen bestehende Deputation der Universität in Audienz zu empfangen. Dieselbe überreichte im Namen des academischen Senates und der Universität eine vom Herrn Geheimen Hofrath Professor Dr. Ribbeck verfasste, künstlerisch ausgestattete Tabula gratulatoria, in welcher, wie in der Allerhöchst genehmigten Ansprache, die ehrfurchtsvolle Huldigung und inniger Dank der Universität Ausdruck verliehen war. Dienstag der 18. Juni gab dann Ihrem Rector Gelegenheit, der feierlichen Enthüllung des Denkmales weiland Sr. Majestät des Königs Johann beizuwohnen, des weisen, edelsinnigen Friedensfürsten, dessen frommes, gerechtes Walten dem Lande in unvergessener Erinnerung fortlebt. Ein Huldigungsfestzug, wie ihn die Residenzstadt niemals sah, begünstigt von des Himmels schönstem Wetter, krönte Mittwoch den 19. Juni die allgemeine Festfreude. Stadt und Land, Künste und Wissenschaften, Handel, Gewerbe und Industrie wetteiferten, in Gruppen und characteristischen Bildern die schaffenden Kräfte der Vergangenheit und Gegenwart dem geliebten Herrscher vorzuführen. Bei solchem Feste konnte die Universität nicht fehlen und unsere academische Jugend war es, welche die Universität im Festzuge würdig vertrat. Unter dem Vorantritt der Pedelle in Amtstracht folgten die Fahnen der Universität, getragen von den ersten Chargirten des Vertreter-Conventes, des Unicoloren-Verbandes und des Verbandes wissenschaftlicher Vereine. Und diesen schlossen sich dann, gegen 200 Mann stark, an die Deputationen von 43 studentischen Vereinen und Verbindungen der Universität mit ihren eigenen prächtigen Fahnen, in formen- und farbenreichen Gruppen, begrüsst vom lauten Jubel der Bevölkerung. 470

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Von dieser Stelle aus darf ich, meine Herren Commilitonen, freudig anerkennen und rühmen Ihr, die Universität ehrendes, einmüthiges und treues Zusammenwirken während dieser erhebenden Festtage. In freudigster Rückerinnerung steht noch ein Tag, an welchem Sr. Majestät der König ein zweites Mal in Leipzig erschien. Sein hoher Besuch galt diesmal nur der academischen Jugend. Sr. Majestät geruhten eine Wiederholung der von den Studirenden aufgeführten Vorstellung „Konrad von Wettin“ zu genehmigen und ihr am 12. Juli beizuwohnen. Der Allerhöchste Wunsch, dass die Studirenden auch in dieser Vorstellung mit ihren Abzeichen und in ihrem vollen studentischen Schmucke, wie am Jubeltage erscheinen möchten, offenbart ein Interesse, wie es wärmer für die academische Jugend nicht ausgedrückt werden kann. Wenden wir uns zu den Veränderungen, welche sich im Personalstande der Universität vollzogen haben, so muss ich zunächst mit tiefem Schmerze der Amtsgenossen gedenken, die uns der Tod entriss. Wohl sind wir verschont geblieben von den ungewöhnlich vielen und schweren Verlusten, welche unseren Lehrkörper im vorigen Jahre betroffen haben. Nur die theologische Facultät musste sich unter harten Schicksalsschlägen beugen. Am 26. December erlöste ein sanfter Tod den an Jahren hochbetagten, an Geist und Körper noch jugendlich frischen Geheimen Kirchenrath, Domherrn und Professor der Theologie Dr. theol. et phil. Gotthard Victor Lechler. Geboren den 18. April 1811 zu Klosterreichenbach in Württemberg unternahm er nach Vollendung seiner Studien während 7 Jahren Reisen in Deutschland, England, Schottland und Frankreich und legte herbei durch emsige Forschungen in den Quellen jene breite Grundlage seiner Geistesrichtung, die ihm für’s ganze Leben Bedürfniss und Freude blieb und für die Wissenschaft hochgeschätzte Werke über Geschichte und Vorgeschichte der Reformation erstehen liess. Seit 1858 gehörte er unserer Hochschule an und übernahm gleichzeitig mit der Professur das Amt der Superintendentur und des Pfarramtes zu St. Thomä. Als er mit dem herantretenden Alter ein Zurückgehen seiner Leistungskraft zu fühlen glaubte, legte er die Mühen des Doppelamtes der Superintendentur und des Pfarramtes nieder, um wie verjüngt und freudiger sich seiner Wissenschaft und seinen Schülern zu widmen. Der Hingeschiedene war ein Mann geräuschloser, stiller Arbeit, ein Mann der gewissenhaftesten, selbstlosen Pflichterfüllung. Durch die unbesiegliche Macht der einfachen, schlichten Wahrheit und Gediegenheit wirkte er auf die ihn verehrenden Studirenden und bot ihnen das lautere Gold seines reinen, reichen und tiefen Wissens. Die Universität wird seine milde Gestalt festhalten in dankbar ehrender Erinnerung. Kurz nach Beginn des Sommersemesters traf uns die Trauerkunde, dass in der Morgenstunde des 22. Mai der theure, allgeliebte College Geheimer Kirchenrath Professor Dr. theol. et phil. Gustav Adolph Ludwig Baur friedlich und sanft zur Ruhe Gottes heimgerufen wurde, mitten aus segensreicher Thätigkeit scheidend, nachdem er Tags vorher auf dem Katheder gewirkt und am Abende noch die Übungen im Seminare geleitet hatte. 471

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Es war eine erhebende Todtenfeier, welche Collegen und Freunde zum letzten Male um den Entschlafenen in der Paulinerkirche versammelte und an der Stätte seines schönsten Wirkens, das Bild dieses reichbegnadeten Lebens vorüberziehen liess. Geboren am 14. Juni 1816 zu Hammelbach im Odenwalde folgte Baur nach neunzehnjähriger, erfolgreicher academischer Thätigkeit in Giessen den dringenden und glänzenden Anerbietungen, welche ihn zum Hauptpastor und mächtig anregenden Hauptprediger der Jacobigemeinde in Hamburg machten. Nichts aber hielt ihn mehr zurück, als 1870 der Ruf unserer Hochschule ihm die Rückkehr zu seiner wahren, eigentlichen Neigung, zur academischen Thätigkeit ermöglichte. Als Menschen und Collegen gab es keinen liebenswürdigeren Mann als ihn. Mit seinem sprudelnden, nie verletzenden Witze, seiner geistvollen Schlagfertigkeit, seiner köstlichen Jovialität gehörte er, wie ein College treffend von ihm sagte, zu den glücklichen und beglückenden Menschen, welche überall, wo sie erscheinen, Sonnenschein sind und Erquickung bringen. Voll lebendigem, schöpferischen Interesse für alles Wahre, Gute und Schöne war seine eigentliche Domäne die practische Theologie in Homiletik und Predigt, in Katechetik und praktischer Katechese. Meister des Wortes und der Form ist in ihm ein Mann von glühendem Patriotismus hingeschieden, dessen begeisterte Reden für Kaiser und Reich für Recht und Wahrheit in ernsten und fröhlichen Tagen erklangen. Als ihn das schwere, unheilbare organische Leiden ergriff und Monate lang nur mit heroischen Mitteln gewaltsam niedergekämpft wurde, gab er Zeugniss, was Selbstbeherrschung, was Festigkeit des Willens und Geistes, was Gottesvertrauen auch über einen gebrochenen Körper vermag. Mühsam und mit unsäglichen Schmerzen schritt er bis zum letzten Tage nach dem Hörsaale – und war gesund – so oft und so lange er auf dem Katheder weilte. Mit der Universität betrauern seinen Heimgang zahlreiche treue Freunde, sein geliebtes Predigercollegium zu St. Pauli, die zahlreichen kirchlichen Vereine, als deren eifriges und thätiges Mitglied er wirkte – vor allem aber seine durch ganz Deutschland zerstreute Schaar dankbarer Schüler, denen er mit theilnehmender, fürsorgender, berathender Liebe Lehrer, Freund und Bruder war. Am 8. September verschied nach zweitägiger Krankheit zu Dresden, wohin er sich nach erbetener Enthebung von den Amtspflichten zurückgezogen hatte, der lector publicus der Musik Professor Dr. phil. Hermann Langer. Die namhaften Verdienste, welche sich der Verstorbene in 45jähriger Thätigkeit als Organist zu St. Pauli um die musikalische Leitung unserer Gottesdienste und unserer Feste erworben hat, stehen in frischem Andenken. Für die Kunst begeistert, mit jugendlich frischen Gefühlen bis in’s hohe Alter erfüllt, verstand er die academische Jugend mit seltener Macht an sich zu fesseln. Der Universitäts-Sänger-Verein St. Paulus, wird seinen treuen, langjährigen Dirigenten, wird seinen Langer nie vergessen. Gehen wir über zu den Lebenden die uns verlassen haben, um in auswärtigen, erweiterten Wirkungskreis zu treten. Der ausserordentliche Professor, Licentiat der Theologie Dr. Victor Ryssel siedelte als ordentlicher Professor des alten Testamentes und der Orientalia an die Universität Zürich über. 472

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Der Privatdocent Dr. jur. Arthur Schmidt folgte dem ehrenvollen Rufe als ordentlicher Professor der Juristenfacultät zu Giessen. Aus der medicinischen Facultät schied der Privatdocent Dr. med. Oswald Vierordt, um als ausserordentlicher Professor der Medicin und Director der Poliklinik an der Universität Jena seine vielversprechende Laufbahn fortzusetzen. Die philosophische Facultät verliessen in Folge ehrender Berufungen: 1. Der ausserordentliche Professor und Mitdirektor des kgl. mathematischen Seminars Dr. phil. Carl von der Mühll, welcher an die Universität zu Basel, seiner Heimath, zurückkehrte. 2. Der ausserordentliche Professor Dr. phil. Friedrich Hanssen, als Director des pädagogischen Instituts zu San Jago in Chile. 3. Der ordentliche Honorar-Professor Dr. Hans Georg Conon von der Gabelentz als ordentlicher Professor der Universität zu Berlin, und 4. der eben mit der Habilitation fertig gewordene Privatdocent Dr. Wilhelm Streitberg als ordentlicher Professor der Universität Freiburg in der Schweiz. Der Privatdocent Dr. Alfred Odin ist nach Halle gezogen. Wenn wir diese stattliche Zahl, an unserer Hochschule gross gewordener Lehrkräfte nur ungern ziehen sehen, so haben wir uns doch zu freuen, über die Anerkennung, welche in den Berufungen liegt und junge, tüchtige Lehrer in neue und höhere Bahnen geführt hat. Der ordentliche Professor der philosophischen Facultät und Director der ägyptologischen Sammlung Dr. phil. Georg Ebers ist in Folge langwierigen Leidens schon seit mehreren Jahren beurlaubt. Sein derzeitiger Körperzustand nöthigte ihn leider um Enthebung seiner Amtspflichten nachzusuchen. Vom 1. October an ist er in den Ruhestand getreten. Innige Theilnahme begleitet die Wege des schwer und schmerzlich geprüften, verdienten Gelehrten. Der ausserordentliche Professor Dr. Heinrich Hirzel schied freiwillig aus dem Lehrkörper, um die Verwaltung seines grossen technischen Geschäftes zu übernehmen. Mit besonderer Befriedigung dürfen wir begrüssen, dass uns drohende Verluste durch Berufungen hochverdienter Collegen, deren Namen dem Rector leider amtlich nicht alle bekannt werden, durch das umsichtige, dankenswerthe Eingreifen des königlichen Ministeriums abgewendet wurden. Einen hocherfreulichen Zuwachs erfuhr die Universität dadurch, dass der Professor der Staatswissenschaften und Finanzen an der Universität Wien Dr. Lujo Brentano zum ordentlichen Professor der Nationalökonomie in Leipzig ernannt wurde. Es war der Wunsch unseres gefeierten Nationalökonomen Geheimrat Roscher am Lebensabende von der aufreibenden Arbeit täglichen Unterrichtens entlastet zu werden. Wir preisen diesen Entschluss, welcher den allverehrten Lehrer und Meister sich selbst und uns erhält, und ihm möglich macht, sich Lieblingsfragen seines umfangreichen Wissensgebietes mit voller Hingebung und wie wir wünschen recht, recht lange zu widmen. In der theologischen Facultät sind die Lücken, welche die beiden schweren Verluste des vergangenen Jahres erzeugten, dank der regen Fürsorge des königlichen Ministeriums des Cultus rasch wieder ausgefüllt worden. An Stelle des hingeschiedenen Collegen Lechler wurde der ordentliche Professor der Theologie Dr. Albert 473

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Hauck in Erlangen zum ordentlichen Professor für Kirchengeschichte ernannt, und an den verwaisten Platz des unvergesslichen Baur trat mit dem 1. October der bisherige Pfarrer der Matthäi-Gemeinde zu Leipzig als ordentlicher Professor der Theologie und als zweiter Universitätsprediger. Wir begrüssen die neueintretenden Herren Collegen mit dem aufrichtigen Wunsche, dass den von Ferne Kommenden Leipzig eine liebe Heimath und dass Allen unsere Universität eine Stätte reichgesegneter Arbeit werden möge. An Beförderungen und Veränderungen innerhalb des bestehenden Lehrkörpers habe ich folgende zu verzeichnen: Der Professor der Theologie Dr. Rudolf Hugo Hofmann rückte in die Stelle des ersten Universitätspredigers und Pfarrers der Paulinerkirche ein. Zum ausserordentlichen Professor in der theologischen Facultät wurde der Licentiat der Theologie und Dr. phil. Caspar René Gregory ernannt. In der philosophischen Facultät wurden zu ausserordentlichen Professoren ernannt die Privatdocenten: Dr. phil. Robert Scholvin, Heinrich Körting, Friedrich Hanssen, Eduard Zarncke, Dr. phil. et med. Emil Schmidt, Dr. phil. Friedrich Engel, Hermann Ambronn, Alfred Fischer, Richard von Schubert-Soldern. Die Zahl derjenigen, welche unsere Universität zum Ausgangspunkte ihrer academischen Laufbahn genommen haben, ist auch im verflossenen Jahre eine erfreulich grosse gewesen. Der Licentiat der Theologie Dr. phil. Georg Hermann Schnedermann kehrte von Basel wieder zurück, in die theologische Facultät als Privatdocent eintretend. In der medicinischen Facultät habilitirte sich: Dr. med. Carl August Cäsar Rudolf Beneke und Dr. Rudolf Heymann. In der philosophischen Facultät: Dr. phil. Otto Immisch für klassische Philologie, Dr. Eugen Mogk für nordgermanische Sprachen, Literatur und germanische Mythologie, Dr. Arthur Loos für Zoologie, Dr. Wilhelm Streitberg für germanische Philologie und indogermanische Sprachwissenschaft, Dr. Carl Buresch für klassische Philologie, Dr. Georg Witkowski für deutsche Sprache und Literatur, Dr. Gottfried Glöckner für Pädagogik, Dr. Walter Nernst für physikalische Chemie. Im Laufe des Jahres hatte die Universität die besondere Freude die Feier des goldenen Doctorjubiläums zweier hochgeschätzter Collegen zu begehen. Am 22. December sprach Namens des academischen Senates die aus Rector und Decanen bestehende Deputation innige Glückwünsche zu diesem Anlasse aus: dem Ordinarius der Juristenfacultät Geheimen Rath Professor Dr. Bernhard Windscheid. Ein von der Juristenfacultät veranstaltetes Festmahl gab den Collegen, Freunden und Ehrengästen, an ihrer Spitze Sr. Excellenz der Herr Cultusminister von Gerber, sowie den zahlreich erschienenen Begrüssungs-Deputationen von auswärts freudige Gelegenheit, die umfassenden Verdienste des Herrn Jubilars zu feiern und seine seltene Körper- und Geistesfrische zu bewundern. Des Geheimen Justitzrathes Professor Dr. Adolph Schmidt ausdrücklicher Wunsch, den gleichen Jubeltag in der Stille zu begehen, musste uns veranlassen, die Kundgebungen dankbarer Verehrung, die wir ihm so gerne dargebracht hätten, zurückzuhalten. Hohe Auszeichnungen Seitens der Staatsregierung wurden beiden Herren Jubilaren zu Theil und die Juristenfacultät ehrte sie durch Überreichung von Festschriften. 474

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Die Würde des Doctor honoris causa wurde von der theologischen Facultät 3 mal verliehen: dem Licentiaten der Theologie Walter Caspari, ordentlicher Professor und Universitätsprediger zu Erlangen, dem Dr. phil. Adolf Bernhard Carl Grossmann Superintendent in Grimma, und dem nach Zürich berufenen Professor Lic. theol. Victor Ryssel. Rite wurde promoviert: der Licentiat der Theologie Arthur Bernhard Richter, Prediger an der Sophienkirche und Diaconus an der Kreuzkirche zu Dresden. Die juristische Facultät hat 68 Promotionen vollzogen. Von der medicinischen Facultät wurden honoris causa zu Doctoren creirt: Johann Friedrich Gertz in Neundorf bei Oberwiesenthal, Carl Ernst Bachstein in Dresden und Carl Friedrich Augustin in Oppach sämmtlich practische Ärzte, die sich während 50 Jahren in mühevollem und anstrengendem Dienste für die leidenden Menschen erfolgreich bewährt hatten. Rite promovirt wurden 264 Bewerber. Die philosophische Facultät ernannte zu Ehrendoctoren: Herrn Geheimen Rath Professor Dr. Bernhard Windscheid, Herrn Geheimen Justizrath Professor Dr. Adolf Schmidt und Herrn Geheimen Rath Bödiker, Präsident des Reichsversicherungsamtes in Berlin. Rite hat sie die Würde des philosophischen Doctorgrades 155 Bewerbern ertheilt. Aus dem Kreise der Beamten habe ich noch zu erwähnen, dass unserem ebenso thätigen wie humanen Quästor Herrn Carl August Beer in Anerkennung seiner verdienstlichen Amtsthätigkeit der Titel Rechnungsrath ertheilt wurde. Mit 1. October dieses Jahres ist nach einer 25jährigen Dienstzeit der Küster der Universitätskirche Carl Friedrich Rothe in den erbetenen verdienten Ruhestand getreten und wurde diese Funktion vom Senate dem Castellan Meisel im Bornerianum vom gleichen Tage an übertragen. Nachdem meine Herren Amtsvorgänger über Bereitstellung grossartiger Mittel berichten konnten, welche dank der steten Fürsorge der königlichen Staatsregierung der Universität in den letzten Budgetperioden überwiesen wurden, habe ich diesmal über den Umfang ihrer Verwendung Nachricht zu geben. Der Neubau der Universitätsbibliothek ist dergestalt vorgeschritten, dass am 29. Mai das Richtfest gefeiert werden konnte, und nunmehr die architectonische Schönheit des imposanten Bauwerkes vor Augen tritt. Mit Freude erkennen wir an, dass der Schönheit des Aeusseren auch die innere Ausstattung entsprechen wird und dass reiche bildnerische Werke nicht nur die Aussentheile des Gebäudes zieren, sondern auch plastische Kunstwerke und Büsten das grosse Treppenhaus und den allgemeinen Lesesaal schmücken werden. Den akademischen Senat erfüllt es mit hoher Freude, dass an der Stätte, wo sich die Geistesschätze von Jahrhunderten sammeln und die Geisteskräfte sich noch in Jahrhunderten zur regen Arbeit vereinigen werden, auch die Büste des Mannes ehrende Aufstellung finden wird, welcher einstmals selbst in unserem Kreise wirkte und nunmehr seit vielen Jahren an der Spitze des Ministeriums erfolgreich für das Gedeihen der Universität sorgt. Altmeister Schilling hat die Fertigstellung der Marmorbüste Sr. Excellenz des Herrn Staatsministers von Gerber bereitwilligst zugesagt. 475

Franz Hofmann

Die Ueberführung der Bibliothek in das neue Gebäude darf für die grossen Ferien des Jahres 1891 in bestimmte Aussicht genommen werden. Der Neubau der Universitäts-Frauenklinik, mit welcher nunmehr alle medicinischen Zweige eine für Lehrer und Studirende gleich günstige Vereinigung in der Liebigstrasse gefunden haben, ist energisch gefördert worden und im Rohbau bis zum ersten Obergeschoss nahezu vollendet. Der Bezug des ausgedehnten Gebäudes wird gleichfalls Mitte des Jahres 1891 erfolgen. Durch die Asphaltirung des grösseren Theiles der Liebigstrasse haben die städtischen Behörden, wie dankbar anzuerkennen ist, einem längst gehegten und von Jahr zu Jahr immer dringender gewordenen Bedürfnisse der zahlreichen academischen Lehrinstitute daselbst entsprochen. Nicht minder hat der Rath der Stadt Leipzig durch die Regulirung und Tieferlegung des Trottoirs vor dem Augusteum sowie durch Aufstellung zweier Gascandelaber vor dem Eingange zu letzterem den darauf gerichteten Wünschen Rechnung getragen. Eine Vermehrung hat die Zahl der academischen Lehr-Institute gefunden durch die Einrichtung eines staatswissenschaftlichen Seminars. Dasselbe hat in der zweiten Etage des Mittelbaues vom Vorderpaulinum helle und zweckdienlich eingerichtete Räume gefunden und ist bereits mit Beginn des Wintersemesters seiner Bestimmung übergeben worden. Das zahntechnische Institut endlich wurde durch Hinzunahme einer Etage des Hauses Göthestrasse 5 erweitert. Wie in früheren Jahren, so hat auch diesmal die segensreiche einzig dastehende Stiftung unseres verewigten Collegen Albrecht in liberaler Weise zur Förderung wissenschaftlicher Arbeiten und Reisen hohe Beiträge gewährt, und ist die bedeutende Summe von 13 350 Mark zur Vertheilung an Docenten aller Facultäten gelangt. Weiter habe ich einer erheblichen Schenkung zu gedenken, welche der vortrefflichen Einrichtung der academischen Freitische zu Gute kommen wird. Ein angesehener hiesiger Bürger hat letztwillig und mit dem Wunsche ungenannt zu bleiben ein Kapital von 3000 Mark gestiftet, dessen Zinsen zu Freitischen für bedürftige und würdige Studirende verwendet werden sollen. Wir sagen für diese hochherzige Gabe unseren freudigen Dank, und begrüssen es, dass das segensreiche Institut, welches Studirende ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit unterstützt, bereits anfängt zu den freiwilligen Jahresgaben aus dem Kreise der Mitglieder und Freunde der Universität Stammkapitalien zu gewinnen, die seinen vermehrten und dauernden Betrieb ermöglichen. Dass der Hessenverein und sein bewährter Vorsitzender Herr Philipp Batz auch im verflossenen Jahre die academischen Freitisch-Spenden gewährten, sei mit besonderem Danke hervorgehoben. Was die Frequenz unserer Universität betrifft, so betrug dieselbe im Wintersemester 3430 gegen 3288 im vorigen Jahre, im Sommersemester 3322 gegen 3208 des vorigen Jahres. In beiden Semestern also ist die Zahl der Studirenden um 142 resp. 114 höher als voriges Jahr gestiegen. Sie erreichte im vergangenen Wintersemester bis auf 3 den höchsten Personalbestand der Universität, welcher sich im W. S. 1883/ 84 auf 3433 bezifferte. Das vergangene Sommersemester weist überhaupt die höchste bisher für Sommer erreichte Frequenz auf. Bis zum gestrigen Tage sind 757 476

Jahresbericht 1888/89

Studierende abgegangen und von mir 787 Studirende neu immatriculirt worden, so dass wir für den heutigen Tag bereits einen Bestand von 3352 zählen. Zu unserem Schmerze hat das unerbittliche Schicksal aus dem Kreise der lebensfrohen Jugend 18 Studirende durch den Tod hinweggenommen und reiche Hoffnungen der Angehörigen vernichtet. Auf das innerliche Leben der Hochschule, die Fortschritte der geistigen Arbeit, vermag mein Bericht, der äussere Begebenheiten zu schildern hat, nicht einzugehen. Aber im Namen aller Docenten glaube ich bezeugen zu dürfen, dass die Studirenden auch in diesem Jahre unserer Universität den alten Ruhm des Fleisses und wissenschaftlichen Strebens treu bewahrt haben und sich dennoch des frischen, fröhlichen Studentenlebens voll erfreuten. Wohl kamen Ueberschreitungen der Disciplinargesetze vor, doch niemals wirklich unehrenhafte Handlungen und gerne spreche ich es aus, dass ich nicht ein einziges Mal in die Lage versetzt wurde, die volle Strenge des Gesetzes, die Entfernung von der Universität anzuwenden. Möglich und wünschenswerth wäre es, wenn die Herren Commilitonen sich vor bestimmten kritischen Tagen mehr in Acht nehmen könnten, die sich an die Depression glücklich bestandener Prüfungen und Clausurarbeiten anzuschliessen scheinen. Gar viele kleinere Uebertretungen der polizeilichen Ordnung würden dann vermieden werden. Rühmend aber hebe ich hervor das innige, vertrauensvolle Verhältniss, welches Studirende und Lehrer verbindet, – die lebendige Begeisterung für Kaiser und Reich, für König und Vaterland, wie sie in festlichen Commersen zur Feier der Erstehung des Deutschen Reiches und in der allgemeinsten Theilnahme an der Jubelfeier unseres erlauchten Königshauses so edlen Ausdruck gewann. Möge unsere vielgeliebte Universität in alle Zukunft weiter blühen und gedeihen, zum Wohle des Volkes und des Vaterlandes, gestützt und getragen von dem thatkräftigen Pflichtgefühle der Studirenden und Lehrer. ***

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Wilhelm Wundt (1832–1920)

31. October 1889. Rede des antretenden Rectors Dr. ph., jur. et med. Wilhelm Wundt.

Ueber den Zusammenhang der Philosophie mit der Zeitgeschichte. Eine Centennarbetrachtung. Hochansehnliche Versammlung! Wenn die akademische Sitte dem Rector des neuen Universitätsjahres die Pflicht auferlegt, mit einem Vortrag aus seinem besonderen Lehrgebiet sein Amt anzutreten, so wird dem Einzelnen diese Pflicht zumeist ein willkommener Anlass sein, um auf solche Aufgaben und Ergebnisse der ihm anvertrauten Wissenschaft hinzuweisen, die durch ihren hervorragenden praktischen Werth ein allgemeineres Interesse erheischen. Leicht wird es dem Vertreter einer Einzelwissenschaft, solch’ berechtigtem Wunsch zu genügen. Ist es doch die Vorbereitung zu einem der Allgemeinheit dienenden Lebensberuf, in der alle Fachwissenschaften schliesslich zu einem gemeinsamen Zweck sich vereinigen. Die Philosophie muss, wie es scheint, diesem Vortheil entsagen. Ohne sichtbaren äusseren Nutzen, nur einem intellektuellen Bedürfnisse dienend, scheint sie einsam ihren Weg zu verfolgen. Begreiflich daher, dass sie in unserer die Ausbildung nutzbringender Fähigkeiten über alles schätzenden Zeit Manchem wohl als ein Ueberlebniss aus vergangenen Tagen gilt, an dessen Stelle für die Gegenwart Naturwissenschaft und Geschichte getreten seien. Unter den Philosophen selbst aber ist die Vorstellung noch immer nicht ausgestorben, Philosophie sei eine über dem Wechsel der Zeiten erhabene, von allen äusseren Einflüssen unabhängige Betrachtungsweise der Dinge, entweder, wie die Urheber der spekulativen Systeme im Anfang unseres Jahrhunderts glaubten, dazu bestimmt über die anderen Wissenschaften zu herrschen, oder, wie einer der populärsten Denker der jüngsten Vergangenheit bescheidener sich ausdrückte, entsprungen aus dem Privilegium des menschlichen Geistes Nutzloses hervorzubringen. Ich theile weder die eine noch die andere dieser Meinungen. Mag unsere Wissenschaft an unmittelbarer Bedeutung für die einzelnen Fragen des intellektuellen Interesses und des praktischen Nutzens zweifellos hinter der Gesammtheit der besonderen Wissensgebiete zurücktreten, so steht sie, wie ich glaube, in einer um so innigeren Verbindung mit dem geistigen Leben im Ganzen, dergestalt, dass die philosophischen Ideen überall von der allgemeinen geschichtlichen Entwickelung 479

Wilhelm Wundt

getragen sind und nicht selten ihrerseits wieder bestimmend auf dieselbe zurückwirken. Der hauptsächlichste Werth der Geschichte der Philosophie scheint mir daher darin zu liegen, dass die philosophischen Ideenentwickelungen ebensowohl ein Abbild des geistigen Lebens der verschiedenen Zeitalter sind, wie sie einen fortlaufenden Commentar zu demselben bilden. Denn indem die Philosophie auch die dunkleren Stimmungen und Strebungen des Zeitgeistes in die Sphäre der Reflexion erhebt, behalten die Antworten, die sie auf ihre Probleme findet, so verfehlt sie uns an sich betrachtet erscheinen mögen, immer ihren geschichtlichen Werth, als Ausdruck von Anschauungen, welche als lebendige Faktoren des Zeitbewusstseins die Handlungen der Einzelnen wie der Völker bestimmt haben. Unsere Zeit rühmt sich ihres Sinns für geschichtliche Betrachtung auf allen Gebieten. So erschien es mir denn als eine für den heutigen Zweck nicht unangemessene Aufgabe, auf diesen Zusammenhang der Philosophie mit der Zeitgeschichte einen kurzen Blick zu werfen. Um aber diese Aufgabe nicht in allzu abstrakte Betrachtungen zu verflüchtigen, sei es mir vergönnt, sie einzuschränken auf eine uns dem Interesse wie der Zeit nach nähergelegene Periode, auf das zurückgelegte Jahrhundert, und auf eine einzelne Frage von überwiegend praktischer Bedeutung, auf das sittliche Problem. Wohl ist das Jahr, in dem wir leben, dazu angethan, auch den Philosophen zu Centennarbetrachtungen aufzufordern. In der grossen Staatsumwälzung des Jahres 1789 haben philosophische Ideen einen Sieg errungen, wie ihn gewaltiger die neuere Geschichte nicht gesehen hat. Nicht als ob die Revolution in der ihr vorausgegangenen Philosophie ihre letzte Ursache hätte: die politischen Ereignisse und die sie begleitende revolutionäre Ideenbewegung sind vielmehr Erzeugnisse der nämlichen, unaufhaltsam dem Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung zuführenden geschichtlichen Bedingungen. Aber die Philosophie hat die Gedanken hervorgebracht, welche die Revolution beseelten. Bei den Philosophen sind die Redner und Gesetzgeber der Revolution in die Schule gegangen. Zwischen den Parteien der Revolutionszeit wurden die Kämpfe ausgefochten, welche die philosophischen Richtungen des achtzehnten Jahrhunderts entzweit hatten. So sind die welterschütternden Thaten der Revolution die lebendig gewordenen philosophischen Ideen des vorangegangenen Zeitalters. Kein sprechenderes Zeugniss giebt es, wie ich meine, für diesen Zusammenhang als jenes denkwürdige Aktenstück, welches die gesetzgeberischen Handlungen der Revolution eröffnet, die Deklaration der Menschenrechte von 1789. In unsern Augen gleicht diese Erklärung mehr einem philosophischen Glaubensbekenntnisse, als der Einleitung zu einer Staatsverfassung. Aber die Urheber derselben waren – und darin folgten sie dem Vorbild ihrer philosophischen Lehrer – der festen Ueberzeugung, dass es vor allem Noth thue, die Menschen über Natur und Wesen ihrer Rechte aufzuklären; dann werde sich nicht nur die richtige Staatsverfassung von selbst ergeben, sondern es werde auch solche Einsicht unausbleiblich die Einzelnen in vortreffliche Staatsbürger umwandeln. Die Menschenrechte von 1789 sind das sittliche Glaubensbekenntniss der Revolution. Sie enthalten die Prinzipien, in denen die verschiedenen philosophischen Parteien trotz sonstiger Gegensätze einig waren, 480

Antrittsrede 1889

und die alle folgenden Gesetzgebungsakte beherrschten. Dass alle Menschen absolut gleiche unveräusserliche Rechte besitzen, dass die Freiheit des Einzelnen schlechthin keine anderen Schranken habe, als diejenigen, die durch die gleichen Rechte der Andern und durch die Nothwendigkeit, die Freiheit Aller zu sichern, erfordert werden, dass endlich der einzige Zweck der politischen Gemeinschaft die Erhaltung dieser natürlichen Rechte sei, – diese Sätze galten jener Zeit für so überzeugend, dass wohl da und dort Zweifel über die Zweckmässigkeit ihrer Aufnahme in eine Verfassung, kaum jemals solche über ihren Inhalt laut geworden sind. Innerhalb dieser Prinzipien blieb freilich dem Widerstreit einzelner Richtungen und mit ihm der Verbindung widerstreitender Anschauungen noch ein weiter Spielraum. Das Verfassungswerk von 1791, das die praktische Anwendung der Deklaration der Menschenrechte sein sollte, zeigt in der That deutlich die Spuren der drei philosophischen Schulen, die an der Vorbereitung der Revolution mitgearbeitet haben. An Locke und Montesquieu knüpfte die Durchführung der Theilung der Gewalten im Staate an. Auf Rousseau ging alles das zurück, was zur Verwirklichung der absoluten Rechtsgleichheit der Bürger führen sollte; im Anschlusse an ihn gewann zugleich der Gedanke der Unveräusserlichkeit der Rechte die besondere Bedeutung, dass die freiwillige Zustimmung Aller, an die man die Entstehung des Staates gebunden dachte, streng genommen als unerlässlich auch zu jeder einzelnen politischen Massregel angesehen wurde. Mit Helvétius und Holbach endlich, den fortgeschrittenen Schülern Voltaire’s, ersetzte man den für eine politische Schöpfung unbrauchbaren idealen Naturzustand Rousseaus, auf den dieser selbst in seinem „contrat social“ zum Theil schon verzichtet hatte, durch einen Zustand vollkommenster Cultur. Dieser, angeblich herbeigeführt durch die eingetretene Einsicht des Menschen in sein wahres Wesen und seine natürlichen Rechte, wurde dann aber mittelst einer jener merkwürdigen Fiktionen, an denen die Zeit so reich ist, meist zugleich als übereinstimmend mit dem wahren Naturzustand betrachtet. Gemeinsam ist allen diesen Richtungen die Auffassung, dass der Staat ein willkürliches Erzeugniss, ein von den Einzelnen geschlossener Vertrag sei, dessen einziger Zweck in dem Schutz der Rechte der Individuen bestehe. Von Rousseau stammt jene Begeisterung für die Idee der absoluten Freiheit der Persönlichkeit, welche der Revolution ihre unüberwindliche Macht verlieh und zugleich allen ihren Verfassungsentwürfen den Fluch der Undurchführbarkeit anheftete. War doch der Begriff der Volkssouveränität hier derart auf die Spitze getrieben, dass daran nicht nur Montesquieu’s Theilung der Gewalten, sondern überhaupt jede Staatsordnung scheitern musste. Der Atheismus und Materialismus eines Helvétius und Holbach, der in der Abschaffung des höchsten Wesens und dem Cultus der Vernunft einen schnell vorübergehenden Triumph erlebte, vermochte es mit der Freiheitsbegeisterung und der rednerischen Kunst Rousseaus nicht aufzunehmen. Aber in einem Punkte trug er doch über diesen den Sieg davon. Rousseau hatte überall auf die edeln Eigenschaften des Menschen gebaut, die aus dem natürlichen Gefühl ihren Ursprung nehmen. Die Cultur hat nach ihm vornehmlich deshalb das Uebel in die Welt gebracht, weil sie auf der Reflexion, auf dem Nachdenken über Mittel und Zwecke beruhe, welches unvermeidlich den unedeln Trieben, die aus dem Eigennutz ent481

Wilhelm Wundt

springen, über die besseren, die auf dem natürlichen Gefühl beruhen, zum Sieg verhelfe. Das war ein Zug, in welchem die Philosophie Rousseaus dem Zeitalter der Aufklärung schnurstracks widerstrebte, und hier kamen die Wortführer des Materialismus demselben um so willfähriger entgegen. Der Mensch ist ihnen eine Maschine, die auf das vollkommenste mit der Eigenschaft der Reflexion ausgestattet ist, einer Eigenschaft, der wir, mag sie theoretisch noch so dunkel sein, praktisch alles verdanken was wir sind. Nicht aus der Reflexion stammt daher nach diesen Philosophen das Uebel in der Welt, sondern aus ihrem Mangel oder aus ihrer unzulänglichen Anwendung. „Aus dem Irrthum, aus der Unwissenheit der natürlichen Ursachen“, sagt Holbach in dem „System der Natur“, „sind die Fehler und Laster der Einzelnen ebenso wie alle politischen Uebel hervorgegangen. Durch den Irrthum sind die Menschen in Sklaverei verfallen; durch ihn haben sie sich andern Menschen unterworfen, die sie für Götter auf Erden hielten. Wenn man den Menschen zur Natur, das heisst zur Einsicht in sein wahres Wesen und in das Wesen der natürlichen Ursachen zurückführt, so werden sich daher die Nebel von selbst zerstreuen, die ihn den Weg zur Tugend und zur wahren Glückseligkeit nicht finden liessen.“ Zwei Bestandtheile sind es, durch welche diese Vorstellungen mit der das ganze vorige Jahrhundert beherrschenden Lebensanschauung zusammenhängen. Der erste ist ein unbeschränkter Individualismus. Nur die einzelne Persönlichkeit ist nach dieser Philosophie ein wirkliches Wesen; nur ihre Zwecke haben einen realen Werth. Der Staat ist, wie ihn Thomas Hobbes genannt hatte, ein „künstlicher Körper“, von den Einzelnen willkürlich und nur zu ihren persönlichen Zwecken ins Leben gerufen. Der zweite Bestandtheil ist ein einseitiger Intellektualismus. Das Jahrhundert der Aufklärung glaubte in dem logischen Denken, in der allen Vorurtheilen entsagenden Reflexion über die Dinge nicht bloss das Heilmittel für alle Uebel und das Hülfsmittel zur Erreichung eines vollkommenen Zustandes, sondern auch diejenige Thätigkeit des Geistes gefunden zu haben, aus welcher der ganze Reichthum des wirklichen Lebens sich ableiten lasse. Die sittlichen Triebe wurden auf klug berechnende Ueberlegung des eigenen Vortheils, Recht und Sitte auf eine zu wechselseitigem Schutz gestiftete Vereinbarung zurückgeführt. Alles Unheil verrotteter politischer Zustände sollte aus intellektuellen Irrthümern entspringen; als das einzige Heil gegen solche Mängel galt daher die wachsende Verbreitung der Einsicht, die Aufklärung der Menschen über das was ihnen nützlich und schädlich sei. Zu diesen ihr mit andern philosophischen Richtungen des Jahrhunderts gemeinsamen Anschauungen fügte aber die Ethik der Revolution noch einen dritten Bestandtheil, der zum mindesten in der hier auftretenden einseitigen Ausprägung nur ihr eigen ist. Er besteht darin, dass in dieser Ethik nur der Begriff des Rechtes der Persönlichkeit zum Ausdruck gelangt. Die Deklaration der Menschenrechte sagt, dass die Rechte der Freiheit, des Eigenthums, der Sicherheit und des Widerstandes gegen Unterdrückung für alle Menschen gleich und unveräusserlich seien. Von Pflichten ist in diesem Aktenstück nicht die Rede; nur stillschweigend sind solche vorausgesetzt, indem als einzige Schranke der individuellen Freiheit die gleichen 482

Antrittsrede 1889

Rechte der Nebenmenschen anerkannt werden. Damit sollen aber nicht etwa blos rechtsphilosophische Maximen aufgestellt werden, sondern in jenen Grundgedanken enthalten die Menschenrechte von 1789 in verdichteter Form den wesentlichen Inhalt der ethischen Systeme ihrer Zeit. In dieser ganzen Ethik hat überhaupt nur der Begriff des Rechtes einen positiven Inhalt; derjenige der Pflicht ist blos negativ bestimmt, als Pflicht solche Handlungen zu unterlassen, welche die Rechte Anderer kränken. Nur das Recht besteht – dahin führt folgerichtig diese Anschauung – im Handeln, die Pflicht einzig und allein im Unterlassen rechtswidriger Handlungen. Schon Rousseau hatte in seinem Émil gegen die Pädagogen geeifert, welche bei der Erziehung immer und immer das Wort Pflicht im Munde führten; dieses Wort, welches nur den Gedanken der Abhängigkeit und Unterwürfigkeit vor die Seele führe, sollte nach seiner Meinung ganz und gar aus der Sprache des Kindes verbannt bleiben. Darum handelten die Gesetzgeber von 1789 völlig im Sinn des Philosophen, als sie einen schüchternen Vorschlag, die Aufzählung der Menschenrechte durch eine Erwähnung der bürgerlichen Pflichten zu ergänzen, mit überwältigender Mehrheit niederstimmten. Man wird nicht anstehen, in dieser ausschliesslichen Hervorhebung der Rechte des Einzelnen denjenigen Zug der revolutionären Ethik zu erblicken, in welchem sie gegen jenes System des politischen Despotismus, der nur Pflichten der Unterthanen, Rechte allein für die bevorzugten Stände anerkennt, ihren energischen Widerspruch erhebt. Zugleich aber ist, abgesehen von diesen besonderen Zeitbedingungen, der einseitige Rechtsbegriff der revolutionären Ethik die folgerichtige Anwendung des sie und ihre ganze Zeit beherrschenden extremen Individualismus. Wenn alle Zwecke menschlichen Handelns in der Befriedigung der Glücksbedürfnisse der Einzelnen aufgehen, so kann auch der positive Inhalt alles sittlichen Strebens in nichts anderem bestehen, als in dem Schutz und der Förderung der individuellen Wohlfahrt. Jeder wird dann zunächst das Interesse zu fördern suchen, das ihm am nächsten liegt, nämlich sein eigenes. Für die Pflicht bleibt nur die negative Bestimmung übrig, dass Niemand seinen eigenen Vortheil auf Kosten der gleichen Rechte Anderer erstreben soll; und für diese Regel lässt sich wiederum keine bessere Begründung finden als die Erwägung, dass der eigene Vortheil am sichersten dann geschützt ist, wenn so viel als möglich der Vortheil Anderer geschont bleibt. So wird unvermeidlich die Selbstsucht zur Grundlage der Sittlichkeit. Hier aber widerstreitet diese Ethik offenkundig dem Zeugniss des sittlichen Gewissens, wie es in den sittlichen Lebensanschauungen fast aller Zeiten siegreich sich Geltung verschafft hat, nach welchem Zeugnisse dem selbstlosen Handeln allein ein sittlicher Werth zukommt, und dieser Werth wieder um so höher geschätzt wird, je mehr das eigene Wohl freiwillig dem Wohl der Nebenmenschen geopfert wird. Auch der Individualismus des vorigen Jahrhunderts hat sich diesem Zeugnisse nicht verschliessen können. So bietet sich uns denn das merkwürdige Schauspiel dar, dass nahezu gleichzeitig mit dem Ausbruch der französischen Revolution, aber freilich unter dem Einflusse abweichender nationaler Kulturbedingungen, eine sittliche Weltanschauung entsteht, die, im vollen Gegensatze zu jener Ethik der Menschenrechte, die Idee der Pflicht zum Grund- und Eckstein aller Sittlichkeit macht. 483

Wilhelm Wundt

Ein Jahr vor dem Ausbruch der Revolution erschien Kant’s „Kritik der praktischen Vernunft“, ein Buch, von dem vielleicht mit grösserem Rechte als von dem theoretischen Hauptwerk des gleichen Philosophen gesagt werden kann, dass es eine Umwälzung in der geistigen Welt bedeute. Vom äussersten Nordosten Deutschlands, von einem Manne, der durch seinen Beruf dem öffentlichen Leben ferne stand, war dieses Werk ausgegangen. Dennoch würde es verfehlt sein, wollte man in ihm die Schöpfung eines einsamen Denkers erblicken, der sich des Zusammenhanges mit den Gesinnungen seiner Zeit völlig entäussert habe. Genau das Gegentheil ist richtig. Wie die französische Revolution die in Thaten umgesetzte Philosophie der französischen Aufklärung, so ist Kant’s Ethik das in Philosophie umgewandelte Staats- und Pflichtbewusstsein der Monarchie Friedrichs des Grossen. Schon den Zeitgenossen würde dieser Zusammenhang vielleicht erkennbar gewesen sein, hätten sie den Einblick in die Gesinnungen des grossen Königs gehabt, den wir durch die Vermittelung seiner gesammelten Werke heute besitzen. In wiederholten Ausführungen ist Friedrich in seinen Schriften auf die ethischen Fragen zurückgekommen. Vielleicht kein Problem hat ihn häufiger und anhaltender beschäftigt als dieses; und immer und immer wieder bewegen sich seine Gedanken um den Begriff der Pflicht. Seine Pflicht zu thun, ist ihm das Höchste für den Menschen; selbstlos, ohne Aussicht auf Wiedervergeltung der Pflicht zu genügen, ist allein des sittlichen Menschen würdig. Das Mass der Pflicht aber bemisst sich nach der äusseren Lebensstellung. Wem Gott viel gegeben, von dem darf er viel verlangen. Darum sind die Pflichten des Fürsten um so vieles schwerer und grösser als die des Unterthanen. „Unsere Pflicht ist es, gerecht und wohlthätig zu sein; man mag uns Beifall zollen; aber es ist zu viel, elende Erdenwürmer zu loben, die nur während eines Augenblicks existiren und dann für immer verschwinden.“ Es ist dies die nämliche Begeisterung für die Pflicht, ohne Rücksicht auf das eigene Wohl oder Wehe, wie sie uns in Kant’s Worten entgegentritt: „Pflicht! du erhabener, grosser Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts drohest, was natürliche Abneigung im Gemüth erregte, sondern bloss ein Gesetz aufstellest, vor dem alle Neigungen verstummen!“ Kant hat die philosophischen Gedanken Friedrichs nicht gekannt, wie wir sie heute kennen; aber vor seinen Augen stand das lebendige Bild einer Staatsordnung, in welcher Jeder, vom unumschränkten Herrscher bis herab zum kleinen Beamten und zum gemeinen Soldaten, ohne Widerrede, ohne zu fragen, ob etwa Leistung und Gegenleistung mit einander im Gleichgewicht stünden, dem Gebot der Pflicht gehorchte. In einer Frage nur waren der König und der Philosoph nicht gleicher Meinung, in der Frage nach dem Grund der sittlichen Pflichtgebote. Friedrich war ein Schüler der französischen Aufklärungsphilosophie, und in seinen späteren Lebensjahren erschien ihm mehr und mehr die Metaphysik der materialistischen Systeme als die wahrscheinlichste, so sehr er auch zeitlebens die atheistischen Behauptungen eines Helvétius und Holbach bestritt. Demgemäss glaubte er im Sinne jener Systeme alle Moral aus der Selbstliebe ableiten zu können. Aber freilich gewann bei ihm dieser 484

Antrittsrede 1889

Begriff der Selbstliebe eine völlig veränderte Bedeutung. Während den französischen Philosophen alles egoistische Streben in dem Trieb nach sinnlichen Lustgefühlen aufging, erblickt Friedrich das höchste Glück in jener Ruhe der Seele, die aus einem reinen Gewissen und aus dem Bewusstsein treuer Pflichterfüllung entspringt. Die richtig geleitete Selbstliebe wird daher, wie er meint, die vorübergehenden äusseren Glücksgüter den dauernden der Ehre, des Ruhmes und der aus der Aufopferung für Andere entspringenden Selbstbefriedigung hintansetzen. So steht Friedrich nicht allzu fern jener stoischen Glücksverachtung, welche sein Vorbild, der Philosoph unter den römischen Kaisern, Mark Aurel, als die Summe menschlicher Weisheit gepriesen hatte. Aber wenn er immerhin glaubte, zwischen den Grundsätzen der stoischen Moral und dem Prinzip Epikurs, dem egoistischen Glückseligkeitstrieb, eine Art Verbindung herstellen zu können, so täuschte sich sein in philosophischen Dingen tieferblickender Zeitgenosse, Kant, nicht über die innere Unvereinbarkeit einer auf den strengen Pflichtbegriff gegründeten sittlichen Lebensanschauung mit jeder Art von Eudämonismus. So liegt denn der Schwerpunkt der Kantischen Ethik und zugleich ihr Gegensatz zu der Reflexionsmoral der vorangegangenen Zeit in der Hervorhebung der Unbedingtheit des Pflichtgebots. Das Sittengesetz liegt in uns, nicht ausser uns. Entspringend aus der allen sinnlichen Bedingungen des Daseins vorausgehenden Freiheit des Wollens, kann es nicht von Ueberlegungen des Nutzens, ja nicht einmal von Wünschen und Neigungen abhängig gemacht werden. Nicht die Reflexion, nicht der Trieb, sondern das Gewissen soll unser Gesetzgeber sein. Nach der Pflichterfüllung allein, und um so mehr, wenn die Pflicht im Widerstreit mit den sinnlichen Neigungen liegt, bemisst sich daher der Werth unserer Handlungen. Kein grösserer Gegensatz lässt sich denken als der zwischen dieser Ethik Kant’s und jener sittlichen Anschauung, welche in der Erklärung der Menschenrechte ihren Ausdruck fand. Hier giebt es nur Rechte, und diese Rechte sind in ihrer Geltungsweise bestimmt durch das gesellige Zusammenleben der Menschen; dort giebt es nur ein Pflichtgebot, und dieses Pflichtgebot gilt unumschränkt, unabhängig von allen besonderen Bedingungen unseres Daseins. Die Menschenrechte sind aus der verständigen Ueberlegung über die Bedürfnisse unseres sinnlichen Lebens hervorgegangen; das Pflichtgebot Kants liegt vor jeder Reflexion in uns: es ist das vornehmste Zeugniss unseres übersinnlichen Ursprungs. Aber das Jahrhundert fordert überall seinen Tribut. In einem Punkte wirkte der Geist dieses Zeitalters auch in der Kantischen Ethik fort. Der einzige eigentliche Gegenstand des sittlichen Handelns bleibt ihr der einzelne Mensch. Wo es sich daher um die Untersuchung der Bedingungen der sittlichen Gemeinschaft handelt, da kehrt Kant zu den Voraussetzungen zurück, auf denen die Philosophie der französischen Aufklärung ihr ethisch-politisches Gebäude errichtet hatte. Diese Voraussetzungen werden von ihm da und dort ermässigt, aber sie werden nirgends in einer wesentlichen Beziehung verändert. Auch nach Kant ist der Staat aus einer ursprünglichen Vertragsschliessung hervorgegangen, oder er muss wenigstens so betrachtet werden, als liege ihm ein Vertrag zu Grunde. Nicht minder kehren in der Kantischen Rechtslehre die alten, dem vorigen Jahrhundert geläufigen, ganz freilich auch heute 485

Wilhelm Wundt

noch nicht verschwundenen Fiktionen wieder: die Ableitung alles Eigenthums aus einer ursprünglichen Besitzergreifung von Seiten der Einzelnen, der richterlichen Gewalt aus der natürlichen Neigung des Menschen, dem gewaltthätigen Streit durch die Wahl eines Schiedsrichters vorzubeugen u. s. w. Auch nach Kant soll der Staatsvertrag die Gleichheit der Rechte Aller erfordern, wenngleich nachträglich diese Folgerung vorsichtig auf die Unterthanenrechte eingeschränkt, nicht mit den Ethikern der Revolution auf die Souveränitätsrechte erweitert wird. So giebt überall, wo die sittlichen Prinzipien für die Fragen der sittlichen Gemeinschaft fruchtbar werden sollten, der kategorische Imperativ der Pflicht an die Ideen von Rousseau’s contrat social seine Herrschaft ab. Wird auch der Begriff der Pflicht nicht, wie es bei Rousseau geschehen war, geflissentlich unterdrückt, so tritt er doch ganz von selbst hinter der Erörterung der individuellen Rechte in die Stellung eines bloss begrenzenden Hülfsbegriffs zurück. Man begreift, dass Kant im Banne dieser Anschauungen die Republik, der er allerdings prinzipiell die konstitutionelle Monarchie gleichstellte, deshalb für die vollkommenste Staatsform erklären musste, weil sie der Herrschaft Aller möglichst nahe komme, und man versteht zugleich sein Urtheil über die französische Revolution, die er als das grösste Ereigniss der Zeit bezeichnet, weil sie das Streben eines grossen Volkes nach einer naturrechtlichen, auf den ewigen Prinzipien der Freiheit und Rechtgleichheit beruhenden Verfassung offenbart habe. So auffallend aber der Gegensatz ist, in dem durch diese Hintansetzung des Pflichtbegriffs die Rechtslehre Kants zu seiner ethischen Grundanschauung steht, so ist es doch unverkennbar die schon der letzteren eigenthümliche Beschränkung des Pflichtbewusstseins auf das subjektive Gewissen, die nothwendig allen Anwendungen der Ethik auf das Problem der sittlichen Gemeinschaft jene Wendung geben musste. Bezieht sich das Sittengebot ursprünglich nur auf die individuelle Persönlichkeit, so können alle Anwendungen desselben auf das Zusammenleben der Menschen nur den Charakter von Hülfsnormen an sich tragen, welche die Geltung jenes Gebotes innerhalb der zufälligen Bedingungen der sinnlichen Existenz regeln sollen. Die Familie, der Staat, die sittliche und humane Gemeinschaft werden zu blossen Hülfsmitteln für die Entwickelung der individuellen Sittlichkeit; nirgends erscheinen sie als selbständige, geschweige denn als ursprünglich der Einzelpersönlichkeit übergeordnete Träger sittlicher Zwecke. So treten uns als letztes Ergebniss der ethischen Selbstbestimmung des vorigen Jahrhunderts zwei Lebensanschauungen entgegen, von denen die eine einseitig auf die Idee des persönlichen Rechts, die andre ebenso einseitig auf die Idee der persönlichen Pflicht gegründet ist. Beide aber hängen in ihrer Wurzel zusammen. Diese Wurzel ist der Individualismus, die ausschliessliche Geltendmachung der Einzelpersönlichkeit als des eigentlichen Gegenstandes sittlicher Zwecke. Ferne sei es von uns, das achtzehnte Jahrhundert um dieser Beschränkung willen gering zu achten. In seiner Beschränkung liegt zugleich seine Stärke. Die Anerkennung des Werthes der Einzelpersönlichkeit als solcher, welche die christliche Ethik auf rein geistigem Gebiete zur Geltung gebracht, auch für das äussere Leben sicher zu stellen, das war ein Gewinn, der um den Preis jener Irrthümer und Mängel, die einseitig beschränkten 486

Antrittsrede 1889

Gedankenrichtungen immer anhaften, nicht zu theuer erkauft war. Uns aber, die wir uns im Besitz der Güter wissen, die das Zeitalter der Aufklärung mit heissen Mühen erstritten, uns kann es nicht zweifelhaft sein, dass, wenn die Philosophie dieser Zeit bei den Problemen der sittlichen Gemeinschaft überall nur sich mit geschichtlich wie psychologisch gleich unhaltbaren Konstruktionen zu helfen wusste, dieser Mangel in dem einseitigen Individualismus des Jahrhunderts seine letzte Quelle hat. Wahrlich, wenn es noch eines historischen Belegs für diese Folgerung bedürfte, so würde er, wie ich meine, in der Thatsache liegen, dass zwei so von Grund aus verschiedene Anschauungen, wie die revolutionäre Ethik der Franzosen und die aus dem deutschen Geiste der Friedericianischen Epoche geborene Sittenlehre Kants, in der Frage nach dem sittlichen Wesen von Staat und Gesellschaft den wirklichen Gegenstand der sittlichen Pflicht, die sittliche Gemeinschaft selbst, so gut wie ganz aus dem Auge verlieren. So übernimmt die neue Zeit mit der Erbschaft der Vergangenheit zugleich eine der wichtigsten ethischen Aufgaben. Diese Aufgabe, an der, wie ich glaube, unser Jahrhundert bis zu dem heutigen Tage gearbeitet hat und noch arbeitet, besteht in der Überwindung des Individualismus, in der Begründung einer sittlichen Weltanschauung, welche den Werth der individuellen Persönlichkeit anerkennt, ohne darum den selbständigen Werth der sittlichen Gemeinschaft preiszugeben. Wie hat das Jahrhundert dieser Aufgabe zu genügen vermocht, in deren Stellung es das vorangegangene gleichzeitig bekämpft und ergänzt? Dass neue Ideenrichtungen nicht unvermittelt sich Bahn brechen, ist uns eine geläufige Erfahrung. Seltsamer erscheint es, wenn die neue Richtung aus der alten hervorgeht, indem diese selbst durch die Steigerung und Vertiefung ihres Prinzips in ihr Gegentheil umschlägt. Dennoch ist dies im vorliegenden Fall nicht nur der wirkliche geschichtliche Verlauf, sondern es ist vielleicht der psychologisch begreiflichste. Der Philosophie der Aufklärung war der individuelle Mensch der letzte Zweck alles Denkens und Handelns. Dieser Mensch galt ihr aber immer und überall als der nämliche. Sie forderte gleiche Rechte für Alle nicht zum wenigsten deshalb, weil sie voraussetzte, dass die intellektuellen und sittlichen Eigenschaften der Menschen ganz und gar übereinstimmten. Diese Eigenschaften könnten, so meinte man, unterdrückt, verkehrt angewandt, nie aber wesentlich verändert werden. So schuf man sich einen abstrakten Menschen, der unabhängig von allen geschichtlichen Bedingungen existiren, und für den überall die nämlichen Regeln der Sitte, des Rechts, der staatlichen Ordnung gültig sein sollten. Das Extrem dieser Anschauung wird auch hier durch die revolutionäre Ethik der Franzosen vertreten. „Alle Menschen“, meint Holbach, „werden mit gleichen natürlichen Anlagen geboren; ihre scheinbaren Unterschiede entspringen nur aus den Verschiedenheiten der Erziehung, die auf das Gehirn ähnlich einwirken, wie jene mechanischen Vorrichtungen der Wilden, durch welche sie die Köpfe ihrer Kinder verunstalten.“ Gegen diesen Alles ausgleichenden Individualismus der Aufklärung erhob sich zuerst in der Sturm- und Drangperiode unserer deutschen Dichtung der Geist einer neuen Zeit, welche den Werth der wirklichen Einzelpersönlichkeit mit ihrem Bewusstsein eingeborener Kraft und Freiheit gegen jene nach blossen Verstandes487

Wilhelm Wundt

begriffen konstruirte, überall dem Zwang der nämlichen logischen Regeln unterworfene Scheinpersönlichkeit einsetzte. Am vollendetsten, geläutert von der überströmenden Leidenschaft einer stürmischen Uebergangsepoche, hat sich dieser Geist der neuen Zeit in dem grössten unserer Dichter, in Goethe, verkörpert. Die Romantik, der nur zu oft die masshaltende Besonnenheit des Meisters mangelte, verband jenen Anspruch der Einzelpersönlichkeit auf freie Entfaltung ihres eigensten Wesen mit dem Streben nach kongenialem Verständnisse anders gearteter Zustände und Kulturperioden. So erwuchs als ein natürliches Erzeugniss dieses vertieften und erweiterten Individualismus allmählich jener geschichtliche Sinn, dessen das neunzehnte gegenüber dem achtzehnten Jahrhundert sich rühmen darf. Unwiderruflich mussten aber im Lichte der geschichtlichen Betrachtung die schablonenhaften Konstruktionen verschwinden, mittelst deren die Verstandesaufklärung Sprache und Sitte, Religionen und Staaten entstehen liess. Die Ueberzeugung musste unaufhaltsam sich Bahn brechen, dass der isolirte Einzelmensch des alten Naturrechtes, der sich mit Andern seinesgleichen zusammenthut, um Rechtsordnungen und Staaten zu gründen, nie und nirgends in der Welt existirt hat, sondern dass die natürliche Einheit der sittlichen Lebensanschauungen die Grundlage ist, auf der sich jede wahre Kulturgemeinschaft innerhalb der Menschheit entwickelt. So trug der aufs äusserste gesteigerte Individualismus, der in den Ideen der romantischen Schule seinen charakteristischen Ausdruck fand, überall schon den Keim zur Selbstauflösung dieser Denkweise in sich. Aber auch dieser Wandel der Anschauungen hat nicht bloss von innen heraus sich vollzogen, sondern er ist zugleich die unmittelbare Rückwirkung der gewaltigen politischen Bewegungen, in denen die französische Umwälzung das europäische Staatensystem erschütterte. Unsere Nation insbesondere wurde in der Schule des Leidens und der Erniedrigung, die ihr die Aera der Napoleonischen Eroberungen brachte, zu einem politischen Gesammtbewusstsein erweckt, vor dem die subjektive Gefühlsschwärmerei der Romantik ebenso wie die egoistische Moral der Verstandesaufklärung wie Spreu vor dem Sturme verwehen mussten. Diese Zeit der Vorbereitung der Befreiungskriege lebte so schnell, dass ihr viele der besten unserer Dichter und Denker, gross geworden in den alten Anschauungen, nicht zu folgen vermochten. Unsere Philosophie aber kennt einen Namen, dessen Träger den ungeheuren Wandel der Ideen, der aus dem alten den neuen Zeitgeist entstehen liess, in sich selbst durchlebte: Johann Gottlieb Fichte. Es wird uns heute nicht leicht, die Bedeutung dieses Mannes, ebenso wie die der meisten seiner philosophischen Zeitgenossen, richtig zu würdigen. Die Methode dialektischer Konstruktion, durch welche diese Philosophen ihre Ansichten zu unwiderstehlicher Evidenz zu bringen meinten, erscheint uns als ein gezwungenes und abstossendes Gewand, das den Gedanken verhüllt und entstellt. Nicht nach dieser verfehlten, im letzten Grunde willkürlichen und künstlichen Form dürfen wir den Werth eines Mannes wie Fichte würdigen, sondern nach dem von dieser Form unabhängigen Inhalt seiner Ideen. Mit einem für ihn und für seine Zeit bezeichnenden Worte hat dereinst Friedrich Schlegel der ersten, allein zum Abschlusse gelangten Periode der Philosophie Fichte’s 488

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ihre Stellung in der deutschen Gedankenentwickelung angewiesen. Die französische Revolution, Goethe’s Wilhelm Meister und Fichte’s Wissenschaftslehre, meinte er, seien die drei grössten Zeitereignisse. Uns muthet heute eine derartige Zusammenstellung fremdartig an, dennoch entspricht sie dem Werthe, den jene Zeit den idealen Faktoren des Lebens einräumte; und dies vorausgesetzt, ist sie vollkommen zutreffend. War die französische Revolution die zur That gewordene Idee der persönlichen Freiheit, so hatte in Wilhelm Meister das Recht der menschlichen Persönlichkeit, die ihr eingeborenen Geistesrichtungen und Anlagen frei zu entfalten, ihren künstlerisch vollendetsten Ausdruck gefunden. Fichte’s Philosophie aber erhob diese Freiheit des schöpferischen Ich zum Prinzip des Erkennens und Handelns. Die intellektuelle und die moralische Welt suchte sie als eine in sich zusammenhängende Reihe von Handlungen zu erfassen, als schöpferische Thätigkeiten eines Vernunftwillens, dessen ideales, durch die Schranken der Sinnlichkeit gehemmtes, und doch diese Schranken fortan überwindendes Streben auf die absolute Freiheit als letzten sittlichen Zweck gerichtet sei. Im Sinne dieses Grundgedankens übernimmt Fichte den Pflichtbegriff der Kantischen Ethik, mit ihm den werthvollsten Inhalt der letzteren. Aber er giebt ihm, unter Ausscheidung mancher an den Rationalismus der Verstandesaufklärung erinnernder Zuthaten, eine geschlossenere Form. In gleichem Sinne gestaltet er den Inhalt der Kantischen Rechts- und Staatslehre um. Die Rechtsgemeinschaft, von Kant mit der alten Vertragstheorie auf die zufällige Koexistenz der Einzelnen zurückgeführt, wird bei Fichte zu einer nothwendigen Bestimmung der Einzelpersönlichkeit, welche das Zusammensein mit andern Wesen gleicher Art und die wechselseitige Anerkennung dieser Wesen als ursprüngliche Bedingung schon in sich trage. Nicht mit Unrecht konnte daher Fichte sich den Vollender der Kantischen Lehre nennen. Doch je mehr diese Umbildung durch Strenge und Einheit der Entwickelungen ihrem Vorbilde überlegen ist, um so schärfer kommt in ihr der einseitige Individualismus der Kantischen Lehre, namentlich auch in der Anwendung auf die Probleme von Staat und Recht, zu erneuter Geltung. Fast ist es weniger ein Unterschied des Begriffs, der den Standpunkt Fichte’s von demjenigen Kant’s scheidet, als ein solcher des Temperaments und Charakters. Haftet bei Kant an dem Begriff der sittlichen Einzelpersönlichkeit immer noch allzu viel von der abstrakten Menschheitsidee der Verstandesaufklärung, so hat in dem thätigen Ich Fichte’s die selbstbewusste Persönlichkeit der Genieperiode ihren philosophischen Ausdruck gefunden. Aber an einem Charakter, der in Leben und Lehre die Energie des thatkräftigen Wollens als das höchste menschliche Gut schätzte, konnten die Schicksale des eigenen Vaterlandes nicht ohne gewaltige Rückwirkungen vorübergehen. Mit dem Anfang des Jahrhunderts beginnt in Fichte eine neue sittliche Weltanschauung sich vorzubreiten. Sie ist nicht aus einer Unsicherheit der Überzeugungen, wie sie leicht bestimmbaren Gemüthern eigen ist, sondern aus jener Rückwirkung des öffentlichen Lebens auf die individuelle Anschauung hervorgegangen, welcher der handelnde Charakter am wenigsten sich entziehen kann. Wie in der ersten Periode der Fichte’schen Lehre die Sturm- und Drangperiode, so verkörpert sich in der zweiten der Geist der deutschen Befreiungskriege. Hatte Rousseau die Ideen der französischen 489

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Revolution vorausverkündet, so lebte in Fichte der Gedanke, der in den folgenden Jahren die Erhebung des deutschen Volkes beseelte. Und dieser Gedanke ist der volle Gegensatz zu dem aufs höchste gesteigerten Individualismus der Genieperiode. War dort das Ich als eine weltschöpferische Macht erschienen, die selbst die sittliche Welt nur als eine Bethätigung der eigenen Freiheit und zum Zweck des vollen Genusses dieser Freiheit hervorbringt, so wird hier der individuelle Wille zum Träger und Vollbringer einer allgemeinen Vernunft, welche sich im Leben der Völker entfaltet. Nur das Leben der Gattung, das in der staatlichen Volksgemeinschaft, der wir angehören, das Gebiet uns zunächst obliegender Pflichthandlungen umschliesst, ist das wahre Leben. Alle Tugend geht darin auf, in dieser Gemeinschaft sich selbst als Person zu vergessen; alles Laster entspringt daraus, nicht an die Gemeinschaft, sondern nur an sich selber zu denken. Man kann diesen Gegensatz zweier auf- und auseinander folgender Ideenrichtungen nicht schärfer ausdrücken, als es von Fichte selbst in zwei Schriften geschehen ist, von denen die eine der früheren, die andre der späteren Periode seines Denkens angehört. In dem „Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution“ vom Jahre 1793 tritt er, nicht schwankend und zweifelnd wie Kant, sondern mit der vollen Energie der Überzeugung für das Recht der Revolution in die Schranken. Fast aber ist für uns weniger die Thatsache dass, als die Art wie er dies thut von Interesse. Hatte dereinst Thomas Hobbes auf Grund der Idee des Staatsvertrags die Zulässigkeit jeder Revolution bestritten, so leitet Fichte umgekehrt ihre Rechtmässigkeit gerade aus dem Begriff des Vertrags ab. Dieser fordert dauernde Willensübereinstimmung Aller, die an ihm theilnehmen. Hört die letztere auf, so kann jener gelöst werden. Hält endlich einer der Kontrahenten nicht die ihm auferlegten Verpflichtungen, so ist der Vertrag von selbst erloschen. Darum hat der Fürst, der seinen Regentenpflichten nicht nachkommt, sein Recht verwirkt; darum können ferner die bevorrechteten Stände nicht gegen den Verlust ihrer Vorrechte klagen, liegt doch der Begriff des Privilegiums von Anfang an im Widerstreit mit dem Sinn des Staatsvertrags, der nur auf die gleichen Rechte Aller gegründet sein kann. So macht Fichte in dieser Jugendschrift unverkürzt die Ideen der französischen Revolution zu den seinigen; nur daran bemerkt man den nebenhergehenden Einfluss der Kantischen Ethik, dass ihm als letztes absolutes Prinzip für die Beurtheilung jeder Rechts- und Staatsordnung das Sittengesetz gilt. Wie völlig anders lautet der Inhalt desjenigen Werkes seiner späteren Periode, in welchem die Abwendung von jenen Idealen der Jugend am schroffsten zu Tage tritt, der Vorlesungen über die „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters“ aus den Jahren 1804 und 1805! Mögen uns heute die geschichtsphilosophischen Konstruktionen, mittelst deren hier Fichte jedem Zeitalter seine Stellung in der Entwicklung der Menschheit anzuweisen sucht, noch so bedenklich erscheinen, man kann nicht umhin die Weite und Tiefe des Blicks zu bewundern, der die Schwächen und Fehler einer jüngst vergangenen Zeit so vollständig durchschaut, dass noch heute für ein objektiver gewordenes historisches Urtheil kaum etwas nachzuholen sein wird, wenn auch ein solches den Verdiensten jener Periode besser gerecht werden dürfte, als es dem mitten im Kampfe zweier Zeitalter stehenden Denker möglich war. Die 490

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Verstandesaufklärung hat – das ist der Grundgedanke seiner Ausführungen – die Autorität der instinktiv herrschenden Vernunft gebrochen; aber zur bewussten Vernunfterkenntniss ist sie noch nicht durchgedrungen. So bewegt sie sich in dem Stadium einer zersetzenden Kritik, die nur zu zerstören, nicht aufzubauen im Stande ist, und für die, indem sie nur das eigene Denken als klar und verständlich gelten lässt, nur der individuelle Mensch, den sie überdies stets nach dem eigenen Masse misst, Wirklichkeit besitzt. In der Genieperiode und Romantik, als deren philosophischen Vertreter Fichte unverkennbar Schelling im Auge hat, ist die Nichtbefriedigung mit diesem Zustande zu einer unklaren Schwärmerei ausgeartet. Statt von der Vernunft, wird sie von der Phantasie beherrscht; praktisch ist sie daher ebenso ohnmächtig, wie der Dünkel der Verstandesaufklärung. Das Ziel der neuen Zeit aber erblickt Fichte schon hier in der Gründung einer neuen Staatsordnung und in der Erneuerung der religiösen Denkweise. In dem Kulturstaat der neuen Zeit sollen nicht die Sonderinteressen herrschen, sondern alle seine Bürger sollen durchdrungen sein von dem Zweck des Ganzen. Denn das echte Staatsbewusstsein besteht ebenso in dem Gefühl der fortwährenden lebendigen Einheit des Einzelnen mit der Gesammtheit, wie die wahre Religiosität in dem Bewusstsein der Einheit des Menschen mit dem göttlichen Weltgrunde. Das Ideal eines machtvollen nationalen Kulturstaates, welches Fichte hier, ebenso wie in den vier Jahre später gehaltenen „Reden an die deutsche Nation“, vorschwebte, ist nicht in Erfüllung gegangen. Durch die geistige Bildung, die sie in der vorangegangenen Zeit errungen, war die Nation reif geworden, das Joch der Fremdherrschaft abzuschütteln; sie war nicht reif genug – das lehren zum Theil Fichte’s eigene politische Pläne – für sich selbst eine angemessene staatliche Form zu finden. So wurde die Restauration zur inneren Nothwendigkeit. Doch keine Restauration vermag das Alte unverändert wiederherzustellen. Die Ideen der unmittelbaren Vergangenheit sucht sie, wenn auch noch so nothdürftig, mit ihrem Streben nach Wiederaufrichtung früherer Zustände zu verbinden. Mochten sich in dem Stillleben der zwanziger Jahre, wie es uns so anschaulich Karl Immermann in seinen „Epigonen“ geschildert hat, Fürsten, Adel und ein in formaler Pflichterfüllung erstarrtes Beamtenthum gelegentlich völlig in die Zustände des vergangenen Jahrhunderts zurückträumen: in der Jugend lebten noch die Ideen der Befreiungskriege, das Alter aber schwelgte in allgemeinen Humanitätsidealen, die durch ihre Unbestimmtheit politisch ebenso unverfänglich wie praktisch erfolglos waren. Es trat ein, was so oft den Misserfolg von Bestrebungen begleitet: weil das Nächste, dessen man bedurfte, zur Zeit unerreichbar war, so versenkte man sich in den Gedanken an ein Höchstes, das überhaupt nicht erreichbar ist. Wilhelm Meisters Wanderjahre und der zweite Theil des Faust sind der künstlerische Ausdruck dieser Zeitstimmung. Der kecke Lebensmuth des Meister der Lehrjahre, der titanenhafte Thatendrang des Faust aus der Tragödie erstem Theil – sie enden, jener mit dem Plan einer phantastischen Organisation der Gesellschaft, dieser mit der Hingabe für das allgemeine Wohl der Menschheit. Es ist nicht bloss der Unterschied der Lebensalter des Dichters, es ist zugleich der Gegensatz zweier Zeitalter, der sich in diesen Schöpfungen spiegelt. 491

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Der philosophische Vertreter dieser zu allgemeinen Ideen verflüchtigten Humanitätsideale, in denen man mit den bestehenden politischen und socialen Zuständen im tiefsten Frieden lebte, ist Hegel. Er ist der echte Philosoph der Restaurationsperiode. Eine kontemplative Stimmung, die sich befriedigt findet, wenn es ihr gelungen ist, die gegebene Wirklichkeit in die Sphäre des Begriffs zu erheben, erfüllt ihn mit Missgunst gegen alle Bestrebungen, die die Geschichte nach eigenen subjektiven Meinungen verbessern möchten. Auch in ihm lebt die in Fichte zur That gewordene Ueberzeugung, dass der Einzelne sich in den Dienst der Ideen zu stellen habe, welche den sittlichen Organismus der Gesammtheit beseelen. Aber es ist nicht mehr der nationale Kulturstaat, das Ideal der Freiheitskriege, das ihm als die Verwirklichung dieses sittlichen Organismus gilt, sondern der abstrakte Staat als solcher, die unbedingte Unterordnung unter einen Gesammtwillen, dem alle Einzelwillen gehorchen. Der Staatsbegriff der Hegel’schen Rechtsphilosophie ist daher auf irgend eine der willkürlichen Schöpfungen des Wiener Kongresses ebenso gut, ja vielleicht besser anwendbar als auf den aus einer ursprünglichen nationalen Kulturgemeinschaft erwachsenen Volksstaat. Er ist die in abstrakten Begriffen entworfene Verherrlichung eines mit konstitutionellen Formen umkleideten bureaukratischen Beamtenstaates, und die Deutung, die der Philosoph diesen Formen zu geben weiss, ist beim Lichte besehen nichts anderes als eine Verewigung des Scheinkonstitutionalismus, die Erhebung der unhaltbarsten und leersten aller politischen Schöpfungen zu einem allgemeinen Vernunftspostulat. Der oft gerühmte Freiheitsbegriff dieses Systems aber ist ebenso harmlos und dehnbar, wie der Wunsch des sterbenden Faust, „auf freiem Grund mit freiem Volk zu stehn.“ Doch, damit die allgemeinen Humanitätsideen, in denen die Zeit einen Ersatz suchte für das verlorene politische Ideal, auch hier zu ihrem Rechte kommen, so stellt sich jener als lebendige Sittlichkeit verherrlichte Staat, der von dem Einzelnen alles fordert, um ihm nichts zu gewähren, schliesslich in den Dienst der höchsten geschichtsphilosophischen Idee des Systems, der absoluten Weltvernunft. Der Weltgeist, der in Hegel’s Philosophie mit dem Geist der Menschheit zusammenfällt, thront über den einzelnen Volksgeistern, die er, wie der Philosoph poetisch sich ausdrückt, als die „Zeugen und die Zierrathen seiner Herrlichkeit“ und als die Vollbringer seines Willens um sich versammelt. Die Thaten dieses Weltgeistes bilden den Inhalt der Geschichte. Der berühmt gewordene Satz der Hegel’schen Rechtsphilosophie, dass alles Vernünftige wirklich und alles Wirkliche vernünftig sei, ist nur eine Anwendung dieses allgemeinen Gedankens. Auf Grund dieses Satzes kann aber alles Bestehende gerechtfertigt, und kann jede Kritik des Bestehenden untersagt werden. So wird jene höchste geschichtsphilosophische Idee des Systems schliesslich selbst der politischen Tendenz dieser Restaurationsphilosophie dienstbar gemacht. Es war ein merkwürdiges Verhängniss, das über diesem System schwebte. Es gab sich als die absolute Wahrheit, als die endgültig zur Selbsterkenntniss erhobene Weltvernunft. In den Dienst unhaltbarer sittlicher Zustände gestellt, wurde es eine der vergänglichsten philosophischen Schöpfungen aller Zeiten. In dem Masse als die Bestrebungen der politischen Restauration darauf ausgingen, das absolute Regiment 492

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des vorigen Jahrhunderts zu erneuern, mussten sie eine geistige Gegenströmung erwecken, die sich wiederum in den Bahnen der revolutionären Ideen bewegte. Der Individualismus, zuerst durch die Macht der nationalen Idee überwunden, dann durch einen abstrakten Staats- und Humanitätsbegriff gewaltsam zurückgehalten, brach sich von neuem Bahn. Von den Geistern, die als Stimmführer der öffentlichen Meinung den Umsturz oder die Reform der bestehenden Zustände verlangten, und die in der litterarischen Bewegung des „jungen Deutschland“ eine Art Erneuerung der Sturm- und Drangperiode herbeizuführen suchten, wurde abermals die Freiheit der Einzelpersönlichkeit zur Richtschnur aller Rechte und Pflichten gegenüber der Gesammtheit erhoben. Aber freilich, auch hier ist die Geschichte keine blosse Wiederholung des schon einmal Geschehenen. Wie in dem „jungen Deutschland“ die Tendenzen der Verstandesaufklärung mit der Geniesucht der Romantik seltsam gemischt waren, so verbanden sich in den politischen Bestrebungen der Zeit mit den alten Idealen der Revolution die geistigen Strömungen der jüngsten Vergangenheit. Kosmopolitische und nationale Ideen, die Begeisterung für die Rechte des Einzelnen und die Forderung der Hingabe für die Zwecke der Menschheit wohnten hier, oft unklar zusammenfliessend, dicht bei einander. In Deutschland ist der philosophische Verkündiger dieser geistigen Bewegung der dreissiger und vierziger Jahre ein Mann, dessen Einfluss und Bedeutung von der philosophischen Geschichtsschreibung meist allzu gering geschätzt wird: Ludwig Feuerbach. Abgesehen von einem kleinen Häuflein überlebender Verehrer, ist Feuerbach heute beinahe vergessen. Höchstens kennt man ihn als Einen der Vielen, die zuerst von Hegel ausgegangen und dann von ihm abgefallen waren. Man lese Gottfried Keller’s Jugendroman, den „grünen Heinrich“, um die Macht, die Feuerbach ausübte, richtiger zu würdigen. Seine Werke waren im Grafenschloss so gut wie im Haus des bildungsbedürftigen Landmanns zu finden. Für alle Diejenigen, die der positiven Religion den Rücken gekehrt hatten, ohne dem in ihr lebenden spekulativen Bedürfnisse abgestorben zu sein, galten diese Werke als ein neues Evangelium. Ihr Urheber wurde zum Mittelpunkt eines Kultus, dem auch die Apostel und Wanderprediger, die in diesem Kultus ihren Lebensberuf sahen, nicht fehlten. Feuerbach’s Philosophie ist die mit dem Geiste des neunzehnten Jahrhunderts erfüllte Ethik der französischen Aufklärung. Seine logische und psychologische Einsicht bewahrt ihn vor dem naiven Materialismus jener Systeme; aber darin ist er ganz mit ihnen einig, dass der natürliche, sinnliche Mensch der einzige Inhalt und Zweck der Welt, und dass alles Uebersinnliche ein leeres Idol, eine uns von den wahren Quellen unseres Daseins ablenkende Selbsttäuschung sei. So ist seine Philosophie nicht minder atheistisch wie die eines Helvétius und Holbach, aber, weit entfernt mit jenen die Religionen als absichtlich zur Unterjochung des Menschen erfundene Irrlehren zu brandmarken, bewährt er einen bewundernswerthen Scharfblick in der Aufsuchung des psychologischen Ursprungs religiöser Vorstellungen. Gleichwohl, das Resultat bleibt das nämliche. Hat der Mensch nach Feuerbach im Stadium des religiösen Empfindens unbewusst sich selber vergöttert, so soll die bewusste Erkenntniss, dass er sein eigener Gott sei, zum Grundgedanken der neuen 493

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Weltanschauung werden. An die Stelle der religiösen und der ihr verwandten metaphysischen Kontemplation soll die praktische, vornehmlich die des freien Menschen würdigste, die politische Thätigkeit treten. Dass Sittlichkeit und Glückseligkeit eins seien, und dass alle Glückseligkeit in dem Inhalt des sinnlichen, wirklichen Lebens eingeschlossen liege, steht für Feuerbach ebenso fest wie für die Ethiker der Revolutionszeit. Doch von der Unmöglichkeit des von diesen gemachten Versuchs, aus dem Egoismus die gemeinnützigen Triebe abzuleiten, ist er nicht minder durchdrungen. Ohne Ich kein Du, aber auch ohne Du kein Ich. Alles sittliche Handeln beruht ihm daher auf der innigen Wechselbeziehung der Selbstliebe und der Nächstenliebe. In dem Andern lieben wir uns selbst, in uns selbst zugleich den Andern. Trotz dieser Aufhebung der egoistischen Glückseligkeitmoral bezeichnet Feuerbach’s Ethik ihrer ganzen Tendenz nach unverkennbar einen Rückgang zu dem Individualismus der Aufklärungsphilosophie. Wie nur der einzelne Mensch unmittelbares Objekt der sinnlichen Wirklichkeit ist, so bleibt auch das Glück des Einzelnen der letzte Zweck der sittlichen Gemeinschaft. Daneben freilich wirken die Humanitätsideale der Restaurationsperiode in dieser Philosophie fort; sie sind der letzte Rest jener Verherrlichung der absoluten Vernunft, der sich aus Hegel’s System in die Gedankenwelt seines Schülers hinübergerettet hat. Hieraus stammt die Begeisterung für den wirklichen Menschen, die bei Feuerbach in das Wort, dass der Mensch sein eigener Gott sei, thatsächlich etwas von der Wärme des religiösen Gefühles überströmen lässt. In Wahrheit ist es ein merkwürdiges und doch psychologisch verständliches Gesetz der Geschichte, dass unter allen philosophischen Ueberzeugungen der Atheismus nicht am seltensten in der Form religiöser Schwärmerei auftritt. Nahezu gleichzeitig mit Feuerbach begründete in Frankreich Auguste Comte sein „System der positiven Philosophie“. Beide Denker haben wahrscheinlich nie von einander gehört, dennoch sind beider Weltanschauungen, besonders in den ethischen Fragen, von überraschender Uebereinstimmung, – auch dies ein Zeugniss für den Einfluss des allgemeinen Zeitgeistes auf die Entwickelung der philosophischen Ideen. Aber mehr noch als bei Feuerbach wurde schliesslich bei Comte der Mensch zum Gegenstand eines religiösen Kultus, als dessen Hohepriester sich der Philosoph selber betrachtete. Soweit freilich hat sich der deutsche Denker nicht hinreissen lassen. Dennoch sind diese Unterschiede vielleicht mehr solche des nationalen Temperaments und der äusseren Lebenseinflüsse als der ursprünglichen Empfindung. Bei Comte erscheint die religiöse Schwärmerei des Atheismus im katholischen, bei dem nüchternen Feuerbach im reformirten Gewande. Mit den Hoffnungen des Jahres 1848 sank auch der Stern der Feuerbachschen Philosophie. Die Zeit der Enttäuschung, die nun folgte, und die den rückwärtsstrebenden Gewalten in Staat und Gesellschaft freies Spiel liess, war dem lebensfreudigen Optimismus jenes Denkers nicht mehr kongenial. Seine Ueberzeugungen wanderten zum Theil mit der zerstreuten Schaar seiner Anhänger in die neue Welt aus. Das zurückbleibende Geschlecht aber entsagte entweder der Philosophie, oder es tröstete sich mit einer Philosophie der Entsagung. 494

Antrittsrede 1889

Die Philosophie, die, von einzelnen rühmlichen Ausnahmen abgesehen, von nun an auf deutschen Universitäten herrschend wurde, begab sich in die Dienste der Philologie oder der Geschichtschreibung. Nach dem Vorbilde Hegel’s hat man es wohl versucht, auch diesen Zustand geschichtsphilosophisch zu konstruiren. Die romantische Idee Savigny’s von der Kunst der Rechtsbildung auf die Philosophie anwendend, meinte man: nachdem die Aera der Entstehung philosophischer Weltanschauungen vorüber, sei jene nun in eine neue Aera eingetreten, in der sie nur noch die Geschichte ihrer eignen Vergangenheit sei. Wer in der Menge der Gebildeten überhaupt noch philosophische Bedürfnisse empfand, der suchte Zuflucht bei der nun erst zur Verbreitung gelangten Weltanschauung Arthur Schopenhauer’s, wenn ihm nicht etwa jene materalistische Popularphilosphie genügte, die als eine verspätete Nachblüthe der revolutionären Systeme des vorigen Jahrhunderts auf den Trümmern der Feuerbach’schen Lehre entstand. Schopenhauer’s Philosophie wurde der echte Ausdruck der Zeitstimmung. Nicht seine scharfsinnige Beleuchtung des Erkenntnissproblemes, nicht seine mystische Willenslehre waren es, die ihm die Geister zuführten, sondern seine von dem Schmerz des Daseins erfüllte trostlose Weltansicht, der das Leben eine Mischung von Leiden und Entbehrung ist, und die mit der Vedanta-Philosophie der Inder in der Vernichtung die wahre Erlösung von dem Uebel erblickt. Diese Weltansicht ist das vollkommene Abbild jener Stimmung der Entmuthigung und der Entsagung, die sich der Gemüther bemächtigt hatte. Ihre rasche Verbreitung beweist, dass eine Zeit, wenn sie die ihr kongeniale Philosophie in der Gegenwart nicht zu finden weiss, mit sicherem Instinkt in die Vergangenheit zurückgreift. Als Schopenhauer’s Hauptwerk in den zwanziger Jahren in die Oeffentlichkeit trat, blieb es so gut wie unbeachtet. Der Pessimismus des einsamen Denkers fand keinen Wiederhall in einer Zeit, in der die Kühneren die Hoffnungen der Freiheitskriege nicht aufgegeben hatten, die ruhigeren Geister aber entweder mit dem Bestehenden sich zufrieden gaben oder in fernen Humanitätsidealen schwelgten. Jetzt war die Zeit des Pessimismus gekommen, und der Greis erlebte noch den Triumph, den er sich selbst dereinst als Jüngling geweissagt hatte. Das sittliche Problem ermangelte in dieser Philosophie naturgemäss jeder praktischen Bedeutung. Welchen Werth sollte es auch haben, von Maximen des sittlichen Handelns zu reden, wenn der Verzicht auf den Willen zu handeln der Weisheit letzter Schluss ist? Schopenhauer’s Ethik läuft daher auf eine Psychologie und Metaphysik des Mitleids hinaus. Alles dreht sich in ihr um die Beantwortung der Frage, wie es doch komme, dass der Mensch als ein nach seinen sinnlichen Anlagen durch und durch egoistisches Wesen zugleich der Neigung für Andere fähig sei. Noch einmal hat sich in unsern Tagen eine Umwälzung vollzogen, ähnlich der, welche der Anfang des Jahrhunderts in den Befreiungskriegen erlebte – ähnlich, und doch in Eintritt und Verlauf, in Vorbereitung und Erfolg weit von jener verschieden. Dort zuerst überschwellende Hoffnung, dann nothgedrungener Verzicht – hier eine zuerst zögernd und misstrauisch verfolgte, dann aber in energischer Zusammenfassung der Volkskräfte plötzlich erreichte Erfüllung der nationalen Wünsche. Dem verschiedenen Verlauf dieser politischen Umwälzung entspricht ihr 495

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Verhältniss zur Welt der Ideen. Nicht wie die französische Revolution, nicht wie die deutschen Befreiungskriege ist diese neueste Entwickelung durch philosophische Ideen vorbereitet. Das neue Reich, eine Schöpfung der politischen Nothwendigkeit, hat seine Verfassung nicht auf allgemeine Reflexionen über Bürger- und Menschenrechte, sondern auf das Rechtsgefühl und das Pflichtbewusstsein einer durch Sitte, Bildung und geschichtliche Erlebnisse verbundenen Volksgemeinschaft gegründet. So erblicken wir – was auch dieser oder jener an dem vollbrachten Werk verbessert sehen möchte – in ihm die Verwirklichung der einst von Fichte verkündeten Idee des nationalen Kulturstaates. Wie in diesem Sinne in den politischen Schöpfungen der Gegenwart die Ideen einer ferneren Vergangenheit zum Leben erwacht sind, so aber hat nicht minder der Verlauf unserer neuesten Geschichte hinwiederum auf die philosophische Ideenentwickelung seine Rückwirkung ausgeübt. Freilich, wenn die politische Geschichte der Gegenwart eine schwierige, so ist die geistige Geschichte derselben vielleicht eine unmögliche Aufgabe. Immerhin dürfen wir es versuchen, die Zeichen der Zeit zu deuten, die uns den wahrscheinlichen Verlauf der Dinge vorausverkünden. Zwei solcher Zeichen treten uns, wie ich glaube, als die bedeutsamsten entgegen. Der Pessimismus hat seine Herrschaft über die Gemüther eingebüsst. Eine Philosophie der Entsagung mag Einzelnen noch als angemessener Ausdruck ihrer subjektiven Stimmung erscheinen, eine herrschende philosophische Richtung ist sie nicht mehr. Hand in Hand damit geht eine veränderte Werthschätzung der allgemeinen Probleme. Der vorangegangenen Zeit erschien die Beschäftigung mit der Erkenntnisstheorie als die vornehmste, wenn nicht einzige philosophische Aufgabe. Dies ist völlig anders geworden. Das sittliche Problem drängt sich heute immer mächtiger in den Vordergrund. Die Fragen über den Ursprung des Sittlichen, über das Verhältniss des Einzelnen zur Gemeinschaft, über die Bedeutung von Recht und Pflicht sind als die wichtigsten Fragen der gegenwärtigen Philosophie anerkannt. Und wie stellen wir uns heute zu diesen Fragen? Wie verhalten sich die Ideen von 1889 zu den Ideen von 1789? Schon darin spiegelt sich der Gegensatz der Jahrhunderte, dass über den Inhalt der Prinzipien, welche die französische Revolution beherrschten, nach den übereinstimmenden Aussprüchen der Philosophen und der politischen Redner jener Zeit nicht der geringste Zweifel bestehen kann, indess schwerlich Jemand sich unterfangen wird, die Ideen der Gegenwart in ein allgemeingiltiges Glaubensbekenntniss zusammenzufassen. Der Widerstreit der Meinungen fehlte auch dem achtzehnten Jahrhundert nicht; gleichwohl trugen die Anschauungen der vorurtheilslosen Denker ein übereinstimmendes Gepräge. Unser Zeitalter scheint seinen geschichtlichen Sinn auch darin zu bekunden, dass nahezu alle Standpunkte, die irgend einmal eine historische Berechtigung besitzen mochten, ein dauerndes Recht auf Existenz für sich in Anspruch nehmen. Wie in unseren politischen Parteien das Mittelalter mit der rationalistischen Aufklärung, die Gegenwart mit Zukunftsidealen, die in fernen Jahrhunderten einmal Wirklichkeit werden können, im Streite liegt, so giebt es in den Erörterungen, deren Gegenstand das sittliche Problem ist, kaum eine in der Geschichte der Philosophie zur Entwicklung gelangte Anschauung, die nicht heute 496

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noch einzelne Vertreter fände. Aber wenn wir vor allem diejenige Gedankenrichtung, die in den politischen und sozialen Schöpfungen der Gegenwart zu erkennen ist, als den wahren Ausdruck der Ideen unseres Zeitalters gelten lassen, dann kann, wie ich meine, kein Zweifel darüber bestehen, wie die Antwort auf die oben aufgeworfene Frage lauten muss. Ist es überhaupt ein Recht der Nationen, grosse Ereignisse ihrer Vergangenheit durch Erinnerungsfeste im Gedächtniss der Lebenden zu erneuern, so wird Niemand dem Jahre 1789 den Anspruch auf eine Centennarfeier streitig machen. Aber kein Irrthum könnte grösser sein als der, welcher mit diesem Erinnerungsfeste den Glauben verbände, dass die Prinzipien von 1789 ewig leuchtende Wahrheiten seien, die sich mit unwiderstehlicher Gewalt zu jeder Zeit Anerkennung erzwingen müssten. Stellte das vorige Jahrhundert alle Moral einseitig entweder unter den Gesichtspunkt des Rechts oder unter den der Pflicht, so ist heute unsre sittliche Lebensanschauung von dem Gedanken erfüllt, dass Pflicht und Recht überall zusammengehörige Begriffe sind, und dass es daher kein Recht giebt, das nicht an und für sich eine Pflicht des Berechtigten in sich schlösse, mag nun diese als Rechtspflicht von ihm gefordert und erzwungen werden können, oder mag sie, wie bei dem Eigenthumsrechte, als eine sittliche Pflicht der freien Uebung überlassen bleiben. Die sittliche Pflicht ist aber nur eine um so verantwortungsvollere, weil sie eine freie Pflicht ist, wie dies gerade bei der so lange gänzlich misskannten Pflicht des Eigenthumsrechtes heute immer deutlicher in das allgemeine Bewusstsein tritt. Betrachtete das vorige Jahrhundert nur die einzelne Persönlichkeit als realen Gegenstand sittlicher Zwecke, so ist unsere heutige Anschauung von der Ueberzeugung beseelt, dass die politische und die humane Gemeinschaft Wirklichkeiten von einem dem Einzeldasein übergeordneten Werthe sind. Nicht mit Hülfe zweifelhafter dialektischer Konstruktionen, sondern auf der Grundlage einer unbefangen die Thatsachen des geistigen Lebens prüfenden Psychologie sucht aber die Ethik der Gegenwart diese Auffassung wissenschaftlich zu rechtfertigen. Galt endlich der Aufklärungsphilosophie die verstandesmässige Reflexion als der einzige Richter über wahr und falsch, über gut und böse, und erblickte sie darum in der intellektuellen Beschäftigung des Geistes das höchste Gut, so hat die heutige Psychologie und Ethik erkannt, dass die höchste menschliche Thätigkeit der aus dem Gefühl erwachsende, das Denken wie das äussere Handeln lenkende Wille ist, und dass darum das höchste menschliche Gut ein guter Wille bleibt. Auch auf die Wissenschaften und ihre Lehre hat dieser Wandel der Anschauungen zurückgewirkt. Der Rationalismus des vorigen Jahrhunderts huldigte der Meinung, aus der richtigen Einsicht entspringe von selbst das richtige Wollen. Wir denken bescheidener von unserem Wissen wie von unserem Können. Um so mehr sind wir von der Ueberzeugung durchdrungen, dass die Pflege des Wissens zwar der nächste, die Pflege der sittlichen Gesinnung aber der wichtigste Zweck ist, den wir erstreben. Die Berufstüchtigkeit und Berufstreue, in deren Ausbildung die einzelnen Fachwissenschaften zusammenwirken, sind die Eigenschaften, in denen auch innerhalb der gelehrten Berufsstände jene Gesinnung vornehmlich sich bethätigen soll. Die Philosophie als solche muss auf den Vorzug verzichten, den die Beschäftigung 497

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mit den konkreten Aufgaben des Lebens mit sich bringt. Aber indem sie das Nachdenken über die allgemeinen Probleme des Daseins anzuregen und die Erkenntniss der sittlichen Aufgaben des Einzelnen wie der Gemeinschaft zu fördern bemüht ist, darf sie wohl hoffen, dass auch ihre Mithülfe an der sittlichen Gesammtarbeit der Wissenschaft und ihrer Lehre als eine nicht ganz nutzlose anerkannt werden möge. ***

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31. October 1890. Rede des abtretenden Rectors Dr. ph., jur. et med. Wilhelm Wundt. Bericht über das Studienjahr 1889/90. Hochansehnliche Versammlung! Die letzte Pflicht meines Amtsjahres führt mich heute an diese Stelle: die Pflicht, in kurzem Rückblick der Erlebnisse unserer Universität in dem nun verflossenen Jahre zu gedenken. Freilich entzieht sich der wichtigste Inhalt dieser Erlebnisse, die stille, stetige Arbeit des Unterrichts und der wissenschaftlichen Forschung, einer Berichtserstattung, wie sie heute mir obliegt. Diese kann nur auf die äusserlich sichtbaren Merksteine hinweisen, die den Fortschritt und die Wandlungen in dem Leben unserer Hochschule bezeichnen. Weniger als in manchem der vorangegangenen Jahre haben in diesem letzten ungewöhnliche äussere Ereignisse in das geräuschlose Wirken unserer Anstalt eingegriffen. Umsomehr war diese Zeit dazu angethan, uns der Erfüllung mancher Wünsche näher zu führen, die schon längst an das Wachsthum der Universität und an das steigende Bedürfniss einzelner Lehrfächer sich geknüpft hatten. Noch vor fünfundzwanzig Jahren nahm die Leipziger Universität nicht bloss nach der Zahl ihrer Studierenden, sondern mehr noch nach dem Umfang der Hörsäle und der wissenschaftlichen Institute, die ihr zur Verfügung standen, unter den Hochschulen unseres deutschen Vaterlandes eine bescheidene Stelle ein. Kaum können wir uns heute mehr in die Zeit zurückdenken, wo diese Universität mit allen ihren Hörsälen, Laboratorien und Sammlungen im wesentlichen in dem engen Raum zwischen Augusteum und Paulinerhof – selbst das Bornerianum existirte damals noch nicht – und in ein paar Geschossen angrenzender Wohnhäuser Platz finden musste, und wo nun hier in buntem Gemenge die Bibliothek und die Anatomie, das physikalische Cabinet und das zoologische Institut, das chemische Laboratorium, das archäologische Museum, die pharmakologische, die technologische Sammlung sammt den Hörsälen für vier Fakultäten um Luft und Licht mit einander kämpften. Wie anders ist das heute geworden! Zwanzig Jahre sind gegenüber unserer bald fünf Jahrhunderte zählenden Vergangenheit fast ein verschwindender Zeitraum. Dennoch hat das äussere Wachstum der Universität an Mitteln des Unterrichts und der wissenschaftlichen Arbeit in diesen zwei Decennien die vorangegangenen Jahrhunderte weit überflügelt. In wenig Jahren wird voraussichtlich die Periode der Neubauten unserer Hochschule auf absehbare Zeit im wesentlichen abgeschlossen sein. Während der nächsten Herbstferien schon soll die Universitätsbibliothek in den herrlichen Bau an der Beethovenstrasse, der in die andern öffentlichen Paläste dieses Stadttheils als ein würdiger Schmuck sich einreiht, übergeführt werden. Auch die neue Frauenklinik an der Liebigstrasse, deren geschmackvoller Aufbau schon jetzt 499

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unser Auge erfreut, wird spätestens zu Ostern 1892 bezogen werden können. Das letzte was dann noch übrig bleibt, die Errichtung eines neuen grossen Auditorenhauses an der Stelle der alten Bibliothek, ist bereits von unserer Regierung in nahe Aussicht genommen. Als eine kleine Vorbereitung zu dieser unserer noch harrenden Umgestaltungen innerhalb der alten Universität ist im Laufe des vergangenen Jahres die neue Ausschmückung der Aula zu Stande gekommen, die uns bei der heutigen Feier zum ersten Male vor Augen tritt. Ein solcher Moment kann wohl dazu auffordern, auf das Sonst und das Jetzt einen vergleichenden Blick zu werfen. Äussere Masse sind freilich für eine Entwicklung, wie sie hier sich vollzogen hat, ein ungenügendes Mittel der Schätzung. Immerhin mag es ein ungefähres Bild von dem Wachsthum unserer Universität geben, wenn ich erwähne, dass, wie aus einer freundlichen Mittheilung unseres Universitätsrentamtes hervorgeht, die Zunahme an ausschliesslich zu Unterrichtszwecken verwandten Räumlichkeiten, die unsere Hochschule in wenig mehr als zwanzig Jahren erfahren hat – ungerechnet Vorhöfe, Corridore, Treppenhäusern – einen Flächenraum von 35,746 Quadratmetern umfasst, einen Raum, der dem Augustusplatz an Grösse nicht viel nachsteht, und der den Marktplatz unserer Stadt dreimal in sich aufnehmen könnte. Diese Zunahme der Lehrmittel und Lehrräume ist zum allergrössten Theil erst seit den Jahren 1870 und 71 eingetreten. Und hierin steht unsere Hochschule keineswegs allein da. Alle deutschen Universitäten, die kleinsten wie die grössten, haben theilgenommen an dieser staunenswerthen Entwickelung, die, neben so manchem andern, ein beredtes Zeugniss dafür ablegt, dass es den Staaten des neuen deutschen Reiches nicht an Kraft gebricht, auch die Werke des Friedens zu pflegen. Uns aber ziemt es wohl an dieser Stelle, für alles, was insbesondere hier in Leipzig mit grossem Sinn zur Ehre des Landes und zur dauernden Förderung der Wissenschaft in allen ihren Richtungen geschehen ist, unsern innigsten Dank auszusprechen. Dank schulden wir vor Allem den beiden edeln Fürsten, mit deren erlauchten Namen eine fernere Zukunft noch diese Erneuerung unserer Hochschule unauflöslich verbinden wird. Nachdem der hochselige König Johann, ein Fürst auch im Reiche des Wissens, zur neuen Entwickelung der Universität den Grund gelegt, hat Seine Majestät unser allgeliebter König Albert, von dessen Wohlwollen jedes Jahr uns neue Beweise bringt, dem fortschreitenden Wachsthum unserer Hochschule Seine unablässige Theilnahme zugewandt. Dank schulden wir aber auch der hohen Staatsregierung, die mit erleuchtetem Geiste der Entwicklung der Wissenschaft auf ihren verschiedenen Gebieten zu folgen und überall, wo Lehre und Forschung neuer Hülfsmittel bedürfen, denselben Raum zu schaffen bemüht ist. Dank endlich schulden wir den Ständen unseres Landes, die selbst in schwierigen Zeitläuften immer freigebig die Mittel gewährt haben, deren die Universität bedurfte, wenn sie fortfahren sollte, zum Wohl des Vaterlandes ihre grossen Aufgaben zu lösen. Gegenüber den geschilderten äusseren Umgestaltungen ist der Wechsel der Lehrer und Lernenden, den uns jedes Jahr bringt, eine minder in die Augen fallende Erscheinung. Immerhin haben mit dem Wachsthum unserer Universität an Lehrkräften und an Studierenden auch die Veränderungen im Personalbestand derselben 500

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erheblich zugenommen. So haben wir auch in diesem Jahre wieder den Tod mehrerer hochgeschätzter Collegen tief zu beklagen. In der Nacht vom 17. auf den 18. Dezember vorigen Jahres verschied der ordentliche Professor der Landwirthschaft Geh. Hofrath Dr. ph. et jur. Adolf Blomeyer. Durch vielseitige Kenntnisse für sein in die verschiedensten Gebiete eingreifendes Fach vorzüglich vorbereitet, war es dem Entschlafenen durch ausdauernde Arbeit gelungen, seiner unter den akademischen Disciplinen neuen Wissenschaft eine Stätte fruchtbaren Gedeihens in Leipzig zu sichern. Seiner Gewissenhaftigkeit und regen Theilnahme an den allgemeinen Interessen unserer Hochschule hatte das Vertrauen der Collegen während mehrerer Jahre die Vertretung der Universität beim Landtage übertragen. Der liebenswürdigen Persönlichkeit des geschiedenen Collegen werden seine Freunde und seine zahlreichen Schüler, denen er auch in ihrem späteren praktischen Leben ein helfender Freund und Berather blieb, allezeit ein treues Andenken bewahren. Am 4. März d. J. entschlief sanft nach langem Leiden der ordentliche Professor der Theologie Geh. Kirchenrath Dr. theol. et phil. Franz Delitzsch. Seit dem Herbste 1867 gehörte Delitzsch unserer theologischen Fakultät an, zu deren Hauptzierden er durch seine tiefe und umfassende Gelehrsamkeit und durch die unermüdliche Kraft seines Unterrichts gehörte. Sein Name zog aus fernen Ländern Jünglinge und gereifte Männer in seinen Hörsaal, um durch ihn in die Schriften des alten Testaments eingeführt zu werden. Mit feinem Sinn für die Wunder der Sprache und der Poesie ebenso wie für die Herrlichkeiten der Natur ausgerüstet, verband er mit der unerschütterlichen Festigkeit seines Glaubens ein empfängliches Gemüth für das Schöne und Gute, unter welchen Formen es ihm auch begegnen mochte. Von den Mühen strenger wissenschaftlicher Arbeit liebte er es bei der Welt der Farben und der Blumen auszuruhen, deren Namen und Geschichte er mit dem reichen Ertrag seines philologischen Wissens phantasievoll zu verknüpfen wusste. Seiner Liebe zur Hochschule dieser seiner Vaterstadt hat Franz Delitzsch in schwerer Stunde, nach dem Tode seines ihm in der Blüthe der Jahre entrissenen zweitgeborenen Sohnes, durch eine Stiftung Ausdruck gegeben, die auch unter den Wohlthätern der Universität seinen Namen bewahren wird. Am 30. Juni verschied nach kurzer Krankheit der ordentliche Professor der romanischen Sprachen Dr. phil. Adolf Ebert. 28 Jahre hat Ebert unserer Universität, zu der er von der Hochschule seines hessischen Heimathlandes aus übergesiedelt war, angehört. Als er zu uns kam, war das von ihm vertretene Lehrfach erst im Begriff sich Bahn zu brechen; auch für ihn war der Lehrstuhl neu errichtet worden. Manche der angesehensten jüngeren Romanisten haben hier von ihm fruchtbare Anregungen empfangen. Ihm aber, der von umfassenden historischen und philologischen Studien ausgegangen, und der in seiner Jugend von den Gedanken der Hegel’schen Philosophie nicht unberührt geblieben war, wurde es das Ziel seines Lebens, die Litteraturen der romanischen Völker in ihrem Zusammenhange mit der Gesammtlitteratur und in ihrer allmählichen Entwicklung aus der lateinischen Litteratur des Mittelalters zu schildern. Eine Frucht dieses Strebens hat er in seinem Hauptwerke, der „Allgemeinere Geschichte der Litteratur des Mittelalters im Abendlande“, niedergelegt, 501

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einem Werke, ebenso ausgezeichnet durch gediegene Gründlichkeit der Forschung, wie durch beherrschenden Überblick über die Fülle der geistigen Strömungen. Eine Entwicklungsgeschichte der neueren nationalen Litteraturen sollte die Fortsetzung dieses grossen Werkes sein. Inmitten der Arbeit an derselben entsank die Feder seiner Hand. Einzigartig wie sein Wissen war Ebert’s Persönlichkeit: ein Charakter abhold jedem äusseren Schein, rein und wahrhaftig, edel und treu in seinem Denken und Thun. Unserer Hochschule, mit der er sich eng verwachsen fühlte, hat er seine Treue auch dadurch bezeugt, dass er einen ansehnlichen Theil seiner Büchersammlung durch letztwillige Schenkung unserer Universitätsbibliothek überwies. Wenige Wochen später, am 19. Juli, folgte Adolf Ebert im Tode ein von ihm hochgeschätzter jüngerer College des gleichen Fachs, der ausserordentliche Professor Dr. phil. Heinrich Körting. Gediegene litterarhistorische Forschungen verhiessen ihm eine glückliche und erfolgreiche Zukunft, als plötzlich ein schweres, lang dauerndes Siechthum seine frische Jugendkraft lähmte. Am 28. Juli endlich verschied hochbetagt ein in weiten Kreisen unsrer Stadt hochgeschätzter Mitbürger, der auch unserer Universität lange Jahre als Lehrer angehört hat, der ordentliche Honorarprofessor Dr. ph. Oswald Marbach. Eine vielseitige und reich sich bethätigende geistige Begabung machte den Verstorbenen zu einem echten Repräsentanten der „universitas litterarum“. Nicht nur in der Wissenschaft und im Unterricht ist er auf den verschiedensten Gebieten, in der Philosophie und Litteraturgeschichte ebensowohl wie in der Mathematik, Physik und Technologie, thätig gewesen, auch als Dichter ist ihm mancher tief empfundene, formvollendete Ausdruck poetischer Gedanken gelungen. Daneben war sein thätiger Sinn zu allen Zeiten auf humane und gemeinnützige Werke gerichtet. Ihnen hatte er auch noch die Tage seines Alters gewidmet, als die Last der Jahre ihn nöthigte, der Lehrthätigkeit zu entsagen. Aus dem Kreise der Universitätsbeamten verschied am 20. Januar der vor fünf Jahren in den Ruhestand getretene Universitätsrentmeister Oberrechnungsrath Franz Immanuel Graf. Als gewissenhafter und treuer Beamter, als sparsamer und umsichtiger Haushalter, hat er sich, zum Theil in schwierigen Zeiten, um die Verwaltung des Universitätsvermögens bleibende Verdienste erworben. Insbesondere wird ihm sein eigenstes Werk, die Begründung des Stipendienfonds unserer Hochschule, bei allen Freunden derselben ein ehrendes und dankbares Andenken sichern. Es drängt mich, bei diesem Anlasse noch eines andern Mannes zu gedenken, der, obzwar er nicht unserm Universitätsverbande selbst angehörte, doch allezeit in der einflussreichen Stellung, die er in unserer Stadt einnahm, sein warmes Interesse an der Hochschule bethätigt hat. Als am 26. Juli Dr. jur. Rudolph Wachsmuth durch einen jähen Tod dahingerafft wurde, da standen in der Schaar der Leidtragenden die Angehörigen der Universität nicht in letzter Reihe. Unvergessen wird ihm, um von anderem zu schweigen, der hervorragende Antheil bleiben, den er als Berather und Freund unseres verstorbenen Albrecht an der Errichtung der so segensreichen Albrecht-Stiftung genommen hat. Abgesehen von den Lücken, welche der Tod gerissen, sind uns durch Berufungen nach aussen nur wenige Mitglieder unseres Lehrkörpers genommen worden. Aus 502

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der Reihe der ordentlichen Professoren hat uns keiner verlassen. Aus der Reihe der Extraordinarien ist Dr. theol. Paul Ewald einem ehrenvollen Rufe an die protestantische Fakultät zu Wien gefolgt. Unter den Privatdocenten hat Dr. ph. Otto Warschauer einem Ruf als Professor an die technische Hochschule in Darmstadt, Dr. med. Rudolf Beneke einem solchen als Prosector an das Krankenhaus in Braunschweig Folge geleistet. Dr. ph. Walter Nernst ist als Privatdocent nach der Universität Göttingen übergesiedelt. Dagegen hat der Lehrkörper durch Berufungen und Habilitationen neue und erfreuliche Bereicherungen erfahren. Zu Anfang des Sommer-Semesters traten ein: Dr. ph. Albert Socin, aus Tübingen kommend, als ordentlicher Professor der orientalischen Sprachen, und Dr. ph. Wilhelm Kirchner, aus Göttingen berufen, als ordentlicher Professor der Landwirthschaft und Direktor des Landwirthschaftlichen Instituts. Im Laufe des Sommer-Semesters wurde unser verdienter College der ordentliche Honorarprofessor Dr. Adolph Mayer zum ordentlichen Professor der Mathematik ernannt. Zu Beginn des gegenwärtigen Winter-Semesters endlich trat der Professor Dr. theol. Franz Buhl aus Kopenhagen als ordentlicher Professor bei uns ein. Mögen die aus der Ferne gekommenen Collegen bald vollkommen heimisch in unserer Mitte sich fühlen! Zu ausserordentlichen Professoren wurden befördert: in der theologischen Fakultät der bisherige Privatdocent Lic. theol. Dr. ph. Georg Schnedermann, in der juristischen die Privatdocenten Dr. jur. Friedrich Wilhelm Viktor Albert Stein und Dr. jur. Richard Karl Bernhard Schmidt; in der medicinischen die Privatdocenten Dr. med. Robert Hermann Tillmanns und Dr. med. Alfred Landerer; endlich in der philosophischen Fakultät die Privatdocenten Dr. ph. Robert Behrend, Dr. ph. Ernst Beckmann, Dr. ph. Wilhelm Busch, Dr. ph. Georg Erler sowie der bisherige Professor und Lector publicus für Musik Dr. phil. Robert Kretzschmar, endlich der Privatdocent Dr. ph. Wilhelm Wollner. Als Privatdocenten haben sich habilitiert: in der theologischen Fakultät Lic. th. Dr. ph. Carl Thieme, in der medizinischen Dr. med. Hugo Schütz und Dr. med. Arthur Kollmann, in der philosophischen Dr. ph. Hans Lenk für Geologie, Dr. rer. polit. Walter Lotz für Nationalökonomie, Dr. ph. Paul Barth für Philosophie, Dr. ph. Georg Holz für germanische Philologie und Dr. ph. August Arthur Schneider für Archäologie. Rite promoviert wurden: in der theologischen Fakultät ein Candidat zum Licentiaten der Theologie, in der juristischen Fakultät 77, in der medicinischen 230, in der philosophischen 167 Candidaten. Honoris causa wurden promoviert: in der theologischen Fakultät der ordentliche Professor Dr. ph. Paul Ewald in Wien zum Doktor der Theologie, der Archidiakonus Eduard Suppe in Leipzig zum Licentiaten der Theologie. In der philosophischen Fakultät wurden zu Ehrendoktoren ernannt: unser College, der Geh. Hofrath Dr. med. Karl Ludwig, Professor der Physiologie und Direktor des physiologischen Instituts, zur Feier seiner 25jährigen Wirksamkeit in Leipzig, und Dr. med. Hermann Reinhard, Präsident a. D. des Landes-Medicinalkollegiums des Königreichs Sachsen, in Dresden. 503

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Unter den Diplomen, welche zur Feier 50jähriger Doktorjubiläen erneuert wurden, befand sich in diesem Jahre auch dasjenige unseres verehrten Collegen, des ordentlichen Honorarprofessors in der philosophischen Fakultät Dr. ph. Conrad Hermann. Der Stellvertreter des Rektors und der aus weiter Ferne zu diesem in die Ferien fallenden Feste herbeigeeilte Dekan der philosophischen Fakultät überbrachten am 13. September dem Jubilar die Glückwünsche der Universität. Noch an einem anderen ähnlichen Jubelfeste hat schon zu Anfang des vorigen Wintersemesters unsere Universität, herzlichen Antheil genommen. Am 10. Dezember wurde unserem hochverdienten Collegen, dem Geh. Hofrath Professor Dr. Wilhelm Hankel, von der Universität Halle zur 50jährigen Jubelfeier seiner Promotion das Diplom erneuert. Der Rektor und der Dekan der philosophischen Fakultät beglückwünschten mit Abordnungen des Senats und der Fakultät und mit zahlreichen Freunden den verehrten Jubilar. Unter den Studierenden unserer Hochschule haben wir die Freude seit dem Beginn des vorigen Sommer-Semesters zwei erlauchte Sprossen unseres königlichen Hauses zu erblicken. Am 30. April trugen Ihre Königliche Hoheiten die Prinzen Johann Georg und Max, Herzöge zu Sachsen, nachdem Sie während zweier vorangangener Semester zu Freiburg i. B. Ihre Studien begonnen, Ihre Namen als Studierende der Rechte und der Cameralwissenschaften in die Listen unserer Universität ein und wurden darauf in der Aula immatrikuliert. Möge Beiden Prinzen die Zeit, die Sie gemeinsam mit Jünglingen aus allen Lebenskreisen unseres engeren und weiteren Vaterlandes auf dieser unserer sächsischen Landesuniversität zubringen, als eine Zeit fruchtbarer Anregung und Förderung, als eine Zeit nützlicher Vorbereitung auch für Ihren künftigen hohen Lebensberuf fortan in freundlicher Erinnerung bleiben. Die Gesammtzahl der Studierenden hat auch in diesem Jahre nur geringe Veränderungen erfahren. Im vorigen Winter-Semester betrug diese Zahl 3453, im SommerSemester 3177. Für das laufende Winter-Semester sind bis zum gestrigen Tage neu immatrikuliert: 799 (gegen 787 im Vorjahr). Abgegangen sind zu Ende des SommerSemesters 617 (gegen 757 an demselben Tage im Vorjahr). Dies macht für den heutigen Tag einen Bestand von 3359 Studierenden, 7 mehr als heute vor einem Jahr. Zu unserem Schmerze haben wir den Tod von 15 studierenden Jünglingen zu beklagen. In vergangenen Jahrhunderten pflegte der Rektor von Zeit zu Zeit die Gesammtsumme der seit der Gründung der Universität im Jahre 1409 immatrikulierten Studierenden festzustellen. Wenn wir diese alte Sitte wieder aufnehmen, so ergiebt sich, dass gestern, als der 1914te unter meinem Rektorat, der 227,051te Studierende seit Anfang der Universität immatrikuliert worden ist, eine im Verhältniss zur Länge der Zeit nicht erhebliche Zahl. Von dieser Zahl kommen aber auf die Periode von 1870 bis 1890 allein 35,609, ebenso viel als vorher auf ein volles Jahrhundert. Der Rest vertheilt sich nahezu gleichmässig auf die Jahrhunderte. Nur die Zeit unmittelbar nach dem 30jährigen Kriege hat Semesterzuwüchse aufzuweisen, die zuweilen denjenigen der letzten Jahrzehnte annähernd gleich kommen. Aber während in den 504

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Kriegsläuften des 17. Jahrhunderts die Hörsäle zu Zeiten fast verödet blieben, ist der Sturm der Jahre 1870 und 71 an dem stetigen Wachsthum unserer Immatrikulationen spurlos vorübergegangen. Über die Führung unserer Studierenden kann ich auch heute nur Erfreuliches berichten. Die Zahl der Überschreitungen der Disciplinargesetze ist nur verhältnissmässig klein gewesen. Die Relegation ist nicht in einem einzigen Falle verhängt worden. Im Kreise der Beamten unserer Universität sind in diesem Jahre nur geringe Veränderungen eingetreten. Zu Ende des Winter-Semesters wurde der erste Expedient der Universitätskanzlei, Hermann Robert Böhme, auf seinen Wunsch wegen andauernder Kränklichkeit in den Ruhestand versetzt. In Folge dessen rückte der seitherige zweite Expedient Adolf Lange in die erste, der seitherige Hülfsexpedient Friedrich Wilhelm Burkhardt in die zweite Expedientenstelle vor. Das Wohlwollen, dessen sich unsere Universität in weiten Kreisen erfreut, hat auch in diesem Jahre wieder in einigen Vermächtnissen und Schenkungen Ausdruck gefunden. Der Privatgelehrte Dr. ph. Hermann Knust aus Bremen, ein im Gebiete der romanischen Litteraturen, besonders der spanischen, hochgeschätzter Forscher, den im Frühjahr vorigen Jahres auf einer einsamen Wanderung in den Alpen ein jäher Tod ereilte, hat seiner Liebe zu unserer Hochschule ein schönes Denkmal gestiftet, indem er dieselbe mit einem Kapital von beinahe 80,000 Mark zu seiner Universalerbin einsetzte, mit der Bestimmung, dass der Hauptertrag des Vermögens theils zur Lösung wissenschaftlicher Preisaufgaben aus dem Bereich von Fächern der philosophischen Fakultät, theils zur Unterstützung wissenschaftlicher Forschungsreisen Verwendung finde. Frau Geh. Med. Rath Radius, die in den jüngsten Tagen dahingeschiedene, noch durch andere segensreiche Schenkungen um unsere Stadt hochverdiente Wittwe unseres verstorbenen Collegen, hat eine Convictstelle gegründet, der zum bleibenden Gedächtniss an die mildthätige Stifterin der Name der Radius-Stelle gegeben worden ist. Unter den bestehenden Stiftungen hat auch in diesem Jahre wieder vor allen die Albrecht-Stiftung mannigfach zur Förderung wissenschaftlicher Arbeiten beigetragen. Im Ganzen sind aus ihren Erträgnissen 11,600 Mark, darunter 3500 M. speziell zur Unterstützung wissenschaftlicher Reisen gespendet worden. Noch sei es mir vergönnt, am Schlusse dieser Übersicht einer erfreulichen Seite unseres akademischen Lebens zu gedenken, der Feste nämlich, welche uns bei patriotischen Anlässen mehrfach in weihevollen Stunden zusammenführten. Die Wiederaufrichtung des deutschen Reiches, das Geburtsfest des Fürsten Bismarck, endlich in den jüngsten Tagen der 90. Geburtstag des grossen Führers unserer deutschen Heere, des Generalfeldmarschalls Moltke, sind von der akademischen Jugend in glänzenden Commersen gefeiert worden. Vor allem aber hat auch in diesem Jahre wieder am 23. April das Geburtsfest unseres erhabenen Rector Magnificentissimus, Seiner Majestät des Königs, die Universität und zahlreiche Gönner derselben in unserer festlich geschmückten Aula zu einer Feier vereinigt, bei welcher die Festrede von dem Prorektor Herrn Geh. Medizinalrath Prof. Dr. Franz Hofmann gehalten wurde. 505

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Auch an einer bedeutsamen auswärtigen Feier hat unsere Universität in diesem Jahre Antheil genommen. Zu dem 600jährigen Jubelfeste der altberühmten Hochschule zu Montpellier hat der akademische Senat, der an ihn ergangenen dringenden Einladung Folge leistend, Herrn Geh. Bergrath Prof. Dr. Zirkel entsandt. Unser Vertreter kehrte zurück, hoch befriedigt von dem Eindruck des freundlichen Empfangs, der besonders den deutschen Gelehrten in der französischen Universitätsstadt bereitet worden war. So möge denn dieses Fest für das fernere fördernde Zusammenwirken der beiden Nachbarnationen auf dem Felde friedlicher Arbeit von guter Vorbedeutung sein! Mit diesem Wunsche schliesse ich meinen Bericht; ich selbst aber kann von dieser Stelle nicht scheiden, ohne Ihnen, hochverehrte Collegen, meinen innigsten Dank auszusprechen für das reiche Mass von Güte und Nachsicht, deren ich mich von Ihnen zu erfreuen hatte, nicht minder für die wohlwollende Unterstützung, die mir von allen Seiten während meines Amtsjahres zu Theil geworden ist. Möge unserer theueren alma mater fortan Gottes Schutz und Segen nicht fehlen! ***

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Karl Binding (1841–1920)

31. October 1890.

Rede des antretenden Rectors Dr. jur. Karl Binding. Die Ehre im Rechtssinn und ihre Verletzbarkeit. Hochansehnliche Festversammlung! Das ganze Land feiert heute das Gedächtniss einer geschichtlichen Grosstat, die ihm ewigen Ruhmes würdig erscheint. Unsere Hochschule hat diesen Ruhmestag zu ihrem Ehrentage gemacht: sie beginnt von ihm ihre akademische Zeitrechnung; sie schaut an ihm rückwärts, freut sich des Gewonnenen und ehrt das Gedächtniss derer, die ihr genommen worden sind; sie grüsst zugleich die Zukunft, indem sie den Ehrenpreis des Siegers jungen Kämpfern reicht, die sich in der Arena der Wissenschaft zum ersten Male versucht und bewährt haben. So ist der heutige Tag ein Tag des Ruhmes und der Ehren, und da der Ruhm ja angeblich nicht anders sein soll als Ehre erhaben über Raum und Zeit, so drängt es an solchem Tage den, der denkend lebt, sich Rechenschaft zu geben über Ehre und Ehren. Ich nenne die Worte – und wie ein Vogelschwarm flattern die so verschiedenen Dinge gleichen Namens, alle Ehren, die Jemandem erwiesen werden, und alle, die er hat oder zu haben meint, um unser Haupt. Es würde eine heisse Jagd werden, diese ganze flüchtige Schaar in einer kurzen Stunde haschen zu wollen, und zur Teilnahme daran wage ich nicht Sie einzuladen. Nur eine Art möchte ich greifen und sie zu ganz bestimmtem Zwecke: die Ehre der Person als solcher, keine andere, auch nicht die sog. Amts-, nicht die sog. Herrscher-Ehre, die wieder mit ihr nur den Namen teilen. So verschiedenartige Dinge aber auch das eine Wort deckt, – behauptet doch selbst der Verbrecher eine eigene Ehre zu haben! – darin gleichen sie einander, dass über allen der Glanz liegt, als sei der ehrwürdigen Grimms Vermutung richtig, das Wort gehe an letzter Stelle auf ais und êr, das glänzende, leuchtende Metall zurück. Sprechen wir doch auch heute noch mit Vorliebe von dem blanken, fleckenlosen, glänzenden Schild der Ehre! „Mit Ehre wird – so sagen sie – ein Gipfel von Schönheit, Wert oder Zierde ausgedrückt.“ Dieser Wert ist Menschenwert: an jenem Glanze sonnt sich kein ander Wesen der Natur! 507

Karl Binding

Die unendlich reiche und ebenso fesselnde Geschichte der Ehre, die Entwicklung der Anschauungen über ihre Grundlagen, ihr Wesen, das Mass ihres Wertes, ihre tausendfachen Konflikte mit andern Gütern und deren ehrenhafte Lösung, über den Durst nach wahrer und nach falscher Ehre als treibende Macht in der Geschichte, über die sog. Ehrverletzung, deren Arten, deren Ahndung, deren angebliche Heilung, ist leider noch ungeschrieben. Ihre Darstellung würde sein eine Geschichte der Persönlichkeit gesehen im Spiegel der eignen Würdigung und zugleich eine Geschichte des Menschenschicksals, soweit es bestimmt ward durch die Schätzung des Menschenwertes. Ich darf sie hier nicht einmal skizziren: nur ein Zeitpunkt derselben, die deutsche Gegenwart, soll den Hintergrund unsrer Betrachtung bilden. I. Der Mächte, welche die Geschichte der Ehre bestimmen, sehe ich vier: zwei normgebende, zwei normzeichnende: das Volksgefühl, das praktisch wird in der Sitte, ferner das Recht einerseits, die wissenschaftliche Reflexion und die Dichtkunst, für welche zu mancher Zeit und bei manchem Volk die Ehre geradezu den Angelpunkt gebildet hat, andrerseits. Glücklich die Zeiten, worin diese Mächte über die Ehre eines Sinnes sind! Ihnen bleibt der oft so tragische stets so peinliche Zusammenstoss von zwei verschiedenen Ehrauffassungen erspart. Das Recht als der Gemeinwille steht dann – ein nie zu überschätzender Gewinn! – mit des Volkes Empfindung und seinem Denken in Einklang! Grade dies Glück aber ist uns versagt! Unser ganzes Ehrenleben ist durchwühlt von dem grossen Gegensatz der Anschauungen in Sitte und Recht darüber, was Ehre ist und Ehre fordert. Denn dieser Gegensatz ist kein akademischer geblieben, vielmehr in regelrechten, in seiner Dauer leider noch unabsehbaren Kampf ausgeartet. Woher datiert dieser Kampf? Worum geht er? Wie wird er enden? II. Es versteht sich: weder Sitte noch Recht können sich lösen aus dem Verbande mit dem ganzen nationalen Denken und Empfinden. In diesem müssen die Gegensätze enthalten sein, die in jenen praktisch werden. Und in der Tat, unser ganzes Sinnen und Fühlen über die Ehre bewegt sich in diametralen Widersprüchen. Ideale Güter sind schwer fassbar und wägbar. So erklärt sich, wie Ehre dem Einen sein Alles ist – Ehre verloren, Alles verloren! –, wie der Andre dagegen sie unwillig ein eingebildet Gut, ein geschätztes Nichts schilt – ganz im Geiste des humoristischsten aber ehrlosesten Philosophen über die Ehre, des köstlichen Feiglings Sir John Falstaff, der so gern in Unehren lebte und so ungern in Ehren starb, und der diese Abneigung für ihn so überzeugend mit der Ohnmacht der Ehre, ihrer Luftigkeit, ihrer bemalten Nichtigkeit philosophisch begründet. Dem Streit über ihr absolutes Gewicht geht ein anderer über das relative zur Seite: ihr Wert ist höher als der des Lebens, oder entschieden geringer als dieser, oder gar geringer als der aller anderen Güter des Menschen. Viel tiefer greift aber der Streit über ihr Wesen in das Ehrenleben ein. Denn so viel verschiedene Auffassungen von der Ehre, genau so viele von der Beleidigung und ihren notwendigen Folgen! Ich gehe von Pol zu Pol. Ehre ist der Wert eines Menschen – einerlei ob gekannt oder ungekannt. Zu ihr gehört nur der innere Wert, das Edelmetall des Charakters, oder auch des Menschen natürliche Gaben. Eine leise Verschiebung und kleine Zu508

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tat, und die Ehre wird zum Gefühl des eigenen Wertes, die Beleidigung somit zur Gefühlskränkung. Tritt an Stelle des Gefühls das Wissen, so wandelt sie sich in das Bewusstsein des eigenen Wertes – eine Auffassung, wobei die Bescheidenen und die Bewusstlosen gar schlecht fahren! Am anderen Pol wird die Ehre zum guten Glauben Dritter an unsern Wert, mag er begründet sein oder nicht, zu unsrem guten Leumund. Vermittler zwischen beiden Extremen bezeichnen sie als den guten Namen, sofern er dem inneren Werte entspricht, oder als unser Wertbewusstsein, sofern es sich aus dem Bewusstsein der Übrigen reflektirt. Wer nimmt nicht sofort wahr, dass diese Ehren bald für Dritte schlechthin unverletzbar sind – so die Ehre als innerer Wert und als Wertbewusstsein, – bald in ihrer Integrität allzeit jedem Angriff wehrlos preisgegeben, wie die Ehre als guter Name und als Ehrgefühl? Und deshalb müssen sich hier die Wege der Beleidigten scheiden. Denn wer seine Ehre trotz widerfahrener Beleidigung intakt weiss, kann nur Strafe für den Beleidiger fordern. Wer aber die Ehre hoch hält und ihrer teilweise beraubt zu sein glaubt, den drängt sein Selbstgefühl ihre Wiederherstellung zu suchen und nur über die Mittel kann er noch zweifeln. Soll er Heilung gewinnen durch Widerruf und Ehrenerklärung des Injurianten, oder durch einen Heilakt des Richters, oder vielleicht durch das grosse Mysterium unsres Ehrenlebens: den Zweikampf? Und genau an der gleichen Stelle scheiden sich die Wege, welche nach der einen Seite das Recht, nach der andern Seite die Sitte die Beleidigten gehen heisst. III. Daraus erhellt klar wie der Tag: den Kern ihres Streites bildet die Frage nach der Verletzbarkeit der Ehre, und nur aus der Erkenntniss ihres Wesens kann die Lösung gewonnen werden. Die Frage ist eine philosophische. Aber nicht nach Art des Philosophen will ich darauf die Antwort suchen, sondern als Jurist eine darauf anderweit gegebene Antwort deuten. Wie es nämlich neben der Philosophie über das Recht eine esoterische Philosophie des Rechts selbst giebt, so besitzt dies auch seine eigene Philosophie über die Ehre – hochbeachtlich wegen der Gesundheit der Grundgedanken, wenn auch lange nicht so fein und vollständig ausgebildet und folgerichtig durchgeführt wie die Philosophie des Rechts über das Willens- und das Kausalitätsproblem. Diesen Grundgedanken möchte ich Worte leihen und ihren Wert prüfen, damit womöglich klar werde, dass und warum das Recht Recht hat. IV. In ihm begegnen scheinbar drei Ehren: die der Person als solcher als Gegenstand rechtlich missbilligten Angriffs. Ihre Verletzung, falls von Dritten widerrechtlich verübt, bildet den Grund der sog. Rechtsstrafe, falls vom Ehrenträger selbst vorgenommen erzeugt sie unter Umständen, besonders in dem Heer und in dem Beamtentume, einen Anspruch auf Disciplinarstrafe. Das Recht stellt der sog. Ehrverletzung durch Dritte die Verletzung der eigenen Ehre zur Seite, vielleicht richtiger gegenüber. Leider widerfährt an dieser Stelle der Gesetzgebung, dass sie selbst sich schlimmer Verwechselung schuldig macht und dadurch hochbedauerliche Verwirrung teils 509

Karl Binding

stiftet, teils gutheisst. Ehre erzeugt einen Achtungs-Anspruch, aber nicht aller Respektsforderungen Quelle ist sie allein! Gewiss besitzt wie jeder Mensch so auch der König, der Beamte, der Offizier seine Ehre, deren Mass sich zum Teil bestimmt nach der Art der Herrschafts- und der Amtsführung. Aber ganz abgesehen von diesem Ehrbesitz kommt dem Herrscher und seinen Beamten ein Anspruch auf Respektserweisung zu, der allein in der Herrscherstellung des Königs und in der Tatsache, dass Beamte und Offiziere seine Statthalter sind, wurzelt. Er hat einen ganz anderen Inhalt als der Anspruch auf Achtung der persönlichen Ehre; seine Verletzung bedeutet etwas schlechthin Anderes als die Ehr-Beleidigung. Es ist schon schlimm genug, wenn die Amts-Ehre als Quelle jenes Achtungsanspruchs bezeichnet wird; noch schlimmer, wenn das heutige Recht diese „Amtsehre“ mit der durch die Art der Dienstführung erworbenen, der sog. Dienstehre, zusammenfliessen lässt; weitaus am schlimmsten aber, wenn es die vorsätzliche Achtungsverletzung gegen den König als Herrscher nur als hervorgehobenen Fall der Privat-Beleidigung behandelt, damit ein unentbehrliches Majestätsverbrechen als selbständiges in Verlust geraten lässt, das Staatsverbrechen unter den dürftigen Gesichtspunkt des Privatverbrechens stellt und zugleich den Begriff der echten Beleidigung tief erschüttert! Ohne scharfe Scheidung dieser echten, aber in der Ehre nicht wurzelnden Respektsansprüche von dem Anspruch auf Achtung der persönlichen Ehre als solcher ist an dieser Stelle weder ein wissenschaftlicher noch ein gesetzgeberischer Fortschritt möglich. Des Weiteren bezeichnet das Recht die Ehre als Voraussetzung für Erwerb und Fortbestand bestimmter Rechte, die einen intakten Träger verlangen. Was hier unter Ehre verstanden, wird in der Folge von selbst klar werden. Endlich erscheint sie als das Gut, das der Richterspruch dem Verbrecher wegen ehrloser Tat zur Strafe entzieht. Ich beseitige vor Allem diese dritte Art. Die Ehre als Ziel der Beleidigung und die Ehre als Gegenstand der Strafe haben nichts mit einander gemein als leider den Namen. Die Ehrenstrafe macht nicht ehrlos, sondern den ehrlos schon gewordenen rechtlos. Früher wirkte die sog. Ehrlosigkeit, die nie in Folge von Geburt oder verächtlichen Gewerbes, sondern nur in Folge gemeiner Verbrechen und Treubruchs eintrat, den Verlust der Glaubwürdigkeit, besonders der Eidfähigkeit. In dieser Form hat sie sich nur als notwendige lebenslängliche Rechtsfolge des Meineids erhalten. Im Übrigen nimmt die Ehrenstrafe heute nur dem Unwürdigen die sog. bürgerlichen Ehrenrechte, das ist eine gesetzlich geschlossene Summe von Rechten und Fähigkeiten, deren nur der Würdige geniessen soll. Diese Unwürdigkeit kann nach dem Urteile des Rechts bewirkt werden nur durch ehrlose Handlung des bisher Berechtigten; selbst der allmächtige Staat von heute vermag nach seiner eignen Auffassung Ehre weder zu geben noch zu nehmen! V. Was aber versteht das Recht unter der persönlichen Ehre als Objekt missbilligten Angriffs? Grade über diese Kardinalfrage versagen die geschriebenen Quellen den genauen ausdrücklichen Aufschluss – weitaus die empfindlichste Lücke im positiven Ehrenrechte: denn Wissenschaft und Praxis füllen sie unsicher, die gereizte Empfindlichkeit des Verletzten zwar mit suveräner Sicherheit, aber auch mit suveräner Willkür und grade solchem Unverstande aus. 510

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Auch das deutsche Strafgesetzbuch behandelt – darin grade so wenig ausgiebig wie fast alle seine Vorgänger – das Unbekannte als das Allbekannte, und sagt einfach: „Die Beleidigung wird bestraft.“ Nur über zwei Arten, die sog. leichtfertig üble Nachrede und die weit schwerere Verläumdung erfahren wir mehr, aber nicht genug: beide werden durch die Sprache und zwar „durch Behauptung oder Verbreitung von Tatsachen in Beziehung auf einen andern begangen, die denselben verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen geeignet sind.“ Aber weder über Inhalt und Umfang der Beleidigung, noch über die Gründe, woraus Jemand im Sinne des Gesetzes verächtlich wird, sagt dieses ein Wort. Nur darüber lässt es anderweit keinen Zweifel, dass jene behauptete oder verbreitete Tatsache eine strafbare Handlung nicht sein muss, aber sein kann. Indessen welche strafbare Handlung? Es dient nicht grade zur Aufklärung, wenn das heutige Recht nach Vorbild der früheren Strafgesetzbücher bei schweren Verbrechen die sog. custodia honesta der Festungshaft kennt, deren Zubilligung als eine Art staatlicher Ehrenerklärung an den Verurteilten wenigstens gefasst werden kann. So handelt es sich für Wissenschaft und Praxis darum, vorsichtig aber sicher dieses Ehren- und Beleidigungs-Blankett des positiven Rechts, soweit möglich an der Hand seiner Satzungen, jedenfalls aus seinen Grundgedanken heraus zu füllen. Die Schwierigkeit dieser Arbeit gründet in der Idealität des Gutes, wodurch es sich wesentlich von Leben, Gesundheit, Ungestörtheit der Willensbetätigung scheidet. Alle diese Güter finden ihr Analogon im Thierreich, die Ehre nicht. 1. Ihre Anerkennung als von Allen zu respektirendes, vom Staate zu schützendes Rechtsgut übt eine grossartige soziale Funktion aus, die auf ihr Wesen helleres Licht wirft. Nach der Ehre bestimmt sich – so will das Recht – das Mindestmass des im Verkehr von Mensch zu Mensch zu wahrenden Anstandes, weil das Mindestmass von Achtung, das Jeder dem Andern schuldet: – insbesondere im ganzen grossen Verkehr mittels der Sprache. Die Ehre ist – richtiger nach ihr bemisst sich – der rechtlich anerkannte Verkehrskurs eines Menschen. Unmittelbar jenseits der Grenzen der Beleidigung breitet sich aus das unendlich weite Gebiet des nach Inhalt und Form statthaften friedlichen Verkehrs, besonders des Wortverkehrs. Desshalb wirkt die falsche Deutung der Ehre so gefährlich: die zu weite Fassung schlägt diesen Verkehr in unerträgliche Fesseln, die zu enge öffnet der unerträglichen Gemeinheit Thür und Thor! 2. Worin aber findet das Recht den Wert, der den Kurs als das Mindestmass allgemeiner Achtungswürdigkeit bestimmt? Jedenfalls nicht im Maasse des subjektiven Wertbewusstseins; denn dies kann fehlen oder falsch sein. Ebensowenig in dem guten oder bösen Leumund eines Menschen: „denn es giebt – um mit dem ehrwürdigen Richard Rothe zu sprechen – viel falsche Ehre und viel falsche Schande“. Der Leumund sollte der Ehre entsprechen, aber vielfach tut er’s nicht. Ehre und guter Name sind scharf zu scheiden. Vielmehr zeigt genauere Prüfung zweifelloser Beleidigungsfälle, dass sich dieser Wert aus zwei verschiedenen Bestandteilen zusammensetzt: einem konstanten und einem variablen. 511

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a. Dank dem Christentum ist im Gegensatze zur Antike allmählich in der Geschichte des Rechts der Grundsatz von der Gleichheit aller Menschen als solchen zur Anerkennung gelangt. Daraus folgt unwidersprechlich: der Mensch ist nicht nur allein der Ehre fähig, sondern auch jeder Mensch – nicht lediglich der Bürger, oder der Freie, oder der Standesgenosse – besitzt in seinem Menschentum ein Ehrenkapital, kraft dessen er beanspruchen kann von allen anderen als ihres Gleichen behandelt zu werden. Dieser eigentümliche Menschenwert bildet den Rückgrat aller Ehre im Rechtssinne. Er eignet jedem Menschen von seiner Geburt an, und insoweit erscheint die Ehre als angeborenes Gut. Sie stirbt nie vor dem Menschen, stets mit dem Menschen. Sie steht nach Dasein und Mass ganz unabhängig von Höhe und Tiefe der sozialen Stellung und von der Standeszugehörigkeit des Ehrenträgers. Unser Ehrenrecht heute ist ganz demokratisch und verwirft jede Abstufung von Standesehren. Dieser angeborenen Ehre widerstreitet jede Behandlung des Menschen in Wort und Tat, als sei er ein Thier oder ein Stück lebloser Natur. All unsere zoologischen Schelt- und Schimpfworte sind beleidigend, weil sie den Gescholtenen für unwürdig erklären Mensch zu sein. Diesen spezifischen Menschenwert kann natürlich keine Beleidigung nehmen oder mindern. Nur der Unwürdige und Unselige, der in sich selbst die Menschheit prostituirt, vermag einen Teil dieser angeborenen Achtungswürdigkeit zu verwirken: ganz Bestie kann er nicht werden, wenigstens will das Recht es nicht glauben. b. Im Übrigen ist die Ehre eines Jeden seiner Hände eigenstes Werk, kein angeborenes, sondern ein wol erworbenes Gut. Dieses Ehrgewand webt sich Jeder für den eigenen Leib, richtiger die eigene Seele. Von dieser Ehre giebt es kein konstantes, nicht einmal ein Durchschnittsmass: ihre Grösse bestimmt sich durchaus individuell. Die Fäden ihres Gewebes bilden menschliche Handlungen und nur sie, nicht etwa auch natürliche Gaben des Menschen. Gewiss: Genie kann Bewunderung, Verstand Achtung, Schönheit Sympathie wirken! Aber nicht Alles, was Jemandem in den Augen seiner Genossen Wert giebt, ist Wert im Rechtssinne, Wert, der zur Ehre gehört, dem desshalb von Allen gleichmässig Achtung gezollt werden muss. Nur ein elend Recht könnte der Natur überlassen den Einzelnen die Ehre zuzumessen. Was kann der Beschränkte für seinen Mangel an Genialität, was der Hässliche für Aussehen und Gestalt? Wie können beide Defekte an die Ehre gehen? Macht aber Einfalt nicht ehrlos, dann kann der Verstand auch Ehre nicht geben. Und so ist das Genie kein tauglicherer Gegenstand der Beleidigung als der Tropf und der Doppelgänger Apolls kein besserer als der des Thersites. Die Vorwürfe der Beschränktheit und der Hässlichkeit gehen nicht an die Ehre. Was der Einzelne der Gesamtheit wert ist, also in ihr gelten muss, kann sie nur nach seinen Leistungen in ihr und für sie bemessen. Danach und danach allein bestimmt sich die individuelle Ehre, die insoweit allerdings als erworbener Sozialwert bezeichnet werden darf. Jene Leistungen aber scheiden sich in zwei grosse Massen: entweder der Einzelne erfüllt nur, was die Gesamtheit ihm an rechtlichen und sittlichen Pflichten auflegt, oder er fördert die Gemeinschaft über dieses Mass hinaus. Pflichterfüllung heisst die eine, spontane Förderung des Ganzen die andre mächtige Quelle der Ehre als 512

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erworbenen Sozialwertes. Diese Ehre zerfällt also in zwei Teile, die der erfüllten Pflicht und die der freien Tat. Sofort erhellt: es giebt keine angeborene, sondern nur erworbene Unehre, und nur durch Pflichtverletzung, nicht durch Unterlassung der freien Grosstat kann sich Jemand beflecken. Pflichten zu erfüllen und zu verletzen vermag aber nach Auffassung des Rechts nur der Verantwortliche. Der Begriff der Ehre basirt insoweit völlig auf dem des sog. freien Willens, wie man diesen auch konstruiren mag. Ehre und Unehre erwerben kann also nur der Handlungsfähige. Beide besitzen kann er noch, nachdem ihn schon lang der Wahnsinn gepackt hat. Zwischen Ehre und Unehre aber giebt es, dass ich so sage, einen Nullpunkt: den der nicht erfüllten und nicht verletzten Pflicht – eine Art negativer Ehre –, und dieser ist auch der Unzurechnungsfähige teilhaftig. Wer wissend, dass Jemand im Wahnsinn seine Frau erschlagen, ihn Mörder schilt, beleidigt: denn den Unglücklichen, Unbefleckten behandelt er als einen Missetäter, einen Schurken. Man hat wol geglaubt, alle Ehre im Rechtssinne sei dergestalt negativ: sie bedeute nur die Freiheit und Reinheit von Delikt und Unsittlichkeit, die Negation eines Unwertes, nicht aber zugleich den positiven Wert, den die Pflichterfüllung verleiht. Da aber jeder verantwortliche Mensch die Pflicht hat seine Pflichten zu erfüllen, so kann das Freibleiben von der Pflichtverletzung nur durch Pflichterfüllung bewirkt werden. Es giebt also keinen verantwortlichen Menschen nur mit negativer Ehre. Jetzt wird auch deutlich, in welchem Sinne heute noch allein von Standesehre gesprochen werden darf. Die Zugehörigkeit zu einem Berufsstande kann ausser den allgemeinen auch besondere Pflichten auflegen. Die wahre Standesehre besteht dann in der Erfüllung dieser neben allen anderen, nicht aber auf deren Kosten. c. Der Verkehrskurs eines Menschen wird aber nicht allein durch das Mass seiner Ehre, sondern auch durch das seiner Unehre bestimmt. Und so wird es Zeit von der hellen Seite nach der dunklen hinüber zu schauen. Kein Mensch ist fehllos, keiner in jedem Gran ein Schurke. Im Menschengeschlecht giebt es weder absolute Ehre noch absolute Ehrlosigkeit. In dem grossen Ehrenbuche jedes Menschen sind stets Einträge auf beiden Konten. Ist das der Unehre nur soweit belastet als der Mangel menschlicher Vollkommenheit notwendig mit sich bringt, so sprechen wir Unvollkommenen mit gutem Grund von reiner Ehre. Anders wenn die Gegenseite eine stärkere Belastung zeigt. Dann scheiden sich – freilich nur zum Teil in Feindschaft – die Betrachtungsweisen des Rechts und der Sitte. Letztere mildert woltätig gewisse Starrheiten der rechtlichen Beurteilung, sanktionirt andernteils sehr falsche Anschauungen. In solchen Fällen liegt nämlich nah – und so verfährt das Leben und kann kaum anders verfahren – beide Seiten gegen einander abzuwägen und nach dem Überwiegen der einen oder andern in Bausch und Bogen Ehren- und Dunkelmänner zu scheiden. Auch trägt die Sitte kein Bedenken eine unehrenhafte gegen eine ehrenhafte Handlung aufzurechnen und glaubt, dass ein Fehltritt durch nachträgliche dauernde Wahrung der Ehrenpflichten gesühnt werden könne. 513

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Hierin von ihrem Standpunkte aus ganz im Recht irrt sie schwer durch Annahme einer Art von thesaurus supererogationis, woraus Ehrendefekte gedeckt werden könnten. Den Inhalt dieses Schatzes bilde der persönliche Mut, und wer dessen Besitz durch die Tat beweise, beweise für seine Ehre oder tilge erworbene Unehre. Eine mögliche Tugend neben andern wird durch das Übermaas ritterlichen Sinnes zur einzigen Tugend gesteigert: eine für die Ehre geradezu vernichtende Übertreibung! Wenn der Verleumder für seine Verleumdung mutig in die Schranken tritt, hört er dadurch auf ein gemeiner Lügner zu sein? Ist der mutige Schurke – und ihrer hat es zur Genüge gegeben – ein Ehrenmann? Wird er nicht vielmehr grade durch seinen Mut eine Geissel der Menschheit? Und kann der Mut anders ehren als nur im Dienst der Pflicht und der freien Grosstat? Ganz anders schaut das Recht diese Dinge. Es hat den Verkehr nicht lediglich in Bausch und Bogen, sondern bis in die kleinste Einzelheit zu regeln: jedem gerecht sein Achtungsdeputat zumessend. Deshalb darf es in seinem Urteil nicht unsicher werden. So führt es stets getrennt Buch über Ehre und Unehre, rechnet nie das eine Konto gegen das andre auf, kennt keine Kompensation zwischen ehrlicher und unehrlicher Handlung, kennt leider – ein grosser aber nicht leicht zu hebender Mangel! – auch keine Löschung einzelner Einträge im Buch der Unehre, keine Verjährung derselben, nicht einmal eine sichere Rehabilitirung des Verunehrten durch den Strafvollzug1, verwirft aber entschieden die ganze Theorie von der Unehre tilgenden Kraft des Mutschatzes. d. Das Mass erworbener Ehre wie Unehre wird bedingt durch das in der That sehr verschiedene Mass von Heiligkeit und Tragweite erfüllter und verletzter Pflichten. Es giebt aber keine Pflichtverletzung, die Unehre nicht zeugte, und eine Strafe, die zugleich Ehrenerklärung für den Verbrecher sein soll, ist ebenso widersinnig als verwerflich. Andrerseits giebt es keine schuldlose Handlung, die Unehre wirkte, sollte auch die hoch bedauerliche Strafsucht des modernen Staates sie durch Gesetz oder Rechtssprechung zur Straftat gestempelt haben. Alle Schuld und nur die Schuld zeugt Unehre. Deshalb belastet auch die massvolle Pflichtverletzung im Notstande nicht, wenn die Erfüllung der einen Pflicht nur durch Verletzung der andern möglich war. Dies gilt insbesondere von dem Offiziere, der heut rechtlich verpflichtet ist seine angegriffene Ehre eventuell mittels Zweikampfs zu verteidigen, und der unerhörterweise doch bestraft wird, wenn er dies tut. Sein Zweikampf gereicht nicht ihm, die Strafbarkeit seines Zweikampfs aber im höchsten Masse unsrer Gesetzgebung zur Unehre. VI. So glaube ich die Begriffe Ehre und Unehre im Sinne des geltenden Rechtes bestimmen zu müssen. Inwiefern regelt sich nun nach dem Ehrbesitz die passive Stellung des Einzelnen im Verkehre? Welche Behandlung gebührt ihm kraft seiner Lebensführung von Rechtswegen, welche kann er verlangen, wenn er darauf hält, dass sein Wert respektirt werde? 1

Nur der Ablauf der Zeit, auf deren Dauer die Ehrenstrafen ausgesprochen werden, kann unwidersprochen als Rehabilitirung in bestimmtem Umfange bezeichnet werden.

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1. Kann er positive Anerkennung der Ehre in vollem Umfange, vielleicht gar Ehrerweisung nach dem Masse seines Verdiensts fordern? Solcher Forderung zu genügen wäre unmöglich: denn wer kann das Ehrenmass aller Andern kennen? Sie durchzuführen wäre untunlich: denn wer vermöchte ein bestimmtes Werturteil seiner Mitmenschen zu erzwingen oder durch die Gerichte erzwingen zu lassen? Auch erzeugt die Ehre de lege lata nie Rechtsansprüche auf positive Anerkennung oder auf Achtungsbeweise, sondern stets nur auf Unterlassung der Ehrenkränkung. Die Beleidigung ist Begehungs- nicht Unterlassungsdelikt. 2. Kann der Ehrenträger verlangen, dass seiner Ehre nichts abgezogen, kein Ehrentitel ihm abgesprochen werde? Man sollte glauben: zweifellos. Das Recht sagt nein. Hier wird der oben aufgestellte Unterschied zwischen der Ehre der freien Tat und der der erfüllten Pflicht bedeutsam. Der dunkle Ehrenmann, der Kaiser Wilhelm und Bismarck das Verdienst der Errichtung des deutschen Nationalstaates, einer ihrer grössten Ehrentaten, abspräche, verneinte einen Teil ihrer Ehre und beleidigte doch nicht. Denn eine grosse Ehre nicht haben ist noch nicht Unehre haben. 3. Und hier stehen wir am Wendepunkt. In demselben Augenblick, wo Jemand zu Unrecht einem Andern die Ehre der erfüllten Pflicht abspricht, behandelt er ihn als mit Unehre belastet, von der dieser sich frei gehalten. Der Anspruch aber gebührt Jedermann, im Verkehr nicht als schlechter behandelt zu werden, als er sich bewährt hat. Also nicht nach dem Masse seiner Ehre, sondern nach dem seiner Freiheit von Unehre muss Jeder von uns behandelt werden. Es ist das Wenigste, was wir verlangen können, und dieser unserer bescheidenen Forderung steht das Recht zur Seite und würde es um unserer Selbstachtung willen auch dann tun müssen, wenn Ehre und Freiheit von Unehre nicht das wertvolle Kapital bildeten, das einem Jeden Vertrauen, Ansehen, Kredit, Amt werben und erhalten muss. Daraus erhellt auch sofort das Wesen der Beleidigung. Sie ist in allen Fällen widerrechtliche Behandlung eines Menschen nach Mass nicht vorhandener Unehre – eine falsche, allgemeine oder beschränkte, durch Wort oder Tat vollführte Ehrloserklärung. Sie hiesse weit richtiger Verunehrung als Ehrverletzung und Beleidigung. 4. Worauf aber Niemand gegen seine Mitwelt einen Anspruch hat, das ist auch Dissimulation der Unehre, die er durch seine Lebensführung auf sich geladen. Wer dem Belasteten wahrheitsgetreu seine Unehrenhaftigkeit vorrückt, behandelt ihn genau nach Wert, und mehr kann Niemand heischen. Die Ehre, genauer die Freiheit von Unehre fehlt, die vorhanden sein müsste, damit dieser Vorwurf zur Beleidigung werden könnte. Trotzdem beleidigen, hiesse soviel als eine Leiche töten, was zu vollenden wie zu versuchen gleich unmöglich ist. Man hat seltsamerweise die rechtlich durchaus anerkannte Straflosigkeit solchen Beginnens, statt wie allein geboten aus dem Ehrendefekte, aus einem erfundenen Recht die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie kompromittirend sei, herleiten wollen. Solche Rechtsmonstra aber, wie die, die Wahrheit zu sagen oder zu lügen, haben nie bestanden und werden nie bestehen: sie sind nur erheiternde Konfusionsprodukte. VII. Nun ist der Anspruch des einzelnen Ehrenträgers auf Behandlung seinem Ehrenkonto entsprechend Folge der Ehre, nicht die Ehre selbst. Seine Befriedigung giebt nicht Ehre, sondern erkennt sie nur tatsächlich an; seine Verletzung nimmt 515

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nicht Ehre, sie ist nicht deren Verletzung, sondern nur Verletzung der Achtungsbedürftigkeit, soweit sie zugleich Achtungswürdigkeit ist, Verletzung des Willens, der auf Achtung der Ehre hält. Gerade diese letzte so überaus wichtige Wahrheit wird so oft verkannt! Das ideale Rechtsgut der Ehre ist durch dritte Hand absolut unverletzbar. Unter den Streichen des Mörders haucht dessen Opfer sein Leben aus: des Verleumdeten Ehre aber strahlt nicht minder hell, obgleich der Verleumder versucht hat sie zu verdunkeln. Nicht jenen, nur diesen befleckt die Verleumdung mit Unehre. Der feine Satz Vincenzo Monti’s, die Injurien machten es wie die Kirchenprozessionen, die stets dahin zurückkehrten, von wo sie ausgegangen, trifft haarscharf zu. Ja selbst derjenige, der sich Ehre erworben hat, kann diesen Erwerb nicht annulieren, wol aber den relativen Wert seines Besitzes dadurch mindern, dass er sich mit Unehre bedeckt. Niemand aber vermag dies ausser ihm. Weh dem, der das Gegenteil glaubt! Denn dieser Glaube an die Verletzbarkeit seiner Ehre kann auf dem Gekränkten lasten wie ein wuchtendes Schicksal; er nimmt ihm den Atem und treibt ihn sich durch Gewalttat von dem Alp dieses Druckes zu lösen. Die tiefe Tragik dieses Glaubens, der – wenn erst eingewurzelt – vergeblich wider alle Vernunft kämpft, hat Calderon zu ganz ergreifendem Ausdrucke gebracht. Dort spricht im Maler seiner Schmach der tief beleidigte Don Juan: „Ich so erniedrigt? Himmel! Doch wie anders, Wenn krankhaft reizbar es die Ehre will? Weh über den, der solch Gesetz gegeben, Der meinen Ruf in fremde Hand gelegt, Dass fremdes Tun, nicht eig’nes ihn bestimme, Die Schmach dem zuteilt, dem die Kränkung ward, Nicht Jenem, der das Schmähliche beging! Er wusste von der wahren Ehre wenig! Wie kann die Welt so argen Missbrauch dulden, Dass dort die Schuld und hier die Strafe sei? Weh über den, der solch Gesetz gegeben! Solch heisser bittrer Schmerz sucht seine Stillung naturgemäss im Blut des Ungerechten, der ihn erzeugt hat. In diesem Glauben liegt also eine grosse Gefahr für Frieden und Recht. An diesem Glauben krankt noch heute wie allbekannt das Leben; bei ihm ist leider auch vor langer Zeit auf seltsam verschlungenen Pfaden das deutsche Recht angelangt, um Jahrhunderte bei ihm zu beharren und sich nur schwer von ihm zu lösen. Woher stammt die Festigkeit dieser Irrlehre von einer möglichen Ehrverletzung durch dritte Hand? Wie erklärt sich, dass das Recht von früher und die Sitte von heut darin über Eins sind dasselbe Unmögliche zu wollen, nämlich die Heilung einer ungeschlagenen Wunde, das Mögliche aber zu verkennen oder zu verachten oder auf denkbar verkehrtestem Irrpfade zu erstreben? 516

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VIII. Das zu begreifen bedarf es eines Blickes auf das Verletzungsmoment bei der Beleidigung und auf die möglichen Massregeln, zu denen es drängt. Gewiss: die Beleidigung läuft gegen den Willen, der auf Ehre hält, und nötigt ihn die unehrenhafte Behandlung zu dulden. Diese der Beleidigung einzig wesentliche Verletzung ist nicht Ehr-, sondern Willensverletzung, und wenn einmal geschehen ebenso wenig wie jede andre Nötigung je wieder gut zu machen. Desshalb fordert sie Strafe, und für den Verleumder, der überlegt gehandelt hat, für den Rufmörder, neben Freiheits- obligatorische Ehren-Strafe. Es ist leider unverkennbar, dass das geltende Recht den Wert der Ehre und das Gewicht der Beleidigung ungebührlich unterschätzt. Seine Strafdrohungen werden der Bedeutung des Angriffs auf die Ehre nicht annähernd gerecht. Gewiss: die Beleidigung kann das Gefühl des Betroffenen schwer kränken! Davon führt sie ja leider den Namen. Es ist bekannt, zu welch massloser Ausdehnung des Beleidigungsbegriffs im Leben diese mögliche Wirkung geführt hat. Kann die Beleidigung Kränkung sein, so dreht die reizbare subjektive Empfindlichkeit den Satz um und stempelt Alles, was ihr weh tut, und noch übertreibender Alles, was ihr nach dem Vorurteil der Genossen weh tun sollte, zur Beleidigung. Leider krankt auch unsere Rechtssprechung in hohem Masse unter dieser ungesunden Verfälschung der Begriffe von Ehre und Beleidigung. Ich sage Verfälschung: denn diese Gefühlskränkung ist nach der gesunden Auffassung des Rechts der Beleidigung ganz unwesentlich. Nicht der Sensitive allein, sondern ebenso der Gefühllose und der Gefühlsharte sind der Beleidigung zugänglich. Andrerseits kann ganz gleich grosse Gefühlsverletzung gerade so gut mögliche Wirkung andrer Verbrechen, eines Mordversuches, einer schändlichen Körperverletzung, eines besonders pietätlosen Diebstahls, der frivolen Zerstörung oder Besudelung eines kostbaren Andenkens sein. Solche Gemütsaffektionen als Nebenwirkungen des Verbrechens berücksichtigt ein verständiger Richter bei der Strafzumessung; er nimmt dabei mit gutem Grunde an, dass die gerechte Bestrafung des Misstäters – freilich auch nur sie! – die Gefühlswunde des Verletzten, falls sie nicht schon vorher vernarbt ist, zum Heilen bringen wird. Von Rechts- oder Sitten wegen ein besondres Heilverfahren für verletzte Gefühle, eine Art Gefühlsklinik einführen, ist misslich, unsicher, unnötig und ridikül. Gewiss: die Beleidigung kann ausserdem in einer für den Verunglimpften höchst empfindlichen Weise seinen guten Ruf bei Dritten erschüttern. Die sog. Ehrverletzung schärft sich dann dadurch, dass sie zugleich Rufgefährdung wird, und darin besteht das Wesen vor Allem der Verleumdung, die unser Recht zu eng, und der leichtfertig übeln Nachrede, die es leider sehr missverständlich gefasst hat. In diesen Fällen rufgefährdender Beleidigung kann der Verleumdete das dringendste Bedürfniss haben, dass der Gefahr der Achtungserschütterung vorgebeugt, und wenn solche schon eingetreten, dass die wankend gewordene Achtung wieder befestigt werde. Dieser Akt ist ein Akt der Vorbeugung oder der Beseitigung ideellen Schadens: reparirt wird aber nicht die Ehre, sondern nur der gute Name. Zu diesem Akt schlechthin untauglich ist der Verleumder, der verächtliche Lügner. Wie kann sein Widerruf den Glauben von Ehrenmännern bestimmen? Grade weil dieser Glaube erschüttert ist, erscheint auch das Wort des Verleumdeten selbst zur 517

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Wiederherstellung jener Achtung wenig tauglich. Aber vielleicht sein Schwert oder seine Pistole? Man sollte jedoch nicht übersehen, dass es einen ehrlichen Kampf mit dem ehrlosen Ehrabschneider nicht geben kann. Selbst für diejenigen, die den Ehrenzweikampf verteidigen, müsste feststehen, dass grade der Verleumder als satisfaktionsunfähig zu behandeln wäre. Der einzig taugliche zu jener Reparation ist der Richter. Er hat den Ehrenbestand des Beleidigten untersucht; er hat an ihm die Handlung des Angeklagten gemessen, dieselbe als widerrechtlich erkannt und die Schuld des Angeklagten klar gelegt; sein Strafurteil ist auf materielle Wahrheit begründet; dessen Veröffentlichung in den weitesten, jedenfalls in den interessirten Kreisen kann allein, wird aber auch genügende Reparation wirken. Das hat die neuere Strafgesetzgebung auch eingesehen: sie kennt, wenn ich vom Geldersatz für vielleicht erlittenen Vermögensschaden absehe, für die Beleidigung lediglich Strafe, daneben als der Strafnatur zweifellos entbehrende Massregel der Reparation erschütterten Rufes die Veröffentlichung des Strafurteils auf Kosten des Verletzten – freilich nicht entfernt in dem durch das Bedürfniss geforderten Umfang. An der Verkümmerung des Institutes durch die Praxis, welche die Massregel der Reparation in eine solche der Strafe umgedeutet hat, trägt das Gesetz keine Schuld. In Beleidigungsstrafe und Rufreparation durch Urteilsveröffentlichung erschöpfen sich die Massregeln jedes an die Unverletzbarkeit des Ehre glaubenden Rechts. IX. Ganz anders die Ausgestaltung des früheren deutschen Ehrenrechts! Sie zu betrachten ist um so fesselnder und lehrreicher, als die falschen Anschauungen, die es bis in dieses Jahrhundert beherrscht haben, in der heutigen Sitte lebendig geblieben sind – so dass der oben signalisirte Kampf zum grossen Teile als Kampf der Ideen zweier Zeitalter erscheint. Ich denke an die Rechtsbehelfe der Ehrenerklärung, des Widerrufs und der Abbitte. Sie sind ohne einen Blick auf ihre höchst merkwürdige Geschichte ganz unverständlich. Hatte in altgermanischer Zeit Jemand einen Andern fälschlich eines schweren Verbrechens bezichtigt, etwa einer Handlung, die den Bescholtenen friedlos gemacht hätte, so drohte ihm selbst Friedlosigkeit. Diese furchtbare Rechtsfolge aber konnte er abwenden und mit einer Geldbusse davonkommen, schwor er mit Eidhelfern, er habe nicht in der Überlegung sondern der Übereilung die Schelte gesprochen: er wisse vom Gescholtenen kein Verbrechen, vielmehr nichts Anderes, als was ehrlich und schicklich sei. Dies die schlecht sog. germanische Ehrenerklärung. Sie geschah nicht im Interesse des Gescholtenen sondern des Scheltenden. Dieser beweist zu seinen Gunsten eine Einrede, einen Milderungsgrund. Sie war also ihrem Zweck nach keine Ehrenerklärung. Abbitte und Widerruf aber sind dem germanischen Recht ganz fremd gewesen. Beide stammen aus der kirchlichen Lehre von der Busse. Den Sünder löste die Kirche von seiner Sünde nur nach Übernahme einer Genugtuung: satisfactio. Voraussetzung derselben war Ersatzleistung an den Verletzten, wenn möglich: die restitutio. Und nun stellten die grossen Scholastiker des 12. und 13. Jahrhunderts eine neue 518

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fein ausgetüftelte Theorie auf: auch die fama sei verletzlich, also auch eine restitutio famae möglich und unerlässlich, und zwar durch Widerruf der Beleidigung an der Stelle, wo sie geschehen. Auch durch Abbitte konnte die satisfactio geleistet werden. Man sieht klar: Widerruf und Abbitte dienen an erster Stelle zur Entsühnung des Beleidigers, an zweiter der Widerruf zur Reparation nicht der Ehre, sondern des guten Namens, die Abbitte zur Gefühlsbesänftigung: beide aber nicht zur Strafe. In den kirchlichen Gerichten gelangte dann in seltsamer Verschiebung der Interessen eine Klage des Beleidigten auf restitutio famae zur Anerkennung. Diese dringt samt jenen Anschauungen des Busslebens und der Scholastik in das weltliche und zwar das bürgerliche nicht das peinliche Gerichtsverfahren ein und verschmilzt daselbst mit den abgeblassten Resten der germanischen Ehrenerklärung. Der fama aber, dem guten Rufe, wird hier zum grossen Schaden der Sache die Ehre substituirt: sie erscheint durch Beleidigung verletzbar, durch Widerruf heilbar. Es dauert nicht lange und die Opposition gegen diese Fälschung beginnt am Anfang des 16. Jahrhunderts. Die civilistische Natur des Urteils auf Widerruf wird angefochten, da Ehre durch Beleidigung nicht verletzbar, also durch Widerruf nicht wiederherstellbar sei. Der Widerruf könne desshalb nicht als Massregel der Separation, sondern es müsste der Zwang zum Widerruf als Strafe gefasst werden. Die gesetzliche Anerkennung der drei Rechtsbehelfe geschah oft anlässlich der Duellverbote. Der Gesetzgeber wiegte sich dann in der falschen Hoffnung, sie würden sich als taugliche Mittel erweisen um die Quellen des vom Recht missbilligten Ehrenzweikampfes zu verstopfen. Allmählich wanderten sie aus dem bürgerlichen in das Strafrecht, erst als Privat- dann als sog. relativ-öffentliche Strafen. Ein ursprünglicher Akt der Reue, den die Kirche in des Sünders Interesse von diesem fordert, wird zunächst im Interesse des Beleidigten zum Gegenstand eines Anspruchs auf Reparation erst des verletzten guten Namens, dann der Ehre und endlich zur Strafe. Diese Strafen aber verfielen rasch dem Kinderspott. Widerrief der Verurteilte in hartnäckiger Verstocktheit nicht, so erfolgte der Widerruf vor Gericht in Gegenwart beider Parteien durch den Gerichtsdiener oder gar den Scharfrichter. Vielleicht auch gab der Verurteilte die Ehrenerklärung in einem Tone ab, dass sich dem Geehrten das Herz im Leib umwandte. Solche Strafen, auf des Sträflings freien Willen gestellt, sind unsinnig weil unerzwingbar. Das haben die neuern deutschen Strafgesetzbücher auch fast alle begriffen und diese ungesunden Blutstropfen aus unserem Strafkörper ausgestossen. Der tiefe Grund aber der Umwandlung jener Rechtsbehelfe aus Massregeln zwecks Herstellung der verletzten Ehre nach Analogie des Schadenersatzes in Strafen liegt in dem allmählichen Sieg der Erkenntniss, dass die Ehre durch Beleidigung unverletzbar, also durch Widerruf, Abbitte und Ehrenerklärung unwiederherstellbar sei. X. Auf den Boden dieser Wahrheit hat sich heut mit aller Entschiedenheit das Recht gestellt: sie muss aber auch der Leitstern werden für das ganze Ehrenleben 519

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der Zukunft. Fern sei es mir mich in sanguinischen Hoffnungen zu wiegen, als könnten eingewurzelte Anschauungen von heute auf morgen überwunden werden! Aber fest glaube ich an den endlichen Sieg erkannter Wahrheit auch über widerstrebende Sitten: komme er auch langsam, ausbleiben wird er nicht! War der Widerruf seinerzeit ein ohnmächtig Heilmittel wider eingebildete Wunden, so liegt in der Erkenntniss seiner Ohnmacht wegen Unverletzbarkeit der Ehre wirkliche Heilkraft wider eine schwere nationale Krankheit: wider jene hysterische Reizbarkeit unseres Ehrgefühls, die so leicht auch unsern Verstand betört. Es hat der Staatsmann, gegen den unser Dank nie erblassen wird, das stolze Wort gesagt: „Die Deutschen fürchten Gott und sonst Niemand!“ Er hat dabei eins vergessen: des Deutschen ewige Angst, seine Ehre könne ihm jeden Augenblick von jedem frivolen Gesellen geraubt werden, seine bebende Sorge, sie sei vielleicht schon durch das Naserümpfen oder das spöttische Wort eines Laffen in die Brüche gegangen. Wen diese Angst schütteln kann, der darbt der Gewissheit seines Wertes: ihm hat jene Wahrheit noch nicht die Seele gestählt. „Wie weiss er von der wahren Ehre wenig!“ Denn wer diese kennt und hat, den macht sie fest und ruhig! Selten hat ein Mann in seinem Leben so viele ungerechte Vorwürfe über sich ergehen lassen müssen als der grosse Tote, der unser Reich gegründet hat und in ihm und in unsern Herzen lebendig geblieben ist. Er konnte seine Ehre nicht mit dem Schwert verteidigen, sie war also nach Auffassung der Ehrensitte wehrlos seinen Gegnern preisgegeben. Und doch hat König Wilhelm fast nie mehr Ehre geworben und nie mehr Mut bewiesen – auch im Granatenhagel auf den Schlachtfeldern nicht –, als in jenen bösen Zeiten seiner Ohnmacht gegen die Verleumdung. In dem Bewusstsein der Treue gegen seinen Beruf fand er den Mut die Verachtung zu verachten und die Kraft den dornigen steinigten Weg der Pflicht still bis ans Ende zu gehen. Dass seine Ehre durch fremde Schmähung Schaden leiden könnte, – von diesem Ungedanken hat sich das gesunde Selbstgefühl dieses Vorbilds der Bescheidenheit stets frei gehalten: gehobenen Hauptes schritt der geschmähte König zum Siege! So hat er um seine Krone einen Ehrenkranz geschlungen nicht minder leuchtend als die Krone selbst. Solchen Goldkranz hält die hehre Göttin aber nicht nur für Kaiser und Könige sondern für jeden, der ihn verdient. Einer nach dem andern kommt ihn ihr zu nehmen, und stets glänzt ein neuer in ihrer Hand. Wenn sie ihn aber lassen muss dem Edlen, dem Tüchtigen, dem Manne des Ruhms oder dem Namenlosen im Arbeitskittel, der in der Verborgenheit hart gerungen und den guten Kampf seiner Pflicht glorreich gekämpft hat, dann geht es wie ein Lächeln des Glücks über das ernste Antlitz: sie freut allein, wenn sie des Kranzes beraubt wird. Nach solchem Kranze zu ringen aus aller Kraft hört nie auf, Kommilitonen! Habt Ihr ihn aber errungen, dann lasst die Sorge fahren: der Göttin kann ihn Jeder, Euch Niemand rauben! ***

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31. October 1891. Rede des abtretenden Rectors Dr. iur. Karl Binding. Bericht über das Studienjahr 1890/91. Hochansehnliche Versammlung! Wie unter der Decke des Winters der Strom thalab zieht, so geht unter der Hülle der äusseren Ereignisse das geistige Leben einer wissenschaftlichen Anstalt weiter – im Ganzen ruhig, stetig, unaufhaltsam, im Einzelnen nie unbeeinflusst von ihren äusseren Schicksalen. Nicht von jenem, unserem tieferen Leben – nur von diesen habe ich heute in der letzten Stunde meines Ehrenamtes zu berichten. Das vergangene war für die Universität ein bewegtes Jahr, reich an sie lebhaft berührenden Ereignissen, reich an Arbeit, reich auch leider an schweren Verlusten und den durch sie verursachten Erschütterungen! In Einem aber glich es seinen Vorgängern: in vollstem Maasse hat auch in diesem Jahre die Universität sich der woltuenden Huld des geliebten Landesherrn, ihres Rector Magnificentissimus erfreuen dürfen. Dankbar gedenken wir der frohen Tage vom 1.–5. Februar dieses Jahres, in welchen die Majestäten in Leipzig weilten und Se. Majestät der König – man darf fast sagen: in der uns so lieb gewordenen Gewohnheit – von Hörsaal zu Hörsaal ging um neu gewonnene Lehrer kennen zu lernen und einen von uns hoch verehrten Jubilar persönlich zu ehren. Mit der Universität wurde aber in diesem Jahre Se. Majestät noch durch ein Band besonderen Wertes verknüpft. Seine beiden erlauchten Neffen, die Herzöge zu Sachsen, Prinz Johann Georg und Prinz Max durfte die Universität ja zu ihren Kommilitonen zählen. Von den beiden Königlichen Hoheiten wird der ältere Bruder zu unserer hohen Freude noch im Verbande der Hochschule verbleiben; Prinz Max aber ist seit dem 7. August aus unserer Mitte geschieden. Der Prinz hat am 26. Oktober in Anwesenheit Sr. Königlichen Hoheit des Prinzen Georg und seines Gefolges, sowie des Herrn Staatsministers Dr. von Gerber vor der versammelten Juristen-Fakultät mündlich seine Doktorprüfung mit Auszeichnung bestanden. Es ist dieser Fall der Erste, dass ein Prinz des Königlichen Hauses darauf gedrungen hat den Ernst seiner Studien durch Ablegung einer Prüfung vor den berufensten Zeugen dokumentiren zu können. Die Universität weiss diesen Entschluss, der den Prinzen ebenso ehrt wie sie selbst, voll zu würdigen, und ihre Liebe und ihre besten Segenswünsche folgen dem jungen Doktor Königlichen Blutes auf seinem künftigen Lebensweg nach. Des Königs Huld haben wir aber nicht nur in den Tagen Höchstseiner Anwesenheit verspürt. Während des ganzen Jahres hat die Universität in allen grossen ihre Zukunft tief berührenden Fragen und ebenso bei Anlässen minderer Bedeutung Seitens der Königlichen Regierung ein Entgegenkommen, eine Fürsorge und För521

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derung erfahren, wie sie erfreulicher nicht erwartet werden konnten. So sind wir voll Dankes gegen Seine Majestät und Sr. Majestät Regierung! Ihr danken wir auch das schöne Fest, unter dessen Eindruck wir noch Alle stehen: die am 24. Oktober vollzogene Einweihung der durch Baurat Rossbach entworfenen, durch ihn und seine wackeren Helfer errichteten prachtvollen Universitätsbibliothek. Der Veranstalter dieses Festes ist Niemand anders als S. Excellenz Herr Staatsminister von Gerber gewesen, der dasselbe auch persönlich geleitet hat. Im festlich geschmückten Parterresaal des neuen Hauses übergab der Herr Minister dasselbe feierlich seiner Bestimmung. Namens der Universität dankte der Rektor für das kostbare Geschenk des Landes. Er verkündete den Beschluss des Senats, dass diese Bibliothek zu Ehren des weisen Fürsten, auf dessen Initiative der Bau wesentlich zurückzuführen, Bibliotheca Albertina genannt werden soll – ein Beschluss, der die Allerhöchste Genehmigung gefunden hat; er übergab Namens des Senates die von Schilling so trefflich hergestellte Marmorbüste des Herrn Ministers von Gerber als Zeichen des höchsten Dankes der Hochschule an die Bibliothek. An die Festrede des Herrn Oberbibliothekar, Geheimer Hofrat Dr. Krehl, schloss sich ein Rundgang durch die ebenso prachtvoll ausgestatteten als zweckmässig eingerichteten Räume. Möchte die Bibliotheca Albertina, wie sie eine der schönsten Bibliotheken ist, mehr und mehr aufsteigen auch zu Einer der vollständigsten und förderlichsten Büchereien! Man könnte die Einweihung der neuen Bibliothek nicht nur den symbolischen, sondern auch den tatsächlichen Abschluss einer grossen Bauperiode der Universität nennen, wenn ihr nicht die zu Anfang des nächsten Sommersemesters stattfindende Einweihung des gynäkologischen Institutes diese Bedeutung nähme. Ist erst dieses Institut bezogen, dann hat die Zeit der grossen Anstalts-Errichtungen auch tatsächlich ihr Ende erreicht. Dieses Ende der Sorge für die einzelnen Zweige wissenschaftlicher Tätigkeit bedeutet den Anfang einer grossen Arbeit für die Gesamt-Universität. Und über diese wie über die andern grösseren Arbeiten des letzten Jahres lassen Sie mich jetzt kurz berichten! In den drei Jahrzehnten, in welchen Dank der Fürsorge der Regierung und der Munificenz des Landes ein grosses Universitäts-Institut nach dem andern in die Höhe stieg, hat die Universität selbst – bescheiden zurücktretend – in ihren völlig unzulänglich gewordenen Räumen still auf den Tag ihrer eigenen baulichen Auferstehung gewartet. Die Morgenröte dieses Tages brach mit dem letzten Drittel des Jahres 1890 an. Das Rentamt der Universität hatte – natürlich nicht ohne Vorwissen und Billigung des hohen Ministeriums – die Initiative ergriffen. Durch Verordnung vom 4. September 1890 forderte das hohe Ministerium den akademischen Senat auf, zu den Vorschlägen des Rentamtes Stellung zu nehmen. So waren gleich zu Anfang des neuen Universitätsjahres grosse Pläne zu erwägen, zu erweitern, zu gestalten. Immer klarer trat uns das Notwendige vor Augen. Fallen muss das alte Bibliotheksgebäude, dessen interessanter Kreuzgang weil von Nässe ganz zerfressen leider nicht erhalten werden kann. Fallen muss das unschöne 522

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Senatsgebäude, das kaum schönere Konvikt und die Reihe der Häuser des VorderPaulinums nach der Universitätsstrasse. Vollständig umzubauen ist das Augusteum, in welchem alle Verwaltungsstellen der Universität konzentrirt werden. In architektonischer Verbindung mit ihm ist ein neues grosses Auditorienhaus zu errichten, zweistöckig, mit einer breiten Südfront, die von der Südecke des Augusteums bis an die Universitätsstrasse läuft, von deren Mitte ein Flügel parallel dem Augusteum nach der Paulinerkirche zu abzweigt, welcher mit seiner nordwestlichen Ecke an die südöstliche des Bornerianum anstösst. Dies Auditorienhaus, in dessen Mitte ein grosser glasüberdachter Lichthof zum gedeckten Aufenthalt der Studirenden dienen soll, der als mit Centralheizung und elektrischer Beleuchtung versehen zu denken ist, soll 28 Hörsäle einschliessen, deren grösster 420, deren kleinster 30, deren Gesamtheit 3280 ordentliche Sitzplätze enthalten soll; der Parterre-Raum des Südflügels wird die archäologische Sammlung aufnehmen. Neu zu errichten ist ferner ein Gebäude an der Universitätsstrasse, das unten nach der Strasse zu grosse Läden aufnehmen, oben aber seine Hauptfront nach dem Hofe des Bornerianum erhalten soll. Denn es wird zusammen mit dem umgebauten Bornerianum zur Aufnahme von Instituten und Seminaren dienen. Die Pläne zu diesen umfassenden Bauten sind von bewährter Hand im Grundrisse schon länger festgestellt; ganz neuerdings hat dieselbe auch die Pläne zu den grossen Façaden entworfen. So bleibt nur der Wunsch, dass diese kleine Welt, die den abgeschlossenen, dem Getriebe des Tags so viel als möglich abgewandten Schauplatz unsrer künftigen Tätigkeit bilden soll, über Nacht fertig aus dem Boden stiege. Bis zu ihrer Fertigstellung werden aber noch Jahre verfliessen und manche Hindernisse zu überwinden sein. Eines derselben drohte schon jetzt gradezu verhängnissvoll zu werden. Ein edles Volk pflegt gern die Stätten wissenschaftlicher und künstlerischer Bildung. Es ehrt sich in ihnen. Nach diesem Grundsatz hat das Sächsische Volk vertreten durch seine Kammern stets gehandelt, und mit tiefem Danke hat die Universität dies stets empfunden. So durften wir zuversichtlich hoffen, dass die Stände des Landes ihrer Tradition getreu die nicht unbeträchtlichen Mittel zu dem neuen unentbehrlichen Auditorienhause – das Gebäude an der Universitätsstrasse möchte die Universität auf eigne Kosten bauen – bewilligen würden, falls die Finanzlage des Landes ihnen dies möglich erscheinen liesse. Aber angesichts des Rückganges der Staats-Einnahmen entstanden in vorgerückter Stunde bei der Hohen Landesregierung zuerst Zweifel, ob diese Forderung in den Etat eingestellt werden dürfte, dann die Gewissheit, dass dies nicht zu geschehen hätte. Der so wichtige Bau sollte um volle 2 Jahre verschoben werden. Da kam in elfter Stunde die rechte Hülfe – der Senat hat dafür dem Rentmeister der Universität seinen besonderen Dank votirt –, und jetzt dürfen wir wieder hoffen, dass mit Genehmigung der Hohen Stände aber ohne jede Belastung des Etat für diese Etatperiode der Bau im nächsten Sommer beginnen kann. 523

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Aber nicht nur die Pläne für unser künftiges Heim haben uns lebhaft beschäftigt, sondern auch die Umgestaltung eines grossen Teiles unseres Statutar-Rechtes. Seit langer Zeit bedurfte das Statut für die allgemeine Witwen- und Waisenkasse der Universität einer tiefgreifenden Umgestaltung, die in diesem Jahre erfolgt ist. Die Pensionen für einen Teil der Witwen erschienen ganz ungenügend, WaisenPensionen fehlten ganz, sofern die Mutter noch am Leben war, die Beitragspflicht der Mitglieder musste gerechterweise fallen, nachdem die gleiche Vergünstigung den Staatsdienern zu Teil geworden war. Leider reichen die Bestände unsrer Kasse zur Bestreitung dieser vermehrten Ausgaben nicht aus: die Reform ist nur mit Hülfe des Staates durchzuführen. Neben dieser Allgemeinen Pensionskasse soll aber eine neue Kasse: „die Hülfsund Töchter-Pensions-Kasse“ treten. Sie soll zum Teil aus Stiftungs-Einkünften zum andern Teil aus Beiträgen der Mitglieder gespeist werden, und drei Zwecken dienen: der dauernden Erhöhung der immer noch bescheidenen Witwen- und WaisenPensionen, der einmaligen Unterstützung der Angehörigen von Professoren in besonders durch Krankheit derselben hervorgerufenen acuten Notfällen, endlich zu dem Zweck, volljährigen unverheirateten Töchtern und erwerbsunfähigen Söhnen von Professoren eine Pension auf Lebenszeit zu gewähren. Werden auch die Mittel dieser Kasse, also auch ihre Leistungen, zu Anfang nur klein sein, so hoffen wir doch, dass dieselben mit der Zeit sich steigern: denn die Zwecke der neuen Anstalt sind gut, der Teilnahme würdig, und der gute Zweck ermangelt nur selten der Anziehungskraft auf die Mittel, deren er zu seiner Durchführung bedarf. Auch das Statut dieser Kasse liegt fertig. Die Revision der allgemeinen Witwen- und Waisenkasse zog eine solche für das Statut der Pensionskasse für die Unterbeamten notwendig nach sich. Auch sie ist vollendet. Bei diesen Arbeiten ergab sich, dass das Recht für unsere Universitäts-Beamten überhaupt, besonders aber für die Beamten der Bibliothek bedauerlich unsicher und lückenhaft ist. Es machte sich notwendig dem Universitätsstatut einen neuen Abschnitt zuzufügen über das Recht der Beamten. Diese vier Statuten haben erfreulicherweise die Genehmigung des hohen Ministeriums, dessen Entgegenkommen auch in diesen für die Universität so wichtigen Angelegenheiten gar nicht genug gerühmt werden kann, schon gefunden. Drei davon bedürfen aber in einzelnen wichtigen Bestimmungen der ständischen Genehmigung. Wir hoffen zuversichtlich, dass dieselbe den billigen Satzungen gern gewährt werden wird: dann treten am 1. April 1892 diese vier Statuten gleichzeitig in Geltung, das revidierte Statut für die allgemeine Witwen- und Waisen-Kasse zum Segen der Witwen und Waisen, die wir jetzt schon besitzen, mit rückwirkender Kraft. Dass die Pläne des Neubaues so weit gediehen, ist zum grossen Teil, dass die Statuten fertig gestellt sind, ist fast ganz das Verdienst des akademischen Senates. Es drängt mich in dieser Stunde und an diesem Orte dem hohen Senate für seine mühevolle Tätigkeit meinen tiefsten Dank zu sagen und meiner Freude über seine Einmütigkeit Ausdruck zu geben. Waren doch unsere Beschlüsse fast alle einstimmig 524

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gefasst! Die schöne Zeit des Zusammenwirkens mit den verehrten Kollegen zum Wohle unsrer geliebten alma mater wird mir unvergesslich sein. Ich wende mich nun zu der Bewegung in dem Kreise unserer Lehrer. Stark hat der Tod unsere Reihen gelichtet. In der Nacht vom 23. zum 24. November vorigen Jahres entriss er uns als Ersten den Geh. Medicinalrat Professor Dr. Ernst Adolf Coccius, einen edlen liebenswürdigen Mann, mit Leipzig wie nur Wenige von uns verwachsen. Am 19. September 1825 zu Knautheim geboren besuchte er in Leipzig Gymnasium und Hochschule. Hier übernahm er nach absolvirten grösseren Reisen 1849 die Stelle eines Hausarztes an der Heilanstalt für arme Augenkranke, und habilitirte er sich im Winter 1850/51 als Docent der Augenheilkunde, um 40 Jahre lang unserer Universität treu zu bleiben. Im Jahre 1857 wurde er zum Extraordinarius befördert, 1867 zum Ordinarius, und in demselben Jahre übernahm er nach Ruetes Tod die Leitung der Augenheilanstalt hiesiger Stadt. Coccius war nicht nur ein vielgesuchter Augenarzt von grossem Rufe, sondern auch ein von seinen Schülern hochgeehrter Lehrer und ein ideenreicher Forscher. Seine bedeutendsten Arbeiten liegen im Bereiche der physikalisch- und physiologisch-optischen Untersuchungen. Am 27. Dezember vorigen Jahres starb hochbetagt in seinem achtzigsten Lebensjahre der ausserordentliche Professor der Rechte Woldemar von Frege, nachdem er tatsächlich schon seit langer Zeit aus dem Kreise der Lehrer unserer Hochschule geschieden war. Ein wahrhaft tragisches Geschick entriss uns am 8. Januar 1891 zu Charlottenburg den Privatdozenten für allgemeine Sprachwissenschaft Dr. Friedrich Techmer – einen kraft seiner gründlichen naturwissenschaftlichen Bildung um die Laut-Physiologie sehr verdienten Forscher. Ihm folgte am 28. Januar der emeritirte ordentliche Honorar-Professor Dr. phil. Wilhelm Knop, geboren am 23. Juni 1817 zu Altenau am Harz. Nachdem er Assistent von Wöhler in Göttingen, Gmelin in Heidelberg und Erdmann zu Leipzig gewesen war, habilitirte er sich hier 1853 als Docent der Chemie, wurde 1856 Vorstand der ersten deutschen landwirtschaftlichen Versuchs-Station in Möckern, Ende 1861 ausserordentlicher Professor für Agrikultur-Chemie zu Leipzig, 1870 ordentlicher Honorar-Professor daselbst. Der liebenswürdige Gelehrte hat sich besonders durch seine Forschungen über die Pflanzen-Ernährung und die Natur des Ackerbodens ausgezeichnet. Am 30. März starb nach langer Krankheit der ordentliche Professor der Botanik Geh. Hofrat Dr. August Schenk. Im Jahre 1815 in Hallein geboren, studirte er wesentlich in München, wo er sich auch 1837 habilitirte. Von dort 1848 als ausserordentlicher Professor nach Würzburg berufen wurde er dort 1850 zum ordentlichen Professor ernannt. Er folgte 1868 dem Rufe nach Leipzig. Schenk war ein Mann von grosser wissenschaftlicher Energie, die auch später seine schwere langwierige schmerzhafte Krankheit nicht brechen konnte. Noch auf dem Krankenlager vollendete er ein grosses zusammenfassendes Werk über die Flora der Vorwelt, wie denn die fossilen Pflanzen seit 1858 das vornehmste Gebiet seiner Studien gebildet hatten. Unter Schenks Leitung vollzog sich die Verlegung des alten und die Gründung des 525

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neuen botanischen Gartens, sowie die Erbauung des neuen grossen botanischen Institutes. Die nun folgenden fünf Monate raubten einer einzigen Sektion der philosophischen Fakultät drei ihrer ersten Koryphäen: am 31. Mai 1891 starb Anton Springer, am 18. August Georg Voigt, in der Nacht vom 14. zum 15. Oktober Friedrich Zarncke – drei vornehme hochgestimmte Naturen, Alle grossherzig, dem Kleinen und Gemeinen abhold. Der Älteste von ihnen, Friedrich Zarncke, war am 7. Juli 1825 als Sohn des feingebildeten Pastors zu Zahrenstorf in Mecklenburg geboren, der genau um eine Woche jüngere Anton Springer kam als Sohn eines Klosterbräuers in Prag zur Welt, Georg Voigt ist am 5. April 1827 als Sohn des berühmten Historikers in Königsberg geboren. Alle drei sind deutsche Männer der edelsten Art gewesen, auch Springer. In seiner reizvollen Selbstbiographie, die uns nächstens im Druck geschenkt werden wird, sagt er zu Anfang von sich: „Als Österreicher bin ich geboren, als guter Deutscher beschliesse ich mein Leben; als Katholik bin ich getauft, als ehrlicher Protestant – sterbe ich; eine slavische Mundart war meine Muttersprache, in der Geschichte der deutschen Wissenschaft hoffe ich ein kleines Plätzchen mir erobert zu haben.“ Was Zarncke und Voigt durch Geburt waren, das ist Springer durch Wahl geworden. Und er hat es nicht leicht gehabt dies zu werden. Not und Entbehrung, heisser und langdauernder Kampf, viel Hass und Verleumdung sind ihm auf seinem Wege zu diesem Ziele nicht erspart geblieben. Allen drei Männern ist die gleiche Weite des wissenschaftlichen Blickes eigentümlich gewesen, die sich bei allen dreien mit der grössten Akribie der Detailforschung verband. War Zarnckes Spezialgebiet die Literatur der mittelhochdeutschen Periode und der Reformationszeit, so pflegte er doch nicht minder die Universitätsgeschichte, besonders die Geschichte der Universität Leipzig, deren bester Kenner er neben Georg Voigt war, und ebenso war er ein Meister der Goetheforschung. Daneben beherrschte er die Literaturgeschichte aller Kulturvölker. Er verstand aber die wissenschaftliche Bewegung überhaupt. Mit ebenso grossem Mut wie Geschick organisirte er 1850 in dem „Literarischen Centralblatt“ das erste Organ einer fortlaufenden Gesamtkritik über dieselbe, und über 40 Jahre lang ist er der verantwortliche Herausgeber dieses Blattes geblieben. Die Historiker Springer und Voigt gehörten noch zu den Geschichtsforschern grossen Stils, die uns nicht verloren gehen dürfen, welche Mut und Kraft haben das Buch der Weltgeschichte zu lesen, wo sie es aufschlagen. Voigt hatte – wie sein Freund Zarncke an Voigts Sarg sagte, – besonders „jene gewaltige Zeit gepackt, in der die Mächte des Mittelalters mit dem neubelebten Geiste der alten Kulturwelt den Kampf zu bestehen hatten – die Geburtsstunde des modernen Geisteslebens“. Daneben las er mit Vorliebe über alte Geschichte. Anton Springer aber hat nicht nur die Geschichte Österreichs im 19. Jahrhundert und Dahlmanns Biographie geschrieben, sondern er war schon lange vorher der Schöpfer einer exakten Kunstgeschichte geworden, deren ganzer Verlauf klar vor seinen Augen stand, die er mit zahlreichen trefflichen Abhandlungen und mit den monumentalen Werken über Rafael und Michelangelo und über seinen grossen 526

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deutschen Liebling Albrecht Dürer beschenkt, der er auch die Vertretung an deutschen Hochschulen erobert hat. War Georg Voigt mehr eine reine Gelehrtennatur feinster liebenswürdigster Art, so haben Zarncke wie Springer auch fest in das praktische Leben eingegriffen, Springer vorzugsweise als politischer Kämpfer und zwar der Hauptsache nach vor seiner Leipziger Zeit, Zarncke trotz seines deutschen Herzens und seines warmen politischen Interesses mehr am Leben seiner lieben Stadt Leipzig und seiner noch mehr geliebten Universität beteiligt. In grosser schwerer Zeit stand er an ihrer Spitze als ihr unvergesslicher Rektor, er war in den Ferien sozusagen ihr Prorektor perpetuus, er war der Kenner und der Hüter ihrer Tradition, der Vertrauensmann Aller Kollegen, ihr treuer williger Helfer! Voigts Vorträge waren eben so fein in der Anlage wie im Ausdruck, die Zarnckes lebhaft und ungemein anregend, Springer war ein Redner von Gottes Gnaden, geistvoll, feurig, packend, überwältigend. Sie waren unser: Zarncke schon seit 1852, in welchem Jahre er sich hier habilitirte, Voigt seit 1866, Springer seit 1873! Noch wissen wir nicht ihren Verlust zu tragen! Diesen Verlusten durch den Tod schliessen sich die Andern an, welche die Universität durch Berufungen von Mitgliedern nach Aussen erlitten hat. Von den ordentlichen Professoren ist nun Geh. Hofrat Dr. Lujo Brentano – und zwar nur aus Gründen familiärer Natur – einem Rufe nach München gefolgt. Von den ausserordentlichen Professoren sind berufen Professor Dr. Richard Schmidt als ordentlicher Professor der Rechte nach Freiburg im Breisgau, der Professor der Chemie Dr. Ernst Beckmann als ausserordentlicher Professor nach Giessen. Von den Privatdocenten ist Dr. Lotz als ausserordentlicher Professor der NationalOekonomie nach München gegangen, Dr. Wenzel hat auf seine venia legendi für Sanskrit verzichtet, Dr. Schirmer, Docent für die Englische Sprache, ist an die Universität Zürich übergesiedelt. Diesen Verlusten steht ein reichlicher Zuwachs an neuen Kräften gegenüber. Herzlich begrüssen wir zuvörderst die vier Neuberufenen! Am 22. Dez. 1890 wurde der Professor Dr. Adolf Birch-Hirschfeld in Giessen an Stelle des verstorbenen Dr. Adolf Ebert zum ordentlichen Professor der Romanischen Sprachen an hiesiger Universität ernannt. An Stelle des erkrankten Geh. Rat Voigt wurde unter dem 27. Dez. 1890 der Professor Dr. Karl Lamprecht in Marburg zum ordentlichen Professor der Geschichte an der Universität Leipzig ernannt. Zu Coccius Nachfolger ist am 27. Januar 1891 der bisherige ordentliche Professor der Augenheilkunde zu Prag, Dr. Hubert Sattler ernannt worden, zum Nachfolger Brentanos unter dem 26. Juni / 01. Juli l. J. der bisherige ordentliche Professor der Nationaloekonomie zu Wien Dr. von Miaskowski. Möchten sich die verehrten Herrn Kollegen bei uns bald heimisch fühlen und an unsrer Hochschule heimisch bleiben! Als Privatdocenten haben sich habilitirt in der Juristenfakultät Dr. Karl Eugen Rieker aus Urach, in der medizinischen Facultät die Doktoren Karl Werner Spalteholz, Wilhelm His, Ernst Romberg, Franz Windscheid, Karl Hess, in der philoso527

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phischen Fakultät die Doktoren Hermann Hucho für Landwirtschaft, Gerhard von Schulze-Gaevernitz für National-Oekonomie, Heinrich Schurtz für Geographie, Theodor des Coudres für Physik, Hermann Hirt für Indogermanische Sprachwissenschaft, Max le Blanc für Chemie, Georg Scheffers für Mathematik. Dieser jungen Gelehrten freuen wir uns und wir wünschen ihnen den besten Erfolg! Innerhalb unsres Lehrkörpers sind im Laufe dieses Jahres befördert worden der ausserordentliche Professor der Theologie Lic. theol. Dr. phil. Caspar René Gregory zum ordentlichen Honorar-Professor, in der medizinischen Fakultät die Privatdocenten Dr. Julius Schröter, Dr. Max Sänger und Dr. Theodor Kölliker zu ausserordentlichen Professoren, desgleichen in der philosophischen Fakultät die Doktoren Johannes Felix und Walter Koenig. Auch in diesem Jahre hatte die Universität Anlass zu froher Teilnahme an Ereignissen ausserhalb derselben und fühlten ihre Fakultäten sich gedrungen grosse Verdienste in akademischer Weise zu ehren. Als die das ganze Land zu heller Freude stimmende Kunde von der Verlobung Sr. Königlichen Hoheit des Prinzen Friedrich August – unsres erlauchten früheren Kommilitonen – mit der Erzherzogin Louise Antoinette Maria von Toscana an uns gelangte, hat die Universität den Prinzen telegraphisch von ganzem Herzen beglückwünscht und der Prinz dankte der alma mater aufs Freundlichste von Lindau aus. Am 10. Nov. vorigen Jahres überbrachte der Rector in Begleitung des Ordinarius und des Decans der Juristenfakultät, der Doktoren Windscheid und Wach, sowie des Geh. Rats Dr. Kuntze dem ehrwürdigen, der Universität stets so überaus wolwollenden ersten Präsidenten des Reichsgerichts Dr. von Simson Excellenz die herzlichsten Glückwünsche der Universität zu seinem 80. Geburtstage. Mit grossem Bedauern haben wir inzwischen den edlen Mann aus unsrer Mitte scheiden sehen, aber wir leben der Hoffnung, dass das gute Verhältniss zwischen dem ersten Gerichte des Reichs und unsrer Universität ein durchaus freundnachbarliches bleiben werde! In den Pfingsttagen dieses Jahres feierte die jüngste Universität der Welt, die Universität Lausanne, ihr Geburtsfest. Bei dieser überaus gelungenen Feier an den schönen Ufern des Genfer Sees war die Universität Leipzig durch ihren Rektor und durch den Dekan der philosophischen Fakultät, Professor Ratzel, vertreten. Die Aufnahme der deutschen Deputationen überhaupt und der Leipziger Deputation insbesondere war die denkbar aufmerksamste. Die Universitäten sind in der glücklichen Lage durch ihre Fakultäten einen besonderen Verdienstorden verleihen zu können: den doctor honoris causa. Diesen doktor honoris causa hat im verflossenen Jahr verliehen die theologische Fakultät: Sr. Excellenz dem Herrn Staatsminister Hermann von Nostiz-Wallwitz zu Dresden, dem Pastor Wilhelm Walter in Cuxhaven, Sr. Excellenz dem Herrn Präsidenten des Evangel.-Lutherischen Landeskonsistorium Dietrich von Berlepsch in Dresden; die medizinische Fakultät: dem Wundarzt und Geburtshelfer Friedrich Wilhelm Bernhart in Oschatz. 528

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Auch in diesem Jahre hat die Universität für grossmütig ihr zugewandte Stiftungen zu danken. Unser unvergesslicher Kollege Dr. Franz Delitzsch hat seiner geliebten theologischen Fakultät 8200 M. vermacht zur Begründung zweier Stipendien für arme Theologen hiesiger Universität. Ferner ist der theologischen Fakultät seitens des Erben des Prof. Dr. Hölemann, des Anstaltsgeistlichen Pastor Taubert zu Zwickau in Ausführung eines Wunsches des Verstorbenen dessen Haus im Wert von 25 000 M. zugewendet worden; die Erträgnisse des Hauses sind gleichfalls für Studirende der Theologie an hiesiger Universität zu verwenden. Gedenke ich endlich der Körperschaft, für welche die Universitäten alle da sind, der Studentenschaft, so kann ich Erfreuliches berichten. Die Frequenz war günstig. Sie belief sich im vorigen Wintersemester auf 3458 gegen 3453 im Winter 1889/90; im vorigen Sommersemester auf 3242, nämlich 1635 Sachsen und 1607 NichtSachsen, gegen 3177 im Sommer 1890. Vom 1. Juni bis 30. Oktober 1891 haben die Universität verlassen 624 Studirende, in derselben Zeit wurden immatrikulirt 767 Studirende. Dies ergiebt für den heutigen Tag einen Bestand von 3385 Studirenden gegen 3359 am 30. Oktober 1890. Leider haben wir im Laufe des letzten Jahres zehn Studirende durch den Tod verloren und somit reiche Hoffnungen begraben müssen. Die Führung unserer Studentenschaft war guter Tradition entsprechend. Einzelne bedauerliche Abweichungen bin ich nicht geneigt nach neuer Sitte auf eine Kollektivschuld der Gesamtheit zurückzuführen. Ganz besonders hatte der Rektor Grund sich des festen Vertrauens zu erfreuen, das in Leipzig seit langer Zeit von der Studentenschaft ihren Lehrern geschenkt wird. Was ich im Interesse unsrer Studentenschaft bedaure, ist der Mangel einer Gesamt-Organisation. Zwar hat die Studentenschaft einmütig auf zwei allgemeinen Komersen den 18. Januar gefeiert, aber in Lausanne beispielsweise fehlte leider die offizielle Vertretung der Leipziger Studentenschaft, und den Grund dieser Abwesenheit konnten wir den dortigen Herrn nur schwer deutlich machen. Nachdem unser Vaterland politisch Eins geworden ist, nachdem Sie, deutsche Kommilitonen, Alle berufen sind durch die Reihen desselben Heeres zu gehen, ist jener Mangel ein Anachronismus geworden! Streifen Sie ihn nach guten Vorbildern ab! ***

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Justus Hermann Lipsius (1834–1920)

31. October 1891 Rede des antretenden Rectors Dr. phil. Justus Hermann Lipsius. Die Aufgaben der classischen Philologie in der Gegenwart. Hochansehnliche Versammlung! Wenn nach der guten Sitte unserer Hochschule der neuantretende Rector sich einzuführen hat durch einen Vortrag über eine wissenschaftliche Frage, welche ein allgemeineres Interesse in Anspruch nehmen darf, so ist für mich besondere Veranlassung gegeben mit der Wahl des Gegenstandes, für den ich auf kurze Zeit Ihre Aufmerksamkeit mir erbitte, in den Mittelpunkt meiner Wissenschaft hineinzugreifen. Zum zweiten Male in drei Jahren, in welchen dem Herkommen gemäss ein Mitglied der philosophischen Facultät an die Spitze der Universität zu berufen war, ist die Wahl der Universitätsversammlung auf einen Vertreter der classischen Philologie gefallen, und wenn ich auch nicht glaube meine Wahl ausschliesslich oder auch nur vorzugsweise der Wissenschaft zu verdanken, deren Lehre mir im Verein mit zwei hochgeehrten Collegen übertragen ist, so darf ich in ihr doch den unzweideutigen Ausdruck der Werthschätzung erkennen, welche diese Wissenschaft im Kreise unserer Hochschule geniesst und deren sich zu freuen sie volle Ursache hat. Denn in höherem Grade, als irgend eine andere akademische Disciplin, sieht die classische Philologie sich einer schiefen oder geradezu verkehrten Beurtheilung, einer Verkennung ihrer Ziele und Aufgaben ausgesetzt, an welcher gerade der Umstand einen wesentlichen Antheil hat, dass ihre Thätigkeit demselben Gebiete zugewandt ist, welchem die auf die Universität vorbereitenden Lehranstalten ihren vornehmsten Unterrichtsstoff entnehmen. Die Aufgaben der classischen Philologie in der Gegenwart denke ich darum einer raschen Betrachtung zu unterwerfen, die ohne Anspruch auf erschöpfende Vollständigkeit oder auf Neuheit der Gesichtspunkte vornehmlich solche Seiten unserer Thätigkeit in helleres Licht zu stellen bezweckt, an welche Vorurtheil und Missverständniss am leichtesten ansetzt. Der gefeiertste philologische Lehrer, den unser Jahrhundert gesehn, in dem unsere Hochschule über ein volles Menschenalter ihre glänzendste Zierde verehrt hat, G. Hermann hat in Theorie und Praxis die Ueberzeugung vertreten, welche mehr oder weniger bewusst die wissenschaftliche Arbeit schon langer Generationen 531

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vor ihm bestimmt hatte, und zu der noch heute sich nicht wenige Fachgenossen bekennen, dass das Ziel unserer Wissenschaft aufgehe in allseitigem Verständniss der Denkmale der classischen Litteratur, die Aufgabe des Philologen also in Exegese und der mit ihr unlösbar verschwisterten Kritik beschlossen sei, denen die Kenntniss der Sprache und ihrer Gesetze in gebundener und ungebundener Rede das unerlässliche Rüstzeug liefere. Aber seitdem die Wiedererweckung des classischen Alterthums den Anbruch einer neuen Zeit vorbereitet hat, haben alle Culturvölker in einander ablösendem Wetteifer an der Aufgabe mitgearbeitet, die litterarische Hinterlassenschaft der Griechen und Römer von den Entstellungen zu befreien, welche sie in den langen Jahrhunderten schriftlicher Fortpflanzung durch Schuld der Abschreiber oder durch äussere zerstörende Einflüsse erfahren hat, und ihr Verständniss nach Form und Inhalt sicher zu stellen. Sollte da, so fragt man, die Arbeit von nahezu einem halben Jahrtausend nicht ausgereicht haben, die Aufgabe insoweit zu lösen, dass der jetztlebenden Generation nicht mehr als bescheidene Nacharbeit verblieben wäre? Solcher Frage gegenüber darf zunächst an die Thatsache erinnert werden, dass gerade im letzten Jahrhundert unser Besitzstand an Denkmalen der antiken Litteratur eine sehr erhebliche Bereicherung erfahren hat. Durch Wiederbelebung ausgetilgter Schrift auf Pergamenten, die zum anderen Male beschrieben waren, sind, um nur Hauptsächlichstes herauszuheben, Ciceros Bücher vom Staate, die jedem Juristen vertrauten Institutionen von Gaius, die für das Zeitalter der Antonine überaus charakteristischen Schriften des Fronto, wenn auch alle mehr oder weniger verkürzt, uns wiedergewonnen worden; aus den erst zum Theil entzifferten Papyrusrollen der in Herculaneum aufgegrabenen Bibliothek sind zahlreiche Lehrschriften der epikureischen Schule zu Tage gefördert, die ihrer vollen Ausbeutung noch immer harren, aus ägyptischen Grabkammern sind von dem geist- und anmuthreichsten Redner des alten Athen, von Hypereides allmählig sechs Reden wiedererstanden und dem Jahre 1891 war das besondere Glück beschieden aus gleicher Quelle in Aristoteles unschätzbarem Buche vom Staate der Athener uns eine überaus reichhaltige Fundgrube sicherer Belehrung über Geschichte und Verfassung dieses einzigen Staatswesens zu erschliessen und gleichzeitig in den Mimiamben des Herodas eine interessante Schöpfung der alexandrinischen Cultur kennen zu lehren, deren poetische Eigenart bis dahin dunkel geblieben war. Ein ausgiebiges Forschungsmaterial ist mit diesen Funden unserer Wissenschaft zugewachsen, und wer weiss, mit welchen weiteren Spenden uns vielleicht schon eine nahe Zukunft überraschen wird. Aber auch gegenüber der überwiegenden Masse längst bekannter Schriftwerke ist die erste Pflicht unserer Wissenschaft bisher nur zu einem Theile erfüllt, die Pflicht ihren Text soweit möglich genau in der Gestalt wieder herzustellen, die er aus den Händen ihrer Verfasser empfangen hatte. Als man gegen Ende des funfzehnten Jahrhunderts daran ging die durch den Eifer begeisterter Sammler aufgespeicherten Schätze des antiken Schriftthums in rascher Folge durch die junge Typenkunst weiten Kreisen zugänglich zu machen, da waren es nur zu oft späte und minderwerthige Handschriften, die in die Druckereien wanderten, weil sie dort gar leicht zu Schaden kamen, und nur zu rasch war man wenigstens lateinischen 532

Antrittsrede 1891

Autoren gegenüber bei der Hand, sowie die ersten Humanisten es bei der Vervielfältigung durch die Schrift geübt, so jetzt bei der Vervielfältigung durch den Druck wirkliche oder vermeintliche Fehler der Ueberlieferung mit mehr oder weniger geschickter Hand zu bessern, um dem Buche den vor allem erstrebten Vorzug leichter Lesbarkeit zu sichern. Der einmal durch den Druck fixirte Text aber bildete für die späterkommenden Ausgaben die bleibende Grundlage, an der man in der Regel nur in Kleinigkeiten besserte. Nur in Ausnahmefällen war man um ausgiebige Heranziehung neuer handschriftlicher Hülfsmittel bemüht, und noch seltener war der Fall, dass man von einer besseren Abschrift den rechten Nutzen zu ziehen verstand, weil man die Handschriften nicht abwog, sondern zählte. So hat bei einer Menge von Autoren eine Textgestaltung in langer Reihe von Ausgaben bis in unser Jahrhundert hinein sich fortgeerbt, die nur ein abgeblasstes oder verwischtes Abbild des Originals darbietet, nicht selten unter dem trügerischen Scheine äusserlicher Glätte. Erst seit dem Vorgang Immanuel Bekkers haben wir es als unerlässliche Pflicht des Kritikers gelernt, die handschriftliche Ueberlieferung seines Schriftstellers in möglichster Vollständigkeit heranzuziehen, das Verhältniss der einzelnen Abschriften zu einander soweit thunlich festzustellen und ihren Werth sorgfältig abzumessen, um damit eine verlässige Grundlage für eine authentische Textgestaltung zu gewinnen, für welche auch die anderweite, indirecte Ueberlieferung gewissenhaft auszubeuten ist. Es bedarf einer gewaltigen Summe energischer Leistung und der Betheiligung zahlreicher Kräfte, um diese unentbehrliche Arbeit an der Gesammtheit des antiken Schriftthums durchzuführen. Wohl ist die Lösung der Aufgabe erleichtert durch erhöhte Zugänglichkeit der Bibliotheken und allgemeinere Verbreitung der Kunst Handschriften zu lesen, welcher die zu einer besonderen Disciplin ausgebildete Paläographie mit allen Mitteln moderner Reproductionskunst sich dienstbar macht. Aber dennoch ist die Zahl auch vielgelesener Autoren nicht gering, denen die Wohlthat solcher methodischen Kritik noch nicht zu Theil geworden ist. Grossen Gruppen von Schriftstellern gegenüber reichen Kraft und Mittel des Einzelnen überhaupt nicht aus. Hohe Verdienste und nicht allein um unsere Wissenschaft haben sich darum die Akademien von Wien und Berlin erworben durch die grossen Sammlungen der lateinischen Kirchenschriftsteller und der Aristotelescommentare, denen sich bald die älteren Kirchenschriftsteller griechischer Zunge anreihen sollen. Aber dringende Aufgaben warten auch hier noch ihrer Inangriffnahme, am dringendsten wohl die Herstellung eines neuen auf der Höhe heutiger Wissenschaft stehenden Corpus der byzantinischen Geschichtsschreiber, das der Würdigung und Verwerthung einer vielfach unterschätzten Litteratur erst den rechten Boden zu bereiten hat. Vielleicht ist die Hoffnung nicht zu vermessen, dass auch unserer sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften vergönnt sein wird an der Lösung solcher Aufgaben ihren Antheil zu nehmen. Aber mit dem Geschäfte, das ich eben bezeichnete, ist die Arbeit des Kritikers erst zur leichteren Hälfte gethan. Im glücklichen Falle ist ihm damit gelungen die verlorene Handschrift wieder herzustellen, auf welche die erhaltenen Abschriften seines Autors in grösserem oder geringerem Abstande zurückgehn; aber jene Urhandschrift selbst liegt in den meisten Fällen Jahrhunderte hinter der ersten Nieder533

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schrift des Textes zurück, die selbst wieder bei den ältesten Erzeugnissen der hellenischen Poesie durch weiten Zwischenraum von der Zeit ihrer Entstehung getrennt ist; und wie frühzeitig schon Entstellungen aller Art in die Werke der griechischen Classiker eingedrungen sind, das hat eine Reihe neuerlicher Funde von Papyrus aus dem Anfange unserer Zeitrechnung gelehrt, in denen Partien der verschiedensten Schriftsteller genau mit den gleichen Fehlern behaftet vorliegen, wie in unsern sonstigen um ein Jahrtausend und darüber jüngern Manuscripten. Solche Schäden zu heilen vermag die Kritik nur aus eigenen Mitteln. Aber um den verloren gegangenen Originaltext wiederzugewinnen, müssen genaueste Kenntniss des allgemeinen und individuellen Sprachgebrauchs, eindringendes Verständniss der Gedankengänge, volle Vertrautheit mit den geschichtlichen Voraussetzungen in Einem zusammenwirken, und den schwierigeren Problemen dieser divinatorischen Kritik wird zuletzt nur eine Congenialität mit dem Autor gerecht, die seine Gedanken nachdenkend neu zu erzeugen weiss. Dann aber gelangt sie zu Ergebnissen, deren unumstössliche Sicherheit nicht allein unmittelbar einleuchtet, sondern nicht selten auch vollkommen exact sich beweisen lässt. In dem Nachlass eines griechischen Redners, den ich kürzlich herausgegeben, ist von den paar hundert Stellen, an denen die Hand des Redners nur in den erst von Bekker und mir benutzten Abschriften bewahrt ist, bei der vollen Hälfte das Richtige schon durch den Scharfsinn früherer Kritiker gefunden, bei der Mehrzahl dieser Stellen wieder durch den einen grossen Leipziger Gräcisten des vorigen Jahrhunderts J. J. Reiske, dem die schuldige Dankespflicht durch würdige Publication seiner zerstreuten Hinterlassenschaft erst noch abgetragen werden soll. Nicht überall freilich wird die kritische Thätigkeit von gleichem Gelingen gekrönt; je entstellter die Textüberlieferung, je höher der Gedankenflug, je origineller die Ausdrucksweise eines Schriftstellers ist, desto weniger wird es auch vereinten Anstrengungen leicht, seinem Werke allenthalben die ursprüngliche Gestalt zurückzugeben. Um die Lücken im Festus auszufüllen, die verderbten Chorgesänge der äschylischen Tragödien wieder lesbar zu machen, dazu bedurfte es eines Joseph Scaliger, eines Gottfried Hermann. Aber der erste Theil der Arbeit lässt sich überall mit mindestens annähernder Sicherheit leisten, dies erste, dass man die Diagnose richtig zu stellen weiss, ob die Ueberlieferung heil ist oder der Heilung bedarf, und nur ein vielfach mit der kritischen Kunst getriebener Missbrauch hat ein scheinbares Recht zu dem Vorurtheil gegeben, als sei sie nichts als ein geistreiches Spiel, ich meine den leider auch heute noch nicht völlig überwundenen Unfug, die alten Texte ohne sichere Diagnose eines Schadens zum Tummelplatze von Conjecturen zu machen, die im besten Falle nur zeigen, was der Autor schreiben konnte, niemals was er geschrieben hat. Aber solchem Uebel muss und kann gesteuert werden durch strenge Schulung in methodischer Arbeit, wie wir sie in unsern philologischen Seminaren üben, und wenn wir dabei lehren bis ins Kleine genau zu sein, wenn die Herausgeber es sich angelegen sein lassen, bis in die Aeusserlichkeiten der Orthographie authentische Texte zu geben, so soll man solches Bemühn nicht der Kleinmeisterei zeihen, oder gar Philologie und Mikrologie als verwandte Begriffe ansehn, solange wir nicht über der Schale den Kern aus dem Auge verlieren, über dem Mittel nicht den Zweck vergessen. 534

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Denn alle Kritik kann nimmermehr Selbstzweck sein, sondern stets nur dem höheren Zwecke dienen, ein Schriftwerk in gesicherter Gestalt zum ungehinderten Verständniss darzubieten. Die Kunst des Verstehens und Erklärens aber ist unendlich wie alle Kunst. Nur für die sprachliche Exegese ist ein Abschluss dahin denkbar, dass durch vollkommenste Vertrautheit mit dem allgemeinen und speciellen Sprachgebrauch jeder Zweifel über den Wortsinn ausgeschlossen wird. Aber anders ist es schon um die geschichtliche Interpretation bestellt, anders vollends um die höhere Hermeneutik, die man zu eng als die rhetorische oder technische bezeichnet. Anders liest der Knabe seinen Horaz, anders der Mann, und das Gleiche gilt von den Generationen der Völker. Erst die Blüthe der deutschen Litteratur am Ausgang des vorigen Jahrhunderts hat uns ein wahrhaftes Verständniss für die griechische Poesie erschlossen und unsere grossen Dichter haben damit dem classischen Alterthum vollwichtigen Dank erstattet für die tiefgehenden Anregungen, die sie selbst von ihm empfangen. Erst das Wiedererwachen des Interesses am Staate und des geschichtlichen Sinns im deutschen Leben hat uns den rechten Massstab für die Würdigung der antiken Historiker an die Hand gegeben, und erst seitdem wir selbst eine öffentliche Beredsamkeit besitzen, haben wir gelernt die Reden der grossen Meister von Athen und Rom bis in das Detail ihrer Composition hinein zutreffend zu beurtheilen. So verjüngt und vertieft sich mit dem Fortschritte der eigenen Culturentwicklung unser Verständniss der alten Litteratur, und an lohnenden Aufgaben kann es dem Interpreten auf absehbare Zeit um so weniger mangeln, je ausgeprägtere Vorliebe die wissenschaftliche Philologie unserer Tage für die kritische Arbeit bethätigt. Kritische Sammlung des Materials ist ja überhaupt die Signatur, welche die Richtung der Gegenwart auch auf dem Gebiete anderer Geisteswissenschaften bezeichnet, und wenn an dieser Richtung eine gewisse Einseitigkeit nicht zu verkennen ist, so darf sie doch das Verdienst in Anspruch nehmen, den unentbehrlichen Grund zu legen für die weitere Arbeit. Aber die Auffassung der classischen Philologie, von welcher ich vorhin ausging, darf nicht mehr die unsere sein. Uns ist Philologie die Wissenschaft vom antiken Leben in allen seinen Aeusserungen, wie sie bereits Scaliger vor der Seele gestanden, wie sie Wolf zuerst mit begrifflicher Schärfe gefasst und Böckh zu der Geschlossenheit eines einheitlichen Systems durchzubilden versucht hat. Glaube und Sitte, Kunst und Wissenschaft des classischen Alterthums suchen wir mit unserer Forschung zu reproduciren, nicht wie G. Hermann wollte, als Hülfsmittel zum Verständniss der litterarischen Denkmale, sondern als Manifestationen des antiken Geistes. Nur durch die stete Beziehung auf dieses ihr eigentliches Ziel gewinnen die philologischen Disciplinen ihre wissenschaftliche Legitimation, nur dadurch haben auch Antiquitäten und Mythologie aufgehört dürre Aggregate todten Stoffs zu sein und sind ebenso wie Kunst- und Litteraturgeschichte zu lebendigen Zweigen an dem einen mächtigen Stamme der Alterthumswissenschaft geworden. Lebendig auch darum, weil ihnen fortwährend frisches Leben zuströmt aus dem täglich sich mehrenden Schatze inschriftlicher und monumentaler Quellen. Die auf Stein und Erz geschriebenen Zeugnisse antiken Lebens haben ja schon Liebhaber des 15. und 16. Jahrhunderts emsig gesammelt, und leider oft genug gefälscht, sodass allein die 535

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stadtrömischen Falsificate nach Tausenden zählen. Aber erst die letzten Jahrzehnte haben vereinte Kräfte dazu aufgeboten die Länder der classischen Cultur planmässig auf Inschriften zu durchforschen und den Ertrag dieser Arbeit wohl gesichtet und geordnet in den grossen bändereichen Sammelwerken der Berliner Akademie niederzulegen, deren Abschluss erst in Jahren zu erwarten ist, deren Ausbeutung überall erst begonnen hat. Wohl lässt sich keine Seite des antiken Lebens allein aus den Inschriften zur Darstellung bringen, die vielfach erst durch die litterarische Ueberlieferung an die rechte Stelle gerückt werden. Aber ebenso ist keine Seite dieses Lebens, deren Kenntniss nicht aus ihnen den erheblichsten Gewinn an Anschaulichkeit und Lebendigkeit zu ziehen vermöchte, von den kleinen Aeusserlichkeiten des privaten Daseins bis zu den wichtigsten Fragen des Staats- und Rechtslebens. Um aus Hunderten charakteristischer Belege nur ein paar einzelne Proben herauszugreifen, die Geschichte der athenischen Finanzen können wir durch eine Reihe von Jahren gerade der Blütezeit Athens mit actenmässiger Genauigkeit aus den in Stein gegrabenen Rechnungen der Schatz- und Controlbehörden verfolgen; die in Spanien zu Tage geförderten Rechtsordnungen der Provinzialstädte Salpensa und Malaca und der Colonie Julia Genetiva lassen uns die werthvollsten Rückschlüsse ziehn auf die Verfassung des alten Rom; von den Mauerresten eines Theaterbaus im kretischen Gortyn ist ein Codex griechischen Privatrechts abgelesen, wie wir ihn für Athen nur mühsam aus litterarischen Zeugnissen reconstruiren, und die Regierungshandlungen des Augustus haben wir aus den Steincopien des authentischen Berichtes kennen gelernt, den der Kaiser selbst wenige Monate vor seinem Ende zur Bewahrung seines Gedächtnisses verfasst hat. Und nicht minder reiche Belehrung strömt unsrer Wissenschaft zu aus der Fülle monumentaler Reste, seitdem zumal auch hier an die Stelle dilettantischen Raubbaus die planvolle Durchforschung der Hauptstätten des antiken Lebens getreten ist, an welcher Deutschland den ruhm- und erfolgreichsten Antheil genommen hat. Der überraschend reichhaltige Ertrag dieser Arbeit kommt wie begreiflich nächst der alten Geographie vor allem der Archäologie zu Gute, die erst durch ihn grosse und wichtige Capitel aus der Geschichte der Sculptur und Baukunst verschiedener Zeiten zu schreiben in den Stand gesetzt ist. Aber auch auf andre, selbst ferner liegende Gebiete unserer Wissenschaft ist manches helle Licht gefallen; wie haben wir z. B. über das Bühnenspiel der Griechen wesentlich klarere Anschauungen gewonnen, seitdem die Reste der Theater von Athen, Epidauros, Megalopolis dem Erdboden entstiegen sind, vermag ich gleich nicht alle die Folgerungen zu theilen, welche die jüngste Forschung aus dem baulichen Befunde gezogen hat. Bei der Masse des schon aufgehäuften und täglich neu zufliessenden Stoffes ist die Untersuchung noch allenthalben im Flusse, aber überall sind rüstige Arbeiter am Werke, um des gewaltigen Materials sich zu bemächtigen. Unbillig müssen wir darum den Vorwurf nennen, der jüngst gegen die heutige Archäologie erhoben ward, dass sie keine selbständig zusammenfassenden Darstellungen aufzuweisen habe, wie Winckelmanns oder auch O. Müllers bekannte Werke, heute wo selbst die zusammenhängende Bearbeitung der Ausgrabungsergebnisse von Olympia und Pergamon erst begonnen hat. Und in je höhere Vergangenheit die Fundgewinne zurückreichen, desto schwerer 536

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sind die entscheidenden Factoren für Beantwortung der sich aufdrängenden Fragen zu beschaffen. Die hochverdienstlichen Ausgrabungen des jüngst geschiedenen Schliemann haben zuerst in Mykene die Trümmer einer Cultur aufgedeckt, die in ihren Burg- und Palastbauten, in ihren Schacht- und Kuppelgräbern und vor allem in dem reichen Inhalt dieser Gräber an mannichfaltigsten Schmuckstücken und bemalten Thongefässen einen ganz eigenartigen Charakter trägt, die wir darum als die mykenische zu bezeichnen fortfahren, auch nachdem ihre Spuren an immer zahlreicheren Stellen der griechischen Küsten und Inseln sich wiedergefunden haben. Ob aber die Träger dieser Cultur, die gegenüber der homerischen Welt sich unfraglich als die ältere darstellt, ein griechisches oder stammfremdes Volk gewesen, darüber schwankt der Streit der Meinungen noch immer hin und her, wenngleich die Anzeichen sich mehren, dass er in ersterem Sinne zu entscheiden sein wird. Aber die Schwierigkeit der Lösung kann nichts deutlicher vor Augen stellen als der Umstand, dass eine Mehrzahl namhafter Gelehrter sich zu der abenteuerlichen Auffassung versteigen konnte, jene alte Cultur gehöre dem erst in der Zeit der Wanderungen zur Macht gelangten Griechen-Stamm der Dorier. Schon an dem eben berührten Probleme lässt sich abnehmen, wie der Arbeitszuwachs für unsre Wissenschaft nicht lediglich innerhalb ihrer engeren Grenzen gelegen ist. Die unentbehrlichste Ausrüstung des Philologen besteht in der Vertrautheit mit der Sprache, die über eine blos theoretische Kenntniss hinaus sich zum lebendigen Sprachgefühle, zum Sprachbewusstsein zu gestalten hat. Aber seitdem der grosse Gelehrte, dessen hundertjähriger Geburtstag vor wenig Wochen begangen ward, seitdem Franz Bopp gleich in seinem Erstlingswerk den unumstösslichen Nachweis erbracht hat, dass die Verbalflexion des Griechischen und Lateinischen ebenso wie die des Sanskrit und des Deutschen aus dem gemeinsamen Grunde einer indogermanischen Ursprache erwachsen ist, seitdem ist für die wissenschaftliche Grammatik die ausschliessliche Beschränkung auf das Gebiet der beiden classischen Sprachen zur Unmöglichkeit geworden. Nicht allein die Wort- und Formenbildung erhalten ihr volles Licht erst von der Vergleichung der stammverwandten Sprachen, auch die Wortfügungslehre kann dieses Wegweisers nicht mehr entrathen; denn nicht nur die Flexionsformen der Worte, sondern auch die Functionen der Formen liegen in der gemeinsamen Grundsprache vorgebildet. Ein besonderes Verdienst aber hat die vergleichende oder, wie sie mit Recht sich lieber nennt, die indogermanische Sprachwissenschaft sich noch damit erworben, dass sie uns Einblicke eröffnet in die Cultur einer jeder menschlichen Erinnerung weit vorausliegenden Zeit, zu deren Aufhellung die Mittel der sogenannten prähistorischen Forschung in keiner Weise ausreichen. Denn wo für ein Element der Cultur, mag es Wohnung oder Nahrung, Erwerb oder Sitte betreffen, eine allen Indogermanen oder Ariern gemeinsame Bezeichnung sich nachweisen lässt, da ist der Schluss nicht abzuweisen, dass auch die Sache selbst ihr Gemeingut schon in der Zeit vor ihrer Vereinzelung gewesen ist. Auch für Götterglauben und Cultusgebräuche hat man solchen gemeinsamen Besitz der ganzen Völkerfamilie wahrgenommen und darauf den Bau einer vergleichenden Mythologie gegründet, und aus der weiteren Beobachtung, dass gewisse Grundformen gesellschaftlicher und rechtlicher Ordnung von den alten 537

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Indern mit den Griechen und Römern getheilt werden, ist zuletzt eine altarische Rechtsgeschichte hervorgegangen, die von vergleichender Rechtswissenschaft wohl geschieden sein will. Freilich erweist sich die Fundamentirung dieser jüngsten Disciplin bei näherer Prüfung als wenig verlässig und selbst die vergleichende Mythologie ist noch so wenig fest gegründet, dass eine gross angelegte Forschung noch neuerlich es unternehmen konnte, ihre letzten Voraussetzungen zu bestreiten und das Gemeingut, das jene aus gemeinsamer Quelle ableitet, vielmehr auf dem Wege der Uebertragung zu erklären, ähnlich wie frühere übertriebene Vorstellungen von der indogermanischen Cultur eine Einschränkung dadurch erfahren haben, dass mancherlei Gemeinsames sich als Entlehnung herausgestellt hat. Aber über jeden Zweifel hinausgehoben durch die fortgeschrittene Kenntniss des ausserclassischen Alterthums ist die Thatsache, dass das Griechenthum in Glauben und Sitte, Kunst und Bildung allenthalben anknüpft an die Cultur des Orients. Unwiederbringlich dahin ist der Glaube an die Autochthonie der griechischen Cultur, der noch vor einem Menschenalter den Meisten als unantastbares Dogma gelten durfte. Aber bereits damals war von Böckhs scharfem Blicke der Zusammenhang des griechischen Mass- und Gewichtsystems mit denen des Morgenlands erkannt und jede Erweiterung unsres Wissens von der Kunst und Bildung des Orients hat uns seine Einwirkung auf Griechenland nur weiter verfolgen und schärfer bestimmen lassen, freilich überall auch das Wort des alten Philosophen aufs Neue bestätigt, dass die Hellenen Alles, was sie von den Barbaren überkommen, erst ihrerseits zur Vollendung gebracht haben. So steht die classische Philologie in lebhafter Wechselbeziehung mit allen den Wissenschaften, welche die Erforschung der andern Völker der alten Welt sich zum Ziele gesetzt. Und nicht mit diesen allein. Wenn wir die Eigenthümlichkeit der antiken Staatswesen verstehen wollen, müssen wir unsern Sinn geschärft haben durch Vergleichung der späteren Erscheinungsformen des staatlichen Lebens, wenn wir die Werke der griechischen und römischen Kunst richtig würdigen wollen, müssen wir unsern Blick geschult haben an den Kunstgebilden anderer Zeiten und Völker. Und ebensowenig kann die Erforschung der antiken Religion, Litteratur, Wissenschaft sich isoliren von der Betrachtung der Entwickelungen der Folgezeit. Aber hört damit die Alterthumswissenschaft nicht auf eine selbständige Wissenschaft zu sein, ist sie nicht vielmehr in dem grossen Zusammenhang der Geschichtswissenschaft aufgegangen, wie wir heute deren Wesen zu begreifen gelernt haben? So hat in der That vor wenigen Jahren ein angesehener Philolog behauptet mit dem ausdrücklichen Anspruch, damit die gemeinsame Anschauung der meisten Fachgenossen zum Ausdruck gebracht zu haben. Nicht eine Wissenschaft sei die Philologie, sondern nur eine Methode, die grundlegende Methode der geschichtlichen Wissenschaft, weil deren Boden das geschriebene Wort, das festzustellen und zu deuten Beruf des Philologen sei. So würden wir wieder zurückgeführt zu einer Auffassung, die mit der Hermann’schen sich nahe berührte. Aber heisst es nicht einen allzu abstracten Massstab anlegen an den Begriff der Wissenschaft, wenn man sie auf geschichtlichem Gebiete erst mit Erforschung allgemeiner, für die ganze Menschheit gültiger Gesetze beginnen lassen will? Würden die andern historisch 538

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erwachsenen Wissenschaften wohl alle vor solchem Massstabe bestehn, denen doch Niemand noch das Recht bestritten, sich Wissenschaften zu nennen? Auf wissenschaftliche Einheitlichkeit, meine ich, hat gleichen Anspruch eine doppelte Betrachtungsweise: die eine, die eine einzelne Lebensäusserung des Menschengeistes, sei es Glaube oder Sitte, Kunst oder Litteratur in ihrer zeitlichen Entwickelung durch den Lauf der Jahrhunderte hindurch verfolgt, und die andere, die sich zur Aufgabe macht, zu zeigen, wie ein und dasselbe Volk seine Eigenart auf allen diesen verschiedenen Lebensgebieten zum Ausdruck gebracht hat, und diese letztere Betrachtungsart wird in dem Grade den Vorzug verdienen, je eigenthümlicher der Geist eines Volkes sich entwickelt, je mehr es den verschiedenen Lebensgebieten seine Eigenart aufzuprägen verstanden hat. Die Kunst des Griechenthums in ihrer geschichtlichen Stellung zu beurtheilen sind wir im Stande erst seitdem uns ihr Zusammenhang mit der Kunst des Morgenlandes klar geworden; aber ungleich wichtiger für die Erkenntniss ihres eigensten Wesens als dieser Zusammenhang ist doch der andere, der sie mit dem Volksglauben und der Volkssitte, mit dem Gesammtculturleben der Griechen verbindet, dessen Reproduction das letzte Ziel der Alterthumsforschung darstellt. Und ein Aehnliches gilt auch von den andern Lebensäusserungen der classischen Völker, selbst die Sprache nicht ausgenommen, denn auch bei deren Betrachtung fallen der Standpunkt des Indogermanisten und der des Philologen weder im Principe noch in der Praxis ganz zusammen. So ist es ein überaus umfassendes Gebiet, das die philologische Wissenschaft der Gegenwart umspannt, und überaus vielgestaltig sind die Aufgaben, die sie zu lösen hat, so mannichfaltig, dass es Jedem verstattet ist das Arbeitsfeld sich auszuwählen, zu dessen Anbau Neigung und Anlage ihn geschickt machen. In der Beschränkung liegt ja die Bedingung für die gedeihliche Thätigkeit des Einzelnen und damit für das Fortschreiten der gesammten Wissenschaft. Aber eine nicht zu unterschätzende Gefahr birgt diese gebotene Arbeitstheilung in sich, die Gefahr übermässigen Specialistenthums, das das Auge starr gerichtet hält auf die kleine Scholle, die es selbst bebaut, und dem darüber die Fähigkeit verloren geht den Blick in die Weite zu richten, dem der Ueberblick abhanden kommt über das Gesammtgebiet. Und wir wollen uns nicht mit der Erwägung trösten, dass der gleichen Gefahr auch andere Wissenschaften um so leichter verfallen, je reicher sie sich entwickeln. Dringender als an Andere ergeht an die Vertreter der classischen Philologie die Mahnung, vor Allem im akademischen Unterrichte bei der Arbeit im Kleinen nie den Zusammenhang aus dem Auge zu verlieren mit dem grossen Ganzen, weil es die Lehrer zu erziehen gilt für die Anstalten, deren Bezeichnung als humanistische nicht zum leeren Schall werden soll. Wir lächeln über den naiven Enthusiasmus der ersten Humanisten, welche die abgestorbene Welt des Alterthums wieder in das Leben der Gegenwart zurückrufen zu können wähnten; wir theilen auch nicht die einseitige Bewunderung eines Wolf und W. v. Humboldt, die unter dem Beifall unserer grossen Dichter das classische Alterthum priesen als die Verkörperung echter Menschlichkeit; aber wir bekennen uns mit voller Entschiedenheit zu der Ueberzeugung, dass das Studium des Alterthums seine propädeutische Mission auch noch an der Gegenwart zu erfüllen berufen ist, dass es als das wahrhaft humanistische, durch kein 539

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anderes zu ersetzende Bildungsmittel darum zu gelten hat, weil es bei gleichmässiger Berücksichtigung der antiken Sprachform und des Gehalts der antiken Litteratur die beste Nahrung bietet für Ausbildung aller Geisteskräfte. Für solche Aufgabe gilt es Lehrer zu erziehen, die mit dem Wissen nicht nur das Können verbinden, ohne das Niemand zum Philologen wird, sondern auch das Wollen, die volle Hingabe an die Grösse des Alterthums und seine Lehre, damit sie unverrückt das Ziel im Auge behalten und nicht durch Abirren vom rechten Wege den Gegnern ihre besten Waffen in die Hände geben. Lauter als je erheben diese Gegner ihre Stimme, ungestümer als je tobt der Ansturm wider die humanistische Bildung. Zwar hat es, denke ich, keine Gefahr, dass diese Angriffe ihr Ziel erreichen; denn einig nur in der Negation gehn die Widersacher nach den verschiedensten Richtungen auseinander, sobald es die Beantwortung der positiven Frage gilt, was an Stelle der befehdeten Bildung zu setzen sei. Aber in drohende Nähe gerückt ist die andere Gefahr, dass die humanistische Bildung verkümmert werde durch Zugeständnisse ihrer eignen Freunde an die, welche durch keine Concessionen zu versöhnen sind. Soll diese Bildung ihren vollen Segen entfalten, so muss sie zu einem gewissen Ziele gebracht werden; nicht nur in den Vorhof der classischen Litteratur soll die Jugend eintreten, sondern in ihre Meisterwerke soll sie eingeführt werden, die sie ohne einige Herrschaft über die Sprachmittel niemals gemessen kann. Und wenn eine zwanzigjährige Lehrerfahrung mich zu einem Urtheil berechtigt, so kann ich die ernste Besorgniss nicht unterdrücken, dass die Erreichung dieses Ziels schwer gefährdet wird durch weitere Verkürzung des altsprachlichen Unterrichts, und dass man nicht hoffen darf solche Einbusse wett zu machen durch Vervollkommnung der Methode, auf deren Wunderkraft man heute allzu gläubiges Vertrauen zu setzen geneigt ist. Es steht nichts Geringeres auf dem Spiele, als die Bildung der führenden Stände unserer Nation, auf die wir bis hierher stolz sein zu dürfen glaubten, und ich meine, nicht mit Unrecht. Denn wenn wir der Erfolge uns rühmen, die unser Volk auch mit den Waffen des Geistes auf den verschiedensten Lebensgebieten errungen hat, so soll Niemand uns einreden, dass diese Erfolge trotz dieser Bildung, nicht mit ihrer Hülfe gewonnen sind. Und nun zum Schlusse noch ein besonderes Wort an Sie, meine Herren Commilitonen. Von den Angriffen habe ich eben geredet wider die humanistische Bildung, welche es gilt unserem Volke zu bewahren als ein unschätzbares Gut. Lebhafter als je drohen aber auch die Angriffe gegen das Lebensprincip der deutschen Universitäten, gegen die akademische Lernfreiheit. Die sich mehrenden Stimmen, die diese Freiheit bekämpfen als eine Gefährdung tüchtiger Berufsbildung und ein schrittweise controlirtes Studium begehren nach ausländischem Muster, diese Stimmen verstummen zu machen steht einzig und allein bei der akademischen Jugend. Das auszeichnende Vorrecht ist Ihnen verliehen für Richtung und Mass Ihrer Arbeit nur an das eigene Wollen gebunden zu sein. Aber gross ist die Verantwortung, die auf diesen Vorzug gelegt ist, die Verantwortung vor allem gegen sich selbst, die Verantwortung aber auch gegen die Allgemeinheit, der Sie angehören. Unsre Hochschule steht allenthalben in deutschen Landen in dem guten Rufe, eine Stätte ernster wissenschaftlicher Arbeit zu sein; wahren Sie ihr diesen Ruhmestitel als ein Ihnen 540

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anvertrautes kostbares Pfand, um ihn ungemindert den Nachkommenden zu überliefern. Aber die Arbeit will auch in rechtem Sinne gethan sein, nicht in engherziger Beschränkung auf das, was unmittelbaren Nutzen verspricht für den zukünftigen Beruf, sondern im Bewusstsein der Zugehörigkeit zur grossen Gemeinde derer, die zu Hütern bestellt sind über die idealen Güter der Nation. Treue Wacht zu halten über diese Güter, damit sie uns nicht entwunden werden von feindlichen Mächten, das fordert vor allem die Gegenwart, und eindringlich ergeht auch an Sie die Mahnung des Dichters Der Menschheit Würde ist in Eure Hand gegeben, Bewahret sie! ***

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31. October 1892. Rede des abtretenden Rectors Dr. phil. Justus Hermann Lipsius. Bericht über das Studienjahr 1891/92. Hochansehnliche Versammlung! Was dem akademischen Jahre, an dessen Ziele wir heute stehen, in der Geschichte unsrer Hochschule die Stelle bezeichnen wird, das macht ein Blick auf die Umgebung des Hauses augenfällig, in dem wir uns zu dieser Feier vereinigt haben. Die Errichtung eines neuen Auditoriengebäudes auf dem alten historischen Boden und der durch dieselbe bedingte Neu- und Umbau der angrenzenden Universitätshäuser ist aus dem Stadium des Entwurfes, über den im vorigen Jahre von dieser Stelle zu berichten war, in die Verwirklichung getreten. Gefallen ist bereits ausser jüngern Bauten der grösste Theil der ehrwürdigen Hallen, die seit den Tagen der Reformation den Zwecken unsrer Universität gedient haben. Der Jahresbericht des abtretenden Rectors hat sich nur auf die äussern Geschicke der Hochschule zu erstrecken, und darf nicht eingehen auf ihr inneres Leben. Aber jene äussern Geschehnisse bilden die nothwendigen Formen und Bedingungen für unsere geistige Arbeit, und Nichts kann die rasche Entwickelung unsrer Hochschule in ein helleres Licht setzen, als die Thatsache, dass unsre drei bisherigen Auditoriengebäude, deren ältestes im Jahre 1836, deren jüngstes erst 1871 in Benutzung genommen ist, dem gesteigerten Bedürfnisse der Gegenwart nicht mehr zu entsprechen vermochten. Dies rasche Wachsthum dankt unsre Universität dem huldvollen Wohlwollen zweier hochgesinnter Monarchen und der weisen Fürsorge der Königlichen Staatsregierung, der die Stände des Landes jederzeit in dankenswerthester Weise ihre thatkräftige Unterstützung geliehen haben. Es sind in diesem Jahre genau drei und ein halbes Jahrhundert verstrichen, seit Herzog Moritz mit grossherzigem Sinn dem Gedeihen unsrer Universität für alle Zeit die sichere Grundlage schuf; dem Vorbild ihres erlauchten Ahnherrn haben vor allen andern sächsischen Fürsten der hochselige König Johann und König Alberts Majestät würdigste Nachfolge geleistet. Auch das abgelaufene Jahr hat unser Rector magnificentissimus nicht ohne thatsächliche Beweise seiner Huld gelassen; auch in ihm hat er den Lehrern und Instituten der Hochschule sein hohes Interesse bethätigt in den Tagen vom 3. bis 6. Februar, in denen er die Vorlesungen unsrer neugewonnenen Collegen mit seinem Besuche ehrte und die Räume und Schätze unsrer vor Jahresfrist geweihten Bibliotheca Albertina eingehender Besichtigung unterzog. Im frohen Gedächtniss dieser festlichen Tage haben wir das Allerhöchste Geburtsfest am 23. April durch einen Festactus begangen, bei dem unser Herr Prorector der Festredner war. In jenen Februartagen weilte auch Seine Königliche Hoheit Prinz Friedrich August zum ersten Male mit seiner durchlauchtigsten Gemahlin in den Mauern unsrer Stadt, die dem hohen Paare einen festlichen Empfang bereitete. Die Universität, die 542

Jahresbericht 1891/92

den Prinzen früher ihren Bürgern hatte zuzählen dürfen, sprach den erlauchten Neuvermählten sogleich nach ihrem Einzug in Dresden am 24. November durch Rector und Decane ihren Glückwunsch aus, den Seine Königliche Hoheit in dankbarer Erinnerung an seine Leipziger Studienzeit freundlich entgegennahm. Die Studentenschaft aber brachte ihre Huldigung am 3. Februar in einem Fackelzuge dar, der durch einmüthiges Zusammenwirken aller studentischen Corporationen sich zu einem besonders glänzenden gestaltete. Seine Königliche Hoheit Prinz Johann Georg, der zugleich mit Seiner Königlichen Hoheit Prinz Max schon im Sommer 1890 seine Studien an unsrer Universität begonnen hatte, setzte sie auch im vergangenen Wintersemester fort und verliess uns erst am 14. März. Auch Prinz Max, der schon im August v. J. aus der Zahl unsrer akademischen Bürger geschieden war, verweilte um seiner juristischen Arbeiten willen noch unter uns, bis er am 28. Januar d. J. in feierlichem Acte in Gegenwart des Herrn Cultusministers zum Doctor iuris promovirt ward. Beiden Prinzen folgen die aufrichtigsten Wünsche ihrer alma mater auf ihrer ferneren Lebensbahn. Zwischen den freudigen Tagen, deren ich eben Erwähnung gethan, lagen an der Jahreswende Tage banger Sorge um den erlauchten Vater unsrer prinzlichen Commilitonen, die indessen durch Gottes Gnade bald behoben ward. Unmittelbar zuvor aber wurde dem Könige der erste und älteste seiner Räthe genommen: am 23. December schied unerwartet aus dem Leben der Staatsminister des Cultus und öffentlichen Unterrichts und Vorsitzende im Gesammtministerium Dr. Carl Friedrich von Gerber. Wenn das ganze Land den jähen Hintritt des um das gesammte sächsische Schulwesen hochverdienten Mannes tief beklagte, so hatte unsre Universität besonderen Anlass zu gerechter Trauer. Nahezu ein Jahrzehnt ist der Verewigte ihr eine glänzende Zierde gewesen, ein gefeierter Lehrer des deutschen Rechts, vor allem des deutschen Staatsrechts, dem er neue Bahnen gewiesen hat. Danach durch seines Königs Vertrauen an die Spitze des Cultusministeriums berufen, hat der Verewigte zwanzig Jahre hindurch auch den Interessen unsrer Hochschule fürsorgliche Pflege gewidmet. Keine geringe Aufgabe war dem Nachfolger des Freiherrn von Falkenstein gestellt, dessen weitblickender Initiative vor allem das Verdienst gebührt, Leipzig von einer sächsischen zu einer deutschen Universität erhoben zu haben. Aber vertraut durch eigene Erfahrung mit den Bedürfnissen der Hochschule hat Minister von Gerber es verstanden sie zu noch höherer Blüthe zu entwickeln, als sein Vorgänger auch nur zu hoffen vermochte. Eine beträchtliche Anzahl stattlicher Universitätsinstitute ist unter seiner Amtsführung errichtet, eine lange Reihe hervorragender Lehrer ist von ihm berufen, und die Zahl der Studirenden, die in dem letzten Semester seines akademischen Wirkens bis 1800 gestiegen war, hat sich unter seiner Verwaltung nahezu verdoppelt. Der Trauer der Universität Ausdruck zu geben war eine Ehrenpflicht ihres Rectors, als er im Verein mit den vier Decanen am 27. December der Bestattungsfeier in Dresden beiwohnte und im Auftrage des akademischen Senats einen Lorbeerkranz am Sarge niederlegte, wie ein Gleiches Namens der Juristenfacultät durch ihren Decan geschah. Den von Seiner Majestät an Gerbers Stelle zur Leitung des Cultusministeriums berufenen Herrn Staatsminister von Seydewitz nahm der Rector am 9. Januar im 543

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Namen der Universität zu begrüssen Veranlassung und empfing von Seiner Excellenz die Versicherung, dass er es als eine der vornehmsten Aufgaben seines Amtes sich angelegen sein lassen werde, im Sinne und Geiste seines Vorgängers die Interessen der Universität zu pflegen. Wir haben die Ehre, den Herrn Minister bei der heutigen Feier in unsrer Mitte zu sehen, und es ist mir eine Freude vor dem akademischen Lehrkörper es ihm wiederholen zu dürfen, dass wir mit vollem Vertrauen die oberste Leitung unsrer Angelegenheiten in seine Hand gelegt wissen. Auch in dem abgelaufenen Jahre haben die akademischen Institute dankenswerthe Erweiterungen erfahren. Mit Beginn des Sommersemesters ist die Frauenklinik aus dem alten Trierschen Institute in ihr neues unvergleichlich besser ausgestattetes Heim im medicinischen Viertel übergesiedelt. Am 25. April fand die feierliche Einweihung der Klinik statt, die der Herr Cultusminister mit seiner Gegenwart beehrte. Wenige Tage später, am 1. Mai, trat die Augenheilanstalt in die Reihe der akademischen Lehrinstitute dadurch über, dass kraft einer mit dem Königlichen Ministerium geschlossenen und von den Ständen des Landes genehmigten Vereinbarung der Verein zur Unterhaltung der Heilanstalt für arme Augenkranke mit seinem gesammten Vermögen, darunter insbesondere dem erst vor einem Jahrzehnt errichteten Anstaltsgebäude, eine Stiftung begründet hat, die der Verwaltung und Leitung des Ministeriums unterstellt ist. Um aber die Anstalt für die Zwecke des Unterrichts in der Augenheilkunde noch mehr, als bisher möglich, nutzbar zu machen, ist sie bereits im Sommer durch Erbauung eines neuen grossen Hörsals erweitert worden, der mit Beginn des Wintersemesters in Benutzung genommen ist. Für den gleichen Zeitpunct sind in der medicinischen Klinik durch einen Erweiterungsbau an den Hörsal ausreichende Räumlichkeiten für den Zweck wissenschaftlicher Untersuchungen angeschlossen worden, deren Mangel sich empfindlich fühlbar gemacht hatte. Eine besonders erhebliche Bereicherung ist den Lehrmitteln des landwirthschaftlichen Instituts zu Theil geworden. Neben der Errichtung eines Gebäudes für Molkerei und eines Rassestalls, sowie der Anlage eines landwirthschaftlichen Gartens auf dem neben der Veterinärklinik verfügbar gebliebenen Areale ist dem Institute zu ausgedehnteren Culturversuchen an Stelle des bisher erpachteten Kuhthurmgrundstücks das Universitäts-Forstgut überwiesen und die dazu erforderlichen Baulichkeiten im Laufe des Sommers errichtet worden. Schon mit Vollendung der Frauenklinik war die stattliche Reihe grosser Institutsbauten für die gesteigerten Erfordernisse des medicinischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts zum Abschluss gelangt und damit der Zeitpunct gekommen, zu dem auf Befriedigung allgemeiner Universitätsbedürfnisse, auf Beschaffung von ausreichenden und zweckmässigen Hörsälen, von Arbeitsräumen für eine Reihe von Instituten der theologischen und philosophischen Facultät und von Geschäftsräumen für die akademischen Behörden Bedacht genommen werden durfte. Zugleich war durch Verlegung der Universitätsbibliothek aus dem alten Paulinum die Möglichkeit geboten, auf dessen Areal wie auf dem der angrenzenden Convicts- und Senatsgebäude ein Auditorienhaus aufzuführen, das im Zusammenhang mit einem 544

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Umbau des Augusteum und Bornerianum und dem Neubau der nach der Universitätsstrasse gelegenen Universitätshäuser allen Bedürfnissen auf absehbare Zeit hinaus Befriedigung verspricht. Noch einmal ist im Januar d. J., als bereits die Pläne des Neu- und Umbaues von dem Königlichen Ministerium den Ständen des Landes unterbreitet waren, die Frage vom akademischen Senate in eingehendste Erwägung gezogen worden, ob etwa die Errichtung eines Universitätsgebäudes an ganz andrer Stelle der Stadt den Vorzug verdiene; aber diese Frage ist mit voller Entschiedenheit zu verneinen gewesen. Dem geplanten Neu- und Umbau haben die Landstände mit gewohnter Liberalität ihre Zustimmung ertheilt und zugleich das Königliche Ministerium in den Stand gesetzt, den umfassenden Bau in sofortigen Angriff zu nehmen. So ist die erfreuliche Sicherheit gegeben, dass in wenigen Jahren unsrer Hochschule eine neue Heimstätte auf ihrem alten Boden erstehen wird, würdig der Aufgaben, denen sie zu dienen bestimmt ist. Diesem höheren Zwecke musste auch das altehrwürdige Paulinum zum Opfer fallen, das zu erhalten keine Möglichkeit sich bot. Dass das kunstgeschichtlich Werthvolle an ihm, die Wandgemälde des Kreuzgangs zum Mindesten in Nachbildungen der Nachwelt erhalten bleiben, dafür ist, da die photographische Kunst sich der Aufgabe nicht ganz gewachsen zeigte, auf dem Wege der Durchzeichnung Sorge getragen. Für die Bauzeit war ein einstweiliger Ersatz für die Lehr- und Geschäftsräume der zunächst betroffenen Häuser zu beschaffen und ist in genügender Weise in dem von der Frauenklinik verlassenen Trierschen Institute hergestellt worden. Das Convictorium aber hat eine bleibende zweckentsprechende Unterkunft in Nähe der Universität in der bereits 1888 erworbenen alten Buchhändlerbörse gefunden; der würdig ausgestattete Sal ist am 5. August feierlich seiner Bestimmung übergeben worden. Durch eingreifenden Umbau des Hauses ist zugleich die Möglichkeit gewonnen, für den Fechtboden, sowie für die Uebungen des Universitäts-Sängervereins Paulus und die liturgischen Uebungen der Mitglieder des homiletischen Seminars entsprechende Räume herzustellen; auch diese konnten mit Beginn des Wintersemesters in Benutzung genommen werden. Wenn die Vollendung des grossen Baues nicht vor fünf Jahren erwartet werden darf, so ist eine andere wichtige Arbeit des vorangegangenen Jahres zu vollem Abschluss gebracht, die Ergänzung des Universitätsstatuts durch Bestimmungen über das Recht der Beamten und die Neugestaltung der Statute für die Wittwen- und Waisencasse der Universität und für die Pensionscasse ihrer Unterbeamten. Diese drei Statute, die bereits die Zustimmung des Königlichen Ministeriums gefunden hatten, bedurften in wesentlichen Theilen auch der ständischen Zustimmung, die ihnen in dem Gesetze vom 29. April d. J. zu Theil geworden ist. Auch hierfür sind wir der Munificenz der Landesvertretung zum Danke verpflichtet, da die Erhöhung der Wittwenpensionen wenigstens für die ordentlichen Professoren und die Auswerfung von Waisenpensionen eine nicht unerhebliche Belastung der Staatscasse bedingt. Die genannten Statute sind ebenso wie das für die neubegründete Hülfsund Töchterpensionscasse mit dem 1. April in Kraft getreten und zu voller Durchführung gelangt, nur dass die letzterwähnte Casse für die nächste Zeit lediglich den Wittwen, nicht auch den Töchtern der Universitätslehrer zu Gute kommen kann, sofern ihr nicht Zuwendungen zu diesem Zwecke gemacht werden. 545

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Dankenswerthe Stiftungen und Vermächtnisse sind auch in diesem Jahre zu mannigfachen Universitätszwecken uns zugeflossen. Durch letztwillige Verfügung des in Löbau verstorbenen Kaufmanns Friedrich Wilhelm Reichel ist eine Reichel-Schulze-Stiftung errichtet, von der nach Bestimmung der Söhne des Erblassers jährlich Dreihundert Mark zu zwei auf die Dauer von 3 Jahren zu verleihenden Stipendien für Studirende der hiesigen Universität verwendet werden sollen, die aus Löbau oder überhaupt aus der sächsischen Oberlausitz gebürtig sind. Die in Dresden verstorbene Frau Professor Luise Förster hat gemeinsam mit ihrer Tochter Luise Anna Förster der Universität 1500 Mark vermacht, deren Zinsen zu Gunsten eines Studirenden Verwendung finden sollen, dessen Vater dem Lehrerstande angehört. Weiter sind von einem Ungenannten durch den Director des Convicts 4000 M. zur Begründung einer Convict-Hülfscasse mit der Bestimmung überreicht worden, dass die Hälfte der Zinsen dazu verwendet werden soll, eine nach dem Masse der Mittel sich richtende Anzahl von Inhabern von Convictstellen, die Beiträge zu entrichten haben, von diesen Beiträgen zu befreien, während die andre Hälfte dem immer in derselben Weise zu verwendenden Stiftungscapitale zuwachsen soll. Endlich ist durch gemeinsames Testament des in Dresden verstorbenen Rentners Georg Kestner und seiner Ehefrau Sophie Kestner der Universität seine Handschriftensammlung und ein Capital von 9000 Mark zugefallen, dessen Zinsen für die Verwaltung der Sammlung bestimmt sind. Die sehr werthvolle Sammlung hat in der Universitätsbibliothek zweckmässige Aufstellung gefunden und ist damit im Sinne des Testators der öffentlichen Benutzung zugänglich gemacht. Dem unbekannten Stifter der Convict-Hülfscasse spreche ich auch an dieser Stelle den Dank der Universität aus; den andern Schenkgebern kann ich ihn nur in die Ewigkeit nachrufen. Noch aber ist einer ältern Stiftung zu gedenken, welche in diesem Jahre in Wirkung hat treten können, der von Dr. Haase im Jahre 1868 begründeten Stiftung zur Erbauung von Häusern mit Wohnungen für Unterbeamte der Universität, deren Wittwen und Waisen. Nachdem der angesammelte Zinsenertrag des Stiftungscapitals die erforderliche Höhe erreicht hatte und es gelungen war ein für 9 Häuser ausreichendes Areal zwischen dem Johannisfriedhof und der psychiatrischen Klinik zu erwerben, ist sogleich der Bau von 4 Häusern mit je 6 Wohnungen in Ausführung genommen, und es werden somit von Mitte nächsten Jahres ab 24 Unterbeamte der Universität des Segens der genannten Stiftung theilhaftig werden. Wenn mein Bericht sich nunmehr den Veränderungen im akademischen Lehrkörper zuwendet, so hat er zunächst der Verluste zu gedenken, welche das vergangene Jahr über uns verhängt hat. Am Tage des vorjährigen Rectoratswechsels verstarb Dr. phil. Adolf Weiske, der schon im Jahre 1857 sich für das Fach der Physik habilitirt, aber schon seit einer Reihe von Jahren keine Lehrthätigkeit mehr ausgeübt hatte. Ausser diesem ältesten Privatdocenten verlor die philosophische Facultät durch den Tod auch den ältesten ihrer Extraordinarien. Am 27. Juni beschloss hochbetagt Dr. Victor Jacobi sein bis ans Ende thätiges Leben, seit 1833 Privatdocent, 546

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seit 1850 ausserordentlicher Professor für die Cameralwissenschaften. Ein eigenthümlich gerichteter Geist hatte er schon frühe neben seinem Lehrfach mit besonderer Vorliebe sich Studien über slavische Etymologie und Ortsnamenkunde zugewendet, deren Ertrag leider dem aufgewandten Eifer in keiner Weise entsprechen konnte. Von einem zweifachen schmerzlichen Verluste ward rasch nach einander die medicinische Facultät betroffen. Am 14. März wurde ihr durch schmerzvolle Krankheit ihr Senior, der Geheime Medicinalrath Dr. Carl Siegmund Franz Credé entrissen. Im Herbst 1856 als Professor der Geburtshülfe und Director der Entbindungsanstalt von Berlin hierher berufen, erweiterte er seinen klinischen Unterricht sofort durch Ausdehnung auf das Gebiet der Gynaekologie. Doch blieb er mit Vorliebe der älteren Disciplin zugewandt und hat sie durch umfassende schriftstellerische Thätigkeit gefördert, die seinem Namen ein dauerndes Gedächtniss sichert. Der Segen seiner akademischen Arbeit aber wirkt fort in Tausenden dankbarer Schüler, die seine Lehre für immer weitere Kreise fruchtbar gemacht haben. Ein Muster gewissenhafter Pflichterfüllung verzichtete er nach dreissigjähriger Wirksamkeit auf die Leitung der Klinik und die mit ihr verbundene Lehrthätigkeit, als er bei zunehmendem Alter sich den anstrengenden Aufgaben seines Amts nicht mehr voll gewachsen fühlte, blieb aber bis zu seinem Ende als Vorsitzender der Prüfungscommission für Aerzte und Zahnärzte thätig. Schon nach wenigen Wochen, am 29. April, folgte ihm im Tode sein Stellvertreter im Vorsitz der genannten Prüfungscommission, der Geheime Medicinalrath Dr. Christian Wilhelm Braune. Sohn eines frühverstorbenen Professors der Medicin an hiesiger Universität, hat er sein hervorragendes Lehrtalent seit seiner im Sommer 1860 erfolgten Habilitation in den Dienst unsrer Hochschule gestellt. Im Anfange vorzugsweise auf dem Gebiete der Chirurgie thätig, widmete er besondere Pflege der Kriegsheilkunde und übte sie selber auf den Schlachtfeldern und in den Lazarethen der Kriege von 1864, 1866 und 1870/71, in letzterem als consultirender Generalarzt, mit einer Hingebung aus, die ihm die dankbare Anerkennung der Armee im Leben und im Tode eingetragen hat. Seit seinem Eintritt in die Facultät im Jahre 1872 trat die Anatomie in den Vordergrund seiner Thätigkeit; auf ihrem Felde liegen die Arbeiten, auf denen Braunes wissenschaftliche Bedeutung beruht, vor allem die nicht zu Ende geführten Untersuchungen über die Gelenkbewegungen, die nach sachkundigem Urtheil einen principiellen Fortschritt in der ganzen Methodik der anatomischen Wissenschaft bezeichnen. Strenge und Gewissenhaftigkeit der Methode bedingten auch seine Erfolge als akademischer Lehrer, unterstützt von der Idealität und Wärme seines Wesens, die ihm ebenso die Sympathien seiner Collegen wie weiterer Kreise gewannen. Schon durften wir hoffen, dass hiermit die Reihe schmerzlicher Verluste sich geschlossen habe, als wir in den jüngsten Tagen von einem schweren Schlage getroffen wurden, unter dessen tiefem Eindruck wir noch heute stehen. In der Frühe des 26. October verschied der Ordinarius der Juristenfacultät, Geheimrath Dr. jur. u. phil. Bernhard Windscheid. Was unsre Universität, was die deutsche Wissenschaft in ihm verloren hat, das hat bei der vorgestrigen Trauerfeier in zahlreichen Ansprachen seinen Ausdruck gefunden, die uns Allen noch in frischer Erinnerung sind. 547

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Ueber fünfzig Jahre hat Windscheid in der akademischen Wirksamkeit gestanden, nach seinen ersten bedeutenden Arbeiten im Wettbewerb von den ersten Juristenfacultäten Deutschlands gesucht; vor achtzehn Jahren ist er als Nachfolger des unvergessenen Wächter unsrer Hochschule gewonnen worden und ihr treu geblieben trotz verlockender Rufe. Und ein akademischer Lehrer ist er gewesen von Gottes Gnaden. Leben war für ihn gleichbedeutend mit Lehren, und darum hat er nur mit dem Leben vom Lehren gelassen. Die Grösse seiner Lehrerfolge aber ruhte auf demselben Grunde, wie seine Grösse als Gelehrter. Mit vollendeter Meisterschaft beherrschte er die Lehren der römischen Jurisprudenz, wie die an sie anschliessenden Theorien der modernen Rechtswissenschaft, und diesen unendlich reichen Stoff durchdrang er mit der unvergleichlichen Klarheit seines eigenen Denkens, der auch die schwierigsten Probleme sich entwirren mussten. Und dazu trat als Krönung seines Wirkens noch ein Andres. Als Windscheid heute vor acht Jahren sein Rectorat mit einer Rede über Recht und Rechtswissenschaft antrat, da sprach er zum Schlusse seines Vortrags das Wort: ,Sein höchstes Leben lebt das Recht aus, wenn es mit denen, an welche es sich richtet, eins wird, wenn der Rechtsbefehl sich in ihnen zur Gesinnung der Gerechtigkeit gestaltet.‘ Dies Wort ist an ihm selber zur That geworden; sein ganzes Wesen war die Verkörperung unbeugsamen Rechtsgefühls, unerschütterlicher Pflichttreue, und darum hat man mit Recht von ihm gesagt, dass seine Wissenschaft sein Charakter war. Wie aber der Lehrer und der Gelehrte, wie Wissenschaft und Charakter sich in ihm zu untrennbarer Einheit zusammenschlossen, so lag in seiner wissenschaftlichen Bedeutung zugleich sein Beruf zu gesetzgeberischer Arbeit begründet. Von seinem grossen Pandektenwerk ist wiederholt hervorgehoben, dass in ihm die ganze romanistische Rechtsentwicklung zum Abschluss geführt sei; eben dadurch war er in hervorragender Weise zur Mitarbeit an dem gewaltigen Werke eines bürgerlichen Gesetzbuchs legitimirt, dessen Entwurf in deutlichen Zügen den Stempel seines Geistes trägt, den auch die endgültige Fassung nicht wird verwischen können. So wird Windscheids Geist fortleben in dem künftigen deutschen Gesetzbuch, sein Gedächtniss aber wird fortwirken vor allem unter uns, die wir mit Stolz und Freude ihn den Unsern nennen durften. Noch einen Verlust anderer Art hat die juristische Facultät dadurch erfahren, dass der Professor der beiden Processe, Geheimer Hofrath Dr. Oscar Bülow, sich veranlasst sah, Enthebung von seinem Amte für das Ende des Sommerhalbjahrs nachzusuchen. Nur fünfzehn Semester hat der hervorragende Rechtslehrer in unsrem Kreise gewirkt, und lebhaft ist unser Bedauern, dass seine Gesundheit ihn so früh auf die akademische Thätigkeit zu verzichten genöthigt hat, um so angelegentlicher aber auch unser Wunsch, dass er bald die Kraft zurückgewinnen möge, seine Musse der Wissenschaft zu Gute kommen zu lassen. Aus der theologischen Facultät schied mit Schluss des Wintersemesters D. Theodor Zahn, um nach Erlangen an die Stelle zurückzukehren, aus der er vor vierthalb Jahren zu uns gekommen war. Gleichfalls in Folge auswärtiger Berufungen verliessen uns vier jüngere Collegen, zu Ostern der ausserordentliche Professor in der medicinischen Facultät Dr. Edmund Drechsel, um einem Rufe als ordentlicher Professor der physiologischen und patho548

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logischen Chemie an der Universität Bern zu folgen, gegenwärtig der ausserordentliche Professor in der philosophischen Facultät Dr. Georg Erler, um eine ordentliche Professur der Geschichte an der Universität Königsberg zu übernehmen, und die Privatdocenten der Medicin Dr. Edmund Lesser und Dr. Ludolf Krehl, der erstere, um als ausserordentlicher Professor der Dermatologie an die Universität Bern, der letztere, um als ausserordentlicher Professor der Medicin und Director der medicinischen Poliklinik an die Universität Jena überzugehen. Unsre aufrichtigen Wünsche folgen den Abberufenen in ihren neuen Wirkungskreis, der ihnen freieren Spielraum zur Bethätigung ihres wissenschaftlichen Könnens eröffnet. Von ihnen wird Professor Erler auch in Zukunft uns insofern verbunden bleiben, als ihm der Auftrag zur Bearbeitung einer Geschichte der Universität auf seinen Wunsch belassen worden ist. Und es darf gleich hier die Mittheilung angefügt werden, dass zunächst die für die deutsche Gelehrtengeschichte so wichtige ältere Matrikel in Bälde im Drucke vorliegen wird. Endlich hat der Privatdocent in der medicinischen Facultät Sanitätsrath Dr. Livius Fürst auf seine Venia legendi verzichtet. Den erwähnten Verlusten stehen Bereicherungen unsres Lehrkörpers gegenüber, welche zum Theil die schon im vorigen Jahre gerissenen Lücken auszufüllen bestimmt waren. Mit Beginn des Sommersemesters trat als Professor der deutschen Sprache und Litteratur und Director des deutschen Seminars Dr. Eduard Sievers, zuletzt in Halle, als Professor der Kunstgeschichte und Director des kunstgeschichtlichen Seminars Dr. Hubert Janitschek, bisher in Strassburg, ein. Für den Anfang des Wintersemesters wurden berufen in die erledigte Professur der Theologie D. Georg Heinrici von der Universität Marburg, in eine neuerrichtete Professur für Statistik und Nationalökonomie und zur Leitung eines volkswirthschaftlich-statistischen Seminars Dr. Carl Bücher vom Polytechnikum zu Karlsruhe, endlich in eine gleichfalls neubegründete ausserordentliche Professur für landwirthschaftliches Maschinenund Meliorationswesen Dr. August Föppl von der hiesigen Gewerbeschule. Mögen die neugewonnenen Collegen in ihrem Wirken unter uns die gehoffte Befriedigung finden und in unsrem Kreise sich bald heimisch fühlen! Geringer als in andern Jahren war in diesem die Zahl der jungen Kräfte, die zu dem Kreis unsrer Docenten hinzugetreten sind. In der theologischen Facultät hat sich habilitirt Lic. Dr. Gustav Hermann Dalman, in der juristischen Dr. Carl Ludwig Curt Burchard, in der medicinischen Dr. Georg Schmorl, Assistent am pathologischen Institut, endlich in der philosophischen Facultät Dr. August Conrady für indische Sprachen und Tibetisch und Dr. Georg Karsten für Botanik. Von Beförderungen innerhalb des Lehrkörpers ist einer vierfachen Erwähnung zu thun. Zum ordentlichen Honorarprofessor wurde der seitherige ausserordentliche Professor Director der Veterinärklinik Hofrath Dr. Friedrich Anton Zürn ernannt, zu ausserordentlichen Professoren die bisherigen Privatdocenten Dr. Max von Frey in der medicinischen, Dr. Ernst Elster und Dr. Heinrich Brockhaus in der philosophischen Facultät. Einer Mehrzahl von Collegen ist in diesem Jahre die Freude zu Theil geworden, Jubelfeste begehn zu können. Zum fünfzigjährigen Doctorjubiläum durfte der Rector 549

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am 30. November Hofrath Dr. Winter, am 14. Mai im Verein mit den Decanen den Senior der juristischen Facultät Geheimen Hofrath Dr. Müller beglückwünschen. Das fünfundzwanzigjährige Jubiläum ihres hiesigen Ordinariats feierten am 21. März Geheimrath Dr. Thiersch, am 7. Mai Geh. Kirchenrath D. Fricke, und beide verehrte Männer durften bald darauf ebenso wie Geheimer Hofrath Dr. Leuckart ihren siebzigjährigen Geburtstag begehn. Ihnen Allen sind diese Tage durch freudige Theilnahme dankbarer Schüler und Verehrer zu hohen Festtagen gestaltet worden. Unserm ehrwürdigen Senior Geheimrath Dr. Drobisch aber war das überaus seltene Glück beschieden, am 16. August sein neunzigstes Lebensjahr erfüllen zu können. Nur mit schriftlichem Glückwunsch durfte der akademische Senat den allverehrten Collegen begrüssen; aber Ihrem Rector war es eine besondere Freude, diesen Glückwunsch dem Lehrer seiner Jugend darbringen zu können, dem er mit vielen Hunderten dankbarer Schüler für tiefgehende Anregung sich verpflichtet fühlt. Noch darf ich hier einer zweifachen festlichen Vereinigung in unsrer Stadt gedenken, an welcher auch die Universität Antheil zu nehmen berufen war. In den Tagen vom 20. bis 23. April hielt der Congress für innere Medicin hier seine Jahresversammlung ab; es entsprach lediglich der Bedeutung, die dieser Congress für die Entwicklung der medicinischen Wissenschaft gewonnen hat, wenn der Rector in der Eröffnungssitzung auch im Namen der Universität die Versammelten herzlich willkommen hiess. Im Februar wurde unter dem Protectorate Ihrer Majestät der Königin eine internationale Ausstellung für das Rothe Kreuz von einem Ausschusse veranstaltet, dem auch der Rector als Ehrenförderer beizutreten eingeladen war. Am 4. Februar fand in Anwesenheit Seiner Majestät des Königs und der Prinzen und Prinzessinnen des Königlichen Hauses die feierliche Eröffnung der Ausstellung statt. Tags darauf aber hatte der Verband freiwilliger Krankenpfleger im Kriege, der zu einem erheblichen Theile sich aus Studirenden zusammensetzt, die hohe Ehre, Seine Majestät den König bei dem anlässlich der Ausstellung veranstalteten Festcommers begrüssen zu dürfen und aus dem Allerhöchsten Munde Worte ehrender Anerkennung für seine Bestrebungen zu vernehmen. Damit ist meine Berichterstattung auf das geführt, was sie aus dem Kreise unsrer Studentenschaft zu erwähnen hat. Die Frequenz ist gegen die letztvergangenen Jahre etwas zurückgegangen. Im Wintersemester betrug sie 3431 gegen 3458 im Winter 1890/91, im Sommerhalbjahr 3104 gegen 3242 im Sommer 1891. Die Gesammtziffer der von mir Immatriculirten stellt sich auf 1722 gegen 1892 im vorausgehenden Jahre, und zwar sind von jenen 257 noch im vorigen Wintersemester, 784 im Laufe des Sommers, 681 zu Beginn dieses Semesters inscribirt worden. Auf die einzelnen Facultäten vertheilen sich diese 681 wie folgt: Theologen 77, Juristen 262, Mediciner 172, Philosophen 170. Da im Sommer nach Abschluss des Personalverzeichnisses noch 20 Studirende immatriculirt sind, 591 aber seitdem die Universität verlassen haben, so beläuft sich der augenblickliche Bestand auf 3214 Studirende gegen 3385 am 30. October 1891. Fünfzehn Studirende sind uns durch den Tod entrissen worden, gegenüber der Gesammtziffer eine kleine Zahl – und doch wie viele Hoffnungen sind mit ihnen ins Grab gesunken. 550

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Eine Entfernung von der Universität hat sich im vorigen Jahre nicht nothwendig gemacht; auch der engere Senat des Universitätsgerichts hat nur zu einmaliger Verhandlung zusammenzutreten gehabt. Ueberhaupt ist das Verhalten unsrer Studentenschaft dem guten Rufe treu geblieben, dessen unsre Hochschule auch nach dieser Richtung sich seit langem erfreut, und im amtlichen Verkehr mit ihr habe ich keine anderen als erfreuliche Erfahrungen gemacht. Möge unsre akademische Jugend in dem Vertrauen zu ihren Lehrern niemals wanken; in ihm liegt eine wesentliche Bedingung für den Erfolg unsrer gemeinsamen Arbeit. Ich stehe am Ziele meines Berichts. Aber bevor ich von meinem Amte scheide, drängt es mich, aufrichtigen Dank auszusprechen meinen Herren Collegen, deren Vertrauen mir das Amt übertragen, deren Unterstützung mir seine Führung erleichtert hat. Das Jahr, in welchem ich die Angelegenheiten der Universität leiten durfte, wird mir lebenslang in froher Erinnerung bleiben. Möge der Segen von oben fort und fort ruhen auf unsrer Hochschule, auf der Arbeit der Lehrenden und der Lernenden, zur Ehre deutscher Wissenschaft, zum Heile unsres Vaterlands! ***

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Theodor Brieger (1842–1915)

31. October 1892. Rede des antretenden Rectors D. theol. et phil. Theodor Brieger. Der Glaube Luthers in seiner Freiheit von menschlichen Autoritäten. Hochansehnliche Versammlung! Nach allgemeiner akademischer Sitte führt der antretende Rector sich durch eine Rede ein, deren Gegenstand er aus seiner Fachwissenschaft und seinem besonderen Arbeitsgebiete entnehmen darf. Da mein Fach die Kirchengeschichte ist und meine besondere Aufmerksamkeit sich stets der Geschichte der Reformation zugewendet hat, so darf ich es als mein gutes Recht betrachten, ein reformationsgeschichtliches Thema zu wählen. Ein solches stimmt zufällig zu dem alten Herkommen unserer Universität, dass sie ihr Jahresfest am 31. October begeht: noch heute ladet der Rector zur Feier dieses Tages ein als ,zur Feier des Reformationsfestes und des Rectorwechsels‘. Es stimmt zufällig zu dem Umstande, dass heute drei und dreiviertel Jahrhunderte abgelaufen sind seit jenem weltgeschichtlichen 31. October, dem jede Reformationsfeier gilt. Dieser Tag führt uns auf den deutschen Reformator, dessen unverwelklichem Andenken heute in Wittenberg in der zu neuem Glanze erstandenen Kirche Friedrichs des Weisen der deutsche Kaiser und die anderen evangelischen Fürsten Deutschlands ihre Huldigung darbringen. Wir brauchen aber nicht stehen zu bleiben bei dem Luther des 31. October 1517. Was ihn zum Reformator machte, das lebte wohl an diesem Tage schon in ihm; ein Reformator war er noch nicht, als er, ohne es zu wollen, ohne es zu ahnen, den ersten öffentlichen Schritt that auf der reformatorischen Bahn. Zum klar bewussten Werkzeuge einer Reformation haben ihn erst die nächsten drei Jahre gemacht: da ist der Reformator Luther fertig, der Herold und der Held des evangelischen Glaubens. Ihm, dem Glaubensmann, an dem wir sehen können, was evangelischer Glaube ist, will ich meine geschichtliche Betrachtung widmen. Aber ist das der Ton, den heute anschlagen darf, wer – ich sage nicht: Begeisterung für seinen Helden wecken will, sondern nur – das Interesse fesseln möchte? Ist es denn angebracht, von dem Manne des Glaubens zu reden in einer Zeit, wo weite Kreise von dem, was man Glauben nennt, mit Bewusstsein sich abgewendet 553

Theodor Brieger

haben, wo der Aberglaube sich als eine Macht offenbart, als ständen wir dem fünfzehnten Jahrhundert näher denn dem achtzehnten? Niemand wird sich erkühnen, denen, welche vier Jahrhunderte der Entwickelung ausstreichen möchten, das Bild Martin Luthers in seiner lichten Glorie einleuchtend zu machen. Aber als eine Lichtgestalt lebt er sonst überall in dem Andenken unseres Volkes: der kühne und rücksichtslose Bekämpfer der Finsternis und jeglicher priesterlichen Anmassung, der deutsche Patriot voll heiligen Zornes, der Volksmann, der dem deutschen Volke bis in das Innerste seines Herzens zu schauen vermochte, der zum Neuschöpfer unserer Sprache geworden ist, kurz, der Gewaltige, dem nie kein Mensch im deutschen Volke glich, bis unserem Jahrhundert auf anderem Gebiete seines Gleichen geschenkt ward – ja, vor dem geht noch heute dem protestantischen Volke das Herz auf, und wer ihn feiert, der darf es thun in der hohen Gewissheit, eine Saite anzuschlagen, die hell anklingt und jubelnd. Aber der Glaubensmann Luther, findet er Verständnis? Ich könnte antworten: gerade weil das nicht in dem Masse der Fall als es zu wünschen, sei es zweckmässig, sein Bild zu zeichnen: gegenüber dem Unglauben, dem Aberglauben, dem Ueberglauben der Zeit sei es heilsam, des echten Glaubens Züge im Bilde vorzuführen. Aber so könnte ich doch nur reden, wenn ich eine bestimmte Absicht verfolgte. Von ihr weiss ich mich insofern frei, als nicht sie zur näheren Bestimmung meines Themas mich geführt hat. Sie erwarten mit Recht von diesem Orte in dieser Stunde keine patriotische und keine religiöse Rede, sondern eine wissenschaftliche. Nun, eine Erwägung wissenschaftlicher Art muss mich heute zuvörderst auf den Glaubensmann Luther führen. Soll ich den Versuch machen, im engsten Rahmen den Reformator zu zeichnen, so kommt es offenbar an auf den Kernpunkt seines Seins, den Wurzelpunkt seiner Kraft. Und da war es nicht der Patriot und nicht der Volksmann, da war es nicht der Gegner der Hierarchie und der Feind der Finsternis, von dem die Kraft ausströmte zu weltgeschichtlicher That, so sehr der Vaterlandsfreund und der Mann des Volkes, der Feind alles Dunklen, Zweideutigen, Selbstsüchtigen mitgewirkt hat, und so gewiss wir mit Fug und Recht dieser Züge uns freuen, keinen missen möchten, sondern es war der im Innersten des Personlebens gewisse Christ. Sein Glaube war der Quell seiner Kraft, dieser Glaube, der in seiner Selbstgewissheit frei war von allen menschlichen Autoritäten. Denn was ist ein Glaube, der seiner selbst nicht gewiss ist? und wo soll diese Gewissheit herkommen, wenn der Glaube fremder Stützen bedarf? Ein Jeder hat von den harten Seelenkämpfen des jungen Mönches gehört. Wir sind nicht näher in sie eingeweiht, wissen aber doch genug von ihnen, um sagen zu können, dass es heroische gewesen sind. Die landläufigen Fehden, welche dem Weltflüchtigen der Rückschlag einer raffinirt unterdrückten Sinnlichkeit zu erwecken pflegt, liessen sie tief unter sich. Es war ein Ringen der höchsten Mächte der Welt. Denn hier kämpfte eine unsterbliche Seele mit ihrem allgewaltigen Schöpfer. Durch ihre Sünde fühlt sich die Seele von Gott geschieden, der doch allein sie befriedigen könnte. Sie sieht in ihm nur den ,furchtbaren und schrecklichen Richter‘ und deshalb ihren Feind, und in dem Gefühl durchdringenden Schmerzes über ihre unselige Lage durchkostet sie nichts anderes als die Qualen einer Ewigkeit. „Ich 554

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kenne einen Menschen“, so schrieb Martin Luther 1518 in den Erläuterungen seiner Thesen, „ich kenne einen Menschen, der mir versichert hat, dass er diese Qualen öfter erduldet habe, allerdings nur ganz kurze Zeit, aber so heftige und infernale, dass keine Zunge sie aussagen, kein Griffel sie beschreiben, keiner der sie nicht erfahren sie glauben könne, so dass, wenn sie ganz an ihm sich vollendet oder auch nur eine halbe, ja eine zehntel Stunde gedauert hätten, er gänzlich hätte vergehen müssen und alle seine Gebeine zu Asche verbrannt wären. Da erscheint Gott als furchtbar zornig und mit ihm zugleich die ganze Schöpfung. Da giebt es keine Flucht, keinen Trost, weder innen noch aussen, sondern alles ist Anklage. Da wehklagt er: ,verstossen bin ich von Deinem Angesicht‘ und er wagt nicht einmal zu flehen: ,Herr, strafe mich nicht in Deinem Zorn.‘ In diesem Augenblicke kann die Seele – es ist wunderbar zu sagen – nicht glauben, dass sie jemals erlöst werden könne; sie fühlt nur: die Strafe hat ihr Mass noch nicht erreicht, es ist doch eine ewige, und sie kann sie nicht für eine zeitliche halten; es bleibt ihr nur die blosse Sehnsucht nach Hülfe und ein schrecklich Seufzen; aber sie weiss nicht, wo sie um Hülfe bitten soll. Hier ist die Seele ausgespannt mit Christo, dass man alle Gebeine zählen kann, und es giebt keinen Winkel in ihr, der nicht erfüllt wäre von bitterster Bitternis, von Schauder, Entsetzen, Traurigkeit“, die ewig dünken. So Luther unzweifelhaft über sich selbst. Das war der Zustand dessen, der – ohne je sein Gewissen mit groben Sünden belastet zu haben – mit der Welt gebrochen hatte, um hinter Klostermauern ,fromm zu werden, genug zu thun‘ und so ,einen gnädigen Gott zu kriegen‘. Die Frömmigkeit des Mönches und der Eifer seiner Genugthuungen hatten ihres Zieles verfehlt: mit diesen Mitteln konnte er sich Gott nicht gnädig stimmen. Nicht minder versagten die Sacramente der Kirche, es versagte die Kirche selbst. Wer sagte ihm denn, dass die Vergebung, welche diese in der Absolution des Busssacramentes ertheilte, ihm gelte? Und weiter, wurde er nicht hingewiesen auf ein gewisses Mass von Reue? hatte er denn das erforderliche Mass? konnte er sich auf seine eigene Reue verlassen? sollte das die Stütze sein, welche die Vergebung sicherte? Sah er sich nicht abermals auf seine eigene Kraft verwiesen wie mit der mönchischen Selbstheiligung? Mit eigener Kraft konnte er den Gott, dessen Zorn er fühlte, nicht umstimmen. Jede neue Anstrengung machte ihm das nur um so deutlicher. Daher diese Abgründe tiefsten Seelenschmerzes in Luther – dieser doch so kernigen, gesunden, nichts weniger als weichlichen Natur. ,Alles ist Anklage,‘ hörten wir – alles versenkt momentan in die tiefe Nacht der Hoffnungslosigkeit, durch die gleichwohl nicht erstickt zu werden vermag das stille Feuer der Sehnsucht in der bang aufseufzenden Seele. Wie ist es nun anders geworden? was hat ihm geholfen? Das Wort eben des Gottes, vor dem er sich fürchtete, ist es gewesen, was ihm Trost brachte; das Wort Gottes, das will sagen: seine Verheissungen. In brüderlicher Zusprache zuerst traten sie ihm nahe (es war ein Zeugnis des Glaubens, der nie in der Kirche untergegangen war), dann in der Schrift, auf die er sich hingeführt sah. Längst kannte er diese Verheissungen, aber sie waren ihm unfassbar geblieben; jetzt endlich erschloss sich seinem Heilsverlangen ihr Verständnis. Der Gedanke von der Barmherzigkeit Gottes, des nämlichen, von dessen Feindschaft sein Gewissen zeugte, geht ihm auf – als 555

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ein fernes, noch schwaches Licht zuerst, dann heller und heller leuchtend, schliesslich seinen ganzen Weg, ja Zeit und Ewigkeit ihm erhellend. Aber Barmherzigkeit Gottes, was verkündet sie? und wodurch wird sie verbürgt? Mutet sie doch den von der Not seiner Sünde Niedergebeugten wie eine unglaubliche Botschaft an. Die Natur oder, wie Luther sich ausdrückt, die Creatur weiss nichts von ihr, des Menschen Herz weiss nur das Gegenteil, die Geschichte kennt sie auch nicht – abgesehen von einer That, in welcher Gott sich geoffenbart hat, aus der allein er demnach zu erkennen ist: der Sendung seines Sohnes, des Menschen Christus. Diese That der Liebe, wie sie ihm aus dem Worte Gottes entgegentritt als dessen Kern und Stern, ja einziger Inhalt, überwältigt ihn. Sie ergreift ihn, und so ergreift er sie. Der bei allem Verlangen nach Gott Gott erschrocken Fliehende gewinnt Zutrauen zu ihm wie das Kind zu dem vergebenden Vater, dessen Liebe durch keinen Zorn hatte geschmälert werden können. Er wird jetzt dessen gewiss, dass er an Gott einen gnädigen Gott hat, durch Christus hat, und er fühlt sich (ohne jede Künstelei eines mystischen Aufschwunges) geborgen in Gott, nicht anders als wie das Kind sich geborgen fühlt in der Huld seines Vaters – und das ist der Glaube, mit dem er Gott umfasst, der Glaube, der sich selber als ein Geschenk Gottes weiss, als der reine Ausfluss seiner Barmherzigkeit, ganz umsonst, ohne Verdienst gegeben. Diese Kindesstellung zu Gott – sie ist der Glaube Luthers, und sie allein ist Glaube; sie ist der ganze Glaube, nicht ein Teil, nicht ein Stück. Damit ist nicht in Abrede gestellt, dass mit diesem Vertrauen auf Gottes Vatergüte unmittelbar und mit innerer Notwendigkeit noch Anderes gegeben ist: ein neuer, auf das Gute gerichteter Wille, der dem Vater zu gefallen strebt, ohne je an Lohn oder Vorteil zu denken, und ferner eine bestimmte Erkenntnis Gottes. Aber beides, wiewohl mit dem Glauben gegeben, ist nicht unmittelbar der Glaube selbst. Es ist nicht unwichtig, sich das gegenwärtig zu halten. Identificirt man die Regungen und Aeusserungen eines neuen, Gott wohlgefälligen Lebens mit dem Glauben selber, so wird damit der religiöse Nerv des sittlichen Lebens unterbunden; der Mensch sieht sich wieder angewiesen auf seine Leistungen, auf sein Thun als ein verdienstliches: das ist das Ende des Glaubens. Identificirt man die Gotteserkenntnis oder gar ihre begriffliche Ausprägung mit dem Glauben selbst, so wird damit der religiöse Nerv des Wissens von Gott unterbunden; der Mensch sieht sich angewiesen auf bestimmte Vorstellungen von Gott, seinem Wesen und seinen Eigenschaften, die er übernehmen muss als etwas fremdes, die ihm auch stets mit autoritativer Gewalt gegenüberstehen bleiben: das ist nicht minder das Ende des Glaubens. So weit man sich innerhalb der Grenzen des Protestantismus zu halten beabsichtigt, ist das eine Mal ein schaler Moralismus das Ergebnis, ein kraftloser Dogmatismus das andere Mal. Nacheinander sind beide Verkehrungen des evangelischen Christentums aufgekommen: zuerst die letztere in der sogenannten Orthodoxie, dann infolge des Schiffbruches derselben jene in der Aufklärung. Welche Gefahr innerhalb des Protestantismus die grössere ist, wer wagte es sicher zu entscheiden? Die Geschichte dreier Jahrhunderte zeigt uns, dass der Dogmatismus 556

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ahnungslos die Aufklärung gross gezogen, und dass die Aufklärung wider Willen einem neuen, wennschon ermässigten Dogmatismus den Weg bereitet hat. Das evangelische Christentum kann dabei das eine Mal so wenig gedeihen wie das andere Mal. Das Glaubensprinzip Luthers schliesst beide Verirrungen aus. Hätte nicht die Ungunst der Zeitverhältnisse, wohl auch eine gewisse persönliche Disposition seines Urhebers verhindert, dass es ungeschmälert sich durchsetzte, die Entwickelung des Protestantismus wäre eine andere geworden, wir würden heute weiter sein als wir sind. Das Glaubensprinzip, wie gesagt, schiebt beiden Gefahren einen Riegel vor. Wirklich beiden? Wie kommt es denn, dass die eine Gefahr so früh, noch in den Tagen Luthers selbst aufgetaucht ist? Das erklärt sich zum Teil aus der polemischen Stimmung des Reformators, wie sie durch die Verhältnisse bedingt war. Luther lag die Abweisung einer selbstquälerischen Werkgerechtigkeit näher als die Bekämpfung der Vorstellung, als ob es auf den Besitz des Dogmas ankomme. Das Dogma drückte die Kirche des ausgehenden Mittelalters nicht. Mit ihm fand man sich leichten Kaufes ab. Freilich wurde Glaube verlangt, aber dieser Glaube war nur äusserer Gehorsam, Unterwerfung unter die Kirche, unter ihre schrankenlose Autorität. Wer nur das Dogma der Kirche nicht öffentlich anfocht, der konnte sich mit ihm auseinandersetzen wie er wollte; ob gläubig oder sophistisch, ob mit oder ohne Opfer des Intellects, oder ob an die Stelle jeglicher Auseinandersetzung der Indifferentismus trat oder frivoler Unglaube – wer fragte darnach? An den einfachen Christen, welcher nach Mitteln der Seligkeit verlangte, trat nicht sowohl die Forderung einer Unterwerfung unter das Dogma heran, als vielmehr die eines Erfüllens der kirchlichen Vorschriften: die von der Kirche empfohlenen Seligkeitsmittel sollte er anwenden, durch gute Werke sich Verdienste erwerben, für die etwa fehlenden auf die Kirche, ihren reichen Schatz, sich verlassen. Die Verkehrtheit dieses Weges hatte Luther an sich erfahren. Hier setzte er daher mit seinem Widerspruche ein. So wurde er nicht müde, das menschliche Unvermögen zu betonen, das Unvermögen des Menschen, von sich aus, durch seine Anstrengungen Gott genug zu thun, ihn zu versöhnen, irgendwie auch nur durch die allerbesten Werke, das eifrigste Streben nach dem Guten sich ein Verdienst zu erwerben; wurde er nicht müde, den Glauben des Menschen als eitel Werk Gottes zu feiern, alles Menschenwerk auszuschliessen: wenn Gott denen, welche in Christus dem Erlöser seine Liebe erkannt haben und deswegen voll Vertrauen ihm sich hingeben, durch eben diesen Glauben seine Gerechtigkeit schenkt, so kann doch die Gerechtigkeit des Gläubigen, das neue Leben in ihm, nie Grund sein für das Thun Gottes und nichts, was Belohnung von Gott erheischen könnte. Diesen Satz hat Luther daher mit aller Macht getrieben und dadurch der Gefahr, dass das neue Leben für den Glauben selbst genommen wurde, bis auf weiteres für seine Kirche vorgebeugt. Denn seine Schüler hielten an der Unterscheidung mit einem Eifer fest, welcher bald zu einer unverständigen und bedenklichen Übertreibung führen sollte. Das praktisch-religiöse Interesse, welches den Anstoss zur Reformation Luthers gegeben hatte, hielt also nach wie vor den Blick des Reformators fest gerichtet auf 557

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den Schaden, welcher durch eine Annäherung an den alten Irrweg der Werkgerechtigkeit dem evangelischen Christentum erwachsen konnte. Man kann sagen: die Fechterstellung, welche Luther notgedrungen hier eingenommen, hat er Zeit seines Lebens nicht aufgegeben. Darüber hat er es unterlassen, auch jene andere Gefahr, welche aus der mangelnden Unterscheidung des Glaubens und der aus ihm sich ergebenden Erkenntnis entspringen konnte, mit der nämlichen Aufmerksamkeit ins Auge zu fassen, ja er selber hat sie wohl gelegentlich sorglos gesteigert. Und doch hatte er durch seine grundsätzliche Erfassung des evangelischen Glaubens, durch die sieghafte Zurückführung desselben auf sein eigentliches Gebiet, dem Dogmatismus nicht minder das Todesurteil gesprochen als dem Moralismus des mittelalterlichen Kirchentums. Das Todesurteil, so dass, wo immer auf dem Gebiete des Protestantismus die bisherige Schätzung des Dogmas noch fortgehen oder wieder aufleben mochte, dieses nichts anderes war als ein Rückfall ins Alte, ein Abfall vom Prinzip des evangelischen Christentums. Der Glaubensheld Luther hat dieses Prinzip ein für alle Mal aufgestellt – und niemals und nirgends hat sich der Reformator kühner gezeigt als bei dieser Grundlegung. Nicht der Mut, mit welchem er eine Welt, in die Schranken forderte, Papst und Kaiser und allen bestehenden Gewalten zum Trotz an der erkannten Wahrheit festhielt, bezeichnet den Höhepunkt seiner gigantischen Verwegenheit; sondern darin haben wir ihn zu erblicken, dass dieser Sohn des mittelalterlichen Kirchentums, welches nahezu mit dem Christentum selber zusammenfiel, alle bisherigen Stützen des Glaubens zerbrach, weil sie morsch waren, unvermögend ihn zu tragen, noch mehr, weil sie, einem Dorngestrüppe gleich, den Glauben umsponnen hatten, ihn zu ersticken drohten. Eine ungeheuere Kühnheit, die ihres Gleichen nicht hat in der Geschichte, wenn wir absehen von dem Heldenmut des Mannes, welcher aus dem blind eifernden Pharisäer der feurigste Verkündiger der freien Gnade Gottes geworden ist. Eine ungeheuere Kühnheit, diese Loslösung aus allen den Banden, in denen bis dahin das Christentum seit tausend zum Teil und noch viel mehr Jahren gefangen gehalten war! Diese Lösung war freilich zugleich eine so umfassende, ja fast unübersehbare Aufgabe, dass wir uns wahrlich nicht darüber wundern können, wenn der Reformator sie nach allen Seiten nur im Prinzip vollzogen hat, in der Praxis noch an mehr als einem Punkte sich der geheimen Gewalt der Mächte zugänglich zeigt, unter deren Bann er aufgewachsen war; so dass wir uns noch weniger wundern können, wenn die nächsten Geschlechter nach ihm nur unvollkommen, ja nur zum kleinsten Teile die Aufgabe begriffen, nur in bescheidenem Umfange sie auszuführen vermochten. Von jedem hierarchischen Zuge hat Luther wie grundsätzlich so im Leben sich geschieden. Es war nicht seine Schuld, wenn in der Kirche, die sich nach ihm nennt, gelegentlich hierarchische Gelüste leise, verschämt sich hervorgewagt haben, welche für sie passten wie für den Freigeborenen das Mal des Sklaven. Freilich, ein jeder Kenner der Entwickelung des Reformators weiss, was es ihn gekostet hat, welche harten Kämpfe auch hier, bis er sich emporarbeiten konnte aus den Umschlingungen 558

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dieser obersten Autorität des hierarchischen Kirchentums. Und es ist etwas Grosses, dass er hier nicht zurücksank: niemals, in keinem Momente. Zwar dass er sich nicht von neuem beugte unter die bisherigen kirchlichen Gewalten, dafür sorgten diese durch die Verfolgung dessen, was er ,sein Evangelium‘ nannte, mehr als genug. Aber er widerstand auch der Versuchung, welche in der unsäglichen Verwirrung aller Verhältnisse, in der erschreckenden, wenngleich durchaus erklärlichen Verwilderung der Massen an ihn herantrat, dem neuen kirchlichen Verfassungsbau durch Einfügung einiger hierarchischer Quadersteine festeren Halt zu verleihen: auch hier sollte das Evangelium allein wirken, nur das Wort seiner Verkündigung es thun. Mit dem hierarchischen Kirchentum war ihm aber jedes rechtlich organisirte Kirchentum als Autorität dahingesunken, und mit der Autorität der rechtlichen Kirche waren ihm – wie hätte es anders sein können? – zusammengebrochen alle die andern äusseren Autoritäten, welche von der Kirche ihre Kraft und Geltung empfingen und als solche Glauben, d. h. hier: Unterwerfung verlangten: die Lehren der Kirche und ihre heiligen Schriften, letztere sofern sie nämlich von der Kirche gesammelt, als göttliche von ihr verbürgt wurden. Als treuer Sohn seiner Kirche hatte Augustinus gelassen das Wort gesprochen: „Ich würde dem Evangelium nicht glauben, wenn mich nicht das Ansehen der Kirche dazu bestimmte.“ Ich sprach von dem Fallen der äusseren Autoritäten. Wurde damit von Luther das Dogma der Kirche, die Arbeit eines Jahrtausends, ohne weiteres über Bord geworfen, als ein unnützer Ballast? wurden damit die heiligen Schriften selber angetastet? Mit nichten! Bei beiden handelte es sich eben nur um ihre äussere, autoritative Geltung, mit der sich sein evangelischer Glaube nicht vertrug. Eben diese Geltung nur war dahin. Vor dem Glauben, der nicht ein Fürwahrhalten ist, sondern eine bestimmte Stellung zu Gott, eine Gesinnung, haben sich die bisherigen Autoritäten auszuweisen. Dass Luther hierin die Stellung des evangelischen Christen, die einzig richtige, eingenommen hat, leuchtet in Betreff des Dogmas unschwer ein (und ein Dogma war ja auch der Kanon, d. h. die von der Kirche getroffene Auswahl heiliger Schriften, ein Dogma die Theorie von der Inspiration derselben als eines religiösen Gesetzbuches). Wie gesagt, es handelt sich um die prinzipielle Stellung des Dogmas, nicht um Wert oder Unwert, Richtigkeit oder Unrichtigkeit des einzelnen Dogmas. Mit welchem Anspruche trat denn bis dahin das Dogma auf? und was ist das Dogma überhaupt? Dogma ist die lehrhafte Fixirung des jeweiligen Verständnisses, welches die Kirche vom Christentum hat. Das Dogma will als Erzeugnis des Glaubens die klar und bestimmt formulirte Antwort der Christenheit sein auf die Botschaft, mit welcher das Christentum in die Welt getreten ist, auf das Evangelium, sein Wiederhall; und selbstverständlich kein tönendes Echo ohne Seele, sondern die Wiedergabe dessen, was vom Evangelium aufgefasst, was der Christenheit zum klaren Bewusstsein gekommen ist. Dass es dieses Verständnisses bedarf, kann keine Frage sein, wenn das Christentum anders eine lebendige Macht sein will, anstatt sich in eine Welt unklarer 559

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religiöser Gefühle einzuspinnen, wie die Mystik sie liebt. Es wäre eine Botschaft, ohne dass wir von solchen hörten, welche sie sich gesagt sein lassen. Eben so wenig kann es aber eine Frage sein, dass es für jede kirchliche Gemeinschaft unerlässlich ist, ihr Verständnis des Evangeliums irgendwie zu formuliren – als Norm für den Unterricht, als Hülfsmittel, wenn man will: als Grundlage für ein wachsendes Verständnis. Denn dass die Formulirung dieses Verständnisses keine feststehende, keine ein für alle Mal gegebene Grösse ist, das könnte nur derjenige in Abrede stellen, der überhaupt den Fortschritt, jede Möglichkeit desselben verneinte, der eine Geschichte des Christentums, der Kirche grundsätzlich abwiese und der Kirche selbst in allen ihren Aufstellungen Unfehlbarkeit zuschriebe. Eine solche Unfehlbarkeit freilich würde jede geschichtliche Entwickelung und damit auch ein Wachstum des Verständnisses ausschliessen. Deswegen also ist das Dogma veränderlich, grade so gut wie jedes andere Erzeugnis menschlicher Thätigkeit. Deswegen muss aber auch eine jede Zeit, wenn sie anders die Kraft dazu hat, ihr fortgeschrittenes Verständnis des Evangeliums aussprechen, und selbstverständlich in ihrer Sprache, in den ihr gewohnten Formen des Denkens. Wenn wir selbst den Fall setzen wollen, dass eine Kirche Jahrhunderte lang kein reicheres Verständnis gewonnen hätte, so würde es also immer noch einer Uebersetzung des früher Erreichten in die Sprache der Gegenwart bedürfen, falls inzwischen die Culturentwickelung die ganze Anschauungs- und Ausdrucksweise verändert hätte. Also das Dogma ist eine geschichtliche Grösse. Ist es nun thatsächlich als solche in die Erscheinung getreten? Unzweifelhaft! Wir können seine allmähliche Entstehung verfolgen und nicht minder die Veränderungen, welche mit ihm vorgegangen sind; die ganze reiche Fülle geschichtlichen Lebens macht sich hier so gut bemerklich wie nur auf irgend einem andern Gebiete. Gleich die alte Kirche hat Erstaunliches geleistet mit erstaunlicher Kraft. In dieser Zeit der Grundlegung, hauptsächlich im vierten und fünften Jahrhundert, fixirt die Kirche ihr Verständnis des Christentums für ihre noch der antiken Welt angehörenden Glieder unter Anwendung aller der reichen Hülfsmittel hellenischer Bildung und Philosophie – in classischer Weise. Wir könnten noch heute diesen Gebilden nicht nur mit Bewunderung der hier sich kundgebenden Kraft der religiösen Empfindung wie des Denkens, sondern auch mit warmer Anerkennung des Erreichten gegenüberstehen, hätten sie nicht einen Anspruch erhoben, vor dem sich kein evangelischer Christ beugen kann. Infolge einer Entwickelung, welche die christliche Kirche frühzeitig genommen hat, der gemäss, um es kurz zu sagen, die Kirche sich selber als höchste Autorität hinstellte, wollten schon die Dogmen der alten Kirche mehr seien, als sie thatsächlich waren und sein konnten: mehr als die mit den Mitteln der Zeit getroffene und daher zeitlich bedingte Ausprägung der zur Zeit erreichten Gesamtauffassung des Christentums; sie wollten endgültige Ausprägungen der christlichen Wahrheit sein, letztlich mit dieser selbst identisch, daher auch nichts Neues, sondern der alte apostolische Glaube, etwas gleich zu Anfang Gegebenes, von je her in der Kirche Vorhandenes, was nur auf gegebene Veranlassung hin von dieser aus dem Schatze ihrer Ueberlie560

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ferung hervorgeholt worden sei. So gab sich das Dogma als eine ungeschichtliche Grösse, als etwas Ueberirdisches, als etwas durch die unfehlbare Kirche Verbürgtes, daher selber Unfehlbares. Sein Verhältnis zum Glauben, der doch den Anstoss gegeben hatte zu seiner Herausbildung, war damit gestört; nur noch eine bestimmte Art von Glauben stand im Einklang mit ihm, der Glaube als Zustimmung zu Lehrsätzen, als Gehorsam gegen eine Autorität, als Unterwerfung, während doch der evangelische Glaube kein Gesetz über sich kennt: denn er lässt sich nichts vorschreiben, nichts befehlen! Weil er die Gewissheit in sich selber trägt, bedarf er keiner äusseren Autoritäten, duldet keine; die einzige Autorität, deren er nicht entbehren kann, ist Christus, wie er sich im Worte Gottes offenbart: ihr ergiebt er sich in freiem Gehorsam, sie ist ja der Grund, auf dem er steht. So kann auch niemals die Gotteserkenntnis, welche andere Gläubige etwa gefunden und ausgesprochen haben, mit dem Recht einer Vorschrift dem Gläubigen sich nahen, so wenig wie der Glaube eines Anderen für mich eine Autorität sein kann. Die Erkenntnis Gottes, welche mit dem Glauben verknüpft ist, kann auch nicht auf Andere übertragen werden, durch keine Lehre und durch keinen Unterricht, sondern sie fliesst, wo sie ist, stets nur aus der inneren Stellung zu Gott. Wirken kann im Christentum nur das Zeugnis des Glaubens – zeugend, Leben weckend, Glauben weckend. Und für den durch das Zeugnis des Glaubens geweckten Glauben wird dann auch die Gotteserkenntnis des Glaubens Anderer Wert haben, einen hohen Wert (denn sie kann befruchtend, befestigend, klärend, reinigend wirken) – aber diesen Wert hat auch sie nur als ein Zeugnis des Glaubens. Für die Kirche ist die Gotteserkenntnis der Christen in allen ihren Versuchen, sich auf eine allgemeingültige Weise zum Ausdruck zu bringen, ein reicher Strom, der durch die Jahrhunderte hindurchgeht. Sie kann seiner nicht entraten, wenn sie wachsen will an Verständnis, um ihres Berufes an der Menschheit warten zu können: ohne ein solches Wachstum würde sie stehen bleiben, verkümmern, würde das Christentum selber entarten, einem bunten Heere von Irrtümern zum Raube werden. Diese wachsende Erkenntnis, wie sie sich im Dogma ausspricht, ist also für die Gesamtheit schlechthin unentbehrlich. Das Wahngebilde eines ,undogmatischen Christentums‘, das von Zeit zu Zeit als Forderung des Unverstandes auftritt, zerfliesst vor der Einsicht in das Wesen des christlichen Glaubens wie des geschichtlichen Charakters des Christentums. Wo immer in jenen Versuchen einer Ausprägung christlicher Gotteserkenntnis wirklich der Glaube sich ausgesprochen hat und nicht eine fremdartige Speculation, da sind sie von bleibender Bedeutung: nicht nur, dass sie einstmals einen Fortschritt bedeutet haben, nein, die Christenheit wird stets aus ihnen lernen können, auch da, wo sie nur der Tendenz zustimmen kann und nicht dem Ergebnis. Denn auch von dem Dogma gilt, dass es geworden ist und nicht gemacht. So also behält das Dogma seinen Wert, seine volle, uneingeschränkte Bedeutung, nur dass es, der angemassten Hülle der unfehlbaren Wahrheit entkleidet, seine tyrannische Herrschaft über den Glauben der Christenheit einbüsst. Diese Wertung des Dogmas ergiebt sich, wie gezeigt, unmittelbar aus dem evangelischen Begriff des Glaubens. 561

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Doch kehren wir zu Luther zurück! Es fragt sich noch, ob ihn sein Glaube denn wirklich frei gemacht hat von der Autorität des Dogmas. Aber sollte es erst dieser Frage bedürfen? erst ihrer ausdrücklichen Bejahung? ja gar einer Beweisführung für das Recht dieses Ja? Können wir uns den Reformator denken ohne diese Freiheit des Christenmenschen von dem Joch des Glaubensgesetzes? Was anderes als der Glaube, dieser selbstgewisse, auf seinem Gebiete souveräne, hat ihm denn den Mut gegeben zu seinem Vorgehen? Hat er etwa nur Misbräuche angegriffen? oder nur Institutionen? bloss das Papsttum und was mit diesem stand und fiel? Galt nicht sein Angriff der unevangelischen Auffassung des Christentums, dem Dogma der Kirche? richtete er sich da nicht mit Notwendigkeit gegen das Dogma der Dogmen, den Satz von der Unfehlbarkeit der Kirche und ihrer Concilien? gegen die Autorität der Väter der Kirche und ihrer Lehrer? Konnte er da Halt machen bei einer bestimmten Zeit? etwa nur die Autorität der Scholastiker bestreiten und die Geltung der Kirchenväter unangetastet lassen? Und dennoch scheint er Halt gemacht zu haben, sofern er, wie ein Jeder zugeben muss, zwar das Dogma der mittelalterlichen Kirche zerstört, dagegen das Dogma der alten Kirche mit Innigkeit umfasst hat. Er scheint also doch jene Folgerung aus seinem Glaubensbegriff, von der wir reden, nicht gezogen zu haben. Es würde noch nichts verschlagen, wenn er sie nur theoretisch nicht durchgeführt hätte. Er war überhaupt kein Mann der Theorie; alles kam bei ihm an auf die geniale Intuition und deren impulsive Aeusserung in Wort oder That. Aber sein praktisches Verhalten scheint den Beweis zu liefern, dass er nicht im Stande gewesen ist, dem Banne der kirchlichen Autorität gänzlich sich zu entziehen. Aber es ist nur ein Schein! Thatsächlich hat er diese Bande gebrochen – thatsächlich überall da, wo sein Glaube in dem Dogma ein Hindernis sah, eine Bürde empfand. Als ein Hindernis des Glaubens hat er das christologische Dogma der alten Kirche nicht empfunden, ja nicht einmal als eine Bürde für denselben. Seine Kampfesstellung liess ihn ganz andere Hindernisse erblicken. Aber noch mehr: mit Liebe, wennschon nicht ohne Kritik, versenkte er sich in jene Aufstellungen, welche er dem alten apostolischen Glauben gemäss fand, in die er aber (das ist nach dem heutigen Stande der Forschung meines Erachtens eine unleugbare Thatsache) sich selber, seine neuen religiösen Erkenntnisse hineinlegte – in voller Naivetät, ohne eine hinreichende Kenntnis ihres ursprünglichen Sinnes; woher hätte er bei der mangelhaften Kunde des kirchlichen Altertums zu seiner Zeit ein geschichtliches Verständnis gewinnen sollen? So waren es die alten Dogmen und doch neue: mochte er im Laute der Worte an Athanasius sich anschliessen oder an Augustinus, der Sinn war ein anderer, das Dogma selber war alterirt – oh nicht etwa in dem Grade, dass der neue Inhalt mit der Zeit auch die Form sprengen musste, darüber reflectirte er nicht; er war sich ja seines Verfahrens gar nicht bewusst; überdies hätte er wahrlich Wichtigeres zu thun gehabt. Immer nahm er dieses Dogma auf, nicht weil es Dogma war, sondern 562

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weil er es mit seinem Glauben an Christus im Einklang fand. Deswegen ist doch die autoritative Geltung des Dogmas durch ihn gebrochen für den evangelischen Christen – für immer. Und wir haben gesehen, was in ihm diese Fesseln gesprengt hat: nicht irgend ein theoretisches Interesse, etwa ein Zug der Aufklärung, sondern nichts anderes als die Kraft und die Hoheit seines Glaubens, der mutig, kühn, gewaltig hinwegfegte, was neben dem Worte Gottes Anspruch auf Geltung erhob – so auch nach dieser Richtung hin den grossen Akt der Befreiung des Christenmenschen vollziehend. Dass dieser ungebunden bleibt in der evangelischen Kirche, das darf man auch heute verlangen im Namen eben dieses Glaubens. Auch die kirchlichen Kämpfe der Gegenwart, soweit sie um das Dogma sich drehen, können eine erfreuliche Wendung nur dann nehmen, wenn sie auf allen Seiten geführt werden in dem lebendigen Bewusstsein dessen, was das evangelische Christentum seinem grossen Erneuerer verdankt: die Freiheit des Glaubens von allen menschlichen Autoritäten, seine Gebundenheit einzig und allein an das Wort aus Gott. ***

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31. October 1893. Rede des abtretenden Rectors Dr. theol. et phil. Theodor Brieger. Bericht über das Studienjahr 1892/93. Hochansehnliche Versammlung! Das Studienjahr, über welches ich heute von dieser Stelle zu berichten habe, hat sich seinen Vorgängern angeschlossen als ein Jahr ruhiger, friedlicher Arbeit, durch keine Stürme in den Weltgeschicken, noch sonst durch ein allgemeines widriges Geschick gestört. So dürfen wir mit freudigem Dank gegen Gott auf das Jahr zurückblicken. Aber noch mehr, wir begehen heute unser Jahresfest in gehobener Stimmung. Denn noch stehen wir unter dem Eindruck des hohen und herrlichen Festes, welches jüngst unser Heer und unser Land unter der warmen Beteiligung unsers ganzen deutschen Vaterlandes und unseres Kaisers gefeiert hat. Das Jubelfest, welches dem fünfzigjährigen Waffendienste Seiner Majestät des Königs Albert galt, stellt sich unseren Blicken dar als ein Ereignis nicht bloss der sächsischen Geschichte. Aber auch wenn wir absehen von seiner geschichtlichen Bedeutung, so bleibt es, rein menschlich betrachtet, ein Fest, wie es schöner nicht gedacht werden kann. In seiner schlichten Grösse hat der hohe Jubilar versucht, die Blicke abzulenken von dem Ausserordentlichen, was durch ihn vollbracht ist. Eins hat dadurch nur um so heller ins Licht treten können, dasjenige was den Wert eines Königs ausmacht wie den des geringsten seiner Unterthanen: es ist die einfache treue Pflichterfüllung, der gewissenhafte Gebrauch der reichen Gaben und Kräfte, die unserem Königlichen Herrn verliehen sind, was diese fünf Jahrzehnte durchzieht und ihnen ihr vorbildliches Gepräge aufdrückt – ein vorbildliches Gepräge für alle, nicht nur für die, welche des Königs Rock tragen. Kein grösseres Geschenk kann ein Herrscher seinem Lande machen. Und noch eins hat nicht übersehen werden können. Es war das Fest eines ruhmgekrönten Kriegshelden, der – wir durften es aus seinem eigenen Munde vernehmen – jeder Zeit bereit ist, wenn es sein muss abermals sein Schwert zu ziehen „für deutsches Recht und Sicherheit“. Aber derselbe hat in einer jetzt zwanzigjährigen Regierung gezeigt, wie hoch er des Krieges Siegespreis, den Frieden, zu werten, wie weise er ihn für sein Volk auszubeuten versteht. Der leuchtenden Beweise dieser Kunst hat von jeher mit in erster Linie unsere Universität sich zu erfreuen gehabt; so auch im vergangenen Jahre. Des feinfühligen Verständnisses eines für die Eigenart der Wissenschaft erschlossenen, von ihrem Werte durchdrungenen Monarchen seit lange gewiss, freuen wir uns gleichwohl einer jeden neuen Äusserung dieses ungewöhnlichen Vermögens. 564

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Es ist alljährlich eine festliche Zeit für uns, wenn Seine Majestät der König, wie diesmal in den Tagen vom 6. bis 10. März, Stadt und Universität Leipzig durch seinen Besuch auszeichnet, wenn unser Allerdurchlauchtigster Rector in unseren Hörsälen und Anstalten erscheint. Es waren fünf Vorlesungen und ebensoviele Institute, welche König Albert durch seine Gegenwart ehrte. Eine dieser Vorlesungen, diejenige des Professors Schreiber über die Wandgemälde des Paulinums, erfreute sich der besonderen Auszeichnung, dass auch Ihre Majestät die Königin ihr beiwohnte, welche auch die Frauenklinik in ihrem neuen Gebäude eingehend zu besichtigen geruhte. Mit dem Lande hat jederzeit die Landesuniversität innigen Anteil genommen an allem, was an Freude oder Leid das Königliche Haus der Wettiner betraf. Wie hätte es anders sein können bei dem freudigen Ereignis des 15. Januar, der Geburt eines Prinzen, welcher, wills Gott, dereinst in späten Tagen die Königskrone tragen wird? Es war dem Rector vergönnt, am 22. Januar Ihren Majestäten dem König und der Königin, fünf Wochen später auch den prinzlichen Eltern, Ihren Königlichen Hoheiten dem Prinzen und der Prinzessin Friedrich August, die ehrfurchtsvollen Glückwünsche der Universität zu überbringen. Im Anschluss an die erwähnte Vorlesung des Professors Schreiber hat Seine Majestät der König die durch den Abbruch der nördlichen Wand des Pauliner Kreuzganges dem Tageslicht zugeführten Gemälde der Südwand des alten Baues noch ein Mal in Augenschein genommen, bevor auch diese Wand fiel – mit ihr, wie wir hoffen, nicht der Bildercyklus. Erst in zwölfter Stunde nach Zutritt des Lichtes, nach teilweiser Entfernung der Übermalung der Jahre 1868 und 70, vor allem mit Hülfe der von unserm verdienten Collegen Professor Schreiber veranlassten Durchzeichnungen in seinem hervorragenden kunstgeschichtlichen Werte erkannt, musste er – das stand dem akademischen Senate vom ersten Augenblicke an fest – womöglich der Zukunft erhalten werden. Die Munificenz des hohen Ministeriums des Cultus und öffentlichen Unterrichts, welches auch in dem verflossenen Jahre allen unseren grossen wie kleinen Anliegen mit einer nicht genug zu rühmenden Bereitwilligkeit entgegengekommen ist, hat uns die nicht unbeträchtlichen Mittel für diesen Zweck zur Verfügung gestellt. Sämmtliche zwölf Gemälde der Südwand nebst einem der drei Kappengemälde der Nordwand (die beiden übrigen waren leider bereits gefallen, doch nicht ohne durchgezeichnet zu sein) sind teils durch Absägen, teils durch Abmeisseln der dahinter befindlichen Wandmasse abgelöst worden. Ob dieses bei uns in Deutschland in grösserem Massstabe noch niemals angewendete technische Verfahren zu einem vollen Gelingen geführt hat, werden wir erst zu beurteilen vermögen, wenn die Bilder – zum Behuf ihrer Neuaufstellung, wahrscheinlich in hellen Räumen unserer Paulinerkirche – aus ihren gegenwärtigen Hüllen herausgeschält sein werden. Auf alle Fälle darf der Senat sich damit trösten, wenigstens den Versuch gemacht zu haben, ein Kunstdenkmal zu retten, welches in Nord- und Mitteldeutschland einzig dasteht. Von besonderer Bedeutung ist das laufende Jahr dadurch für die Universität geworden, dass uns im März die Pläne für den Neu- und Umbau vorgelegt wurden, nachdem schon vor zwei Jahren unter Mitwirkung des Senates, insbesondere unseres 565

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damaligen Rectors Binding, die Grundrisse des in seinen Raumverhältnissen reich bemessenen Neubaues im Allgemeinen festgestellt waren. Die nunmehr vom Senate gebildete Bau-Commission, welche bis zur Vollendung des Baues im Ganzen in derselben Zusammensetzung bestehen bleiben soll, sah sich vor eine verantwortungsvolle Aufgabe gestellt. Ihre in vollem Einvernehmen mit der Bauleitung gemachten Vorschläge haben durchweg die Genehmigung des hohen Ministeriums gefunden. Möge der fertige Bau ihr die Genugthuung gewähren, dass ihr keine erhebliche Unterlassungssünde Schuld gegeben werden kann! Mit lebhafter Freude haben wir die in den letzten Wochen uns gewordene Gewissheit begrüsst, dass die ursprünglich bis zum Herbst 1898 erstreckte Bauzeit um ein volles Jahr abgekürzt werden wird. Im Herbst 1897 – also in jetzt vier Jahren – wird der gesammte Bau mit Einschluss des an Stelle des Vorderpaulinums an der Universitätsstrasse zu errichtenden Seminargebäudes fertig gestellt sein. Noch mehr, wir dürfen mit Sicherheit darauf rechnen, dass, falls nicht ein unvorhergesehener Zwischenfall störend eingreifen sollte, der Südflügel bereits im Herbst 1895 der Benutzung übergeben werden wird. Da dieser in der ganzen Ausdehnung vom Augusteum bis zur Universitätsstrasse sich hinziehende Südbau in sein Erdgeschoss die Archäologische Sammlung aufnehmen, in den beiden Obergeschossen uns bereits zehn Hörsäle mit insgesammt 1661 Sitzplätzen, darunter das 420 Plätze darbietende Auditorium maximum, liefern wird, so kann zu der angegebenen Zeit nicht nur das Augusteum sondern auch das Bornerianum geräumt werden. Die für die Zeit des Überganges unvermeidlichen Unbequemlichkeiten und mancherlei Schwierigkeiten werden durch diese höchst dankenswerte Beschleunigung des Baues erheblich eingeschränkt; und wir dürfen hoffen, dass sie sich eben deshalb leichter ertragen lassen. – Auch im vergangenen Jahre haben wir uns mehrerer Zuwendungen zu erfreuen gehabt, welche aufs neue Zeugnis dafür ablegen, dass unsere altehrwürdigen Universitäten doch auch ausserhalb der zu ihrer Pflege berufenen Kreise noch offene Hände finden – trotz der Popularität der Schöpfungen modernen Geistes auf dem Gebiete des höheren Unterrichts. Eine edle Wohlthäterin, deren Namen wir bei ihren Lebzeiten nicht nennen sollen, hat uns die Summe von 50 000 Mark übergeben, welche nach ihrem Ableben zu einer Stipendienstiftung für Studirende aller Facultäten verwendet werden soll. Der uns unbekannte Begründer einer Convicts-Hülfskasse, dessen reicher Gabe von 4000 Mark der vorjährige Bericht zu gedenken hatte, hat uns für diese Kasse wiederum 1000 Mark gespendet. Den hochherzigen Stiftern spreche ich auch an dieser Stelle den Dank der Universität aus. Noch ein Mal ist hier eine frühere Stiftung zu erwähnen. Die vier sog. Eberhardischen, für die Unterbeamten der Universität, deren Witwen und Waisen bestimmten Häuser, welche wir, wie schon vor einem Jahre hier mitgeteilt wurde, aus dem Vermächtnis des 1868 gestorbenen Vicepräsidenten Dr. Haase aufgeführt haben, konnten zu Michaelis von einigen zwanzig Familien bezogen werden. Bei dem An566

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drange zu diesen Wohnungen haben wir den Bau eines fünften Hauses in Angriff genommen, welches im nächsten Frühjahr fertig gestellt sein wird. Auch dieses Jahr hat so manchen Verlust über uns verhängt. Zuvörderst habe ich hier eines Mannes zu gedenken, dem die Universität sich dankbar verbunden fühlte, mochte auch bereits seit einer Reihe von Jahren das äussere Band zwischen ihm und ihr gelöst sein. Am 9. Februar starb zu Blasewitz Otto Georg Graf zu Münster, von 1876 bis 1887 als hiesiger Kreishauptmann Regierungsbevollmächtigter bei der Universität. Bei seinem Scheiden von Leipzig hat ihm eine Abordnung des Senates in lebhaften Worten gedankt „für die warme Teilnahme, in welcher er Bedürfnissen und Wünschen der Universität förderlich und auch uns persönlich zugethan war.“ Dieses Dankgefühl lebt heute noch in uns und sichert dem edlen Manne für immer einen Platz in unsern Herzen. Wende ich mich den Verlusten unseres Lehrkörpers zu, so habe ich vier Namen zu nennen. Gleich zu Beginn des Winterhalbjahres, am 6. November, wurde uns der ordentliche Professor der Geschichte Wilhelm Maurenbrecher entrissen. Geboren zu Bonn 1838, war er nach einer raschen Dozentenlaufbahn, die ihn von Bonn nach Dorpat und Königsberg und darauf nach Bonn zurück führte, 1884 der unsere geworden, auch hier zündend durch die Wärme seines Vortrages, diese fast stürmische vaterländische Begeisterung, welche ihm dankbare Verehrer weit über die Grenzen der Universität hinaus gewann. Seine literarische Thätigkeit erstreckte sich auf weit auseinanderliegende Gebiete der mittleren und der neuesten Geschichte; ihr Hauptfeld aber war die Geschichte der Reformation. Als Reformationshistoriker zeichnete er sich aus durch umfassende Quellenkenntnis und reiche Belesenheit, durch Frische und Unabhängigkeit der Auffassung. Diese Vorzüge machen seine Schriften auch für diejenigen wertvoll, welche seiner Gesamtauffassung des Zeitalters, wie sie sich namentlich in seinem leider unvollendet gebliebenen Hauptwerke, seiner „Geschichte der katholischen Reformation“, ein Denkmal gesetzt hat, nicht vollkommen zustimmen können. Jedenfalls wird, was Maurenbrecher in der Reformationsgeschichte geleistet hat, noch lange in dem dankbaren Gedenken der Fachgenossen fortleben; und wir entbehren ihn um so schmerzlicher, je kleiner in der Gegenwart die Zahl der politischen Historiker ist, welche dieses Gebiet anbauen. Am 8. Dezember starb plötzlich der ausserordentliche Professor der Philosophie Rudolf Seydel. – Eine lange Reihe von Jahren hat er auf unserer Universität gewirkt. Mannhaft und charaktervoll, wusste er auch dem wissenschaftlichen Gegner Achtung abzunötigen; und diese Überzeugungstreue war es, welche im Verein mit der Gabe eines klaren und fesselnden Vortrages eine nicht geringe Zahl von Schülern ihm zuführte. Am 22. Mai verschied nach kurzer Krankheit der ordentliche Professor der Pädagogik Hermann Masius. Er war von Hause aus praktischer Pädagoge und aus der reichen Erfahrung, welche er im Schulamte gewonnen, hat er auch als akademischer Lehrer seine Kraft geschöpft. Es ist ihm – eine besondere Gnadengabe – bis zu seiner letzten Vorlesung die jugendliche Begeisterung treu geblieben, welche der Fernstehende in dem gebrochenen Körper kaum vermutete. 567

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Nur die kurze Spanne Zeit von zwei Semestern, auch sie durch Krankheit beeinträchtigt, ist dem ordentlichen Professor der Kunstgeschichte Hubert Janitschek in Leipzig vergönnt gewesen [gest. den 21. Juni]. Mit freudigen Hoffnungen war der Nachfolger Anton Springers hier begrüsst worden; und seine Anfänge bei uns bannen jeden Zweifel, dass er sie verwirklicht haben würde, hätten seinem brennenden Eifer die körperlichen Kräfte zu folgen vermocht. Auch ihm bewahren wir ein dankbares Andenken. – Bedeutend geringer als jemals innerhalb der letzten zwanzig Jahre ist dieses Mal die Zahl der Opfer gewesen, welche der Tod aus den Reihen unserer akademischen Jugend gefordert hat; immer haben wir noch fünf Verluste zu beklagen. Auch Einbussen anderer Art sind uns nicht erspart geblieben. Der ordentliche Professor der Geschichte Max Lehmann, der im Frühjahr bei uns eintrat, hat uns bereits wieder verlassen, indem er nach Göttingen übersiedelte. Zu Beginn dieses Semesters ist der ordentliche Honorarprofessor der Assyriologie Friedrich Delitzsch einem Rufe nach Breslau gefolgt. Zwei ausserordentliche Professoren der philosophischen Facultät, der Historiker Wilhelm Busch und der Chemiker Ernst von Meyer, gingen, der eine zu Ostern, der andere im Herbst, als ordentliche Professoren an der Technischen Hochschule nach Dresden. Der Privatdozent in der juristischen Facultät Landgerichtsrat Dr. Danz wurde als ordentlicher Professor der Rechte nach Jena berufen, während gleichzeitig, zu Beginn dieses Winters, der Privatdozent der Nationalökonomie Dr. von Schulze-Gävernitz einem Rufe nach Freiburg Folge leistete. Der Privatdozent in der medizinischen Facultät Dr. Moebius hat auf die venia docendi verzichtet, desgleichen, und zwar um in den Kirchendienst zu treten, der Privatdozent der Pädagogik Dr. Gloeckner. An Bereicherungen unserer Lehrkräfte sind folgende zu nennen. Zu Ostern durften wir – abgesehen von Professor Max Lehmann, dessen Fortgang ich bereits zu berichten hatte – vier neue Collegen begrüssen. Es waren die ordentlichen Professoren der Rechte Heinrich Degenkolb und Eduard Hölder, welche aus Tübingen und Erlangen zu uns kamen; der ordentliche Honorarprofessor in der philosophischen Facultät Oberbibliothekar Oscar von Gebhardt, welcher die Berechtigung erhielt Vorlesungen über Buch- und Schriftwesen zu halten, endlich der ausserordentliche Professor der Medizin Rudolf Fick, der bis dahin Privatdozent in Würzburg war. Im Herbst folgten einem Rufe an unsere Universität August Schmarsow (früher in Breslau) als ordentlicher Professor der Kunstgeschichte und Georg Steindorff, bis dahin in Berlin, als ausserordentlicher Professor der Ägyptologie. Mögen die verehrten Herren Collegen sich bald bei uns heimisch fühlen! Als Privatdozenten haben sich habilitirt in der Juristenfacultät die Doctoren Heinrich Triepel und Wolfgang Stintzing, in der medizinischen Facultät die Doctoren Heffter, Urban, Friedheim, Kaestner und Held, in der philosophischen Dr. Siegfried für Chemie und Dr. Otto Fischer für physiologische Physik. Von Herzen freuen wir uns dieses Nachwuchses und wünschen ihm fröhliches Gedeihen. Folgende Privatdozenten wurden zu ausserordentlichen Professoren ernannt: in der Juristenfacultät der Dr. jur. Lic. theol. Karl Rieker, in der medizinischen Facultät 568

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die Doctoren Werner Spalteholz, Hermann Lenhartz, Hermann Karg, Albert Döderlein und Wilhelm Moldenhauer. Ich komme zu den Promotionen, zunächst den Ehrenpromotionen. Die theologische Facultät verlieh ihre höchsten Ehren zwei Mal: unserem Collegen, dem ordentlichen Honorarprofessor in der theologischen Facultät, Dr. phil. Lic. theol. Caspar René Gregory und dem Oberconsistorialrat Dr. phil. Heinrich Ludwig Oscar Ackermann in Dresden; desgleichen die Juristenfacultät dem hiesigen Rechtsanwalt und Justizrat Robert Wilhelm Frenkel. Die Zahl der rite vollzogenen Promotionen stellt sich wie folgt. In der theologischen Facultät wurde ein Mal der niedere Grad eines Licentiaten erworben. Den Doktorgrad erlangten in der juristischen Facultät 138 Bewerber, in der medizinischen 320, in der philosophischen 119. Letztere Facultät sah sich vier Mal in der angenehmen Lage, ein vor fünfzig Jahren erteiltes Diplom zu erneuern. Unter diesen Diplomen befand sich auch dasjenige unsers verehrten Collegen, des ordentlichen Honorarprofessors in der philosophischen Facultät, Dr. Woldemar Wenck, dem im Namen des akademischen Senates am 26. Februar der Stellvertreter des Rectors die Glückwünsche der Universität überbrachte. Auch zwei andere verehrte Collegen durften unter freudiger Beteiligung von Freunden, Collegen, Schülern einen Fest- und Ehrentag begehen: der Senior der theologischen Facultät, Geheimer Rat Dr. Luthardt seinen siebzigsten Geburtstag, der Geheime Justizrat Dr. Adolf Schmidt das fünfzigjährige Jubelfest seiner Ernennung zum ausserordentlichen Professor. In beiden Fällen liess es sich unsere Studentenschaft nicht nehmen, einem geliebten Lehrer ihre Huldigung auch durch einen Commers darzubringen. – Die Universität hat sich auch an einer auswärtigen Jubelfeier beteiligt. Es war dem Rector ein besonders angenehmer Auftrag, der Landesschule St. Afra zu Meissen die Glückwünsche der Universität auszusprechen. Durfte er doch bei dieser Gelegenheit öffentlich bezeugen, wie sehr unsere Universität die Afraner, welche dank ihrer ausgezeichneten humanistischen Schulung allezeit zu den Kerntruppen Leipzigs gehört haben, zu schätzen weiss. Seit dem 1. März vorigen Jahres war durch den Rücktritt unseres verehrten Collegen des Geheimen Hofrats Professor Dr. Krehl die erste Oberbibliothekarstelle an unserer Bibliothek erledigt. Sie ist zu Ostern wiederbesetzt worden durch den vorhin bereits als neuen Collegen begrüssten Dr. theol. et phil. Oscar von Gebhardt, welcher, vor 18 Jahren bereits einmal bei uns als Assistent thätig, zuletzt Director der Druckschriftenabteilung der Königlichen Bibliothek zu Berlin war. In gemeinsamer Thätigkeit mit dem neuen Leiter unserer Bibliothek haben wir ein Werk zu Ende führen können, welches uns schon früher beschäftigt hatte: eine neue Bibliothek-Ordnung. Sie hat jüngst die Genehmigung des hohen Ministeriums gefunden. Wir dürfen uns ihrer aufrichtig freuen. Es wird jetzt kaum eine Universitäts-Bibliothek geben, für deren Benutzung grössere Erleichterungen gewährt wären als bei uns. Nur ein Wunsch beseelt uns jetzt noch, dass nämlich unsere Bibliothek, welche vor zwei Jahren ein fast opulent zu nennendes Heim erhalten hat, selbst bei der gegenwärtigen Finanzlage wie durch ausserordentliche Bewilligungen so durch 569

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reichere laufende Mittel in den Stand gesetzt werde, alte, nur zu empfindliche Lücken auszufüllen, neue zu verhüten und so den Anforderungen der heutigen Wissenschaft in höherem Masse zu entsprechen. Dieses Wunsches Gewährung erhoffen wir zuversichtlich von der so oft bewährten Hochherzigkeit und Weisheit der Königl. Staatsregierung und der Stände des Landes. – Mit dem 1. April wurde auf sein Ansuchen der Königl. Universitäts-Richter Herr Hofrat Hessler nach einer Thätigkeit von 49 Semestern in den Ruhestand versetzt. Die Universitätsrichterstelle ist im Laufe dieses Sommers unserem UniversitätsSecretär, Herrn Universitäts-Rat Dr. jur. Meltzer commissarisch übertragen worden, dem aus Anlass dieses Auftrages und in erneuter Anerkennung seiner verdienstvollen Wirksamkeit für die Universität Titel und Rang eines Justizrates verliehen wurde. Eine ähnliche Anerkennung ist jüngst auch einem anderen, in einem mehr als fünfundzwanzigjährigen Dienste bewährten Universitätsbeamten zu Teil geworden, indem der Kanzleisecretär Grosse zum Kanzleirat ernannt wurde. Für die Kanzlei ist uns, seitdem der Universitäts-Secretär durch die Übernahme des Richteramtes in stärkerer Weise in Anspruch genommen ist, in der Person eines Hülfsexpedienten eine vierte Kraft zur Verfügung gestellt. Der Besuch der Universität ist, wie auch schon im vergangenen Jahre, etwas zurückgegangen – doch nicht in dem Masse, wie bei dem infolge der Überfüllung einiger Fächer sich vermindernden Andrang zum Universitätsstudium zu erwarten war. Im vorigen Winter waren 3307 immatriculirt gegen 3431 im Winter 1891/92. Die Zahl des letzten Sommers betrug 2952 gegen 3104 im Sommer 1892. Die Gesammtzahl der von mir Immatriculirten stellt sich auf 1644 gegen 1722 im vorausgegangenen Jahre (ist demnach um 78 geringer). Von dieser Gesammtzahl habe ich 642 zu Beginn dieses Semesters immatriculirt gegen 681, welche am 31. October 1892 neu aufgenommen waren. Diese 642 verteilen sich auf die einzelnen Facultäten in folgender Weise: Theologen 81 (gegen 77 vor einem Jahre). Juristen 269 (gegen 262 vor einem Jahre). Mediziner 109 (gegen 172 vor einem Jahre). Philosophen 183 (gegen 170 vor einem Jahre). Da im Sommer nach Abschluss des Personalverzeichnisses noch 18 Studirende immatriculirt sind, 601 aber seitdem die Universität verlassen haben, so beläuft sich der augenblickliche Bestand auf 3011 Studirende gegen 3214 am 31. October 1892. Die Führung unserer Studentenschaft war, soweit der Rector auf Grund seiner amtlichen Erfahrung zu urteilen vermag, fast durchweg musterhaft. Das Universitätsgericht hat nur vier Mal Anlass gehabt zusammenzutreten, dabei freilich in drei Fällen auf Entfernung von unserer Universität erkennen müssen. Im Übrigen waren meine amtlichen Berührungen mit unserer akademischen Jugend nur geeignet, mich die Lichtseiten meines Amtes empfinden zu lassen. Das Vertrauen, welches in reichem Masse dem Rector entgegengebracht wird, ist um deswillen so erfreulich, weil es ersichtlich eine Wirkung des Vertrauens ist, welches ihn auf seinen Posten gestellt hat, und somit einen unwiderleglichen Beweis giebt für das bei uns bestehende schöne Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden. 570

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Es entspricht nur diesem Verhältnis, wenn ich den Dank, in welchen mein Bericht naturgemäss ausklingt, den einen wie den andern zurufe; den Commilitonen, die mir durch ihr gesamtes Verhalten mein Amt erleichtert und verschönt haben; den Collegen, welche mir ihr Wohlwollen erhalten, wo es not that Nachsicht mit mir geübt, stets und überall durch Rat und That mich unterstützt haben. Hierauf berichtete der Rector über den Erfolg der akademischen Preisbewerbung und verkündete die neuen Aufgaben. Schliesslich erfolgte die Vereidigung des neuen Rectors und die Übergabe der Amtsinsignien an ihn. ***

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Johannes Wislicenus (1835–1902)

31. October 1893.

Rede des antretenden Rectors Dr. phil. & med. Johannes Wislicenus. Die Chemie und das Problem von der Materie. Hochansehnliche Versammlung! Gehörte der erste Theil unserer heutigen Feier der Berichterstattung über die Schicksale und Leistungen unserer Hochschule als Anstalt der wissenschaftlichen Lehre, so soll der letzte – altem, gutem Herkommen gemäss – ihrem Charakter als Stätte der wissenschaftlichen Forschung Ausdruck geben. Das unter feierlicher Verpflichtung in sein Amt eingeführte neue Oberhaupt der Universität hat daher aus dem Gebiete der von ihm vertretenen Wissenschaft ein im Vordergrunde ihrer zeitlichen Entwickelung stehendes Thema in kurzer Rede zu erörtern und womöglich dem Interesse der illustren Versammlung nahe zu bringen. So ist es denn heute der Chemiker, dem die Ehre zu Theil wird, Ihr freundliches Gehör auf einige Zeit zu erbitten. Die Chemie gilt meist, und in der That nicht ganz mit Unrecht, als eine junge Wissenschaft. Liegen ihre Anfänge auch mehr als tausend Jahre hinter uns, so sind doch kaum zwei Jahrhunderte vergangen, seit sie sich aus der untergeordneten Stellung einer blosen Dienerin der Heilkunde und der Technik der Metallgewinnung zum Bewusstsein ihrer besonderen Erkenntnissaufgaben emporarbeitete – wenig mehr als eines, seit sie auf die Dauer die letzten Fesseln mittelalterlich-aristotelischer Spekulation über stoffliche Qualitäten abwarf, zur consequenten Benutzung und Ausbildung messender Untersuchungsmethoden überging und so erst zur wirklich exakten Wissenschaft wurde, als welche sie auch in ihrer äusseren Werthung mehr und mehr gleichberechtigt neben ihre Schwester, die Physik, treten konnte. Von dieser Zeit an beginnt ihr staunenswerther, fast sprüchwörtlich gewordener Aufschwung in Häufung ihres Thatsachenmaterials, Ausdehnung ihres Einflusses auf andere wissenschaftliche Disciplinen wie auf die Gestaltung der menschlichen Lebensführung, vor allem aber in dem stets harmonischer sich entwickelnden Ausbau ihres eigenen gewaltigen theoretischen Lehrgebäudes. Es ist nicht meine Absicht, Ihnen die Entwickelung chemischer Naturerkenntniss als ein Ganzes in kurzer Skizze, oder nach einer einzelnen Richtung hin in ausführ573

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licherer Darstellung zu schildern. Auch der Verlockung will ich widerstehen, an diesem oder jenem Beispiele zu zeigen, wie jeder wesentliche Zuwachs an neuen wissenschaftlichen Erfahrungen und eindringendem Verständnisse alsbald auch einen solchen an praktischer Beherrschung der Natur – oft unter beträchtlichen Verschiebungen und Umwälzungen auf dem Gebiete des wirthschaftlichen Lebens – zur Folge hat, und wie umgekehrt die sich hiermit ergebenden technischen Bedürfnisse und Anwendungen auch wieder der reinen Wissenschaft befruchtend und fördernd zu Gute gekommen sind. Gestatten Sie mir vielmehr – es wird dies vielleicht auch dem Orte und der Gelegenheit, sowie der Zusammensetzung des hochverehrten Hörerkreises am besten entsprechen – Sie einzuladen, mir auf einem der Verbindungspfade zwischen Empirie und philosophischer Spekulation zu folgen, wenn ich die letzten und allgemeinsten Konsequenzen des gegenwärtigen Standes der chemischen Forschung in ihrem Einflusse auf das uralte Problem von der Materie zum Gegenstande unserer heutigen Betrachtung mache. In der That hat kein anderer Zweig der Naturwissenschaften es so wie die Chemie mit der materiellen Seite der Erscheinungswelt zu thun. Ihre Objekte sind die chemischen Körper, d. h. die homogenen, unter gleichartigen physikalischen Bedingungen in allen ihren Theilchen gleichartigen Stoffe. Ihre Aufgabe ist die Erforschung der an diesen Objekten ablaufenden chemischen Prozesse, d. h. derjenigen Aenderungen, bei welchen aus den vorhandenen (den Ingredienzien der Processe) ihnen heterogene aber in sich wieder homogene neue chemische Körper als Produkte entstehen. Aus den so gewonnenen Erfahrungen hat sie dann durch Induktion die chemischen Naturgesetze, d. h. jene Kausalbeziehungen zu ermitteln, welche zwischen den chemischen Processen selbst, oder zwischen ihnen und anderen Naturvorgängen und endlich auch zwischen den vielartigen chemischen Körpern obwalten. Seit in der Menschheit das Bedürfniss zum Durchbruche gelangt ist, die Lösung des sich ihr stets aufdrängenden Welträthsels, statt wie zuvor auf den luftigen und unsicheren Bahnen der mythendichtenden Phantasie, auf dem Wege nüchternen Denkens zu versuchen, seit es überhaupt eine Philosophie giebt, gehört die Frage nach der Natur der Materie mit zu ihren Grundproblemen. Im Anfange beherrscht sie sogar das spekulative Denken vorzugsweise, ja zu Zeiten fast allein, denn was sich der äusseren Erfahrung zunächst aufdrängt, ist die Mannigfaltigkeit der Einzelerscheinungen, in welcher sich erst allmälig Verbindendes und Gemeinsames geltend macht und sich zu allgemeinen Begriffen verdichtet. So schuf die Vernunft den Begriff der Materie als des letzten Principes aller qualitativen Besonderheiten, des Substrates sowohl alles Beharrens wie aller Veränderungen und Bewegungen der stofflichen Welt. Die erste, noch durchaus naive Betrachtung der jonischen Naturphilosophen erblickte dieses letzte Princip in dem einen oder dem anderen der besonderen Stoffe selbst: im Wasser, in der Luft oder im Feuer; doch schon einer von ihnen, Anaximandros von Milet, fasste es rein begrifflich als das Apeiron, das Unbestimmte, Unbegrenzte und Beschaffenheitslose, aus dem sich infolge der ihm innewohnenden Bewegung durch Aussonderung der vier elementaren Gegensätze von Warm und 574

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Kalt, Flüssig und Trocken alles Bestimmte, Begrenzte und Besondere herausbildet, um freilich im steten Wechsel des Bestehenden immer wieder in das Apeiron zurückzukehren. Wenig später nimmt dieses Princip bestimmte Eigenschaften an. Es wird als das Volle einem zweiten Principe: dem Leeren, also gewissermassen schon als Materie dem Raume gegenüber gestellt, und besteht aus unsichtbar kleinen, undurchdringlichen, unveränderlichen Partikelchen. Sie sollen der Qualität nach gleichartig, nach Leukippos nur der Form, nach Demokritos auch der Grösse und daher der Schwere nach verschieden sein. Indem die schwereren sich von den leichteren zu trennen bestreben, finden Bewegungen mit Berührungen und Zusammenstössen statt, die einerseits Zusammenballungen der Atome zu Aggregaten verschiedenster Art bis zur Grösse der Weltkörper, andrerseits Seitenbewegungen zur Folge haben, aus denen die weltformenden Wirbelbewegungen hervorgehen. Etwas mehr als ein Jahrhundert nach diesen Atomistikern nahm Aristoteles, indem er die Existenz des Leeren bestritt, die Anschauung Anaximanders wieder auf; nur liess er durch Zusammenjochung von je zweien der vier elementaren Urqualitäten auf der eigenschafts- und formlosen Urmaterie zunächst die vier nach ihm benannten, aber von ihm dem viel älteren Eleaten Empedokles entlehnten Elemente Feuer, Luft, Wasser und Erde entstehen, durch deren mannigfaltige Mischung die unzähligen Stoffe der Natur gebildet werden. Wenig später wiederum erklärt Epikur, es sei ausser dem unendlichen und unendlich theilbaren leeren Raume und den unwahrnehmbar kleinen untheilbaren materiellen Atomen nichts Reales denkbar. Sie sind die Träger der Bewegung, die nach ihm – dem grundsätzlichen Verächter der Mathematik – jedes inneren Gesetzes entbehrt. In buntem Spiele des Zufalles entstehen aus ihnen, je nach ihrer Beschaffenheit, Gestalt, Zahl und Lage durch Aggregation die Dinge und Erscheinungen in der Natur. So waren schon dreihundert Jahre vor dem Ausgange des Alterthumes die einzig möglichen entgegengesetzten allgemeinen Anschauungen über die Natur der Materie im Wesentlichen spekulativ ausgebildet. Die folgenden zweitausend Jahre haben Neues kaum hinzugethan, wirklich Besseres nicht geschaffen und zur Entscheidung des Streites so gut wie nichts beigetragen. Der Wechsel der Anschauungen vollzog sich weit mehr in der Weise, dass in verschiedenen Perioden der eine oder der andere Standpunkt dominirte, zu Zeiten beide in heftiger Fehde mit einander lagen, oder wohl auch unfruchtbare Versuche gemacht wurden, sie mit einander zu verschmelzen und zu versöhnen. Während des ganzen Mittelalters überwog die aristotelische Lehre in ihrer scholastischen Gestaltung so durchaus, dass auch die ältere Chemie vollständig von ihr beherrscht und bestimmt wurde. Waren es doch die Araber, welche die aristotelische Philosophie den christlichen Völkern des Abendlandes übermittelten, zugleich aber auch als die Begründer der ersten Entwicklungsstufe der chemischen Wissenschaft, der Alchemie, erscheinen. Aristotelisch war ihre Denkweise über die Ursachen der qualitativen Verschiedenheit der stofflichen Welt, auch wenn sie zu den vier alten Elementen behufs Erklärung der metallischen Eigenschaften und Be575

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gründung der Möglichkeit der Metallverwandelung noch zwei neue – das Quecksilber und den Schwefel – hinzunahmen. Wie jene bedeuteten auch diese keineswegs die unter den betreffenden Namen bekannten, sondern viel reinere, essentielle, vielleicht gar nicht einmal wirklich darstellbare Stoffe, die man als die philosophischen von den unreinen und rohen natürlichen ausdrücklich unterschied. Nicht wesentlich anders wurde die Anschauung, wenn gegen Ende des Mittelalters zu der Sechszahl noch das siebente Element Arsenik hinzukam, oder wenn die Jatrochemiker des sechszehnten Jahrhunderts die vier empedokleïsch-aristotelischen Elemente gänzlich verwarfen und an ihre Stelle nur drei: Quecksilber, Schwefel und Salz, oder wiederum Andere Säure, Laugensalz und Wasser setzten. Vergeblich suchte nach der Mitte des 17. Jahrhunderts Robert Boyle unter Betonung alleiniger Berechtigung der Empirie auch für die Chemie hier Wandel zu schaffen, indem er forderte, man solle sich um jene nur eingebildeten Urmaterien nicht kümmern, sondern seine Aufmerksamkeit lediglich auf solche Stoffe richten, welche man durch chemische Zerlegung der Körper wirklich zu isoliren vermöge. Wenn diese thatsächlich darstellbaren Substanzen sich dann als nicht weiter zersetzbar erweisen sollten, möge man sie Elemente nennen. Man werde mit dieser schärferen Begriffsbestimmung weiter kommen als mit aristotelischen oder irgend welchen anderen Annahmen. Noch am Anfange des 18. Jahrhunderts sah sich Georg Ernst Stahl, der Begründer eines neuen Zeitalters der Chemie, abermals genöthigt, in Anlehnung an eine Vorstellung Johann Joachim Becher’s in dem „Phlogiston“ ein neues hypothetisches Element zu erfinden, dessen Anwesenheit in den Körpern ihre Brennbarkeit bedingen, und welches sich bei der Verbrennung von den mit ihm vereinigten Grundstoffen trennen und durch Entweichung in die Luft entfernen sollte. Fast ein Jahrhundert lang blieb diese Ansicht die herrschende, trotz der heillosesten Verwirrungen und unmöglichsten Widersprüche gegen bestbegründete Lehren der Physik, welche man zusammen mit dem anerkennenswerthen Fortschritte in theoretischer Zusammenfassung wirklich verwandter Vorgänge eintauschen musste. Die damalige Chemie hatte, ehe sie der Forderung Boyle’s gerecht werden konnte, noch eine grosse und wichtige Classe chemischer Körper, die bis dahin der Beobachtung fast ganz entgangen war: nämlich die Gase zu entdecken und die Methoden zu ihrer gesonderten Ansammlung und Untersuchung, Messung und Wägung zu erfinden und auszubilden. Das aber geschah erst mit dem letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts, und nun erst konnte Lavoisier das Phlogiston mit dem Nachweise zu Falle bringen, dass alle Verbrennungsvorgänge – im diametralen Gegensatze zu der bisherigen Vorstellung – auf chemischer Vereinigung der Substanz des brennbaren Körpers, beziehungsweise seiner Elementarbestandtheile, mit dem nicht weiter zerlegbaren, also selbst elementaren Sauerstoff beruhen. Seit dieser Zeit sind für die Wissenschaft nur diejenigen Körper Elemente, d. h. qualitative Grundbestandtheile aller anderen Stoffe, welche als die letzten Producte chemisch-analytischer Operationen wirklich gewonnen werden; sie bleiben es nur so lange, als sie nicht selbst weiter in Bestandtheile zerlegt werden können. Aus ihnen entsteht durch vielartige Vereinigung die ungeheure Zahl der in der Natur 576

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unterscheidbaren und der künstlich erzeugten chemischen Verbindungen. In diesen existiren sie – auch wenn sie verschwunden zu sein scheinen – ihrer Art nach weiter, da sie, und nur sie allein, durch Zerlegung aus ihnen wieder abgeschieden werden können. Ihre Zahl freilich ist grösser als die der jemals angenommenen hypothetischen Urqualitäten, und beläuft sich gegenwärtig auf etwa siebzig; sie ist jedoch immer noch verschwindend gering im Vergleiche zur Menge der überhaupt beobachteten Stoffe. Wir wissen, dass sie auch ausserhalb unseres Planeten im Weltraume auftreten, denn nie ist ein Meteorit zur Erde gefallen, in welchem auch nur ein einziges nicht irdisches Element entdeckt worden wäre, – und die Spectralanalyse des von den Himmelskörpern zu uns herabfluthenden Lichtes hat uns viele von ihnen in unserer Sonne und den Fixsternen erkennen lassen. Dabei haben wir alle Ursache zu der Ueberzeugung, dass uns heutigen Tages zwar noch einige chemische Grundstoffe unbekannt geblieben sind, dass jedoch die Zahl dieser noch aufzufindenden Elemente nur eine sehr beschränkte sein kann. Gleichzeitig mit den letzten hypothetischen Annahmen über die Grundqualitäten der materiellen Welt hat die chemische Forschung, deren vornehmstes – jetzt auf Körper aller Aggregatzustände angewendetes – Instrument die Waage geworden war, auch mit einem alten Irrthume über die Quantität der Materie aufgeräumt. Die Alchemie hatte die Umwandelbarkeit weniger Pfunde Blei oder Quecksilber durch kaum bemerkbare Mengen der Substanz des Steines der Weisen in Centner reinsten Goldes behauptet, – die phlogistische Chemie der inneren Regelmässigkeit entbehrende, wie wir ja heute wissen nur scheinbare, Verluste und Zuwachse an Gewicht beim Ablaufe chemischer Processe beobachtet. Sie war dadurch zu den confusesten und ungeheuerlichsten Erklärungsversuchen und schliesslich sogar zu der verzweifelten Ablehnung jeder Pflicht, sich mit den Mengenverhältnissen bei chemischen Vorgängen überhaupt zu befassen, gedrängt worden. Jetzt konnte dagegen schon Lavoisier den seither in unzähligen Beobachtungen ausnahmslos bestätigten Erfahrungssatz aussprechen, dass beim Ablaufe aller chemischen Vorgänge die Gewichtssumme der Producte derjenigen der Ingredienzien genau gleich ist, dass also Masse weder vergeht noch entsteht, dass vielmehr die Quantität der Materie in allem Wandel der Natur thatsächlich unabänderlich dieselbe bleibt. Für Fragen nach der Structur der Materie hatten die damaligen Chemiker wenig Interesse, da die Pflicht der Sicherung der neuen Wahrheit gegen die leidenschaftlich geführte Vertheidigung der alten phlogistischen Lehren ihre Zeit und Kraft vollständig absorbirte. Sie sind indessen im Allgemeinen atomistischen Anschauungen zugethan gewesen, welche ihnen die nach dem Niedergange der Scholastik wieder aufblühende, von der Astronomie und Physik vielfach beeinflusste Philosophie seit Giordano Bruno und Gassendi, in der Corpuscularlehre Descartes und Leibnizens Monadologie in mannigfachen Formen zufliessen liess. Gerade um diese Zeit aber trat wieder eine entschiedene Abwendung der Philosophie von der Atomistik ein. Kant definirte die Materie apriorisch als ein Product attractorischer und repulsiver Kräfte und schrieb ihr unendliche Theilbarkeit zu, wobei indess jeder kleinste Theil wieder selbst Materie ist. Diese „dynamische Theorie“ konnte in ihrer speciellen Anwendung auf die chemischen Vorgänge sich 577

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nur zu der Vorstellung entwickeln, dass die in sich homogenen und gegen einander heterogenen Bestandtheile eines Körpers in gegenseitiger vollständiger und gleichmässiger Durchdringung die in sich wiederum homogene Verbindung entstehen lassen. Die Zahl der Anhänger dieser dynamischen Anschauung ist unter den Chemikern immer klein und mit der einzigen Ausnahme von Berthollet ziemlich bedeutungslos gewesen, und bald verschwand auch der letzte von ihnen vor der Fülle gewaltiger Errungenschaften der nun zu voller Herrschaft gelangten quantitativen Aera, welche die Chemie zur Schöpferin einer neuen Atomistik, der naturwissenschaftlichen, machten. Das zeitlich nächste allgemeine Ergebniss der chemischen Gewichtsermittlungen: die schon viel älteren Ansichten entsprechende Thatsache, dass jede Aenderung in den Mengenverhältnissen der ihrer Art nach gleichbleibenden Elementarbestandtheile auch eine Aenderung in den Eigenschaften der chemischen Körper zur nothwendigen Folge hat, erscheint als Consequenz der dynamischen wie der atomistischen Hypothese. Die sich unmittelbar anschliessende Beobachtung jedoch, dass solche Veränderlichkeit der Mengenverhältnisse nach oben wie nach unten ihre bestimmte Grenze hat, lässt sich mit der sogenannten dynamischen Anschauung schon nicht mehr vereinigen, wenn man nicht auf jedes Verständniss des inneren Grundes dieser Erscheinung verzichten will; noch weniger die bald darauf folgende Entdeckung des französischen Chemikers Proust, dass diese Aenderungen der relativen Mengen nur sprungweise erfolgen. Wenn sich auch noch die Thatsache hinnehmen liesse, dass 1 Gewichtstheil Wasserstoff sich mit nicht weniger als 8 Theilen und mit nicht mehr als 16 Gewichtstheilen Sauerstoff zu durchdringen vermag, so müssten doch alle zwischen diesen äussersten Möglichkeiten liegenden Verhältnisse erst recht gut für die gegenseitige Durchdringung der beiden Elemente geeignet sein. Sie sind es aber nicht, denn es giebt ausser dem Wasser und dem die doppelte Sauerstoffquantität enthaltenden Wasserstoffsuperoxyd keinerlei dritte Verbindung beider Elemente. Noch hatte sich der Erfahrungssatz Proust’s gegenüber der von dynamischen Grundsätzen ausgehenden Verwandtschaftslehre Berthollet’s, die im Gegentheile die Existenz unendlich variabler Verbindungsverhältnisse behauptete, nicht zu allseitiger Anerkennung durchgekämpft, als ihr ein wissenschaftliches Ereigniss allerfolgenschwerster Bedeutung den vollendenden Abschluss brachte. Es war dies die Entdeckung des Gesetzes der multiplen Proportionen im Jahre 1803. Indem John Dalton die Beziehungen untersuchte, die zwischen den Proust’schen sprungweise sich ändernden Mengenverhältnissen der Bestandtheile chemischer Verbindungen obwalten, fand er, dass die verschiedenen Quantitäten eines Bestandtheiles, welche sich mit der gleichen Menge eines anderen chemisch vereinigen, immer in rationalem Verhältnisse zu einander stehen, indem die grösseren entweder ganzzahlige Vielfache der kleinsten, oder alle zusammen solche Multipla einer gemeinschaftlichen Grundzahl sind; wie denn in unserem vorerwähnten Beispiele 1 Theil Wasserstoff nur mit 8 oder 16, d. h. 2 mal 8 Theilen Sauerstoff in Verbindung tritt, oder in den fünf bekannten Oxyden des Stickstoffs 7 Theile des letzteren Elementes mit 8, 16, 24, 32 und 40 oder 1 mal, 2, 3, 4 und 5 mal 8 Theilen Sauerstoff vereinigt 578

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sind. Dalton begriff sofort, dass diese Thatsache vom Boden der dynamischen Hypothese aus absolut unverständlich ist, dafür aber in vollem Einklange mit der atomistischen Anschauung steht, ja geradezu als deren logisch unabweisbare Forderung erscheint. Als es ihm bald darauf gelang den Nachweis zu führen, dass augenscheinlich für jedes Element eine einzige Grundgewichtszahl existirt, durch welche direkt oder durch deren ganzzahlige Vielfache, alle Verbindungsverhältnisse desselben mit allen anderen Elementen ausgedrückt werden können, trat er 1808 in seinem „New System of chemical philosophy“ mit der in ihren Hauptzügen fertigen atomistisch-chemischen Theorie der Chemie hervor. Dieselbe beruhte auf der einzigen hypothetischen Annahme, dass die Materie diskret constituirt ist, aus kleinsten nicht weiter zerlegbaren Theilchen besteht. Dieser wahren Atome muss es selbstverständlich ebenso viele Arten wie Elementarstoffe geben; alle Atome desselben Urstoffes müssen durchaus gleichartig sein, diejenigen verschiedener aber verschiedene Eigenschaften haben. Die Erfahrung, dass die Elemente in sehr abweichenden – theils recht kleinen, theils grossen Mengen in Verbindung mit einander treten, spricht dafür, dass zu den abweichenden Eigenschaften verschiedenartiger Elementaratome auch verschiedene Massen gehören; daraus aber folgt das Gesetz der multiplen Proportionen als logische Nothwendigkeit. Chemische Verbindung kann nur in gesetzmässiger Zusammenlagerung der Atome unter dem Einflusse chemischer Anziehung, der Affinität, nach bestimmten Anzahlverhältnissen zu einer neuen Einheit, dem Atome oder besser – da sie chemisch zerlegbar ist – der Molokel des zusammengesetzten Körpers beruhen. Die Gewichtsverhältnisse, in denen dies geschieht, müssen dann durch die Atomgewichte selbst oder ihre, den Atomzahlen entsprechenden Vielfachen derselben ausgedrückt werden. Die Summe der Gewichte aller in einem zusammengesetzten Molekule enthaltenen Atome ist das Gewicht des Molekules selbst. Dass dann die relativen Massen, mit welchen chemische Verbindungen auf einander wirken, in ihren Molekulargewichten oder deren ganzzahligen Vielfachen gegeben sein müssen, liegt auf der Hand und entspricht der damals durch Wollaston nachgewiesenen Thatsache, dass die in neutralen und sauren Salzen mit gleich viel Basis vereinigten Säuremengen ebenfalls dem Gesetze der multiplen Proportionen folgen. Auch die Ermittelung der Atomgewichte der Elemente aus den Ergebnissen quantitativer Analysen hat Dalton versucht und 1808 die erste Zusammenstellung derselben – natürlich in relativen Werthen – gegeben, doch war damals das ihm zu Gebote stehende Thatsachenmaterial nach Ausdehnung und Genauigkeit ein so bescheidenes, dass Berzelius die daraus gezogenen Schlüsse als nicht genügend sicher begründet bezeichnen konnte, und sich deshalb veranlasst sah, eine Neubearbeitung der einschlagenden Beobachtungen von Grund aus selbst zu beginnen. Seiner an Gründlichkeit und Sorgfalt, an Geschick und Genialität der Erfindung von Methoden und Hülfsmitteln, an Beharrlichkeit in allen Mühsalen und Enttäuschungen, nüchterner Abwägung der Thatsachen und Grösse der Gesichtspunkte wie an Fülle der Ergebnisse unvergleichlichen Arbeit verdankt daher die Chemie die überzeugungskräftige Sicherstellung wie die nach allen Richtungen hin gleichmässige Weiterbildung der Dalton’schen Lehre. 579

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Zweimal – in den Jahren 1818 und 1827 – fasste Berzelius die Ergebnisse seiner Forschungen in Atomgewichtstabellen zusammen, bei deren ersterer er sich im Wesentlichen unter dem Einflusse des Avogadroschen Satzes von der Gleichheit der Zahl der Molekule in gleichen Volumen gas- und dampfförmiger Körper bewegte, deren zweite dagegen unter möglichster Berücksichtigung der Regel der gleichen Atomwärmecapacitäten von Dulong und Petit und der Mitscherlich’schen Entdeckung der analogen Zusammensetzungsverhältnisse isomorpher krystallinischer Verbindungen gestaltet war. Das Ziel, wirklich vergleichbare Atomgewichte festzustellen, hat Berzelius indessen nicht erreicht, so dass nach seinem Tode unter den Chemikern zwar nicht gerade Zweifel an der Atomistik überhaupt, wohl aber sehr pessimistische Ansichten über die Möglichkeit rationeller Atomgewichtsbestimmungen recht verbreitet waren. Dazu kam ein tiefes Misstrauen gegen die erwähnten physikalischen Hülfsmittel, welche vielfach zu widersprechenden Einzelergebnissen geführt hatten. Man begann sogar zeitweise ganz darauf zu verzichten, als die Entdeckung der Substitutionserscheinungen, d. h. der Ersetzbarkeit zunächst des Wasserstoffes in organischen Verbindungen durch andere Elemente ohne Änderung gewisser typischer Eigenschaften, zu dem Begriffe der Aequivalentgewichte führte. Diese, die chemisch gleichwerthigen, weil ein Gewichtstheil Wasserstoff und – wie man bald sah – auch einander vertretenden Elementarquantitäten hatten den grossen Vorzug, durch den Versuch direkt ermittelt werden zu können und dem Gesetze der multiplen Proportionen genau sogut zu genügen wie die sogen. Atomgewichte, zu denen sie übrigens – wenn sie ihnen nicht geradezu gleich waren – in einfachen rationalen Verhältnissen standen. Sie schienen alles zu leisten, was die Chemie vernünftigerweise nur von ihnen verlangen konnte, bis sich bei consequenter Durchführung der Substitutionsanschauungen herausstellte, dass das Aequivalentgewicht unmöglich eine constante Eigenschaft der Elemente sein konnte, sondern für viele von ihnen verschiedene, wenn auch auf einander beziehbare Werthe haben müsse. So ersetzen z. B. von dem metallischen Elemente Eisen in den Oxydulverbindungen 28, in den Oxydverbindungen 18 2/3 Theile, d. h. Quantitäten die sich wie 3:2 verhalten, 1 Theil Wasserstoff und müssten daher diesem und auch untereinander gleichwerthig sein. Bald kam es dahin, dass die Chemiker den chemischen Elementarzeichen, die nach Berzelius’ vortrefflichem Vorschlage neben der Art auch noch die Menge je eines Atomes ausdrücken sollten, sehr verschiedene Werthbedeutungen – bald als Atom – bald als Aequivalentgewicht gefasst – beilegten. Ich habe die letzten und theilweise schlimmsten Jahre dieses heillosen, an die babylonische Sprachverwirrung erinnernden Zustandes selbst noch mit durchlebt und freue mich bei jedem Gedanken daran in der Seele meiner Schüler, dass er überwunden, und zwar vollständig überwunden ist. Es kann heute nicht meine Absicht sein, Ihnen den langen, an Irrgängen reichen und mühseligen Weg, auf welchem schliesslich die Feststellung allgemein als richtig anerkannter Atomgewichte gelungen ist, auch nur in allergedrängtester Kürze zu schildern, denn es handelt sich dabei um eine mehr als halbhundertjährige gewaltige Arbeit an Herbeischaffung und mühsamer Sichtung eines ungeheuren Materials an 580

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Einzelthatsachen. Schliesslich führte die scharfe Scheidung der vorher oft verwechselten Begriffe von Atom und Molekul und die Überlegung, dass die Einheiten, welche der Chemiker wirklich in Händen hat, nur die Molekule sind, zum Ziele. Es galt jetzt in erster Linie, wirklich vergleichbare Molekulargewichtsbestimmungen in möglichst grosser Zahl auszuführen: ein Werk welches vor allem die Erforschung der organischen, d. h. der kohlenstoffhaltigen Verbindungen geleistet hat. Durch ihre Erfolge und die damit verbundene Aufklärung früherer unvermeidlicher Irrthümer in der Anwendung der für diesen Zweck geeigneten physikalischen Hülfsmittel wurde das verloren gegangene Vertrauen in dieselben wieder hergestellt und ihre einwurfsfreie Benutzung gesichert. So kam denn die Zeit, wo man an eine Revision der Atomgewichtswerthe von dem logisch unabweisbaren Grundsatze aus gehen konnte, dass das Atomgewicht eines Elementes diejenige kleinste Menge desselben sein muss, die in den gleichmässig ermittelten Gewichten der Molekule aller seiner Verbindungen vorkommt und von welcher alle grösseren ganzzahlige Vielfache sind. Seit nun fast dreissig Jahren ruht der Kampf um die Grösse dieser Zahlen und heute giebt es überhaupt keine Meinungsverschiedenheiten mehr unter den Chemikern, ausser vielleicht in der Beurtheilung der thatsächlich sehr eng gewordenen Grenzen noch fraglicher Genauigkeit der empirischen Werthbestimmungen. Dieser Erfolg hat selbstverständlich die Überzeugung von der atomistischen Constitution der Materie mächtig befestigt, und zwar um so mehr, als mit ihm und durch ihn eine Reihe durchaus dunkler chemischer Thatsachen ihre ungezwungene Erklärung gefunden hat, welche unter der Voraussetzung continuirlich materieller Raumerfüllung absolut unverständlich, ja einfach widersinnig erscheinen. Hierher gehört zunächst die Entdeckung, dass die Molekule der meisten Elementarstoffe nicht die identischen Atome selbst, sondern chemische Verbindungen mehrerer, z. B. oft zweier derselben sind. Damit war mit einem Schlage das Räthsel der gesteigerten chemischen Aktionsfähigkeit der Grundstoffe im status nascens, d. h. in dem Augenblicke, wo sie aus Verbindungen mit andern isolirt werden, aber sich noch nicht mit einander zu Molekulen vereinigt haben, wo sie also ihre ganze, vollständig unbeschäftigte chemische Anziehungsenergie entwickeln können, klar gelöst. Eine zweite wichtige Folge war die Aufklärung der Allotropie, d. h der merkwürdigen Thatsache, dass ein und dasselbe Element für sich in Form ganz verschiedener Körper aufzutreten vermag. Ueberall, wo die experimentelle Prüfung an diese Erscheinung heran konnte, haben sich für die allotropen Modifikationen verschiedene Molekulargewichte ergeben. Dass ein Körper, dessen kleinste Einheit aus drei Atomen Sauerstoff besteht – das Ozon – andere Eigenschaften haben muss wie die Verbindung von nur zwei Atomen – das gewöhnliche Sauerstoffgas – ist ohne Weiteres verständlich. Von ausserordentlicher Bedeutung für die Entwickelung der Chemie war ferner die der Ermittelung wirklich vergleichbarer Atomgewichte sich unmittelbar anschliessende Entdeckung der Valenz oder Werthigkeit. Man fand nämlich, dass sich die Atome verschiedener Elemente in ihrer Fähigkeit, eine bestimmte Anzahl anderer gleichzeitig zu substituiren oder – was im Grunde dasselbe ist – gleichzeitig an sich zu binden, von einander unterscheiden. So ist z. B. die Bindungsfähigkeit 581

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eines Wasserstoffatomes erschöpft, so bald sich ihm ein einziges anderes Atom angelagert hat, wogegen ein Sauerstoffatom gleichzeitig zwei, ein Kohlenstoffatom vier verschiedene oder gleichartige Elementaratome an sich zu fesseln vermag. Ist auch die Thatsache der Werthigkeit bis heute noch nicht als Consequenz anderer Eigenschaften der Atome klar erkannt worden, so ist doch ihrer Auffindung vor Allem der ungeheure Aufschwung zu verdanken, den die Chemie im Laufe der letzten dreissig Jahre genommen hat. Nur mit ihrer Hülfe war es möglich, die Eigenschaften der chemischen Verbindungen auf ihre Konstitution zurückzuführen, d. h. sie aus der Natur und Zahl nicht nur, sondern auch aus der Struktur, d. h. der Reihenfolge gegenseitiger Bindung, und schliesslich auch aus der Konfiguration, d. h. der räumlichen Anordnungsweise, der ihre Molekule zusammensetzenden Atome, einfach und consequent abzuleiten. Die auf den Werthigkeitsbegriff gegründeten Gesetze der sogenannten Atomverkettung haben – um so mehr, je klarer sie herausgearbeitet wurden – es gestattet, chemische Verbindungen bestimmter Arten vorauszudenken und auf Wegen, die ebenfalls nur mit ihrer Hülfe ersonnen werden konnten, thatsächlich künstlich darzustellen. So hat die Chemie ihren ursprünglich rein induktiven Charakter mehr und mehr verloren und ist theilweise zu deduktiven Verfahrungsweisen übergegangen. Der von überconservativen Vertretern früherer Epochen wiederholt prophezeihete Nachtheil und Verfall ist für unsere Wissenschaft hierdurch nicht eingetreten, denn nie entbehrten ihre Schlussfolgerungen der unbestechlichen Prüfung durch das in seiner Ausbildung gleichen Schritt haltende Experiment. In und mit diesen Entwickelungen ist helles Licht noch in eine weitere Gruppe anfänglich höchst dunkler Erscheinungen gebracht worden, die schon durch ihr bloses Vorhandensein, lange vor der Möglichkeit jeder Einzelerklärung, eine der mächtigsten Stützen der atomistischen Anschauung gewesen sind. Ich meine die unter dem Namen der Isomerie zusammengefassten Thatsachen. Im Jahre 1824 wurde zum erstenmale durch zwei jugendliche Forscher – es waren keine Geringeren als Wöhler und Liebig – die Beobachtung gemacht, dass es chemische Verbindungen geben kann, welche bei wesentlicher, ja höchst auffallender Verschiedenheit ihrer Eigenschaften doch die gleichen Elementarbestandtheile in den gleichen Mengenverhältnissen enthalten. Es erschien dies den damaligen Chemikern so absurd, dass Liebig – als er für die höchst explosiven knallsauren Salze genau die kurz vorher von Wöhler den sehr beständigen cyansauren Salzen zugeschriebene Zusammensetzung fand, gegen letzteren den Vorwurf ungenauer Arbeit erhob. Der nun entbrennende, von beiden Seiten mit Schärfe und Aufbietung aller wissenschaftlicher Mittel geführte Kampf endigte in der Feststellung der für unmöglich gehaltenen Thatsache; und bald wurden neue Fälle ähnlicher Art bekannt, so dass sich auch Grossmeister Berzelius von ihrer Richtigkeit überzeugte und den heute noch für sie gebräuchlichen Namen vorschlug. Für einen Theil dieser Erscheinungen ergab sich bald eine befriedigende Erklärung in der sogenannten Polymerie. Die von Faraday aus Leuchtgas durch Zusammenpressen in flüssigem Zustande abgeschiedenen Verbindungen, welche wie das ölbildende Gas auf 1 Theil Wasserstoff 6 Theile Kohlenstoff enthalten, zeigten verschiedene Grade der Flüchtigkeit und der Dichte im Gaszustande; ihre Molekule 582

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müssen demnach verschieden gross sein. Dass ein Körper, der in seiner kleinsten Einheit aus 4 Theilen Wasserstoff und 24 Theilen Kohlenstoff besteht, andere Eigenschaften haben muss als ein anderer, der von beiden Elementen die doppelte, dreifache oder irgendwelche mehrfache Menge in seinem Molekule enthält, leuchtet an und für sich ein. Wenn die Anhänger der dynamisch-chemischen Theorie in dieser Polymerie und der auf ganz analogen Gründen beruhenden Allotropie der Elemente keine Ursache zur Verlegenheit sehen wollten, indem sie die beobachtungsmässig festgestellte verschiedengradige Verdichtung gleicher Durchdringungsprodukte als die Ursache der Verschiedenheit auch anderer Eigenschaften bezeichneten, so verzichteten sie damit doch wenigstens auf die Erklärung eben dieser Verdichtungszustände, die dem Atomistiker als die logischen Folgen der molekularen Polymerie selbst erscheinen. Absolut hülflos aber ist die dynamische Anschauung gegenüber allen Isomerien, bei denen ausser der Gleichheit der Zusammensetzungsverhältnisse auch Gleichheit des Verdichtungsgrades, d. h. der Molekulargrösse, obwaltet. Ganz anders steht ihnen die Atomistik gegenüber, da sie innerhalb nicht zu einfacher Molekule – und um solche handelt es sich dabei nie – noch die Möglichkeit verschiedener Atomanordnung lässt. Auf diesen Standpunkt stellte sich sofort Berzelius, wenn er bei Besprechung eines phantasievollen Erklärungsversuches für die Verschiedenheit der Cyansäure und Knallsäure wörtlich erklärte: „dass die Stellung der Atome verschieden sein müsse, setzt die isomerische Natur dieser Verbindungen an und für sich voraus.“ Dass die Beantwortung der Frage nach dem „Wie“ solcher Lagerungsverschiedenheiten zu damaliger Zeit noch nicht möglich war, änderte für ihn an der Festigkeit solcher Ueberzeugung nichts. Niemand aber hatte so scharf wie vor vierzig Jahren Fechner in seiner, gegen die geringschätzige Beurtheilung naturwissenschaftlicher Erkenntniss seitens der aphoristischen Philosophie gerichteten, Streitschrift „über die physikalische und philosophische Atomenlehre“ die entscheidende Bedeutung der Isomeriethatsachen für das Problem von der Materie betont und dargethan. Seit dem Jahre 1835 hat die Chemie auch diese Isomerien in folgerichtigster Weise zum Verständniss gebracht, indem sie die im Allgemeinen zu erwartenden Abweichungen in den Anordnungen der die Molekule zusammensetzenden Elementaratome im Einzelnen und mit aller Bestimmtheit nachwies. Ihre Erfolge in diesen Bemühungen waren zunächst sehr vereinzelte, häuften sich aber mit der Zeit in schnell wachsender Progression. Sie bestanden anfangs in dem Nachweise, dass in complexeren organischen Verbindungen mehrere gesonderte und verschiedene, bei ihrer Synthese aus den Ingredienzien herübergenommene, bei der Zersetzung oft unverändert wieder in die Produkte übertretende kohlenstoffhaltige Atomgruppen, sogenannte zusammengesetzte organische Radikale enthalten sein können, die sich in isomeren Molekulen zu den gleichen Atomsummen ergänzen. Nach dem Abschlusse der Atomgewichtsbestimmungen und der Entdeckung der Valenz aber gelang es, die Ursachen der Verschiedenheit in den Eigenschaften isomerer Körper auf Abweichungen in der Reihenfolge der gegenseitigen Bindung der Einzelatome, oder wo sich auch diese Reihenfolge als gleich erwies, schliesslich 583

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wirklich auf verschiedene räumliche Lagerungsverhältnisse einfachster Art zurückzuführen und diese Differenzen als ganz bestimmte und gesetzmässige auf experimentellem Wege nachzuweisen. Ich würde Sie, hochverehrte Anwesende, unnütz bemühen, wollte ich versuchen, Ihnen diese Dinge eindringendester chemischer Erkenntniss auch nur an wenigen Beispielen zu demonstriren. Nur das Eine gestatten Sie mir noch anzufügen, dass unter den ungezählten Tausenden bekannter organischer Verbindungen heute nur wenige sind, für die wir Isomere nicht kennen, entweder weil sie solche ihrer Einfachheit wegen überhaupt nicht haben können, oder weil die Forschung sie noch zur Seite liegen lassen musste. Für die ganz überwiegende Mehrheit der festgestellten Isomeriefälle ist der Grund der Verschiedenheiten genau bekannt, und meines Wissens giebt es keine einzige hierher gehörende Thatsache, auch nicht in dem täglich weiter anwachsenden, meist planmässig erweiterten Materiale, für deren Erklärung die bisher entwickelten Grundsätze nicht vollständig ausreichend erschienen. Sie ruhen wie alle Lehren der heutigen Chemie auf der atomistischen Anschauung. Ohne diese wäre das chemische Einzelwissen ein wüster Haufe unzusammenhängender und daher unverständlicher Beobachtungen, ja es wäre weniger als das: es wäre zum grössten Theile überhaupt nicht vorhanden. In ähnlicher Lage wie die Chemie befindet sich – wenigstens auf einigen und namentlich beiden gemeinschaftlichen Erkenntnissgebieten, und deshalb auf allen, wenn sie das Ziel causaler Verknüpfung derselben anstrebt – die Physik. Dass sich bei manchen ihrer Erscheinungsgruppen ohne jede Annahme über die Natur der Materie, ja bei einigen selbst mit der Hypothese continuirlicher Raumerfüllung auskommen lässt, hat wiederholt von Seiten einzelner Physiker zur Ablehnung der Atomistik überhaupt, ja in den letzten Jahren zu dem Versuche einer Vereinigung beider entgegengesetzter Anschauungen geführt. Ob das damit angestrebte Ziel, durch die Deutung der Atome als Wirbel innerhalb der continuirlichen Materie die Nothwendigkeit der Annahme von Fernewirkungen gewisser Kräfte los zu werden, erreicht worden ist, will ich zu beurtheilen mir nicht anmassen. Auf die chemischen Naturgesetze haben solche Versuche wenig Rücksicht genommen und sind in ihrer Anwendung auf dieselben völlig gescheitert. Für die heutige Chemie, auch wenn sie sich der hypothetischen Natur der atomistischen Anschauung durchaus bewusst bleibt, sind die Elementaratome Realitäten. Obgleich Niemand sie sinnlich wahrgenommen hat noch je wahrnehmen wird, so kennen wir von ihnen gewisse, zum Theil genau gemessene Eigenschaften, wie ihre relativen Massen und ihre Werthigkeiten, ihre Antheile an dem specifischen Volum, an der Wärmecapacität, dem Wärmeinhalt und dem Lichtberechnungsvermögen der Verbindungen und ihr Verhalten gegenüber elektrischen Einflüssen. Wir vermögen sie bei unseren synthetischen Arbeiten an bestimmte Stellen des molekularen Aggregates zu fügen und damit den künstlich aufgebauten Verbindungen bestimmte Eigenschaften zu geben, ja man ist dazu geschritten die Grösse ihrer chemischen Wirkungsenergie zu ermitteln. Der Physik ist es sogar, und zwar auf verschiedenen Wegen mit befriedigender Übereinstimmung gelungen, ihre absolute Grösse innerhalb gewisser Grenzen und damit wenigstens ihre Grössenordnung zu bestimmen. 584

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So ausserordentlich viel daher die Naturwissenschaften auch mit den Elementaratomen geleistet und gewonnen haben, und so freudig erfolgreich sie allezeit von dem in ihnen gegebenen Boden aus an der Mehrung und harmonischen Ausgestaltung ihrer Erkenntniss gearbeitet haben, so konnten sie sich bei ihnen doch niemals vollkommen beruhigen. Der uns eingeborene Drang nach einheitlichem Begreifen zwingt uns, hinter der scheinbar regellosen Vielzahl der chemischen Elemente und ihrer Atomarten ein Einfaches zu suchen und ein Gesetz, welches sie unter einander und mit diesem Gemeinsamen kausal verknüpft. Für die Chemie ergaben sich zweierlei Möglichkeiten, dieser philosophischen Nothwendigkeit zu folgen und der Frage näher zu treten: einmal nämlich die weitere chemische Zerlegung der bisherigen Elemente in wenige noch einfachere Grundstoffe – womöglich in die vorauszusetzende Urmaterie selbst – und zweitens die Zurückführung der Atomgewichtsgrössen auf einen ihnen gemeinschaftlichen Grundwerth – auf das Gewicht des Uratomes. Wenn sich etwa herausstellen sollte, dass alle Einzelatomgewichte gesetzmässig sich ändernde ganzzahliche Vielfache einer solchen Grundzahl wären, so würden damit die heutigen Elemente als allotrope Modifikationen der Urmaterie erkannt sein. Auf dem ersten, dem experimentellen Wege, sind wir mit der analytischen Auflösung complexer Stoffe nun eben nicht weiter gekommen, als bis zu unseren etwa 70 Elementen. Auch die energischst wirkenden Mittel zur chemischen Zersetzung – der elektrische Strom und starke Temperaturerhöhungen haben an den Atomen derselben – ja oft schon an den aus mehreren Atomen bestehenden Molekulen Halt machen müssen. Ob eine Steigerung der elektrischen Wirkungen allein uns hier weiter führen könnte, ist zweifelhafter als je geworden. Eher würden sich vielleicht sehr bedeutende Temperaturerhöhungen wirksam erweisen. Dafür spricht die thatsächliche mit Hülfe der Spektralanalyse beobachtete, mit der Steigerung der Hitzgrade wachsende Vereinfachung der Natur des von glühenden Gasen und Dämpfen ausstrahlenden Lichtes, dessen Beschaffenheit ja sicherlich durch die chemische Beschaffenheit der Gase bedingt ist. Wenn es je gelingen sollte, die Dampfspektra aller Elemente so auf die gleiche einfache Form zu bringen, so stünde nichts der Ueberzeugung entgegen, dass wir bis zur Herstellung der Urmaterie vorgeschritten wären, selbst wenn sich nach wieder eintretender Erniedrigung der Temperatur nur wieder bekannte Elemente nachweisen liessen. Ja schon die dann zu erwartende theilweise Umwandlung des einen Elementes in andere würde vollgültig beweisen, dass die Aufspaltung in einen ihnen gemeinsamen Urstoff – als dessen verschiedengradige Verdichtungszustände sie aufzufassen wären – vorübergehend stattgefunden hätte. Leider hat die an sich grenzenlose Möglichkeit der Temperatursteigerung für uns eine für diesen Zweck wahrscheinlich zu niedrige Grenze, schon an dem Materiale der Apparate, deren wir uns zu solchen Versuchen bedienen müssen, denn es handelt sich hier um Hitzgrade, die wesentlich höhere sind, als sie in der Sonne und dem noch viel heisseren Sirius herrschen. Sehr früh schon hat die Chemie den zweiten Weg zu gehen versucht. So einfach freilich, wie der Erste, der ihn beschritt, sich die Sache vorstellte, ist sie nicht. Der Engländer Prout suchte 1815 den Nachweis zu führen, dass die Atomgewichte aller 585

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Elemente ganzzahlige Vielfache von dem kleinsten, demjenigen des Wasserstoffes, seien und damit darzuthun, dass Wasserstoff das Urelement ist. Die thatsächlichen Abweichungen der beobachteten Ziffergrössen von seiner Regel schob er auf die damals allerdings noch grosse Ungenauigkeit der ermittelten Werthe. Von den schon sehr genauen Bestimmungen durch Berzelius konnte die Prout’sche Regel nicht Stand halten. Trotzdem wurde sie in den Vierziger Jahren von Dumas für einige Elemente wieder mit gewissem Erfolge vertheidigt, für die übrigen dahin abgeändert, dass das halbe Atomgewicht des Wasserstoffs die gemeinsame Grundzahl sei. Auch diese Behauptung hat jedoch vor den mit den feinsten Hülfsmitteln der neueren analytischen Chemie durchgeführten Revisionen der Atomgewichte weichen müssen. Dagegen wurden mittlerweile andere numerische Beziehungen zwischen den Atomgewichten aufgefunden, so zunächst an den sogenannten Elementartriaden, d. h. Gruppen von je drei in der Totalität ihrer chemischen Eigenschaft einander besonders ähnlichen Elementen, bei denen das Atomgewicht des auch sonst nach dem ganzen Verhalten in der Mitte stehenden Elementes genau oder nahezu das arithmetische Mittel aus den beiden anderen ist, so dass die Differenz zwischen dem ersten und zweiten derjenigen zwischen dem zweiten und dritten gleich ist. Als diese Triaden sich zu natürlichen Elementenfamilien von grösserer Gliederzahl erweiterten, liessen sich die meist nicht gleichen Differenzen zwischen den Atomgewichten je zweier benachbarter Glieder doch annähernd als ganzzahlige Vielfache einer gemeinsamen Grundzahl erkennen. Die noch fehlende Verbindung zwischen den numerischen Werthen der verschiedenen natürlichen Elementenfamilien stellte in überraschender Weise seit dem Jahre 1869 die Entdeckung und Ausbildung des sogenannten periodischen Systemes der Elemente her. Ordnet man letztere nach steigenden Atomgewichten an, so ergiebt sich nach einer Periode von 8 Gliedern – hin und wieder sind die Gewichtszuwachse so gross, dass die Annahme der Existenz noch unbekannter Elemente gemacht werden muss – die öftere Wiederkehr der wichtigsten chemischen Eigenschaften in derselben Aufeinanderfolge; d. h. mit der in jeder achtgliedrigen Periode schrittweise steigenden Atomgewichtszahl, geht schrittweise wachsende Valenz Hand in Hand. Die Valenz der Elementaratome ist daher eine periodische Function der Atomgewichte. Auch an einigen weiteren Eigenschaften, wie den Atomvolumen und den in absoluter Temperatur ausgedrückten Schmelzpunkten treten ähnliche periodische Beziehungen zu den Atomgewichten deutlich zu Tage. Es ist nicht zu leugnen, dass dieses System noch mannigfaltige Schwächen und Unzulänglichkeiten aufweist, manche Verhältnisse sich ihm nicht zwanglos unterordnen wollen. Dem gegenüber steht die erstaunliche Thatsache, dass schon dreimal die erwähnten Lücken in der Folge der Glieder ausgefüllt wurden durch Entdeckung neuer Elemente, welche die von Mendelejeff in kühner Voraussage für sie geforderten Eigenschaften wirklich besassen. Haben wir daher in dem periodischen Systeme auch noch nicht das klare Gesetz einfacher Beziehungen aller Eigenschaften der Elementaratome zu einander und zu einem allgemeinen Grundprinzipe, so schimmert dasselbe doch bereits bemerkbar hindurch und man kann sich kaum der 586

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Empfindung erwehren, als seien wir seiner vollen Enthüllung vielleicht schon ganz nahe. Mit ihm – das ist schon jetzt kein Zweifel – wird der Beweis geliefert sein, dass unsere Elementaratome noch nicht die letzten Einheiten der Materie sind, sondern dass sie sich in ihrer Zusammengesetztheit den allerdings weit weniger beständigen zusammengesetzten Radikalen der organischen Verbindungen anreihen. Tritt doch die Analogie der homologen und heterologen Reihen der letzteren mit den natürlichen Familien und den Perioden des Elementarsystems aufdringlich deutlich zu Tage. Von solchen Überzeugungen sind denn auch die nie ruhenden Bestrebungen nach Beseitigung der dem periodischen Systeme noch anhaftenden Mängel getragen. Manche von ihnen haben aber noch ein weiteres Princip mit zu Hülfe gezogen. Als Modifikationen einer Grundeinheit können die Elementaratome nicht als ewig gegebene, sondern nur als Gewordene gedacht werden; dann aber gilt es, das Gesetz ihres Werdens aus den Thatsachen herauszuschälen. Die Literatur gerade der letzten Jahre ist an derartigen Versuchen besonders reich. Ist auch keiner derselben zu einem befriedigenden Abschlusse gekommen, weisen namentlich die aufgestellten Stammbäume der Elemente – ganz wie jene für die Ordnungen, Klassen, Familien und Arten der Lebewesen entwickelten – und die Zurückführung der Grundeigenschaften der Elementaratome auf bestimmte geometrische Formen manche Willkür und Phantasiearbeit auf, so ist ihnen doch innere Berechtigung und mancher gewiss dauerhafte Erfolg nicht abzusprechen, denn wie alles Gewordene sind sicher auch die chemischen Elemente dem allgemeinen Weltgesetze der Evolution unterworfen. Ob das chemische Experiment jemals an die Beantwortung dieser grossen Fragen wird herantreten können, wissen wir nicht, wohl aber steht uns das Eine fest, dass sie bereits begonnen haben der Beobachtung zugänglich zu sein. Die spektralanalytisch festgestellte gleichmässige Einfachheit des aus endlos fernen Welträumen in unser Auge gelangenden Lichtes der Nebelflecke lässt nur die Deutung zu, dass es von Gasen allereinfachster Art, aber höchster Temperatur ausgeht. In einzelnen dieser meist gestaltlosen Massen sehen wir Zusammenballungen und Formungen, die durchaus dem Bilde entsprechen, welches Kant und Laplace von den Gestaltungsvorgängen der Weltsysteme aus glühendem Urnebel entworfen haben. Da in allerjüngster Zeit an dem fast plötzlich in hellem Glanze aufleuchtenden Fixstern T im Sternbilde des Fuhrmanns das umgekehrte Schicksal eines Weltkörpers: die Auflösung in die Masse eines einfachen Nebels – wohl zweifellos die Folge seines Zusammenstosses mit anderen kosmischen Massen – spektralanalytisch beobachtet und verfolgt werden konnte, so fühlen wir uns heute als Zeugen des Werdens und Vergehens von Welten; – sind wir’s nicht auch des Werdens und Vergehens von chemischen Elementen? Am Ende unserer heutigen Betrachtung angelangt, tönt mir noch eine Frage im Ohre, die im Gespräche über diese Dinge dem Chemiker öfters gestellt wird und die sich vielleicht auch Manchem unter Ihnen, hochverehrte Anwesende, auf die Lippen drängt; die Frage: wie denkt sich die Chemie das letzte Princip der Materie beschaffen? Kann es der Lichtäther sein, dessen die Physik bedarf um gewisse Gruppen von Erscheinungen, vor allem diejenigen strahlenförmiger Fortpflanzung transversaler Schwingungen zu erklären? Sind es vielleicht Wesenheiten ganz 587

Johannes Wislicenus

anderer Ordnung als die chemischen Elementaratome, etwa ausdehnungslose, bewegte und auf einander wirkende Kraftcentren, durch deren räumliche Aggregation erst die einfachsten Corpuskulareinheiten entstehen? Ist nicht die Materie, der thatsächlich von der Erfahrung geschaffene Begriff, wie alle unsere äussere Erfahrung nur ein Produkt der Wirkungen der im All in unveränderlicher Quantität enthaltenen Energie? Die Chemie als solche hat auf derartige Fragen keine bestimmte Antwort, da alle diese Vorstellungen – wie auch der stofflich gedachte Lichtäther – rein hypothetischer Natur sind. Diese letzten Dinge liegen jenseits ihrer Erfahrungen und Methoden, sie sind – sicherlich wenigstens vorläufig – Objekte lediglich des spekulativen, höchstens noch des mathematischen Denkens. Dabei jedoch erheben wir die Forderung, dass die Ergebnisse chemischer und physikalischer Forschung das Fundament für dieses spekulative Denken abgeben. Zu welcher Vorstellung über die Natur der Materie dasselbe auch gelangen mag – diese Vorstellung kann nicht anders als atomistisch sein. ***

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31. October 1894.

Rede des abtretenden Rectors Dr. phil. et med. Johannes Wislicenus.

Bericht über das Studienjahr 1893/94. Hochansehnliche Versammlung! Seit neunundfünfzig Jahren zum erstenmale wieder vereint das Fest des Rectoratswechsels Freunde und Angehörige unserer Universität in diesem ehrwürdigen Raume der Paulinerkirche. Unsere Aula, welche uns noch vor einem Jahre als Versammlungsort diente, hat im letzten Frühlinge wegen Umbaues des Augusteums geräumt werden müssen. Sie ist heute eine arge Wüstenei, kaum betretbar, gegen die schlimmsten Unbilden der Witterung höchst nothdürftig geschützt, der Tummelplatz aller Herbstwinde, die durch die leeren Fensteröffnungen von Ost und West her freien Eingang finden. Ihr Zustand ist in gewissem Grade vorbildlich für die Art der Unterkunft eines grossen Theiles unserer Hochschule überhaupt, die sich in provisorischen Räumen oft allzu beengt einrichten musste. Nur der Rektor hat dabei ein eigenes Geschäftszimmer gewonnen, was in der alten Universität für ihn nicht zu beschaffen war. Dagegen haben wir unter dem Zwange nicht mehr aufschiebbarer Nothwendigkeit mit tiefstem Bedauern unserem hochbetagten ehrwürdigen Senior den Schmerz nicht ersparen können, die von ihm seit 57 Jahren im Vorderpaulinum bewohnten Räume verlassen und als fast Zweiundneunzigjähriger sich noch einmal an fremde Verhältnisse und Umgebungen gewöhnen zu müssen. Die übrigen, von den baulichen Umwälzungen in Mitleidenschaft gezogenen Angehörigen der Hochschule haben sich einzurichten und in freundschaftlicher Weise auch dann in einander zu schicken gewusst, wenn wirklich einmal der Eine dem Andern in den Weg gerieth. Handelte es sich dabei doch nur um eine verhältnissmässig kurze Dauer des Unbehagens, dessen Ende und Überleitung in neue, voll befriedigende Zustände mit handgreiflicher Deutlichkeit abzusehen sind. Aus den Schuttmassen der bisher abgerissenen alten Gebäude erhoben sich im Laufe des Sommers, unter weisester Berechnung von Zeit und Kräften durch unsere treffliche Bauleitung, die architektonisch höchst wirksamen neuen Palastbauten, und durch die noch halb verhüllenden Gerüste blicken die edleren und reicheren Formen der in der Gesamtheit ihrer alt vertrauten Verhältnisse trotz Allem erhalten gebliebenen Fassade des Augusteums bereits deutlich und fesselnd hindurch. Am weitesten zurück sind wir wenigstens theilweise noch an der Universitätsstrasse. Zwar das neue „Beguinenhaus“ ist fertig und die eine Hälfte des Vorderpaulinums, erst vor einem halben Jahre niedergelegt, strebt im schönen Neubau bereits zum Dache empor, die andere dagegen kann bis kommende Ostern für Ver589

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waltungs- und Unterrichtszwecke nicht entbehrt werden, wird also erst im nächsten Kalenderjahre fallen, dann aber zweifellos ebenso schnell aus den Ruinen neu erstehen. Wie die alten Häuser nur stückweise niedergelegt werden konnten, so werden die neuen Räume auch nach und nach bezogen werden müssen. Schon mit nächstem April soll der ehemalige Schulflügel des Augusteums für die Aufnahme des Universitäts-Rentamts und der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften bereit sein. Für den Herbst sehen wir der Eröffnung der Hörsäle im Südflügel des Neubaues, für 1897 der Vollendung des Ganzen mit den Fest- und Prachträumen der erweiterten Aula und der monumentalen Mittelhalle zuversichtlich entgegen. Ja wir dürfen hoffen, dass zur selbigen Zeit auch der nothwendige Umbau dieses unseres Gotteshauses durchgeführt und unsere Universität alsdann in den Besitz eines Heims gekommen sein wird, welches in seiner räumlichen und künstlerischen Ausgestaltung ihren Bedürfnissen und ihrer heutigen Bedeutung entspricht, ihr und dem Lande zur Ehre und unserer lieben Stadt zum rühmlichen Schmucke gereichen wird. Der alten Sitte, den einzelnen Theilen unseres Gebäudecomplexes besondere Namen beizulegen, in denen historische Erinnerung pietätvoll gewahrt oder dem Danke für besondere Verdienste um die Hochschule bleibender Ausdruck gegeben werden soll, werden wir auch in Zukunft treu bleiben. Der akademische Senat hat beschlossen den alten Namen unseres Besitzes zwischen Augustusplatz und Universitätsstrasse in dem an letzterer gelegenen Langhause, dem Paulinum, zu erhalten. Ferner soll trotz wenig hervortretender architektonischer Sonderung der Südflügel des Neubaues, in welchem die grosse Mehrzahl der Hörsäle untergebracht ist und in dem damit das Schwergewicht der akademischen Thätigkeit liegen wird, den Namen des hochseligen Königs Johann tragen, dessen kräftiger Initiative und verständnissvoller Förderung unsere Universität in erster Linie ihren Aufschwung verdankt. Der Mittelbau endlich, welcher neben einigen Auditorien die Zimmer der Professoren und des Senates mit der grossen Mittelhalle umfasst, soll den Namen seines obersten Bauherrn, unseres allergnädigsten Königs Albert führen. Diese Anträge sind seiner Majestät durch des Herrn Cultusministers Excellenz vorgelegt worden und haben die allerhöchste Zustimmung gefunden. So werden denn zu dem Mauritianum, Augusteum, Bornerianum und Paulinum das Johanneum und Albertinum hinzukommen. Wie auf die bisherige Entwickelung unserer Baugeschäfte, so können wir auch auf das gesamte Leben unserer Anstalt während des vergangenen Jahres mit dankbarer Befriedigung zurückblicken. Freilich haben sich nicht alle an dasselbe geknüpften Hoffnungen erfüllt, manche Sorge hat auf uns gelastet, manch schmerzlicher Verlust uns betroffen; aber: Schlimmes und Gutes in einander gerechnet ist das Jahr doch kein schlechtes gewesen. Unter dem mächtigen Schirme von Kaiser und Reich ist unserm Volke der äussere Friede – die Grundbedingung für das Gedeihen auch unserer stillen Arbeit – gewahrt geblieben. Zwar sind die inneren Wirren drohender geworden; – dafür aber wächst die Einsicht in ihre Ursachen und der muthige Wille, die unvermeidbaren Gährungen der Zeit zu gutem Ziele, zum Siege höherer Gerechtigkeit und reiner Menschlich590

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keit über die bösen Mächte lügenhaften Scheines, eigennütziger Begehrlichkeit und wilder Gewaltthätigkeit zu führen. Wir wissen uns gehütet und getragen von dem feinsinnigen Verständnisse und festen Wohlwollen aller massgebenden Schichten unsres bildungsfreudigen Staates und seines allgeliebten Oberhauptes, des Königs, der heute vor einem Jahre den Huldigungsgruss der Universität mit den Worten erwiederte: „Ich denke immer in Liebe derselben als eines der kostbarsten Edelsteine in meiner Krone.“ Auf die gewohnte Festfreude freilich, unseren erhabenen Rector magnificentissimus bei uns zu sehen, haben wir diesmal verzichten müssen. Schon war das Programm für den hohen Besuch für den 12. Februar und die folgenden Tage festgestellt und bekannt gegeben, als uns die Nachricht von ernster Erkrankung Seiner Majestät traf. Mit dem ganzen Volke haben wir schwere Sorge getragen, die – Gott sei’s gedankt – bald wieder gehoben wurde. Freudig bewundern wir die Elasticität und Frische, mit welcher Seine Majestät die Lasten und Anstrengungen des Königlichen Amtes in ihrer ganzen Ausdehnung wieder auf Sich genommen hat. Als einen besonderen Beweis unveränderter Königlicher Huld für unsere Universität darf ich in tiefem Dankgefühle mittheilen, dass Seine Majestät die vertrauensvoll ausgesprochene Bitte um Verleihung allerhöchst Seines Bildnisses in freundlicher Güte und Gnade entgegennahm, und ihr für die Zeit der Vollendung unseres Neubaues Gewährung verhiess. Herzlichen Dank schulden wir auch der Königlichen Staatsregierung, vor Allem dem uns zunächst vorgesetzten Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichtes, für die ununterbrochene Bethätigung nie ermüdender Fürsorge für die Bedürfnisse und das Gedeihen unserer Hochschule. Mit frohem Vertrauen können wir unter solcher Führung in die Zukunft blicken, selbst angesichts des noch frischen Grabes, welches die sterblichen Überreste des theuren Mannes aufnahm, der fast zwanzig Jahre lang der nächste Besorger und Hüter und der treueste Freund der Universität war. Am Morgen des 2. September verschied nach langem heldenmüthig bestandenen Kampfe gegen schwerste Krankheit der Ministerialdirektor im Kultusministerium Geheimrath Dr. Friedrich Ernst Petzoldt. Die personificirte Gewissenhaftigkeit und Unermüdlichkeit in seinem hohen und einflussreichen Amte, war er zugleich das leuchtende Vorbild einer Selbstlosigkeit, wie sie selten gefunden wird unter den Menschen. Wem es, wie vielen unter uns, vergönnt gewesen ist, persönlich mit ihm zu verkehren, der wurde von der feinen Vornehmheit und schlichten Einfachheit seines Wesens, von der Klarheit und Güte seines Herzens und dem reinen Wohlwollen, welches er Jedem entgegenbrachte, tief und unwiderstehlich angezogen. In seiner bescheidenen Wahrhaftigkeit, welcher alle hergebrachte Lobrednerei tief zuwider war, hatte er selbst noch angeordnet, dass seine Bestattung in grösster Stille erfolgen solle. Wir sind durch die telegraphische Übermittelung dieser seiner Weisung davon abgehalten worden, als Trauernde an seinem Sarge zu erscheinen, und Zeugniss von dem verehrungsvollen Danke, den wir ihm zollen, abzulegen. Heute wehrt uns kein Gebot, unserem Herzensdrange gerecht zu werden. Petzoldt’s höchste Liebe – er hat das wiederholt und noch kurz vor seinem Ende ausgesprochen – war 591

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die Universität Leipzig, die Sorge für ihr Gedeihen seine liebste Pflicht, ihre Blüthe seine höchste Genugthuung und Freude. Wie könnten wir Seiner je vergessen! Nicht unausgesprochen darf ferner der Dank an die Stände des Königreiches bleiben. Wir sind ja daran gewöhnt, die hohen Vertretungskörperschaften des Landes ohne Zögern und Markten die Mittel gewähren zu sehen, welche für die Erhaltung des sächsischen Unterrichtswesens auf seiner nirgend übertroffenen, vielfach vorbildlichen Höhe erforderlich sind. Auch in diesem Jahre wieder ist von ihnen der Etat unserer Hochschule mit mehreren nothwendigen Erhöhungen einzelner Ansätze ohne jede Debatte bewilligt worden. Die Reihe unserer Danksagungen, hochansehnliche Versammlung! ist hiermit aber noch nicht geschlossen, denn in einer Fülle wie kaum zuvor haben hochherzige Freunde gewetteifert, um Noth und Sorge bei unseren Angehörigen lindern, oder bedürftigen jungen Männern ihr Studium erleichtern zu helfen. Der am 23. Januar in unserer Stadt verstorbene Baccalaureus juris und Privatmann, Herr Richard Mangelsdorf, hinterliess ein Vermächtniss von 15 000 Mark zur besseren Dotirung und Erhöhung der seit dem Jahre 1833 bestehenden, vom Kriegsrath Johann Gottfried von Quandt begründeten sechs Stipendien der von Quandt’schen Stiftung. Im letzten Jahresberichte erwähnte mein Herr Vorgänger einer Schenkung von 50 000 Mark, welche von einer bei Lebzeiten nicht genannt sein wollenden edlen Frau der Universität zur Begründung von Stipendien für Studirende aller Fakultäten übergeben worden waren. Am 28. Juli ist nun Frau Luise verwittwete Kollegienräthin von Seezen zu Dresden verstorben. Damit ist die Friedrich von SeezenStiftung, welche 5 an Deutsche Studirende ohne Beschränkung der speciellen Staatsangehörigkeit zu verleihende Stipendien umfasst, in Wirksamkeit getreten. Im Anfange des Studienjahres verschied zu Döbeln der Cigarrenfabrikant, Herr Johannes Friedrich Robisch, welcher seit längerer Zeit schon eine Freistelle im Konvikt durch regelmässige Jahresbeiträge unterhalten hatte. Seinen letzten Willen befolgend übergaben die Erben unserer Verwaltung die Summe von 4500 Mark mit der Bestimmung, die „Robisch-Freistelle“ im Konvikte zu einer dauernden zu machen. Eine ebensolche Stelle begründete mit einer Schenkung von 5000 Mark Frau Elisabeth Weber, geborene Giesecke, dahier „im Sinne und zum Gedächtnisse“ ihres Onkels, des gewesenen Rechtsanwalts Karl Giesecke, dessen Namen die Stiftung für alle Zeit führen soll. Die am 23. Februar zu Dresden verstorbene Frau Isidore Helene, verehelichte Landgerichtsdirektor Schill, Tochter des vormaligen hiesigen ordentlichen Professors der Zoologie Eduard Pöppig, hat unserer Universität ein Kapital von 30 000 Mark mit der Bestimmung vermacht, dass die Zinsen desselben nach dem Ableben ihres Gemahles unter dem Namen „Karl-Pöppig-Stiftung“ zur Unterstützung bedürftiger Professorentöchter in Deutschland – in erster Linie solcher der Universität Leipzig – verwendet werden sollen. Im Falle des Fehlens geeigneter Bewerberinnen sollen die verfügbaren Mittel Deutschen Studierenden der Naturwissenschaften bei unserer Universität als Stipendien zugewendet werden. 592

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Am 26. April übergab unser unvergesslicher Kollege Geheimrath Roscher aus Anlass seines drei Tage zuvor in ungetrübtem Glück gefeierten goldenen Ehejubiläums dem Rector die Summe von 4000 Mark als „Constanze-Roscher-Stiftung“ deren Erträgnisse alljährlich am 23. April der Rector nach seinem eigenen Ermessen der bedürftigsten Leipziger Professorenwittwe zu übergeben hat. Im Juni dieses Jahres endlich verfügte Herr Stadtrath a. D. Kommerzienrath Franz Wagner als bevollmächtigter Testamentsvollstrecker der am 17. Oktober 1890 verstorbenen Frau Geheimräthin Wilhelmine Radius geb. Brandstetter, dass ein Viertel der Zinsen eines, dem Rathe unserer Stadt in Verwaltung gegebenen und jährlich um ein Zehntel des Ertrags wachsenden, Kapitals von 400 000 Mark als „Radius-Brandstetter-Stiftung“ der Universität zufallen und zu einem Drittel zu Stipendien, zu zwei Dritteln aber zur Gründung von Konvikt-Freistellen verwendet werden solle. Auch bei dieser Stiftung ist das Genussrecht nur an die deutsche Nationalität der Bewerber gebunden. Das Königliche Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichtes hat die Universität ermächtigt, diese grossherzigen Schenkungen anzunehmen und hat die vom akademischen Senate entworfenen Statuten dieser sieben Stiftungen genehmigt. Der grösste Antheil an den in ihnen enthaltenen bedeutenden Zuwendungen kommt diesmal – ich kann nicht unterlassen, es mit Genugthuung zu erwähnen – der neben unserer Albrechtstiftung eigenthümlichsten und im Interesse unserer weniger bemittelten Studierenden segensreichst wirkenden unserer Einrichtungen, dem Konvikte, zugute, dessen 350jähriges Bestehen in vergangenes Sommersemester gefallen ist. Wir haben, d. h. die täglichen Tischgenossen im Vereine mit den nächststehenden Universitätsbeamten und den Mitgliedern der Konviktdeputation, am Mittwoch den 18. Juli dies Jubiläum bei einfachem, durch eine Rede des unermüdlichen und treuen Konviktdirektors Prof. Heinze eingeleitetem, durch Musik und Gesang und manchen guten Spruch gewürztem fröhlichen Festmahle gefeiert. Möge der noch reichlich verfügbare Raum in dem schönen neuen Speisesaale bald durch weitere Stiftungen beansprucht werden! Das Bedürfniss dazu ist reichlich vorhanden. Gestatten Sie mir an dieser Stelle noch einiger anderer Festlichkeiten kurz zu gedenken, welche wir für uns oder mit Anderen begangen haben. In der gewohnten Form des feierlichen Universitäts-Aktus, bei welchem der Prorektor Professor Dr. Brieger die Festrede hielt, begingen wir am 23. April den Geburtstag Seiner Majestät unseres erhabenen und allgeliebten Königs Albert. Mit dem ganzen sächsischen Volke haben wir an dem frohen Ereignisse im Schoosse unseres Herrscherhauses, an der Vermählung Seiner Königlichen Hoheit des Prinzen und Herzogs zu Sachsen Johann Georg mit Ihrer Königlichen Hohheit der Prinzessin Maria Isabella von Württemberg, herzlichen Antheil genommen. Es war einer aus den Decanen der vier Fakultäten und dem Rector bestehenden Deputation vergönnt, dem hohen jungen Paare und dem erlauchten Vater, Seiner Königlichen Hoheit dem Prinzen Georg, am 16. April die Glückwünsche der Universität darzubringen. Am Nachmittage des 6. Juli besichtigte eine grössere, vom Direktor unseres landwirthschaftlichen Institutes Professor Dr. Kirchner geladene und geführte, aus 593

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Vertretern der hohen Staatsregierung, der Stände, der landwirthschaftlichen Kreise, zahlreichen Kollegen und Universitätsbeamten bestehende Gesellschaft die jetzt im Wesentlichen vollendeten neuen Einrichtungen des Institutes: den Rassenstall, das Molkereigebäude und den Lehrgarten an der Johannisallee, sowie die in vollem Betriebe stehenden Versuchsfelder beim Forsthause Oberholz. Die hohe Genugthuung über die trefflich gelungene grosse Arbeit fand gegen Abend unter den herrlichen Bäumen des Wettinplatzes in unserem schönen Universitätswalde vielseitigen dankbaren Ausdruck. An zwei bedeutungsvollen wissenschaftlichen Wanderversammlungen, welche in den Mauern unserer Stadt tagten: dem zweiten Kongresse deutscher Historiker gegen Ende März und der Versammlung des Verbandes deutscher Elektrotechniker in der zweiten Juniwoche ist unsere Universität in einer grösseren Zahl ihrer Mitglieder thätig, im Rector mitfeiernd betheiligt gewesen. Auch an dem Feste dreihundertjährigen Bestehens der Leipziger Buchbinderinnung, deren schönstgelungene hochinteressante Ausstellung Seine Majestät der König mit allerhöchst Seinem Besuche beehrte, habe ich die Glückwünsche unserer Korporation aussprechen können. Die Tage des 2. bis 4. August endlich brachten den deutschen Universitäten in dem zweihundertjährigen Jubiläum der Universität Halle ein um so bedeutungsvolleres Familienfest, als mit ihrer Begründung ein neues Zeitalter in der Geschichte unserer Hochschulen anhebt. Mit dem Grusse: „damals in bitterem Zwiste geschieden, heute in der zur deutschen akademischen Freiheit erwachsenen libertas Fridericiana herzlich und nachbarlich geeint“ legten wir, Rector, Prorector und Decan der Juristen-Facultät, Leipzigs Geburtstagsgabe und Glückwünsche in die Hände des allverehrten Oberhauptes der Schwesteruniversität nieder. Auch in dem engeren Kreise unserer Kollegen haben wir einige persönliche Jubelfeste herzlich theilnehmend mitgefeiert. Am 13. März vollendete Professor Dr. Hildebrand das 70. Lebensjahr, zwar durch schweres Leiden seit langem an das Krankenlager gefesselt, aber ungebeugten warmen Herzens und klaren Geistes. Am 17. Mai beging der Senior unserer Naturforscher, Geheimrath Hankel, trotz schwindenden Augenlichtes noch immer unermüdlich wissenschaftlich forschend thätig, das seltene Fest des 80. Geburtstages. Auch zwei der diesjährigen Jubeldoktoren unserer philosophischen Facultät gehören unserem Lehrkörper an. Den Geheimen Kirchenrath Prof. Dr. Gustav Adolf Fricke, der an seinem Ehrentage, dem 26. April, allen Ovationen durch Entfernung von Leipzig aus dem Wege gegangen war, erreichten unsere Glückwünsche nur durch Vermittelung der Post, wogegen sie dem Hofrath Professor und Bibliothekar an der Universitätsbibliothek Dr. Adolf Winter persönlich überbracht werden konnten. Ich gelange, hochverehrte Anwesende, in meiner Berichterstattung zu den Personalveränderungen welche das Studienjahr 1893/94 unserem Lehrkörper gebracht hat. Drei theure Kollegen hat uns der Tod geraubt. Am 11. Februar verschied nach kurzem Krankenlager der Geheime Hofrath Professor Dr. Johannes Emil Kuntze im noch nicht vollendeten 70. Lebensjahre. Seit dem Beginne seiner akademischen Studien hat er unserer Universität bis auf vier 594

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Jahre praktischer Thätigkeit ununterbrochen und seit seiner 1851 erfolgten Habilitation dem akademischen Lehrkörper angehört. Fast 25 Jahre lang sass er als ordentlicher Professor des römischen Rechtes und Handelsrechtes in unserer juristischen Facultät. Nach den mannigfaltigsten Richtungen erfolgreich wissenschaftlich thätig, hat er sich namentlich durch seine handelsrechtlichen Forschungen ausgezeichnet und eine gesegnete Lehrthätigkeit entwickelt. Frei von aller Rücksicht auf Gunst oder Ungunst der Menschen, hochgesinnt und einfachen und reinen Herzens, fest gegründet in seinem freudigen religiösen Glauben, stand er, ein ganzer treuer Mann, im Leben, allezeit bereit für die erkannte Wahrheit jeden guten Kampf zu kämpfen und doch persönlich gütig und mild. Seiner Familie, seinen Schülern, denen seine Arbeit und seine Sorge bis zu allerletzt gewidmet war, und uns Allen ist er zu früh gestorben. Am 4. Juni entschlief, fast 77 Jahre alt, der ordentliche Professor der praktischen Staats- und Kameralwissenschaften, Geheimrath Dr. Wilhelm Roscher. Im März 1848 von Göttingen, wo er kaum vier Jahre nach seiner 1840 erfolgten Habilitation bereits zum Ordinarius vorgerückt war, nach Leipzig berufen, hat er unserer Universität – allen glänzenden auswärtigen Lockungen beharrlich widerstehend – volle 46 Jahre lang als einer ihrer berühmtesten Lehrer und ersten Zierden angehört. Von der Auffassung der gesammten menschlichen Kulturentwickelung als eines grossen untheilbaren Ganzen ausgehend, ausgerüstet mit einer wunderbaren Arbeitskraft und seltenen Universalität der Bildung und des Wissens, ist er durch die glückliche Vereinigung aller den Gelehrten und Forscher ausmachenden Eigenschaften des Verstandes und Charakters zum grossen wegweisenden Führer seiner Wissenschaft und ihrer Jünger geworden. Fremd allem Partheiwesen, hat er rathend und helfend doch mitten im Leben gestanden und der höchsten Ehrungen, ohne sie zu suchen, ein grosses Maass auf seinem Haupte gesammelt. Weise wie Wenige, hat er hausgehalten mit seiner Kraft, ohne sich je zu schonen, wo er sie einzusetzen hatte für die ihm heilige Pflicht. Liebe spendend und verehrungsvolle Liebe in Familie, Hochschule und Stadt in reichem Maasse empfangend, ist er – wenn seinem Leben herbes Leid auch keinesweg erspart blieb – einer der seltenen Glücklichen geworden, die bei grossen Gaben sich voll ausleben durften ohne sich zu überleben. Wenige Wochen vor seinem Ende hat er, wie schon erwähnt, in tiefem Danke gegen die göttliche Führung mit der treuen Gefährtin seines Lebens, umgeben von den trefflichen Kindern und blühenden Enkeln, in grösster Stille das hohe Fest der goldenen Hochzeit gefeiert und zuletzt auch noch seine grosse Lebensarbeit in dem Manuskripte des fünften und letzten Bandes seines Systems der Volkswirtschaft druckfertig abgeschlossen. Wahrlich, es liegt ein wundervoller Glanz harmonischer Vollendung auf diesem Leben! Vor wenigen Tagen, in früher Morgenstunde des letzten Sonntags, trat der Todesengel als milder Erlöser an das Lager unseres hochverehrten und lieben Kollegen, des ordentlichen Professors der neueren deutschen Literatur und Sprache, Dr. Heinrich Rudolf Hildebrand. Nach zwanzigjähriger Thätigkeit als Lehrer der deutschen Sprache und Literatur an der Thomasschule unserer Stadt gehörte er seit 1869 als 595

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ausserordentlicher, seit 1874 als ordentlicher Professor dem Lehrkörper unserer Universität ganz an. Neben seiner hingebenden Arbeit für dass grosse nationale Unternehmen des Grimm’schen Wörterbuches hat er sich namentlich um die Entwickelung des Unterrichtes in der deutschen Sprache an unseren Mittelschulen durch That und Rath und durch seine begeisternde Lehrwirksamkeit unvergängliche Verdienste erworben. Die schwere schmerzensreiche Krankheit, welche den zarten Körper seit vielen Jahren heimsuchte und langsamer Auflösung entgegenführte, hat nicht vermocht, die treueste Hingebung an sein Lehramt und seine Arbeit und die glühende Begeisterung seines reichen und guten Herzens für seine Wissenschaft und für die Grösse und Herrlichkeit deutschen Volksthums zu dämpfen. Bis zum letzten Athemzug strahlte von der reinen Seele des edlen Dulders eine heilige Wärme aus, die Jeden tief ergriff, der sich seinem Schmerzenslager nahen durfte. So sind drei der besten unserer Genossen für immer von uns gegangen. Es hat wehe gethan, von ihnen zu scheiden, aber ein starker Trost ist uns geblieben: sie waren die Unseren, und sie sind es nicht vergeblich gewesen. Durch ehrenvolle Berufungen nach auswärts haben wir sieben Kollegen verloren. Aus der medicinischen Facultät folgte der ordentliche Honorarprofessor und Direktor des zumeist durch seine Thatkraft geschaffenen Kinderkrankenhauses, Medicinalrath Dr. Otto Heubner, einem Rufe an die Universität Berlin. Der ausserordentliche Professor Dr. Albert Landerer ist als Oberarzt an das Krankenhaus in Stuttgart, der ausserordentliche Professor Dr. Hermann Karg in gleicher Eigenschaft an das Kreiskrankenstift in Zwickau, endlich der Privatdocent Dr. Georg Schmorl als Prosektor an das städtische Krankenhaus zu Dresden übergesiedelt. Der ausserordentliche Professor Dr. Hermann Lenhartz wurde als dirigirender Oberarzt an das allgemeine Krankenhaus in Hamburg berufen und wird uns in wenigen Wochen verlassen. Aus der philosophischen Fakultät ging zu Ostern der ausserordentliche Professor Dr. Felician Gess als ordentlicher Professor der Geschichte an die technische Hochschule zu Dresden, mit Ende des Sommersemesters der ausserordentliche Professor Dr. August Föppl als ordentlicher Professor der Ingenieurwissenschaften an die technische Hochschule München und der ausserordentliche Professor Dr. Oswald Külpe als ordentlicher Professor der Philosophie an die Universität Würzburg über. Der ausserordentliche Professor Dr. Walter König, welcher seit mehreren Jahren beurlaubt war, hat sich in seinen schönen Wirkungskreis in Frankfurt a. M. so fest eingelebt, dass er jeden Gedanken an Rückkehr aufgegeben und jetzt seinen definitiven Abschied genommen hat. Auf die venia legendi verzichtete der bisherige Privatdocent der Physik, Dr. Theodor Des Coudres. Allen den von uns Geschiedenen folgen unsere herzlichen und sympathischen Wünsche in ihre neue Wirksamkeit. Die durch Tod oder Wegzug entstandenen Lücken sind durch folgende Neuberufungen ausgefüllt worden. In die juristische Fakultät trat mit Beginn des Sommersemesters der bisherige ordentliche Professor in Göttingen Dr. jur. Emil Strohal ein, während die philoso596

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phische Fakultät um dieselbe Zeit den bisherigen ordentlichen Professor an der Universität Würzburg, Dr. Johannes Volkelt, als ordentlichen Professor der Philosophie und Pädagogik und Direktor des philosophisch-pädagogischen Seminars, sowie den Freiburger Professor Dr. Erich Marcks als ordentlichen Professor der neueren Geschichte und Direktor des historischen Seminars gewann. Ebenfalls mit Beginn des Sommerhalbjahres erhielt die durch den Weggang des o. Honorarprofessors Dr. Delitzsch eine Zeit lang verwaiste ausserordentliche Professur für Assyriologie in dem aus Halle kommenden Professor Dr. Heinrich Zimmerer, und weiterhin die durch die Munificenz der Königl. Staatsregierung neu gegründete ausserordentliche Professur für theoretische Physik in dem bisherigen Privatdocenten an der Universität Erlangen, Dr. Hermann Ebert, einen Vertreter. Der Letztere hat uns bereits nach einem Semester wieder verlassen, um einem Rufe an die Universität Kiel als ordentlicher Professor der Physik zu folgen. Als Ersatz haben wir schon für gegenwärtiges Semester aus Göttingen den Professor Dr. Paul Drude gewonnen. Die durch Prof. Heubner’s Weggang erledigte und mit der Direktion des Kinderkrankenhauses verbundene ausserordentliche Professur der Medicin ist durch Berufung des Prof. Dr. Otto Soltmann aus Breslau mit Beginn des Wintersemesters besetzt worden. Möge es den neuen Kollegen bei uns gefallen und ihre hiesige Wirksamkeit eine lange und gesegnete sein! Innerhalb des akademischen Lehrkörpers sind ferner einige Beförderungen zu verzeichnen. Der um das Studium der historischen Hilfswissenschaften lang verdiente bisherige ausserordentliche Professor Dr. Wilhelm Arndt wurde zum ordentlichen Professor seines Faches in der philosophischen Fakultät, der ausserordentliche Professor und Direktor des pädagogischen Seminars Dr. Richard Immanuel Richter zum ordentlichen Honorarprofessor ernannt. Zu ausserordentlichen Professoren wurden im Laufe des Jahres die Privatdocenten bei der philosophischen Fakultät Dr. Eugen Mogk, Dr. Oswald Külpe und Dr. Alfred Hettner befördert. Als Privatdocenten endlich habilitirten sich bei der theolog. Fakultät Licentiat Dr. phil. Johannes Kunze, bei der jurist. Fakultät Dr. jur. et philos. Heinrich Geffcken, bei der medicin. Fakultät Dr. Heinrich Braun und endlich bei der philosophischen Fakultät Dr. Otto Wiedeburg für Physik, Dr. Theodor Paul und Dr. Johannes Stobbe für Chemie und Dr. Ernst Meumann für Philosophie. Diesen jüngsten Kollegen ein herzliches Glückauf für die neu betretene Laufbahn! Die Lehrerschaft der philosophischen Fakultät erhielt überdies vor einem Jahre einen werthvollen Zuwachs in dem nach 30jähriger hoch erfolgreicher Thätigkeit an der Universität Dorpat emeritirten Professor der Physik, Dr. Arthur v. Oettingen, welchem mit Einwilligung des Königl. Ministeriums unter Erlass der üblichen Habilitationsleistungen die venia legendi für Physik und Meteorologie ertheilt wurde. Auch in dem Kreise unserer Beamten hat im vergangenen Jahre ein Wechsel stattgefunden. 597

Johannes Wislicenus

Am Abende des 21. Juni verstarb, 69 Jahre alt, der Quästor der Universität, Rechnungsrath Karl August Beer. Mit reichen Anlagen und unermüdlichem Fleisse ausgestattet, hatte er sich durch unbedingte Zuverlässigkeit aus den bescheidensten Verhältnissen vom armen Seidenwirker bis zum ausgezeichneten Calligraphen, viel begehrten Schreiblehrer und endlich von 1862 an zum Kassenbeamten unseres Universitätsrentamtes emporgearbeitet. In dieser Stellung treu bewährt, wurde er mit April 1879 durch die Wahl des Plenums der ordentlichen Professoren zum Universitäts-Quästor befördert. Dieses eigenartige Vertrauensamt fordert von seinem Inhaber eine eigenartige Verbindung bester Eigenschaften: eine unbeugsame Pflichttreue, strengen Ordnungssinn und doch ein freundliches Herz und feines Taktgefühl. Quästor Beer hat sie im vollstem Maasse besessen und ist damit der Universitätslehrerschaft ein trefflicher verehrter Führer ihrer Geschäfte, unseren Studierenden aber ein allzeit hilfreicher Berather und Freund geworden. Auch sein Andenken wird bei uns dankbar bewahrt bleiben. In die verwaiste Stelle ist mit dem 1. Oktober der bisherige Kanzleisekretär bei der Kreishauptmannschaft Leipzig, Albin Oswald Schulze, als Universitäts-Quästor getreten und hat unter zeitgemässer Reform der Quästurordnung in dem bisherigen Assistenten Karl Robert Kühne einen Kontrolbeamten und ständigen Gehülfen erhalten. Mein Bericht über die von unseren Fakultäten verliehenen Ehrungen kann sehr kurz ausfallen, da die Würde eines Doctors honoris causa nur ein einziges Mal, und zwar von der theologischen Facultät dem Superintendenten Licentiaten der Theologie und Dr. philos. Herrn Wilhelm Germann in Wasungen ertheilt wurde. Unsere Studentenschaft hat sich auch in diesem Jahre wieder ihres guten Namens in hohem Grade werth erwiesen. Es ist ja nicht anders möglich, als dass in einer so grossen Zahl, in vollster akademischer Freiheit sich bewegender junger Männer einzelne Ausschreitungen stattfinden, auch wohl hie und da sich unlautere Elemente bemerkbar machen. Das Universitätsgericht ist im letzten Zeitabschnitte ausserordentlich selten genöthigt gewesen, von seiner Disciplinargewalt Gebrauch machen zu müssen und nur ein einziges Mal in die Lage gekommen, die Strafe der Entfernung von der Universität zu verhängen. Über verbreiteten Unfleiss, wie es die Rectoren mancher anderen Universität thun müssen, bei unseren Commilitonen zu klagen, haben wir in Leipzig keine Veranlassung. Auch in dieser Beziehung hat unsere Universität ihren Ruhm, eine Arbeitsuniversität zu sein, bewahrt. Nur eine Klage, liebe Commilitonen und junge Freunde, und eine Mahnung kann ich Ihnen gegenüber nicht ganz zurückhalten. Nehmen Sie es als ein Zeichen des Vertrauens auf, das uns immer verband. Mit tiefem Bedauern sehen wir, Ihre alten Freunde, den Geist kastenmässiger Abschliessung und Zersplitterung von Jahr zu Jahr wachsen, das Gefühl der Gemeinsamkeit, die siegreiche Hingabe an vereinigende grosse Gedanken mehr und mehr verkümmern. Nicht einmal die hervorragendsten nationalen Feste haben in den letzten beiden Jahren mehr vermocht, grosse Gruppen unserer Studentenschaft in gemeinsamer Feier und Erhebung zu vereinigen. Ich weiss wohl, dass ich Ihnen deshalb nicht gerade zürnen darf, hat dieser Krankheitsprocess doch fast unser ganzes Volk in bedrohlichem Grade ergriffen. Ich lebe der Zu598

Jahresbericht 1893/94

versicht, dass es sich nur um ein vorübergehendes Entwickelungstadium handelt, und so auch bei Ihnen; ich glaube an schliesslichen Sieg idealen Gemeingefühles und vertraue, dass gerade die deutsche akademische Jugend sich ihm zugänglich erweisen wird. Was die Frequenz unserer Universität anbetrifft, so stehen wir nach Jahren glänzenden Aufschwunges auch heute noch unter dem Zeichen langsamen Rückganges. Im letzten Sommersemester zählten wir 2764 inscribirte Studirende, gegen 2952 des gleichen Zeitabschnittes im Vorjahre. Die Zahl von 3067 immatrikulirten Studenten im Winter 1893/94 werden wir heuer wohl auch nicht erreichen, denn mit heute stellt sich, aus Abgängen und Zugängen berechnet, die Zahl auf 2879 gegen 3011 am letzten Oktober 1893. Wir sind dabei indessen weit davon entfernt, uns durch diese Thatsachen beunruhigen zu lassen und werden treu zu unseren herrlichen Aufgaben und unserer Pflicht stehen. Dass wir unter unserer Studentenschaft nur zwei Todesfälle zu beklagen hatten, gereicht uns zur hohen Genugthuung, wenn auch in Jedem der beiden jungen Männer eine Summe von Hoffnungen ins Grab sank. Der letzte Theil meines Berichtes betrifft das Schicksal der vorjährigen Preisaufgaben unserer Fakultäten. Diejenigen der theologischen und der juristischen Fakultät sind unbearbeitet geblieben. Bei der medicinischen Fakultät ging nur eine Bewerbung ein, welcher zwar der Preis nicht ertheilt werden konnte, deren Verfasser jedoch, als welcher sich cand. med. Heinrich Leimbach ergab, in Anerkennung tüchtigen Strebens dem Ministerium zur Ertheilung einer Gratification empfohlen werden soll. Auf die von der 1. Sektion der philosophischen Fakultät gestellte Preisaufgabe: „Die Königliche Gewalt nach den altindischen Rechtsquellen“, lief eine Beantwortung unter dem Motto: „Ex oriente lux“ ein. Die Fakultät rühmt bei einigen Mängeln gute Kenntniss des Sanskrit und selbständiges Urtheil, und erkennt der werthvollen Darstellung den vollen Preis zu. Als Verfasser ergab sich stud. philol. Willy Foy aus Leipzig. Auch die Aufgabe der 2. Sektion: „Die Gerechtigkeit und ihre Bedeutung für das Recht in der Rechtsphilosophie Kant’s“ hat eine Bewerbung unter dem Motto: „fiat justitia, pereat mundus“ gefunden. Die Bearbeitung erscheint der Fakultät nicht recht gelungen, sie weist aber andererseits doch manche lobenswerthe Seiten auf, so dass zwar der Preis nicht ertheilt wird, aber eine lobende Erwähnung und die Zubilligung einer Gratifikation gerechtfertigt erscheint. Der Verfasser ist der stud. philos. Abraham Eleutheropulos aus Konstantinopel. Die Aufgabe der dritten Sektion ist nicht bearbeitet worden. Die ausführlichen Motivirungen der Urtheile und die Aufgaben der vier Fakultäten für das neue Studienjahr zu verlesen, erlassen Sie mir wohl gern, um so mehr da die Veröffentlichung demnächst in üblicher Weise durch Drucklegung und Anschlag erfolgen wird. Und nun, hochverehrte Anwesende, scheide ich von dem Ehrenamte, in welches mich vor Jahresfrist das Vertrauen meiner verehrten Kollegen berief. Es geschieht in tiefstem Dankgefühle für das grosse Wohlwollen, die jederzeit bereite Unterstützung und Nachsicht, die ich auf allen Seiten gefunden habe, und die mir lebenslang ein werthvoller Erinnerungsschatz sein werden. 599

Paul Flechsig (1847–1929)

31. October 1894.

Rede des antretenden Rectors Dr. med. Paul Flechsig. Gehirn und Seele. Hochansehnliche Versammlung! Der Gebrauch unserer Universität verpflichtet den Rector, das ihm durch ehrendes Vertrauen der Herren Collegen übertragene Amt mit einem Vortrag aus seinem besonderen Lehrgebiet anzutreten, und so folge ich nur der Sitte, wenn ich in diesen altehrwürdigen Räumen Ihre Aufmerksamkeit auf eines der Grundprobleme meines Faches zu lenken suche, auf die Frage nach der Bedeutung des Gehirns für die psychischen Erscheinungen. So lange es ein wissenschaftliches, über die unmittelbaren praktischen Bedürfnisse hinausstrebendes Denken in der Medicin giebt, mühen sich hervorragende Ärzte aller Culturvölker die Stätte zu schauen, wo die fühlende Seele kämpft und der denkende Geist das Weltbild gestaltet. In allen Zeiten wissenschaftlichen Aufschwungs wird das Problem mit frischer Kraft in Angriff genommen, und noch bis vor kurzem stand es im Vordergrund der klinischen Forschung, bis es durch das echte Kind unserer Zeit, die für das körperliche Wohl so überaus wichtige Bacteriologie, zur Seite gedrängt wurde. So lange wie die Medicin strebt auch die Philosophie darnach, die Beziehungen zwischen Geist und Körper zu erkennen; aber weit entfernt sich gegenseitig zu fördern, beachten sich Ärzte und Philosophen entweder gar nicht oder verneinen wechselseitig die Haltbarkeit der gewonnenen Überzeugungen. Wenn wir heute von der hohen Warte fortgeschrittenen Wissens aus die Wege vergleichen, welche beide Wissenschaften zurückgelegt haben, so können wir kaum zu einem anderen Urtheil gelangen, als dass die Medicin zu allen Zeiten dem heute erreichten Ziel näher kam, und zwar keineswegs weil schärferes Denken den Ärzten zu eigen – wer wollte dies einem Aristoteles1 einem Cartesius gegenüber behaupten? –, sondern weil ihnen allezeit ein besseres Beobachtungsobject zu Gebote stand, der Mensch im gesunden und kranken Zustand, im Leben und im Tod. 1

Die Lehren des Aristoteles und Cartesius über den Sitz der Seele bedeuten ganz entschiedene Rückschritte gegenüber den Anschauungen zeitgenössischer bezw. früher lebender Ärzte.

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Paul Flechsig

Die Ärzte werden sich schon deshalb in ihren Überzeugungen nicht beirren lassen dürfen, wenn auch heute zahlreiche philosophische Psychologen die innere Begründung, den logischen Aufbau der medicinischen Hirn- und Seelenlehre zweifelnd bemängeln. Man kann es ja unlogisch finden, dass die Ärzte vielfach von einem „Sitz der Seele“ sprechen; denn dem Bewusstsein als solchem kommt keinerlei sinnliches Attribut zu – also auch nicht ein Ort im Raum –, und die Seele als ein abstracter Begriff kann nicht wie ein körperliches Wesen gesucht und behandelt werden. Indess hierüber sind sich im Grunde auch alle die ärztlichen Seelenforscher klar gewesen, welche dauernde Spuren in der Hirnlehre zurückgelassen haben. Neigen doch die hervorragenden Hirn-Anatomen ganz überwiegend zu dualistischen Anschauungen; ja zum grossen Theil verwahren sie sich ausdrücklich gegen die Unterstellung, die Seele selbst zu suchen und im Gehirn etwas anderes zu erblicken, als das materielle Werkzeug des Geistes. Wenn gegenwärtig die Mehrzahl der Pathologen monistischen Anschauungen huldigt und in Körper und Seele dasselbe Wesen erblickt nur von verschiedenen Seiten her betrachtet, so ist diese in ihrer reineren Form von Spinoza ausgehende, ganz besonders von unserem Fechner ausgebildete Lehre im Wesentlichen ein Erzeugniss speculativen Denkens, eine von den wenigen Lehren, welche von der Philosophie her in das Bewusstsein der Ärzte übergegangen sind. Der Medicin als solcher, deren Angelpunkt immer das menschliche Individuum bleibt, liegt nichts ferner, als sich in allgemeine Betrachtungen über das Wesen des Geistigen zu ergehen oder gar durch irgend eine vorgefasste Meinung über Beziehungen der Einzelseele zum Weltganzen alle fruchtbare Spezialforschung von vornherein unmöglich zu machen. Ausgehend von der Thatsache, dass Bewusstsein nur bei Lebenden sich äussert und dass die einzige Bewusstseinsform, welche wir aus der eigenen Erfahrung wirklich kennen, das menschliche Fühlen und Vorstellen, sich ändert mit wechselnden Zuständen des Körpers, erklären wir die Seele für eine Funktion des Körpers, die Seelenerscheinungen für den Ausdruck von Lebensvorgängen, welche sich von anderen Vorgängen im Nervensystem zunächst nur dadurch unterscheiden, dass sie eben mit Bewusstsein einhergehen. Die Medicin in ihren massgebenden Vertretern fasst also das Bewusstsein als Begleiterscheinung physischer Vorgänge auf, keineswegs als eine Resultirende im mechanischen Sinne. Dass von allen Körpertheilen das Gehirn die nächsten Beziehungen zu den Seelenerscheinungen hat, ja ganz ausschliesslich sie vermittelt, wurde schon von der Schule des Hippokrates gelehrt, zweifellos auf Grund der Erfahrung, dass Verletzungen und Erkrankungen des Gehirns am regelmässigsten die Seele beeinträchtigen. Seitdem hat sich unter den Händen von Ärzten und Physiologen die Hirnlehre allmählich zu einer medicinischen Seelenlehre erweitert, die sich freilich mit der philosophischen Psychologie nur in ganz beschränkter Ausdehnung deckt und in der That auch nichts anderes sein will, als ein Abschnitt der Lehre von den Hirnfunctionen. Welche Hirntheile sind in Thätigkeit, wenn wir denken oder fühlen; welcherlei chemische und physikalische Vorgänge sind hierbei betheiligt? Das sind die Fragen, welche der Arzt sich vorlegt. 602

Antrittsrede 1894

Das bisher Erreichte ist ja nun freilich nach keiner Richtung hin abschliessend und fast verschwindend im Verhältniss zu der Summe der überhaupt zu lösenden Probleme. Unser gesichertes Wissen beschränkt sich im Wesentlichen auf die Gestaltungsverhältnisse, die Form der Gewebs-Elemente, an welche die geistigen Erscheinungen geknüpft sind, ihre gegenseitige Verbindung, ihre Localisation im Gehirn. Ein Zurückführen auf die zu Grunde liegenden Substanzen und Kräfte ist noch nicht möglich; wir wissen nur, dass die im Gehirn vorhandenen chemischen Elemente in Betracht kommen; wir vermuthen, dass diese Elemente sich im lebenden Gehirn zu den complicirtesten Körpern unseres Planeten verbinden; aber wir kennen vorläufig nur Zersetzungsproducte der psychischen Substanz; und in nebelhafter Ferne liegen somit selbst die vorstellbaren Grenzen des Naturerkennens. Die moderne Hirnlehre stellt den Satz auf, dass nicht alle Theile des Gehirns von gleicher Bedeutung für das seelische Leben sind. Die für das blosse Auge unterscheidbaren Abschnitte lassen sich der Übersicht halber in zwei Hauptgebiete gruppieren, welche man als Grosshirn und als niedere2 Hirntheile einander gegenüberstellen kann. Die niederen Hirntheile schieben sich zwischen das windungsbedeckte Grosshirn und das Rückenmark ein und umfassen das verlängerte Mark nebst Anhängen, darunter das Kleinhirn. Von allen diesen Gebieten ist nach der Meinung zahlreicher neuerer Forscher nur das Grosshirn mit seiner grauen Rindensubstanz, die Grosshirnrinde, fähig, Bewusstsein zu vermitteln – ein Satz, der keineswegs endgiltig erwiesen ist. Laut und eindringlich spricht die pathologische Erfahrung nur dafür, dass die Vorstellungsthätigkeit, das Vorstellen der Aussenwelt und des Körpers nicht aber das „Fühlen“ schlechthin ausschliesslich an die Grosshirnhalbkugeln gebunden ist und dass hier verschiedenen Qualitäten von Vorstellungen, wie Gesichts-, Gehörsvorstellungen u. dgl. m. räumlich getrennte Gebiete entsprechen. In dieser „Localisationstheorie“ erblickt man hauptsächlich von nicht-medicinischer Seite eine Rückkehr zu jener im Anfang dieses Jahrhunderts vielgenannten und vielgeschmähten Lehre, mit welcher der Name Franz Josef Gall’s untrennbar verbunden ist, zur Phrenologie. Aber man irrt, wenn man die neuere Hirnlehre durch die Bezeichnung als „moderne“ Phrenologie dem Fluch der Lächerlichkeit preiszugeben meint; man erniedrigt sie hierdurch nicht, sondern man umkleidet nur den Namen Gall’s mit einem neuen Glorienschein. Wir lehnen keineswegs alle Beziehungen zu Gall ab; die neuen Anschauungen über die Hirnfunctionen haben mit der alten Phrenologie manches gemeinsam; denn auch die letztere fusst zum Theil auf thatsächlichen Beobachtungen. Aber Gall ist nicht der Vater der modernen Hirnlehre; er ist nur ein Vorläufer von zweifellos nicht gewöhnlicher Veranlagung; nur 2

Diese Eintheilung entspricht nicht der von den Anatomen angenommenen. Die niederen Hirntheile in dem hier gedachten Sinne reichen bis in das eigentliche Grosshirn hinein und umfassen vielleicht sogar noch die Grosshirnganglien; doch ist hier nicht der Ort dies näher zu begründen. Die Einteilung des Gehirns nach der embryonalen Gliederung in „Blasen“ ist dem ausgebildeten Organ gegenüber durchaus gekünstelt.

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Paul Flechsig

darf man, um seine wirkliche Bedeutung zu erfassen, den Zustand der HirnAnatomie unmittelbar vor seinem Auftreten nicht ausser Acht lassen. Noch herrschte damals in weiten Kreisen die Cartesianische Lehre vom Seelensitz. Der berühmte und noch jetzt mit Recht geschätzte Anatom Sömmering hatte soeben, vor kaum hundert Jahren, die Constructionen Des Cartes’s der wissenschaftlichen Welt durch eine neue originelle Fassung annehmbar zu machen versucht, und kein geringerer als Kant hatte diesem Unternehmen die Ehre einer eingehenden, wenn schon ironisch angehauchten Kritik zu Theil werden lassen. Alle Sinnes- und Bewegungsnerven, lehrte Sömmering (gleich Cartesius) enden oder entspringen in der Wand der Höhlen, welche im Innern des Gehirns gelegen sind; und kein anderes materielles Band verknüpft alle diese räumlich gesonderten Apparate zu einer Einheit, als der wässrige Inhalt der Höhlen, das Hirnwasser, welches allein der Sitz der Seele sein kann. Demgegenüber erscheint die Lehre Gall’s, dass die Hirnwindungen das wichtigste Substrat der Seelenthätigkeit darstellen, als ein unvergleichlicher Fortschritt. Ausschliesslich in dieser Grundanschauung sowie in dem Satz, dass die einzelnen Windungen des Grosshirns nicht alle geistig gleichwerthig sind, nähert sich Gall der modernen Localisationstheorie. Hingegen muss diese fast jede Gemeinschaft mit seinen Lehren über die einzelnen Seelenvermögen und ihre siebenundzwanzig Hirnorgane ablehnen. Hiermit fällt auch die Schädellehre in der besonderen Form, welche Gall ihr gegeben – nicht aber jede Möglichkeit, eine exactere Gestalt für dieselbe zu finden. Gemeinhin gilt der Physiolog Flourens für den wissenschaftlichen Ueberwinder der Phrenologie. Man vermuthet, dass er sich wie Sömmering von vornherein die Seele als ein einheitliches Wesen vorstellte und bei der Deutung seiner Experimente am Thier von dieser Anschauung massgebend beeinflusst worden ist. Durch Verlust des Grosshirns, lehrt er, wird das Thier alles dessen beraubt, was man als Wahrnehmung und Willen bezeichnet. An diesen Gesammtleistungen hat aber jedes Stück des Grosshirns einen durchweg gleichen Antheil, weshalb sich mit Fortnahme eines beliebigen Massentheiles alle Seelenfunktionen z. B. die Gesichts-, die Gehörsvorstellungen und alles andere in gleicher Weise in procentualem Verhältnis vermindern. Flourens’s Vorstellungen haben ein halbes Jahrhundert hindurch die Physiologie beherrscht, sich aber doch schliesslich theils als irrthümlich, theils als unvollständig erwiesen. Die Pathologen haben sie für den Menschen nie ganz widerspruchslos angenommen; war doch bereits vor Flourens die Aufmerksamkeit der Ärzte auf jenes eigenthümliche Krankheitsbild gerichtet, welches wir gegenwärtig Aphasie nennen, d. h. auf das Unvermögen, den Gedankeninhalt durch die articulirte Sprache auszudrücken, ohne dass Lähmungen der Sprachmuskeln oder allgemeine Geistesschwäche zu Grunde liegen. Nachdem schon Gall und sein Schüler Bouillaud erkannt, dass umschriebene Zerstörungen des Grosshirns besonders in der Stirngegend derartige Zustände herbeizuführen vermögen, fand der französische Arzt Marc Dax, dass Aphasie im Wesentlichen nur durch Erkrankung der linken Grosshirnhälfte entsteht und schliesslich konnte 1863 Broca die Sätze aufstellen, dass 604

Antrittsrede 1894

speciell die dritte Stirnwindung für die articulirte Sprache wichtig ist, dass bei allen Rechtshändern d. i. ca. 98 % aller Menschen nur die linke 3. Stirnwindung auf das Sprechen eingeübt wird, während bei Linkshändern der entsprechende Theil der rechten Hirnhälfte hierfür eintritt. Wir kennen jetzt sehr zahlreiche Unterarten der Aphasie; die Sprache ist häufig nicht ganz aufgehoben, sondern nur verstümmelt; bald leidet nur die Lautsprache, bald auch die Schrift, bald nur das Wortgedächtniss, bald auch die syntaktische Diction. Keineswegs ist in allen Fällen nur die dritte Stirnwindung, die sogenannte Broca’sche Stelle betheiligt. Diese wird meist nur erkrankt gefunden, wenn Unfähigkeit besteht, dem Bewusstsein klar vorschwebende Worte auszusprechen. Andere Formen von Aphasie beruhen auf Verletzungen des Schläfentheils3 noch andere des Scheiteltheils4; doch ist es unmöglich an diesem Ort auf alle hierhergehörigen Erfahrungen einzugehen, welche der Fleiss der Ärzte gesammelt hat. Dieselben beweisen für sich schon, dass keineswegs alle Regionen des Gehirns geistig gleichwerthig sind, und das nämliche erhellt in überzeugender Weise aus einer zweiten Reihe pathologischer Erfahrungen, welche auf Beziehungen einzelner Bezirke der Hirnoberfläche zu Sinneseindrücken und zu willkürlichen Bewegungen hinweisen. Es kann gegenwärtig als sicher betrachtet werden, dass in der Hinterhauptsgegend des Grosshirns ein Gebiet liegt, dessen Zerstörung die Gesichtsempfindungen gänzlich aufhebt. Wir „sehen“ mit dem Hinterhauptstheil des Grosshirns. – In gleicher Weise ist das Gehör an den Schläfentheil gebunden, der Geruch an die untere Grosshirn-Fläche, der Tastsinn an die obere Stirn- und vordere Scheitelgegend. Gleichzeitig mit Zerstörung dieser Sinnesregionen treten auch vielfach Bewegungsstörungen auf. Bei Zerstörung der Regionen des Tastsinnes werden alle Theile gelähmt, welche mit einem besonders feinen Tastsinn ausgestattet sind, insbesondere Arm und Hand. Bei Verletzungen nahe der Sehregion tritt Abweichung der Augenstellung wenn auch nur vorübergehend ein, und so finden sich vor allem Anomalien der willkürlichen Bewegungen von Sinnesorganen als Ausdruck von Verletzungen der Grosshirnwindungen, während die Bewegungen des Gesammtkörpers, das Gehen und Stehen dauernd meist nur durch Erkrankungen aufgehoben werden, welche auch die niederen Hirntheile betreffen oder in ihrer Thätigkeit beeinträchtigen. Wenn es die Pathologie in relativ kurzer Zeit so weit gebracht hat, so vermochte sie dies nicht ausschliesslich aus eigener Kraft. Erst nachdem den Ärzten durch das Thier-Experiment die Sinne geschärft waren, lenkte sich ihre Aufmerksamkeit auf die nur genannten Regionen des menschlichen Gehirns. Die Experimentalphysiologie trat in eine neue Epoche, als man begann, die Oberfläche des Thiergehirns mit dem electrischen Strom abzutasten, und hierbei ergab sich zuerst das werthvolle Resultat, dass nur bei Reizung einzelner Regionen Bewegungen von Körpertheilen eintreten, und dass zwischen gereiztem Ort und 3

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Das Unvermögen gesprochene Worte als solche zu erfassen, in der reinsten Form eine Störung der Gehörswahrnehmung. Das Unvermögen die Namen gesehener Objecte sich ins Bewusstsein zu rufen.

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bewegtem Körpertheil streng gesetzmässige Beziehungen bestehen. Die Physiologie berührte bei diesen ersten grundlegenden Versuchen noch keineswegs das eigentlich geistige Gebiet; sie entdeckte, wie wir jetzt wissen, thatsächlich nur die Ursprünge einzelner motorischer Leitungen in der Grosshirnrinde; indess führte die Fortsetzung dieser Versuche mehr und mehr in das Reich der Seelen-Erscheinungen hinein. Durch, man könnte fast sagen, rohere Anwendungsweisen electrischer Reize brachte man von der Hirnoberfläche aus Bewegungen hervor, welche den Charakter des Zweckmässigen, des Zielbewussten an sich tragen, Bewegungen einzelner Sinnesorgane5, wie sie das unversehrte Individuum ausführt, um tastend oder schauend oder horchend oder schnüffelnd die Aussenwelt, die Materie nach ihren sinnlichen Attributen zu durchforschen. Und weiter erzielte man durch theilweise Entfernung der Windungen dieselben Störungen der Sinnesthätigkeit beim Thier, welche man später beim Menschen kennen lernte – und wenn die Phantasie einiger Physiologen auch in der Schilderung der desorganisirten Thierseele sich vielfach vom sicheren Boden des thatsächlich Erkennbaren entfernte, so ist der Werth ihrer gesicherten Befunde immerhin noch unschätzbar gross. Endlich sollte ein die Bahnen von Flourens wandelnder Physiolog, dem die Hirnlehre schon von früher her zahlreiche klare Anschauungen verdankt, sie mit einem neuen kostbaren Geschenk bereichern. Indem es Goltz gelang, ein Säugethier ohne Grosshirn lange Zeit am Leben zu erhalten, vermochte er genauer als Flourens festzustellen, welcher Leistungen die niederen Hirntheile noch fähig sind, wenn ihnen die Führung des Grosshirns fehlt. Goltz hat klar bewiesen, dass ein grosshirnloses Säugethier keineswegs aller seelischen Regungen völlig entbehrt. Obwohl alles dessen beraubt, was auf Gedächtnis und Überlegung hinweist, obwohl unfähig mit Hülfe der Sinne die zur Befriedigung seiner körperlichen Bedürfnisse nothwendigen äusseren Objecte selbst aufzufinden, ist das Thier keineswegs eine willenlose Maschine im Sinne von Flourens. Durch äussere Reize, Drücken, grelles Licht, erschütternde Geräusche wird es in Bewegung gesetzt unter Äusserungen, aus welchen wir auf Unlust, Unbehagen zu schliessen gewöhnt sind. Es geräth in Wuth, beisst und heult, wenn es vom sicheren Boden in die Luft gehoben wird – und was fast noch weit bedeutsamer erscheint, Entbehrung der Nahrung, also ein Zustand, welchen wir als Hunger fühlen, setzt den ganzen Körper in lebhaftere Bewegung. Nach genügender Nahrungsaufnahme tritt Ruhe ein, und eine Art Befriedigung malt sich im Gebahren des grosshirnlosen Wesens. Die körperlichen Bedürfnisse wirken also auch bei völligem Grosshirnmangel noch treibend auf den Gesammtkörper und setzen überdies alle die Einzelapparate in Bewegung, welche unmittelbar der Befriedigung der körperlichen Triebe dienen. Sind diese aber gestillt, so erlöscht die Unruhe und ein ruhiger anscheinend traumloser Schlaf umfängt den Körper, bis Unlust erweckende äussere Reize oder Hunger, Durst und andere körperliche Gefühle von innenher das Bewusstsein von neuem anfachen.

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Ebenso kann man z. B. die Lähmung der Zunge vom Grosshirn aus als Ausfall von dem Tasten und Schmecken dienenden Bewegungen auffassen.

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Antrittsrede 1894

Der weittragende Werth dieser Versuche liegt nicht in dem Aufschluss, welchen sie uns über den Zustand des Bewusstseins nach Verlust des Grosshirns geben; hierüber wissen wir nichts! Aber sie zeigen uns deutlich die Macht und die Selbstständigkeit der körperlichen Triebe, und sie liefern uns die ersten Elemente für eine exacte Analyse der thierischen Handlungen. Sie lehren, dass ein grosser Theil dieser Handlungen ausschliesslich durch körperliche Einflüsse ausgelöst wird und mit dem „Geist“ absolut nichts zu schaffen hat. Dass für den Menschen ganz ähnliche Verhältnisse vorauszusetzen sind, lehren mannigfaltige Beobachtungen. Zunächst am neugeborenen Kind! Indem dasselbe besonders bei zu früher Geburt mit einem fast vollständig unreifen Grosshirn zur Welt kommt, mit einem Grosshirn, welches des Nervenmarkes fast vollständig entbehrt und so auch chemisch sich von dem des Erwachsenen wesentlich unterscheidet, gleicht der Mensch im Beginn seines Erdenwallens einem grosshirnlosen Wesen – und doch sind die Triebe schon mit dem ersten Athemzug in ihm mächtig, und schreiend verlangt der Körper nach Befriedigung seiner Bedürfnisse, nichts anderes kennend als diese einzige Aufgabe, freilich auch die allerwichtigste für die Ermöglichung des Lebens überhaupt. Sind die Triebe befriedigt, wird der Körper nicht von Unlust weckenden Reizen getroffen, so schwindet auch das Bewusstsein regelmässig. Die absolute Herrschaft der Triebe zieht sich weit in das Leben hinein; lange stehen die Sinnesorgane fast ausschliesslich im Sold der Triebe, nur Gelegenheit für deren Befriedigung erspähend – und zahlreiche Individuen bringen es überhaupt nicht weiter. In Bezug auf den erwachsenen Menschen spricht die pathologische Erfahrung für die Giltigkeit der Goltz’schen Beobachtungen am Thier. Wir kennen zahlreiche Zustände, wo das Bewusstsein der Aussenwelt und der eigenen Person vollständig erloschen scheint, wo trotzdem der Körper allerhand dem Ausdruck lebhafter Gefühle dienende Bewegungen vollführt, ja wo es sogar zu geregelten Ortsbewegungen des Gesammtkörpers und zu gemeingefährlichen Handlungen kommt, ohne dass irgend welche Theilnahme des vorstellenden Bewusstseins nachweisbar ist. Doch um tiefer in diese bis auf den Grund des Charakters führenden Erscheinungen einzudringen, ist es notwendig zunächst einen Blick zu werfen auf eine weitere wichtige Gruppe von Thatsachen, über welche die moderne Hirnlehre gebietet: auf die neueren Forschungen über den inneren Bau, die innere Gliederung, den inneren Zusammenhang des menschlichen Gehirns. Die Anatomie des Gehirns erscheint dem Laien gewöhnlich als etwas fremdartiges, kaum beachtenswerthes; ahnt er doch nicht, dass in ihr der Schlüssel zu jeder naturgemässen Auffassung der Geistesthätigkeit gegeben ist, und dass unsere gesammte Kulturfähigkeit ausschliesslich von den Einrichtungen unseres Gehirns abhängt. In der That spiegelt sich im Aufbau des Gehirns deutlich und klar erkennbar ein grosser Theil seiner Leistungen wieder. Die Anatomie zeigt deutlich, dass schon in den niederen Hirntheilen, besonders im Kleinhirn Apparate gegeben sind, welche wie ein Spiegel die Innenzustände des Körpers auffangen und ein Gesammtbild desselben entwerfen von innen her gesehen, so dass wir uns nicht wundern können, wenn auch ohne äussere Sinneswahrnehmungen zweckmässige Bewegungen des Gesammtkörpers zu Stande 607

Paul Flechsig

kommen. In die niederen Hirntheile treten6 zunächst auch die Nerven ein, deren specifische Aufgabe es ist, den Mangel an fester Nahrung, an Wasser, an Sauerstoff durch Hunger-, Durst- und Angstgefühl zur Anzeige zu bringen. Für die Auffassung des geistigen Mechanismus weit wichtiger sind aber die Erfahrungen über den Bau des eigentlichen Grosshirns. Bis vor wenigen Jahrzehnten fehlte es noch an jeglicher zuverlässiger Methode, um das Organ mit seinen Milliarden von Einzelzellen und Nerven-Leitungen auseinander zu legen. Gegenwärtig besitzen wir solche Methoden, und unter allen ragt hervor, was Aufschlüsse über den Gesammtplan anlangt, die Entwickelungsgeschichte, aber nicht die Geschichte der ersten Bildung, der frühesten Formwandlungen, sondern die Geschichte des weit später sich vollziehenden inneren Ausbaues. Alle anderen Methoden der Untersuchung insbesondere auch die auf gewisse Entartungszustände gegründeten, können nur als Ergänzungen dienen für die thatsächlich eine natürliche Selbstzergliederung des Gehirns benützende entwickelungsgeschichtliche Forschung. Scharf markiren sich bei diesem streng gesetzmässig und systematisch ablaufenden Process des inneren Ausbaues die grossen Grundlinien, indem ein Glied des Mechanismus nach dem andern reift und in Thätigkeit tritt, gleichzeitig mit der natürlichen Entwickelungsgeschichte des Geistes die im Hirnbau selbst verwirklichten Ideen klar wiedergebend. Während nun die niederen Hirntheile, welche die ersten Angriffspunkte für die Triebe darstellen, schon bei der Geburt ihre Entwickelung abgeschlossen haben, sind im Grosshirn auch bei dem völlig reifen Kinde nur einige wenige NervenLeitungen fertig gestellt; und diese Leitungen verknüpfen ausschliesslich empfindliche Theile des Körper-Innern sowie einige der Aussenwelt zugekehrte Sinneswerkzeuge mit dem Centralherd des Bewusstseins, der grauen Rinde des Grosshirns. Eine Sinnesleitung nach der andern, den für die zweckmässige Auswahl der Nahrung besonders wichtigen Geruchsinn an der Spitze, der Gehörsinn7 zuletzt, dringt von der Körperoberfläche her gegen die Rinde vor; und hierbei zeigt sich nun deutlich8, dass alle die Regionen der Hirnoberfläche, welche die Pathologie mit den Sinnesempfindungen in Beziehung bringt, nichts anderes sind, als die Endpunkte der Sinnesleitungen in der Grosshirnrinde, die inneren Endflächen der Sinnesnerven. Die Zerstörung dieser inneren Sinnesorgane ist es, welche Blindheit, Taubheit u. s. w. zur Folge hat. Nachdem die Sinnesleitungen des Kindes bis zu diesen Rinden-Organen fertiggestellt sind, beginnen von da aus neue Bahnen sich in umgekehrter Richtung zu entwickeln. Die einen dringen gegen die niederen9 Hirnregionen, zum Theil auch 6

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Zum Theil unter Vermittelung des Rückenmarks wie der das Hungergefühl vermittelnde Splanchnicus. Die Stabkranzfasern des Schneckennerven. Einige Lücken in der Kenntniss dieser Bahnen bestehen noch. Diese Bahnen gehen zum grössten Theil durch den Thalamus opticus. Eine zweite Gruppe von Stabkranzbündeln, deren Ursprünge noch nicht völlig erschöpfend festgestellt sind, treten durch den Hirnschenkelfuss mit der Brücke in Verbindung. Die einen (Temporale Grosshirnrinden – Brückenbahn, Flechsig) entspringen neben der Hörsphäre im Schläfenlappen (Déjerine), die anderen

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direct gegen das Rückenmark hin vor, gegen die Ursprünge der Bewegungsnerven – und so bewaffnet sich eine innere Sinnesfläche nach der anderen mit Leitungen, welche feinabstufbare Willensimpulse auf die motorischen Apparate, auf die Muskeln der peripheren Sinneswerkzeuge übertragen, allen voran der Tastsinn10 welchem sich beim Menschen nahezu eine viertel11 Million isolirter Leitungen zur Verfügung stellen, um die tastenden Hautflächen zu bewegen. Schon diese starke Entwickelung der inneren Organe des Betastens, des Begreifens beeinflusst sichtlich die Gesammtform12 des menschlichen Gehirns wie nicht minder seine geistige Leistungsfähigkeit. Die inneren Endflächen der äusseren Sinne in der Hirnrinde treten aber auch in Beziehung zu den niedersten Angriffspunkten der körperlichen Triebe, durch Nervenleitungen, welche höchst wahrscheinlich eine wechselseitige Beeinflussung der äusseren Sinneseindrücke und der sinnlichen Gefühle ermöglichen. Eine höchst beachtenswerthe Ausnahme macht ausschliesslich das dem Gehörsinn13 zugehörige Centrum, welches nicht deutlich Beziehungen zu den niederen Triebcentren erkennen lässt – und vielleicht beruht hierauf der idealere Charakter der Gehörseindrücke, welcher die Tonkunst von vornherein zum natürlichen Vermittler der höheren geistigen Gefühle bestimmt. Im Gegensatz hierzu besitzt das Geruchsorgan die ausgedehntesten Beziehungen zu den niederen Trieb-Centren. Das dem Tastsinn zugeschriebene Gebiet in der oberen Stirn- und vorderen Scheitelgegend erweist sich als Theil eines grossen zusammenhängenden RindenFeldes, in welchem der Körper zum zweiten Mal sich in seiner ganzen Ausdehnung wiederspiegelt, und von dem aus auch alle zur Befriedigung der körperlichen Triebe dienenden Bewegungen (Schlucken, Kauen, Athmen, sowie auch das Ergreifen äusserer Objecte) offenbar willkürlich ausgelöst werden können. So ist der Körper doppelt im Gehirn und dadurch im Bewusstsein vertreten, einmal in den niederen Hirntheilen in der Sphäre der niederen Triebe, einmal in der Grosshirnrinde, in der Sphäre der höheren geistigen Vorgänge, hier gleichzeitig als ein mit Hilfe der äusseren Sinne vorstellbares Object und als ein mittelst der inneren Sinne, insbesondere der Muskel- und Eingeweidenerven unmittelbar sich fühlendes Subject.

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(Frontale Grosshirnr. – Br. F.) im „Fuss“ der Stirnwindungen nahe der unteren vorderen Centralwindung; es lässt sich bezüglich beider noch nicht entscheiden, ob sie bewegungshemmende oder anregende Bahnen darstellen. Die „Pyramidenbahnen“, welche keineswegs eine allgemeine motorische Bahn darstellen, sondern im Wesentlichen nur mit feinem Tastsinn begabte Körpertheile bewegen. Eigene Berechnung. U. a. auch die Höhe der Stirn. Die Hörsphäre in der Gegend der 1. Schläfenwindung entbehrt fast vollständig einer Verbindung mit dem Thalamus opticus, während die Riech-, Tast- und Sehsphäre ungemein zahlreiche Faserbündel zum Thalamus schicken. Im Gegensatz hierzu verbindet sich der Hörnerv (N. cochlearis) unterhalb der Eintrittsstelle in das Grosshirnmark mit zahlreichen Apparaten, wie Tuberculum acusticum, vorderer Acusticus-Kern, obere Olive, unterer Vierhügel, oberer Vierhügel, innerer Kniehöcker, während zwischen Riechschleimhaut und Grosshirnrinde nur der Bulbus olfactorius eingeschaltet ist.

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Sucht man sich den Gesammtumfang der psychischen Funktionen vorzustellen, welche ausschliesslich an die inneren Sinnesflächen geknüpft sind, so darf man nicht ausser Acht lassen, dass beim geistesgesunden Erwachsenen sich alle Sinneseindrücke sofort mit zahlreichen Erinnerungen verbinden. Erst durch Verknüpfung von Eindrücken mit Erinnerungen entstehen Vorstellungen; erst hieraus resultirt die richtige Deutung unserer Sinneseindrücke. Reine Sinneseindrücke ohne Erinnerungen kommen beim geistesgesunden Erwachsenen kaum vor, während sie bei krankhaften Störungen des Bewusstseins nicht selten zu sein scheinen14. Da beim Menschen, welcher allein hier massgebend sein kann, Erinnerungen nicht regelmässig in grösserer15 Zahl schwinden, wenn ausschliesslich die Sinnescentren erkranken, – dürfen wir den inneren Sinnesorganen nicht die Fähigkeit zuschreiben, für sich allein neben Sinneseindrücken Erinnerungen in grösserer Ausdehnung zu vermitteln; wir dürfen ihnen in den Vorstellungen, wie wir sie im ausgebildeten Bewusstsein finden, zunächst und im Wesentlichen nur das zuschreiben, was sinnlich scharf ins Bewusstsein tritt, und nur in diesem Sinne könnte man die Sinnesflächen der Grosshirnrinde auch als Wahrnehmungscentren bezeichnen. Für die richtige Deutung der Sinneseindrücke, für ihre geistige Verarbeitung kommt zum mindesten in weit höherem Maasse eine zweite Gruppe von Bezirken der Grosshirn-Oberfläche in Betracht, welche wiederum nur durch die Untersuchung des Kindes sich scharf umgrenzen lassen. Kaum ein Dritttheil der menschlichen Grosshirnrinde steht in direkter Verbindung mit den Leitungen, welche Sinneseindrücke zum Bewusstsein bringen und Bewegungsmechanismen, Muskeln anregen; zwei Drittel haben direct hiermit nichts zu schaffen; sie haben eine andere, eine höhere Bedeutung. Welcher Art dieselbe ist, lässt schon die mikroskopische Untersuchung bis zu einem gewissen Grade erkennen. Während jedes Sinnescentrum der Hirnrinde einen besonderen charakteristischen Bau besitzt, der bei einzelnen16 deutlich erinnert an die Nerven-Ausbreitungen je in dem zugeordneten äusseren Sinneswerkzeug, tragen die höheren Centren – welche ich der Verständlichkeit halber von vornherein als geistige bezeichnen will, als „Denkorgane“ gegenüber den „inneren Sinnen“ – durchaus ein einheitliches17 Gepräge, einen durchgehenden Grundtypus der mikroskopischen Struktur, obwohl sie sich über die verschiedensten Regionen der Hirnoberfläche ausbreiten. Sie bilden einestheils das eigentliche Stirnhirn, den hinter der freien Stirnfläche, unmittelbar über den Augen gelegenen Hirntheil, ferner einen grossen Theil der Schläfenlappen, einen grossen Bezirk im hinteren Scheiteltheil und endlich die tief im Innern des Hirns versteckte Insula Reilii. Also vier grosse wohlgesonderte Bezirke giebt es im menschlichen Gehirn, welche nicht direkt mit Sinneseindrücken von aussen her oder aus dem Körperinnern, noch mit Bewegungs14

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Vermuthlich beruhen hierauf verschiedene Formen von „Bewusstlosigkeit“ im Sinne des Strafgesetzbuches, Dämmerzustände u. dergl. m. Keineswegs lässt sich behaupten, dass Erinnerungsbilder überhaupt nicht schwinden; denn der Ausfall in geringer Menge lässt sich kaum sicher beurtheilen. Dies gilt ganz besonders von der Sehsphäre mit ihren Körnerschichten. Der gemeine „5schichtige“ Typus.

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impulsen zu thun haben, deren Thätigkeit also ganz nach innen gerichtet erscheint. Aber sie bieten anatomisch auch noch weitere Besonderheiten, welche von vornherein auf ihre höhere geistige Bedeutung hinweisen. Noch mehrere Monate nach der Geburt sind die geistigen Centren noch unreif, gänzlich bar des Nervenmarkes, während die Sinnescentren schon längst – ein jedes für sich, völlig ungestört von den anderen – herangereift sind. Erst wenn der innere Ausbau der Sinnescentren zum Abschluss gelangt ist, beginnt es sich allmählich in den geistigen Centren zu regen, und nun gewahrt man, wie von den Sinnescentren her sich zahllose Nervenfasern in die geistigen Gebiete vorschieben und wie innerhalb eines jeden dieser Gebiete Leitungen, die von verschiedenen Sinnescentren ausgehen, mit einander in Verbindung treten, indem sie dicht nebeneinander in der Hirnrinde enden. Die geistigen Centren sind also Apparate, welche die Thätigkeit verschiedener innerer (und somit auch äusserer) Sinnesorgane zusammenfassen zu höheren Einheiten. Sie sind Centren der Association von Sinnes-Eindrücken verschiedener Qualität, von Gesichts-, Gehörs-, Tasteindrücken etc.; und sie erscheinen schon insofern auch als Träger einer Coagitation, wie die lateinische Sprache prophetisch das Denken bezeichnet hat; sie können also auch Associations- oder Coagitations-Centren heissen. Diese aus dem anatomischen Bau sich unmittelbar ergebende, sich geradezu aufzwingende Hypothese könnte so lange für unzureichend begründet gelten, als sie nicht die Probe der klinischen Erfahrung bestanden hat; diese aber ergiebt thatsächlich zahllose Beweise für ihre Richtigkeit. Die Erkrankung der Associations-Centren ist es vornehmlich, was geisteskrank macht; sie sind das eigentliche Object der Psychiatrie. Sie finden wir verändert bei denjenigen Geisteskrankheiten, deren Natur uns am klarsten ist,18 weil das Mikroskop Zelle für Zelle, Faser für Faser deutlich die Veränderungen erkennen lässt; und so können wir direct nachweisen, welche Folgen es für das geistige Leben hat, wenn sie zu mehreren oder zu vielen oder auch sämmtlich desorganisirt sind. In ein wirres Durcheinander gerathen die Gedanken, neue fremdartige Gebilde erzeugt der Geist, wenn sie krankhaft gereizt werden, und völlig verloren geht die Fähigkeit die Vergangenheit zu nützen, die Folgen der Handlungen vorauszusehen, wenn sie vernichtet werden. Sie sind die Träger von allem, was wir Erfahrung, Wissen und Erkenntniss, was wir Grundsätze und höhere Gefühle nennen, nicht minder auch der Sprache; und all’ dies Können wird hinweggefegt, wenn z. B. Gifte die geistigen Centren zersetzen. Die Lehre von den vier „geistigen“ Centren ist noch ein zu junger Erwerb, als dass sich die Bedeutung jedes einzelnen schon jetzt klar darlegen liesse.19 Die Gestaltung der Psychologie in der Zukunft wird wesentlich von der Analyse ihrer Thätigkeit abhängen, und erst dann wird sich zeigen, wie viele besondere Seelenorgane der Mensch hat. Eine Psychologie, welche Anspruch auf Exactheit macht, 18

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Die Dementia paralytica, Hirnerweichung Parchappe beschränkt sich häufig auf die geistigen Gebiete, indem nur diese einen ausgeprägten Schwund der nervösen Elemente – meist nur der Fasern, gelegentlich auch der Zellen – erkennen lassen. Die geistigen Centren sind erst im laufenden Jahr im Laboratorium der hiesigen psychiatrischen Klinik aufgefunden bezw. umgrenzt worden.

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wird die Thatsache, dass die menschliche Grosshirnrinde sich, ähnlich wie die Erdoberfläche aus Continenten und Meeren, aus mindestens neun anatomisch wohlgesonderten Gebieten zusammensetzt, nicht ignoriren dürfen. Das Organ des Geistes zeigt deutlich eine collegialische Verfassung; und in zwei Senate ordnen sich seine Räthe; nur führen die Mitglieder dieser Senate nicht, wie in der alten Phrenologie20 Titel, wie Freundschaft, Gutmüthigkeit, Witz, Festigkeit und dergl., sondern einestheils Namen von Sinnen21: Gesichtssinn, Gehörsinn u. s. w., anderntheils von Coagitations- oder Associationscentren; diese letzteren aber harren mit Rücksicht auf ihre besonderen Functionen noch weiterer specieller Namen. Gleichwerthig sind keinesfalls alle vier; geht doch schon aus den vorliegenden pathologischen Beobachtungen hervor, dass die Fähigkeit eine Mannigfaltigkeit von Sinneseindrücken zu einer Gesammtvorstellung zu vereinigen und die Erkenntniss des natürlichen Zusammenhanges der Dinge an andere Centren gebunden sind als die Fähigkeit, Kenntnisse durch die Sprache auszudrücken; denn die Sprache kann verworren sein, während die Auffassung der Aussenwelt noch nicht merklich gestört erscheint; und die Sprache kann formell durchaus correct erscheinen, während die Vorstellungen sich zu völlig sinnlosen Wahn-Ideen zusammenschliessen. Bei den complicirtesten geistigen Leistungen wirken vermuthlich alle vier geistigen Centren zusammen; sind sie doch untereinander durch zahllose Nervenfasern verbunden. Der grösste Theil des menschlichen Gross-Hirnmarkes besteht thatsächlich aus nichts anderem als aus Millionen wohlisolirter, insgesammt Tausende von Kilometern messenden Leitungen, welche die Sinnescentren untereinander, die Sinnescentren mit den geistigen Centren und diese wieder untereinander verknüpfen; – und nur aus dieser Mechanik resultirt die Einheitlichkeit der Grosshirnleistungen. Da mit Zerstörung der „geistigen“ Centren ausnahmslos das Gedächtniss in grosser Ausdehnung verloren geht, so haben wir in ihnen wenigstens einen grossen Theil der nervösen Elemente zu suchen, an welche die Erinnerungsfähigkeit für Sinneseindrücke gebunden ist – und es würde sich nur fragen, inwiefern wir mit unseren physikalischen und chemischen Hilfsmitteln hier direct irgend welche Spuren früherer Sinneseindrücke nachweisen können. Dass die Gedächtnisspuren überhaupt physischer Natur sind, geht schon aus der einen Thatsache hervor, dass Gifte wie Alkohol, also chemische Agentien, sie vorübergehend oder dauernd verschwinden machen, letzteres ausnahmslos dann, wenn durch das Gift die Ganglienzellen und Nervenfasern der geistigen Centren aufgelöst werden.

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Auch Gall unterscheidet neben inneren Sinnen (Tonsinn, Farbensinn etc.) noch eine zweite Gruppe von Seelenvermögen, welche mit Sinnen nichts gemeinsam haben. Richtig localisirt hat er kaum eines dieser „Vermögen“; doch stattet er die Windungen der Stirngegend mit geistigen Leistungen aus, welche zum Theil wenigstens mit diesem Hirntheil zusammenhängen dürften. Die hinteren Abschnitte der Stirn- und die Centralwindungen enthalten vermuthlich auch Endstationen des Muskelsinnes; auch schiebt sich zwischen Riechsphäre und Sehsphäre noch ein „Sinnesgebiet“ ein; doch kann man nur 5 gesonderte Sinnesflächen deutlich unterscheiden, was nicht ausschliesst, dass die eine oder andere mehrere Sinne repräsentirt und demgemäss in mehrere Unterabtheilungen zerfällt.

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Wir verlegen die Gedächtnisspuren hauptsächlich in die Ganglienzellen, weil nur diese erfahrungsgemäss fähig sind, Reize aufzuspeichern, sich mit Spannkräften nach Art von Reservestoffen zu laden, aber wir können es einer Zelle nicht ansehen, ob sie wirklich Erinnerungsspuren birgt oder gar welcherlei Qualität dieselben sind, ob eine Zelle etwa Antheil hat an der Vorstellung der Sonne oder eines Accords. Wir sind in Folge dessen noch unendlich weit von dem Zeitpunkt entfernt, wo die Psychologie die Vorstellungen mit Rücksicht auf die Zahl der gleichzeitig in Thätigkeit tretenden nervösen Elemente in tausend-, hunderttausend- oder millionenzellige eintheilen wird; niemals wird sie angesichts der anatomischen Verhältnisse in Wirklichkeit einzellige annehmen dürfen. Indem wir auch nicht für eine einzige Vorstellung angeben können, wieviel nervöse Elemente an ihr betheiligt sind, stehen wir hier vor einer zweiten Schranke des Naturerkennens, welche es unmöglich macht, die irgend einem geistigen Geschehen parallel gehenden Bewegungen der Hirnmolecüle vollständig in mathematischen Formeln zu beschreiben und überhaupt die Frage nach einem durchgehenden Parallelismus zwischen geistigen und körperlichen Vorgängen exact zu beantworten. Die mikroskopische Anatomie, die Elementarphysiologie versagen also schon frühzeitig; sie zeigen ebensowenig, wo Gedächtnissspuren sich befinden, als sie lehren, welche Elemente des Hirns Bewusstsein vermitteln oder welche speciell an Gefühlen22 betheiligt sind; und zweifelnd fragen wir, ob wir dieses Ziel auch mittelst vollkommenerer chemischer und physikalischer Untersuchungsmethoden je erreichen werden. Was wir aber mit Sicherheit wissen, ist dass die in den geistigen Centren niedergelegten Gedächtnissspuren unter einander mehr oder weniger in festen Beziehungen stehen; das Gedächtniss ist organisch gegliedert, nicht nur vermöge der Gliederung seiner physischen Grundlage in unzählige wohlgesonderte Elemente; auch die Gedächtnissspuren selbst sind organisirt. Der allem geordneten Denken zu Grunde liegende Zusammenhang der Gedächtniss-Elemente beruht in letzter Linie zum guten Theil auf Eigenschaften der Aussenwelt, des Weltganzen. Indem die Natur-Vorgänge gesetzmässig verlaufen, kehren Reihen und Gruppen von Sinneseindrücken häufig in derselben Verbindung wieder, und das oft Zusammentreffende, die Häufung gleicher Eindrücke lässt besonders feste und festgeschlossene Gedächtnissspuren zurück, während durch einen gesetzlosen Zufall zusammengeführte23 Erscheinungen schon vermöge ihrer seltenen Wiederkehr sich nur lose mit einander verknüpfen. Gleich einem Vermächtniss hat Hermann von Helmholtz in seiner letzten Abhandlung mit der ganzen Vollkommenheit und Einfachheit der schöpferischen Natur die Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass all’ unsere anschauliche Kenntniss der Aussenwelt nur aus Sinnes22

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Es würde zu weit führen, näher auf die höheren „Gefühle“ einzugehen; zu einer kurzen naturwissenschaftlichen Darstellung sind sie (insbesondere die sittlichen Gefühle) kaum geeignet, obwohl sie der pathologischen Erfahrung nach genau so an die Hirnsubstanz gebunden sind wie das einfache Schmerzgefühl. Ich gebrauche hier absichtlich Ausdrücke von Helmholtz, welche kaum durch treffendere ersetzt werden können.

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eindrücken und unbewusster Arbeit des Gedächtnisses stammt – wohl das eigentliche Endergebniss der immer höher und höher zielenden Überlegungen des vor wenig Wochen dahingeschiedenen wahrhaft geborenen Naturforschers, dessen unersetzlichen Verlust wir mit der gesammten gesitteten Welt auf das Tiefste beklagen. Wenn ein Geist, welcher die gesetzliche Ordnung im Reiche des Wirklichen so überaus klar erkannt hat, sich bescheidet, in seinen unsterblichen Werken grossentheils das Ergebniss solch’ elementarer Vorgänge zu sehen, so werden wir von unserem ärztlichen Erfahrungskreis aus nicht anstehen dürfen, auch die durch bewusstes Zergliedern der Anschauungen entstandenen Begriffe nur mit einer besonderen Organisationsform der Gedächtnissspuren in Zusammenhang zu bringen; werden doch die begrifflichen Verbindungen der Vorstellungen ganz wie die Anschauungen zersprengt, wenn die geistigen Centren auch nur leicht erkranken. Von besonderem Interesse erscheint nun die Frage nach den physischen Kräften, welche die Gedächtnissspuren wieder zu Vorstellungen, zu Bewusstseinserscheinungen werden lassen. Gemeinhin legt man hier den Sinneseindrücken, den Eindrücken der Aussenwelt eine besondere Bedeutung bei, und thatsächlich wecken diese ja im wachen Zustande ununterbrochen Gedächtnissspuren. Aber man darf hierbei nicht eines anderen wichtigen Factors vergessen. Lebhaft Phantasie- oder Nachdenken erregend wirken äussere Eindrücke nur dann, wenn sie intensive Gefühle, wenn sie Triebe auslösen. Was reizt, gefällt nicht nur, sondern setzt auch die Vorstellungen in lebhafte Bewegung. Aber auch direct von innen heraus wirken Hunger, Durst, Angst und alle anderen körperlichen Gefühle wie mit einem Zauberstab weckend auf die ihnen genehmen, inhaltsverwandten Vorstellungen. Hier tritt uns also eine zweite unsre Vorstellungen ordnende Kraft entgegen, eine Kraft auf welcher zweifellos ein ganz wesentlicher, keineswegs nur der schlechteste Theil von Kunst und Poesie beruht, die körperlichen Gefühle, die eigentlichen Grundkräfte der Phantasie. Geradezu grausenerregend zeigt sich die Macht der erregten Gefühle und Triebe bei Geisteskranken. Ohne Zuthun der bewussten Überlegung componirt das krankhaft gesteigerte Angstgefühl Scenerien und Gestalten von erschütterndster Wirkung, von tragischer Gewalt; sowie die Angst sich auf den Gesichtszügen malt und die ganze Körpergestalt plastisch formt, modellirt sie aus allem, was nur im Gedächtniss für ihre Zwecke Brauchbares enthalten ist, die gewaltigsten geistigen Neuschöpfungen wie sie nie eines Sterblichen Auge wirklich sah; und Ähnliches bieten ja auch die Träume in körperlichen Schwäche- oder Krankheitszuständen. Die Sinne erscheinen hier auf den ersten Blick nur als Gehilfen der körperlichen Triebe, wie Handlanger, welche für die herrschenden Gefühle Ausdrucksmaterial herbeischleppen. Aber von der Sorgfalt ihrer vorbereitenden Arbeit, von ihrem scharfen Erfassen des Wirklichen hängt doch zum guten Theil die künstlerische Vollkommenheit der Phantasiegebilde ab; und die Phantasie arbeitet um so einheitlicher, je sorgfältiger das sinnliche Material von vornherein mit klaren, scharfen Gefühlsmarken24 versehen wird. 24

So dass die Vorstellungen von vornherein nach ihrem Gefühlswerth geordnet werden; hierzu bedarf es freilich einer angeborenen Feinheit des Gefühls.

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Aber auch bei den grossartigsten Bauten der Phantasie handelt es sich zum Theil um einfach mechanische Vorgänge. Sind doch auch hierbei wieder Leitungsbahnen betheiligt, Nervenfasern, welche die ersten Angriffspunkte der körperlichen Triebe mit den Vorrathskammern des organisirten Gedächtnisses in Verbindung setzen. Auch die Nerven der sinnlichen Triebe dringen bis zur Hirnrinde vor und treten hier zuerst in die Gebiete ein, welche auch den Wahrnehmungen der Aussenwelt dienen, in die Sinnescentren – und vielleicht beruht hierauf das Geheimniss des Augenausdrucks, in welchem sich zahllose Gefühlsnüancen wiederspiegeln können.25 Beide also, die Nervenbahnen, welche uns die Schönheiten der Aussenwelt zeigen wie die, welche die im Körperinneren entstehenden Reize zuleiten, haben gemeinschaftliche Angriffspunkte in der Hirnrinde und regen von da aus die Thätigkeit der Bewegungsapparate und der geistigen Centren an. Aber die Leitungen von den niederen Centren der Triebnerven zur Hirnrinde sind nicht bloss dazu berufen, die Sinnlichkeit phantastisch zu verklären, zu idealisiren, nicht nur um ihre Befriedigung zu erleichtern durch Vorstellung der hierzu geeigneten Objecte; sondern indem die körperlichen Triebe die Rinde erregen, beginnt unter Theilnahme der äusseren Sinne auch jenes Spiel, jenes Arbeiten der Vorstellungen, welches uns das Bewusstsein als Kampf der Sinnlichkeit mit der Vernunft wahrnehmen lässt. Die Auslösung von Vorstellungen durch die körperlichen Triebe hat also auch eine eminent sittliche Bedeutung, und deshalb werden mit Nothwendigkeit die Triebe aller idealen Charaktere entkleidet, darum fällt jeder Kampf zwischen den Trieben und den an Ideen gebundenen sittlichen Gefühlen hinweg, wenn die Kraft der geistigen Centren erlahmt, wenn ihr geistiger Inhalt schwindet. Jeder Zügelung bar herrschen nun die Leidenschaften; Zorn und Wuth aber auch Angst und alle anderen Gemüthsbewegungen treten in den Vordergrund, und behaupten das Feld so lange, bis auch die niederen Hirntheile, an welche sie gebunden sind, vernichtet werden. Schon der gewohnheitsmässige Alkoholmissbrauch zeigt uns dieses abschreckende Bild des enthirnten Menschen, noch mehr aber die tieferen allgemeinen Erkrankungen der geistigen Sphären. Die Beherrschung der Affecte erfordert ein kraftvolles Grosshirn, und ohne dieses ist weder die sinnliche Stärke, die den Helden macht, noch die Olympische Ruhe des Weisen denkbar, freilich mit dem Unterschied, dass die sinnliche Stärke auch ein kräftiges Triebleben und eine ausdauernde Energie niederer Hirntheile voraussetzt. Gesundheit des Grosshirns verbürgt aber sichere Beherrschung der Triebe nicht allein dadurch, dass sie klares Denken, stete Besonnenheit ermöglicht; vielmehr ist hier auch ein rein mechanischer Faktor in Wirksamkeit. Die körperlichen Triebe gehören ihrem ganzen Wesen nach zur Kategorie der reflectorischen Vorgänge, und wie alle anderen Reflexe werden auch sie vom Grosshirn stetig gedämpft, darniedergehalten. Mit zunehmender Grosshirnschwäche lässt auch die mechanische 25

Die Gefühle und Triebe wirken auf die Augenstellung einestheils durch Vermittlung der Sehsphäre, und vielleicht einer vorderen Zone der Tastsphäre (welchem Sinnesorgan diese motorische Augencentren zugeordnet sind, ist unbekannt) – anderntheils vielleicht schon durch Vermittlung der zu den niederen Hirntheilen gehörigen Vierhügel.

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Hemmung nach, und der Körper gewinnt nun schon deshalb eine ausgedehntere Herrschaft über den Geist. Aber man würde gewaltig irren, wenn man glaubte, dass Schwäche des Grosshirns sich immer nur in augenfälliger intellectueller Störung, in Verworrenheit, delirirendem Wahnsinn u. dergl. kund giebt. Sie kann sich auch unter weniger auffälligen Masken verbergen, und zunächst möchte ich hier des actuellen Interesses halber jener Fälle gedenken, welche die Psychiatrie als moralisches Irresein, Moral insanity, bezeichnet. Als besonders charakteristisch tritt hier wenigstens zeitweise eine Steigerung des Trieblebens in schrecklichster Form hervor; ganz im Sinne einer Grosshirnschwäche reagiren derartige Individuen gelegentlich auf alle körperlichen Anreize, auf mässige Unlust, leichten Hunger u. s. w. im Sinne einer übermaximalen Reizung, und die Erregung eines Triebes setzt alle zusammen in Bewegung, so dass die Befriedigungsweise schon dadurch unnatürlich, pervers erscheinen muss. Glücklicherweise sind diese ausschliesslich durch Vergiftung im Keimzustand oder Störung des Gehirnwachsthums entstehenden wahrhaft unmenschlichen Naturen keineswegs häufig. Aber auch ohne dauernd intellectuell oder moralisch schwach zu sein, zeigen viele Individuen selbst von glänzender geistiger Veranlagung eine Hirnschwäche, in Form einer Ungleichmässigkeit, einer mangelnden Stetigkeit der Grosshirnleistungen. Hier kann der erfahrene Arzt häufig nachweisen, dass die Ernährung des Gehirns zeitweise unvollkommen wird, weil die Blutcirculation versagt; und sobald diese unter ein gewisses Maass herabsinkt, trübt sich, ja verschwindet das Bewusstsein, welches ohne Sauerstoffzufuhr auch nicht sekundenlang bestehen kann. Andere dieser Unglücklichen sind so construirt, dass jede kräftige Triebregung, ja die leichte Reizung eines überempfindlichen Nerven sofort eine Hemmung der gesammten Grosshirn-Energie und hiermit Abschwächung der Besonnenheit, der Selbstbeherrschung zur Folge hat. Für derartige Naturen, welche nur zu häufig mit dem Strafgesetz in Conflict kommen, gewinnt der Richter gemeinhin nur schwer ein Verständniss. Sind sie doch rein psychologisch nicht zu begreifen – bedarf es hierzu doch scharfer ärztlicher Begriffe, klarer Vorstellungen über die Abhängigkeit des Bewusstseins vom Blutstrom des Gehirnes, über die Vorgänge der Hemmung und Reizung im Nervensystem – also einer gründlichen Kenntniss der Statik und Mechanik des Seelenorgans. Diese Fälle sind es nächst der Moral insanity, welche jene auf den ersten Blick so widersinnigen Krankheitsformen repräsentieren, für welche die Psychatrie seit Pinel die Bezeichnung Manie sans délire, Folie raisonnante, Monomanie instinctive, Handlungsirresein und andere mehr erfunden hat, die Geistesstörungen ohne Irresein. Sie sind es, welche uns in besonders greller Weise zeigen, dass der schöne Traum eines Sokrates, eines Leibniz, klares sicheres Wissen müsse immer von Tugend, von sittlichem Handeln begleitet sein, vor der rauhen Wirklichkeit nicht durchaus Stand hält; auch eine vollkommene, Stetigkeit verbürgende Hirnmechanik muss dazukommen. 616

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Fast möchte es wie eine Selbstanklage erscheinen, wenn ich dem gegenüber schliesslich auch darauf hinweise, dass, sowenig klares Wissen allein Tugend verbürgt, sowenig auch irgend welches sichere Wissen die Tugend gefährdet – und dass dies ganz besonders gilt von der Zurückführung der seelischen Erscheinungen auf materielle Vorgänge. Nicht zu dem Grundsatz gelangt die Hirnforschung, dass Alles begreifen gleichbedeutend ist mit Alles verzeihen, im Gegentheil zu der festen Überzeugung, dass Vieles besser sein könnte und dass der Mensch oder wenigstens die gesittete menschliche Gesellschaft in weitem Maasse und mehr als man gemeinhin denkt, die Fähigkeiten besitzt, sich die Vorbedingungen für ein sittliches Handeln selbst zu schaffen. Nichts kann eindringlicher auf die Selbstverantwortlichkeit des Einzelnen hinweisen, als die naturwissenschaftliche Seelenlehre, indem sie zeigt, wodurch der Mensch sinkt. Die Medicin tritt durch die Erforschung der materiellen Bedingungen der Geistesthätigkeit unmittelbar in die Reihe der moralischen Wissenschaften, und es ist wohl denkbar, dass, nachdem sie einmal das Problem erfasst, sie fortschreiten wird bis in die vordersten Reihen der Mächte, welche die sittliche Hebung des Menschengeschlechts sich zur Hauptaufgabe gemacht haben. Wenn Baron Holbach im „System der Natur“ der Überzeugung Ausdruck giebt, dass es gelingen müsse, die Sittenlehre physiologisch zu begründen, wenn er es als die Hauptaufgabe der Moralphysiologie hinstellt, die Elemente kennen zu lernen, welche die Grundlage des Temperamentes eines Jeden bilden, um womöglich auch die Gesetzgebung hierauf basiren zu können – so ist die medicinische Psychologie auf dem Weg nach diesem Ziele. Aber die wissenschaftliche Hirnlehre der Gegenwart unterscheidet sich von der Aufklärungsphilosophie des vorigen Jahrhunderts insofern erheblich, als sie nicht wie diese von Hass beseelt ist gegen den Glauben an die Immaterialität der Seele; denn dieser hindert uns keineswegs, von der körperlichen Seite her die sittliche Hebung der Menschheit in Angriff zu nehmen – was wir verlangen müssen, ist lediglich die Anerkennung, dass die Kraft des Geistes auch nach der sittlichen Richtung hin in weitestem Maasse vom Körper abhängt. Diese Thatsache der grossen Menge einzuprägen, erscheint zweckdienlicher, als durch Unterdrückung derselben sie gedankenloser Schädigung ihres edelsten Organs zu überantworten. Mit dem Kampf gegen den Alkohol, der nur zu häufig zum furchtbarsten Feinde des Grosshirns wird, ist noch lange nicht genug gethan. Allgemeine Aufklärung über die Hygieine des Gehirnlebens thut Noth, und noch Vieles muss geschehen, falls es gelingen soll, wenigstens für kommende Geschlechter die natürlichen Grundlagen sittlichen Fühlens zu stärken und zu festigen. Freilich aber setzt alles erfolgreiche Handeln eine Gesellschafts-Ordnung voraus, welche gestattet, die blinden Triebe der moralisch Minderwerthigen aller Stände der tieferen Einsicht und dem besseren Wollen einer geistig-sittlichen Aristokratie zu unterwerfen. Aber keineswegs nur unmittelbar praktische Ziele lässt die mechanische Betrachtung der Seelenerscheinungen erblicken; wie sich von vornherein die edelste Seite unseres Wesens, der Erkenntnisstrieb verkörpert in dem Drang die natürliche Ordnung der Dinge auch im Reiche des Geistes zu erfassen, so führen die wirklichen Fortschritte des Wissens auch auf diesem Gebiet der Naturforschung mit der 617

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zwingenden Nothwendigkeit eines Naturgesetzes zu einer idealen Weltanschauung. Je mehr sich unserem begreifenden Verstand die ganze Grösse des in der beseelten Schöpfung verwirklichten Könnens enthüllt, um so klarer erkennen wir, dass hinter der Welt der Erscheinungen Mächte walten, gegen welche menschliches Wissen kaum noch auf den Namen eines „Gleichnisses“ Anspruch machen darf. ***

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31. October 1895. Rede des abtretenden Rectors Dr. med. Paul Flechsig. Bericht über das Studienjahr 1894/95. Hochansehnliche Versammlung! Bevor ich das Ehrenamt, welches vielseitiges Vertrauen mir vor Jahresfrist verliehen, meinem Nachfolger, dem neugewählten Rector, übergebe, habe ich dem Herkommen gemäss Bericht zu erstatten über die Erlebnisse unserer Corperation in dem verflossenen Studienjahr, wobei ich freilich den wesentlichsten Teil unserer Bethätigung ausser Acht lassen muss. Die Bemühungen und Erfolge von Dozenten und Studirenden in Lehre und Forschung, diese wichtigste Seite des akademischen Lebens, kommen nicht zur amtlichen Kenntniss des Rectorats und sind ja naturgemäss für eine kurze Würdigung nicht geeignet. Ich darf aber wohl nach meinen ausseramtlichen Beobachtungen die feste Überzeugung aussprechen, dass man allerseits bemüht gewesen ist, den guten Ruf unserer Hochschule als einer Stätte ernster Geistesarbeit zu wahren und zu mehren. Wir sind hierbei irgend welchen gewaltsamen Störungen nicht ausgesetzt gewesen, dank der Erhaltung des äusseren Friedens, dank der erfreulichen Thatsache, dass die leidenschaftliche Erbitterung, mit welcher der Kampf um Dasein und Macht in weiten Kreisen unseres Volkes geführt wird, in unseren Reihen nicht Platz zu greifen vermochte. Angesichts dieser Wirrnisse der Gegenwart wendet sich unwillkürlich unser Blick zurück auf jene grosse Zeit, da alle Klassen und Stände der deutschen Nation einmüthig sich zusammenschaarten, um fremden Übermuth zu Boden zu schmettern. Heute wo unser Volk noch mitten in der 25jährigen Jubelfeier jener schier endlosen Reihe unvergleichlicher Ruhmesthaten steht, geziemt es sich wohl, auch hier die Erinnerung an dieselben zu erneuen, vor Allem aber jener zu gedenken, welche hinauszogen aus den Hörsälen unserer Universität und nicht wiedergekehrt sind. Von allen deutschen Hochschulen hat Leipzig, obwohl damals keineswegs die meistbesuchte, bei weitem die grössten Verluste erlitten. Von etwas über 400 Commilitonen, welche in die Reihen des Heeres eintraten, sind 55 sei es unmittelbar vor dem Feind gefallen, sei es durch Krankheit oder Unglücksfälle dahingerafft worden. Die Erstürmung von St. Privat und der Kampf um Brie sur Marne sind es vornehmlich gewesen, welche so blutige Opfer von uns gefordert. – Die Universität hat ihren Todten einen Denkstein gesetzt, der in Folge des Umbaues von dem alten Platz in der Aula hat weichen müssen; er wird in Zukunft Aufstellung in der grossen monumentalen Mittelhalle finden und dort allezeit unsere Commilitonen an ihre Pflichten gegenüber dem Vaterland gemahnen. Wir aber wollen heute von 619

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neuem geloben, dass wir den so früh Dahingeschiedenen ein dankbares Gedächtnis bewahren werden. Dass der erhabene Feldherr, unter dessen Augen sie kämpften, heute noch unter den Lebenden wandelt, preisen wir als Fügung eines gütigen Geschickes. Wir erinnern uns dankerfüllten Herzens, dass Se. Majestät König Albert vom 4.–8. Februar dieses Jahres in altgewohnter Frische und Rüstigkeit unter uns geweilt hat und Seiner Würde als Rector magnificentissimus eingedenk, zahlreiche Vorlesungen zu besuchen sowie Theile des landwirthschaftlichen Institutes eingehend zu besichtigen geruhte. – Dass Ihre Majestät die Königin der Universität gleiche Beweise Ihres huldvollen Interesses gab, hat uns hoch beglückt. Den Geburtstag Sr. Majestät haben wir wie herkömmlich durch einen Festactus in dieser Kirche begangen, bei welchem der Herr Prorector Wislicenus die Rede hielt. Mit der gesammten treu zu Kaiser und Reich stehenden Bevölkerung haben wir es freudig begrüsst, dass an der Seite Sr. Majestät unseres Königs der mächtige Schirmherr der deutschen Nation Se. Majestät Kaiser Wilhelm am 26. dieses Monats in unserer Stadt weilte und haben dieser unserer Gesinnung soweit es die Umstände erlaubten gern öffentlich Ausdruck verliehen. Was die Baulichkeiten anbelangt, so sind vor allem die grossen Fortschritte hervorzuheben, welche (Dank der energischen Bauleitung) der grosse UniversitätsNeubau programmmässig, ja fast möchte ich sagen über das Programm hinaus gemacht hat. Wir hoffen sicher Michaelis 1897, also binnen zwei Jahren Alles vollendet zu sehen. Ist doch bereits in der vergangenen Woche jener Gebäudetheil in Gebrauch genommen worden, welcher den Namen des Erneuerers unserer Alma mater trägt, das Johanneum. Hierdurch sind 11 schöne luftige, lichtvolle Auditorien mit 1670 bequemen Sitzplätzen verfügbar geworden; und das Institut für experimentelle Psychologie, das kunsthistorische Institut und die archäologische Sammlung haben neue glänzende Räume gewonnen. Auch der Umbau des Augusteum ist erheblich gefördert worden, so dass das Königliche Universitäts-Rentamt bereits zu Ostern darin Aufnahme finden konnte, und die Königliche Gesellschaft der Wissenschaften bis zu ihrer Leibniz-Sitzung am 14. November von den ihr im 2. Stock zugeteilten Räumen Besitz ergreifen wird. Wir dürfen es wohl als ein gutes Vorzeichen betrachten, dass vor allem eine der selbstlosen Pflege der Wissenschaften dienende Institution Centralgebäude unserer Hochschule eine würdige Heimstätte gefunden hat. Wir hoffen, dass es auch gelingen wird dieser unserer altehrwürdigen Kirche, dem letzten Überrest unserer alten Universität, eine Gestalt zu geben, welche nicht nur dem praktischen und ästhetischen Bedürfnis, sondern auch dem geschichtlichen Sinn gerecht wird. Die Senats-Bau-Commission hat sich im verflossenen Jahr nach Kräften bemüht, die Restauration der Kirche zweckmässig und erfolgverheissend in die Wege zu leiten. – Auch die Errichtung eines neuen physikalisch-chemischen Instituts und mehrerer Kliniken wird den nächsten Landtag beschäftigen. Regierung wie Stände haben bisher stets so hochherzig alle unsere berechtigten Wünsche erfüllt, dass wir nicht daran zweifeln, ihr opferwilliges Interesse werde uns auch in 620

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Zukunft gewahrt bleiben und uns in den Stand setzen, wenigstens nach einzelnen Richtungen hin die Führung unter den deutschen Universitäten und hiermit unter denen des gesammten Erdkreises zu behalten. Milde Stiftungen sind uns auch im verflossenen Jahre von Privaten zugewendet worden, denen ich hiermit im Namen unserer Corporation öffentlich herzlich danke. Zum Andenken an ihren 1890 verstorbenen Ehegatten, den ordentlichen Professor der philosophischen Facultät, stiftete dessen hinterlassene Wittwe Frau Elisabeth Ebert geb. Stübel eine Freistelle im Convictorio durch Überweisung eines Kapitals von 6000 Mark. Die Stelle soll als Ebert’sche Freistelle bezeichnet und ohne Beschränkung rücksichtlich des Vaterlandes vergeben werden.1 Die am 20. Januar d. J. hier verstorbene Frau Ernestine Johanne Karoline verw. Voigt geb. Müller hat letztwillig der Universität ein Vermächtnis von 5000 Mark hinterlassen zur Errichtung einer Convictstelle, mit welcher ein Studirender aus dem Königreich Sachsen, der im Besitz eines Maturitäts-Zeugnisses sich befindet, bedacht werden soll.2 Aus der Stiftung unseres unvergesslichen Kollegen Albrecht konnten 4300 Mark zu wissenschaftlichen Reisen, und 7800 Mark zu wissenschaftlichen Untersuchungen an Docenten und Assistenten bei der Universität vergeben werden. Unter unseren Bethätigungen nach aussen stelle ich wohl billigerweise obenan die Entsendung des Rectors zur Beglückwünschung des Fürsten Bismarck am 1. April d. J. Was die deutschen Universitäten bewogen hat, einmüthig wie kaum je zuvor sich zusammenzuschaaren und den grossen Altreichskanzler zum 80. Geburtstag zu begrüssen, davon will die von einem engeren Ausschuss der Rectoren verfasste Adresse Zeugniss ablegen. Indess lässt sich das, was das deutsche Volk und so auch unsere Universität dem Fürsten schuldet, nicht wohl auf zwei Blättern erschöpfen; denn wohin wir auch schauen, überall treten uns die Spuren seines Wirkens entgegen. So waren wir am 26. dieses Monats Zeugen der Schlusssteinlegung des Reichsgerichts. Der Stadt Leipzig ist hiermit wohl für immer die Würde als Rechts-Hauptstadt des deutschen Reiches gesichert, eine nicht zum wenigsten für unsere Universität hochbedeutsame Thatsache, welcher die juristische Facultät bereits gerecht zu werden bemüht gewesen ist. Ich darf hier auch Namens der Gesammtuniversität dem Wunsch Ausdruck geben, dass die Sympathien, welche bisher zwischen den zwei vornehmsten Geisteswerkstätten unserer Stadt bestanden haben, sich für alle Zukunft dauerhaft erweisen mögen. Dass es der Universität auch sonst am Herzen liegt, die guten Beziehungen zur Stadt und ihren Behörden zu erhalten, konnte der Rector wiederholt bei festlichen Gelegenheiten öffentlich bezeugen. Im Lehrkörper sind zunächst tiefeingreifende und schmerzliche Verluste zu verzeichnen. Am 10. Januar d. J. verschied plötzlich und unerwartet im 57. Lebensjahr der Professor für geschichtliche Hilfswissenschaften Dr. Wilhelm Arndt, nachdem es 1 2

Collator: der jeweilige Convictdirector. Collator: Herr Universitätsrichter Justizrath Meltzer; später der jeweilige Convictdirector.

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Paul Flechsig

ihm kaum ein Halbjahr vergönnt gewesen war, das Ordinariat dieses Faches zu bekleiden. – Ein Schüler des Waitzischen historischen Seminars zu Göttingen, war er zunächst bei dem nationalen Unternehmen der Monumenta Germaniae betheiligt durch die Herausgabe vornehmlich belgisch-französischer und nordostdeutscher Geschichtsquellen. War er in den früheren Zeiten seiner Thätigkeit vor allem philologischer Historiker, so wuchsen mit steigenden Jahren seine Interessen weit über die Aufbereitung und nächste Interpretation der Quellenwerke hinaus, wobei vor allem verfassungsgeschichtliche Probleme ihm nahe traten; und weitherzig wandte er seine Sympathien auch den jüngeren, von den älteren so vielfach abweichenden Bestrebungen auf historiographischem Gebiete zu. Der Tod hat ihn mitten aus der Arbeit gerissen, so dass ein grosses darstellendes Werk zur politischen Geschichte des 17. Jahrhunderts leider unvollendet geblieben ist. Am 24. April d. J. erlitt die Universität einen der denkbar grössten Verluste durch das Hinscheiden des ordentlichen Professors der Physiologie Geheimrat Dr. Karl Friedrich Wilhelm Ludwig, der trotz seines hohen Alters von 77 Jahren rüstig seines Amtes unter uns waltete. Ludwig gehört zu den historischen Personen unseres Lehrkörpers, seiner allgemeinen wissenschaftlichen Bedeutung nach, wie nach den Verdiensten, welche er sich speciell um die Entwickelung unserer Hochschule erworben hat. Ausgestattet mit einem universellen Wissen pflegte er Beziehungen zu zahlreichen Gelehrten ersten Ranges und vermochte so auch über den Rahmen der medicinischen Facultät hinaus der Königlichen Staatsregierung Rathschläge zur Gewinnung namhaftester Lehrkräfte zu geben. – Auf dem Gebiet seiner Specialwissenschaft aber wurde er der Gründer der umfangreichsten Schule. Nach dem Zeugnis eines seiner grössten Fachgenossen war es vornehmlich Ludwig, welcher die Lebenslehre von dem mystischen Begriff der Lebenskraft befreit hat, indem er nicht nur einzelnen wichtigen Zweigen der Experimental-Physiologie als der Erste einen streng physikalischen Charakter verlieh, sondern sich auch im Allgemeinen bestrebte, die vom thierischen Körper ausgehenden Leistungen als Folge der einfachen Anziehungen und Abstossungen zu erweisen. Er war es, der zum ersten Mal unter diesem Gesichtspunkt die gesammte Physiologie in einem geistesgewaltigen Lehrbuch darstellte. – Wir wissen heute noch nicht, wie weit die Auflösung der Lebenslehre in Physik und Chemie möglich sein wird; von dem bisher Geleisteten fällt aber Ludwig sicher ein erheblicher Antheil zu, und seine Arbeit wird nicht verloren sein, selbst wenn sich dereinst ergeben sollte, dass der unlösbar bleibende Rest die eigentlichen Grundprobleme einschliesst. Denn bevor die Physiologie ein transcendentes Geschehen in Rechnung setzen darf, muss sie zunächst die Grenzen des physikalisch-chemisch erklärbaren Gebietes der Lebensvorgänge festgestellt haben. Die Erforschung des Lebens in der von Ludwig gepflegten Richtung erfordert zahlreiche Apparate, welche nur in einem geräumigen Laboratorium zweckmässig aufbewahrt und angewandt werden können. So entstand das Bedürfnis nach einem besonderen physiologischen Institut, und mit der Errichtung desselben begann jene Epoche des räumlichen Wachsthums unserer Universität, welche das naturwissenschaftlich-medicinische Viertel um die Liebigstrasse entstehen sah. Ludwig’s Name 622

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könnte schon aus diesem Grund von Universität und Stadt nie vergessen werden; hoffen wir, dass auch der klare, weitschauende, zielbewusst-feste Geist des theuren Toten unter uns fortwirken wird – dann wird unsere Zukunft gesichert sein. Am 25. April d. J. verschied im Alter von 57 Jahren der ausserordentliche Professor in der philosophischen Facultät Dr. Robert Sachsse. Sein Hauptarbeitsgebiet war die Agriculturchemie; – Bodenkunde und Pflanzenchemie haben ihm zahlreiche wichtige Bereicherungen zu verdanken durch exacte Analysen der Ackererde und des Blattgrüns. Ein höchst gewissenhafter und zuverlässiger Mann von umfassendem Wissen ist in ihm dahin gegangen. Am 28. April verlor die medicinische Facultät zum zweiten Mal ihren Senior. – Im 73. Lebensjahr verstarb der ordentliche Professor der Chirurgie Geheimrat Dr. Karl Thiersch, gleich dem nur vier Tage im Tod vorausgegangenen Ludwig Ehrenbürger der Stadt Leipzig. Thiersch gehörte zu jenen seltenen Menschen, welche unmittelbar durch ihre Gegenwart wirken, indem ihr Aeusseres treu ihr inneres bedeutsames Wesen wiedergiebt. Die unerschütterliche Ruhe eines kraftvollen Körpers verband sich mit einem ungemein feinfühligen Geist, welcher allezeit die Dinge nicht nach ihren Aeusserlichkeiten sondern nach ihrer wahren Bedeutung würdigte und Schein und Wesen wohl zu unterscheiden wusste. Niemand hat ihn jemals verblüfft gesehen; er blieb stets Herr der Situation! Wenn er durch diese ausgeprägte Charakter-Anlage von vornherein zum Chirurgen geboren erschien, so gesellte sich dazu noch eine Sicherheit des anatomischen Wissens, wie sie nur selten bei Praktikern gefunden wird. Die hierdurch bedingte Klarheit seiner Anschauungen über die Natur krankhafter Vorgänge liess ihn pathologische Arbeiten von classischer Vollendung schaffen, wie das Werk „über den Epithelialkrebs besonders der Haut“ – zugleich aber auch werthvolle rationelle Gesichtspunkte für die Therapie gewinnen. Wenn schon das, was Thiersch geschrieben, seinem Namen einen dauernden Platz in der Geschichte der Chirurgie verbürgt, so ist es doch nur ein kleiner Theil seines Lebenswerkes. Wir, die Zeugen der selbstlosen gewissenhaften treuen Arbeit des Geschiedenen auf zahlreichen Schlachtfeldern, im Hospital und überall sonst, wir werden nicht vergessen, dass er auch als Idealbild eines Arztes unter uns wandelte, der eine wahrhaft vornehme Auffassung seines Berufs hatte. Wir werden noch lange die Lücke fühlen, die sein Tod unter uns gerissen, selbst wenn wir uns nur zu heiterem Thun versammeln. Die medicinische Facultät hat ihre grossen Todten in dieser Kirche gefeiert durch einen Trauerakt, bei welchem Herr College His ihre Bedeutung für uns und für die Allgemeinheit eingehender gewürdigt hat. Von den Studirenden sind sieben gestorben, eine relativ ja nicht grosse Zahl, aber gross genug, um zahlreiche Hoffnungen zu vernichten. Durch Berufung verloren wir die ausserordentlichen Professoren in der philosophischen Facultät Dr. Robert Behrend, welcher als ordentlicher Professor an die technische Hochschule in Aachen und Dr. Hans Lenk, welcher an die Universität Erlangen als ao. Professor der Geologie übersiedelte. Wir wünschen diesen Sprösslingen unserer Universität auch im neuen Boden ein glückliches Gedeihen und hoffen, dass sie auch unserer Alma mater ein freundliches Andenken bewahren werden. – 623

Paul Flechsig

Der Privatdocent für Botanik, Dr. phil. G. Karsten, siedelte in gleicher Eigenschaft nach Kiel über. Den herben Verlusten, welche wir erlitten haben, steht glücklicherweise ein Zuwachs an Lehrkräften gegenüber, von deren Wirksamkeit wir das Beste hoffen dürfen. Es wurden neu berufen bei der medicinischen Facultät der bisherige ordentliche Professor der Chirurgie in Bonn: Geh. Medicinalrat Dr. Friedrich Trendelenburg als ordentlicher Professor der Chirurgie und Direktor der chirurgischen Klinik und der bisherige ordentliche Professor der Physiologie an der deutschen Universität zu Prag, Hofrath Dr. Ewald Hering, als ordentlicher Professor der Physiologie und Direktor des physiologischen Instituts; in die philosophische Facultät der seitherige Privatdocent an der Universität München, Dr. Gerhard Seeliger, als ordentlicher Professor der historischen Hilfswissenschaften, und der Specialcommissar Dr. Wilhelm Strecker in die durch Föppel’s Abgang erledigte ausserordentliche Professur für landwirthschaftliches Maschinen- und Meliorationswesen. Befördert wurden der bisherige ordentliche Honorarprofessor Dr. Hermann Credner zum ordentlichen Professor für die historische Geologie und Palaeontologie, der bisherige Privatdocent Dr. Arthur von Oettingen zum ordentlichen Honorarprofessor in der philosophischen Facultät. Zu ausserordentlichen Professoren wurden folgende Privatdocenten ernannt: In der theologischen Facultät Licentiat Dr. Karl Thieme und Licentiat Dr. Gustav Hermann Dalman; in der philosophischen Facultät Dr. Heinrich Simroth und Dr. Hans Lenk. Habilitirt haben sich als Privatdocenten bei der juristischen Facultät Dr. Woldemar August Engelmann; bei der medicinischen Facultät Dr. Hieronymus Lange, Dr. Paul Leopold Friedrich, Dr. Alexander Garten, Dr. Richard Kockel; bei der philosophischen Facultät Dr. Erich Brandenburg, Dr. Gustav Buchholz und Dr. Felix Salomon für mittlere und neuere Geschichte, Dr. Kurt Hassert für Geographie, Dr. Arthur Prüfer für Musikwissenschaft, Dr. Hans Stumm für semitische und hamitische Sprachen sowie allgemeine Metrik und Phonetik, Dr. Felix Hausdorff für Astronomie und Mathematik, Dr. Asmus Sörensen für osteuropäische Sprachen, Literaturen und Geschichte und Dr. Walther Götz für allgemeine Geschichte. Ehrenpromotionen sind von der juristischen und medicinischen Facultät vollzogen worden. Die erstere ernannte aus Anlass der Schlusssteinlegung des Reichsgerichts zu Ehrendoctoren die Herren: Senats-Präsidenten beim Reichsgericht Ernst Moritz von Bomhard, Johannes Karl Heinrich Dähnhardt, Georg Rudolf Peterssen und Harald Arthur Wolf von Wolff, ferner die Herren Reichsgerichts-Räte Karl Friedrich Julius Freiherr von Bülow, Emil Meischeider, Karl Oscar Meves, Otto Löwenstein, Christian Friedrich Rassow und Karl Adalbert Hugo Rehbein, den Ober-Reichsanwalt Herrn Hermann Tessendorff und die Herren Rechtsanwälte beim Reichsgericht Geheimen Justizräte Friedrich Arndts, Theodor Julius Bussenius und Ernst Ludwig Romberg. Die medicinische Facultät verlieh den Doctor honoris causa den Professoren an der thierärztlichen Hochschule zu Dresden Herren Obermedicinalrat Siedamgrotzky und Ellenberger. 624

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Rite promovirte die theologische Facultät vier Licentiaten, die juristische 83, die medicinische 214 und endlich die philosophische 130 Doctoren. Im Beamten-Personal der Universität vollzogen sich insofern Veränderungen, als der dritte Pedell Gustav Martin Nuntius der philosophischen Facultät wurde. An seine Stelle trat der seitherige Inspektor der akademischen Lesehalle Wilhelm Holzhausen. An Stelle des entlassenen Universitäts-Gerichtsdieners und Hilfspedell Paul Schade trat der seitherige Aufwärter im alten Trierianum Robert Förster. Was die Studiernden anlangt, so sind während meines Rectorates inscribirt worden 1736 gegen 1602 im Vorjahr, also 134 mehr. Die gestern aufgestellte Präsenzziffer beläuft sich auf 2922 gegen 2879 im Vorjahre. Es ist also wieder eine mässige Zunahme der Frequenz zu verzeichnen, wie schon im letzten Sommersemester, wo wir 34 immatriculirte Hörer mehr zählten als den Sommer vorher. Das Verhalten unserer Herren Commilitonen bin ich in der glücklichen Lage als recht erfreulich bezeichnen zu dürfen. Erhebliche Disziplinarvergehen sind nur ganz vereinzelt vorgekommen, und es war nicht nothwendig, das consilium abeundi zu ertheilen. Die einmüthige Betheiligung der deutschen Studentenschaft darunter auch der unseren am 80. Geburtstag des Fürsten Bismarck hat alle die innerlich erhoben, welche Zeugen dieses elementaren Ausbruchs patriotischen Gefühls sein konnten. Welch’ gewaltige Kraft ruht in einer ideal-gesinnten academischen Jugend; was würde unser Volk verlieren, wenn es gelänge, diese Jugend der sittlichen Begriffe zu berauben, welche seit den Zeiten des classischen Alterthums die edelsten Geister der rauhen Wirklichkeit abgerungen haben. Möge es nie dahin kommen! ***

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Ernst Windisch (1844–1918)

31. October 1895. Rede des antretenden Rectors Dr. phil. Ernst Windisch. Ueber die Bedeutung des indischen Alterthums. Hochansehnliche Versammlung! Der Professor des Sanskrit hat selten Gelegenheit vor so vielen Zuhörern über seine Wissenschaft zu sprechen. Um so mehr scheint es mir angezeigt zu sein, als Gegenstand der Rede, mit der ich das Rectorat antrete, nicht eine besondere Einzelerscheinung des indischen Alterthums herauszugreifen, sondern die allgemeine Frage zu beantworten, welche Bedeutung das indische Alterthum überhaupt für uns hat. Die Wissenschaft umfasst Alles, was da ist und geschehen ist, sowohl das Grosse und das Naheliegende als auch das Kleine und das Entlegene. Aber der Forscher darf nicht vergessen, dass das Kleine zum Ganzen und dass das Entlegene zum Gegenwärtigen strebt. Wenn irgend Etwas zum Entlegenen zu gehören scheint, so ist es das indische Alterthum. Denn es liegt Jahrtausende vor unserer Gegenwart und hat seine Stätte im fernsten Morgenlande gehabt, das schon durch seine Ferne ohne jede Beziehung zu uns sein könnte. Und doch giebt es mindestens drei Punkte, in denen das alte Indien weiten Kreisen der Gelehrten und überhaupt der Gebildeten nahe gerückt worden ist. Ich meine 1. seine Jahrtausende alte Sprache, das Sanskrit, das namentlich durch Franz Bopp im Anfange dieses Jahrhunderts die Grundlage der vergleichenden Sprachforschung geworden ist; 2. die Fabeln und Märchen, die sich schon frühzeitig von Indien aus über das ganze Abendland verbreitet haben; 3. die Lehre Buddha’s, der um 480 vor Christus gestorben ist. Wer hätte nicht vom Sanskrit, von indischen Märchen und von Buddha reden hören! Von diesen Gegenständen will ich zuerst handeln, um dann die Antwort auf die gestellte Frage noch etwas allgemeiner und tiefer zu fassen. Falsch ist die Vorstellung, nach der das Sanskrit „die Muttersprache“ des Griechischen, Lateinischen, Deutschen wäre. Ebensowenig als die Völker der Griechen, Römer, Germanen vom indischen Volke abstammen, ebensowenig stammen ihre Sprachen von der indischen Sprache ab. Es handelt sich nur um Brudervölker und Schwestersprachen. Aber das indische Volk ist frühzeitig zu einer höheren Cultur und im Zusammenhang damit schon frühzeitig zu einer Literatur gelangt, durch die die indische Sprache in einem besonders alterthümlichen Zustande fixirt worden ist. 627

Ernst Windisch

Diese umfangreiche Literatur ist uns zum grossen Theil erhalten, so dass wir auch ihre Sprache bis in das kleinste Element hinein nach Form und Bedeutung untersuchen können. Wie noch öfter in der Geschichte, so entsprang auch hier eine ergebnissreiche wissenschaftliche Entwickelung aus einem sehr einfachen Gedanken. Dass das Sanskrit merkwürdige Aehnlichkeiten mit dem Griechischen und dem Lateinischen aufwies, hatte wohl auch mancher Andere gesehen, aber das rechte Wort, dieses Verhältniss zu deuten, fand in Epoche machender Weise Franz Bopp, indem er die Vorstellung der sprachwissenschaftlich begründeten Urverwandtschaft in die Wissenschaft einführte. Der Bau der Sprachen, wie er sich in der Bildung der Wortstämme, in Declination und Conjugation äussert, ist derselbe; die Wurzeln, überhaupt die materiellen Grundelemente der Sprache, aus denen die Wortformen gebildet sind, sind ihrem Lautbestande und ihrer Bedeutung nach ursprünglich identisch; und die Verschiedenheiten lassen sich gesetzmässig erklären: auf diese Principien gründet sich die Lehre, dass die betreffenden Sprachen, das Sanskrit, Griechische, Lateinische, Celtische, Germanische, Slawische verwandte Sprachen, d. h. dass sie aus einer Ursprache geflossen sind, und dass die entsprechenden Völker von einem Urvolke abstammen. War auf diese Weise ein grosser Kreis von Sprachen und Völkern mit wissenschaftlicher Sicherheit zu einer Einheit zusammengeschlossen, so war dann der weitere Schritt, dass man nach derselben Methode auch andere Sprachen und Völker zu Einheiten zusammenzuschliessen suchte, und so ist die auf Grund des Sanskrit erwachsene indogermanische Sprachwissenschaft auch für die weiteren Gebiete der Sprachen- und Völkerkunde nicht ohne bedeutenden Einfluss gewesen. Das Sanskrit gab den Anstoss zu diesen neuen Studien. Dank seiner Alterthümlichkeit und Durchsichtigkeit war es für die Erkenntniss des Sprachbaus ein besonders geeignetes Object. Zwar hat sich in der neueren Zeit immer mehr herausgestellt, dass auch das Sanskrit namentlich den ursprünglichen Lautbestand nicht überall unverändert bewahrt hat, und dass die europäischen Sprachen bald in diesem bald in jenem wichtigen Punkte den Anspruch auf die grössere Ursprünglichkeit erheben dürfen, aber im Grossen und Ganzen bleibt doch die Alterthümlichkeit des Sanskrit bestehen, dass es die ursprüngliche Fülle der grammatischen Formen in höherem Maasse als irgend eine andere indogermanische Sprache gewahrt hat. Erst durch das Sanskrit hat man die Verschiedenheit der griechischen und der lateinischen Casus verstehen gelernt, ist überhaupt erst Licht in die Casuslehre gekommen; erst durch das Sanskrit ist man im Stande gewesen, die so verschiedenen Conjugationen des Griechischen, Lateinischen und Germanischen in ihrem genetischen Zusammenhange zu begreifen. Nichts scheint unfassbarer zu sein, als der Accent, mit dem die Wörter gesprochen werden. Aber auch hier hat das Sanskrit, besonders die Sprache der heiligen Vedalieder, in der auch die Accente der Wörter genau überliefert sind, dem Fragen nach den Gründen der sprachlichen Erscheinungen überraschenden Aufschluss gewährt. Dass das ursprüngliche t der Verwandtschaftsnamen Vater, Mutter, Bruder im Deutschen in verschiedener Weise verschoben worden ist, hängt mit einer ursprünglichen Verschiedenheit der Accentuation zusammen, die man nur aus dem Sanskrit 628

Antrittsrede 1895

erkennen konnte. Die genannten Verwandtschaftsnamen werden im Sanskrit pitár, mātár, aber bhrātar betont, und es lässt sich nun nachweisen, dass im Germanischen die Consonanten in verschiedener Weise verschoben worden sind, je nachdem ihnen der hochbetonte Vocal des Wortes nachfolgte oder vorausging. Daher im Gothischen nach der 1. Lautverschiebung fadar, aber brothar gesagt wurde, wofür dann im Hochdeutschen nach der 2. Lautverschiebung Vater und Bruder die regelrechte Fortsetzung ist. Noch ein Punkt an dieser sprachlichen Seite muss besonders hervorgehoben werden. Indien hat uns in seiner Sprache nicht nur gleichsam ein Naturproduct geliefert, das nun der überlegene Europäer erst richtig präparirt und gut verwerthet hat, sondern die altindischen Grammatiker sind in der Kunst der Grammatik die Lehrmeister der stolzen europäischen Gelehrten geworden. Denn sie waren die ersten, die eine Sprache wirklich analysirt, d.h. in ihre Elemente zerlegt haben, und zwar mit einer statistischen Vollständigkeit, die weit über die Kunst der griechischen und römischen Grammatiker hinausgeht. Sie haben nicht nur die Wortarten unterschieden und Declinationen und Conjugationen aufgestellt, sondern sie haben ihre ganze Sprache in Wurzeln und formative Sylben zerlegt, und diese Wurzeln und Suffixe mit einer bewundernswerthen Vollständigkeit in Verzeichnisse zusammengestellt. Ihre Grammatik besteht darin, die Sprache aus diesen Elementen wieder aufzubauen, wobei sie nicht versäumen, auch die selteneren Wörter und Formen, die sich den Hauptregeln nicht fügen, gewissenhaft mit anzumerken. Die ganze spätere Sanskritliteratur beruht auf der gelehrten Sanskritgrammatik. Aber der grosse indische Grammatiker Pān.ini, von dem man leider nicht mit Bestimmtheit sagen kann, ob er drei oder sechs Jahrhunderte vor Christus gelebt hat, ist nicht nur über zwei Jahrtausende lang der Lehrmeister seiner Landsleute gewesen, sondern wir dürfen ihn auch für uns als den Vater der analytischen Sprachwissenschaft bezeichnen. Nicht das Sanskrit schlechthin, sondern das von den alten indischen Grammatikern auf das Feinste und Vollständigste analysirte Sanskrit hat den Anstoss zur modernen Sprachwissenschaft gegeben. Als ein zweites Gebiet, auf dem bei uns das indische Alterthum zu Ehren gekommen ist, bezeichnete ich die Thierfabel und das Märchen. Unser demokratisches und naturwissenschaftliches Jahrhundert, das selbst der Aristokratie des griechischen und römischen Alterthums nicht mehr unbedingte Heeresfolge zu leisten gewillt ist, ist mit Liebe den Sitten und Gebräuchen des Volkes und aller Völker und der volksthümlichen Literatur nachgegangen. Es ist eine neue, mit dem englischen Worte „Folklore“, d. i. Volkskunde, bezeichnete Wissenschaft entstanden, die diese Bestrebungen aufgenommen hat, denn Alles wird jetzt zur Wissenschaft. Für den Folkloristen aber sind die indischen Fabeln und Märchen ein höchst werthvoller Gegenstand des Studiums geworden. Lautete in der Vergleichenden Sprachwissenschaft das Schlagwort „Verwandtschaft der Sprachen“, so lautet es hier „Wanderung der Fabeln und Märchen“. Auch hier ist es ein deutscher Gelehrter, der zuerst diesen Gesichtspunkt in Epoche machender Weise geltend gemacht hat, Theodor Benfey in der Einleitung zu seiner Uebersetzung des Pañcatantra. Es konnten sogar die Wege nachgewiesen werden, auf denen dieses berühmte Fabelwerk über Persien 629

Ernst Windisch

und Arabien, zuletzt in einer hebräischen, einer lateinischen, einer griechischen Uebersetzung bis zu uns gelangt ist, so dass seine Erzählungen in den Grimmschen Märchen und in den Gellertschen Fabeln zum Vorschein kommen. Auch in Boccaccio’s Decamerone sind Stoffe enthalten, die aus dieser Quelle stammen, und ebenso sind in der allbekannten arabischen Märchensammlung „Tausend und eine Nacht“ viele Stoffe und Motive sowie die äussere Form – eine Rahmenerzählung mit fortgesetzten Einschachtelungen – indischen Ursprungs. Andrerseits ist allerdings auch auf diesem Gebiete die Originalität Indiens in mancher Beziehung übertrieben worden. Albrecht Weber hat wiederholt hervorgehoben, dass umgekehrt auch mancher Stoff vom Abendlande nach Indien eingeführt worden sei. Es kommt hier unter Anderem die Frage nach dem Ursprunge der äsopischen Fabeln und nach dem ersten Ursprunge der Thierfabel überhaupt in Betracht. Gegen zwanzig Fabeln Aesop’s, darunter z. B. die Fabel vom Esel im Löwenfell, sind auch in Indien nachweisbar. So ausgezeichnete Kenner Indiens, wie Weber und Benfey, haben im Charakter der Thiere und in der Art der Erzählung Grund zu der Annahme gefunden, dass diese Fabeln eher in Griechenland als in Indien zu Hause seien. Andere Gelehrte haben die entgegengesetzte Ansicht geäussert. Mag dem sein wie ihm wolle, mögen auch griechische und semitische Stoffe schon frühzeitig nach Indien gekommen sein, jedenfalls ist in Indien die Thierfabel und namentlich die märchenartige Erzählung, mit und ohne moralische Tendenz, in einem Reichthume ausgebildet worden, der der ganzen Welt zu Gute gekommen ist. Diese Erzählungen sind zum Theil in grossen Sammelwerken vereinigt, von denen ich ausser Pañcatantra und Hitopadeśa noch die Fünfundzwanzig Erzählungen eines Vetāla, die Siebzig Erzählungen, eines Papageien, Kathāsaritsāgara und die buddhistischen Jātakas nennen will. Um ein Beispiel zu geben, in welch überraschender Weise wir die bekanntesten Geschichten in Indien wiederfinden, erzähle ich aus dem Pañcatantra V 9 Folgendes: Ein armer Brahmane hatte sich einen Theil der erbettelten Grütze, mit der er sein Leben fristete, in einem Topfe gespart und diesen über seinem Bette aufgehängt. Er pflegte ihn unverwandt anzusehen. In Folge davon hatte er einstmals einen Traum: Wenn dieser Topf ganz voll ist, dann kann ich in der Zeit einer Hungersnoth hundert Rupien daraus lösen. Dafür bekomme ich zwei Ziegen. Die werfen aller sechs Monate Junge, für die Ziegen kann ich dann viele Kühe bekommen, für die Kühe Büffelkühe, für diese Stuten und aus dem Verkaufe der Pferde werde ich viel Gold lösen. Mit dem Golde werde ich mir ein Haus erwerben, da wird dann ein Brahmane kommen und mir seine Tochter wohl ausgestattet zur Frau geben. Von der werde ich einen Sohn bekommen. Bald ist er so weit, dass er auf meinen Knieen reiten kann. Da kommt er zu mir gelaufen, da ich eines Tages mit einem Buche am Pferdestalle sitze, um auf meinen Knieen zu reiten. Er ist im Bereich der Hufe der Pferde, ich rufe daher meiner Frau zu, sie solle ihn nehmen. Die Frau, die mit ihrer Arbeit beschäftigt ist, hört mich nicht, und ich gebe ihr einen Stoss mit dem Fusse. Diesen Stoss mit dem Fusse führt der träumende Brahmane auch in der Wirklichkeit aus, und zwar so unglücklich, dass er seinen Topf zerbricht und er ganz weiss von der Grütze wird! – Wer erkennt hier nicht Lafontaine’s Gedicht „La Laitière et le pot au lait“, das Original von Gleim’s 630

Antrittsrede 1895

Gedicht „Der Milchtopf“ wieder. Derselbe Stoff findet sich aber auch in Tausend und eine Nacht, in den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm (No. 164, Der faule Heinz) u. s. w. Zugleich kann man an diesem Beispiele beobachten, wie sich die Märchen in jedem Lande verschieden gestalten, indem sie den Verhältnissen des Landes angepasst werden, aber das Motiv bleibt dasselbe. Die Ueberführung indischer Fabeln und Märchen in das Abendland ist aber nicht nur durch das Pañcatantra erfolgt, sondern ein Austausch solcher Stoffe hat schon viel früher stattgefunden. Schon im 4. Jahrhundert vor Christo kam die griechische Welt durch Alexander den Grossen mit Indien in stärkere Berührung. Aus manchen Erzählungen kann man ferner entnehmen, dass ein reger Handelsverkehr zur See schon in den vorchristlichen Jahrhunderten stattgefunden hat; damals könnte eben auch griechisches Gut nach Indien gekommen sein, das dann später, mit einheimischen Stoffen verbunden, nach dem Abendlande zurückgewandert wäre. Zur Verbreitung der indischen Märchen hat aber sehr wesentlich auch der Buddhismus und die buddhistische Literatur beigetragen. Die Behauptung, dass die Märchenliteratur überhaupt in den buddhistischen Kreisen entstanden sei, wird einer Einschränkung bedürfen. Viele Stoffe sind ihrem Ursprunge nach volksthümlich und brahmanisch und sind nur von buddhistischen Autoren ihren Zwecken dienstbar gemacht worden. Die Fabel- und Märchen-Literatur ist in Indien durch buddhistische Zeiten hindurchgegangen, und diese haben ihr ihren Stempel aufgedrückt. Die Buddhisten bemächtigten sich der vorhandenen Stoffe und benutzten sie zu den Jātaka genannten Erzählungen, deren culturhistorischer Inhalt jetzt immer mehr die Aufmerksamkeit der Forscher auf sich zieht. Unter Jātaka versteht man eine Erzählung, deren Personen als Buddha und seine Zeitgenossen, als diese in einer früheren Existenz auf Erden wandelten, gedeutet werden. Auf diese Weise konnten die verschiedensten Geschichten in den Dienst des Buddhismus gezogen werden. Die grosse Sammlung der Jātaka, die bis jetzt noch nicht ganz veröffentlicht ist, umfasst 539 solcher Geschichten. Der Buddhismus aber war um seines allgemein menschlichen Inhalts willen, eine Religion von expansiver Kraft. Er zog etwa vom Beginn unserer Zeitrechnung an über die Grenzen Indiens hinaus, und in seinem Gefolge befanden sich auch die Fabeln und Erzählungen, denen eben auch ein allgemein menschlicher Charakter anhaftet. Wir haben den Buddhismus als das dritte Erzeugniss Indiens bezeichnet, von dem die gebildete Welt weit über den engen Kreis der Fachgelehrten hinaus Kenntniss genommen hat. Während die Meisten das Sanskrit nur soweit mit Interesse betrachten, als nicht verlangt wird, dass man sich näher mit ihm befasse, während die indischen Märchen schon mit etwas weiter gehender Antheilnahme aufgenommen worden sind, hat der Buddhismus den ganzen modernen Menschen gepackt. Vor Allem ist zu sagen, dass der Buddhismus halb Philosophie, halb Religion ist. Diese beiden Gebiete scharf von einander zu trennen, ist in einer Zeit in der das Wissen eine so grosse Rolle spielt, besonders schwer. Eine Stärke des Buddhismus besteht nun darin, dass in ihm Philosophie und Religion ich möchte fast sagen widerspruchslos mit einander verquickt sind. Er scheint also das Problem zu lösen, eine Religion auf philosophischer Grundlage zu bieten. Dem entspricht Buddha’s per631

Ernst Windisch

sönlicher Entwickelungsgang. Er hatte zuerst in der Askese und in der Philosophie seiner Zeit Befriedigung gesucht, ehe ihm seine Heilslehre aufging. Diese seine Lehre hat bei uns die pessimistischen Philosophen und die dem Christenthum sei es gleichgültig sei es feindlich gegenüber stehenden Denker mächtig angezogen. In den philosophischen Grundlagen des Buddhismus glaubte man auch eine gewisse Verwandtschaft mit der naturwissenschaftlichen Weltanschauung zu finden. Im Buddhismus giebt es keinen allmächtigen und allerbarmenden Gott, sondern es herrscht ein unerbittlicher Causalnexus, der jedes Thun seine Frucht finden lässt, der jedes Wesen über seinen Tod hinaus in immer neue Existenzen hinaustreibt. Diese Existenzen können unter Umständen sehr angenehme sein, aber keine ist von Dauer. Auf ein Leben in den Götterhimmeln kann ein neues Leben auf Erden in weniger glücklichen Verhältnissen folgen, wie umgekehrt auch der Bösewicht, nachdem er die Consequenzen seines schlimmen Thuns in der Hölle gebüsst hat, für irgend eine gute That, die er gethan, dann wieder in ein glücklicheres Leben eintreten kann. Also immer wieder geboren werden, immer wieder sterben, immer wieder neue Leben in unabsehbarer Folge! Man hat gefragt, warum den Indern das Leben als ein so grosses Leid erschienen ist. Die Antwort hat vielfach gelautet, dass das indische Volk geseufzt habe unter dem geistigen Drucke der Brahmanen, der Priesterkaste. Diese Antwort ist, so ausgesprochen, eine tendentiös erfundene Fabel, deren Urheber darin nur, bewusst oder unbewusst, ihrer Abneigung gegen den geistlichen Stand überhaupt Ausdruck verliehen haben. In den altindischen Quellen findet man keinen Anhalt für eine derartige Begründung des indischen intellectuellen Pessimismus. Selbstverständlich haben die Brahmanen diesen mit verschuldet, wenn wir ihn als eine Schuld ansehen, denn sie sind ein wichtiger Theil des indischen Volks, sie sind der Kopf des indischen Volkskörpers, der für diesen gedacht hat: sie selbst sind es, die für ihr eigenes Heil das indische Denken in die Bahnen des Pessimismus geleitet haben. Jene Lehre von dem das Dasein des Menschen beherrschenden Causalnexus, von Schwärmern vielleicht nicht ganz mit Unrecht als ein Analogon zur modernen Lehre von der Erhaltung der Kraft angesehen, hat nicht Buddha zuerst aufgestellt, sondern er fand sie schon ausgebildet als ein Axiom der Wissenschaft bei den Lehrern seiner Zeit vor. Ueberhaupt findet man in Buddha’s Lehre, wenn man sie analysirt, kaum einen völlig neuen Gedanken, so dass man unwillkürlich fragt, worin hat denn eigentlich seine Bedeutung gelegen! Seine Bedeutung muss in seiner Persönlichkeit und in der Art und Weise, wie er lehrte, gelegen haben. Buddha hat das Gemüth zur Geltung gebracht, dadurch bekam die Philosophie mehr einen zum Herzen sprechenden, religiösen Charakter. Mitleiden, Freundlichkeit gehört zu den Cardinaltugenden des Buddhisten und wird namentlich dem Buddha selbst im höchsten Grade zugeschrieben. Das leise Lächeln, das den Statuen Buddha’s eigen ist, ist nicht das Lächeln der Aegineten, sondern giebt die milde Stimmung des innerlich vollkommen beruhigten, erleuchteten, erbarmungsvollen Meisters wieder. Was ist es nun aber, worauf sich das Mitleiden Buddha’s gerichtet hat? Nicht auf das besondere Unglück des einzelnen Menschen. Als Kisā Gotamī nach einem Heilmittel für ihren kleinen Sohn suchte, der gestorben war, schickte man sie zu Buddha. Dieser sagte ihr, sie solle den um einige Senfkörner für ihr Kind bit632

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ten, in dessen Hause nie zuvor ein Sohn oder eine Tochter oder irgend Jemand gestorben sei. Krankheit, Alter und Tod sind die Begleiterscheinungen des Lebens. Leben ist Leiden. Will man dem Leide dauernd entrinnen, so muss man dem Dasein überhaupt entrinnen. Es gilt also den Causalnexus zu durchschneiden, der das Lebewesen von Geburt zu Geburt herumtreibt. Buddha glaubte in seiner Lehre das Mittel, den Causalnexus aufzuheben, gefunden zu haben. Die Begierden und die Bestrebungen veranlassen den Menschen zu Thaten, an deren Folgen er gekettet bleibt, und ebenso hält ihn schon die Liebe zum Leben im Dasein fest. Durchschaut er den Causalnexus, lernt er die Begierden vollständig unterdrücken und den Hang zum Leben aufgeben, gelingt es ihm bei den gewöhnlichen Functionen ein interesseloses Aufmerken zu beobachten und dann wieder sein Denken in den Zustand eines allem Irdischen und Himmlischen abgewendeten inneren Schauens zu versetzen, so hört das Thun auf, das seine Folgen haben muss, und setzt sich im Innern nicht jener feine Stoff fest, der sonst das Vehikel für die geistigen Kräfte und Sinnesorgane bildet, mit dem diese nach dem Tode in ein neues Dasein eintreten müssen. Diese ganze Lehre ist in einer psychologisch sehr complicirten Weise ausgebildet, und es ist noch nicht sicher ausgemacht, wieviel davon schon von Buddha selbst gelehrt worden war. Dass auf diese Weise der Causalnexus des Lebens durchschnitten werde, könnten wir noch eher verstehen, als dass es auch nur einem Menschen gelinge, alle diese Bedingungen wirklich und vollkommen zu erfüllen. Aus den Vorschriften, die über das äussere Verhalten der Mönche gegeben worden sind, geht hervor, dass doch selbst in den alten Zeiten recht viel vorgekommen sein muss, was wenig zu der geforderten weitgehenden Entsagung stimmt. Die Inder sind Menschen wie wir, und wenn auch ihre Asketen Unglaubliches geleistet haben, so haben doch Buddha’s Anhänger ebenso oft seine zehn Gebote übertreten, wie wir Christen die unseren. In den neueren Anschauungen werden auch die moralischen Begriffe mit dem Unterschied von Gut und Böse als das Resultat einer geschichtlichen Entwickelung angesehen. Dann muss aber in der Menschenbrust von Anfang an eine treibende Kraft dagewesen sein, die im ganzen Menschengeschlechte die gleiche ist, denn die Entwickelung hat sich auch da, wo keine Abhängigkeit des einen Volkes vom andern nachweisbar ist, in derselben Richtung bewegt. Die Uebereinstimmung der buddhistischen Gebote (du sollst dich der Verletzung eines lebenden Wesens enthalten, du sollst nicht nehmen was dir nicht gegeben wird, du sollst keusch leben, u. s. w.) mit den entsprechenden mosaischen Geboten ist allgemein bekannt. Für schwere Verbrechen kennt der Buddhismus keine Vergebung. Der Dieb, der Mörder werden aus der mönchischen Gemeinschaft ausgestossen und sich selbst überlassen. Leichtere Vergehen können durch gewisse Bussen gesühnt werden, das Haupterforderniss aber ist, dass sie in der Versammlung der Mönche oder einem einzelnen Mönche gegenüber gebeichtet werden. Die Absolution erfolgt mit den Worten: „Du sollst dich in Zukunft in Acht nehmen“. Durch welche Kraft die Aufhebung des Vergehens erfolgt, wird nicht recht klar. Es ist keine eigentliche Vergebung, sondern alle Daseinskeime im Innern des Menschen werden vernichtet, wenn es ihm schliesslich gelingt in jenen Zustand der vollkommenen inneren Ruhe und Erkenntniss zu gelangen. In einer alten Legende nimmt sich der ehrwürdige 633

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Godhika, der wiederholt diesen Zustand erreicht aber wieder verloren hatte, endlich selbst das Leben, um ihn nicht wieder zu verlieren. Meines Wissens ist dies ein vereinzelter Fall; es wird sonst nicht berichtet, dass Buddha die Erlaubniss gegeben habe, sich selbst zu tödten. Gleichwohl sagt Buddha in jener Legende, dass Godhika ganz aufgehört habe zu existiren. Er ist ins Nirvān.a eingegangen. Nirvān.a bedeutet Verwehen. Nach Oldenberg würde sich Buddha absichtlich nicht entschieden darüber ausgesprochen haben, ob darunter das Nichts oder ein Daseinszustand zu verstehen sei. Aber die Consequenz seiner Lehre ist ohne Frage, dass das Nirvān.a das Nichts ist. Der Buddhist kennt keine Seele. Das was wir Seele nennen, ist ihm ein blosses Aggregat von Kräften, das da ist, so lange diese Kräfte Energie sind und sich bethätigen, das sich aber auflösen kann, wenn die das Leben bedingende Energie dieser Kräfte unterdrückt wird. Da die zum mindesten sehr schwere Procedur dieser Unterdrückung nur wenigen Menschen gelungen sein wird, so kann man durchaus nicht sagen, dass im Allgemeinen für den Buddhisten, wie für den gewöhnlichen Materialisten, nach dem Tode Alles aus sei. Im Gegentheil, für keinen von uns, die wir hier versammelt sind, nach unserer gegenwärtigen Verfassung berechnet, würde mit dem Tode Alles aus sein, sondern ein innerster Theil von uns, der nicht ohne Weiteres vergänglich ist, würde je nach unserem Verdienst einen Leib im Himmel oder in der Hölle bekommen und dann wieder in irgend ein irdisches Dasein eingehen. Aber das Summum Bonum des Buddhisten ist und bleibt das Nirvān.a, das völlige Verwehen und Vergehen; nur dann hat der Mensch die vollkommene Ruhe. Das höchste Gut, das Ideal, ist für jede Religion, für jede Philosophie praktisch die Hauptsache; nach dem höchsten Gute bemisst sich ihr Charakter und ihr Werth. Wie wenige Menschen sind sich heute darüber klar, was ihr höchstes Gut ist! In der Jugend wird uns dies im Katechismus gelehrt, unter der Ueberschrift: „Die Bestimmung des Menschen“. Der Buddhismus ist eine der bedeutendsten Erscheinungen in der Geschichte der Menschheit. Gerade weil er sich fern und getrennt von uns entwickelt hat, ist sein Studium und seine Vergleichung mit unseren Anschauungen sehr lehrreich. Aber man kann ein volles Verständniss für die Grösse des Buddhismus, für die Tiefe und die Consequenz seiner Gedanken haben, und doch nicht zum Buddhisten werden. Je mehr man den Buddhismus in seinem ganzen Umfange kennen lernt, um so mehr sieht man auch seine Schwächen, die vor der Kritik nicht Stand halten. Er setzt eine Stimmung voraus, die nicht als die der harmonischen Gesundheit angesehen werden kann, und er setzt psychologische und biologische Dogmen als erwiesen voraus, für die uns Buddha’s Autorität als die des Zusammenfassers der altindischen Denkarbeit, nicht genügt. Ich gehöre nicht zu denen, die den Buddhismus womöglich über das Christenthum stellen. Ich kenne keine Religion und keine Philosophie, die dazu angethan wäre, für unsere Gesammtheit an die Stelle des Christenthums zu treten. Diejenigen, welche für den Buddhismus schwärmen und ihn über das Christenthum erheben möchten, pflegen in doppelter Beziehung ungerecht zu verfahren: sie wenden nicht dieselbe Kritik, mit der sie das Christenthum abgethan zu haben glauben, auch auf den Buddhismus an, und sie greifen eklektisch aus dem Buddhis634

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mus nur das heraus, was ihnen passt. Der Buddhismus ist nicht nur eine enge Verbindung von Religion und Philosophie, sondern er hat auch von Anfang an eine starke Beimischung von Mythologie enthalten. Philosophie, Religion und Mythologie liegen eng bei einander, wie im Menschen Verstand, Gemüth und Phantasie. Ihr Verhältniss zu einander wird sich verschieben je nach dem Charakter der Zeiten, aber sie werden bei einander bleiben, so lange es Menschen giebt. Wieviel von der Mythologie des Buddhismus Buddha selbst zuzuschreiben ist, lässt sich nicht mit Genauigkeit feststellen, aber schon im ältesten Buddhismus tritt das mythische Element stark hervor. Die Götterwelt spielt in das Leben Buddha’s hinein, und Buddha selbst ist im Laufe der Zeit mehr und mehr mit dem Glanze eines Sonnengottes ausgestattet worden und für seine Anhänger fast an die Stelle eines Gottes getreten. Sehr bedenklich ist das Thun der Theosophischen Gesellschaft, die von Indien ausgegangen ist und jetzt in allen Ländern Eingang gefunden hat. Ihr Geheimbuddhismus ist eine Mystification, und ihre Zugkraft beruht weiter darin, dass sie die philosophischen Sätze des Buddhismus nicht nur mit der darwinistischen Entwickelungslehre, sondern auch mit dem Spiritismus zu verbinden sucht. Ist doch in einem der unter dem Namen Olcott gehenden neubuddhistischen Katechismen allen Ernstes der Rang der Gottheit, die nach der späteren Legende den Buddha zu seiner Flucht aus dem Hause veranlasst hat, spiritistisch bestimmt worden! Mit diesen unklaren und unkritischen Bestrebungen ist weder der Wahrheit noch dem Heile der Menschheit gedient. Ziehen wir die letzte Consequenz, wollten unsere Gebildeten und Gelehrten sich mehr und mehr dem Buddhismus in die Arme werfen, so würde die innere Kraft dieser Gesellschaftsschichten in demselben Maasse erlahmen, und das Zünglein der Wage würde sich tief zu Gunsten der Socialdemokratie neigen. Zur Religion der heutigen Socialdemokratie ist der Buddhismus an und für sich nicht geeignet, denn er predigt in erster Linie die Gefährlichkeit und Nichtigkeit aller Genüsse, verlangt die Unterdrückung der Begehrlichkeit, und hat namentlich kein Verständniss für den Segen der Arbeit, die ein gesundes Princip der Socialdemokratie ist. Wohl aber ist er gut genug, um von dieser und anderen Seiten aus als ein Trumpf gegen das Christenthum ausgespielt zu werden. Wir glauben an die Kraft der Wahrheit und des Guten. Die gerechte Würdigung einer jeden Erscheinung ist nur möglich auf Grund einer genauen Kenntniss derselben. Erst verstehen, dann verwenden! Wenn wir nun auch den Buddhismus nicht als die höchste Offenbarung über die Bestimmung des Menschen ansehen können, so offenbart sich doch auch in ihm der edelste Drang des Menschen, in den grossen Grundgedanken und in unzähligen kleinen Zügen. Im Interesse der Menschheit und der Religion werden wir die aus der Wahrheit stammenden Uebereinstimmungen zwischen buddhistischer und christlicher Lehre mit Freuden begrüssen, wird es uns nicht gleichgültig sein, dass die Moralgebote der Inder zum Theil identisch sind mit den unsrigen, und dass das buddhistische Gebot des Mitleids und der Freundlichkeit sich nahe berührt mit dem Gebote der christlichen Liebe. Und bedeutsam ist auch seine praktische Grundlehre von dem „edlen mittleren Pfade“: Buddha lehrt ein Leben, das gleich weit von der übertriebenen Askese und von dem Wandel in Lust entfernt sein soll. Dieses Princip des mittleren Pfades 635

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können auch wir billigen, nur muss die praktische Gestaltung desselben in unseren Verhältnissen eine andere sein als in Indien, denn die Gegensätze, die zu überwinden sind, sind anderer Art. Vor unserem geistigen Auge haben wir die Erscheinungen des indischen Alterthums, die mindestens dem Namen nach zu dem allgemeinen Wissen der Gegenwart gehören, in isolirender Betrachtungsweise vorübergeführt. Aber die indische Cultur hat auch als ein Ganzes hohe Bedeutung für uns. Wir gehören der grossen Culturentwickelung an, die mit dem griechischen Alterthume beginnt, von Rom weitergeführt worden ist, in der römischen Kaiserzeit das Christenthum in sich aufgenommen hat und sich dann über die heutigen Culturvölker verbreitet hat. Da ist es nun von der grössten Wichtigkeit, dass sich daneben, für sich geblieben, nur in den ersten menschlichen Anfängen mit unserer Entwickelung zusammenhängend, gleichfalls bis in die Gegenwart hereinreichend, in Indien eine zweite grosse Culturentwickelung vollzogen hat, die nicht in derselben Weise vom griechischen Alterthume abhängig ist. Das ist der Cardinalpunkt. Hierin liegt die Hauptbedeutung, die das indische Alterthum für den denkenden Betrachter der Geschichte der Menschheit hat. Da es sich hier um zwei Entwickelungsreihen handelt, die unabhängig von einander und doch von vergleichbarer Grösse sind, so bietet sich die schönste Gelegenheit, um beobachten zu können, in welcher Weise verschieden und nicht verschieden der Mensch sich als denkendes Wesen, in Familie und Staat entwickelt und diese seine Geschichte in einer grossen Literatur niedergelegt hat. Man hat wohl geglaubt, ganz besondere Aufschlüsse über das Wesen des Menschen aus den Zuständen der sogenannten Naturvölker zu erhalten. Ich unterschätze derartige Beobachtungen nicht, sie sind unter Anderem neuerdings von Oldenberg und von Pischel in fruchtbringender Weise auch für die Vorgeschichte der indischen Religion verwendet worden. Aber andrerseits muss man sagen, dass die gegenwärtigen Zustände der Naturvölker nicht in jeder Beziehung sicher deutbar sind, denn wir wissen nicht, wie sie vor 500, vor 1000 Jahren waren und haben daher keinen sicheren Anhalt für die Tendenz ihrer Entwickelung. In Indien verhält sich dies ganz anders, da liegt eine mehrere Jahrtausende umfassende Entwickelung wie ein riesiges Buch vor uns aufgeschlagen. Eine grosse Anzahl bedeutender Gelehrter ist bis jetzt zunächst damit beschäftigt gewesen, sie gründlich kennen zu lernen, aber auch die Verwerthung der Forschung in vergleichender Weise hat schon begonnen. Der unschätzbare Werth der altindischen Literatur scheint mir aber weniger darin zu liegen, dass sie Resultate enthüllt, die wir uns nothwendig für unsere Bedürfnisse aneignen müssten, als vielmehr darin, dass sie uns auf verschiedenen Gebieten mit seltener Klarheit die allmähliche Entwickelung der Ideen Schritt für Schritt verfolgen lässt. Wie hoch man das indische Alterthum zurückdatiren darf, kann immer noch nicht mit Sicherheit festgestellt werden. Während man bis vor Kurzem die Tendenz hatte, auch die classische Sanskritliteratur und das Epos ziemlich weit herabzudatiren und für das indische Alterthum nach einer ungefähren Schätzung Max Müller’s etwa bis 1500 v. Chr. hinaufzugehen, sind neuerdings andere Anschauungen geltend gemacht worden. Für diese Bestrebungen ist die Inschriftenkunde besonders wichtig geworden. Zwar gehört die Masse der Inschriften der zweiten Hälfte unseres 636

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ersten Jahrtausends und den noch späteren Zeiten an, die weniger Anspruch auf ein allgemeineres Interesse erheben können, aber durch die genauere Kenntniss dieser späteren Zeiten, durch die hier gefundenen festen Daten in Verbindung mit anderen Angaben, ist das, was aus älteren Zeiten zu stammen scheint, mit immer grösser werdender Sicherheit in frühere Jahrhunderte zurückgeschoben worden. Um die Verwerthung der Inschriften in dieser Richtung haben sich unter Anderen Bühler und Kielhorn grosse Verdienste erworben. Kālidāsa der Verfasser des Dramas Śakuntalā, bleibt ein Dichter ungefähr des 4. Jahrhunderts post Christum, aber die Kunstpoesie überhaupt geht in die vorchristlichen Zeiten zurück. Einzelne Theile des Epos Mahābhārata schliessen sich nach Sprache, metrischer Form und Inhalt unmittelbar an die vedische Literatur an, aber auch als Ganzes, als eine riesige Sammlung der epischen Stoffe Indiens, in Bücher eingetheilt, lässt es sich weiter zurückverfolgen, als man früher glaubte. Für das andere grosse Epos der Inder, das Rāmāyan.a, ist Jacobi sogar bis in das 8. Jahrhundert vor Christus zurückgegangen, und für die vedische Zeit bis auf 4000 v. Chr. und darüber hinaus. Die Begründung der letztern These stützt sich auf gewisse astronomische Angaben, in denen Jacobi eine Verschiebung der Jahres- und Jahreszeiten-Anfänge, verursacht durch die Präcession der Sonne, zu erkennen glaubt. Die kritische Erörterung dieser wichtigen Frage ist noch nicht abgeschlossen, aber mag ihr Ergebniss sein, welches es wolle, so viel steht schon jetzt fest, dass die indische Literatur in höheres Alterthum hinaufreicht als die griechische, und dass schon zu Buddha’s Zeit um 500 v. Chr. die altindische Geistesarbeit in ihren Hauptgedanken einen Abschluss gefunden hatte. Erst nach dieser Zeit ist durch den Zug Alexander’s des Grossen die griechische Welt mit der indischen Welt in nachhaltigere Berührung gekommen. Die Nachrichten der Griechen über Indien und die Wiederspiegelung dieser Bekanntschaft mit dem Westen in der indischen Literatur sind für die indische Chronologie von unschätzbarem Werthe. Aber diese Wiederspiegelung in der indischen Literatur ist nur eine sehr schwache. Es hängt dies mit der hohen eigenen Cultur Indiens und der stark ausgeprägten indischen Eigenart zusammen, der das Fremde wenig imponirt, und die das Fremde, das sie annahm, sich so vollständig assimilirte, dass es kaum noch kenntlich blieb. Wären nicht einige Namen, z. B. die Namen von Diadochen auf den Inschriften des grossen Königs Asoka im 3. Jahrhundert v. Chr. sprechende Zeugen, wären nicht in der Astronomie und Mathematik, in den Münzen, in der Sculptur und Architektur Indiens sichere Spuren des griechischen Einflusses vorhanden, so könnte er vom Standpunkt eines indischen Pandits aus leicht völlig in Abrede gestellt werden. Aber noch vor der Griechenzeit ist auch die altsemitische Cultur bis nach Indien gedrungen. Nachdem schon Weber im Allgemeinen das Richtige gesehen hatte, hat neuerdings Bühler auf Grund des reichlich vermehrten Inschriftenmaterials und der Münzfunde durch viele interessante Einzelheiten über jeden Zweifel erhoben, dass die indische Schrift, im Laufe der Zeit in viele Alphabete verzweigt, auf einem altsemitischen Alphabete beruht. Wir behaupten also keineswegs, dass Indien von dem Völkerverkehr des Alterthums gänzlich unberührt geblieben sei, und dass es gar keine fremden Einflüsse in sich aufgenommen habe; was wir aber sagen dürfen, ist dies, dass diese fremden 637

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Einflüsse nicht den eigentlichen Kern der indischen Eigenart getroffen und umgebildet haben. In diesem Sinne liegt uns in der indischen Literatur eine von unserer Cultur unabhängige Culturentwickelung vor, und zwar durch Jahrtausende verfolgbar, mit wunderbarer Vollständigkeit aufgezeichnet, so dass man an vielen Stellen mit Händen greifen kann, wie ein Gedanke sich an den andern angeschlossen hat. Die politische Geschichte tritt ganz zurück, eben weil Indien nicht mit in den grossen Gang der Weltgeschichte hineingezogen worden, sondern sich selbst überlassen geblieben ist. Aber umsomehr tritt die stille Geistesarbeit in ihrer ununterbrochenen Continiutät hervor. Das ganze Volk zusammenschmiedende Kämpfe um die Existenz, wie im Alterthum die Perserkriege und die punischen Kriege, hat das indische Volk nicht zu bestehen gehabt. Das ist ein Hauptgrund dafür, dass die Geschichtsschreibung und die Politik in Indien nicht in höherer Weise ausgebildet worden sind. Aber sonst ist fast jedes Gebiet der menschlichen Thätigkeit und des menschlichen Interesses in der indischen Literatur vertreten. Indien hat nicht Geschichte gemacht und nicht Geschichte geschrieben. Ein Hauptfehler des Inders ist sein Mangel an geschichtlichem Sinn. Ein zweiter Hauptgrund dafür ist, dass die Brahmanen, die in erster Linie zur Aufzeichnung der Ereignisse berufen gewesen wären, in die weltflüchtige Richtung gerathen waren. Die bedeutendste Seite in der indischen Geistesentwickelung, die unser höchstes Interesse in Anspruch nimmt, ist und bleibt die Religion und die Philosophie, und zwar nicht nur um ihrer Resultate willen, sondern hauptsächlich auch deshalb, weil wir in der alten Literatur die Entwickelung der Religion und Philosophie Schritt für Schritt verfolgen können. Man wende hier nicht ein, dass wir wissensstolzen Europäer über diese Dinge längst hinaus seien, namentlich über die Form, die sie in Indien haben. Die höchsten Begriffe, die letzten Probleme sind überall dieselben. Zuerst hat sie der Mensch mit kindlichen Kräften in Angriff genommen, zuletzt als stolzer Mann, der sich die ganze Natur unterthan gemacht hat. Dazwischen liegen viele Versuche mit immer feiner, immer vollkommner werdender Ausrüstung, mit immer weiterer Erkenntniss der Welt. Aber alle führten auf dieselben hohen Berge. Eine wichtige Eigenthümlichkeit in der indischen Entwickelung ist, dass die Inder nie eigentlich tabula rasa gemacht haben, sondern dass sie, um ein anderes Bild zu gebrauchen, im Etagenbau vorgeschritten sind. Sie hoben die alten Gebräuche und Anschauungen nicht auf, sondern setzten die neue Weisheit nur als das Höhere darüber. Und von diesem höheren Standpunkte aus deuteten sie die früheren Anschauungen um. Daher die Interpretation, die die späteren Inder ihren alten Werken gegeben haben, von uns nicht immer angenommen werden kann, weil die späteren Inder Ideen in die älteren Texte hineintrugen, die ursprünglich nicht darin enthalten waren. Sie machten die alten Hymnen an die Naturgötter, die ursprünglich für ein einfacheres Ritual bestimmt waren, in ihren einzelnen Versen auch dem späteren, systematisch ausgebildeten Ritual dienstbar, und sie deuteten dann weiter die Ritualbegriffe in philosophische Begriffe um. Der letztere Process beginnt schon in den Brāhman.a genannten ritualistischen Werken, er zeigt sich aber besonders in den Upanis. ads, jenen ersten philosophischen Gedankengängen, die auf Schopenhauer 638

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einen so tiefen Eindruck gemacht haben. Immer strebte man einem Ziele, einem Ideale zu, aber dieses Ideal sublimirte sich immer mehr. Zuerst verlangte man nach den Gütern der Erde und nach der Unsterblichkeit im Verein mit den Göttern im Himmel. Dann glaubte man im Begriff der als das Selbst gedachten Seele den innersten und allgemeinsten Kern aller Wesenheit erkannt zu haben und verlangte nach dem Aufgehen in dieses das ganze All umfassende, auch Brahman genannte grosse Wesen. Und zuletzt verflüchtete sich auch diese Identität durch Buddha, der die Seele und das Selbst strich, in das Nirvān.a, in das Nichts. Dem Wandel des höchsten Gutes entsprechend wandelten sich auch die Mittel, durch die man es zu erreichen glaubte. Zuerst war es die Verehrung der Götter in Worten und in Werken, durch die man die Güter zu erhalten glaubte. Allmählig wurde das Opferwerk ein complicirter Organismus und geradezu eine selbständige Macht, mächtiger als die Götter. Wer richtig opferte, musste seinen Lohn finden. Mit dem richtig Opfern wurde aber ein Wissen verbunden: man musste wissen, welchen mystischen Sinn die Gebräuche hatten. Dadurch kam das Princip des Wissens und der Forschung zur Herrschaft. An den Spitzfindigkeiten des Rituals hat sich mit zuerst die Schärfe des Denkens und die Methode wissenschaftlicher Behandlung ausgebildet. Man spotte nicht darüber. Wer die Geschichte der Wissenschaften kennt, wird wissen, dass auch im Abendlande ähnliche Vorgänge nachweisbar sind. Die Forschung richtete sich bald auf würdigere Dinge, aber eben doch in unmittelbarem Anschluss an das Ritual. Auch das Wissen ist nicht das höchste Mittel geblieben, sondern selbst in den philosophischen Systemen ist über das Wissen noch eine höhere Potenz gesetzt worden, nämlich jener mystische Zustand des Geistes, der unter dem Namen Yoga bekannt ist. Ueber die Erkenntniss der Allseele wurde die Vereinigung mit ihr gesetzt, und diesen mystischen Zustand suchte man durch Ertödtung der Sinnlichkeit, durch Hemmung der Sinnesthätigkeit und durch eine innerliche Concentrirung der Aufmerksamkeit auf gewisse heilige Wörter zu erreichen. Die Askese des Leibes war schon in alter Zeit neben dem Opfer, und dieses ersetzend, als ein verdienstliches Werk, das zu dem Anspruch auf höchsten Lohn berechtigt, ausgebildet worden. Diese ganze Entwickelung hatte sich schon vor Buddha vollzogen. Diese verschiedenen Bestrebungen schlossen sich aber keineswegs aus. Sie sind vielmehr eben etagenweise über einander gesetzt. Es spiegelt sich dies in merkwürdiger Weise in den vier Āśrama oder Stufen wieder, die das Leben eines jeden Brahmanen zu durchlaufen hatte. Die erste Stufe ist die des Schülers, der im Hause des Lehrers wohnt und diesem auch wirthschaftliche Dienste zu leisten hatte, wie unsere Lehrlinge im Hause ihrer Meister. Die zweite Stufe ist die des Hausvaters, der ein Haus gegründet und eine Frau heimgeführt hat. Das sind wohl die beiden ältesten Stufen. Wenn der Hausvater die pflichtmässigen Opfer geopfert und, vor Allem, wenn er zur Fortpflanzung des Geschlechts einen Sohn erzeugt hatte, dann durfte er Haus und Familie verlassen und sich in eine Waldhütte zurückziehen, um dort in frommen Uebungen und Meditationen weiter zu leben. Das war die Stufe des Waldeinsiedlers. Die vierte Stufe ist die des heimathlos umherwandernden Bhiks. u oder Bettelmönches, dessen Leben in der mystischen Concentration des Denkvermögens mit endlich verschwimmendem Bewusstsein gipfelt. 639

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Alle diese Verhältnisse finden wir in der altindischen Literatur auf das Genaueste aufgezeichnet, wie wir das in keiner anderen Literatur wiederfinden. Auch andere Völker haben eine Periode gehabt, in der das Opferwesen herrschte, aber im Einzelnen wissen wir von den Ideen, die den altgermanischen, altslawischen, altceltischen Priester beherrscht haben, nur sehr wenig; höher gestanden als der altindische Priester haben sie gewiss nicht; und auch unsere Kunde vom griechischen und römischen Opferwesen ist doch nur fragmentarisch. In Indien liegt dieser ganze Aberglaube, der aber doch auch tiefe Ideen birgt, offen vor uns ausgebreitet, zum Theil ein abstossendes Bild, aber es gewinnt für uns ein hohes Interesse, wenn wir sehen, wie aus diesen wunderlichen Constructionen die Linien einer gehaltvolleren Geistesentwickelung herausschiessen. In den priesterlichen Köpfen hatte sich das Postulat ausgebildet, dass das Opferwerk, schlechthin karma „Werk“ genannt, wenn richtig dargebracht, nothwendig sein phala, seine Frucht, finden müsse. Was zuerst vom Opferwerk behauptet wurde, ist dann auf das Werk überhaupt, das gesammte Thun und Treiben des Menschen übertragen worden. So ist im Ritual eine Vorstufe zu der philosophischen Lehre vom Alles beherrschenden Causalnexus vorhanden, wenn auch hinzugefügt werden muss, dass die Wurzeln dieser Lehre schon im Rigveda zu finden sind, in der Bewunderung, die den Dichter über den geordneten und nie gestörten Verlauf der Naturerscheinungen des Weltalls erfüllt. Es liegt für uns besonders nahe das indische Alterthum mit dem griechischen zu vergleichen, steht doch auch die griechische Sprache dem Sanskrit besonders nahe. Nichts ist schwerer, als die Eigenart eines ganzen Volkes mit wenigen Worten ausdrücken zu wollen. Plato hat in wundervoller Weise die Ideale, die der griechische Geist ausgewirkt hat, in die drei Ideen des Guten, Wahren und Schönen zusammengefasst. Das Schöne hat bei den Indern nicht die Verklärung, die es im Geiste der Hellenen gefunden hat. Von jenen drei Ideen tritt bei den Indern die Idee des Schönen in den Schatten, die Idee des Schönen mit der sie begleitenden Idee des Maasses. Der Inder hat eine Neigung zum Maasslosen, zum Gewaltigen, mögen wir nun an seine übertriebene Askese und an die Starrheit denken, mit der er seine Ideen verfolgt hat, oder an die grotesken Formen der späteren Volksmythologie, oder an die gewaltigen Dimensionen, die seine epischen Werke erhalten haben, oder an die übertriebene Kürze, die wir im Sūtrastil der wissenschaftlichen Werke ausgebildet finden. Vielleicht spiegelt sich in diesem Charakterzug des Inders die ihn umgebende tropische Natur wieder. Auch die Idee des Guten, die bei Plato die erhabenste ist, steht in Indien nicht in derselben Weise im Vordergrunde. Selbstverständlich durchdringt auch die indische Weltanschauung der scharfe Gegensatz zwischen Gut und Böse, aber der Inder hat über das gut handeln noch das gar nicht handeln gestellt. Denn wer nur überhaupt handelt, und sei es in der besten Absicht, der bleibt in der Seelenwanderung drin, der zu entrinnen das höchste Ziel ist. So ist es denn allein die Idee der Wahrheit, Satya, die der Inder an die Spitze alles Strebens gestellt hat, und die Wahrheit zerrinnt ihm schliesslich in das Nichts. Das ist die Richtung, in der sich die grössten Denker Indiens bewegt haben. Aber glücklicher Weise folgt kein Volk unbedingt seinen Philosophen. Es hat sich 640

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daneben auch eine praktische Philosophie herausgebildet, die für dieses irdische Leben passt, und die alte heilige Sitte in Verbindung mit der Pflichtenlehre, die gleichfalls in der alten Literatur getreulich aufgezeichnet ist, hat dem ganzen alten Volksleben einen festen Halt gegeben. Auch dies giebt uns zu denken, uns, die wir geneigt sind, die alten Formen gering zu schätzen und nur auf den nackten Kern zu sehen, der sich auch leicht für uns in das Nichts verlieren kann. Vergleichen wir endlich Indien mit dem römischen Alterthum, so fehlte ihm nicht die Ausbildung des Rechts, die ja einer der Ruhmestitel Roms ist. Das Recht ist in Indien schon sehr frühe in den alten Priesterschulen aufgezeichnet worden, und wir besitzen eine grössere Anzahl derartiger Redactionen, von denen die ältesten, wie die Forschungen von Bühler und Jolly gezeigt haben, weit in die Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung zurückgehen. Diese Werke spielen jetzt eine wichtige Rolle in der vergleichenden Rechtswissenschaft, da sie uns eine Kenntniss von sehr alten Zuständen und Anschauungen gewähren, die für die früheste Geschichte des Rechts um so wichtiger ist, als die Inder unsere und der Römer Stammverwandte sind. Während sich ausserdem die römische Literatur mit der indischen an Originalität und Gehalt nicht messen kann, liegt Indiens grosse Schwäche Rom gegenüber hauptsächlich darin, dass ihm der Staatsgedanke, mit Allem, was dazu gehört, nicht aufgegangen ist. Das Studium Indiens lehrt uns noch Eines, nämlich mit Bewusstsein das Einzigartige der Culturentwickelung zu würdigen, die uns im griechischen und römischen Alterthum, das eine die Ergänzung des andern, vorliegt. Da aber unser Blick weiter geworden ist, und wir den Menschen nicht nur in Griechenland und Rom suchen, so dürfen wir doch sagen, dass es trotz aller Schwächen keine wichtigere Stätte für die vergleichende Beobachtung des denkenden Menschen in seiner geschichtlichen Entwickelung giebt, als Indien. ***

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31. October 1896. Rede des abtretenden Rectors Dr. phil. Ernst Windisch. Bericht über das Studienjahr 1895/96. Hochansehnliche Versammlung! Abermals ist ein akademisches Jahr abgelaufen, und hat der abtretende Rector seinen Jahresbericht zu erstatten. Was ich von meinem Amtsvorgänger übernommen, habe ich weitergeführt den grösseren Ereignissen entgegen, die uns im nächsten Jahre bevorstehen, und ich danke Gott, dass unsere Universität trotz des Unfertigen ihrer baulichen Verhältnisse und trotz einzelner schwerer Verluste auch in meinem Amtsjahr ihren blühenden Zustand bewahrt hat. Die Huld ihres ehrfurchtsvoll verehrten königlichen Rector Magnificentissimus hat ihr nicht gefehlt, hat sich vielmehr in diesem Jahre in ganz besonderer Weise gezeigt. Immer wieder von neuem werden unsere Herzen von Freude und Dank erfüllt, dass Seine Majestät König Albert in so sachlich eingehender Weise an den Jahresschicksalen der Universität theilnimmt, sei es der Verlust eines bedeutenden Mannes oder die Gewinnung einer neuen Kraft, sei es der Fortschritt der Wissenschaft oder der Universitätsneubau mit seinen verschiedenartigen Fragen. Diese für uns unschätzbare Theilnahme des Staatsoberhaupts belebt und stärkt in uns das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das Gefühl, dass alle unsere Bestrebungen, auch die einsamen Bahnen der gelehrten Forschung dem grossen Ganzen zu Gute kommen. Seine Majestät der König weilte in den Mauern unserer Stadt in den Tagen vom 4. bis 8. Februar und zeichnete bei dieser Gelegenheit die Vorlesungen der neuberufenen Professoren Trendelenburg, Hering, Soltmann, Seeliger und des im vorigen Jahr zum Ordinarius ernannten Professor Credner durch Allerhöchst seinen Besuch aus; auch geruhten Seine Majestät der König und Ihre Majestät die Königin einen Vortrag des Professor Wiedemann über die sogenannten Röntgen-Strahlen entgegenzunehmen. Am 23. April feierte die Universität den Geburtstag Seiner Majestät des Königs durch einen feierlichen Actus in der Universitätskirche, bei dem der Prorector Dr. Flechsig der Festredner war. Eine ganz besondere Ehrung sollte aber noch der mit unserer Universität verbundenen Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Theil werden. Diese von König Johann gegründete Akademie feierte am 1. Juli dieses Jahres ihr fünfzigjähriges Stiftungsfest. Seine Majestät König Albert konnte seiner Achtung vor der wissenschaftlichen Forschung, auch derjenigen, deren Ergebnisse sich nicht unmittelbar für die Bedürfnisse des praktischen Lebens verwerthen lassen, keinen schöneren Ausdruck geben, als indem Allerhöchstderselbe eigens für diese Feier nach Leipzig kam und dem Festactus im Sitzungssaale der Gesellschaft, bei dem deren Secretäre, 642

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die Professoren Wislicenus und Ribbeck die Festreden hielten, durch Allerhöchstseine Gegenwart die höhere Weihe gab. Als ein weiteres freudiges Ereigniss hebe ich hervor, dass Seine Königliche Hoheit Prinz Albert, Herzog zu Sachsen, Ostern 1896 unsere Universität bezogen hat und am 8. Mai von mir als studiosus juris immatriculirt worden ist, zusammen mit einer grösseren Anzahl anderer Studenten. Unsere herzlichsten Wünsche für eine gewinnreiche und frohe Studienzeit begleiten den königlichen Prinzen. Bei beiden königlichen Besuchen hatten die Vertreter der Universität auch die Ehre und Freude Seine Excellenz den Cultusminister von Seydewitz begrüssen zu können. Die Universität hat auch in diesem Jahre allen Grund dankbar anzuerkennen, in wie wohlwollender und weitsichtiger Weise die königliche Staatsregierung die Interessen der Universität und ihrer Angehörigen wahrnimmt, die Wünsche der Facultäten vertritt und diese zu erfüllen sucht, soweit dies nur irgend in ihrer Macht liegt. Ein Zeichen dieser inneren Befriedigung ist, dass die Philosophische Facultät Seine Excellenz den Staatsminister von Seydewitz in ihrer Sitzung vom 22. Januar 1896 zum Doctor Philosophiae honoris causa creirte und Ihm bei Gelegenheit Seiner Anwesenheit in Leipzig am 5. Februar das Ehrendiplom durch eine Deputation ihrer Würdenträger feierlich überreichen liess. Von der gänzlichen Vollendung des Universitätsneubaus berichten zu können wird erst meinem Nachfolger beschieden sein. Wohl aber ist der Neubau soweit fertig gestellt, dass nur noch das Archiv im alten Trierianum verblieben ist, dass aber schon in diesem Wintersemester alle Vorlesungen und Uebungen in den neuen Räumen gehalten werden können. Mit dem 15. October waren Rectorat, Secretariat, Quaestur und Universitätsgericht im Kirchenflügel des Augusteums installirt, so dass schon ich wenigstens noch 14 Tage lang in dem auf das Würdigste ausgestatteten Rectoratszimmer residiren konnte. Die mit Beginn dieses Wintersemesters dem Gebrauche übergebenen Seminarräume im Paulinum und Bornerianum dürften in ihrer Fülle, Grösse und zweckmässigen Einrichtung kaum irgendwo ihres Gleichen finden und zu den werthvollsten Vorzügen unserer Universität gehören. Ich enthalte mich einer weiteren Schilderung des prachtvollen Neubaus, auch ist es nicht meines Amtes, der Staatsregierung, den Ständen, dem Baumeister und allen Mitwirkenden schon jetzt den Dank der Universität auszusprechen, so gern ich, wie jeder Rector der letzten Jahre, dies auch thäte. Nur dafür muss ich schon heute der Bauleitung, dem Universitätsrentmeister Herrn Commissionsrath Gebhardt und dem Baumeister Herrn Baurath Rossbach danken, dass die Termine der Fertigstellung bisher mit so grosser Pünktlichkeit eingehalten worden sind. Während des ganzen Baues hat der Senat durch seine Baucommission in allen wichtigeren Fragen seine Wünsche und seinen Rath zur Geltung gebracht. Wohl für alle betheiligten Factoren hat sich im Laufe der Zeit herausgestellt, dass eine solche Mitwirkung der Universität nicht nur der Grundlage der rechtlichen Verhältnisse entspricht, sondern auch der Sache förderlich ist und Wohlwollen und Harmonie auf allen Seiten schafft. Noch nicht vollendet sind ausser einigen zunächst der Kirche gelegenen Auditorien die Aula, der Senatssaal und die grosse bedeckte Halle für die Studenten. Erst wenn auch diese Haupträume vollendet sind, wird unter dem Rectorate meines Nachfolgers 643

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nach den Pfingstferien 1897 die feierliche Einweihung des stolzen Universitätsneubaus von statten gehen. Aula und Halle werden dereinst nicht nur durch ihre Architektur, sondern auch durch ihren inneren künstlerischen Schmuck zu den ersten Sehenswürdigkeiten unserer Stadt gehören. Im Laufe des vergangenen Jahres haben zu grossen Frescogemälden den Auftrag erhalten Professor Preller in Dresden für die Halle, Max Klinger in Leipzig für die Aula, ferner zu decorativ anzubringendem plastischen Schmuck die Bildhauer Lehnert, Seffner und Magr in Leipzig. Die Mittel zu diesen sowie zu einigen bereits vor meinem Rectorat vollendeten Kunstwerken, geschaffen theils von den schon genannten Künstlern theils von den Bildhauern Trebst und Hartmann, sind in hochherziger Weise aus dem unter der Verwaltung des Ministeriums des Innern stehenden Kunstfond besonders bewilligt worden. Alles soll bis zur Einweihung fertig werden, mit Ausnahme des Max Klinger übertragenen Gemäldes in der Aula. Der Neubau der Universität ist unter erschwerenden Umständen ausgeführt worden. Die Bauleitung hat es mit seltener Bereitwilligkeit so eingerichtet, dass die Auditorien nach und nach dem Gebrauche übergeben werden konnten, während daneben noch gebaut und gearbeitet werden musste. Ganz ohne Geräusch zu bauen ist unmöglich, und mancher Docent hat wohl das Hämmern und Pochen während seines Vortrags übel empfunden, obwohl die Bauleitung soviel als irgend möglich auf die Vorlesungen Rücksicht genommen hat. Im Namen der Senatsbaucommission richte ich namentlich an die Herren Collegen, die im Albertinum lesen, die freundliche Bitte, nun noch für den Rest der Bauzeit es mit einiger Nachsicht ertragen zu wollen, wenn Gerüste nicht ohne Pochen und nicht ausschliesslich in den von Vorlesungen freien Zeiten aufgeschlagen und abgebrochen werden können, sonst zieht sich der Bau nur noch länger hinaus und ist es unmöglich, dass er bis Pfingsten 1897 vollendet ist. Immer wieder von Neuem ist die Universität den Ständen des Landes für reiche Geldbewilligungen zum grössten Danke verpflichtet. Auch mit der Erneuerung unserer alten Kirche, die ebenso wie das Pauliner-Kloster vom Herzog Moritz der Universität geschenkt worden ist, hat begonnen werden können, seit die Stände des Landes für diesen Zweck eine grosse Summe, 430 000 Mark, bewilligt haben. Die äussere Südwand, die den noch erhaltenen, von Alters her zur Kirche gerechneten Kreuzgang einschliesst, ist bereits vollendet; der Kreuzgang ist aber nach dem Augustusplatz zu geöffnet worden, so dass man künftighin auch von da aus in die Kirche gelangen kann. Der Vertrag der Universität mit der Kirchengemeinde zu St. Johannis hat zweimal verlängert werden müssen, nunmehr zum letzten Male bis Ostern 1897, da die neue Johanniskirche erst zu Ostern wird eingeweiht werden können. Bis dahin bleibt daher das Innere unserer Kirche im Wesentlichen unverändert, damit sie noch weiterhin dem Gottesdienste der Universität und der Kirchengemeinde zu St. Johannis dienen kann. Dann aber wird der Universität bis zur Vollendung ihrer Kirche von Seiten der Johannisgemeinde in deren Kirche dieselbe Gastfreundschaft zu Theil werden. Die Hauptveränderung, die für das Innere der Kirche geplant ist, betrifft die Emporen und die Kapellen, die nicht zum ältesten Bestande der Kirche gehören. Die Emporen und die Kapellen sind erst im Jahre 644

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1710 eingebaut worden. Diese späteren Einbauten der Kirche wieder zu entfernen ist umsomehr geboten, als das Holzwerk zum Theil morsch geworden ist. Neu gebaut werden aber nur der Chor und die ersten Emporen zu beiden Seiten desselben. Die Kapellen und die zweiten Emporen kommen in Wegfall, so dass das schöne alte Gewölbe der Kirche um so erhabener hervortreten, und die durch hässliche Fenster und die Spuren einstiger Anbauten jetzt sehr verunstaltete Nordwand von innen wie von aussen ein würdigeres Aussehen erhalten kann. Im Uebrigen aber wünschen wir, dass die Erneuerung unserer Kirche mit der Pietät ausgeführt wird, die wir diesem nunmehr einzigen aus der Zeit der Gründung erhaltenen Universitätsgebäude schuldig sind. Die Pauliner-Kirche niederreissen zu wollen, wäre fast eine ebenso grosse Barbarei, als wenn man das schöne und ehrwürdige Rathhaus, den sprechenden Zeugen des geschichtlichen Alters und gleichsam das Adelswappen unserer Stadt, modernen Wünschen zum Opfer bringen wollte. Viermal ist in meinem Amtsjahr in der Universitätskirche die Trauerfeier für verstorbene Collegen abgehalten worden. Am 8. November 1895 verschied der am 27. März 1826 zu Antwerpen geborene ordentliche Professor der Archäologie Geheimer Hofrath Dr. Johannes Overbeck, nachdem er der philosophischen Facultät seit 1853 als ausserordentlicher, seit 1858 als ordentlicher Professor angehört hatte. Bis zum Zusammenbruch seiner Kräfte unermüdlich thätig, den Blick immer auf das Ganze seiner Wissenschaft gerichtet, deren Probleme bis in ihre neusten Phasen verfolgend, mit dem Forschungstrieb des Gelehrten das Formengefühl des Künstlers und die schriftstellerische Gabe gefälliger Darstellung verbindend, von Professorenstolz erfüllt und geschäftsgewandt, hat er im Laufe seiner mehr als vierzigjährigen akademischen Thätigkeit zahlreiche Schüler in die antike Kunst eingeführt, bedeutende Werke geschaffen, als Rector, als Senats- und Facultätsmitglied sich um unsere Universität wohl verdient gemacht. In weiten Kreisen bekannt geworden ist sein Buch über Pompeji, am bedeutendsten tritt seine wissenschaftliche Individualität in seiner monumental angelegten Kunstmythologie hervor, welche, obwohl unvollendet, noch lange nach seinem Tode ein Hauptwerk der Archäologie bleiben wird. In sein Rectorat vor gerade 20 Jahren fiel die erste Gründung der Allgemeinen studentischen Krankenkasse, und die Gründung der Pensionskasse für die Unterbeamten und Diener der Universität und ihrer Institute. Er war es, der die auch für nichtsächsische Studenten bestimmten Freitische ins Leben rief, auch verdanken wir ihm die zweckmässige Organisation der 1874 gegründeten akademischen Lesehalle, die er bis an sein Lebensende als Vorsitzender des Vorstandes geleitet hat. Weit über die Kreise der Universität hinaus erregte Theilnahme der am 6. Juni 1896 erfolgte Tod des ordentlichen Honorarprofessors der Medicin Geheimen Raths Dr. Benno Schmidt. Geboren am 3. März 1826 im Pfarrhaus zu Kaditz bei Dresden, einer bekannten sächsischen Gelehrtenfamilie angehörig, habilitirte er sich im Jahre 1853 an unserer Universität, an der er Ende 1864 zum ausserordentlichen, 1887 zum ordentlichen Honorarprofessor befördert wurde. Auch als Forscher und Schriftsteller wohlbekannt, war er ein Meister der chirurgischen Kunst, im medicinischen Unterrichte eine wichtige Ergänzung des genialen Thiersch. Generationen von Schülern bekennen, dass sie namentlich ihm ihre Schulung in der kleinen Chirurgie 645

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verdanken, wie sie auch der nicht specialistische Hausarzt alltäglich in der Ausübung seines Berufes nöthig hat. Seine Stellung als Director des Chirurgischpoliklinischen Instituts gab ihm die Gelegenheit seine von Vielen gerühmte Menschenfreundlichkeit und seine hervorragende Lehrgabe zu entfalten. Die Dankbarkeit, von der seine Schüler für ihn beseelt sind, kam in erhebender Weise bei der imposanten Feier seines 70. Geburtstags zum Ausdruck, am 3. März 1896. Durch seine Theilnahme am deutsch-französischen Kriege hatte Benno Schmidt auch ehrenvolle Beziehungen zur Armee, in der er, wie die vor ihm dahingeschiedenen Professoren Braune und Thiersch, den Rang eines Generalarztes I. Klasse einnahm. Die hohe Werthschätzung, die seine Verdienste in den höchsten militärischen Kreisen gefunden haben, äusserte sich sowohl bei der Feier seines 70. Geburtstags als auch bei seinem Begräbniss, das unter den seinem Range entsprechenden militärischen Ehren von Statten ging. Seine Majestät der König hatte zu demselben Allerhöchst seinen Generaladjutanten entsandt. Am 30. September 1896 verschied der ordentliche Professor der Philosophie Geheimer Rath Dr. Moritz Wilhelm Drobisch, Ehrenbürger der Stadt Leipzig, der Senior der gesammten Universität, der am 8. December dieses Jahres sein 70jähriges Jubiläum als ordentlicher Professor gefeiert haben würde. Er war geboren am 16. August 1802 zu Leipzig. Da ihm die Leipziger Matrikel, wie es damals möglich war, schon zwei Jahre nach seiner Geburt verliehen worden war, so darf man sagen, dass der Verewigte unserer Universität fast durch das ganze 19. Jahrhundert angehört hat, als Kind, als Jüngling, als bedeutender Mann und zuletzt als lebensmüder Greis! Im Jahre 1824 habilitirte er sich, schon 1826 wurde er ausserordentlicher Professor der Philosophie, und noch in demselben Jahre ordentlicher Professor der Mathematik. Seit 1840 war er ordentlicher Professor der Philosophie, die Professur für Mathematik legte er 1868 nieder. Mathematiker und Philosoph zu gleicher Zeit hat er Werke geschaffen, die klärend und neue Wege anbahnend auf seine Zeitgenossen eingewirkt haben. Noch jetzt sind seine „Neue Darstellung der Logik“ und seine „Empirische Psychologie“ geschätzte Bücher der philosophischen Literatur. Von keinem Katheder ist die Herbartsche Philosophie, die er im Wesentlichen vertrat, mit so grossem Erfolg verkündet worden, als von dem des Leipziger Professors Drobisch. Namentlich seine Vorlesung über Logik war lange Jahre ein allgemein gehörtes Colleg, in dem sich die Studirenden aller Facultäten zusammenfanden. Generationen von Schulmännern verdanken ihm die festen Linien einer für ihre Pädagogik wichtigen rationellen Anschauungsweise. Als Senatsmitglied und Facultätsmitglied, als Rector im Jahre 1842, als Decan, als Director Actorum der philosophischen Facultät hat Drobisch in hohem Grade das Vertrauen seiner Collegen besessen. Lange Jahre war er einer ihrer Wortführer, und die Collegen hörten gern auf ihn, denn er war ein schlichter Professor, der die Angelegenheiten der Universität genau kannte und auf dem Herzen trug, der sicher und klar, oft mit feinem Witz, seine Ansicht aussprach, und der nicht nach Einfluss strebte, daher ihm dieser von selbst zufiel. Vom Jahre 1847 an sind umfangreiche Aktenstücke angefüllt von seinen Berichten und Berechnungen über die Allgemeine Universitäts-Wittwen- und Waisencasse, um deren Organisation er sich die grössten Verdienste erworben hat. 646

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Auch in den neuen Einrichtungen wirkt seine treue Arbeit nach. Seine ruhige pflichtgetreue Festigkeit zeigte sich auch in den Jahren der Reaction 1850, 1851, wo er zu den Ersten derer gehörte, die auch nach oben dem widerstanden, was sie nicht für Recht hielten. Er hat seiner Familie weit zurückgehende Tagebücher hinterlassen, die gewiss auch manche für die Geschichte unserer Universität wichtige Aufzeichnungen enthalten. Es war schön, dass Seine Excellenz Staatsminister von Seydewitz diesen ehrwürdigen Veteranen unserer Universität durch persönliches Erscheinen zur Begräbnissfeierlichkeit noch im Tode ehrte. Ein früher Tod entriss am 2. März d. J. in Athen den Privatdocenten für classische Philologie Dr. Karl Buresch der Wissenschaft, die grosse Hoffnungen auf seinen begeisterten Forschungseifer gesetzt hatte. Am 27. August 1862 in Hannover geboren, seit 1889 bei uns habilitirt, wurde er im Sommer 1892 von verhängnissvollem Leiden ergriffen, das ihn nöthigte, seine akademische Thätigkeit vorläufig abzubrechen. Von Athen aus hat er mit dem letzten Aufgebot seiner Kräfte noch zwei ergebnissreiche Forschungsreisen nach Kleinasien unternommen, bis er im Sommer 1895, eben zurückgekehrt, vollends zusammenbrach. Am 12. März 1896 schied jäh aus dem Leben der Privatdocent für Philosophie Dr. Hermann Wolff. Geboren am 3. August 1842 zu Peruschen in Schlesien war er seit 1874 an unserer Universität habilitirt; er entfaltete daneben als Director der hiesigen 2. Bürgerschule eine erspriessliche Thätigkeit im Schulamt. Noch einmal in den letzten Tagen meines Amtsjahres erwuchs mir die traurige Pflicht einen Collegen zur letzten Ruhe zu geleiten. Am 25. October verschied unerwartet an einem Gehirnschlag der ausserordentliche Professor der Medicin Dr. Ernst Friedrich Wenzel, als er sich rüstete, seine medicinischen Vorlesungen für Nichtmediciner, besonders Pädagogen, zu beginnen, für die er seine akademische Thätigkeit mehr und mehr eingerichtet hatte. Er war geboren am 14. September 1840 in Oderwitz bei Zittau, habilitirte sich 1868 an unserer Universität und wurde 1872 zum ausserordentlichen Professor befördert. Den Schwerpunkt seiner Lebensthätigkeit hatte er als ein in den Beamtenkreisen unserer Stadt hochgeschätzter Arzt gefunden. Durch Uebersiedelung nach einer anderen Universität haben wir in diesem Jahre einen Ordinarius nicht verloren. Zwar sollte der Professor der Landwirthschaft Dr. Kirchner an die Universität Bonn, der Professor der Astronomie Dr. Bruns an die Universität Berlin und der Professor der Geschichte Dr. Marcks an die Universität Tübingen berufen werden, aber es gelang der Königlichen Staatsregierung uns die hochgeschätzten Collegen zu erhalten. Die Blüthe und die Anziehungskraft einer Universität beruht jedoch nicht nur auf ihren Ordinarien, sondern zu einem beträchtlichen Theil auch auf ihren ausserordentlichen Professoren und ihren Privatdocenten, sei es dass diese Specialwissenschaften oder neueste Anschauungen zur Geltung bringen oder sonstwie zur reichlicheren Vertretung der Hauptdisciplinen in erspriesslicher Weise beitragen. Wir bedauern daher den Weggang hervorragender jüngerer Gelehrten, müssen ihnen aber doch andererseits in ihrem eigenen Interesse Glück wünschen zu ehrenvollen Berufungen, deren Ehre auch auf unsere Universität zurückfällt. Der ausserordentliche Professor der Juristenfacultät Dr. Friedrich Stein 647

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folgte einem Rufe als ordentlicher Professor an die Universität Halle, der ausserordentliche Professor der Medicin Dr. Karl Hess einem Rufe als ordentlicher Professor der Augenheilkunde an die Universität Marburg, der ausserordentliche Professor der Landwirthschaft Henry Settegast einem Rufe als ordentlicher Professor der Landwirthschaft an die Universität Jena; der Privatdocent der Medicin Dr. Gregor Urban ging als chirurgischer Oberarzt an das Marienkrankenhaus in Hamburg. Eine empfindliche Einbusse erlitt unsere Universität auch dadurch, dass Gesundheitsrücksichten den hochverdienten Senior der theologischen Facultät Geheimen Rath D. Luthardt veranlassten, von dem hervorragenden Posten, auf dem er vierzig Jahre lang gestanden und zur Blüthe unserer theologischen Facultät wesentlich beigetragen hat, zurückzutreten und seine akademische Thätigkeit auf das Halten von kleineren Vorlesungen zu beschränken. In gewohnter Fürsorge ist die Königliche Staatsregierung, auf die Vorschläge und Wünsche der Facultäten hörend, bemüht gewesen zu ersetzen und zu ergänzen, was uns verloren gegangen ist oder was uns fehlte. In der theologischen Facultät begrüssen wir als eine frische Kraft den ordentlichen Professor der systematischen Theologie und neutestamentlichen Exegese D. Otto Kirn, bisher ordentlicher Professor der evangelischen Theologie in Basel. Als Nachfolger Overbeck’s tritt mit diesem Semester bei uns ein der bisherige ordentliche Professor der Archäologie in Freiburg Dr. Franz Studniczka. Für Settegast ist als ordentlicher Professor der Landwirthschaft der Privatdocent an der Universität Halle Dr. Max Fischer berufen worden. An Stelle von Benno Schmidt ist der hiesige Privatdocent Dr. Paul Leopold Friedrich zum Director des chirurgischpoliklinischen Instituts ernannt worden, unter gleichzeitiger Beförderung zum ausserordentlichen Professor. Ausserdem sind in der medicinischen Facultät zwei ausserordentliche Fachprofessuren, die eine für Hautkrankheiten und Syphilis, die andere für Ohrenheilkunde und verwandte Fächer unter Ausstattung mit besonderen Universitätsinstituten neu organisirt und mit von auswärts berufenen Gelehrten besetzt worden, die erstere in der Person des bisherigen ausserordentlichen Professors der Medicin an der Universität Wien Dr. Gustav Riehl, die letztere in der Person des bisherigen ausserordentlichen Professors der Medicin an der Universität Breslau Dr. Adolf Barth. Allen diesen Collegen wünschen wir, dass sie sich bald in unsere Verhältnisse einleben und in denselben eine gedeihliche, auch sie selbst befriedigende Wirksamkeit finden mögen. Neu errichtet und vom Königlichen Cultusministerium mit den erforderlichen Mitteln ausgestattet ist ein paläontologisches Institut unter der Direction des ordentlichen Professors für historische Geologie und Paläontologie Dr. Credner. Dem Entgegenkommen des Directors des Mineralogischen Museums unserer Universität sowie der auch an dieser Stelle anzuerkennenden Opferwilligkeit in- und ausländischer Schwesteranstalten ist es zu danken, dass schon jetzt eine reichhaltige Sammlung vorweltlicher Thiere und Pflanzen für die paläontologischen und geologischen Studien zur Verfügung steht. Das ausgehende 19. Jahrhundert bringt Staunen erregende Enthüllungen über die Kraft der Elektricität. Zu den elektrophysischen Studien gesellen sich die elektro648

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chemischen Studien, die an unserer Universität von Professor Ostwald vertreten werden. Wir danken es unserer Regierung und den Ständen unseres Landes, dass zur Gründung eines besonderen Physikalisch-chemischen Instituts auf der Universität gehörigem Grund und Boden die Summe von 382 000 Mark bewilligt worden ist. Dadurch tritt unsere Universität auch auf diesem neuesten Gebiete der Forschung mit in die erste Reihe. Das neue Institut soll mit dem nächsten Wintersemester der Benutzung übergeben werden. Zu dem ausserordentlichen Etat für die Jahre 1896/1897 gehören auch 70 500 Mark zur Einführung elektrischer Beleuchtung und Nutzbarmachung der elektrischen Kraft in anderer Weise in den medicinischen und naturwissenschaftlichen Instituten, sowie 37 500 Mark zur Erbauung eines Speichers für die Früchte vom Versuchsfelde des Landwirthschaftlichen Instituts. Von sonstigen Veränderungen innerhalb des Lehrkörpers der Universität ist noch Folgendes zu verzeichnen: Der ausserordentliche Professor der Medicin Dr. Soltmann hat den Charakter eines ordentlichen Honorarprofessors der medicinischen Facultät erhalten. Ferner sind in derselben Facultät ausser dem schon erwähnten Dr. Friedrich sechs Privatdocenten zu ausserordentlichen Professoren ernannt worden, die Doctoren der Medicin Wilhelm His, Ernst Moritz Romberg, Karl Hess, Karl Eigenbrodt, Wilhelm Schön und Otto Fischer, letzterer bisher Privatdocent für physiologische Physik in der philosophischen Facultät. In der philosophischen Facultät sind acht Privatdocenten zu ausserordentlichen Professoren ernannt worden, die Doctoren der Philosophie Conrad Cichorius, Otto Immisch, Max Le Blanc, Arthur Looss, Gustav Buchholz, Georg Witkowski, Georg Holz und Arthur Schneider. Die Zahl der Docenten unserer Universität ist durch neue Habilitationen in fortwährendem Wachsthum begriffen. Während aus den Kreisen der ausserordentlichen Professoren und Privatdocenten nur vier wegberufen worden sind, haben sich in der medicinischen Facultät fünf, in der philosophischen Facultät sechs junge Gelehrte neu habilitirt, in der medicinischen Facultät die Doctoren der Medicin Ernst Paul Friedrich, Emil Krückmann, Karl Menge, Bernhard Kroenig, dazu der inzwischen zum ausserordentlichen Professor beförderte Dr. Karl Eigenbrodt, der zunächst als Privatdocent von Bonn hierher übergesiedelt war; in der philosophischen Facultät die Doctoren der Philosophie Berthold Rassow für Chemie, Otto zur Strassen für Zoologie und Vergleichende Anatomie, Gustav Störring für Philosophie, Oscar Knoblauch für Physik und physikalische Chemie, Paul Schwarz für orientalische Sprachen, Theodor Bloch für indische und iranische Sprachen und Armenisch, auch hat Dr. Hugo Riemann seine Wirksamkeit als Privatdocent der Musikwissenschaft von Neuem aufgenommen. Rite promovirt wurden in der theologischen Facultät 12 Licentiaten, in der juristischen Facultät 113 Doctoren beider Rechte, in der medicinischen Facultät 196 Doctoren der Medicin, in der philosophischen Facultät 124 Doctoren der Philosophie (26 in der I., 64 in der II., 34 in der III. Section). Honoris causa promovirte die theologische Facultät den Pfarrer Friedrich Heinrich Immisch in Göda in der Oberlausitz zum Doctor der Theologie, die medicinische Facultät den Medicus publicus Ernst Bernhard Bauer aus Markneukirchen zum Doctor der Medicin; die philoso649

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phische Facultät creirte, wie schon erwähnt, Seine Excellenz den Staatsminister von Seydewitz zu ihrem Ehrendoctor. Zwei hochverehrte Professoren der philosophischen Facultät feierten in meinem Amtsjahr ihr 50jähriges Doctorjubiläum, Geheimer Rath Dr. Leuckart das medicinische am 13. December 1895, Geheimer Hofrath Dr. Krehl das philosophische am 31. März 1896. Beide empfingen den feierlichen Glückwunsch der Universität, der vom Rector und den vier Decanen dargebracht wird. In seltener Frische erlebte am 4. November 1895 seinen 80. Geburtstag Geheimer Rath Dr. Adolf Schmidt; den 70. Geburtstag feierte, wie schon erwähnt, am 3. März 1896 Geheimer Rath Dr. Benno Schmidt, und am 2. October 1896 Geheimer Hofrath Dr. Wiedemann. Fünfundzwanzigjährige Jubiläen sind noch nicht zur officiellen Anerkennung gelangt, doch wurden einige derselben von Schülern und Freunden der Jubilare festlich begangen. Aus den Erträgnissen unserer herrlichen Albrechtstiftung sind in diesem Jahre 12 160 Mark zur Unterstützung von Habilitanden, zur Unterstützung von unbesoldeten Privatdocenten und ausserordentlichen Professoren, zur Unterstützung wissenschaftlicher Arbeiten und wissenschaftlicher Reisen vertheilt worden. Grössere Stiftungen, die der Universität zu freierer Verfügung zugeführt worden wären, habe ich nicht zu verzeichnen. Doch sei dankbar der hier verstorbenen Frau verw. Dr. med. Hammer gedacht, die neben einer für die Familie des verstorbenen Oberstaatsanwalts Oberjustizrath Hoffmann bestimmten Stiftung von 13 500 Mark, die zum Theil zu einer Convictstelle, zum Theil zu einem Familienstipendium verwendet werden sollen, 600 Mark unserer Augenklinik vermacht hat. Als Collator für die Familienstiftung ist Landgerichtsdirector Georg Hoffmann in Leipzig bestellt. Unsere Universität gilt im Volksmund als reich, und sie ist es auch, insofern ihr Besitz auf 14–15 Millionen Mark geschätzt wird. Die Verwaltung dieses Vermögens ist seit 1833 fast ganz in die Hände der Regierung übergegangen, die Erträgnisse desselben werden zum laufenden Unterhalt der Universität verwendet und bilden da nur einen Theil der alljährlich nöthigen Summe. Für das laufende Jahr 1896 sind die eigenen Einnahmen der Universität mit 435 152 Mark angesetzt, das Gesammterforderniss beträgt aber 2 051 220 Mark, so dass der Staat 1 616 068 Mark zuzuschiessen hat. Dazu ist aber noch für 1896/97, ausser dem Universitätsneubau, ein ausserordentlicher Etat von 900 000 Mark bewilligt worden, dessen einzelne Posten im Vorausgehenden specificirt worden sind. Vom Reichthum der Universität steht den akademischen Behörden, abgesehen von der Albrechtstiftung, die von einem Leipziger Professor herrührt, nicht allzuviel für die unmittelbare Förderung der Wissenschaft und ihrer Vertreter zur besonderen Verfügung. Es sind vorwiegend Stipendien für Studenten. Wenn wir auch glücklich sind, sie zu haben und deren gern noch mehr hätten, so unterliegen doch auch sie mannigfachen Einschränkungen, so besonders die Familienstipendien, die eigentlich mehr gewissen Familien als direct der Universität zu Gute kommen. Wovon wir gern mehr hätten, das sind Stiftungen, deren Erträgnisse den Organen unserer Universität in bestimmter Richtung zu freier Verfügung ständen: dem Rector oder dem Senate oder den Facultäten 650

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zur Unterstützung von kärglich oder gar nicht besoldeten Professoren und Docenten, der Universitätsbibliothek zu einem Fond für ausserordentliche Anschaffungen, der Gesellschaft der Wissenschaften, um wissenschaftliche Unternehmungen zu fördern, um den Druck schwerer Arbeiten zu ermöglichen. Den Reichen unseres Volkes, den Rechtsbeiständen, die die Reichen zu berathen haben, sei ans Herz gelegt, dass auch solche unmittelbar zur Förderung der Wissenschaft gestiftete und den Händen ihrer berufenen Vertreter anvertraute Gelder zum Segen der Menschheit zu wirken vermögen. Die Fürsten, die Regierung und die Stände des Landes haben unsere Universität gehegt und gepflegt. Aber es ist nicht nur die Tüchtigkeit der Professoren und die reiche Ausstattung der Universität, es ist nicht bloss unsere Stadt in ihrer centralen Lage und mit allem, was sie bietet, dass nun schon seit über zwei Jahrzehenden die akademische Jugend in hellen Schaaren hier zusammenströmt, sondern es kommen auch die politischen Verhältnisse in Betracht. Diese Blüthe unserer Universität ist erst durch die Einigung Deutschlands möglich geworden. Wohl ist Leipzig die sächsische Landesuniversität, aber seit dem Jahre 1871 ist es mehr denn zuvor zugleich eine alldeutsche Universität geworden. Am 17. Januar dieses Jahres feierte die Universität durch einen grossartigen Commers im Krystallpalast das 25jährige Jubiläum der Gründung des neuen deutschen Reichs: es war dies zugleich ein Jubiläum der Blüthe unserer Universität. Unter dem Präsidium von Rector und Prorector nahmen die Vertreter der Studentenschaft die Feier in die Hand und luden dazu die akademischen Lehrer und hervorragende Männer der Stadt ein. Alle Verbindungen und Vereine waren dabei, keine Corporation schloss sich aus, auch die Nichtverbindungsstudenten betheiligten sich in grosser Zahl. Gegenüber dem Parteihader im öffentlichen Leben hat die Leipziger Studentenschaft gleichsam vorbildlich gezeigt, dass, wenn es gilt, alle Gegensätze schweigen, und ganz Deutschland geeint dastehen kann. Die Einheit Deutschlands von der geeinten Studentenschaft gefeiert! Ehre unserer Studentenschaft! Es hat sich bei dieser Gelegenheit gezeigt, dass der eigentliche Halt der Studentenschaft als eines Ganzen in den mannigfaltigen Verbindungen und Vereinen zu suchen ist, wenn sich diese, wie es erfreulicher Weise der Fall ist, zu grossen Gruppen zusammenschliessen. Alle Gruppen haben ihr Verdienst an der damals zu Stande gekommenen Einigung, wenn auch vielleicht die eine mehr Entgegenkommen als die andere gezeigt hat. Es hat sich ferner bei dieser Gelegenheit als wünschenswerth herausgestellt, einen Modus zu suchen, nach dem auch die keiner Verbindung und keinem Vereine angehörigen Studenten auf geregelte Weise bei akademischen Festlichkeiten eine Vertretung finden können. Ein Versuch dieser Art ist die unter dem Namen „Leipziger Finkenschaft“ im vorigen Semester hervorgetretene Organisation. Möchte es gelingen, ihr eine Form zu geben, die Dauer verspricht, im Anschluss an die bestehenden Verbindungen und Vereine, nicht im Gegensatz zu denselben! Der Verkehr mit der Studentenschaft hat mir, wie jedem meiner Amtsvorgänger nur zur Freude gereicht. Der Tod verschont auch die Jugend nicht, die Zahl der Gestorbenen in der Studentenschaft beläuft sich dieses Jahr auf zwölf. Die Zahl der zu 651

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meiner Kenntniss gelangten schweren Vergehen war nicht gross: 1 Student musste relegirt werden, 3 erhielten das Consilium abeundi. Was die Frequenz anlangt, so kann ich Erfreuliches vermelden. Vom 1. November 1895 bis zum 30. October 1896 sind von mir immatriculirt worden 1788 Studirende, gegen im Vorjahre 1736 Studirende, was ein Mehr ergibt von 52 Studirenden. Im Sommersemester 1896 waren immatriculirt 2876 Studirende. Davon haben die Universität verlassen 572 Studirende, bleiben 2304 Studirende. Neuimmatriculirt vom 22. Mai bis 30. Oktober 1896 700 Studirende, so dass sich als gegenwärtiger Bestand ergiebt 3004 Studirende, das sind 82 mehr als im gleichen Tage im Vorjahre, an dem der Bestand 2922 betrug. Ich nahe mich dem Ende meines Berichtes. Ich danke Allen, die meine Bestrebungen unterstützt haben, in Sonderheit meinen Herren Collegen, die mir in der Führung des gern übernommenen Amtes ihre treue Unterstützung haben zu Theil werden lassen; ich danke den Herren Commilitonen, die das bei der Immatriculation gegebene Versprechen, dem Rector und den Gesetzen der Universität Gehorsam leisten zu wollen, gehalten haben. Nachdem der Rector noch über die eingegangenen Preisarbeiten und die neugestellten Preisaufgaben, wovon ein besonderes Programm handelt, berichtet hatte, nahm er dem neuen Rector den Amtseid ab und übergab ihm die Insignien seiner Würde. ***

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Emil Friedberg (1837–1910)

31. October 1896. Rede des antretenden Rectors Dr. iur. Emil Friedberg.

Das kanonische und das Kirchenrecht. Hochansehnliche Versammlung! Indem ich als der 909te Rektor dieser Universität das Amt antrete, zu welchem mich das Vertrauen meiner Amtsgenossen erwählt hat, bitte ich um die Erlaubniss von dem Rechte reden zu dürfen, dessen Erforschung ich mein Leben gewidmet habe, dem kanonischen und dem Kirchenrechte. Amtsgenossen erwählt hat, bitte ich um die Erlaubniss von dem Rechte reden zu dürfen, dessen Erforschung ich mein Leben gewidmet habe, dem kanonischen und dem Kirchenrechte.Was das sei ist dem Laien gewöhnlich dunkel, und der Satz, den ein verehrter Kollege aufgestellt hat, das Kirchenrecht stehe im Widerspruche zum Wesen der Kirche ist noch lange nicht so tief in die allgemeine Ueberzeugung eingedrungen, dass nicht die vulgäre Meinung in dem Kanonisten einen Mann der Kirche erblickte, in dem Lehrer des kanonischen Rechts einen Theologen. Freilich ist das Jahrhunderte lang der Fall gewesen, aber seit über 800 Jahren hat sich das kanonische Recht aus den theologischen Disciplinen losgelöst und ist ein selbständiger Zweig der Jurisprudenz geworden. I. Das Wort κανών wird schon in der antiken Literatur gebraucht für Richtschnur, Massstab. In der altchristlichen Zeit sind die Bücher der heiligen Schrift als die Richtschnur für das Leben der Christen angesehen worden. Daher wurde canon die typische Bezeichnung für jene. Aber bald ist nicht nur das Rechtsprinzip, welches in der Schrift gesucht wurde, mit diesem Namen belegt, sondern sind auch die einzelnen Sätze, die als Folgerungen aus ihm gezogen wurden, canones genannt worden. Solche wurden festgestellt von den Synoden oder Concilien. Denn sobald die christliche Glaubensgemeinschaft sich auf die Dauer einzurichten begonnen hatte, war eine Organisation unumgänglich geworden und Organisation ist Rechtsbildung. Unsere Kenntniss von dieser ist ungemein lückenhaft. Handelt es sich doch um Verbände, die im Verborgenen ihr Dasein führten und sich um so mehr mit dem 653

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Schleier des Geheimnisses zu verhüllen trachteten, je mehr sie das Uebelwollen der Welt zu fürchten hatten. Darum sind auch alle Versuche der Wissenschaft diese Schleier zu lüften zweifelhafte geblieben. Aber so viel kann als feststehend angesehen werden: Die einzelnen Gemeinden sind nicht gleichmässig verfasst gewesen. Nationale Art, Einflüsse des Juden- und des Heidenthums, örtliche Verhältnisse haben sich als bestimmend erwiesen. Schliesslich ist ein Typus der vorherrschende geworden, dass in jeder Gemeinde ein Episkope die Leitung führte, mit Aeltesten zur Seite und unterstützt von Helfern. Die Geschichte der kirchlichen Rechtsentwickelung bietet für diese eigenthümliche Erscheinung, dass verschiedene Verfassungsformen schliesslich zu einer einheitlichen verschmelzen, bemerkenswerthe Beispiele, die sich unter dem hellen Lichte der modernen Geschichte vollzogen haben und Rückschlüsse zulassen auf jene, ich möchte sagen prähistorische Periode. Die evangelische Konsistorialverfassung ist in Kursachsen geboren worden; aber kaum erzeugt hat sie im ganzen lutherischen Deutschland Platz gegriffen. Das Urbild der modernen Verbindung der Konsistorial- mit der Presbyterial-Synodalverfassung ist die Rheinisch-Westphälische, welche aus bestimmten historischen Vorbedingungen heraus erwachsen ist und welche doch in fast alle deutschen Landeskirchen ihren Einzug gehalten hat. So müssen wir uns auch die altchristliche Entwickelung denken, wobei es hier unentschieden bleiben mag, ob die einzelnen Elemente der Verfassung in Klein-Asien oder in Aegypten oder in Rom zur Entwickelung gekommen sind. Zur Zeit, wo der Staat in freundliche Beziehungen zum Christenthume trat, also Anfangs des IV. Jahrhunderts, ist die Gleichmässigkeit der Organisation schon eine so grosse, dass der Satz aufgestellt werden konnte, sie sei gleich von Anfang an in dieser Weise vorhanden gewesen. Aber irgend ein Bindeglied zwischen den einzelnen Gemeinden bestand ursprünglich nicht, und doch standen sie in lebhaften Beziehungen zu einander und mussten das Bedürfniss empfinden, auch gleiche Grundsätze für den Glauben und das Leben auszubilden. Das zu diesem Behufe geschaffene Organ war die Synode, auf welcher die Abgesandten von Gemeinden gleicher Gegend, gleicher Nationalität, desselben politischen Verbandes beriethen und beschlossen. Deren Ergebnisse waren die canones, und solche sind uns schon aus dem Anfange des IV. Jahrhunderts erhalten, noch vor der grossen Synode von Nicaea, auf welcher i. J. 325 zum ersten Male die Gemeinden des gesammten römischen Reiches, der οἰκουμένη zusammentraten. Freilich sind diese Rechtsnormen nicht die einzigen gewesen. Die Sätze des alten und noch mehr des neuen Testamentes, wahre und erdichtete Aussprüche der Apostel, Aeusserungen heiliger Männer, die in Abschriften verbreitet wurden und schliesslich auch Gesetze des römischen Staates sind hinzugekommen. Von der grössten Bedeutung aber haben sich die Aussprüche der römischen Bischöfe erwiesen. Die Christengemeinde in Rom war sehr alt. Sie war die einzige im Abendlande, an welcher ein Apostel – Paulus – gewirkt hatte, und eine uralte Ueberlieferung führte ihre Stiftung auf eine anderen Apostel – Petrus – zurück. Sie enthielt gebildete, ja den vornehmen Kreisen angehörige Elemente. Sie hatte früh vermögende 654

Antrittsrede 1896

Mitglieder, die ihre reichlichen Mittel den Gemeindezwecken zur Verfügung stellen konnten. Aber vor allen Dingen: sie war die Gemeinde der Welthauptstadt, der ewigen Roma, deren Name schon auf alle Völkerstämme einen eigenartigen Zauber ausübte. Und in ihr lebte der römische Geist. Es hält ja schwer die Seele eines Volkes zu analysiren. Aber man wird sagen, dass zwei Momente dem Römerthume charakteristisch gewesen sind. Zunächst der Herrschaftsgedanke. Der Name der ursprünglich kleinen Landstadt war der des Weltreiches geworden. Von hier aus war der Erdkreis bezwungen worden. Es war das erreicht durch eine feste zielbewusste Politik, durch eine festgefügte Heeresverfassung. Man kann sagen dass der militärisch-disciplinirte Geist der des alten Roms gewesen ist. Und dieser Geist war dem Gemeinwesen nicht verloren gegangen, als das Reich selbst zersplittert worden war, als fremde Barbarenhorden den Nimbus der Unbezwinglichkeit zerstört hatten. Nur dass er sich vom politischen auf das kirchliche Gebiet übertrug. Ob, wie die katholische Kirche behauptet, der römische Bischof von jeher an der Spitze der ganzen Kirche gestanden, ob er erst in langjährigem Streben dies Ziel erreicht habe: Es geht uns an dieser Stelle nichts an. Aber festzuhalten ist, dass der römische Bischof in der That eine Weltstellung gewonnen hat, als einheitliches Haupt der Gesammtkirche. Sicher ist ihm die römische Staatspolitik dabei hülfreich gewesen, aber die so erreichte kirchliche Centralisation hat die staatliche lange überdauert und wirkt fort bis auf den heutigen Tag. Aber das Römerthum ist auch die Verkörperung der Jurisprudenz. Verschiedene Gaben hat die gütige Natur den einzelnen Völkerstämmen in die Wiege gelegt; wie den Griechen die künstlerische so den Römern die juristische Begabung. Sie sind das klassische Volk der Jurisprudenz gewesen. Und diese beiden Elemente, das militärische und das juristische drücken sofort der römischen Kirchengemeinde das eigenthümliche Gepräge auf und allmählich der gesammten katholischen Kirche. Schon das Schreiben, welches die römische an die korinthische Christengemeinde richtet, und welches unter dem Namen des ersten Clemens-Briefes als eines der ältesten christlichen Dokumente überliefert ist, hat den spezifisch römischen Charakter. Es predigt die Unterordnung unter die amtliche Autorität; es athmet den Geist der militärischen Disciplin, der einst die Welt bezwungen hatte. In Rom ist dann das Taufsymbol fixirt worden; hier haben die kanonischen Schriften ihren formellen Abschluss gefunden; hier ist die Verfassungsorganisation vervollständigt worden, hier haben die Bischöfe Fragen des Rechts und der Disciplin autoritativ zu entscheiden unternommen. Freilich dass diese Entscheidungen in der ganzen Kirche als Rechtsnormen angenommen wurden, hing noch von zwei weiteren Voraussetzungen ab. Einmal: sie mussten gesammelt und dadurch zugänglich gemacht werden. Dies ist schon im V. Jahrhundert durch einen in Rom lebenden skythischen Mönch, Dionysius bewirkt worden, der nicht nur die Concilien-Canones in die lateinische Sprache übertrug – die ursprünglich griechische Kirchensprache war in Rom allmählich in Vergessenheit gerathen – sondern auch Papstbriefe zusammenstellte. Dann aber: es musste die römische Autorität Seitens der gesammten Kirche anerkannt werden. Das ist in langsamer, aber ununterbrochener Arbeit mehrerer Jahrhunderte schliesslich erreicht worden. 655

Emil Friedberg

Aber obgleich so die Kirche immer mehr Rechtsanstalt wurde, wie sie schon vorher Sakramentsanstalt geworden war, so war doch von einer eigentlichen kirchlichen Jurisprudenz noch keine Rede. Nur dass zu der philosophisch-theologischen Ausbildung, welche den geistlichen Berufsstand theils hervorgerufen, theils zur Vertiefung der immer unausfüllbarer werdenden Kluft zwischen ihm und dem Laienstande beigetragen hatte, jetzt auch die rechtliche Ausbildung hinzutrat. Aber beide wurden in denselben Unterrichtsanstalten, beide wurden von Klerikern gewährt und waren nur für solche erforderlich. Doch bezogen sich die Normen des kirchlichen Rechts nicht blos auf die Kirche und deren Organisation, sondern versuchten auch das Leben der Laien zu erfassen und zu regeln. Denn nach kirchlicher Auffassung war das irdische Leben nur eine Vorbereitung für das Jenseits, zu dem die Kirche den Schlüssel besass. Nur wer sein Leben führte, wie die Kirche das lehrte, konnte hoffen das ersehnte Ziel zu erreichen. Darum stellte die Kirche Regeln für das menschliche Einzel- und Zusammenleben auf von der Wiege bis zur Bahre. Dabei liegt es in dem Wesen der Kirche, dass eine feste Grenzlinie zwischen Moral und Recht nicht gezogen wurde. Nicht nur die Thaten sondern auch die Gedanken der Menschen sollten der Lehre gemäss sein, und der erzieherische Zwang der kirchlichen Mutter suchte das fehlende Kind zurechtzuweisen, gleichviel ob es Rechts- oder Sittenvorschriften übertreten hatte. Aber wenn auch die rechtliche Ausgestaltung von Sittenvorschriften, das zwitterhafte Ineinanderfliessen von Recht, Sitte und Dogma der katholischen Kirche eigenthümlich geblieben ist, so gelangte sie doch auch zur Ausbildung eines wirklichen für Laien massgebenden Rechtes. Das hängt mit der Entwickelung der kirchlichen Gerichtsbarkeit zusammen. Es ist hier nicht der Ort darzustellen, wie sich aus der bischöflichen Schieds- eine Civilgerichtsbarkeit, aus der Busspraxis und Disciplinargewalt eine kirchliche Strafgerichtsbarkeit entwickelt hat. Aber zweierlei muss hervorgehoben werden. Einmal, dass die Kirche, abgesehen von den Prozessen der Kleriker, nur für bestimmte Rechtssachen eine Zuständigkeit beansprucht hat; daraus erklärt sich der fragmentarische Charakter der kirchlichen Gesetzgebung auf dem Gebiete des Civil- und Strafrechts. Und andererseits, dass die Erlangung der Gerichtsbarkeit auch mit Nothwendigkeit zu einer Normirung des Civil- und Strafprozesses führen musste. Diese ist erfolgt wesentlich auf der Grundlage römisch-rechtlicher Gedanken; doch haben auch deutsches Recht und original-kirchliche Auffassungen Elemente abgegeben, und dieser kirchliche Prozess hat dem deutschen staatlichen seine Grundzüge geliehen bis in die jüngsten Zeiten hinein. Aber ehe noch die Kirche eine eigene Gerichtsbarkeit erreicht hatte, war schon die Loslösung des kirchlichen Rechtes von der Theologie ins Werk gesetzt worden. Ob der Sturm der Völkerwanderung, nachdem er die Länder antiker Kultur durchbraust hatte, auch den römischen Rechtsunterricht entwurzelt habe, ist in neuerer Zeit streitig geworden. Die praktische Geltung des römischen Rechtes war freilich nie ganz aufgehoben gewesen. Nach ihm lebten die Römer in den germanischen Reichen, ja es wurde sogar für diese durch germanische Könige kodifizirt. Nach ihm lebte auch der gesammte Klerus, zuerst wohl weil er wesentlich aus Römern bestanden hatte. Dann aber war in Italien und besonders in Bologna um die Wende 656

Antrittsrede 1896

des XI. Jahrhunderts ein reges Studium des römischen Rechtes erwacht und eine Universität erwachsen, die bald in gleicher Weise von Papst- und Kaiserthum begünstigt wurde. In Bologna aber, im Kamaldolenser Kloster St. Felix lebte auch ein Mönch Namens Gratian. Von seinen Lebensschicksalen ist uns so gut wie Nichts bekannt. Aber um die Mitte des XII. Jahrhunderts fertigte er ein Werk, ungefügig, roh, geschmack- und kritiklos, welches doch epochemachend gewirkt hat. Schon vorher war eine kirchenrechtliche Literatur erwachsen gewesen. Schon der Erzbischof Hinkmar v. Rheims hatte im IX. Jahrhundert Gutachten geschrieben, die von eingehender Rechtskenntniss Zeugniss ablegen, und die durch den Investiturstreit hervorgerufene Literatur strotzt von rechtlichen Erörterungen. Aber schliesslich waren das doch alles nur Gelegenheitsschriften gewesen. Dann waren Sammlungen veranstaltet worden, die kirchenrechtliche Normen zusammenstellten theils für den praktischen Gebrauch, theils auch wohl für Zwecke der Unterweisung. Eine grosse Zahl solcher ist uns bekannt; vielleicht ist eine noch grössere zu Grunde gegangen oder harrt in den Bibliotheken des glücklichen Entdeckers. Alle aber boten sie dem Benutzer dieselben Schwierigkeiten dar. Denn da sie Rechtsnormen der verschiedensten Zeiten und der verschiedensten Geltungsgebiete zusammengestellt hatten, so bargen sie zahlreiche Widersprüche in sich, die nur auf dem Wege einer historisch-kritischen Betrachtung zu lösen gewesen wären. Ein historisch-kritischer Kopf war nun freilich Gratian auch nicht, aber er war in der Scholastik seiner Zeit genugsam beschlagen, um sich zu getrauen, im Wege logischer Operationen die wirklichen und vermeintlichen Widersprüche auszugleichen. Darum verfasste er ein Buch, in welchem er ein ungeheueres Kanonenmaterial aus früheren Sammlungen systematisch zusammenstellte und dieses durch kurze Bemerkungen unter einander in Verbindung und in Einklang zu setzen unternahm. Als einen mächtigen Grundriss mit Quellenstellen möchten wir es charakterisiren. Ob Gratian an der Hand dieses auch gelehrt hat? Direkte Zeugnisse fehlen. Aber einmüthig wird er in der Folgezeit als magister, d. h. als Lehrer bezeichnet; spätere Autoren nennen ihn als ihren Lehrer, und schriftstellerische Werke, nicht lange nach ihm verfasst, tragen deutlich das Gepräge, dass sie Lehrzwecken dienen sollten. So treten denn den Legisten, d. h. den Lehrern des römischen Rechtes, die Dekretisten, die Lehrer des kanonischen an die Seite, auch die letzteren Glieder der Rechtsschule und im römischen Rechte wohl erfahren. Ihre Bedeutung kann nicht stark genug gedacht werden. Denn nicht nur, dass sie das Recht lehrten: sie bildeten es auch weiter aus; sie schufen auch neues, ohne doch irgendwie mit einer gesetzgebenden Gewalt ausgerüstet zu sein. Um das begreiflich zu machen, muss ich etwas weiter ausholen. Wenn Gratian den Konzilsschlüssen, den canones die päpstlichen Rechtsentscheidungen, die decretales epistolae als ebenbürtig und gleichwerthig an die Seite gestellt hatte, so war er nur von dem Geiste seiner Zeit beseelt gewesen, in welcher das Papstthum die absolute Herrschaft über die Kirche erlangt hatte. Tragen doch selbst die Konzilsschlüsse von dieser Periode an das Gepräge päpstlicher Erlasse. Sie bekennen sich als vom Papste ergangen unter Zustimmung des Konzils. Das Papstthum centralisirt so die Rechtsbildung. Nicht freilich in der Weise, dass auch nur ein Papst den Versuch gemacht hätte, das gesammte geltende Recht 657

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zu kodifiziren. Gegen darauf abzielende Anmuthungen hat sich der päpstliche Stuhl bis auf den heutigen Tag stets ablehnend verhalten. Aber sie wünschten und erreichten es – dabei ist auch der Einfluss Gratians in die Wageschale gefallen – dass die Bischöfe aller Theile der Christenheit ihre rechtlichen Bedenken in Rom zur Lösung vorlegten. Sie entschieden die einzelnen streitigen Fälle; sie kontrolirten, dass die einmal gegebene Entscheidung auch für die Zukunft als Norm betrachtet werde. Eine ungeheuere geistige Arbeit haben sie nach dieser Richtung hin geleistet, und staunend überblicken wir die Fülle von rechtlichen Entscheidungen, welche die Päpste, selbst in den Zeiten, wo die grössten politischen Fragen sie ganz in Anspruch nahmen, mit reifer Ueberlegung und feinem juristischen Takte Woche für Woche, ja Tag für Tag zu erlassen niemals ermüdeten. Aber gerade bezüglich dieser Ausflüsse der päpstlichen Allmacht zeigte sich die Bedeutung und Gewalt der Dekretistenschule. Nicht nur, dass sie aus der einzelnen Entscheidung das Prinzip, den allgemeinen Rechtssatz zu entwickeln hatten: Nein, ob sie die päpstliche Dekretale kannten – und wer konnte alle kennen, die aus der unablässig sprudelnden Quelle päpstlicher Rechtsweisung entflossen! – ob sie sie für ächt hielten – zahlreiche Fälschungen liefen um – ob sie sie als geeignet erachteten für die Zwecke des Unterrichts, das Alles war ihrem subjektiven Ermessen anheimgestellt, und damit auch, was allgemein in der Kirche gelten sollte. Denn was die Dekretisten nicht lehrten, wurde nicht gelernt und darum auch in der Praxis nicht angewendet. Sie bildeten so eine Instanz über dem Papstthum, und selbst ein so starkgewaltiger Mann wie Innocenz III. hat diese ihre Stellung anerkannt, indem er eine Anzahl seiner Dekretalen zusammenstellen liess und sie den Dekretisten in Bologna übersandte, damit sie deren Inhalt lehren sollten, und damit dieses so in den Gerichten Beachtung fände. Ausser dieser Sammlung von Innocenz haben noch zahlreiche andere – ich selbst gedenke in nächster Zeit mehrere bisher unerforschte bekannt zu machen – von Gratian übergangenes und der Zeit nach späteres Rechtsmaterial zusammengestellt, aber die Dekretistenschule hat von allen diesen nur noch drei angenommen und dem Unterrichte zu Grunde gelegt. Es war klar, dass das Papstthum, damals auf dem Gipfel seiner Macht, solche Bevormundung Seitens der Rechtsschule auf die Dauer nicht ertragen konnte. So hat denn schon Honorius III. die von ihm veranstaltete Sammlung seiner Dekretalen der Universität Bologna als Gesetzsammlung anzusehen befohlen, und Gregor IX. publizirte endlich i. J. 1234 eine umfassende Auswahl aus den früheren Sammlungen mit dem gemessenen Befehle an die Universität, sich nur dieser in Zukunft zu bedienen, und keiner, selbst päpstlichen Rechtsentscheidung, die er übergangen habe, noch irgend welche Berücksichtigung zu gewähren. Damit war den Dekretisten der Nerv ihrer Thätigkeit durchschnitten. Jetzt wurden sie zu dem positiven Recht in dasselbe Verhältniss gesetzt, in welchem die Legisten zu dem römischen standen und wir modernen Universitätslehrer zu dem heutigen stehen. Auf diesen gesetzgeberischen Akt Gregors IX. sind noch zwei weitere von Bonifaz VIII. und Clemens V. gefolgt. Damit ist diese Art der Rechtsnormirung zum 658

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Abschlusse gelangt, und die Gesetzbücher der genannten drei Päpste einschliesslich des Decretum Gratiani sind unter dem Namen des Corpus iuris canonici zusammengefasst worden. Damit ist aber auch der Begriff des kanonischen Rechtes abgeschlossen gewesen. Er ist ein rein formaler. Alles was im Corpus iuris canonici steht ist kanonisches Recht, keine Rechtsnorm, die ausserhalb steht, ist diesem zugehörig. Nun hat ja freilich die Rechtsbildung in der katholischen Kirche seit Anfang des XIV. Jahrhunderts nicht völlig gestockt. Sie fliesst fort bis auf den heutigen Tag, und sie hat sogar zu gewissen Zeiten, wie auf dem Trienter Konzil einen starken Aufschwung genommen. Aber sie hat der staatlichen allmählich das Feld räumen und sich auf die spezifisch kirchlichen Verhältnisse beschränken, ja sie hat sogar das Eindringen staatlicher Normen in diese ertragen müssen. Dem entsprechend haben auch die Kanonisten die Erörterung aller derjenigen Rechtsnormen, die in das jetzt staatliche Gebiet einschlagen, den Lehrern des Privatund Strafrechts sowie der Prozesse überlassen. Sie sind Kirchenrechtslehrer geworden, die schon aus dem Grunde den Namen von Kanonisten kaum noch verdienen, weil Niemand seine Studien auf den Inhalt des Corpus iuris canonici begrenzen kann. II. Gehen wir jetzt auf den Inhalt des kanonischen Rechtes näher ein und fragen wir, was es für die Menschheit und die Rechtsentwickelung geleistet habe, so müssen drei Momente als besonders charakteristische hervorgehoben werden. Das kanonische Recht ist kosmopolitisch, ist ideal-christlich, ist konservativ. 1. Gleich in den Anfängen der Kirche war die grosse Frage zur Entscheidung gekommen, ob die Kirche ein national-jüdischer oder ein universeller Verband sein sollte. Der Paulinische Gedanke hatte dabei gesiegt, dass der neue Glaube allen Völkern gepredigt werden müsse. Seitdem waren sie alle zur Gemeinschaft des Heiles herangezogen worden, Römer und Griechen, Kelten, Germanen und Slaven. Alle bekannten sie denselben Glauben, lebten sie in gleich verfassten kirchlichen Verbänden, unterstanden sie dem gleichen Recht. Der Forscher weiss, wie schwer diese Uniformität herzustellen gewesen ist, wie vorsichtig und langsam die Kirche dabei verfahren musste. Wie sie um nur erst festen Fuss zu fassen nationalen Anschauungen in Glauben, Verfassung, Recht Rechnung getragen hat, wie sie namentlich nationale Rechtsgedanken gewissermassen aufgesogen hat, um sie dann durch den Kanal des kanonischen Rechtes wieder auf die Nationen zurückströmen zu lassen. Gerade das machte die Völker diesem Rechte gegenüber fügsam. In fast jedem Rechtsinstitute fanden sie Elemente, die von ihrem Fleisch und Bein waren. Wenn dem Deutschen für die Absolution von einer Sünde Geld abgefordert wurde, so sah er darin nichts Anstössiges und Befremdendes. Er war gewöhnt, die Rechtsverletzung mit einer Geldsumme zu büssen. Und dem Romanen spiegelte die Kirchenverfassung in vielen Beziehungen die Organisation seines untergegangenen Staates wieder. Die kirchliche Diözese entsprach der römischen civitas, der Metropolit sass in der Provinzialhauptstadt, die Provinzialsynode war das getreue Abbild der politischen Versammlung, welche periodisch in der Provinzialhauptstadt zusammen659

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getreten war. Nur soweit die Kirche jüdische Rechtselemente annahm und den Völkern auferlegen wollte, stiess sie auf einen nationalen Widerstand, den sie zuweilen gar nicht oder doch nur mit staatlicher Hilfe bezwingen konnte. Die zahlreichen mosaischen Speiseverbote sind nicht durchführbar gewesen, und die jüdische Beerdigung der Todten hat Jahrhundertelang mit der heidnischen Sitte der Leichenverbrennung kämpfen müssen. Aber die Berücksichtigung nationaler Empfindungen bei der Ausgestaltung des kanonischen Rechtes ist im Laufe der Zeit ständig schwächer geworden. Immer souveräner stellt sich das rechtserzeugende Papstthum den nationalen Rechtsanschauungen gegenüber; immer mehr sind es eigenthümlich kirchliche Prinzipien, welche die Rechtsbildung beeinflussen. Damit wächst auch der Widerstand der Völker gegen das kanonische Recht, und das um so mehr je stärker sich ein Nationalgefühl herauszubilden beginnt. Das ist am frühesten in Italien geschehen, wo die Päpste die nationalen Tendenzen dem deutschen Kaiserthum gegenüber in einer Weise gepflegt haben, dass man sagen kann: sie haben selbst die Samenkörner in die Erde gelegt, aus denen der heutige italienische Nationalstaat erwachsen ist. Innocenz III., Alexander III., Gregor IX. sind die Vorläufer gewesen von Mazzini, Cavour und Victor Emanuel. Aber das italienische Nationalgefühl reagirte so lange nicht gegen das kanonische Recht, wie der Papst selbst an der Spitze der nationalen Bewegung stand und italienischer Geist die kirchliche Gesetzgebung beeinflusste. Viel stärker ist diese Opposition gegen das kanonische Recht in England und Frankreich aufgetreten, wo ein nationales Königthum auch ein nationales Kirchenrecht erstrebte und selbst der Klerus nationale Gesinnung anzunehmen begann. Am Wenigsten in Deutschland. Zwar haben wir auch hier den berühmten in den Sachsenspiegel eingeschobenen Satz, dass der Papst das Landesrecht nicht ändern dürfe. Aber als der Papst eine Anzahl dem kanonischen Rechte widerstreitender Artikel des Sachsenspiegels kassirte, da hat der deutsche König diesen Akt, wenn auch ohne praktischen Erfolg, gebilligt. Auch in Deutschland haben die Städte Normen im Gegensatz zum kanonischen Recht festgestellt. Aber in Deutschland hat doch nur ein Stammes-, kein Nationalbewusstsein existirt, und ein Volk, welches für sein gesammtes Rechtsleben ein fremdes, das römische Recht recipirte unter dem Banne der Fiktion, dass das deutsche Reich die Fortsetzung des römischen sei, zu einer Zeit, wo das Kaiserthum schattenhafte Gestaltung angenommen hatte, war nicht geeignet, der Realität der einheitlichen katholischen Kirche und dem machtvollen Papstthume Widerstand entgegenzustellen. Es bedurfte erst der Entstehung des modernen Staatsgedankens, um wie früher in den Städten, so nun in den Territorien die Opposition gegen das kanonische Recht zu einer allgemeinen und einer wirksamen zu machen. Es bedurfte erst einer Auflehnung des deutschen Gewissens gegen den Inhalt des kanonischen Rechtes, um dessen Herrschaft für Deutschland zu brechen. So ist denn schliesslich die kosmopolitische Natur des kirchlichen Rechtes diesem verhängnissvoll geworden. 2. Das kanonische Recht ist ein christliches gewesen. Das will sagen: es hat die Grundsätze der antiken Kultur in sich aufgenommen, die Prinzipien der christlichen 660

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Sittenlehre in das Recht eingeführt. Es hat das Ideal eines der Vorschriften der christlichen Religion entsprechenden Lebens bei den Völkern zu verwirklichen gesucht. So hat die Kirche mit ihrem Rechte erzieherisch gewirkt, dem Römerthum gegenüber, welches an allen Uebeln der Ueberkultur krankte, dem Germanenthum gegenüber, welches der Kultur überhaupt noch nicht erschlossen war. Wir haben uns in neuerer Zeit darin gefallen, das alte Deutschthum mit idealem Glanze zu verklären. Der nüchterne Geschichtsforscher ist weit davon entfernt, die tüchtigen Grundzüge des kernhaften deutschen Volkscharakters zu verkennen, aber er muss doch, die Linien des vulgären Bildes korrigirend feststellen: den starren Egoismus des Individuums, den Mangel eines Ideals Seitens des Volkes. Gerade das hat der Herrschaft der Kirche bei den Germanen einen so bereiten Boden gewährt, dass die Kirche dies Ideal brachte, dass das nach einem Ideale hungernde Volksgemüth durch die Kirche Befriedigung fand. Ist nicht noch heute zu Tage der Katholizismus der Deutschen idealer als der aller übrigen Nationen? Die Gedanken, welche die Kirche in das Rechtsleben der romano-germanischen Völker eingeführt hat, sind uns zum Theil längst in Fleisch und Blut übergegangen. Wir verstehen kaum, dass sie nicht stets die herrschenden gewesen sein sollen. Aber wir müssen uns dankbar vergegenwärtigen, dass sie erst durch die Kirche Eingang in unser Rechtsleben gefunden haben und dass es einer angestrengten und mühsamen Arbeit bedurft hat, um sie heimisch zu machen. Nur einige bedeutsame Punkte will ich aus der Fülle der Erscheinungen herausgreifen. Die Kirche fand bei ihrer Entstehung die Unfreiheit vor. Gerade die Sklaven und sozial Bedrängten sind die ersten Mitglieder der christlichen Gemeinschaften geworden, deren Lehre ihnen wenigstens im Jenseits den Entgelt für die Lasten des irdischen Daseins verhiess und ihnen die Menscheneigenschaft zusprach, welche das geltende Recht der Römer wie der Germanen verneinte. Vor Gott sind alle Menschen gleich. Es ist merkwürdig, dass das kanonische Recht die Folgerungen aus diesem Satze voll zu ziehen unterliess. Es erkennt die Rechtsbeständigkeit der Leibeigenschaft an. Es lässt den Unfreien nicht zum Klerus zu. Es verbietet Ehen zwischen Freien und Unfreien; und während es sonst dem Irrthum über Eigenschaften der Person bei der Eheschliessung keine Wirkung beimisst: wer im irrigen Glauben mit einem Freien eine Ehe zu schliessen, einen Unfreien geheirathet hat, der kann die Ehe für nichtig erklären lassen. Das kanonische Recht hat in dieser Beziehung nicht den freien Standpunkt des Sachsenspieglers eingenommen, der in frommer Einfalt sagt, sein Sinn könne nicht begreifen, dass ein Mensch Eigenthum des anderen sein könne. Darum ist denn auch die Leibeigenschaft ohne jede Bethätigung der katholischen Kirche, und fügen wir gleich hinzu, auch der evangelischen aufgehoben worden. Die Kirche hat sich darum begnügt, die Menschennatur des Unfreien anzuerkennen, ihm die Möglichkeit der Ehe zu gewähren, seinen Leib vor Gewaltthätigkeit des Herren zu sichern, ihn in religiöser Beziehung mit diesem auf gleiche Linie zu stellen. Sie hat die Unfreiheit humaner ausgestaltet, und wenn wir ehrlich sein wollen, so werden wir sagen müssen, sie konnte nicht mehr thun, wenn sie nicht eine völlige soziale Revolution herbeiführen wollte. 661

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Aber die Gleichheit der Menschen vor Gott und dem christlichen Recht hat auch noch andere Konsequenzen, und diese hat die Kirche mit fester Hand gezogen. Sie hat die Mächtigen der Erde belehrt, dass auch sie sich dem Joche des Rechtes beugen müssten. Auch den Königen wurde nicht gestattet, die Ehefrauen zu verstossen. Auch ihnen wurde in das Bewusstsein gerufen, dass das gleiche Recht für Alle gelte, dass sie einer höheren Gewalt für ihre Handlungen verantwortlich seien, dass der menschlichen Herrschaft unverrückbare Grenzen gezogen seien, welche die Kirche hüte. Und auch der Schutzlosen nahm diese sich an. Wer nicht wehrfähig ist, der ist auch nicht voll rechtsfähig, der bedarf eines Vormundes. Das war die germanische Rechtsauffassung. Aber diese Vormundschaft wurde nicht so im Interesse des Mündels wie des Vormundes ausgeübt. Durfte doch dieser das Mündelgut für sich ausnutzen. Der Kirche aber hatte ihr Stifter nicht umsonst zugerufen: „Kommt her zu mir Alle, die Ihr mühselig und beladen seid“. Darum öffnete sie die Schranken der geistlichen Gerichte den Wittwen und Waisen und allen Schwachen, die im weltlichen Gerichte nicht zu ihrem Rechte zu gelangen vermochten. Zu den Wehrunfähigen gehörten aber auch die Frauen. Darum bedurften auch sie eines Vormundes, und in Haus und Hof des Vaters erbten sie nicht, sondern mussten sich mit minderwerthigen Stücken des Nachlasses begnügen. Die Kirche stand freilich bezüglich der Frauen auf dem diese missachtenden Standpunkt ihrer orientalischen Heimath. Deshalb versagte sie ihnen die Ordination, deshalb sprach ihnen mit dem Satze mulier taceat in ecclesia die Fähigkeit ab, im kirchlichen Rechtsleben aktiv thätig zu werden. Aber im bürgerlichen nahm sie sich ihrer an. Sie verbot, das Mädchen gegen seinen Willen zu verheirathen, sie erklärte es für eine impia consuetudo, dass Frauen von der Erbschaft ausgeschlossen sein sollten; sie verlangte, dass der Mann nicht minder die eheliche Treue zu bewahren habe als die Frau. Vielleicht darf ich hier gleich einfügen, dass auch das, was wir heute die Frauenfrage nennen, durch die Kirche und das kanonische Recht für das Mittelalter seine Lösung gefunden hat. Verstehen wir darunter die Frage, in welcher Weise der weibliche Theil der Bevölkerung, der keine eheliche Versorgung findet, sein Leben fristen soll, so waren die wenigen Wege, die dazu heute dem weiblichen Geschlechte offen stehen, im Mittelalter noch verschlossen, ja der Mangel des Erbrechts musste die soziale Lage der Frau besonders peinlich gestalten. Freilich konnte die Bauerntochter auf dem Hofe bleiben, eine Art von Inventar des Gutes, welches mit diesem fortübertragen wurde und dessen Schätzung ständig sank mit der durch das Alter bewirkten Minderung der Arbeitskraft und des Nutzens. Noch schwieriger aber war die Lage der adeligen Tochter, welcher die väterliche Wirthschaft – denn der Grund und Boden war an Leibeigene ausgethan – überhaupt eine Thätigkeit nicht zu gewähren vermochte. Da schufen die Klöster die erwünschte Aushülfe. Hier gewährte das korporative Zusammenleben Schutz gegen die Gefahr der Vereinsamung; die bittere Sorge um das tägliche Brod war ausgeschlossen; hier konnte der Thätigkeitstrieb Befriedigung finden, und noch zeugen Denkmäler der Literatur und des Kunstgewerbes dafür, in welcher Weise dies geschehen ist. Hier konnte ein 662

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günstiges Geschick an die Spitze der Verwaltung führen und Reichsfürstenstand gewähren. Zwar wurde das ganze Leben unter den Zwang einer strengen Ordensregel gestellt. Aber wie hart muss der Bann des elterlichen Hauses gewesen sein, wenn das Klosterdasein dagegen bis ins XVI. Jahrhundert hinein als Leben der Freiheit empfunden wurde. Doch auch das gesammte Ordenswesen muss als ein Mittel aufgefasst werden, durch welches die mittelalterliche Kirche neben der Lehre von der Almosenpflicht zur Lösung der damaligen sozialen Frage beigetragen hat. Die Klosterverfassung verwirklicht nach gewissen Richtungen hin, was der moderne Sozialismus als Ideal des Zukunftsstaates aufstellt. Hier leben eine Anzahl von Personen nebeneinander, alle gleichgestellt und gleich gekleidet, wie verschieden auch ihre Rangstellung in der Welt gewesen sein mag. Alle sind sie einem gewählten Vorstande unterworfen. Keiner hat Vermögen. Alle arbeiten sie nach dem Masse ihrer geistigen und körperlichen Fähigkeiten. Niemanden kommt das Ergebniss seiner Arbeit zu Gute, denn alle werden sie aus den Erträgnissen dieser gleichmässig unterhalten. Nur dass dieser Unterhalt – und in allen diesen Punkten liegt der Gegensatz zum modernen Sozialismus – nach den Prinzipien der Askese bemessen ist, dass nicht Lebensgenuss erstrebt wird, sondern Abtödtung des Fleisches, dass Gebet und Arbeit einander ablösen, dass die ganze Institution getragen ist von dem höchsten Idealismus, den das Mittelalter zu erzeugen vermochte. Von der allergrössten Bedeutung ist der Einfluss des kanonischen Rechts auf die Ehe gewesen. Dagegen treten die Einwirkungen, die es ausgeübt hat auf den Schutz des Besitzes, auf die Momente der Ersitzung, auf die Form der Verträge und Testamente, auf die Legitimation der Kinder weit zurück; denn in allen diesen Punkten bewegte sich die kirchliche Rechtsbildung auf dem Boden des römischen Rechts. Für das Eherecht hat sie originale Gestaltungskraft bewiesen. Freilich ist dies nicht für dessen Gesammtheit der Fall gewesen. Dass bei der Eheschliessung allein die gegenseitige, wenn auch formlose Willensübereinstimmung das ehewirkende Moment abgebe, ist ein römisch-rechtlicher Satz, der dem germanischen Recht fremd war, und den das kanonische Recht in dem Gewande in sich aufnahm, welches ihm die französische Scholastik gegeben hatte. Dass Blutsverwandtschaft und Schwägerschaft ein Ehehinderniss bilden, war römisch- und jüdisch-rechtlich, und das kanonische Recht hat hier nur prinzipiell ausgestaltend gewirkt. Aber dass die Ehe ein nur durch den Tod lösliches Band bewirke, das war ein neuer Satz des kanonischen Rechts, der zu weittragenden Konsequenzen führte. Weder das römische noch das deutsche Recht haben ihn gekannt. Nach beiden löst beiderseitige Uebereinstimmung und auch einseitiger Wille eines Gatten die Ehe. Beide Rechte, das römische auch in seiner schon unter christlichem Einflusse stehenden Ausgestaltung unter Justinian kannten keinen Ehescheidungsprozess, sondern Selbstscheidung, die selbst, wenn aus vom Rechte missbilligten Gründen vorgenommen, rechtswirksam war und nur Rechtsnachtheile herbeiführte. Der christlich-kanonische Gedanke der Unscheidbarkeit der Ehe führte mit Nothwendigkeit zu einem gerichtlichen Eheverfahren, in welchem, wenn auch nicht die Lösung des ehelichen Bandes, so doch die des Zusammenlebens erstritten werden konnte. Er führte aber auch zur 663

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Aufstellung neuer Ehehindernisse. Das römische Recht hatte solche nur in geringer Zahl, das deutsche vielleicht gar nicht gekannt. Wer gezwungen, wer unter dem Banne eines Irrthums, des Betruges sich verheirathet hatte, der konnte durch freie Scheidung das eheliche Band leicht wieder lösen. Als die Kirche dies unlösbar gemacht hatte, musste sie solche früheren Scheidungsgründe zu Ehehindernissen umgestalten, bei deren Vorhandensein die trotzdem geschlossene Ehe – aber auch nur durch den geistlichen Richterspruch – als von Anfang an nichtig erklärt werden konnte oder musste. Aber in derselben Weise wie das kanonische Recht die Selbsthülfe in Ehesachen ausschloss hat es dies auch allgemein versucht. Dem germanischen Rechtsbewusstsein entsprach es, dass der Verletzte wählen durfte zwischen Rechtsgang und Fehdegang. Der letztere war die brutale Selbsthülfe, der Privatkrieg, welchen der Verletzte mit seiner Sippe führte gegen den Verletzer und dessen Freundschaft. Das entsprach der kampfmuthigen deutschen Gesinnung, welche die Ableugnung einer Missethat für viel schmählicher erachtete als deren Begehung, und bereit war für jede That mit der Waffe Rechenschaft abzulegen. Das kanonische Recht hat diese Gesinnung zwar nicht zu brechen vermocht, aber es hat sich doch redlich darum bemüht. Es verbietet das Duell und versagt noch heute dem im Zweikampfe Gefallenen das kirchliche Begräbniss. Und auch die Einrichtung des Gottesfriedens, wonach Raub und Gewaltthat verpönt sein sollte, an gewissen Tagen der Woche und an den heiligen Festen das Waffengetöse der Fehde ruhen, heilige Orte Schutz gewähren sollten ist kirchlichen Ursprunges gewesen. Aber dieser Schutz ist auch jedem in die Kirche Fliehenden gewährt worden, und dies kirchliche Asylrecht hat zahllosen Unschuldigen die Rettung gebracht und die Schuldigen wenigstens den rohen Strafen entzogen, welche die mittelalterliche weltliche Gerichtsbarkeit an Leben und Gliedmassen verhängte. Denn die Kirche vergiesst kein Blut, sie verschmäht die Todes- und die verstümmelnden Strafen, sie will auch nicht mittelbar an deren Verhängung betheiligt sein. Sie straft überhaupt nur um den Schuldigen mit Gott zu versöhnen. Darum ist ihre Strafe eine Wohlthat für den Bestraften und keine Pein. Und diese Strafe verhängt sie, weil der Verbrecher sich gegen Gott aufgelehnt hat in Begehung einer Sünde. Darum ist es nicht Sache des Verletzten den Verbrecher zur Strafe zu ziehen, sondern Sache der Kirche, welche auch ohne Ankläger nach dem Sünder forscht. Darum soll auch die Strafe nicht dem Verletzten zu Gute kommen, und darum ist sie auch nicht abzumessen nach dem Erfolge der That, sondern nach der Absicht bei deren Begehung. Aber auch das wirthschaftliche Leben versucht das kanonische Recht nach christlichen Prinzipien zu reguliren. Die Kirche schätzt die Arbeit und will sie belohnt wissen. Sie steht in dieser Beziehung im Gegensatz zur antiken und auch zur germanischen Auffassung. Denn der Germane erachtet die Arbeit überhaupt für unwürdig des freien Mannes. Leibeigene, Frauen und Kinder mögen ihm das Wenige produziren, dessen er bedarf. Der Römer aber schätzte die Resultate der Arbeit, das Kapital, welches sie erzeugte: die Arbeit selbst und die Arbeiter sind gemissachtet gewesen. Anders die Kirche. Die Apostel sind zum Theil aus dem Handwerkerstande hervorgegangen, und stets hat sich dieser einer liebevollen Berücksichtigung Seitens 664

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des kanonischen Rechtes zu erfreuen gehabt. Sollten doch in den ältesten Zeiten der Kirche auch Bischöfe und Priester sich durch der Hände Arbeit ernähren, ohne dass man deswegen ihre geistliche Autorität als gefährdet ansah. Wunderbar steht dazu im Gegensatze die Auffassung der Kirche vom Kaufmannsstande. Freilich müssen Kaufleute existiren. Aber ob sie in den Himmel kommen? Stellen des kanonischen Rechtes beantworten diese Frage schlechtweg verneinend. Sie sind die Abkömmlinge jener Händler und Wechsler, die Christus aus dem Tempel getrieben hat; sie sind allesammt starke Sünder, die aus den Bedürfnissen ihrer Mitmenschen ohne Arbeit – und darin beruht ihr Gegensatz zu den Handwerkern – Kapital schlagen wollen. Darum sollen sie ihre Waaren zum Einkaufspreise verkaufen und höchstens mögen sie die Transportkosten hinzuschlagen. Geld aber ohne Arbeit darf keine Früchte tragen. Darum ist jeder Darlehnszins verboten, ist Wucher. Das ganze Wirthschaftsleben des Mittelalters hat unter dieser Wucherlehre gestanden. Aber gerade an ihr lässt sich darthun, dass es unrichtig ist, wenn der Gesetzgeber seine Ideale im Rechte zu verwirklichen unternimmt. Gewiss soll jedes Recht sittlich sein und kein Rechtsgesetz unsittlich. Aber der Gesetzgeber soll sich doch stets vergegenwärtigen, dass das Recht für das Zusammenleben von Menschen bestimmt ist, die irdisch denken und fühlen, nicht für wesenlose Schemen, die im reinen Aether leben. Er soll sein Ohr aufmerksam an die Brust seines Volkes legen, jeden Herzschlag soll er fühlen, jede gute Regung fördern, und die niederen Triebe unterdrücken oder veredeln. Aber er soll die Menschen nehmen, wie sie sind, nicht wie sie nach den Sätzen der Ethik sein sollten. Darin liegt die Gefahr, wenn die Theologie einen massgebenden Einfluss auf die Rechtsgestaltung ausübt, und daran krankt unser Eherecht von den Tagen des kanonischen Rechtes an bis herab zu dem Bürgerlichen Gesetzbuche für das deutsche Reich. Das Individuum ist nicht bereit und willig, sich dem gesetzgeberischen Ideale zum Opfer zu bringen und sucht durch Hinterthüren zu entfliehen, wenn ihm das Hauptthor gesperrt wird. Hat es im Mittelalter wirklich keinen Handel und kein zinsbares Darlehn gegeben? Das wirthschaftliche Leben liess sich nicht durch ethische Prinzipien einengen. In unzähligen Auswegen ist Abhülfe gesucht und gefunden worden. Die Kirche selbst hat bei den von ihr erfundenen Leihhäusern die Grundsätze ihrer Wucherlehre durchbrechen müssen. Hat die Kirche wirklich nie Blut vergossen? Ich will von der über Ketzer verhängten Todesstrafe absehen. Denn sie ist nicht vom kanonischen sondern vom weltlichen Recht eingeführt und von den weltlichen Machthabern vollstreckt worden. Aber der geistliche Richter überlieferte doch den überführten Ketzer dem weltlichen zur Bestrafung. Dass er dabei die Worte sprach: er empfehle ihn der Gnade des letzteren, das war doch nur eine formelle Rettung des Prinzipes; denn dem weltlichen Richter war durch das kanonische Recht selbst Strafe gedroht, wenn er diese Gnade üben würde. Und wenn den Päpsten als Souveränen des Kirchenstaates die Todesurtheile zur Bestätigung vorgelegt wurden, dann haben sie diese freilich nicht unterschrieben und die Vergiessung von Blut nicht befohlen. Aber die Unterbehörden waren angewiesen, das Urtheil zu vollstrecken und die Hinrichtung zu vollziehen, wenn nicht in bestimmter Frist eine päpstliche Begnadigung eingetreten wäre. Nur die 665

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Form wurde so gerettet. Das wirkliche oder vermeintliche Bedürfniss des Lebens triumphirte über die abstrakte Theorie. Und auch mit der Unauflöslichkeit der Ehe ist es kaum anders gewesen. Hier mussten eben die Ehehindernisse helfen und unter gewissen Voraussetzungen die dem Papste zustehende Dispensationsgewalt. Und wo das nicht anging, da sind die Missstände so schwer zu tragende geworden, dass die staatliche Gewalt das kanonische Recht beseitigte und den Völkern die Ehescheidung wieder zurückgab, deren sittliches Niveau dadurch eher erhöht als gemindert wurde. Hat das Ordensleben wirklich stets dem Ideale entsprochen und sind die idealen Vorschriften des kanonischen Rechtes auch nur beim Klerus durchführbar gewesen, der sie doch ersonnen hatte, und dem so erst recht die Pflicht der Nachachtung oblag? Gerade der Gegensatz zwischen Theorie und Praxis, der hier auftrat ist besonders ärgerlich empfunden und von wackeren Männern, wie Walther von der Vogelweide beweglich beklagt worden. Er hat die Opposition gegen das kanonische Recht geschürt, so dass dieses, man kann so sagen, auch mit an seinem Idealismus zu Grunde gegangen ist. 3. Aber auch für konservativ haben wir das kanonische Recht erklärt. Damit ist zunächst ein Lob für dieses ausgesprochen. Denn die unter dem Gesetze lebenden Menschen wollen eine ruhige und stätige Rechtsentwickelung. Sie empfinden es als eine Bürde, wenn jeder Gedanke, der den Kopf des Gesetzgebers durchschiesst sich sofort zu einer Rechtsnorm krystallisirt. Vielleicht sind wir Bürger des deutschen Reiches am Besten im Stande, solche Empfindungen nachzufühlen, die wir Jahr ein, Jahr aus mit einer solchen Fülle von Gesetzen überschüttet werden, dass selbst der Rechtsbeflissene nur mühsam noch folgen kann, für viele Materien eigentlich Niemand mehr weiss, was Rechtens ist, oder sich nicht mehr darum kümmert, einen Rechtsstand zu ergründen, der doch nur ein vorübergehendes Dasein haben wird. Aber die konservative Natur des Rechtes kann auch zur Krankheit ausarten, die Wohlthat zur Plage werden, wenn der Gesetzgeber auf die Fortbildung des Rechtes Verzicht leistet. Und das ist beim kanonischen Rechte der Fall gewesen. Der Hauptborn dieses fliesst nicht mehr seit dem Mittelalter und seit dem sechszehnten Jahrhundert, und selbst wenn die Auffassungen, aus denen die einzelnen Rechtssätze hervorgegangen sind, längst als irrige erkannt und als schädliche nachgewiesen sind: mit traditioneller Zähigkeit sind sie aufrecht erhalten geblieben. Als das ursprüngliche Verbot der Heirath unter Blutsverwandten zahlreiche soziale Missstände geschaffen hatte, da beschränkte es Innocenz III. i. J. 1215 auf den vierten Grad. Er theilt uns selbst die Motive für seine Norm mit. Sie beruhen auf der Physiologie des römischen Mediziners Galenus. Vier Säfte giebt es nach diesem in der Natur: Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle. Darum stellt die mittelalterliche Naturlehre vier jenen entsprechende Elemente auf und vier Temperamente, und klassifizirt alle Lebewesen in vier Gruppen. Darum soll aber auch nach Innocenz der vierte Grad der Blutsverwandtschaft bei der Eheschliessung massgebend und diese ausschliessend sein. Die Wissenschaft hat längst das Lehrgebäude Galens gestürzt, aber für die katholische Christenheit ist noch immer das auf dieser untaug666

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lichen Unterlage erbaute Ehehinderniss massgebend, obgleich es heute kaum mindere Missstände im Gefolge hat, als das Recht vor Innocenz III. für die damaligen Zeiten. Statt die Norm, wie noch Gelegenheit des vatikanischen Konzils gefordert wurde zu ändern, lässt man sie fortbestehen und hilft im einzelnen Falle durch Dispensationen in solchem Umfange, dass diese die Regel, der Rechtssatz die regelwidrige Ausnahme geworden ist. Die Wuchervorschriften des kanonischen Rechtes sind bis auf den heutigen Tag nicht aufgehoben worden, obgleich die Kirche auch nicht einmal mehr im Beichtstuhle gegen Dahrlehnszinsen, gegen Platzwechsel, gegen das Bodmereigeschäft reagirt. Alles das hat dem kanonischen Rechte den Charakter des Veralteten aufgedrückt, welches nicht mehr in unsere Gegenwart hineinpasse und ihm nur noch eine geschichtliche Bedeutung zukommen lasse. III. Aber diese Auffassung hat auch auf das Studium des kanonischen Rechtes an den Universitäten einen massgebenden Einfluss ausgeübt, und auch darüber möchte ich noch einige Worte sagen. Obgleich jünger als das römische Recht ist das kanonische doch jenem bald ebenbürtig an die Seite getreten, ja hat versucht, ihm den Vorrang streitig zu machen. War es doch nicht nur das neuere, dessen Geltung, wie die Romanisten selbst lehrten, der des älteren vorangehen müsse. Es war auch das Recht, ausgebildet, von einer Gemeinschaft, welche die ganze Welt umfasste und beherrschte, deren Beamtenschaft auch die Lehrer des römischen Rechtes vielfach angehörten und ein guter Theil der Studirenden. Damals erwuchs eine grossartige Literatur des kanonischen Rechtes, die an wissenschaftlicher Bedeutung der des römischen durchaus gleichkam, an praktischer diese übertraf und an welcher alle Nationen sich wetteifernd betheiligten. Damals wurde die Würde eines Decretorum Doctor als die höchste wissenschaftliche angesehen, welche der Gelehrte erreichen könne. Aber wenn in Italien und Südfrankreich, den Ländern, in welchen das römische Recht seine Geltung stets behauptet hatte, wo es als ein Rest des antiken Volksthums anzusehen war, jenes noch ebenbürtig dem kanonischen zur Seite stand, ja die romanistischen Studien Seitens der Päpste gewaltsam zu Gunsten der kanonistischen zurückgedrängt werden mussten, so war davon in Deutschland, als hier Universitäten gestiftet wurden, keine Rede. Hier nahm das kanonische Recht von vorne herein den Löwenantheil für sich in Anspruch. An vielen deutschen Universitäten ist über römisches Recht zunächst gar nicht und dann noch vorzugsweise über den Codex Justinianeus gelesen worden, lediglich weil dieser die kirchlichen Konstitutionen der römischen Kaiser enthielt. Auch wenn man die Bücher betrachtet, die gleich nach Erfindung der Buchdruckerkunst in Deutschland gedruckt wurden, so verschwinden die spärlichen römischrechtlichen gegen die Fülle der kanonistischen. Man kann auch nicht sagen, dass der Humanismus darin eine Aenderung bewirkt hätte. 667

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Zwar war das römische Recht ein Theil des klassischen Alterthums, welches jetzt gewissermassen neu ausgegraben wurde und die Gemüther der Menschen mit seinem Glanze unsagbar bestrickte. Aber die Humanisten fühlten sich von dem kanonischen und römischen Rechte in gleicher Weise abgestossen, und das kann denjenigen nicht Wunder nehmen, welcher die scholastische Form der literarischen Behandlung, die geistlose Art erwägt, in der beide an den Universitäten gelehrt wurden. Da kam beim römischen Rechte von der Patina der antiken Welt nichts zum Vorschein. Nüchtern und spitzfindig interpretirte der römische wie der kanonische Rechtslehrer seine Quellen mit einer Breite und Geschmacklosigkeit, die einem durch antike Speise verwöhnten Gaumen doppelt widerlich erscheinen musste. Ende des XV. und Anfangs des XVI. Jahrhunderts vollzog sich aber in Deutschland jener merkwürdige Vorgang, den wir die Reception des römischen Rechtes zu nennen pflegen, und wurden breite Gebiets- und Volksmassen durch die Reformation von der katholischen Kirche losgelöst. Dadurch wurde das römische Recht geltendes und hörte das kanonische auf, geltendes zu sein. Darum trat das erstere an den Universitäten nicht nur in den Vordergrund, sondern gewann fast die Alleinherrschaft, da die kanonistischen Studien ihren praktischen Nutzen einbüssten. Zwar war das nicht ganz der Fall. Denn einmal blieb die katholische Kirche doch in weiten Gebietsmassen herrschend und gewann mit staunenerregendem Erfolge verlorene Herrschaftsgebiete wieder zurück. Andererseits musste doch aber auch die neue Kirche eine Verfassung und ein Recht ausbilden, welches wissenschaftliche Bearbeitung und Unterweisung erforderte. Aber gerade hier zeigte sich eine starke Unfruchtbarkeit des Protestantismus. Die römischen Päpste waren immer mehr Politiker als Theologen gewesen und hatten darum der Rechtsbildung die grösste Aufmerksamkeit zugewendet. Die deutschen Reformatoren waren, auch im Gegensatze zu Calvin, nur Theologen. Die Seelen wollten sie retten, die Menschheit durch den neuen Glauben zur Seligkeit führen. Wie diese glaubende Menschheit sich zu diesem Behufe zu organisiren habe, erschien ihnen nebensächlich. Da nun aber diese neue Glaubensgenossenschaft sich nur als gereinigte Fortsetzung der alten angesehen wissen wollte, so war damit die Fortdauer des kanonischen Rechtes für die evangelische Kirche im Prinzipe gegeben. Vergebens eiferte Luther dagegen, der, wenn er das Corpus iuris canonici zusammen mit der päpstlichen Bannbulle vor den Thoren Wittenbergs den Flammen übergab, damit symbolisch die Geltung dieses Rechtsund Gesetzbuches aufheben wollte. Die Nothwendigkeit, überhaupt kirchliche Rechtsnormen zu haben, war vorhanden, und hätte auch nur von Idealisten, die nicht auf dem Boden der Wirklichkeit standen, oder von solchen, welche die evangelische Freiheit mit Anarchismus verwechselten, geleugnet werden können. Die evangelische Kirche selbst war unfähig dieses Bedürfniss zu befriedigen, und auch die Staatsgesetzgebung, die dann später Jahrhunderte lang allein evangelisches Kirchenrecht erzeugt hat, begann erst langsam und lückenhaft die ihr neu zugewachsene Aufgabe zu erkennen und zu erfüllen. So griff denn die Jurisprudenz wieder zum kanonischen Rechte, dessen Geltung für das bürgerliche Rechtsleben ja ausserdem unzweifelhaft war, und beschnitt es und passte es an für die evangelische Kirche. 668

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An Anziehungskraft gewann es dadurch nicht. Die evangelischen Theologen empfanden doch stets den prinzipiellen Gegensatz, in welchem es zum ganzen evangelischen Kirchenwesen stand. Den Juristen misshagte die Unbestimmtheit, dass die kanonischen Normen nicht mehr in ihrem alten systematischen Zusammenhange gelten, sondern nach Prinzipien modifizirt werden sollten, die nur ein theologisches, nicht ein juristisches Verständniss voll zu erfassen vermochte. Damals sind die kirchenrechtlichen Studien an den deutschen Universitäten von der alten Höhe definitiv herabgestiegen, und als nun noch die neuen Disciplinen des Staats- und Strafrechts, des Prozesses und des deutschen Rechtes gelesen wurden, da konnte man wohl den Kirchenrechtslehrer als das Stiefkind der Juristenfakultät bezeichnen. Auf wessen Interesse konnte er bei seinen Vorlesungen rechnen? zumal ein politisches Leben in Deutschland nicht vorhanden war, und auch die evangelische Kirche ihren Gliedern keine Rechte einräumte, sondern lediglich Pflichten auferlegte, deren Ergründung Personen, die nicht dem geistlichen Amte zustrebten, wenig reizen konnte. Nur soweit es sich um das Eherecht handelte oder um den Kirchenpatronat glaubte der künftige Jurist des Kirchenrechts benöthigt zu sein. Dieses mangelhafte Interesse der Zuhörer wirkte aber naturgemäss auf den Lehrer selbst zurück, wie ja immer ein geistiger Wechselverkehr zwischen beiden besteht. Vermochte er nicht die Neigung der Zuhörer für seinen Stoff zu erlangen, so ging er um so ungehinderter seiner eigenen nach, um wenn nicht die Befriedigung anderer, so doch eine gewisse Selbstbefriedigung zu erzielen. Er vertiefte sich in scholastische Fragen, die ganz anachronistisch waren, er verwechselte Kirchengeschichte mit Kirchenrecht, oder er betonte die theologischen Elemente seines Stoffes mit besonderer und meist dilettantischer Vorliebe, obgleich die jungen Theologen den kirchenrechtlichen Vorlesungen ferne blieben mit einer Energie, die einer besseren Sache würdig gewesen wäre. Damit trieb er auch die letzten Juristen aus dem Hörsaale hinaus. Und auch als die historische Schule den kirchenrechtlichen Studien einen neuen Boden und Inhalt gegeben hatte, als die deutsche Forschung damit an die Spitze der wissenschaftlichen Bewegung in Europa getreten war, da übte diese wissenschaftliche Wiedergeburt des Kirchenrechts doch kaum einen Einfluss auf die akademischen Studien aus. Höchstens die Katholiken, denen das katholische Kirchenrecht die Verfassung ihrer Kirche darstellte, der sie mit Leib und Seele angehörten, brachten ihm Interesse entgegen. Der evangelische Jurist, in der Aufklärungsperiode von der Kirche innerlich losgelöst, hatte besten Falles für die katholische Lehre eine Empfindung der Neugier; für die evangelische, die noch dazu bis in die Neuzeit hinein jeder juristischen Bestimmtheit entbehrte, war er vollkommen apathisch. Die übelen Folgen dieses Zustandes haben nicht auf sich warten lassen und wirken noch heute empfindlich nach. Denn um die Mitte unseres Jahrhunderts wurde der Bann, der auf dem politischen Leben unseres Volkes gelastet hatte, gelöst. Die Staatsbürger wurden in die Parlamente berufen um an der Gesetzgebung mitzuarbeiten. Neue Grundlagen des staatlichen Lebens wurden gelegt. Zu den Fragen, die aber jetzt mit brennender Wichtigkeit auftauchten, gehörten auch in nicht geringem 669

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Masse kirchenrechtliche. Da handelte es sich um die Glaubensfreiheit, um die Regelung des Eherechts und besonders die Civilehe. Da verlangte das Verhältniss von Staat und Kirche die gesetzliche Feststellung. Es ist nicht auszusagen, wie unvorbereitet diese Fragen die Männer trafen, die darüber zu berathen und zu beschliessen hatten. Sie wussten von gar nichts. Sie standen rathlos unter dem Banne viel- und nichtssagender Schlagworte. Nur die Katholiken hatten eine Sachkenntniss die sie sehr naturgemäss im Interesse ihrer Kirche und Tendenzen verwendeten. Damals ist wenigstens das politische Interesse für das Kirchenrecht geweckt worden und hat seinem akademischen Studium einen gewissen Aufschwung gegeben, während die Neugestaltung der evangelischen Kirchenverfassung für die kirchenrechtlichen Studien der Theologen kaum einen nennenswerthen Einfluss ausgeübt hat. Aber auch dieser Aufschwung scheint schon wieder einer rückläufigen Bewegung Platz zu machen, an der die deutschen Regierungen und die Juristenfakultäten sich in die Schuld theilen. Die kirchenrechtlichen Professuren beginnen zu schwinden. Sie werden als Nebenfach Männern zugetheilt, die anderen juristischen Disciplinen ihre Lebensarbeit zugewendet haben. Und doch nimmt das kirchenrechtliche Studium mit seinem eigenthümlichen und umfassenden Quellenmaterial, mit seiner immensen, internationalen Litteratur, mit den Anforderungen, die es an die profanund kirchenhistorische, an die rechtsgeschichtliche, an die staats- und privatrechtliche Vorbildung stellt, selbst die ganze Arbeit eines Lebens für sich in Anspruch. Nur wer hier aus dem Vollen schöpft, wird etwas Volles zu geben im Stande sein und als Apostel seiner Lehre Jünger um sich zu sammeln vermögen. Ein wunderbares Volk sind doch wir Deutschen! Die deutsche juristische Wissenschaft steht an der Spitze der europäischen. Wir wissen, dass wir das unseren Romanisten verdanken, und darum beginnen die übrigen Völker, welche seit ihren Kodifikationen die romanistischen Studien arg vernachlässigt hatten, diese wieder neu zu beleben. Und wir? Noch haben wir das bürgerliche Gesetzbuch nicht eingeführt, und schon erheben sich die Rufe nach Beseitigung unserer alten, bewährten Studiengrundlage, auf der wir das Gebäude unseres nationalen juristischen Ruhmes mühsam genug aufgebaut haben. Nicht anders im kanonischen Recht! Die Italiener und Franzosen haben es von ihren Universitäten vertrieben und in die bischöflichen Seminarien verwiesen. Wie in seinen Anfängen ist es dort lediglich klerikaler Bildungsstoff geworden. Aber in Italien hat man den Missgriff einzusehen begonnen. Jahr für Jahr kommen strebsame Männer nach Deutschland um sich hier für den Lehrstuhl des kanonischen Rechtes vorbilden zu lassen, und wir sind stolz darauf, ihnen die Gaben, die wir einst von Bologna empfangen und die wir treuer behütet haben als sie, zurückerstatten zu können. Wenn die Verwaisung der kirchenrechtlichen Lehrstühle in Zukunft noch weitere Fortschritte machen sollte, dann wird es vielleicht nöthig werden, dass die künftigen deutschen Kanonisten an den italienischen Universitäten wieder ihre Ausbildung suchen. Doch noch an Sie besonders, verehrte Herren Kommilitonen, möchte ich im Anschlusse an meinen Vortrag einige Worte richten. 670

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Ich habe hervorgehoben, wie das ideale Element des kanonischen Rechtes veredelnd auf die Völker gewirkt hat, wie darin wesentlich seine weltgeschichtliche Bedeutung beruht. Und in der That ein Volk ohne Ideale ist dem Untergange geweiht. Sie aber, die geistige Blüthe unserer Nation, sind die Priester, welche das heilige Feuer des Idealismus zu hüten haben. Sorgen Sie, dass es nicht ausgehe und halten Sie in sich selber die Flamme lebendig. Noch im Anfange unseres Jahrhunderts blickten die übrigen Nationen mit einer gewissen Geringschätzung auf die unsrige als die der Denker und Dichter, und sie können sich noch nicht darein finden, dass der gesunde Idealismus auch reale Ziele zu erreichen vermag. Aber gerade nachdem der Traum unserer nationalen Sehnsucht verwirklicht ist, droht ein niederer Materialismus die Seele unseres Volkes anzufressen und auch die akademische Jugend zu erfassen. Davor möchte ich warnen. Nicht das mittelalterliche Ordensideal will ich Ihnen als Vorbild aufstellen. Nein, paaren Sie geistige Arbeit mit frohem Lebensgenusse. Aber seien Sie bedacht, dass der letztere nicht die erstere verkümmere und dass diese nicht blos dem unmittelbaren praktischen Bedürfnisse dienstbar werde. Sie sind Bürger einer Universitas literarum. Alles was die menschliche Wissenschaft je erforscht hat, wird hier gelehrt, und jeder Ihrer Lehrer ist nach guter deutscher Gepflogenheit selbst Forscher auf seinem Lehrgebiete. Was der menschliche Geist erzeugt hat und was ihn fortzubilden vermag, wird Ihnen hier dargeboten. In goldener Freiheit, nicht gehemmt durch die Lasten des bürgerlichen Berufes, die sich bald genug auf Ihre Schultern legen werden, können Sie ganz Ihrer harmonischen Ausbildung leben. Benutzen Sie die kurze Spanne der akademischen Studienzeit. Begeistern Sie sich für das Wahre, Gute, Edele, Schöne. Speichern Sie hier das Kapital einer Lebensauffassung auf, von dem Sie auch in Zukunft zu zehren vermögen. Das wird Ihnen selbst und unserer Nation zum Segen gereichen. ***

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31. October 1897. Rede des abtretenden Rectors Dr. jur. Emil Friedberg. Bericht über das Studienjahr 1896/97. Hochansehnliche Versammlung! Wenn ich heute in altgewohnter Weise einen Überblick zu geben habe über die Geschehnisse des abgelaufenen Universitätsjahres, so haftet meine Erinnerung unwiderstehlich an jenem sonnenhellen 15. Juni, wo ich von dieser selben Stelle aus die Weiherede sprechen durfte für die Einweihung der neuen Universitätsbauten. Jener Tag bedeutet einen wichtigeren Abschnitt in der Entwickelung unserer Universität als die vier Säkularfeste ihrer Begründung. Zum ersten Male seit sie existiert, hat die Universität Leipzig den Besitz von Räumlichkeiten erlangt, die ihrer Bedeutung entsprechen. Und diese Bedeutung hat die allgemeine Anerkennung gefunden, da der königliche Schirmherr der Universität, unsere erhabene Königin, die Prinzen des königlichen Hauses, sämmtliche Staatsminister, die Vertreter der Landstände, die Spitzen der staatlichen und städtischen Behörden, die Rectoren der beiden sächsischen Schwesteruniversitäten unserer Einladung Folge leisteten und unser Fest mit uns begingen. Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, Ihnen die Geschichte des Baues vorzuführen oder die Baulichkeiten und das Fest der Einweihung zu beschreiben. Das erstere habe ich vor wenigen Wochen gethan, das letztere wird Ihnen wie mir selbst noch unvergessen sein und stets unvergesslich bleiben. Aber den Dank, den ich damals ausgesprochen, möchte ich heute Namens der Universität wiederholen, den Dank dafür, dass alle massgebenden Potenzen unseres Landes bekundet haben, was ihnen die Universität Leipzig für dieses bedeute. Darin liegt für uns Professoren und für die Leipziger Studenten der unwiderstehliche Antrieb, stets und mit allen Kräften dahin zu arbeiten, dass diese Bedeutung aufrecht erhalten bleibe. Nicht bloss im Juni haben wir uns des huldvollen Besuches unseres Königs zu erfreuen gehabt. Wie jedes Jahr, so erschien der erhabene Monarch auch in diesem um in den Tagen des 2. und 3. Februar akademische Vorlesungen bei neuberufenen Docenten zu hören, und damit sein nie erlahmendes Interesse für die Anstalt zu bethätigen, die sich rühmen darf, ihn als ihren Rector Magnificentissimus zu bezeichnen. Im Uebrigen ist der Verlauf dieses Universitätsjahres ein ruhiger gewesen, und die sauere Arbeit ist nur wenig durch frohe Feste und noch weniger durch trübe Tage gestört worden. Als ein Fest bezeichne ich das am 15. December des vorigen Jahres in aller Stille verlaufene fünfundzwanzigjährige Amtsjubiläum des verehrten Mannes, dem die Sorge für unsere Universität anvertraut ist und der sie unermüdlich bethätigt, Seiner Excellenz des königlichen Staatsministers Herrn Dr. von Seydewitz. 672

Jahresbericht 1896/97

Die Universität hat es sich nicht nehmen lassen, ihm dazu ihren herzlichen Glückwunsch auszusprechen. Am 16. Februar beging die theologische Facultät unter den Auspicien der Universität die Melanchthonfeier. Am 23. März die Stadt Leipzig unter Betheiligung auch der Universität die Centenarfeier des ersten deutschen Kaisers. Und auch an der Enthüllungsfeier des Denkmales, welches patriotische Bürger unserer Stadt dem grössten deutschen Staatsmann und Ehrenbürger Leipzigs gesetzt haben, hat die Universität freudigen Antheil genommen. Eigenartig war der Vorgang des 19. April, wo eine Schaar italienischer Professoren und Studenten uns besuchten. Konnten wir dieser auch wegen der Ferien nicht einen der Bedeutung Leipzigs entsprechenden Empfang bereiten, so haben wir doch freudig die Gelegenheit wahrgenommen, unsere Sympathieen für eine Nation zum Ausdruck zu bringen, die nicht blos in politischer sondern auch in wissenschaftlicher Beziehung mit uns Deutschen dieselben Wege wandelt. Am 24. April hat die Universität sich an der Eröffnung, am 19. October an dem Schluss der Sächsisch-Thüringischen Industrie- und Gewerbeausstellung betheiligt, zu welcher eine ganze Zahl akademischer Institute auch ihrerseits belehrendes Material beigesteuert hatte. Zu dem fünfzigjährigen Doctorjubiläum eines verehrten Kollegen, des Geh. Kirchenrathes Dr. Hofmann, hat die Universität ihre innigen Glückwünsche ausgesprochen, und endlich hat sie sich an der Feier des fünfundsiebzigjährigen Bestehens ihres studentischen Gesangvereins Paulus um so lieber betheiligt, je mehr es dieser verstanden hat sich in die Universität einzugliedern und deren organischer Bestandtheil zu werden. Ich habe schon erwähnt, dass die Universität während des verflossenen Jahres nicht so häufig wie sonst in Trauer versetzt worden ist. Aus dem Kreise der ordentlichen Professoren ist uns Niemand, weder durch den Tod noch durch Berufung nach ausserhalb entrissen worden. Dagegen haben wir den Verlust eines ordentlichen Honorar- und eines ausserordentlichen Professors zu beklagen. Am 16. Juli starb der ordentliche Honorarprofessor der phil. Facultät Dr. Conrad Hermann. Geboren am 13. Mai 1819 hat er eine vielseitige schriftstellerische Thätigkeit entfaltet, und in seinen Schriften, unter denen ich hervorhebe den Grundriss einer allgemeinen Aesthetik, die philosophische Grammatik, die Geschichte der Philosophie, die Philosophie der Geschichte, die Aesthetik, die Sprachwissenschaft, von ausgebreiteten Kenntnissen und selbständigem Denken Zeugniss abgelegt. Wenn auch sein philosophisches Denken an Hegel anknüpfte, so suchte er doch über diesen hinauszugehen indem er die Bedeutung der Geschichte in den Vordergrund rückte. Er war eine durchaus wahre und redliche Natur. Am 11. September starb der ao. Prof. in der philos. Facultät Wilhelm Pückert. Geboren am 2. Januar 1830 zu Leipzig, hat er hier studirt, promovirt und sich nach einer nur vorübergehenden Lehrtätigkeit an der Dresdner Kreuzschule auch hier i. J. 1862 habilitirt. Aus seiner schriftstellerischen Thätigkeit ragen namentlich die Schriften über die kurfürstliche Neutralität während des Baseler Concils und die 673

Emil Friedberg

über das Münzwesen Sachsens in den Jahren 1518–95 hervor, während er seine umfassenden Studien über das mittelalterliche Klosterwesen leider nicht zum Abschlusse gebracht hat. Er war ein kenntnissreicher, warmfühlender, liebenswürdiger und bescheidener Mann. Wir werden den beiden Entschlafenen ein treues Andenken bewahren. Noch vier andere Docenten sind aus unserm Lehrkörper ausgeschieden, aber sie sind zu einer weitergreifenden Thätigkeit an andere Unterrichtsanstalten berufen worden. Der ao. Professor der Medicin Dr. Albert Döderlein wurde als ordentlicher Professor der Gynäkologie nach Groeningen berufen, welches er freilich schon wieder verlassen hat um die gleiche Professur in Tübingen zu übernehmen. Der Privatdocent Dr. Georg Schäffers leistete einem Rufe als ao. Professor an die technische Hochschule in Darmstadt Folge, der Privatdocent Dr. Ernst Meumann an die Universität Zürich, und endlich übernahm der ao. Prof. Dr. Arthur Hettner die neu begründete ausserordentliche Professur für Geographie in Tübingen. Unsere besten Wünsche begleiten diese von uns geschiedenen Kollegen. Ihr Zusammenhang mit Leipzig kann räumlich aber nicht geistig zerrissen werden. Entsprechend dem Umstande, dass der ordentliche Lehrkörper keine Verluste erlitten hat, haben sich auch keine Ergänzungen erforderlich gemacht. Doch ist ein neuer ordentlicher Lehrstuhl für angewandte Chemie errichtet und für diese ein Laboratorium im Erdgeschosse des landwirthschaftlichen Institutes vorgesehen worden. Berufen ist dazu der bisherige ordentliche Professor an der Universität Erlangen, Dr. Ernst Beckmann. Wir heissen den neuen Kollegen herzlich in unserer Mitte willkommen, und hoffen, dass er sich um so schneller bei uns einbürgern werde, als er schon früher der unsrige gewesen ist und wir ihn nur zurückgewonnen haben. Ich will hier gleich anfügen, dass der Neubau des 1896 begonnenen physikalischchemischen Institutes vollendet und dieses gleichfalls mit Beginn dieses Semesters in Benutzung genommen worden ist. Neu habilitirt haben sich: In der medicinischen Facultät Dr. Max Dolega, in der philosophischen Dr. Robert Daenell für Geschichte. Wir freuen uns dieses Zuwachses unseres Lehrkörpers und wünschen den jungen Gelehrten rüstigen Fortgang in ihrer Laufbahn. Beförderungen haben folgende stattgefunden: Der ao. Prof. Dr. phil. et med. Emil Schmidt ist zum ordentlichen Honorarprofessor in der philosophischen Facultät ernannt worden. Zu ausserordentlichen Professoren sind befördert die Privatdocenten: in der juristischen Facultät: Dr. jur. Carl Burchard; in der medicinischen: Dr. phil. et med. Arthur Heffter, Dr. phil. Max Siegfried, Dr. med. Richard Kockel; in der philosophischen Facultät endlich die Dr. phil. Hermann Hirt, Gustav Weigand und August Conrady. Wende ich mich zu unserer Studentenschaft, so haben wir auch diesmal den Verlust einer Anzahl von Jünglingen zu beklagen, mit denen manche schöne Hoffnung zu Grabe getragen ist. Nicht weniger als zwölf Studirende sind uns durch den Tod entrissen worden. 674

Jahresbericht 1896/97

Die Frequenz unserer Universität war eine erfreuliche. Vom 1. November 1896 bis zum gestrigen Tage habe ich 1906 Studenten immatrikulirt, 118 mehr als der vorige Rector im gleichen Zeitraum in die Universität aufgenommen hat, eine Zahl, die seit dem Jahre 1890 nicht mehr erreicht worden war. Im Sommersemester 1897 waren immatrikulirt 3064 Studenten. Davon haben die Universität verlassen 645 und sind verblieben 2419. Vom 22. Mai bis 30. October habe ich neu immatrikulirt 719, so dass der Bestand am heutigen Tage 3148 beträgt. Davon studiren Theologie 338, Jurisprudenz 960, Medicin 660 und Philosophie 1190. Es gereicht mir zur Genugthuung konstatiren zu können, dass das Verhalten unserer Studenten auch in diesem Universitätsjahre ein musterhaftes gewesen ist. Mag auch der überschäumende Jugendübermuth einigemal die gesetzlichen Schranken durchbrochen haben, so hat doch das Universitätsgericht sich im Ganzen einer frohen Musse erfreuen können. Besonderes Lob aber möchte ich den Kommilitonen dafür spenden, dass sie die inneren Gegensätze, von denen sie mehr als billig beherrscht zu sein pflegen, überwunden, und in schönster Eintracht unserem erhabenen Könige die Gefühle dankbarer Verehrung bei dem Glanze der Fackeln zum Ausdrucke gebracht haben; dafür haben sie auch die Ehre genossen, Seine Majestät und Ihre königliche Hoheiten die Prinzen Friedrich August, Johann Georg und Albert auf dem Kommerse des 15. Juni in ihrer Mitte erscheinen zu sehen und diesen ihre begeisterte Huldigung darbringen zu dürfen. Der Fleiss unserer Studirenden ist nach wie vor ein musterhafter gewesen. Wir Leipziger Professoren haben keine Veranlassung in die oft gehörten Klagen einzustimmen, dass die deutschen Studenten, oder wenigstens die einzelner Facultäten nicht ihre Studienzeit gehörig ausnutzten. Nicht nur der Besuch der Vorlesungen ist dauernd ein guter gewesen, sondern auch die Seminare, durch die sich ja Leipzig besonders ausgezeichnet, haben die regste Theilnahme gefunden. Ein gewisser Gradmesser für den Fleiss sind die Promotionen. Solche haben stattgefunden: In der theologischen Facultät neben 7 Ehrenpromotionen zum Doctor, 4 Licentiatenpromotionen; in der juristischen Facultät 104 und 8 Ehrenpromotionen; in der medicinischen 215 und 6 Ehrenpromotionen, endlich in der philosophischen 134 und 9 Ehrenpromotionen. Ich habe noch einer Pflicht der Dankbarkeit Genüge zu thun. Am 15. Juni schenkte uns Se. Majestät sein lebensgrosses, von der Meisterhand Emil Pohle’s ausgeführtes Bildniss. Wir haben dieses im Senatssaale neben diejenigen unserer früheren Landesherrn aufgehängt, und noch späte Generationen werden sich an diesem schönen Beweise königlicher Huld zu erfreuen haben. Ebenso ist uns eine Anzahl Marmorbüsten verstorbener Kollegen von deren Freunden, die Bernhard Windscheids von der Juristenfakultät geschenkt worden, die uns die leibliche Erscheinung von Männern festhalten werden, mit denen wir geistig stets verbunden waren und bleiben. Nachdem das archäologische Seminar und Museum zu einem archaeologischen Institute vereinigt worden sind, hat sich die Erweiterung der Lehrmittel und namentlich die Begründung einer Handbibliothek erforderlich gemacht. Diese letztere ist 675

Emil Friedberg

durch namhafte Geschenke einiger Verleger unserer Stadt nachhaltig gefördert worden, und auch die Königl. Staatsregierung hat für das Museum eine umfangreiche Sammlung antiker Vasenproben gespendet. Ebenso hat die Universitätsbibliothek mannigfache Zuwendungen erfahren, unter denen die der werthvollen Büchersammlung des ao. Prof. der Medicin Dr. Richard Hagen besonders hervorzuheben ist. Auch dafür sei an dieser Stelle der herzliche Dank der Universität zum lauten Ausdrucke gebracht. Aber noch zweier Gaben habe ich zu erwähnen. Zur Einweihungsfeier überreichte uns eine Deputation von Rath und Stadtverordneten der Stadt Leipzig die Urkunde einer Stiftung, durch welche die Zinsen eines uns übereigneten Kapitals von 12 000 Mark zu Gunsten Leipziger Studirender durch den Senat verwendet werden sollen. Wir haben diese Stiftung mit freudigem Danke entgegen genommen. Nicht blos weil sie vorhandene Bedürfnisse schön befriedigt, sondern weil sie uns ein Zeichen ist der gütigen Gesinnung der Stadt zu ihrer Universität, der Harmonie zwischen beiden Körperschaften, die aufrecht zu erhalten auch wir stets bemüht sein werden. Endlich hat vor wenigen Tagen der Privatdozent in der phil. Fakultät Dr. iur. et phil. Arthur Prüfer der Universität ein Kapital von 7800 Mark geschenkt, um daraus eine neue Konviktsstelle zu begründen. Wir danken dem hochherzigen Spender, und freuen uns aufrichtig, dass das so schöne und wichtige Institut unseres Konviktes damit eine Förderung erfahren hat. Ich wende mich zu den akademischen Preisarbeiten. Dabei werde ich mich darauf beschränken, lediglich die Ergebnisse zu proklamiren, während ich für die Kritik der eingelaufenen Arbeiten auf die gedruckte Publikation verweise, welche demnächst erscheinen und auch über die neu gestellten Themata Aufschluss geben wird. Das Thema der theologischen Fakultät lautete: „Die Lehre Melanchthons vom Glauben und von der Kirche in ihrer Entwickelung und in ihrem Verhältniss zu Luther und der Orthodoxie“. Von zwei eingelaufenen Arbeiten konnte der mit dem Motto „Glaube und Lehre“ zwar auch nicht den Preis zugebilligt, wohl aber für den Verfasser beim Kgl. Ministerium eine Remuneration beantragt werden. Der Verfasser ist stud. theol. Theo Lieschke aus Plauen im Voigtlande. Das Thema der juristischen Facultät: „Das Tragen der Gefahr beim Kauf mit besonderer Berücksichtigung des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches“, hat nur eine und zwar nicht ausreichende Bearbeitung gefunden. Von der medicinischen Facultät ist das Thema gestellt worden: „Es soll die Configuration der vorderen Bauchwand und namentlich die Lage des Nabels in der Norm und bei möglichst vielen Abdominalerkrankungen genau festgestellt und untersucht werden, wie weit die gewonnenen Daten zur Aufstellung diagnostischer Grundsätze verwerthbar sind“. Der Verfasser der einen eingelaufenen Arbeit mit dem Motto, das Leben ist kurz u. s. w., der Kandidat der Medicin Benno Müller aus Dresden, ist des Preises für würdig erachtet worden. Die I. Section der philosophischen Facultät stellte als ordentliche Aufgabe: „Auf Grund der älteren arabischen Geographen, einschliesslich Jacut’s soll ein genaues gesichtetes Verzeichniss der Ortsnamen der alten Landschaft Babylonien aufgestellt 676

Jahresbericht 1896/97

werden“. Der einen hierzu eingereichten Abhandlung ist der Preis zuerkannt worden. Ihr Verfasser ist: Maximilian Streck aus Pfarrkirchen in Bayern. Die ausserordentliche Aufgabe derselben Section: „Hellanici Lesbii fragmenta colligantur, discribantur, enarrentur“ hat gleichfalls nur eine Bearbeitung gefunden, die aber des Preises würdig erklärt worden ist. Ihr Verfasser ist: stud. phil. Roland Köhler aus Jena. Die ordentliche Aufgabe der II. Section lautete: „Die Bauwerke der sogenannten Spätgotik in Sachsen sollen auf ihre innere Raumbildung geprüft, unter sich und mit früheren süddeutschen wie niederländisch-norddeutschen Beispielen derselben Periode verglichen werden, um auf Grund der durchgehenden Merkmale eine ästhetische Charakteristik und eine genetische Erklärung des ganzen darin ausgeprägten Baustiles zu gewinnen“. Der einen eingereichten Arbeit ist der Preis zuerkannt worden. Ihr Verfasser ist: stud. phil. Erich Hänel aus Dresden. Die von der III. Section gestellte ordentliche Aufgabe: „Das Problem der magnetischen Induction für zwei Kugeln, und namentlich auch das analoge Problem in der Ebene, sollen zu lösen versucht werden unter Anwendung der Methode des arithmetischen Mittels“ ist von der einen eingereichten Abhandlung preiswürdig gelöst worden. Ihr Verfasser ist: stud. math. Ernst Neumann aus Königsberg i. Pr.; dagegen hat die ausserordentliche Aufgabe der II. Section keine Bearbeitung gefunden. Und somit habe ich nur noch die letzte Pflicht meines Amtes zu erfüllen, dieses auf den erwählten und bestätigten Rector des neuen Universitätsjahres zu übertragen. Ich fordere Sie, Herr Dr. Wachsmuth, auf, als mein erwählter und bestätigter Nachfolger das Katheder zu besteigen und die Insignien Ihres neuen Amtes aus meiner Hand entgegenzunehmen. Doch zuvor habe ich Ihnen das Gelübde abzunehmen, welches nach unseren Statuten jeder Rector zu leisten hat. Sie schwören bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, dass Sie die Verfassung und die Gesetze der Universität Leipzig treu und gewissenhaft beobachten und alle Pflichten des Ihnen anvertrauten Amtes als Rector der Universität nach bestem Wissen und Gewissen redlich erfüllen wollen. Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe! Und somit proklamire ich Sie, den Dr. phil. Curt Wachsmuth, zum Rector der Universität Leipzig für das Universitätsjahr 1897/98. Ich übergebe Ihnen den Mantel als Zeichen Ihrer Würde, die Kette, mit welcher königliche Huld den Leipziger Rector geschmückt hat, das Siegel der Universität, damit Sie deren Willen rechtlich beglaubigen, die Statuten, die Sie zu wahren haben, den Schlüssel des Hauses als Symbol Ihrer Herrschaft über dieses. Möge Ihre Amtsführung eine gesegnete sein für Sie und die Universität, und mögen Sie heute über ein Jahr von diesem Katheder mit denselben Empfindungen dankbarer Genugthuung herabsteigen können, wie das mir heute vergönnt ist! Dixi. ***

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Curt Wachsmuth (1837–1905)

31. October 1897. Rede des antretenden Rectors Dr. Curt Wachsmuth. Ueber Ziele und Methoden der griechischen Geschichtschreibung. Hochansehnliche Versammlung! Heute bei einer der vornehmsten akademischen Festlichkeiten, die alle Glieder unserer Universität in einen Raum zusammenführt, geziemt es sich wohl, gegenüber der unausgesetzt fortschreitenden Ausdehnung und Vertiefung wissenschaftlicher Arbeit und der eben deshalb unaufhaltbaren Sonderung in neue und immer neue Einzelfächer, sich des Gemeinsamen, das uns alle verbindet, bewusst zu bleiben. Wir dienen alle einer Herrin und nur der einen; ihr aber in doppelter Weise: wir sind bestrebt die wissenschaftliche Erkenntniss durch eigene Forschung zu fördern und die Jugend in die Zucht wissenschaftlichen Denkens zu nehmen, auf dass sie selbstständig zu urtheilen befähigt werde; fest überzeugt, dass wir so auch am besten die wahren Bedürfnisse des Staates und der Kirche, wie der Gesellschaft, so weit es uns überhaupt zukommt, befriedigen. Dies erhebende Bewusstsein der Gemeinschaft darf und soll aber die Erkenntniss nicht ausschliessen, dass wir zu dem hohen Ziele nicht alle auf demselben Wege wandern, dass vielmehr dem Wesen der verschiedenen Disciplinen entsprechend das wissenschaftliche Einzelverfahren sehr verschieden ist und sein muss; dass auch hier die Parole gilt: „getrennt marschieren, vereint schlagen“. In unserm Jahrhundert hat die Naturwissenschaft mit den ihr eigenthümlichen und höchst scharfsinnig entwickelten Methoden der Beobachtung und des Versuchs erst eine lange Reihe von Thatsachen festgestellt und ist dann Schritt für Schritt vorgedrungen zu einer immer umfassenderen Kenntniss der Gesetze, die die wirkliche Welt beherrschen. Diese beispiellosen Erfolge haben nun aber neuerdings Manche zu dem Glauben verleitet, dass sich die exacte naturwissenschaftliche Methode auch auf andere Wissenschaften übertragen lassen müsse, speciell auf die philologisch-historischen, d. h. auf alle, die sich mit irgend einem Zweige der menschlichen Cultur und seiner geschichtlichen Entwickelung beschäftigen. Man hat sogar behauptet, erst wenn und nur insoweit dies Verfahren zur Anwendung gelange, könne von streng wissenschaftlichem Charakter einer Disciplin die Rede sein. Damit hätten wir denn glück679

Curt Wachsmuth

lich die allein selig machende Methode, deren immer völligere Ausbildung und Durchführung das einzige Ziel der wahren Wissenschaft sein müsste. Bei solchem Beginnen ist nur leider das erste Gebot gerade der Naturforschung, das ruhiger, sachlicher Beobachtung nicht erfüllt. Bei unvoreingenommener Prüfung treten uns sofort ganz fundamentale Verschiedenheiten der Bedingungen entgegen, unter denen die bezeichneten beiden Forschungsgebiete ihre Arbeit auszuführen haben. Die Naturgesetze gelten ausnahmslos (scheinbare Ausnahmen entstehen nur durch unrichtige Formulierung der Gesetze) und die Naturerscheinungen begreifen, heisst ihre Gesetze finden. Im gesammten Leben der Menschheit dagegen herrscht zwar mit Nichten ein buntes, wie vom Zufall zusammengewürfeltes Durcheinander. Es fehlt durchaus nicht an gesetzmässigen Erscheinungen und allgemein gültigen Erfahrungssätzen; gerade gegenwärtig ist man mit erfreulichem Eifer beflissen, durch Analogie und Vergleichung derartige Gesetze, wie man sie immerhin nennen mag, festzustellen, in der Vielheit die Einheit zu suchen. Und ich bezweifle gar nicht, dass hier namentlich bei weiteren Fortschritten der Psychologie und Ethnologie noch viele fruchtbare Erkenntnisse zu gewinnen sind. Aber mit der Auffindung solcher Gesetze ist die Aufgabe keineswegs vollendet. Denn überall, wo der Mensch wirkt oder gewirkt hat, steht neben der Regel die jeder Regel abholde Freiheit; neben dem Gesetz das Irrationale, die Laune; neben der Masse das Individuum; neben dem Typischen und Normalen die Nüance. Und dem Auge, das Alles, was sich nicht auf eine Formel bringen lässt, nicht sähe oder nicht sehen wollte, entginge schliesslich doch recht eigentlich das Beste, Feinste und Höchste der Cultur. Dazu kommt ein Zweites. Das Material, mit dem der Naturforscher arbeitet, ist unerschöpflich: denn er kann an die Natur auf dem Wege des Experiments stets neue Fragen richten und erhält immer eine Antwort; wenn das Experiment ergebnisslos bleibt, so war nur die Frage falsch gestellt. Und vor allem ist dies Material, correct aufgenommen, unbedingt zuverlässig: denn die Natur irrt sich nicht und trügt nicht. Wie ganz anders sieht es auf philologisch-historischem Gebiete aus! Hier ist der Forscher zunächst völlig abhängig von der Ueberlieferung, die ja zuweilen mit reicher Hand schenkt, öfters nur sparsam oder geradezu kärglich giebt, nicht selten jede Auskunft verweigert, überall aber vom Zufall abhängig ist. Nun ist man ja in unserm Jahrhundert unablässig bemüht gewesen, der Forschung durch allseitige Ausbeutung von Archiven und Bibliotheken und namentlich durch ausgedehnte, im Wetteifer der Nationen sich überbietende Ausgrabungen auf dem Boden der antiken Welt neue Quellen zu erschliessen, und das mit solchem Erfolg, dass wir von unserm bescheidenen Standpunkt aus auch von beinahe unerschöpflichem Zufluss sprechen können, infolge dessen die Geschichte der menschlichen Cultur unausgesetzt in die Breite und Tiefe wächst. Allein das Alles hebt doch den durchgreifenden Unterschied zwischen unserm Arbeitsstoff und dem des Naturforschers nicht auf. So sehr wir gelernt haben methodisch zu suchen und auch von dem, was Ausgrabungen lehren können, nichts zu verabsäumen, der Zufall spricht schliesslich auch hier das entscheidende Wort. 680

Antrittsrede 1897

Gewöhnlich geht’s doch so, dass was selbst der kundige Forscher erwartet hat, er nicht findet und was er findet, er nicht erwartet hat, und wenn ein Problem durch einen neuen Fund seine Lösung erhält, zwei neue auftauchen, die der Lösung vergeblich harren. Ueberall klaffen die Lücken unseres Wissens; gegenüber der einstigen Fülle des Lebens bleibt Alles nur eine grosse Trümmerstätte, und um das was ursprünglich eins war, zu einem Ganzen zu verbinden, bedarf es nach wie vor der Combination, die Brücken schlägt oder Zerstörtes wieder aufbaut, und sich stricter Beweisführung naturgemäss entzieht. Nicht bloss mit der Quantität, auch mit der Qualität unsres Arbeitsstoffes steht es ganz anders als bei unsern naturforschenden Nachbarn. Ich exemplificire auf das Alterthum; für mittlere und neuere Zeiten würde sich die Betrachtung etwas variiren, aber auf dasselbe Ergebniss hinauslaufen. Die Texte der klassischen Litteratur haben meist eine lange Leidensgeschichte hinter sich, keiner liegt in originaler Fassung vor; Inschriften und Urkunden sind selten ganz heil, oft arg verstümmelt. Die Verderbniss, die äussere Schäden oder die Abschreiber den Texten zugefügt, muss erst wieder beseitigt und durch Vermuthung der ursprüngliche Wortlaut wieder hergestellt werden. Tritt man dann an die erhaltenen geschichtlichen Berichte und Darstellungen selbst heran, mögen sie auf Steinen aufgezeichnet oder litterarisch bearbeitet sein, so schwankt bei jedem Schritt vorwärts der Boden unter den Füssen. Die Steinurkunden, obwohl gleichzeitige Zeugen, sind doch keineswegs alle besonders zuverlässig. Im Gegentheil: vielfach bieten sie offizielle Darstellungen, die nur das sagen, was sie zu sagen für gut befinden. Und nun gar die der orientalischen Könige enthalten fast ausnahmslos Uebertreibungen, die von Lügen nicht mehr zu unterscheiden sind. Aber auch die Geschichtswerke selbst geben uns ja niemals ein reines Bild des wirklichen Hergangs, geschweige denn des inneren Zusammenhangs der Dinge. Selbst im günstigsten Falle sind sie durch die Anschauungen der Person, der Partei, des Volkes, der Zeit mannigfach getrübt; nicht selten geradezu tendentiöse Parteischriften, um so gefährlicher, je geschickter; oder mit unglaublicher Geringschätzung der historischen Wahrheit auf den Geschmack des Publikums berechnete Unterhaltungsschriften. Zudem sind für uns in vielen Partien die zeitgenössischen Quellen gänzlich verloren und wir nur auf späte, abgeleitete Darstellungen angewiesen, die aus Nachlässigkeit oder mit bewusster Absicht sehr frei mit der vorhandenen Ueberlieferung umspringen. So bedarf es auch hier einer complicirten kritischen und quellenanalytischen Thätigkeit, um alle Entstellungen, einseitige oder schiefe Auffassungen und Missverständnisse zu beseitigen und den wirklich brauchbaren Gehalt der Tradition herauszustellen. Für diese gesammte Reinigungsarbeit in ihren verschiedenen und mannigfaltigen Arten hat sich ja allmählich eine ziemlich feine Technik ausgebildet, die wie alles mehr Handwerksmässige lehrbar ist. Doch schon hier genügt alle Virtuosität nicht: ohne historischen Sinn gelangt man selbst bei diesen Vorarbeiten nicht zum Ziele. Der historische Sinn aber ist eine nicht Jedem gegebene Intuition, 681

Curt Wachsmuth

vergleichbar der Begabung des grossen Staatsmanns, der aus den oft sehr unvollkommenen oder selbst irrigen Berichten seiner Gesandten und Agenten heraus und über sie hinweg die Dinge sieht, wie sie wirklich liegen, nicht wie sie scheinen. Setzt nun endlich die eigentliche historische Arbeit ein, die nicht bloss die einzelnen Vorgänge äusserlich berichten will, sondern die gesammte Entwickelung in ihrem inneren Zusammenhange verstehen und darlegen, so bedarf es im höchsten Maasse der Kraft eigner Anschauung, der Fähigkeit durch alle Trübung und Zerstörung hindurch das ursprüngliche Bild zu erkennen. Es muss gegenüber all den einzelnen neben und durch einander liegenden Theilstücken eine Kunst des Zusammenschauens geübt werden, in der sich der Meister glänzend bewährt, der Stümper nothwendig zu Falle kommt, aber auch der Begabte doch leicht irren kann. Also die Divination, oder (bescheidener gesprochen) die schöpferische, wenn auch unausgesetzt, durch den prüfenden Verstand am Thatbestand, an der Erfahrung und der Analogie controllirte, Einbildungskraft vermag erst das todte Material lebendig zu machen und wir können uns das Recht der Phantasie in unserer Arbeit nicht verkümmern lassen. Aber eben so wenig können wir leugnen, dass so ein stark subjectives Element in die Wissenschaft eindringt: jede Zeit, jede Nation und jede bedeutende Persönlichkeit bringt bestimmte und verschiedene allgemeine Anschauungen mit, auf Grund deren es gewagt werden muss, die Entwickelung der Menschheit im Ganzen und im Einzelnen zu erfassen. Die Aufgabe des Historikers ist mithin gerade so unendlich, wie die Aufgabe der Civilisation selbst, die dem Menschengeschlechte auf Erden gestellt ist. Sollen wir deshalb verzweifeln, d. h. nicht mehr nach der Wahrheit streben, weil wir sie nie ganz erreichen können? Oder ist nicht eben das recht eigentlich die Summa aller menschlichen Wissenschaft, sich ewig dem Ziele zu nähern, das doch ewig unerreichbar bleibt? Freuen wir uns vielmehr der Mannigfaltigkeit der Versuche, die Dinge zu begreifen, deren noch viel reichere Mannigfaltigkeit den unermesslichen Inhalt der Geschichte bildet, und folgen mit Theilnahme jedem ernsten Unternehmen, auf irgend einem Wege in das Heiligthum zu gelangen, wenn wir auch nur einzelne Theile von einem bestimmten Punkte aus zu schauen bekommen. Von dieser Warte aus gewährt es auch vielfältigen und hohen Reiz nachzusehen, in welcher Weise frühere Zeiten die Aufgabe des Historikers angefasst und den geschichtlichen Stoff behandelt haben. Auch darin zeigt sich nämlich ein auffallender Unterschied zwischen den historischen und den naturwissenschaftlichen Disciplinen. Sind bei diesen abweichende ältere Meinungen meist eben so viele Irrthümer, so beanspruchen bei jenen die früheren Ansichten, gerade weil sie durch Zeit und Nation bedingt sind, selbst wieder ein hohes culturgeschichtliches Interesse. So möchte ich Sie jetzt einladen, einen raschen Blick auf die Leistungen der hellenischen Historiographie zu werfen, die Aufgaben, die sie sich gestellt, die Ziele, die sie verfolgt, die Wege, die sie dabei eingeschlagen. Fragen wir zuerst, was die Griechen, die mit Recht auch als Schöpfer der Geschichtswissenschaft gelten, denn eigentlich unter ἱστορία verstanden, so begegnen 682

Antrittsrede 1897

wir freilich einer nichts weniger als festen und geschlossenen Vorstellung. Das zu verstehen, muss man zu den Anfängen hinaufsteigen. Alle Wissenschaft entspringt bei den Hellenen aus der Poesie. Die kosmogonischen Speculationen der ersten Philosophen haben ihren Vorläufer in der Schöpfungsgeschichte der Hesiodeischen Theogonie, die älteste Geschichtschreibung der ionischen Logographen schliesst sich unmittelbar an die genealogischen und landschaftlichen Epen eben des Hesiodeischen Kreises. Hier wie dort werden Heroensagen und Ursprungslegenden der griechischen Stämme und Geschlechter erzählt, auch fremde Länder und Völker geschildert. Selbst die Behandlung des Stoffs ist nahe verwandt; denn auch jene Dichter boten bereits mit der Aufstellung von Stammbäumen eine auf Nachdenken beruhende Construction, bei deren Darlegung die metrische Form keine starke Fessel bildete. Nur gestalteten jetzt die Logographen, vom Geiste der eben erwachenden Aufklärung beseelt, das Einzelne mit klarem Bewusstsein so um, dass es menschlich möglich erschien und führten die Erzählung dann auch in die geschichtlichen Zeiten, selbst bis auf die Gegenwart herab. So kam es dass die Historie Mythisches ebensowohl als Geschichtliches und ausserdem noch Länder- und Völkerkunde behandelte. Oder anders ausgedrückt: alles was durch Erkundung – das eben ist ἱστορία – gelernt werden kann, mag es geschichtliche oder sagenhafte Ueberlieferung der Geschicke der Nation betreffen, oder mag es sich auf Wohnsitze und Lebensweise fremder Völker beziehen, gehört in das Gebiet der Historie. Naives Mittheilungsbedürfniss, das zugleich von behaglicher Anmuth umflossen ist, trieb diese ionischen Männer was sie erkundet, auch Andern mitzutheilen, machte sie zu Historikern. Diese charakteristischen Anfänge werden auch für die spätere Entwickelung bedeutsam. An Versuchen hervorragender Historiker Sage und Geschichte zu scheiden, fehlt es zwar nicht ganz und die Pergamenischen Alterthumsforscher, die sich selber stolz Kritiker nannten, haben systematisch die falsche Geschichte, d. h. die Sagen, abgetrennt von der wirklichen. Aber in der Praxis gehen bei dem Gros der Historiographen Sage und Geschichte allezeit durcheinander und noch in den Tagen des Polybios griff das grosse Publikum am liebsten zu Geschichtswerken, die Sagenstoffe behandelten. Ebenso sind breite geographische und ethnographische Schilderungen, weit hinausgehend über das zum Verständniss der geschichtlichen Vorgänge Nöthige, fast in allen Perioden und Kreisen sehr beliebt geblieben: und die antiken Philologen haben theoretisch die Geographie immer mit zur Geschichte gerechnet. Noch von einer anderen Seite her haben die Incunabeln der griechischen Geschichtschreibung auf ihren Gesammtcharakter dauernden Einfluss gewonnen. In den einzelnen Städten hatten sich an die Listen der verschiedenen Jahresbeamten knappe Aufzeichnungen geschlossen, die für Stadt und Land wichtige Ereignisse vermerkten. Im fünften Jahrhundert begann man dies trockene, aber zuverlässige Material litterarisch in ,Jahrbüchern‘ zu verarbeiten. In dem beschränkten Kreis der Localchronik war die vom Herkommen gebotene Form jahrweis fortschreitender Erzählung sachgemäss und nicht weiter störend; aber zu zusammenfassender geschichtlicher Darstellung ist sie freilich so ungeeignet wie möglich. Trotzdem wurde 683

Curt Wachsmuth

sie in die grosse Geschichtschreibung übernommen und blieb hier zufolge der eigenthümlichen Macht, die im Alterthum hergebrachte Formen überall auszuüben pflegen, lange herrschend; nur Wenige haben von ihrer drückenden Fessel sich ganz zu befreien gewusst. Nach den geschilderten Anfängen springt in dem Werke des Thukydides plötzlich in blanker Rüstung, wie die gewappnete Göttin aus dem Haupte des Zeus, die ächte Geschichtswissenschaft hervor: wahrlich nicht das geringste Product jener wunderbaren Maienzeit Athens, die im Drama wie in bauender und bildender Kunst ewige Muster schuf und zugleich die wahre, d. h. die voraussetzungslose Wissenschaft ins Leben rief. Zur vollen Erhabenheit entfaltet zeigt sich bei Thukydides zum ersten Male die Macht des historischen Gewissens, das ernste Bewusstsein von der heiligen Pflicht die Wahrheit zu suchen und zu sagen. Das fällt um so mehr auf, als der Sinn für Wahrheit bei den Hellenen gar wenig entwickelt war. Ich spreche nicht vom praktischen Leben, in dem von Alters her, wo es den eigenen Vortheil galt, List und Trug ohne Scheu geübt wurden, sondern von der allgemeinen Anlage der Nation, der künstlerische Wahrheit alles, geschichtliche nichts gilt. Ein correctes Bild von dem wirklichen Hergang der Dinge aufzunehmen und festzuhalten ist diesem überaus erregbaren und eindrucksfähigen, mit stets munterer Einbildungskraft und grenzenloser Lust zu fabuliren ausgestatteten Volke naturgemäss versagt. Immer überwiegt das Bedürfniss, die Thatsachen so zurecht zu legen, dass sie einen charakteristischen Inhalt erhalten und sofort steht ein Bild da, das lebendig ausgemalt den Schein der Wirklichkeit hervorruft, mit ihr selbst aber nur wenig gemein hat. Und wenn man kürzlich den historischen Sinn der Griechen gepriesen hat, so hat die Liebe zu dem unvergleichlichen Volk das Urtheil völlig geblendet. Vielmehr muthet es beinahe unhellenisch an, dass der schöne Schein so gar keine Gewalt über Thukydides hat. Aber nicht bloss die ächt historische Ehrfurcht vor den Thatsachen besass er, sondern er war zugleich ein Geschichtsforscher ersten Ranges, dessen Genialität sich auch auf Gebieten, die er nur nebenher berührt, wahrhaft überraschend bezeugt. So hat er mit sicherem Blicke den Unterschied zwischen der sog. Sagentradition und historischer Ueberlieferung erkannt und für jene früheste Zeit feste, von der Sage unabhängige Haltpunkte gesucht und gefunden in monumentalen Thatsachen, in uralten religiösen Ceremonien, selbst in überkommenen, aber gegenwärtig sinnlos gewordenen Namen. Nur selten ist jedoch die Kritik der ihm vorliegenden Nachrichten direkt angedeutet, meist wird sie stillschweigend vollzogen und bleibt nur aus dem zu erkennen, was er bietet und nicht weniger aus dem, was er auslässt. Sehr bezeichnend ist namentlich die absolute Enthaltsamkeit, die er gegenüber einem ganzen, bei den Hellenen sehr üppig entwickelten und von den meisten Historikern unbedenklich benutzten Gebiete der Ueberlieferung ausübt. Die hervorragenden Persönlichkeiten des Staates umrankte eine Fülle anekdotischer Züge und Legenden, die im besten Falle gut erfunden waren, vielfach bloss auf böswilligen Verdächtigungen der Gegner beruhten. Im 5. Jahrhundert war man 684

Antrittsrede 1897

bei der freieren Gestaltung des Staates namentlich in Athen, das jetzt wie die regsamste, so die klatschsüchtigste Stadt von Hellas wurde, auf das eifrigste beflissen, derartige Erzählungen in Wort und Schrift zu verbreiten. Wenn nun trotzdem Thukydides niemals die ihm hier in Menge dargereichten persönlichen Schilderungen benutzt oder sie auch nur erwähnt, so ist das offenbar das Ergebniss einer vernichtenden Kritik, die er der ganzen Gattung sog. Ueberlieferung hat angedeihen lassen; und man darf nicht etwa annehmen, wie es doch neuerdings geschehen, er habe persönliche Züge nur ausgelassen, weil er von der geringen Bedeutung des Einzelnen im Staate gegenüber der massgebenden Menge überzeugt gewesen sei. Anwandlungen von ,collectivistischer‘ Geschichtsauffassung – wie man sich heute (nicht eben schön) ausdrückt – hatte der Mann wahrlich nicht: dafür bürgt allein schon die hohe Stellung, die er den beiden grössten Staatsmännern Athens, Themistokles und Perikles, einräumt. Auf alles erreichbare sachliche Material, Urkunden wie Berichte aller Parteien, für die kriegerischen Operationen auch auf ein genaues Studium des Geländes, das ihren Schauplatz bildete, hat er seine Darstellung begründet: unverbürgtes und uncontrolirbares Gerede persönlicher Art blieb einfach bei Seite. Bei seinen rein auf die Sache gerichteten Forschungen enthüllte sich ihm endlich auch die höchste Aufgabe des Geschichtschreibers, die Entwickelung der Dinge in ihrem innerlichen Zusammenhange zu erfassen und zu zeichnen. Und wie meisterlich hat er sie gelöst! Wir dürfen hoffen, dass unter den Zeitgenossen es nicht ganz an ernsten Männern gefehlt hat, die eine volle Einsicht in das Unerhörte und Unübertreffliche, das hier geleistet war, besassen. Rasch aber ging das Verständniss verloren und später verstieg sich ein griechischer Historiker soweit, zu behaupten, am besten wäre der grauenvolle peloponnesische Krieg gar nicht geführt worden; nachdem er nun einmal geführt, hätte es sich am meisten empfohlen, ihn todtzuschweigen. In der That ragt Thukydides über die hellenischen Historiker in einsamer Grösse hervor und hat einen ebenbürtigen Nachfolger überhaupt nicht gehabt. Als Forscher kann mit ihm bloss Polybios verglichen werden; der aber steht nur mit einem Fusse in Hellas, mit dem anderen in Rom, dessen Macht er erst eifrig bekämpft, dann aus der Nähe kennen und bewundern gelernt hatte. In seinem universal angelegten Werke, das die Errichtung der römischen Weltherrschaft im Zeitalter der punischen Kriege zum Vorwurf hat, muss die Darstellung bis in’s Einzelne hinein als das Ergebniss unermüdlicher Sichtung eines ungeheuren Materials und eindringlichster Erwägungen gelten, die er gern selbst des Breiteren darlegt. Dabei zeigt sich denn freilich, dass er ausschliesslich mit der Logik operirt und das, was nach einem gewissen Probalititätscalcul zu einem bestimmten Ergebniss hinführen muss, ohne weiteres auch als wirklich geschehen betrachtet. Vortrefflich, wenn die Geschichte immer logisch verführe; da sie aber – wie Kant es einmal ausdrückt – im Einzelnen paradox vor sich zu gehen pflegt und das menschliche Leben aus lauter Antinomien besteht, so führt dies Verfahren leicht in die Irre und hat nachweisbar mehr als einmal auch Polybios getäuscht. 685

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Die Einseitigkeit hängt aber zusammen mit einer sein ganzes Werk durchdringenden Anschauung, der apodeiktischen Methode, wie er sie selbst nennt, der pragmatischen, wie sie mit einem Missverständniss seiner Worte heute allgemein heisst. Ueberall fragt er nämlich nach den Ursachen der Geschehnisse und spürt eifrig den Causalnexus auf: offenbar in Nachahmung des Thukydides, nur nicht in seinem Geiste, sondern durchweg in flach mechanischer Betrachtung. Nicht bloss alle Imponderabilien, deren Bedeutung kein Staatslenker ungestraft unterschätzt, fallen ausser Betracht; es wird auch völlig verkannt, dass in dem wirklichen Leben fast durchweg Wechselwirkung herrscht, das Meiste sich gegenseitig bedingt, die verschiedenen Momente kunstvoll mit einander verflochten und verwickelt sind und mit Nichten sich an eine Schnur aufhängen lassen. Eben diese pragmatische Betrachtung soll aber nach Polybios das Studium der Geschichte erst fruchtbar machen, indem sie den Staatsmann in Stand setzt, analoge Fälle auf die Gegenwart zu übertragen und sich nach ihnen zu richten. Hier spürt man den Einfluss der stoischen Lehre, der er auch sonst stark zuneigt. Die von Thukydides in vornehmer Gelassenheit ausgesprochene Hoffnung, sein Werk werde nicht bloss geschichtliche Aufklärung bringen, sondern auch politisch bilden, hatte nämlich auf alle Nachfolger wie eine Parole gewirkt. Fast sämmtlich begannen sie mit der Sentenz, die Geschichte sei die ,wahrste Schule‘ staatsmännischer Thätigkeit. Aber anstatt, wie Thukydides, die Thatsachen selbst sprechen zu lassen, hatte bereits Xenophon seiner engen, unmittelbar auf das Nützliche gerichteten Natur gemäss die Geschichtschreibung zu einer pedantischen Schulmeisterin gemacht, die an praktischen Beispielen Kriegskunst und Ethik lehrte. Dann ergingen sich die einflussreichsten Historiker der nächsten Generation (Ephoros und Theopompos), denen Kriegs- und Staatskunst ferne stand, lieber in moralischen Gemeinplätzen, deren anspruchsvolle Trivialität dem Geschmack der Halbgebildeten ausserordentlich zusagte. Als nun schliesslich die Stoiker, die bei aller wissenschaftlichen Arbeit nur nach deren Nutzen fragten, das gesammte Geistesleben der Nation in einem grossen System zu umfassen suchten, wiesen sie der Geschichte definitiv die Aufgabe zu, politisches und moralisches Handeln zu lehren. In dem Banne der so sanctionirten Weisheit stehen dann auch die Späteren, namentlich die Universalhistoriker, die es als einen Hauptvorzug der Weltgeschichte betrachten, dass man hier alles, was man aus den Geschicken Anderer an Belehrung für das eigene Handeln schöpfen könne, bequem zusammengetragen finde. Davon, dass die Geschichte eine Wissenschaft sei, die ihren Zweck in sich selbst trage und nur gedeihen könne, wenn sie unbeirrt durch praktische Rücksichten lediglich den wirklichen Hergang der Dinge zu erforschen suche, ist schon lange nicht mehr die Rede. Zwar sprechen noch alle dem Thukydides es nach, dass sie nur die Wahrheit im Auge haben wollen; und es sind schöne Worte, mit denen man die Wahrhaftigkeit als die vornehmste Tugend des Historikers preist oder die Geschichte als Priesterin und Prophetin der Wahrheit feiert. Aber die Verpflichtungen, die ein solches Bekenntniss auferlegt, werden gar nicht mehr empfunden. Das liegt in erster Linie an dem heillosen Einfluss, den die Rhetorik fast auf die gesammte Historiographie nach Thukydides gewann. 686

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Es ist wichtig sich klar zu machen, wie das so gekommen ist. Als Thukydides die Geschichtswissenschaft begründete, gab es einen ausgebildeten historischen Stil noch gar nicht; die attische Kunstprosa, die berufen war alsbald die gesammte Litteratur zu beherrschen, lag damals vielmehr noch ganz in den Windeln. Sein eigener Stil aber ist eben so reizvoll durch die Energie, mit der er die noch recht ungefüge Sprache zu ausdrucksvollster Wiedergabe seiner Gedanken zwingt, wie zur Nachahmung ungeeignet. Da trat nun Isokrates auf, ein glänzendes Sprachgenie, das der griechischen Prosa auf lange Zeit Norm und Gesetz diktirte, und hob die Kunst der Rede auf die erste Staffel technischer Vollendung. Man kann sich, zumal unter uns Deutschen, nur schwer eine ausreichende Vorstellung machen von der unwiderstehlichen, ja geradezu berückenden Macht, mit der der Wohllaut seiner harmonisch dahinströmenden Rede auf Ohr und Geist seiner Hörer eindrang und sie fortriss. Aus allen Theilen der hellenischen Welt eilte man zu den Füssen des gefeierten Meisters, der mit der Redegabe auch Verstand und Charakter zu bilden versprach: er wurde auf geistigem Gebiete geradezu eine führende Macht. Insbesondere gingen aus seiner Schule viele Staatsmänner und Geschichtschreiber hervor: denn da das schwungvolle Pathos seiner Rede eines bedeutenden Inhalts bedurfte, wandte er sich mit Vorliebe der Behandlung gewisser allgemeiner Fragen des staatlichen Lebens zu, obwohl ihm zu einem die realen Kräfte kaltblütig abwägenden Politiker nicht weniger als Alles fehlte. So geschah, was geschehen musste: die Geschichte verfiel gleichsam als ein herrenloses Gebiet den Redekünstlern, die sehr richtig erkannten, welch lohnenden Stoff sie für ihre Fertigkeiten bot. Und von nun an blieb in Hellas die Meinung herrschend, dass jeder rhetorisch Ausgebildete zur Geschichtsschreibung berufen sei; von fachmännischer Schulung für das Geschichtsstudium ist überhaupt nicht die Rede. Was Wunders, dass diesen rhetorischen Historikern die Forderungen ihrer Kunst fast alles, die Bedürfnisse der Geschichtswissenschaft verschwindend wenig bedeuteten; dass sie jedenfalls in erster Linie nicht mehr fragten: „was ist wahr?“ „was ist geschichtlich bedeutsam?“ sondern vielmehr: „was ist wirksam?“ „was kann Eindruck machen?“ Deshalb strebten sie um jeden Preis nach buntester Mannigfaltigkeit, schoben immer wieder prächtige Episoden ein, ergingen sich in den so beliebten Wundererzählungen und in fesselnden Schilderungen fremder Länder und Völker. Ebenso erklärt sich das starke Hervorheben der Persönlichkeiten und die eindringende psychologisch-moralische Würdigung auch ihres Privatlebens. Und das Einzelne putzte man vollends unbekümmert, ob das in Wirklichkeit zutraf, aus, stutzte es zu überraschenden Gegensätzen auf oder rückte es sonst effectvoll zurecht. Massgebend war und blieb also die Rücksicht auf das Publikum, dessen Lesehunger die Geschichtschreibung befriedigte, etwa wie heutigen Tages der Roman, der damals noch nicht erfunden war. Natürlich, dass mit dem wechselnden Geschmack sich auch die Art der Darstellung änderte. Erst gefiel ein spiessbürgerlicher Moralist, dann ein aufgeregter Polterer; ein Dritter wirkte wie ein schlechter Tragödienschreiber auf die Thränendrüsen seiner Leser; ein Anderer bot eine eigenthümliche 687

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Mischung von Schwulst und Ziererei, von hohlem Pathos und frostigen Witzeleien. Die höchste Gunst errang Duris, der sich nachdrücklich rühmte, sein Hauptabsehen auf dramatische Anschaulichkeit und ergötzliche Unterhaltung zu richten, und wirklich ein höchst amüsanter Erzähler gewesen sein muss; aber freilich log er, wie sich Plutarch entrüstet ausdrückt, gewohnheitsmässig, auch da, wo er es gar nicht nöthig gehabt hätte. Noch nach einer andern Seite hat endlich Thukydides’ Beispiel fortgewirkt. Mit einer im Stoff liegenden Selbstbeschränkung hatte er lediglich den militärischen Gang des gewaltigen Krieges und die mit ihm unmittelbar zusammenhängende politische Entwickelung verfolgt: dass ihm aber der Sinn für culturgeschichtliche Auffassung nicht fehlte, hat er in gelegentlichen Excursen glänzend dargethan. Offenbar jedoch nach seinem Vorbild bot in der Folgezeit die grosse Litteratur allermeist ganz einseitige Kriegs- und Staatsgeschichte. Immerhin bethätigte sich das Interesse an anderen Seiten des geschichtlichen Lebens in gewissen Nebenkreisen der historischen Gattung recht rege, namentlich in den Lokalchroniken, die vielerlei religionsund sittengeschichtliche Thatsachen brachten, und in den Kreisen der Peripatetiker, aus denen selbst ein geschichtliches Gesammtbild der griechischen Cultur hervorging. Auch die ökonomischen und materiellen Verhältnisse der Völker fing man an mit Einsicht zu würdigen. Und endlich wissen wir wenigstens von einem Werke, das gleichmässig das staatliche und das übrige Culturleben in seiner Entwickelung durch ausgedehnte Zeiträume verfolgte: es stammt von einem sehr merkwürdigen Manne, dessen litterarische Thätigkeit die gesammte in der hellenischen Wissenschaft niedergelegte Geistesarbeit kurz vor dem Niedergang noch einmal umspannte, dem Stoiker Poseidonios. Er war systematischer Philosoph, Naturforscher, Astronom, Mathematiker, Geograph, Philologe und vielseitigster Historiker. In seiner Fortsetzung der Universalgeschichte des Polybios verfolgte er neben den grossen Staatsactionen die Einrichtung und Wirksamkeit der Verwaltung des Reichs, würdigte neben der Persönlichkeit der leitenden Staatsmänner, deren Charakter er mit psychologischem Verständniss zeichnete, die Lage der Regierten und schilderte mit eben so grossem Interesse wirthschaftliche Verhältnisse wie sittliche Zustände. Wäre sein Werk erhalten, so würden wir erst berechtigt sein, ein Urtheil darüber abzugeben, was die Griechen auch auf diesem Gebiete geleistet haben. Es erschien nicht unangemessen, dass der antretende Rector die früheste Geschichte seiner Einzeldisciplin in einigen Hauptpunkten skizzirte. Wir kehren zu dem Allgemeinen zurück. Wissenschaftliche Forschung und Lehre pflegt – davon ging unsere Betrachtung aus – die Universität gleichmässig. Innerlich gehören beide Aufgaben aufs engste zusammen und sind auch von Anbeginn mit einander verknüpft gewesen. Bei den Griechen wurde wissenschaftliche Lehre ursprünglich sogar allein durch mündlichen Verkehr von den führenden Geistern ihren Freunden und namentlich der lernbegierigen Jugend mitgetheilt. Erst allmählich trat dann die schriftliche Darstellung hinzu, als eine Art Ersatz, nach einem bekannten Worte Platons nur bestimmt ein Abbild der lebendigen Belehrung zu sein, durch die der Lehrer ein wirkliches Wissen in die Seele des Schülers pflanzt. Und wahrhaft 688

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bewunderungswürdig ist die auf die verschiedensten Gebiete menschlichen Wissens sich erstreckende neidlose Arbeitsgemeinschaft zwischen Lehrern und Schülern in den antiken Philosophenschulen, vor allen der des Aristoteles, und in den ältesten Philologenschulen, namentlich der des Kallimachos. Solche geistige und sittliche Gemeinschaft zwischen Docenten und Studenten, Lehrenden und Strebenden, besitzen wir seit den Tagen Philipp Melanchthons in noch weit grösserem Umfang an unsern deutschen Universitäten. Insbesondere ist es ein alter Ruhm unserer Hochschule zu den eigentlichen Heimstätten wissenschaftlicher Arbeit zu zählen. Die Professoren betrachten es seit lange als eine ihrer wichtigsten Aufgaben, Ihnen, meine Herren Commilitonen, nicht bloss in den Hörsälen das Beste zu bieten, was sie haben, sondern Sie auch in unmittelbarem persönlichen Verkehr in Instituten, Seminarien, Laboratorien, Uebungen aller Art zu wissenschaftlicher Arbeit anzuleiten. Durch die Munificenz der Regierung und des Landes haben wir jetzt stattliche, ja prächtige Lehrräume erhalten: wir wollen uns dieser Gunst erfreuen, aber auch nicht vergessen, dass sie für uns eine Mahnung enthält. Es ist in der Geschichte eine nicht seltene Erscheinung, dass sich Prachtbauten erst einfinden, nachdem der Höhepunkt der Entwickelung bereits überschritten ist. So lange Athen an der Spitze eines grossen Bundes den Handel des östlichen Mittelmeeres beherrschte, gab es für die Kaufstände auf dem Marktplatz nur höchst primitive Vorkehrungen in Baracken und Buden; als es eine ohnmächtige Kleinstadt geworden war, bauten reiche Gönner kostbare Kaufhäuser und Markthallen. Zur Zeit der römischen Republik genügte für die Abstimmungen des souverainen Volkes auf dem Marsfeld ein einfaches Gehege; Caesar und Augustus liessen dort marmorne Gebäude errichten. Nun fürchte ich zwar nicht, dass man Aehnliches dereinst von uns berichte: das sei ferne! Aber sorgen wir alle, Lehrer und Hörer, jeder an seiner Statt mit unsern besten Kräften dafür, dass mit den freien, weiten Räumen, die uns zur Arbeit angewiesen sind, der Geist freier, weitblickender Forschung harmoniere und mit der Pracht des Gebäudes die Bedeutung der Hochschule im Einklang stehe; damit bei dem Jubiläum 1909 der Festredner wahrheitsgetreu berichten könne: „ein neuer Aufschwung der Universität datirt von dem Jahre, da sie ihre neuen Räume bezog“. Quod Deus optimus maximus bene vertat! Dixi. ***

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31. October 1898. Rede des abtretenden Rectors Dr. Curt Wachsmuth. Bericht über das Studienjahr 1897/98. Hochansehnliche Versammlung! Der Rückblick auf das heute abschliessende Studienjahr richtet sich zuerst auf das grossartige Doppelfest, das dem letzten Frühjahr in Deutschland und insbesondere im ganzen Sachsenlande sein nationales Gepräge gab, auf die Jubelfeier der 25jährigen Regierung und des 70. Geburtstages Seiner Majestät unsres Königs. Die Universität, die sich ihrer bevorzugten Schutzstellung an den Stufen seines Thrones mit dankbarstem Stolze bewusst ist, durfte am 20. April ihrem allerdurchlauchtigsten Rector perpetuus magnificentissimus durch Senatsdeputation ihre ehrfurchtsvollen, aus der Tiefe des Herzens hervorquellenden Glückwünsche aussprechen und dabei Seiner Majestät eine bronzene Tabula gratulatoria überreichen, die einem hellenischen, bei den deutschen Ausgrabungen in Olympia gefundenen Ehrendekrete nachgebildet ist, und deren lateinische Aufschrift den Dank für die Fülle der uns mit und vor Andern erwiesenen Wohlthaten knapp und schlicht zusammenzufassen sucht. Unvergessen werden jedem Hörer die huldvollen Worte bleiben, mit denen unser gnädigster Herr bei der Erwiederung sein ganz persönliches Verhältniss zu seiner geliebten Universität schilderte. Auch unsrer akademischen Jugend war es vergönnt, ihrem erhabenen allerhöchsten Oberhaupt bei der feierlichen Wagenauffahrt, die am 24. April die Studentenschaft sämmtlicher Hochschulen des Landes veranstaltete, an erster Stelle und in stattlichster Vertretung ihre begeisterte Huldigung darzubringen. In Folge dieser über eine Woche sich hinziehenden Feste in der Hauptstadt musste dies Mal unsere specielle akademische Feier des Allerhöchsten Geburtstages auf Sonntag, den 1. Mai verschoben werden: die vom Prorector gehaltene Festrede verfolgte in raschen Zügen die äusseren Geschicke unsrer Universität durch die Jahrhunderte und mancherlei Missgeschick hindurch bis zu dem glänzenden Aufschwung der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart, insbesondere unter den Auspicien des jetzt regierenden Königs. Diesen nationalen Festtagen gegenüber steht der grosse nationale Trauertag, jener dies ater des 30. Juli, an dem der erste Kanzler des durch seine unvergleichliche Staatskunst geschaffenen und geordneten deutschen Reichs aus den Lebenden schied: ein Ereigniss, das ja nach dem natürlichen Lauf menschlicher Dinge in nicht ferner Zeit zu erwarten stand und doch, als es nun wirklich eintrat, jeden ernsten Deutschen in unverminderter Schärfe mit dem Gefühle eines unausdenkbaren Verlustes traf. Die Universität, die ausser Stande war noch in den letzten Tagen des 690

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Semesters eine Trauerfeier, wie sie dem Einzigen gebührt, auszurüsten, wird es sich nicht nehmen lassen, an dem kommenden Todtenfest, dem 20. November noch einen besonderen solennen Actus zum Gedächtniss des grössten Todten, den das ablaufende Jahr uns allen entrissen hat, zu begehen. Möge sein guter Genius, nun seine Person den Kämpfen der Gegenwart entrückt ist, als ein segensreicher Schutzgeist über aller Zukunft unseres Volkes walten! Möge insbesondere unsere akademische Jugend sich immer der grossen nationalen Aufgabe bewusst bleiben, die ihr der Achtzigjährige in tiefergreifenden Worten an’s Herz gelegt hat! Von Universitätsangelegenheiten allgemeinen Charakters hat – da ja von unserem innern Leben und Arbeiten eine Relation theils überhaupt, jedenfalls in der Kürze ganz unmöglich ist – in den letzten Rectoratsberichten die erste Stelle eingenommen die Erzählung von dem Beginn, dem allmählichen Fortschreiten und der schliesslichen Vollendung des Baus des Universitätshauses, in dem wir heute versammelt sind. Von Anfang an war aber bei diesen Bauplänen auch die Erneuerung unsrer altehrwürdigen Pauliner Kirche in’s Auge gefasst. Von Herzog Moritz der Universität geschenkt, war sie im Laufe der Jahrhunderte nicht bloss schlimmer Unbill vorübergehend preisgegeben, sondern hatte auch zahlreiche entstellende Um- und Einbauten über sich ergehen lassen müssen, so dass eine vollständige Restauration als unerlässliche Forderung erschien. Nachdem bereits im Jahre 96 die äussere Südwand vollendet war, traten indessen unvermeidliche Zögerungen ein, infolge deren das vorige Jahr der Umbau gänzlich liegen blieb. Auch dies Jahr verstrich zum grossen Theil mit der immer wieder erneuten Ausarbeitung und Prüfung der Pläne von der Umgestaltung des Innern und der Facade. Ich will die in der That bedeutenden Schwierigkeiten, die zu überwinden waren, um von dem alten Charakter schonend so viel zu erhalten, als die Pietät gebot, und doch ein künstlerisch befriedigendes Ganzes zu schaffen, nicht im Einzelnen schildern: genug, erst Ende Juni gelang es endlich die definitive Uebereinstimmung aller massgebenden Faktoren zu erzielen. Jetzt aber dürfen wir auf ein so rasches Fortschreiten der Bauarbeiten hoffen, dass zum Sommersemester wenigstens der akademische Gottesdienst wieder in den altgewohnten, dann aber prächtig umgestalteten Räumlichkeiten wird Statt finden können. Gedenken wir sodann der festlichen Tage, die speciell unsere Universität angingen, so ist auch hier wieder mit unserm erhabenen Monarchen zu beginnen. Denn trotz des bevorstehenden Jubiläums, das in höchstem Masse Anstrengungen jeder Art mit sich bringen musste, hat Seine Majestät auch dieses Jahr den Winterbesuch, mit dem er Stadt und Universität Leipzig auszuzeichnen pflegt, nicht unterlassen wollen. Vom 31. Januar bis 3. Februar weilte unser von tiefstem Verständniss für wissenschaftliches Leben und Arbeiten durchdrungener König in unsern Mauern und besichtigte mit eingehendstem Interesse ein ganz neugeschaffenes und ein vollständig umgewandeltes Institut, wie er auch mehrere Vorlesungen neugewonnener Collegen durch seine Gegenwart ehrte. Am 3. Januar fand ferner in Gegenwart Seiner Excellenz des Herrn Cultusministers Dr. von Seydewitz die feierliche Eröffnung des seit 1896 erbauten physikalischchemischen Institutes statt, einer Anstalt, die Dank der grossherzigen und weitsichtigen Fürsorge unsrer Regierung für diese frisch aufblühende Disciplin als eine Arbeits691

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stätte ausgestattet ist, wie sie ähnlich nur ganz wenige Hochschulen besitzen, in gleicher Vortrefflichkeit keine einzige. Auch an persönlichen Gedächtnissfeiern war das Jahr nicht arm. Nicht weniger als dreien unserer Collegen hatten wir die Freude zu dem Feste des 50jährigen Doctorjubiläums wärmste Glückwünsche darbringen zu können: den 11. December dem Geh. Hofrath Dr. Wiedemann, den 8. Juli dem Medicinalrath Dr. Hennig, den 29. Oktober dem Geh. Hofrath Dr. Scheibner, dem letzten leider nur auf schriftlichem Wege. Und am 19. Dezember beging die Juristen-Facultät in solenner Weise das Gedächtnis des 100jährigen Geburtstages eines der grössten Rechtslehrer unserer Universität, Karl Georg von Wächter, wobei ihr zeitiger Decan in der Aula die Festrede hielt. Noch ist des feierlichen, am 25. April gleichfalls in unserer Aula abgehaltenen Actes zu gedenken, mit dem die hiesige Handelshochschule eröffnet wurde. Die Universität, die mit Sympathie den Bestrebungen gefolgt war, die zu dieser in Deutschland ganz neuen Schöpfung führten und ihr gern – soweit dies zunächst für sie erforderlich und bei uns dienlich erschien – ihre fertig ausgebildeten Institutionen zur Mitbenutzung gewährte, assistirte auch bei diesem Gründungsacte der Schwesteranstalt mit herzlicher Antheilnahme und sprach durch den Mund ihres Rectors freundnachbarliche Glückwünsche aus. Auch in unserer Specialgeschichte stehen aber neben den frohen Tagen Trauertage und zwar in ungewöhnlich grosser Zahl; grimmiger als lange hat der Allbezwinger Tod in unsere eigenen Reihen hineingegriffen. Zwei der vornehmsten Zierden der philosophischen Fakultät, beide uns seit lange zugehörig und fast bis zuletzt in vollster Frische unter uns wirkend, die zugleich als hervorragende und hingebende Lehrer auf weite Kreise der Studirenden und somit auf den Gesammtcharacter unserer Hochschule massgebenden Einfluss besassen, – beide hat das Jahr hinweg genommen. Am 6. Februar starb der Professor der Zoologie und Zootomie Ludwig Leuckart, geboren 1822 in Helmstedt, seit 1870 in Leipzig, und am 18. Juli der Professor der klassischen Philologie Otto Ribbeck, aus Erfurt 1827 gebürtig und seit 1876 der unsere. Jedes wissenschaftliche Problem, das ihn reizte, packte Leuckart, ein Forscher ersten Ranges, mit der feurigen Energie an, die seine gesammte Natur durchdrang, und verband bei der Bearbeitung exacteste Genauigkeit der Beobachtung und des Experiments mit grossartiger Weite des Gesichtskreises und genialer Combination. Mit seinen bahnbrechenden Untersuchungen, die sich auf den verschiedensten Gebieten der Entwickelungsgeschichte und Biologie, der Morphologie und Typenlehre, der Physiologie und vergleichenden Anatomie bewegten, hat er die Zoologie, die in seiner Jugend eben erst sich ächt wissenschaftlicher Betrachtung zuwandte, eben so gewaltig erweitert als vertieft. Gleichsam nebenher hat er mit seinen Studien über Trichinen und Finnen, sowie über die Parasiten der Menschen auch für wichtige Zweige der öffentlichen Gesundheitspflege und practischen Medicin die sichere Grundlage geschaffen. Sein sachlicher Enthusiasmus, der von der sprudelnden Leb692

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haftigkeit seines Temperaments getragen, jeden begabteren Schüler unwiderstehlich fortriss und zu eigener Arbeit anspornte, sowie das stets rege und stets productive Interesse, mit dem er die Untersuchungen seiner Laboranten begleitete und durch lehrreiche Winke leitete, machten ihn ganz von selbst zum Haupte einer jetzt über alle Theile der Erde verbreiteten Zoologenschule. Ganz anders geartet war Ribbeck, eine vornehme, feine Humanistennatur, deren bewegliche Grazie und edle Herzens- wie Geistesbildung sich in der heiteren Anmuth und der reichen Vielgestaltigkeit seiner Rede und Schreibweise widerspiegelte: gewiss nichts weniger als ein engherziger Alterthumsgelehrter, vielmehr innig vertraut mit den besten Schätzen der modernen Litteratur, heimischer wie fremder, und offnen Sinnes für alles ächt Menschliche, aber in der Antike mit den tiefsten und zartesten Fasern seines Wesens wurzelnd. Gerade weil die Gegenwart sich vom klassischen Alterthume heftig abgewendet hat und mit Ungestüm ganz anderen Idealen nachjagt, war es Ribbeck ein Herzensbedürfniss, auch weiteren Kreisen wieder tieferes Verständniss für die Eigenart der römischen Dichtung zu eröffnen, deren Erforschung und Auslegung er eine lange Reihe theils grundlegender, theils wesentlich fördernder Untersuchungen gewidmet hatte. So bildet das grosse litterargeschichtliche Werk, das voll den Stempel seiner anziehenden Persönlichkeit trägt und auch seine schriftstellerische Kunst auf der Höhe zeigt, wie den äusseren Abschluss, so die Krone seiner Lebensarbeit. Noch am Schlusse des Sommersemesters entschlief auch eine dritte Berühmtheit der philosophischen Fakultät, der leider schon seit einem Decennium wegen schwerer körperlicher Leiden emeritierte Professor der Aegyptologie Georg Ebers (1837 in Berlin geboren, 1871 hierher berufen, den 7. August zu Tutzing gestorben). Durch seine culturgeschichtlichen Romane, die ein weitverbreitetes Bildungsbedürfnis seiner Generation in hervorragender Weise befriedigten, ist seinem Namen ja in der Geschichte der deutschen Nationallitteratur unseres Jahrhunderts ein fester Platz gesichert. Die Vorliebe für Culturgeschichte charakterisiert auch seine wissenschaftliche Arbeit, die er neben seinen dichterischen Schöpfungen treulich bis zuletzt pflegte; und auch in ihr hat er ein feines Verständniss für die Mischungen verschiedener Culturen bewährt. Mit besonderem Interesse verfolgte er die Beziehungen zwischen dem Pharaonenland und den alttestamentlichen Erzählungen. Unsere Hochschule aber ist diesem ihrem ersten Vertreter der Aegyptologie zu grossem und mannigfaltigem Danke verpflichtet: das mag hier um so ausdrücklicher noch hervorgehoben werden, als eine Betheiligung der Universität bei seinem Begräbnis die Umstände leider verhinderten. Seine durch lebhafte Phantasie unterstützte Begeisterung für ägyptische Studien wusste er auf seine Zuhörer zu übertragen und bildete auch eine grössere Zahl eigentlicher, jetzt selbst zu Ansehen gelangter Schüler aus. Er unternahm zuerst an einer deutschen Universität grössere ägyptische Texte zu erläutern und grammatisch zu erklären; in richtiger Einsicht von der Bedeutung, die Gypsabgüsse der Monumente da, wo diese selbst fehlen, für den akademischen Unterricht besitzen, rief er unsere ägyptologische Sammlung ins Leben und sorgte nach Kräften für ihr Wachsthum. Endlich erwarb er einen der schönsten der bisher bekannten ägyptischen Papyrus, den er selber aus den Händen 693

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der Araber gerettet hatte, das grosse nach ihm benannte medicinische Hand- und Receptirbuch, für unsere Bibliothek. Auch der gleich am ersten Tage nach dem Rectoratswechsel im 65. Lebensjahr verstorbene ordentliche Honorarprofessor Friedrich Stohmann gehörte fast ein Menschenalter hindurch unserer Universität an und leitete hier von Anfang an (1871) das landwirthschaftlich-physiologische Institut, von 1887 ab auch das agriculturchemische. Seine unermüdliche Thätigkeit war in zahlreichen und vielfältigen Untersuchungen, unablässig die angewandten Methoden prüfend und vervollkommend, darauf gerichtet, die Ergebnisse der Thier- und Pflanzenphysiologie wie der technischen Chemie für die landwirthschaftliche Cultur und Thierzüchtung zu verwerthen. Auch als Thermochemiker hat er sich sehr verdient gemacht. Am 18. April verschied der a. o. Professor Oskar Paul, eine in der musikalischen Welt unsrer musikreichen Stadt wohlbekannte Persönlichkeit. Seine anregenden theoretischen Vorlesungen an Universität und Conservatorium fanden, namentlich in früheren Jahren, zahlreiche dankbare Zuhörer; auch seine wissenschaftlichen Studien waren neben der Musikgeschichte ganz besonders der Harmonik zugewandt, bei deren Durcharbeitung er die Ideen seines Lehrers Hauptmann selbständig aufnahm und in wesentlichen Stücken erweiterte. Nächst der philosophischen Fakultät, der alle die bisher Genannten angehörten, wurde auch die medicinische von Verlusten betroffen. Am 16. Februar erlag der a. o. Professor Wilhelm Moldenhauer seinen langen und schweren Leiden. Für die Heilkunde der Ohren-, Nasen- und Kehlkopfkrankheiten hat er sich wie als Docent so als vielgesuchter Arzt erfolgreich bethätigt. Am 14. Mai folgte ihm in den Tod ein jüngerer Amtsgenosse, der Privatdocent Dr. Joh. Alex. Garten, der einer eignen chirurgischen Klinik vorstand und durch seine bakteriologischen Forschungen sich bereits rühmlich bekannt gemacht hat. Zudem hat unser Lehrkörper noch mehrere unerwartete Einbussen anderer Art erlitten. Ein verehrter College, der Professor der Nationalökonomie und Finanzwissenschaft, Dr. August von Miaskowski, der erst 1891 zu uns gekommen war, sah sich zu unserm lebhaftesten Bedauern durch den beklagenswerthen Zustand seiner Gesundheit genöthigt, sich zu Ostern emeritieren zu lassen. Unsere theilnahmsvollen Wünsche folgten ihm in den Ruhestand. Zwei andere theure Collegen, die aus den germanischen Nachbarländern, der erste 1890 aus Dänemark, der andere 1886 aus Norwegen zu uns übergesiedelt waren und die für Deutschland gewonnen zu haben wir uns zum Ruhme anrechneten, der Professor der Theologie Franz Peter Buhl und der Professor der Geometrie Sophus Lie, haben beide Ende des Sommersemesters sich gedrungen gefühlt, ihre hervorragende Kraft wieder in den Dienst ihrer Sonderheimath zu stellen. Wir sahen sie ungern scheiden und vertrauen darauf, dass beiden auch im Norden die Erinnerung an die Zeit ihrer Leipziger Wirksamkeit so frisch und so warm sich erhalte, als sie bei uns bleiben wird. Im natürlichen Gang der Entwickelung liegt es dagegen, dass wir jüngere Lehrkräfte an andere Hochschulen abgeben müssen, an denen sie für volles Wirken geeigneten Raum gewinnen. 694

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Fortberufen wurden der a. o. Prof. der medicinischen Fakultät Dr. Arthur Heffter als ordentlicher Professor nach Bern, der Privatdocent Dr. Heinrich Geffcken als Extraordinarius für deutsche Rechtsgeschichte nach Rostock, der Privatdocent Dr. Theodor Paul nach Tübingen als a. o. Prof. für analytische und pharmaceutische Chemie. Möge ein festes Pietätsverhältniss die räumlich von uns Geschiedenen auch ferner mit uns verbinden! Unserer besten Wünsche für ihre gedeihliche Thätigkeit in der neuen Heimath können sie sich versichert halten. Ganz ausgeschieden ist endlich mit Anfang dieses Semesters der a. o. Prof. Richard von Schubert-Soldern; auch der Privatdocent Dr. Heinrich Schurz hat auf die Venia legendi verzichtet. Die durch Tod oder Abgang gerissenen Lücken sind bisher durch folgende Neuberufungen ausgefüllt. Nachfolger auf Leuckart’s Lehrstuhl wurde zu Ostern Prof. Dr. Carl Chun, bisher in Breslau; von Miaskowski ersetzte zu derselben Zeit Prof. Dr. Wilhelm Stieda, der aus Rostock kam. Zu Anfang dieses Semesters trat für Buhl ein Prof. Dr. theol. et phil. Rudolf Kittel, vordem in Breslau. Neugegründet wurde eine ausserordentliche Professur für historische Geographie und diese am 1. Mai dem bisherigen Custos an der Universitätsbibliothek Dr. Wilhelm Sieglin übertragen. Wir begrüssen alle diese neuen Collegen auf’s herzlichste und wünschen ihnen und uns, dass sie hier eine lange und gesegnete Wirksamkeit entfalten mögen. Zwei neue Ordinarien dürfen wir erst zu Ostern 1899 erwarten; das lange verwaiste Katheder Hildebrands wird als Vertreter der neueren deutschen Sprache und Litteratur Prof. Albert Köster, jetzt noch in Marburg, einnehmen und an Stelle Lie’s wurde als Mathematiker der Prof. Dr. Otto Hölder aus Königsberg berufen. Ausserdem hat sich zu unserer besonderen Freude auch dieses Jahr wieder eine stattliche Zahl von Privatdocenten bei uns habilitirt. Nämlich in der theologischen Fakultät der Licentiat Dr. Heinrich Böhmer; in der medicinischen Dr. Georg Perthes, Dr. Franz Hofmann, Dr. Max Seiffert und Dr. Martin Fickert; in der philosophischen aber nicht weniger als sieben: Dr. Wilhelm Euler für Chemie, Dr. Franz Heinrich Weissbach für Keilschriftforschung und alte Geschichte, Dr. Raoul Richter für Philosophie, Dr. John Schmitt für mittel- und neugriechische Sprache und Litteratur, Dr. Ludwig Pohle für Volkswirthschaftslehre und die angrenzenden Theile der Socialwissenschaften, Dr. Julius Kaerst für alte Geschichte. Als Zwölfter ist endlich Dr. Wilhelm Streitberg, der freiwillig seine Professur in Freiberg i. d. Schw. niedergelegt hat, zu uns als Privatdocent für indogermanische Sprachwissenschaft und germanische Philologie zurückgekehrt. Alle diese jungen Gelehrten heissen wir in unserem Kreise willkommen mit den herzlichsten Wünschen guten Erfolgs und sicheren Fortschritts in ihrer Laufbahn. Auch in sofern sind Veränderungen innerhalb des Lehrkörpers eingetreten, als in der medicinischen Fakultät Dr. Otto Schwarz und in der philosophischen Dr. Paul Barth zu ausserordentlichen Professoren befördert wurden. Schliesslich ist mit dem 1. October neu als Universitätsmusikdirektor und zugleich als Direktor des Universitäts-Sängervereins St. Pauli Heinrich Zöllner, bisher Director des Liederkranzes in New-York, eingetreten, da Prof. Kretzschmar leider 695

Curt Wachsmuth

körperlich behindert ist, diese bisher innegehabten Stellungen weiter zu verwalten, so dass er sie schon zu Ostern hat niederlegen müssen. Die gesammte Universität mit ihrem reichen Lehrkörper und der vielverzweigten Organisation der Institute ist wie in’s Leben gerufen, so unterhalten in erster Linie zu Nutz und Frommen der lernenden Jugend. Von ihr, zu der wir uns jetzt wenden, ist nur Erfreuliches zu berichten. Zunächst ist die Frequenz sehr befriedigend. Zwar haben wir den Tod von acht Studirenden und die Zerstörung der mit ihnen zu Grabe getragenen Hoffnungen zu beklagen; aber diese Zahl bleibt hinter der an unserer grossen Universität durchschnittlichen nicht unerheblich zurück. Und im Uebrigen befinden wir uns in einem stetigen und kräftigen Wachsthum. Im Sommersemester waren bei Abschluss des Personalverzeichnisses (am 23. Mai) 3174 Studirende inscribirt, über 100 mehr als den vorausgegangenen Sommer. Von diesen 3174 haben die Universität 660 verlassen, mithin verblieben 2514. Dazu treten 729 vom 23. Mai bis 29. Oktober Immatriculirte, so dass der Gesammtbestand am heutigen Tage 3243 beträgt. Von ihnen studiren Theologie 309, Jurisprudenz 1013, Medicin 606 und Philosophie 1315. Hienach ist mit Sicherheit zu erwarten, dass infolge der noch ausstehenden Immatriculationen in diesem Winter die FrequenzZiffer des vorigen Winters (3277) mindestens um 100 übertroffen werden wird. Sehr befriedigend war auch das Verhalten der Studentenschaft. Es entsprach durchaus der guten Sitte, die von Alters her als eine besondere Zierde unserer Universität gilt. Das Universitätsgericht ist fast nie in Thätigkeit getreten, die Entfernung brauchte in keinem Fall ausgesprochen zu werden. Für den Rector bildet der Verkehr mit der akademischen Jugend die erquicklichste Seite seiner Amtsthätigkeit. Dieses Jahr waren zufolge der Vorbereitungen für die Huldigungsfahrt in Dresden die Beziehungen besonders häufig und intim. Und obwohl ich dabei nicht immer in der Lage war, die Wünsche aller einzelnen Gruppen zu erfüllen, haben Sie, meine Herren Commilitonen, mir in allen Fällen das schöne Vertrauen, das unsere Studirenden überhaupt ihren Lehrern entgegenbringen, unerschüttert bewahrt und ich spreche Ihnen jetzt am Schlusse meines Rectorats dafür meinen aufrichtigen Dank aus. Noch lebhafter aber ist mein Dank dafür, dass Sie durch hocherfreuliche eigene Entschliessung es mir ersparten, eine Mahnung zu wiederholen, die fast alle meine Amtsvorgänger an Sie gerichtet haben, die Mahnung zur Eintracht. Sie haben nicht bloss für die Feier des Königsfestes eine Einigung gefunden, sondern das heilige Andenken an den Genius des Mannes, der die hadernden Stämme Deutschlands zur Einheit zusammenschloss, hat die Vertreter Ihrer mannigfaltigen Corporationen zu dem einstimmigen Beschluss vermocht, unter Beiseitesetzung der Gegensätze, die Sie sonst etwa trennen, wenigstens einmal jedes Jahr sich als Einheit zu fühlen und zu bethätigen, indem Sie unter dem Zeichen „Bismarck“ den Gründungstag des deutschen Reiches einträchtig feiern. Halten Sie auch in Zukunft das „in necessariis unitas“ fest im Auge, damit die Leipziger Studentenschaft nach aussen in der Geschlossenheit erscheine, die ihrer würdig ist und die zugleich in ihrem eigensten Interesse liegt! Doch der Chronist muss seines Weges weiter wandern. 696

Jahresbericht 1897/98

Auch von unserer Beamtenschaft ist Mancherlei zu berichten. Bei dem Personal der Bibliotheks-Verwaltung hat sich nach dem Ausscheiden des bisherigen ersten Custos Dr. Sieglin ein Aufrücken der anderen Custoden und der Assistenten in die je höhere Stelle vollzogen, so dass der bisherige Volontair Dr. Byhan als Hilfsarbeiter angestellt werden konnte. Am 18. September sodann ist die erst vor vier Jahren neu besetzte Stelle der Universitätsquästur wieder vacant geworden, da Albin Oswald Schulze einem ganz unerwartet auftretenden Leiden erlag. Im Kanzleidienst der hiesigen Kreishauptmannschaft vorzüglich ausgebildet und erprobt, hat er das allgemeine Vertrauen, das ihm bei seiner Wahl entgegenkam, im vollsten Masse gerechtfertigt, indem er die für sein Amt unerlässliche Vereinigung scheinbar entgegengesetzter Eigenschaften nie vermissen liess, ernste Strenge und doch ein freundliches Herz, peinliche Sorgfalt und doch geschmeidige Liberalität in der Behandlung des Einzelfalls. Auch ist der bisherige erste Pedell Just wegen zunehmender Kränklichkeit am 1. Oktober in den Ruhestand versetzt worden und unter Aufrücken der übrigen Pedelle in die nächstobere Stelle der bisherige Aufwärter an der Universitätsbibliothek Schuster als Hilfspedell angestellt. Die Beziehungen der Universität nach ausserhalb bewegen sich endlich in den zwei Richtungen des Gebens und des Nehmens. Zu geben haben wir nur die Auszeichnung durch Ehrenpromotion, die die Fakultäten an besonders verdiente Männer zu ertheilen die Befugniss haben. Nur drei Mal ist in diesem Jahre die Befugniss ausgeübt worden, von Seiten der medicinischen Fakultät, gegenüber den Aerzten Bischoff in Hirschberg und Tschaplowitzsch in Cuba, von der philosophischen bei Professor Hatzidakis in Athen. Geschenke anzunehmen sind, wie wir mit gebührendem Danke rühmen, die Universitäts-Institute ungleich häufiger in der Lage gewesen. Mannigfache Zuwendungen sind auch dies Jahr der Universitäts-Bibliothek zu Theil geworden; ich hebe u. A. hervor die Gabe der hiesigen Gesellschaft für Geburtshilfe, die ihre eigene aus ca. 400 Nummern bestehende Bibliothek überlassen, und die von dem hiesigen Stabsarzt Herrn Dr. Möbius gestiftete Collection von Schriften über Tabes. Letztwillig hat der verstorbene hiesige Buchhändler Felix Liebeskind eine über 200 Bände starke werthvolle Bücher-Sammlung vermacht, deren Hauptstock der italienischen und französischen Litteratur des 16.–18. Jahrhunderts angehört. Desgleichen hat der Centralverein deutscher Zahnärzte durch Beschluss vom 6. August unserem zahnärztlichen Institute seine aus ca. 400 Bänden bestehende fachwissenschaftliche Bibliothek überwiesen. Ganz besonderes Wohlwollen hat aber der durch seine langjährige staunenswerthe Ausgraberthätigkeit berühmt gewordene Engländer Herr W. M. Flinders Petrie unserer ägyptologischen Sammlung bethätigt. Bereits 1895 hatte er ihr eine Auswahl von Fundstücken aus seinen Ausgrabungen bei Nagâde und Ballâs (in Oberägypten) geschenkt, die vortrefflich die älteste Kultur Aegyptens erläutert: ein neues ergänzendes Geschenk ist jetzt hinzugetreten, das sich aus Proben von Töpferwaaren in der Nekropole von Elkab zusammensetzt. 697

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Auch diesem hochverdienten Gönner sprechen wir unsern wärmsten Dank aus: möge er seine geneigte Gesinnung uns auch in Zukunft bewahren! Ich gehe nun über zur kurzen Verkündung der Ergebnisse der akademischen Preiswettkämpfe. Die Preisaufgabe der theologischen Fakultät (über den Begriff der Erlösung in Schleiermachers Glaubenslehre) hat nur eine Bearbeitung erfahren und die war ungenügend. Oefters wurde das Thema der juristischen Fakultät (über die staatsrechtliche Stellung des Statthalters von Elsass-Lothringen) behandelt. Den ersten Preis erhielt Stud. iur. Gustav Schuberth aus Grossenhain, mit dem ,accessit‘ wurde ausgezeichnet Stud. iur. Hans Reichel aus Berthelsdorf, lobende Erwähnung verdienten Stud. iur. Eberhard Westerkamp aus Osnabrück und Baccal. iur. Hermann Jacobson aus Dresden. Mit seiner Schrift über die Aufgabe der medicinischen Fakultät (die das Wesen und die Ursache der im Anschluss an die Narkose auftretenden Lungenentzündungen betraf) hat Stud. medic. Robert Hahn aus Charlottenburg sich die Anerkennung lobenswerthen Fleisses und eine Gratifikation von 100 M. erworben. Die von den drei Sectionen der philosophischen Fakultät gestellten Aufgaben sind alle drei nur je einmal, aber nicht ohne Erfolg in Angriff genommen. Ehrenvoller Erwähnung und einer Gratifikation von 100 Mark würdig wurden befunden der Bearbeiter des klassisch-philologischen Themas (über Spuren des Posidonius in Plutarchs Marius und Sulla) Stud. philol. Ernst Kind aus Grimma und der des philosophischen (über Fichtes Lehren von Staat und Gesellschaft in ihrem Verhältniss zum neueren Socialismus) Stud. phil. Hans Lindau aus Berlin, z. Z. in Constantinopel; der des botanischen (über die Arbeitsleistung der Pflanzen bei der geotropischen Aufrichtung) Stud. rer. nat. Paul Meischke aus Groitzsch dagegen erhielt den vollen Preis. Die genaueren Begründungen dieser Urtheile, sowie die für das neue akademische Jahr 1898/99 gestellten Preis-Aufgaben werden durch Anschlag an’s schwarze Brett und durch Drucklegung bekannt gemacht werden und so besser zur Kenntniss aller Betheiligten gelangen, als es hier durch flüchtiges Verlesen möglich wäre. Und somit bleibt mir nur noch das Letzte zu thun übrig, von meinem Amt mit warmem Dank für alle mir zu Theil gewordene Unterstützung zu abdiciren und dasselbe feierlich auf den erwählten und bestätigten Rector des neuen Universitätsjahres zu übertragen. Ich fordere Sie, Herr Dr. Hauck, auf, als mein Nachfolger das Katheder zu besteigen und die Insignien Ihres Amtes aus meiner Hand entgegen zu nehmen. Zuvor jedoch habe ich Ihnen das Gelübde abzunehmen, das nach unseren Statuten jeder Rector zu leisten hat. Sie schwören bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, dass Sie die Verfassung und die Gesetze der Universität Leipzig treu und gewissenhaft beobachten und die Pflichten des Ihnen anvertrauten Amtes als Rector der Universität nach bestem Wissen und Gewissen redlich erfüllen wollen. Und somit proclamire ich Sie, den Dr. theologiae et philosophiae Albert Hauck, zum Rector der Universität Leipzig für das Studienjahr 1898/99. Ew. Magnificenz 698

Jahresbericht 1897/98

übergebe ich den Hut und Mantel als Zeichen Ihrer Würde, die Kette, mit welcher königliche Huld den Leipziger Rector geschmückt hat, das Siegel der Universität, damit Sie deren Willen rechtlich beglaubigen, die Statuten, die Sie zu bewahren haben, den Schlüssel des Hauses als Symbol Ihrer Herrschaft in diesen Räumen. Das letzte Decennium des fünften Jahrhunderts unsrer Universität beginnt unter Ihren Auspicien, rector magnifice: mögen dieselben nach allen Richtungen sich als glückverheissende erweisen! Dixi. ***

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Albert Hauck (1845–1918)

31. October 1898. Rede des antretenden Rectors Dr. theol. et phil. Albert Hauck. Friedrich Barbarossa als Kirchenpolitiker. Hochansehnliche Versammlung! Wenn man die lange Reihe der Fürsten überblickt, die von Karl d. Gr. an bis zum Ende des alten Reichs die Geschicke Deutschlands geleitet haben, so sind es nur zwei, von denen man sagen kann, dass ihr Gedächtnis im deutschen Volke wirklich noch fortlebt: Karl d. Gr. und Friedrich I. Dass die Erinnerung an den ersten Kaiser, der unserer Nation entsprossen ist, ein Jahrtausend überdauert hat, ist leicht verständlich; denn Karl gehörte zu den grossen Persönlichkeiten, deren Thätigkeit dem Gang der Geschichte für lange Zeit Richtung und Maass gibt. Unser Geschlecht war so glücklich, einen solchen Mann sein eigen nennen zu können: der mächtige Eindruck, den Fürst Bismarck auf die Gegenwart gemacht hat, gibt uns einen Maassstab, um zu beurtheilen, was Karl d. Gr. seiner Zeit gewesen ist. So tief gegrabene Linien vermag die Zeit nicht zu verwischen, solcher Grösse gegenüber ist sie, die alles besiegt, machtlos. Auffälliger erscheint der lange Nachruhm Friedrichs I.; denn niemand wird ihn für einen epochemachenden Herrscher halten. Und doch entbehrt es nicht der Wahrheit, wenn ihn ein neuerer Forscher die beliebteste und verehrteste aller mittelalterlichen Kaisergestalten genannt hat. Auch das ist verständlich. Ihn umleuchtet der Glanz der sinkenden Sonne; bezeichnet doch seine Regierung den letzten Höhepunkt unserer nationalen Entwickelung während des Mittelalters. Wenn herkömmlichermassen diejenigen, welche in dieser festlichen Stunde zu reden haben, Gegenstände wählen, für welche sie allgemeineres Interesse voraussetzen zu dürfen glauben, so mag es mir heute gestattet sein, an das zu erinnern, was Friedrich Barbarossa war, was er erstrebte, und was er erreichte. Wenn ich mich dabei auf diejenige Seite seiner Thätigkeit beschränke, die dem Kirchenhistoriker am nächsten liegt, auf seine Kirchenpolitik, so wird das nur der Erwähnung, nicht der Entschuldigung bedürfen. Nicht immer ist hervorragende Begabung verknüpft mit jenem Imponirenden der Erscheinung, das schon auf den ersten Blick Grosses erwarten lässt. Bei Friedrich muss diese Verbindung in ungewöhnlich hohem Maasse vorhanden gewesen sein. 701

Albert Hauck

Das zeigen die bewundernden Urtheile der Zeitgenossen. Das Zeugnis von Freunden und Feinden, von Deutschen und Ausländern stimmt dabei völlig überein. Wenn der kaiserlich gesinnte Italiener Acerbus Morena äusserte, Friedrich sei in allen Stücken so vollkommen, dass es seit langen Zeiten keinen Kaiser gegeben habe, der verständigermassen mit ihm zu vergleichen sei, so könnte man in diesen Worten die herkömmliche Überschätzung des Vorkämpfers der eigenen Partei vermuthen. Aber man findet dasselbe Urtheil bei dem unparteiischen Robert von Auxerre, ja bei so ausgesprochenen Gegnern der kaiserlichen Politik wie Arnulf von Lisieux und Johann von Salisbury. Auch sie nannten Friedrich unvergleichlich. Um den Worten der ausländischen Gegner Friedrichs die Äusserung eines deutschen Opponenten hinzuzufügen, so urtheilte der Propst Heinrich von Berchtesgaden, es sei niemand zweifelhaft, dass Friedrich alle Könige und Kaiser wie an Macht, so an Klugheit übertreffe. Mit einem Wort: die Zeitgenossen waren einstimmig der Meinung, dass Friedrich allen lebenden Fürsten überlegen sei; im Vergleiche mit ihm erschienen sie alle als minderwerthig. Schon Robert von Auxerre hat bis auf Karl d. Gr. zurückgegriffen, um einen Mann zu finden, an dem man Friedrichs Bedeutung messen könnte. Doch war er nicht nur eine bedeutende, sondern auch eine scharf geprägte Persönlichkeit. Ich möchte sagen: er war mehr Individualität als mancher andere grosse Mann des Mittelalters. Die Zeitgenossen haben nicht unterlassen auch sein Äusseres zu schildern; sie beschreiben ihn als von mässiger Grösse, aber von dem schönsten Ebenmaass der Glieder, das Antlitz leicht geröthet und der Blick so frisch und hell, dass man, sagt Acerbus Morena, hätte glauben können, er wolle immer lachen. Dem Äusseren entsprach die rüstige Thatkraft, die ihn auszeichnete. Von dem Augenblick an, in dem er die Zügel der Regierung ergriff, machte sie sich bemerklich: leicht gemacht war ihm der Anfang nicht; aber in Kurzem wurde er der Verhältnisse Herr, und bald stand es so, dass das, was er wollte und was er that, entscheidend war für die Gestaltung nicht nur der Lage in Deutschland, sondern in Europa. Das blieb während seiner ganzen Regierung gleich; stets war er der Mann der Initiative, und niemals liess er das Spiel durch einen andern führen. Er hat mehr als eine Niederlage erlitten; aber auch wenn er geschlagen war, gelang es nicht, ihn bei Seite zu schieben. Die Männer seiner Umgebung haben ihn als scharfsinnig, klug und von raschem Entschluss bezeichnet: das waren die Eigenschaften, die seiner Thatkraft jene Elastizität und Unermüdlichkeit verliehen, die ihr eigneten. Er stand nie vor einem verschlossenen Thor, sondern sah stets einen Weg. Nichts lag ihm ferner als eine trübe Auffassung der Verhältnisse; er hat sich eher darin getäuscht, dass er seine Lage für günstiger hielt, als sie war. Schwierigkeiten und Misslingen machten ihm nicht viel Bedenken. Als ihm der Paderborner Probst Sigfrid etwas zaghaft Bericht von einer misslungenen Gesandtschaftsreise zu dem ungarischen König Geisa erstattete, war er rasch gefasst. Gott sei Dank, sagte er, dass ich einen schlechten Freund bei einer guten Gelegenheit losgeworden bin. Friedrich dachte gross von seiner Stellung und der kaiserlichen Würde, die er trug, er war der Überzeugung, dass sie ihm von Gott übertragen sei. Aber es war doch nicht so, dass er sich nur deshalb gross fühlte, weil er Kaiser war, sondern es war ihm natürlich, sein Ich in den Vorder702

Antrittsrede 1898

grund zu stellen. Wibald von Corwey hat schon von dem jungen Mann gesagt, er ertrage kein Unrecht, und in Übereinstimmung damit hat Eberhard von Bamberg ihn dem Papst gegenüber mit den Worten charakterisirt: Ihr wisst, wie er ist: wer ihn liebt, den liebt er wieder, zu den andern dagegen stellt er sich fremd. Von diesem Punkte aus ist es verständlich, dass es Friedrichs Charakter nicht an harten Seiten fehlte: er hat wohl einmal den Krieg als eine lustige Jagd bezeichnet. Gehen wir, sagte er nach der Besiegung der Mailänder i. J. 1159, und sehen wir, ob unsere heutige Jagdbeute die Mühe lohnt. Das war ein ungeschicktes Wort; aber man weiss auch von Thaten barbarischer Härte, und wenn die Zeitgenossen Friedrich als unerbittlich bezeichneten, so beweist das Schicksal von Mailand, dass dies Wort nur allzuwahr war. Er konnte auch in Deutschland mit unerbittlicher Härte handeln: als die Grafen von Plaien das Salzburger Erzstift verwüsteten, da der Erzbischof sich der kirchlichen Politik Friedrichs entgegensetzte, hat ihnen der Kaiser eigens dafür gedankt, dass sie so entschlossen, treu und mannhaft den Kampf führten. Und doch ist es natürlich, dass die Deutschen solche Thaten ihm leicht verziehen. Denn jedermann wusste, dass er es ernst nahm mit seiner Pflicht. Wenn er einmal sagte, die Würde des Reichs fordere, dass er die Bedürfnisse des Staats stets vor Augen und unter den Händen habe, so war seine ganze Regierung eine Erfüllung dieses Wortes: er hat sich vielleicht manchmal darüber getäuscht, was dem Staate noth that, aber vergessen hat er es nie. Nimmt man hinzu, dass er zugänglich und leutselig war – ein bewährter Mitkämpfer wie Rainald von Dassel durfte sich wohl auch ihm gegenüber ein freies, scherzendes Wort erlauben –, dass er seine Lust am Lied der Dichter und am Spiel der Jugend hatte, dass er gut sprach und gerne sprach, dann haben wir in der That das Bild von einer Persönlichkeit, die auf die Zeitgenossen Eindruck machen musste. Doch daraus allein erklärt sich noch nicht, dass das Gedächtnis an Friedrich so lange Zeit fortlebte. Denn was der Mensch ist, verfällt rasch der Vergessenheit, wenn die Erinnerung daran nicht erhalten wird durch das, was er geleistet hat. Hier scheint man nun einem Rätsel gegenüber zu stehen; denn es ist unleugbar, dass Friedrich aus den grossen Kämpfen seines Lebens nicht als Sieger, sondern als Besiegter hervorgegangen ist: in dem gewaltigen Ringen zwischen der Kommune und dem Staat ist er, der Vertreter des Staatsgedankens, unterlegen, und als im Jahre 1177 der Friede von Venedig den beinahe 20 Jahre dauernden Streit mit Papst Alexander beilegte, verzichtete er auf ein Ziel, an dessen Erreichung er alle Kraft gesetzt hatte. Das trotzige Niemals von Würzburg wurde in Venedig zerrissen. Aber seltsam genug sind die Niederlagen Friedrichs der Mitwelt nicht zum klaren Bewusstsein gekommen; als er fern von der Heimat seinen Tod fand, haben die Chronisten sein Glück gerühmt; von allen Königen sei er von ihm beinahe am meisten begünstigt gewesen, ja bei einem englischen Schriftsteller kann man lesen, sein Ruhm sei durch ununterbrochene Siege gewachsen, sein Glück habe nie eine Erschütterung erfahren. Im Urteil der Zeitgenossen überwogen also seine Erfolge weit das Mislingen. Gerade im Blick auf Friedrichs Kirchenpolitik ist dieses Urteil erklärlich. Wir verfolgen ihre Grundzüge. 703

Albert Hauck

Man bemerkt leicht, dass seine Massregeln von Anfang an durch zwei Rücksichten bedingt waren: einerseits kam seine Stellung zu der deutschen Kirche als solcher in Betracht, andererseits sein Verhältnis zu der Gesammtkirche und deren Vertreter, dem Papste. Was das Erstere anlangt, so war die Stellung des Königs in der deutschen Kirche rechtlich durchaus nicht genau umschrieben; sie war auch nicht frei von Widersprüchen. Denn die ältere staatliche Entwickelung, auf die das Urteil über die Königsrechte zurückging, und die jüngere kirchliche Entwickelung, die für die Bemessung der kirchlichen Ansprüche entscheidend war, waren in divergirender Richtung verlaufen; nur in Bezug auf einen Punkt gab es ein bestimmtes geschriebenes Recht. Das Wormser Konkordat regelte die Mitwirkung des Königs bei der Erhebung der Bischöfe. Wie der Vertrag von Worms keinen vollständigen Sieg der Kirche über den Staat bedeutete, so schloss er den Einfluss des Königs auf die Bischofswahlen nicht aus; er erkannte ihn an und garantirte ihn durch ein doppeltes Mittel: 1. Durch die Bestimmung, dass die Wahl in Gegenwart des Königs stattzufinden habe, und 2. durch die Anordnung, dass die deutschen Bischöfe die Regalien vor der Weihe von dem König zu Lehen erhalten sollten. Als Friedrich die Regierung antrat, waren dreissig Jahre seit dem Abschluss des Konkordats verflossen. Man ist gegenwärtig im allgemeineren der Anschauung, dass es in der nächsten Zeit nach dem Friedensschluss ziemlich genau beobachtet worden sei, besonders Lothar, weniger Konrad III. habe auf seine Ausführung gehalten. Das zwölfte Jahrhundert hat anders geurteilt. Gerhoh, der sehr geneigt war, in ihm eine Schädigung der Kirche zu erblicken, freute sich eben deshalb darüber, dass an eine strikte Ausführung des Vertrags nicht zu denken war: Gott Lob, sagte er, die Bischofswahlen geschehen ohne Gegenwart des Königs. Er betrachtete also das erste Zugeständnis, das im Konkordat dem König gemacht war, als thatsächlich beseitigt. Zugleich aber sprach er die Hoffnung aus, dass in Bälde auch das zweite Zugeständnis dahinfallen werde, der bei der Verleihung der Regalien geforderte Lehens- oder Treueid der Bischöfe. Das ist eine Äusserung aus der ersten Zeit König Konrads. Sechs Jahre später wiederholte er dasselbe Urteil; er rühmte die grosse Freiheit, deren sich die Gegenwart bei den kanonischen Wahlen erfreue. Wenn ein Mann der Gegenpartei, einer der Dichter aus der Umgebung Reinalds, die Nachlässigkeit der Vorgänger Friedrichs tadelte, die es zugelassen habe, dass das Unkraut im Reiche aufschoss, so bestätigt er, was Gerhoh sagte: er beurteilt es nur anders. Wie bedenklich aber diese Entwickelung war, ist deutlich, wenn man bemerkt, dass sofort eine Rechtstheorie vorhanden war, die den Zustand, wie er sich im Gegensatze zu dem Vertrag von 1122 zu bilden begann, rechtfertigte; man sagte die Zugeständnisse des Konkordats seien Heinrich V. persönlich gemacht gewesen, sie seien also nicht auf seine Nachfolger übergegangen. In Bezug auf die Investitur aber entwickelte man die Anschauung, sie sei nicht im eigentlichen Sinne Verleihung; denn die Güter, die einstmals der Kirche geschenkt worden seien, befänden sich eo ipso in ihrem Besitz, sie brauchten ihr also nicht neu übergeben zu werden. Dadurch sollte der Handlung der Investitur sozusagen das Mark ausgeschnitten werden; denn kam diese Ansicht zur Geltung, so war die Belehnung mit den Regalien ein bedeutungsloser Akt. Der König schien zu geben, aber er gab nicht. 704

Antrittsrede 1898

So war die Sachlage, als Friedrich gewählt wurde. Wie stellte er sich ihr gegenüber? Zwei Monate nach seiner Erhebung wurde der Magdeburger Erzstuhl neu besetzt. Friedrich selbst erschien in der Mitte der Wähler und schlug den hadernden Parteien, die schon verschiedene Wahlen getroffen hatten, vor, dem Bischof Wichmann von Zeitz das Erzbistum zu übertragen. Als sich daraufhin die Majorität der Wähler für ihn entschied, erkannte er ihn sofort an und verlieh ihm die Regalien. Friedrich war sich dessen wohl bewusst, dass sein Verfahren an der Kurie Anstoss erregen werde. Das hinderte ihn nicht. Als dann die Einsprache wirklich erfolgte, wusste er die getroffene Wahl aufrecht zu erhalten. Und er hat seitdem konsequent nach dem Grundsatze verfahren, dass sein Wort und Wille bei der Wahl neuer Bischöfe Rücksicht finden müsste, und dass die Verleihung der Regalien als Uebertragung derselben im eigentlichen Sinne verstanden werde. Wenn der letztere Punkt in der Regel weniger hervorgehoben wird als der erstere, so leuchtet doch ein, dass er prinzipiell von der grössten Wichtigkeit war. Welches Gewicht Friedrich auf ihn legte, sieht man aus folgendem Vorfall: Bischof Heinrich von Regensburg hatte sein Amt angetreten, während Friedrich in Italien verweilte, und in Folge dessen die Investitur nicht sofort erhalten. Seine Wahl war von Friedrich anerkannt, und der Bischof trug deshalb kein Bedenken, Regensburger Lehen zu vergeben. Aber als der Kaiser nach Deutschland zurückkehrte, wurde Heinrich mit einer hohen Geldstrafe belegt; denn er habe Regalien nicht verleihen können, ehe er sie erhalten habe. Die energische Handhabung des sog. Spolienrechts beruht auf der gleichen Anschauung. Was den ersten Punkt anlangt, so war Friedrich die Form, in der er seinen Willen zur Geltung brachte, gleichgiltig: er hat noch öfter so gehandelt, dass er am Wahlort persönlich anwesend an der Wahlhandlung Antheil nahm. Er hat in anderen Fällen von den Gliedern der betreffenden Kirche, die zufällig am Hofe gegenwärtig waren, den Mann wählen lassen, den er für tüchtig hielt, oder er hat brieflich den Wählern den Kandidaten bezeichnet, dessen Wahl er wünschte. Wir besitzen noch das Schreiben, das er nach dem Tode Rainalds an die Kölner Wähler richtete; es lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Da wir in unserem ganzen Reiche keinen ihm – Rainald – ähnlichen Mann gefunden haben als unseren Kanzler Philipp, unsern treuen Mitarbeiter in der Verwaltung des Reichs, so wünschen wir von ganzem Herzen, dass er und kein anderer ohne Vorzug von euch zur Würde des Kölner Bischofs erhoben werde. Das geschah denn auch. Um ganz sicher zu gehen hat Friedrich in einem besonders wichtigen Fall, es handelte sich um das Erzbistum Mainz, die Äbte, Pröpste und die angesehensten Ministeralen des Stifts zu der ausdrücklichen Zusage bestimmt, dass sie im Falle einer Erledigung nur in seiner Gegenwart einen neuen Erzbischof wählen würden. Seine Haltung in diesen Fragen ist leicht zu beurtheilen: er hat mit einem energischen Schritt die Stelle wieder eingenommen, die ihm gebührte, die aber beinahe verloren war, und er hat sie während der ganzen Dauer seiner Regierung behauptet. Seine kirchliche Politik war, obwohl sie aggressiv schien, doch wesentlich konservativ. So wollte er sie selbst beurtheilt haben. Friedrich gehörte zu den Männern, die über das reflektiren, was sie thun, und die nicht ungerne von den leitenden 705

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Gedanken sprechen, denen sie folgen. Über die Ziele seiner Regierung hat er sich mehr als einmal geäussert, am bestimmtesten anlässlich der von ihm veranlassten Kanonisation Karls d. G. i. J. 1166. Hier sagt er, von Beginn seiner Regierung an sei sein Vorsatz gewesen, seinen Vorgängern, besonders dem grossen und ruhmvollen Kaiser Karl, nachzufolgen, das Recht der Kirche, den Bestand des Staates und die Geltung der Gesetze im ganzen Reich zu sichern. Das ist ein Programm, das grundsätzlich konservativ ist. Es waren nur die thatsächlichen Verhältnisse, die dazu führten, dass es in der Ausführung zu einem Reformprogramm wurde. Friedrich selbst hat gelegentlich von seiner Absicht, eine Reform des ganzen Reichs zu unternehmen, gesprochen. Aber bemerken wir wohl: die Ziele der Reform lagen nicht vorwärts von dem gegenwärtigen Zustand aus: sie lagen rückwärts. Wenn die Genossen Rainalds sagten, der Kaiser erstrebe die Zurückführung des Reiches zu dem früheren Stand, so haben sie damit ohne Zweifel den Sinn Friedrichs richtig getroffen. Daraus erklärt es sich, wie mich dünkt, dass gegen Friedrichs Verhalten in den Bischofswahlen in Deutschland kaum Widerspruch erhoben wurde. Es scheint seltsam: eben schien die kirchliche Partei an dem Ziel ihrer Wünsche zu stehen, da wird ihr die Erreichung desselben in die Ferne gerückt, und keine Hand regt sich dagegen, ja der Episkopat fügt sich nicht nur, sondern er vertritt dem Einspruch des Papstes gegenüber das Recht des Kaisers. Verständlich ist das nur, weil sich Friedrich darauf beschränkte, die Rechte festzuhalten, die das allgemeine Urtheil ihm noch zugestand. Er verletzte nicht, indem er Neues in Anspruch nahm. Fragt man aber durch welche Erwägungen er bei seiner Haltung bestimmt wurde, so lässt sich mit aller Sicherheit antworten, dass seine Motive ausschliesslich auf dem politischen Gebiete lagen. Ich habe schon erwähnt, dass er seinen Kanzler Philipp deshalb als geeignet für ein Erzbistum betrachtete, weil er ihm in der Verwaltung des Reichs treulich gedient habe. Er sprach diesen Gedanken öfter aus. So wenn er den Wählern von Cambrai einschärfte, sie sollten einen Mann wählen, der Gott und dem Reiche gefalle, der geschickt sei für den Dienst der Kirche und des Reichs, von dem der Gehorsam, der dem Reich gebühre, geleistet werde, und der seine Kirche in erwünschter Weise fördere. Es ist ein Zufall, dass im letzten Satz die Rücksicht auf das Reich der auf die Kirche vorantritt; aber der Zufall ist sinnvoll. Denn für Friedrich standen in der That die kirchlichen und religiösen Motive im Hintergrund. Gewiss kann man ihn nicht als unkirchlich bezeichnen. Vor diesem Urteil schützt ihn nicht nur sein Kreuzzug; er hat es auch sonst an Beweisen seiner frommen Gesinnung im Sinne des Mittelalters nicht fehlen lassen; selbst für theologischen Streit hatte er ein gewisses Interesse. Aber wie gross ist doch der Unterschied zwischen ihm und Heinrich III.! Während der letztere tief ergriffen war von der religiösen Bewegung der Zeit, hielt sich Friedrich nur in den herkömmlichen Anschauungen; gerade in dieser Hinsicht war er konservativ: die kirchlichen Einrichtungen galten ihm als gut und recht, ihre Mängel nahm er nicht wahr, die Verpflichtung bessernd einzugreifen empfand er nicht, für die Kirche hatte er kein Reformprogramm wie für das Reich. Dass die politischen über die kirchlichen Motive das Übergewicht hatten, bewährte sich in der Wahl der Männer, denen er die Bistümer übertrug. 706

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Einen scharfen Blick und ein klares Urteil über die Menschen hat er dabei bewiesen; denn unter den von ihm Gewählten ist die Zahl der hervorragenden Männer ungewöhnlich gross. Aber unter ihnen ist nicht ein einziger grosser kirchlicher Charakter: wer geistliche Fürsten nennen will, die ihren Ehrgeiz daran setzten, dem Reiche zu dienen, wird immer Rainald von Köln und Christian von Mainz in erster Linie erwähnen, und wer die Namen der Bischöfe sucht, die das geistliche Fürstentum dem weltlichen ebenbürtig machten, kann an Wichmann von Magdeburg und Philipp von Köln nicht vorübergehen. Dagegen sucht man Männer, die ihnen in kirchlicher Thätigkeit gleich wären, unter Friedrichs Bischöfen vergeblich. Vom kirchlichen Gesichtspunkt aus beurteilt, ist das ein Mangel. Aber gerade dieser Mangel zeigt, wie tief Friedrich eingegriffen hat; er hat den alten Einfluss des Königtums auf den Episkopat erneuert. Seine Regierung war die letzte, unter der die Bischöfe Beamte des Reiches waren. Friedrich war in dieser Hinsicht der letzte deutsche König im alten Sinn. Dem eben Gesagten entspricht es, dass Friedrich auch den Fragen, welche die allgemeinen kirchlichen Verhältnisse berührten, zunächst konservativ gegenüber stand. Auf seinem ersten Romzug hatte er sich über seine Stellung zu Arnold von Brescia zu entscheiden. Jedermann kennt den Namen des kühnen und rücksichtslosen Agitators, des feurigen, überzeugungstreuen Predigers, des unglücklichen Reformators. Seine Überzeugungen sind das Produkt des inneren Widerspruchs, der den mittelalterlichen Katholizismus durchdringt. Aber nicht ohne Einfluss auf sie waren auch die Theorien der italienischen Rechtsschulen, die die Autonomie des weltlichen, des kaiserlichen Rechtes vertraten. Es war eine gemeinkatholische Anschauung, dass das höchste sittliche Ideal in der Nachfolge des armen Lebens Christi und der Apostel bestehe. Niemand leugnete diesen Satz. Aber der Papst und die Bischöfe, welche die Stellvertreter Christi und Nachfolger der Apostel sein wollten, waren weltliche Herren. Die ganze Kirche war unter dem Gewicht ihres Besitzes und ihrer Macht das Gegenteil der Gemeinschaft der armen Jünger Jesu geworden. Arnold war nicht der erste und nicht der einzige, der diesen Zwiespalt zwischen Ideal und Wirklichkeit empfand. Aber während Männer wie Bernhard oder Gerhoh sich mit mehr oder weniger künstlichen Reflexionen darüber beruhigten, konnte er dem Satze nicht ausweichen, dass die Kirche, da sie nicht von dieser Welt ist, auch keine irdische Gewalt sei; weder weltliche Macht, noch weltlicher Besitz gebühre ihr. Das alles gehöre dem Staat, dem Kaiser, und ihm allein. Das waren revolutionäre Anschauungen. Sie leugneten das Recht eines Zustandes, der seit unvordenklichen Zeiten bestand, der ohne die grösste Erschütterung aller Verhältnisse nicht geändert werden konnte. Kein Wunder, dass Arnold bei den Trägern der kirchlichen Gewalt Widerspruch und Widerstand fand. Und nun erhob er sich direkt gegen sie; in der denkbar schroffsten Form erklärte er die päpstliche Gewalt als unberechtigt. Es ist der mittelalterlichen Welt nicht ganz leicht geworden, ein klares Urteil über Arnold zu finden. Auch Männer, die nicht mit ihm gingen, konnten doch nicht umhin auszusprechen, er lehre das, was mit dem Gesetz der Christen sehr wohl übereinstimme, mit ihrem Leben freilich sehr schlecht. Wir wissen nun, dass Fried707

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rich über die Anschauungen Arnolds nicht nur durch Gegner unterrichtet war; einer seiner Anhänger, ein gewisser Wezel, hat ihm die arnoldistischen Grundsätze über die Armuth der Nachfolger Jesu und der Apostel und über die Unvereinbarkeit derselben mit der irdischen Macht der Kirche bald nach seiner Erwählung in einem langen Schreiben vorgetragen. Auch scheint es in der Umgebung Friedrichs nicht ganz an Männern gefehlt zu haben, die geneigt waren, diese Lehren zu billigen; Friedrich selbst jedoch war von nichts ferner als hievon. Die Art, wie er den Untergang Arnolds herbeiführte, zeigt, dass er in ihm nur den Häretiker, den Revolutionär sah. Hätte er den Gegner des Papsttums dem sicheren Verderben überliefert, wenn er nicht in dem Papsttum, so wie es war, eine berechtigte, eine nothwendige Institution erkannt hätte? Es scheint mir nicht zweifelhaft, dass er wirklich so urteilte. Gleichwohl kam er in Konflikt mit den Trägern der päpstlichen Gewalt. Den ersten Zusammenstoss veranlasste eine Frage der Etikette. Als Friedrich am 8. Juni 1155 seine erste Zusammenkunft mit Papst Hadrian hatte, erwartete dieser, dass Friedrich ihm den Dienst eines Marschalls leisten werde; da jener es unterliess, so forderte er es, und als Friedrich das Ansinnen ablehnte, verweigerte er ihm den Friedenskuss, bis er ihm Genugthuung für die Versagung der schuldigen Ehre geleistet habe. Der drohende Streit wurde diesmal rasch beigelegt; nachdem durch Zeugen bewiesen worden war, dass Lothar den geforderten Ehrendienst dem Papste geleistet habe, gab Friedrich nach. Was herkömmlich war, wollte er nicht verweigern. Bald folgte ein zweiter, heftigerer Zusammenstoss: der bekannte Vorgang auf dem Reichstag zu Besançon im Oktober 1157. Es wird niemals völlig aufgeklärt werden, wie die anstössige Stelle des päpstlichen Schreibens gemeint war, ob sie das Kaisertum als päpstliches Lehen bezeichnen sollte oder nicht. Aber daran kann, wie mich dünkt, ein Zweifel nicht sein, dass die Partei, die an der Kurie damals ausschlaggebend war, so urteilte; das Bild Lothars als des Dienstmanns des Papstes, die Anrede des Kaisers als des Bruders der Kardinäle, die trotzige Frage Rolands: Von wem hat der Kaiser das Reich, wenn nicht vom Papste? das alles bildete den Kommentar zu dem Brief. Mochte es sich also um einen vorsätzlichen Angriff oder um eine leicht misdeutbare Wendung handeln, die Einsprache dagegen war notwendig. Für unsere Betrachtung ist nun aber bemerkenswert, wie Friedrich sich in der Abwehr verhielt: er nahm das päpstliche Schreiben als einen Angriff auf sein Recht, aber er hütete sich wohl, ihn seinerseits mit einem Angriff auf die päpstliche Stellung zu erwidern, im Gegenteil, indem er sein Recht wahrte, erkannte er die päpstlichen Rechte ausdrücklich an. Wenn er gerade bei diesem Anlass sehr nachdrücklich betonte, dass es ihm am Herzen liege, dasjenige, was Rechtens und was üblich sei, zu schirmen, so entsprach also dieser Erklärung sein Verfahren. Es war trotz aller Entschiedenheit vorsichtig; zugleich aber handelte Friedrich ausserordentlich klug. Denn indem er sich ganz in der Defensive hielt, machte er es dem deutschen Episkopate möglich, auf seine Seite zu treten; und er erreichte dadurch einen vollständigen Sieg. Hadrian IV. erklärte, dass er die Krone nicht als Lehen bezeichnet habe, er gab damit genau genommen einen Anspruch auf, der in der Konsequenz der päpstlichen Theorie lag. 708

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Wieder war der Streit rasch beendet, aber der Friede nicht hergestellt. Denn dass Friedrich Hand anlegte, um die kaiserliche Verwaltung in Ober- und Mittelitalien von neuem zu begründen, führte sofort zu neuem Zwiespalt. Friedrich ging zurück auf die karolingisch-ottonische Vorstellung, dass der Kaiser Landesherr im Kirchenstaat sei. An der Kurie konnte man darin nur den gefährlichsten Angriff auf die eigene Stellung erblicken, man glaubte sie bald so ernstlich bedroht, dass die Frage erwogen wurde, ob nicht das äusserste Mittel, die Exkommunikation des Kaisers, anzuwenden sei. Der zweimal vermiedene Streit schien nun doch ausbrechen zu müssen. In diesem Moment wurde die ganze Sachlage geändert durch den Tod Hadrians, 1. Sept. 1159. Charakteristisch für Friedrichs Verhalten während dieser Jahre ist, so viel ich sehe, die Konsequenz, mit der er vermied, das eigentlich kirchliche Gebiet zu berühren. Während er seine Würde, seine Rechtsstellung, die Befugnisse des Reichs nicht nur behauptete, sondern auch verlorenen Boden wieder zu besetzen begann, gab er der Kurie keinen Grund sich über seine kirchliche Haltung zu beschweren. Auch im Moment der höchsten Erregung zu Besançon war er weit davon entfernt, sich zu so leidenschaftlichen Schritten hinreissen zu lassen, wie Heinrich IV. i. J. 1076. Andererseits ist unleugbar, dass der gewaltige Aufschwung, den die Kaisermacht in Italien seit dem Jahre 1154 nahm, für die Unabhängigkeit des Papsttums und damit für seine Weltstellung wirklich bedrohlich war. Friedrich nahm darauf keine Rücksicht, er hatte nur ein Auge für das, was ihm als sein Recht galt; aber wer will es der Kurie verargen, dass sie sich in ihrem Rechte bedroht glaubte? War sie es thatsächlich durch Friedrichs italienische Politik, so glaubte sie es noch mehr zu sein durch die letzten Ziele, die sie ihm zutraute. Wir wissen aus einer Notiz Johanns von Salisbury, wie man sich in der Umgebung Hadrians seine Absichten dachte: man argwohnte eine Weltpolitik, bei der das Papsttum ganz in den Dienst des Kaisertums gezogen werden sollte. Dabei waren Friedrichs Ziele, wie mich dünkt, durchaus verkannt. Er war ein viel zu realistischer Geist, als dass er ein Nachahmer der phantastischen Weltherrschaftspläne Ottos III. hätte sein können. Gleichwohl war ein tiefer Gegensatz zwischen dem, was er wollte, und dem was das Papsttum nicht entbehren konnte, vorhanden: seine italienischen Organisationspläne und das päpstliche Interesse voller territorialer Selbständigkeit schlossen sich aus: neuer Streit zwischen den beiden Gewalten war unvermeidlich. Er wurde es umsomehr, da das Gefühl von der bedrohten Lage des Papsttums dazu führte, dass die Majorität der Kardinäle den ausgesprochensten Gegner der kaiserlichen Politik, den Träger gregorianischer Ideen über die Weltstellung des Papsttums zum Nachfolger Hadrians wählte. Es ist Alexander III. Seine Wahl war nun freilich ein so deutliches Signal zum rücksichtslosen Kampf gegen Friedrich, dass sie nicht ohne Widerspruch durchzuführen war: die Minorität lehnte sie ab, sie stellte ihm Viktor IV. gegenüber. Statt zum Kampf zwischen Kaiser und Papst kam es also zunächst zu einem Schisma in der Kirche. Wie die Dinge lagen, war die Stellung Friedrichs von selbst gegeben. Alexander als Papst bedeutete für ihn einen sichern und einen ebenso entschlossenen wie gefährlichen Gegner: es war politische Pflicht, ihm die Anerkennung zu versagen. 709

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Dabei gewährte der Eintritt des Schismas die erwünschte Möglichkeit, dies zu thun, ohne mit dem Papsttum als solchem zu brechen. Demgemäss erklärte Friedrich zunächst seine Neutralität. Auch der zweite Schritt war für ihn selbstverständlich: er musste suchen die Lösung des Schismas in dem ihm günstigen Sinn herbeizuführen, d. h. die Anerkennung Viktors zu bewirken. Indem er diese Absicht ergriff, wurde er in der Wahl des einzuschlagenden Weges bestimmt durch die vorsichtige Rücksicht darauf, jeden Widerspruch mit den kirchlichen Überzeugungen zu vermeiden. Seit Jahrhunderten war der Satz bei jeder Gelegenheit wiederholt worden, dass der Papst von niemand gerichtet werden könne. Er galt wie ein Dogma: deshalb konnte Friedrich nicht handeln wie einst Otto I. oder Heinrich III. Er hat demgemäss, als er die Synode zu Pavia berief, um zwischen den beiden Prätendenten zu entscheiden, nicht unterlassen zu erklären, dass er sich kein Urtheil in dem Streit der Päpste anmasse, er überlasse die Entscheidung den Bischöfen. An diesem Standpunkt hat er stets festgehalten; indem er Alexander bekämpfte, bekämpfte er nicht das Papsttum, sondern er widerstand einem Manne, dessen Recht auf den Titel Papst er leugnete. Aber während er die Entscheidung der Frage, wer von Rechtswegen Papst sei, ablehnte, trug er zugleich Sorge, dass die Vertreter der Kirche sie in seinem Sinn entschieden. So schon in Pavia. Seitdem dort die Rechtmässigkeit der Wahl Viktors proklamirt war, ergab sich für Friedrichs weitere Politik ein doppeltes Ziel: einerseits im Reich die Obedienz Viktors herzustellen und aufrecht zu erhalten, andererseits die europäischen Mächte, in erster Linie England und Frankreich, für ihn zu gewinnen. Was das Erstere anlangt, so ist es ihm nicht ganz gelungen, die Bildung einer alexandrinischen Partei im Reiche zu verhindern. In Deutschland allerdings fand Alexander fast nur im Erzbistum Salzburg Anhänger, dagegen war ihre Zahl in Italien nicht gering. Aber mit unvergleichlicher Energie hat Friedrich daran gearbeitet, sie zu beseitigen. Der bekannteste Beleg sind die Würzburger Eide v. 23. Mai 1165. Friedrich selbst hat damals geschworen, er werde nie Alexander oder einen von seiner Partei gewählten neuen Papst anerkennen; die in Würzburg anwesenden Fürsten leisteten den gleichen Eid, von den abwesenden wurde er nachträglich gefordert, die Bischöfe wurden angehalten von allen Geistlichen und Laien innerhalb sechs Wochen seine Ablegung zu verlangen, wer ihn verweigerte, wurde mit strenger Strafe bedroht und belegt. In der That wurde so die Zersplitterung Deutschlands in verschiedene Obedienzen verhindert. Nur im Salzburgischen und in Italien kam es zur Gewaltanwendung, zur Vertreibung alexandrinisch gesinnter Bischöfe und Besetzung der Stellen mit Gegnern. Die Westmächte zu gemeinsamen Schritten zu veranlassen war Friedrichs Bestreben sofort beim Ausbruch des Schismas gewesen. Seine Absicht misslang: England und Frankreich nahmen ihre Stellung ohne Rücksicht auf Deutschland und traten auf die Friedrich entgegengesetzte Seite. Es ist sicher, dass diese Entscheidung zum Theil herbeigeführt wurde durch die Überzeugung, dass der Erwählte der Majorität das bessere Recht habe; aber es ist ebenso gewiss, dass auch das Misstrauen gegen die deutsche Politik ins Gewicht fiel. Da die Anerkennung Alexanders die Stellung Friedrichs schwächte, so war sie den Westmächten erwünscht. Friedrichs 710

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Bestreben blieb nun Jahre lang, den Bund zwischen ihnen aufzulösen und sei es England, sei es Frankreich von Alexander zu trennen: zweimal schien er sein Ziel erreicht zu haben; aber jedesmal entging ihm der Erfolg im letzten Augenblick. Auf diesem Wege war das Schisma nicht zu lösen: es blieb nur ein Weg übrig, die Vernichtung Alexanders. Sie schien möglich, als Alexander, der seit 1162 sich in Frankreich aufhielt, im Jahre 1165 nach Italien zurückkehrte. Und auch diesmal gelangte Friedrich so weit, dass er meinen konnte, den Erfolg schon in der Hand zu haben: der glänzende Sieg, den Rainald von Köln und Christian von Mainz am Pfingstmontag 1167 bei Tusculum über die Römer errangen, machte Alexander waffenlos: der entschlossene Rainald glaubte mit einem kühnen Griff den Siegespreis erhaschen zu können: er forderte von den Römern die Auslieferung Alexanders und seiner Kardinäle. Friedrich selbst unterhandelte mit den letzteren: er verlangte den Rücktritt des Papstes unter der Zusage, dass auch der kaiserliche Gegenpapst zurücktreten werde. Dann hätte eine Neuwahl stattfinden können, deren Ergebnis der allgemeinen Anerkennung sicher war. Aber es kam nicht zur Annahme des Vorschlags: vielmehr gelang es Alexander aus Rom zu entkommen. Als vollends eine Seuche in wenigen Tagen das deutsche Heer vernichtete, war an die gewaltsame Überwältigung Alexanders nicht mehr zu denken. Die Urteile über die Absichten Friedrichs während dieser Jahre gingen und gehen weit auseinander. Als Alexander den Bann über Friedrich verkündigte, hat er den Vorwurf gegen ihn erhoben, dass er von Anfang an die Kirche zu knechten gesucht habe; um sie ganz zu unterdrücken, habe er Viktor durch Übergabe des Ringes mit dem Papsttum belehnt; die Unterwerfung der römischen Kirche aber sei nur der erste Schritt, um ganz Europa zu unterjochen. Das hier ausgegebene Thema wurde sofort in England und Frankreich aufgenommen und variirt: Arnulf von Lisieux verkündigte seinen Landsleuten, Friedrich sei entschlossen jetzt den alten Streit zwischen der Krone und dem Papsttum zur Entscheidung zu bringen, dadurch die weltliche Gewalt über die geistliche zu erheben. Dann, wenn der frühere Glanz des Kaisertums wiederhergestellt sei, werde er Hand anlegen, um alle Reiche der Welt seiner Gewalt zu unterwerfen. Die Gegner vermutheten also die Absicht, das Verhältnis der beiden Gewalten grundsätzlich zu ändern. Man kann diese Anschauung noch heute finden; sie ist nur anders ausgedrückt, wenn Friedrich das Bestreben zugeschrieben wird, die cäsareopapistischen Gedanken strikt durchzuführen. Ein ganz abweichendes Urteil hat eine Zeitlang viele Zustimmung gefunden: man nahm an, dass Friedrich unter dem Einfluss Rainalds von Dassel den Gedanken ergriffen habe, die deutsche Kirche als Nationalkirche zu konstituiren. Auch diese Ansicht klingt, freilich bedeutend gemildert, noch fort, wenn man jetzt etwa sagt: nicht der universale Charakter des Papsttums überhaupt sollte angetastet werden, aber der römische Stuhl sollte nur die Reichskirche und den Kaiser, nicht die allgemeine Kirche als die höhere Instanz über sich anerkennen, oder es habe sich bei dem Kampf um die Wiederaufrichtung der kaiserlichen Herrschaft über das Papsttum gehandelt. Auch hier wird Friedrich der Gedanke einer Änderung des kirchlichen Rechtszustandes zugeschrieben. 711

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Wie mich dünkt, schliesst jedoch die klare Folgerichtigkeit seines Verhaltens die eine wie die andere Annahme aus: er arbeitete Jahre lang dahin, um in Gemeinschaft mit den Westmächten das Schisma zu beendigen. Dadurch ist die Absicht, die Rechtsstellung des Papsttums zu reformiren, ausgeschlossen. Nicht eine Neuordnung der päpstlichen Stellung hat er erstrebt, sondern lediglich Vermehrung des politischen Einflusses, den er auf die Päpste hatte. Von Bedeutung aber war der letztere nur für seine italienische, nicht für eine vorausgesetzte Weltpolitik: auch in diesen Jahren war Friedrichs Kirchenpolitik ausschliesslich beherrscht durch das, was er für das Reich erstrebte. Er hat im Gespräch mit einem deutschen Anhänger Alexanders einmal geäussert, einen Papst, der das Recht des Reichs nicht mindere, werde er auf das Bereitwilligste fördern, dem aber, der es kränke, trete er auf alle Weise und mit der ganzen Kraft des Reichs entgegen. Hier wird wirklich der beherrschende Gesichtspunkt für sein Verhalten angegeben sein. Seit 1167 verflocht sich die kirchliche Frage mit der Erhebung der lombardischen Städte gegen die Regierung des Kaisers. Die Demokratie und das Papsttum waren in diesem Moment natürliche Bundesgenossen. Das hat niemand klarer erkannt als Papst Alexander; er trat in die engste Verbindung mit den Lombarden. Nun handelte es sich für Friedrich vollends um die Frage, ob er auf den grossen Plan seines Lebens, Oberitalien monarchisch zu organisiren, verzichten oder ihn festhalten wolle. Neben der Wichtigkeit dieser Frage trat der Widerspruch gegen Alexander in die zweite Linie zurück. Demgemäss erfuhr nun die kirchliche Politik Friedrichs einen deutlich wahrnehmbaren Wandel. Er verhehlte sich nicht, dass er nur dann auf den Sieg rechnen könne, wenn es ihm gelang, die Verbündeten zu trennen und einen auf seine Seite zu ziehen. Hier aber dachte er nicht daran, die Lombarden gegen das Papsttum aufzubieten, wohl aber erschien nun eine Verständigung mit Alexander als vorteilhaft. Man kann vielleicht nicht sagen, dass er sie seit 1167 suchte, sicher aber wies er den Gedanken an sie nicht mehr zurück. Nichts zeigt deutlicher als dies, dass seine Haltung gegen die Kurie nur ein Theil seiner italienischen Politik war. Ohne dass wir bei der Lückenhaftigkeit der Überlieferung die Dinge im einzelnen verfolgen können, wissen wir doch, dass von 1168 an Unterhandlungen zwischen Friedrich und den Alexandrinern stattfanden. Die verschiedensten Mittelsmänner waren dabei thätig: bald ein namenloser Laienbruder, bald ein berühmter französischer Abt, jetzt ein deutscher Bischof, und dann wohl auch der französische König selbst. Die Unterhandlungen waren fast nie officiell, aber stets officiös; bis zum Frühjahr 1172 sind sie eigentlich nie abgebrochen worden. Dabei stand das Zugeständnis, das Friedrich zu machen bereit war, fest: die Anerkennung Alexanders durch die deutsche Kirche; nur darüber wurde unterhandelt, was der Papst zu gewähren habe: hier forderte Friedrich die Anerkennung der im Amte befindlichen deutschen Bischöfe. Es war schwerlich nur sein hochentwickeltes Ehrgefühl, das ihn hinderte, die Männer preiszugeben, die ihm gefolgt waren, sondern er wollte die Erschütterung aller Verhältnisse vermeiden, die aus der Beseitigung fast des ganzen bisherigen Episkopats mit Nothwendigkeit gefolgt wäre. Manchmal schien der Erfolg dieser Unterhandlungen sicher; besonders im Sommer 1170 sprach Friedrich ganz offen von dem bevorstehendem Friedensschluss; 712

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schliesslich führten sie doch nicht zum Ziel. Der Bund zwischen der Kurie und den Lombarden erwies sich als unzerreissbar. Deshalb mussten die Waffen entscheiden; wie bekannt entschieden sie bei Legnano, 29. Mai 1176 gegen Friedrich. Nun war der Friedensschluss mit der Kirche sicher. Aber seltsam genug errang bei den Unterhandlungen von Anagni der Besiegte von Legnano die bedeutendsten Erfolge; nicht nur wurde Alexander dazu gedrängt, ohne seine Verbündeten mit Friedrich zu unterhandeln, sondern er gestand auch die bisher immer abgelehnte Forderung zu: er erkannte die deutschen Bischöfe im allgemeinen in ihren Würden an. Wie mich dünkt, ist es die dunkelste Frage in dem ganzen Streit, wodurch Alexander bewogen wurde, dem Besiegten das Zugeständnis zu machen, das er dem Sieger verweigert hatte. Hat ihn die günstige Erledigung der römischen Besitzansprüche dazu bestimmt, oder befürchtete er, dass bei längerer Dauer des Schismas die päpstliche Autorität in Deutschland unheilbaren Schaden erleiden würde? Wurde er bedenklich, ob seine lombardischen Bundesgenossen nach dem Siege ebenso gefügig sein würden, wie als Bedrängte, oder war das Urtheil entscheidend, dass der Grund zum Kampf weggefallen sei, da Friedrich auf die Durchführung seiner italienischen Pläne verzichten musste? Man kann zur Begründung jeder dieser Vermuthungen gewisse Bemerkungen anführen; möglicher Weise haben auch alle diese Gründe zusammengewirkt. Genug, Alexander gab nach. Der Friede von Venedig garantirte die Ausführung des Vertrags von Anagni, nicht ohne dass die päpstlichen Besitzansprüche noch eine bedeutende Einbusse erlitten hätten. Wenn man sich diesen Gang der Dinge vergegenwärtigt, so ist klar, dass der Friede von Venedig ebensowenig ein voller Sieg des Papsttums gewesen ist, als das Wormser Konkordat. Vor allem: so wenig als dieses hat er die grosse Frage, die im Mittelalter Kirche und Staat in Spannung hielt, gelöst: der Anspruch von Besançon blieb unerledigt. Klar ist aber auch, eine wie völlig andere Stellung Friedrich in der deutschen Kirche einnahm, als seine Vorgänger. Unter Lothar und Konrad war sie von den Päpsten regiert worden, jetzt folgte sie der Führung des Kaisers: er bestimmte, wer als Papst anerkannt wurde, wer nicht. So ganz anders war die thatsächliche Lage, ohne dass die Rechtsverhältnisse geändert worden wären. Das war der grosse Erfolg, den Friedrich errang. In dieser Stellung aber behauptete er sich auch nach dem Frieden von Venedig. Es kam unter Urban III. noch einmal zu kirchlichen Irrungen, bei denen der Papst die principiell wichtigen Fragen, die durch das Schisma in den Hintergrund gedrängt waren, wieder ergriff und ihre Lösung im Sinne der Freiheit der Kirche herbeizuführen suchte: die Investitur, das Spolien- und Regalienrecht, die Eingriffe des Kaisers in die kirchliche Administration. Aber als Friedrich auf dem Hoftage zu Gelnhausen, 28. Nov. 1186, dem deutschen Episkopat den Streitfall vorlegte, so trat dieser sofort auf seine Seite. Nichts ist bezeichnender, als dass damals ein alter Kampfgenosse Alexanders, der Erzbischof Konrad von Mainz, der Sprecher der deutschen Bischöfe war. Sie richteten die Aufforderung an Urban, dem gerechten Verlangen des Kaisers zu genügen. Was Friedrich erreicht hatte, erschien in Deutschland als anerkanntes Recht. 713

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Von diesem Punkte aus ist das vorhin erwähnte Urtheil der Zeitgenossen, das Friedrichs beständige Siege preist, zu verstehen. Seiner Reformpolitik hat es in der That an grossen Erfolgen nicht gefehlt. Aber sie waren nicht von Dauer. Friedrich steht am Schluss einer Entwickelungsreihe, nicht an ihrem Beginn. Gewiss hat der frühe Tod Heinrichs VI. zur Auflösung der kaiserlichen Machtstellung ausserordentlich viel beigetragen. Doch dünkt es mich unverkennbar, dass die Ursache zum Teil auch in Friedrichs Politik liegt. Seine italienischen Pläne sind gescheitert, da ihm der Blick fehlte für die grosse Bedeutung, die dem neu aufblühenden Städtewesen zukam. Er wollte organisiren Verhältnissen gemäss, die schon verschwunden oder im Verschwinden waren, nicht aber denen gemäss, die schon vorhanden oder im Entstehen waren. Man kann in seinem kirchlichen Verhalten eine analoge Bemerkung machen: seine blos ablehnende Haltung Arnold von Brescia gegenüber zeigt, dass er auch hier die Mächte, die eine Zukunft hatten, nicht verstand: er baute auch hier nur im Gedanken an die Vergangenheit. Das Grösste, was er erreichen konnte, war deshalb, dass er einen Zustand, der mehr oder weniger schon überholt war, noch einmal wiederherstellte, noch einmal für eine Reihe von Jahren aufrecht erhielt. Aber die wahre Grösse des Staatsmanns besteht doch nicht hierin: nur der baut für die Dauer, der seine Einrichtungen den zukunftsreichen Mächten gemäss gestaltet. Unwillkürlich lenkt sich hier unser Blick wieder zurück auf den grossen Toten des vergangenen Juli. Auch Fürst Bismarck war im Beginn seiner Laufbahn nur konservativ. Aber er war deshalb so gross, weil er über diesen Standpunkt hinausgewachsen ist. Mit unvergleichlichem Scharfblick hat er die Möglichkeiten, die Keime der Zukunft, die in der trüben und wirren Gegenwart vorhanden waren, erkannt und mit unvergleichlicher Kraft hat er sie zur Gestaltung geführt. Möge Gott unserem Volke verleihen, dass es stets Führer findet, die ihm hierin ähnlich sind; dann wird seine Zukunft nicht hinter seiner Vergangenheit zurückbleiben. ***

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31. October 1899. Rede des abtretenden Rektors D. Dr. Albert Hauck. Bericht über das Studienjahr 1898/99. Hochansehnliche Festversammlung! Wie im Leben der Menschen, so wechseln im Leben der Korporationen ruhige, an grossen Ereignissen arme Jahre mit bewegten, ereignissreichen. Das heute zu Ende gehende Jahr unserer Universität ist zu den ersteren zu zählen: der gleichmässige Fortgang der geräuschlosen täglichen Arbeit der Lehrenden und Lernenden ist nicht unterbrochen worden durch grosse Ereignisse, welche Gedanken und Interesse dauernd von ihren nächsten Zielen abgelenkt hätten. Doch fehlte es nicht an Tagen, welche, sei es durch festlichen Glanz, sei es durch ernste Bedeutung, aus der Reihe der übrigen hervorragten. Der Beginn des Jahres stand unter dem frischen Eindruck des grossen Verlustes, den Deutschland, ja die Welt durch den Tod des grössten Staatsmanns unseres Jahrhunderts erlitten haben. Die Universität genügte einer Pflicht der Dankbarkeit, indem sie den 20. November 1898 dem Gedächtniss des Fürsten Bismarck weihte. Die freie Wissenschaft ist international; sie kennt keine durch die Nationalität bedingte Einschränkung. Aber ihre Pflege kann nur dann gedeihen, wenn Volk und Staat blühen. Deshalb haben vor allem auch die Universitäten Ursache, den Mann zu ehren, der Deutschland gross und stark gemacht hat, indem er die zersplitterten Stämme und Staaten zusammenfasste. Mögen solche Gedächtnissfeiern sich nicht Jahr um Jahr wiederholen, das Bild des Fürsten Bismarck wird gleichwohl bei uns, es wird besonders, wie ich überzeugt bin, bei der akademischen Jugend niemals verblassen. Mögen Sie aber, meine Herren Kommilitonen, wenn Sie die Gestalt des Fürsten Bismarck vor Ihr geistiges Auge rufen, stets den Mann vor sich sehen, auf den das Serviendo consumor, wie auf keinen zweiten passt. Denn nur dann kann Deutschland die hohe Stellung behaupten, zu der Fürst Bismarck es emporgeführt hat, wenn Deutschlands Männer ihn nachahmen in selbstverleugnender Arbeit, in bereitwilliger Zurückstellung aller Sonderinteressen hinter den Forderungen des allgemeinen Wohls. Zu den festlichen Tagen im Leben unserer Universität gehörte der 1. und 2. Februar dieses Jahres, an welchen Seine Majestät der König in unserer Mitte weilte und mehrere Vorlesungen durch Seine Gegenwart auszeichnete. Wenn Seine Majestät unverrückt an der schönen Sitte festhält, die Vorlesungen neu berufener Professoren zu besuchen, so verpflichtet uns das zu immer erneuter Dankbarkeit. Denn wir erkennen darin den immer wiederholten Beweis für die warme, verständnissvolle Theilnahme, welche Seine Majestät den Fortschritten der Wissenschaften und dem Gedeihen unserer Universität entgegenbringt. 715

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Ein zweiter Festtag der Universität war der 11. Juni 1899. Denn an diesem Tage fand nach zweijähriger Pause der erste Gottesdienst in der wiederhergestellten Universitätskirche statt. Die Arbeiten an der Kirche waren im Jahre 1897 in unmittelbarem Anschluss an die Vollendung des Neubaues der Universität in Angriff genommen worden. So schwierig sie zum Theil waren, so gelang es der Energie unseres bewährten Architekten, des Herrn Bauraths Dr. Rossbach, doch, sie in der verhältnissmässig kurzen Frist von zwei Jahren zu Ende zu führen. Vielleicht über keine Frage gehen die Meinungen gegenwärtig so weit auseinander, als über die, wie bei der Restauration älterer Kunstbauten zu verfahren sei. Soll man den Rückweg suchen zu den Gedanken des ersten Baumeisters, oder soll man alle die Zuthaten schonen, die spätere Zeiten dem ursprünglichen Werke hinzugefügt haben? Soll man sich begnügen, das Erhaltene wiederherzustellen und vor dem Untergang zu sichern, oder soll man das Werk fortführen in der Richtung des früher Gewollten, aber nicht Erreichten? Für jeden Standpunkt lassen sich Gründe geltend machen. Ueberdies spricht bei Arbeiten an einem Werke, das vielen lieb war, auch das Gefühl ein sehr gewichtiges Wort mit: ihm aber kann auch das Unschöne der Erhaltung werth scheinen. Kein Wunder, dass die Wünsche und die Ansichten in Bezug auf die Wiederherstellung der Paulinerkirche sich in sehr verschiedener Richtung bewegten. Ich glaube indess, dass, wenn man einmal das hier befolgte Princip der Restauration zugiebt, darüber kaum eine Meinungsverschiedenheit herrschen wird, dass der Meister unseres Universitätsgebäudes auch in der Kirche ein Werk schuf, das seines Namens werth ist. Der verhältnissmässig reiche Besitz an Werken der Malerei und Skulptur, den die Universitätskirche birgt, kommt erst seit der Neuaufstellung zur vollen Geltung. Mit der Vollendung der Kirche ist die Arbeit an den allgemeinen Universitätszwecken dienenden Bauten abgeschlossen. Wir stehen am Ende einer mehr als zehnjährigen Bauperiode, während deren unsere Hochschule auf dem alten Grund und Boden ein neues, den Anforderungen des Unterrichts in jeder Hinsicht entsprechendes und in seinen stolzen Formen die Bedeutung unserer Korporation vergegenwärtigendes Heim erhielt. Die Bauten begannen im Jahre 1887 mit der Errichtung der neuen Universitätsbibliothek; es folgte der Neubau der Auditorien-, Seminar- und Verwaltungsgebäude, endlich die Restauration der Kirche. So entstand ein Komplex von Bauwerken, wie kaum eine zweite deutsche Universität ihn ihr eigen nennt. Es geziemt sich, den Dank, den die Universität der hohen Staatsregierung wie den Ständen des Landes für die Munificenz schuldet, mit welcher für ihre verschiedenartigen Bedürfnisse gesorgt wurde, auch in diesem Momente Ausdruck zu geben. Was die Ausstattung der einzelnen Fakultäten anlangt, so wurde die Zahl der Institute der theologischen Fakultät vermehrt durch die Begründung eines alttestamentlichen exegetischen Seminars. Es wurde im verflossenen Sommersemester eröffnet. Für die medizinische Fakultät wurde ein neues chirurgisch-klinisches Institut in Verbindung mit dem städtischen Krankenhause errichtet. Es enthält ausser einem grossem Hör- und Operationssaal ausgedehnte Räumlichkeiten für wissenschaftliche Zwecke. Der Bau ist soweit vollendet, dass es mit Ende dieses Jahres in Be716

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nutzung genommen werden kann. Das physiologische Institut wurde durch einen Anbau nicht unbedeutend erweitert. Dadurch sind ein grosser Hörsaal und eine Anzahl Räume zu Demonstrationszwecken gewonnen. Auch hier ist der Bau soweit gefördert, dass die neuen Räume zu Anfang des nächsten Jahres in Gebrauch genommen werden können. Wie die Regierung, so haben auch Private die Universität durch Zuwendungen zum Danke verpflichtet. Herr Professor Wülker schenkte der Bibliothek eine werthvolle, über 100 Nummern umfassende Sammlung von Büchern, Plänen und Bildern, die sich auf Goethe in Frankfurt beziehen; Herr Franz Liebeskind-Platzmann eine grössere Anzahl zum Theil sehr werthvoller Werke aus verschiedenen Literaturgebieten, die eine willkommene Ergänzung des im vorigen Jahr empfangenen Vermächtnisses des verstorbenen Buchhändlers, Herrn Felix Liebeskind, bilden. Ich sage beiden Herren im Namen der Universität aufrichtigen Dank. Von festlichen Tagen, die zunächst innerhalb der einzelnen Fakultäten begangen wurden, erwähne ich die Hundertjahrfeier der medizinischen Klinik, die am 11. Mai 1899 in Gegenwart zahlreicher auswärtiger und hiesiger Gäste stattfand, nachdem schon am 2. Februar in Anwesenheit Seiner Majestät des Königs eine Vorfeier abgehalten worden war. Mit der Hundertjahrfeier verband sich die Enthüllung der Büsten zweier in Leipzig unvergessener Männer, der Professoren Dr. Carl Reinhold August Wunderlich und Dr. Ernst Leberecht Wagner. Die zahlreiche Anwesenheit von Collegen aus allen Fakultäten bei dieser Feier liess erkennen, wie sehr die Bedeutung dessen, was die medizinische Klinik in einem Jahrhundert für die Wissenschaft und zum Besten der leidenden Menschheit geleistet hat, auf allen Seiten anerkannt wird, wie lebendig auch die Erinnerung an die grossen Lehrer ist, die den Ruhm der Leipziger medizinischen Klinik begründet haben. Die juristische Fakultät beging am 13. December 1898 das seltene Fest des fünfzigjährigen Professorenjubiläums ihres Seniors, des Geheimen Rathes Dr. Adolf Schmidt, ebenso feierte die medizinische Fakultät am 21. März 1899 das Fest des fünfzigjährigen Doctorjubiläums des a. o. Professors Dr. Julius Victor Carus. Die Universität hat den beiden verehrten Jubilaren, die noch in voller Frische unter uns wirken, zu diesen Festtagen ihre innigen Glückwünsche aussprechen lassen. Nicht unerwähnt darf bleiben, dass die Universität bei der Feier der Grundsteinlegung des neuen Rathhauses der Stadt Leipzig am 19. September 1899 sich durch ihren Prorektor vertreten liess. Wenden wir uns zu den Veränderungen im Personalstande, so habe ich zunächst der Todesfälle im Kreise der Docenten zu gedenken, die wir zu beklagen hatten. Sie waren zahlreicher als in manchem anderen Jahr. Am 13. December 1898 verstarb der Senior der juristischen Fakultät, Geheimrath Dr. jur. Otto Müller, Professor des römischen und sächsischen Rechtes. Geboren am 12. Mai 1819 gehörte er unserer Universität beinahe 40 Jahre lang, seit dem 30. November 1859, an. Ein Mann von mannichfacher Bildung, noch im hohen Alter die klassische Schulung seiner Jugend nicht verleugnend, gern bereit zum Verkehr mit der akademischen Jugend, wirkte er vornehmlich als Lehrer. Als solcher hat er 717

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Vorzügliches geleistet und sich bleibende Verdienste um die Ausbildung der sächsischen Staatsdiener erworben. Literarisch ist er wenig hervorgetreten. Auch sein einziges grösseres Werk, sein 1858 erschienenes Lehrbuch der Institutionen, sollte seiner Absicht nach zunächst seinen Vorlesungen dienen. Die bescheidene Absicht wurde durch den Werth des Werkes übertroffen: es hat Müller einen Ehrenplatz auch unter den literarischen Vertretern der Rechtswissenschaft erworben. Am 17. Februar 1899 starb sodann der Senior der Universität und der philosophischen Fakultät, der Geheime Rath Dr. phil. et med. Wilhelm Hankel, Professor der Physik. Er war am 17. Mai 1814 in Ermsleben geboren, und wirkte nach kurzer Thätigkeit in Halle seit dem Herbst 1849 an hiesiger Universität. Seine Forschung richtete er schon frühzeitig auf ein Gebiet, das in den letzten Jahren von vorher ungeahnter Bedeutung für das praktische Leben geworden ist: die Elektrizität. Die Theorie derselben zog seine Aufmerksamkeit ebenso auf sich, wie die Lösung von Einzelfragen. Mit der ihm eigenen Beständigkeit blieb er diesem Forschungsgebiete ein langes Leben hindurch treu. Auch nachdem ihn das Schwinden des Augenlichts nöthigte, auf die Lehrthätigkeit zu verzichten, verzichtete er nicht auf die wissenschaftliche Arbeit: der Druck der 21. seiner elektrischen Untersuchungen wurde am 20. Januar, vier Wochen vor seinem Tode, vollendet. Hankel war ein Vertreter der reinen Wissenschaft; aber er war kein dem Leben entfremdeter Gelehrter: zweimal, i. J. 1861–62 und 1867–68 übertrug ihm das Vertrauen seiner Collegen die Rektorwürde, ausserdem war er stellvertretender Beisitzer des Universitätsgerichts. Er hat in diesen Stellungen der Universität treulich gedient: grad, einfach und schlicht, wie er war, vermied er stets etwas scheinen zu wollen; aber die Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit seines Wesens bewies sich in jeder Lage. Fünf Wochen nach Hankel, am 24. März 1899, starb der Mann, der als sein Nachfolger in der Professur der Physik an unserer Universität wirkte, der Geheime Rath Dr. Gustav Wiedemann. Er war seit 1871 als Professor der physikalischen Chemie, seit 1887 als Professor der Physik thätig. Auch seine wissenschaftliche Arbeit galt vorwiegend der Lehre vom Magnetismus und der Elektrizität. Aber während Hankel sich ausschliesslich mit der Lösung der Probleme beschäftigte, die ihm auf dem eigenen Wege entgegentraten, richtete Wiedemann sein Augenmerk auf die Zusammenfassung der Ergebnisse der weitverzweigten Forschung. In seiner „Lehre von der Elektrizität“ schuf er ein Werk, das zu der raschen Entwickelung der wissenschaftlichen Erkenntniss auf diesem Gebiete nicht wenig beigetragen hat, und dessen verschiedene Auflagen ein redendes Abbild dieser Entwickelung sind. Am 18. Mai 1899 schied sodann der ordentliche Honorarprofessor Dr. Ludwig Strümpell, russischer wirklicher Staatsrath, aus diesem Leben. Er war am 23. Juni 1812 in Schöppenstädt geboren, und wurde schon während seiner Studienzeit in Königsberg für die Lehre Herbarts gewonnen. Nachdem er vom J. 1843–1870 in der damals blühenden, nördlichsten deutschen Universität, Dorpat, gewirkt hatte, siedelte er 1871 hierher über, auch hier ein gern gehörter Dozent und in der Frische seines Alters jedem unvergesslich, der mit ihm in Berührung kam. Als das, was ihn charakterisirte, darf man wohl die Universalität seiner Interessen bezeichnen: beschäftigten ihn zumeist logische, ethische und besonders psychologische Fragen, 718

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behandelte er wie sein Lehrer Herbart die Pädagogik mit besonderer Vorliebe und ist eines seiner Hauptwerke der Geschichte der griechischen Philosophie gewidmet, so haben doch auch Probleme der Staatswissenschaft, der Theologie und der Aesthetik die Aufmerksamkeit dieses nach allen Seiten hin offenen Geistes auf sich gezogen. Diesen vier grossen Todten, von denen jeder nach Vollendung einer reichen Lebensarbeit im höchsten Alter abgerufen wurde, gesellte ein räthselhaftes Schicksal als Fünften einen Mann zu, der noch mitten in dem rüstigsten Mannesalter stand, und dessen Lebensarbeit, so bedeutend auch ihr Ertrag gewesen ist, doch noch keineswegs abgeschlossen war. Am 24. Juni 1899 starb Dr. Albert Socin, Professor der orientalischen Sprachen. Er war am 13. Oktober 1844 geboren, und ist als Orientalist zu den Schülern Fleischers zu rechnen, als dessen Nachfolger er seit dem Jahre 1890 hier wirkte. Ein mehrjähriger Aufenthalt im Orient machte ihn zu einem der ersten Kenner der arabischen Dialekte und der Literatur der Araber und anderer orientalischer Völker. Doch beruht Socins Bedeutung für die orientalische Philologie nicht nur auf dieser Erweiterung unserer Kenntnisse; sie beruht vornehmlich darauf, dass sein Vorbild und sein Einfluss bei den jüngeren Orientalisten eine neue Methode der Studien und Forschungen herrschend gemacht hat. Bei den klassischen Philologen und Archäologen ist es längst üblich, dass man sich über Rom in Rom, und über Griechenland in Griechenland unterrichtet. Socin hat als einer der Ersten den Grundsatz vertreten und nach ihm gehandelt, dass man die Kunde über den Orient im Orient selbst zu erholen hat. Er hat dadurch die orientalische Philologie mit neuem frischen Leben erfüllt. Nicht unerwähnt darf auch an diesem Orte bleiben, dass am 18. Februar 1899 unser langjähriger Kollege, der grosse Mathematiker Sophus Lie in seiner Heimat Christiania der Wissenschaft entrissen worden ist. Endlich verstarb nach längerem schweren Leiden am 7. Juli 1899 der Privatdozent in der medizinischen Fakultät Dr. Max Dolega. Ungewöhnlich zahlreich waren im verflossenen Jahre die Neuberufungen und Habilitationen, sowie auch die Abberufungen. Was die ersteren anlangt, so wurden berufen und begannen ihre hiesige Wirksamkeit: in der juristischen Fakultät Dr. Ludwig Mitteis als ordentlicher Professor des römischen Rechtes, in der philosophischen Fakultät Dr. Albert Köster als ordentlicher Professor der neueren deutschen Sprache und Literatur, Dr. Otto Hölder als ordentlicher Professor der Mathematik, Dr. Friedrich Marx als ordentlicher Professor der klassischen Philologie, Dr. Otto Wiener als ordentlicher Professor der Physik, Dr. August Eber als ausserordentlicher Professor der Veterinärwissenschaft und Dr. Ernst Hugo Berger als ausserordentlicher Professor der Geschichte der Erdkunde. Wir begrüssen die neu eintretenden Herren als Kollegen; möchten sie rasch an unserer Hochschule sich heimisch fühlen. Habilitirt haben sich in der theologischen Fakultät Lic. theol. und Dr. phil. Otto Seesemann für alttestamentliche Exegese, in der juristischen Fakultät Dr. Heinrich Sieber und Dr. Paul Kretschmar, in der medizinischen Fakultät Dr. Hans Pässler, Dr. Max Wilms, Dr. Armin Tschermak, Dr. Georg Köster, Dr. Siegfried Garten, in der philosophischen Fakultät Dr. Paul Mentz für Philosophie, Dr. Julius Wagner 719

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für Chemie, Dr. Rudolf Kautzsch für Kunstgeschichte, Dr. Gerhard Kowalewski für Mathematik, Dr. Franz Eulenburg für Nationalökonomie, Dr. Edgar Martini für klassische Philologie, Dr. Ferdinand Sommer für indogermanische Sprachwissenschaft, Dr. Karl Weule für Geographie und Völkerkunde, Dr. Rudolf Kötschke für mittlere und neuere Geschichte, Dr. Heinrich Liebmann für Mathematik. Wir freuen uns, dass die Zahl der jüngeren Lehrkräfte durch diese Habilitationen so bedeutend gewachsen ist und wünschen den jungen Gelehrten für ihre Thätigkeit den glücklichsten Erfolg. Den Neuberufenen steht eine nicht minder bedeutende Zahl von Abberufungen gegenüber. Der ausserordentliche Professor der medizinischen Fakultät Dr. Max Sänger folgte einem Rufe als Ordinarius an der deutschen Universität zu Prag, der ausserordentliche Professor der gleichen Fakultät Dr. Max von Frey einem Rufe als Ordinarius nach Zürich, von wo er inzwischen nach Würzburg übergesiedelt ist, endlich wurde der Privatdozent Ernst Paul Friedrich zum Extraordinarius nach Kiel berufen. In der philosophischen Fakultät folgte der ausserordentliche Professor der Assyriologie Dr. Heinrich Zimmern einem Rufe in gleicher Eigenschaft nach Breslau. Von den Privatdozenten der philosophischen Fakultät wurde Dr. Theodor Paul als ausserordentlicher Professor nach Tübingen, Dr. Wilhelm Streitberg als ausserordentlicher Professor nach Münster, Dr. Curt Hassert als ausserordentlicher Professor nach Tübingen, Dr. Wilhelm Sieglin als ordentlicher Professor nach Berlin berufen, Dr. Robert Dänell siedelte als Privatdozent nach Kiel über. Wir freuen uns der Anerkennung, die in diesen Berufungen liegt und senden den aus unserem Kreise Ausgeschiedenen die besten Wünsche in ihren neuen, weiteren Wirkungskreis nach. Noch ist zu erwähnen, dass der Direktor der Veterinärklinik, Hofrath Dr. Friedrich Anton Zürn am 1. April und der Professor der orientalischen Sprachen, Geheimer Hofrath Dr. Ludolf Krehl am 1. September in den Ruhestand getreten sind. Möge den verehrten Herren Kollegen ein sonniger Lebensabend beschieden sein. Von Beförderungen und Ernennungen hiesiger Dozenten ist zu erwähnen, dass folgende Privatdozenten zu ausserordentlichen Professoren ernannt wurden: in der theologischen Fakultät Lic. Dr. Johannes Kunze, in der juristischen Fakultät Oberregierungsrath Dr. Georg Häpe und Dr. Heinrich Triepel, in der medizinischen Fakultät Dr. Hans Held, in der philosophischen Fakultät Dr. Friedrich Engel zum ordentlichen Honorarprofessor und Dr. Erich Brandenburg, Dr. Bruno Peter und Dr. Otto Wiedeburg zu ausserordentlichen Professoren. Professor Dr. Eduard Zarncke wurde zum Direktor der Münzsammlung ernannt. Was die Universitätsbeamten anlangt, so war zu Beginn dieses Jahres in Folge des Todes des Quästors Schulze die Universitätsquästur neu zu besetzen. Die Wahl des Plenums traf den bisherigen Sekretär Kanzleirath Wilh. Julius Grosse. Er trat am 1. Januar sein Amt an. In seine Stelle rückte ein der bisherige Bureauassistent Friedrich Wilhelm Burkhardt, wogegen als neuer Expedient Friedrich Curt Jahn Anstellung in der Kanzlei fand. Die Zahl der Ehrenpromotionen war im verflossenen Jahre gering: die theologische Fakultät ernannte zum Dr. theol. h. c. den Geheimen Schulrath Dr. Theodor Vogel 720

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in Dresden und die medizinische Fakultät den mit Anfang dieses Monats aus seinem Amte geschiedenen Oberbürgermeister von Leipzig, Geheimen Rath Dr. Otto Robert Georgi. Auch seitens des Senates, der darüber in seiner ersten Sitzung nach Beginn des Semesters beschloss, wurde an den Genannten ein Schreiben gerichtet, in dem die Anerkennung der Thätigkeit des Geheimen Rathes Georgi im Besonderen der Dank für sein warmes persönliches Interesse für die Universität zum Ausdrucke gebracht ist. Diplomerneuerungen aus Anlass der fünfzigjährigen Jahresfeier der Promotion vollzog die medizinische Fakultät 3: für den a. o. Professor Dr. Julius Victor Carus in Leipzig, für den Geheimen Medicinalrath Dr. Gustav Hermann Butter in Niederlösnitz und für Dr. Friedrich August Wilhelm Naumann in Lommatzsch, die philosophische Fakultät eine: für Dr. Johann Emil Friedrich Lechmer in Celerina, vormals Pfarrer und Decan in Thusis. Rite promovirt wurden in der theologischen Fakultät 4 Bewerber zu Lic. theol., in der juristischen 118, in der medizinischen 191 approbirte Aerzte und zwei Ausländer, in der philosophischen 121 Bewerber zu Doctoren. Was die Studentenschaft anlangt, so war das Verhalten derselben insofern auch in dem abgeschlossenen Jahre erfreulich, als wir Dozenten keinen Anlass hatten über den Besuch der Vorlesungen und über die Beteiligung an wissenschaftlichen Uebungen zu klagen. Erfreulich ist nicht minder, dass die frühere starre Abgeschlossenheit der einzelnen studentischen Kreise gegen einander dem nicht erfolglosen Streben nach Verständigung und Zusammenschluss miteinander gewichen ist. Bedenklicher sind die Bemerkungen, die der ruhige Beobachter über die Erschlaffung der sittlichen Grundsätze, ich sage nicht: der Studentenschaft, aber eines Bruchteils derselben machen kann. Ich fühle mich verpflichtet zu der dringenden Mahnung: Möge die ganze Studentenschaft zurückkehren zu jenem sittlichen Idealismus, der sie vordem gross gemacht hat. Wer durch sein Verhalten die sittlichen Grundlagen des Volkslebens antastet, der schadet nicht nur sich selbst, sondern der Gesammtheit: es giebt keine Blüte des Volkes, die nicht auf der Basis gesunder Sittlichkeit erwächst. Die Studentenziffer wird auf derselben Höhe beharren, die sie während der letzten Jahre erreicht hat. Der Gesammtbestand war am gestrigen Tage: 3351, nämlich 311 Theologen, 1010 Juristen, 593 Mediziner, 1437 Angehörige der philosophischen Fakultät, gegen 3243, 309, 1013, 606, 1315 am 30. October 1898. Endlich habe ich noch das Ergebniss der Preisaufgaben zu erwähnen. Die Aufgabe der theologischen Fakultät – Wesen und Zweck der Gleichnisse Jesu soll mit besonderer Berücksichtigung von Matth. 13, 10-23 untersucht werden – fand 4 Bearbeitungen: der Preis wurde der Arbeit des stud. theol. Arno Schuster aus Annaberg zugesprochen. Ein zweiter Preis ist für die Arbeit des stud. theol. Gerhard Fuchs aus Grosserkmannsdorf bei dem Kgl. Kultusministerium beantragt. Endlich wurde die Arbeit des stud. theol. Friedrich Gilbert Israel einer lobenden Erwähnung für wert befunden. Von der Juristenfakultät wurde der Preis dem stud. jur. Hans Reichel aus Berthelsdorf verliehen. 721

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Die Aufgabe der medizinischen Fakultät fand keine Lösung. In der ersten Sektion der philosophischen Fakultät fand die gestellte Aufgabe – Es soll gezeigt werden, wie die altgriechische Sprache zu ihren Nominalkomposita mit verbalem Anfangsgliede gekommen ist, und wie sich dieser Kompositionstypus in der historischen Zeit weiter entwickelt hat – nur eine Bearbeitung. Sie wurde zwar nicht des Preises, aber einer ehrenvollen Nennung, sowie einer Gratifikation für würdig erachtet. Ihr Verfasser ist Hugo Ehrlich, stud. phil., aus Hannover. Auch das von der zweiten Sektion gestellte Thema – Die Schriften eines hervorragenden Historikers der rationalistischen Zeit, am besten Leibnizens oder Mascovs sollen auf die Anwendung der quellenkritischen Grundsätze untersucht und die gefundenen quellenkritischen Grundsätze systematisch dargestellt werden – wurde nur einmal bearbeitet. Dieser Arbeit aber konnte der ganze Preis zuerkannt werden; ihr Verfasser ist Woldemar Görlitz, stud. philos., aus Niesky. Auf die von der dritten Sektion gestellte Preisaufgabe ist eine Arbeit nicht eingegangen. Die Begründung dieser Urteile, sowie die neuen, für das Jahr 1899–1900 gestellten Preisaufgaben werden durch den Druck und durch Anschlag am schwarzen Brett bekannt gemacht werden. Es bleibt mir noch die letzte Amtshandlung zu vollziehen, unter aufrichtigem Danke für alle mir im verflossenen Jahre zu Teil gewordene Unterstützung das Rektorat meinem erwählten und bestätigten Nachfolger zu übertragen. Ich fordere Sie, Herr Wilhelm Kirchner, auf, das Katheder zu besteigen und die Insignien Ihrer Würde aus meiner Hand entgegen zu nehmen. Zuvor aber habe ich Ihnen den Eid abzunehmen, den nach den Gesetzen unserer Universität jeder Rektor zu leisten hat. Sie schwören bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, dass Sie die Verfassung und die Gesetze der Universität treu und gewissenhaft beobachten, und die Pflichten des Ihnen anvertrauten Amtes als Rektor der Universität nach bestem Wissen und Gewissen redlich erfüllen wollen. Somit proklamire ich Sie, Dr. phil. Wilhelm Kirchner, zum Rektor der Universität Leipzig für das Studienjahr 1899–1900. Ich übergebe Ihnen den Hut und den Mantel als Zeichen Ihrer Würde, die Kette, mit welcher königliche Huld den Leipziger Rektor geschmückt hat, das Siegel der Universität, damit Sie deren Willen rechtlich beglaubigen, die Statuten, die Sie zu bewahren haben, den Schlüssel des Hauses als Symbol Ihrer Herrschaft in diesen Räumen. Möge das Jahr Ihrer Leitung, das letzte in dem nun ablaufenden Jahrhundert, ein Jahr des Segens für unsere Universität sein. Das walte Gott! ***

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Wilhelm Kirchner (1848–1921)

31. October 1899.

Rede des antretenden Rektors Dr. Wilhelm Kirchner. Die Entwicklung der Landwirthschaft im 19. Jahrhundert. Hochansehnliche Versammlung! Kaum ein Zeitpunkt ist äusserlich so geeignet, einen zusammenfassenden Rückblick auf die Entwickelung und in besonderem Masse ist dies der Fall, wenn ein Säculum zur Neige geht, das, wie das gegenwärtige, alle seine Vorgänger an wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften überflügelt hat. So wollen Sie mir denn gestatten, dass ich versuche, wenn auch nur in knappen Zügen, ein Bild von der Entwickelung der Landwirthschaft im 19. Jahrhundert zu zeichnen, eines Gewerbes, das mit den Anfängen der menschlichen Kultur im engsten Zusammenhange steht, das in Beziehung auf den einen seiner Zweige, den Ackerbau, geradezu als Vorbedingung für diese Kultur zu bezeichnen ist; „dass der Mensch zum Menschen werde, stift’ er ewgen Bund gläubig mit der frommen Erde“, diese Worte Schillers charakterisiren klar die Rolle des Ackerbaues für die menschliche Gesittung. Die Landwirthschaft ist aber auch neuerdings in volkswirthschaftlicher Hinsicht und damit auf dem Gebiete namentlich der inneren Politik wieder in den Vordergrund des Interesses getreten; die agrarischen Fragen bewegen die politischen Kreise und die Stellung dazu ist vielfach massgebend für die Gruppirung der Parteien. Bei dem oft schroffen Gegensatze der Ansichten und bei der scharfen Hervorkehrung des verschiedenen Standpunktes kann man, mit einer kleinen Variante, auf die Landwirthschaft gegenwärtig wohl das Dichterwort anwenden „Von der Parteien Gunst und Hass verwirrt, schwankt ihr Charakterbild in der Geschichte“ oder, wie es richtiger heissen müsste, „in der Gegenwart.“ Wenn ich Sie von dieser Stelle aus heute bitte, mit mir das Werden der Landwirthschaft, und zwar vornehmlich der deutschen, im Laufe des gegenwärtigen Jahrhunderts zu verfolgen, so glaube ich die Berechtigung zur Erörterung dieses Gegenstandes vor allem der Thatsache entnehmen zu können, dass die Lehre der Landwirthschaft, d. h. ihre wissenschaftliche Begründung, seit einigen Jahrzehnten auch eine an der Universität vertretene Disziplin geworden ist, dass die alma mater auch dieses Fach, das als Wissenschaft zwar jung, als Gewerbe aber uralt ist, in den 723

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Kreis ihrer Familie aufgenommen hat. Ferner aber gebe ich mich der Hoffnung hin, dass meine Ausführungen dazu beitragen werden, das Wesen der Landwirthschaft dem allgemeinen Verständnisse näher zu bringen, dadurch dem „schwankenden Charakterbilde“ festere Umrisse zu geben und so eine gerechte Würdigung der Eigenart dieses Schaffensgebietes herbeizuführen. Will man das Wesen der Landwirthschaft mit wenigen Worten kennzeichnen, so stellt sie sich dar als dasjenige Gewerbe, das mit Hülfe der nutzbaren Eigenschaften bestimmter Pflanzen und Thiere Bedarfsgegenstände für den Menschen, in erster Reihe Nahrung, dann aber auch Kleidung erzeugt, und das diese Erzeugung in möglichst gewinnbringender Weise ausführen soll, es setzt also mit Rücksicht auf die Bebauung des Landes auch eine wirthschaftliche Thätigkeit voraus, daher der Name „Landwirthschaft“. Aus diesem zwiefältigen Wesen ergiebt sich der enge Zusammenhang der Landwirthschaft einerseits, und zwar mit Rücksicht auf die produktive Seite, mit den Naturwissenschaften, andrerseits, und zwar in Beziehung auf die wirthschaftliche Seite, mit der National-Oekonomie. Die enge Anlehnung an die Natur und ihre Kunde hat die Landwirthschaft mit der Medizin gemeinsam; beide sind, wie man es nennt, angewandte Naturwissenschaft, die Heilkunde mit dem Zwecke, die Krankheiten zu verhüten und zu bekämpfen, die Landwirthschaft mit der Aufgabe, die Menschheit mit Brot, der Vorbedingung jedweden Strebens, zu versehen. Aber trotz des engen Zusammenhanges beider Gewerbe sowohl an sich als auch ihrer Lehre mit der Natur und den Naturwissenschaften haben beide ihr eigenes Forschungsgebiet, sind es ganz bestimmte, meistens nützliche und die menschliche Wohlfahrt unmittelbar fördernde Ziele, die sie anstreben und die sie vielfach erreicht haben. Diese Eigenart ist einer der Gründe, warum die Wissenschaft der Heilkunde seit langer Zeit nicht nur ein besonderes Fach, sondern sogar einen Haupttheil des Organismus der Universitäten, eine eigene Fakultät bildet, und warum auch die Landwirthschaftslehre ein anders begrenztes und von anderen Gesichtspunkten ausgehendes Forschungsgebiet hat, als die grundlegenden Wissenschaften, daher sie auch besonderer Hülfsmittel für den Unterricht und für die Forschung, eines eigenen Institutes und der dazu gehörigen weiteren Theile bedarf. Da zu Beginn des gegenwärtigen Jahrhunderts die Naturwissenschaften nur wenig entwickelt waren und da es Schwierigkeit verursachte, den damals für die Wissenschaft sehr wenig zugänglichen Landwirthen die Lehren der verhältnissmässig weiter ausgebildeten Volkswirthschaft zuzuführen, so erscheint es begreiflich, dass der Betrieb der Landwirthschaft zu jener Zeit im Allgemeinen allein auf Erfahrung, und zum Theile recht roher, begründet, dass von einer wissenschaftlichen Behandlung und Durchdringung des Betriebes nicht oder kaum die Rede war. Ein anderes wesentliches Moment kam hinzu, um den Fortschritt auf landwirthschaftlichem Gebiete zu hemmen: der Mangel an Freiheit in der Benutzung des Grund und Bodens, wie er durch Frohndienste, durch den Flurzwang, die Abgabe der Zehnten und Aehnliches hervorgerufen war. Fast allgemein erfolgte damals noch die Bebauung des Ackers nach dem Systeme der Dreifelder-Wirthschaft, wobei Zweidrittel der Fläche mit Getreide besäet war, während ein Drittel brach lag, zum Zwecke er724

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neuerter Erzeugungsfähigkeit 1 Jahr „der Ruhe“ bedurfte, wie man sich ausdrückte. Dieses Wirthschaftssystem, dessen Ausbreitung in Mitteleuropa besonders durch Karl den Grossen gefördert war, das also zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf ein etwa 1000jähriges Bestehen zurückblicken konnte, hatte sich zwar für die damaligen Zeiten als höchst zweckmässig erwiesen, weil es sehr geringe Anforderungen an die geistigen Fähigkeiten des Betriebsleiters, an das Mass der menschlichen Arbeitskräfte und an die Fruchtbarkeit des Bodens stellte; vereinzelt ferner, besonders in volkreicheren Gegenden, hatte man zu Ausgang des 18. Jahrhunderts begonnen, neben Getreide auch andere Feldfrüchte anzubauen, so namentlich die Kartoffel, die von der Flächen-Einheit mehr unmittelbar verwendbare menschliche Nahrung liefert, als jede andere Frucht, dann Handelsgewächse, die, wie der Flachs und verschiedene Farbekräuter, feinere Bedürfnisse des Menschen befriedigen, weiter aber und in etwas grösserem Umfange solche Pflanzen, die, wie der Klee, eine reichere Ernährung der Thiere ermöglichen und dadurch grössere Mengen thierischer Erzeugnisse, namentlich Milch und Fleisch, für den menschlichen Bedarf zur Verfügung stellen. Aber von einer allgemeineren Einführung dieser Kulturpflanzen konnte noch nicht gesprochen werden. Selbst die in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts fallenden Bemühungen des sogenannten Apostels des Kleebaues, des in Würchwitz bei Zeitz ansässigen Landwirthes Schubart, dessen über die Kultur der genannten Pflanze verfasste Schrift mit dem von der Berliner Akademie der Wissenschaften dafür ausgesetzten Preise gekrönt wurde, eines Mannes, den Kaiser Joseph II., der verständnissvolle Förderer auch der Landwirthschaft, zum „Edlen von Kleefeld“ ernannt hatte, vermochten eine durchgreifende Aenderung der damaligen Wirthschaftsweise nicht herbeizuführen. Der Grund dafür lag hauptsächlich einerseits in dem vorher gekennzeichneten Mangel an Freiheit in der Bebauung des Bodens, und zwar sowohl persönlicher als sachlicher Art, andrerseits in dem geringen Masse an naturwissenschaftlichen Kenntnissen, in der Unbekanntschaft mit den Wachsthums-Bedingungen der Pflanzen und damit in der Schwierigkeit, diese Bedingungen herzustellen. Der Stand der Landwirthschaft zu Ende des vorigen Jahrhunderts lässt sich dahin charakterisiren, dass in Folge des durch die geschilderten Verhältnisse bedingten, seit Jahrhunderten betriebenen einseitigen Getreidebaues die im Boden ruhenden Kräfte nur ganz unvollkommen ausgenutzt wurden. Aber auch diesem Gewerbe erstand der Reformator. Albrecht Thaer, im Jahre 1752 zu Celle im Hannoverschen geboren, hatte in Göttingen Medizin studirt und sich dann als Arzt in seiner Vaterstadt niedergelassen, wo er auf Grund seiner segensreichen Wirksamkeit zum Kurfürstlich Hannoverschen, später zum Königlich Grossbritannischen Leibmedikus ernannt wurde. Hatte Thaer schon als Arzt auf seinem, vor den Thoren Celles gelegenen kleinen Landgute mit besonderem Interesse die Entwickelung der landwirthschaftlichen Gewächse verfolgt und sich in seinen Mussestunden überhaupt mit den Fragen des Landbaues, auch in Beziehung auf die wirthschaftliche Seite, viel beschäftigt, so wuchs dieses Interesse, als er verschiedene englische Werke über Agrikultur gelesen und daraus ganz neue Gesichtspunkte geschöpft hatte, derart, dass er nun seine ganze Zeit und Kraft ausschliesslich der Landwirthschaft, der Erforschung ihrer Gesetze widmete. 725

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Verschiedene, von ihm herausgegebene Schriften, namentlich auch über die freilich nur aus Büchern ihm bekannt gewordene englische Landwirthschaft machten Thaer allgemeiner bekannt und waren die Ursache, dass eine Reihe strebsamer Landwirthe sich um ihn sammelte, dass er diesen dann Vorträge hielt und dass sich daraus im Jahre 1802 eine höhere landwirthschaftliche Lehrstätte entwickelte. Aber schon 2 Jahre später, 1804, siedelte er nach Preussen über, wo ihm, besonders auf Veranlassung Hardenberg’s, der mit klarem Blicke die Bedeutung Thaer’s erkannt hatte, unter günstigen Bedingungen ein grösserer Wirthschaftsbetrieb, das Gut Möglin in Pommern, zur Verfügung gestellt wurde. Hier errichtete er, nach Ueberwindung mannichfacher Schwierigkeiten, die wesentlich in den damaligen politischen Verhältnissen (französische Einquartirung) begründet waren, eine fest organisirte Lehranstalt, die erste landwirthschaftliche Akademie, wie er hier auch in der Lage war, seine Gedanken und Anschauungen in die Wirklichkeit zu übersetzen. Es geschah dies mit solchem Erfolge, dass sein Gut Möglin bald allgemein und in jeder Beziehung als Musterwirthschaft anerkannt wurde. Die Frucht seiner Forscher- und Lehr-, nicht minder aber auch seiner praktischen Thätigkeit ist sein im Jahre 1812 herausgegebenes Buch „Grundsätze der rationellen Landwirthschaft“, ein grundlegendes und bahnbrechendes Werk, weil darin die im Wesentlichen bis auf den heutigen Tag gültigen Prinzipien des Fruchtwechsels und die Vortheile seiner Anwendung für den Landwirthschafts-Betrieb dargelegt und wissenschaftlich begründet sind. Thaer hatte mit seiner ausgezeichneten, durch das Studium der Medizin geschärften Beobachtungsgabe erkannt, dass die vom Acker hervorgebrachte Menge an Pflanzensubstanz, also die Höhe der Erträge, wie man es gewöhnlich nennt, unter sonst ganz gleichen Verhältnissen, also ohne nennenswerthen Mehraufwand, erheblich gesteigert wurden, wenn man nicht, wie bisher, fortgesetzt gleichartige Gewächse, also Getreide, auf demselben Acker kultivirte, sondern wenn das Getreide in stetem Wechsel mit einer andern Fruchtart, mit Kartoffeln, Klee u. s. w., angebaut wurde. Dieser Fruchtwechsel ermöglichte es ferner, weil die Brachhaltung dadurch überflüssig gemacht wurde, die gesammte Fläche zu bebauen, also auch aus diesem Grunde mehr Pflanzenmasse zu erzeugen. Der Einfluss Thaers erstreckte sich aber nicht nur auf den landwirthschaftlichen Pflanzenbau, sondern seine Forschungen und Bemühungen waren auch auf die Hebung der Thierhaltung und namentlich der wirthschaftlichen Seite des Landbaues gerichtet, seine Anweisungen für die Einrichtung und Leitung des landwirthschaftlichen Betriebes sind heute noch mustergültig. Ferner gebührt ihm, der auf Hardenbergs Veranlassung als Staatsrath im Nebenamte in den Staatsdienst getreten war, ein Antheil an der preussischen Agrargesetzgebung des Anfanges des jetzigen Jahrhunderts. In dieser Stellung vermochte Thaer sein Ideal „Freiheit des Landeigenthums sowohl für den grössten Besitzer wie für den kleinsten Bauern“ der Verwirklichung im Wesentlichen nahe zu bringen. Besondere Erfolge erzielte er auf dem Gebiete der Produktion eines der damals wichtigsten landwirthschaftlichen Erzeugnisse, der Wolle, und der seiner Zeit weltberühmte Leipziger Wollkonvent verdankte der Wirksamkeit des grossen Landwirthes sein Entstehen und seine Blüthe. 726

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Thaer hatte auch, das ist bemerkenswerth, ein ausgeprägtes Interesse und ein tieferes Verständniss für die Philosophie; mehrfach betont er in seinen Schriften, dass er der eingehenden und ihn erhebenden Beschäftigung mit dieser Wissenschaft sehr viel für seine fachliche Thätigkeit in wissenschaftlicher, nicht minder aber auch in praktischer Hinsicht verdanke. Das damals in Beziehung auf Thaers philosophische Neigungen und seine Verdienste um die Wolle aufgebrachte Wortspiel, er sei der deutsche „Wollthaer“ hat deshalb wohl eine gewisse Berechtigung. Der Einfluss der philosophischen Studien auf Thaers Wirksamkeit ist aber wiederum ein Beweis dafür, dass die fruchtbringende Thätigkeit auf einem bestimmten Wissensgebiete eine allgemeine wissenschaftliche Grundlage zur Voraussetzung hat, dass die Welt der Gedanken auch auf eine Disziplin, die, wie die Landwirthschaft mit dem praktischen Leben in so unmittelbaren Beziehungen steht, einen massgebenden Einfluss ausübt, und dass daher auch die Gesammtheit aller Wissenszweige, wie die universitas litterarum sie umfasst, immer der eigentliche Boden bleiben wird, auf dem die wahre Wissenschaft gedeiht, die ihrerseits wieder alle Gebiete des Lebens, die geistigen nicht minder wie die materiellen, auch die Technik, befruchtet. Die Universitäten werden trotz allem, wie bisher, so auch fürderhin führend auf diesen Bahnen vorgehen; ohne die auf den Universitäten gepflegte Wissenschaft würde das geistige Leben des Volkes veröden, es würden damit die Grundlagen seiner Gesittung und seiner Kraft verloren gehen. Thaers Bedeutung für die Landwirthschaft, diesen wichtigen Produktionsfaktor im Leben eines Volkes, wird trefflich gekennzeichnet durch die Worte Justus von Liebigs, der in seiner 1861 in der Akademie der Wissenschaften zu München gehaltenen Rede sagte: „Thaer war ein Mann von tiefer wissenschaftlicher Bildung, und alle seine grossen Leistungen beruhen darauf, dass er zuerst versuchte, wissenschaftliche Grundsätze auf die landwirthschaftliche Praxis anzuwenden.“ In welchem Ansehen Thaer stand, geht auch daraus hervor, dass zu seinem im Jahre 1824 gefeierten 50jährigen Doktorjubiläum kein Geringerer als Goethe ihm ein Festgedicht widmete und übersandte. Der universale und durchdringende Geist des Dichterheros hatte auch Verständniss für das Wirken des Reformators der deutschen Landwirthschaft. Drei Denkmäler sind dem grossen Landwirthe von den dankbaren Epigonen errichtet, das eine in Berlin, das zweite in seiner Vaterstadt Celle, das dritte erhebt sich in Leipzig ganz in der Nachbarschaft der Universität. Die Zeit nach Thaers Tode bis etwa in die Mitte des Jahrhunderts ist dadurch gekennzeichnet, dass, namentlich in Folge der durch den genannten Meister gegebenen Anregung, sich die wissenschaftlichen Untersuchungen, die ihrerseits wieder die Praxis befruchteten, vorwiegend auf die wirthschaftliche Seite des Landbaues, auf die Betriebslehre erstreckten. So waren es besonders 3 Schüler Thaers, die dieses Gebiet bearbeiteten, zunächst Koppe und Block, die eine grosse Zahl vortrefflicher Berechnungen über die Höhe des Reinertrages bei der Fruchtwechsel-Wirthschaft ausführten und dadurch der Ausbreitung dieses Systems die Wege ebneten, dann aber in hervorragendstem Grade Johann Heinrich von Thünen, ein mitten im praktischen Leben stehender Landwirth. In dem von ihm im Jahre 1826 herausgegebenen 727

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Buche „Der isolirte Staat in Beziehung auf Landwirthschaft und National-Oekonomie“ ist in eigenartiger, aber scharfsinnigster und mustergültiger Weise der Einfluss der Absatz- und Verkehrs-Verhältnisse auf die Organisation des landwirthschaftlichen Betriebes, auf die Höhe der Rente dargelegt und trotz der mächtigen Veränderungen, die seitdem gerade auf dem Verkehrs-Gebiete eingetreten sind, hat das Werk heute kaum an Werth eingebüsst. In technischer Hinsicht verdient aus dieser Periode namentlich die Erzeugung der feinen Wolle erwähnt zu werden. Die um die Mitte des 18. Jahrhunderts stattgehabte Einführung spanischer Schafe, der Merinos, nach Preussen und Sachsen, der bedeutende Bedarf an feiner Wolle, weil man noch nicht verstand, die gröbere Wolle entsprechend zu verarbeiten, die wissenschaftliche Behandlung dieses Zweiges des Betriebes seitens Thaers, sowie die praktischen Erfolge, die auf diesem Gebiete erzielt wurden, bewirkten, dass die Haltung der Merinoschafe vielfach den Mittelpunkt der landwirthschaftlichen Unternehmung bildete und dass Deutschland auf diesem Gebiete allen anderen Völkern voraus war. Aber trotz dieser unverkennbaren Fortschritte vermochte doch die Landwirthschaft einen wesentlichen Aufschwung nicht zu nehmen, weil die naturwissenschaftlichen Kenntnisse, namentlich in Betreff der für die Agrikultur in Betracht kommenden Verhältnisse, ungenügend waren, es mangelte an klarer Erkenntniss der im Leben der Pflanze und des Thieres sich abspielenden Vorgänge, wie man z. B. in Beziehung auf jene allgemein der Humustheorie huldigte, d. h. der Ansicht, dass den Hauptnahrungsstoff der Pflanze die aus den abgestorbenen Pflanzenleibern entstehende schwarze Substanz, der Humus, bilde. Vereinzelt, aber nicht klar, war zwar schon von verschiedenen Forschern, so von de Saussure, Sprengel, Wiegmann und Polstorff die Ansicht ausgesprochen, dass nicht nur die organischen, sondern auch die mineralischen Bestandtheile des Bodens, wie das Kali, die Phosphorsäure, der Kalk, Nährstoffe der Pflanzen, also für deren Entwickelung nothwendig seien. Derjenige aber, der zuerst mit voller Schärfe die Funktion darlegte, die diesen mineralischen Stoffen im Leben der Pflanze zukommt, war der Chemiker Justus Liebig. In seinem, im Jahre 1840 erschienenen Werke „Die Chemie in ihrer Anwendung auf Agrikultur und Physiologie“ setzte er in überzeugender und von Enthusiasmus durchdrungener Weise auseinander, dass einerseits die unverbrennlichen Stoffe der Pflanze für ihr Leben und ihr Wachsthum ebenso nothwendig seien, wie die verbrennlichen Elemente, so der Stickstoff und der Wasserstoff, und dass andererseits die Fruchtbarkeit des Ackers im Wesentlichen von seinem Gehalte an diesen mineralischen, schwer beweglichen, weil nur im Boden und nicht in der Luft enthaltenen Pflanzen-Nährstoffen abhängig sei. Es müsse deshalb, so sagte Liebig weiter, wenn die Fruchtbarkeit des Bodens erhalten bleiben solle, für den Ersatz der in den Ernten dem Lande entzogenen, unverbrennlichen Stoffe Sorge getragen, es müsse der „Raubbau“, wie Liebig das Fehlen des Ersatzes nannte, beseitigt werden. Wenn dieser grosse Chemiker auch darin zu weit gegangen ist, dass er behauptete, „die Beraubung der Länder an den Bedingungen ihrer Fruchtbarkeit bedingt ihren Untergang, die Erhaltung dieser Bedingungen ihre Fortdauer, ihren Reichthum, ihre Macht“, zu weit deshalb, weil der Verfall der alten Kulturvölker noch andere, tiefere 728

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Ursachen hat, so liegt doch in der Liebigschen Anschauung ein sehr wahrer Kern; wenn ferner seine Lehre nicht frei war von Irrungen, wie das bei dem ihm eigenen Enthusiasmus begreiflich ist, und wenn auch die Anweisungen, die er auf Grund seiner Lehre der Landwirthschaft für ihren Betrieb gab, mehrfach weder durchführbar waren, noch dem Wesen dieses Gewerbes entsprachen, so ist durch ihn doch eine neue Epoche auch in der Landwirthschaft inaugurirt. Die Schaffung der sicheren Grundlage für diejenigen Massnahmen, die zum Zwecke der Erhöhung der Fruchtbarkeit des Bodens und damit seiner Fähigkeit, eine gleiche Zahl von Menschen reichlicher oder eine grössere Zahl zu ernähren, mit Rücksicht auf die Zufuhr der für das Wachsthum der Pflanzen nöthigen Stoffe zu ergreifen sind, wie ferner das Gleichgewicht zwischen Erschöpfung und Ersatz herzustellen, diese Erkenntniss ist wesentlich Liebig zu verdanken. Er hat gezeigt, wie die anorganischen Stoffe in den Kreislauf der organischen Substanz hineinzuziehen, wie sie zur Erzeugung organischer Körper zu benutzen sind, er hat in der That den Weg gewiesen, auf dem es möglich ist, aus Steinen Brod zu machen. Wenn man sagt, derjenige habe viel für das Wohl der Welt gethan, der vermöchte, zwei Getreidekörner dort wachsen zu lassen, wo sich bisher ein solches entwickelte, so muss Liebig zu diesen Wohlthätern der Menschheit umsomehr gerechnet werden, als seine Lehre nicht nur für sein engeres und weiteres Vaterland, sondern für die ganze Erde, überall dort Geltung hat, wo Nahrungsstoffe für den Menschen erzeugt werden. Die Wirksamkeit auch dieses Forschers ist aber nicht nur unmittelbar fruchtbringend gewesen, sondern sie hat unendliche Anregung zu ausgedehnten Untersuchungen, sowohl bei seinen Lebzeiten, als auch nach seinem Tode gegeben, und noch heute sind verschiedene Fragen in der Landwirthschafts-Wissenschaft umstritten, die dem Feuergeiste Liebig ihren Ursprung verdanken, die noch jetzt die Gedanken und die Arbeit der Forscher in Thätigkeit setzen. Neben der Chemie, die freilich durch einen so hervorragenden, sich namentlich mit den für die Landwirthschaft wichtigen Theilen seiner Wissenschaft beschäftigenden Vertreter, wie Liebig, eine besondere Bedeutung für den Landbau gewonnen hat, hatten und haben an der Förderung der Landwirthschaft alle Naturwissenschaften ihren Antheil, die Geologie, die Mineralogie und die diesen beiden verwandte Bodenkunde, die Zoologie u. a., vor allem aber die Botanik, deren jüngste Tochter, die Bakteriologie, wovon noch zu sprechen sein wird, einen nicht geahnten Einfluss auf die landwirthschaftliche Produktion ausübt. Die Landwirthschaft war mit dem Auftreten Liebigs in ihr naturwissenschaftliches Zeitalter getreten mit dem Erfolge, dass nun das Mass der Erzeugung, da man ihre Gesetze kennen gelernt hatte, auf eine sehr bedeutende Höhe gebracht wurde, dass nun die Lehren Thaers erst rechten Erfolg hatten. Mit der für den Betrieb der Landwirthschaft so wichtigen Vertiefung der naturwissenschaftlichen Kenntnisse ging auch ein sehr grosser Aufschwung der landwirthschaftlich technischen Gewerbe Hand in Hand; namentlich die Herstellung von Spiritus aus der Kartoffel und die Gewinnung des Zuckers aus der Rübe, der erweiterte Anbau dieser beiden Früchte, der Kartoffel für den weniger fruchtbaren, den Sand-, der Zuckerrübe für den reicheren Boden, haben sich sehr stark ausgedehnt. Die grossen Ansprüche, die diese Gewächse an den Stand der 729

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Bodenkultur und an die Pflege stellen, haben nicht unwesentlich zur Hebung dieser Kultur beigetragen und dadurch mittelbar auch den rationellen Anbau aller übrigen Früchte bis auf die Gegenwart wesentlich gefördert. Von tiefgreifendem Einflusse auf den Stand der Landwirthschaft in der zweiten Hälfte des gegenwärtigen Jahrhunderts ist ferner die weitgehende und heute noch nicht zum Abschlusse gekommene Ausgestaltung des landwirthschaftlichen Unterrichts-, nicht minder aber auch des landwirthschaftlichen Versuchs-Wesens geworden. Unter Festhaltung des Thaer’schen Gedankens, dass der Leiter eines grösseren Landwirthschaftsbetriebes des Hochschul-Unterrichtes bedürfe, wenn er seinen Aufgaben vollkommen gerecht werden wolle, hatte man verschiedene Lehrstätten gegründet, wesentlich selbstständige Akademien, die zum Theile mit einem vollständigen Wirthschafts-Betriebe verknüpft waren. Unter diesen trat besonders die Grossherzoglich Sächsische Lehranstalt für Landwirthe in Jena hervor, deren genialer Gründer und Leiter, der Kameralist Johann Gottlob Schulze, 1795 zu Gaevernitz bei Meissen geboren, darauf hinwies, wie wichtig es sei, dass die Landwirthe ihre allgemeine Bildung, ihre allgemeinen Kenntnisse erweiterten und deshalb auch Vorlesungen an der Universität hören müssten. Diese Auffassung, nicht minder aber die Persönlichkeit Schulzes sind vor allem die Umstände gewesen, denen die Jenenser Anstalt die hohe Blüthe verdankt, deren sie sich bis zu dem 1860 erfolgten Tode ihres Gründers und darüber hinaus zu erfreuen hatte. Immer mehr und dringender wurde jedoch aus den schon von Schulze vertretenen Gesichtspunkten die Forderung erhoben, dass die wissenschaftliche Ausbildung der Landwirthe an die Universitäten zu verlegen sei. Die zu Beginn der 60er Jahre seitens des landwirthschaftlichen Zentral-Vereins für die Provinz Sachsen in Halle gemachten Anstrengungen, um die Gründung einer Professur für das fragliche Fach an der dortigen Universität zu erreichen, wurden dadurch wesentlich unterstützt, dass wiederum Justus von Liebig in seiner im Jahre 1862 anlässlich der Jahresfeier der Akademie der Wissenschaften zu München gehaltenen Rede die Frage nach der geeignetsten wissenschaftlichen Bildungsstätte für die Landwirthschaft zu Gunsten der Universitäten beantwortete; Liebig verlangte, dass das Studium der Landwirthschaft der Universität einverleibt werde. Die Errichtung einer solchen Professur an der Universität Halle war die Frucht der erwähnten Bestrebungen. Hatte es freilich schon im vorigen und zu Beginn des gegenwärtigen Jahrhunderts an einzelnen Universitäten, und zwar wiederum in Halle, ferner in Frankfurt a. O. und in Leipzig Lehrstühle für Landwirthschaft gegeben, so waren diese doch mehr kameralistische, als eigentlich landwirthschaftliche gewesen; sie hatten sich vorwiegend mit den äusseren, juristischen Verhältnissen des Grundbesitzes beschäftigt. Der Hallenser Lehrstätte ist es nun vorbehalten gewesen, ganz neue Bahnen hinsichtlich der Organisation des Studiums einzuschlagen und dadurch zu bewirken, dass dem Landwirthe heute Gelegenheit gegeben ist, sich an der höchsten Bildungsstätte, an der Universität, diejenigen Kenntnisse zu eigen zu machen, die die Grundlage für eine erspriessliche allgemeine und fachliche Wirksamkeit bilden. Der Mann, der den Hallenser Lehrstuhl seit dessen Gründung, seit 1862 einnimmt, der die neuen Wege gewiesen, der sie mit seltener Sachkenntniss und Umsicht, deshalb aber auch 730

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mit glänzendem Erfolge betreten, der damit der landwirthschaftlichen Lehre und Forschung eine neue Richtung gegeben hat, ist Julius Kühn. Die Verbindung des Lehrstuhles mit einem gleich den übrigen Einrichtungen der Universität organisch eingefügten Institute, das einerseits dem Dozenten die Mittel gewährt, durch eigene Untersuchungen und Beobachtungen sowohl seine Wissenschaft zu fördern, als auch mit allen Zweigen seines Faches vertraut zu bleiben, andrerseits dem Studirenden das nöthige Anschauungs- und Arbeits-Material liefert, ist das Werk des genannten, auch als Forscher in höchstem Ansehen stehenden Mannes. Nach dem Muster von Halle sind an einer Reihe andrer Universitäten, so auch in Leipzig i. J. 1869, Lehrstühle und Institute für Landwirthschaft errichtet. Freilich ist die Auffassung heute noch keineswegs ganz allgemein, dass die Universität der für das Studium des fraglichen Faches geeignetste Platz sei; es giebt auch gegenwärtig selbständige landwirthschaftliche Akademien und Hochschulen und in einem Falle hat man die Landwirthschaftslehre der Technischen Hochschule angegliedert. Aber das dürfte keinem Zweifel unterliegen, dass für den Landwirth, von dem heute nicht nur fachliche Kenntnisse verlangt werden, sondern der den Pflichten, die sein Beruf ihm auferlegt, um so vollkommener gerecht wird, je höher seine allgemeine Bildung, je mehr er mit dem Rüstzeuge der Wissenschaft im Allgemeinen versehen ist und je besser er dieses Rüstzeug zu gebrauchen versteht, die Universität der gegebene Ort der wissenschaftlichen Ausbildung ist. Aufrichtiger Dank gebührt daher auch allen denjenigen Universitäten, die der landwirthschaftlichen Lehre und Forschung eine Stätte bereitet haben, und vielleicht wird dieser Dank zu einem freilich nur kleinen Theile dadurch abgetragen, dass diese Universitäten durch die Aufnahme der Landwirthschafts-Wissenschaft mit dem grünen Baume des Lebens in die allerengste Beziehung treten, dass dies dazu beiträgt, den zu Unrecht erhobenen Vorwurf zu entkräften, die Universität trage den Forderungen der Gegenwart nicht genügend Rechnung. Aber nicht nur durch die Hochschulen wird dem sich in den Kreisen der Landwirthe immer mächtiger geltend machenden Bedürfnisse nach Vermehrung der Kenntnisse, nach Erhöhung der Bildung Rechnung getragen, sondern mutatis mutandis auch durch die schon in grosser Zahl vorhandenen und gerade gegenwärtig immer noch vermehrte Zahl von Schulen mittleren und niederen Grades. Diesen Lehr-Anstalten ist es zu verdanken, dass das Verständniss für die naturkundlichen und wirthschaftlichen Vorgänge des Betriebes auch bei den kleineren und kleinsten Landwirthen erheblich zugenommen, dass, dies gilt natürlich mit entsprechender Einschränkung, die Wissenschaft ihren Einzug auch in den Bauernhof gehalten hat. In naturwissenschaftlicher Hinsicht, auf dem Gebiete der Ernährung der Nutzpflanzen und -Thiere, haben sehr viel zur Vermehrung der Kenntnisse ferner beigetragen die meistens von Chemikern geleiteten agrikultur-chemischen Versuchs-Stationen, deren erste auf Veranlassung eines sächsischen Landwirthes, des Dr. Crusius in Sahlis, im Jahre 1877 zu Möckern bei Leipzig errichtet wurde, deren es jetzt allein im Deutschen Reiche 64 giebt die vorbildlich für die gleichen Anstalten der ganzen Erde geworden sind. Durch ausgedehnte Versuche sind von ihnen die bei der Lebensthätigkeit der Pflanzen und Thiere gerade für die Landwirthschaft wichtigen Vor731

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gänge erforscht und dadurch sehr werthvolle Grundlagen für die im Betriebe der Landwirthschaft zu ergreifenden Massnahmen geliefert. Den sichersten Beweis für die erhöhte Bildung und für das vertiefte Wissen der Angehörigen des landwirthschaftlichen Berufes liefert aber das Anwachsen der Fach-Litteratur, die Ausbreitung der landwirthschaftlichen Zeitschriften und die immer grösser werdende Nachfrage nach Büchern, die dieses Gebiet behandeln. Eine Vorstellung von den einschlagenden Verhältnissen gewinnt man angesichts der Thatsache, dass eine einzige Verlagsbuchhandlung freilich in ihrem Fache die grösste, nicht nur im deutschen Reiche, sondern der Welt, diejenige von Paul Parey in Berlin, im Zeitraume von 30 Jahren, seitdem der jetzige Inhaber an ihre Spitze getreten ist, neben 5 Kalendern und 15 Zeitschriften mehr als 1500 einzelne Werke, theils von grossem Umfange, die meisten in mehreren, manche in vielen Auflagen, erschienen sind, dass von der etwa 100 kleine, wesentlich für den Praktiker geschriebene Handbücher umfassenden sogenannten Thaer-Bibliothek reichlich 1/2 Million sich in den Händen der Landwirthe befinden. Die Verdienste der genannten Verlagsfirma um die landwirthschaftliche Litteratur sind auch öffentlich dadurch anerkannt, dass ihr vorher genannter Inhaber seitens der philosophischen Fakultät der Universität Halle im Jahre 1894 zum Dr. h. c. ernannt wurde. Gleichzeitig und Hand in Hand mit den geschilderten Umständen, namentlich den Fortschritten der Wissenschaft und der Vermehrung der Kenntnisse, haben aber auch die Veränderungen auf allgemein wirthschaftlichem Gebiete den landwirthschaftlichen Betrieb tiefgreifend beeinflusst. Neben der jetzt in der Hauptsache durchgeführten Befreiung des Grund und Bodens von den seine ausgiebige landwirthschaftliche Nutzung beengenden Fesseln, womit das von Thaer schon vor 100 Jahren angestrebte Ziel erreicht ist, hat sich namentlich die riesige Entwickelung der Verkehrs-Verhältnisse geltend gemacht, die, im Vereine mit der erheblichen und gegenwärtig noch nicht zum Abschlusse gekommenen Zunahme der Bevölkerung, eine vollständige Umwälzung auf dem Gebiete des Absatzes und dadurch vielfach des Umfanges und der Art der Produktion hervorgerufen, die ganz neue, mannichfaltige und zum Theile sehr verwickelte Verhältnisse geschaffen und häufig die vollständige Aenderung der Wirthschaftsweise bewirkt haben, durch die aber auch die Anforderungen an das Wissen und das Können des Landwirthes, insbesondere des Betriebsleiters, ganz ausserordentlich gewachsen sind. Es kann daher nicht Wunder nehmen, wenn die Landwirthschaft gegenwärtig ein Gepräge zeigt, das von demjenigen in der ersten Hälfte des Jahrhunderts in sehr erheblichem Grade abweicht, wenn eine weitgehende Vervollkommnung des Betriebes im Ganzen wie seiner einzelnen Theile stattgefunden hat. Zunächst tritt dies dadurch in Erscheinung, dass die Artenzahl der Kulturpflanzen viel grösser geworden ist. Während man zu Zeiten, in denen die Dreifelder-Wirthschaft das herrschende System war, also im Wesentlichen noch zu Beginn des jetzigen Jahrhunderts auf dem Acker in der Hauptsache Halmgetreide erblickte, bieten die Fluren heute ein viel wechselvolleres Bild dar: neben dem Getreide, das freilich im Deutschen Reiche immer noch 60 % also mehr als die Hälfte der Ackerfläche einnimmt, eine Thatsache, aus der die Wichtigkeit dieser Fruchtgattung auch für 732

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die gegenwärtige Landwirthschaft klar hervorgeht, kommen noch sehr verschiedene andere Pflanzen zum Anbau, so die freilich unmittelbar der thierischen Ernährung dienenden Futterpflanzen, namentlich die verschiedenen Kleearten, die mittelbar jedoch menschliche Nahrungs- und Gebrauchs-Stoffe, vor allem Milch und Fleisch, erzeugen, ferner Wurzelgewächse, so namentlich Kartoffeln und Rüben, dann verschiedene Arten der Hülsenfrüchte, Erbsen und Bohnen, und weiter Handelspflanzen, wie der Raps, der Flachs und, nicht zu vergessen, die Cichorie. Eine erst neuerdings eingeführte Art der Nutzung des Ackers besteht in der Grosskultur von Gemüsen, deren Anbau bisher nur in Gärten erfolgte; man sieht heute in einzelnen Gegenden weite Flächen, auf denen früher das Getreide wogte, z. B. mit Spargeln bestellt. Dieser Feldgemüsebau, dessen Einführung freilich nur in verhältnissmässig beschränktem Umfange möglich ist, der aber mit der steigenden Bevölkerungs-Zahl an Bedeutung und Ausdehnung gewinnt, hat die günstige Wirkung, dass einerseits die fraglichen Früchte, da sie jetzt in viel grösseren Mengen erzeugt werden, als bisher, auch vielmehr ein allgemeiner Verzehrs-Gegenstand geworden sind, andrerseits aber der Reinertrag aus dem so benutzten Lande eine Steigerung erfährt. Aber nicht nur in der eben geschilderten Richtung hat sich der landwirthschaftliche Pflanzenbau vervollkommnet, nicht nur die Artenzahl der Kulturgewächse hat zugenommen, sondern in noch höherem Grade die Zahl der einer Art angehörenden Varietäten. Die schaffende Natur liebt es, wie Darwin so meisterhaft dargelegt hat, sich zu verändern; von dieser Neigung gewinnt man schon eine Vorstellung bei näherer Betrachtung eines Getreide- z. B. eines Weizenfeldes. Wenn die einzelnen Pflanzen auch im Allgemeinen den gleichen Typus zeigen, so erkennt doch der Geübtere vielfach Unterschiede in Beziehung auf die Form und die Grösse der Aehren, auf die Art der Begramung, auf die Zahl der darin enthaltenen Körner, auf die Stärke und Länge der Halme, auf die raschere oder langsamere Entwicklung, ganz abgesehen von den erst bei näherer Untersuchung sich zeigenden inneren Verschiedenheiten der Körner, die besonders durch ihre ungleiche Geeignetheit zur Herstellung von Backwaaren zum Ausdrucke kommt. Durch Auswahl der einen neuen Typus zeigenden Pflanzen-Individuen, zuweilen auch unter Benutzung künstlicher Mittel, durch Verwendung der Samen der fraglichen Individuen zur Saat gelingt es oft, aber keineswegs immer, diesen neuen Typus festzuhalten, ihn zu konsolidiren und so eine neue Varietät oder Spielart der betreffenden Pflanzenart heranzubilden, die sich, natürlich innerhalb des Artcharakters, durch besondere Eigenschaften von ihren Geschwistern unterscheidet. Das für die Landwirthschaft Wesentliche dieser neuen Typen, besteht in der Verschiedenheit ihrer Ansprüche an diejenigen Faktoren, von denen das Mass der Entwickelung der Pflanzen, also ihre Nutzbarkeit abhängig ist, vor allem an das Klima und den Boden, dann an den Zustand der Kultur, und damit in der Möglichkeit, diesen innerhalb kleiner Gebiete oft sehr wechselnden Verhältnissen durch die Kultur gerade der geeigneten Varietät vollkommen Rechnung tragen, also auch unter an sich wenig günstigen Umständen noch befriedigende Erträge gewinnen zu können. Die Zahl solcher neuen Spielarten, deren es heute fast bei jeder Kulturpflanze giebt, ist sehr gross, am grössten wohl 733

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bei der Kartoffel, die deren mehrere Hundert, je mit besonderem Namen, aufzuweisen hat, und noch immer treten neue Sorten hinzu. Die Steigerung der Erträge an Pflanzenmasse ist ferner wesentlich gefördert durch die Möglichkeit, diejenigen Stoffe dem Boden in gleichsam unbeschränkter Menge zuzuführen, die den Körper der Pflanze aufbauen, der Pflanzen-Nährstoffe. Die Landwirthschaft hat sich für diesen Zweck die verschiedenartigsten Materien nutzbar gemacht, so den in öden, nicht bewohnten Gegenden Chiles vorkommenden, wahrscheinlich aus einer früheren Vegetation unter Mitwirkung des Meerwassers entstandenen Salpeter, dessen Werth in seinem hohen Gehalte an dem das Wachsthum der Pflanzen so mächtig fördernden Stickstoffe besteht; ferner das u. a. in den Gasfabriken gewonnene schwefelsaure Ammoniak, dessen Wirkung ebenfalls in seinem Gehalte an Stickstoff beruht; weiter die bei der Stahlbereitung erzeugte, nach dem Erfinder des Verfahrens benannte Thomasschlacke, die der Landwirthschaft seit fast 2 Jahrzehnten eine Quelle der Phosphorsäure bietet, wie sie bis dahin nicht vorhanden war. Die ausgedehnte Verwendung des schwefelsauren Ammoniaks und der Thomasschlacke, zweier Nebenprodukte der Industrie, seitens der Landwirthschaft bietet ein Bild des Zusammenwirkens dieser beiden grossen Erwerbsfaktoren, das als erfreulich bezeichnet werden muss. Endlich darf bei Aufzählung der Stoffe, durch deren Zufuhr die Fruchtbarkeit der Aecker erhöht wird, eines Schatzes nicht vergessen werden, dessen sich unter allen Ländern der Erde Deutschland allein zu erfreuen hat. Das sind die namentlich im nördlichen Vorlande des Harzes im Schosse der Erde lagernden Kalisalze. Wenn man heute im Stande ist, auch solche Flächen erfolgreich in landwirthschaftliche Kultur zu nehmen, die, wie manche Arten des Sandbodens und das Moorland, früher meistens vollständig ungenutzt blieben oder jedenfalls nur ihren Bebauer äusserst dürftig ernährten, so ist das wesentlich der Verwendung der genannten Kalisalze, wie überhaupt der Zufuhr der mineralischen Pflanzen-Nährstoffe, also auch der Phosphorsäure, zu verdanken. Weite Strecken unseres Vaterlandes, die bis dahin wüst lagen, sind dadurch der Kultur gewonnen, in viel grösserem Umfange als bisher wird nun, um mit Liebig zu sprechen, aus Steinen Brot gemacht. Welche Bedeutung die Kalisalze für die Erhaltung und die Steigerung der Ertragsfähigkeit des Bodens haben, ergiebt sich aus der Thatsache, dass selbst junge Kulturländer, wie die Vereinigten Staaten, diese Salze auf ihren Aeckern verwenden, dass der Umfang ihrer Ausfuhr beständig zunimmt und dass in Folge dessen die Frage Berechtigung hat, ob das Deutsche Reich den in den Kalilagern ruhenden, einzig in der Welt dastehenden Schatz auch fremden Ländern ohne Weiteres überlassen soll. Eine Schilderung der Fortschritte, die auf dem Gebiete des landwirthschaftlichen Pflanzenbaues zu verzeichnen sind, würde unvollkommen sein, wenn der Verdienste einer Wissenschaft nicht gedacht würde, die zwar jung ist, die aber für das gesammte Leben der Erde die tiefgreifendste Bedeutung hat, die Lehre der kleinsten Lebewesen, die Bakteriologie. Wenn immer mehr erkannt wird, dass viele Vorgänge auf landwirthschaftlichem Gebiete auf die Thätigkeit von Mikro-Organismen zurückzuführen sind, wenn man weiss, dass es darauf ankommt, diese Thätigkeit so zu leiten, dass die fraglichen Organismen keinen Schaden, dagegen Nutzen bringen, 734

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so gilt das in besonderem Masse von denjenigen im Boden lebenden Bakterien, mit deren Hülfe die Papilionaceen die Fähigkeit erhalten, den ungebundenen Stickstoff der Luft sich nutzbar zu machen, in organische Substanz umzuwandeln. Die Erkennung dieser Fähigkeit an sich ist das grosse Verdienst des Landwirthes Dr. ph. h. c. Schultz, der in seiner in der Altmark gelegenen Wirthschaft Lupitz die Beobachtung gemacht hatte, dass die der Familie der Papilionaceen angehörenden Kulturpflanzen, z. B. die Lupine, sich auch ohne künstliche Zufuhr von Stickstoff vorzüglich entwickeln, wenn nur sonst die Bedingungen des Gedeihens entsprechend vorhanden sind. Die Erforschung der Ursachen dieser Erscheinung, die sich als eine Symbiose zwischen bestimmten Bakterien und den Wurzeln der Papilionaceen darstellt, ist namentlich Hellriegel, Prazmowski, Frank, Nobbe u. A. zu verdanken. Man vermag nun mit Hülfe des Anbaues von Schmetterlings-Blüthern unter bestimmten Verhältnissen dem Boden Stickstoff zuzuführen, der aus dem fast unendliche Mengen davon enthaltenden Reservoir der Atmosphäre stammt. Es ist dadurch auch in grösserem Umfange erreichbar, den anorganischen Stickstoff dem organischen Leben einzufügen, für die Erzeugung organischer Substanz heranzuziehen, und man hat dadurch ein Mittel, die Erträge, namentlich des Sandbodens, nicht unerheblich zu steigern. Endlich trägt noch eine Massnahme nicht unwesentlich zur Erhöhung der Fruchtbarkeit des Ackers bei, die beständig an Ausdehnung gewinnt und die mehr und mehr mit Hülfe der Dampf- oder der elektrischen Kraft ausgeführt wird, die Tiefkultur. Je mehr die Bevölkerungszahl zunimmt, je grösser der Bedarf an Bodenfläche wird, und nicht nur für landwirthschaftliche Zwecke, um so höher steigen die Bodenpreise, um so mehr ist die Landwirthschaft gezwungen, die Vermehrung des für den Anbau der Gewächse zur Verfügung stehenden Bodenraumes nicht durch Ausbreitung, also nicht durch Ausdehnung der Fläche, sondern, dadurch zu bewirken, dass diejenige Schicht, in der sich die Wurzeln der Pflanzen befinden, der sie ihre Nahrung entnehmen, vertieft wird. Der tief bearbeitete, tief gepflügte Acker bietet aber den Pflanzen nicht nur eine grössere Bodenmenge, eine grössere Menge von Nährstoffen dar, sondern die Wachsthums-Verhältnisse werden noch nach verschiedenen anderen Richtungen hin günstiger gestaltet, das Mass der erzeugten Pflanzenmasse wesentlich erhöht. In ganz ähnlicher Weise haben sich die Verhältnisse in Beziehung auf das zweite Hauptgebiet der Landwirthschaft, der Haltung der Nutzthiere, entwickelt. Ohne das Einzelne hier schildern zu können, soll nur hervorgehoben sein, dass die nutzbaren Eigenschaften dieser Thiere, derentwegen sie von unseren Vorfahren aus der Freiheit in den Hausstand übergeführt, zu Hausthieren gemacht wurden, ebenfalls eine erhebliche Steigerung erfahren haben; die den Thieren gereichte Nahrung, das ist der springende Punkt, wird vollkommener in nutzbare Erzeugnisse, in Milch, in Fleisch, in Wolle, in Arbeitskraft umgewandelt, als früher. Auch auf diesem Gebiete beschränkt sich der Bedarf der Landwirthschaft nicht mehr auf das im eigenen Betriebe Hervorgebrachte, sondern viele Nebenprodukte der verschiedenartigsten Industrien, namentlich der Gewinnung von Öl aus bestimmten Samen, die zum grossen Theile aus dem Auslande, besonders den Tropen, stammen, finden bei der 735

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Ernährung der Nutzthiere ausgedehnte Verwendung und dienen dadurch indirekt wieder der Nahrungs-Erzeugung für den Menschen. Wenn man die Entwicklung betrachtet, die die Landwirthschaft in technischer Hinsicht im Laufe des Jahrhunderts in steigendem Masse zu verzeichnen hat, so würde die Ansicht natürlich sein, dass die Lage dieses Gewerbes auch dementsprechend mindestens befriedigend sein müsste. Das trifft nun aber keineswegs zu, denn im Allgemeinen kann von wirthschaftlichen Erfolgen der Landwirthschaft heute nicht gesprochen werden. Die Gründe für diese Thatsache sind sehr mannichfacher Art, und es würde unmöglich sein, diese Gründe in kurzen Zügen auch nur annähernd zu erschöpfen. Aber auf zwei der Ursachen für die gekennzeichnete Sachlage soll hier doch hingewiesen werden, weil diese einen besonders grossen Einfluss ausgeübt haben und noch immer in der gleichen Weise wirken: das ist zunächst die ungeheure Entwicklung und Vervollkommnung der Verkehrs-Verhältnisse, wie sie seit einer Reihe von Jahrzehnten in stets zunehmendem Grade stattgefunden hat, und zum Andern die neuerdings immer stärkere Abwanderung der ländlichen Arbeiter in die Städte und der dadurch hervorgerufene Mangel an landwirthschaftlichen Arbeitskräften. Die Veränderung der Verkehrsverhältnisse, die der Menschheit im Allgemeinen zum grossen Segen gereicht, und für die Niemand eine rückläufige Bewegung wünschen kann, haben, das lässt sich nicht leugnen, der heimischen Landwirthschaft zunächst mehr Nachtheil als Vortheil gebracht, weil sich in verhältnissmässig kurzer Zeit eine vollständige Umwälzung der Marktverhältnisse, von Angebot und Nachfrage vollzogen hat, wodurch die Preise für manche landwirthschaftliche Erzeugnisse, namentlich das Getreide wesentlich verändert sind. Der Bau der Eisenbahnen und die Errichtung von Dampferlinien haben bewirkt, dass die Entfernung zwischen zwei Orten, zwischen der Erzeugungs- und der Verbrauchs-Stelle, wenn auch natürlich nicht thatsächlich, so doch in ihrem Einflusse auf den Preis der Erzeugnisse, vermindert worden ist, dass nun an der Versorgung des Marktes auch solche Gegenden sich betheiligen können, denen früher in Folge mangelnden Absatzes die Möglichkeit einer gewinnbringenden Produktion verschlossen war. So werden gegenwärtig u. a. in den Vereinigten Staaten, in Australien, in Indien, in Argentinien weite Strecken mit Weizen bebaut, die früher überhaupt nicht kultivirt wurden, und dieser Weizen findet seinen Absatz zum grossen Theile dort, wo die Bevölkerung dicht ist, also vornehmlich in der Alten Welt. Die europäische Landwirthschaft, wenigstens des grössten Theiles Europas, die bisher nur mit den Erzeugungs- und Verbrauchs-Verhältnissen der Nähe zu rechnen hatte, sah sich deshalb ziemlich unvermittelt der Konkurrenz des Weltmarktes gegenüber, hat nun den Kampf ums Dasein mit allen Erzeugungs-Gebieten der Erde aufzunehmen. Diesen so mächtig veränderten Umständen vermag aber ein Gewerbe mit der Eigenart der Landwirthschaft nur langsam und nur mit erheblichen Opfern sich anzupassen, weil seinem Betriebe ein hoher Grad der Schwerfälligkeit von Natur aus eigen ist. Dies wird ohne Weiteres klar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Entwicklung der Gewächse längere Zeit, oft fast bis zur Dauer eines Jahres in Anspruch nimmt, dass der Kreislauf von Einnahme und Ausgabe bei verschiedenen 736

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Nutzthierarten noch länger währt, dass das Pferd z. B. bis zu seiner Gebrauchsfähigkeit ein Alter von 4 bis 5 Jahren erreichen muss, dass man daher auf die Frage nach dem Erfolge einer wirthschaftlichen Massnahme erst nach längerer Zeit Antwort erhält. Auch diejenige Materie, die als Vorbedingung jeder landwirthschaftlichen Unternehmung zu betrachten ist, der Boden, nimmt als Produktionsmittel eine Sonderstellung ein; er ist dem Willen des Menschen keineswegs so unterworfen, wie die Erzeugungsmittel anderer Gewerbe, wie in der Industrie, z. B. die Webstühle in einer Spinnerei, deren Leistung genau im Voraus bestimmt werden kann, die zu bemessen der Mensch innerhalb gewisser Grenzen in der Hand hat. Wesentlich anders liegen die Verhältnisse bei der Nutzung des Ackers. Nicht nur ist das Wesen derjenigen Eigenschaften, die man zusammenfassend mit „Fruchtbarkeit“ bezeichnet, sehr verwickelt und trotz ausgedehnter Forschungen heute noch nicht nach allen Richtungen aufgeklärt, sondern das Mass der Entwicklung der Kulturgewächse, das vielfach massgebend ist für die Höhe des Reinertrages, hängt von Umständen ab, auf die der Mensch zum Theile einen Einfluss nicht oder kaum auszuüben vermag; das sind vor allem Wärme und Kälte, Regen und Sonnenschein, kurz die Gesammtheit derjenigen Erscheinungen, die man „Wetter“ nennt. Diese Thatsache erklärt auch den religiösen Zug im Charakter des Landwirthes; er wird stets von neuem und nachdrücklichst darauf hingewiesen, dass der Segen des Himmels, im figürlichen und im wirklichen Sinne des Wortes, nicht fehlen darf, wenn seine Thätigkeit von Erfolg gekrönt sein soll. Nur langsam also vermag sich die Landwirthschaft den so plötzlich veränderten äusseren Verhältnissen anzupassen, eine Thatsache, die, wie gezeigt wurde, im Wesen dieses Gewerbes begründet ist, aus der also ein Vorwurf nicht hergeleitet werden kann. Wenn man auf der einen Seite auch zugeben muss, dass nicht immer die Landwirthschaft aus der Sachlage, wie sie sich entwickelt hat, die richtigen Konsequenzen für die Einrichtung des Betriebes zieht, wenn in bestimmten Fällen der konservative Sinn der Bodenbebauer zu weit geht und wenn in anderen Fällen andere Ursachen für die jetzige landwirthschaftliche Situation heranzuziehen sind, so muss man auf der andern Seite anerkennen, dass die Landwirthschaft durchweg redlich und in harter Arbeit bemüht ist, den widrigen Zeitumständen die Spitze zu bieten und noch einen, wenn zwar meistens nur recht bescheidenen wirthschaftlichen Erfolg zu erzielen. Dem andern derjenigen Umstände, die als Ursachen für die gegenwärtige, gedrückte agrarische Lage namhaft gemacht wurden, dem immer fühlbarer hervortretenden Mangel an menschlichen Arbeitskräften, dessen Ursachen sehr mannichfaltiger Art und die zum Theile tief in der menschlichen Natur, in dem Streben nach vor- und aufwärts begründet sind, sucht man durch weitestgehende Anwendung von Maschinen Rechnung zu tragen. Es giebt heute kaum eine Arbeit im landwirthschaftlichen Betriebe, die nicht auch durch Maschinen verrichtet werden kann, und selbst für die Ausführung verwickelter Manipulationen, wie das Binden der Garben, sind tadellos funktionirende Maschinen gebaut. Aber da trotzdem die menschliche Hand nicht ganz entbehrt werden kann und da das auch niemals der Fall sein wird, so ist eine Fortdauer des gegenwärtigen Zustandes in dieser Hinsicht sehr wahrscheinlich. Es kommt hinzu, dass die Beschaffung von Maschinen, also 737

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die Ausnutzung der mit ihrer Anwendung verbundenen Vortheile, für den Kleinbetrieb erheblich schwieriger ist, als für grosse Wirthschaften, weil die Anschaffungskosten der Maschinen zum Theile recht hoch sind und die Ausgaben für Zinsen und Unterhaltung in Folge des wenig umfangreichen Gebrauches meistens nicht gedeckt werden. Als Universalmittel gegen die durch den Leutemangel hervorgerufenen Schäden kann daher der Ersatz der Menschen- durch die Maschinenarbeit, so viel sie auch schon erfolgt, nicht bezeichnet werden. Wenn früher der Betrieb der Landwirthschaft schematisch war, wenn wenigstens in bestimmten, oft weiten Gebieten alle Landgüter in der Hauptsache die gleiche Physiognomie trugen, so ist heute, in Folge der in ihren Hauptpunkten geschilderten Veränderung aller die Organisation beeinflussenden Verhältnisse eine weitgehende Individualisirung an Stelle der Schablone getreten. Gerade in der möglichst vollkommenen Anpassung jedes einzelnen Betriebes an die massgebenden, sehr verschiedenartigen und verwickelten wirthschaftlichen und technischen Verhältnisse besteht gegenwärtig zum grossen Theile die Kunst der Betriebsleitung, und zwar ist dies umso mehr der Fall je höher sich der Verkehr und die gesammte Kultur entwickeln. Der grosse Einfluss, den die immer komplizirter und für die Landwirthschaft immer schwieriger sich gestaltenden allgemeinen wirthschaftlichen Umstände auf den Betrieb ausüben, ist auch der Grund dafür, dass die Kenntniss dieser wirthschaftlichen Seite, der Betriebslehre, ein nothwendiges Erforderniss für den Leiter eines landwirthschaftlichen Betriebes bildet, wenn dieser möglichst zweckentsprechend gestaltet werden soll, dass daher auch derjenige Landwirth seinen Beruf am erfolgreichsten erfüllt, der sich ein klares Bild von den wirthschaftlichen Vorgängen, in erster Linie in seiner näheren Umgebung, dann aber auch auf der gesammten Erde machen kann, dessen landwirthschaftliches Wissen also durch kaufmännische Fähigkeiten ergänzt wird. Unter denjenigen Einrichtungen, denen die Förderung der Landeskultur und die Hebung des gesammten Standes zu verdanken ist, die auf Grund der eigenen Initiative der Landwirthe entstanden sind, verdienen die landwirthschaftlichen Vereine und die gleichartigen Genossenschaften in erster Linie genannt zu werden. Die Vereine, die mit der Gründung der Thüringischen Landwirthschafts-Gesellschaft zu Weissensee im Jahre 1762, der Königlichen Landwirthschafts-Gesellschaft zu Celle und der Oekonomischen Societät zu Leipzig im Jahre 1764 ihren Anfang nahmen, die seit etwa 50 Jahren sich besonders kräftig entwickelt haben und die gegenwärtig das ganze deutsche Reich wie ein dichtes Netz überspannen, sind die Stellen, an denen die Landwirthe die auch für sie in Folge ihrer häufig sehr zerstreut liegenden Wohnsitze erschwerte, aber deshalb doppelt nöthige Anregung erhalten, wo alle diejenigen Fragen erörtert werden, die in technischer und sonstiger Hinsicht für die Agrikultur in Betracht kommen, wo die Gemeinsamkeit der Interessen zu gemeinschaftlichem und deshalb um so kräftigerem Handeln führt. Während manche dieser Vereine nach dem Muster des seit 1872 im Königreiche Sachsen bestehenden Landeskulturrathes neuerdings mit ihrer Zustimmung eine feste, staatlicherseits gewährleistete, mit bestimmten Rechten versehene, namentlich auf die Erhebung von Steuern sich erstreckende Organisation erhalten haben und in die Landwirthschafts738

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Kammern umgewandelt sind, wirken andere Vereinigungen völlig selbständig und nur mit den selbst und freiwillig aufgebrachten Mitteln. Deren grösste und mächtigste, die im Jahre 1885 gegründete, gegenwärtig etwa 13 000 Mitglieder zählende, sich über das ganze Reich erstreckende Deutsche Landwirthschafts-Gesellschaft, die gleich ihrem Vorbilde, der Royal Agricultural Society of England, lediglich die Förderung der Technik auf ihre Fahne geschrieben hat, wirkt namentlich durch die Veranstaltung der alljährlich wiederkehrenden, stets umfangreicher und vielseitiger sich gestaltenden, das gesammte Gebiet der landwirthschaftlichen Technik umfassenden, allgemein deutschen Schau- und Wettbewerbe in hohem Grade segensreich. Neben den Vereinen ist es der erst der neueren Zeit angehörende genossenschaftliche Zusammenschluss der Landwirthe, der einen immer grösseren Einfluss auf die wirthschaftliche Lage des gesammten Standes ausübt. Vergegenwärtigt man sich die Bedeutung, die im Wirthschaftsleben dem so viel geschmähten und doch so wichtigen, bei richtiger Anwendung so viel Segen stiftenden Kapitale im weiteren Sinne zukommt, bedenkt man, dass die Kosten der Erzeugung und Verwerthung der meisten Waren um so geringer sind, sie also auch um so preiswürdiger und besser hergestellt werden können, je mehr ihre Produktion im Grossen erfolgt, dass der Ankauf der Bedarfs-Gegenstände um so vortheilhafter bewirkt werden kann, in je grösseren Mengen derselbe stattfindet, so leuchtet ein, dass die landwirthschaftlichen Bezugs-, Produktiv- und Verkaufs-, also die Thätigkeit z. B. der Molkerei-, der Saatgut-An- und Verkaufs-, der Kornhaus- und ähnlicher Genossenschaften ein sehr wirksames Mittel bildet, um die gegenwärtige Bedrängniss erfolgreich zu überwinden. Dass die Landwirthschaft sich dieses Mittels in stetig wachsendem Umfange bedient, geht aus der Thatsache hervor, dass die Zahl der landwirthschaftlichen Genossenschaften, für die durch das Gesetz vom Jahre 1868 der gesetzliche Boden geschaffen wurde, im Deutschen Reiche gegenwärtig rund 13 000 beträgt und immer noch in erfreulicher Zunahme begriffen ist. Hervorzuheben sind hier die Kredit- und Darlehns-Genossenschaften, denen das Verdienst gebührt, namentlich den mit dem Wesen und den Anforderungen des Geldverkehres weniger vertrauten sogenannten kleinen Landwirth oft den Händen der Wucherer entrissen und dadurch manche arbeitsame, auch in socialer Hinsicht wichtige Existenz vor dem wirthschaftlichen Untergange gerettet zu haben. Neben den unmittelbar hervortretenden materiellen Vortheilen ist aber auch der ethische Werth der Genossenschaften nicht gering anzuschlagen. Die Gemeinsamkeit der Interessen, die durch das Gesetz vorgeschriebene Solidarhaft der Genossen, die Verantwortung, die jedes Mitglied sowohl gegenüber der Gesammtheit, wie jedem andern Mitgliede trägt, wirken in hohem Grade erziehlich und tragen nicht wenig zur Hebung des ganzen Standes auch in moralischer Hinsicht bei. Den neuerdings mehrfach gebildeten Vereinigungen, die den Zweck der Interessen-Vertretung in bestimmter Richtung verfolgen, muss die Berechtigung der Existenz durchaus und insofern zuerkannt werden, als sie aus der Noth der Zeit heraus erwachsen sind, und als ihr Ziel, die Erhaltung des landwirthschaftlichen Standes, nur zu billigen ist. Dieses Ziel wird aber um so eher und um so vollkommener erreicht werden, je mehr sich diese Vereinigungen vor der Aufstellung un739

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erfüllbarer Forderungen hüten und je mehr sie neben ihren berechtigten besonderen Wünschen das Wohl des Ganzen im Auge behalten. Dass es im allgemeinen Interesse des Staates liegt, das landwirthschaftliche Gewerbe lebensfähig zu erhalten, dass dem Staate also die Pflicht erwächst, dafür Sorge zu tragen, dass die Kultur der heimischen Scholle wirthschaftlich möglich bleibt, ist gerade neuerdings so oft und so vielfach betont und auseinandergesetzt, dass es trivial sein würde, darauf hier näher einzugehen. Aber zwei der dabei in Betracht kommenden Punkte sind doch hervorzuheben, weil diesen eine besondere Wichtigkeit beigemessen werden muss, das ist einmal die Quelle der physischen Kraft, die dem Staate aus der landwirthschaftlichen Bevölkerung erwächst, die Quelle, aus der alle anderen Stände schöpfen, durch die sie zunächst ihre körperliche Kraft, damit aber auch in letzter Linie ihre geistige Stärke regeneriren, zum andern die mit dem Besitze und der Bebauung der heimathlichen Scholle in engster Verbindung stehende Liebe zum Vaterlande. Das sind Schätze, die der Staat hüten und pflegen soll und die ihm die Pflicht auferlegen, in ausreichender Weise die Landwirthschaft zu fördern und zu schützen, ihr den Übergang in die vollständig veränderten äusseren Verhältnisse zu erleichtern. Der Hinweis auf Grossbritannien, das seine Landwirthschaft dem Wettbewerbe des Weltmarktes schutzlos preisgegeben hat und wo doch der Ruin dieses Gewerbes nicht eingetreten ist, kann nicht als zutreffend gelten. Denn einerseits sind die dortigen Besitzverhältnisse wesentlich anderer Art, wie bei uns, ist der englische Grundbesitzer dem deutschen an Kapitalkraft weit überlegen, andrerseits weicht das Klima des britischen Inselreiches erheblich von demjenigen des Kontinentes und Deutschlands ab; Änderungen der Betriebs-Organisation in der Art, wie sie der englische Farmer unter dem Drucke der Zeit hat vornehmen müssen, würden sich in Deutschland nicht oder nur in sehr beschränktem Umfange ausführen lassen. Freilich können alle zum Zwecke der Förderung der Landwirthschaft ergriffenen staatlichen Massnahmen nur dann rechten Erfolg haben, wenn auch die Landwirthschaft selbst ihr Bestes thut, um der neuen Zeit Rechnung zu tragen, wenn sie die eigene Kraft auf das Höchste anspannt und wenn sie namentlich das Können mit dem Wissen vereinigt. Wissen ist Macht, das gilt auch für die Landwirthschaft, Macht in Beziehung auf die Ueberwindung der Schwierigkeit der augenblicklichen Lage. Der gegenwärtig harte Kampf um das Dasein wird demjenigen Landwirthe erleichtert, der auch das scharfe Schwert des Wissens im Wehrgehänge trägt und der mit solchem Schwerte dreinzuschlagen versteht. Geschmiedet wird diese Waffe für den oberen Kreis der Landwirthe vorwiegend an der Hochschule, und das ist der Punkt, in dem die Beziehungen zwischen Universität und Landwirthschaft Jedem erkennbar zu Tage treten. ***

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31. October 1900. Rede des abtretenden Rectors Dr. Wilhelm Kirchner. Bericht über das Studienjahr 1899/1900. Hochansehnliche Versammlung! Das mit dem heutigen Tage endigende Universitäts-Jahr ist im Allgemeinen ruhig und gleichmässig verlaufen. Zu einem Feste gestalteten sich wieder diejenigen Tage zu Ende des Januars und zu Anfang des Februars, an denen, wie alljährlich, Sr. Majestät der König, diesmal theilweise zusammen mit Ihrer Majestät der Königin, die Vorlesungen einer in diesem Jahre besonders grossen Reihe von Docenten, ferner die restaurirte Paulinerkirche, dann den kurz zuvor eröffneten Neubau der chirurgischen Klinik und die neue Anstalt für Hydrotherapie besuchte. Mit immer neuem Danke erkennt die Universität diesen Beweis des tiefgehenden Interesses an, das ihr erlauchter Rector magnificentissimus und Se. Königliche Gemahlin für sie hegen; unsere alma mater empfindet mit Stolz diese ihr alljährlich zu Theil werdende besondere Auszeichnung und sie vereinigt ihre innigen Wünsche mit denen Sachsens und aller deutschen Gaue für die Erhaltung der Gesundheit ihres Königlichen Schirmherrn. In aufrichtige Trauer wurde die Universität durch das jähe Ableben Sr. Königlichen Hoheit des Prinzen Albert versetzt. Wie unsere Hochschule an allen Ereignissen, die das Königshaus betreffen, den wärmsten Antheil nimmt, so empfindet sie auch den Schmerz mit, den die Königliche Familie durch diesen herben Verlust erlitten hat. Die Trauer der Universität ist um so grösser, als sie den verblichenen Königlichen Prinzen noch vor nicht langer Zeit zu ihren akademischen Bürgern zählte, als demnach auch ihr ein Antheil an der geistigen Entwickelung dieses so früh dahin gerafften Fürstensohnes zukam und als dessen ernstes wissenschaftliches Streben seine Beziehungen zu den akademischen Lehrern besonders nahe gestaltet hatte. Zum Ausdrucke gebracht ist das Beileid der Universität sowohl durch die Theilnahme des Rectors, sowie des Prodekans und eines Mitgliedes der juristischen Facultät an der am 19. September in Dresden stattgehabten BeisetzungsFeierlichkeit, ferner des Prorectors, als Vertreters des Rectors, an dem am 26. September in der katholischen Kirche in Leipzig celebrirten Requiem, als auch durch Beileids-Schreiben, die an Seine Majestät den König und an Se. Königliche Hoheit den Prinzen Georg seitens des Rectors gerichtet wurden. Der Todtenfeier, die am 4. August für den in so tragischer Weise aus dem Leben geschiedenen König Humbert von Italien veranstaltet wurde, wohnte, ebenfalls in Vertretung des Rectors, der Prorector bei. In erfreulichem Umfange sind wieder die Unterrichtsmittel der Universität, namentlich in Beziehung auf Institutsbauten, vermehrt. Ihrer Bestimmung übergeben 741

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wurden sowohl die auf dem Areale des städtischen Krankenhauses St. Jacob erbaute, am 27. Januar eingeweihte chirurgische Klinik, die in Einrichtung und Ausstattung als eine Musterstätte zu bezeichnen ist, als auch der Erweiterungsbau des physiologischen Institutes, in dem nun der Unterricht in erschöpfender Weise ertheilt werden kann. Bewilligt sind ferner die sehr bedeutenden Mittel für eine grössere Zahl von Neubauten, namentlich des landwirthschaftlichen Institutes, ferner des VeterinärInstitutes mit Klinik, dann eines Hörsaales und vermehrter Arbeitsräume für das Laboratorium für angewandte Chemie und endlich die 1. Rate für den Neubau des physikalischen Institutes. Der Beginn dieser Bauten ist dadurch verzögert, dass die ursprünglichen Pläne theilweise geändert und umgearbeitet werden mussten, weil der für diese Bauten in den Etat eingestellte Betrag durch ständischen Beschluss gekürzt wurde. Nachdem diesem Umstande durch Neubearbeitung der Pläne nunmehr Rechnung getragen ist, besteht einige Hoffnung, dass der Bau, wenigstens der Mehrzahl der genannten Institute, noch im laufenden Jahre seinen Anfang nimmt. Mit dem gegenwärtigen Semester ist auch ein semitistisches Seminar unter der Direction der Professoren August Fischer und Zimmern ins Leben gerufen, während das unter der Leitung des Professors Dr. med. Richard Kockel stehende Institut für gerichtliche Medicin im vergangenen Sommer-Semester seine Thätigkeit begonnen hat. Aufrichtiger Dank gebührt der Königlichen Staatsregierung, insonderheit dem Ministerium des Cultus, dessen klares Verständnis für die Wünsche der Universität und dessen unausgesetzte Sorge für deren Bedürfnisse auch an dieser Stelle vor allem hervorgehoben zu werden verdienen, nicht minder aber den Landständen, die wie immer, wenn es sich um die Bewilligung von Mitteln für die Landes-Universität handelt, so auch diesmal eine offene Hand gezeigt haben. Von privater Seite ist die Universität ebenfalls mit Zuwendungen bedacht worden. Die von dem verstorbenen Geheimen Rathe Professor Roscher begründete Constanze Roscher-Stiftung wurde von der Wittwe unseres unvergesslichen Collegen um einen namhaften Betrag erhöht. Fräulein Lilly Wüstefeld in Dresden schenkte der Universitäts-Bibliothek eine Sammlung von 180 Bänden, vorwiegend aus dem Gebiete der deutschen Litteratur. Den edlen Geberinnen spreche ich den aufrichtigen Dank der Universität aus. Die Hülfs- und Töchter-Pensions-Kasse ist der Wittwe unseres, im vorigen Jahre uns durch den Tod entrissenen Collegen Socin zu besonderem Danke dadurch verpflichtet, dass diese auf die ihr und ihren 5 Kindern aus der genannten Kasse zustehenden Bezüge in hochherziger Weise verzichtet hat. Die Feier, die aus Anlass der Vollendung der neu erbauten chirurgischen Klinik stattfand, erhielt dadurch eine besondere Weihe, dass dabei die Büste Carl Thiersch’s, die namentlich von den Assistenten des Verewigten gestiftet ist, übergeben wurde. Die Aufstellung dieser Büste im Garten des städtischen Krankenhauses in unmittelbarer Nähe der Stätte, wo Thiersch wirkte, erhält das Andenken dieses seltenen Mannes, das in unser Aller Herzen weiter lebt, auch äusserlich wach. Bei einer verhältnissmässig grossen Zahl von Feierlichkeiten verschiedener Art war die Universität vertreten. So überreichte der Rector bei der am 19. und 20. März 742

Jahresbericht 1899/1900

in Berlin veranstalteten Zweihundertjahr-Feier der Königl. Preussischen Akademie der Wissenschaften eine tabula gratulatoria. Diese Feier war insofern zunächst allgemein besonders bemerkenswerth, als Sr. Majestät der Kaiser der Akademie und mit ihr der Wissenschaft die höchsten äusseren Ehren erweisen liess, dann für die Universität Leipzig im Besonderen dadurch, dass eine stattliche Reihe ihrer Docenten durch die Ernennung zu Mitgliedern der Akademie ausgezeichnet wurde. Die Universität war durch den Rector weiter vertreten bei zwei Festlichkeiten, die durch die 500. Wiederkehr des Tages veranlasst waren, an dem Johann Gutenberg der Welt geschenkt wurde, zunächst am 12. Mai bei der Eröffnung des Buchgewerbehauses in Leipzig und dann in den Tagen vom 21. bis 24. Juni bei der in Mainz, der Vaterstadt des grossen Erfinders, veranstalteten besonderen GutenbergFeier, bei der unser College, Professor Köster, die Festrede hielt. Der Rector hatte dabei auch die Ehre, dem Prorector der Mainzer Feier, Sr. Königlichen Hoheit dem Grossherzoge Ernst Ludwig von Hessen, als früherem akademischen Bürger unserer Universität, deren Grüsse zu überbringen. Ferner wohnte der Rector bei am 24. September der Feier des 350jährigen Bestehens der Fürsten- und Landesschule zu St. Augustin in Grimma und am 29. September der Einweihung des Diakonissenhauses in Lindenau. Der Universität Krakau wurde zur Feier ihres 500jährigen Bestehens am 7. Juni ein Glückwunschschreiben übersandt. Was die Veränderungen im Personal-Bestande unseres Lehrkörpers betrifft, so habe ich zunächst der Verluste zu gedenken, die wir durch den Tod erlitten haben. Am 19. November starb der Geheime Medicinalrath und Direktor des anatomischpathologischen Institutes, Dr. med. Felix Victor Birch-Hirschfeld. Geboren am 2. Mai 1842 in Cluvensick bei Rendsburg war er zunächst in Dresden als Oberarzt und Prosector am Krankenhause thätig. Auf Grund der namhaften Untersuchungen, die er auf dem Gebiete der pathologischen Anatomie ausgeführt hatte, wurde er im Jahre 1885 an unsere Hochschule berufen, um hier eine umfassende Wirksamkeit als Forscher und Lehrer zu entfalten. Wie seine lautere Gesinnung und sein liebenswürdiger Charakter ihm das Vertrauen seiner Collegen und Schüler gewann, so wurde er wegen seines klaren, auch alle Verhältnisse des Lebens schnell erfassenden Blickes und seines Verständnisses für die allgemeinen Fragen zum Vertreter der Universität in der I. Kammer der Landstände gewählt. Ein Leiden, dessen Keim er sich in seinem Berufe zugezogen hatte, setzte seinem arbeitsreichen Leben zu früh ein Ziel. Sein Nachfolger in der I. Kammer wurde auf Grund der Wahl der UniversitätsVersammlung Geheimer Rath Professor Dr. Adolf Wach. Nur wenige Tage nach dem Hinscheiden Birch-Hirschfelds wurde die Universität von neuem in Trauer versetzt durch den Tod des Geheimen Hofrathes Dr. jur. et phil. August von Miaskowski, bis zum Jahre 1898 ordentlichen Professors der NationalOekonomie und Finanzwissenschaft und Direktors des staatswissenschaftlichen Seminars. Geboren am 26. Januar 1838 in der livländischen Stadt Pernau ergriff er zunächst den juristischen Beruf, um sich dann in vorgeschrittenerem Alter der National-Oekonomie, zunächst als Privatdocent in Jena, zu widmen. Nachdem er 743

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weiter an 4 Hochschulen der Schweiz, Deutschlands und Oesterreich-Ungarns thätig gewesen war, folgte er 1891 einem Rufe an unsere Universität. Doch schon nach verhältnissmässig kurzer, aber sehr ausgedehnter und fruchtbringender Wirksamkeit sah er sich in Folge eines schweren Leidens gezwungen, um seine Versetzung in den Ruhestand nachzusuchen. Miaskowski’s Hauptarbeiten liegen auf dem Gebiete der Agrarpolitik und Agrargeschichte. Namentlich durch das unter seinen zahlreichen Publikationen besonders zu nennende, 1882/84 herausgegebene Werk „Das Erbrecht und die Grundeigenthums-Vertheilung im Deutschen Reiche“ hat er sich um die zweckmässige Ausgestaltung des Erbrechtes dauernd verdient gemacht. Daneben hat Miaskowski sich gern dem praktischen Wirken gewidmet, so besonders als Mitglied des preussischen Landes-Oekonomie-Kollegiums und des deutschen Landwirthschaftsrathes. Am 11. September verschied der frühere ordentliche Honorar-Professor und Direktor der Veterinär-Anstalten Dr. med. Friedrich Anton Zürn in Stadtsulza, wohin er sich nach seiner am 1. April 1899 erfolgten Emeritirung zurückgezogen hatte. Geboren am 16. April 1835 in Rudolstadt, gehörte der Verewigte unserer Universität seit langer Zeit, seit dem Jahre 1872 an. Durch die Gründung und musterhafte Leitung der viele Jahre auf eigenes Risiko von ihm geführten Veterinärklinik, durch seine umfangreiche litterarische Thätigkeit und vor allem durch die in der Klarheit und Wärme seines Vortrages begründete Lehrbefähigung hat er sowohl die als Wissenschaft neu begründete Thierheilkunde wesentlich gefördert, als auch dem hiesigen Studium der Landwirthschaft sehr erspriessliche Dienste geleistet. Die schleichende Krankheit, von der er seit Jahren heimgesucht war und die ihm grosse Schmerzen bereitete, vermochte erst, als sie an Heftigkeit zugenommen hatte, ihn zum Rücktritte von seinem Amte zu bewegen. Neuberufen wurden zum Sommer-Semester Geheimer Medizinalrath Dr. Felix Marchand als ordentlicher Professor und Director des pathologischen Institutes, Dr. August Fischer als ordentlicher Professor der orientalischen Sprachen, zum gegenwärtigen Winter-Semester Dr. Ludwig Boltzmann als ordentlicher Professor der theoretischen Physik und Dr. Heinrich Zimmern, der unserer Universität bis vor kurzem schon angehört hatte, als ordentlicher Professor der orientalischen Sprachen. Den neu eingetretenen Herren Collegen übermittele ich den Gruss der Universität mit dem herzlichen Wunsche, dass ihre Thätigkeit wie unserer alma mater zum Heile, so ihnen zu vollster Befriedigung gereichen möge. Habilitirt haben sich in der medizinischen Fakultät Dr. med. Karl Hirsch, Dr. med. Arthur Birch-Hirschfeld, Dr. med. Alfred Bielschowsky, Dr. med. Hans Saxer, Dr. med. Walter Straub und Dr. med. Richard Burian, in der philosophischen Fakultät der frühere ordentliche Professor der Universität Giessen, Geheimer Oberschulrath Dr. phil. Hermann Schiller für Pädagogik, Dr. phil. Robert Luther für physikalische und anorganische Chemie, Dr. phil. Max Bodenstein für Chemie und Dr. phil. Wilhelm Wirth für Philosophie. Diesen Zuwachs an jungen Lehrkräften begrüssen wir freudig; möchte den zum allergrössten Theile in den akademischen Lehrberuf neu eingetretenen Collegen reicher Erfolg in ihrem Wirkungskreise zu Theil werden. 744

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Die Abberufungen Leipziger Dozenten in Ordinariats-Stellen waren diesmal besonders zahlreich. Es folgten einem Rufe als ordentliche Professoren der ausserordentliche Professor der juristischen Facultät Dr. Karl Triepel nach Tübingen, der ausserordentliche Professor der medizinischen Facultät Dr. Ernst Romberg nach Marburg, die ausserordentlichen Professoren der philosophischen Fakultät Dr. Paul Drude nach Giessen, Dr. Max le Blanc nach Karlsruhe und Dr. Conrad Cichorius nach Breslau. Der Privatdozent der Theologie Lic. theol. et Dr. phil. Otto Seesemann ging als Privat-Dozent mit Lehrauftrag nach Dorpat. Diese ehrenvollen Berufungen erfüllen die Universität mit Befriedigung, weil sie sowohl für die Berufenen, denen wir herzliche Wünsche in ihren erweiterten Wirkungskreis nachsenden, als auch für unsere Universität eine werthvolle Anerkennung bedeuten. Zu erwähnen ist ferner, dass der ausserordentliche Professor der philosophischen Fakultät Dr. Hermann Ambronn nach Jena übergesiedelt ist und dass der Privatdozent der medizinischen Fakultät Dr. Armin Tschermak auf seine hiesige venia legendi verzichtet hat, um sie in Halle zu erwerben. Der ordentliche HonorarProfessor der philosophischen Fakultät Dr. phil. et med. Erich Schmidt sah sich aus Gesundheitsrücksichten genöthigt, am 1. April in den Ruhestand zu treten; wir wünschen ihm noch einen langen und gesegneten Lebensabend. Auch eine Reihe von Ernennungen ist zu verzeichnen. Ernannt wurden: zum ordentlichen Honorar-Professor der ausserordentliche Professor in der philosophischen Fakultät Dr. Georg Steindorff, zu ausserordentlichen Professoren in der medizinischen Fakultät Dr. Sándor Kaestner, in der philosophischen Fakultät Dr. Hans Stobbe, Dr. Hans Stumme, Dr. Asmus Soerensen, Dr. Otto zur Strassen und Dr. Oscar Knoblauch. Als Lehrer der Vortragskunst wurde an Stelle des abgegangenen Theodor Horstmann vom 1. October an, zunächst probeweise, Dr. phil. Martin Seidel angestellt. Aus dem Personale der Universitäts-Bibliothek schieden aus: am 1. November der Hilfsarbeiter Dr. Byhan und am 1. Januar der Assistent Dr. Trefftz. Die Kustoden Professor Dr. Zarncke, Dr. Abendroth, Dr. Günther, cand. theol. Kippenberg und Privatdozent Dr. Weissbach wurden zu Bibliothekaren, die Assistenten Dr. Schmidt und Dr. Hilliger zu Kustoden, der Hilfsarbeiter Dr. Rugenstein zum Assistenten ernannt, während Dr. Johann Martens als Volontair eintrat. Ferner sind verschiedene Veränderungen bei den Universitäts-Beamten eingetreten. Am 17. März verstarb nach 27jähriger, treuer Dienstzeit der Quästur-Kontrolleur Karl Robert Kühn; sein Nachfolger wurde auf Grund der Wahl des Plenums zum 1. Oktober der bisherige Universitäts-Kanzleisekretair Friedrich Wilhelm Burkhardt, während an dessen Stelle der bisherige Assistent am Königlichen Universitäts-Rentamte Paul Steinert trat. An Ehrenpromotionen ist nur eine zu verzeichnen: Die theologische Fakultät ernannte den ordentlichen Professor der Theologie an der evangelischen Fakultät in Wien Dr. Sellin zum Dr. theol. hon. c. Diplom-Erneuerungen aus Anlass der 50jährigen Feier der Promotion vollzog die medizinische Fakultät 7: am 2. April für den Dr. Edmund Friedrich in Dresden, am 4. Juni für den Fürstlich Schönburgschen Rath und Leibarzt Dr. Herrmann Otto Bauer in Waldenburg i. S., am 15. Juni für den Dr. Ferdinand Götz in Lindenau, am 745

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22. Juni für den Geheimen Rath und Präsidenten des Königlichen Landes-MedizinalKollegiums Dr. Rudolf Günther in Dresden, am 5. Juli für den Grossherzoglich Mecklenburgischen Medizinal-Rath Dr. Wilhelm Seifert in Dresden, am 10. Juli für den Dr. med. et phil. Julius Haentzsche in Dresden und am 26. September für unsern Collegen, den Professor Dr. Richard Hagen in Leipzig. Bei der philosophischen Fakultät wurden 5 Diplome erneuert: am 22. December für den Geheimen Regierungsrath Professor Dr. Ernst Robert Schneider in Berlin, am 30. Januar für den Bezirks-Schulinspektor a. D. Dr. Hermann Richard Fritzsche in Leipzig, am 23. März für den emeritirten ordentlichen Universitäts-Professor Dr. Daniel Abramowic Chwolson in St. Petersburg, am 16. Juni für den emer. Gymnasial-Direktor Geh. Schulrath Dr. Maximilian Erler in Zwickau, am 14. Juli für den emerit. Gymnasial-Oberlehrer Dr. Ignaz Zwolski in Posen und am 16. August für den Verlagsbuchhändler Dr. Eduard Brockhaus in Leipzig. Rite promovirt wurden in der theologischen Fakultät 2 Bewerber zu Lic. theol., in der juristischen 145, in der medizinischen 163 im Inlande approbirte Aerzte und in der philosophischen Fakultät 112 Bewerber zu Doktoren. Die Studentenschaft, um zu dieser überzugehen, zeichnete sich im Allgemeinen wieder durch lobenswerthen Fleiss aus, und der Ruf, in dem unsere Hochschule, auch soweit die Studirenden dabei in Betracht kommen, als Stätte eifriger Arbeit steht, ist im Berichtsjahre wiederum befestigt. Die Bemühungen, eine GesammtVertretung aller oder wenigstens des grössten Theiles der Studirenden zu schaffen, sind, wenn auch der Zusammenschluss einer Reihe studentischer Vereinigungen gefördert ist, leider erfolglos geblieben. Bei der Unbeugsamkeit der Anschauungen, die in manchen, nicht in allen Kreisen der Studirenden über den in dieser Gesammtvertretung zu beanspruchenden Antheil herrschen, erscheint es leider auch fraglich, ob Bemühungen der gedachten Art in absehbarer Zeit zum Ziele führen werden. Leider sah sich auch das Plenum des Universitäts-Gerichtes in die Nothwendigkeit versetzt, auf die zeitweilige Aufhebung einer bestimmten Gruppe studentischer Korporationen zu erkennen, weil diese sich dadurch gegen die akademischen Gesetze in erheblichem Grade vergangen hatte, dass von ihr gegen einen früheren Studirenden eine Verrufs-Erklärung unter erschwerenden Umständen erlassen war. Die Universitäts-Behörde wird derartige Verfehlungen gegen die akademische Disciplin auch ferner mit aller Strenge ahnden. Die Studentenziffer dürfte im gegenwärtigen Semester voraussichtlich mindestens dieselbe Höhe erreichen, wie im Vorjahre. Am gestrigen Tage betrug die Zahl 3457 gegen 3351 am 30. Oktober 1899 und 3269 im verflossenen Sommer-Semester. Für die einzelnen Fakultäten sind die Ziffern des 30. Oktobers 1900, verglichen mit denen desselben Tages im Vorjahre, folgende. Theologische: 307 und 311, Juristische: 1059 und 1010, Medizinische: 560 und 593, Philosophische: 1531 und 1437. Ein Student musste in Perpetuum relegirt werden. Wir haben auch den Tod von 10 jungen Commilitonen zu beklagen; viele frohe Hoffnungen sind mit dem frühen Abschlusse dieser jungen Leben zu Grabe getragen. Schliesslich ist noch das Ergebniss der Preisaufgaben mitzutheilen. Die Aufgabe der theologischen Fakultät – psychologische Analyse des prophetischen Bewusst746

Jahresbericht 1899/1900

seins in der Entwickelung vorwiegend von Amos, Jesaia, Jeremia, Hesekiel und Sacharja – fand 5 Bearbeitungen: der Preis wurde der Arbeit des stud. theol. Gerhard Fuchs aus Grosserkmannsdorf zugesprochen. Eine ehrenvolle Erwähnung erhielten die Arbeiten des stud. theol. Otto Conrad aus Cöthen und des stud. theol. Friedrich Siegert aus Oederan. Für das von der juristischen Fakultät gestellte Thema – die strafrechtliche Beurtheilung des agent provocateur – gingen zwei Bearbeitungen ein, von denen die eine, verfasst vom stud. jur. Edmund Jeremias aus Breslau, zwar nicht des vollen Preises, so doch eines accessit für würdig befunden und dafür dem Ministerium empfohlen wurde. Die Aufgabe der medizinischen Fakultät – das Wesen der wichtigsten Störungen der Magenthätigkeit bei der chronischen Lungenschwindsucht, litterarisch, kritisch und nach eigenen Untersuchungen – wurde durch den stud. med. Hugo Weiss aus Kaschau gelöst. In der ersten Sektion der philosophischen Fakultät fand die Aufgabe – Einfluss der deutschen Litteratur auf die englische am Ende des XVIII. und im 1. Drittel des XIX. Jahrhunderts – zwei Bearbeitungen, von denen die eine, von Ernst Margraf, stud. phil. aus Windehausen, des vollen Preises, die andere, deren Verfasser Theodor Zeiger, stud. ling. rec. aus Wiesbaden ist, einer ehrenvollen Erwähnung und einer Gratifikation für würdig erachtet wurde. Auf das von der zweiten Sektion gestellte Thema – es ist zu untersuchen, in welchem Verhältnisse die Erziehungsschrift Jean Pauls (Levana) zu der gleichzeitigen und früheren Philosophie steht – ist eine Bewerbungsschrift eingegangen, welcher der volle Preis zuerkannt wurde; ihr Verfasser ist Wilhelm O. W. Hoppe, stud. paed. aus Plauen i. V. Die von der dritten Sektion gestellte Aufgabe hat keinen Bearbeiter gefunden. Die Begründung dieser Urtheile, sowie die neuen, für das Jahr 1900/1901 gestellten Preisaufgaben werden durch den Druck und durch Anschlag am schwarzen Brette bekannt gemacht werden. Es bleibt mir noch die letzte Amtshandlung zu vollziehen, die Uebergabe des Rectorates an meinen erwählten und bestätigten Nachfolger. Bevor ich aber von dieser Stelle scheide, ist es mir ein aufrichtiges Bedürfniss, für das mir im verflossenen Jahre in reichem, unverdienten Masse entgegengebrachte Wohlwollen meinen herzlichen Dank auszusprechen. Ich fordere Sie, Herr Paul Zweifel, auf, das Katheder zu besteigen und die Insignien Ihrer Würde aus meiner Hand entgegenzunehmen. Zuvor aber habe ich Ihnen den Eid abzunehmen, den nach den Gesetzen unserer Universität jeder Rector zu leisten hat. Sie schwören bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, dass Sie die Verfassung und die Gesetze der Universität treu und gewissenhaft beobachten und die Pflichten des Ihnen anvertrauten Amtes als Rector der Universität nach bestem Wissen und Gewissen redlich erfüllen wollen. Somit proklamire ich Sie, Herr Dr. med. Paul Zweifel, zum Rector der Universität Leipzig für das Studienjahr 1900 bis 1901. Ich übergebe Ihnen den Hut und den Mantel als Zeichen Ihrer Würde, die Kette, mit welcher Königliche Huld den Leip747

Wilhelm Kirchner

ziger Rector geschmückt hat, das Siegel der Universität, damit Sie deren Willen rechtlich beglaubigen, die Statuten, die Sie zu bewahren haben, und den Schlüssel des Hauses als Symbol Ihrer Herrschaft in diesen Räumen. Und nun gestatten Sie, Magnifice, dass ich als Erster Ihnen meinen aufrichtigen Glückwunsch ausspreche. Möchte das Jahr Ihrer Leitung gesegnet sein, für unsere theuere Universität und für Sie selbst! ***

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Paul Zweifel (1848–1927)

31. October 1900. Rede des antretenden Rectors Dr. Paul Zweifel. Kurzer Rückblick über die Entwicklung der erklärenden Naturwissenschaften und der Medicin im XIX. Jahrhundert. Hochansehnliche Versammlung, Collegen, Commilitonen! Nach altem Herkommen beginnt jeder neue Rector der Universität Leipzig seine Amtsthätigkeit am Reformationsfeste, welcher Tag seit a. 1667 (durch damaligen churfürstlichen Erlass) hier die akademischen Jahre eröffnet und beschliesst1 mit einem allgemein verständlichen Vortrag aus seinem Wissensgebiete. Da wir nun genau nach 2 Monaten das XIX. Jahrhundert beschliessen, das uns glanzvoller und herrlicher erscheint als irgend eines aller vergangenen Zeiten, so lenkt dieser Gedanke von selbst unsere Blicke rückwärts. Und dass wir erst vor der Schwelle und noch nicht im Anfang eines neuen Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung stehen, ist unbestreitbar, trotzdem der Wechsel der Jahrhundertzahl Vielen diese Thatsache verwischt hat. Aber wir können einen besonders triftigen Grund anführen, nämlich dass unsere Vorgänger an der Universität diese Frage vor 100 Jahren mit wissenschaftlicher Gründlichkeit erledigten, indem sie von der philosophischen Facultät ein Gutachten einholten, ob das XIX. Jahrhundert mit dem 1. Januar 1800 oder 1801 beginne und weil der betreffende Berichterstatter ein Mathematiker2 war und auf sein Gutachten die Universität Leipzig den Eintritt in das neue Jahrhundert am 1. Januar 1801 – damals noch mit einer lateinischen Rede und lateinischen Oden – festlich beging, so ist diese Frage für uns endgültig entschieden. Andere Menschenkinder brauchen zwar für diesen Beweis keinen Mathematiker; aber um so besser für uns, wenn diese Männer der exactesten Wissenschaft zustimmen. Nach dem im Anfang gegebenen Beispiel läge eine Wiederholung der Säcularfeier nahe, welche jedoch durch die jetzt gegebenen Verhältnisse ausgeschlossen 1

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Als Stiftungstag der Universität Leipzig wurde 16091, 17092 und 1809 der 4. Dezember gefeiert. Vergl. Kreussler, Geschichte der Universität Leipzig, 1810. S. 210. Schulze, Johann Daniel, Abriss einer Geschichte der Leipziger Universität. 1802. S. 331. E. G. Gersdorf gibt in seinem Beitrag zur Geschichte der Universität Leipzig, Leipzig 1869. S. 11 als Tag der feierlichen Einweihung der Universität den 2. Dezember 1409 an. Der Verfasser war Professor Karl Friedrich Hindenburg, der mit Johann Bernoulli bis 1788 das Leipziger Magazin der reinen und angewandten Mathematik herausgab. Vgl. hierüber Schulze, Johann Daniel, Abriss einer Geschichte der Leipziger Universität, 1802. S. 351.

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Paul Zweifel

ist, so dass am heutigen Tage, an dem wir zum letzten Mal in diesem Jahrhundert das Universitätsfest begehen, der geziemende Anlass gegeben ist, pietätvoll der Vergangenheit zu gedenken. Von einer unübersehbaren Reihe von wohlthätigen Stiftungen, Stipendien und Gründungen neuer Professuren wusste der damalige Redner Prorector Wenck3, P. O. Hist., dessen Enkel als hochbetagter (83jähriger) College unter uns lebt, zu berichten, und noch viel grösser und rühmenswerther würde die Reihe werden, wollten wir die Wohlthaten, welche der Universität Leipzig im XIX. Jahrhundert zuflossen, aufzählen. Wir dürfen zwar den heutigen Tag, der einer pietätvollen Erinnerung gewidmet sein soll, nicht begehen, ohne allen Wohlthätern herzlich zu danken; aber es wäre mit dem Zweck dieser Rede unvereinbar Geber und Gaben im Einzelnen aufzuzählen; wir wollen heute auch nicht in dem Sinne danken, dass wir den Empfang bescheinigen, sondern Rechenschaft zu geben versuchen, wie die erhaltenen Pfunde verwerthet wurden. Da jedoch gegenwärtig eine unbeschränkte Freizügigkeit der Docenten über alle deutschen Hochschulen besteht, können wir unseren Rückblick nicht mehr auf die heimische Universität Leipzig beschränken, sondern müssen ihn über alle Hochschulen ausdehnen. Es geht ein Jahrhundert zur Neige, welches für die ganze Welt, insbesondere jedoch für Deutschland unvergleichlich denkwürdig und nach schweren Schicksalschlägen und inneren Zuckungen schliesslich reich gesegnet war. Gewiss besteht der unvergleichliche Segen hauptsächlich in der politischen Umgestaltung, in der Gründung des deutschen Reiches; doch legen diese Feier und dieser Ort dem Sprecher eine andere Aufgabe näher als die Betrachtung der politischen Geschichte, zumal diese den meisten Hörenden, weil in ihren wichtigsten Ereignissen selbst erlebt, völlig bekannt ist. Da bei dieser letzten Feier des Jahrhunderts ein Mediciner durch das Vertrauen der Collegen berufen ist, hier zu stehen, so fällt ihm die Aufgabe naturgemäss zu, an die Entwicklung der Naturwissenschaften und der Medicin im XIX. Jahrhundert und ihre Bedeutung für die allgemeine Cultur kurz zu erinnern. Mehr als in der politischen Geschichte, wo augenblickliche Eingebungen einzelner Menschen eine grosse Bedeutung erlangen können, ist in den Wissenschaften das endgültig Errungene die Frucht einer mühevoll gepflegten und oft recht langsam reifenden Saat und würden wir darum das Bild ungerechter Weise färben, wenn wir die Vorarbeiten, welche die Entwickelung unseres Jahrhunderts bedingt haben, unerwähnt liessen. Um die eindrucksvollsten Aenderungen der Weltphysiognomie kurz zu nennen, können wir das ablaufende Jahrhundert als das Zeitalter des Dampfes und der Elektricität bezeichnen, obschon in ihm nur die ausgedehnte Anwendung dieser Natur3

Academiae Lipsiensis in Saeculi undevicesimi initiis pietatis monumenta. Friedrich August Wilhelm Wenck, latinisirt „Wenkius“, Rector der Universität Leipzig, SommerSemester 1784, Sommer-Semester 1792, Sommer-Semester 1796, Sommer-Semester 1800 und Sommer-Semester 1804.

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kräfte in die Wege geleitet wurde und wenigstens, was die Dampfmaschine betrifft, ihre Erfindung in grosser Vollkommenheit noch dem XVIII. Jahrhundert angehört. Noch vier Grossthaten der Wissenschaft, welche die Neige des letzten Jahrhunderts krönten und in der Folge die Welt umgestalteten, sind hier zu nennen, nämlich die Entdeckung Galvani’s (1791), die Volta’sche Säule (1800), die Aufklärung über die Bedeutung des Sauerstoffes für das Leben, für die Verbrennung und die Oxydation durch Lavoisier und endlich die am 14. Mai 1796 zum ersten Mal ausgeführte Impfung von Eduard Jenner. Wie gigantische Wegweiser standen diese Entdeckungen an der Jahrhundertwende und es war im XIX. kein Mangel an Männern, welche die angewiesenen Wege mit staunenswerthem Erfolge gewandelt sind; von ihnen jedoch, welche die Wegweiser errichteten und denen die Nachwelt gedenken wird so lange es eine Geschichte giebt, werden Sie gern etwas vom weiteren Schicksal hören. James Watt, der zum Graf ernannte Alexander Volta und Sir Edward Jenner starben hochbetagt und reich an Ehren. Galvani wurde durch den Tod seiner Frau, deren Krankheit den Anlass zu der grossen Entdeckung gegeben hatte, geknickt, er wurde ein politischer Märtyrer, weil er den Beamteneid in der neu gegründeten Cisalpinischen Republik nicht leisten wollte, fühlte sich durch die Versuche Volta’s gleichsam in seinem Recht verletzt, überflügelt, mit Undank belohnt und starb verbittert und tief unglücklich. Das schlimmste Schicksal erlitt jedoch Lavoisier, dem man im XIX. Jahrhundert den hohen Ehrennamen „Vater der Chemie“ zu Theil werden liess, in dem er am 8. Mai 1794, erst 51 Jahre alt, unter der Herrschaft „de la Terreur“ auf der Guillotine sein Leben liess, er, der sich niemals an der Politik betheiligt hatte, und bei der Vertheidigung nur die eine Bitte äusserte, noch eine kleine Arbeit vollenden zu dürfen, ehe er sterben müsse. Auf die eindringlichen Worte seines Vertheidigers, doch diesen grossen Mann der Wissenschaft zu schonen, erhielt er die Antwort: „Nous n’avons plus besoin de savants!“ Die wesentlichen Errungenschaften des XIX. Jahrhunderts sind zwar technischer Art und bei dem Zuge der Zeit diese 2 Gebiete – Wissenschaft und Technik – zu unterscheiden, ja in Gegensatz zu bringen, muss betont werden, dass selbstverständlich jede neue Technik nur auf der Grundlage neuer wissenschaftlicher Erkenntniss erwächst, dass jedoch auch jeder Fortschritt der Technik befruchtend und belebend auf die Wissenschaften zurückwirkt. Die Dampfmaschine war es, welche zu Anfang des XIX. Jahrhunderts die Welt umzugestalten begann, in dem sie die Fabrikthätigkeit unabhängig machte von Wasserkräften und besonders in England bei dem Kohlenreichthum der Industrie jede beliebige Ausdehnung gestattete. Der Wissenschaft jedoch stellte sie eine Reihe von neuen Aufgaben und können wir die Arbeiten von Dalton, Gay-Lussac u. A. über Gase und Dämpfe kaum für zufällig halten. Bei dem Vorsprung, den dadurch England in der Industrie gewonnen, mussten die anderen Länder sich anstrengen, folgen zu können, um nicht gänzlich überflügelt zu werden. Deutschland nahm zunächst an der Entwicklung der Dampf-Technik und dem zugehörigen Fach der Physik geringen Antheil und was geschaffen wurde, 751

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lag auf anderen Gebieten. Wir begegnen bis etwa 1809 noch physikalischen und chemischen Arbeiten von Chladni, dem Chemiker Klapproth, Achard und Fraunhofer, danach jedoch versiegte der Quell fast vollständig auf ungefähr 10 Jahre hinaus. Dieser Erscheinung des Stillstandes der Wissenschaften wegen der späteren furchtbaren Kriege Napoleons, durch welche er die Unabhängigkeit aller Völker Europas bedrohte, begegnen wir in ziemlich allen Ländern, während in den ersten Jahren der Herrschaft des „Oberconsuls“, wie die Zeitgenossen seinen Titel richtiger ins Deutsche übersetzten als die heutigen Historiker mit „erstem“ Consul, die Gelehrten noch friedlich ihrer Arbeit obliegen konnten und sogar, soweit sie in den Vasallenstaaten Frankreichs lebten, von ihm sehr gefördert wurden. Die Jahre 1806 bis 1815 bilden in der Geschichte von ganz Europa und insbesondere von Deutschland einen entscheidenden Wendepunkt in jeder Richtung. Die furchtbare Prüfung, welche Deutschland auferlegt wurde, hatte eine Anspannung aller Kräfte zur Folge und hielt da am meisten an, wo die Regierungen ihr Entfaltung gönnten – gerade an den Hochschulen. So finden wir in ganz Deutschland einen neuen Aufschwung dieser Bildungsstätten, die mit geringen Ausnahmen neben der Pflege der Wissenschaften eine Richtung verfolgten: Sammlung und Einigung der deutschen Völker. „Dass Preussen den Beruf, den es lange geübt hat, auf die höhere Geistesbildung vorzüglich zu wirken, und in dieser seine Macht zu suchen, nicht aufgeben, sondern vielmehr von vorn anfangen will; dass Preussen sich nicht isoliren will, sondern auch in dieser Hinsicht mit dem gesammten natürlichen Deutschland in lebendiger Verbindung zu bleiben wünscht“, waren Worte, welche Schleiermacher4 zur Gründung der Universität Berlin schrieb und dass dieser Staat, welcher 1807 verstümmelt aus dem Kriege hervorging, schon 1809 die Universität Berlin mit den besten Kräften eröffnete, zeigte an sich, dass jener geistige Stiftungsbrief Schleiermachers Wille und That, nicht blos Redensart war. Wenn bei dem Aufschwung die Erfolge gerade im Gebiete der Naturwissenschaften in den Vordergrund traten, so lag dies an den grossen Vorteilen, welche der technische Ausbau dieser Wissenschaften mit sich brachte und der Nothwendigkeit mit anderen Nationen Schritt zu halten. Es lag aber auch daran, dass die Naturwissenschaften bis dahin unglaublich vernachlässigt, ja unterdrückt waren, während die Geisteswissenschaften schon im XVIII. Jahrhundert eine grossartige Entfaltung gewonnen und den Deutschen schon damals den Namen eingebracht hatten, das Volk der Dichter und Denker zu sein. Wissenschaften, die einen Leibniz, Christian Thomasius, Christian Wolff, Kant, Fichte, Schleiermacher, Niebuhr und viele andere als Förderer hatten, standen schon so hochangesehen da, dass die Deutschen darin jeder anderen Nation ebenbürtig oder überlegen waren, während sich die erklärenden Naturwissenschaften in einer kläglichen Verfassung befanden. Eine Chemie gab es nur dem Namen nach; denn was soll man davon halten, wenn noch im XVIII. Jahrhundert Chemie und 4

Citirt aus: Lexis, Die deutschen Universitäten, Berlin 1893, S. 32.

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Alchymie in Leipzig in demselben Hörsaal betrieben wurden.5 Im Gebiet der Physik kamen die grossen Entdeckungen vorwiegend im Ausland zu Stande, manche auch von Deutschen, die im Ausland, besonders in St. Petersburg zu Stellung und Ansehen gelangt waren. In den beschreibenden Naturwissenschaften, selbst in der Handhabung des Mikroskops bei Botanikern, waren schon bedeutende Männer des XVIII. Jahrhunderts in Deutschland am Werke. Auch andere Gelehrte von grossem Ansehen waren vorhanden, wie Alexander von Humboldt; aber sie standen ausserhalb der Universitätskreise, sie wollten, wie schon hundert Jahre früher Leibniz, gar nicht Professoren werden. Es sind dies alles Zeichen, wie wenig begehrt damals die Professuren der Naturwissenschaften waren. Das wurde anders in diesem Jahrhundert durch die Aufsehen erregenden Arbeiten von deutschen Professoren im Gebiet der Naturwissenschaften, so dass jetzt am Ende desselben eher das Gegentheil der Schätzung besteht und selbst Privatgelehrte, die einer Wissenschaft huldigen, immer den Titel Professor, also wenigstens den Schein des Amtes zu haben wünschen. Die Arbeiten, welche die Stellungen so gründlich änderten auch nur mit Nennung der Titel aufzuzählen, würde nicht in einer Stunde zu bewältigen sein und für die Hörer ohne Gewinn bleiben. Besorgen Sie nicht, dass ich Ihre Geduld damit in Anspruch nehme, umsoweniger als Sie viele der grossen Forscher noch gekannt und von ihren Leistungen gelegentlich gehört haben. Dafür möchte ich mir die Frage zu erörtern erlauben, warum deutsche Universitäten im XVIII. Jahrhundert und den 2 ersten Decennien des ablaufenden so wenig Männer besessen haben, die in Naturwissenschaften und Medicin Grosses leisteten, während in den darauf folgenden Jahrzehnten die Zahl der Forscher und die Grossartigkeit ihrer Leistungen überraschen muss. Zum Theil lag es daran, dass man an den Einrichtungen der im Mittelalter gegründeten Universitäten zu lange festhielt, ohne wie die Franzosen und Engländer in den Spitalschulen eine leistungsfähige Concurrenz zu haben. Diese im Mittelalter gegründeten und studia generalia genannten Schulen – hat doch die Universität Leipzig als Reminiscenz an diese Zeit im Siegel noch heute den Titel „Studium Lipsiense“ – hatten zunächst die Aufgabe in der Artistenfacultät, der heutigen philosophischen, die lateinische Sprache zu lehren und danach in den 3 „oberen“ Facultäten, wie der Sprachgebrauch lautete, die Schriften des Altertums zu übersetzen und zu kommentiren, nämlich die kanonischen Schriften für die Theologen, das Corpus juris für die Juristen, die Hippokratischen und Galenischen Schriften für die Mediziner6 und Aristoteles für die Philosophie. Gegen Ende des XV. und zu Anfang des XVI. Jahrhunderts wurde dieser Zuschnitt abgeändert durch die Humanisten, welche die beiden klassischen Sprachen um ihrer selbst willen betrieben und nicht mehr ausschliesslich als dienende Magd 5

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Academiae Lipsiensis in saeculi undevicesimi initiis pietatis monumenta. Lipsiae 1801, S. 71, Anm. 14. Eine Erinnerung an diese Zeit bildet die Vorschrift, wonach heute noch Aerzte, die in England den Doctortitel erwerben wollen, einige Kapitel aus Hippokrates oder Galen zu übersetzen haben.

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für die Uebersetzung der Berufsschriften behandeln lassen wollten, um nach der Reformation vom konfessionell kirchlichen Ziel allein in Anspruch genommen zu werden, alles Gestaltungen, welche der Hebung der Naturwissenschaften wenig günstig waren. Dabei war die Aufgabe der Magistri Lectores und Professores stets das Lehren allein; sie waren „praeceptores“, von denen einzelne, wie berichtet wird, bis zu 6–8 Stunden im Tag docirten, ohne je daran denken zu können, sich an der Prüfung des gelehrten Stoffes durch eigene Forschung zu bethätigen, was ihnen an einigen Universitäten ausdrücklich verboten war – musste doch eine Zeit lang, und sogar noch nach der Reformation, jeder Magister in Leipzig bei seiner Anstellung einen Eid auf die Philosophie des Aristoteles leisten.7 Ueberdies war eigenes Forschen sehr gefährlich. Wie es Giordano Bruno und Galilei erging, weiss alle Welt. Auch von dem Anatomen Vesal, der ein staunenswerth grossartiges Werk der Nachwelt hinterliess, wird von Verfolgungen der Inquisition berichtet.8 Eine neue Richtung des wissenschaftlichen Geistes konnte nach den gegebenen Andeutungen nur an aufgeklärten Höfen den Anfang machen, in Deutschland zuerst am Hof zu Hannover unter der Kurfürstin Sophie durch den Einfluss von Leibniz, den er seit Gründung der Akademie von Berlin (Kurfürstin später Königin Sophie Charlotte) dorthin verpflanzte, und dann von 1740 an endgültig und nachhaltig durch Friedrich den Grossen. Erst von da an fand eine andere Auffassung des wissenschaftlichen Lehrberufes auch an den Universitäten Eingang, besonders in Halle 7 8

Schulze, Johann Daniel etc., Abriss einer Geschichte der Leipziger Universität. 1802, S. IX. Es berichtet das Conversationslexikon von Meyer, dass er von der spanischen Inquisition als Zauberer zum Tode verurtheilt wurde und auf der Büsserreise nach Palästina, zu welcher ihn Philipp II. von Spanien, dessen Leibarzt er war, begnadigt hatte, den Tod auch fand. In dieser Form ist jedoch die Erzählung durchaus nicht beglaubigt; denn nach den Forschungen von Roth, Andreas Vesalius, Basel 1892, ist nur soviel sicher, dass Vesal im Jahre 1564 eine Reise nach Jerusalem machte und bei der Rückkehr auf der Insel Zante starb. Als wahrscheinlich ist ferner zu bezeichnen, dass er diese Reise nicht zum Vergnügen, sondern unfreiwillig machte; die Gründe jedoch, welche in einem vom ersten Januar 1565 datirten Briefe genannt sind, dass ihm das Unglück widerfahren sei bei einer Section eines vornehmen Herrn ein noch schlagendes Herz zu treffen und er deswegen von der Inquisition verfolgt wurde, trägt den Stempel der Erfindung deutlich an der Stirn. Ob man trotzdem an die weitere Erzählung von der Inquisition, der Verwendung des Königs und des Hofes um Freilassung des Delinquenten und die ausbedungene Büsserreise glauben mag, bleibt Jedem nach Gutdünken überlassen. Sicher ist aber Eines, dass einem so erfahrenen Mann, wie Vesal, es nie und nimmermehr begegnen konnte, dass er einen Menschen für todt hielt, der es nicht war, weil dies so leicht festzustellen ist. Entweder lag eine falsche Anschuldigung zu Grunde, oder die Erzählung mit der Inquisition u. s. w. wurde damals erfunden. Jedenfalls kann man die Darstellung in Meyer’s Conversationslexikon nicht auf Roth’s Studie beziehen, weil er diese Angabe mit allem Vorbehalt als eine von 3 Lesarten citirt. In protestantischen Ländern konnte zwar die unduldsame Geistlichkeit nicht mit Todesurtheilen jede der Bibel widersprechende Ansicht unterdrücken; aber auch hier trat die harte Gesinnung gelegentlich hervor, so gegen den Philosophen Christian Wolff in Halle, der mit falschen Anschuldigungen von pietistisch-orthodoxer Seite beim König Friedrich Wilhelm I. von Preussen angeschwärzt und von diesem ohne Untersuchung abgesetzt und unter Androhung des Stranges gezwungen wurde, Halle binnen 24 Stunden zu verlassen. Auch dem Leichenbegängniss von Leibniz wollte kein Geistlicher beiwohnen, obschon sich dieser grosse Gelehrte sorgfältig gehütet hatte dem Offenbarungsglauben entgegen zu treten.

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und Göttingen, und zwar im Gebiete der Geisteswissenschaften der philosophischen Facultät zuerst. Als einen weiteren Grund müssen wir die Armseligkeit der Verhältnisse, den gänzlichen Mangel aller Hülfsmittel bezeichnen, „denn einige Tausend Gulden oder Thaler genügten oft bei der Gründung von Universitäten des XVII. Jahrhunderts zur Besoldung von 10 bis 12 Professoren, ein altes Kloster gab die Räume her und Institute wurden nicht verlangt.9 So wurde die Universität Halle10 mit 5400 Thaler Einnahmen gegründet, diese Summe 1709 auf 6700, 1733 auf 7000 Thaler erhöht, um dann für lange Zeit so zu bleiben. Und trotz dieser sehr bescheidenen Verhältnisse müssen wir den Hauptgrund bei den Gelehrten selbst suchen. Hiezu ein Beispiel: Die Zange (forceps obstetricius), welche einen unschätzbaren Fortschritt brachte, wurde im Jahre 1723 in Belgien erfunden und in Paris veröffentlicht, und schon ein Jahr später in der 2. Auflage des verbreiteten Lehrbuches der Chirurgie von Lorenz Heister mit einer Abbildung und einer kurzen Erklärung erwähnt, aber beides – Bild und Text – waren in der (5.) Auflage vom Jahr 1769, also 45 Jahre später, noch unverändert geblieben, trotzdem das Instrument bis 1750 völlig umgestaltet und so brauchbar geworden war wie es heute ist. Wenn Abbildung und Text mit Sicherheit beweisen, dass Heister selbst bis zu seinem Tode (1758) und auch der Bearbeiter der 5. Auflage noch nie ein vervollkommnetes Instrument in den Händen gehabt hatten, und in seinem Buch noch immer bei einer Verwarnung vor dem ursprünglichen Modell stehen geblieben waren, so dürfen wir nicht den Mangel an Freiheit der Forschung oder die Unzulänglichkeit der Hülfsmittel verantwortlich machen, sondern allein die unglaubliche Selbstzufriedenheit der damaligen Praeceptores, die der heutigen Auffassung des akademischen Lehrberufes – selbst zu forschen, selbst zu prüfen und das Bewährte ihres Wissensgebietes bei den Lernenden einzuführen – schlecht entsprachen. Noch liessen sich viele andere Beispiele einer solchen selbstzufriedenen Bequemlichkeit anfügen, doch nach diesem einzigen soll man nicht mehr über die Vielschreiberei unserer Zeit klagen, soweit Thatsachen oder Untersuchungen beschrieben werden; denn wenn auch heute neben dem Weizen manches Unkraut wächst, so bleibt doch mehr Nützliches übrig, als da, wo gar nichts gedieh. Dornröschen Germania musste geweckt werden, doch war der Wecker kein Freund und konnte nur mit grösster Mühe abgewiesen werden. Möge nun das Wachbleiben nachhaltig sein! Eine Besserung an den Universitäten begann durch das Berufungsystem bei der Ernennung der Professoren, wobei die Regierungen sich naturgemäss an die Fakultäten als die Nächstbetheiligten und Sachverständigen um Abgabe von Vorschlägen wandten. Berufungen von auswärts waren bei den mittelalterlich organisirten Universitäten keineswegs vorgesehen und begegneten um der verschiedenen Stellung der schon vorhandenen Lehrer willen einem nicht unbegreiflichen Widerstand, da dieselben 9 10

Lexis; Die deutschen Universitäten. Berlin 1893, Bd. I, S. 25. Schrader; Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle. 1894. Bd. I. S. 92.

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mühsam durch die Artistenfacultät aufdienen und erst den Titel Magister Artium (M. A.) besitzen mussten, um Anstellungen an den „oberen Facultäten“ zu erlangen. Wenn bei der Erledigung von Professuren die Oberbehörde von Leipzig – damals der Oberkirchenrath in Dresden – schon in der Visitations-Ordnung von 1658 und danach öfter den Facultäten einschärfte, nicht blos auf Solche, welche in Leipzig promovirt hatten, zu sehen, sondern auch auf fremde tüchtige Personen, so liegt in der Wiederholung dieser Erinnerung der Beweis, dass der Grund des localen Avancirens nicht bei der Oberbehörde zu suchen ist, und dass wie Gersdorf11 in seiner Geschichte hinzusetzt, diese Mahnung in der Regel vergeblich war. Bei einem Vergleich der einzelnen Universitäten bekommt man den Eindruck, dass der Grundsatz der Freizügigkeit bei den Berufungen an den später gegründeten früher zur Geltung kam, schon weil sie in ihrem Anfang keine Tradition vorfanden. Also nicht die Art der Wahl, nicht der Einfluss der Facultäten auf die Neubesetzungen und auf die Mittel hatte die Besserung zu Stande gebracht, sonst müssten die Universitäten mit Selbstverwaltung die besten gewesen sein, sondern hauptsächlich der Grundsatz, der erst im XIX. Jahrhundert voll zur Anwendung kam, dass für die Vorschläge exact wissenschaftliche Arbeiten massgebend wurden, dass die Lehrer nicht mehr Praeceptores allein, sondern Professores sein sollen, die mit ihrer ganzen Persönlichkeit und mit Ueberzeugung aus eigener Prüfung für das, was sie lehren, einzustehen haben. Dass diese Aenderung sich nur langsam vollzog, und dass die massgebenden Sachverständigen wiederholt irrten und widerstrebten, lässt sich ebensowenig leugnen, als dass Irren menschlich ist. Aber trotz einzelner Fehlgriffe hat sich dieses System so gut bewährt, als sich irgend eine menschliche Institution bewähren kann. „Ueberall bei uns ist Redlichkeit, gründliche Gelehrsamkeit und tiefe Forschung vorhanden: es bedarf nur eines Funkens des Prometheus, um den Geist der Nation zu entflammen“, hat kein Geringerer als Friedrich der Grosse gesagt, der selbst ein Prometheus war; aber für die Naturwissenschaften loderte der Funke erst 80 Jahre später zur hellen Flamme empor, als die nöthigen Hülfsmittel zur Arbeit gewährt wurden. Ungefähr vom Jahre 1820 an beginnt die Theilnahme deutscher Forscher auf dem Gebiete der Physik und Chemie lebhafter zu werden und rasch grosse Erfolge zu erreichen. Ihre Reihe wird selbst dann, wenn man nur die allerverdientesten nennen will, so gross, dass sie sich nicht aufzählen, sondern nur gedruckt lesen lässt. Fulton’s erstes Dampfschiff mit Watt’scher Dampfmaschine. 180612. 1810–1814. König erfindet die Schnellpresse. 1816. Sertürner, Apotheker in Einbeck. Morphium vollkommen rein dargestellt und die Methode zur Gewinnung der Pflanzenalkaloide entdeckt. 11 12

C. G. Gersdorf; Beitrag zur Geschichte der Universität Leipzig, 1869. S. 19. Die Zusammenstellung ist entnommen aus Hans Kraemer, „Das XIX. Jahrhundert“, bearbeitet von A. Neuburger (1899), und aus Urbanitzky, „Die Elektricität im Dienste der Menschheit“. Wien 1885.

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1817. 1818. 1818. 1818. 1820.

1820.

1820. 1820. 1820. 1821. 1822. 1824.

1824.

1825. 1826. 1826. 1826. 1827.

Lithium entdeckt von dem Schweden Arfvedson. Das Kadmium durch Stromeyer in Göttingen, Herrmann in Schönebeck, Meissner in Halle und Karsten in Berlin. Fuchs das Wasserglas entdeckt. Die Erfindung der Lithographie durch Alois Senefelder. Oersted, Professor der Physik in Kopenhagen fand die Ablenkung der Magnetnadel, wenn durch einen Platindraht ein galvanischer Strom geleitet wurde und zwar zeigte die Magnetnadel nach Westen, wenn der galvanische Strom über der Magnetnadel durchfloss und umgekehrt nach Osten, wenn der Strom unter der Nadel durchgeleitet wurde. Ampère, Professor der Mathematik an der „Ecole polytechnique“ in Paris fand, dass wenn ein frei schwebender Platindraht von einem galvanischen Strom durchflossen wurde, dieser sich wie eine Magnetnadel in den Meridian einstellte, und er leitete daraus die Lehre ab, dass bei dem Oersted’schen Versuch es sich um die gleiche Erscheinung handle, wie bei zwei Magneten, die einander abstossen. Schweigger, Professor in Halle erfand das Galvanometer. Chinin durch Caventou und Pelletier isoliert. Mitscherlich, die Gesetze des Isomorphismus. Döbereiner, Darstellung des Aldehyds (Al[kohol]dehyd[rogenatus]). Döbereiner’s Zündlampe. Seebeck entdeckte die Thermo-Electricität. Arago vervollständigte die Versuche Oersted’s und Ampère’s und zeigte, dass eine vom galvanischen Strom durchflossene Platinnadel nicht nur die Magnetnadel ablenkte, sondern auch Eisenfeilspäne anzog, und dass man Eisenstücke durch galvanische Ströme in bleibende Magnete verwandeln könne. Im gleichen Jahre machte Arago noch den Versuch, bei dem eine frei schwingende Magnetnadel durch unter sie gebrachte Scheiben von Metall zur Ruhe gestellt und durch Drehen der Scheiben zum Mitdrehen gebracht wurde. Stephenson’s erste Lokomotive A. Nr. 1. Unverdorben, Darstellung des damals Krystallin genannten Präparates beim Destilliren von Indigo, welche nach A. W. Hoffmann’s Nachweise (1843) das Anilin war. Chevreul, Darstellung des Margarin. Balard, das Brom. Ohm, veröffentlichte „die galvanische Kette, mathematisch bearbeitet“, welche die fundamentalen Lehrsätze über die elektromotorische Kraft, den Leitungswiderstand und die aus beiden resultirende Stromstärke enthielt. Es war das 1 x 1 der Elektricitätslehre, welches den Entdecker des Gesetzes unsterblich machte. So wenig wurde jedoch der Werth jener Entdeckung verstanden, dass das Buch in seiner ersten 757

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1827. 1828.

1828. 1828.

1829. 1831.

1831. 1833. 758

Auflage vom Verleger fast vollständig wieder eingestampft werden musste und Ohm, als er sich auf diese Schrift hin in Erlangen zur Habilitation meldete, abgewiesen wurde. Wöhler, Entdeckung des Aluminium und des Beryllium und 1828 die grösste organische Entdeckung, dass der Harnstoff aus unorganischen Bestandtheilen, Kohlensäure und Ammoniak künstlich aufgebaut werden könne, weil dies für die Biologie den Satz begründete, dass das Leben nach physikalischen und chemischen Gesetzen verlaufe. Gmelin, das künstliche Ultramarin. Berzelius, das Thorium (das Metall der Auerglühkörper) die chemische Eintheilung der Mineralien, die Löthrohrprobe, die grossen Fortschritte der anorganischen und physiologischen Chemie. Berzelius entdeckte das Silicium, Zirkonium, das Tantal, das Selen, die Zusammensetzung der Mineralsäuren, die Ausbildung der Atomtheorie überhaupt war er ein Forscher, der die Chemie umgestaltete, wie Keiner vor ihm. Liebig’s erste Arbeit betraf die Knallsäure und das knallsaure Quecksilber. Er wurde 1826 Professor der Chemie in Giessen und gründete daselbst das erste Unterrichtslaboratorium. Die heutige organische Chemie verdankt hauptsächlich den zahlreichen Entdeckungen Liebig’s ihre Grundlage. Die Methoden der Vergoldung, Versilberung, Vernickelung sind Liebig’s Erfindungen. In dem Nekrolog, dem A. W. Hoffmann, Berlin, gewiss ein sehr competenter Beurtheiler verfasste, sagt er von Liebig: „Wenn man die Summe dessen ins Auge fasst, was Liebig für das Wohlergehen der Menschen auf dem Gebiete der Industrie, des Ackerbaues oder der Pflege der Gesundheit geleistet hat, so darf man kühn behaupten, dass kein anderer Gelehrter in seinem Dahinschreiten durch die Jahrhunderte der Menschheit ein grösseres Vermächtniss hinterlassen hat.“ Wöhler war Schüler von Berzelius und blieb mit ihm und Liebig lebenslang in inniger Freundschaft verbunden. 1. Oktober Stephenson’s Lokomotive „Rocket“ eröffnet den Eisenbahnbetrieb der Welt mit dem ersten Röhrenkessel. Faraday beobachtete, dass wenn in einem Draht ein elektrischer Strom erzeugt wird, in einem benachbarten Draht ebenfalls ein Strom entsteht. Entdeckung der Inductionselektricität. Es entstehen Ströme, wenn man einen Magneten in eine Drahtspirale hineinsteckt oder daraus herauszieht (magneto-elektrischer Inductionsstrom). Damit war der Grund gelegt für den elektromagnetischen Telegraph. Souberain und Liebig stellten, unabhängig von einander, aus Alkohol ein Präparat dar, welches 1834 durch Dumas genauer untersucht und Chloroform benannt wurde. Graham’s Arbeit über die Constitution der Phosphorsäure.

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1833.

Wilhelm Weber und Gauss erstellen den ersten magneto-elektrischen Telegraphen zwischen dem physikalischen Institut und der Sternwarte in Göttingen. 1833. Faraday’s Voltameter und die Elektrolyse. 1833. Melloni’s Thermomultiplicator. 1833. Daniell, das Hygrometer. August, das Psychrometer. Brunner (Herm.), der Aspirator zur Bestimmung der Feuchtigkeit der Luft. 1834. von Plateau und Stampfer, die Stroboskope oder wie sie heute heissen „Kinematograph oder Mutoskop.“ 1834. Runge (Berlin) entdeckte das Anilin aus Steinkohlentheer (Kyanol oder Blauöl genannt) und die Carbolsäure (Phenol). 1834. Mitscherlich (Berlin), Entdeckung des Benzol und Nitrobenzol. 1836. Daniell, das nach ihm benannte Element. 1837. Wagner, J. B. (Frankfurt) erfindet den elektromagnetischen Hammer. 1837. Steinheil vollendet den ersten Nadeltelegraphen mit einem Schreibapparat und benutzte die Erde für die Rückleitung des Stromes. 1839. Jacobi, M. H., Entdeckung der Galvanoplastik. 1839. Am 19. August wurde von Arago die bis dahin geheim gehaltene Entdeckung Daguerre’s die sogenannte Daguerrotypie in der französischen Akademie mitgetheilt. 1839. Erfindung des Stereoskops. 1840. Schönbein, das Ozon. 1840. Farraday, die Dampfelektricität. Sadi Carnot’s Wärmetheorie. 1841. Robert Mayer, das Gesetz der Erhaltung der Kraft. 1844. Stöhrer’s magnet-elektrische Maschine. 1845. Kopp, Entdeckung der rothen Modification des Phosphors. 1845. Schönbein erfindet die Schiessbaumwolle, den Grundstoff der heute gebräuchlichen rauchlosen Pulver. 1845. Rose, Heinrich (Berlin), die Entdeckung der Monohydrate der Salpetersäure und Schwefelsäure. 1846–1849. Kirchhoff, Die Verzweigung elektrischer Ströme. 1847. Wilh. Weber, Das Elektrodynamometer und das absolute Maassystem der Elektricität. 1847. Helmholtz, „Ueber die Erhaltung der Kraft“. 1848. R. Böttger (Frankfurt), Erfindung der sogen. schwedischen Zündhölzer. 1849. Fizeau, Apparat zur Bestimmung der Geschwindigkeit des Lichtes. 1851. Helmholtz, Untersuchungen über physiologische Optik, Irradiation, Accomodation und Erfindung des Augenspiegels, der letztere verbessert von Coccius. 1851. Foucault’s Pendelversuch. 1858. erschien Darwin’s Buch: Ueber die Entstehung der Arten. 759

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1858. 1858. 1858. 1859. 1861. 1861. 1866.

1870. 1872. 1874. 1876. 1877. 1877. 1877. 1878. 1878. 1879. 1882.

1891. 1891. 1894. 1895. 760

Pasteur’s Lehre der Gährung. A. W. Hoffmann, Die Anilinfarbenherstellung. Kekulé (Bonn), die Lehre von der Vieratomigkeit und Constitution des Kohlenstoffes und des Benzols. Bunsen, das nach ihm benannte galvanische Element, besonders aber mit Kirchhoff zusammen die Spectralanalyse. Hartnack, die Wasserimmersion beim Mikroskop. Philipp Reis in Friedrichsdorf bei Homburg erfindet das erste Telephon. Werner Siemens (Berlin) entdeckt das dynamoelektrische Princip. Es besteht dieses darin, das der geringe Magnetismus, welcher in Elektromagneten aus weichem Eisen zurückbleibt, nachdem dieses Eisen durch einen elektrischen Strom magnetisch gemacht worden war, benützt wird, um in einer ihm vorüber bewegten Drahtspule ebenfalls einen, wenn auch zunächst nur sehr schwachen Strom zu erzeugen. Wird dieser in der Drahtspule erzeugte Strom in bestimmter Richtung (Gramme’s Ring) um die Elektromagnete geleitet, so wird der Magnetismus in denselben erhöht. Beim Weiterdrehen wiederholt sich dasselbe Spiel bis die Elektromagnete gesättigt sind. So wird durch mechanische Kraft elektrische Kraft erzeugt, die nun beliebig wieder zu Licht, zur Kraftübertragung, zur Wärmebildung verwendet werden kann. Die Verflüssigung der Gase durch Faraday. Gramme’s Ring besteht in einer eigenthümlichen Wickelung der Drahtspiralen. Kolbe, synthetische Salicylsäure. Bell auf das Telephon Patent genommen. Raoul Pictet, Verflüssigung der Luft. Edisons Phonograph. Edison’s Glühlampe. Das Auer-Licht. A. von Baeyer, künstlicher Indigo. Die Gleichstrommaschine und die erste elektrische Eisenbahn von Werner Siemens in Berlin. Scheibler, das Strontianverfahren in der Zuckerfabrication. Emil Fischer’s Synthese des Traubenzuckers. Die Lehre der räumlichen Lagerung der Atome, die Stereochemie von Wislicenus. Moissan’s elektrischer Ofen. Die Transformatoren und der Dreiphasenstrom (elektrische Ausstellung in Frankfurt a. M.). Die Experimente von Heinrich Rudolf Hertz, Vergleich zwischen Elektricität und Licht. Das „Tesla“ Licht. Versuch mit hochgespannten Strömen.

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1895. 1897. 1897.

Die Röntgen Strahlen. Marconi’s drahtlose Telegraphie. Linde, die Maschine zur Herstellung flüssiger Luft. Die Verbesserungen der Mikroskope durch Abbé in Jena.

Als grosser Wegweiser für die Medicin wurde die erste Impfung genannt; aber gerechterweise muss nachgetragen werden, dass auch in dieser Wissenschaft ein gut bearbeitetes Gebiet am Ende des XVIII. Jahrhunderts schon bestand, nämlich die makroskopische Anatomie, und dass gerade Deutschland auf seinen Universitäten in jener Zeit mehrere bedeutende Forscher zählte, wie z. B. A. v. Haller, Blumenbach und Rosenmüller, der in Leipzig wirkte. Auch die Chirurgie und Geburtshilfe, welche damals meistens noch in einer Hand, ja in der Regel sogar mit der Anatomie vereinigt waren, sind in technischer Beziehung anerkennenswerth entwickelt gewesen. Um so wunderlicher sah es vor 100 Jahren und noch weit in unser Zeitalter hinein im Gebiet der inneren Krankheiten aus, wo verschiedene Erscheinungen wie z. B. Fieber und Entzündungen, dann diejenigen bei Nervenkrankheiten, bei acuten und chronischen Infectionskrankheiten den Stoff lieferten für eine unglaubliche Menge von Speculation und Phantasie. Es wäre ja am angenehmsten für unsere Wissenschaft, wenn man diese Verirrungen als längst überwundenen Kram und Aberglauben und als weit hinten im Gebiet der Sagenwelt liegend bezeichnen könnte; doch wo ein geschichtlicher, d. h. wahrheitsgemäss vollständiger, wenn auch kurzer Rückblick den Inhalt bilden soll, würde es der Aufgabe nicht entsprechen, wenn man die unangenehme Zeit, welche etwa von 1730–1830 dauerte, ganz überschlagen wollte. Alle Zuhörer werden sich von der damaligen Verfassung der Lehre über innere Krankheiten ein Bild machen können, wenn wir berichten, dass Begriffe wie Phlogiston, Anima, Animismus, Irritabilität und Sensibilität, Spiritus vitae, Vitalismus, Brownianismus, und dergl. mehr die Aerzte beschäftigten, welche in unserem Jahrhundert durch Systeme wie die Lehre vom Stimulus und Contrastimulus, Homoeopathie, Isopathie und dasjenige der Specifica von Rademacher abgelöst wurden. Da diese Systeme heute beim Lesen wie tolle Märchen anmuthen, will ich diejenigen, welche vergessen sind, nicht ausgraben und auch der einzigen Irrlehre, die aus dieser Nacht der medicinischen Wissenschaft noch übrig geblieben ist, nicht die Ehre der Erörterung gönnen. So weit diese Systeme ehrlich zu nehmen sind, müssen sie als unglaubliche Verirrungen13 des Menschengeistes bezeichnet werden. 13

Dass sie Anhang fanden, kann Niemand verwundern, weil auch heute noch, wenn von irgend einem gelehrten oder ungelehrten Zauberer mit dem nöthigen Selbstbewusstsein und entsprechender Reklame, die Probe auf den sogenannten gesunden Menschenverstand gemacht wird, und heisse der Zauber Nackenhaare oder Heilmagnetismus, er immer wieder ein Heer von Gläubigen um sich sammeln wird, weil die Kranken den Ertrinkenden zu vergleichen sind, die bekanntlich nach einem Strohhalm greifen, an sich ein Bild, welches für den grössten Mangel an gesundem Menschenverstand spricht, da ein Strohhalm noch nie vor dem Ertrinken bewahrt hat. Und doch wird dieser bange Griff nie aufhören in der Todesangst und im Ueberdruss bei langwierigen Krankheiten. Aber die Zahl derer, die sich durch Schwindel und Reclame einfangen lassen, ist heute grösser als je, Dank

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Dieser Hang zum Philosophieren hat die Medicin auf den tiefsten Stand gebracht, den sie je in der Geschichte einnahm, und wenn auch nicht mehr zu ergründen ist, wie die Einzelnen auf ihre Fehlschlüsse kamen, so kann man doch vermuthen, dass der Zeitglaube und die Neigung zum Philosophiren im XVIII. Jahrhundert zur Uebertragung dieser Art von Geistesarbeit in die Medicin verleitet habe, wo sie zum Spiel mit unbekannten Grössen ausartete. Es musste erst die Einsicht zur Geltung kommen, dass man in der Medicin nicht nach mathematischen Gesetzen rechnen könne, bei denen man aus einem kleinen Theil der Bewegung die Formel berechnen und dann aus dieser das Ganze und jedes Einzelne übersehen, sondern nur aus der Erforschung des Einzelnen zur Erkenntniss des Ganzen gelangen könne, und dass bei den unerschöpflich mannigfaltigen Störungen der Gesundheit erst eine bis ins Kleinste gehende Detailforschung an die Stelle der philosophischen Speculation zu treten habe. Wenn die Stützen des logischen Gebäudes richtig sind, d. h. in den Naturwissenschaften die Analogieschlüsse sich streng an Beobachtungen halten, so werden auch die Ergebnisse richtig bleiben. Dafür legt die Entdeckung des ersten krankmachenden Pilzes des Achorion Schönleinii (durch Schönlein 1839) und des Soorpilzes (durch Berg, Gruby und Langenbeck 1840 unabhängig von einander entdeckt) glänzend Zeugniss ab. Sofort schlossen Henle und Pfeuffer (in ihrer Zeitschrift für rationelle Medicin), dass alle acuten Infektionskrankheiten durch Parasiten bedingt sein müssten, und sie haben mit ihren Ausführungen Recht behalten, obschon die Beobachtung erst 40–50 Jahre später die Beweise bringen konnte. Wiederholt ist von kritischen Medicinern unserer Zeit der Satz geschrieben worden, dass zwar die alten Systeme und grossen Irrthümer überwunden, aber viele kleine an deren Stelle getreten seien und dass vielleicht in wieder 100 Jahren das heutige Wissen ebenso hart beurtheilt werden könne, wie heute die alte Zeit. Das muss zur Selbstprüfung mahnen, aber die Prophezeiung ist nicht zu fürchten; denn diese Systeme beruhten nicht auf Irrthümern der Beobachtung, die natürlich immer vorkommen werden, sondern waren nur Phantasie. Wo durch Beobachtungen ein festes Wissen im Alterthum oder in letzten Jahrhunderten erreicht wurde, da steht es auch heute noch fest. Uneingeschränkt tönt noch heute das Lob eines Leopold von Auenbrugger in Wien (Erfinder der Perkussion), eines Wichmann (Hannover), eines Johann Peter Frank in Halle, eines Autenrieth in Tübingen und v. A. für ihre damaligen wissenschaftlichen Funde, aber es fällt auch für einige von ihnen das Lob wieder weg, wo sie zu philosophiren begannen. Die wissenschaftliche Arbeit hat in der Medicin seit etwa 100 Jahren eine so völlig andere auf Beobachtung begründete Richtung genommen, dass die neuen Thatsachen der jetzigen Gesetzgebung des deutschen Reiches. Und wenn auch dieser Hang der Menschen immer bleiben wird und viele Schwindler trotz der alten Gesetzgebung ihr Wesen treiben konnten, so ist doch eine Einschränkung des Unwesens nöthig aus denselben Gründen, wie gegen den Wucher; denn obschon das Wuchergesetz das entsprechende Unwesen auch nicht tilgt, vermindert es doch wesentlich dessen Gemeinschädlichkeit. Kluge, logische Leute brauchen das letztere Gesetz so wenig als das erstere. Es gibt aber noch immer sehr viele, für welche beide Gesetze sehr nöthig sind.

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so wenig verwischt werden können, als es mit den anatomischen Forschungen der letzten Jahrhunderte geschieht. Der Anstoss zum Besseren ging von der pathologisch-anatomischen Forschung aus und kam aus Italien und Frankreich. Man hat, um die Unterschiede der Forschungsrichtung kurz zu bezeichnen die Arbeit in Morgagni’s grossem epochemachenden Werk (de sedibus et causis morborum 1761) als Regionismus bezeichnet, weil er in der Regio corporis – der Körpergegend – die Veränderungen, welche die Krankheiten hinterlassen, suchte, während die französische Forschung (von Corvisart, dem Chefarzt der Napoleonischen Armeen, Bichat und seinen ausgezeichneten Schülern Laenec und Dupuytren) ihre Aufmerksamkeit auf die Organe richtete und deswegen kurz Organicismus genannt wurde. Wesentlich auf dieser Grundlage arbeitete die Wiener Schule weiter unter dem berühmten Rokitansky, während in Berlin durch Benutzung des Mikroskopes und die Anwendung aller Hülfsmittel der Physik und Chemie eine neue Richtung begründet wurde. Hier waren es Johannes Müller und seine Schüler, Schleiden und Schwann, welche die Zelle als Grundsubstanz bei Pflanze und Thier entdeckten und vorzugsweise der grösste Schüler von Johannes Müller, der Heros der medicinischen Wissenschaft Rudolf Virchow, welche die neuen Wege ebneten. Das Verdienst dieser Männer besteht darin, in der Zelle als der Organe und des Organismus Grundsubstanz das Leben und Vergehen, das Gesund- und Kranksein gesucht zu haben. Virchow selbst und seine zahlreichen ausgezeichneten und berühmten Schüler, und die anderen deutschen pathologischen Anatomen, die wir nicht nennen können, weil das Abwägen von Verdiensten, wenn es sich um Lebende oder vor Kurzem Verstorbene handelt bei einer solchen Gelegenheit nicht angebracht ist, gründeten im Lauf der letzten 50 Jahre den Bau der Cellularpathologie, die hunderte von ungelösten und räthselhaften Fragen erschöpfend klärte und heute die Grundlage bildet für die gesammte medicinische Wissenschaft. Unwillkürlich muss Jeder, der die Monadentheorie in der Philosophie von Leibniz kennt, an die Analogie mit der heutigen Zellenlehre denken. Wenn man jedoch jene Sätze des geistreichsten Menschen seiner Zeit weiter liest, hört die Zustimmung auf, weil die Detailforschung unseres Jahrhunderts so völlig anders entschieden hat, als selbst dieser grosse Mann, aus logischer Deduction vermuthet hatte, aber auch ganz anders, als die kleineren Geister, welche 50 Jahre später an der Berliner Akademie diese Theorie zerpflückten. Mit der Vertiefung der Wissenschaft wurde die Arbeit zu umfangreich und zweigten sich deshalb von den Fächern der medicinischen Facultäten des XVIII. Jahrhunderts – den Professuren der Therapie, der Pathologie und der AnatomieChirurgie – im Laufe des XIX. Jahrhunderts viele neue ab, von denen heute jedes einzelne die Arbeitskraft eines Docenten ganz in Anspruch nimmt und in denen die Deutschen, ohne einen unbescheidenen Anspruch zu erheben, in vielen die Führung übernahmen und in allen Hervorragendes leisteten. So haben sich von der Anatomie abgetrennt die Physiologie, wo wir von Deutschen nur 2 als Beispiel nennen wollen: Helmholtz und Carl Ludwig; ferner die Histologie und die Embryologie; von der Pathologie trennten sich ab die pathologische Anatomie und Psychiatrie, von der 763

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Therapie die Pharmakologie; von der Chirurgie die Geburtshülfe und Gynäkologie, die Ophthalmologie und die Otiatrie. Ferner sind ganz neu erstanden die Hygiene, die Bakteriologie und die Dermatologie. Alle operativen Fächer insbesondere die Chirurgie, Geburtshülfe und Gynäkologie haben unter dem Segen, den die grossen Wohlthäter des Menschengeschlechtes – Semmelweis und Lister – stifteten und nach der Einführung der Narkose eine noch vor 30 Jahren selbst von Fachmännern nicht für möglich gehaltene Leistungsfähigkeit gewonnen. Welche Errungenschaften haben die wissenschaftliche Hygiene eines Pettenkofer und die erst 20 Jahre bestehende Bakteriologie eines Robert Koch schon gebracht, welcher letztere gerade, weil nach dem Tode Pasteur’s von französischen Autoren wiederholt für diesen zu viel in Anspruch genommen wird, als der eigentliche Begründer der modernen Bakteriologie hervorgehoben werden muss. Ebenso gewiss als die Beweise von Pasteur für die Art und das Wesen der Gährungsvorgänge und seine künstlichen Nährböden aus unorganischen Substanzen Entdeckungen waren, die eine neue Zeit eröffneten und ihren Entdecker mit Recht bei den Unsterblichen der französischen Nation, im Pantheon, betteten, so ist es doch unleugbar, dass die damalige Bakteriologie mit den flüssigen Nährböden trotz der feinen scharfsinnigen Einrichtungen und Apparate auf einem toten Punkte angelangt war und die ganze Methodik von Robert Koch mit den festen Nährböden, mit der systematischen Isolirung der Keime und der strengen Beweisführung ihrer Wirkung eine neue Welt entdecken lehrte. Es entspricht der Wahrheit und Gerechtigkeit nicht, wenn man die Verdienste von Robert Koch in Beziehung auf die heutige Bakteriologie an die zweite Stelle setzt. Als Robert Koch 1882 den Tuberkelbacillus demonstrirte und seine Methode veröffentlichte, war es der 6. pathogene Keim, den man kennen lernte. Seitdem sind über 800 wohl charakterisirte pathogene und nicht pathogene Mikroben durch diese Methode entdeckt worden.14 In den Naturwissenschaften und der Medicin ist das frühere Deficit der Deutschen mehr als ausgeglichen worden, und stehen in der ganzen Welt, selbst bei Neidern und Feinden heute ihre Leistungen im höchsten Ansehen. Nur weil Stolz ein grundsätzlich falsches Wort ist, wo es sich um Verdienste Anderer handelt, wollen wir es unausgesprochen lassen, und nur der innigen Freude Ausdruck geben, die jeden Deutschen beseelen darf. Dieses Gefühl muss auch Jeden erheben, welcher die Leistungen der Chemie auf der diesjährigen Weltausstellung in Paris sah. Die schlichte aber geschickte Zusammenstellung der von deutschen Chemikern gefundenen und dargestellten Präparate spricht ein lautes Lob für die Schulen der Chemie und nicht minder für die Lehrer der Physik und Technik die grosse Reihe wunderbarer Maschinen von derjenigen Linde’s zur Herstellung flüssiger Luft bis zu dem zauberhaften Riesenrad der Elektrodynamomaschine, dem grössten der Ausstellung (von der allgemeinen Elektricitätsgesellschaft-Berlin), dessen Bewegung man nicht sieht, dessen Gang man nicht hört, sondern nur am Luftzug bemerken kann, und 14

Genau beträgt die Zahl der bis jetzt bekannten Mikroben der „Kral’schen Sammlung von Mikroorganismen in Prag“ 840.

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das in aller Stille an Energie 4500 Pferdekräfte zur Verfügung stellt, ungefähr eben so viel, als die Wasserwerke der Rhone bei Genf, oder als die Wasserwerke des Rheins bei Rheinfelden. Wir haben schon oben auseinandergesetzt, welche Bedeutung die Anforderung eigener Forschung für die Lehrer und der Hinweis auf selbständige Bethätigung an die Schüler für den Fortschritt der Wissenschaften eingebracht hat und nach der Summe der Jahrhundert-Arbeit hat Deutschland allen Anlass diese Entwicklung der Hochschulbildung sorgfältig zu bewahren; denn dass z. B. heutigen Tages die grössten Chemiker gerne Hochschullehrer sind und bleiben wollen, ist für den Wohlstand und das internationale Ansehen von höchstem Werth, nimmt doch die chemische Industrie Deutschlands zur Zeit mit mehr als 320 Millionen Mark (genau 328 im Jahre 1890) jährlichem Export eine der ersten Stellen unter den Ausfuhr-Industrien ein. Das kann nur so bleiben, wenn in diesen Fächern die Intensität des Unterrichtes gefördert und nichts zugelassen wird, was dieselbe schmälert.15 Die fremden Fachgenossen wundern sich, wenn sie die deutschen Universitätseinrichtungen studiren, am meisten über die grosse Zahl der wöchentlichen Lehrstunden, und wir können uns eines Staunens nicht enthalten, zu hören, dass z. B. in Paris, dieser Centrale der medicinischen Wissenschaft alle Kliniken nur zweimal wöchentlich je 1 Stunde abgehalten werden. Auch die Zahl der Studirenden der Medicin ist gegenüber dem XVIII. Jahrhundert völlig verändert. Damals war die medicinische Facultät stets am schwächsten besucht, oft verschwindend gering gegen die 3 anderen. Diese Erscheinung ist einfach zu erklären, doch keineswegs, wie es schon vermuthet wurde, durch die grössere Wohlhabenheit und die gesteigerte Körperwerthung allein, sondern durch das Eingehen der ehemaligen Chirurgenschulen, welche bis in das jetzige Jahrhundert bestanden und früher weit mehr Praktiker ausbildeten, als die Facultäten. Es ist ein pietätvoller Rückblick, dem diese Rede gewidmet sein soll und dabei zunächst Rücksicht zu nehmen auf diejenige Anstalt, der wir selbst angehören. Auch hier dürfen alle Betheiligten mit der Summe der Jahrhundert-Arbeit sehr zufrieden sein, weil ein Aufblühen in jeder Richtung zu Stande kam, wie binnen fast 500 Jahren noch nie. Alle Angehörigen der Universität Leipzig wissen, dass wir diese Entwicklung der warmen Fürsorge und persönlichen Antheilnahme des Königs Johann, der selbst ein Gelehrter war, und der noch grösseren Huld und Gnade unseres jetzigen erlauchten Rector magnificentissimus Sr. Majestät des Königs Albert zu danken haben, welcher persönlich und durch die Regierungsorgane der Universität alle Zeit in einer nicht zu übertreffenden Weise wärmste Förderung und Aufmunterung zu Theil werden lässt. Die reichliche Ausstattung mit Instituten und allen nöthigen Hülfsmitteln und die fleissige darin geleistete Arbeit haben aber 15

Zur letzten Kategorie gehört selbstredend die Creirung des Titels als Dr. ingenieur durchaus nicht; denn wo die intensive Arbeit geleistet wird, ist gleichgültig. Aber ob das Gesetz der Collegiengeld-Steuer in Preussen nicht mindernd auf die Intensität des Unterrichtes wirken wird, muss abgewartet werden.

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auch die Universität in eine so angesehene Stellung gebracht, dass sie als ein ruhmvolles Denkmal für königliche Fürsorge und zum Segen des Landes, das die Mittel spendet, dasteht. Ueberblicken wir schliesslich, welchen Einfluss die Naturwissenschaften und Medicin auf die allgemeine Cultur geübt haben, so ist derselbe augenscheinlich grossartig, denn sie haben die Welt umgestaltet und haben, was noch vor 100 Jahren als ein phantastischer Traum gegolten hätte, zur Wahrheit gemacht. Der Fortschritt ist auch bei der Medicin grossartig, wenn auch oft nicht spürbar, oft bestritten, weil hier der alte, aber unlogische menschliche Hang, von der Einzelerfahrung auf das Ganze zu schliessen, manchen unbilligen, ja ungerechten Abzug an der grossen Summe des Guten bedingt. Die Weltseuchen, diese Würgengel des Menschengeschlechtes, welche jedesmal, wenn sie auftraten, die Länder entvölkerten, haben ihren Schrecken verloren, trotzdem der riesige Verkehr die Gefahr der Uebertragung vergrössert. Wir dürfen keinen Augenblick vergessen, dass die Leistung der wissenschaftlichen Hygiene im Jahre 1892, als die Cholera in Hamburg war und trotz Aufrechthaltung des Verkehrs von den umliegenden Städten insbesondere von Berlin fern gehalten wurde, einen unvergesslichen Erfolg darstellt. Was ist es heute eine Wohlthat, dass man mit aller Gemüthsruhe in der Zeitung lesen kann: die Pest ist in Oporto, ist in Glasgow, ist in London. Welcher Fortschritt gegen früher, wo man sie nicht zu bekämpfen verstand und schon bei der ersten Kunde ihres Auftretens Todesangst die Menschen ergriff, weil die dumpfe Ahnung sich verbreitete, dass nun Hunderttausende zum Opfer fallen werden. Die schlimmste unter den Volksseuchen, weil ihre Uebertragbarkeit am grössten ist, die Pocken, haben durch die Impfung ihren decimirenden Einfluss auf die Kinderwelt eingebüsst, und die riesige Volksvermehrung erst ermöglicht, welche eine Signatur unseres Zeitalters ist; die Diphtherie, welche für die Kinderwelt eine ähnlich schlimme Bedeutung erlangte, ist durch ein von Behring ingeniös aufgefundenes Impfmittel mit glänzendem Erfolg zu bekämpfen und wird wahrscheinlich in 1–2 Generationen ihren bösartigen Charakter verloren haben. Solcher auf streng wissenschaftlicher Forschung errungener specifischer Impfmittel, die als ausgeprüft bezeichnet werden können, besitzen wir noch eines gegen die Tollwuth (Lyssa) von Pasteur, und auf einige weitere kann man hoffen, welche jedoch der Prüfung erst noch bedürfen. Mit unermesslichem Triumph für den forschenden Menschengeist schliesst das Jahrhundert ab; doch wollte man den höchsten Preis aller Wissenschaft in vermehrter Zufriedenheit und irdischer Glückseligkeit suchen, eher mit einem Deficit, weil, wie das oft missbrauchte Schlagwort lautet, der Kampf ums Dasein schwieriger geworden ist. Die Uebertragung des Begriffes Darwin’s „Kampf ums Dasein“ auf die menschlichen Verhältnisse in Friedenszeiten ist in der Regel zu tragisch, weil er implicite für den Fall des Unterliegens das Nichtsein oder das Untergehen einschliesst, und weil es sich selbst unter Thieren derselben Species zunächst nur um den Wettlauf um das Futter oder, kurz gesagt, um Futterneid handelt. Ein Kampf ums Dasein ist nur, weil sie die Nahrung darauf anweist, bei den Raubthieren vorhanden. Fassen wir also die Verhältnisse der gesitteten Menschen ins Auge, so ist die Versorgung mit 766

Antrittsrede 1900

Nahrung besser gesichert gewesen, als in irgend einem früheren Zeitalter, indem die traurigen Zustände von Theuerung und Hungersnoth in den letzten 50 Jahren Deutschland und Westeuropa nicht mehr heimgesucht haben. Ueberall, auch in den arbeitenden Klassen hat sich in Deutschland, wie die statistischen Zahlen beweisen, die Lebenshaltung gebessert. Nur weil die Ansprüche überall gestiegen sind, weil das Bewusstsein abhanden kommt, wie die früheren Zustände waren, wird die Thatsache oft verkannt, dass die gesammte Menschheit in 100 Jahren einen unübersehbaren Fortschritt gemacht hat, wie er in gleicher Grösse sich nicht wiederholen kann. Die Zufriedenheit des Einzelmenschen ist ein subjectives Gefühl und hängt ganz von seiner Gemüthsverfassung ab, aber dazu hätten Alle Anlass, die nicht mit Nahrungsorgen oder Krankheit zu kämpfen haben. In den Wissenschaften führt sie, wie uns das Bild des XVIII. Jahrhunderts zeigte, leicht zur Selbstzufriedenheit und ist deswegen nicht einmal ein Ideal, weil nur das Nichtbefriedigtsein den Ansporn giebt zum Verbessern. Gehoben durch die Erinnerung an eine schöne Vergangenheit und voll froher Hoffnung auf die Zukunft, gehen wir dem neuen Jahrhundert entgegen. Wenn das Schicksal zu mir träte Und mich fragte ernsten Blicks: „Sohn, was hast du dir erlesen Freud’ an dem so einst gewesen? Oder Hoffnung künft’gen Glücks?“ Sieh, ich spräch: lass mich nicht wählen! Keines darf im Leben fehlen, Soll das Leben herrlich sein; Nicht mit seinem milden Flimmer Der Erinnerung Abendschimmer, Nicht der Hoffnung Morgenschein! (Karl Förster). Auf Ihnen, meine Herren Commilitonen, und der gesammten Jugend, die jetzt vor der Schwelle des selbstthätigen Lebens steht, und der nach menschlicher Voraussicht die Hälfte des neuen Jahrhunderts angehören wird, ruht unsere Hoffnung. Ihnen übergiebt das zur Neige gehende Zeitalter ein grossartiges Vermächtniss; denn was nur irgendwie durch Fleiss und Ausdauer, durch Geisteskraft und Tapferkeit geleistet werden kann, das ist von Ihrem Volk geleistet worden. Von einer jungen Generation erwartet die ältere nie, dass sie für das in Aussicht stehende Erbe mit Worten danke, sondern dass sie durch treue Pflichterfüllung sich des Erbes würdig erweise, indem sie das mühsam Errungene erhält und mehrt. Sie sollen ja Mitstreiter sein – aber nur in Werken des Friedens, weil diese allein eine Zukunft ohne drohende Wolken verbürgen und die vorhandenen am ehesten beschwören können. Dazu richten Sie allezeit Ihren Sinn darauf, dass Jeder an seinem Theil zur Erhaltung des wissenschaftlichen, des innerlich-tüchtigen und arbeitsfreudigen, des sittlich-ernsten und 767

Paul Zweifel

mannesmuthigen Ansehens, das heute die Deutschen geniessen, beitrage. Die Bahn zum Entfalten Ihrer Kräfte in Werken des Friedens ist frei. Folgen Sie diesen Wegweisern und verbreiten Sie diese Grundsätze, damit in wieder 100 Jahren auch für Sie und die Ihnen folgenden Generationen der Ruhm gespendet werden kann: „sie haben ihre Pflicht erfüllt.“ ***

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31. October 1901. Rede des abtretenden Rectors Dr. med. Paul Zweifel. Bericht über das Studienjahr 1900/01. Hochansehnliche Versammlung! Die Thätigkeit an einer Universität ist ihrem innersten Wesen nach zu vergleichen mit derjenigen eines Säemanns, der das Saatkorn in die Furchen streut. Der Bericht jedoch, den der vom Amt scheidende Rector zu erstatten hat, muss darauf verzichten, ein Bild des vielseitigen Lebens und Webens dieser Hochschule zu entwerfen, weil die ganze Anstalt zu gross ist und ihre Ziele zu verschieden sind, als dass sie sich übersichtlich zusammenfassen liessen. Der Bericht kann sich nur über die äusseren Ereignisse, über den Bestand des Lehrkörpers und der Studirenden und diejenigen Veränderungen erstrecken, welche dieser binnen Jahresfrist erfuhr. Im allgemeinen kann das abgelaufene Jahr als ein recht glückliches bezeichnet werden, in dem die ernsten Ereignisse der grossen Welt die stille Arbeit der Universität nicht gestört haben. Leider war uns jedoch in diesem Jahre nicht vergönnt, uns der Gegenwart Sr. Majestät des Königs Albert und Ihrer Majestät der Königin Carola in üblicher Weise zu erfreuen. Doch leben wir der Hoffnung, dass Ihre Majestäten bald wieder in Leipzig weilen können. Dankbar gedachten wir an Königs Geburtstag der vielen Wohlthaten und Gnadenbeweise, welche die Universität in reichem Maass empfangen hat und feierten den 23. April durch einen Festact in der Aula, bei welchem der Prorector, Geheimer Hofrat Dr. Kirchner, über die Thätigkeit des Hauses Wettin für die Förderung der Landwirtschaft einen höchst interessanten Vortrag hielt. In ausserordentlicher Weise ist dieses Jahr die Universität Leipzig mit Zuwendungen und milden Stiftungen bedacht worden und hat dieselbe allen Anlass dankbar die edlen Geber zu erwähnen. Nachdem zuerst durch Testament des in Nizza verstorbenen Jacob Plaut ein Kapital von 2500 Mark der Universität Leipzig zugewendet war, dessen Zinsen zu einem Stipendium mit unbeschränkter Bewerbung vom Rector vergeben werden sollen, bestimmte der Familienrath desselben Jacob Plaut aus dessen Nachlass ein weiteres Legat von 15 000 Mark zu Stipendien für israelitische Studirende der Naturwissenschaften an hiesiger Universität. Ein grosses, ungeteilt zu vergebendes Stipendium wurde errichtet durch das Vermächtniss der Frau Wittwe Caroline Holberg geb. Rüppel im Betrage von 10 000 Mark, zunächst bestimmt für Anverwandte der beiden Familien Holberg und Rüppel und in Ermangelung solcher für in Leipzig geborene Studirende, ferner eine Freistelle 769

Paul Zweifel

im Convict durch testamentarische Verfügung des Rentners Ernst von Schindler mit einem Capital von 6000 Mark. Mit ganz besonderer Freude erfüllt es den Redner, dass gerade während seiner Amtsführung durch die grossartige Stiftung eines früheren Angehörigen der Universität Leipzig ein Fach der Medicin und zwar in so weitgehender Form bedacht werden soll, dass damit nicht nur für die Stifter ein bleibendes Denkmal, sondern auch eine viel versprechende Institution zur Förderung wissenschaftlicher medicinischer Arbeiten errichtet werden kann. Nach einem in Berlin hinterlegten Testament hatte das dem Redner persönlich gut bekannte Ehepaar Herr und Frau Hofrat Professor Dr. med. Puschmann in Wien, von denen der erstere früher in Leipzig als Docent wirkte und nach seinem Weggang von hier lange Zeit hindurch der angesehenste Vertreter der Geschichte der Medicin war, die Universität Leipzig zur Erbin eingesetzt, mit der Bestimmung, dass das Erträgniss des Vermögens (nach dem Wortlaut des Testamentes) „zur Förderung wissenschaftlicher Arbeiten auf dem Gebiete der Geschichte der Medicin verwendet werden soll.“ Dieses Vermögen beträgt nach gerichtlicher Schätzung 621 000 Mark. Die Professoren, welche diese Gaben in Empfang nehmen und dafür danken, fühlen sich nur als Glieder eines grossen Organismus, der Hebung und Verbreitung von Bildung zum Ziele hat. Es ist der Dank, den wir erstatten uneigennützig und doch warm empfunden, weil diese Gaben uns ermöglichen, Anderen nützlich zu sein. Zweimal wurden im Laufe dieses Jahres zur Erinnerung an grosse Todte Gedächtnissfeiern veranstaltet, das erste mal von dem archäologischen Institut am 11. Dezember 1900 zur Erinnerung an den Geburtstag (9. Dezember) von Johann Joachim Winckelmann, den genialen Begründer der antiken Kunstgeschichte, welcher, wenn er auch unserer Universität nie angehörte, doch durch ein herrliches ausdruckvolles Bildniss von Anton Graff (eigentlich Graf, aus Winterthur) in unserer Bibliothek verewigt ist. Höchst interessante Vorträge aus der Kunstgeschichte der neuen und der alten Zeit füllten die Festsitzung aus. Die zweite von der kgl. sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften war dem Andenken des unvergesslichen Philosophen unserer Universität, Theodor Fechner gewidmet, aus Anlass der hundertjährigen Wiederkehr seines Geburtstages, bei welcher in einem glänzenden Vortrag College Geheimer Rath Wundt uns ein Bild von Fechners’s Lebensgang und dessen eigenartiger philosophischer Entwickelung gab. Ein Ereigniss von allgemeiner Theilnahme des deutschen Volkes war die Enthüllung des Nationaldenkmals für den Fürsten Bismarck, den Gründer und ersten Kanzler des deutschen Reiches am 16. Juni 1901, bei welcher Feier die hiesige Universität durch den Rector vertreten wurde. Wenn wir im Eingang des Berichtes das abgelaufene Jahr im allgemeinen als ein recht glückliches bezeichnet haben, so müssen wir doch eine grosse Zahl von Verlusten beklagen. 770

Jahresbericht 1900/01

Am 8. December 1900 starb zu Hubertusburg nach langer Krankheit der ausserordentliche Professor in der medicinischen Facultät Dr. med. Richard Altmann, welcher, am 12. März 1852 in Deutsch-Eylau in Westpreussen geboren, sich nach Vollendung seiner Studien im Jahre 1882 an der hiesigen Universität die Venia legendi erwarb und zugleich als Prosektor an der anatomischen Anstalt 15 Jahre mit Auszeichnung thätig war. Seine Entdeckung über die Struktur der Zelle, in der er feine Körner oder Granula fand, erregten berechtigtes Aufsehen und weitgehende Schlüsse. Kurze Zeit danach am 19. Dezember 1900, verschied nach langer schwerer und mit grosser Ergebung ertragener Krankheit der zweite Oberbibliothekar Hofrath Dr. phil. Joseph Heinrich Gustav Ernst Förstemann. An der Universitätsbibliothek war er bereits seit dem Winterhalbjahr 1866/67, also 35 Jahre lang thätig, an welcher er in emsiger Arbeit die Stufenleiter vom Assistenten bis zum Oberbibliothekar (1881/82) erstieg. Es war ein Mann, der sein reiches Wissen hinter einem bescheidenen Wesen verbarg und seine liebenswürdige Gefälligkeit wird ihm bei allen, die ihm näher kamen, ein freundliches Andenken bewahren. Ganz unerwartet wurde der Vorstand des Universitäts-Rentamts Hofrat Ernst Gebhardt am 25. Januar 1901 aus dem Leben abberufen. Unsere Körperschaft hat dem äusserst fleissigen und gewandten Beamten vielfache Förderung bei Bauten und Einrichtungen von Instituten zu danken, vornehmlich soll es nicht vergessen sein, wie viel er sich bemühte, damit die Hauptgebäude der Universität und die Pauliner-Kirche in so würdiger Weise und in verhältnissmässig kurzer Zeit umgebaut wurden. Verdienste die wir ihm ebenfalls sehr hoch anrechnen, erwarb er sich um die Besserstellung und die Wohnungsbeschaffung für die Unterbeamten und Diener der Universität. Am 5. März 1901 starb nach kurzer Krankheit der ordentliche Honorarprofessor der philosophischen Facultät Dr. phil. Karl Biedermann. In Leipzig am 25. September 1812 geboren, war der 88jährige Herr noch immer von Begeisterung für das Lehramt und die akademische Jugend beseelt. Noch immer und bis dahin ohne Beschwerden zu dem im I. Stock gelegenen Hörsaal steigend, äusserte er am Schlusse des Wintersemesters den bescheidenen Wunsch, im nächsten Sommer einen Raum im Parterre zu erhalten, da ihm das Treppensteigen mühsam werde und wenige Tage später wurde er zur Erde bestattet. Biedermann war im Gebiet der Philosophie und der politischen Geschichte ein ungewöhnlich fruchtbarer Schriftsteller. Doch liegt seine Bedeutung hauptsächlich in der politischen Thätigkeit, in welcher er unerschrocken für eine nationale Einigung Deutschlands eintrat, in einer Zeit, wo das Verständniss für deren Nothwendigkeit wegen der dem gesammten Deutschthum drohenden Gefahren noch nicht gereift war. Für dieses Ziel arbeitete, kämpfte und litt er, weil er seiner Ueberzeugung Ausdruck lieh, stets nur die Sache im Auge behaltend, seine eigene Person in Bescheidenheit zurücktreten lassend. Biedermann gehörte zu den wenigen Mitgliedern der deutschen Nationalversammlung in Frankfurt, welche den Uebergang in das 20. Jahrhundert noch erlebten. Wie er der öffentlichen Thätigkeit mit einer idealen Auffassung lebte, so auch seinem 771

Paul Zweifel

Lehramt, immer von begeisterten Jüngern umgeben und von solchen auch voll gewürdigt. Am 15. Mai 1901 erlag nach langen schweren Leiden der ordentliche Professor der orientalischen Sprachen Geheimer Hofrat Dr. Rudolf Krehl, geboren am 29. Juni 1825 in Meissen. Seit dem Jahre 1861 als ausserordentlicher Professor der orientalischen Sprachen und Bibliothekar in Leipzig, wurde er 1869 ordentlicher Professor, Oberbibliothekar und Vorstand der Bibliothek. In diesen Aemtern war er bis zur Eröffnung der neuen Bibliothek an der Beethovenstrasse volle 30 Jahre in Leipzig thätig, um sich dann (1. März 1892) in den Ruhestand zurückzuziehen. Krehl führte lange Jahre die Redaction der Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft und zeichnete sich wissenschaftlich durch eingehende Studien über die Sprache und Religion, auch die vorislamitische Religion der Araber aus. Als Vorstand der Universitätsbibliothek war er stets von gewinnender Zuvorkommenheit, als Mensch von edlen Grundsätzen beseelt und ihnen treu in seinem Handeln. Nicht nur die Universität, sondern auch das Lehrercollegium und eine grosse Zahl von Schülern des König Albert Gymnasium trauerte tief um den am Pfingstmontag den 27. Mai a. c. erfolgten Tod des Rectors Professor Dr. phil. Richard Emanuel Richter. Geboren am 10. October 1839 zu Skassa bei Grossenhain, wirkte er seit 1880 als Rector am Kgl. Gymnasium in Leipzig und seit 1886 mit Lehrauftrag für das Fach der Gymnasialpädagogik unter Ernennung zum ordentlichen Honorarprofessor an der Universität. In diesen Stellungen erntete er als praktischer Pädagoge ausserordentliche Erfolge. Eine solche Beliebtheit, wie er sie als Lehrer und Rector von Seiten seiner Gymnasiasten erntete, ein so allgemeines Lob wie es der gesammten Lehrerschaft dieses Gymnasiums von früheren Schülern zu Theil wird, bildet das schönste Ruhmesblatt in seinem Leben; denn es spricht ebenso sehr für sein eigenes pädagogisches Talent, wie für seinen pflichtgemäss ausgeübten bestimmenden Einfluss auf die Lehrerschaft. Er war allen Kleinlichkeiten und dem Schablonenhaften in der Erziehung abhold, bewies durch die That, dass er in seltenem Maasse die Gabe der praktischen Pädagogik besass. So vereinigte er alle Eigenschaften eines vorbildlich guten Leiters des pädagogischen Seminars der Universität in sich. Daneben entfaltete der gelehrte Schulmann als Redactor der Jahrbücher für Pädagogik eine rege litterarische Thätigkeit. Sein Andenken wird in vielen dankbaren Herzen fortleben. Am 18. September starb der ausserordentliche Professor in der medicinischen Facultät Hofrat Dr. med. et phil. Adolph Winter im 86. Lebensjahre (geboren zu Leipzig 20. April 1816). Er war mit jeder Faser seines Herzens ein Leipziger Kind und hing mit unendlicher Treue an der Vaterstadt, in welcher er seine Ausbildung genossen, seine Assistenten-, Docenten- und Professorenlaufbahn durchmessen hat. Am 30. November 1841 promovirt, war ihm auf denselben Tag dieses Jahres die Ehrung für das ungewöhnlich seltene 60jährige Doctorjubiläum zugedacht; aber der Allmächtige hatte ihn, der so lange Jahre ohne Veränderung unter uns geweilt hatte, dieses Ziel nicht mehr erreichen lassen. Nach seiner Niederlassung in Leipzig wandte er sich zunächst als Assistent Ritterich’s der Ophthalmologie zu, ging dann 772

Jahresbericht 1900/01

auf wissenschaftliche Reisen und habilitirte sich zurückgekehrt für Augen- und Ohrenheilkunde und wurde 1853 Professor extraordinarius, 1859 Bibliothekar. Mit grossem Geschick führte er Jahrzehnte lang die Redaction der Schmidt’schen Jahrbücher, des ältesten der medicinischen Referatenblätter. Als Bibliothekar war er berühmt durch die liebenswürdige Zuvorkommenheit und Aushülfe bei ratlos dastehenden jungen Litteraten und hat er sich dadurch manchen Freund erworben. Er war aber auch in den ärztlichen Kreisen seiner Vaterstadt und ganz Sachsens auf das höchste geschätzt durch die Gründung von Wohlfahrtseinrichtungen und seine Vereinsthätigkeit. Berufungen von auswärts fanden in diesem Jahre nicht statt, aber durch Beförderungen und Habilitationen war der Zuwachs des Lehrkörpers ein erheblicher. In der medicinischen Facultät wurde der ausserordentliche Professor Dr. Gustav Riehl zum ordentlichen Honorarprofessor befördert, ferner zu ausserordentlichen Professoren ernannt die Privatdocenten Dr. Dr. Arthur Kollmann, Franz Windscheid, Emil Krückmann, Karl Menge und Bernhard Krönig. Dem Dr. med. Franz Saxer wurde der Titel Prosector verliehen. In der philosophischen Facultät wurde zum ausserordentlichen Professor für praktische Gymnasial-Paedagogik und Director des praktisch-pädagogischen Seminars ernannt: Der Rector des hiesigen Thomasgymnasiums Professor Dr. Emil Jungmann und zu ausserordentlichen Professoren befördert: Die Privatdocenten Dr. Karl Weule mit dem Lehrauftrag für Völkerkunde und Urgeschichte, Dr. Hugo Riemann, Dr. Julius Wagner mit dem Lehrauftrag für Didaktik der Chemie und Dr. Felix Salomon. Als Privatdocenten habilitirten sich in der juristischen Facultät die Dr. Dr. Ludwig Beer und Albrecht Mendelsohn-Bartholdy, in der medicinischen Facultät die Dr. Dr. Wilhelm Müller und Heinrich Füth, in der philosophischen Facultät die Dr. Dr. Karl Sapper, Georg Bredig und Georg Woltereck. Mögen alle jungen Collegen in ihrer Laufbahn neben der freudigen Genugthuung, welche wissenschaftliche Bethätigung im Innern bietet, auch den äusseren Erfolg ernten, wie sie ihn wünschen. Als Vorstand des Kgl. Universitätsrentamtes trat mit dem 1. März in die erledigte Stelle ein der Oberrechnungsinspector Rechnungsrath Karl Riemer, Vorstand der Königl. Cultur-Ministerial-Rechnungsexpedition unter Verleihung des Titels Commissionsrath. Wir wünschen und hoffen, dass auch unter seiner Amtsführung das verständnissvolle Zusammenwirken aller Instanzen der Universität erhalten bleibe, welches unter seinem Vorgänger so viel Gedeihliches schuf. Durch Weggang von Leipzig verlor der Lehrkörper den ordentlichen Professor der Geschichte Dr. phil. Erich Marcks, der einem ehrenvollen Ruf nach Heidelberg folgte. Wir können nicht unterlassen, den Weggang dieses ausgezeichneten Lehrers und Collegen auf das Lebhafteste zu bedauern. Weiter verliessen uns der ausserordentliche Professor Dr. jur. Kurt Burchard an die Academie für Social- und Handelswissenschaften zu Frankfurt a. M. und der Privatdocent Dr. jur. Heinrich Siber, der als ausserordentlicher Professor nach Erlangen berufen wurde, der ausserordentliche Professor Dr. med. Wilhelm His jun. als Oberarzt des städtischen Krankenhauses nach Dresden, der ausserordentliche Professor Dr. phil. Otto Wiedeburg als 773

Paul Zweifel

Professor der technischen Hochschule nach Hannover, der zu aller Leidwesen dort im verflossenen Sommer einer acuten tückischen Krankheit erlegen ist, der Privatdocent Dr. phil. Walther Götz nach München, der kurz vorher habilitirte Privatdocent Dr. phil. Georg Bredig als ausserordentlicher Professor nach Heidelberg, der ausserordentliche Professor Dr. phil. Ernst Elster als ausserordentlicher Professor der deutschen Litteraturgeschichte nach Marburg, der Privatdocent Dr. phil. Ernst Pohle beurlaubt auf 3 Semester an die Handelshochschule zu Frankfurt a. M., der Privatdocent Dr. phil. Gerhard Kowalewski berufen als ausserordentlicher Professor für Mathematik nach Greifswald. Allen weggezogenen Collegen wünschen wir in ihrem neuen Wirkungskreise von Herzen Glück und besten Erfolg. In dem Personal der Universitäts-Bibliothek kamen die folgenden Veränderungen vor. Ernannt wurden unter dem 1. April d. J. der bisherige Kustos Dr. Kühn zum Bibliothekar, der bisherige Assistent Dr. Sickel zum Kustos und der Volontär Cand. rev. min. Kessler zum stellvertretenden Assistenten, unter dem 1. Mai d. J. Dr. Martens zum Assistenten. Als Volontär trat zu Ostern Dr. phil. Alfred Götze ein. Den Bibliothekaren Prof. Dr. Gardthausen und Dr. Helssig ist das Prädicat Oberbibliothekar beigelegt worden. Unter den auch in diesem Jahre zahlreich eingegangenen Geschenken verdient eine ca. 800 Bände umfassende Sammlung meist älterer Werke aus verschiedenen Wissensgebieten Erwähnung, welche Dr. Abendroth gegeben, und ein von Jos. Büche im Jahre 1877 gemaltes Portrait des verstorbenen Oberbibliothekars Professor Dr. Krehl, welches dessen Söhne, Prof. Dr. Ludwig Krehl in Greifswald und Stephan Krehl in Karlsruhe, der Bibliothek dargebracht haben. Eine Schenkung ist noch mit Dank zu erwähnen, welche die philosophische Facultät betrifft, von dem vormaligen ordentlichen Honorarprofessor Dr. Emil Schmidt, der seine reichhaltige Schädelsammlung dem zoologischen Institut vermachte. An freudigen Anlässen war im Laufe des Amtsjahres kein Mangel, von denen wir einige besonders hervorheben wollen, an denen die Vertretung der Universität regen Antheil nahm, so den IV. internationalen Verleger-Congress, welcher vom 10.–13. Juni a. c. in Leipzig tagte. Und noch vor wenig Tagen (22. October) begingen wir an der Universität das seltene Fest, dass einer der Unserigen, der Geheime Kirchenrath D. theol. et phil. Gustav Adolf Fricke, im Amt das 50jährige Professoren-Jubiläum feiern konnte und mit herzlichem Glückwunsch vereinigten sich Rector, Dekane, und die theologische Facultät, um im Namen des Senates, der gesammten Universität und der theologischen Facultät die wärmste Anerkennung auszusprechen für die vielen Verdienste, welche sich der Jubilar erworben hat. Auch an dem 25jährigen Amtsjubiläum des hochverehrten Herrn Oberbürgermeisters Tröndlin (28. October) überbrachten Rector und Dekane die Glückwünsche der Universität. Ehrenpromotionen sind in diesem Jahre nicht vorgekommen. Diplom-Erneuerungen aus Anlass der 50jährigen Wiederkehr des Promotionstages vollzog die medici774

Jahresbericht 1900/01

nische Facultät 2, am 15. Juli 1901 für Dr. med. Friedrich Baerwinkel in Leipzig und am 17. October für Dr. med. Victor Friedrich Stiehler in Dresden; die philosophische Facultät 5, Dr. Siedel, am 13. Januar 1901; Dr. Hirzel, am 20 März 1901; Dr. Amen, am 6. April 1901; Dr. Steinschneider, am 19. April 1901 und Dr. Beez, am 12. August 1901. Rite promovirt wurde zum D. theologiae Niemand, zu Licentiaten der Theologie 5 Herren; zu Doctores juris 152, zu Doctores medicinae 162 approbirte Aerzte deutscher Reichsangehörigkeit und 1 Ausländer und zu Doctoren der Philosophie 133 Herren. Der Verkehr mit der Studentenschaft, welcher für jeden Rector eine der ausgedehntesten Pflichten ist, bildete für mich das ganze Jahr hindurch eine Quelle aufrichtiger Freude. In friedlich schiedlicher Weise sind alle Verhandlungen verlaufen und habe ich nur über sehr gutes Benehmen und einsichtsvolle Nachgiebigkeit bei dem Schlichten von Meinungsverschiedenheiten zu berichten. Ein einziges Mal hatte das Plenum des Universitätsgerichtes zu tagen und wurde ein Student wegen thätlicher Beleidigung eines Commilitonen durch Consilium abeundi auf die Dauer eines Semesters von der Universität weggewiesen. Kleinere Disciplinar-Straffälle kamen schon verschiedentlich vor, die zeigen, dass der Carcer noch nicht zu den überflüssigen Institutionen der Universität gehört. Von dem Fleiss der Studirenden kann ich von meinen Zuhörern im allgemeinen viel Lobenswertes sagen und was ich persönlich wahrnehmen und von Collegen erfahren konnte, bestätigt meine günstige Auffassung. Die Studentenziffer erreichte im verflossenen Wintersemester die höchste je dagewesene Zahl von 3586 immatriculirten Studirenden und da sie am gestrigen Tag schon um 113 höher stand als am gleichen Tag des vorigen Jahres, so ist eine abermalige bedeutende Steigerung vorauszusehen. Da mit Einrechnung von 329 Personen mit Hörer- und Hörerinnenscheinen die Gesammtfrequenz 3915 betrug, wird sie voraussichtlich in diesem Wintersemester zum ersten Mal seit 4 Jahrhunderten die Ziffer 4000 überschreiten. Auch die Zahl der vom abtretenden Rector während seines Amtsjahres immatriculirten Studirenden überschreitet zum ersten Mal seit Jahrhunderten, vielleicht überhaupt zum ersten Mal die Ziffer 2000 und beträgt mit dem Abschluss von gestern 2116 gegen 1969 des Vorjahres. Es ist dies ein hoch erfreulicher Anfang des neuen Jahrhunderts, der zeigt, dass die Universität Leipzig kräftig aufwärts streben und in emsiger Arbeit ihren Platz behaupten will. Auf die einzelnen Facultäten entfallen bis zum gestrigen Tage Studirende der Theologie 257 (gegen 307 am gleichen Tage 1900), 1112 Juristen (gegen 1059 1900), 557 Mediciner (gegen 594 1900) und 1644 Angehörige der philosophischen Facultät (gegen 1497 1900). Durch den Tod verloren wir 14 Commilitonen, mit denen grosse Hoffnungen ihrer Eltern und Freunde zu Grabe getragen wurden. Von den Preisaufgaben fand diejenige der theologischen Facultät über „die christologischen Anschauungen des Hilarius von Pictavium nach seinem Matthaeuskommentar“ eine befriedigende Lösung und wurde dieser der Preis zuertheilt. Als Ver775

Paul Zweifel

fasser ergab sich der Student der Theologie Johannes Müller aus Geising, gegenwärtig wohnhaft in Burkersdorf, Bez. Dresden. Die Preisaufgabe der juristischen Facultät pro 1900/1901: „über die Unmöglichkeit der Leistung bei der Gattungsschuld nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch“ hat 2 Bearbeitungen gefunden, von denen keiner der Preis ertheilt werden konnte. In der medicinischen Facultät fand das aufgestellte Thema: „Ueber die offene Wundbehandlung in der Augenheilkunde“ keine Bearbeitung. In der philosophischen Facultät I. Section ging keine Arbeit ein; in der II. Section zu a, desgleichen. Für die zu b eingegangene Arbeit konnte ein Preis nicht ertheilt werden; dafür wurde für den Verfasser eine Gratification beantragt. Als Verfasser ergab sich Eduard Poppe, stud. cam. aus Leipzig. In der III. Section der philosophischen Facultät wird in der I. Gruppe über die Aufgabe: „Die Duftorgane der männlichen Schmetterlinge“ der einen eingegangenen Arbeit der Preis zuerkannt. Als Verfasser ergab sich Karl Gottwalt Illig, stud. paed. aus Leipzig-Reudnitz. In der II. Gruppe der III. Section ging keine Arbeit ein und in der III. Gruppe konnte die eingegangene Arbeit auf die mathemathische Aufgabe keinen Preis erhalten. Die ausführlichen Urtheile über die Bearbeitungen, sowie die für das Jahr 1901/02 neu gestellten Preisfragen werden besonders gedruckt und durch Anschlag am schwarzen Brett bekannt gegeben. Bevor ich zur letzten Amtshandlung, der Vereidigung meines Nachfolgers, übergehe, halte ich es für angezeigt, die neuen Dekane, welche statutengemäss ihr Amt gleichzeitig mit dem neuen Rector antreten, bei dem heutigen Festact zu proclamiren. In der theologischen Facultät geht das Dekanat über auf Professor Dr. Kittel, in der juristischen auf den Geheimen Hofrath Professor Dr. Degenkolb, in der medicinischen auf den Geheimen Medicinalrath Professor Dr. Flechsig und in der philosophischen auf den Geheimen Hofrath Professor Dr. Kirchner. Nun bitte ich Sie, Herrn Dr. Eduard Sievers, als den für das Amtsjahr 1901/1902 erwählten und von Sr. Majestät dem König bestätigten Rector, das Katheder zu besteigen, um den Eid abzulegen und die Insignien des Amtes in Empfang zu nehmen. Sie schwören bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, dass Sie die Verfassung und die Gesetze der Universität treu und gewissenhaft beobachten und die Pflichten des Ihnen anvertrauten Amtes als Rector der Universität nach bestem Wissen und Gewissen redlich erfüllen wollen. Nachdem Sie den Eid geleistet haben, proclamire ich Sie, Herrn D. phil. Eduard Sievers zum Rector magnificus der Universität und überreiche Ihnen als Zeichen Ihrer Würde den Hut und den Mantel, die seit langem das Ehrenkleid der Leipziger Rectoren sind, und die Kette, welche königliche Huld in neuerer Zeit der Universität geschenkt hat, das Siegel, das Sie fortan zur rechtlichen Beglaubigung der Amtshandlungen führen sollen, das Statuten-Buch als Zeichen, dass Sie die Pflicht übernehmen, die Statuten der Universität zu beobachten und den mit Pietät bewahrten Schlüssel, als Zeichen Ihrer Herrschaft in diesen Räumen. 776

Jahresbericht 1900/01

Als erster bringe ich nunmehr Ihnen, Magnifice, meinen Glückwunsch dar und hoffe, dass das kommende Jahr für Sie und die Universität segensreich verlaufen möge. ***

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Eduard Sievers (1850–1932)

31. October 1901.

Rede des antretenden Rektors Dr. Eduard Sievers.

Über Sprachmelodisches in der deutschen Dichtung. Hochansehnliche Versammlung! Die Frage, für deren Erörterung ich Ihre Aufmerksamkeit erbitten möchte, bildet einen Theil des allgemeinen Problems: Wie und wieweit kann eine planmässige Untersuchung der rhythmisch-melodischen Formen der menschlichen Rede in Sprache und Literatur auch aesthetischen und philologischen Zwecken nutzbar gemacht werden? Oder genauer gesagt: Inwiefern kann eine solche Untersuchung einerseits unser Verständnis der Kunstformen der Rede und ihrer Wirkungen fördern, und in wie weit lassen sich aus ihr andrerseits etwa neue Anhaltspunkte für die Kritik gewinnen? Es versteht sich von selbst, dass bei der systematischen Untersuchung des ganzen Problems Rhythmisches und Melodisches in stetem Hinblick auf einander zu behandeln sind: denn sie sind ja in der Rede selbst stets zu gleichzeitiger und gemeinsamer Wirkung verbunden. Es würde aber unmöglich sein, im Rahmen eines Vortrags beiden Seiten gleichmässig gerecht zu werden. Ich werde mich also darauf beschränken, das Melodische in der deutschen Literatur, und noch specieller nur in der deutschen Dichtung etwas näher in’s Auge zu fassen, als denjenigen von den beiden Factoren, der bisher am wenigsten Beachtung gefunden hat. Ich beginne mit einer kurzen Vorerinnerung. Was man als Sprachmelodie zu bezeichnen pflegt, ist nicht in allen Punkten den musikalischen Melodien, speciell den Gesangsmelodien, gleich zu denken, trotz mancher Berührungen der beiden Gebiete. Im Gesang gebrauchen wir die Singstimme, in der Rede die Sprechstimme, die an sich durch ein Mindermass musikalischer Eigenschaften charakterisiert ist. Die Musik arbeitet hauptsächlich mit festen Tönen von gleichbleibender Tonhöhe, die Sprache bewegt sich vorwiegend in Gleittönen, die innerhalb einer und derselben Silbe von einer Tonhöhe zur andern auf- oder absteigen. Insbesondere aber bindet sich die Sprache nicht an die fest bestimmten Tonhöhen und Intervalle der musikalischen Melodien: sie kennt nur ungefähr 779

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bestimmte Tonlagen, und ihre Tonschritte sind zwar meist der Richtung nach (ob Steigschritt oder Fallschritt) fest gegeben, aber nicht auch der Grösse nach, vielmehr kann diese nach den verschiedensten Gesichtspunkten wechseln. Man darf also bei der ganzen Untersuchung auch in der Poesie nur relative Tonverhältnisse zu finden erwarten, nicht die festen Verhältnisse der Musik. Dies vorausgesetzt, drängen sich einem Jeden bei Betrachtung unseres Problems wol zunächst folgende Fragen auf. Wenn wir Poesie vortragen, so melodisieren wir sie, wie alle gesprochene Rede. Woher aber stammt in letzter Linie die Melodie, die wir so dem Texte beigesellen? Tragen wir sie lediglich als unser Eigenes in ihn hinein, oder ist sie bereits in ihm gegeben, oder doch soweit angedeutet, dass sie beim Vortrag sozusagen zwangsweise aus uns herausgelockt wird? Und wenn sie so von Hause aus schon dem Text innewohnt, wie kommt sie in ihn hinein, und inwiefern kann sie wieder auf den Vortragenden einen Zwang zu richtiger Wiedergabe ausüben? Alle diese Fragen lassen sich natürlich nur in annähernd fester Form beantworten. Dass der Einzelne in das einzelne Gedicht oder den einzelnen Passus eine individuelle Auffassung hineintragen und es demgemäss individuell melodisieren kann, ist bekannt und zugegeben, desgleichen dass er es oft wirklich thut. Ebenso sicher ist aber auch, dass die Mehrzahl der naiven Leser, die ein Gedicht oder eine Stelle unbefangen auf sich wirken lassen, doch in annähernd gleichem Sinne melodisiert, vorausgesetzt dass sie Inhalt und Stimmung wenigstens instinctiv zu erfassen vermögen und den empfangenen Eindruck auch stimmlich einigermassen wiederzugeben im Stande sind. Diese Gleichartigkeit der Reaction aber weist sichtlich auf eine Gleichartigkeit eines beim Lesen unwillkürlich empfundenen Reizes hin, dessen Ursachen ausserhalb des Lesers und innerhalb des Gelesenen liegen müssen. Wir dürfen also überzeugt sein, dass jedes Stück Dichtung ihm fest anhaftende melodische Eigenschaften besitzt, die zwar in der Schrift nicht mit symbolisiert sind, aber vom Leser doch aus dem Ganzen heraus empfunden und beim Vortrag entsprechend reproduciert werden. Und kann es dann zweifelhaft sein, dass diese Eigenschaften vom Dichter selbst herrühren, dass sie von ihm in sein Werk hineingelegt worden sind? Die Sache liegt offenbar so, dass der Akt der poetischen Conception und Ausgestaltung beim Dichter mit einer gewissen musikalischen, d. h. rhythmisch-melodischen Stimmung verknüpft ist, die dann ihrerseits in der specifischen Art von Rhythmus und Sprachmelodie des geschaffenen Werkes ihren Ausdruck findet. Bedürfte es dafür äusserer Zeugnisse, so liessen sich auch die unschwer in reichlicher Fülle auffinden: hier will ich nur zweier einschlägiger Äusserungen gedenken. ,Mir ist zwar von Natur‘, so lässt Goethe einmal seinen Wilhelm Meister sagen1, ,eine glückliche Stimme versagt, aber innerlich scheint mir oft ein geheimer Genius etwas Rhythmisches vorzuflüstern, sodass ich mich beim Wandern jedesmal im Takt bewege und zugleich leise Töne zu vernehmen glaube, wodurch denn irgend ein Lied begleitet wird, das sich mir auf eine oder die andere Weise gefällig vergegenwärtigt‘. 1

Weimarer Ausgabe 25, 66.

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Und ohne Einschränkung auf das Lied und die etwaige Besonderheit der Situation schreibt Schiller an Körner2: ,Das Musikalische eines Gedichtes schwebt mir weit öfter vor der Seele, wenn ich mich hinsetze es zu machen, als der klare Begriff vom Inhalt, über den ich kaum mit mir einig bin‘. Diese Worte bedürfen keines Commentars: Es genügt, auch durch sie die Priorität oder mindestens die Gleichzeitigkeit der wirkenden Stimmung an charakteristischen Beispielen festgelegt zu sehen. Dass der Dichter sich jener musikalischen Erregung stets oder in der Regel bewusst werde, folgt weder aus Äusserungen wie den vorgeführten, noch ist es an sich irgend notwendig. Für unsere Zwecke ist auch diese Frage ohne directe Bedeutung. Ich unterlasse es also auf sie einzugehen. Ebensowenig ist es hier erforderlich, Grad und Charakter der Erregung näher zu untersuchen. Wol aber muss über die Art ihrer Wirkung noch ein Wort gesagt werden. Auch diese ist einfach zu verstehen. Alle gesprochene Rede hat, wie wir wissen, rhythmisch-melodischen Charakter. Dieser wird im Einzelnen geregelt durch entweder traditionelle oder individuelle Sprechgewohnheit, welche für jede kleinere oder grössere Begriffsgruppe bestimmter Art auch eine bestimmte rhythmischmelodische Formel zur Verfügung stellt. Inhalt und Form aber sind in der naiven Alltagsrede in der Regel so verbunden, dass das Inhaltliche die erste, das Formelle die zweite Stelle einnimmt, mithin auch die rhythmisch-melodische Form des Gesprochenen nur mehr als eine ungesuchte Beigabe zu dem gewollten Inhalt erscheint. Anders, sobald die Rede sich höhere Ziele steckt. Wer neben der inhaltlichen Wirkung zugleich eine Formwirkung erzielen will, muss auch auf den Wollaut seiner Rede Bedacht nehmen, und er kann dieser Aufgabe durch entsprechende Wortwahl gerecht werden, indem er nur solche Wörter und Wortgruppen in die Rede einstellt, die bei ungezwungener Betonung dem Ohr gefällige Rhythmen und Tonfolgen darbieten. Das gilt von der Prosa wie von der Poesie. Nur ist ein wesentlicher Gradunterschied vorhanden. Zwar kann selbstredend auch die Prosa im Einzelfalle ein individuelleres rhythmisch-melodisches Gepräge erhalten, aber im Princip bleiben doch bei ihr Rhythmus und Melodie von Fall zu Fall frei beweglich. Die Poesie aber legt sich von vorn herein, schon durch die Wahl eines bestimmten Versmasses, gewisse Formschranken auf. Zunächst wird dadurch zwar nur die Freiheit der rhythmischen Bewegung eingeschränkt: aber die grössere Gleichmässigkeit der rhythmischen Form treibt, nicht notwendig, aber doch oft und unwillkürlich auch zu festerer Regelung des Melodischen, das ja wie man weiss an sich das wirksamste Variationsmittel für den Ausdruck qualitativ verschiedener Stimmungen ist. Um so stärker aber wird der Trieb zu prägnanterer Regelung des Melodischen hervortreten, je mehr der Dichter während des Gestaltungsprocesses unter dem Einfluss einer jener allgemeinen suggestiven Melodievorstellungen steht, deren wir oben gedachten, und je charakteristischere Formen die vorgestellten Melodien haben. Um so mehr wird dann der Dichter jedesmal auch positiv darauf Bedacht nehmen, seine Worte so zu wählen, dass sie sich in das vorgestellte melodische Ausdrucksschema gut einfügen, und negativ darauf, zu meiden, was dieser Forderung nicht genügt. 2

Am 25. Mai 1792. S. Schillers Briefe herausgegeben von Fr. Jonas 3, 202.

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Uebt nun so die vorgestellte Melodie beim arbeitenden Dichter einen nicht gering anzuschlagenden suggestiven oder prohibitiven Einfluss auf die Wortwahl aus, so veranlasst umgekehrt die von ihm getroffene Wortwahl beim Leser auch wieder die Auslösung bestimmter Melodien, wenn er einen dichterischen Text nach den ihm für die einzelnen Wortfolgen und Wortgruppen geläufigen traditionellen Betonungsweisen in laute Rede umsetzt. Dabei wird der Leser die Melodien des Dichters wenigstens ihrem Grundcharakter nach um so sicherer und treuer reproducieren, je naiver und reflexionsloser er sich dem Gelesenen hingiebt, d. h. je mehr sein Vortrag den Charakter einer unwillkürlichen Reaction auf unbewusst empfangene Eindrücke trägt. Das ist wenigstens, wie ich hier ohne nähere Rechtfertigung einschalten möchte, das Ergebnis meiner Beobachtungen, und es muss um so schärfer hervorgehoben werden, als eine solche Leseweise unserer modernen Vortragsgewöhnung widerspricht, die weniger auf Hervorhebung des Gemeinsamen, als des Individuellen und Gegensätzlichen ausgeht, und die es demgemäss liebt, das dichterische Continuum verstandesmässig in kleinste Einzelteile zu zerschlagen und diese dann mit einander in scharf pointierten Contrast zu setzen. Nach allem diesem ist die oft und vorsichtig wiederholte Reactionsprobe das erste und wichtigste Hülfsmittel, dessen man sich bei der systematischen Untersuchung des Melodischen in der Literatur zu bedienen hat. Diese Probe aber muss zwiefacher Natur sein. Einmal muss der Untersuchende sie an sich selbst vornehmen, schon um überhaupt die verschiedenen melodischen Typen, die in den Texten verborgen liegen, in ihrer Eigenart erfassen und scheiden zu lernen. Aber auch noch aus einem andern wichtigen Grunde. Gerade die Methode der einseitigen Untersuchung bringt nämlich einen Factor von annähernder Constanz in die complicierte Rechnung, ich meine die im Wesentlichen doch gleich bleibende Auffassungs- und Reactionsweise des Einzelindividuums, die eben durch ihre Constanz eine gewisse Gewähr dafür bietet, dass melodische Eigenschaften und Verschiedenheiten der Texte beim Vortrag auch wirklich proportionalen Ausdruck finden. Damit wäre schon ein nicht unwesentlicher Punkt gewonnen. Aber es muss bei der Einzeluntersuchung dunkel bleiben, ob die erhaltenen Proportionalreactionen auch wirklich ein gleichsinniges Abbild des vom Dichter Gewollten ergeben, und nicht etwa ein umgelegtes oder sonstwie verschobenes Spiegelbild. Auch werden ja dem Einzelnen bei der intuitiven Reproduction der Texte stets subjective Interpretationsfehler mit unterlaufen, oder er selbst schwankt, wie er diese oder jene Stelle wiedergeben soll. Hier muss also eine vergleichende Massenuntersuchung ergänzend eintreten; d. h. die zweite Aufgabe des Untersuchenden muss sein, die Resultate seiner Selbstprüfung mit den unter tunlichst gleichen Bedingungen zu gewinnenden Reactionen andrer Leser zusammenzuhalten, und dann auf dem Wege vorsichtigster Ausgleichung etwaiger Differenzen eine Einigung anzustreben, soweit das ohne Zwang möglich ist. Ergibt sich auf dieser zweiten Stufe der Untersuchung, dass Texte von sichtlich verschiedener melodischer Qualität von den verschiedenen Lesern in gleichem Sinne melodisiert werden, und darf man zugleich mit Grund annehmen, dass die 782

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Leser mit ihrer Sprachmelodik nach Herkunft oder Gewöhnung auf demselben Boden stehen wie der oder die Dichter, so darf man schon mit einiger Zuversicht hoffen, in den gemeinschaftlichen Reproductionen ein wirkliches Parallelbild zu den vom Dichter in die Texte hineingelegten Melodietypen erhalten zu haben. Dieser günstigste Fall tritt aber bei Weitem nicht überall ein, auch nicht wenn man nur auf’s Ganze geht, und einzelne Differenzen, die sich überall finden, als nebensächlich bei Seite lässt. Vielmehr spaltet sich, wenn man mit einer grösseren Zahl von Lesern zusammenarbeitet, deren Schar ganz gewöhnlich, trotz nachweislich gleicher Auffassung von Inhalt und Stimmung des Gelesenen, in zwei scharf getrennte Lager. Das eine melodisiert dann in einem, das andre in genau umgekehrtem Sinne. Oder, wo bei der einen Gruppe von Lesern hohe Tonlage herrscht, wendet die andre Gruppe tiefe Tonlage an, wo die eine Gruppe die Tonhöhe steigen lässt, lässt die andre sie sinken, und umgekehrt3. Auch in diesem Falle bleibt zwar, wie man sieht, das Princip der Proportionalreaction gewahrt, das auf immanente Verschiedenheit der Texte zu schliessen gestattet, nur kann man dann ohne das Hinzutreten weiterer Entscheidungsgründe (die es übrigens meist giebt) nicht wissen, welche von den beiden gegensätzlichen Melodisierungsarten vermutungsweise mit der des Dichters selbst zu identificieren ist. Diese Umlegung der Melodien, wie man die ganze Erscheinung wol nennen kann, sieht zunächst befremdlich aus. Aber sie verliert bald alles Auffällige, wenn man ihren Gründen nachgeht. Sie beruht nämlich einfach darauf, dass im Deutschen überhaupt zwei conträre Generalsysteme der Melodisierung einander gegenüberstehen, auch in der einfachen Alltagsrede. Diese Systeme wiederum sind landschaftlich geschieden. Wir kennen zwar die geographischen bez. dialektologischen Grenzlinien der beiden Gebiete noch nicht genauer, im Ganzen herrscht aber doch das eine Intonationssystem im Norden, das andere im Süden des deutschen Sprachgebietes, während das Mittelland in sich mehrfach gespalten ist4. Man kann daher die beiden Systeme vorläufig wol als das norddeutsche und das süddeutsche bezeichnen, natürlich unter dem Vorbehalt, dass weitergehende Untersuchungen erst noch zu lehren haben werden, ob das, was uns jetzt als ein einheitliches Gesammtsystem erscheint, nicht vielmehr in eine Anzahl von Untersystemen zu zerlegen ist, die nur in gewissen Hauptzügen zusammengehen. Meine eigene Intonationsweise folgt, beiläufig bemerkt, dem norddeutschen System. Ich werde also sicher einen Teil meiner verehrten Hörer bitten müssen, die Einzelangaben, die ich im Folgenden zu machen habe, in ihr Gegenteil zu verkehren, damit sie auch für sie direct verständlich werden. Die dialektische Umlegung des Tonischen ist in der Regel leicht zu fassen. Bei ruhiger, leidenschaftsloser Rede handelt es sich, soweit wir bisher wissen, in der 3

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Ausgenommen hiervon sind nur gewisse mechanisch bedingte Specialfälle, die mit der freien Melodisierung der Rede nichts zu tun haben. Ueber sie vgl. meine Grundzüge der Phonetik, 5. Aufl., Leipzig 1901, § 665. Thüringen und Sachsen stehen z. B. im ganzen auf der Seite des süddeutschen Systems, aber durch Einfluss von Schule und Bühne sind bei den Gebildeten viele Kreuzungen entstanden, sodass es oft sehr schwer wird, reine Resultate zu erhalten.

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That dabei nur um directe Umkehrung aller Tonverhältnisse, sobald wir aus dem einen Gebiet in das andre hinübertreten. Nur für den Ausdruck stärkerer Affecte trifft das nicht immer zu. Aber es ist klar, dass auch etwaige Störungen der Entsprechung in der Affectrede durch genauere Ermittelung der hier in den einzelnen Sprachgebieten herrschenden Transpositionspraxis generell beseitigt werden können. Schwieriger ist es, den individuellen Differenzen beizukommen, in Fällen wo die subjective Auffassung des einzelnen Lesers für die Melodisierung im einen oder andern Sinne massgebend ist, mag nun diese Auffassung bloss auf Intuition beruhen, oder durch bewusstes Räsonnement gewonnen sein. Hier bleibt schliesslich nichts andres übrig, als gemeinschaftliche Discussion der Einzelstelle in ihrem Zusammenhang mit dem Gesammtcharakter des Werkes dem sie angehört. Dieser Gesammtcharakter des Einzelwerkes, auch im Melodischen, ist also jedesmal zuerst festzustellen, und zwar auf Grund derjenigen (an Umfang übrigens meist sehr überwiegenden) Partien, bei denen individuelle Verschiedenheiten der Auffassung nicht vorhanden sind. Demnächst aber ist zu untersuchen, ob und wie weit jedesmal das Ganze gewinnt oder verliert, je nachdem man die subjectiv zweifelhaften Stellen beim Vortrag jenem Gesammtcharakter anpasst oder individuell behandelt. Das Ergebnis dieser Prüfung kann natürlich im Einzelnen sehr verschieden sein: stellt ja doch auch unter Umständen absolute Freiheit der melodischen Bewegung einen besondern und oft sehr wirkungsvollen Typus der dichterischen Form dar. Aber im Ganzen glaube ich doch schon jetzt die These aufstellen zu können, dass da wo überhaupt im Gesammthabitus eines Werkes eine gewisse Bindung des Melodischen greifbar hervortritt, nivellierender Vortrag der subjectiv zweifelhaften Stellen eine reinere und bessere, und damit wol auch eine ursprünglichere Wirkung hervorbringt, als individualisierende Behandlung, und zwar um so mehr, je typischere Formen jener Gesammthabitus aufweist, d. h. je mehr man eine Beherrschung des producierenden Dichters durch vorgestellte Suggestivmelodien voraussetzen darf. Dass bei allen hier zu Tage tretenden Verschiedenheiten der melodischen Formgebung einmal die Verschiedenheit von Stimmung und Affect, sodann aber auch die Verschiedenheit der dichterischen Productionsart, namentlich der Gegensatz von Anschauungs- und Empfindungsdichtung einer- und von Gedankendichtung andrerseits eine sehr erhebliche Rolle spielt, will ich hier nur eben anmerken. Ebenso wenig brauche ich Sie mit einer systematischen Aufzählung der bisher aufgefundenen verschiedenen melodischen Typen und der Erörterung ihrer Zusammenhänge mit den entsprechenden Stimmungs- und Affectformen zu behelligen, oder gar mit der Besprechung weiterer technischer Cautelen und praktischer Kunstgriffe, deren sich die Untersuchung zu bedienen hat. Wenigstens hoffe ich, Ihrer Zustimmung nicht zu entbehren, wenn ich meine, schon aus dem Wenigen und Abgerissenen was hier zur Sache vorgebracht ist, gehe hervor, dass eine streng wissenschaftliche Analyse des Melodischen auch in der geschriebenen Literatur möglich ist, und dass das Melodische bei der Gesammtwirkung der dichterischen Form ebenso mitspricht, wie andere Elemente dieser Form, die von jeher in den Kreis philologischer Forschung gezogen zu werden pflegen. Ist dem aber so, so hat auch das Melodische 784

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gerechten Anspruch darauf, regelmässig mit berücksichtigt zu werden, wo es die Feststellung der poetischen Kunstform gilt. Es ist also zunächst zu fordern, dass auch das Melodische des einzelnen Dichtwerks sorgfältig untersucht und beschrieben werde. Die Beschreibung selbst hat sich auf alle diejenigen Punkte zu erstrecken, bezüglich deren etwas Sicheres festgestellt werden kann. Von solchen Punkten kommen einstweilen namentlich folgende in Betracht: 1) Die specifische Tonlage, d. h. die Frage, ob ein Stück beim Vortrag hohe, mittlere, tiefe u. s. w. Stimmlage erfordert, ob es mit bleibender oder wechselnder Stimmhöhe zu sprechen ist u. dgl. 2) Die specifische Intervallgrösse, d. h. die Frage, ob der Dichter mit grossen, mittleren, kleinen Intervallen arbeitet, wobei insbesondere auf die Grenzen der Minima und Maxima zu achten ist. 3) Die specifische Tonführung, welche ihrerseits entweder frei oder gebunden ist. Im ersteren Fall reiht sich Ton an Ton ohne ein anderes Gesetz als dass die Tonhöhe jeweilen dem Sinn und der Stimmung angemessen sei. Im zweiten Fall sind die Tonfolgen in der einen oder andern Weise planmässig geregelt. 4) Die Anwendung specifischer Tonschritte an charakteristischen Stellen des Verses, speciell die Anwendung specifischer Eingänge am Anfang, und specifischer Cadenzen am Schluss der Verse. 5) Die Frage nach den specifischen Trägern der Melodie. Hier kommt es vor allem darauf an, ob alle Silbenarten des Verses gleichmässig als für die Melodiebildung wesentlich empfunden werden, oder ob das melodische Schema sich wesentlich nur auf den Tonfolgen der betonten oder betontesten Stellen, also insbesondere der Vershebungen, aufbaut. Letzteres ist im Ganzen der gewöhnlichere Fall. Bei der blossen Beschreibung dürfen wir uns aber nicht beruhigen. Wir müssen sofort weiter fragen, einmal allgemein: Was und wieviel trägt die Wahl eines bestimmten melodischen Typus zur Formcharakteristik und Formwirkung eines Werkes oder eines Abschnitts bei, dann speciell: Welche Wirkungen beabsichtigt und erreicht der Dichter durch etwaigen Wechsel dieses Typus? Dass es sich hierbei namentlich um die Herstellung charakteristischer Bindungsund Contrastformen handeln muss, ist wol von vornherein klar. Nicht so deutlich ist es aber vielleicht, wie der Dichter im Einzelnen diese Aufgabe lösen kann oder thatsächlich, löst. Gestatten Sie mir daher, diesen Punkt durch ein Beispiel statt vieler zu erläutern. Ich wähle dazu den Eingang von Goethe’s Faustmonolog, der überhaupt für unsere Zwecke ungewöhnlich lehrreich ist. Der erste, unruhig berichtende Abschnitt des Monologs zeigt sog. dipodischen Versbau. Für diesen ist in melodischer Beziehung charakteristisch, dass je zwei Nachbarfüsse sich dadurch zu einer höheren Einheit zusammenschliessen, dass je eine hohe und eine tiefe Hebung gepaart werden, doch mit freiem Wechsel von Hoch und Tief. Man vergleiche etwa die Stelle: Da steh’ ich nun, ich armer Thor! Und bin so klug als wie zuvor; 785

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Heisse Magister, heisse Doctor gar, Und ziehe schon an die zehen Jahr, Herauf, herab und quer und krumm, Meine Schüler an der Nase herum – Und sehe, dass wir nichts wissen können! Das will mir schier das Herz verbrennen u. s. w. Hier ist der Abstand von Hoch und Tief ziemlich bedeutend, der Rhythmus im Ganzen lebendig. Erst gegen den Schluss des ganzen Abschnittes hin wird der kommende Umschlag der Stimmung durch die Wahl schwererer Rhythmusformen und die Verkleinerung der melodischen Intervalle voraus angedeutet: Drum hab’ ich mich der Magie ergeben, Ob mir durch Geistes Kraft und Mund Nicht manch’ Geheimniss würde kund; Dass ich nicht mehr mit sauerm Schweiss Zu sagen brauche was ich nicht weiss; Dass ich erkenne was die Welt Im Innersten zusammenhält, Schau’ alle Wirkenskraft und Samen, Und thu’ nicht mehr in Worten kramen. Es folgt, nach einer Pause, der zweite Absatz „O sähst du, voller Mondenschein“, der Erguss wehmütig-schmerzvoller Sehnsucht nach Befreiung von drückender Last. Dem Wechsel der Stimmung entspricht der Wechsel von Rhythmus und Melodie. Die dipodische Bindung ist verschwunden, die Intervalle sind auf ein Minimum herabgesetzt, die Stimme wird weicher: O sähst du, voller Mondenschein, Zum letztenmal auf meine Pein, Den ich so manche Mitternacht An diesem Pult herangewacht: Dann, über Büchern und Papier, Trübsel’ger Freund, erschienst du mir! Ach! könnt’ ich doch auf Berges-Höhn In deinem lieben Lichte gehn, Um Bergeshöhle mit Geistern schweben, Auf Wiesen in deinem Dämmer weben, Von allem Wissensqualm entladen In deinem Thau gesund mich baden! Nach abermaliger Pause schliesst sich hieran mit „Weh! steck ich in dem Kerker noch?“ ein Ausbruch stärkster seelischer Erregung, dynamisch und melodisch charakterisiert durch den sprunghaften und unvermittelten Wechsel von Schwach und 786

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Stark, von Tief und Hoch. Einzelne Hebungen schiessen jäh aus dem Gesammtniveau hervor. Die Stimme hat den lyrischen Klang verloren, der ihr im vorhergehenden Abschnitt eigen war: Weh! steck’ ich in dem Kerker noch? Verfluchtes dumpfes Mauerloch, Wo selbst das liebe Himmelslicht Trüb durch gemahlte Scheiben bricht! Beschränkt von diesem Bücherhauf, Den Würmer nagen, Staub bedeckt, Den, bis an’s hohe Gewölb’ hinauf, Ein angeraucht Papier umsteckt, u. s. w. Neben all dem Contrast, der hier und weiterhin hervortritt, weist aber die Melodik unseres Monologs, wenigstens in seiner ursprünglichen Fassung, ein durchgehendes und verbindendes Element auf, und zwar in dessen Tiefschlüssen, d. h. der ausgeprägten Neigung, Vers nach Vers auf einer tiefen Note ausklingen zu lassen, wie in Da steh ich nun ich armer Thor, O sähst du, voller Mondenschein, Weh! steck ich in dem Kerker noch? u. s. w. Ja diese Neigung zum Tiefschluss beherrscht im Urfaust auch weiterhin die Reden Fausts. Und das ist kein Zufall, denn sonst spricht dort nur noch Valentin so: Wenn ich so sass bey ’em Gelag, Wo mancher sich berühmen mag, Und all und all mir all den Flor Der Mägdlein mir gepriesen vor u. s. w. Die übrigen Personen aber ziehen, mit Ausnahme Mephistos, ebenso den Hochschluss vor, d. h. sie lassen den Vers mit einer relativ hohen Note ausgehn, jedenfalls die Tonhöhe am Versschluss nicht um ein stark wirkendes Intervall sinken. Sehr deutlich prägt sich dieser Gegensatz z. B. beim Dialog zwischen Faust und Wagner aus: Faust. O Tod! ich kenns: das ist mein Famulus. Nun werd ich tiefer tief zu nichte, Dass diese Fülle der Gesichte Der trockne Schwärmer stören muss! Wagner. Verzeiht! Ich hört euch deklamieren! Ihr last gewiss ein griechisch Trauerspiel? 787

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In dieser Kunst möcht ich was profitieren, Denn heutzutage wirkt das viel. Ich hab es öfters rühmen hören, Ein Komödiant könnt einen Pfarrer lehren. Faust. Ja wenn der Pfarrer ein Komödiant ist; Wie das denn wohl zu Zeiten kommen mag. Für Mephistos Redeweise endlich ist, um auch das noch zu sagen, ein ruheloser Wechsel von Hoch- und Tiefschlüssen charakteristisch. Hier sind also, wie man sieht, die einzelnen Personen durch dominierende Formen der Cadenz charakterisiert. Anderwärts treten auch andere Bindungen und Gegensätze hervor, so wenn etwa in der Natürlichen Tochter ohne Rücksicht auf die gerade redenden Personen jeweilen Spieler und Gegenspieler durch entgegengesetzt verlaufende Melodiecurven von steigend-fallender und fallend-steigender Richtung contrastiert werden. Aber gerade der Faust kann uns noch ein Weiteres lehren, was uns zur letzten Frage unsres Themas hinüberführt. Das oben geschilderte Verteilungssystem von Hoch- und Tiefschluss gilt, wie schon gesagt, zunächst nur für den Urfaust. Als Goethe die Arbeit am Faust wieder aufnahm, ist er auf diese Form der Charakterisierung nicht wieder zurückgekommen. Die Erinnerung daran war ihm offenbar geschwunden und ist ihm auch bei der Arbeit nicht wieder lebendig geworden. Und so sehen wir ihn denn auch da, wo er alten Text nur umarbeitet oder ergänzt, Cadenzformen einführen, die dem alten System direct widersprechen. So finden wir jetzt gleich im Eingang des Monologs die Hochschlussverse: Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medicin, Und leider auch Theologie! Durchaus studiert, mit heissem Bemühn, wo es früher mit den typischen Tiefschlüssen Faustischer Rede hiess: Hab nun ach die Philosophey, Medizin und Juristerey, Und leider auch die Theologie Durchaus studiert mit heisser Müh u. dgl. mehr. Hier weist der unmotivierte Wechsel des melodischen Typus sichtlich auf Störungen des ursprünglichen Wortlauts hin, und eben dadurch wird er uns zu einem directen Hülfsmittel der Kritik. 788

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Auch bei anders gearteten Fragen der neueren deutschen Literaturgeschichte kann die Anwendung dieses Kriteriums ganz hübsche Nebenresultate abwerfen. Sollte es z. B. lediglich ein Spiel des Zufalls sein, wenn von den elf Friederikenliedern gerade nur die sechs alle Merkmale vollendeter Goethischer Melodik aufweisen, welche die neuere Literarkritik einmütig als Goethes Eigentum anerkennt, während die fünf mit mehr oder weniger Zuversicht für Lenz in Anspruch genommenen Lieder sich ganz anderer und viel flacherer Melodieformen bedienen? Immerhin wird man bei der neueren deutschen Literatur selten darauf angewiesen sein, von unserm Kriterium Gebrauch zu machen. Um so ergiebiger ist die systematische Anwendung der Melodieprobe für die mittelalterliche deutsche Literatur. Das beruht aber wieder auf einem höchst merkwürdigen Umstande, der an sich in keiner Weise theoretisch notwendig wäre, der aber eben durch die Untersuchung der Literaturdenkmäler selbst als thatsächlich zu Recht bestehend erwiesen wird. Prüft man nämlich die Quellen, deren Echtheit im Ganzen und deren Wortlaut im Einzelnen keinem kritischen Zweifel unterliegt, so ergiebt sich, dass der einzelne mittelalterliche deutsche Dichter mit ganz wenigen, besonders zu erklärenden Ausnahmen, in der Wahl seiner melodischen Ausdrucksmittel durchaus stabil ist, im directesten Gegensatz zum modernen oder auch z. B. zu dem mittelalterlichen provenzalischen Dichter, der sich keinerlei derartige Beschränkung auferlegt. Die Stabilität ist in einzelnen Punkten, z. B. bezüglich der Stimmlage, so gross, dass sie fast einer Zwangsbeschränkung ähnlich sieht. Ein norddeutscher Leser mag aufschlagen, wo er will: er wird beispielsweise Hartmann von Aue beim Vortrag unwillkürlich stets tiefer legen als etwa Wolfram von Eschenbach oder gar Gottfried von Strassburg. Wollte er die Tonlagen etwa einmal versuchsweise vertauschen, so würde er eine ganz unnatürliche, oft an das Parodistische streifende Wirkung erzielen. Man kann eben nicht Gottfried mit tiefer Stimme erzählen lassen: Ein hêrre in Parmenîe was, der jâre ein kint, als ich ez las: der was, als uns diu wârheit an sîner âventiure seit, wol an gebürte künege genôz, an lande fürsten ebengrôz, oder Hartmann hochstimmig: Ein ritter sô gelêret was, daz er an den buochen las swaz er dar an geschriben vant. der was Hartman genant, dienstman was er ze Ouwe, u. s. w. Erst wenn wir die falsche Stimmlage umkehren, finden wir den wahren Erzählerton beider Autoren. Auch in der Lyrik ist es nicht anders, der man doch am 789

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ehesten nach ihrem wechselnden Stimmungsgehalt auch einen Wechsel der Tonlage beim Einzeldichter zutrauen möchte: Hartmanns echte Lieder sind sämmtlich ebenso ausgesprochen tiefstimmig wie seine epischen Werke, umgekehrt verträgt bei Walther von der Vogelweide selbst die wehmütige Elegie Owê war sint verswunden elliu mîniu jâr? ist mir mîn leben getroumet oder ist ez war? daz ich ie wânde daz iht wære, was daz iht? im Zusammenhang keine tiefe Tonlage. Am deutlichsten sind diese Stimmunterschiede wol gerade bei den ältesten deutschen Lyrikern ausgeprägt. Der Kürenberger, Meinloh von Sevelingen, Dietmar von Aist sind da z. B. gute Muster für consequente Tieflage, während Friedrich von Hausen ein exquisites Beispiel für Hochlage liefert. Das ist nun gewiss ein sehr befremdlicher Zustand, und wir vermögen vorläufig in keiner Weise zu erklären, warum es so ist und nicht anders. Aber die fortgesetzten Reactionsproben geben so constante Resultate im Sinne jener Stabilität, dass man sie nicht mit dem billigen Einwand beiseite schieben kann, man glaube nicht an die Erscheinung, weil man deren Gründe nicht kenne und weil a priori auch andre Zustände denkbar seien. Lassen Sie mich nun auch auf diesem Gebiete die Anwendbarkeit des melodischen Kriteriums durch einige Beispiele illustrieren. Ich beginne mit der formalen Textkritik. Hier wird man nach dem Gesagten ohne Weiteres den Satz aufstellen dürfen, dass es unzulässig ist, eine durch die Ueberlieferung gebotene Stabilität der melodischen Form durch die Einsetzung von Conjecturen zu zerstören. Das ist aber in unsern kritischen Ausgaben sehr häufig geschehen, weil man eben von dem Stabilitätsprincip noch keine Kenntnis hatte. Auch hierfür nur ein Beispiel. Bei dem bekannten Tagelied Dietmars von Aist verlangt der handschriftliche Text zunächst einige minimale Berichtigungen der Sprachform und eine ebenso selbstverständliche Wortumstellung, um metrisch lesbar zu sein. Dann ergiebt sich folgendes melodische Bild. Die Stimmlage bleibt durchgehends stabil, die Tonbewegung innerhalb der durch die Stimmlage gebotenen Grenzen ist ziemlich lebhaft: sie steht der dipodischen Bindung nahe und durchläuft nicht unbeträchtliche Intervalle. Alle Verse haben Tiefschluss: ,Slâfẹst du, friedel ziere? wan weckẹt uns leider schiere. ein vogellîn sô wol getân daz ist der linden an daz zwî gegân.‘ ,Ich was vil sanfte entslâfen: nu rüefẹstu kint Wâfen. liep âne leit mac niht gesîn: swaz du gebiutẹst, daz leiste ich, friundin mîn.‘ 790

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Diu frouwe begunde weinen. ,du rîtẹst hinnen und lâst mich eine(n). wenne wilt du wider her zuo mir? owê du füerẹst mîn fröide samet dir. Ganz anders bei der Gestalt, in die der Text in Minnesangs Frühling gebracht ist. Da finden wir ein wunderliches Gemisch melodischer Gegensätze: Wo der handschriftliche Text gewahrt ist, behält er das alte Gepräge, aber alle abweichend constituierten Zeilen sind gegenüber der mitteltiefen Stimmlage des Uebrigen unnatürlich in die Höhe getrieben; ausserdem haben sie zum Teil die lebhaftere Stimmbewegung gegen eine einförmigere, mehr im Niveau bleibende Betonungsweise vertauscht, und sämtlich wieder die sonst charakteristischen Tiefschlüsse verloren. Man urteile selbst: ,Slâfest du, mîn friedel? wan wecket unsich leider schiere, ein vogellîn sô wol getân daz ist der linden an daz zwî gegân.‘ ,Ich was vil sanfte entslâfen: nu rüefestu kint Wâfen wâfen. liep âne leit mac niht gesîn: swaz du gebiutst, daz leiste ich, friundîn mîn‘. Diu frouwe begunde weinen. ,du rîtest hinne und lâst mich einen. wenne wilt du wider her? owê du füerest mîne fröide dar. Wer kann hier daran zweifeln, dass mit der melodischen Form auch die ganze Stimmung des Liedes zerstört ist und dass wir wieder zum überlieferten Text zurückkehren müssen? Mindestens ebensoviel wie für die niedere leistet die Melodieprobe auch für die höhere Kritik, zumal in Echtheitsfragen. Es ist von mir schon oben darauf hingewiesen worden, dass der mittelalterliche deutsche Dichter nur eine Durchschnittsstimmlage kennt, soweit es sich um Werke von unbezweifelter Echtheit handelt. Die Stabilität der Stimmlage geht aber fast allemal in die Brüche, wenn man zweifelhafte oder sicher untergeschobene Stücke zum Vergleich heranzieht. In Minnesangs Frühling schliesst z. B. die Sammlung der Spervogelsprüche mit einer Strophe, zu der Haupt bemerkt: „Diese altertümliche Strophe habe ich hier untergebracht, ohne grosses Bedenken, aber auch ohne den Dichter verbürgen zu wollen“. Sie beginnt mit den Worten Güsse schadet dem brunnen: sam tuot dem rîfen diu sunne: sam tuot dem stoube der regen 791

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und ist ausgesprochen hochstimmig. Alle gut bezeugten Sprüche des alten Spervogel aber, wie z. B. Ein wolf und ein witzic man sazten schâchzabel an: si wurden spilnde umbe guot, sind ebenso ausgesprochen tiefstimmig, und damit fällt die Berechtigung, jene erste Strophe auch nur vermutungsweise dem alten Spervogel zuzuschreiben. Ein besonders willkommenes Hülfsmittel liefert uns die Melodieprobe da, wo es gilt, die Arbeit von Nachahmern von den echten Werken eines Autors zu trennen. Ein glücklicher Zufall hat es nämlich so gefügt, dass gerade in der Tonlage die Nachahmer ihre Vorbilder fast nie zu copieren verstanden haben, und oft auch in andern Punkten der melodischen Technik nicht. So beginnt z. B. die kurze Verserzählung Von der halben Birne, die sich, wie wir jetzt wissen5, mit Unrecht als Werk Konrads von Würzburg bezeichnet, mit den Worten: Hie vor ein rîcher künec was, als ich von im geschriben las, der het ein wunneclîchez wîp und eine tohter, der ir lîp stuont ze wunsche garwe. Der Melodietypus dieser Verse bleibt durch das ganze Gedicht: ziemlich tiefe Stimmlage und ausgesprochene Vorliebe für Tiefschluss. Dem stehen die über 100 000 echten Verse Konrads gegenüber, etwa mit diesem Typus: Ein ritter und ein frouwe guot diu heten leben unde muot in ein ander sô verweben, daz beide ir muot und ouch ir leben ein dinc was worden also gar: swaz der frouwen arges war, daz war ouch dem ritter. Also hohe Stimmlage, überwiegender Hochschluss, und prägnanter Tiefschluss nur als Ruhepunkt beim Satzende. Ebenso isoliert steht z. B. das sog. Zweite Büchlein den etwa 25 000 echten Versen Hartmanns von Aue gegenüber. Hartmann ist überall Tiefstimmer mit ausgeprägter Vorliebe für Tiefschluss, daneben – von den lyrischen Gedichten ist hier abzusehen – ein Meister lebendiger Modulation. Ich greife, um das zu illustrieren, zum Vergleich ein, übrigens nicht einmal sehr charakteristisches Stück, den Schluss, aus dem sicher echten sog. Ersten Büchlein heraus. Es lautet: 5

S. K. Zwierzina, Zeitschrift für deutsches Altertum 43, 107 f.

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Antrittsrede 1901

,Ouch behalt du dînen glimph, daz sî in ernest ode in schimph von dir daz wort iht verneme daz sî zeheime hazze neme, und ervar ir willen swâ dû kanst, ob dû dir sælde und heiles ganst. nû sûme dich niht mêre: ich bevilh dir unser êre, unser heil stêt an dir: nû soltu, lîp, hin zir unser fürspreche sîn‘. ,daz tuon ich gerne, herze mîn‘. Nun versuche man einmal, irgend einen Passus des Zweiten Büchleins nach diesem Muster zu lesen: es ist einfach unmöglich. Der Text treibt unwiderstehlich zu höherer Tonlage, zur Nivellierung der Tonschritte und zu typischem Hochschluss hin. Man vergleiche etwa diese Zeilen, ebenfalls aus dem Schlusse des Büchleins: ,Kleinez büechel, swâ ich sî, sô wone mîner frowen bî, wis mîn zunge und mîn munt unt tuo ir stæte minne kunt, daz sî doch wizze daz ir sî mîn herze zallen zîten bî, swie verre joch der lîp var‘. Auch für schwierigere und annoch schwebende Fragen der Kritik vermag die Melodieprobe reichlichen Gewinn abzuwerfen. Ich möchte es wenigstens nicht unausgesprochen lassen, dass z. B. auch auf die heiss umstrittene Nibelungenfrage von dieser Seite her ein unerwartetes und, wie ich glaube, entscheidendes Licht fällt. Aber das lässt sich ohne Eingehn auf vielerlei Details nicht klarlegen, auch sind meine Untersuchungen hier noch nicht zu genügendem Abschluss gelangt. Ich muss also die genauere Erörterung dieses Problems wie die mancher andern hier eben nur gestreiften oder noch gar nicht berührten Frage einer späteren Gelegenheit vorbehalten6. Ich stehe am Ende meiner Betrachtungen. Wol weiss ich, dass ich Ihnen nichts Abgeschlossenes habe bieten können, kaum mehr als den Ansatz zu einem Programm, dessen Ausführung noch viel geduldige Arbeit erfordern wird. Um so erfreulicher würde es mir sein, wenn Sie auch jetzt schon den Eindruck hätten gewinnen können, dass hier ein Weg angedeutet ist, den zu betreten der Mühe lohnt. 6

Eine eingehende Untersuchung der ganzen Frage gedenke ich in der Fortsetzung meiner „Metrischen Studien“ vorzulegen, deren erster Teil („Studien zur hebräischen Metrik“) in den Abhandlungen der Kön. Sächs. Gesellschaft der Wissenschaften Bd. 21, No. 1. 2 (Leipzig 1901) erschienen ist.

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31. October 1902. Rede des abtretenden Rectors Dr. phil. Eduard Sievers. Bericht über das Studienjahr 1901/02. Hochansehnliche Versammlung! Das abgelaufene Universitätsjahr, über das ich nach alter akademischer Sitte heute kurzen Bericht abzustatten habe, steht unter dem Zeichen der Trauer über das Hinscheiden Seiner Hochseligen Majestät des Königs Albert, unseres allgeliebten Fürsten und Herrn. Was König Alberts Regierung für sein Land und Volk, was sie insbesondere auch für uns Alles bedeutet, das eingehender zu schildern, steht mir in dieser Stunde nicht zu. Nur wenige Worte dankbarer Erinnerung seien mir gestattet. Als ruhmbedeckter Kriegsmann und Feldherr stand Kronprinz Albert vor den Augen des deutschen Volkes da, als er zur Herrschaft über das Sachsenland berufen wurde. Ein kraftvoller Vorkämpfer für deutsche Einheit und Wehrhaftigkeit ist unser König Albert auch geblieben bis zum Ende. Aber mit gleich unverrückbarer Liebe und Treue hat der grosse Kriegsheld – dessen gedenken wir mit staunender Bewunderung – vom ersten bis zum letzten Augenblick seiner Regierung auch der Pflege aller Künste des Friedens seine landesväterliche Fürsorge zugewendet. Ein besonders reiches Mass Königlicher Huld und Gnade ist dabei stets unserer Universität zu Teil geworden, zumal seit sie, am 18. Juni 1875, der hohen Auszeichnung gewürdigt wurde, in dem geliebten Landesherrn zugleich ihren Rector magnificentissimus verehren zu dürfen. Das Blühen und Gedeihen der Universität, die unter seiner Regierung zum Range einer der ersten Pflegstätten der Wissenschaft und ihrer Lehre emporgewachsen ist, hat König Albert stets mit lebendigster persönlicher Anteilnahme verfolgt. Wir alle wissen, wie er es sich nicht hat nehmen lassen, fast alljährlich in unserer Mitte zu erscheinen, um sich von Stand und Fortschritten der Universität und der mit ihr verbundenen Anstalten mit feinem Verständnis auf das Eingehendste zu unterrichten. Auch in diesem Jahre ist die Universität wieder der hohen Ehre teilhaftig geworden, ihren erhabenen Schirmherrn nebst seiner erlauchten Gemahlin, Ihrer Majestät der Königin Carola, in den Räumen des stolzen Baues, den sein Name ziert, in Ehrfurcht begrüssen zu dürfen, als beide Majestäten in den Tagen vom 4. bis 7. Februar in den Mauern Leipzigs weilten und dabei in altgewohnter Weise durch den Besuch von Vorlesungen der Universität ihr Allerhöchstes Wolwollen von neuem zu erkennen gaben. Mit Rührung und Wehmut gedenken wir dieses letzten Besuches, der es uns vergönnte, noch einmal in das gütige Antlitz des geliebten Fürsten zu schauen, über dessen Haupte doch schon die Schatten schwerer Krankheit schwebten. 794

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Am 23. April durfte die Universität noch das Geburtsfest Seiner Majestät durch einen feierlichen Actus in der Aula begehen, bei dem der Prorector Dr. Zweifel die Festrede hielt. Aber die Hoffnung, die uns auch damals nicht verlassen hatte, die kraftvolle Heldennatur Seiner Majestät werde des tückischen Feindes wieder Herr werden, der sein Leben bedrohte, sollte nicht in Erfüllung gehen. Am 19. Juni brach für immer das treue Auge des edeln Fürsten, in der stillen Abgeschiedenheit des Schlosses Sibyllenort, in dem er so oft Ruhe und Erquickung gesucht und gefunden hatte. Der tiefen Trauer und der innigsten Anteilnahme der Universität an dem allerschütternden Verlust hat der Akademische Senat in einem am 20. Juni an Ihre Majestät die Königin-Witwe gerichteten Beileidsschreiben Ausdruck gegeben. Bei den Feierlichkeiten der Beisetzung Seiner Hochseligen Majestät am 23. Juni war die Universität durch Rector und Decane vertreten. Am 29. Juni fand in der Universitätskirche eine akademisch-kirchliche Trauerfeier statt, bei der der erste Universitätsprediger D. Rietschel in ergreifenden Worten ein Lebens- und Charakterbild des Hohen Entschlafenen zeichnete. Dem neuen Landesherrn, Seiner Majestät König Alberts erlauchtem Bruder, Seine Majestät dem König Georg durfte die Universität am 7. Juli durch Rector und Decane ihre Huldigung darbringen. In gnädigster Weise hat Seine Majestät dabei den Ausdruck des Beileides sowie das Treugelöbnis der Universität entgegengenommen und sie seiner Königlichen Huld und landesväterlichen Fürsorge versichert. Insbesondere aber hat, wie den Angehörigen der Universität bereits durch eine lateinisch abgefasste Urkunde öffentlich zur Kenntnis gebracht worden ist, Seine Majestät allergnädigst geruht, der ehrfurchtsvollen Bitte der Universität entsprechend, dieselbe Würde eines Rector magnificentissimus derselben anzunehmen, durch deren Annahme Seine Majestät der König Albert als erster unter den Herrschern Sachsens einst die Universität ausgezeichnet hatte. Dankerfüllt und gehoben durch diese Beweise Königlicher Huld erneut die Universität heute das freudige Gelöbnis unverbrüchlicher Treue und Ergebenheit, das sie an jenem Tage vor Seiner Majestät abgelegt hat. Und getrost schaut sie der Zukunft entgegen, in der sichern Gewissheit, dass sie im Schutze eines starken, gerechten und gnädigen Schirmherrn steht, der als treuer Hüter der hohen Traditionen des Wettinischen Herrscherhauses auch ihre Geschicke stets zum besten lenken wird. Die tiefe Erschütterung des Trauerjahres wird noch lange in uns nachbeben. Um so freudiger können wir berichten, dass doch auch dies Jahr sonst als eine Zeit ruhiger, friedlicher Arbeit und gedeihlichen Fortschritts bezeichnet werden darf. Auch heute hat die Universität für ihr zu Teil gewordene Förderung wiederum vielfachen Dank auszusprechen. Dieser Dank gilt vor allem der auf einsichtsvollstem Verständnis ruhenden, unablässigen Fürsorge der Königlichen Staatsregierung sowie der hochherzigen Bereitwilligkeit der Stände unseres Landes, auch in schwerer Zeit den hohen Anforderungen gerecht zu werden, welche die Grösse der zu erfüllenden Aufgabe an sie stellte. Dem einmütigen Zusammenwirken von Staatsregierung und Landesvertretung verdankt es die Universität insbesondere, dass die durch die Umstände erforderte 795

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Ausgestaltung der Universitätsinstitute wiederum wesentliche und hocherfreuliche Fortschritte gemacht hat. So sind, um nur das Hauptsächlichste hervorzuheben, der Neubau des Veterinärinstituts und der Erweiterungsbau beim Laboratorium für angewandte Chemie wesentlich zu Ende geführt, der Neubau des Landwirtschaftlichen und des Physikalischen Instituts nach Massgabe der verfügbaren Etatsmittel gefördert worden. Neu bewilligt wurden ferner zusammen 1,170,000 Mark für den Neubau einer Pathologischen Anstalt und eines Instituts für gerichtliche Medicin sowie für die Umgestaltung der jetzigen Räume des Landwirtschaftlichen Instituts für Zwecke des Laboratoriums für angewandte Chemie. Auch von hochherziger privater Förderung insbesondere ihres Stiftungswesens hat die Universität wieder mit gebührendem Danke zu berichten. Durch letzten Willen vom 29. Juni 1898 hat die am 20. December 1901 in Leipzig verstorbene Frau Anna Sophie verw. Dr. Roux geb. Günther der Universität ein Capital von 4000 Mark zugewandt, von dessen Zinsen der Freitischfonds für Studierende verstärkt werden soll, und ein zweites Capital von 2000 Mark zur Verstärkung der von ihrem verstorbenen Ehegatten, Advocat und Notar Dr. Eduard Arthur Roux im Jahre 1871 gestifteten Ernst Roux-Stipendiums. Aus Anlass des am 8. November 1901 gefeierten fünfundzwanzigjährigen Professorenjubiläums des ordentlichen Professors der Geographie, Geh. Hofrats Dr. Friedrich Ratzel hat fernerhin eine Anzahl von dessen Freunden und Schülern die Summe von 4428 Mark übermacht, als Grundstock eine Friedrich Ratzel-Stiftung, deren Jahreszinsen würdigen und bedürftigen Studierenden der Geographie die Mittel zu einer wissenschaftlichen Reise gewähren sollen. Die grossartige Puschmann-Stiftung für Geschichte der Medicin, deren heute vor einem Jahre hier gedacht wurde, hat noch nicht in Wirksamkeit treten können, weil die Gültigkeit des Testamentes der beiden Erblasser von deren Intestaterben annoch bestritten wird. Gern gedenken wir noch an dieser Stelle der segensreichen Wirkung unserer Albrecht-Stiftung. Aus ihren Mitteln haben diesmal 11,400 Mark zur Unterstützung wissenschaftlicher Reisen und sonstiger wissenschaftlicher Unternehmungen verwendet werden können. Besonders wertvolle Geschenke empfing im Jahre 1901/2 das Archäologische Institut der Universität. Von kleineren Gaben abgesehen, übersandte ein amerikanischer Kunstfreund, der eine Menge kleinerer Antiken an deutsche Universitätssammlungen verteilt hat, eine beträchtliche Reihe griechischer Terracottafiguren, sowie wertvolle Vasen und Bronzen, dazu mehrere Gipsabgüsse, unter denen sich eine noch wenig bekannte Jünglingsstatue des Museums in Boston befindet. Von dem durch die Generalverwaltung der Königlich Preussischen Museen zur Verteilung gebrachten Doubletten der Trojanischen Sammlung Heinrich Schliemanns erhielt das Archäologische Institut einen stattlichen Anteil, welcher dem Unterricht gleichfalls sehr zu Gute kommen wird. Unter den Zuwendungen, welche die Universitätsbibliothek von privater Seite erfahren hat, seien folgende hervorgehoben. Eine mehr als 100 Nummern umfassende Sammlung balneologischer Werke schenkte Herr Geh. Medicinalrat Profes796

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sor Dr. Albin Hoffmann. Von Herrn Redacteur Friedrich Sauerhering empfing die Bibliothek 11 Werke historischen Inhalts. Die Bibliothekare Dr. ph. Otto Günther und Dr. ph. Paul Theodor Kühn schenkten eine Anzahl meist auf neuere Literatur bezüglicher Werke in zusammen ca. 60 bez. ca. 270 Bänden. An der Begehung bedeutungsreicher Gedenktage hat die Universität wiederholt Anteil genommen. Durch den Rector persönlich war sie bei der erhebenden Jahrhundertfeier des Geburtstags Seiner Majestät des Hochseligen Königs Johann am 12. December vertreten, die durch die Anwesenheit Seiner Königlichen Hoheit des Prinzen Friedrich August ausgezeichnet wurde. Ebenso in den Tagen vom 14.– 16. Juni in Nürnberg bei dem glänzenden Feste, das in Gegenwart Ihrer Majestäten des Deutschen Kaisers und der Deutschen Kaiserin sowie anderer Deutscher Fürsten zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens des Germanischen Nationalmuseums stattfand. Am 16. October endlich hatte der Rector Gelegenheit, bei der Einweihung des neuerbauten Schulhauses des Königin Carola-Gymnasiums hierselbst die guten Wünsche der Universität zu übermitteln. Zu den fünfzigjährigen Jubiläen der Universitäten Manchester am 12. März und Sydney am 30. September – 4. October, sowie zu dem dreihundertjährigen Jubiläum der Bibliotheca Bodleiana in Oxford hat die Universität ihre Glückwünsche in Form lateinischer Adressen gesandt. Eine ebensolche Adresse wurde bei der vom 5.–7. September in Christiania stattgehabten Centenarfeier Nicolaus Friedrich Abels im Namen des Akademischen Senats durch den Professor Dr. Friedrich Engel überreicht. Fern von Leipzig feierten am 12. August der ordentliche Honorarprofessor der Juristischen Facultät Dr. jur. Moritz Voigt das fünfzigjährige Doctorjubiläum, und am 23. August der Senior der Universität und der Theologischen Facultät, Geheime Rat Dr. th. Gustav Adolf Fricke den 80. Geburtstag. Beiden hochverehrten Collegen konnte die Universität, da sie sich einer persönlichen Begrüssung durch ihre Abwesenheit entzogen hatten, ihre herzliche Anteilnahme an den seltenen Festen nur durch Glückwunschschreiben bezeugen. An dem Lehrkörper der Universität ist auch das verflossene Jahr nicht ohne mannigfachen Verlust und Gewinn vorübergegangen. Mit Schmerz gedenken wir zunächst der Lücken, welche der Tod in unsere Reihen gerissen hat, indem er uns drei werte und verdiente Collegen raubte. Am 5. März starb der Privatdocent in der Juristischen Facultät und Rechtsanwalt beim Reichsgericht, Justizrat Dr. jur. Peter Klöppel. Geboren zu Cöln am 1. Juli 1840, hat er unserer Universität seit dem Sommer 1888 angehört. In seiner akademischen Tätigkeit hat er hauptsächlich das öffentliche Recht gepflegt, dessen Gebiet auch seine literarischen Arbeiten fast ausschliesslich angehören. Ausgerüstet mit einer umfassenden philosophischen und historischen Bildung hat er mit Vorliebe die allgemeinen Fragen seines Gebiets, wie die über Gesetz und Obrigkeit, Rechtsstaat und Parlamentarismus, die Entstehung der geschichtlichen Staatsansicht u. dgl. behandelt. Was ihn bei allen seinen Arbeiten auszeichnete, war die Geschichtlichkeit seiner Auffassung, die auf der Ueberzeugung ruhte, dass das geltende Recht und die bestehenden Rechtsinstitutionen nur aus deren Vergangenheit heraus zu begreifen seien. 797

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Nach nur kurzer Wirksamkeit an unserer Universität wurde der Philosophischen Facultät am 10. Juni der Geh. Oberschulrat Professor Dr. ph. Hermann Schiller durch den Tod entrissen. Geboren am 7. November 1839 zu Wertheim am Main, gehörte Schiller ein Vierteljahrhundert hindurch der Universität Giessen als ordentlicher Professor der Pädagogik an. In dieser Stellung entfaltete er eine ebenso rastlose und vielseitige als erfolgreiche Tätigkeit auf dem Gebiete der theoretischen und insbesondere der praktischen Fragen des höheren Schulwesens. Nachdem er aus dieser Stellung geschieden war, liess er sich im Jahre 1899 an unserer Universität nieder und zog hier durch seine aus einem Schatze reicher Erfahrung belebten Vorträge einen grossen Kreis Studierender an. Durch sein „Handbuch der praktischen Pädagogik für höhere Lehranstalten“ hat er dem Lehrerstande ein Werk gegeben, das noch für längere Zeit vielen zur Klärung und Wegweisung dienen wird. Einen besonders schmerzlichen Verlust hat die Theologische Facultät zu betrauern. Am 21. September entschlief im 80. Lebensjahre der nur wenige Monate zuvor, am 1. April, in den Ruhestand getretene ordentliche Professor der Theologie, Geheime Rat Dr. th. Christoph Ernst Luthardt, weiland Senior der Universität und der Theologischen Facultät. Zu Maroldweisach in Unterfranken 1823 geboren, hat er nach kürzerer akademischer Tätigkeit in Erlangen und Marburg seit 1856 der Universität Leipzig angehört und an ihr vorzugsweise seine eingreifende und weitreichende Wirksamkeit als Lehrer und Schriftsteller entfaltet. Die Theologie seines Lehrers Hofmann in kirchlichem Sinne weiterbildend, ist er für die enge Verbindung der wissenschaftlichen Arbeit und des kirchlichen Lebens tätig gewesen. Seine wissenschaftlichen Studien galten vorzugsweise der systematischen Theologie und ihrer Geschichte, sowie der Exegese des Neuen Testaments. In die Entwicklung der Johanneischen Frage hat er durch selbständige Untersuchungen eingegriffen und vielgebrauchte Lehrbücher der Dogmatik und Ethik geschaffen. Zugleich hat er um seine apologetischen Schriften einen weiten Kreis gebildeter Leser gesammelt und durch die von ihm geleitete Kirchenzeitung einen massgebenden Einfluss auf die deutschen kirchlichen Angelegenheiten ausgeübt. Auch im Kreise der Lebenden hat sich manche Veränderung vollzogen. Von der Vertretung der systematischen Theologie wurde auf sein Ansuchen der Senior der Theologischen Facultät Geheimer Rat Dr. th. Gustav Adolf Fricke entbunden. In den erbetenen Ruhestand trat (ausser Luthardt, dessen ich eben bereits gedachte) im Sommersemester der ordentliche Honorarprofessor der Philosophischen Facultät Dr. ph. Woldemar Bernhard Wenck. Nach dreiunddreissigjähriger rastloser und erfolgreicher Wirksamkeit an unserer Universität folgte dem Genannten am 1. October der Senior der Juristenfacultät Geheimer Rat Dr. Adolf Schmidt, und am gleichen Tage, durch schwere Erkrankung zu vorzeitigem Ausscheiden veranlasst, der ausserordentliche Professor der Philosophischen Facultät Dr. ph. Anton Weddige. Unsere besten Wünsche begleiten die verehrten Collegen, und herzlicher Dank für das, was sie uns und unserer Universität gewesen sind. Der durch lockende Berufung an die Universität der Reichshauptstadt drohende Verlust von drei hochgeschätzten Collegen ist zu unserer grossen Freude dank dem 798

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Entgegenkommen der Königlichen Staatsregierung von uns abgewendet worden. Dagegen mussten wir aus dem Kreise der Ordinarien den Professor der theoretischen Physik, Geheimen Rat Dr. ph. Ludwig Boltzmann scheiden sehen, der nach nur zweijähriger Tätigkeit in Leipzig sich dafür entschied, in seine frühere Stellung in Wien zurückzukehren. Weiterhin verlor die Medicinische Facultät den ordentlichen Honorarprofessor Dr. med. Gustav Riehl, der als ordentlicher Professor der Dermatologie gleichfalls nach Wien übersiedelte. Ehrenvolle Berufungen zu einer grösseren auswärtigen Wirksamkeit haben ausserdem eine grössere Anzahl jüngerer Collegen aus Leipzig fortgeführt. Aus dem Kreise der Docenten der Medicinischen Facultät schieden so aus die Privatdocenten Dr. med. Martin Ficker infolge Berufung als Custos beim hygienischen Museum der Universität Berlin, und Dr. med. Wilhelm Müller, der als erster Assistent und Oberarzt der Medicinischen Klinik nach Greifswald ging. Ebenso wurden aus der Philosophischen Facultät fortberufen: die ausserordentlichen Professoren Dr. ph. Alfred Fischer als ordentlicher Professor der Botanik an die Universität Basel, und Dr. ph. Oscar Knoblauch als ausserordentlicher Professor der Physik an die technische Hochschule in München; desgleichen die Privatdocenten Dr. ph. Ferdinand Sommer als ordentlicher Professor der vergleichenden Sprachwissenschaft an die Universität Basel, Dr. ph. Carl Sapper als ausserordentlicher Professor der Geographie an die Universität Tübingen, und Dr. ph. et med. Gustav Störring als ordentlicher Professor der Philosophie an die Universität Zürich. Endlich ist zu erwähnen, dass der ausserordentliche Professor der Theologischen Facultät Dr. th. et ph. Gustav Dalman vom 1. October ab auf zwei Jahre beurlaubt wurde, um einem Rufe als Leiter des Deutschen evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes in Jerusalem folgen zu können. Mögen alle die so von uns Geschiedenen in ihren neuen Wirkungskreisen reiche Befriedigung finden und ebenso freundlich an ihre Leipziger Tätigkeit zurückdenken, wie ihnen ein freundliches Andenken in unserem Kreise sicher ist. Den erwähnten Verlusten stehen erfreuliche Bereicherungen unseres Lehrkörpers gegenüber, wenn es auch nicht möglich gewesen ist, alle Lücken dauernd zu schliessen, welche das letzte Jahr und zum Teil schon das vorausgegangene gerissen hatten. In die Theologische Facultät trat am 1. October, von Erlangen zu uns herüberkommend, der ordentliche Professor der systematischen Theologie Dr. th. Ludwig Ihmels neu ein. In die Medicinische Facultät wurde zum gleichen Termin berufen der bisherige ausserordentliche Professor Dr. med. Johann Heinrich Rille in Innsbruck als ausserordentlicher Professor und Director der Klinik und Poliklinik für Syphilis und Hautkrankheiten, in die Philosophische Facultät im Wintersemester 1901/2 der bisherige Privatdocent Dr. ph. Friedrich Falke als ausserordentlicher Professor der Landwirtschaft, und zum Sommer 1902 der bisherige Privatdocent Professor Dr. ph. Carl Correns in Tübingen als ausserordentlicher Professor der Botanik. Dass die neuen Collegen sich bald und dauernd bei uns heimisch fühlen mögen, ist unser aufrichtiger Wunsch. 799

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Mit der Vertretung der seit dem Fortgang von Professor Dr. Erich Marcks noch immer verwaisten ordentlichen Professur für neuere Geschichte wurde überdies der ausserordentliche Professor Dr. ph. Erich Brandenburg interimistisch beauftragt, unter gleichzeitiger Ernennung zum stellvertretenden Director der entsprechenden Abteilung des Königlichen historischen Seminars. Zum ausserordentlichen Professor der chemischen Technologie wurde an Stelle des ausgeschiedenen Professors Dr. Weddige der ausserordentliche Professor Dr. ph. Berthold Rassow ernannt. Weiterhin erhielten noch Lehraufträge die bisherigen ausseretatsmässigen ausserordentlichen Professoren Lic. th. Dr. ph. Johannes Kunze für Dogmatik, Dr. ph. Eugen Mogk für nordische Philologie, Dr. ph. Hermann Hirt für indogermanische Sprachwissenschaft, und Dr. ph. Gustav Weigand für romanische Sprachen. Zu ausseretatsmässigen ausserordentlichen Professoren wurden folgende bisherige Privatdocenten befördert: in der Theologischen Facultät Lic. th. Dr. ph. Heinrich Böhmer; in der Juristenfacultät die Drr. jur. Wolfgang Stintzing, Woldemar August Engelmann und Paul Gustav Kretzschmar; in der Medicinischen: Prosector Dr. med. Franz Carl Saxer; in der Philosophischen ausser Dr. ph. Berthold Rassow, dessen weiterer Beförderung eben schon gedacht wurde, die Drr. ph. Felix Hausdorff, Arthur Prüfer und Julius Kaerst. Erfreulich gross ist wiederum der Zugang an neuen Privatdocenten gewesen: ein Beweis dafür, dass junge Gelehrte die Universität Leipzig noch immer gern zum Ausgangspunkt ihrer akademischen Laufbahn wählen. Es habilitierten sich: in der Juristenfacultät Dr. jur. Ernst Rabel; in der Medicinischen die Drr. med. August Döllken und Rudolf Erhard Riecke; in der Philosophischen die Drr. ph. Ernst Friedrich für Geographie, Max Brahn für Philosophie, Martin Henze und Victor Rothmund für Mineralogie und Geologie, Max Deutschbein für englische Philologie, Hugo Miehe für Botanik, endlich Richard Scholz für mittlere und neuere Geschichte. Möge ihnen allen glücklichster Erfolg in ihrer Tätigkeit beschieden sein. Auch innerhalb des Kreises der Universitätsbeamten sind mehrfache Veränderungen zu verzeichnen. Bei der Universitätsbibliothek wurden die bisherigen Bibliothekare Professor Dr. ph. Eduard Zarncke und Dr. ph. Robert Abendroth zu Oberbibliothekaren ernannt, sowie der stellvertretende Assistent cand. rev. min. Heinrich Kessler zum Assistenten. Als Volontär trat der Diaconus emer. Friedrich Rosenthal ein, dagegen schied der Volontär Dr. ph. Alfred Goetze aus, um eine Stellung als Hilfsarbeiter bei der Universitätsbibliothek zu Freiburg i/Br. zu übernehmen. Beim Universitätsgericht trat an Stelle des ausgeschiedenen Geheimen Rates Dr. jur. Adolf Schmidt der Geheime Rat Professor Dr. jur. Emil Friedberg als ständiger Beisitzer ein. Weiterhin wurde zur Entlastung des Universitätsrats und Universitätsrichters Oberjustizrat Dr. jur. Moritz Meltzer, der im Vorjahre das vierzigjährige Jubiläum seiner Wirksamkeit bei der Universität gefeiert hatte, mit dem 1. October der Assessor Johannes Benno Flade, bisher Hilfsrichter in Brand, als juristischer Hilfsarbeiter angestellt. Als Lehrer des Obst- und Gartenbaues am Landwirtschaftlichen Institut der Universität wurde der Dr. ph. Ernst Sebaldus Anton Zürn ernannt. 800

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Endlich trat an Stelle des mit dem 1. Juli in den Ruhestand getretenen Universitätsfechtmeisters Ludwig Cäsar Roux dessen Sohn und bisheriger Stellvertreter Paul Roux. Ich gelange nun zu den Promotionen. Ehrenpromotionen sind im Berichtsjahr nur zwei vollzogen worden, in der Theologischen Facultät die des evangelischen Pfarrers Camillo Feller in Karlsbad, in der Juristenfacultät die des Verlagsbuchhändlers Carl Franz Stephan Geibel. Rite promovirt wurden in der Theologischen Facultät 1 Bewerber zum Dr. th., und 9 Bewerber zu Licentiaten der Theologie; in der Juristenfacultät 191 Bewerber; in der Medicinischen Facultät 162 approbierte Aerzte und 3 Ausländer; in der Philosophischen Facultät endlich 193 Bewerber. Diplomerneuerungen aus Anlass des fünfzigjährigen Doctorjubiläums haben folgende stattgefunden. In der Juristenfacultät, wie schon berichtet, für unseren verehrten Collegen Professor Dr. jur. Moritz Voigt zum 12. August. In der Medicinischen Facultät 5: zum 5. April für den Dr. med. Johannes Emil Jecklin in Thum bei Annaberg; zum 14. Mai für den Medicinalrat Dr. med. Ferdinand Gruner in Grossenhain; zum 17. Juli für den Medicinalrat Dr. med. Heinrich Ludwig Fickert in Ölsnitz, zum 6. September für den Sanitätsrat Dr. med. August Soltmann, und zum 10. September für den Geheimen Sanitätsrat Dr. med. Martini, beide in Dresden. In der Philosophischen Facultät 6: zum 9. November 1901 für den Privatgelehrten Dr. ph. Carl Gotthelf Häbler in Dresden; zum 19. April 1902 für den Rector a. D. Professor Dr. ph. Carl Schubart in Dresden; zum 13. Juli für den Gymnasialprofessor a. D. Dr. ph. Hermann Wunder in Grimma; zum 19. Juli für den Pfarrer emer. Dr. ph. Moritz Hermann Rudolph in Oberlössnitz; zum 30. September für den Oberconsistorialrat, Hofprediger a. D., Dr. ph. Richard Loeber in Dresden, endlich zum 27. October für den Geh. Oberschulrat Dr. ph. Ernst Wilhelm Hartwig in Schwerin. Wende ich mich nun unserer Studentenschaft zu, so haben wir vor allem den frühen Tod von 7 Commilitonen zu beklagen, mit denen ein reicher Schatz von Hoffnungen zu Grabe gegangen ist. Nicht verschweigen darf ich, dass zwei von den Gestorbenen den Tod durch eigene Hand gefunden haben. Was die Bedauernswerten in den Tod getrieben hat, ob die Wirkung eines irregeleiteten und allzu gespannten Ehrbegriffs, ob ein Mangel an innerem Halt und sittlicher Festigkeit oder eine andere Ursache: wir wissen es nicht. Aber eine ernste Lehre und Mahnung liegt in ihrem traurigen Geschick: dass die aufwärts strebende Jugend der energischen Sammlung und Anspannung aller idealen und sittlichen Kräfte Bedarf, um im Kampf mit der harten Wirklichkeit das Lebens in Ehren zu bestehen. Ihrem alten Ruf, eine Arbeitsuniversität zu sein, ist unsere Hochschule auch im abgelaufenen Jahre treu geblieben. Wir Docenten haben allen Anlass, des Fleisses unserer Hörer sowol im Besuch der Vorlesungen als in der Teilnahme an Uebungen, Seminarien u. dgl. rühmend zu gedenken. Im amtlichen Verkehr mit den Commilitonen habe ich, gleich meinen Herren Amtsvorgängern, nur Erfreuliches erlebt. Insbesondere schätze ich mich glücklich, dass ich nie in die Lage gekommen bin, an ihren Gemeinsinn vergeblich zu appellieren. Dass unsere Studentenschaft trotz aller inneren Gegensätze, wie sie die Jugend 801

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und Verschiedenheiten der Lebensanschauung mit sich bringt, doch auch einmütig zusammenstehen kann, hat sie bei ernstem wie bei freudigem Anlass gezeigt, sowol als es galt, auch ihrerseits fremde Schmähung unserer nationalen Ehre zurückzuweisen, wie bei den Vorbereitungen für den Empfang Seiner Majestät des Königs bei seinem bevorstehenden Besuch der Universität. Möge den Beweisen des Könnens bald auch ein dauerndes und ausgiebiges Wollen folgen, damit eine nahe Zukunft uns bringe, was wir so lange und so oft schmerzlich vermisst haben: eine einheitliche und einhellige Ordnung und Vertretung der gemeinsamen Interessen unserer gesammten Studentenschaft, nach innen wie nach aussen. Ueberschreitungen der Disciplinargesetze der Universität durch Studierende sind, wie ich mit Befriedigung constatiren kann, auch in diesem Universitätsjahr verhältnismässig selten, und vorwiegend nur in leichteren Fällen, zu ahnden gewesen. Doch sind uns auch schwerere Vergehen leider nicht ganz erspart geblieben. Ein tief Gesunkener musste wegen gemeinen Verbrechens für immer relegiert werden, und zweimal hatte das Universitätsgericht auf die Strafe des Consilium abeundi zu erkennen. Die Studentenziffer wird im gegenwärtigen Semester voraussichtlich mindestens dieselbe Höhe erreichen wie im Vorjahr. Immatriculiert wurden im Rectoratsjahr 2240 Studierende, gegen 2116 im Jahre 1901/2. Die Gesammtzahl der Immatriculierten betrug am gestrigen Tag 3571 gegen 3570 am 30. October 1901 und gegen 3608 im verflossenen Sommersemester. Auf die einzelnen Facultäten verteilt sich diese Gesammtsumme wie folgt: Theologische Facultät jetzt 252 gegen 257 im Vorjahre; Juristische Facultät 1162 gegen 1112; Medicinische Facultät 467 gegen 520; Philosophische Facultät 1660 gegen 1644; dazu 30 Studierende der Zahnheilkunde gegen 37 im Vorjahre. Endlich habe ich noch der akademischen Preisaufgaben zu gedenken. Die von der Theologischen und Medicinischen Facultät gestellten Themata haben keine Bearbeiter gefunden. Auf die von der Juristenfacultät gestellte Preisaufgabe: „Die sog. Vollstreckungsklage (C. P. O. § 767)“ sind zwei Bewerbungsschriften eingegangen. Unter ihnen ist die mit dem Motto „Ut desint vires“ versehene des Preises für würdig erachtet worden. Ihr Verfasser ist Johann Kylian, stud. jur. aus Wien. Die von der 1. Section der Philosophischen Facultät gestellte ordentliche Preisaufgabe ist nicht bearbeitet worden, die ausserordentliche Preisaufgabe derselben Section, welche die womöglich auch zeichnerische Reconstruction des bei Diodor beschriebenen Leichenwagen Alexanders des Grossen betraf, einmal unter dem Motto „Alexander was buried“. Die Arbeit wurde als preiswürdig erfunden. Als Verfasser ergab sich Kurt Ferdinand Müller, stud. philol. aus Dresden. Die von der 2. Section gestellte Aufgabe: „Leibnizens und Kants Lehre vom Raum sei mit einander verglichen“, hat zwei Bearbeitungen erfahren. Den Preis erhielt die mit dem Motto „Freund! Genügsam ist der Wesenlenker“. Ihr Verfasser ist Johannes Pitschel, stud. math. et rer. nat. aus Mülsen-St. Jakob. Für die von der 3. Section gestellte Aufgabe: „Es werden experimentelle Beiträge gefordert zur Kenntnis der optischen Eigenschaften der Oxyde u. s. w.“ lief eine 802

Jahresbericht 1901/02

Bewerbungsschrift ein, unter dem Motto „Carpe diem“. Auch sie wurde für preiswürdig erachtet. Ihr Verfasser ist Paul Graeser, stud. paed. aus Töttelstedt. Die Begründung dieser Urteile, sowie die neuen für das Jahr 1902/3 gestellten Preisaufgaben werden durch den Druck und durch Anschlag am Schwarzen Brett bekannt gemacht werden. Es bleibt mir noch die letzte Amtshandlung zu vollziehen, unter aufrichtigem und herzlichem Dank für das Wohlwollen und die wirksame Unterstützung, die mir im verflossenen Jahr zu Teil geworden sind, das Rectorat meinem erwählten und bestätigten Nachfolger zu übergeben. Ich fordere Sie, Herr Adolf Wach, auf, das Katheder zu besteigen und die Insignien Ihrer Würde aus meiner Hand entgegenzunehmen. Zuvor aber habe ich Ihnen den Eid abzunehmen, den nach den Gesetzen unserer Universität jeder Rector zu leisten hat. Sie schwören bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, dass Sie die Verfassung und die Gesetze der Universität treu und gewissenhaft beobachten und die Pflichten des Ihnen anvertrauten Amtes als Rector der Universität nach bestem Wissen und Gewissen redlich erfüllen wollen. Somit proclamiere ich Sie, Herrn Dr. jur. Adolf Wach, zum Rector der Universität Leipzig für das Studienjahr 1902–1903. Ich übergebe Ihnen den Hut und den Mantel als Zeichen Ihrer Würde, die Kette, mit welcher Königliche Huld den Leipziger Rector geschmückt hat, das Siegel der Universität, damit Sie deren Willen rechtlich beglaubigen, die Statuten, die Sie zu bewahren haben, die Schlüssel des Hauses als Symbol Ihrer Herrschaft in diesen Räumen. Und nun bringe ich Ihnen, Rector magnifice, als erster meinen verehrungsvollen Glückwunsch dar. Möge das Jahr Ihrer Leitung ein Jahr des Segens sein, für unsere teuere Universität und für Sie selbst! ***

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Adolf Wach (1843–1926)

31. October 1902. Rede des antretenden Rectors Dr. Adolf Wach. Die criminalistischen Schulen und die Strafrechtsreform. Hochansehnliche Versammlung! Als vor nunmehr achtzehn Jahren ein nicht mehr unter den Lebenden weilendes, um Wissenschaft und Gesetzgebung gleich hochverdientes Mitglied unserer Juristenfacultät das Rectorat antrat, war die Rechtswissenschaft der Gegenstand seiner Rede. Windscheid sprach in der ihm eigenen geistvollen Weise von den Zielen und Mitteln seiner Wissenschaft als der Wissenschaft vom Recht, wie es ist. Dabei setzte er ihr wohl auch für die Schaffung des Rechts eine Aufgabe, aber mit der ausdrücklichen und eindringlichen Mahnung zur Selbstbeschränkung. Nicht immer sei der Jurist der berufene Gesetzgeber, wenn er diesem auch Begriffe, Form und – unter Umständen – den Stoff zu liefern habe. In der That ist die Rechtsproduction nicht wissenschaftliche Thätigkeit. Das Recht ist eine Schöpfung des Volks oder Staates: vor aller Rechtswissenschaft. Dass es sei, ist der Menschheit immanentes Lebensgesetz. Die Gemeinschaft bildende Lebensenergie arbeitet in dem durch Abstammung, Sprache, Wohnsitz, Geschichte verbundenen Volksganzen unablässig hin auf eine seinem Kulturstand angemessene und ihn steigernde Lebensordnung. Dieses Wirken des menschlichen Geistes aber in seiner Gesamtheit, in dem zeitweiligen Product und in der Production selbst, in dem Niederschlag des gegebenen Rechts und im Flusse der Entwickelung, im Sein und Werden, bildet den Gegenstand unserer Forschung. Durch Erkennen und Darstellen des geltenden Rechtes ermöglichen wir das Erlernen und Anwenden seines wahren Inhalts und damit sein wirkliches Gelten, den Zustand des Staatslebens, den wir den rechtmässigen, gerechten nennen, und ohne den Dauer und Gedeihen des Ganzen nicht möglich ist. Allein das ist nur das Eine und nicht das Höchste. Jene Dauer ist wahrhaft Dauer im Wechsel, ein ewiges Werden und Vergehen. Daher steht unsere Arbeit gleichzeitig im Dienst der Rechtsbewähr und des Aus- und Aufbaues des Rechtes. Die Thätigkeit der Rechtswissenschaft muss, richtig verstanden, im letzten Ziel eine schöpferische sein, wenn auch nur in dem Sinn, dass sie für die Recht schaffende Potenz befruchtend wirkt, ihr Impuls, Wegweiser und Bildner wird. 805

Adolf Wach

Denn alles Recht ist selbstgeschaffene Zweckbildung. Wir schauen es in seiner gegebenen Gestalt an mit kritischem Auge. Unsere Betrachtung de lege lata wird immer ausmünden in eine solche de lege ferenda. Das rastlos fortschreitende Leben stellt uns stets von neuem die Frage, ob das, was gilt, wert ist, fortzugelten. Für uns, deren Recht sich fast nur noch in Gesetzesform entwickelt, ist eine solche kritische, legislativ-politische Betrachtungsweise selbstverständlich, und sie zu einer methodischen zu erheben, eine der obersten Aufgaben. Das ist der eine tiefgreifende Gegensatz zwischen Natur- und Rechtsforschung: jene beobachtet und erkennt das Gegebene in seinem gesetzmässigen Zusammenhang; der Rechtswissenschaft ist die Erkenntnis des Seins, der wirkenden Kräfte, das Mittel zur Neuschöpfung. Hier sind wir uns selbst das Gesetz. Und diese Production ist nicht weniger wissenschaftlich, als wenn der Chemiker durch Synthese organische Stoffe zu schaffen sucht; nur ist sie es insofern nicht, als hier nicht nur nach erkannten Gesetzen gearbeitet wird, die Rechtsschöpfung nicht eine Emanation wirkenden Naturgesetzes ist, sondern als relativ freie Geistesthat das Element der individuellen Intuition in sich trägt. Deshalb macht tiefstes Wissen und Erkennen des exact Erforschlichen noch nicht den Gesetzgeber. An der Richtigkeit der entwickelten Auffassung ändert nichts, dass sie bisher keineswegs zum allgemeinen Bewusstsein durchgedrungen ist. Doch ist es der Mühe wert, sie gerade jetzt zu betonen und im Hinblick auf eine als notwendig erkannte Reform unseres Strafrechts etwas weiter zu verfolgen. Kann es doch geschehen, dass führende Geister innerhalb der Reformbewegung aussprechen, die Verständigung über die Grundzüge des Gesetzeswerks sei eine legislative, nicht eine wissenschaftliche Aufgabe, – und dass übereinstimmend Vertreter der gegensätzlichen sog. criminalistischen Schulen proclamieren: Die Wissenschaft habe unbeirrt durch praktische Aufgaben der Gesetzgebung ihren Weg zu gehen und unweigerlich die Consequenzen des für wahr Erkannten zu ziehen, wogegen der Gesetzgeber den Weg des Kompromisses beschreiten dürfe. Aber die Rechtswissenschaft ist eine schlechthin praktische Wissenschaft. Für das Leben unbrauchbare Resultate beweisen den wissenschaftlichen Abweg. Es gibt keine doppelte Wahrheit, eine wissenschaftliche und eine Lebenswahrheit. Das Wahre muss auch das Wirkliche sein oder werden. I. Die Situation, in der wir uns befinden, ist gekennzeichnet durch unsere Rechtsentwickelung. Die grossen Phasen im Werdegang des Strafrechts sind Ausstrahlungen tiefgehender Völkerbewegungen. Das Zeitalter der Renaissance und Reformation gebar das gemeine deutsche Strafrecht. Mit der Periode der Aufklärung begann das grundstürzende Ringen nach Volksfreiheit, das starke Betonen des Gemeinwohls, das man im Glücke der Unterthanen fand, der Individualität gegen absorbierenden Absolutismus, gegen Willkür und Unmenschlichkeit im Strafrecht. So erwuchs ihm im 19. Jahrhundert die heutige Gestalt. Man erstrebte klares festes Recht an Stelle der Willkür, daher gesetzliche Bestimmung dessen, was strafbar sei, ein humanes, dem Sittenstand entsprechendes Strafensystem, eine angemessene Abschätzung der Schwere der Verbrechen und die Berücksichtigung ihrer individuellen Erscheinung. 806

Antrittsrede 1902

Diese durchaus gesunden Ziele verfolgte die Gesetzgebung unbeirrt durch die sehr verschiedenen theoretischen Versuche einer vernunftmässigen Rechtfertigung des Strafrechts. Daher das vorwiegend einheitliche Gepräge der zahlreichen Strafgesetzbücher der deutschen Staaten, daher auch die unschwierige Unification des deutschen Strafrechts zufolge unserer politischen Einigung. Man konnte sich damit begnügen, das preussische, unter starkem französisch-rechtlichem Einfluss entstandene Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund und demnächst für das Reich zu adaptieren. Was in schier unübersehbarer Fülle von Sonderstrafgesetzen das Reich hinzuthat, war durchaus gleichartig. Nur auf dem Gebiet des Strafvollzugs blieb die Landesgesetzgebung relativ frei und um Vervollkommnung nicht erfolglos bemüht. So ist nahezu ein Jahrhundert hindurch unser strafrechtlicher Zustand stabil. Wohl war die Zeit nicht fruchtlos; man widmete dem gegebenen Stoff eindringende Geistesarbeit und durfte sich rühmen, die criminalistische Wissenschaft der Vergangenheit weit überflügelt zu haben. Aber damit deckte man zugleich die Mängel und die Rückständigkeit des geltenden Rechtes auf. Die Triumphe der Naturwissenschaften, die Wandlungen unseres politischen und wirtschaftlichen Daseins, die Energie, mit welcher sich das sociale Element gegenüber dem Individualismus im sittlichen Bewusstsein, in der Politik und im Güterleben geltend macht, haben, gepaart mit den trüben Erfahrungen unseres Strafvollzugs und dem Wachsen der Criminalität, den Ruf nach Reform laut und lauter werden lassen. Doch tönen die Stimmen stark durcheinander. Die einen fordern völligen Neubau, die andern Fortund Umbau, und hier wie dort, rühmt man sich streng wissenschaftlichen Beweises. Man gruppiert sich in sogen. criminalistischen Schulen. Und so viel auch über sie gesagt worden, dürfte eine erneute Würdigung ihrer Gegensätze und ihres Wertes auch heute noch, ja gerade jetzt, wo Lehren zur That werden sollen, geboten sein. Denn der proclamierte Waffenstillstand des Schulstreites und der kluge Kompromiss, den man empfiehlt, könnten uns nicht beruhigen, wenn die neue Schule mit ihrem radikalen Programm ihre Daseinsberechtigung dargethan und wirklich neue Horizonte der Wahrheit und des Gedeihens eröffnet haben sollte. Keine äussere Rücksicht dürfte in so ernster und heiliger Sache die Halbheit rechtfertigen. II. Was bedeutet jener Streit der sogen. criminalistischen Schulen? Ich eigne mir die im Schwange gehenden Ausdrücke an und bezeichne die Strafrechtsschule, in deren Lehre ich aufgewachsen bin, und die noch kürzlich die herrschende war, als die classische. Moderne sagen von ihr, sie hafte an traditionellen Dogmen und ermangle des Verständnisses für die neuen befruchtenden Ideen. Als Träger dieser Ideen treten die Positivisten auf den Plan, die anthropologische und die criminalsociologische Schule, beide von stark werbender Kraft, vorzüglich in den romanischen Ländern, aber doch auch in unserem Vaterland. Will man klar sehen, so hat man vor allem die fraglichen Gegensätze von Verfälschungen und irreführenden Differenzierungen zu reinigen. Daran fehlt es auch bei Kämpfen wissenschaftlicher Richtungen selten und dann niemals, wenn ihnen das Politische und damit das Menschlich-Leidenschaftliche anhaftet, oder wenn der 807

Adolf Wach

Streit auf Grundfragen unseres Daseins zurückgeht. Beides ist hier der Fall. Daher dient das Schlagwort als Panier. Derartige Losungsworte sind Zwecksstrafe und Vergeltungsstrafe. Das sollen Gegensätze sein, und dass sie es seien, wird bis zur äussersten Ermüdung wiederholt. Der classischen für die vergeltende Gerechtigkeit eintretenden Schule sagt man nach, sie verkenne das Zweckmoment in der Strafe; erst ihre Gegnerschaft habe ihm zur Anerkennung verholfen. – So wäre alles bisherige Strafrecht, weil angeblich Werk der classischen Richtung, zwecklos gewesen oder doch in seinem Zweck als Mittel zur Staatserhaltung nicht erkannt worden? Das heisst kurzer Hand, der classischen Schule die Wissenschaftlichkeit absprechen. Denn alles Recht ist schlechthin Zweckschöpfung. Weshalb aber dem Strafrechtszweck die vergeltende Tendenz der Strafe nicht entsprechen soll, ist unbegreiflich. Die Weltgeschichte beweist die staatserhaltende Wirkung des Vergeltungs-Strafrechts. – Ein anderes Schlagwort ist der von den Positiven mehr als billig gebrauchte Ausdruck „social“. Sie vindicieren sich das Verdienst, für die sociale Bedeutung des Verbrechens als antisocialer Handlung erst das Verständnis erschlossen zu haben. Aber soweit damit Richtiges gesagt ist, war es Gemeingut seit Menschengedenken, wenigstens seit dem Strafrecht der publicistische Character eignet; denn dieser bedeutet, dass das Gemeinwesen im allgemeinen öffentlichen Interesse gegen den Angriff auf die Rechtsordnung durch Strafen reagiert. – Und nicht minder irreführend ist es, wenn man der classischen Schule die deductive, ihren Gegnern die inductive Methode beimisst, wobei man laienhaft genug bei ersterer an Deducieren aus unbeweisbaren Prämissen, bei letzterer an exacte wissenschaftliche Beweisführung denkt. Aber alle solche Irrungen bei Seite, trennen ersichtlich unüberbrückbare Gegensätze die classische und die positive Schule: nicht wesentlich im Sinne verschiedener Weltanschauungen, wie man gerne sagt – wäre dem so, dann würde von ihrer Erörterung hier Abstand genommen werden müssen – vielmehr im Sinne verschiedener methodischer Behandlung des Stoffes. Die positive Schule lehnt im Bestreben, uns gründlichst „vom Kripskraps der Imagination“ zu heilen, alles Metaphysische ab, stellt sich lediglich auf den Boden der Erfahrung und will sozusagen experimentell unter strengster Beobachtung der Thatsachen exact zu Werke gehen. Als anthropologische Schule versucht sie es auf dem naturwissenschaftlichen Wege durch Schädelmessungen, Untersuchung von Verbrechergehirnen und dergl.; als criminalsociologische auf zweifachem: auf dem des Anthropologen oder Biologen, der uns die psycho-physiologische Eigenart des Verbrechers zeigen will, und auf dem specifisch sociologischen, auf dem wir das Verbrechen als gesellschaftliche Erscheinung begreifen und ergründen sollen. Das Ziel ist die sinnfällige Erscheinung, nämlich das Verbrechen in seiner Gesetzmässigkeit zu erkennen, die Criminalität auf die sie bestimmenden Gesetze zurückzuführen. Der Criminalpolitik weist man die Aufgabe zu, die Schutz- und Heilmittel gegen diese sociale Krankheit zu entdecken. Der Rechtswissenschaft bleibt nur noch die logische Operation. Was bei allem dem die Strafe soll, darauf komme ich später. Ich halte hier inne, um zu den Mitteln und Zielen der Positivisten Stellung zu nehmen. Es darf vorweg bemerkt werden, dass die Forschung nach den VerbrechensAnlässen physiologischer, psychologischer, socialer Art nicht nur unentbehrlich ist, 808

Antrittsrede 1902

sondern uns seit lange beschäftigt und dass die folgende Auseinandersetzung in keiner Weise aufgefasst werden darf als eine Abschätzung der sociologischen Forschung und ihres Wertes für die Criminalistik. Aber abgelehnt muss werden die Fragestellung nach den gesetzmässig wirkenden Ursachen des strafbaren Handelns. Mit ihr wird ein jeder Erfahrung widerstreitender Irrweg beschritten. Die Annahme solcher Gesetzmässigkeit ist weder durch das Causalitätsgesetz, noch durch die zu beobachtende Regelmässigkeit menschlicher Handlungsweise zu begründen. Das Ziel, die Criminalität auf die sie bestimmenden Gesetze zurückzuführen, ist nach dem bisherigen Stande unserer Kenntnis vom menschlichen Seelenleben ein unerreichbares. Die naturwissenschaftliche Betrachtung ist auf unser Handeln nur in einer für die Aufgaben des Criminalisten wertlosen Begrenzung anwendbar. Sie trifft den ethischen und rechtlichen Gehalt der Handlung nicht. Bislang wenigstens enthüllt uns diese Seite des Willensakts und deren Gesetzmässigkeit keine Hirnanatomie, keine Physiologie, keine anthropologische und biologische Untersuchung; ja sie lässt uns solches nicht einmal ahnen. So ist denn auch die sogen. Criminalanthropologie ein überwundener Irrtum; selbst in den Grenzen, in welchen Criminalsociologen noch mit der angeblich biologischen Ergründung der Verbrechensursachen liebäugeln, kommt man ins Bodenlose. Nicht minder sind wir darüber im klaren, dass die Criminalstatistik und die sorgfältigste Beobachtung der Zusammenhänge zwischen Verbrechen und sittlichen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Zuständen innerhalb derselben Culturgemeinschaft – so wertvoll sie im übrigen für die Prophylaxe und die Schärfung des gesellschaftlichen Gewissens ist – uns niemals zu einer Erkenntnis der mit der Kraft des Naturgesetzes wirkenden Ursachen des Verbrechens führen wird. Sie zu suchen, bedeutet einen methodischen Grundfehler der Criminalsociologie und kann um so weniger die Signatur ihrer wissenschaftlichen Selbständigkeit ergeben, als sie sich hierbei in völliger Abhängigkeit von anderen Wissenszweigen befindet: den Naturwissenschaften, der Psychologie, der Nationalöconomie, Statistik u. s. f. Ein zweiter methodischer Fehler der Positivisten ist ihre Begrenzung und Isolirung des wissenschaftlichen Objects. Dieses ist ihnen das Verbrechen, der Verbrecher, das Verbrechertum als besondere sociale Erscheinung. Aber hier fehlen alle wissenschaftlich brauchbaren Kennzeichen der Eigenart. Welches sind die Merkmale der Verbrecher als menschlicher Kategorie? Dass sie Strafbares begangen haben und vorbestraft sind? Wodurch ist solches characterisirt? Doch zunächst lediglich durch die Vorschrift des Gesetzes und die Wirkungen der Strafe. Behaupte ich zu viel, wenn ich sage, dass in diesem Sinn Verbrecher Männer bester Art und Gesinnung sein können und andererseits, dass der Hallunke, der die Klippen des Gesetzes gewandt umschifft, als loyaler Bürger leben kann? Was ist der psychisch-pathologische Unterschied des sittlichen und des sittenlosen Menschen, des letzteren und des Verbrechers, der innere Gegensatz der unsittlichen und der verbrecherischen That? Und wie steht es mit der Causalität hier und da? Gibt es physiologische und sociale Sondergesetze für die Entstehung crimineller und anderer Handlungen? Dass Hunger den Nahrungsmitteldiebstahl, allgemeine Not die Eigentumsverbrechen, die Einrichtung des Papiergelds die Fälschung desselben, die Zuchtlosigkeit der 809

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Jugend ihre Criminalität fördert, grenzt an die Tiefsinnigkeit des Satzes, dass die Armut von der Pauvreté stamme. Wenn man als Verbrechensursache das Milieu nennt, in dem der Thäter lebt und handelt, so wird jenem doch die ganz gleiche Bedeutung für jedwedes Gebahren zukommen. Die ganze Criminalsociologie ist sonach mit ihrem Suchen nach den eigenartigen, gesetzmässig d. h. zwingend und berechenbar wirkenden biologischen und socialen Ursachen des Verbrechens auf einen gar zu schmalen Weg geraten, der niemals zur Erkenntnis führt. Und soll etwa der Gesetzgeber mit seiner Arbeit warten, bis es den Positivisten gelungen sein wird, ihr Ziel zu erreichen? Das wünschen und wollen sie selbst nicht, vielmehr stellen sie an ihn schon jetzt ganz bestimmte Forderungen. Nicht die anthropologische Schule, welche consequent den Strafbegriff ablehnen muss, wohl aber die sociologische will die Strafe als sociales Schutz- und Heilmittel nach festem Programm verwendet wissen. Ich lasse mich auf Einzelheiten nicht ein und halte mich an den Kernpunkt. Das ganze Augenmerk der Criminalsociologen ist nicht auf die Gesetzesunterthanen, welche durch Strafdrohung von Verbrechen zurückgehalten werden sollen, sondern auf den Verbrecher, den socialen Schädling gerichtet, und die Strafe auf seine Person berechnet. Nicht auf den Erfolg seiner That, sondern auf die antisociale Strebung, die Gesinnung kommt alles an. Gestraft muss werden und zwar verschieden je nach der Wandelbarkeit oder Unwandelbarkeit dieser Gesinnung. Wie der Kranke in der Heilanstalt, der Jugendliche in Zwangserziehung, der Trunkenbold, die Gefallene in Asylen wird der Verbrecher in der Strafanstalt behandelt. Den Unheilbaren macht man unschädlich, den Heilbaren kurirt man von seiner antisocialen Gesinnung durch Abschreckung, Erziehung, Besserung. In folgende Fundamentalsätze lässt sich das criminalpolitische Programm der sociologischen Schule zusammenfassen: die Begriffe „Schuld“ und „Vergeltung“ scheiden aus; die verbrecherische That ist das legale Symptom der antisocialen Gesinnung; diese, nicht das Verbrechen bildet Grund und Massstab der Strafe. Die Criminalstrafe ist Gesinnungsstrafe, ihr Zweck Schutz des Gemeinwesens nach dem Masse dieser Gesinnung; die Proportionalität zwischen ihr und der Strafe ist das Postulat, während das bisherige Recht dem äusseren Erfolg der That unstatthafte Bedeutung beigemessen haben soll. So erstrebt man die Ethisirung des Strafrechts. Das Strafgesetz selbst, welches gegen bestimmte Handlung mehr oder weniger Strafe droht, bezweckt nicht den Schutz der Bürger gegen den Verbrecher, sondern den Schutz des Verbrechers gegen den Missbrauch der Strafgewalt, ist eine magna charta libertatis des Verbrechers. Das Ideal wäre die dem antisocialen Character desselben adaequate freie Anwendung der Strafe bis zur Heilung, Anpassung oder Ausscheidung. Ein eigentümliches für viele bestrickendes Gewebe von Wahrheit und Irrtum, in dem der Rückfall in längst überwundene Entwicklungsstadien unschwer zu erkennen ist. Wenn die Verwendung der Strafe als Palliativ oder Heilmittel in angegebener Weise wissenschaftlich einleuchtend gemacht werden soll, bedarf es vor allem des Beweises, dass sie sich hierzu eignet. Dieser Beweis ist nicht erbracht und schlechterdings nicht zu erbringen. Die Ausscheidung des unheilbaren Gesellschaftsfeindes 810

Antrittsrede 1902

freilich kann mit Sicherheit durch seine Tötung oder lebenswierige Inhaftirung erreicht werden. Aber dieses Mittel verträgt nur mässigsten Gebrauch, wenn die Kur nicht übler wirken soll, als die Krankheit. Die eigentliche Gesinnungsstrafe, diese poena medicinalis als Mittel der Anpassung bliebe trotz aller Bemühung von problematischem Wert. Sie ist wider die Erfahrung. Die Criminalsociologen entnehmen selbst die stärksten Waffen zu Gunsten der Reform unseres Strafrechts der offenkundigen Thatsache, dass die Zahl der rückfälligen Verbrechen sich stetig mehrt, die Strafe also ihrer allgemein-heilenden Wirkung entbehrt. Und wer wird sie ihr schaffen? Bei grösster Vervollkommnung unseres Strafensystems und Strafvollzugs wird sich Goethes Wort bewähren: „Tausend Fliegen habe ich am Abend erschlagen, doch weckte mich eine beim frühsten Tagen.“ Spricht man heute unberechtigt vom Bankerott unseres Strafrechts – denn was es zu leisten hat, leistet es der Hauptsache nach –, so würde das Gesinnungsstrafrecht unfehlbar dem Bankerott verfallen. Ganz natürlich: Man braucht sich nicht zur Unveränderlichkeit des Characters, zu Senecas Wort: „velle non discitur“ zu bekennen, um einzusehen, dass Gesinnungswechsel, Wandel des inneren Wesens und Zieles der Persönlichkeit durch äussere Einwirkung nicht erreicht werden kann. Und was ist die Strafe anderes, als äussere Einwirkung? Die Gefängnisluft ist keines Menschen Element, das Haftlokal kein Tummelplatz für die Bildung des Characters, die Strafknechtschaft, die aufgezwungene Verneinung jedes eigenen Willens kein Mittel zum Wandel der antisocialen Gesinnung, des penchant au crime, der Gefängniswärter kein geeigneter Pädagoge und Herzenskünder, der ausgewachsene Sträfling kein empfängliches Erziehungsobject. Reue, Busse, innere Läuterung sind unberechenbare, zufällige, glückliche Ergebnisse. Die äussere Schale von Dressur und Fügsamkeit aber, die man so gern als Besserung nimmt, wird abgeworfen, sobald der Druck schwindet, der sie schuf, und Versuchung die alte böse Neigung weckt. Aber die Gesinnungsstrafe ist nicht nur erfahrungswidrig; sie ist auch grundsätzlich verwerflich. Eine solche Ethisierung des Strafrechts würde die Verwirrung von Recht und Ethik bedeuten. Strafgrund kann immer nur das Verbrechen, nie die Gesinnung sein, wenn auch die Schwere des ersteren, wie bereits Schopenhauer richtig bemerkt, sich nach dieser mitbestimmt. Es ist eine Binsenwahrheit, dass die Gedanken zollfrei sind, sie dem Staate criminalistisch bedeutungslos sein müssen, solange sie sich nicht in Thaten umsetzen, die die Staatsordnung verletzen oder gefährden. Die Gesinnung hat Gott, nicht den Staat zum Richter, und nur die äusserste Tyrannis verfolgt das böse Trachten. Diesen Standpunkt muss sich der Sociologe vor allem aneignen. Denn das Antisociale wird sich nach der Einwirkung der Handlung auf dritte, nach dem Wert der verletzten oder angegriffenen Güter, der grösseren oder geringeren Gefährlichkeit des Angriffs und dem dadurch bestimmten socialen Interesse bemessen. So war es seit Jahrhunderten und wird es ferner bleiben. Der ausgesprochene, ja der in seiner Ausführung vorbereitete Wille muss der Regel nach straflos sein, wenn er nicht zum Angriff schreitet; und nur, weil in dem Versuch des Verbrechens das Angriffsmoment liegt, dürfen wir ihn staatlich strafen. So erscheint die Gesinnungsstrafe nicht nur im Widerspruch mit der grundsätzlichen Scheidung von Recht und Moral, sondern auch mit dem eigentlichen Princip der 811

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sociologischen Wissenschaft. Einen Wandel unseres Rechts in diesem fundamentalen Punkt wird man ernsthaft nimmermehr in Aussicht nehmen können. Ja man darf kühnlich behaupten, die criminalsociologische Schule selbst wird die Folgerung ihrer Lehre nicht wahrhaft ziehen wollen. Sie denkt nicht daran, den antisocial Gesinnten als solchen zu strafen, so lange er nicht verbrochen hat, nicht daran, die Strafe zu unterlassen, wenn der Thäter sich ersichtlich gebessert hat oder aus sonstigem Grund eine Wiederholung seines verbrecherischen Handelns nicht zu befürchten steht, nicht daran, dass die Freiheitsstrafe ausgedehnt werde so lange, bis sich nachweisbar der Gesinnungswechsel vollzogen hat. In der That also bleibt sie bei der Bestrafung des Verbrechens und will nichts anderes, als ausgiebigere Berücksichtigung der persönlichen Eigenschaften des Thäters. Ihre etwaige Resignation bei bevorstehender Gesetzesaufgabe ist das Bekenntnis zu dieser Wahrheit. Damit ist aber auch ausgesprochen, dass es eines Compromisses für die Verbesserung unserer Gesetzgebung nicht bedarf, dass der Boden, auf welchem die sogen. classische Schule steht, von uns nicht verlassen werden kann noch verlassen werden wird. Dafür möchte ich einige begründende Worte hinzufügen. III. Der Consensus, zu dem die Criminalsociologen sich mit der classischen Schule bekennen, betrifft zwei Hauptpunkte: die Notwendigkeit des Strafrechts und die Anerkennung der Verantwortlichkeit. Jene Notwendigkeit kann, wie schon dargethan ist, aus der erspriesslichen Einwirkung der Strafe auf die Gesinnung des Verbrechers, also aus der Heilsamkeit des Mittels für ihn nicht abgeleitet werden. Sie ergibt sich, von dieser problematischen special-prävenirenden Kraft abgesehen, unwiderleglich aus der Erfahrung. Das Strafrecht ist als Äusserung unserer praktischen Vernunft naturnotwendig, wie die Sprache, wie der Staat. Das tritt in verschiedenen Entwicklungsphasen und im Lichte verschiedener Anschauungsweisen überall hervor, gleichviel ob wir die Strafe gründen auf den Trieb der Selbsterhaltung, der Erhaltung der Gattung, auf den Willen zum Leben, auf das Rache- oder Rechtsgefühl, auf die Erkenntnis, dass die Schuld die Vergeltung fordere, oder dass die Übelthat als Angriff auf die Lebensbedingungen und Interessen der Gemeinschaft für diese unerträglich und nicht nur mit theoretischer Missbilligung abzufertigen sei. Der geläuterte Standpunkt des entwickelten Staatswesens schliesst Rache, persönliche Genugthuung aus und erhebt die Strafe auf das Niveau der vom Kleinlichen und Eigennützigen befreiten praktischen Gegenwirkung, des im Gemeininteresse verhängten praktischen Werturteils, nach welchem die Übelthat sich als Übel auch an dem bewährt, der durch sie am Gesetze frevelte. Diese von Niemandem in Zweifel gelassene Notwendigkeit des äusseren Strafrechts, des von jeder moralischen Vergeltung, von dem Wirken der sittlichen und gesellschaftlichen Mächte: der Macht des Gewissens, der Busse und Besserung, der Ächtung durch die Genossen, wie von jeder beliebigen Zwecksetzung, der Rückfallsfurcht und Besserungshoffnung unabhängigen Strafrechts entspringt dem Urquell unseres sittlichen Bewusstseins und unserer Rechtsordnung, ist menschliche Lebensanlage, mit der Idee des Rechts und der Gerechtigkeit unlös812

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lich verbunden. Der vergeltenden Gerechtigkeit! Nur durch eine Häufung schwer begreiflicher Missverständnisse ist es möglich geworden, an dem Vergeltungsgedanken Anstoss zu nehmen oder ihn gar als abgethan zu den Toten legen zu wollen. Er ist nicht der Gedanke der Talion, einer formellen, qualitativen oder auch nur quantitativen Gleichheit. Er ist nicht Rache, diese gröbste triebmässige in sich masslose Reaction des Verletzten, er ist nicht Genugthuung desselben, Ausgleichung des Schadens, nicht die dem menschlichen Auge unerkennbare moralische Vergeltung. Er ist der Gedanke, dass die Übelthat als Angriff auf die Gemeinschaft ihrem Unwert gemäss praktisch zu behandeln sei. Dieses Werturteil spricht das Strafgesetz als Äusserung des gemeinen Gewissens, unseres Rechtsgefühls in genereller Formel aus, auf dass sich alle darnach halten. Ob und wie es zu bestimmen, das ist die grosse schwierige Aufgabe des Gesetzgebers. Aber dass ein Strafgesetz sei und gehandhabt werde, ist von keiner Seite angezweifelte Lebensbedingung unserer Staatsgemeinschaft. Es ist die Schutzordnung, ohne die Niemand seines Lebens und Gutes sicher, der Staat selbst in seiner Existenz gefährdet wäre. Sie erfüllt ihren Zweck, wenn man ihren Geboten nachlebt. Wenn sich Alle zur Maxime machen, was das Strafgesetz will, wird das Ideal Wirklichkeit. Dass dieser Effect beim Verbrecher erreicht werde, ist wünschenswert, nicht Zweck des Strafrechts, andernfalls wäre es in den Zufall gestellt. Seine Notwendigkeit, sein Wert ist durch die staatserhaltende Kraft der sich realisirenden Strafdrohung in der Menschheitsgeschichte bewiesen. Aber keine Strafe ohne Verantwortlichkeit! Auch darüber ist man einig. Die Strafe setzt die Fähigkeit, sich dem Gesetz unterzuordnen, voraus, gleichviel welcher Ansicht man von der Entstehung des Willensactes ist, ob man sich zur sogen. Freiheit oder Unfreiheit des Willens bekennt. Uebereinstimmend fasst man die Handlung des sogen. Zurechnungsfähigen als die Emanation des Ich, der Persönlichkeit auf und macht diese daher gleichmässig sittlich, gesellschaftlich, rechtlich verantwortlich. Die gesammte Culturwelt legt damit Zeugnis ab für den Begriff der sittlichen und der Rechtsschuld. Denn was es heissen soll, die Verantwortlichkeit zu bejahen und die Schuld zu verneinen, ist unerfindlich. Und des ferneren wägt man die Schuld um so schwerer, je mehr sich in der Handlung das eigene Selbst, die Persönlichkeit bethätigt. Auch hierin müssen die Criminalsociologen mit der classischen Schule übereinstimmen. Wiederum unerfindlich ist daher, wie man gegen die letzteren hat den Vorwurf erheben wollen, dass sie den Erfolg auf Kosten der Gesinnung bevorzuge, jenen, nicht diese bestrafen wolle. Denn gerade der Vergeltungsgedanke führt dazu, die Schwere des Verbrechens nicht nur nach der Thatseite, dem Schaden, den es stiftet, seiner praktischen Bedeutung, sondern zugleich nach der Stärke des bösen Willens oder, wie man sich auszudrücken beliebt, der bethätigten antisocialen Gesinnung, also nach der ethischen Seite zu bestimmen. Dass das geltende Recht, obschon geleitet von dem Princip einer Proportionalität von Schuld und Strafe, vielfach die Consequenz vermissen lässt, ist nur einer der Gründe für das Bedürfnis seiner Verbesserung.

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IV. Sind meine bisherigen Ausführungen richtig, so ist erwiesen, dass nicht ein Neubau von Grund aus, sondern nur der Ausbau unseres Strafrechts die Aufgabe der Zukunft ist. Diese Revision und Reform wird freilich eine höchst umfassende und schwierige sein; nicht um des erörterten Schulstreites, der betonten principiellen Gegensätze willen; denn es hat sich ja gezeigt, dass wir die Fundamente des bisherigen Strafrechtes nicht werden preisgeben können; auch wird deutlich werden, dass in Hauptpunkten des Reformbedürfnisses Übereinstimmung vorhanden ist. Die Schwierigkeiten liegen in der Sache. Es ist selbstverständlich, dass dieser weitschichtige Gegenstand hier nur in schwachen Umrissen und nur unter Beschränkung auf das Wesentlichste behandelt werden kann. Aber auf ihn zum Schlusse meiner Ausführung einzugehen, erscheint mir um deswillen wünschenswert, weil dadurch manche noch immer waltende schädliche Unklarheiten über criminalpolitische Differenzen der Schulen behoben werden können. Ich sehe völlig ab von einer Erörterung der im Gebiete des Strafensystems wünschenswerten Verbesserungen, und der ausserhalb des Strafrechts liegenden fürsorglichen, erzieherischen und polizeilichen Massnahmen, wie der Zwangserziehung, Versorgung und Verwahrung in Anstalten, Zwangsarbeitshaus und dergl. Wir verfügen hier über ein grosses und höchst wertvolles Erfahrungsmaterial, zu dessen Bereicherung – wie bereitwilligst anerkannt werden soll – die criminalsociologische Schule Wichtiges beigetragen hat. Der bedeutsame Punkt, auf welchen ich Ihre Aufmerksamkeit noch lenken möchte, ist die Aufgabe, unser Strafgesetz zu möglichster Gerechtigkeit und Zweckmässigkeit zu fördern durch Reinigung von schädlichem Formalismus. Unter ihm verstehe ich den Sieg des Buchstabens über den Geist, des Wortes über den Zweck, der Formel und der Doctrin über den wahren Lebenswert. Auf keinem Gebiete des Rechts dürfte solcher Formalismus schwerer zu tragen sein, als hier. Es ist unerträglich, dass Nichtstrafwürdiges gestraft, überflüssige und zweckwidrige Strafe gedroht wird; das ist ebenso unerträglich, als wenn die Unschuld von Rechtswegen leidet. Es ist unerlässlich, Gleichwertiges gleich zu behandeln, das Verschiedene im richtigen Verhältnis zu einander zu bewerten und dem Richter zu ermöglichen, dass er die wahre Proportion von Schuld und Strafe finde durch treffendes Abschätzen der Handlung in ihrer Eigenart als Äusserung der bestimmten verantwortlichen Persönlichkeit. Leistet das unser Recht? Haben wir uns begnügt, das Strafwürdige zu verfolgen, und erreicht, es richtig zu bewerten? Die Strafwürdigkeit der Handlung und damit der Person bestimmt keine Formel, nicht der blutleere Begriff des schuldhaften Unrechts oder Ungehorsams, des antisocialen Handelns oder das Merkmal der Unsittlichkeit. Es kommt darauf an, den Treffpunkt der sich vielfach durchkreuzenden Interessen zu finden, sie gegen einander abzuwägen und in weiser Ökonomie das einschneidende und belastende Mittel der Strafe auf das Notwendigste zu beschränken, also überall von ihr abzusehen, wo mit leichteren Mitteln geholfen werden kann, oder wo sie unverhältnismässigen Nachteil wirkt oder den unüberwindlichen Lebensmächten gegenüber unwirksam bleibt. Die Criminalpolitik hat die doppelte Aufgabe, den idealen Boden unseres 814

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sittlichen Bewusstsein nicht zu verlassen und doch realpolitisch mit der menschlichen Unvollkommenheit zu rechnen. Es ist oft genug ausgesprochen worden, dass unsere Legislation jene Ökonomie vermissen lässt und zwar gleich sehr in der Bestimmung dessen, was strafbar ist, wie in der Strafverfolgung. Der letztere Gedanke betrifft das hier nicht weiter zu behandelnde Princip, nach dem wir ausnahmslos ohne Rücksicht auf die Bedeutung des Einzelfalles anklagen und verurteilen, das sog. Legalitätsprincip. Summum jus, summa injuria! Die unter dem Namen der bedingten Begnadigung oder bedingten Verurteilung umgehende Befreiung von der Strafe bewegt sich auf der Linie einer Abschwächung des starren Grundsatzes. Darüber hinaus strebt man in Norwegen, wenn man bei zahlreichen Delicten die Strafe im einzelnen Fall davon abhängig machen will, dass allgemeine Rücksichten sie erfordern. Der tadelnswerte Formalismus äussert sich in unserem Gesetz bis in dessen feinste Verzweigungen. Freilich nicht, wie man meinen sollte, bei der Begrenzung der Strafmündigkeit durch bestimmtes Lebensjahr. Denn es muss eine fixe Altersgrenze gezogen werden, bis zu der unter keinen Umständen an Stelle der gebotenen Erziehung Criminalstrafe verhängt werden darf. Hier ist ein Missgriff nur in der Wahl dieser Grenze möglich, und dass wir uns eines solchen durch Annahme des 12. Lebensjahres schuldig gemacht haben, freilich zweifellos. Formalismus ist es hingegen schon, wenn der Gesetzgeber nur dem jugendlichen Alter des Strafmündigen, dagegen nicht den sachlich gleichwertigen Entwicklungshemmungen, degenerativen Momenten und dergl. die Bedeutung eines gesetzlichen Strafmilderungsgrundes beigelegt hat. Überhaupt ist unsere Methode der Strafdrohung und Strafzumessung, anders ausgedrückt: die Art, wie wir die Delicte zu bewerten und die individuelle Schuld abzuwägen gesucht haben, höchst unzureichend. Die Abschätzung der angegriffenen Rechtsgüter entspricht unserem feiner entwickelten Gefühl und unseren sittlichen und wirtschaftlichen Vorstellungen keineswegs durchweg. Durch unser Strafgesetzbuch zieht sich eine unverhältnismässige Überschätzung des Vermögens im Vergleich zur Person und den idealen Werten. Es wird Jedermann befremden, dass wir, um nur Einzelnes herauszuheben, den Versuch der Sachbeschädigung, aber nicht den der Körperverletzung, der Freiheitsberaubung, der Verführung, des Ehebruchs strafen; dass uns der einfache Diebstahl schwerer wiegt, wie die Verletzung des Körpers, der Ehre, der Freiheit durch Nötigung; dass fahrlässige, unter Umständen höchst bedeutungslose Brandstiftung aber nicht fahrlässige Freiheitsberaubung, – anderer Dinge zu geschweigen – bestraft wird, dass uns sogen. schwere Diebstähle – oft wahre Lappalien – strafbarer erscheinen, wie manche Delicte wider das Leben. Ein Correlat solcher fehlerhafter Anschauung ist die Knappheit, mit der die Geldstrafe und Busse zur Anwendung kommt. Dieses Capitel ist unerschöpflich und hat eine besonders ausgiebige Partie in der bis an das Absurde grenzenden Art, wie unser Gesetz mit sogen. qualificierenden und privilegierenden Merkmalen, strafschärfenden und strafmildernden Umständen wirtschaftet, oder wohl auch Verbrechensthatbestände differenziert durch Momente, welche für die Schuld keineswegs immer bedeutungsvoll sein müssen. Die richtige Würdigung der Schuld wird bei einer ausreichenden Revision auf diesem Gebiet 815

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das erfüllen, was an dem Postulat einer Gesinnungsstrafe der Positivisten berechtigt ist. Es ist ja ganz äusserlich und inconsequent, wenn das Gesetz den sogen. Rückfall nur bei einzelnen Delicten und hier wiederum in einem kaum begreiflichen Schematismus als Strafschärfungsgrund behandelt, wenn es die sogen. Gewerbs-, Gewohnheits-, Geschäftsmässigkeit des Verbrechens in einer fast zufällig zu nennenden Willkürlichkeit nur vereinzelt beachtet. Kommt es doch hier überall auf die Tenacität der verbrecherischen Strebung und damit auf ein Moment an, welches zeigt, in welchem Masse das Verbrechen dem Ich wahrhaft eignet, das eigne Selbst des Thäters ausprägt, ihm so zu sagen Charactereigenschaft geworden ist. Das Gesetz formalisiert ferner, wenn es bei Handlungen, die ebensowohl auf nützliche, wie auf schädliche Gesinnung zurückgeführt werden können, nur nach logisch bestimmten Kriterien, insbesondere dem Merkmal der Rechtswidrigkeit das Verbrechen bejaht oder verneint. Dafür nur einige Beispiele. Die sogen. Notwehr schliesst die Strafe aus; warum? weil dem rechtswidrigen gegenwärtigen Angriff das rechtlich geschützte Gut nicht zu weichen braucht, hier das Notrecht der Selbstbehauptung gegeben ist und zwar, formal logisch correct, als ein völlig schrankenloses derart, dass man töten darf, um sich im Besitz geringwertigsten Gutes zu behaupten. Das ist irrationell, man könnte auch sagen, antisocial. Sinnen wir doch dem Berechtigten de jure die Aufopferung seines Vermögensrechtes an, wenn ein anderer sich durch den Zugriff aus erheblicher Gefahr befreien kann. – Wir strafen die Nötigung eines Menschen zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung durch Zwang nur um dessen Widerrechtlichkeit willen, gleichviel ob solcher Zwang höchst nützlich und sittlich geboten oder verwerflich war. So müsste nach der Strenge des Gesetzes auch der gestraft werden, der den Selbstmörder wider dessen Willen rettet oder einen Menschen von unsittlichster, ja sogar verbrecherischer, aber keinen rechtswidrigen, gegenwärtigen Angriff darstellender Handlung zwangsweise zurückhält. – Ganz formalistisch verwenden wir den Eigentumsbegriff zur Bestimmung des Diebstahls, der Unterschlagung, des Raubes, und bejahen diese niedrigen Verbrechen ohne jede Rücksicht auf die Gesinnung, der die Handlung entspringt, und auf die Schädigung, die daraus erwächst, also auch dann, wenn die wertloseste Sache aus Affectionsinteresse gegen überreichliches Äquivalent widerrechtlich angeeignet wird. Den Triumph aber feiert der Formalismus in unserer berüchtigten französisch-rechtlichen Trichotomie der strafbaren Handlungen in Verbrechen, Vergehen und Übertretungen mit ihrer Fülle willkürlicher Consequenzen. So eröffnen sich für die Reform des Strafrechts zwar nicht, wie man gemeint hat, neue Horizonte, aber weite Perspectiven, grosse und Segen verheissende Aufgaben. Möchte sich unser Juristenstand, unser Volk sich ihnen gewachsen zeigen. Vollkommenes zu schaffen, ist uns nicht gegeben; aber das als unbrauchbar Erkannte zu beseitigen und durch Besseres zu ersetzen, sollte uns gelingen. Die Probleme: zwischen Freiheit und Strafzwang die richtige Linie zu ziehen, trotz des im Gesetz unerlässlichen Generalisierens doch die volle Würdigung des Einzelfalles, der individuellen Schuld zu ermöglichen, die schutzbedürftigen Güter richtiger abzuschätzen, zu strafen und doch der Humanität und Milde, der Zucht, Besserung und 816

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Rettung nicht zu vergessen, diese Probleme werden immer nur approximativ gelöst. Künftige Generation wird an dem, was wir schaffen, stetig zu bessern haben. Das wahre Gesunden und Erstarken des Volkskörpers aber vollzieht sich nur durch die Läuterung der Volksseele, durch die Ethisirung der Gesellschaft, die Selbsterziehung des Volks, – durch keinerlei gesetzliche Einrichtung. Damit wenden sich meine Gedanken Ihnen zu, meine lieben Herrn Commilitonen. Sie sind Glieder eines idealen Gemeinwesens, in dem der Appell an die Selbstbestimmung zum Guten der Grundton, der Nerv des Lebens ist und stärksten Ausdruck findet in dem, was wir die akademische Freiheit nennen. Die freie Hingabe an die Pflicht, die liebevolle Pflege dessen, was uns eint, die Achtung vor unseren hohen Zielen, vor dieser herrlichen Institution, vor einander, vor sich selbst: das pflegen Sie. Dann sind Sie würdige akademische Bürger, die für den Fortbestand, der auch Ihnen anvertrauten unschätzbaren Güter, das Ihrige thun, denen gegenüber der Zwang keine berechtigte Stätte hat. ***

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31. Oktober 1903. Rede des abtretenden Rektors Dr. jur. Adolf Wach. Bericht über das Studienjahr 1902/03. Hochansehnliche Versammlung! Die Chronik seines Amtsjahres, die der scheidende Rektor zum ewigen Gedächtnis in die Annalen der Universität einzutragen hat, umspannt in dem nun bald halbtausendjährigen Dasein dieser Korporation einen flüchtigen Zeitraum und in dem grossen Gesamtwerk der Wissenschaft ein Nichts. Denn von diesem selbst hat der Chronist nicht zu reden. Er haftet am Äusseren. Und doch gilt auch hier, dass der Geist es ist, der sich den Körper baut, und dass in dem scheinbar wandellosen Dasein nichts dauernder ist, als der Wechsel. Ihn aufmerksam zu beobachten, das ist die Aufgabe. Unter den Lebensbedingungen der Hochschule ist die erste, dass man ihr Luft und Licht freigebe und ihr die Stätte bereite zur ungehemmten Entfaltung der Forschung und Lehre. Wir rühmen uns seit Generationen solchen weisen Schutzes der irdischen Gewalten. Es war in den ersten Tagen des verflossenen Amtsjahres, dass Seine Majestät dieses Haus als unser Königlicher Herr und Rector magnificentissimus zum ersten Mal betrat. Dort in der Wandelhalle sprach der König unter dem jubelnden Zuruf des versammelten Lehrkörpers und der Studentenschaft die denkwürdigen Worte, durch die er getreu der Tradition seiner erlauchten Vorgänger an der Regierung die Universität seiner landesherrlichen Liebe und Fürsorge versicherte. Und zum Zeichen der Wertschätzung unseres Lehrberufs ehrte Seine Majestät die Vorlesungen von Dozenten aller vier Fakultäten durch die Allerhöchste Gegenwart. Die Studentenschaft aber huldigte dem König in glänzender Ovation zur sichtbaren Freude ihres Rectors magnificentissimus. Am 2. August beging die Universität die Feier des Geburtsfestes Seiner Majestät, bei welcher der Prorektor die Festrede hielt, und sich der Lehrkörper, durch die Zeitlage geboten, zum ersten Mal selbständig zu einer geselligen Feier vereinigte. Auch heute schauen wir in Dank und Treue zu unserem erhabenen Schirmherrn empor mit der gewissen Zuversicht, dass das tiefinnerliche Band, welches Herrscherhaus und Hochschule verknüpft, unzerstörlich ist, und mit dem heissen Wunsch, dass der Segen des Himmels über der Regierung König Georgs walten möge. Von der tiefen Einsicht, mit welcher die hohe Staatsregierung die akademischen Angelegenheiten leitet, haben wir auch in diesem Jahre die erfreulichsten Beweise empfangen. Es ist eine Freude, zu sehen, wie diese Regierung mit feinem Verständnis für die Eigenart unserer Körperschaft sich des bureaukratischen Reglementierens enthält, versuchliche und schädliche Neuerungen zurückweist und in richtiger Würdigung des persönlichen Elementes jeder Zeit auf die Erhaltung und 818

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Ergänzung des Lehrkörpers bedacht ist, wie sie auch in den schwierigen jetzigen Zeitläuften unermüdlich, das hohe ideale Ziel der Universität im Auge, den grossen wissenschaftlichen Apparat uns zu bereiten sucht, wie sie bereitwilligst auf von der Universität erstrebte Verbesserung ihrer Lebensordnung eingeht. Für letzteres sind die Änderungen unserer Immatrikulations- und Quästurvorschriften, sowie das erwünschte Disziplinarstatut für die Diener der Universität und ihrer Institute ein Beleg. In welchem Masse aber das Kultusministerium, gestützt durch die opferwillige Bereitwilligkeit der Stände, fortgesetzt den Bedürfnissen der Hochschule Rechnung trägt, das wird jedem augenfällig durch unsere grossen und zahlreichen Neubauten. Am 17. Januar dieses Jahres vollzog sich unter Assistenz des Regierungsvertreters und des Rektors in illustrer Versammlung die Einweihung unseres schönen Veterinärinstitutes, am 9. Juli die der landwirtschaftlichen Anstalt, durch deren Besitz unsere Hochschule in die erste Reihe der Universitäten tritt, welche ausgiebigst und zweckmässigst für die Lehre der Agrikultur ausgerüstet sind. Ferner wurde Ende des Jahres 1902 das neue Auditoriengebäude für das Laboratorium für angewandte Chemie und eine Isolierbaracke bei der Psychiatrischen und Nervenklinik fertig gestellt. Im Bau begriffen ist das grosse, bereits im Mai 1901 begonnene physikalische Institut, dessen Vollendung wir für den Beginn des Winters 1904 auf 1905 erwarten, und der umfassende Neubau für pathologische Anatomie und gerichtliche Medizin, der, im vorigen Jahre beschlossen, im Juli dieses Jahres begonnen, voraussichtlich im Winter 1905 auf 1906 beendet sein wird. Dazu gesellt sich der Umbau des alten landwirtschaftlichen Instituts zu einem Laboratorium für angewandte Chemie und der Anbau eines chemischen Laboratoriums an das Institut in der Brüderstrasse. Zu diesen grossartigen, aber unentbehrlichen Anlagen kam die Fürsorge im Kleinen, doch nicht Bedeutungslosen, so für die Konservierung der Kunstschätze der Universität. Wir werden demnächst unseren Mitbürgern den vortrefflich restaurierten, überaus wertvollen Altarflügel aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, die Verkündigung und den heiligen Dominikus im Doppelbild, öffentlich zugänglich machen. Die grosse Sammlung, zum Teil künstlerisch, zum Teil historisch wertvoller Porträts in der Universitätsbibliothek wird sorgfältiger Pflege und erforderlicher Erneuerung unterzogen. Der Bildschmuck dieses Raumes, obschon längst beschlossen und übertragen, harrt noch des Beginns. Mit lebhaftem Danke haben wir anzuerkennen, dass sich der staatlichen Fürsorge die förderlichste und erwünschte freie Gabe Privater verbindet. Der Ägyptologischen Sammlung wurde durch die unter dem Protektorat des deutschen Kaisers stehende Orientgesellschaft eine höchst wertvolle Vermehrung zu Teil: eine Reihe von Altertümern, die aus von dieser Gesellschaft bei Abusîr in Ägypten unternommenen Ausgrabungen stammen und teils im vorigen Jahre, teils neuerdings hierher gelangten: prächtige zum Teil reizende Sachen, an denen selbst der Laie sein Wohlgefallen hat. Nicht minder wertvolle Fundstücke der in diesem Frühling bei der Cheopspyramide von Gizeh unternommenen Ausgrabung wurden Dank der Munifizenz Leipziger Kunstfreunde, die einen Teil der Kosten des Unter819

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nehmens trugen und den Ertrag unserer Universität bestimmten, der erwähnten Sammlung zugewandt. – Unsere erst seit kurzer Zeit bestehende Papyrussammlung ist in erfreulichster Weise gefördert worden durch die Schenkung eines Mannes, um dessen teures Leben in diesem Augenblick die ganze Gelehrtenwelt bange sorgt; Theodor Mommsen widmete 1000 Mark, einen Teil seines Nobelpreises, dieser Sammlung für den erwähnten Zweck. – Mit Wehmut und Dankbarkeit empfingen wir kraft letztwilliger Verfügung der am 12. Dezember 1902 verstorbenen Wittwe unseres unvergesslichen Kollegen Otto Ribbeck zu dauerndem Besitz die von Seffner’s Hand geschaffene Marmorbüste ihres Gatten, während sie die in seinem Nachlass befindlichen handschriftlichen Aufzeichnungen für die Universitätsbibliothek bestimmt hat. Unserem Archäologischen Institut hinterliess unser am 27. März 1903 verstorbener kunstsinniger Mitbürger Otto Julius Gottschald ein wertvolles Marmorköpfchen feiner griechischer Arbeit. Von einem Gönner, der nicht genannt sein will, erhielt dasselbe Institut einen namhaften Geldbeitrag. Unter dem Namen „Schwägrichenstiftung“ sind durch hochherzige testamentarische Disposition der am 6. März 1903 verstorbenen Frau Advokat Ottilie verw. Döring geb. Thieme 36 000 Mark der Universität zur Gründung von 6 Stipendien zugefallen. – Die schon von meinem Herrn Amtsvorgänger erwähnte PuschmannStiftung für Geschichte der Medizin sieht ihrer endgiltigen Regelung entgegen, nachdem der von den Intestaterben angestrengte Prozess eine für die Universität befriedigende Erledigung gefunden hat. Das Stiftungskapital wird unerachtet einer vergleichsweisen nicht unerheblichen Konzession an die Gegner 400 000 Mark übersteigen. – Auch in diesem Jahre bewährte sich die für unseren Lehrkörper so wichtige Albrechtstiftung auf das heilsamste; es wurden aus ihr teils zur Förderung wissenschaftlicher Forschungen, teils zu persönlicher Subvention 10 660 Mark verwendet. Unsere Universitätsbibliothek erfreute sich einer Reihe wertvoller Gaben. Alle diese reichen Zuwendungen beweisen, dass das Verständnis für die hohe Aufgabe der Universität und die Liebe zu ihr in weitesten Kreisen fortbesteht und wir von ihr neue schöne Früchte hoffen dürfen. An der Zentenarfeier der Universität Heidelberg zum Gedächtnis ihrer Erneuerung durch Karl Friedrich von Baden in den Tagen vom 5.–9. August beteiligte sich die Universität durch Entsendung des Rektors, während sie der Universität Dorpat anlässlich ihrer am 12./25. Dezember stattfindenden Säkularfeier ihre Glückwünsche schriftlich aussprach. Zu einer Art akademischer Festlichkeit gestaltete sich die Weihe des Göthedenkmals am 28. Juni dieses Jahres. Es war ein guter Gedanke, in unserer denkmalsfreudigen, aber nicht immer denkmalsglücklichen Zeit unseren jugendschönen Kommilitonen weiland Johann Wolfgang Göthe in den Mauern dieser Stadt, auf altehrwürdigem malerischen Platz ein Standbild zu errichten. An dem von Seffner geschaffenen anmutigen Denkmal legte unter Beteiligung der studentischen Korporationen der Rektor mit Weiheworten einen Kranz nieder. Bevor ich nun auf die Wandlungen innerhalb unseres Personenkreises eingehe, habe ich noch einer für das akademische Leben Deutschlands und insbesondere dieser Universität bedeutsamen Tatsache zu gedenken: Der Gründung des Akade820

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mischen Schutzvereins. Sein Zweck ist, im Interesse der Wissenschaft, ihrer Arbeiter und des Publikums auf den Verlag, Vertrieb und Absatz der wissenschaftlichen Literatur einzuwirken, um der Verteuerung der Schriftwerke zu steuern, den Absatz zu fördern und die Autoren beim Abschluss von Verlagsverträgen gegen wirtschaftliche Übermacht zu schützen. Den äusseren Anstoss gab das immer schärfer hervortretende Bestreben des buchhändlerischen Verbandes, „Börsenverein“ genannt, zu Gunsten des sogenannten Sortiments, der buchvertreibenden Zwischenhand, den Bücherpreis zu steigern, oder wie man sich auch ausdrückt, den Rabatt zu beseitigen, und die damit zusammenhängende nachträglich als unhaltbar erkannte Massnahme einer Sekretierung des Börsenblattes, durch die der Einblick in die Vertriebs- und Wertverhältnisse den Autoren und Käufern entzogen werden sollte. Die Kaufkraft weder der Bibliotheken, noch des wissenschaftlichen Publikums ist solcher Preissteigerung gewachsen. Die Minderung des Absatzes bedroht die wissenschaftliche Produktion und folgeweise unser geistiges Leben mit ernster Gefahr. Daher der Entschluss einer Koalition gegenüber dieser buchgewerblichen Entwickelung, die uns bisher wort- und schutzlos fand. Nach einmütigem Beschluss unseres Senats und des Plenums der Dozenten dieser Universität ging von hier aus die Anregung zu einem Zusammenschluss der Gelehrten. In Eisenach erfolgte am 14. April d. J. auf einer Konferenz von Rektoren deutscher und österreichischer Hochschulen und von Vertretern grosser Bibliotheken die Gründung des Schutzvereins. Die Festlegung der Statuten, die notwendige Abfassung einer unser Vorgehen motivierenden Denkschrift und die akademischen Ferien hielten vorerst die Entwickelung auf. Dennoch entstanden schon bis zum Beginn dieses Semesters Zweigvereine in Breslau, Erlangen, Freiburg, Giessen, Göttingen, Karlsruhe, Marburg, Würzburg und Leipzig. Demnächst hoffen wir den Schutzverein an allen deutschen Hochschulplätzen und über Deutschlands Grenzen hinaus, ausgedehnt auf alle akademisch gebildeten Berufskreise lebendig zu sehen: Zum Nutzen der Wissenschaft und gewiss nicht zum Schaden des Buchgewerbes. Schon die Tatsache, dass Hunderte von Männern, deren Leben der Wissenschaft gehört und sich nur zu gern von äusseren Dingen zurückzieht, sich – unerachtet ihres engen Konnexes mit den namhaftesten Vertretern des Buchgewerbes – zu diesem Vorgehen entschlossen haben, beweist dessen Notwendigkeit. Zur Zeit trübt noch eine unberechtigte, wenn schon begreifliche Erregung auf der Gegenseite das Verständnis der Lage und treibt zu Unterdrückungsversuchen. Aber es muss mit Entschiedenheit jetzt, wie früher, betont werden, dass der Schutzverein dem gesunden Buchgewerbe zur Förderung, nicht zum Schaden gedacht ist. Wissenschaft und Buchhandel sind durch eine Solidarität der Interessen verbunden. Zur Erweiterung, nicht zur Verkümmerung der literarischen Produktion und Konsumtion, zum Schutze des geistigen Lebens und daher auch des ihm dienenden Buchhandels haben wir uns verbunden. Es gilt unleugbare Übelstände abzustellen, nicht in blindem Eifer die Schäden zu vergrössern. Die leidenschaftliche Erregung wird, – das erwarten wir zuversichtlich – der sachlichen Prüfung Platz machen und aus dem unvermeidlichen Kampf wird der segensreiche Friede hervorgehen. Nichts veranschaulicht mehr das reiche wechselvolle Leben unserer Universität, als das Schicksal unseres Lehrkörpers. 821

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Auch in diesem Jahr sind wir vor schweren Verlusten nicht bewahrt geblieben. In der Nacht vom 4. auf den 5. Dezember 1902 starb der ordentliche Professor der Chemie und Direktor des Ersten chemischen Laboratoriums Dr. ph. med. Johannes Wislicenus, eine Zierde unserer Hochschule, gleich bedeutend als Forscher, Lehrer und Persönlichkeit, uns allen ein teurer, unvergesslicher Kollege. Er war am 25. Juni 1835 in Klein-Eichstädt geboren und gehörte uns seit dem 19. Februar 1885 an. Vorwiegend der organischen Chemie zugewandt, hat er in seinen struktur-chemischen Untersuchungen über die gemischten Typen, über die Milchsäure, über den synthetischen Aufbau organischer Körper vermittelst Acetessigester und Malonsäureester, wie über die Isomerieerscheinungen und die Lagerung der Atome Arbeiten geliefert, die seinem Namen für immer einen Ehrenplatz in seiner Wissenschaft sichern. In voller Manneskraft wurde uns am 14. Dezember 1902 Dr. Wilhelm Wollner, ausserordentlicher Professor in der philosophischen Fakultät entrissen. Seine Wiege stand in Russland, – er ist 1851 in Moskau geboren –; daher wohl auch seine liebevolle Beschäftigung mit der russischen Literatur und Poesie. Aber in bewundernswerter, vielfach literarisch betätigter Weise beherrschte er auch die deutsche, englische, französische Dichtung. Sein gross gedachtes Werk einer Geschichte der russischen Literatur auszuführen, war ihm nicht beschieden. Am 10. März 1903 starb der ausserordentliche Professor der medizinischen Fakultät Dr. med., phil. et jur. Julius Viktor Carus, geboren im Jahre 1823 und seit 50 Jahren Mitglied der Universität. Durch seine Veröffentlichungen über vergleichende Anatomie und insbesondere über Darwins Forschungen ist er in weiten Kreisen bekannt geworden und hat an seinem Teil dazu besonders beigetragen, den ehrenvollen Ruf, welchen unsere Hochschule im Auslande geniesst, zu erweitern und zu festigen. Noch ein zweiter schwerer Verlust traf die medizinische Fakultät durch den frühen Tod des ausserordentlichen Professors, Prosektors am pathologischen Institut Dr. Franz Saxer. Er verschied am 2. Juni 1903 im 40. Lebensjahre. Uns gehörte er seit 1900 an. Bei der Gründlichkeit seiner wissenschaftlichen Durchbildung, seinen hervorragenden Geistesgaben, von denen seine Arbeiten Zeugnis ablegen, seinem grossen technischen Geschick, seiner Lehrgabe, bedeutet sein Tod für die Hochschule einen schweren Verlust. Er starb ein Opfer seiner Wissenschaft. Vor wenigen Tagen, am 24. Oktober, schloss sich an diese Reihe teurer Toter Adolf Schmidt, weiland Professor der Rechte an unserer Universität, nur 10 Tage bevor er das 88. Lebensjahr vollendete. Sein wissenschaftliches Leben hatte er abgeschlossen, als er uns am 1. Oktober 1902 verliess. Aber wie reich und begnadigt ist es gewesen. In voller Rüstigkeit des Geistes und des Körpers konnte er seinem Beruf weit über das Alter hinaus leben, welches der Psalmist als die Grenze bezeichnet. Er war Romanist durch und durch. Dem römischen Recht gehörten seine wertvollen schriftstellerischen Leistungen an. Mit gelehrtester Bildung verband er eine vorzügliche Lehrgabe. Zwar nicht uns angehörig, aber uns doch eng verbunden war ein Mann, dessen Trauerfeier am 4. Januar dieses Jahres in der Paulinerkirche unter Beteiligung der Universität begangen ward: Dr. Arwed Rossbach, der Erbauer dieses Gebäudes, 822

Jahresbericht 1902/03

unserer Universitätsbibliothek, der Erneuerer der Paulinerkirche. Dem Dank, den wir ihm schulden, wollten wir Ausdruck geben durch die ungewöhnliche Tatsache, dass sich die Pforten der Universitätskirche erschlossen, um hier noch einmal am Sarge des teuren Mannes die Vielen zu vereinigen, die den hochverdienten Künstler und Mitbürger liebten und ehrten. In die Ferne führten Berufungen Kollegen aus allen Fakultäten: aus der theologischen die a. o. Professoren Heinrich Böhmer und Johannes Kunze, jenen nach Bonn, diesen nach Wien, aus der juristischen Fakultät die a. o. Professoren Karl Rieker, Woldemar Engelmann und Paul Kretzschmar nach Erlangen bezw. Marburg und Giessen, aus der medizinischen Fakultät den a. o. Prof. Paul Leopold Friedrich nach Greifswald in die Direktion der chirurgischen Klinik und den a. o. Prof. D. Bernhard Krönig nach Jena in die Direktion der Universitäts-Frauenklinik, aus der philosophischen Fakultät die Privatdozenten Rudolph Kautzsch und Viktor Rothmund nach Halle und Prag. Die akademischen Lehrer Deutschlands sind Wandervögel; mögen diese von uns Gegangenen am neuen Platz eine befriedigende Heimstätte und Wirksamkeit finden. Aus der Reihe unserer Kollegen schieden die bisher beurlaubten Privatdozenten Dr. phil. Ludwig Pohle und Dr. phil. Hermann Hucho, jener wegen Verbleibs an der Frankfurter Handelshochschule, dieser, weil er beim Generalkonsulat in Sidney seine Sachverständigenstellung festzuhalten wünschte. Seine Entlassung nahm der a. o. Professor Dr. med. Karl Eigenbrodt. Die Mitwirkung unseres Kollegen, des a. o. Professors der philosophischen Fakultät, Dr. August Conradi entbehren wir zur Zeit zufolge seines dreijährigen Urlaubs als Lehrer an der staatlichen Hochschule in Peking. Die Lücken, welche Tod und andere Umstände gerissen, soll das Leben schliessen. Zufolge Berufungen wurden die Unsrigen in der juristischen Fakultät der Strassburger ordentliche Professor des öffentlichen Rechts Dr. jur. Otto Mayer, in der philosophischen der ordentliche Professor für theoretische Physik Dr. phil. Theodor Des Coudres und der ordentliche Professor der Chemie und Direktor des chemischen Laboratoriums Dr. phil. Arthur Hantzsch, beide bisher der Universität Würzburg angehörig. Erfreulichsten Zuwachs brachte der Eintritt junger Gelehrter in unseren Kreis. Es habilitirten sich in der Juristenfakultät Dr. jur. Johannes Nagler, in der medizinischen die DDr. med. Hermann Preysing, Lothar v. Criegern, Friedrich Rolly, Walter Riesel, Adolf Glöckner, in der philosophischen Fakultät die DDr. phil. Alexander Nathanson, Alfred Doren, Johann Plenge, Felix Emil Krüger, Erich Marx und Albert Dahms. Möchte die betretene Bahn die Herren Kollegen zu schönstem Ziele führen. In einer Zahl von Ernennungen zu ausserordentlichen Professoren empfingen Kollegen eine Anerkennung ihrer Verdienste: die juristischen Dozenten Dr. Ludwig Beer und Dr. Albrecht Mendelssohn Bartholdy, die medizinischen DDr. Franz Bruno Hofmann und Georg Clemens Perthes, der überdies zum Direktor der chirurgischen Universitäts-Poliklinik ernannt ward, die Privatdozenten der philosophischen Fakultät: Dr. Paul Schwarz und Dr. John Schmitt. Die durch den Abgang des Professors Kunze erledigte zweite Universitätspredigerstelle ist dem ordentlichen Professor der Theologie D. Ihmels übertragen worden. 823

Adolf Wach

Die Fakultäten verliehen ihre höchste akademische Würde honoris causa und zwar die theologische heute dem Minister des Kultus und öffentlichen Unterrichts Dr. jur. et ph. v. Seydewitz und dem Präsidenten des Landeskonsistoriums v. Zahn; die juristische dem Rechtsanwalt und Notar Oskar Feodor Oehme zu Leipzig. Rite promovirte die theologische Fakultät zu Lizentiaten drei Bewerber, zu Doktoren die juristische 205, die medizinische 187, die philosophische 170 Kandidaten. Eine Reihe goldener Doktorjubiläen gab den erfreulichen Anlass, durch Diplomerneuerungen die alten Bande zu bestätigen. Die Chronik unseres studentischen Lebens weist nur wenige dunkle Blätter; wir betrauern sechs früh aus dem Leben gerufene Kommilitonen; wir denken mit schmerzlichem Tadel des Einen, den wir wegen schimpflichen Vergehens mit der Strafe der Relegation belegen mussten. Auch die Karzerstrafe hat sich leider noch nicht ganz als entbehrlich erwiesen. Allein das Gesamtbild ist ein hocherfreuliches: Fleiss, Eintracht, Gesittung sind seine Grundzüge. Möchten sie sich immer deutlicher ausprägen, damit unsere Leipziger Universität in der stolzen Reihe der deutschen Hochschulen voranleuchte durch die Tüchtigkeit ihrer Studentenschaft. Möchte auch endlich sie zu der lang ersehnten und angebahnten gemeinschaftlichen Organisation gelangen. Ein Schatten freilich fällt noch auf dieses befriedigende Bild: die vorwiegende Erfolglosigkeit der akademischen Preisausschreiben. Nur die philosophische Fakultät war in der Lage, Arbeiten zu prämiieren. Ihre I. Sektion empfing zwei Bearbeitungen ihres Themas: „Die deutsche LiteraturGeschichtsschreibung seit Gervinus“. Die mit dem Motto: „non videre, non lugere neque detestari sed intellegere“ ist des Preises würdig. Der Verfasser ist stud. ph. Paul Merker in Dresden. Die II. Sektion erkannte dem einzigen Bewerber stud. jur. et ph. Max August Georg Grosch aus Sonneberg in Sachsen-Meiningen die ehrenvolle Erwähnung und eine Gratifikation zu. Die Aufgabe der III. Sektion fand zwei Bewerber. Die Arbeit mit dem Motto „was man ist, das blieb man andern schuldig“ wurde preisgekrönt; ihr Verfasser ist stud. math. Hellmut Böttcher aus Leipzig. Der lobenden Anerkennung würdig befunden wurde die Arbeit mit dem Motto δόσις δ´ὀλίγη τε φιλή τε verfasst von Walter Wolfgang Queckenstedt aus Leipzig-Reudnitz. Die Begründung der Urteile und die neuen Preisaufgaben werden durch Druck und Anschlag am schwarzen Brett kund gegeben. Die Frequenz der Hochschule weist die schon seit lange bemerkbare Stabilität auf. Die Zahl der Immatrikulierten erreichte gestern die Höhe von 3705 gegen 3571 am 30. Oktober 1902. Die theologische Fakultät zählt 275 Studierende gegen 252 des Vorjahrs, die juristische 1144 gegen 1162, die medizinische 429 gegen 467, die philosophische 1857 gegen 1690. Hierzu kommen 567 Personen, welche durch Hörerscheine berechtigt sind, an den Vorlesungen teilzunehmen. Damit bin ich am Ende meines Berichts. Aber ich kann die Schwelle dieses Rektorats nicht überschreiten ohne für mich selbst die Summe des Jahres zu ziehen: Wenn es Sorge und Schweres brachte, so kam diese Mitgift nicht aus unserer Mitte. 824

Jahresbericht 1902/03

Für mich liegt das Jahr in dem Glanze angenehmster und dankbarster Erinnerung an die freundschaftliche, nachsichtsvolle Unterstützung meiner Herren Kollegen und befestigten Bewusstseins von der Kerngesundheit und Jugendkraft dieser altehrwürdigen Institution. Und nun wende ich mich an Sie Herr Karl Bücher, meinen Nachfolger im Amt, damit Sie dessen Insignien aus meiner Hand empfangen und den vorgeschriebenen Amtseid leisten. „Sie schwören bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, dass sie die Verfassung und die Gesetze der Universität treu und gewissenhaft beobachten und die Pflichten des Ihnen anvertrauten Amtes als Rektor der Universität nach bestem Wissen und Gewissen redlich erfüllen wollen.“ Somit proklamiere ich Sie, Herrn Dr. phil. Karl Bücher zum Rektor der Universität Leipzig für das Studienjahr 1903–1904. Ich übergebe Ihnen den Hut und den Mantel als Zeichen Ihrer Würde, die Kette, mit welcher königliche Huld den Leipziger Rektor geschmückt hat, das Siegel der Universität, damit Sie deren Willen rechtlich beglaubigen, die Statuten, die Sie zu bewahren haben, die Schlüssel des Hauses als Symbol Ihrer Herrschaft in diesen Räumen. Und als Erster bringe ich Ihnen, Rector Magnifice, den verehrungsvollen Glückwunsch für Ihr Amtsjahr. Möge es gesegnet sein für unsere teure Universität und für Sie selbst. ***

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Karl Bücher (1847–1930)

31. Oktober 1903. Rede des antretenden Rektors Dr. phil. Karl Bücher. Über alte und neue Aufgaben der deutschen Universitäten. Hochansehnliche Versammlung! Der Augenblick, da ein deutscher Professor das Amt des Rektors antritt, bedeutet auch für sein inneres Leben eine Wandelung. Fährt er auch fort, seiner Lehrtätigkeit in gewohnter Weise obzuliegen, so wird doch seine wissenschaftliche Forschungsarbeit in jäher Weise unterbrochen. Alle seine Gedanken und Interessen werden fast gewaltsam aus dem Kreise engster Fachstudien heraus auf die grosse Gemeinschaft hingelenkt, die für ein Jahr seiner Obhut anvertraut ist und damit auch auf die Fragen ihrer Entwickelung und Fortbildung. Es gibt ja freilich Leute, für die unsere Universitäten das Urbild konservativen Beharrens sind; aber ihre „Zöpfe“, von denen man so gerne redet, sind doch nur äusserlich, und unter alten Formen kann sehr wohl junges frisches Leben gedeihen. In Wirklichkeit vermag auch die Universität, wie jedes andere soziale Gebilde, sich der Gesamtentwickelung des Gesellschaftskörpers, von dem sie ein Glied bildet, gar nicht zu entziehen, und wollte sie es, so würde die Blüte der Jugend unsers Volkes, die jedes Semester neu in ihre Tore einströmt, sie früher oder später mit innerer Notwendigkeit in den Strom dieser Entwickelung zurückreissen. Auch in den letzten Menschenaltern haben sich Wandelungen in den Voraussetzungen, den Zielen und der Wirkungsweise des akademischen Unterrichts vollzogen, wie sie gar nicht grösser gedacht werden können. Nur dass solche Veränderungen uns meistens erst dann recht zum Bewusstsein kommen, wenn sie vollzogen sind und wenn man durch den jetzigen Zustand einen Durchschnitt zieht, um ihn mit dem Zustandsbilde einer weiter zurückliegenden Epoche zu vergleichen. Ein jeder von uns wird diese Änderungen in einer verschiedenen Beleuchtung sehen, da ein jeder an einer anderen Stelle bei ihnen mitwirkt und darum von einer anderen Seite sie betrachtet. So mag es denn auch dem Nationalökonomen gestattet sein, die Eindrücke, die eine solche Betrachtung ihm erweckt, hier wiederzugeben, in dem vollen Bewusstsein, dass seine Auffassung einseitig ist und dass sie nicht die volle Wirklichkeit darstellen kann, sondern nur einen Ausschnitt derselben. 827

Karl Bücher

Ist doch für ihn die Universität selbst ein wirtschaftliches Gebilde, das mit dem grossen Organismus der Volkswirtschaft in seiner Entwickelung parallel geht. Drei Entwickelungsstufen treten ihm da alsbald deutlich entgegen: die mittelalterliche Universität, die Universität des Territorialstaates und die moderne nationalstaatliche Universität. Und jede von ihnen erscheint ihm wieder als ein notwendiges Glied in der Gesellschaftsordnung ihrer Zeit. Die mittelalterliche Universität, die auf deutschem Boden durch Prag, Wien, Heidelberg, Köln und etwa noch Leipzig und Rostock repraesentiert wird, ist ein selbständiger Gemeindeverband mit eigner Gerichtsbarkeit und körperschaftlicher Verwaltung, mit stiftungsmässiger Güterausstattung, von deren Ertrag sie ihre sämtlichen Bedürfnisse bestreitet. Ihr Zusammenhang mit dem Staate und der Stadtgemeinde ihres Sitzes ist genau so lose wie derjenige einer Abtei oder eines Klosters, denen sie auch in dem gemeinsamen Leben von Lehrern und Schülern gleicht. Von der Kirche kommt sie; sie erfüllt eine kirchliche Aufgabe; ihre Lehre ist universell, wie die Kirche selbst – die Übermittlung eines feststehenden, in Schriftwerken niedergelegten Wissensinhaltes, dessen verschiedene geistlich-weltliche Elemente sie zu einer Einheit zu verschmelzen sucht. Sie gibt nicht Berufsbildung für irgend ein Amt, nicht einmal für ein kirchliches, sondern allgemeine wissenschaftliche Bildung in einem feststehenden Lehrgang. Dieser bedingt die Scheidung zwischen der facultas artium und den „höheren Fakultäten“, wie auch die Gliederung ihres Personalbestandes in Scholaren, Baccalaureen und Magister, konform der Gliederung des zünftigen Handwerks. Diese universelle Stellung und Richtung ändert sich seit der Mitte des 15. Jahrhunderts. Von 1450 bis zum Beginn der Reformation wurden 9 neue Universitäten auf deutschem Boden gegründet, von da bis 1702 21, und zwar 10 protestantische und 11 katholische; im 18. Jahrhundert kommt noch ein halbes Dutzend hinzu. Verschiedene Umstände wirkten dabei mit: die politische Zersplitterung des alten Reiches, die kirchliche Spaltung, die Reception des römischen Rechtes, die Einführung des Berufsbeamtentums. Der Hauptgrund für diese Überfülle kleiner Universitäten liegt aber in den merkantilistischen Staatswirtschaftsideen: jedes weltliche und geistliche Territorium will einen autonomen Wirtschaftskörper darstellen; es will seine höheren Bildungsbedürfnisse durch eine eigene Universität decken, wie es die materiellen Bedürfnisse der Untertanen aus eigener Produktion zu befriedigen sucht. Die landesherrlichen Beamten sollen im Inlande ausgebildet, die Reinheit der konfessionellen Lehre soll gewahrt, das Geld nicht ins Ausland getragen werden. Der Besuch fremder Universitäten wird verboten, und damit schwindet die internationale Freizügigkeit der Studenten und der akademischen Lehrer; es werden für die einzelnen Fächer eigene Lekturen errichtet, und es ist gar nicht so selten, dass den Inhabern Lehrplan und Lehrinhalt vorgeschrieben wird. Die „Landesuniversität“ ist für den Fürsten ein instrumentum dominationis, wie das Söldnerheer und der Kriegsschatz. Wie wenig vorteilhaft diese Einrichtung der Entwickelung der Wissenschaft gewesen ist, braucht nicht auseinandergesetzt zu werden. Die Napoleonische Zeit ist wie ein Sturmwind über die zahlreichen kleinen Universitäten hingefahren. Von 1794 bis 1818 sind ihrer nicht weniger als 15 aufgehoben 828

Antrittsrede 1903

worden. Allerdings wurden dafür zwei neue gegründet: Berlin 1809 und Bonn 1818. Um dieselbe Zeit ist Wittenberg mit Halle, Frankfurt a. d. O. mit den Resten der Universität Breslau vereinigt worden, und Bayern hat seine alte Landesuniversität nach München verlegt. Aber diese neuen in grossem Stile gedachten Hochschulen unterschieden sich wesentlich von denjenigen des merkantilistischen Zeitalters. Im Jahre 1808 schrieb Schleiermacher im Hinblick auf die Gründung der Universität Berlin die merkwürdigen Worte, Preussen beweise, dass es „sich nicht isolieren will, sondern auch in dieser Hinsicht mit dem gesamten natürlichen Deutschland in lebendiger Verbindung zu bleiben wünscht.“ In der Tat erscheint schon damals der territorialstaatlich-konfessionelle Charakter der deutschen Universität überwunden; sie bildet sich zu einer Nationalinstitution um, für welche die partikularstaatlichen und partikularkirchlichen Grenzen kaum mehr existierten. Schon äusserlich drückt sich das aus in der immer mehr zur Geltung kommenden Freizügigkeit von Dozenten und Studenten, in dem Grundsatze, dass jeder Studierende seine Studien frei gestalten, jeder Dozierende seine Lehre nach eigner wissenschaftlicher Überzeugung einrichten kann, also in dem, was man kurz die Lern- und Lehrfreiheit nennt. Aber auch für das innere Leben der Universitäten ist diese Umbildung bedeutungsvoll; sie ist sozusagen eine Neubelebung der Studieneinheit des Mittelalters; aber diese Einheit beruht nicht mehr auf der Einheit der Kirche, sondern auf der Einheit des wissenschaftlichen Gedankens, auf welchen die gesamte von der Universität vermittelte höhere Berufsbildung nunmehr gestellt ist. Und damit hat Deutschland in der Zeit jammervoller politischer Ohnmacht und Zerrissenheit in seinen Universitäten ein einigendes Element gewonnen. Die Vielheit der Staaten und die Macht des historisch Gewordenen bedingte eine Vielheit von Pflegestätten der Wissenschaft; soweit der Ertrag des Stiftungsvermögens nicht ausreicht, müssen Zuschüsse aus allgemeinen Landesmitteln geleistet werden, und für kleine Staaten konnte daraus eine sehr erhebliche Belastung entstehen. Man braucht nur an Baden zu denken, das bei einer Bevölkerung von 3/7 derjenigen des Königreichs Sachsen doch zwei Universitäten erhält. Aber sie haben diese Last willig getragen, deren Früchte dem gesamten deutschen Volke zugute kamen, und so haben wir seit dem Beginn des XIX. Jahrhunderts die merkwürdige Erscheinung einheitlicher nationaler Bildungsstätten für die führenden Klassen, speziell das Beamtentum. Hier entwickelt sich dann jene fruchtbare Verbindung von wissenschaftlicher Forschung und Lehre, wie sie kein anderes Land in gleicher Vollendung aufweist. Man wird bei dieser Betrachtung den deutschen Einrichtungen nur dann völlig gerecht werden, wenn man sie mit der Entwickelung des Universitätswesens in anderen Staaten vergleicht. In England haben die alten Universitäten den mittelalterlichen Charakter bis auf die neueste Zeit bewahrt: sie sind Lehranstalten für die höhere allgemeine Bildung der herrschenden Klasse, mit korporativer Selbständigkeit und gemeinschaftlichem Leben der Lehrer und Studenten. In Frankreich dagegen hat die Revolution die alte Volluniversität gänzlich zerstört; die Fakultäten sind aus einander gefallen und von Napoleon zu Dressuranstalten für die einzelnen Zweige des öffentlichen Dienstes gemacht worden. Geistliche Seminare, Rechtsfakultäten, 829

Karl Bücher

medizinische Schulen vermittelten in genau vorgeschriebenen Lehrgängen ein notdürftiges Fachwissen, dessen Aneignung am Schlusse jedes Schuljahres von den Studenten durch eine Prüfung zu beweisen ist; die philosophische Fakultät verkümmerte mehr und mehr, bis die dritte Republik in bewusster Anlehnung an das deutsche Vorbild die Wiedervereinigung der getrennten Elemente unternahm. Die Pflege der Wissenschaft wurde in die Akademie verlegt, und die Zentralisation derselben in Paris war die notwendige Folge des gesamten streng zentralistischen Verwaltungssystems. Wenn man sich aber klar machen will, was die deutschen Universitäten für unsere nationale Entwickelung bedeuten, so kann man vielleicht den auf den ersten Blick paradox erscheinenden Vergleich mit dem Zollverein wagen. Wie der Zollverein die inneren Schranken beseitigte und ein einziges grosses Wirtschaftsgebiet schuf mit freiem Warenverkehr von einem Bundesstaat zum andern und damit erst die Grundlage abgab, auf welcher sich ein arbeitsteiliges Wirtschaftsleben auf grosser Stufenleiter entfalten konnte – eine unendliche Steigerung der materiellen Kräfte, so schufen die deutschen Universitäten über die politischen und konfessionellen Grenzen hinweg ein grosses einheitliches Gebiet freien geistigen Verkehrs und Wettbewerbs, innerhalb dessen die Einheit aller höheren nationalen Bildung zu einer zusammenfassenden Macht emporwuchs, die keine Karlsbader Beschlüsse, keine Demagogenverfolgungen und keine Massregelungen zu dämpfen vermochten. Und hier war es gerade der Umstand, dass die gesamte akademisch gebildete Klasse nicht in den engen Ordnungen getrennter Fachbildungsanstalten aufwuchs, sondern von der gemeinsamen alma mater eine auf breitester Grundlage aufgebaute streng wissenschaftliche Erziehung empfing, der die soziale Gleichwertigkeit aller Glieder derselben verbürgte. Der Geistliche und der Gymnasiallehrer, der Richter, der Verwaltungsbeamte, der Arzt, soweit sie in ihren Lebensrichtungen später aus einander gehen mochten, sie alle fühlten sich doch als Gleiche, sie alle nährten das heilige Feuer, das sie dem gemeinsamen Herde der grossen nationalen Geistesfamilie entnommen hatten, und von ihnen aus drangen seine wärmenden und erleuchtenden Strahlen bis tief in die breite Masse des Volkes. Ist heute der nationale Einheitsgedanke verwirklicht, so gebührt den deutschen Universitäten wahrlich ein nicht geringer Teil des Verdienstes. Aber indem wir dies anerkennen, werden wir doch nicht übersehen dürfen, dass schon seit dem zweiten Viertel des XIX. Jahrhunderts die deutsche Universität dem Bedürfnis der Nation nach wissenschaftlicher Berufsbildung nicht mehr voll zu entsprechen vermochte. Jene in der Geschichte beispiellose ökonomisch-technische Entwickelung, welche seit dem letzten Drittel des XVIII. Jahrhunderts durch die europäischen Kulturstaaten ihren Durchzug gehalten hat, die Länder mit Eisenschienen überspannend, durch Fabrikschlote und Telegraphenstangen das Landschaftsbild verwandelnd, hatte auf den verschiedenen Gebieten des Wirtschaftslebens Berufsstellungen geschaffen und zugleich dem Staate Aufgaben gestellt, denen die drei „höheren“ Fakultäten der Theologen, Juristen, Mediziner nicht zu entsprechen vermochten. Zwar hatte die philosophische Fakultät, die von einer dienenden Magd der übrigen Fakultäten vermöge der ausserordentlichen Entwickelung der historisch830

Antrittsrede 1903

philologischen Disziplinen, der Philosophie und namentlich der Naturwissenschaften zur Trägerin des wissenschaftlichen Fortschritts geworden war, eine nicht geringe Anpassungsfähigkeit an die veränderten Forderungen der Praxis bewiesen. Hat sich doch die Zahl ihrer Ordinariate beispielsweise in Leipzig seit einem Jahrhundert vervierfacht, während sie sich in den drei übrigen Fakultäten nur verdoppelt hat. Aber auf die Dauer hat auch sie den neuen Bedürfnissen nicht zu folgen vermocht, und so ist es gekommen, dass neben der Universität sich ein Kranz von Hochschulen gebildet hat, die zunächst bloss höheres Fachwissen vermitteln wollten, mehr und mehr aber der Universität sich auch darin angeglichen haben, dass sie sich ihr Lebensprinzip: die Verbindung selbständiger wissenschaftlicher Forschung mit der Anleitung zum wissenschaftlichen Arbeiten, zu eigen machten. In erster Linie sind hier die Technischen Hochschulen zu nennen für die Ausbildung von Ingenieuren, Architekten, Maschinenbauern, Fabrikchemikern, dann die Bergakademien, die forst- und landwirtschaftlichen Hochschulen, neuerdings die Handelshochschulen. Alle diese Anstalten haben das miteinander gemein, dass sie über einem Unterbau von niederen und mittleren Fachschulen sich erheben, ohne dass diese als ihre Vorbereitungsinstitute angesehen werden könnten. Alle wollen wissenschaftlich begründetes Fachwissen lehren zum Zwecke praktischer Anwendung in grossen Privatunternehmungen oder im Dienste des Staates. Sie setzen darum einerseits eine ähnliche geistige Reife bei ihren Besuchern voraus wie die Universitäten, andererseits knüpfen sie an praktische Erfahrungen an, wie sie am besten durch eine Lehre im wirklichen Wirtschaftsbetrieb erworben werden. Ihr theoretischer Gehalt fusst halb auf den Naturwissenschaften, halb auf der Wirtschaftswissenschaft. Denn alle Technik ist blind und wertlos, die sich nicht dem Prinzip der Wirtschaftlichkeit unterordnet. Im Gegensatze zur allgemeinen Volkswirtschaftslehre hat man diese Disziplinen wohl als privatwirtschaftliche bezeichnet. Sucht die Volkswirtschaftslehre die Gesetze zu ergründen, von denen das ökonomische Leben der menschlichen Gesellschaft, insbesondere der Güterverkehr von Wirtschaft zu Wirtschaft, beherrscht wird, so setzen jene Privatwirtschaftslehren sich zum Ziele, zu erforschen und systematisch darzulegen, unter welchen Umständen der höchstmögliche Reinertrag in einer einzelnen wirtschaftlichen Unternehmung gewonnen wird. Da das Verfahren, welches im besonderen Falle zu diesem Ziele führt, zu einem erheblichen Teile auf der Erfahrung von Jahrtausenden beruht, ohne dass es bis jetzt überall gelungen wäre, dasselbe wissenschaftlich zu begründen und auf einfache Gesetze des Geschehens zurückzuführen, so hat man jene mit dem Ziel der praktischen Anwendung entstandenen Disziplinen wohl als Kunstlehren oder Techniken der reinen Wissenschaft gegenübergestellt, von der man annimmt, dass sie um ihrer selbst willen da sei. So kam es, dass man an den Universitäten auf ihre Entwickelung lange Zeit mit geringem Verständnis herabsah; ja ich erinnere mich, dass, als eine dieser Disziplinen an einer kleinen Universität Aufnahme finden sollte, ein Vertreter einer der alten Universitäts-Wissenschaften in heller Verzweiflung ausrief: „Jetzt zieht auch bei uns das Banausentum ein!“ 831

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Es ist wenig bekannt und wird heute kaum mehr beachtet, dass jener ganze grosse Komplex von Privatwirtschaftslehren schon im XVIII. Jahrhundert an den deutschen Universitäten akademisches Bürgerrecht besessen hat. Sie waren damals zusammengefasst in eine grosse Disziplin, welche heute wohl nirgends mehr einen eignen Lehrstuhl besitzt. Dennoch ist sie nicht ganz aus der Universitätssphäre verschwunden; nur fristet sie an einer sehr bescheidenen Stelle ihr Dasein, nämlich auf den Visitenkarten unserer Studierenden, die ja überhaupt oft konservativer sind als die Dozenten. Diese Disziplin ist die Kameralwissenschaft. Sie ist nicht von selbst an den deutschen Universitäten erwachsen; vielmehr ist sie ihnen in der Zeit des Merkantilismus oktroyiert worden, und zwar durch einen Fürsten, den ein Zeitgenosse mit Recht „den grossen Oeconomus und noch grösseren Soldaten“ genannt hat: Friedrich Wilhelm I. von Preussen. Im Jahre 1727 hatte er gleichzeitig in Halle und in Frankfurt a. d. O. Professuren für Kameralwissenschaft errichtet; erstere war Simon Peter Gasser, letztere Justus Christoph Dithmar übertragen worden. Gasser hat später über die Audienz berichtet, die er vor Antritt seines Amtes beim Könige hatte: „Se. Majestät hat die erste Stunde in dieser wichtigen Materie selbst dociret, sodass ich nicht mehr wünschen möchte, als von der Capacität zu sein, in den anderen hiezu destinirten Stunden auf gleiche Weise continuiren zu können.“ Die Kameralwissenschaft war bestimmt, das zur Ausbildung der königlichen Kammerbeamten dienliche Wissen systematisch zu bearbeiten und darzustellen, und da in dieser Zeit das Kammerwesen nicht blos die Bewirtschaftung der Domänen, Forsten, Berg-und Hüttenwerke, Manufakturen und Fabriken umfasste, sondern auch einen erheblichen Teil dessen, was wir heute die innere Verwaltung nennen, so hatten die Professoren der Kameralwissenschaft neben der sog. Polizei und Finanz sich aufs eingehendste mit dem Wirtschaftsbetrieb zu beschäftigen. Landwirtschaftslehre, Forstwissenschaft, Jagdwesen und Fischerei, Bergbau- und Hüttenkunde, die ganze Technik der Gewerbe, Hochbauwesen, Strassen- und Wasserbau, Handel, alles fand hier seinen Platz und die grossen Lehrbücher der Kameralistik aus dem Ende des XVIII. Jahrhunderts haben sich fast zu Encyklopädien der ganzen Privatökonomik und Technik ausgewachsen. Dann aber tritt plötzlich ein Stillstand in dieser Entwickelung ein, hervorgebracht einerseits durch die veränderte Gestaltung des Staatshaushalts und die Neuorganisation der Verwaltung, anderseits durch das Eindringen der wissenschaftlich weit überlegenen französisch-englischen Nationalökonomie. Die dreissiger Jahre sahen die letzten kameralistischen Schriften in der Litteratur, und allmählich verschwanden auch die kameralistischen Professuren wieder, nachdem sie an den meisten Universitäten kaum ein Jahrhundert bestanden hatten. Wie weit dabei die Ausbildung selbständiger Disziplinen für die einzelnen Wirtschaftszweige mitgewirkt hat, wage ich nicht zu entscheiden. Jedenfalls hatten sich diese Disziplinen zunächst ohne Zusammenhang mit der Universität in isolierten Lehranstalten, denen meist nur der Name Akademie zugestanden wurde, zu entwickeln. In der Forstwissenschaft, der Landwirtschaftswissenschaft, der Bergbau- und Hüttenkunde gehen sie nachweisbar auf Veranstaltungen zurück, die einzelne hervorragende Praktiker getroffen hatten, um junge Leute im Betriebe selbst auszubilden, ähnlich wie der Handwerker den Lehrling in der Werk832

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stätte ausbildet. So ist, um ein Beispiel zu nennen, die Forstakademie in Tharandt hervorgegangen aus den Unterrichtskursen, welche der Forstmeister Heinrich Cotta auf seinem Forsthause in Zillbach eingerichtet hatte, und dass die LandwirtschaftsAkademien auf dem pommerischen Gute Möglin ihren Ursprung genommen haben, ist erst vor einigen Jahren von einem meiner Vorgänger von dieser Stelle aus dargelegt worden, wie es uns auch das Erzbild A. Thaers täglich in die Erinnerung ruft, das dem Ausgange unserer Universitätsstrasse gegenüber steht. Die technischen Hochschulen im engeren Sinne knüpfen grossenteils an Anstalten für niederen und mittleren gewerblichen Hilfsunterricht an, der noch mit der industriellen Praxis in nächster Beziehung stand. Aber mit innerer Notwendigkeit haben diese Anstalten in ihrer weiteren Ausbildung den Universitäten sich genähert. Sie haben sich die Forschungsmethoden der biologischen Disziplinen, der Chemie, der Physik zu eigen gemacht, sie haben mit der Mathematik Fühlung genommen, und sie haben durch die Ergebnisse der auf ihren Spezialgebieten durchgeführten wissenschaftlichen Beobachtungen wieder befruchtend auf die genannten Universitätsdisziplinen zurückgewirkt, denen sie mit neuen Problemstellungen entgegentraten. In diesem gegenseitigen Geben und Nehmen hat sich die Zeit vorbereitet, in der Liebig seine berühmte Akademierede über „die moderne Landwirtschaft als Beispiel der Gemeinnützigkeit der Wissenschaften“ halten konnte (28. November 1861), und von da ab macht sich ein auf die Dauer unwiderstehlich gewordener Zug jener isolierten Wirtschafts-Akademien nach der Universität bemerklich. Heute ist im grössten Teile von Deutschland der höhere landwirtschaftliche Unterricht den Universitäten eingegliedert. Allen voran ging Halle (1863), dann folgten Leipzig, Giessen, Göttingen, Kiel, Königsberg, Breslau; wo isolierte landwirtschaftliche Hochschulen fortbestehen, gelangen sie selbst dann zu keinem Gedeihen, wenn sie am gleichen Orte mit einer Universität sich befinden, wie Berlin und BonnPoppelsdorf zeigen, wo die Mehrzahl ihrer Besucher nicht aus Studierenden der Landwirtschaft, sondern aus Geodäten und Kulturtechnikern besteht. Ähnlich ist es den forstwirtschaftlichen Akademien gegangen, die in München, Tübingen und Giessen an der Universität in Karlsruhe und Zürich an der Technischen Hochschule Aufnahme gefunden haben und in den anderen Staaten entschieden der Universität zustreben. In Preussen und Sachsen hat man diesem Streben insoweit Rechnung getragen, als neben einer viersemestrigen Ausbildung auf der Akademie ein zweisemestriger Besuch der Universität gefordert wird, der in Preussen an das Ende, in Sachsen an den Anfang der Studienzeit gelegt ist. Befriedigend ist dieses Auskunftsmittel nicht und hat auch gerade die Männer der Praxis am wenigsten befriedigt, die in ihren Vereinen immer wieder von neuem den Ruf nach der Universität erheben. Dagegen haben die technischen Hochschulen eine selbständige Entwickelung genommen, gefördert besonders durch die Umwälzungen auf dem Gebiete des Verkehrswesens, der Industrie und des grossstädtischen Lebens; sie haben auf diesem Wege mehr und mehr die Reste des mittleren und niederen Fachschulwesens abgestreift; sie haben die Anforderungen an die allgemeine Vorbildung der Studierenden 833

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immer mehr gesteigert, und heute dürfen sie sich rühmen, dass sie in Forschung und Lehre den Universitäten gleich kommen. Zugleich sind sie in ihrer äusseren Verfassung den Universitäten ähnlich geworden; ihre vier Abteilungen für Hochbau, für Bauingenieurwesen, für Maschinenbau und für chemische Technik entsprechen den praktischen Fakultäten; zugleich haben sie sich eine allgemeine Abteilung angegliedert, die etwa unserer philosophischen Fakultät zu vergleichen ist; das Recht, akademische Grade zu verleihen, ist ihnen vor vier Jahren erteilt worden, und für einige Berufszweige (Ausbildung von Fabrikchemikern, Lehrern der Mathematik und Naturwissenschaften, vereinzelt auch Pharmazeuten, Forstleuten, Landwirten) konkurrieren sie geradezu mit der Universität. Diese Entwickelung ist nicht ganz ohne Widerspruch geblieben. Auf der einen Seite haben Praktiker den Vorwurf erhoben, dass man im Streben nach dem rein Akademischen zu weit gegangen sei, dass die Vorbildung in der Werkstätte nicht genügend betont werde und dass die mit den technischen Hochschulen verbundenen Laboratorien mehr der wissenschaftlichen als der praktischen Ausbildung dienten. Man bilde technische Beamte und Konstrukteure aus, nicht aber Kräfte mit industrieller Initiative, wie sie zur selbständigen Leitung von Grossunternehmungen unerlässlich ist. Auf der anderen Seite haben sich in neuerer Zeit sowohl aus den Kreisen der Technischen Hochschule als aus denjenigen der Universität Stimmen erhoben, welche es als einen schwer wieder gut zu machenden Fehler bezeichnen, dass man nicht schon längst auf die Vereinigung beider Arten von Hochschulen Bedacht genommen habe. Allein diese Forderung ist doch noch so wenig durchgedrungen, dass die beiden neuen Technischen Hochschulen, welche jetzt in Preussen gegründet werden, durchaus selbständig gestellt werden, obwohl die eine von ihnen in einer Universitätsstadt errichtet wird. Beide Ansichten sind nicht unvereinbar; denn dass an der Universität die Ausbildung für die technische Praxis sehr wohl möglich ist, beweisen neben Land- und Forstwirten auch die Pharmazeuten und Fabrikchemiker, von denen immer noch die Mehrzahl aus den Universitäts-Laboratorien hervorgeht. Das letzte Glied in dieser Reihe ist die Handelshochschule. In Leipzig hat dieselbe bei formaler Selbständigkeit sofort den Anschluss an die Universität gefunden; in Frankfurt und Köln hat man es mit selbständigen Akademien versucht, in Aachen gar mit der Angliederung an das Polytechnikum. Man hat dieser neuen Spezies von wirtschaftlich-technischen Hochschulen das Recht der Existenz absprechen wollen, und in der Tat kann man zugeben, dass der Schwerpunkt ihrer Wirksamkeit in Wissenschaften liegt, welche der Universität längst angehören, wie Nationalökonomie, Handelsrecht, Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftsgeographie, während andere wie Warenkunde und kaufmännische Arithmetik sich leicht an die Universitätsdisziplinen anlehnen, deren praktische Anwendung sie sind. So bleiben eigentlich nur die Buchhaltung und die kaufmännische Korrespondenz als eigentümliche technische Fächer dieser Anstalten. Die letztere ist eine reine Kunstlehre; aber die erstere ist sehr wohl einer wissenschaftlichen Behandlung und Entwickelung fähig, und hat darin bereits sehr erhebliche Fortschritte gemacht. Ihre Aufnahme unter die Universitätsdisziplinen, wo sie in der Nachbarschaft der Nationalökonomie und Jurisprudenz die fruchtbarsten Anregungen empfangen und auch geben könnte, halte 834

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ich nur für eine Frage der Zeit. Es kommt ihr hier das dringende praktische Bedürfnis aller Privatwirtschaftswissenschaften entgegen, wie denn die landwirtschaftliche Buchhaltung bei uns in Leipzig bereits eine Vertretung besitzt, und auch das Rechtsstudium wird sich bequemen müssen, diesem Fache einmal näher zu treten. Denn es ist doch nicht gerade ein erbauliches Schauspiel, wenn in öffentlichen Gerichtsverhandlungen tagelang Vernehmungen von Sachverständigen der Buchhaltungswissenschaft über oft sehr einfache Fragen stattfinden müssen und wenn für den erkennenden Richter Handelsbücher, Vermögensverzeichnisse, Vormundschaftsrechnungen – alles Dokumente von grösster Beweiserheblichkeit – wirklich Bücher mit sieben Siegeln sind. Auch die Ausbildung der Nationalökonomen und Verwaltungsbeamten würde von dieser Disziplin Nutzen ziehen. Wird doch unser Staatsrechnungswesen noch meist nach einem ganz veralteten bureaukratischen Schematismus geführt und bedarf nur zu sehr der kaufmännischen Auffrischung. So kann ich die Begründung selbständiger Handelshochschulen nur als einen Umweg ansehen, auf dem man schliesslich doch zur vollen Aufnahme in die Universität gelangen muss, und ich würde es beklagen, wenn die augenblickliche Bewegung auf diesem Gebiete zu weiteren Neugründungen von Akademien führen würde. Dasselbe gilt aber auch von einer Reihe von andern Gebieten des ökonomischen und staatlichen Lebens, wo alles einer hochschulmässigen Gestaltung der Berufsausbildung zudrängt. Ich nenne hier zuerst den höheren Eisenbahn-, Postund Telegraphendienst, wo die seitherigen Bildungseinrichtungen anerkanntermassen nicht mehr genügen, den Finanzdienst, der nur in den süddeutschen Staaten ein Universitätsstudium erfordert, und für den neuerdings von Berlin aus eine „Zollhochschule“ in Anregung gebracht worden ist, den Journalismus, der eine der wichtigsten Funktionen unseres sozialen Lebens bildet und für den sich vor einigen Jahren eine Privathochschule gebildet hat. Auch die Veterinärmedizin mag in diese Reihe gestellt werden, weil sie in wichtigen Zweigen der wirtschaftlichen Verwaltung mitwirkt. Sie wird bekanntlich an eignen tierärztlichen Hochschulen gepflegt, ist aber in Giessen, Zürich und Bern bereits ganz von der Universität übernommen, und da durch Reichsgesetz neuerdings das Maturitätszeugnis zur Vorbedingung des Beginns dieses Studiums gemacht ist, so steht ihrer allgemeinen Übertragung an die Universitäten um so weniger etwas im Wege, als überall da, wo die Landwirtschaftswissenschaften der Universität angehören, sie als deren Hilfsdisziplin gepflegt werden muss. So sehen wir, wie von allen Seiten mitten aus den grossartigen Gestaltungen der modernen Volkswirtschaft heraus neue Anforderungen an die Universitäten herantreten. Sie stossen hier auf verwandte Bestrebungen innerhalb des alten Besitzstandes der Universität: die Ausbildung der Verwaltungsbeamten, die seither fast ganz auf juristische Grundlage gestellt war, genügt schon längst dem Bedürfnis des modernen Staates nicht mehr; für das so wichtige Gebiet der Kommunalverwaltung sind kaum die ersten Anfänge wissenschaftlicher Behandlung vorhanden, und die Mittel zur Ausbildung der zahlreichen „Wirtschaftsbeamten“ für Handels- und Gewerbekammern, Handwerks- und Landwirtschaftskammern sowie für die grosse Zahl freier wirtschaftlicher Interessenvertretungen sind durchaus unzulänglich. Wir bedürfen 835

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hier verstärkter Lehrkräfte und einer durchgreifenden Spezialisierung auf dem Gebiete der Staatswissenschaften, speziell der Nationalökonomie und Statistik. Diese würde aber auch der weiteren Entwickelung der privatwirtschaftlichen Disziplinen in hohem Masse zu Gute kommen, wie umgekehrt von ihnen die zuletzt genannten Berufsstudien wesentlichen Nutzen ziehen würden. Wenn die Universität sich auf der Höhe ihrer Aufgabe halten will, so wird sie sich der Verpflichtung nicht entschlagen, der nationalen Berufsgliederung in ihren Bildungseinrichtungen zu folgen. Und hier können wir eins nicht übersehen: neben dem Beamtentum des Staates ist im Laufe des letzten Jahrhunderts in unseren Grossstädten ein kommunales und in unseren Grossunternehmungen ein privates Beamtentum erwachsen, das jenem an sozialer Bedeutung nahe kommt, an Wichtigkeit seiner gesellschaftlichen Funktionen es aber nicht selten überragt. Der verantwortliche Leiter eines grossen Landwirtschaftsbetriebs, der Fabrik- oder Eisenbahndirektor, der Chef eines bedeutenden Handelshauses, einer Effektenbank, einer Versicherungsunternehmung, einer Schifffahrtsgesellschaft, wie etwa des Norddeutschen Lloyd und der Hamburg-Amerika-Linie, sie alle werden kaum geneigt sein, mit dem Minister eines deutschen Kleinstaates zu tauschen. Und unter ihnen stehen wieder zahlreiche mittlere und niedere Beamte technischer, kaufmännischer, künstlerischer Richtung, und sie befehlen zusammen über ein gewaltiges Heer schwieliger Arbeiterhände, das uns den Reichtum des materiellen Lebens schafft. Dieses Privatbeamtentum bildet schon jetzt eine ziemlich breite Schicht der modernen Gesellschaft, einen „neuen Mittelstand“, unähnlich dem alten, aber darum sozial nicht minder wertvoll. Denn für alle diese Menschen bewegt sich das tägliche Leben im strengen Rhythmus der Berufspflicht, und der Glockenschlag der Kontor- oder Fabrikuhr hat für sie nicht weniger Bedeutung als der Schlag der Gerichtsuhr für Richter und Parteien. Sie sind es gewohnt, ihr subjektives Belieben einem höheren, sozialen Zwecke unterzuordnen. Der wirtschaftliche Unternehmer übernimmt freiwillig Dienste für die Gesellschaft, indem er für den Markt produziert. Er tut das aus Eigennutz; das Gewinnstreben des Erwerbs leitet seine Handlungen, und da er nur in Konkurrenz mit anderen zu seinem Ziele kommen kann, so geht ihm im Kampfe der materiellen Interessen nicht selten das ethische Feingefühl, das Bewusstsein der sozialen Verantwortlichkeit verloren. Der tägliche Umgang mit Börsenbericht und Kurszettel, Preisliste und Hauptbuch erzeugt kalt berechnende, aber auch umsichtige, zähe und energische Menschen; die Beobachtung des Weltmarktes weitet den Blick, und die Einrichtung und Leitung gewaltiger Grossbetriebe, die Gründung von Kartellen und Trusts bildet Organisationstalente zu einer Höhe der Leistungsfähigkeit aus, wie sie die Vergangenheit niemals gekannt hat. Unter solchen Einflüssen sind die Männer erwachsen, welche Deutschlands Produktion in wenigen Jahrzehnten eine Weltstellung erobert haben. Aber wir empfinden auch die Kehrseite dieser Entwickelung. Unser ganzes öffentliches Leben ist erfüllt von wirtschaftlichen Interessenfragen; die politischen Ideale der vorigen Generation sind verblasst, und unter dem rücksichtslosen Kampfe der verschiedenen Interessentengruppen gegen einander droht unser Parlamentarismus 836

Antrittsrede 1903

zu einem Zerrbilde zu werden. Und wenn nun aus diesen Kreisen heute unsere Universitäten einen namhaften Teil ihres Zuzugs empfangen, so wissen wir wohl, dass es nicht bloss die Rücksicht auf eine bessere Berufsbildung ist, die sie leitet; sie wollen aufsteigen in die Geistesaristokratie der Nation; sie wollen eine ihrer wirtschaftlichen Bedeutung entsprechende soziale und politische Stellung und Wertschätzung. Wir werden und dürfen sie nicht durch spröde Exklusivität zurückschrecken. Wir müssen ihnen unsere Tore öffnen, vorausgesetzt, dass sie den Vorbedingungen der allgemeinen Bildung genügen, von denen der Erfolg wissenschaftlicher Studien abhängt. Wir müssen sie erfüllen mit dem Geiste der Wahrheit, der selbstlosen Hingabe, des Berufes, der einem höheren Herrn dient als dem Mammon, kurz mit jenem Idealismus, der auf deutschen Universitäten so lange schon seine Heimstätte hat. Rücksichten der Wirtschaftlichkeit, Rücksichten der wissenschaftlichen Solidität des Unterrichts werden den Staat immer mehr dazu zwingen, die isolierten Akademien aufzuheben und ihre Zwecke der Universität anheimzugeben, auf der die für die privatwirtschaftliche Technik grundlegenden Disziplinen ohnehin vertreten sein müssen. Wir suchen diese Erweiterung nicht; wir wissen auch, dass sie nicht allen Universitäten gleichmässig zu Teil werden kann; aber wir müssen bereit sein, den Zuwachs aufzunehmen und uns zu assimilieren. Gerade heute, wo die Wege der Mittelschulbildung so weit auseinander gehen, weist ein dringendes Staatsinteresse darauf hin, die Ausbildung der dirigierenden Klassen der Nation an einer Stelle sich vollziehen zu lassen, alle ihre Glieder mit dem gleichen Geiste strenger Wissenschaftlichkeit zu erfüllen und sie insgesamt zu einem edleren Menschentum zu erziehen. Und damit wende ich mich an Sie, meine lieben Kommilitonen, um Ihnen zuletzt noch ein gutgemeintes Wort mitzugeben. Auf allen Strassen wird Ihnen heute die traurige Botschaft von der Herrenmoral gepredigt; es wird Ihnen gesagt, dass Sie sich ausleben müssen, dass Sie ganz Sie-Selbst sein sollen. Selten ist eine Lehre verkündet worden, die in schneidenderem Widerspruche steht mit unserer gesamten Kulturentwickelung und mit den tatsächlichen Verhältnissen. Das ganze moderne Leben fordert Unterordnung des Individuums unter höhere Gemeinschaftszwecke. Wo Sie auch später Ihre Kräfte betätigen mögen, ob im Dienste des Staates und der Gemeinde, ob im privaten Wirtschaftsbetrieb, überall wird Ihnen das ernste Lied der Pflicht entgegentönen; überall wird man von Ihnen fordern, dass Sie Ihr individuelles Selbstinteresse beugen unter das soziale Gesamtinteresse. Überall aber wird ein immer steigendes Mass individueller Tüchtigkeit notwendig sein, wenn Sie Ihr Fortkommen finden und der Nation das leisten wollen, was sie von Ihnen erwarten darf. Denn die ganze Kulturkraft eines Volkes beruht schliesslich auf der Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit der Individuen, und jede Aristokratie, auch die Geistesaristokratie, muss unrettbar sinken, wenn sie diese Eigenschaften verliert. ***

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31. Oktober 1904. Rede des abtretenden Rektors Dr. Karl Bücher. Bericht über das Studienjahr 1903/04. Hochansehnliche Versammlung! Der diesmalige Rektorwechsel steht im Zeichen der tiefen Trauer um den dahingeschiedenen Landesherrn. Ein Leben reich an Erfahrungen und Erfolgen, aber auch reich an schmerzlichem Verzichten und bitterem Herzeleid ist mit ihm erloschen. Was König Georg in den wenig mehr als zwei Jahren seiner Regierung seinem Lande gewesen, ist nicht dieses Ortes zu erörtern, was aber unsere Universität an ihm verlor, ist mein Recht und meine Pflicht auszusprechen. Es faßt sich in die wenigen Worte zusammen, mit denen der hohe Dahingeschiedene selbst bei seiner Thronbesteigung sein Regierungsprogramm gekennzeichnet hat: er hat im Geist und Sinne seines unvergeßlichen Bruders gehandelt. Noch am 18. und 20. Februar d. J. durften wir ihn in diesen Mauern begrüßen, wo er die Vorlesungen zweier neuberufenen Professoren mit seinem Besuche beehrte; wir durften ihm die zuletzt erbauten neuen Universitätsinstitute zeigen und uns seines Interesses an der fortschreitenden Vervollkommnung unserer wissenschaftlichen Ausrüstung erfreuen. Dann schied er von uns, und als wir ihn wiedererblickten, stand er schmerzgebeugt an der Bahre einer geliebten Schwiegertochter. Bald mehrten sich die Anzeichen erschütterter Gesundheit und zunehmenden Kräfteverfalls, gegen die er lange Wochen und Monate mit der ihm eignen Willensstärke ankämpfte. Unter steigender Sorge beging am 7. August die Universität die Feier des allerhöchsten Geburtstags, bei der der Prorektor Dr. Wach die Festrede hielt. Dann begann eine Zeit des Hoffens und des Fürchtens, bis die Nachrichten immer bedrohlicher lauteten und auch wir uns des kein Hehl mehr machen konnten, daß der letzte Kampf begonnen habe. Nun ist er erlöst von allem Leid. An unserer Universität aber wird das Andenken ihres zweiten rector magnificentissimus, ihres mächtigen Beschützers, ihres verständnisvollen Förderers und Freundes lebendig bleiben. Dem neuen Landesherrn, Seiner Majestät dem Könige Friedrich August, bringt die Universität das feste Vertrauen entgegen, daß er der traditionellen Liebe des Hauses Wettin zur Landesuniversität treu bleiben werde, und dies um so mehr, als wir ihn einst zu unseren akademischen Bürgern haben zählen dürfen. Eine stattliche Reihe von Neu- und Erweiterungsbauten, akademischer Lehrinstitute, über welche zum Teil bereits meine beiden Herren Amtsvorgänger berichtet haben, ist unter der Regierung König Georgs vollendet oder im Bau begonnen worden. Im verflossenen Jahre ist der Neubau des Physikalischen Instituts an der Linnéstraße fertig gestellt worden und wird in den nächsten Tagen in Gebrauch genommen werden. Der im Juli 1903 begonnene Neubau einer Pathologisch-anatomischen Anstalt und eines Instituts für gerichtliche Medizin an der Ecke der Liebig838

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straße und Johannisallee wurde im Rohbau nahezu vollendet. Der Ausbau und die innere Ausstattung werden aber noch geraume Zeit in Anspruch nehmen, sodaß die Inbetriebsetzung erst frühestens nach einem Jahre wird erfolgen können. Bedeutende An- und Umbauten wurden vollzogen beim Chemischen Laboratorium an der Liebigstraße und beim Laboratorium für angewandte Chemie an der Brüderstraße, das durch die Räume des früheren Landwirtschaftlichen Instituts erweitert wurde. Von den Ständekammern genehmigt wurde der Neubau eines Hörsaales und Anbauten zu Bädern bei der Psychiatrischen und Nervenklinik und der Umbau des alten Physikalischen Instituts an der Talstraße für Zwecke des Mathematischen Instituts. Ersterer ist bereits in Angriff genommen, letzterer kann erst nach der Räumung des Gebäudes erfolgen. Erwähnung verdient in diesem Zusammenhange auch der von der Philosophischen Fakultät unternommene Umbau des Roten Kollegs an der Goethestraße. Es war das Streben der Fakultät, den historischen Charakter dieses im Jahre 1513 errichteten Kollegiengebäudes möglichst zu bewahren, und es ist nur zu bedauern, daß nicht auch das stimmungsvolle Rippengewölbe im Sockelgeschosse desselben hat erhalten werden können. Schließlich sei noch mit einem Worte der III. Haase’schen Stiftung für die Eberhard’schen Häuser gedacht, die nunmehr in der Lage ist, ihr mit der Häusergruppe an der Linnéstraße begonnenes Werk zum Segen unserer Beamten mit einer neuen ähnlichen Anlage fortzusetzen. Leider haben die vielen Bemühungen, für Beamtenwohnhäuser günstig gelegenes Bauland zu gewinnen, erst in allerletzter Zeit zu einem Ergebnis geführt, das die Aussicht auf den Erwerb eines das vorhandene Bedürfnis auf lange Zeit deckenden Areals bietet. Hat die bauliche Entwicklung unserer Lehrinstitute gezeigt, daß die hohe Staatsregierung und die Stände des Landes bestrebt sind, den Forderungen des wissenschaftlichen Fortschrittes Rechnung zu tragen, so hat doch von der Sorge um die günstigere Gestaltung des Staatshaushalts auch unsere Universität nicht ganz unberührt bleiben können. Wir haben jedoch bereitwillig anzuerkennen, daß der Gedanke, die Universität selbst könne durch weitere Ausgestaltung ihres Gebührenwesens zu einer Finanzquelle von irgend erheblicher Bedeutung werden, keinen Boden gewonnen hat. Auch die Forderung einer Sonderbesteuerung der Ausländer, die in der Öffentlichkeit eine Zeit lang mit mehr Eifer als Einsicht erörtert worden ist und die am 29. November v. J. auf einer in unserem Senatssaale abgehaltenen Konferenz die Rektoren deutscher Hochschulen in eingehender Beratung beschäftigt hat, offenbart bei näherer Prüfung Schwierigkeiten, die zur Zeit wenigstens der einzelnen Hochschule jeden Gedanken an ihre Durchführung widerraten müssen. Prinzipiell würde sie sich höchstens so weit rechtfertigen lassen, als durch die Teilnahme der Ausländer an Vorlesungen und Übungen dem Staate besondere Kosten erwachsen. Ein derartiger Fall dürfte aber nur außerordentlich selten nachzuweisen sein; in Wirklichkeit dürften kaum bei einer deutschen Universität die notwendigen Betriebskosten sich vermindern, wenn ihr Besuch blos den Reichsangehörigen vorbehalten bliebe. Soweit mir bekannt, hat noch kein auswärtiger Staat den Besuch seiner Universitäten durch differentielle Behandlung der Nichtlandesangehörigen erschwert, 839

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und da in neuerer Zeit der Besuch fremder Universitäten (z. B. der französischen) durch deutsche Landeskinder in starker Zunahme begriffen ist, da überdies für uns die unsere Universitäten verlassenden Ausländer in vielen Fällen Pioniere deutschen Geistes und deutscher Wissenschaft werden, so wird man auch in weiteren Kreisen begreifen, daß an unseren Universitäten wenig Neigung herrscht, zur Beschränkung der internationalen Freizügigkeit in der Wissenschaft die Hand zu bieten. Gewiß giebt es unter den uns zuströmenden Fremdlingen neben solchen, die durch Fleiß, Strebsamkeit und sittliche Haltung sich auszeichnen, auch manche nicht wünschenswerte Elemente, denen gegenüber eine sorgfältige Auslese und die strengste Anwendung der Immatrikulationsvorschriften am Platze ist. Gewiß haben in der Benutzung von Instituten und Laboratorien die Landeskinder vor den Fremden den Vorrang zu beanspruchen, und es darf zwischen beiden in den Prüfungsanforderungen kein Unterschied gemacht werden. Darin ist man allgemein einig. Darüber hinaus mit Absperrungsmaßregeln vorgehen, das hieße eine der Grundlagen antasten, auf welchen die Weltstellung der deutschen Wissenschaft beruht. Neben der Fürsorge des Staates haben wir auch diesmal der Betätigung privater Liberalität zu gedenken. Zunächst ist hier wieder die Puschmann-Stiftung zu erwähnen, deren Zweck die Förderung wissenschaftlicher Arbeiten auf dem Gebiete der Geschichte der Medizin ist. Das durch sie der Universität zugefallene Stiftungsvermögen beläuft sich auf 486 896 Mark, ungerechnet den Wert einer Sammlung von Gemälden und kunstgeschichtlichen Publikationen, die aus dem Erbanfall zur Verstärkung des Lehrapparats unmittelbar an das kunsthistorische und archäologische Institut abgegeben wurden. Da die Erträgnisse dieses Jahres noch zum Vermögen hinzugeschlagen werden sollen, so wird die Stiftung ihre Wirksamkeit mit einem Kapitale von einer halben Million Mark beginnen. Ihre Verwaltung soll nach dem in den letzten Tagen noch vom Senat festgestellten Statut einem möglichst selbständig gestellten Kuratorium von 9 Mitgliedern anvertraut werden. Weiter habe ich mit besonderem Danke einer Stiftung des Herrn Kommerzienrats Dr. Willmar Schwabe in Leipzig zu gedenken, der ein Kapital von 15 000 Mark zur Begründung zweier Konviktstellen und eines Stipendiums für Studierende der Pharmazie ausgesetzt hat. Endlich sind unsere wissenschaftlichen Sammlungen, wie in früheren Jahren, von ihren Freunden mit mancherlei Widmungen bedacht worden. U. a. hat Herr Antiquitätenhändler Friedrich Ferdinand Jost das Mineralogische Museum und die Sammlung des Anatomischen Instituts bereichert. Das Archäologische Institut empfing einen wertvollen Gipsabguß von einem amerikanischen Kunstfreunde, dem es bereits für eine ganze Reihe kostbarer Gaben verpflichtet ist, einen anderen Gipsabguß von den Teilnehmern an einem Seminarausflug nach Berlin, mehrere photographische Negative von stud. L. Schnorr von Carolsfeld, Photographien und Drucksachen von verschiedenen Seiten. Die ägyptologische Sammlung erhielt durch die Güte der Deutschen Orient-Gesellschaft außer kleineren Altertümern einen bemalten mumienförmigen Holzsarg samt der dazu gehörigen wohl erhaltenen Mumie, die aus den vom Berliner Museum bei Abusir el-Melek veranstalteten Ausgrabungen stammen. Ich spreche den freundlichen Gebern den Dank der Universität aus. 840

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Freilich können wir, wenn wir an das Verhältnis von Staatsaufwendungen und privater Liberalität für die fortgesetzt steigenden Bedürfnisse der Wissenschaft denken, nicht übersehen, daß wir in einem Lande der beschränkten Möglichkeiten leben, und mit einiger Beschämung blicken wir nach jener „Neuen Welt“, wo von den großen Vermögensakkumulationen in freier Widmung Stiftungsdotationen für ganze Universitäten abgezweigt werden und wo für wissenschaftliche Unternehmungen und Sammlungen so reiche Privatmittel fließen, daß unsere bescheiden ausgestatteten Institute bald mit jenen nicht mehr werden den Vergleich aushalten können. Große Privatvermögen sind auch bei uns während der wirtschaftlichen Prosperität der letzten Jahrzehnte entstanden, und bei nicht wenigen hat die praktische Anwendung wissenschaftlicher Forschung den Grund gelegt. Was aber aus dieser Quelle an die Wissenschaft zurückgeflossen ist, ist sehr wenig; immer noch erwartet man für sie alles vom Staate, dessen Aufgaben und Ausgaben ohnehin fortgesetzt im Wachsen begriffen sind, und man hat noch nicht gelernt, daß nicht bloß der Adel, sondern daß auch der Reichtum verpflichtet. Wenden wir uns den Veränderungen im Personenbestande zu, so habe ich an erster Stelle der diesmal ganz besonders schweren und schmerzlichen Verluste zu gedenken, die wir durch den unerbittlichen Tod erlitten haben. Am 25. Februar 1904 verstarb an den Folgen einer Operation der außerordentliche Professor der juristischen Fakultät Dr. Oskar Götz. Geboren am 9. November 1824 in Mölbis bei Borna hat er unserer Universität seit seiner Immatrikulation im Herbste 1842 fast ununterbrochen angehört. Zwar war er im Jahre 1851 kgl. sächsischer Notar und im folgenden Jahre als Rechtsanwalt beim hiesigen Amtsgericht zugelassen worden; aber schon 1854 habilitierte er sich an unserer Universität, und im Jahre 1862 wurde er zum außerordentlichen Professor ernannt. In dieser Stellung hat er nahezu fünfzig Jahre mit unermüdlicher Liebe sich dem Unterricht der Jugend in der Pandektenexegese und im Wechselrecht gewidmet. Generationen von sächsischen Rechtsbeflissenen hat er an sich vorüberziehen sehen, still zufrieden in dem bescheidenen Glück, das ihm sein Lehrberuf und sein spät begründetes Familienleben gewährten. Noch zwölf Tage vor seinem Tode hatte er, wie er seit einer Reihe von Jahren zu tun pflegte, die lateinische Rede zum Gedächtnis von Chr. Friedr. Kees gehalten; die Teilnahme der jüngeren Kollegen an diesem Akte warf einen Freudenschimmer auf seine letzten Tage. Uns allen aber war er ein Beispiel der Pflichttreue und Zufriedenheit und wird es bleiben. Am 1. Mai entschlief der Senior der medizinischen Fakultät Geheimer Rat Dr. med. et phil. Wilhelm His, ord. Professor der Anatomie und Direktor des Anatomischen Instituts. Er war geboren am 9. Juli 1831 zu Basel und hat in der Schweiz den größten Teil seiner Jugendbildung wie auch den ersten akademischen Unterricht empfangen; die entscheidenden Anregungen für sein Leben verdankt er aber Berlin und Würzburg, sowie einer mehrjährigen akademischen Wanderzeit, die ihn nach Prag, Wien, Paris und dann wieder zurück nach Berlin führte. Im Winter 1856/7 habilitierte er sich in Basel und wurde bereits im Herbste 1857, 26 Jahre alt, dort zum Professor der Anatomie und Physiologie ernannt. In dieser Stellung verbrachte er, vielseitig tätig, wie es das Leben des kleinen Gemeinwesens dort von 841

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selbst ergibt, fünfzehn Jahre, in denen er eine ganze Reihe bedeutsamer Arbeiten veröffentlichte, zuerst aus dem Gebiete der Organhistologie, dann vorwiegend aus dem der Entwicklungsgeschichte. Dieselben veranlaßten 1872 His’ Berufung auf den Lehrstuhl der Anatomie in Leipzig, den er 32 Jahre inne hatte. Was er in dieser langen Zeit seiner Wissenschaft geworden ist, kann der Fachmann allein ermessen. „Auf seinem Hauptarbeitsgebiet, dem der Entwicklungsgeschichte, wirkte er bahnbrechend, namentlich dadurch, daß er als erster zur Erklärung der Formenentwicklung die mechanischen Grundgesetze heranzog. Durch sein großes Werk: „Die Anatomie der menschlichen Embryonen (1880–1885)“ hat er eigentlich erst die spezielle menschliche Entwicklungsgeschichte geschaffen, von der bisher nur einzelne Teile bearbeitet waren. Außerdem verdankt ihm aber auch die mikroskopische und die topographische Anatomie Untersuchungen und Methoden von bleibendem Werte, wie auch seine Verdienste um die Schaffung der neuen anatomischen Nomenklatur unvergessen bleiben werden.“ Was er uns als Mensch und Kollege gewesen, darf auch ich aussprechen: ein gerader, aufrechter, unabhängiger Mann, feind allem Phrasentum und Scheinwesen, streng gegen sich selbst, voll lebendigen Interesses für die gemeinsamen Angelegenheiten seiner Fakultät und der Universität überhaupt. Den schönen Gemeinsinn seiner Vaterstadt hat er überall bewährt, insbesondere auch in seiner Stellung als ständiger Sekretär der mathematisch-physikalischen Klasse der k. sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften und in seiner Tätigkeit für die internationale Vereinigung der Akademien. Am 9. August starb zu Ammerland am Starnberger See infolge eines Herzschlages der ordentliche Professor der Geographie und Direktor des Geographischen Seminars Geheimer Hofrat Dr. ph. Friedrich Ratzel. Wie ein erschütternder Schlag traf uns die Nachricht seines Todes und mit uns die weitesten Kreise. Wie viele Hoffnungen knüpften sich noch an sein Leben und an seine anscheinend unerschöpfliche wissenschaftliche Gestaltungskraft! Geboren am 30. August 1844 in Karlsruhe in Baden, hatte er sich anfänglich, wie Liebig, dem Apothekerberufe zugewandt, war später zum Studium der Zoologie und nach dem deutsch-französischen Kriege, in dem er als Freiwilliger eine schwere Wunde und das Eiserne Kreuz davontrug, auch dem der Geologie übergegangen und war endlich durch die Freundschaft mit Moriz Wagner der Erd- und Völkerkunde zugeführt worden. Nach ausgedehnten Reisen, die ihn durch viele Länder Europas und Amerikas führten, habilitierte er sich 1875 an der Technischen Hochschule in München für Erdkunde, wurde dort 1876 außerordentlicher und 1880 infolge eines ersten Rufes nach Leipzig ordentlicher Professor; 1886 gelang es unserer Universität, ihn dauernd zu gewinnen. Eine reich gesegnete Lehrtätigkeit, die sich auf alle Gebiete seines Faches erstreckte und eine noch viel größere Gebiete umspannende wissenschaftliche Arbeit bezeichnen seinen Weg. Eine Reihe großer, grundlegender Werke ist hier entstanden, überall neue Auffassungen und Anregungen ausstreuend, voll origineller Gedanken und fruchtbarer Ideen. Auf den Schultern Karl Ritters und Oskar Peschels stehend, hat Ratzel die Lehre von den Beziehungen des Menschen zur Erde zu einer eignen Disziplin fortgebildet, der Anthropogeographie, und diese schließlich in den größeren Zusammenhang einer Biogeographie gestellt, einer Lehre vom Verhältnis der gesamten Lebe842

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welt zur Erdoberfläche. War er von der naturwissenschaftlichen Seite seines Faches ausgegangen, so hat er in seiner späteren Lebensperiode mit gleichem Erfolge die geschichtswissenschaftliche Seite desselben gepflegt. Sein zu früher Tod reißt eine Lücke, die ganz durch einen Einzigen schwerlich wird ausgefüllt werden können. Wir werden seine edle Gestalt noch lange schmerzlich in unserem Kreise vermissen, und könnten wir seiner je vergessen, so wird die von dankbaren Schülern begründete Friedrich Ratzel-Stiftung seinen Namen an unserer Universität uns und den nachlebenden Geschlechtern immer wieder in das Gedächtnis zurückrufen. Die als Festschrift zu seinem 60. Geburtstage geplante reichhaltige Sammlung von Arbeiten seiner Schüler hat ihm nur als Grabspende dargebracht werden können. Diesem ersten Schicksalsschlage für die Pflege der geographischen Wissenschaft an unserer Universität folgte auf dem Fuße ein zweiter. Am 27. September entschlief nach kurzem Krankenlager Dr. Ernst Hugo Berger, außerordentlicher Professor der Geschichte der Erdkunde und historischen Geographie und Direktor des Historisch-geographischen Instituts. Geboren am 6. Oktober 1836 in Gera siedelte er schon im zweiten Lebensjahre mit seinen Eltern nach Leipzig über, wo er seine ganze Schul- und Universitätsbildung empfing, die letztere anfänglich in der Theologie, später auch in der Philologie. Nach mehrjähriger pädagogischer Tätigkeit widmete er sich ganz seinen wissenschaftlichen Arbeiten und wurde bald in seinem Spezialgebiete ein so anerkannter Meister, daß verschiedene wissenschaftliche Gesellschaften ihn zum Mitgliede wählten. Sein Forschungsgebiet war die Entwicklung der erdkundlichen Wissenschaft bei den Griechen, soweit sie sich mit den Problemen der mathematischen und physikalischen Geographie beschäftigt hat. Hier hat er literarische Arbeiten von dauerndem Werte geschaffen, auf welche alle Späteren werden zurückzugehen haben. Im Jahre 1899 hat die philosophische Fakultät ihn für das Lehramt gewonnen, dem er mit großer Liebe und Aufopferung obgelegen hat. Eine stille, bescheidene Natur, eine echte Gelehrtenerscheinung alten Schlages, ganz Hingebung an die Wissenschaft – so wird er in den Herzen seiner Schüler und Freunde fortleben. Durch Berufung an andere Universitäten verloren wir den ord. Honorarprofessor Dr. phil. Friedrich Engel, der als Ordinarius für Mathematik nach Greifswald berufen wurde und die außerordentlichen Professoren Dr. med. Karl Menge, der als ordentlicher Professor für Geburtshilfe nach Erlangen ging, Dr. phil. Julius Kaerst, der Ordinarius für alte Geschichte in Würzburg wurde und Dr. Hermann Kretzschmar, der ein Ordinariat für Musikgeschichte in Berlin übernahm. Zu unserem Bedauern sah sich Herr Geh. Hofrat Professor Dr. Heinrich Degenkolb durch ein Augenleiden veranlaßt, für den 1. Oktober d. J. seinen Eintritt in den Ruhestand zu erbitten. Auf die venia legendi verzichtet hat der Privatdozent für indische und iranische Philologie und Armenisch Dr. ph. Theodor Bloch in Calcutta. Mit dem lebhaften Danke für die unserer Universität geleisteten Dienste begleiten unsere besten Wünsche die ausgeschiedenen Kollegen. Auf längere Zeit beurlaubt wurden: der außerordentliche Professor der orientalischen Sprachen Dr. phil. Paul Schwarz auf zwei Jahre an das Orientalische Seminar 843

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in Berlin und der Privatdozent der Chemie Dr. phil. Wilhelm Böttger auf ein Jahr. Urlaubsverlängerungen wurden bewilligt den design. außerordentlichen Professoren Dr. theol. et phil. Gustav Hermann Dalman auf zwei Jahre und Dr. John Schmitt auf ein Jahr. Dagegen hat der an die staatliche Hochschule in Peking beurlaubt gewesene design. außerordentliche Professor Dr. phil. August Conrady seine Lehrtätigkeit wieder aufgenommen. Den erwähnten Verlusten stehen erfreuliche Gewinne gegenüber. Berufen wurden Hofrat Dr. med. Karl Rabl aus Prag zum ordentlichen Professor der Anatomie und Direktor des Anatomischen Instituts und Professor Dr. phil. Karl Rohn von der Technischen Hochschule in Dresden als ordentlicher Professor der Mathematik. Der letztere wird sein hiesiges Amt erst mit dem 1. April 1905 antreten, hält aber bereits dieses Semester in besonderem Auftrage eine Vorlesung. Zu ordentlichen Professoren ernannt wurden der seitherige außerordentliche Professor der neueren politischen Geschichte und Direktor des Historischen Seminars Dr. phil. Erich Brandenburg und der ordentliche Honorarprofessor der Ägyptologie und Direktor der Ägyptologischen Sammlung Dr. phil. Georg Steindorff. Ferner wurden zu etatsmäßigen außerordentlichen Professoren befördert die seitherigen außeretatsmäßigen außerordentlichen Professoren der philosophischen Fakultät: Dr. Hans Stobbe, Otto zur Strassen, Julius Wagner und Robert Luther. Zu außeretatsmäßigen außerordentlichen Professoren wurden ernannt die seitherigen Privatdozenten Dr. iur. Ernst Rabel von der Juristenfakultät, die Dr. med. Hans Päßler, Max Wilms und Georg Köster von der medizinischen Fakultät, endlich die Dr. phil. Edgar Henry Martini, Raoul Richter und Max Bodenstein von der philosophischen Fakultät. Habilitationen hatten nur die medizinische und die philosophische Fakultät zu verzeichnen, erstere die des Dr. med. Hermann Heinecke, letztere die der Dr. phil. Wilhelm Böttger, Karl Schall, Heinrich Ley und Karl Beck für Chemie, Friedrich Lipps für Philosophie, Eduard Biermann für Nationalökonomie und Otto Schulz für alte Geschichte. Auch im Kreise der Universitätsbeamten hat diesmal mancherlei Wechsel stattgefunden. Durch den Tod verloren wir den 1. Pedellen Gustav Starke († 4. August 1904) und den Kastellan Christian Untucht († 1. Oktober). Entlassen wurde der Bureauassistent Gustav Adolf Lange. Befördert wurde zum Bureauassistenten der seitherige Expedient Friedrich Curt Jahn und zum Expedienten der seitherige Hilfsexpedient Georg Meisel; neu angestellt der frühere Gerichtsschreibergehilfe Erich Kramer als Expedient. Die Besetzung der erledigten Pedellenstelle harrt noch der ministeriellen Bestätigung. Ich komme zu der Verleihung akademischer Grade. Ehrenpromotionen wurden in der Juristenfakultät 11 und in der philosophischen Fakultät 1 vollzogen. Rite promoviert wurden zu Licentiaten in der theologischen Fakultät 3, zu Doktoren in der Juristenfakultät 210 (1902/3: 205), in der medizinischen Fakultät 174 (187) approbierte Ärzte und 2 Ausländer, in der philosophischen Fakultät 171 (170). Diplomerneuerungen aus Anlaß des 50jährigen Doktorjubiläums 844

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fanden statt: bei der juristischen Fakultät 2, bei der medizinischen Fakultät 3 und bei der philosophischen Fakultät 4. Die Zahl der Studierenden hat sich im verflossenen Jahre gegenüber dem Vorjahre wenig verändert. Sie betrug nach endgiltiger Feststellung im Wintersemester 1903/4: 3772 (1902/3: 3764), im Sommersemester 1904: 3575 (1903: 3605). In die Matrikel eingetragen wurden im ganzen Studienjahre 2154 (im Vorjahre: 2171); dagegen wurden 9 Studierende uns durch den Tod entrissen. Die Zahl der Immatrikulierten für dieses Semester erreichte am 29. Oktober 3664 (gegen 3705 am 30. Oktober 1903). Die theologische Fakultät zählt 284 Studierende (275), die juristische 1131 (1144), die medizinische 399 (429), die philosophische 1805 (1857). Hierzu kommen 572 Hörer. Da die Zahl der bis zum Reformationsfeste verflossenen Immatrikulationstage diesmal etwas geringer ist als in anderen Jahren, so steht zu erwarten, daß die Semesterfrequenz annähernd dieselbe Höhe erreichen wird, wie im vorigen Winter. Aus dem inneren Leben der Studentenschaft ist eine hocherfreuliche Tatsache zu berichten. Die seit langen Jahren erstrebte und im Sommer 1902 erneut angeregte Bildung eines Allgemeinen Studentenausschusses ist nach langen und oft recht schwierigen Verhandlungen verwirklicht worden. Es steht zu hoffen, daß diese Verhandlungen die verschiedenen in unseren studentischen Organisationen vertretenen Richtungen, wenn auch nicht einander näher gebracht, so doch zur gegenseitigen Achtung ihrer Grundsätze und Bestrebungen geführt haben. Die Satzungen der neuen Gesamtvertretung sind das Ergebnis vielseitiger Kompromisse; die Ausgleichung der hervorgetretenen Gegensätze war für mich oft eine große Geduldsprobe. Möchte das hohe Maß von Vertrauen, das der Akademische Senat der Studentenschaft dadurch bewiesen hat, daß er die von ihr selbst geschaffenen Satzungen ohne jede Änderung genehmigte, darin seine Rechtfertigung finden, daß das Streben zum Ganzen, der Gemeinsinn, die Nachgiebigkeit und die Achtung fremder Überzeugung stets im Allgemeinen Studentenausschusse regieren! Der Rahmen seiner Wirksamkeit ist weit genug gesteckt, daß es ihm an fruchtbringender Tätigkeit nicht fehlen kann. Es ist mir eine besondere Freude, hier aussprechen zu können, daß der nähere Einblick in das Verbindungswesen, den die Begründung und erste Einführung des Studentenausschusses mir verschafft hat, mir überwiegend günstige Eindrücke hinterlassen hat. Dennoch kann ich mich einer gewissen Besorgnis nicht entschlagen. Die zahlreichen kleinen Korporationen und Vereine tragen ein Moment der Schwäche in sich, für deren Existenz die immer häufiger werdende Zusammenschließung mehrerer gesinnungsverwandter Verbindungen zu föderativen Verbänden ein bezeichnendes Symptom bildet. In seltsamem Widerspruch damit steht es aber, daß diese Verbände nicht zu einer wesentlichen Entlastung der ihnen angehörenden Vereinigungen führen, eher zum Gegenteil. Wenn in den meisten Einzelverbindungen kaum mehr ein Stiftungsfest ohne dreitägige Dauer gefeiert werden kann, wenn kostspielige Auffahrten mit Festen und Aufführungen wechseln, deren Vorbereitung allein die Beteiligten viele Stunden und Tage ihren Studien entzieht, wenn sich geradezu ein Codex des Luxus ausgebildet hat, der den studierenden Menschen 845

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einschätzt nach dem, was er ausgibt, so erhebt sich doch die Frage, ob hier nicht ein Zurückschneiden geiler Auswüchse, eine Rückkehr zur alten Einfachheit des deutschen Studententums dem Verbindungsleben selbst am meisten frommen würde. Auch der Allgemeine Studentenausschuß wird gut tun, wenn er sich vor der Gefahr hütet, die übergroße Zahl der kostspieligen und zeitraubenden repräsentativen Veranstaltungen noch zu vermehren. Auf wirtschaftlich-sozialem Gebiete findet er dankbarere Aufgaben. Als eine für die Studentenschaft wohltätige Einrichtung darf ich hier die vom Akademischen Schutzverein errichtete Bücher-Vertriebsstelle nicht unerwähnt lassen. Dieselbe liefert den Studierenden die von ihren akademischen Lehrern herausgegebenen Lehrbücher zu erheblich reduziertem Preise, sowie sie von den Verfassern selbst auf Grund ihres in § 26 des Verlagsgesetzes gegebenen, nunmehr auch durch gerichtliche Entscheidung sicher gestellten Rechtes bezogen werden können. Ich danke namens der Universität dem Verein für die Förderung, die er auf diese Weise den Studierenden zu teil werden läßt; ich danke auch der Freien Studentenschaft, die sich dem Vertriebe in selbstloser Weise unterzieht. Wenn auch schwere Disziplinarfälle im verflossenen Jahre nur selten vorgekommen sind und eine Relegation überhaupt nicht hat ausgesprochen werden müssen, so ist doch der Carcer auch diesmal nicht zu entbehren gewesen. Eingesperrt wurden im ganzen 47 Studierende, davon 3 zu wiederholten Malen. Auf Anordnung unseres Universitätsgerichtes sind aber nur 10 dieser Haftstrafen verhängt worden, auf Anordnung anderer Universitäten 2 und 38 in Ausführung polizeirichterlicher Erkenntnisse. Das Universitätsgericht in Leipzig fungierte somit hauptsächlich als Strafvollzugsinstanz. Versessen wurden im ganzen 177 Tage. Die ausgeschriebenen akademischen Preisaufgaben haben auch in diesem Jahre keinen sehr lebhaften Wettbewerb hervorgerufen: für die meisten ist nur eine Bewerbung eingegangen. Aber keine ist doch ganz unbearbeitet geblieben, und alle Fakultäten sind in der Lage gewesen, Preise oder doch Anerkennungen zuzusprechen. Den Preisträgern wird es angenehm sein zu vernehmen, daß die Königliche Staatsregierung aus eignem Antriebe sich bewogen gefunden hat, die für Prämien verfügbare Jahressumme auf 3000 M. zu erhöhen, und die Universität kann für diesen Beweis der Fürsorge nur warmen Dank aussprechen. Vermöge derselben werden künftig für jede der gestellten Aufgaben zwei Bewerber Preise davontragen können. Der erste Preis wird 300 M. oder die Hälfte dieser Summe nebst einer goldenen Medaille, der zweite Preis 200 M. bar betragen. Beim Eingange einer ganz besonders hervorragenden Arbeit können beide Preise zusammengelegt werden. Das königliche Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichts hat gestattet, daß diese Normen schon bei der heutigen Preisverkündigung Anwendung finden dürfen. Bei der theologischen Fakultät sind zwei Bearbeitungen der von ihr gestellten Aufgabe eingegangen; nur eine derselben ist des Preises würdig erachtet worden, diese aber auch in so hervorragendem Maße, daß die Fakultät auf Zusammenlegung der beiden verfügbaren Preise erkannt hat. Als Verfasser derselben ergab sich Johannes Herrmann, stud. theol. aus Nossen. 846

Jahresbericht 1903/04

Auch die juristische Aufgabe fand zwei Bewerber. Die Arbeit mit dem Motto: „Si vis pacem, para bellum“ erwies sich als unzureichend. Auch der zweiten mit dem Motto „Das Recht ist die Harmonie des Rhythmus des ganzen sozialen Lebens“ hat die Fakultät zwar keinen Preis, wohl aber die Ehre einer lobenden Erwähnung zuerkannt. Ihr Verfasser ist Georg Müller, stud. iur. aus Dresden. Auf die medizinische Aufgabe ist eine Arbeit eingegangen mit dem Motto: „Ich hab’s gewagt.“ Die Fakultät hat ihr den ersten Preis zuerkannt. Verfasser ist Paul Michaelis, cand. med. in Leipzig-Neustadt. Auf die drei Preisaufgaben der philosophischen Fakultät ist je eine Bewerbungsschrift eingegangen. Der Bearbeitung des Themas aus der französischen Litteraturgeschichte (I. Sektion) wurde der erste Preis zu Teil. Verfasser ist Arthur Franz, stud. philol. aus Dresden. Dem Bearbeiter der geographischen Aufgabe (II. Sektion) wurde die Ehre einer lobenden Erwähnung zuerkannt. Sein Name ist Oskar Karstedt, stud. rer. nat. aus Lübeck. Die mathematische Preisarbeit (III. Sektion) endlich wurde des ersten Preises würdig befunden. Als Verfasser ergab sich Arthur Krause, stud. math. aus Leipzig. Die Begründung der Urteile und die neuen Preisaufgaben werden durch Druck und Anschlag am schwarzen Brett bekannt gemacht werden. Mein Bericht ist zu Ende. Bevor ich aber das Amt, das kollegiales Vertrauen mir verliehen, in die Hände meines Nachfolgers lege, drängt sich mir ein Wort auf die Lippen über dieses Amt selbst. Der Rektor einer deutschen Universität hat eine eigentümliche Mittelstellung zwischen bureaukratischer Beamtenorganisation und Korporation, zwischen der Regierung und der Selbstverwaltung, wie sie in Senat und Fakultäten verkörpert ist. Das Amt ist ein persönliches, im eminenten Sinne: es gibt einen Rektor, aber es gibt kein Rektorat, wie mit Recht einmal in einer Ministerialverordnung zum Ausdruck gebracht worden ist. Der Mann macht das Amt und nicht das Amt den Mann. Der Rektor kann nicht hinter dem Abstraktum einer Behörde verschwinden. Alle Jahre zieht ein neuer Mann als Herr in diese Räume ein, und die Fakultäten wechseln in der Gestellung dieses Mannes. Das mag für die Kontinuität der Geschäftsführung kleine Nachteile haben; aber sie verschwinden vor dem großen Vorzuge, daß mit jedem neuen Manne wieder neue Gedanken in die Akten einziehen, daß alle Seiten der vielgegliederten universitas litterarum an maßgebender Stelle einmal zur Geltung kommen. „Es sind vielerlei Gaben, aber ein Geist“, und so lange dieser Geist der Wahrheit, der selbstlosen Hingabe an das Ganze herrscht, wird jeder Rektorwechsel für uns alle fruchtbar werden, und wie ich wird jeder Rektor, was er vielleicht an seinem wissenschaftlichen Lebenswerke in seinem Amtsjahre einbüßt, zehnfach ersetzt finden durch einen unverlierbaren Gewinn, den ihm das gewachsene Verständnis und das Interesse für das Ganze einträgt. Und nun wende ich mich an Sie, Herr Georg Rietschel, und fordere Sie auf, das Katheder zu besteigen, um die Insignien Ihrer Würde aus meiner Hand entgegenzunehmen. Zuvor aber habe ich Ihnen den Eid abzunehmen, den nach den Gesetzen unserer Universität jeder Rektor zu leisten hat. 847

Karl Bücher

„Sie schwören bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, daß Sie die Verfassung und die Gesetze der Universität treu und gewissenhaft beobachten und die Pflichten des Ihnen anvertrauten Amtes als Rektor der Universität nach bestem Wissen und Gewissen redlich erfüllen wollen.“ Somit proklamiere ich Sie, Herrn Dr. theol. Georg Rietschel zum Rektor der Universität Leipzig für das Studienjahr 1904 bis 1905. Ich übergebe Ihnen den Hut und den Mantel als Zeichen Ihrer Würde, die Kette, mit welcher königliche Huld den Leipziger Rektor geschmückt hat, das Siegel der Universität, damit Sie deren Willen rechtlich beglaubigen, die Statuten, die Sie zu bewahren haben, den Schlüssel des Hauses als Symbol Ihrer Herrschaft in diesen Räumen. Gestatten Eure Magnifizenz, daß ich als erster Ihnen meinen Glückwunsch darbringe. Möge das Jahr Ihrer Amtsführung ein Jahr des Segens sein, für unsere Universität und für Sie selbst! ***

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Georg Rietschel (1842–1914)

31. Oktober 1904. Rede des antretenden Rektors D. Georg Rietschel. Wie verhält sich die evangelische Kirche der sozialen Frage gegenüber, insbesondere wie haben sich die Geistlichen dieser Kirche als deren Diener in sozialen und wirtschaftlichen Fragen zu verhalten? Hochansehnliche Versammlung! Aus dem Gebiete der praktischen Theologie, die ich an dieser Hochschule vertrete, will ich für diese Stunde weder ein prinzipiell theologisches Problem, noch eine historische Erörterung wählen, sondern möchte Ihren Blick auf eine eminent praktische Frage der Gegenwart lenken, die ein allgemeines Interesse auch in diesem Kreise wohl voraussetzen darf: Welche Stellung nimmt die evangelische Kirche zu der sozialen Frage der Gegenwart ein, und wie haben infolgedessen die Geistlichen als die Diener der Kirche auf dem Gebiete des sozialen, des wirtschaftlichen Lebens sich zu verhalten? Natürlich kann ich bei der Kürze der Zeit1 für diese überaus wichtige Frage nur einige prinzipielle und praktische Gesichtspunkte bringen, ohne den Anspruch zu erheben, wesentlich Neues zu sagen. Ich habe auch bei der beschränkten Zeit darauf verzichten müssen, eine kurze im Konzept bereits fertiggestellte Darlegung der geschichtlichen Entwickelung, die der evangelisch-soziale Gedanke bisher gefunden hat, vorauszuschicken.2 1

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Einige wenige Abschnitte, die bei dem Vortrag selbst weggelassen oder gekürzt wurden, sind im vorliegenden Druck beibehalten worden. Ganz kurz seien wenigstens die evangelisch-sozialen Vereine und Verbände genannt, die sich in den letzten Jahrzehnten gebildet haben. Am Ende des Jahres 1877 gründete Rudolf Todt, der Verfasser des oben genannten Buches, mit Hofprediger Adolf Stöcker und den beiden Nationalökonomen Adolf Wagner und Rudolf Meyer den „Zentralverein für Sozialreform auf religiöser und konstitutionell-monarchischer Grundlage“, die erste Organisation des evangelisch-sozialen Gedankens, dessen Organ vom 1. Januar 1878 an „Der Staatssozialist“ wurde. Am 3. Januar 1878 erfolgte durch Stöcker die Begründung der „christlich-sozialen Arbeiterpartei“, die später „christlich-soziale Partei“ sich nannte. Im Jahr 1890 gab Stöcker, nachdem er sein Amt als Hofprediger niedergelegt hatte, mit dem Pastor Lic. Weber in München-Gladbach den Anstoß zur Gründung des „Evangelischsozialen Kongresses“ der auf breitester Basis Personen verschiedener kirchlicher, theologischer und politischer Richtung in sich vereint, alle Jahre zusammentritt und sich die Aufgabe stellt, „die sozialen Zustände unseres Volkes vorurteilsfrei zu untersuchen, sie an dem Maßstabe der sittlichen

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Georg Rietschel

Treten wir ohne Umschweife an die Frage heran: „Wie verhält sich die Kirche der sozialen Frage gegenüber“, so lautet zunächst die Antwort ganz verschieden vom katholischen und vom evangelischen Standpunkt aus. Der tiefgreifende Unterschied beider Kirchen tritt gerade in ihrer beiderseitigen Stellung zur sozialen Frage klar zu tage. Die römische Kirche scheidet zunächst auf das Allerschärfste das Gebiet der Kirche und das Gebiet des gesamten staatlichen und wirtschaftlichen Lebens, überhaupt alles dessen, was dieser irdischen Daseinsform angehört. Die Kirche allein ist die mit absoluter Autorität ausgestattete Gottesordnung auf dieser Welt, alles andere außerhalb der Kirche dieser Weltordnung angehörige ist das Profane, Weltliche, Ungöttliche. Allerdings ist die mittelalterliche Lehre, daß die staatliche Gewalt nur ein Ausfluß der sündigen Herrschbegierde und Anmaßung einzelner sei, durch die Autorität eines Thomas von Aquino der naturrechtlichen Auffassung gewichen. Auch in bezug auf das Eigentum besteht nicht mehr die kommunistische Auffassung des Mittelalters, daß dasselbe nur eine Folge brutaler und ungerechter Okkupation sei. Auch hier hat Thomas von Aquino innerhalb der römischen Kirche eine neue Auffassung angebahnt, und hat das Eigentum als notwendige Grundlage des gesellschaftlichen Lebens gewürdigt, notwendig wenigstens für die Menschen, wie sie nun einmal sind, als allgemein menschliche Einrichtung, die unabhängig von den wechselnden Strömungen des bürgerlichen Rechtes ist.3 Aber trotzdem bleibt doch das gesamte Gebiet des staatlichen und wirtschaftlichen Lebens der Herrschaft der Sünde und der Dämonen unterworfen, wenn es nicht durch die Kirche diesem Gebiet entzogen ist. Nur das kirchliche Gebiet ist heilig. Extra ecclesiam nulla salus. In der Priesterweihe wird noch heute gebeten, daß Gott den neuen Priester von aller Knechtschaft des weltlichen Gewandes reinige und dem Priester wird

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und religiösen Forderungen des Evangeliums zu messen und diese selbst für das heutige Wirtschaftsleben fruchtbarer und wirksamer zu machen als bisher.“ Die verschiedenen kirchlichen und sozialpolitischen Richtungen innerhalb dieses Kongresses veranlaßten nach zwei Seiten hin Scheidungen. Die kirchlichen und theologischen Gegensätze innerhalb des Kongresses bewirkten es, daß Stöcker, Lic. Weber und Professor von Nathusius in Greifswald ausschieden und im Jahre 1896 die „freie kirchlich-soziale Konferenz“ gründeten. Nach der sozialpolitischen Seite schieden sich innerhalb des Kongresses von den „Alten“, als den eigentlichen Gründern des Kongresses, „die Jungen“ unter Führung Friedrich Naumanns, indem sie einen regierungsfähigen Sozialismus als politische Partei erstrebten. Infolgedessen schied die rein politische „national-soziale Partei“ aus, die später in die freisinnige Partei aufging. Auf dem Boden der sächsischen Landeskirche hat sich im Jahre 1904 die „sächsische evangelisch-soziale Vereinigung“ gebildet, die sich zum Ziele setzt, „dahin zu wirken, daß möglichst viele aus den der Kirche entfremdeten Volksmassen wieder für das evangelische Christentum und unsere Kirche gewonnen werden“. – Neben allen den genannten Verbänden und ohne Zusammenhang mit ihnen stehen die evangelischen Arbeitervereine, die unmittelbar aus den Arbeiterkreisen, zuerst in Gelsenkirchen im Jahre 1882, entstanden sind und zwar zunächst im Gegensatz zu den katholischen Arbeitervereinen und zur Bekämpfung der von diesen ausgeübten Propaganda unter den evangelischen Arbeitern. Ursprünglich hielten sich die evangelischen Arbeitervereine fern von jeder politischen Tätigkeit. Doch traten auch in ihnen „die Jungen“ unter Friedrich Naumanns Führung in Gegensatz zu „den Alten“. Dieser Entwicklung der Vereine ist oben kurz Erwähnung getan. Vgl. M. Maurenbrecher, Thomas von Aquino’s Stellung zum Wirtschaftsleben seiner Zeit. 1898.

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zugerufen, daß er „die Schmach des weltlichen Gewandes (ignominiam saecularis habitus) ablege“. Darum ist das höchste Sittlichkeitsideal der römischen Kirche in der völligen Verzichtleistung auf alles, was dem weltlichen profanem Gebiete angehört, verwirklicht. Der selbstgewählte Verzicht auf die Grundform aller sozialen Verhältnisse, auf die Ehe und das eigne Haus, der Verzicht auf die Voraussetzung aller sozialen Lebensbetätigung in der Welt, auf die materiellen Güter des Lebens, das Eigentum, die völlige Unterwerfung des eigenen Willens unter die einzige göttliche Autorität auf Erden, die in der Kirche erscheint, mit einem Worte die drei Klostergelübde Keuschheit, Armut und Gehorsam sind und bleiben das höchste Sittlichkeitsideal der römischen Kirche. Göttliches und Weltliches, Heiliges und Profanes sind streng von einander geschieden. Ganz anders in der evangelischen Kirche. Luther hat auf Grund des Evangeliums die Unterscheidung der Kirche einerseits und des staatlichen bezw. sozialen Lebens anderseits als göttlich und ungöttlich, geistlich und weltlich, heilig und profan beseitigt. Auch der Staat oder wie Luther stets sagt „die weltliche Obrigkeit“, auch das häusliche und soziale Leben, Ehe, Besitz, Erwerb sind für sich, unabhängig von der Kirche, Gottesordnungen. So wenig ist darum das Priesteramt oder das Mönchstum der einzige göttliche Stand auf Erden, daß vielmehr jeder Hausvater, jeder Arbeiter in irgend welchen Stand und Beruf Gott auf seine Weise dient, wie der Geistliche in seinem Beruf, ja vielmehr einen göttlicheren Beruf hat, als der Mönch mit seiner selbstgewählten Weltflucht, in der er sich den Pflichten gegenüber den Nächsten entzieht. Luther sieht im Gegensatz zu den „geistlichen höheren“ Werken, die der Priester oder Mönch allein zu vollziehen glaubt, all das als gottesdienstlichen Erweis an, was nach der besonderen Stellung, die der Christ in der Welt und im sozialen Leben nach Alter, Geschlecht, Stand, Amt einnimmt, ihm sonderlich befohlen ist. Zwar nicht als äußerliches Werk steht dieses Gebiet der Berufstätigkeit unter dem Gesichtspunkt des Gottesdienstes, sondern es wird als eine Betätigung des Glaubens, der vor Gottes Angesicht seine Pflicht tut und als Erweis der Liebe, die sich dem Nächsten willfährig erweist, zum rechten Gottesdienst. Luther sagt: „Gott dienen heißt, wenn man bleibt in dem Stand, da dich Gott eingesetzt hat, daß Mann Mann, Weib Weib bleibe, Kaiser Kaiser, Bürger Bürger bleibe und ein jeder in seinem Stande lerne Gott erkennen und preise ihn, so dienet er ihm recht.“ „Ein Hausvater, der sein Haus in Gottesfurcht regiert, seine Kinder und Gesinde in Gottesfurcht und Erkenntnis zu Zucht und Ehrbarkeit zeucht, der ist in einem seligen heiligen Stand. Also eine Frau, die der Kinder wartet mit Essen-, Trinkengeben, Wischen, Baden, die darf nach keinem heiligeren gottseligeren Stand fragen, Knecht und Magd im Hause auch also, wenn sie tun, was ihre Herrschaft sie heißet, so dienen sie Gott und sofern sie an Christum glauben, gefällt es Gott weit besser, wenn sie auch die Stube kehren, oder Schuhe auswischen, denn aller Mönche Beten, Fasten, Messehalten und was sie mehr für hohe Gottesdienste rühmen.“ Wie verhalten sich nun auf Grund dieser verschiedenen Auffassung beide Kirchen tatsächlich zu den wirtschaftlichen Verhältnissen? 851

Georg Rietschel

Weil die katholische Kirche das kirchliche und staatliche bezw. soziale Gebiet auf das schärfste als göttliches und ungöttliches scheidet, so muß sie notwendigerweise beide Gebiete in der Weise unlöslich verbinden, daß das weltliche Gebiet als das profane unbedingt der Kirche als der göttlichen Autorität untergeordnet ist. Können nur wenige das höchste Sittlichkeitsideal des Mönchtums erreichen, müssen die Menschen innerhalb des profanen, weltlichen der Sünde und der Herrschaft Satans und der Dämonen unterworfenen Gebietes leben, so ist es Recht und Pflicht der Kirche, die Herrschaft über die ungöttliche Welt auszuüben, die ihrerseits zum unbedingten Gehorsam verpflichtet ist. Es gibt darum nichts auch innerhalb der Ordnung der wirtschaftlichen Verhältnisse, das sich außerhalb des kirchlichen Einflusses oder wenigstens der kirchlichen Billigung stellen dürfte und das nicht auf die Forderung der Kirche geändert werden müßte. Die kirchliche Vollmacht, die dem Klerus zusteht, umfaßt nicht nur die potestas ordinis, die das Meßopfer vollzieht, sondern auch die potestas jurisdictionis, die Regiergewalt. Wenn darum die Bischöfe, als die eigentlichen Inhaber der Regiergewalt oder mit ihrer Billigung die Priester Sozialpolitik treiben, soziale Grundsätze aufstellen, wirtschaftliche Forderungen erheben, so überschreiten sie nicht die Grenzen ihres eigentlichen Berufes, sondern üben die ihnen von Gott durch die Kirche übergebene Aufgabe die Welt geistlich zu regieren aus. Es gibt eine katholische Sozialpolitik, die allein die rechte Regelung der sozialen Verhältnisse bestimmen und die Forderungen aufstellen kann, die staatliche und kommunale Faktoren auszuführen haben. Von der Kirche selbst hängt es ab, wie weit sie das Gebiet der Adiaphora im wirtschaftlichen Leben belassen will. Ganz anders steht Luther, steht die evangelische Kirche zu den sozialen Fragen. Wir sahen, weil die katholische Kirche kirchliches und weltliches Gebiet als göttlich und ungöttlich, als höheres und niederes scheidet, muß sie zur unlösbaren Verbindung beider, zur Herrschaft der Kirche über das Wirtschaftsleben geführt werden. Umgekehrt, weil die evangelische Kirche auch in den staatlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen Gottesordnungen sieht, muß sie, um nicht beide Gebiete miteinander zu vermengen, um die Selbständigkeit einerseits der Kirche, andererseits des weltlichen Gebietes als Gottesordnungen zu gewinnen, beide reinlich und klar voneinander scheiden, da beide Faktoren ganz verschiedene Aufgaben haben. Die Kirche des Evangeliums Christi ist ihrem wahren Wesen nach eine unsichtbare Gemeinschaft des Glaubens, keine äußere Institution nach Analogie des Staates. Darum hat sie es in ihrer Wirksamkeit nur mit Persönlichkeiten zu tun, nicht mit Institutionen der menschlichen Gesellschaft oder des Staates. Die evangelische Kirche will einzig und allein die Kräfte des Evangeliums Christi für das innere Leben der Menschen wirksam werden lassen behufs Weckung, Stärkung, Vertiefung, Reinigung der rechten Gesinnung, des lebendigen Glaubens und zur Betätigung dieser rechten Gesinnung im gesamten persönlichen und öffentlichen Leben innerhalb der Welt. Das Gebiet des staatlichen, des sozialen Lebens selbst zu ordnen, dazu hat die Kirche keine Vollmacht. Darum nennt Luther die Grundordnung des gesamten sozialen Lebens, die Ehe, ein „weltlich Geschäft“ und „gebühret uns Geistlichen und Kirchendienern nichts darin zu ordnen oder regieren. Solches alles und der852

Antrittsrede 1904

gleichen lasse ich Herrn und Rat schaffen und machen, wie sie wollen, es gehet mich nichts an.“ Mit dem Ausdruck „weltlich Geschäft“ hat Luther die Ehe nicht etwa in ihrer Würde herabsetzen wollen, als ob sie höher stünde, wenn man sie als „kirchlich Geschäfte“ ansehen könnte. Sie ist und bleibt ihm eine Gottesordnung und ein „heiliger Stand“, gehört aber eben der Ordnung Gottes auf weltlichem Gebiete an. So ist ihm die Obrigkeit eine Gottesordnung, aber nicht durch das Christentum, durch die Kirche, sondern nach Gottes Willen durch das Zusammenwohnen von Menschen begründet. Nicht anders steht es mit den wirtschaftlichen sozialen Faktoren. Luther hat vielfach sein sittliches Urteil über die Schäden des Volkslebens abgegeben, aber stets hat er abgewehrt, wirtschaftliche Änderungen, Neuordnungen im Namen der Kirche zu verlangen. Als ihm aus Erfurt von den dortigen Geistlichen Artikel wegen Empörung der Viertel und Zünfte zur Begutachtung zugeschickt werden, gibt er wohl sein sittliches Urteil ab, sagt aber ausdrücklich, daß es weltliche Händel seien, „darinnen mir nicht gebühret zu rechten noch zu richten. Ich kann’s auch nicht.“ Es ist und bleibt der unerschütterliche Grundsatz der evangelischen Kirche, daß sie mit den Fragen und Aufgaben der Sozialpolitik als nur technischen Fragen selbst nichts zu tun hat. Eine christliche oder evangelische Sozialpolitik gibt es nicht, so wenig es eine christliche oder evangelische Medizin geben kann. Wenn Adolf Stöcker in einem seiner Vorträge erklärt: „Die Kirche des neuen Testaments kann nicht sagen: Dies volkswirtschaftliche System ist besser, jenes schlechter“, so ist dies durchaus richtig. Wenn er aber hinzufügt: „Das kann die Kirche nicht, denn sie hat keine Organe dazu, wohl aber können es die einzelnen Geistlichen tun“, so tritt in diesen Worten eine ganz unevangelische Auffassung zu tage. Aus dem Wort klingt die Klage hervor, daß die evangelische Kirche nicht Organe hat, die mit bischöflicher Autorität, wie in der katholischen Kirche, über volkswirtschaftliche Systeme Weisungen geben können. Aber nicht weil der evangelischen Kirche die Organe fehlen, kann sie nicht solche Entscheidungen treffen, sonst müßte sie solche Organe zu schaffen suchen, sondern weil alle diese Fragen ganz außerhalb des Gebietes liegen, das ihr zur Verwaltung gegeben ist. Sie kann es ebenso wenig, wie man mit Hegel’scher Spekulation nicht über die chemische Zusammensetzung der Stoffe urteilen kann. Ganz verhängnisvoll ist aber die Aufforderung, daß an die Stelle der mangelnden Organe die einzelnen Geistlichen sich als die „Notbischöfe“ ansehen und über den Wert volkswirtschaftlicher Systeme urteilen sollen. Doch auf diesen Punkt komme ich später besonders. Verzichtet aber nicht die evangelische Kirche nach diesen ausgesprochenen Grundsätzen auf eine hochbedeutsame Aufgabe, die ihr von der Bibel selbst gestellt wird, so daß sie sich in Widerspruch setzt mit den autoritativen Urkunden des Christentums? Im Jahre 1877 erschien ein Buch des Pastors Rudolf Todt: „Der radikale deutsche Sozialismus und die christliche Gesellschaft. Versuch einer Darstellung des sozialen Gehaltes des Christentums und der sozialen Aufgaben der christlichen Gesellschaft auf Grund einer Untersuchung des neuen Testaments.“ Todt kommt zu dem Resultat: „Mit Ausnahme des Atheismus läßt sich vom Standpunkte des Evangeliums gegen die sozialistische Theorie nichts einwenden. Ihre Grundprinzipien bestehen nicht nur, sondern enthalten geradezu göttliche Wahrheiten.“ Todt glaubte 853

Georg Rietschel

aus dem neuen Testament eine vollständig christliche Wirtschaftslehre entwickeln zu können, die allen sozialistischen Forderungen entsprach. Das Buch machte im Anfang Aufsehen, heute gibt es wohl niemanden, der Todts Anschauungen im neuen Testament findet. Hören wir aber wie Stöcker über der Stellung der Schrift zur sozialen Frage in seinem Vortrag über „die Bibel und die soziale Frage“ Aufschluß gibt. Zunächst entwickelt er die wirtschaftlichen Grundsätze und Forderungen des alten Testaments, der Gesetzgebung Moses als vorbildlich. Natürlich hat das alte Testament als theokratischer Staat eine ganz bestimmte Wirtschaftsordnung, die aber doch eben im neuen Testament nichts gilt, weil Christus des Gesetzes Ende ist. Als Glieder des neuen Bundes sagen wir in bezug auf alle Institutionen und Anweisungen des alten Testaments mit Luther: „Moses ist tot, sein Regiment ist aus gewesen, da Christus kam, er dient weiter hierher nicht. Wenn ich Mosen annehme in einem Stück (spricht Paulus zu den Galatern) so bin ich schuldig, das ganze Gesetz zu halten, denn kein Pünktlein gehet uns an im Mose.“ Aber das neue Testament? Überall begegnen uns hochbedeutsame Gesichtspunkte über Faktoren des sozialen Lebens und Mahnungen zum rechten Verhalten innerhalb der sozialen Verhältnisse. Die Schrift gibt wertvolle Gesichtspunkte für den Christen über die Auffassung von Eigentum, Gewinn, Arbeit, Lohn u. dgl. Aber niemals sind diese Gesichtspunkte wirtschaftlicher Art, sondern immer rein ethisch. Sie geben nur Anleitung und Anweisung, wie wir als Christen die bestehenden Verhältnisse beurteilen und uns innerhalb derselben verhalten sollen. Niemals ist das Augenmerk gerichtet auf Änderung der bestehenden oder Aufrichtung neuer Institutionen – und darum handelt es sich doch allein bei der sozialen Frage – sondern stets wird nur die persönliche Stellung des Christen ins Auge gefaßt und die Pflichten, die daraus erwachsen, nach allen Seiten eingeschärft. Der größte soziale Notstand damaliger Zeit war zweifellos die Sklaverei. Hier hätte eine christliche soziale Reform unbedingt einsetzen müssen. Sehr oft nimmt das neue Testament auf die schwere Lage der Sklaven bezug. Es werden die Herrn und die Knechte zur rechten Gesinnung und ihrer Betätigung in der gegenseitigen Stellung zu einander ermahnt. Wo aber wäre nur eine einzige Stelle zu finden, die eine Forderung auf Abänderung der Institution der Sklaverei selbst im Namen des Evangeliums stellt? Bedeutsam in dieser Richtung ist der Brief des Paulus an Philemon. Den seinem Herrn Philemon entlaufenen Sklaven Onesimus schickt Paulus mit dem Brief zurück. Das soziale Verhältnis des Sklaven zu seinem Herrn tastet Paulus nicht an. Der Herr ist und bleibt Herr, der Sklave ist und bleibt Sklave. Das Christentum schafft soziale Rang- und Standesunterschiede nicht ab, aber es gleicht sie sittlich aus. Paulus bittet den Philemon den Sklaven Onesimus, der bei Paulus Christ geworden ist, als einen geliebten Bruder anzusehen unbeschadet dessen, daß er nach wie vor sein Sklave bleibt. Das ethische Verhältnis beider zu einander wird durch Paulus bestimmt. Das Christentum hat nicht in gesetzlicher Weise die Institution der Sklaverei abzuschaffen befohlen; aber gerade weil es nicht gesetzlich von außen nach innen wirken wollte, hat es um so mehr durch die innere Erneuerung der Menschen die Sklaverei überwunden. Sehr bedeutsam ist das Wort Jesu, das er 854

Antrittsrede 1904

zu einem Manne sagt, der ihn bittet den Streit über das Erbe, der zwischen ihm und seinem Bruder besteht, zu entscheiden: „Mensch wer hat mich zum Richter oder Erbschichter über euch gesetzt“? Man hat von anderer Seite auf einer sächsischen Konferenz geltend gemacht, daß das neue Testament zwar keine Wirtschaftsordnung als die rechte empfiehlt, daß es aber „soziale Richtlinien“ gebe, die unanfechtbar anerkannt werden müßten. Als solche werden genannt die Krankenheilungen durch Jesus, die Erzählung von der Speisung der fünftausend in der Wüste durch Jesus, die Austreibung der Händler und Wechsler aus dem Tempel. Ich kann nicht verstehen wie man in diesen Erzählungen Richtlinien für soziale Arbeit sehen kann. Zweifellos liegt hier eine Verwechslung vor, die so oft ganz verhängnisvoll gewirkt hat und noch wirkt. All das was von Jesus in den erwähnten Erzählungen berichtet wird, ist eine Arbeit barmherziger Liebe auf dem Boden sozialer Notstände, aber es ist nun und nimmermehr soziale Arbeit, die eine Wandlung und Neuordnung der wirtschaftlichen Verhältnisse selbst erstrebt, um die Notstände dauernd zu beseitigen. Wir werden noch einmal auf diese Verwechslung zweier verschiedener Arbeitsarten kommen müssen. Man kann wohl sagen, daß heutzutage, wenigstens in der Theorie, ziemlich allgemein anerkannt wird, daß die wirtschaftlichen Fragen technische Fragen sind, die die Kirche nicht zu entscheiden vermag, für die auch die Bibel keine Anweisung gibt. Ja wir müssen sagen, enthielte wirklich das neue Testament solche wirtschaftliche Bestimmungen, so würden sie für uns, die wir unter ganz anderen Verhältnissen leben, nicht maßgebend sein können. Indessen hört man doch öfters die Rede, daß die evangelische Kirche allgemeine Forderungen für das Wirtschaftsleben aufstellen müsse, während der Staat die spezielle Ausführung zu bestimmen habe. Sehen wir uns das Stöcker’sche Programm der christlich-sozialen Arbeiterpartei, die sich später einfach: „christlich-soziale Partei“ nannte, daraufhin an. Sie stellt allgemeine aber doch tatsächlich sehr speziell wirkende Forderungen auf. Nur ein Beispiel. In seiner ersten Gestalt forderte das Programm „Einschränkung der Arbeit von Kindern und Frauen in Fabriken“, im endgültig festgestellten Programm heißt es: „Abschaffung der Arbeit von Kindern und verheirateten Frauen in Fabriken“. Wer müßte es nicht als einen großen Segen begrüßen, wenn zur Gesundung des Familienlebens in unserem Volke die Hausfrau ihrer eigentlichen Aufgabe, die Hüterin des häuslichen Herdes zu sein, in allen Kreisen zurückgegeben würde, wenn die Kinder der Arbeiter, frei von dem Drucke des täglichen Erwerbs, eine sonnige Kindheit im Elternhaus genießen könnten, wie die Kinder der besser gestellten Eltern! Gerade dieser letzte Punkt gewann, wie ich mich erinnere, ganz besonders die Sympathien der Geistlichen für das Programm der evangelisch-sozialen Partei bei seiner ersten Veröffentlichung. Wenn man bei der Fabrikarbeit der verheirateten Frauen noch sagen konnte, daß der freie Entschluß der Betroffenen entscheidet, so erschien es doch recht und christlich, gerade als Geistlicher zum Schutz der unmündigen Kinderwelt einzutreten und vom Staat zu verlangen, daß er sie vor der Ausbeutung seitens der Fabrikherrn und gewissenloser Eltern bewahre und ihnen die goldene Freiheit, in der ein Kindesgemüt gedeiht, zurückgebe. 855

Georg Rietschel

Als Antwort auf diesen Punkt des Programms diene eine Tatsache. Die Zittauer Handels- und Gewerbekammer veranstaltete i. J. 1873 durch ihren Sekretär, den Sohn unseres Roscher, den jetzigen Geheimen Rat im Ministerium des Innern, eine Enquête über die Textil-Industrie, wie sie als Handweberei in den Häusern getrieben wurde. In 112 Orten, in denen die Handweberei Haupterwerbsquelle war, hatten nur 3 ein zehnstündiges, dagegen 19 ein zwölfstündiges, 20 ein vierzehnstündiges Arbeits-Minimum (!) während 14 Orte ein Durchschnittsmaß von sechzehn, 2 ein solches von 18 Arbeitsstunden verzeichneten. „Bei einer Vernehmung von Fabrikarbeitern, die sämtlich Kinder in Fabriken hatten, wurde mir [Dr. Roscher] erklärt, eine Beschränkung der Kinderarbeit in den Fabriken werde die Eltern nicht allein wegen des dann abnehmenden Verdienstes, sondern auch wegen des Mangels an geeigneter Aufsicht und Beschäftigung für die Kinder sehr in Verlegenheit bringen. In ihrer Jugend hätten sie es unter der Herrschaft der hausindustriellen Handarbeit viel weniger gut gehabt, als jetzt ihre Kinder. Während sie oft bis 10 oder 11 Uhr nachts hätten Garn spulen und treiben müssen und nur durch die Strenge der Eltern vom Einschlafen bei dieser nächtlichen Arbeit abgehalten worden seien, verdienten ihre Kinder bei einer sechsstündigen schon um 7 Uhr abends endenden Fabrikarbeit sehr viel mehr.“ Würde man nicht, da man die Zustände selbst doch nicht wandeln kann, das Vormundschaftsrecht des Staates zum Schaden seiner Vormundschaftspflicht mißbrauchen, wenn man an die gesetzgebenden Faktoren die Forderung stellte, es sollten die Kinder durch Verbot einer – selbstverständlich vom Staat kontrollierten, hygienisch und sittlich geregelten – Fabrikarbeit der Hausindustrie und gerade dadurch der Willkür gewissenloser oder von der Not dazu gezwungener Eltern ausgeliefert werden? Aber steht denn wirklich die evangelische Kirche all den sozialen Notständen völlig gleichgültig, „kühl bis ans Herz hinan“ gegenüber? Sagt sie etwa gar: „Was gehet es mich an? Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ Wer das aus dem Gesagten folgern wollte, würde ebenso folgern können, der Kirche ist das Elend der Kranken ganz gleichgültig, weil sie erklärt und erklären muß, die Diagnose und die Therapie der Kranken ist nicht Sache der Kirche, sondern allein der medizinischen Wissenschaft und der Ärzte. Aber so gewiß gerade wegen dieser rechten Beschränkung auf das ihr zugewiesene Gebiet die evangelische Kirche nicht in technische Fragen hineinpfuschen darf, um so bedeutsamer wird ihre Aufgabe innerhalb des sozialen Gebiets zu wirken. Wie dürfte die Kirche gleichgültig bleiben? Es haben doch diese Notstände zweifellos einen bedeutsamen Einfluß auf das innere Leben der Menschen. Die vierte Bitte im Vaterunser, die vom täglichen Brot handelt, hat doch ihre wichtige Stellung gerade inmitten der Bitten um geistliche Güter, und es zeugt wiederum von dem gesunden Sinne Luthers, der sie den mittelalterlichen Deutungen auf geistliche Speise entzogen und ihrer wahren Bedeutung für das Diesseits zurückgegeben hat. Wenn es auch keine noch so drückende Notlage des Lebens gibt, in der nicht der Christ in der Kraft lebendigen Glaubens sich bewähren und sie innerlich überwinden könnte, so erfahren wir es doch leider an uns und an anderen, wie sehr unser persönliches Innenleben, Gottvertrauen, Mut, Freudigkeit zum Leben und Wirken u. s. w. doch immer von den äußeren Verhältnissen, sei es leiblicher, sei 856

Antrittsrede 1904

es wirtschaftlicher Not abhängig ist. Professor Adolf Wagner in Berlin hat einmal treffend die Frage über das Verhältnis von Christentum und Wirtschaftsordnung also gefaßt: „Welchen Standpunkt hat der Christ der Wirtschaftsordnung gegenüber einzunehmen mit Rücksicht auf die Bitte im Vaterunser: Führe uns nicht in Versuchung.“ Hier liegt die eigentliche Aufgabe der Kirche für ihre Arbeit auf dem sozialen Gebiet, nämlich dafür zu sorgen, daß nicht die ihr zugehörigen Glieder Schaden an ihrer Seele leiden. Darin liegt auf der einen Seite die Pflicht, die sozialen Notstände, die auf das religiöse und sittliche Leben direkt schädigend einwirken, aufzudecken und mit allem Nachdruck – das ist vor allem die Aufgabe der Kirchenregimenter und der Synoden – zu fordern, daß die beruflichen staatlichen und kommunalen Instanzen direkt unsittliche oder die Sittlichkeit gefährdende Zustände nicht länger dulden oder gar selbst aufrecht erhalten, daß die dem Menschen als einem sittlichen Wesen unbedingt notwendigen Rechte keinem entzogen bleiben. Auf der anderen Seite ist es die Aufgabe der Kirche in positiver Arbeit innerhalb des sozialen Gebiets zu wirken, daß die rechte Gesinnung geweckt wird einesteils in denen, die berufen sind auf sozialem Boden zum besten unseres Volkes zu arbeiten, andernteils in denen, die unter den sozialen Verhältnissen leiden. Denn nicht soll, wie Naumann sagt, das Christentum mit sozialen Gedanken durchtränkt werden, sondern umgekehrt, die sozialen Gedanken müssen von christlicher Gesinnung durchtränkt werden. Doch ich will nicht im allgemeinen von der Arbeit der Kirche reden, sondern will vielmehr ganz konkret fragen, welche Aufgabe nunmehr den Dienern der Kirche, den Geistlichen als solchen den wirtschaftlichen Verhältnissen gegenüber erwächst. Hierbei müssen wir dreierlei Arbeit unterscheiden. Arbeit innerhalb der sozialen Verhältnisse, soziale Arbeit und sozialpolitische Arbeit und darum eine dreifache Frage stellen: 1. Hat der Geistliche Aufgaben innerhalb des sozialen Gebiets? 2. Hat der Geistliche das Recht eigentliche soziale Arbeit zu unternehmen? 3. Hat der Geistliche das Recht als Sozialpolitiker zu wirken? Ich beantworte die erste Frage mit einem unbedingten Ja, die zweite Frage mit einem bedingten Ja, die letzte Frage mit einem unbedingten Nein. Dies in Kürze näher zu begründen wird noch meine Aufgabe sein. 1. Hat der Geistliche Aufgaben innerhalb des sozialen Gebietes? Ich wüßte nicht, wie man dabei einen Augenblick zögern könnte, unbedingt Ja zu sagen. Das vorhin über die Aufgabe der Kirche Gesagte bezeugte bereits dieses Ja. Alle Arbeit des Geistlichen als Seelsorger vollzieht sich doch in Kreisen, die durch die wirtschaftlichen Verhältnisse unserer Zeit beeinflußt sind. Er mag in das Haus des Fabrikherrn oder des Fabrikarbeiters, des Großgrundbesitzers oder des Tagelöhners treten, überall sind es Persönlichkeiten und Familien, die in ihrer Eigenart gar nicht von den sozialen Verhältnissen, in denen sie wurzeln, durch die sie selbst und ihre Ideenkreise bestimmt sind, losgelöst werden können. Zwar hat der Geistliche allen ohne Unterschied nur das eine selbe Evangelium zu verkünden, und wenn wirklich ein Herz in tiefster Seelennot liegt, mit einem schwer beladenen Gewissen, oder wenn wir Geistliche an Kranken- und Sterbebetten stehen, da treten alle sozialen Unterschiede vor der einen großen Frage, um die es sich handelt, weit in den Hintergrund. 857

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Aber die Aufgabe des Geistlichen in Predigt, Unterricht, spezieller Seelsorge auf die verschiedensten Kreise des sozialen Lebens zu wirken, ist eine eminent bedeutungsvolle Aufgabe, die in unserer Zeit seine ganze Kraft in Anspruch nimmt. Ich will mich hier nicht lange aufhalten, weil sich die soziale Bedeutung solcher Arbeit von selbst versteht, möchte nur kurz darauf hinweisen, daß allerdings der Geistliche niemals die Aufgabe hat, als Vertreter eines einzelnen Standes den anderen Ständen gegenüber aufzutreten, weder des höheren gegen den niederen, noch umgekehrt des niederen gegen den höheren, daß er überhaupt nicht Standesinteressen zu verfechten hat, sondern jeden einzelnen, wes Standes er auch sei, auf Grund des Evangeliums seine besonderen Pflichten einzuschärfen hat, und den Hochstehenden nicht zum letzten. Es ist allerdings viel leichter, sei es auf der Kanzel oder in Versammlungen, über die sozialen Ungerechtigkeiten zu klagen und zu schelten, als in gebührender Weise Auge in Auge dem Machthaber auf das zu weisen, was christliche Pflicht und Liebe von ihm fordern. Zu der Arbeit des Geistlichen auf sozialem Gebiet gehören selbstverständlich auch all die Arbeiten barmherziger Liebe, die in die mannigfachen Notstände des Lebens Hilfe bringen will, all das, was man mit dem wenig glücklichen aber doch gebräuchlichen Namen der „Innern Mission“ umfaßt. Man hat zwar vielfach die Arbeiten der Innern Mission als „soziale Arbeiten“ bezeichnet. Ich halte dies nicht für zutreffend, und ich muß auf das verweisen, was ich schon oben von dem Unterschied der Arbeit in sozialen Gebieten und eigentlich sozialer Arbeit sagte. Die eigentlichen Arbeiten der Innern Mission leisten Hilfe für besondere einzelne Notstände, mildern die soziale Not in besonderen Fällen, aber sie beseitigen nicht die wirtschaftlichen Wurzeln, aus denen die Not erwachsen ist. Es ist Einzelhilfe, die von der größten Bedeutung und reichstem Segen ist, aber nicht soziale Reform der Verhältnisse selbst. Wichern, der Vater der Innern Mission, hat allerdings bereits in seiner bedeutenden ersten Denkschrift i. J. 1849 der ersten Periode der Innern Mission mit ihren Arbeiten zur Hilfe an den Hilfsbedürftigen, eine zweite Periode gegenübergestellt, in der „die freie christliche Assoziation der Hilfsbedürftigen selbst für ihre sozialen Zwecke“ ins Leben treten werde. Aber niemand wird diese letztgenannten sozialen Arbeiten in das Gebiet der eigentlichen Innern Mission einreihen. Darum kommen wir zu der zweiten Frage: 2. Darf ein Geistlicher soziale Arbeit treiben? Lessing soll einst auf die an ihn gerichtete Frage: „Darf ein Geistlicher ein Lustspiel schreiben?“ geantwortet haben: „Ja, wenn er’s kann“, und ich glaube dies: „Ja wenn er’s kann“, hat für jede Arbeit, die an sich selbst gut ist, seine volle Berechtigung, wer sie auch treibt. Überall entscheidet das Gelingen eines wirklich segensreichen Werkes im letzten Grunde für die Berechtigung dessen, der die Arbeit geleistet hat. Es hat Geistliche gegeben und gibt Gottlob noch solche, deren praktische Tätigkeit weit über die Grenzen dessen, was man zunächst mit dem Namen Innere Mission befaßt, wirklich bedeutungsvolles in tatsächlich sozialer Arbeit geleistet hat. Es war eine soziale Arbeit im großen Stil, die Oberlin, der Pfarrer des Steintals in Elsaß-Lothringen, Ende des 18. Jahrhunderts geleistet hat, durch die er diese wirtschaftlich völlig verkommene, sittlich ganz verwahrloste Gegend auf eine Höhe ohnegleichen gebracht hat, indem er selbst die vom Staat verweigerten Straßen und Brücken mit seinen Bauern baute, 858

Antrittsrede 1904

um die Gegend dem Verkehr zu erschließen, die Landwirtschaft der Gegend auf eine ungeahnte Höhe brachte und durch vielgestaltige Assoziationen den Wohlstand des verarmten Landstrichs begründete. Wer würde einen Fliedner tadeln, der einen tatsächlichen Beitrag zur Lösung der Frauenfrage durch die Erneuerung des altchristlichen Diakonissenberufs gegeben hat mit den gegenwärtigen 11 000 Schwestern? Wer wird sagen, ein v. Bodelschwingh habe seinen Beruf überschritten, wenn er in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts die bis zur Unerträglichkeit herangewachsene Plage des Vagabundentums, das seine aus Faulheit stammende Bettelei mit der Berufung auf Arbeitslosigkeit deckte, erfolgreich durch die Arbeiterkolonien und die zu ihnen überführenden Verpflegungsstationen bekämpfte, so daß Arbeitswillige und Arbeitsscheue stets erkannt werden konnten, und diese Anstalten sich über ganz Deutschland verbreitet haben? Auch das war soziale Arbeit, denn sie faßte den Schaden an der Wurzel an; und damals haben alle Parteien des Reichstags diese Leistung zur Beseitigung eines sozialen Notstandes im hohen Maß anerkannt. Hätten wir nur recht viele solche Geistliche, wir würden die von Lessing gestatteten Lustspiele von Geistlichen gern entbehren. Das ist aber das Charakteristische aller dieser Männer, daß sie nicht kluge Rezepte für die Volkswohlfahrt ersannen, die sie dem Apotheker Staat wohlmeinend oder energisch fordernd zur Dispensierung überreicht haben, sondern daß sie selbst ohne viel Kritik anderer durch Einsatz der Persönlichkeit etwas Großes geleistet haben. „Ja, wenn er’s kann.“ Nur möchte ich dies Wenn besonders unterstreichen. Es ist nicht bloß Gefahr geblieben, sondern ist tatsächlich geschehen – exempla sunt in promptu – daß einzelne Geistliche große wirtschaftliche Unternehmungen zum gemeinen Besten in der redlichsten, selbstlosen Gesinnung eingeleitet haben, die dann gescheitert sind. Darum auf diese zweite Frage nur ein bedingtes Ja. Jeder prüfe sich ernst, ob er wirklich Gaben, Kräfte, Beruf zu solcher Arbeit hat. Dann aber sei jeder gesegnet, der etwas beiträgt zur Hebung sozialer Not. 3. Zuletzt die wichtigste Frage: Darf ein Geistlicher als Sozialpolitiker tätig sein. Das Nein das ich darauf als Antwort gebe ist nicht etwa bedingt durch das erste Charakteristikum des Sozialpolitischen, sondern durch das Politische überhaupt. Ich könnte ebensogut die Frage stellen: Darf ein Geistlicher als Politiker tätig sein. Auch hier gilt es zunächst Mißverständnisse zu beseitigen, die arge Verwirrung angerichtet haben und noch immer anrichten. Man hört oft die Rede: „Wollt ihr dem Geistlichen die politische Tätigkeit in inniger Verbindung mit seinem Beruf versagen, so löst ihr ihn los von dem gesamten nationalen Empfinden und Leben des Volkes und isoliert ihn auf eine einsame Höhe.“ Wie könnte der Geistliche schweigen von dem, was die Volksseele bewegt? Haben nicht die Geistlichen selbstverständlich in den Zeiten der Kriege, die wir in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts durchlebt haben, mit Recht in ihren Predigten und in patriotischen Reden dem Ausdruck gegeben, was auf politischen Gebiete unser Volk durchlebte? Ich bitte aber doch reinlich und klar zu unterscheiden, was dem nationalen, patriotischen, vaterländischen Empfinden und was der Politik angehört. Nationaler Sinn, Patriotismus, Vaterlandsliebe sind Tugenden, die jeden beseelen sollen, Politik dagegen ist eine Kunstlehre, ist die Theorie von der rechten 859

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Gestaltung des staatlichen Lebens auf Grund der historischen Entwicklung und in Rücksicht auf die tatsächlich bestehenden Verhältnisse. Ich habe mit Freuden so manche patriotische aus nationalen Erlebnissen geborene Rede gehalten. Niemals habe ich, auch als ich zu den Volkmassen am 80. Geburtstag Bismarcks und bei der Zentenarfeier Kaiser Wilhelms auf unserem Markte reden durfte, das Bewußtsein gehabt, daß ich unter die Politiker gegangen sei. Ein zweites Mißverständnis möchte ich beseitigen, als ob dem Geistlichen die staatsbürgerlichen Rechte, die ihm wie jedem anderen zugehören, irgendwie geschmälert werden sollen. Selbstverständlich bleibt ihm das volle Recht eigner politischer Überzeugung und das Recht diese Überzeugung auch zu vertreten, wo es nötig ist. Um was es sich unter den gegenwärtigen konkreten Verhältnissen handelt, ist doch allein, ob er mit seinem Amte als Geistlicher zugleich sozialpolitische oder überhaupt politische Tätigkeit und Agitation in der Öffentlichkeit verbinden kann, ohne sein Amtswirken zu schädigen. Ich sage ausdrücklich zunächst ganz im allgemeinen politische Tätigkeit und Agitation. Während in Süddeutschland der politische und der kirchliche Standpunkt eines Mannes durchaus als getrennte Faktoren angesehen werden, von denen keiner von dem andern abhängig ist, ist zumal in Preußen schon lange Zeit die bestimmte politische und kirchliche Parteistellung als unlösbar mit einander verbunden betrachtet worden, so daß von der einen ohne weiteres auf die andere geschlossen wurde. Es galt Jahrzehntelang als selbstverständlich, daß jeder gewissenhafte Geistliche auch für die Politik der Kreuzzeitung eintreten müsse, und bei den Landtagswahlen wurden die Geistlichen nicht nur als die wichtigsten Werkzeuge für gesinnungstüchtige Wahlen angesehen, sondern bildeten stets auch das Hauptkontingent der konservativen Wahlmänner ländlicher Bevölkerung. Wie viel Schaden ist dadurch erwachsen, daß vielfach die Kirche zur geistlichen Polizeimacht herabgewürdigt wurde! Wie viel Mißtrauen gegen die Kirche ist dadurch gesäet worden, weil der christliche Glaube angesehen wurde als das beste Mittel zu dem „quieta non movere“ auf politischem Gebiet! Das Wort Carlyles gilt auch mutatis mutandis für heimische Verhältnisse jener Jahre: „Denke dir einen Menschen, der seinen Mitmenschen empfiehlt an Gott zu glauben, damit der Chartismus ins Hintertreffen komme und die Arbeiter in Manchester ruhig an ihren Spinnmaschinen bleiben … Ebensogut würde ich mir einfallen lassen, Milchstraßen und Sonnensysteme als Wegweiser für kleine Heringsschiffe zu schaffen, als Religion zu predigen, damit der Konstabler möglich bleibe.“ Und eine bittere Wahrheit auch für deutschen Boden enthält das Wort Kingsleys: Die oberen Klassen seien schuld, daß die Chartisten den christlichen Glauben verloren hätten, weil man die Bibel mißbraucht habe, „als Leitfaden für Polizeidiener, eine Dosis Opium für Lastträger, ein Buch, um die Armen in Ordnung zu halten.“ Aber wird aus dem Unrecht solcher politischer Pastoren etwa ein Recht, wenn sie statt konservative, vielmehr sozialpolitische Stimmführer und Agitatoren werden, wenn sie anstatt für die oberen Stände, vielmehr Partei für die unteren Stände ergreifen, um der Sozialdemokratie ein Paroli zu bieten? Die Sozialdemokratie, das lehrt doch die bisherige Entwicklung, lehrt jede sozialdemokratische Zeitung, sieht alle christliche Sozialpolitik nur als ein vergebliches Liebeswerben 860

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an und quittiert darüber mit Verachtung und Spott. Nicht auf dem Umweg von Konzessionen auf sozialpolitischem Gebiet gewinnt man die Sozialdemokraten für den christlichen Glauben, sondern nur wenn man den Weg findet unmittelbar an ihr Herz und Gewissen durch persönliches Wirken. Es ist oft geradezu das Verlangen gestellt worden, daß die Theologen auf der Universität in unserer Zeit auch Nationalökonomie studieren müßten. Als wenn das in den 3–4 Jahren des Studiums neben dem eigentlichen Fachstudium möglich wäre! Das heißt den Dilettantismus, der sich ein maßgebendes Urteil zuschreibt, züchten. Ich glaube, daß wir in unserer Leipziger Studienordnung, die wir jedem Theologen überreichen lassen, das Richtige getroffen haben, wenn wir sagen: „Die Bedeutung der sozialen Fragen in der Gegenwart macht es erwünscht, daß der künftige Geistliche sich über die wichtigsten sozialen Aufgaben der Gegenwart unterrichtet. Es sind darum allgemeine orientierende Vorlesungen z. B. über Sozialpolitik zu empfehlen. Dagegen ist von dem eigentlichen Studium der Nationalökonomie neben der theologischen Berufsausbildung abzuraten, da dasselbe bei dem Umfang des Gebietes und der Tragweite der betreffenden Fragen doch nur zu einem unfruchtbaren und gerade hier bedenklichen Dilettantismus führen kann.“ „Aber“, kann man mir zuletzt zurufen, „bist du nicht inkonsequent? Du hast mit voller Entschiedenheit das Lessingsche Wort: ,Ja, wenn er’s kann!‘ dir zu eigen gemacht. Muß es nicht auch gelten für den Geistlichen, der wirklich mit reichen Gaben dazu ausgestattet und durch sein Gewissen dazu getrieben, als Sozialpolitiker auftritt und vielleicht eine führende Rolle übernimmt?“ Gewiß, es gilt hier wie dort, nur mit dem Unterschied, daß ein solcher Geistlicher, wenn er es wirklich ernst nimmt, notwendig gar bald sich vor die Entscheidung gestellt sehen muß, zwischen seiner pfarramtlichen und seiner sozialpolitischen Tätigkeit zu wählen, weil beides zusammen auf die Dauer sich schlechterdings nicht verträgt. Der Geistliche gehört seiner gesamten Gemeinde an, und, wie wir schon sagten, darf er nie die Interessen eines einzelnen Standes gegenüber den anderen vertreten. Der Großgrundbesitzer, der Großkaufmann, der Großindustrielle kann ebenso wie der geringste Arbeiter verlangen, daß der Geistliche, der Seelsorger der Mann seines Vertrauens ist. Das ist er aber nicht mehr, wenn er als sozialpolitischer Parteiführer in dem Klassenkampfe unserer Zeit gegen die Vertreter dieser Stände als entschiedener Gegner auftritt. Niemand hat die Unmöglichkeit beide Aufgaben miteinander zu vereinigen, klarer erkannt und überzeugender ausgesprochen als Friedrich Naumann und Paul Göhre, die aus dem Pfarramt freiwillig ausgeschieden sind, wie auch Stöcker, Wenck in Baden, Wittenberg, Blumhardt u. a. aus gleichen Gründen das Pfarramt niedergelegt haben. Die evangelischen Arbeitervereine haben die Entwicklung durchgemacht, daß sie fast durchgehends außer den religiös-sittlich-patriotischen Zwecken, die sie ursprünglich allein verfolgten, heute auch die wirtschaftliche Verbesserung ihrer Verhältnisse erstreben, und kein Verständiger wird ihnen als Arbeitervereinen das verdenken. Es ist dies eine durchaus innerlich berechtigte Entwicklung. Dadurch sind aber die Geistlichen, die vielfach bisher die Vorsitzenden der evangelischen Arbeitervereine gewesen sind und sich darin zweifellos große Verdienste erworben haben, in eine 861

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schlimme Lage gebracht. Es ist wiederum eine durchaus gesunde Entwicklung, wenn das bereits von gutem Erfolg begleitete Bestreben erwacht ist, aus der Arbeiterwelt selbst geschulte Kräfte heranzubilden, die an Stelle der Geistlichen in den genannten Vereinen den Vorsitz übernehmen, und dadurch die Geistlichen vor einer Verquickung ihrer Wirksamkeit mit wirtschaftlichen Fragen bewahrt werden. Ich schließe, so viel auch noch gesagt werden könnte. Nicht nur für die Theologie Studierenden und ihr künftiges Berufsleben hat das Gesagte Bedeutung. Darum an euch alle zuletzt ein kurzes Wort, Kommilitonen! Es ist eine hocherfreuliche Erscheinung, daß die akademische Jugend unserer Tage erfüllt ist von nationaler Begeisterung, von idealen Interessen inmitten der mannigfaltigen Erscheinungen, die in unserem Volksleben mit einander ringen und unserer Zeit das Gepräge geben. Gott behüte unsre akademische Jugend vor materiellem Sinn, der keine Ideale kennt, er bewahre sie auch vor einer bornierten Gelehrsamkeit, die kein anderes Interesse kennt als den engumkränzten Kreis der Spezialwissenschaft, er bewahre sie vor einem oberflächlichen Strebertum, das nur daran denkt, im Examen dereinst zu glänzen. Solche werden niemals Fühlung mit der Volksseele erlangen. Aber gerade in unserer von so vielseitigen Interessen und Fragen bewegten Zeit ist auf der anderen Seite die große Gefahr der Zersplitterung, der Zerfahrenheit, des Dilettantismus vorhanden. Kommilitonen! In unserer großen Halle grüßt euch im hohen Bogen das Wort des Manilius: „Omnia conando docilis sollertia vincit.“ Das Wort enthält eine Lebensweisheit, wenn ihr es recht versteht und richtig übersetzt. Die „sollertia“ ist die Begabung, die jeder mitbringt ohne Verdienst; so groß sie auch ist, für sich allein besteht sie zunächst nur aus Nullen. Nur wenn sie „docilis“ d. h. „für die Lehre empfänglich, erschlossen“ ist, und wenn das „conari“, die Initiative des eigenen Handelns dazukommt, tritt die Eins vor die Nullen der „sollertia“ und macht sie je nach ihrem Maß zur 10, zur 100, zur 1000. Aber nun versteht auch das erste Wort des Spruchs recht. Das „omnia“ am Anfang gehört zu dem „vincit“ am Ende, nicht zu dem „conando“. Nicht dem, der alles versucht und alles mögliche unternimmt, von einem zum andern tappt und überall kostet, ist der Sieg verheißen, sondern der allein überwindet alles, auch die größten Hemmnisse, der mit frischem Wagemut im Einsatz der gesamten Persönlichkeit die besondere Aufgabe in Angriff nimmt, die er sich im künftigen Beruf erwählt hat. In der Sammlung der Kräfte auf das eine Ziel liegt die Gewähr des Sieges; Konzentration ist das Geheimnis der Stärke. Wir sollen nicht ein Vielerlei, sondern ein Ganzes werden. Fürchtet nicht dadurch einseitig zu werden. Nur durch diesen inneren Halt an dem eigentlichen Schwerpunkt eurer Berufspflicht erlangt ihr den offenen klaren Blick für alles Große und Wertvolle, was das Leben bietet, ohne euch selbst zu verlieren, erlangt ihr die Kraft alles nutzbar zu machen fürs Leben, euch selbst und andern zum Segen. ***

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31. Oktober 1905. Rede des abtretenden Rektors D. Georg Rietschel. Bericht über das Studienjahr 1904/05. Hochansehnliche Versammlung! Der Beginn des Universitätsjahres, über das ich heute zu berichten die Ehre habe, stand unter dem Zeichen der tiefsten Trauer des gesamten Landes, und insbesondere unserer Universität. Wenige Tage zuvor hatte sich die Gruft über dem Sarg des nach schweren Leiden heimgerufenen Königs Georg, des zweiten Rector magnificentissimus unserer Universität, geschlossen. Es war eine der ersten Aufgaben, die dem neuen Rektor zufiel, den noch vor Ablauf des vorigen Universitätsjahres gefaßten Beschluß des Senats zur Ausführung zu bringen und Sr. Majestät König Friedrich August, der als der erste Prinz unseres Königshauses unser Bürger gewesen war, die untertänigste Bitte vorzutragen, die Würde eines Rector magnificentissimus anzunehmen. In feierlicher Audienz empfing Se. Majestät am 9. November den Rektor und die Dekane und erfüllten mit dem Ausdrucke herzlicher Freude und mit der Versicherung des warmen Interesses für die Universität das Gesuch des Senats, stellten auch das baldige Kommen nach Leipzig in Aussicht. In den Tagen vom 13.–17. Februar durften Stadt und Universität sich der Anwesenheit Sr. Majestät erfreuen. Insbesondere durften am 15. Februar der gesamte Lehrkörper vereint mit der Studentenschaft ihren Rector magnificentissimus in der Wandelhalle feierlich begrüßen, worauf Se. Majestät an diesem und den beiden folgenden Tagen die Vorlesungen des Prorektors und der vier Dekane mit seiner Gegenwart beehrten, überall von der begeisterten Studentenschaft freudig begrüßt. Der Höhepunkt der festlichen Tage war der Abend des 15. Februar, an dem die Studentenschaft dem Rector magnificentissimus durch einen trefflich gelungenen Fackelzug huldigte und sodann in der Zahl von 2000 mit allerhöchstdemselben zu einem festlichen Kommers im Saale des Zoologischen Gartens sich vereinte, bei dem Se. Majestät in Erinnerung an seine Universitätszeit herzgewinnende Worte an die ihm zujubelnden Kommilitonen richtete. Am 25. Mai feierte die Universität den Geburtstag Sr. Majestät, wobei der Prorektor die Festrede hielt. Auch das vergangene Jahr gibt Zeugnis von der erneuten Fürsorge der Königlichen Regierung und der Landstände, die keine Opfer scheuen, wo es gilt, neue Arbeitsstätten für die Wissenschaft zu schaffen und auszustatten. Der mit Beginn des vorigen Wintersemesters in Benutzung genommene Neubau des Physikalischen Instituts an der Linnéstraße ist am 8. Juli 1905 eingeweiht worden. Der im Juli 1903 begonnene Neubau eines Pathologischen Instituts und eines Instituts für gerichtliche Medizin an der Ecke der Liebigstraße und Johannisallee ist 863

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soweit fertiggestellt, daß das letztgenannte Institut mit Beginn des gegenwärtigen Semesters die neuen Räume beziehen konnte und die Übersiedelung des Pathologischen Instituts alsbald erfolgen wird. Bei dem im Frühjahr dieses Jahres begonnenen Neubau eines Hörsaales bei der Psychiatrischen und Nervenklinik sind gegenwärtig die inneren Ausbauarbeiten im Gange und wird das Gebäude voraussichtlich zu Beginn des Sommerhalbjahres 1906 seiner Bestimmung übergeben werden können. Der beim Beginn des laufenden Jahres in Angriff genommene Umbau des alten Physikalischen Instituts-Gebäudes an der Liebigstraße für Zwecke des mathematischen Unterrichts zur Erweiterung der Räume des Palaeontologischen und Zoologischen Instituts ist beendet, und konnte das Mathematische Institut bereits zu Beginn des Sommer-Semesters 1905 die überwiesenen neuen Räume in Gebrauch nehmen. Die vom Mathematischen Institute seither benutzten Räume Ritterstraße 24 wurden dem neu errichteten unter der Leitung des Professor Stieda stehenden Volkswirtschaftlichen Seminare überwiesen. Für die Beschaffung einer Bibliothek in demselben ist von früheren Zuhörern und Schülern des Professor Stieda die Summe von 1600 Mk. zur Verfügung gestellt worden. Die ehemalige Dienstwohnung für den Direktor des Physikalischen Institutes wurde auf den Antrag der Direktoren des Zoologischen und des Palaeontologischen Institutes teils zur Unterbringung der Anthropologischen Sammlungen hergerichtet, teils diente sie zur Vermehrung der Palaeontologischen Sammlungs- und Arbeitsräume. Mit dieser Erweiterung ging eine den Ansprüchen der Gegenwart Rechnung tragende Neugestaltung des bisherigen Institutes Hand in Hand. Die Anthropologischen Sammlungen haben in einem hellen Saale Aufstellung gefunden, welcher aus den nach Westen gelegenen früheren Wohnräumen gewonnen wurde. Drei anschließende, nach Norden gelegene Zimmer dienen in erster Linie als Arbeitsräume für meist von auswärts kommende Gelehrte, welche die Sammlungen für Schädelmessungen benutzen. Der Umbau des Roten Kollegs, Goethestr. 7, ist Ostern d. J. beendet und das Gebäude bezogen worden. Der Haasestiftung ist die Genehmigung zur Erwerbung eines geeigneten großen Areals auf der Marienhöhe zur Erbauung von Wohnhäusern für die Universitätsbeamten von der Königlichen Regierung erteilt worden. Mancherlei wertvolle Stiftungen und Geschenke sind auch im letzten Jahre der Universität zu teil geworden. Nochmals müssen wir, wie schon in früheren Berichten, der Puschmann-Stiftung gedenken, die mit rund einer halben Million Grundkapital in diesem Jahre ihre Tätigkeit hat beginnen dürfen. Sie dient nach dem letzten Willen des Stifters der Förderung wissenschaftlicher Arbeiten auf dem Gebiete der Geschichte der Medizin und will durch Anregung und Subventionierung solcher Arbeiten, durch Errichtung eines besonderen Lehrstuhls für Geschichte der Medizin und durch Beschaffung der wissenschaftlichen Hilfsmittel für diese Disziplin dies Ziel erreichen. Dadurch hat unsere Universität den hohen Vorzug, vor vielen Universitäten nicht nur einen 864

Jahresbericht 1904/05

besonderen Lehrstuhl für diese bedeutsame Disziplin zu besitzen, sondern auch der Mittelpunkt aller auf dieses Gebiet sich erstreckenden Forschungen innerhalb Deutschlands zu sein. Die Bedeutung dieser Stiftung hat sich schon in diesem Jahre durch die Menge höchst beachtenswerter Gesuche, die an sie gerichtet wurden, gezeigt. Eine bedeutsame Schenkung erhielt die Universität dadurch, daß die von Herrn Domherrn Dr. jur. Baumgärtner der Kgl. Regierung übergebenen sieben Preller’schen Wandgemälde zur Odyssee aus dem zum Abbruch gelangten sog. Römischen Haus auf eine an Se. Majestät den König übersandte Immediateingabe des Senats der Universität mit Einwilligung des Schenkgebers zur Unterbringung in dem Treppenhaus der Universitätsbibliothek überlassen wurde. Leider ist die Anbringung an den in Aussicht genommenen Wänden in letzter Stunde, besonders infolge von Bedenken, die innerhalb des Ministeriums des Kultus entstanden sind, vorläufig wieder in Frage gestellt, so daß die Angelegenheit noch ihrer endlichen, hoffentlich günstigen Erledigung harrt. Als eine treffliche Ergänzung der im Besitz der Universität befindlichen Goethesammlung erhielt die Universität in diesem Jubiläumsjahr Schillers eine 451 Werke in 635 Bänden umfassende Schillerbibliothek, deren Hauptwert in den äußerst zahlreich vertretenen Originaldrucken der Werke Schillers liegt. Der Besitzer dieser Sammlung, Herr Verlagsbuchhändler Otto Dürr, hatte die Absicht gehabt, sie am Tage der Schillerfeier selbst als Geschenk der Universität zu übermitteln. Schon am 12. Januar dieses Jahres wurde er durch den Tod abgerufen. Er hat aber wenige Tage vor seinem Ende seiner Gattin diesen seinen dahin gerichteten Willen mitgeteilt, und ist uns durch die hinterlassene Witwe die Schenkung gütigst übermittelt worden, die nun als „Otto Dürrs Schiller-Bibliothek“ in denselben Räumen, in denen die Goethesammlung sich befindet, ihre Stätte gefunden hat. Die Universität bleibt dem edlen Schenkgeber zu dauerndem Dank verpflichtet. Durch die Universität empfing die Bibliothek von Frau Sermonda Henniker Heaton in London ein von deren verstorbener Mutter Frau Mary Burell verfaßtes Prachtwerk über Richard Wagner (1813–1834), das in nur 100 Exemplaren hergestellt worden ist. Von der Forstakademie in Tharandt wurden der Universitätsbibliothek 1269 Bände, darunter mehrere Zeitschriftenreihen geschenkt. Von Herrn Professor Kirchner in Chemnitz wurden der Bibliothek 76 handschriftliche Briefe von Christian Felix Weiße übermittelt. Herr Privatmann Dr. Karl Günther errichtete zur Ehre des Andenkens seines am 30. August 1850 hier verstorbenen Vaters, des außerordentlichen Professors an hiesiger Universität K. S. Justizrats Dr. Ernst Friedrich Günther mit einem Kapitale von 5000 M. die Dr. Ernst Friedrich Günther-Stiftung für Studierende. Von der im Jahre 1894 verstorbenen Frau Landgerichtsdirektor Dr. Schill geb. Pöppig war eine Pöppig-Stiftung in Höhe von 30 000 M. zur Unterstützung verwaister bedürftiger Professorentöchter bestimmt worden, die aber erst nach dem Tode ihres Gatten ins Leben treten sollte. In hochherziger Weise hat aber der Witwer, Herr Geh. Justizrat Dr. Schill in Dresden bereits jetzt die gesamte Summe zur 865

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Disposition gestellt, so daß von diesem Jahre an nach der Bestimmung der Erblasserin für drei verwaiste Professorentöchter die segensreiche Stiftung wirksam werden konnte. Dem Archäologischen Institut ermöglichten die Herren Verlagsbuchhändler Fritz Baedeker, Hofrat Hermann Credner, Dr. Alfred Giesecke und Arthur Seemann durch namhafte Beiträge den Ankauf von zwei römischen Porträtgemälden aus der bekannten Sammlung von Theodor Graf in Wien. Noch möchte ich dankbar erwähnen, daß, den Stiftungen ähnlich, seit mehreren Jahrzehnten in jedem Semester der hiesige Hessenverein einen Beitrag von 50 und mehr Mark zu den von den Professoren gegründeten Freitischen beiträgt. Allen den edlen Spendern sei der herzlichste Dank der Universität ausgesprochen. Ein besonderer Festtag wurde, wie dem gesamten deutschen Volke, so auch der Universität am 9. Mai in der 100jährigen Todesfeier Schillers geschenkt. Diesmal war die Wandelhalle als Ort der Universitätsfeier ausersehen, da die Aula als zu beschränkt erschien. Durch die Munifizenz der Königl. Regierung konnte die akustisch durchaus ungünstige Wandelhalle mittelst Bekleidung der Säulen und Brüstungen zu einem Raum von trefflicher Akustik gewandelt werden, so daß dieser Versuch eine gute Vorprobe für die Benutzung der Wandelhalle bei der kommenden Jubelfeier im Jahre 1909 ergeben hat. Bei der Feier, die durch die Gegenwart Sr. Exzellenz des Herrn Staatsministers D. Dr. von Seydewitz ausgezeichnet wurde, hielt Professor Köster die Festrede. Eine Feier intimerer Art vollzog sich am 24. Januar in dem Hörsaal für Chemie, als die Marmorbüste unseres Wislicenus, von der Hand Seffners geschaffen und von ehemaligen Schülern gestiftet, zur Aufstellung in dem betreffenden Raume übergeben und von dem Nachfolger, Professor Hantzsch, mit warmen Worten des Gedenkens übernommen wurde. Die beiden Söhne des Heimgegangenen wohnten der Feier bei. Von außerhalb der Universität erfolgenden Festfeiern, an denen sie Anteil nahm, sind zu nennen: die Eröffnung der Neubauten der technischen Hochschule in Dresden in den Tagen vom 27. bis 29. Mai und die Einweihungsfeier des neuen Rathauses unserer Stadt. Bei der ersteren brachte der Rektor die Glückwünsche der Universität dar, bei der letzteren überreichte der Rektor mit den vier Dekanen ein von Professor Honegger künstlerisch ausgeführtes Glückwunschschreiben der Universität in einer reich geschmückten Mappe. Was die Veränderungen im Personalbestande unseres Lehrkörpers betrifft, so haben wir auch dieses Jahr Verluste, die der Tod uns gebracht hat, zu beklagen. Am 8. Juni starb nach längerem Leiden der ordentliche Professor der alten Geschichte und klassischen Philologie Geheimer Hofrat Dr. Kurt Wachsmuth. Die Universität verlor in ihm den Gelehrten mit dem weiten Blick, der wie kein anderer in unserer Zeit den Historiker und Philologen auf dem Boden der antiken Welt vereinigte und auf dem Gebiete der Quellenkunde und Topographie Werke von bleibender Bedeutung geschaffen hat; sie verlor den Lehrer von unermüdlicher Arbeitskraft und Energie, der seine Schüler mit kundiger Hand auf dem Gebiete der Wissenschaft zu leiten und zu selbständigen Arbeiten anzuregen verstand. In ihm schied 866

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von uns der Kollege, dessen vornehme, geschlossene, innerlich reiche und edle Persönlichkeit von allen hoch geachtet und verehrt wurde und denen lieb und teuer war, denen er nahe trat. Sein stets das Sachliche von dem Persönlichen streng scheidender Rat hat in seiner Fakultät stets viel gegolten, und sein Rektorjahr, das vor sieben Jahren abschloß, steht in dankbarer Erinnerung. Am 25. August starb zu Steinach in Tirol der außerordentliche Professor in der philosophischen Fakultät, Dr. ph. Artur Schneider. Sein Arbeitsgebiet war die klassische Archäologie und insbesondere die Topographie Roms. Es ist ihm, dem frühzeitig durch den Tod Abgerufenen, nicht vergönnt gewesen, das hohe Ziel, das er mit Begeisterung und ernstem Streben als treuer Diener seines Berufs stets im Auge behielt, zu erreichen. Am 22. November 1904 starb der Privatdozent der medizinischen Fakultät, Dr. Oswald Naumann. Mit trefflichen Kenntnissen für seinen Beruf ausgestattet, ist er durch zunehmende Kränklichkeit stets gehemmt und in langen Jahren durchaus gehindert gewesen, seiner akademischen Tätigkeit zu entsprechen, so daß ein von ernstem Streben erfülltes, aber entsagungsvolles Leben durch den Tod seinen Abschluß gefunden hat. Außer durch den Tod haben wir in diesem Jahre keinen der Ordinarien verloren. Es wurde aber aus der juristischen Fakultät der außerordentliche Professor Dr. Albrecht Mendelssohn-Bartholdy als ordentlicher Professor nach Würzburg berufen. Aus der medizinischen Fakultät wurden berufen der außerordentliche Professor Dr. Rudolf Fick als ordentlicher Professor der Anatomie an die deutsche Universität Prag, der außerordentlicher Professor Dr. Hans Päßler als Oberarzt an das Stadtkrankenhaus in Dresden, der außerordentliche Professor Dr. Franz Bruno Hofmann als ordentlicher Professor der Physiologie nach Innsbruck, der Privatdozent Dr. Wilhelm Straub als außerordentlicher Professor an das pharmakologische Institut nach Marburg. Die besten Wünsche für ihren Wirkungskreis in der neuen Heimat geleiten die von uns Geschiedenen. Wir hoffen, daß sie auch unserer Universität und ihren Gliedern freundlich auch fernerhin verbunden bleiben. Neue Kräfte wurden für unseren Lehrkörper gewonnen. An die Stelle unseres heimgegangenen Ratzel wurde Professor Dr. Josef Partsch aus Breslau berufen, der im Sommerhalbjahr seine Lehrtätigkeit antrat. An Stelle unseres in den Ruhestand getretenen Kollegen Degenkolb hat in diesem Halbjahr sein Nachfolger, Professor Dr. Ernst Jäger aus Würzburg, das Lehramt übernommen. Zu Ostern begann übrigens auch der bereits im August vorigen Jahres berufene ordentliche Professor der Mathematik Dr. Karl Rohn seine Lehrtätigkeit. Auf den durch die vorhin genannte Puschmann-Stiftung neu errichteten Lehrstuhl für Geschichte der Medizin wurde als etatsmäßiger außerordentlicher Professor der Kgl. Preußische Sanitätsrat Professor Dr. Karl Sudhoff in Hochdahl bei Düsseldorf berufen und hat derselbe in diesem Semester sein Lehramt angetreten. Wir begrüßen diese neuen Kollegen auf das herzlichste und wünschen ihnen wie uns, daß ihnen in unserer Mitte eine lange und gesegnete Wirksamkeit beschieden sein möge. 867

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Zum etatmäßigen außerordentlichen Professor des internationalen Rechts wurde in der juristischen Fakultät Professor Dr. Ludwig Beer ernannt. Zu außeretatmäßigen außerordentlichen Professoren wurden ernannt in der medizinischen Fakultät die Privatdozenten Dr. Dr. Siegfried Garten, Karl Hirsch und Heinrich Braun, in der philosophischen Fakultät die Privatdozenten Dr. Dr. Heinrich Liebmann, Franz Eulenburg, Rudolf Kötzschke und Franz Heinrich Weißbach. Zu unserer Freude hat sich auch in diesem Jahr die stattliche Zahl von 15 Privatdozenten habilitiert, und zwar in der theologischen Fakultät: Lic. Dr. Alfred Jeremias, Pfarrer der Lutherkirche hier für Religionsgeschichte, Lic. Dr. Heinrich Hoffmann und Lic. Dr. Johannes Leipoldt, beide für Kirchengeschichte; in der juristischen Fakultät Dr. jur. Hans Fehr und Dr. jur. et phil. Hans Reichel; in der medizinischen Fakultät die Dr. Dr. Hans Steinert, Assistent an der medizinischen Klinik und Dr. Felix Skutsch, früher außerordentlicher Professor an der Universität Jena; in der philosophischen Fakultät die Dr. Dr. Ottomar Dittrich für allgemeine Sprachwissenschaften, Georg Lockemann für Chemie, Hermann Scholl für Physik, Gustav Heller für Chemie, Hermann Schneider für Philosophie, Ernst Deußen für Chemie, Felix Löhnis für Landwirtschaft, Karl Drucker für allgemeine und physikalische Chemie. Unsere besten Segenswünsche begleiten die neuen Kollegen auf der betretenen Bahn. Die Doktorwürde honoris causa wurde in diesem Jahre dreimal verliehen, und zwar in der juristischen Fakultät dem Herrn Geheimen Rat, Ministerialdirektor Bruno Viktor Jahr und dem Herrn Oberlandesgerichtspräsidenten August Julius Loßnitzer, beide in Dresden, in der philosophischen Fakultät Herrn Oberbürgermeister Dr. Bruno Tröndlin hier. Die theologische Fakultät ernannte zum Lic. th. honoris causa die Herren Pastor und Professor Albert Hofstätter und Pfarrer Dr. phil. Alfred Jeremias hier. Rite promovierte die theologische Fakultät zu Lizentiaten fünf Bewerber; zu Doktoren die juristische 192, die medizinische 132, die philosophische 152 Kandidaten. Bei fünf goldenen Doktorjubiläen, die sämtlich der philosophischen Fakultät angehörten, konnten durch die Diplomerneuerung die alten Bande neu gefestigt werden. Bei dieser Gelegenheit sei auch des fünfzigjährigen Jubiläums des Berliner Dr. jur. Degenkolb gedacht, den Rektor und Dekane persönlich begrüßen durften, zum Zeugnis, daß wir ihn den in den Ruhestand getretenen nach wie vor als den unseren betrachten. Betreffs der Veränderungen im Beamtenpersonal sei mitgeteilt, daß die durch den Tod des ersten Pedell Gustav Starke im vorigen Rektoratsjahr freigewordene Stelle durch Aufrücken der drei verbleibenden Pedelle und durch Anstellung des Feldwebel Richard Strödicke als Hilfspedell und Gerichtsdiener besetzt wurde, und daß Walter Leipnitz als Hilfsexpedient am 1. September angestellt wurde. Ich komme auf den wichtigsten Teil unseres Universitätslebens, unsere Studentenschaft. Dreizehn ihrer Glieder wurden uns durch den Tod entrissen, viele Hoffnungen von Eltern und Freunden sind mit ihnen zu Grabe getragen worden. Außer diesen schmerzlichen Erinnerungen gehört der Verkehr mit unseren Studenten, mit ihren 868

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Korporationen, mit dem allgemeinen Studenten-Ausschuß zu dem erfreulichsten Gewinn meines Rektorjahrs. An Leben und Bewegung innerhalb unserer Studentenschaft hat es wahrlich nicht gefehlt. Wie konnte es anders sein, als daß die Erregung, die durch die preußischen Hochschulen zur Wahrung der akademischen Freiheit flutete, auch in unsere Studentenschaft ihre Wellenkreise schlug. Zwar stand Leipzig und steht auch heute glücklicherweise vollständig unberührt außerhalb dieser Frage, da unsre Regierung sich von jedem Eingriff in die innerhalb der Grenzen der Universitätsgesetze sich frei entfaltende Lebensbetätigung der Studentenschaft fernhält, und Rektor, wie Senat der Überzeugung leben, daß die freie Gestaltung des studentischen Lebens und das Selbstbestimmungsrecht der Studenten in ihren eigenen Angelegenheiten zur Wahrung ihrer Interessen zu den wohlerworbenen Rechten der deutschen Studentenschaft gehören. Aber es war begreiflich, daß auch die Leipziger Studenten Schulter an Schulter mit den Kommilitonen preußischer Universitäten stehen wollten, darum auch bei den Beratungen während der Pfingstwoche in Eisenach und später in Weimar tätigen Anteil nahmen und dem in Eisenach begründeten Verband deutscher Hochschulen beitraten. Es muß aber gerade den Leipziger Vertretern an den beiden genannten Versammlungen, wie auch dem hiesigen allgemeinen Studentenausschuß und nicht minder sämtlichen Korporationen ohne Unterschied das ehrende Zeugnis gegeben werden, daß sie wohl einmütig mit der gesamten deutschen Studentenschaft das Recht der akademischen Freiheit gewahrt haben, daß sie aber im Unterschied von vielen anderen Hochschulen in den besonderen konkreten Fragen ein großes Maß Besonnenheit und Gerechtigkeit gerade zur Wahrung des Gutes der akademischen Freiheit bewiesen haben, so daß der Zusammenhalt aller studentischen Korporationen, wie er in unserem allgemeinen Studentenausschuß besteht, erhalten geblieben ist und hoffentlich erhalten bleiben wird. Allerdings hat es auch in diesem Jahre an mancherlei Reibungsflächen unter der Studentenschaft nach ihren verschiedenen Gruppierungen nicht gefehlt. Das kann niemandem verwunderlich erscheinen, der die Eigenart deutschen Studententums kennt, der weiß, wie zartbesaitet der Organismus der verschiedenen Korporationen bei Vertretung ihrer Prinzipien ist. Das schadet auch nichts, wenn nur wenigstens zuletzt, wie es auch bei uns geschehen ist, auch auf diesem geistigen Gebiete sich das physikalische Gesetz bewährt, daß eine gelinde Reibung eine angenehme Temperatur hervorruft. Daß ich als Rektor, nicht etwa durch autoritative Eingriffe von oben, aber als freiwillig angerufener Berater mannigfach mithelfen durfte, daß dabei ein Band des Vertrauens Rektor und Studentenschaft zusammenhielt, ist mir ein Gewinn, den ich dankbar in der Erinnerung an mein Rektorjahr bewahre. Schwerere Disziplinarfälle kamen glücklicherweise im vergangenen Jahre nicht vor. Doch beweisen die 67 Studenten, die 213 Tage, darunter einer 14 und zwei 11 Tage Karzerstrafen verbüßen mußten, daß die betreffenden Räume für eine anderweite erfreulichere Verwendung noch nicht verfügbar sind. Was die Frequenz der Universität betrifft, so hatte sie am 30. Oktober vorigen Jahres die Höhe von 3664 erreicht und stieg nach dem 31. Oktober noch auf 3880, die höchste Ziffer, die je erreicht worden war. Diese letztgenannte Ziffer ist aber 869

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bereits am gestrigen 30. Oktober weit überholt. Wir haben gestern schon das vierte Tausend um drei überschritten, so daß wir heute schon 339 mehr Studenten als am letztvergangenen 30. Oktober zählen. Unter den bis heute Immatrikulierten befinden sich 315 Theologen [am selben Tag des Vorjahres 284], 1130 [1131] Juristen, 421 [399] Mediziner, 2092 [1806] Philosophen. Schließlich ist noch das Ergebnis der Preisarbeiten mitzuteilen: Auf die von der theologischen Fakultät ausgeschriebene Aufgabe ist leider keine Preisarbeit eingegangen. Die Aufgabe der juristischen Fakultät hat sechs Bewerber gefunden. Von ihnen konnte der erste Preis der Arbeit mit dem Motto: „Homo sum: humani nihil a me alienum puto“ zuerkannt werden. Als Verfasser ergab sich stud. jur. Otto Rauth aus Leipzig. Der zweite Preis wurde der Arbeit mit dem Motto: „Esse potius, quam videri“ erteilt, deren Verfasser der stud. jur. Hans Pöschel aus Grimma ist. Lobende Erwähnung erhielten noch die zwei Arbeiten mit den Motto: „Per aspera ad astra“ und „Kein Gesetzgeber hat Macht über die Strömungen des geistigen Lebens (Sohm)“. Ihre Verfasser sind die stud. jur. Hermann Singewald aus Gera und Horst Zabel aus Schandau. Der einen bei der medizinischen Fakultät eingereichten Preisarbeit mit dem Motto: „In labore voluptas“, konnte der volle Preis zuerkannt werden. Als Verfasser ergab sich Walter Hermann, cand. med. aus Potschappel. In der philosophischen Fakultät war über die Aufgabe der I. Sektion eine Arbeit eingereicht worden, der der Preis nicht erteilt werden konnte. – Über die Aufgabe der II. Sektion waren vier Arbeiten eingegangen. Unter diesen wurden der Arbeit mit dem Motto: „Die Dinge gedeihen nicht außerhalb ihres natürlichen Zustandes“ in Rücksicht auf ihren hervorragenden Wert beide Preise zu einem vereinigt zuerkannt. Als Verfasser ergab sich Otto Klemm, stud. philos. aus Leipzig. – Zu der Aufgabe der III. Sektion wurde eine Arbeit eingeliefert, der aber der Preis nicht zuerkannt werden konnte. Die Begründung der Urteile und die neuen Preisaufgaben werden durch Druck und Anschlag am schwarzen Brett bekannt gemacht werden. Mein Bericht ist zu Ende. Es bleibt mir noch die letzte Aufgabe, das Amt, das ich ein Jahr bekleiden durfte, feierlich auf den erwählten und bestätigten Rektor zu übertragen. Ich fordere Sie auf, Herr Gerhard Seeliger, das Katheder zu besteigen und die Insignien Ihrer Würde aus meiner Hand entgegenzunehmen. Zuvor aber habe ich Ihnen den Eid abzunehmen, den nach den Gesetzen unserer Universität jeder Rektor zu leisten hat: „Sie schwören bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, daß Sie die Verfassung und die Gesetze der Universität treu und gewissenhaft beobachten und die Pflichten des Ihnen anvertrauten Amtes als Rektor der Universität nach besten Wissen und Gewissen redlich erfüllen wollen.“ – Somit proklamiere ich Sie Herrn Dr. Gerhard Seeliger zum Rektor der Universität Leipzig für das Studienjahr 1905 bis 1906. Ich übergebe Ihnen den Hut und den Mantel als Zeichen Ihrer Würde, die Kette, mit welcher königliche Huld den Leipzi870

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ger Rektor geschmückt hat, das Siegel der Universität, damit Sie deren Willen rechtlich beglaubigen, die Statuten, die Sie zu bewahren haben, den Schlüssel zum Zeichen, daß Sie Herr im Hause sind. Es ist mir eine Freude, als der erste Euer Magnifizenz den herzlichsten Glückwunsch darbringen zu können. Möge das Jahr Ihrer Amtsführung ein Jahr des Segens sein, für unsere Universität und für Sie selbst. ***

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Gerhard Seeliger (1860–1921)

31. Oktober 1905. Rede des antretenden Rektors Dr. Gerhard Seeliger. Ständische Bildungen im deutschen Volk. Hochansehnliche Versammlung! Die sozialen Erscheinungen bieten ein wechselvolles Bild dar, je nach den Gesichtspunkten, unter denen der Organismus des Volkes betrachtet wird. Denn die Gruppierung nach wirtschaftlichen, nach geistigen und nach politischen Momenten ist verschieden. Wohl besteht eine innigste Wechselwirkung. Aber die ökonomische Gliederung deckt sich nicht notwendig mit der durch geistige oder politische Kulturmächte geforderten. Bald scheinen die wirtschaftlichen Verhältnisse das gesellschaftliche Leben vornehmlich zu beherrschen und die Grundzüge auch der geistigen und politischen Ordnung zu bieten, bald scheinen allein die politischen bestimmend zu wirken. Und ferner ist zu beachten. Mit einer Kenntnis der Stände im Rechtssinn, d. i. der vom Recht in bestimmte Grenzen gewiesenen Bevölkerungsklassen, ist das historische Verständnis der sozialen Bildungen durchaus nicht erschöpft. Unabhängig von ihnen sind gesellschaftliche Gruppen gebildet worden, entstanden und verschwunden, getragen und wieder verlassen von den Faktoren des materiellen und geistigen Kulturlebens, soziale Gruppen, die oft lange Zeit neben den alten Ständen im Rechtssinne einhergingen, sie bekämpften, sich mit ihnen eigentümlich verbanden, sie manchmal besiegten, um dann selbst zum Fundament einer neuen starren Ständeordnung im strengen Rechtssinne zu werden. Wenn ich versuchen will, mit einigen Strichen den wesentlichsten Wandel der gesellschaftlichen Gruppierung im deutschen Volk – nur der weltlichen Stände, zu skizzieren, so muß ich darauf verzichten, den wirkenden Kräften überall nachzugehen, die tiefsten Ursachen aufzusuchen, die in der Volksindividualität, in der Beschaffenheit des geschichtlichen Bodens und in fremden Einwirkungen liegen; es gilt nur einige Grundlinien zu ziehen, dabei die soziale Schichtung in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht zu unterscheiden, die Wechselwirkung der wirtschaftlichen und der politischen Bildungsmächte an den wesentlichsten Wendepunkten der Entwicklung zu beachten und besonders auch das Nebeneinander und Rivali873

Gerhard Seeliger

sieren zwischen einer älteren Ständebildung im Rechtssinn und einer durch die Fortschritte der Kultur begehrten neuen Schichtung wahrzunehmen. Die gesellschaftliche Ordnung der alten Germanen beruhte auf den Sippenverbänden. Jeder freie Mann gehörte einem Geschlecht an, der Sippenlose darbte des Rechtsschutzes der Gemeinschaft. Daher war offenbar in älteren Zeiten eine Erhebung des Unfreien zur Vollfreiheit unmöglich. Die Freigelassenen unterschieden sich nur wenig von den Knechten, die ohne Rechte in strammer persönlicher Abhängigkeit standen, die aber nur teilweise im Hause des Herrn dienten, die oft selbständig wirtschafteten, bestimmte Abgaben und Dienste leisteten und damit die Möglichkeit zum Aufsteigen in ein wirtschaftlich und sozial günstigeres Verhältnis besaßen. Obwohl die Germanen bei ihrem Auftreten in der Geschichte privates Eigentum an Grund und Boden nicht kannten, obwohl die einzelnen Volksgruppen von Zeit zu Zeit neue Aufteilungen des Pfluglandes zur Sondernutzung vornahmen, so bestand doch bereits eine Verschiedenheit der wirtschaftlichen Stellung. Die Sondernutzungsrechte wurden verschieden verteilt, und man darf wohl vermuten, daß Jene wirtschaftlich bevorzugt wurden, die im politischen Organismus eine hervorragendere Stellung einnahmen. Es gab eine Aristokratie der Reicheren und Mächtigeren. Ob sie bestimmte Rechte genoß oder nur einen durchaus schwankenden tatsächlichen Vorrang – wir wissen es nicht. Wichtig aber ist die Erkenntnis, daß eine politische und wirtschaftliche Abstufung unter den Freien bestand, und diese Erkenntnis gewinnt an Tragweite, wenn wir mit ihr die Nachricht des Tacitus verbinden, daß die Germanen ihre Sklaven gerne als Zinsbauern anzusiedeln pflegten. Führt das auch nicht zur Annahme, der freie Germane sei Großgrundbesitzer und Rentner gewesen, die Freien haben als reiche Heerdenbesitzer im Gegensatz gestanden zu den Unfreien, den armen bedrückten Ackerbauern, so müssen wir gleichwohl schon in der Periode des herrschenden Gemeineigentums bedeutsame Ansätze für die spätere grundherrliche Bildung wahrnehmen. Es herrschte in altgermanischer Zeit volle Harmonie zwischen der ökonomischen Schichtung des Volkes und der auf der Sippenordnung beruhenden Gliederung in Adel, Freie und Unfreie. Diese Harmonie mußte gestört werden. Zwei Momente vornehmlich haben eine kräftige Umbildung bewirkt: Grundherrschaft und Monarchie. Das materielle Kulturbedürfnis der germanischen Stämme verlangte Seßhaftigkeit und privates Grundeigentum, das politische begehrte staatliche Einheit in größeren Gebieten. Römische Einwirkungen, genährt durch die immer lebhafteren Beziehungen der Germanen zu den Römern, fortgesetzt vermittelt durch die Kirche, die Trägerin des Römischen, sind hinzugekommen, um diese Entwickelungen zu fördern. Die Ausbildung des privaten Grundeigentums führte zu einer von Generation zu Generation steigenden Verschiedenheit der ökonomischen Stellung der einzelnen Familien, verringerte den Besitz der einen, häufte in der Hand der anderen Reichtümer, schuf Besitzlosigkeit auf der einen, Großgrundbesitz auf der anderen Seite. Das politische Bedürfnis aber nach größeren staatlichen Verbänden und nach einer festen einheitlichen Staatsgewalt schuf das Königtum, eine wahrhaft monarchische Gewalt, die den älteren germanischen Stämmen im wesentlichen unbekannt war. 874

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Monarchie und Großgrundbesitz beherrschten fortan die sozialen Ordnungen und wirkten dabei zum guten Teil in derselben Richtung. Das starke fränkische Königtum, dem sich die meisten westgermanischen Völker unterordnen mußten, hat die Ausbildung der Großgrundherrschaften ungemein gefördert. Denn als Grundsatz galt: alles nicht in privatem Eigentum befindliche Land gehört dem König. Und der Monarch verlieh weite Strecken unbebauten oder wenigstens zur Zeit herrenlosen Landes der Kirche und seinen Getreuen: eine Besitzaristokratie erstand. Mit ihr vielfach eng verbunden, zugleich ein neuer Beamtenadel. Königsdienst hat nicht nur politischen Einfluß, hat innerhalb der Rechtsordnung auch erhöhten Schutz – das dreifache Wergeld – gewährt, hat gleichsam die Person des Königsdieners geadelt. Leute verschiedensten Geburtsstandes wurden vom König erhoben, mit Gut, Macht und dem Recht des privilegierten Königsdieners ausgestattet: freie Volksgenossen, Freigelassene, Unfreie, auch Römer, die nach germanischer Gesellschaftsauffassung nur die Hälfte des Personenwerts eines freien Germanen beanspruchen durften. So erstand eine neue Gruppe von Herrschenden, die über weite Landgebiete geboten und denen zahlreiche Hintersassen, die mit Land Beliehenen, untergeben waren. Zu den dinglichen Abhängigkeitsverhältnissen gesellten sich mannigfache persönliche hinzu, aus der altgermanischen Mund und der römisch-gallischen Clientel hervorgegangen, Verhältnisse, welche die dinglichen verstärkten oder neben ihnen bestanden. Die großen Grund- und Mundherrn aber haben die dinglich und persönlich abhängigen Leute nicht allein wirtschaftlich, sondern auch nach und nach politisch beherrscht. Sie begannen Streitigkeiten der Leute untereinander zu schlichten, sie vertraten sie vor dem öffentlichen Gericht, sie verschafften sich selbst Privilegien, die ihre Wirksamkeit als Zwischeninstanz ermöglichte, und schließlich ward am Anfang des 9. Jahrhunderts ihr Gericht als ständig anerkannt und in den Organismus des staatlichen Gerichtswesens einbezogen. Doch nicht allein eine neue Gruppe von Herrschenden war durch das Königtum und durch die neue agrarische Ordnung emporgehoben worden, auch in anderer Weise ward im fränkischen Zeitalter Neues geschaffen. Schon war die Bedeutung der Sippe im gesellschaftlichen Leben zurückgetreten, naturgemäß in dem Maße, als der Staat selbst die Pflege der Gemeinschaftsbedürfnisse zu übernehmen und die soziale Ordnung zu beeinflussen begann. Die Sippen waren nicht mehr die Grundelemente des staatlichen Verbands. Einst war die persönliche Freiheit der Staatsbürger allein möglich für den einer Sippe angehörenden Mann – im fränkischen Zeitalter wurde diese Bedingung sozialer Ordnung verleugnet: die vom König Freigelassenen genossen das volle Recht des freien Franken, die Verbindung mit dem König ersetzte die Sippe. Und andere Schichten von Freien schlossen sich den nach germanischen Rechten lebenden Freien an. Römisches und kirchliches Wesen gewann Einfluß. Die freien Römer, dann die zu römischem Recht für frei Erklärten, besonders auch die zahlreichen Freien, die der Kirche verbunden waren und die – die Kirche lebte nach römischem Recht – in der politischen Gemeinschaft den Personenwert des freien Römers genossen, sie alle bil875

Gerhard Seeliger

deten breite Bevölkerungsschichten, einen wesentlichen Faktor in der politischen Gemeinschaft. Die Organisation des politischen und wirtschaftlichen Lebens hat im fränkischen Zeitalter eine soziale Gliederung erzeugt, die sich von der altgermanischen durchaus unterschied. Gewährte einst die Zugehörigkeit zu einem freien Geschlecht nicht allein politische Rechte, sondern zugleich auch den vollen Anspruch auf eine dem Geburtsstande entsprechende wirtschaftliche Stellung, so war jetzt diese Abhängigkeit des Wirtschaftlichen vom Politischen aufgehoben. Der freie Mann hatte nur Anspruch auf das, was er zu Recht ererbt oder erworben. Hatte er kein freies Eigen mehr, dann verlor er zwar deshalb nicht die Freiheit, aber er erscheint nach verschiedenen Seiten hin in seiner Rechtsfähigkeit geschädigt, in seiner politischen Stellung herabgesetzt. Nicht mehr ausschließlich der Geburtsstand war maßgebend für den ordnungsmäßigen Einfluß im gesellschaftlichen Organismus, wie in altgermanischer Zeit, die Frage des Grundeigentums war fortan bedeutungsvoll – und blieb es bis auf unsere Tage. Aber die neuen Verhältnisse verschmähten es nicht nur, den freien Sippengenossen Grundeigentum zu gewährleisten, sie eröffneten auch den außerhalb der Sippenverbände Stehenden den Weg zur wirtschaftlichen Macht. Und so war eine freiere Entfaltung der wirtschaftlichen und politischen Kräfte ermöglicht, in Wahrheit eine Grundlage für neue Ordnungen gelegt. Allerdings nur die Anfänge. Denn das ist charakteristisch: das Neue ist nicht an die Stelle des Alten getreten, sondern nur an dessen Seite, es hat dessen Bedeutung nicht aufgehoben, sondern nur allmählich verdunkelt, nach und nach, in dem Maße, als der tiefgehende Einfluß des fränkischen Königtums, der Grundherrschaft und der Kirche nach dem Osten hin vordrang. Daher finden wir im fränkischen Zeitalter bei den einzelnen germanischen Stämmen eine nicht geringe Verschiedenheit der sozialen Abstufung – zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenem Umfang war die alte reine Standesgruppierung der einzelnen erschüttert worden. Daher lebten auch im Westen und Süden des heutigen Deutschlands, ja im engeren fränkischen Bereich, das alte Volkstümliche und das neu vom Königtum Geschaffene neben einander, ohne überall zu einem Ausgleich zu gelangen. Von verschiedenen Seiten aus betrachtet, ergibt sich eine verschiedene soziale Schichtung: einmal deckt sich die Stellung einzelner Volksgruppen im wirtschaftlichen Organismus nicht mit der im politischen, und dann sind die Stände im Rechtssinn wohl zu unterscheiden von den Volksschichten, welche die neuen politischen und wirtschaftlichen Faktoren gezeitigt hatten. Dieser Dualismus in den sozialen Verhältnissen, dessen Beachtung allein über manche schwierige Deutung widerspruchsvoller Quellennachrichten hinweghilft, währte über die karolingische Periode hinaus. Allerdings wurde der aus der alten Ständeordnung stammende Gegensatz von frei und unfrei mehr und mehr gemildert. Nicht allein jene Unfreien, die zu einer Herrschaft über Land und Leute gelangt waren, wurden sozial erhoben, sondern ganz allgemein ist eine Aufwärtsbewegung der alten unfreien Klassen zu bemerken. Der mildernde Einfluß der christlichen Kirche, besonders aber die Eigentümlichkeit der agrarischen Verfassung haben das bewirkt: die meisten Unfreien lebten 876

Antrittsrede 1905

ja nicht als Knechte, sondern als Zinsbauern, ihnen kam eine beschränkte wirtschaftliche Selbständigkeit zu, ihre allgemeine persönliche Gebundenheit mußte sich infolgedessen mehr und mehr lockern. Vornehmlich bei den Unfreien des Reichs und der Kirche nahm das abhängige Verhältnis vielfach einen mehr dinglichen, einen fast unpersönlichen Charakter an. So sind die dem älteren Ständewesen eigentümlichen Unterschiede allmählich verwischt worden, weil weder die wirtschaftlichen noch die geistigen und politischen Kulturfaktoren ihrer bedurften. Und später sind ganze Klassen von Unfreien zur vollen Freiheit emporgestiegen, alle die, die sich an der Bildung des ritterlichen und des bürgerlichen Standes beteiligt hatten, schließlich hat es nur bäuerliche Unfreie gegeben. Obschon die bäuerliche Unfreiheit im letzten Jahrhundert des Mittelalters und während der Neuzeit an Verbreitung entschieden zunahm, so wurde sie doch – abgesehen von den anders gearteten Verhältnissen des kolonialen Ostens – im Laufe der Entwicklung immer milder, so daß der tatsächliche Unterschied in der Gebundenheit des freien und unfreien Bauern wenig bedeutete und daß ein bayerischer Staatsmann des 18. Jahrhunderts sagen durfte: der unfreie und der freie Bauer, sie gleichen einander wie zwei Tropfen Wassers. Aber lange bevor diese letzten Reste altgermanischer Ständegegensätze überwunden waren, ist die soziale Gruppierung in anderer Weise bedeutsam fortentwickelt worden. Das allmähliche Hinaustreten des deutschen Volks aus den rein agrarischen Lebensformen einerseits und die politische Forderung einer neuen kriegerischen Verfassung anderseits, das hatte eine neue Periode sozialer Bildung hervorgerufen. Das Bedürfnis nach einem berufsmäßig ausgebildeten Reiterheer hat das Rittertum geschaffen, die neue umfassende wirtschaftliche Betätigung auf dem Gebiete des Gewerbes und des Handels das Bürgertum. Ritter und Bürger bildeten anfangs reine Berufsstände, die offen waren für die verschiedensten Bevölkerungselemente. Damals begann die Verschiedenheit des Berufs ihre soziale Wirkung auszuüben, damals zuerst, denn erst damals hat die allgemeine Kulturentwicklung eine starke und im Gesellschaftsleben bedeutsame Sonderung der Berufe gezeitigt. Die Gliederung des Volks in ritterbürtige, bürgerliche und bäuerliche Leute, das ist das Ergebnis der sozialen Umbildungen, die im 10. und 11. Jahrhundert einsetzten, im 12. und 13. Jahrhundert im wesentlichen zum Abschluß gelangt waren. Wohl machten alle drei mannigfache Wandlungen durch, veränderten ihre ursprüngliche Zusammensetzung, veränderten auch ihre Bedeutung im Gesamtorganismus, aber sie blieben doch die eigentlichen Grundlagen der sozialen Gruppierung des deutschen Volks bis ins 19. Jahrhundert hinein. Der Bauernstand, stets in einer sozialpolitisch gedrückten Lage, hat sich nie leitend an den Fortschritten des Kulturlebens beteiligt, Ritter- und Bürgerstand aber haben es vermocht, Führer im geistigen Leben zu werden, ganzen Kulturperioden ihr Gepräge zu verleihen. Im 12. und 13. Jahrhundert war der Ritterstand Träger einer großen geistigen Bewegung, und das, nicht allein seine Stellung als Kriegerstand, hat seine allgemeingeschichtliche Bedeutung geschaffen. In ihm tritt trotz der großen Einwirkungen des ChristlichKirchlichen auf ritterliches Wesen zuerst jene weltliche Kulturströmung selbständig 877

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und machtvoll hervor, die neben dem Kirchlich-Mönchischen längst einhergegangen war. Ein wirkliches Hinaustreten aus der Enge des mittelalterlich-kirchlichen Geistes aber gelang erst, als ein neuer Kulturträger im Bürgertum erstanden war. In den Städten wuchsen die neuen Elemente des geistigen Lebens, wie des wirtschaftlichen, empor, nicht im Gegensatz zum Mittelalterlichen, sondern als höchste Vollendung mittelalterlicher Entwicklung, unmittelbar geboren aus dem Mittelalter, aber gewachsen eben in der freien Luft bürgerlichen Wesens. In den Städten hat sich zuerst eine öffentliche Verwaltung gebildet, die der Gestaltung staatlicher Ordnung in den Territorien vielfach als Vorbild diente; aus ihren Kreisen sind vornehmlich die Juristen hervorgegangen, die seit den Zeiten der Reformation die eigentlichen Verwalter und Regierer der deutschen Staaten waren, bürgerliche Elemente bildeten den Grundstock des deutschen Beamtentums und blieben es wenigstens teilweise selbst im 17. und 18. Jahrhundert, als ein starkes Zurückweichen vor dem Adel erfolgte. In den Städten konnte zuerst der staatsbürgerliche Gedanke gepflegt, hier konnte trotz aller Einseitigkeiten bürgerlicher Ordnungen eine Erziehung des Volkes zu einem wahren politischen Gemeinschaftsleben ermöglicht werden. Aus dem Ritterstand der älteren Zeit ist der spätere Adel des deutschen Volkes hervorgegangen. Der ursprüngliche Berufsstand, der allen zum Reiterdienst Geeigneten Aufnahme gewährte, ward seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts Geburtsstand. Aus zwei großen Gruppen setzte er sich zusammen: aus Freien, die als Grundherrn lebten und der bäuerlichen Arbeit nicht zu fröhnen brauchten, und aus Unfreien, denen die Gnade des Herrn eine herrschaftliche Stellung verschafft hatte oder die am Hofe der Mächtigen als vornehme Beamte wirkten. Die Unfreien pflegt man – nicht ganz mit Recht – als Ministeriale zu bezeichnen, die Freien als Herren i. w. S., als freie Herren oder – mit einem im 11. und 12. Jahrhundert vom romanischen Westen nach dem Osten vordringenden Wort – als Barone. Zu denen, welche Ritterbürtigkeit mit Freiheit verbanden, gehörten die Herzöge, Markgrafen und Pfalzgrafen, d. s. die einstigen Träger hoher Provinzialämter, die ihr Amt in ein territoriales Recht umgebildet hatten, die im 13. Jahrhundert als des Reiches Fürsten i. e. S. zusammengefaßt zu werden pflegten; zu ihnen gehörten auch die Grafen, die seit fränkischer Zeit über das ganze Reich hin ausgebreiteten Provinzialbeamten, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Krone und zugleich in einer gewissen Unterordnung unter den höheren provinzialen Würdenträgern standen; zu ihnen gehörten schließlich auch jene, die nur Grundherrn waren und häufig politische Rechte (zwingende Gewalt, Gerichtsbarkeit) in kleineren Kreisen besaßen, die freien Herrn i. e. S. Aber die im 12. Jahrhundert eigentümliche Gruppierung der ritterlichen Leute in Freie und in Unfreie hat schon im 13. Jahrhundert ihre Bedeutung eingebüßt. Neue Momente begannen damals andere Schichtungen der Ritterlichen zu fordern. Als aus dem einheitlichen karolingischen Beamtenstaat ein mehr feudales Staatswesen wurde, als territoriale Gewalten erstanden, ein Jahrhunderte langes Ringen verschiedenster Mächte um das Erbe der Reichsgewalt in größeren und kleineren Kreisen begann, da war naturgemäß für die ständische Gruppierung der Ritterbürtigen zunächst wichtig der Grad der herrschaftlichen Stellung, den die einzelnen im 878

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Territorialisierungsprozeß gewinnen konnten. Aber da der früher allein maßgebende Unterschied des Geburtsstandes (frei oder unfrei) nicht sofort aufgegeben wurde und da sich mit ihm die beginnende neue Gliederung keineswegs deckte, so ist es verständlich, daß die Verschiedenheit der Gesichtspunkte, nach denen die Ritterbürtigen damals gruppiert werden konnten und sich wirklich gruppierten, daß das Schwankende und Widerspruchsvolle der tatsächlichen Verhältnisse auch in den urkundlichen Nachrichten und in den Meldungen der Rechtsbücher des 13. Jahrhunderts widertönt. Es ist begreiflich, daß diese Nachrichten über die soziale Schichtung, der Natur der Sache nach auch territorial verschieden, der wissenschaftlichen Deutung große Schwierigkeiten bereiteten, die bis jetzt noch nicht einmütig gelöst sind. Erst als der Bildungsprozeß der deutschen Territorien am Ende des Mittelalters im wesentlichen zum Abschluß gelangt, als ein gewisses Gleichgewicht unter den bei der Neuverteilung der Partikulargewalt wetteifernden Mächten erlangt war, da erscheint die eine Gruppierung des Adels klar ausgeprägt: es stand dem reichsunmittelbaren Adel ein landsässiger gegenüber. Nicht der Adelsgrad war dabei irgendwie bestimmend – es gab von Anfang an Grafen und Freiherrn, später auch Fürsten, unter den Landsässigen, während zahlreiche einfache Ritterbürtige Reichsunmittelbarkeit erlangt hatten. Ursprünglich waren allerdings die hohen Adelstitel mit einem bestimmten provinzialen Reichsamt, beziehungsweise mit einem territorialen Recht verbunden. Aber dann führten die aus solchen herrschaftlichen Familien Stammenden diese Prädikate, ohne ein dem Titel entsprechendes Territorium zu besitzen: es gab Herzöge ohne Herzogtum, Markgrafen ohne Markgrafschaft, Grafen ohne Grafschaft. Und deshalb haben die Kaiser hohe Adelstitel auch an solche verliehen, die kein dingliches Fundament der Würde besaßen; schon im 13. Jahrhundert wurden Grafen ohne Grafschaften ernannt. Fehlende Ritterbürtigkeit aber hatten schon die späteren Staufer durch Gnadenakte ersetzt. Aus den Ritterbriefen dieser Zeit sind dann die Adelsbriefe der folgenden Jahrhunderte geworden. Es blieb ein Vorrecht des Kaisers und – in den kurzen Zeiten der Reichsvakanz – der beiden Reichsvikare, Adelserhebungen vorzunehmen, ein Recht, das zeitweilig finanziell ungemein mißbraucht wurde. Aber alle derartigen Erhebungen seitens des Kaisers oder der Vikare, auch die Erteilung der Freiherrn- und Grafenwürde, schufen an sich nicht Unmittelbarkeit. Und wie der Adelstitel nicht die staatsrechtliche Stellung bestimmte, so auch nicht die einstige Verschiedenheit freien oder unfreien Geburtsstandes. Altfreie rittermäßige Geschlechter sind landsässig, unfreie sind reichsunmittelbar geworden. Die ausgedehnte Reichsritterschaft geht zum guten Teil auf mittelalterliche Reichsministerialität zurück; auch manche reichsständische Familien (die Fürsten Reuß, Schönburg, Liechtenstein u. a.) sind aus der Ministerialität emporgestiegen. Der reichsunmittelbare Adel aber sonderte sich scharf und bedeutsam in den reichsständischen und reichsritterschaftlichen. Von den zahlreichen unmittelbaren Reichsherrschaften genossen nur verhältnismäßig wenige Reichsstandschaft, am Regierungsanfang des letzten Kaisers 281, d. h. ihre Inhaber allein galten als Reichsstände, hatten Sitz und Stimme im Reichstag, gehörten zum hohen Adel, während die Reichsritter dieser Vorrechte darbten und trotz ihrer Unmittelbarkeit zum niede879

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ren Adel gerechnet wurden – bloß einige Freunde der Reichsritterschaften sprachen von einem mittleren Adel. Nicht die wirtschaftliche und politische Macht war entscheidend. Wenn auch die Burggrafschaft Rheineck a. Rh., die den Grafen von Sinzendorf Reichsstandschaft gewährte, mit ihren 12 Untertanen, ein Unikum unter den reichsständischen Territorien war, erbärmlich genug war doch die Stellung so manches anderen, das sich an innerer Bedeutung mit einem stolzen mächtigen ritterschaftlichen Gebiet nicht vergleichen konnte. Die staatlichen Umwälzungen am Anfang des 19. Jahrhunderts haben mit den sonderbaren kleinen staatlichen Gebilden aufgeräumt. Nur einige Vorrechte der alten Träger staatlicher Partikulargewalt blieben erhalten: den reichsständischen Familien, welche mediatisiert wurden, ist eine gewisse herrschaftliche Stellung und vor allem Ebenbürtigkeit mit den regierenden Häusern zugesichert worden – der hohe Adel des 19. und 20. Jahrhunderts, der nicht auf bestimmtem Adelstitel, sondern lediglich auf der einstigen Vorzugsstellung im alten Reich beruht. Genug, die Geschichte der Adelsgruppen zeigt, wie die alten maßgebenden Geburtsunterschiede verblaßten, wie andere Faktoren maßgebend wurden, in erster Linie politische, nicht so wirtschaftliche. Ähnliches lehrt die Geschichte der beiden anderen großen Ständegruppen, der bürgerlichen und bäuerlichen. Die Hauptrichtung ihrer Entwicklung verlief allerdings verschieden: der Bürger wurde zur Freiheit geleitet, wie der unfreie Ritter, der Bauer nicht. Das Stadtrecht, das anfangs die vorhandenen persönlichen Verpflichtungen der Bürger unfreien Standes achtete, hat im 13. Jahrhundert das Rechtsprinzip „Luft macht frei“ verkündet und damit diejenigen Unfreien für frei erklärt, die längere Zeit unangefochten im Lichte des Stadtrechts gelebt hatten; auf dem platten Lande dagegen ist mitunter der Grundsatz „Luft macht unfrei“ gehandhabt und persönliche Unfreiheit der freien Zuzügler begehrt worden. Nicht die Verschiedenheit grundherrlicher oder leibherrlicher Verhältnisse hat die soziale Entwicklung in den Städten und auf dem platten Lande auseinandergeführt. Auch nicht eine Verschiedenheit der niederen politischen Gewalten. Die ältere Stadt hatte ihren Herrn. Aber der Stadtherr war zumeist der, der die höheren staatlichen Rechte, die Elemente der landesherrlichen Gewalt, innehatte. So ist hier gewöhnlich die Ausbildung einer Zwischeninstanz zwischen Staat und Stadt unmöglich geworden. Überdies zogen die bürgerlichen Gemeinwesen mehr und mehr die wichtigen politischen Funktionen an sich, erwarben die verschiedenen öffentlichen Gerechtsame selbst, und so kam es schließlich: der Bauer wurde regiert, der Bürger regierte sich selbst. Auf dem platten Lande erstanden zumeist Patrimonialgewalten, in den Städten herrschte meist Autonomie oder unmittelbare Stellung unter der staatlichen Gewalt, dem Reich oder dem Landesherrn. Die verschiedene Gestaltung der politischen Verhältnisse hat demnach die Verschiedenheit der sozialen Ordnung bewirkt: die Autonomie führte den Bürger zur Freiheit, die Patrimonialgewalt den Bauer zur Unfreiheit oder wenigstens zur persönlichen Gebundenheit. Wohl gab es in verschiedenen Gebieten Deutschlands freie Bauern auf freiem Grund, die keiner Patrimonialgewalt unterworfen waren und die, wo sie zahlreicher 880

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beisammen saßen, sogar Landstandschaft erworben hatten. Aber sie verschwinden unter der großen Masse der bäuerlichen Bevölkerung, die sozialpolitisch gefesselt blieb. Überaus verschieden waren die Leiheverhältnisse des bäuerlichen Guts – man zählt gegen 20 verschiedene Namen in Deutschland, von der günstigen Erbpacht bis herab zur Leihe auf beliebigem Widerruf. Überaus verschieden war auch die rein persönliche Gebundenheit, denn nicht alle Bauern waren unfreien Standes. Mannigfaltig waren überdies die Beziehungen der Grundherrschaft zur Leib- und Gerichtsherrschaft, die bald zusammengehen, bald nicht. Das Entscheidende aber war immer die niedere Gerichtsherrschaft; wer sie hatte, der war der eigentliche Herr der Bauern, er bildete die „gnädige Herrschaft“, welcher die große Masse bäuerlicher Leute sich hatte fügen müssen. Auch in den Städten ist es nicht zur Bildung eines einheitlichen gleichmäßig im Lichte der Freiheit und der politischen Selbstbestimmung stehenden Bürgerstandes gekommen. Hier gab es mannigfache Schichten von wirtschaftlich Starken und Schwachen, von politisch Mächtigen und Beherrschten. Schon in älteren Zeiten war der Unterschied zwischen Kaufleuten und Handwerkern bedeutend. Im 14. und 15. Jahrhundert hat der Gegensatz zwischen den regierenden Geschlechtern, den Patriziern, und der Gemeinde, den Handwerkern, den sozialen und politischen Bewegungen das eigentümliche Gepräge verliehen. Bei der steigenden Ausdehnung der gewerblichen Betriebe machte sich überdies der Gegensatz zwischen Handwerksmeistern und Gehilfen geltend, ein Gegensatz, der wirtschaftlich und – wegen der Teilnahme am Stadtregiment – auch politisch wichtig wurde. Drei Hauptschichten der städtischen Bevölkerung sind daher später wahrzunehmen: die Großkaufleute und Inhaber von Großbetrieben, die, wenig zahlreich, doch schon im Mittelalter eine wirtschaftliche und politische Überlegenheit zeigten und die sich zum Teil den niederen Adelsgrad verschafft hatten; dann die gewerblichen und kaufmännischen Unternehmer, die eigentlichen Träger des städtischen Erwerbslebens; und endlich die Hilfskräfte in den bürgerlichen Betrieben, die Abhängigen und Dienenden, denen ein Aufsteigen zur Selbständigkeit seit dem 15. Jahrhundert kaum mehr möglich war, als die Gerechtsame der Zünftigen sich egoistisch abschlossen. Obschon in den Städten keineswegs eine ideale Harmonie sozialer Ordnung herrschte, obschon insbesondere die Organisation der gewerblichen Arbeit nie das edle Gleichgewicht wirtschaftlicher Kräfte gebracht hatte, das moderne Freunde des Innungswesens annahmen, so hatte doch die Stadt den Bürgern wirtschaftliche, soziale, politische Vorteile verschafft, die die Bewohner des platten Landes entbehren mußten. Seit ihrem Auftreten blieben die Städte die Mittelpunkte der großen Kulturfortschritte, der materiellen wie der geistigen. Aber allerdings, die Erstarrung der gesellschaftlichen Ordnung, welcher nach manchen Seiten hin das deutsche Volk in den letzten Jahrhunderten des alten Reichs anheimfiel, ist auch den Städten nicht ganz erspart geblieben. Ganz allgemein ist zu beobachten: die Mächte, die zu wirtschaftlicher und politischer Herrschaft berufen waren, hatten ihre Gerechtsame einseitig ausgebaut, zum eigenen Nutzen, vielfach zum Schaden der Gesamtheit. Das gilt ebenso vom Landadel in den Territorien wie von den Bevorzugten in den Städten. 881

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Einst sind Rittertum und Bürgertum emporgekommen im Gegensatz zur alten festen Ständegliederung, als Königtum und Großgrundherrschaft die stramme Geschlechterordnung gesprengt und eine freie Entfaltung persönlicher Kräfte ermöglicht hatten. Eine Reichhaltigkeit der sozialen Bildungen im früheren Mittelalter war gefolgt, eine Lebendigkeit und Beweglichkeit des gesellschaftlichen Körpers, die wesentlich gesteigert wurde, als nicht mehr die agrarische Verfassung die wirtschaftliche Gliederung allein beherrschte, sondern als auch die durch Handel und Gewerbe geschaffenen neuen Verhältnisse wirkten, als nicht allein die Beziehungen zum Königtum die politischen Ordnungen bestimmten, sondern auch andere politische Faktoren maßgebend waren: Ritterbürtigkeit und herrschaftliche Stellung im politischen Gemeinwesen. Aber allmählich ist nach völliger Überwindung der alten Schichtung die neue Ordnung fest und einheitlich gestaltet worden. Als sie von den politischen Mächten anerkannt wurde, als die neuen Stände mit bestimmten Rechten und Pflichten dauernd ausgestattet waren, da hat der ganze gesellschaftliche Körper die Beweglichkeit seiner Glieder eingebüßt. Und jetzt erst erfolgte jener feste kastenartige Abschluß, der ein freies Hinüberströmen von einem Stand in den anderen zwar nie ganz hemmte, aber ungemein erschwerte: die einzelnen Stände suchten sich voneinander abzusondern, die einzelnen Adelsgruppen, die Bürger-, die Bauernklassen. Damals hat das Ebenbürtigkeitsprinzip der höheren und höchsten Stände, besonders in Ehesachen, jene strengeren Forderungen gestellt, die bis in die Gegenwart hinein zu wirken suchen. Als Kriegerstand hatte der Landadel Steuerfreiheit und in vieler Hinsicht unmittelbare Unterordnung unter den Landesherren erlangt. Längst hatten die verschiedenen Adelsrechte, die teils allgemein persönlicher, teils dinglich beschränkter Art waren, die innere Berechtigung verloren. Auch die Rechte der Landstandschaft. Als herrschende Mächte sind neben dem Landesherrn im späteren Mittelalter jene Bevölkerungselemente erhoben worden, deren Hilfe in kriegerischer und finanzieller Hinsicht für die Verwirklichung des staatlichen Gedankens in den Territorien unerläßlich war. Nur inwieweit das der Fall war, sind einzelne Bevölkerungsgruppen zu Landständen gemacht und mit Vorrechten ausgestattet worden. Und diese Stände haben in nicht geringem Maße die Ausbildung wahrhaft staatlicher Grundideen in den anfangs von privatrechtlichen Gesichtspunkten durchsetzten Territorien gefördert. Aber die Überlegenheit der herrschenden Klassen, die auf einem natürlichen und aus den wahrsten Bedürfnissen des Gesellschaftslebens organisch erwachsenen Vorrang beruhte, wurde später wohlerworbenes Recht, beruhte nicht mehr auf einem innerlich begründeten Vorzuge, bestand nur kraft eines Privilegs. Die politischen Mächte dominierten durchaus, das wirtschaftliche Leben war in den starren Bann politischer Ordnungen eingeschnürt worden. Nur manche Vorteile der innerlich nicht mehr berechtigten Herrschaftskreise hatte der absolute Staat beseitigt, nur in gewisser Hinsicht hatte er durch den Grundsatz, daß Alle der Staatsgewalt unbedingt untergeben seien, dem Gedanken einer wirklich organischen Einheit der politischen Gemeinschaft vorgebaut. 882

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Den eigentlichen Umschwung brachten erst die großen Bewegungen des 19. Jahrhunderts: Bauernbefreiung, Gewerbefreiheit, Beseitigung der Adelsrechte und aller Klassenvorteile. Wie in alten Zeiten neue politische und wirtschaftliche Bedürfnisse gegen die feste soziale Ordnung anstürmten, so auch im 19. Jahrhundert. Aber während einst das politische Bedürfnis des Volkes stramme Monarchie begehrte, so im 19. Jahrhundert Selbstbestimmung des Volks, während einst als neue wirtschaftliche Macht die Grundherrschaft in den Vordergrund trat, so im 19. Jahrhundert die Industrie. Die Gesellschaft, der hemmenden Fesseln entledigt, befreit von den Schranken, die die Klassen trennten, begann sich jetzt frei zu regen, ungeahnten Kräften ward die Bahn zu raschem Emporsteigen geöffnet, die Bevölkerung ward gleichsam durcheinander gerüttelt, die Jahrhunderte lange bestehende Gliederung in drei Hauptstände, Adel, Bürger, Bauer, hinweggefegt, ganz neue Schichten begannen sich zu bilden, nicht durch Privileg und Norm von oben, sondern als das natürliche Ergebnis eines freien Wettkampfes. Und so schroff sich einzelne Klassen befehden, so kräftig die Herrschaft seitens der einen geübt, so schwer die Unterordnung seitens der anderen empfunden wird – es ist doch alles der wechselvolle Ausdruck des Regens individueller Kräfte. Ein gewaltiger Unterschied gegenüber den Klassengegensätzen der früheren Jahrhunderte! Wohl hat der Staat nach einer Periode des freien Waltenlassens ordnend, begrenzend, schützend und lenkend einzugreifen begonnen, ist in eine Periode der Sozialpolitik eingetreten, aber im 19. Jahrhundert hat er keinen ernsten Versuch mehr gemacht, die Schranken fester Geburtsstände wieder aufzurichten, die der Sturm der großen Umwälzungen vorher beseitigt hatte. Manche Überreste aus alter Zeit haben sich erhalten. Nicht allein die nominelle Adelsschichtung, nicht allein die Stellung der Standesherrn, auch sonst ist in der staatlichen Gemeinschaft manche Bevorzugung geblieben, welche ältere Ordnungen geschaffen haben, die mitunter aus der Periode der allein oder vornehmlich maßgebenden agrarischen Verfassung stammt. Von diesen Überresten aus alter Zeit wirken einige harmlos, andere günstig retardierend, wieder andere entschieden hemmend. Sie werden vermutlich schließlich fast alle verschwinden müssen, man mag das bedauern oder begrüßen. Der naturgemäße Aufbau der Gesellschaft verlangt volle Berücksichtigung im politischen Dasein. Aber in welcher Weise das durchzuführen, wie das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Kräften und Bedürfnissen des wirtschaftlichen, geistigen und politischen Lebens zu finden, und in welcher Art das Maß des politischen Einflusses zu verteilen ist, das sind bedeutsame Probleme, mit denen der Staat sich im 19. Jahrhundert unaufhörlich beschäftigt hat, mit denen er sich noch im 20. Jahrhundert beschäftigen wird. Das alte plutokratische Verfahren, die politische Teilnahme nach der Steuerleistung zu regeln, ist oft angewendet, im Gegensatz dazu eine absolute mechanische Gleichberechtigung Aller wiederholt durchgeführt und in allgemeinster Weise überall begehrt worden. Und doch entspricht gewiß das eine ebensowenig den inneren Forderungen des gesellschaftlichen Organismus wie das andere. Das Volk wird nicht gebildet und kann bei höherer Kultur nie gebildet werden von einer ein883

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zigen Schicht gleicher Genossen, es setzt sich zusammen aus verschiedenen Gruppen, denen eine grundverschiedene Wirksamkeit im Gesamtorganismus zukommen muß, aus Gruppen, die geschaffen sind und stets erneut geschaffen werden von den materiellen und geistigen Kulturmächten des Zeitalters, die das Auf- und Abwogen des individuellen Lebens nicht hindern und dem Tüchtigen und Glücklichen den Aufschwung zum Höheren nicht versagen. Ob eine Verteilung der politischen Rechte gelingen wird, die dem sozialen Gesamtorganismus einigermaßen entspricht, oder ob das Prinzip der mechanischen absoluten Gleichberechtigung, das einer organischen Gesellschaftsauffassung im Grunde widerspricht, zum Siege gelangen, ob uns in letzterem Falle eine brutale Klassenherrschaft der Massen oder ein Zusammenbruch des Parlamentarismus und vielleicht auch der Grundlagen des Volksstaates drohen wird – das vorher erkennen zu wollen, wird gerade der Historiker sich versagen müssen, der weiß, welch mannigfache Faktoren, auch rein individueller Art, den Gang der geschichtlichen Entwickelung bestimmen. Die großen Wandlungen im sozialen Leben des letzten Jahrhunderts haben auch die Verhältnisse der Universitäten und die Stellung ihrer Angehörigen wesentlich umgestaltet. Der civis academicus hat manche seiner Vorrechte eingebüßt. Aber eine besondere Aufgabe hat er noch zu erfüllen: Vertreter und Verbreiter einer eigentümlichen, der akademischen Geistesbildung zu sein. Das Universitätsstudium bereitet zwar zu den mannigfachsten Berufen vor, ungemein verschieden ist die spätere Wirksamkeit, die wirtschaftliche und politische Stellung der einstigen Kommilitonen. Aber wie die universitas literarum nie zu einem Nebeneinander einzelner Fachschulen werden darf, wie es ihr nicht in erster Linie auf das Technisch-Praktische, sondern auf das Allgemeinwissenschaftliche der Ausbildung ankommen muß, so bleibt trotz des Auseinandergehens der einzelnen Studienkreise ein großes Gemeinsames bestehen: ein einheitliches Streben nach reinem wissenschaftlichen Erkennen, das unabhängig ist von allen äußeren Einflüssen, unabhängig auch von rein technisch-praktischen Zielen. Unsere akademische Jugend soll weit mehr empfangen als die technische Vorbereitung für einen besonderen Beruf, sie soll empfangen eine allgemeine Grundrichtung für ihre gesamte geistige Lebenshaltung. Gelingt das, dann bleiben die akademischen Bürger dauernd verbunden in einer idealen Gemeinschaft, dann werden wohl oft, und sollen auch oft, die Bestrebungen und Anschauungen weit auseinandergehen, aber die Gegensätze erscheinen auf eine höhere Stufe erhoben, die Kämpfe gleichsam geadelt. Das ist die höchste und allgemeinste Aufgabe der Universitäten im Gesellschaftsleben der Gegenwart, eine Mission, von deren richtiger Erfüllung nicht zum geringsten Teil abhängt die Hoffnung und die Zukunft unserer nationalen Entwicklung. ***

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Die Leipziger Rektoratsreden 1871-1933

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Die Leipziger Rektoratsreden 1871 – 1933 Herausgegeben vom Rektor der Universität Leipzig Professor Dr. iur. Franz Häuser zum 600-jährigen Gründungsjubiläum der Universität im Jahr 2009

Band II Die Jahre 1906 –1933

Walter de Gruyter · Berlin · New York

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U Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt ISBN 978-3-11-020919-8 (2 Bände) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar © Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Dr. Rainer Ostermann, München Druck und buchbinderische Verarbeitung: Strauss GmbH, Mörlenbach

Inhaltsverzeichnis

Band II

Der Rektorwechsel im Jahr 1906 Jahresbericht von Gerhard Seeliger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 885 Antrittsrede von Heinrich Curschmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 893 Der Rektorwechsel im Jahr 1907 Jahresbericht von Heinrich Curschmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 908 Antrittsrede von Carl Chun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 919 Der Rektorwechsel im Jahr 1908 Jahresbericht von Carl Chun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 931 Antrittsrede von Karl Binding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 941 Der Rektorwechsel im Jahr 1909 Jahresbericht von Karl Binding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 958 Antrittsrede von Eduard Hölder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 973 Der Rektorwechsel im Jahr 1910 Jahresbericht von Eduard Hölder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 985 Antrittsrede von Karl Lamprecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 991 Der Rektorwechsel im Jahr 1911 Jahresbericht von Karl Lamprecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1004 Antrittsrede von Georg Heinrici . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1017 Der Rektorwechsel im Jahr 1912 Jahresbericht von Georg Heinrici . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1030 Antrittsrede von Heinrich Bruns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1045 Der Rektorwechsel im Jahr 1913 Jahresbericht von Heinrich Bruns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1059 Antrittsrede von Otto Mayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1067 Der Rektorwechsel im Jahr 1914 Jahresbericht von Otto Mayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1073 Antrittsrede von Albert Köster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1081 V

Inhaltsverzeichnis

Der Rektorwechsel im Jahr 1915 Jahresbericht von Albert Köster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1093 Antrittsrede von Adolf von Strümpell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1105 Der Rektorwechsel im Jahr 1916 Jahresbericht von Adolf von Strümpell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1122 Antrittsrede von Wilhelm Stieda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1131 Der Rektorwechsel im Jahr 1917 Jahresbericht von Wilhelm Stieda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1149 Antrittsrede von Rudolf Kittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1163 Der Rektorwechsel im Jahr 1918 Jahresbericht von Rudolf Kittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1185 Antrittsrede von Otto Hölder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1199 Der Rektorwechsel im Jahr 1919 Jahresbericht von Rudolf Kittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1212 Antrittsrede von Erich Brandenburg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1231 Der Rektorwechsel im Jahr 1920 Jahresbericht von Erich Brandenburg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1246 Antrittsrede von Richard Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1265 Der Rektorwechsel im Jahr 1921 Jahresbericht von Richard Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1298 Antrittsrede von Richard Heinze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1313 Der Rektorwechsel im Jahr 1922 Jahresbericht von Richard Heinze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1329 Antrittsrede von Hans Held . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1345 Der Rektorwechsel im Jahr 1923 Jahresbericht von Hans Held . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1367 Antrittsrede von Georg Steindorff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1385 Der Rektorwechsel im Jahr 1924 Jahresbericht von Georg Steindorff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1399 Antrittsrede von Franz Rendtorff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1417 Der Rektorwechsel im Jahr 1925 Jahresbericht von Franz Rendtorff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1439 Antrittsrede von Max Le Blanc . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1459 VI

Inhaltsverzeichnis

Der Rektorwechsel im Jahr 1926 Jahresbericht von Max Le Blanc . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1480 Antrittsrede von Heinrich Siber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1497 Der Rektorwechsel im Jahr 1927 Jahresbericht von Heinrich Siber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1511 Antrittsrede von Erich Bethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1527 Der Rektorwechsel im Jahr 1928 Jahresbericht von Erich Bethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1541 Antrittsrede von Oskar Römer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1557 Der Rektorwechsel im Jahr 1929 Jahresbericht von Oskar Römer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1566 Antrittsrede von Friedrich Falke. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1585 Der Rektorwechsel im Jahr 1930 Jahresbericht von Friedrich Falke. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1602 Antrittsrede von Hermann Baum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1631 Der Rektorwechsel im Jahr 1931 Jahresbericht von Hermann Baum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1644 Antrittsrede von Theodor Litt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1669 Der Rektorwechsel im Jahr 1932 Jahresbericht von Theodor Litt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1681 Antrittsrede von Hans Achelis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1701 Der Rektorwechsel im Jahr 1933 Jahresbericht von Hans Achelis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1710

Personen-, Orts- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1725 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1795

VII

31. Oktober 1906. Rede des abtretenden Rektors Dr. Gerhard Seeliger. Bericht über das Studienjahr 1905/06. Hochansehnliche Versammlung! Bevor ich das Amt, welches das Vertrauen der Kollegen mir für die Dauer eines Jahres übertragen hat, meinem gewählten und bestätigten Nachfolger feierlich übergebe, habe ich Bericht zu erstatten über das verflossene Studienjahr. Ein Jahr stiller und ernster Arbeit. Was die wissenschaftliche Forschung im großen Kreise unseres Lehrkörpers erstrebt und erreicht hat, in welchem Maße der ausgestreute Samen unter den Studierenden auf günstigen Boden gefallen ist, das entzieht sich unserer Beurteilung. Nur über äußere Vorgänge und über äußere Veränderungen, die allerdings das innere Leben unserer Hochschule zu beeinflussen vermögen, habe ich an dieser Stelle zu berichten. Die Universität greift zwar mit ihren idealen Interessen über die nationalen Grenzen hinaus und darf ihre universellen Aufgaben nie vergessen, aber sie steht fest auf heimatlichem Boden und weiß, daß der wahre Fortschritt sich vollziehen soll als ein Fortschritt im festgefügten Organismus des Staates. Sie schätzt sich glücklich, fortdauernd die staatliche Fürsorge zu genießen, sie würdigt es, daß unseres Landes König als Rector Magnificentissimus in einem persönlichen Verhältnis zu unserer alma mater steht und daß er gleich seinen erlauchten Vorfahren alljährlich durch seinen Besuch der Universität seine Gnade und sein persönliches Interesse bekundet. In den Tagen vom 19. bis 22. Februar weilte Seine Majestät unter uns, besuchte die Vorlesungen der Professoren Rietschel, Mayer, Sattler, Credner, Trendelenburg, Partsch und besichtigte die Universitätsbibliothek. Lebhaften Anteil hat die Universität an allem genommen, was unser Herrscherhaus anging. Den Geburtstag Seiner Majestät feierten wir am 25. Mai in üblicher Weise – der Prorektor hielt die Festrede. Verlobung und Vermählung Sr. Königl. Hoheit des Prinzen Johann Georg bot uns Anlaß zu einer innigen Begrüßung des hohen Herrn, den unsere Hochschule einst zu ihren cives academici zählen durfte. Herzliche Teilnahme erregte die schwere Erkrankung Sr. Exzellenz des Herrn Staatsministers Dr. von Seydewitz, der lange Jahre als oberster Chef des sächsischen Unterrichtswesens unserer Universität nahestand, der mit tiefem Verständnis und mit warmem Herzen die wachsenden Bedürfnisse unserer Hochschule zu befriedigen bestrebt war. Mit aufrichtiger Trauer sahen wir ihn aus dem Amt scheiden und gaben in einer Senatsadresse unseren Gefühlen herzlichen Dankes Ausdruck. Vom neuen Staatsminister, Exzellenz von Schlieben, erhoffen wir ein gleiches Wohlwollen und ein wirkliches Verständnis für die eigenartige Stellung der Universität im Organismus des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens. 885

Gerhard Seeliger

Mit lebhaftem Bedauern sahen wir auch den langjährigen Königlichen Regierungsbevollmächtigten bei der Universität, Herrn Kreishauptmann Exzellenz von Ehrenstein von uns ziehen, einen Mann, der, erfüllt von Hochachtung von der Erhabenheit der Wissenschaft, stets regen Anteil an allen Angelegenheiten der Universität bezeugt hat. Von seinem Nachfolger, Herrn Kreishauptmann Freiherrn von Welck, dürfen wir gleiches Interesse und, wenn es not tut, auch fördernde Unterstützung erhoffen. Einen eigenartigen und seltenen Besuch hat unsere Universität am 9. Mai erhalten: eine Studienkommission der Kaiserlichen Chinesischen Regierung unter Führung des chinesischen Kultusministers und eines Vizekönigs wurde feierlich empfangen, um die Hauptgebäude der Universität mit den archäologischen und ägyptischen Sammlungen und das physikalische Institut zu besichtigen. Größere Bauten sind im laufenden Jahre für Universitätszwecke nicht ausgeführt worden. Das pathologische Institut und das Institut für gerichtliche Medizin, deren Vollendung schon vor einem Jahre gemeldet werden konnte, sind am 5. Mai eingeweiht worden, wobei die Kgl. Regierung durch den Herrn Staatsminister von Schlieben und Geh. Rat Waentig vertreten war, während die Präsidenten der beiden Kammern durch ihre Teilnahme das verständnisvolle Interesse unserer Volksvertreter für die Pflege der Wissenschaft in Sachsen bekundeten. Die überaus wohltätige Haase-Stiftung, die den Universitätsbeamten billige Wohnungen beschaffen soll, hat ein großes Terrain auf Stötteritzer Flur erworben, um nach dem Stand der verfügbaren Mittel nach und nach 5 Wohnhäuser zu erbauen. Mit der Errichtung von zwei Doppelhäusern ward begonnen, am 1. Juli nächsten Jahres werden 28 neue Wohnungen für die Hälfte des eigentlichen Mietwertes an Beamte der Universität abgegeben. Wie so eine allzu lange schwebende Angelegenheit doch zu einem gedeihlichen Abschluß zu gelangen verspricht, so kann ich auch erfreulicherweise melden, daß uns die sieben Odysseebilder erhalten bleiben, die Preller der Ä. als Freskoschmuck der Wände des Haertelschen Hauses gemalt hatte und die beim Abbruch des Hauses vom Eigentümer Herrn Domherrn Dr. jur. Baumgärtner der Königl. Regierung geschenkt wurden. Ihre Einfügung in Nischen der Treppenhalle unserer Bibliothek dürfte in mehreren Tagen vollendet sein. Mit ganz besonderer Freude aber darf ich heute verkünden, daß unser großer heimischer Künstler Max Klinger die Herstellung des Wandgemäldes in diesem Raume definitiv übernommen, ja nicht nur übernommen, sondern daß er die gewaltige Arbeit mächtig gefördert hat. Wenn wir lange Zeit zweifelten, ob der Vorhang, der die weite Wand zu überspannen und verborgene Pracht zu verhüllen scheint, sich jemals öffnen werde, wenn wir bei manchen auftauchenden Projekten wohl auch wünschten, daß der Vorhang niemals zurückgeschlagen werde, so wissen wir jetzt, was wir erschauen werden, wir sind der frohen Zuversicht, daß unsere Aula einst einen Schatz besitzen werde, der den Ruhm des Künstlers in ferne Jahrhunderte zu tragen vermag. Unsere Universität ist reich an Stiftungen. Allerdings bewegen sich unsere Hoffnungen auf Unterstützung der Wissenschaft von privater Seite in recht bescheidenen 886

Jahresbericht 1905/06

Grenzen. Noch haben bei uns die großen Vermögen, die mitunter der Wissenschaft recht viel verdanken, den Rückweg zur Wissenschaft nicht gefunden, noch sind die Inhaber der großen Vermögen mit ihrem materiellen Dank für das, was ihnen mittelbar und unmittelbar die Wissenschaft gebracht hat, allzu zurückhaltend. Umso dankbarer müssen wir sein für das, was uns gespendet wird. Frau Forker, die ihrem im Vorjahr verstorbenen Sohn, unserem ehemaligen Kollegen Arthur Schneider, im Tode bald nachgefolgt ist, hat ihr gesamtes, vornehmlich aus einem großen Miethaus bestehendes Vermögen unserer Universität mit der Bestimmung vermacht, daß aus den Zinsen unbesoldete oder geringer besoldete Extraordinarien und Privatdozenten der philos. Fakultät, in erster Linie Archäologen und Germanisten, dauernde Unterstützung erhalten. Möge der edle Zweck dieser Arthur-Schneiderstiftung erfüllt und manches Talent, das der materiellen Mittel entbehrt, dem Dienste der Wissenschaften auf diese Weise erhalten werden. Ferner habe ich der Stiftung von 6000 Mark für eine Konviktstelle zu gedenken. Der unserer Universität nahestehende Spender, der hier nicht genannt sein will, hat damit ein neues Zeichen seiner treuen Liebe zu unserer alma mater bewiesen, er darf unseres herzlichen Dankes sicher sein. Mannigfache Gaben sind einzelnen Instituten zugewendet worden. Die Universitätsbibliothek empfing Bücherschätze von Herrn K. W. Hiersemann, vom Verein für innere Mission und von Frl. Grüne in Leipzig. Der ägyptischen Sammlung sind wertvolle Gaben zugewiesen worden, die aus der reichen Ausbeute der im Frühjahr 1905 bei der Cheopspyramide von Gizeh von Prof. Steindorff geleiteten Ausgrabungen stammen: Statuen von Privatpersonen, Figuren von Dienern u. s. w., sämtlich aus der Zeit des „alten Reichs“. Diese wertvolle Bereicherung verdankt die Sammlung der Freigebigkeit, mit der mehrere Leipziger Herren: Prof. Dr. Hans Meyer, Edgar Herfurth, Konsul Paul Herfurth, Oscar Meyer, Kommerzienrat Rehwoldt u. a., sowie der Rat und die Stadtverordneten Leipzigs die ganze Unternehmung materiell unterstützt und ermöglicht hatten. Mit Dank sei erwähnt, daß die deutsche Levantelinie in Hamburg alle Altertümer von Ägypten nach Deutschland auf einem ihrer Dampfer kostenfrei befördert hat. Weitere Geschenke verdankt die ägyptische Sammlung der Deutschen Orientgesellschaft und dem Direktor des Museums in Birmingham, Herrn Witworth Wallis. Wende ich mich dem zu, was sich innerhalb unseres Lehrkörpers ereignet hat, so habe ich zu berichten, daß wir mit freudigem Stolz die verehrten Kollegen Wundt, Lipsius und Neumann, die noch in der Vollkraft ihres Wirkens stehen, zu ihrem goldenen Doktorjubiläum begrüßen, daß wir den Senior der philosophischen Fakultät, Prof. Scheibner, zum 80. Geburtstag beglückwünschen durften. Auch in diesem Jahre hat uns der Tod manchen schweren Verlust gebracht. Am 6. November 1905 starb der o. Honorarprofessor Dr. jur. Moritz Voigt. In Leipzig 1826 geboren, hier 1853 Privatdozent, hier Extraordinarius und später o. Honorarprofessor – so hat Voigt sein ganzes Leben in Leipzig verbracht, ein an Arbeit und an frischem edlen Genuß reiches Leben. Sein Werk über das Jus naturale aequum et bonum der Römer, in dem er die Entwicklung des primitiven Rechts des latinischen Stammes zum umfassenden Weltrecht der Römer zu schildern unter887

Gerhard Seeliger

nahm, seine groß angelegte römische Rechtsgeschichte, die sich durch Reichtum des Stoffes und selbständiges Urteil auszeichnet, haben Voigt weit über Deutschlands Grenzen hinaus bekannt gemacht. Ein schlichter liebenswürdiger Mensch, ein treuer Kollege, eine wahrhaft sonnige Natur, deren Zauber nachwirken wird in der Erinnerung derer, die ihm näher stehen durften. Am 9. Dezember 1905 starb der emeritierte o. Honorarprofessor Dr. phil. Woldemar Bernhard Wenck. Gleich Voigt ist er Leipzig treu geblieben. Hier ist er 1819 geboren, hier studierte er, hier habilitierte er sich für Geschichte, wurde zum ao. Professor und zum o. Honorarprofessor befördert. Die ersten Arbeiten waren der Geschichte des 9. Jahrhunderts gewidmet, umfassende tief ins Detail dringende Studien. Später wandte er sich der neueren Zeit zu und konnte in einem Werk „Deutschland vor 100 Jahren“ die Eigenart seiner Persönlichkeit zur Geltung bringen. Der jüngeren Generation unserer Dozentenschaft fast unbekannt, denn körperliche Leiden hatten ihn viele Jahre zur völligen Zurückgezogenheit gezwungen, hat er in früheren Zeiten im Universitätsleben eine nicht unbedeutende Rolle gespielt und besonders gerne seinen Geist und seine poetische Begabung in den Dienst edler Geselligkeit gestellt. In der Nacht vom 7. auf den 8. April erlöste in Rom der Tod den ao. Professor Dr. ph. John Schmitt von qualvollen Leiden. Zu Cincinati in Ohio 1856 von deutschen Eltern geboren, wollte er sich dem Handel widmen. Aber in Paris und Rom erwachte das Interesse für das Studium der Romanischen Sprachen, 1888 promovierte er in München, habilitierte sich 1898 für Neugriechisch in Leipzig, und wurde 1903 zum ao. Professor befördert. Von den romanischen Sprachen hatte er sich der vulgär-griechischen Philologie zugewendet, sein Hauptwerk, eine musterhafte Ausgabe der Chronik von Morea hat bleibenden Wert. Seine Persönlichkeit, in der Biederkeit und Güte sich mit vornehmer Zurückhaltung verbanden, erfreute sich im engeren Kreise unbedingter Wertschätzung. Am 9. Mai 1906 schied der Direktor der Universitätsbibliothek und o. Honorarprofessor in der philosophischen Fakultät Dr. Oskar von Gebhardt aus dem Leben. 1844 zu Wesenberg in Esthland geboren, hatte er sich nach Absolvierung theologischer Studien 1875 dem Bibliotheksdienst zugewendet, hatte in Leipzig, Halle, Göttingen und Berlin, hier als Direktor der Druckschriftenabteilung der Kgl. Bibliothek gewirkt, um 1893 als Direktor der Universitätsbibliothek nach Leipzig überzusiedeln. Große mühevolle Editionsarbeiten hat er erfolgreich unternommen. Der altchristlichen Literatur blieb sein vornehmstes Interesse gewidmet. Die vielfach gemeinsam mit seinem jüngeren Freunde Adolf Harnack vorbereiteten Veröffentlichungen bezeugen strengste philologische Akribie, kritischen Scharfsinn und eine erstaunliche Arbeitskraft. Denn die aufopfernde literarische Tätigkeit ging nur neben der gewissenhaften Wirksamkeit des Leiters einer großen Bibliothek einher. Wie Gebhardt von seinen Untergebenen volle Hingabe an den bibliothekarischen Beruf verlangte, so hat er unverdrossen seines verantwortungsvollen Amtes gewaltet. Ein Mann von vornehmem Wesen, zurückhaltend und doch voll warmer Teilnahme für andere, von bestimmtem Willen und von Selbstlosigkeit, ernst und innerlich liebenswürdig, so bleibt er in unserer dankbaren Erinnerung. 888

Jahresbericht 1905/06

Am 22. Oktober schied freiwillig aus dem Leben der ao. Professor der Zahnheilkunde Dr. Friedrich Ludwig Hesse. Ein schweres Nervenleiden, das geistige Umnachtung anzudrohen schien, war die Ursache. Hesse, 1849 in Bischofswerda geboren, hat sich nach Abschluß der medizinischen Studien 1876 in Leipzig für normale Anatomie habilitiert, hat später längere Studienreisen nach Amerika unternommen, um sich mit der fortgeschrittenen amerikanischen Technik der Zahnheilkunde bekannt zu machen. Seit 1881 Privatdozent für Zahnheilkunde, seit 1884 ao. Professor und Direktor des neu errichteten zahnärztlichen Instituts, hat er es verstanden, das ihm anvertraute Institut zu hoher Blüte und zu allgemeiner Anerkennung zu bringen. Ein aufrechter Mann, ein treuer Arbeiter, wird er als erster Direktor des Leipziger zahnärztlichen Instituts in den Annalen der Universität einen ehrenvollen Platz bewahren. Am 22. Oktober verstarb in Jena der emeritierte o. Honorarprofessor der philosophischen Fakultät Dr. phil. et med. Emil Schmidt. Erst im Alter von 48 Jahren hat er sich 1885 für Anthropologie und Ethnologie an unserer Universität habilitiert, durch große Reisen und intensive Forschungen auf dem Gebiete der jungen anthropologischen und ethnologischen Wissenschaft für den akademischen Beruf wohl vorbereitet. 1889 wurde er zum ao., 1896 zum o. Honorarprofessor ernannt, doch zwang ihn körperliches Leiden schon 1900 in den Ruhestand zu treten. Seine einzigartige Schädelsammlung hat er der Korporation, deren Verband er angehört hatte, zum Geschenk gemacht, sie wird als Denkmal einer älteren Forschungsrichtung der Ethnographie und als Grundstock einer anthropologischen Sammlung ihren dauernden Wert behaupten. Durch Berufung nach Bonn verloren wir den o. Professor der klassischen Philologie Friedrich Marx, durch Versetzung in den Ruhestand den o. Professor der Chemie Wilhelm Ostwald. Groß ist die Zahl der jüngeren Kollegen, der Extraordinarien und Privatdozenten, die ihre hiesige Stellung nur als Vorstufe für eine vollere Wirksamkeit eventuell an einem anderen Orte ansahen. Aus dem Verband der juristischen Fakultät schieden der ao. Prof. Ernst Rabel und die Privatdozenten Joh. Nagler und Hans Fehr. Die beiden erstgenannten gingen als Ordinarien nach Basel, der letztgenannte als Extraordinarius nach Jena. Unsere medizinische Fakultät verließen der ao. Professor Heinrich Braun, nunmehr Direktor des Kgl. Kreiskrankenstiftes zu Zwickau, die Privatdozenten Heinrich Füth und Hermann Preysing, die einem Ruf an die Akademie für praktische Medizin nach Köln Folge leisteten; aus der philosophischen Fakultät schieden der ao. Professor der mittelalterlichen politischen Geschichte und Quellenkunde Gustav Buchholz und der ao. Professor Max Bodenstein, der eine, um als Professor an der Akademie zu Posen, der andere, um als Extraordinarius an der Berliner Universität zu wirken. Unsere innigsten Wünsche begleiten die Kollegen in ihren neuen Wirkungskreis und zugleich die Hoffnung, daß sie uns trotz ihres Scheidens dauernd verbunden bleiben. Dem durch Tod oder Austritt aus unserm Lehrkörper erwachsenen Verlust steht die Gewinnung neuer Kräfte gegenüber. 889

Gerhard Seeliger

Von anderen Hochschulen berufen wurden der o. Prof. der alten Geschichte Ulrich Wilcken aus Halle, der o. Prof. der klassischen Philologie Erich Bethe aus Gießen, der o. Prof. der klassischen Philologie Richard Heinze aus Königsberg und der o. Prof. an der Technischen Hochschule in Karlsruhe Max Le Blanc als o. Prof. der physikalischen Chemie. An die Stelle des verstorbenen Oskar von Gebhardt trat als Direktor der Universitätsbibliothek Dr. Karl Boysen aus Königsberg. Zum etatsmäßigen ao. Prof. und zum Direktor der aus einer Abteilung des historisch-geographischen Instituts hervorgegangenen Seminars für Landesgeschichte und Siedelungskunde wurde der bisherige außeretatsmäßige Extraordinarius Rudolf Kötzschke ernannt. Zu außeretatsmäßigen ao. Professoren wurden befördert die Privatdozenten der medizinischen Fakultät Alfred Bielschowsky und Arthur Birch-Hirschfeld, die Privatdozenten der philosophischen Fakultät Richard Woltereck, Wilhelm Wirth, Ernst Friedrich, Max Deutschbein und Reinhold Reinisch. Als Privatdozenten wurden zugelassen in der theologischen Fakultät: Johannes Leipoldt, der aber auf seine venia legendi bald wieder verzichtete, um sich als Privatdozent in Halle niederzulassen, ferner August Wilhelm Hunzinger, Heinrich Hermelink und Horst Stephan; in der medizinischen: Friedrich Quensel, Heinrich Klien, Wilhelm Petersen, früher ao. Professor in Heidelberg, und Max Löhlein; in der philosophischen: Karl Fredenhagen für physikalische Chemie, Paul Herre für mittlere und neuere Geschichte, und Herbert Freundlich für physikalische Chemie. Als Lehrer für Obst- und Gartenbau wurde Hans Grabbe angestellt. Wir begrüßen die neuen Kollegen auf das Herzlichste und wünschen, daß ihre Hoffnungen sich voll erfüllen und daß sie sich in Wahrheit als Glieder unserer großen vielgestaltigen und doch einheitlichen Korporation fühlen mögen. Innerhalb der für unser akademisches Leben nicht unwichtigen Beamtenschaft hat nur eine Veränderung stattgefunden: der Kantor an der Universitätskirche Albin Fürchtegott Zehrfeld ist in den Ruhestand, der Realschuloberlehrer Hans Hofmann an seine Stelle getreten. Von dem Recht, die höchste akademische Würde, den Doktorgrad ehrenhalber zu verleihen, hat die theologische Fakultät zweimal, die juristische einmal, die medizinische einmal, die philosophische Fakultät einmal Gebrauch gemacht. Rite promoviert wurden in der theologischen Fakultät zu Lizentiaten 4, zu Doktoren in der juristischen 242, in der medizinischen 162, in der philosophischen 162. Diplomerneuerungen aus Anlaß des fünfzigjährigen Doktorjubiläums haben in der medizinischen Fakultät 1, in der philosophischen 8 stattgefunden. Mit der verhältnismäßig hohen Zahl derer, die ihre Studien durch Erwerbung der Doktorwürde zum Abschluß gebracht haben, harmonierte die steigende Frequenzziffer. Im ganzen Rektoratsjahre sind 2506 Studierende immatrikuliert worden – gegen 2392 im Studienjahre 1904/05. 15 Studierende wurden uns durch den Tod entrissen. Die Gesamtzahl der Immatrikulierten beträgt 4288 gegen 4003 im Vorjahre. Dabei entfallen auf die theologische Fakultät 318 gegen 315 im Vorjahre, auf die juristische 1044 gegen 1130, auf die medizinische 483 und 54 Studie890

Jahresbericht 1905/06

rende der Zahnheilkunde gegen 421 und 45, auf die philosophische 2389 gegen 2092. Das Personalverzeichnis des vorigen Wintersemesters schloß ab mit 4224 Immatrikulierten, diesmal dürfte die Zahl 4500 erreicht werden. Zum erstenmal sind im vorigen Sommersemester Frauen als vollberechtigte Studierende immatrikuliert worden. Wir sind gern in dieser Hinsicht andern Universitäten nachgefolgt, nicht weil wir den natürlichen Unterschied in der Beteiligung des männlichen und weiblichen Geschlechts an den gesellschaftlichen Aufgaben verkennen, sondern weil wir den Frauen, die sich zu gelehrtem Beruf besonders geeignet fühlen, den Weg zu außerordentlicher Betätigung nicht verschließen wollen. Im Sommer 1906 wurden 29 Frauen inskribiert, bis zum gestrigen Tage 9, während 3 abgingen, so daß die Zahl der immatrikulierten Frauen gegenwärtig 35 beträgt. Der Verkehr des Rektors mit den Studierenden gehört nicht zu den leichtesten, wohl aber zu den anziehendsten und erfrischenden Aufgaben. Meine Erfahrungen auf diesem Gebiet sind im wesentlichen sehr erfreulicher Art. Zwar hat es an ernsten Disziplinarstrafen nicht gefehlt: in drei Fällen mußte das Plenum des Universitätsgerichts zusammentreten und zweimal das Consilium abeundi, einmal die Relegation beschließen; oft sah der Karzer unfreiwillige Bewohner, im ganzen wurden 241 Tage verbüßt, auch augenblicklich ist er bewohnt; aber doch nur ganz vereinzelt war wirkliche Unwürdigkeit zu beobachten, meist handelt es sich um Strafen für Handlungen, die nur im jugendlichen Übermut begangen waren. Und so vermag ich auch sonst keine Zeichen beginnender Krankheit in unserem Studententum wahrzunehmen. Daß der Student neben seinem Fachstudium und neben seiner rein wissenschaftlichen Ausbildung auch andere Interessen kennt, daß er den großen Fragen, die unser modernes gesellschaftliches Leben bewegen, Verständnis entgegenzubringen sucht, haben wir nur freudig zu begrüßen. Wir wollen kein politisierendes, aber auch kein Studententum, dessen Gesichtskreis auf Buch und Laboratorium beschränkt bleibt. Und wenn manchmal der jugendliche Geist überschäumt, wenn Unreife und naive Überschätzung der eigenen Kraft zu Sonderbarkeiten führen, wir haben das nicht tiefer zu beklagen, solange nicht niedrige Gesinnung sondern nur unreifer Idealismus die treibende Kraft war. Strenge Arbeit muß allerdings im Mittelpunkt des studentischen Lebens stehen. Und das ist in Leipzig der Fall. Wir haben im allgemeinen den ausdauernden Fleiß unserer Studenten zu rühmen. Nur in den Bearbeitungen der Preisaufgaben tritt das diesmal, wie auch in anderen Jahren, nicht recht zu Tage. Bei der theologischen Fakultät ist nur eine Arbeit eingegangen. Sie konnte mit dem ersten Preise von 300 Mark ausgezeichnet werden. Der Name des Verfassers ist Hermann Kircher, stud. theol. aus Heilbronn. Auch die juristische Aufgabe hat nur eine Bearbeitung gefunden, der der zweite Preis zuerkannt wurde. Als Verfasser ergab sich stud. jur. Herbert Krause aus Rostock. Auf die Preisaufgabe der medizinischen Fakultät dagegen sind 2 Arbeiten eingegangen. Der einen konnte der erste, der anderen der zweite Preis zuerkannt werden. 891

Gerhard Seeliger

Verfasser der ersteren ist Ludwig Gräper, stud. med. aus Frankfurt a. M., Verfasser der anderen Karl Möschler, cand. med. aus Zwickau. Von den drei Preisaufgaben der philos. Fakultät hat nur die von der naturwissenschaftlichen Sektion gestellte eine Bearbeitung gefunden. Der Bewerber wurde des zweiten Preises für würdig befunden. Sein Name ist Peter Walter Friedrich Danckwortt, cand. chem. aus Magdeburg-Sudenburg. Die Begründung der Urteile und die neuen Preisaufgaben werden durch Anschlag am schwarzen Brett bekannt gemacht werden. Mein Bericht ist zu Ende. Ich schreite nunmehr zur letzten Amtshandlung des Rektors, welche alte ehrwürdige Sitte vorschreibt. Ich fordere Sie, Herr Heinrich Curschmann, als meinen gewählten und bestätigten Nachfolger, auf, das Katheder zu besteigen und die Insignien der Rektor-Würde aus meiner Hand zu empfangen. Zuvor aber habe ich Ihnen den Eid abzunehmen, den nach den Gesetzen unserer Universität jeder Rektor zu leisten hat. „Sie schwören bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, daß Sie die Verfassung und die Gesetze der Universität treu und gewissenhaft beobachten und die Pflichten des Ihnen anvertrauten Amtes als Rektor der Universität nach bestem Wissen und Gewissen redlich erfüllen wollen.“ Somit proklamiere ich Sie, Herrn Dr. Heinrich Curschmann zum Rektor der Universität Leipzig für das Studienjahr 1906 bis 1907. Ich übergebe Ihnen den Hut und den Mantel als Zeichen Ihrer Würde, die Kette, mit welcher königliche Huld den Leipziger Rektor geschmückt hat, das Siegel der Universität, damit Sie deren Willen rechtlich beglaubigen, die Statuten, die Sie zu bewahren haben, den Schlüssel als Zeichen, daß Sie Herr in diesem Hause sind. Gestatten Euer Magnifizenz, daß ich als erster Ihnen meinen Glückwunsch darbringe. Möge das Jahr Ihrer Amtsführung ein Jahr des Segens sein, für unsere Universität und für Sie selbst. ***

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Heinrich Curschmann (1846–1910)

31. Oktober 1906. Rede des antretenden Rektors Dr. Heinrich Curschmann. Über die Ansteckung. Hochansehnliche Versammlung! Altehrwürdiger Sitte gemäß tritt der neue Rektor seine Tätigkeit mit einer Rede an, deren Gegenstand er seinem Fachgebiet entnimmt. Es kann nicht der Zweck einer solchen Rede sein, neue und spezielle wissenschaftliche Errungenschaften eingehend darzulegen. Dies würde eine Beiseitesetzung des vorwiegend aus Nichtmedizinern bestehenden Auditoriums bedeuten, das eine dem Interesse weiterer Kreise nahe liegendes Thema und seine Darstellung in allgemein verständlicher Form erwarten darf. Ich habe das meinige dem Gebiet der Infektionskrankheiten entnommen, dem Gebiet, das mich vom Beginn meiner Laufbahn an wissenschaftlich und praktisch besonders beschäftigt hat. Lassen Sie mich Ihnen in großen Zügen die Entwicklung und den heutigen Stand der Lehre von der Ansteckung darlegen. Die Versuche, über die Entstehungsart ansteckender Krankheiten und die Ursachen ihrer epidemischen Verbreitung klar zu werden, sind noch älter wie die Erkenntnis ihrer Ansteckungsfähigkeit. Es lohnt nicht bei früheren Zeiten zu verweilen, wo man die Entwicklung seuchenartiger Krankheiten mit Sonne, Mond und Sternen, Stürmen, Erdbeben u. dgl. in Verbindung brachte. Schon im Altertum tauchten aus diesem Wust freilich sehr primitive Versuche naturwissenschaftlicher Anschauung auf: zunächst die Verknüpfung der Entstehung und Äußerung ansteckender Krankheiten mit dem Begriff der Vergiftung. Waren es anfangs Giftstoffe, die man in der Erde, im Wasser und besonders in den Brunnen suchte, so machte sich schon sehr früh auch der Gedanke geltend, daß die Schädigung an besondere Lebewesen gebunden sei. Beide Theorien zeigen sich in ältester Zeit vielfach phantastisch ausgeputzt, später sophistisch oder naturphilosophisch ausgeklügelt. Während man mit dem Contagium vivum die Vorstellung von Würmern verband, die im Blut und in den Säften lebten, 893

Heinrich Curschmann

oder die Erreger weitverbreiteter Epidemien sich gar geflügelt vorstellte, verknüpften sich durch Jahrhunderte hindurch mit dem unbelebten, dem chemisch wirkenden Ansteckungsstoff, die Begriffe der Fäulnis und der Gährung. So ließen die Araber bei den Pocken den so auffälligen Hautausschlag durch Aufbrausen der gährenden Körpersäfte entstehen. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts brachte die Erfindung des Mikroskops und die große Entdeckung der Infusorien durch Loewenhoek (1675) die Parasitentheorie aus dem Stadium der Phantasterei auf realen Boden, sodaß sie nun auch bei großen Naturforschern und Ärzten – ich brauche nur Linné zu nennen – Vertrauen fand. Aber Technik und allgemeine wissenschaftliche Einsicht reichten noch nicht aus, sodaß die Spekulation bald wieder den scheinbar geebneten Weg überwucherte. Auch exakte Errungenschaften, die schon die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts brachte, die Mitte der 30er Jahre durch Bassi entdeckte Pilzkrankheit der Seidenraupe, und die fast gleichzeitig klargelegte parasitäre Erkrankung des Weinstocks, vermochten zunächst nicht zu entsprechenden Forschungen bei den ansteckenden Krankheiten des Menschen zu führen. Selbst eine Anzahl bald darauf bei ihm beschriebener Pilzkrankheiten, die Entdeckung des Erregers des Favus (Schönlein 1839), des Soor (Langenbeck 1845), des Herpes tonsurans (Gruby und Malsten) und der Pityriasis versicolor (Eichstädt) blieben zunächst interessante Einzelbefunde ohne wissenschaftliche Konsequenzen. Mit einem Worte: die Zeit war noch nicht gekommen, und in der Mitte des 19. Jahrhunderts stand die Lehre vom Contagium vivum wieder so tief, daß sie fast für unwissenschaftlich galt. Interessanter Weise bot nun gerade die scheinbar feindliche chemische Theorie dem bei Seite geschobenen Contagium vivum selbst die Hand. Sie lenkte damals die Aufmerksamkeit auf grundlegende Punkte der Lehre von der Gährung: auf die weitgehenden Wirkungen kleinster Ursachen und auf die beständige, in sich gegebene Fort- und Wiedererzeugung des erregenden Prinzips. Klare Köpfe wurden dadurch natürlich wieder auf ein belebtes Kontagium hingelenkt, dem sie diese Eigenschaften mehr noch wie unbelebten Stoffen zuerkennen mußten. So war für Henle (1840 und 48–53) der Boden vorbereitet. Mit einer für alle Zeiten mustergültigen Schärfe legte er jenen Gedanken dar, indem er vor allem auf die unbegrenzte Fortpflanzungs- und Vermehrungsfähigkeit der Erreger der ansteckenden Krankheiten, auf ihre typische Äußerungsweise und endlich darauf hinwies, daß Alles, was niederste kleinste Lebewesen beeinträchtige, dies auch bezüglich der s. g. Kontagien und Miasmen tue. Aber auch die Henleschen Schlüsse, die bei aller Klarheit doch der mikroskopischen und experimentellen Grundlage entbehrten, hatten noch so wenig nachhaltigen Einfluß, daß die Entdeckung des ersten Mikroparasiten im Blute des Menschen, der Milzbrandbazillen (Rayé und Pollender 1850), fast eindruckslos vorüberging. Man suchte sie sogar damit abzutun, sie seien überhaupt nicht Lebewesen, sondern krystallinische Bildungen. Selbst der gewaltige Aufschwung, den die Pathologie unter Rokitanskys und Virchows Führung nahm, hemmte eher die Lehre vom Contagium vivum, als daß er sie förderte. Man hatte in der neuen großen Bewegung mit dem, was mit bloßem 894

Antrittsrede 1906

Auge und den damals möglichen mikroskopischen Methoden zu sehen und zu erforschen war, alle Hände voll zu tun und behandelte alles mißtrauisch und abweisend, was sich dem nicht ohne weiteres fügte. Nicht wenig wurden die Abweisenden noch durch den damaligen hohen Stand der Chemie und den weitgehenden, gewaltigen Einfluß ihres Neubegründers Liebig gestützt. Ihm war zum Glück in Pasteur ein ebenbürtiger Gegner erwachsen. Der wissenschaftliche Kampf, den beide führten, ist das letzte gewaltige Ringen zwischen der rein chemischen und der biologischen Auffassung der Kontagien, aus der diese endgiltig siegreich hervorging. Aber selbst die Lehren Pasteurs führten die Forschung doch zunächst wieder auf einen Seitenweg. Durch seine Studien, die vor allem den Erregern der Fäulnis und Gärung galten, wurden diese Vorgänge für die Entstehung und Verbreitung der ansteckenden Krankheiten wieder weit über Gebühr in den Vordergrund geschoben. Es schien nun besonders rationell, von „zymotischen“ Krankheiten zu reden und unter ihren Ursachen Fäulnis und Gärungsvorgänge durchweg die Hauptrolle spielen zu lassen. Wenn um jene Zeit die Männer zur bahnbrechenden theoretischen und experimentellen Fortentwicklung der Lehre vom belebten Kontagium noch fehlten, so fand sich nun zunächst auf praktischer Seite das Genie, das aus dem bis dahin Erreichten die Konsequenzen zog. Lister baute seine unsterbliche Lehre, ohne die Erreger der Wundinfektionskrankheiten näher zu kennen, auf das auf, was frühere Forscher, ihnen allen voran Henle, über die Lebens- und Wirkungseigentümlichkeiten der Ansteckungserreger theoretisch geschlossen hatten. Er setzte die Henlesche Voraussetzung, wer die krankmachenden Organismen vom Körper fernzuhalten vermöge, könne auch die von ihnen abhängigen Krankheitszustände verhüten und heilen, in die Tat um. Auch in der inneren Medizin waren die Mikroparasiten mittlerweile untrennbar mit der Entstehung der Infektionskrankheiten verknüpft worden. Wir alle, die wir anfangs der siebziger Jahre an ihrer Bearbeitung im großen Ziemßenschen Handbuch teilnehmen durften, sammelten uns unter der neuen Flagge. Freilich waren Gärung und Fäulnis als wichtige Faktoren bei der Ansteckung noch nicht überwunden. Noch immer und bis in den Anfang der siebziger Jahre spielten die Begriffe „Kontagium und Miasma“ eine große Rolle, wenn auch mit dem Unterschied gegen früher, daß man unter Kontagium nun direkt vom Menschen stammende und von ihm übertragene pathogene Lebewesen verstand, während man mit dem Ausdruck Miasma der Auffassung Ausdruck gab, daß nicht wenige Mikroorganismen zur Erlangung ihrer Wirksamkeit gewisser Zersetzungs- und Fäulnisvorgänge oder auch einer Art von Ausreifung außerhalb des menschlichen Körpers, hauptsächlich in der Erde, bedürften. Diesen Anschauungen lag auch die berühmte, von Pettenkofer und seiner Schule so hartnäckig verteidigte Grundwassertheorie zugrunde, die heute nur noch der Geschichte angehört. Als nun im Jahre 1873 Obermeier darlegte, daß gewisse Spirillen bei den einzelnen Anfällen des Rückfallfiebers regelmäßig im Blute aufträten und mit ihrem Zurückgehen wieder verschwänden, hatte diese Entdeckung ein besseres Schicksal wie die der Milzbrandbazillen. Man ging sofort über Obermeiers eigene vorsichtige Auf895

Heinrich Curschmann

fassung hinaus und erkannte die Spirillen bedingungslos als die Erreger der Krankheit an. Mittlerweile waren immer zahlreichere Forscher an das neue ergiebige Feld herangetreten. Wo aber früher berechtigte oder auch öde Skepsis sich geltend gemacht hatten, trat nun Übereifer, oberflächliches Untersuchen und leichtfertiges Deuten der Ergebnisse hervor. Mühelos wurden täglich neue Krankheitserreger gefunden, und selbst die Parasiten der akuten Exantheme, die uns heute noch verschleiert sind, waren jenen Stürmern alsbald vollkommen klar. Ich selbst mußte mir eine heftige kritische Zurechtweisung gefallen lassen, als ich in meiner Pockenmonographie an dem Nachweis des Erregers dieser Krankheit (Klebs-Luginbühl) zu zweifeln wagte, den man damals in kleinen in und auf die Haut eingestreuten dunkeln Körnchen bestimmt gefunden haben wollte. Zum Glück hatte man mittlerweile auf botanischer Seite ernst und exakt vorgearbeitet. Die Studien von Cohn (schon 72), de Bary, van Tieghem, Nägeli, Brefeld, Zopf u. a. hatten eine Fülle wertvoller morphologischer und physiologischer Tatsachen gebracht, auf denen nun der geniale Robert Koch weiter bauen konnte. Seine 1878 erschienenen Untersuchungen über die Ätiologie der Wundinfektionskrankheiten brachten mit einem Male nicht allein die biologische Unterlage für die bereits in reger Fortentwicklung befindliche Lister’sche Behandlungsweise, sondern, was noch weit wichtiger, sie gaben der gesamten Parasitenforschung die exakt begründete Richtung, die heute zu Kenntnissen und Aussichten geführt hat, an die man vor 30 Jahren noch nicht zu denken wagte. Der bahnbrechende Fortschritt der Kochschen Studien lag in dem unumstößlichen Nachweis, daß verschiedenartige, morphologisch und biologisch wohl charakterisierte Mikroorganismen von geeigneten Versuchstieren auf gleichartige rein und einwurfsfrei übertragen, immer die gleiche Krankheit hervorbrächten. Nicht zum kleinsten Teil gab das Auftreten Kochs, der bald zahlreiche, begabte Schüler um sich sammelte, vom Beginn der 80er Jahre an Anlaß zum Nachweis und sorgsamen Studium einer großen Zahl neuer Erreger von Infektionskrankheiten. Koch selbst und Fehleisen wiesen 1881 in den Streptokokken die Erreger der Wundrose nach. Eberth, Koch und Gaffky machten uns (1880) mit dem Typhusbazillus bekannt. Friedländer, Fränkel und Weichselbaum entdeckten die Erreger der Lungenentzündung, Löffler den Diphtheriebazillus und schon 1882 fand Koch den Tuberkelbazillus, dessen Entdeckung durch Klenke, Villemin, und vor allem durch Baumgartens bahnbrechende Arbeiten und Cohnheims scharfsinnige Deduktionen schon wohl vorbereitet gewesen war. Waren auch alle diese Mikroorganismen und noch manche andere (Lepra Gonnorhoe) so gründlich studiert, daß niemand an ihrer Pathogenität zweifelte, so fehlte doch zur völlig einwandfreien Feststellung noch eines: die Möglichkeit, die Erreger von anderen Mikroorganismen scharf zu trennen, sie rein darzustellen, und nun diese „Reinkulturen“ auf Versuchstiere zu übertragen. Wenn auch schon vorher Brefeld, Klebs Schröder, Cohn u. a. Versuche gemacht hatten, Krankheitserreger gesondert zu züchten, so wurde doch erst durch Kochs eigenartiges Reinkulturverfahren die Aufgabe endgültig gelöst. Während die früheren Forscher mit mehr oder 896

Antrittsrede 1906

weniger Glück die Bakterien in Flüssigkeiten zu kultivieren versucht hatten, lehrte Koch, sie auf festen, vor allem auf festen, durchsichtigen Nährböden zu züchten, sodaß man sie nun von anderen gewöhnlich oder zufällig beigemengten Mikroorganismen sicher trennen, vollkommen rein darstellen und beobachten und beliebig experimentell verwerten konnte. Äußerst wertvolle Hülfsmittel erwuchsen der Forschung noch durch die von Weigert angegebenen und von Ehrlich erfolgreich ausgebauten Methoden, durch Farbstoffe die Sichtbarkeit der Bakterien zu heben. Auch der großen Wichtigkeit der Verbesserung des Mikroskops, der Immersionssysteme und der Blenden, die wir besonders Abbée zu danken haben, sei hier noch gedacht. – Ich habe Ihnen in großen Zügen die geschichtliche Entwicklung der Lehre von der Ansteckung und ihrer Erreger dargelegt, die für uns Ältere das besondere Interesse hat, daß wir ihre ausschlaggebende letzte Periode von ihren Anfängen an noch miterleben durften. Wenn ich mich jetzt der Besprechung ihres heutigen Standes zuwende, so kann sie bei der riesigen Ausdehnung, die die Lehre mit allen ihren Zweigen schon jetzt gewonnen hat, natürlich nur die wichtigsten Punkte und auch diese nur kurz berühren. Was ist nun, das ist die zunächst sich aufdrängende Frage, der heutige Begriff der Ansteckung? Die Antwort lautet weit einfacher und bestimmter als früher: Man versteht unter Ansteckung die mittelbare oder unmittelbare Übertragung pathogener kleinster Lebewesen auf empfängliche Individuen und die auf ihre besonderen Entwicklungs- und Lebensäußerungen zurückzuführende Erzeugung eigenartiger Krankheitszustände. Auf die Gestaltungs- und Lebensverhältnisse dieser Mikroorganismen haben wir zunächst einen Blick zu werfen. Es handelt sich um niedrigste, kleinste, an der Grenze zwischen Tier und Pflanze stehende einzellige Lebewesen. Die meisten der bis jetzt bekannten sind als pflanzliche, aus einer eiweißartigen Substanz bestehende Gebilde aufzufassen. Sie werden, wie Ihnen bekannt, als Bakterien bezeichnet und scheiden sich ihrer Gestalt nach in Kugelbakterien, s. g. Mikrokokken, und in stäbchenförmige Bildungen, Bakterien im engeren Sinn, mit vielfach charakteristischer Anordnung zu zweien, zu Häufchen, Kettenform, graden und spiraligen Fäden u. s. w. Während die größere Mehrzahl der Kokken und Bakterien unbeweglich ist, zeigen einzelne unter ihnen – vor allen erwähnenswert der Erreger des Unterleibstyphus – eine aktive, durch Geißelfäden verschiedener Zahl und Anordnung bedingte Beweglichkeit. Die Fortpflanzung der meisten Formen erfolgt durch einfache Teilung des Zellleibes, seltener durch Sporenbildung. Neben den Bakterien gelangen niederste Tiere, Protozoen, als Krankheitserreger neuerdings zu immer größerer Bedeutung. Ihr Studium ist insofern komplizierter und schwieriger, als nicht wenige in bestimmten Entwicklungsstadien auf andere Wirte, hauptsächlich Insekten, angewie897

Heinrich Curschmann

sen sind, die dann auch ihre Übertragung auf den Menschen vorzugsweise oder ausschließlich zu vermitteln scheinen. Unter den für die Ansteckung und Krankheitserzeugung wichtigen Eigenschaften der Bakterien spielen ihre Fortentwickelung und enorme Vermehrung im Blut und den Geweben und die ihnen eigene Giftbildung die weitaus bedeutendste Rolle. Es handelt sich bei diesen Bakteriengiften um eiweißartige Stoffe, die bei der überwiegend größten Gruppe an den Leib der Zellen gebunden sind, und nur dann ihre schädliche Wirkung entfalten können, wenn sie innerhalb des Körpers in großen Mengen zugleich zerfallen. Bei einer anderen kleineren Gruppe wird das Gift von den örtlich haftenden Bakterien abgesondert, um von da in die Blutbahn zu gelangen. Für den Menschen spielen aus dieser Gruppe die Bakterien des Wundstarrkrampfes und der Diphtherie eine besonders verhängnisvolle Rolle. Eine andere gewöhnliche Lebensäußerung der Bakterien, die Gährung und Fäulnis erregende, ist, im Gegensatz zu den Auffassungen früherer Zeit, für die Entstehung der Infektionskrankheiten nur noch von ganz untergeordneter Bedeutung, von um so größerer in der gesamten freien organischen Natur. Für die Erkenntnis und Beurteilung der verschiedenen Mikroparasiten ist es ferner zu wissen wichtig, daß ihre Grundformen unter der Einwirkung physikalischer und chemischer Agentien Gestaltsveränderungen und Bildungshemmungen erfahren können, mit denen sich nicht selten auch eine Veränderung, meist Herabsetzung ihrer Giftwirkung verknüpft. Diese morphologischen Verschiedenheiten, denen vom praktischen und theoretischen Standpunkt die eingehendsten Studien gewidmet wurden, trugen wohl einen Teil der Schuld daran, daß man an der Selbständigkeit und Eigenart der verschiedenen Bakterienarten zweifeln und unter Nägeli’s Führung sie auseinander hervor- und in einander übergehen lassen konnte. Heute sind diese Auffassungen verlassen und endgültig durch die Koch’sche Lehre ersetzt, durch die die Verschiedenheit der Bakterienarten, ihre Konstanz und ihre ganz bestimmte, eigenartige pathogene Wirkung dauernd festgestellt erscheint. – Was wissen wir nun, das sind weitere für die Ansteckungslehre fundamentale Fragen, von der Entstehung, Fortentwicklung und den sonstigen Lebensverhältnissen dieser Krankheitserreger? Schon ehe sie in den Körper eindringen, sind ihre Entwicklungs- und Lebensbedingungen ungemein kompliziert und mannigfaltig. Beim Stande unserer heutigen Kenntnisse lassen sich hier zwei große, selbstverständlich vielfach in einander übergehende Gruppen unterscheiden: Mikroorganismen, die in Bezug auf ihre Entwicklung, Erhaltung und Dauerbarkeit an die Organe und Gewebe des lebenden Menschen oder bestimmter Tiere gebunden sind und solche, die, mit dem kranken Körper nicht oder nicht streng verknüpft, auf tierischen und pflanzlichen Resten, im Wasser, in der Erde und vor Allem auch, ohne sie zunächst zu schädigen, auf oder im lebenden Tier und Menschen ein s. g. saprophytisches Dasein führen. Mehr zufällig, unter besonderen Umständen dringen die letzteren in den menschlichen Körper, oft in die Gewebe ihres ursprünglichen Wirtes, krankmachend ein. Von größtem praktischen Interesse ist unter ihnen ein stets im Darm des Menschen 898

Antrittsrede 1906

zu findendes Lebewesen, das Bacterium coli. Während ihm gewöhnlich unter anderen die nützliche Aufgabe zufällt, durch sein antagonistisches Verhalten zu den Fäulnisbakterien ihr die Verdauung schädigendes Überhandnehmen zu hindern, kann es, durch besondere Zustände begünstigt, in die Blut- und Lymphgefäße, namentlich auch in die Gallenwege übertreten und die schwersten örtlichen wie allgemeinen Krankheiten erzeugen. Weit größer ist die Zahl der zuerst genannten Krankheitserreger, die mit ihren Lebens- und Fortpflanzungsbedingungen an den lebenden Menschen oder bestimmte Tiere mehr oder weniger fest gebunden sind. Einige sind, soweit bekannt, völlig an den Menschen geknüpft. Bei ihm allein verursachen sie eine eigenartige Infektions-Krankheit und nur im so erkrankten Menschen werden sie von neuem erzeugt. Die Cholera, der Unterleibstyphus und der Aussatz gehören zu den wichtigsten Repräsentanten dieser Gruppe. Andere Erreger ansteckender Krankheiten sind sowohl im Menschen wie in bestimmten Tieren entwicklungsfähig, so daß zwischen ihnen ein gegenseitiges Ansteckungsverhältnis besteht. Hier ist vor allem die Tuberkulose mit ihren Beziehungen zum Rind zu nennen. Pest, Rotz und Milzbrand sind mit ihren Erregern so sehr auf gewisse Tiere, Ratte, Pferd und viele andere Tiere angewiesen, daß diese als die Hauptträger der Krankheit betrachtet werden müssen, die erst von ihnen auf den Menschen übergeht. Mit Recht hat man von diesem Standpunkt aus als eine der wichtigsten Maßnahmen zur Bekämpfung der Pest die Vertilgung der Ratten ins Auge gefaßt. Auffallend scharf heben sich aus der großen Zahl der bezüglich ihrer Entstehungsweise bis jetzt bekannten Infektionskrankheiten die heraus, die wir als akute Exantheme bezeichnen, vor allem Pocken, Scharlach, Masern und Fleckfieber. Der Eigenart ihres klinischen Verlaufs und ihrer Verbreitungsweise gemäß muß es sich hier um Ansteckungserreger von besonders nahe übereinstimmenden Eigenschaften handeln. Sie haben sich aber der eifrigsten Forschung bis jetzt völlig entzogen. Ob es sich dabei um prinzipiell andere, den heutigen Methoden unzugängliche biologische Verhältnisse oder um Wesen handelt, die mit den heute verfügbaren Mitteln nicht sichtbar gemacht werden können, ist vorläufig nicht zu entscheiden. Wie gelangen nun die Erreger der ansteckenden Krankheiten in den Körper des Menschen? Es geschieht dies vorzugsweise von bestimmten Organen aus, unter denen der Verdauungsapparat und die Atmungsorgane mit ihren Schleimhäuten sowie die äußeren Bedeckungen die wesentlichste Rolle spielen. Den Weg in den Körper von den Verdauungsorganen, und hier hauptsächlich vom Munde aus, wählen z. B. die Cholera, der Unterleibstyphus und die Ruhr. Am genauesten sind in dieser Hinsicht Typhus und Cholera bekannt. Ihre Erreger verlassen mit dem Darminhalt, der des Typhus besonders auch mit dem Nierensekret, den Körper. Eine Ausscheidung durch die Haut oder die Atmungsluft scheint ausgeschlossen, so daß die einfache Nähe der Kranken nicht gefährdet. Für das Zustandekommen der Ansteckung ist vielmehr eine direkte Berührung mit ihnen und eine Übertragung ihrer Ausscheidungen hauptsächlich von der Mundhöhle aus erforderlich. 899

Heinrich Curschmann

Daß dies bei allen möglichen Gelegenheiten durch die nicht gehörig gereinigten Hände, durch infizierte Gebrauchsgegenstände und Nahrungsmittel, sowie durch sonstige, oft weder im voraus zu berechnende noch nachträglich zu erkennende Zufälligkeiten geschehen kann, ist selbstverständlich. Die mittelbare Übertragung durch Verunreinigung fester und flüssiger Nahrungsmittel mit pathogenen Keimen führt nicht selten zu Infektionen im größten Stil, zu epidemischem und endemischem Auftreten der fraglichen Krankheiten. Die Hauptrolle spielt hierbei das Trink- und Gebrauchswasser, das durch Brunnen, Bäche, Flußläufe und stehende Wässer, besonders auch durch das Kielwasser der Schiffe, den Infektionsträgern zur größten Verbreitung verhelfen kann. Hauptsächlich durch den Atmungsapparat dringen die Erreger der Tuberkulose, der Influenza, verschiedene Formen von Lungenentzündungen und wohl sicher auch der Diphtherie in den Körper ein. Daß auch die bis jetzt unbekannten Gifte der akuten Exantheme diesen Weg bevorzugen, ist nach allem, was Erfahrung und Beobachtung lehren, durchaus wahrscheinlich. Die Bazillen der Tuberkulose und der Influenza werden besonders durch den Auswurf herausbefördert. Für die Ausbreitung der Tuberkulose ist das in so mannigfacher Weise abgelagerte und verbreitete Sputum vor allem maßgebend. Getrocknet und zerstäubt gelangt es mit der Atmung in die Luftwege, um hier schon oft an ihrem Eingang, den Mandeln und dem Kehlkopf, sich festzusetzen. Auch an feuchte Träger gebunden vermögen die Kochschen Bazillen, wenn auch nicht so leicht und allgemein, sich zu verbreiten. Flügge hat gezeigt, daß die keimhaltigen Absonderungen der Luftwege beim Husten und Sprechen in feinsten Tröpfchen in die Luft und damit in die Atmungswege gelangen können. Für die Verbreitung der Influenza spielt die Staub- und Tröpfcheninhalation zweifellos die größte Rolle. Daß aber diese Krankheit so gewöhnlich eine epidemische Verbreitung gewinnt, ist bis jetzt nicht leicht zu erklären. Zweifellos sind hierbei die Hauptmomente die außerordentliche Flüchtigkeit des Kontagiums, seine leichte Haftbarkeit schon in den obersten Luftwegen, die allgemein verbreitete Disposition und die geringe Immunitätsdauer. Die Verbreitung des Giftes der akuten Exantheme, dessen Natur und Austrittsweise aus dem Körper wir bisher nicht kennen, scheint hauptsächlich durch staubförmige Träger zu erfolgen. Für Disponierte ist die Ansteckungsgefahr um so größer, je näher und länger sie sich bei den Kranken aufhalten. Mit wachsender Entfernung von ihnen und Vermeidung reiner bewegter Luft mit der infizierten vermindert sich alsbald die Ansteckungsgefahr. Ich habe stundenlange Visiten während einer Berliner Fleckfieberepidemie in gut ventilierten Krankenräumen oder bei den im Freien behandelten Kranken gemacht, ohne daß ich selbst oder einer meiner Assistenten angesteckt wurde. Daß das Gift der akuten Exantheme auch an leblosen Gegenständen, Kleidern, Wäsche und sonstigen Effekten haftet und durch sie verbreitet werden kann, ist eine ebenso alte Erfahrung, wie die, daß bewegte frische Luft für sie eines der sichersten Desinfektionsmittel darstellt. 900

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Eine sehr große, wichtige Gruppe bilden diejenigen Infektionsträger, gegen die der Körper durch die intakte äußere Haut und die Schleimhäute geschützt ist. Ihr Eindringen wird fast nur durch Verletzungen oder ihnen gleichwertige anatomische Veränderungen dieser Teile möglich. Ich nenne hier vor allem die Erreger der eiterigen Entzündungen und der Rose, die Staphylo- und die Streptokokken. Ihnen mögen diejenigen des Starrkrampfes, des Rotz, der Hundswut, der Bubonenpest und des Milzbrandkarbunkel angereiht sein. Einige dieser Erreger, vor allem die der Eiterung und der Rose, sind außerordentlich verbreitet: in der Luft, auf der Haut lebender Individuen, und auf leblosen Gegenständen, wo sie zunächst ein saprophytisches Dasein führen. Die Folge davon ist die große Gefährdung einer jeden, auch der geringfügigsten Haut- und Schleimhautwunde. Nach dem bisher Erörterten könnte es scheinen, wie wenn den einzelnen Krankheitserregern auch je nur eine Eingangspforte zukäme. Dies ist nur für den kleinsten Teil zutreffend. Die übrigen können auf mehrfachen, ja sehr vielfachen Wegen in die Körpergewebe gelangen. Aber auch hier besteht eine gewisse, mit ihren biologischen Eigentümlichkeiten verknüpfte Gesetzmäßigkeit. So kommen die Pestund Rotzbazillen außer durch die Haut besonders durch die Atmungswege in den Körper, während die Milzbrandbazillen neben den äußeren Bedeckungen ihren Weg noch durch die Verdauungsorgane und gewisse Schleimhäute (weibliche Genitalien, Rectum) suchen. Die größte Mannigfaltigkeit der Eingangspforten bietet aber die Tuberkulose: die äußere Haut, die Schleimhäute der Atmungs-, der Verdauungs- und der Genitalwege stehen ihrem Erreger offen. Ich gedachte schon mehrfach der Verbreitung und Verschleppung der Krankheitserreger auf indirektem Wege und möchte dem nur einige für die Ansteckungslehre praktisch wichtige Tatsachen hinzufügen. Vor allem sei daran erinnert, daß völlig gesunde Menschen an ihrem Körper, in ihren Kleidern und Effekten Träger der Krankheitsgifte sein und damit die Ansteckung vermitteln können. Auch von akuten Infektionskrankheiten Genesene tragen oft noch auf lange Zeit hin keimfähige Erreger der überstandenen Krankheit mit sich herum und sind damit eine nicht geringe Gefahr für Disponierte. Besonders bekannt sind solche „Bazillenträger“ nach Typhus, Diphtheritis und Cholera. Wenn auch nicht streng hierhergehörig, so sei noch erwähnt, daß auch von diesen Krankheiten in leichtestem Grad befallene, dem Laien als gesund oder nur unpäßlich geltende Individuen besonders gefährliche Träger der Ansteckungsstoffe sein können. Wie häufig bringen Kinder aus der Schule oder vom Spielplatz Diphtheritis, Masern oder Scharlach nach Hause, ohne daß dort zunächst ein anderer Krankheitsfall bekannt geworden war. Wie oft werden Fälle leichtester Erkrankung an Cholera und Typhus verkannt oder ganz übersehen. Es vergeht kein Jahr, in dem uns nicht mehrere solche, wochenlang in voller Tätigkeit gebliebene „ambulante“ Typhusfälle, besonders auch aus Berufen zukommen, die mit Nahrungsmitteln zu tun haben, Bäcker, Schlachter, Milch- und Gemüsehändler, Köche und Kellner. – 901

Heinrich Curschmann

Zu den wichtigsten Momenten für die Entstehung und Verbreitung ansteckender Krankheiten gehört die Widerstandsfähigkeit ihrer Erreger gegen äußere Einflüsse, physikalische und chemische. Verglichen mit derjenigen höherer Organismen ist sie nach mancherlei Richtungen sehr erheblich, freilich bei verschiedenen Arten und unter wechselnden Umständen äußerst verschieden. Von den Erregern mit relativ geringer Widerstandsfähigkeit, die durch andere Verhältnisse freilich wieder überreich ausgeglichen wird, seien diejenigen der Cholera und Influenza genannt. Eine besondere Haltbarkeit haben dagegen die Starrkrampfund Milzbrandsporen, die Tuberkulosebazillen, die Staphylo- und Streptokokken und in ziemlich erheblichem Maße auch die Typhusbazillen. So sei erwähnt, daß die Starrkrampfsporen 80 Grad Hitze bis zu einer Stunde, strömenden Wasserdampf bis zu 5 Minuten vertragen, in 5 % Karbolsäure erst nach 10 bis 15 Stunden abgetötet werden und auch gegen Austrocknung äußerst widerstandsfähig sind. Mit sporenhaltigen Holzsplittern und Gartenerde aus einem Grundstück, aus dem ein Tetanusfall meiner Klinik zugeführt war, konnten wir noch nach 1/2 Jahr geeigneten Versuchstieren die Krankheit einimpfen. Eine besonders unerfreuliche Haltbarkeit kommt auch dem Tuberkelbazillus zu. Feucht und trocken bleibt er Monate lang außerhalb des menschlichen Körpers keimfähig. Um den Auswurf Schwindsüchtiger sicher zu sterilisieren, ist bis zu 5 Minuten langes Kochen notwendig. Auch Kälte bis zu minus 10 Grad erträgt der Kochsche Bazillus. Der Typhusbazillus ist, ebenso wie der Erreger der Cholera, gegen Licht und Austrocknung zwar äußerst empfindlich, gegen Karbolsäure und Alkohol, Hitze und Kälte dagegen sehr widerstandsfähig. In Eis und Schnee kann er sich Monate lang lebend erhalten, ein Umstand, der bei seiner so vorwiegenden Verbreitung durch das Wasser besonders ins Gewicht fällt. – Nachdem wir uns mit den wichtigsten Entwicklungs- und Lebenseigenschaften der Krankheitserreger bekannt gemacht haben, kommen wir zu dem zweiten großen Faktor der Ansteckung: zu den Verhältnissen, unter denen die Mikroben, in den Körper gelangt, ihre krankmachende Wirkung betätigen. Dies ist im großen und ganzen an zwei Bedingungen geknüpft: An die möglichst energische Entfaltung ihrer Lebenseigenschaften und an das Maß der Widerstandsfähigkeit des befallenen Organismus gegen ihre Wirkung. Man spricht nicht ohne Berechtigung von einem „Kampf des Körpers mit dem gefährlichen Eindringling“. Die wichtigsten krankmachenden Lebenseigenschaften der Mikroparasiten pflegt man unter der Bezeichnung Virulenz zusammenzufassen. Der Ausdruck trifft nicht gleichmäßig das hierher Gehörige. Man hat dabei zweierlei auseinander zu halten: die Wachstums- und Vermehrungsenergie der Bazillen und ihre Gifterzeugung, ihre Virulenz im engeren Sinne. Was den ersten Punkt betrifft, so ist es klar und unbestritten, daß die oft unglaubliche Menge von Bakterien, die kurz nach der Invasion zur Entwicklung gelangen, direkt zu schweren mechanischen Störungen, Verstopfung und Verlegung großer lebenswichtiger Körpergebiete führen kann. Weit wichtiger ist aber der zweite 902

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Punkt: Die Wirkung der dem Bakterienkörper anhaftenden oder von ihm abgesonderten Gifte auf das Blut und die Gewebe. Zweifellos besteht ein Zusammenhang zwischen der Menge der im Körper erzeugten Bazillen und der Stärke der Giftwirkung. Er ist aber nicht unbedingt, da die Virulenz der Krankheitserreger während ihrer verschiedenen Lebensperioden und infolge äußerer und innerer Einflüsse die größten Verschiedenheiten zeigt. Ihre auf der Höhe der Krankheit meist intensivste Giftigkeit nimmt mit zunehmender Besserung ab. Dazu ist die Gifterzeugung der Bakterien, die von verschiedenen an der gleichen Krankheit leidenden Individuen stammen, durchaus nicht gleich stark. Endlich kann man unter dem Einfluß physikalischer und chemischer Wirkungen z. B. derjenigen des Lichts eine Virulenzverminderung der Krankheitserreger beobachten, ohne gleichzeitige Herabsetzung ihrer Wachstums- und Vermehrungsenergie. Auch im Laboratorium fortgezüchtete Kulturen pflegen trotz ungestörten Wachstums allmählich eine zunehmende Einbuße ihrer Giftigkeit zu erleiden. In diesem Lichte verliert so manches Experiment am eigenen Leibe erheblich an Beweiskraft. Ich erinnere nur an den berühmten Cholera-Versuch von Pettenkofer und Emmerich. Die von ihnen verschluckten Cholerakulturen waren im Laboratorium zum Glück so weit gezähmt gewesen, daß die tapferen Forscher mit der leichtesten Form der Krankheit, mit einfachen Choleradiarrhöen davonkamen, die sie von ihrem einseitigen Standpunkt freilich nicht als solche anerkennen wollten. Der zweite für die Ansteckung maßgebende Hauptfaktor, die Empfänglichkeit für die Krankheitserreger, soll hier wesentlich von praktischen Gesichtspunkten behandelt werden. Es muß als fundamentaler Satz gelten, daß die Empfänglichkeit für die bisher bekannten ansteckenden Krankheiten bei Menschen und Tieren ungemein verschieden ist. Für bestimmte Infektionskrankheiten sind nur bestimmte Tierspecies empfänglich, d. h. der spezifische Krankheitserreger ist nur in ihrem Körper imstande, seine zu den typischen Äußerungen der Krankheit führenden Lebensvorgänge zu entfalten. So ist der Mensch der ausschließliche oder doch der Hauptträger gewisser ansteckender Krankheiten, die bei Tieren überhaupt nicht oder nur bei einzelnen ganz bestimmten Species aufzutreten vermögen, und umgekehrt sind wieder bestimmte Tiere gegen menschliche Infektionskrankheiten unempfänglich. Auch gegen die Keime der ihm eigenen Infektionskrankheiten verhält sich der Mensch, je nach ererbten, erworbenen und sonstigen körperlichen Verhältnissen ungemein verschieden. Rasse, Geschlecht, Alter, Ernährungs- und Kräftezustand sind hier hauptsächlich maßgebend. So weiß jeder Praktiker, daß für eine Anzahl ansteckender Krankheiten dem frühesten Kindes- und dem Greisenalter eine sehr herabgesetzte Empfänglichkeit zukommt. Es ist dies z. B. für den Unterleibstyphus der Fall, für den wieder gerade in den Blütejahren des Lebens, bei gut ernährten, kräftigen Individuen eine besondere Disposition besteht. Im Gegensatz hierzu knüpfen sich andere seuchenartige Krankheiten an Verhältnisse, die die Körperfunktionen herabsetzen, an Entbehrungen, mangelhafte Wohnungs-, Licht- und Luftverhältnisse. Und nicht mit Unrecht führt das so gefürchtete Fleckfieber im Volksmund die Bezeichnung Hungertyphus. 903

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Allbekannt ist es ferner, daß auch bei einzelnen Individuen zeitweilig oder während der ganzen Dauer ihres Lebens eine besonders große oder umgekehrt eine ungewöhnlich geringe Widerstandsfähigkeit gegen Infektionskrankheiten besteht. Alle diese Erfahrungen sind fast so alt wie unsere Bekanntschaft mit den betreffenden Krankheiten, aber bis in die jüngste Zeit fehlte der Einblick in die zu Grunde liegenden Vorgänge, der uns heute durch die Fortschritte der Bakteriologie in ungeahnter Ausdehnung gestattet ist. Vor allem wissen wir, daß schon die gewöhnlichen Eingangspforten für die Erreger, die äußere Haut und die Schleimhäute, und hier besonders die der Atmungsund Verdauungswege, individuell oder bei derselben Person zeitlich verschieden widerstandsfähig sind. Mehr noch wie die äußere Haut scheint in dieser Beziehung das Verhalten der Schleimhäute zu variieren. Mechanische und entzündlich bedingte Vulnerabilität, Art, Stärke und Veränderungen ihrer physiologischen oder pathologischen Absonderungen spielen hier eine große, mannigfaltige Rolle. Beispielsweise sei nur der Magenschleimhaut und ihrer Salzsäureabsonderung gedacht, bei deren normalem Stand für die Darmschleimhaut gefährliche Parasiten, so die der Cholera, des Typhus und der Ruhr, unschädlich gemacht oder doch stark abgeschwächt werden. Hiermit erklärt sich auch die so besondere Empfänglichkeit für diese Krankheiten bei Personen mit chronisch oder vorübergehend durch Diätfehler gestörter Magenfunktion. Sind nun pathogene Mikroorganismen oder ihre Gifte allein (Tetanus, Diphtherie) in den Körper eingedrungen, so müssen sie, wie vorher erwähnt, um den ihnen zukommenden Krankheitszustand zu erzeugen, noch eine ganze Anzahl den Geweben und der Blutflüssigkeit eigentümliche Schutzvorrichtungen überwinden. Zweifellos kommt unter diesen Schutzvorrichtungen einem von Metschnikoff, ihrem Entdecker, als Phagozytose bezeichneten Vorgang eine große Bedeutung zu. Gewisse als Wanderzellen benannte Gebilde, und die weitaus wichtigsten unter ihnen, die weißen Blutkörperchen (die kleineren mehrkernigen und die großen), haben die Eigentümlichkeit, chemotaktisch angezogen, in die Blutbahn gelangte Fremdkörper, besonders auch pathogene Mikroorganismen – bereits veränderte sowohl, wie vor allem lebende, fortentwicklungsfähige – in sich aufzunehmen, abzutöten und aufzulösen. Diese „Verdauung“ vollzieht sich unter dem Einfluß eigenartiger, in den Zellen enthaltener und von ihnen erzeugter Stoffe, „Zytasen“, deren Wirkung wahrscheinlich durch eine zweite, „Fixator“ benannte Substanz vorbereitet und begünstigt wird. Die zweifellos große Wichtigkeit dieser Funktion der weißen Blutzellen wird schon durch die einfache Tatsache erhärtet, daß sie beim Eindringen vieler Krankheitserreger in den Körper sofort eine erhebliche Vermehrung erfahren. Während aber Metschnikoff und seine Schüler der phagozytischen Tätigkeit der weißen Blutzellen die ausschließliche oder doch die Hauptrolle im Kampfe gegen die eingedrungenen Krankheitserreger zuschreiben wollen, zeigten andere, besonders deutsche Forscher, daß auch im Blute kreisenden, offenbar anderartigen, aber gleichfalls von Leukozyten erzeugten Substanzen die Fähigkeit zukäme, eingedrungene pflanzliche und tierische Mikroorganismen (Bakterien und Plasmodien) unschädlich zu machen. 904

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Auch hier handelt es sich um zweierlei Stoffe, die sogen. Alexine (Buchner) und die Immunkörper (Pfeiffer), welch letztere sich sofort an den zu zerstörenden fremden Organismus binden und damit die Wirkung der ersteren einleiten und stützen. Aber hiermit nicht genug. Im Jahre 1900 zeigte Behring, daß auch die von den Krankheitserregern abgesonderten in die Blutbahn gelangten Gifte von reaktiv entstehenden im Blutserum enthaltenen Gegengiften (Antitoxinen) gebunden und unschädlich gemacht würden. Die Beobachtung Behrings, daß auch nach der Neutralisation der Bakteriengifte durch jene Substanzen (Immunisierung) die Antitoxinbildung im Körper noch längere Zeit fortdauert, führte auf mühevollen Wegen zu der größten therapeutischen Entdeckung der letzten 50 Jahre und zu einer der segensreichsten überhaupt, zu der des Diphtheritis-Heilserums. Die Fortdauer der Antitoxinbildung nach Unschädlichmachung der Bakteriengifte erklärt aber auch die noch nach der Genesung längere Zeit weiter bestehende Unempfänglichkeit gegen neue Ansteckung. Dies natürlich nur bei solchen Infektionskrankheiten, deren Erscheinungen auf der Wirkung der von ihren Erregern abgesonderten Giften beruhen, beim Menschen also fast nur beim Starrkrampf und der Diphtheritis. Die lange, oft auf Lebenszeit fortbestehende Unempfänglichkeit (Immunität) nach Heilung solcher ansteckender Krankheiten, bei denen das Gift nicht von den Erregern abgesondert wird, sondern an ihren Leib gebunden bleibt, ist mit größter Wahrscheinlichkeit auch auf das reaktive Auftreten von Schutzstoffen zurückzuführen. Die einschläglichen, höchst komplizierten Verhältnisse sind durch zahllose, zunächst durch Behrings geniale Entdeckungen angeregte Arbeiten zwar weit gefördert und auch therapeutisch fruktifiziert, aber durchaus nicht völlig geklärt. Auf andere noch nicht erwähnte, in zweiter Linie hier in Betracht kommende Substanzen, die von Pfeiffer, Ehrlich u. a. studierten spezifischen bakteriolytischen Stoffe und die sog. Agglutinine kann hier nicht eingegangen werden. – Durch die Erkenntnis, daß niedere Organismen die alleinigen Erreger ansteckender Krankheiten sind haben wissenschaftlich Kurzsichtige sich verführen lassen, eine große Zahl anderer Momente, denen man früher die Hauptrolle bei ihrer Entstehung zuwies, nunmehr als bedeutungslos zu betrachten oder ganz beiseite zu schieben. Sie belächeln die „altmodische“ Vorstellung vom Einfluß der Erkältung, der Zugluft, der Überhitzung und Durchnässung, sie erklären es für unwissenschaftlich, Verletzungen, Quetschungen und Erschütterungen einzelner Körperteile, besonders auch der Haut und der Schleimhäute mit der Entstehung ansteckender Krankheiten in Verbindung zu bringen und wollen selbst chemisch bedingten Schädigungen, z. B. der Einatmung scharfer Gase, der Ätzwirkung flüssiger Substanzen keinen nennenswerten Einfluß zuschreiben. Sie schütten das Kind mit dem Bade aus. Jeder Einsichtige weiß, daß alle jene Verhältnisse noch jetzt wie früher zu Recht bestehen. Sie haben nur ihre Rolle gewechselt und gelten heute mit Recht als überaus wichtige, nicht selten für das Zustandekommen ansteckender Krankheiten geradezu notwendige, fördernde und auslösende Momente. – Wir sprachen bisher fast ausschließlich davon, daß einzelne pathogene Mikroorganismen unter für sie günstigen Umständen bestimmte eigentümliche Krankheits905

Heinrich Curschmann

zustände hervorzurufen vermöchten und wollen unsere Betrachtungen noch mit der Erfahrung vervollständigen, daß auch mehrere Krankheitserreger zugleich oder kurz nacheinander in den Körper eindringen und ihre eigenartigen Wirkungen entfalten können. Man spricht im ersten Fall von Mischinfektion, im zweiten von Sekundärinfektionen, ohne daß am Krankenbett beide immer scharf auseinander gehalten werden könnten. Während man früher einen Antagonismus, eine gegenseitige Beeinträchtigung den Körper zugleich befallender Mikroben annahm und dies auch theoretisch zu begründen suchte, steht jetzt im Gegenteil durch Experiment und Erfahrung fest, daß beim Zusammenwirken mehrerer pathogener Mikroben in demselben Körper ihre Giftwirkung meist eine Steigerung erfährt. Es äußert sich dies in einem raschen Gewebszerfall, einer Verschlimmerung der allgemeinen Erscheinungen und nicht selten im Übergang zunächst chronischer oder subakuter Prozesse in akut ja galoppierend verlaufende. Von den Krankheitserregern, die am häufigsten an diesen komplizierten Prozessen sich beteiligen, seien nur einige, vor allem die Strepto- und Staphylokokken, die gewöhnlichen Entzündungs- und Eiterungserreger und die Fränkel-Weichselbaumschen Pneumoniekokken genannt, denen hierbei ihre Ubiquität, namentlich ihr fast ständiges Vorkommen auf der Körperoberfläche (Strepto- und Staphylokokken) und in den Höhlen am Eingang zu den Luft- und Verdauungswegen (Pneumoniekokken) zugute kommt. Eine hervorragende Rolle spielen Misch- und Sekundärinfektionen bei tuberkulösen Erkrankungen, besonders bei der Lungentuberkulose. An nicht wenigen schwersten Verlaufsweisen dieser Krankheit, vor allem dem als „hektischem“ bezeichneten, an dem geschwürigen Zerfall und der Bildung von Höhlen (Cavernen) in den Lungen sind Strepto- und Staphylokokken sicher ebenso sehr, oft mehr wie die Tuberkelbazillen beteiligt. Bekannt ist auch die unheilvolle Wendung, die die Lungenentzündung nimmt, wenn ihre Erreger in Lungen eindringen, die bereits unter der Wirkung des Tuberkelbazillus stehen. Eine gefährliche Rolle spielen die Eitererreger, um noch einiger wichtiger Krankheiten zu gedenken, auch da, wo sie mit denen des Typhus und der Diphtherie zu gemeinsamer Wirkung gelangen. Es führt dies unter anderem zu den so gefürchteten septischen Formen dieser Krankheiten. Wenn bei einfachen auf den Löfflerschen Bazillus allein zurückzuführenden diphtheritischen Erkrankungen das Behringsche Heilverfahren uns ein früher nie geahntes Maß von Sicherheit und Erfolgen gibt, so zerstört diese Misch- oder Sekundärinfektion nur zu häufig alle Hoffnungen. Auch für die sog. akuten Exantheme Pocken, Scharlach, Masern u. s. w. tritt die Wichtigkeit der Mischinfektion neuerdings mehr und mehr hervor. Man darf heute wohl sagen, daß keines der akuten Exanthemen das Hinzutreten und die spezifische Äußerungsweise eines zweiten ausschließt. Wir sehen Scharlach und Masern, Pocken und Scharlach gleichzeitig bei demselben Individuum und beobachten noch alle möglichen sonstigen Kombinationen. Ja selbst drei Infektionskrankheiten auf ein906

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mal oder jedenfalls so rasch hintereinander, daß der Träger unter dem Eindruck aller drei Gifte zugleich stand, werden beobachtet. So habe ich erst kürzlich bei einem Kinde gleichzeitig Mumps und Scharlach und daran sich ohne Pause anschließend Masern gesehen. Ich eile zum Schluß. So kurz als möglich habe ich Sie durch die Hauptwege eines der größten individuell und sozial wichtigsten Gebiete der inneren Medizin geführt und vielleicht dabei schon Ihre Geduld etwas zu lange in Anspruch genommen. Sie haben gesehen, welche fundamentale Umwälzungen die Lehre von der Ansteckung während der letzten vierzig Jahre erfahren hat und begreifen, wie mächtig dies die Erkenntnis und Beurteilung, die Verhütung und Heilung der betreffenden Krankheiten beeinflussen mußte. So bedeutend das bisher praktisch Erzielte, so gewaltig das für den einzelnen schon kaum mehr übersehbare Maß von klinischer, experimenteller und literarischer Arbeit ist, so stehen wir doch erst in den Anfängen der neuen Lehre. Sie ist in Bezug auf Tatsachen und Methoden so sicher begründet, daß wir auf ihr stetiges Fortschreiten und weitere fundamentale Entdeckungen sicher rechnen dürfen. Wir werden neue Infektionskrankheiten finden und längst bekannte Übel, zunächst wahrscheinlich den Krebs und die ihm verwandten bösartigen Geschwülste, als solche erkennen lernen. Unseren biologischen und klinischen Kenntnissen entsprechend werden auch Prophylaxe und Therapie der ansteckenden Krankheiten fortschreiten. Wie Behrings geniales Schaffen schon heute einer der heimtückischsten Krankheiten, der Diphtherie, ihren Schrecken großenteils genommen hat, so kann auch für andere Infektionskrankheiten gleiches erwartet werden. In Bezug auf Malaria, Gelbfieber, Hundswut, Typhus und durch Koch vor allem für gewisse tropische Infektionskrankheiten sind heute schon aussichtsvolle Wege mit gutem Untergrund und festen Stationen betreten. ***

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31. Oktober 1907. Rede des abtretenden Rektors Dr. Heinrich Curschmann. Bericht über das Studienjahr 1906/07. Hochansehnliche Versammlung! Wenn mein Herr Vorgänger, als er vor einem Jahre mich in das durch das Vertrauen meiner Herren Kollegen mir übertragene Amt einführte, für unsere Alma mater viel Gutes wünschte, so sind diese Wünsche nicht vergeblich gewesen. Ich darf das abgelaufene Universitätsjahr im allgemeinen als ein glückliches bezeichnen, ein Jahr ruhiger, stetiger Arbeit und guter Fortentwicklung, das uns der Erfüllung mancher Bestrebungen und Wünsche näher führte und uns manche reife Frucht bescheerte. Wenn uns in dieser Stunde Dankesgefühle beseelen, so wenden sich unsere Blicke vor allem unserem erhabenen Monarchen zu, der nicht allein den Namen unseres Rector magnificentissimus führt, sondern, getreu der idealen Tradition seines Hauses, unserer Universität dauernd seine überaus gnädige, mächtig fördernde Fürsorge widmet. So kamen auch bei der diesjährigen Geburtstagsfeier Sr. Majestät die Gefühle der Dankbarkeit und Treue mit den innigsten Wünschen für sein ferneres Wohl zu beredtem Ausdruck. Seine akademische Gestaltung gewann das Fest durch einen äußerst fesselnden Vortrag des Prorektors Herrn Kollegen Seeliger. Festliche Tage waren für unsere Hochschule diejenigen vom 18.–21. Februar, die Se. Majestät in unserer Stadt verbrachte und, wie gewohnt, zum erheblichen Teil der Universität allergnädigst widmete. Den Herren Kollegen Seeliger, Friedberg, Heinrici, Beckmann, Marchand und Wiener ward bei dieser Gelegenheit die hohe Auszeichnung des Besuchs ihrer Vorlesungen durch Se. Majestät zuteil. Aus Anlaß der im ganzen Lande mit herzlicher Freude begrüßten Wiedervermählung Sr. Königl. Hoheit des Prinzen Johann Georg war es einer aus dem Rektor und den vier Dekanen bestehenden Deputation vergönnt, dem hohen Paare die Glückwünsche der Universität darbringen zu dürfen. Bald darauf am 31. Mai beehrten beide Königl. Hoheiten die Universität mit ihrem Besuch, um je eine Vorlesung der Herren Kollegen Lamprecht und Schmarsow entgegenzunehmen, aus Wissensgebieten, die den eigenen Studien und Forschungen Sr. Königl. Hoheit nahe liegen. Das stetige huldvolle Interesse, das unser erhabener Rector magnificentissimus seiner Hochschule widmet, spiegelt sich auch in der verständnisvollen, überaus wohlwollenden Fürsorge wieder, die das hohe Ministerium im Verein mit den Landständen ihr angedeihen läßt. Wir können nicht dankbar genug rühmen, wie unsere Regierung der historisch begründeten und berechtigten Eigenart unseres Universitäts908

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wesens unausgesetzt Rechnung trägt, bei Berufungen und Ernennungen begründete Wünsche eingehend berücksichtigt und uns, trotz der nicht leichten Finanzlage, durch Neubauten, Änderungen und Ergänzungen unsere Lehrgebäude und Institute auf derjenigen Höhe hält, die der Größe und Bedeutung unserer Hochschule entsprechen. Die im verflossenen Universitätsjahr in der Hauptsache vollendeten, im Jahr 1906 in Angriff genommenen Erweiterungsbauten des hygienischen und anatomischen Instituts legen davon Zeugnis ab. Der Umgestaltung und Erweiterung des zahnärztlichen Unterrichts und den Plänen zum Neubau eines entsprechend umfangreichen zahnärztlichen Instituts bringt die Regierung das tatkräftige Interesse entgegen, das diesem für das Volkswohl so bedeutungsvollen Zweig der Heilkunde entspricht. Im Jahre 1904 genehmigte das Ministerium die Erwerbung eines großen Areals auf der Marienhöhe aus Mitteln der Haasestiftung zur Erbauung von Wohnungen für Universitätsbeamte. Die Stiftung hat hier mittlerweile 2 Doppelwohnhäuser fertig gestellt, die Anfang Juli 1907 ihrer Bestimmung übergeben wurden. Es haben dadurch wieder 28 Universitätsbeamte und Bedienstete mit ihren Familien trefflich eingerichtete, gesund gelegene Wohnungen mit je einem kleinen Garten beziehen können, für die sie noch nicht die Hälfte des üblichen Mietspreises entrichten. Das angekaufte Terrain bietet noch Platz für weitere 5 große Häuser, sodaß wir erhebliche Erweiterungen werden vornehmen können, sobald die Mittel der überaus segensreichen Stiftung dies wieder zulassen. Eine den Senat und weitere Universitätskreise seit langem beschäftigende und immer dringlicher gewordene Frage, die der Neuregelung des Verhältnisses der akademischen Verwaltungsdeputation zum Universitätsrentamt hat Dank der hohen Einsicht des Ministeriums eine Lösung gefunden, die fast durchweg und jedenfalls in allen prinzipiellen Punkten den Wünschen und Anschauungen der Universität entspricht. Die Neuregelung sichert der Deputation und dem Senat den erforderlichen Einblick in alle wichtigen Verwaltungszweige der Universität und ihr und ihrer Stiftungen Vermögen, mit der Möglichkeit, daraus gewonnene Anschauungen bei den maßgebenden Behörden rechtzeitig zur Geltung und Durchführung zu bringen. Von grundsätzlicher Bedeutung waren nicht allein für die zunächst beteiligte medizinische Fakultät, sondern für unsere ganze Universität lange vielfach hinund herschwankende Verhandlungen bezüglich des Promotionsrechtes der tierärztlichen Hochschule zu Dresden, bei denen beide beteiligte Ministerien in nicht genug zu rühmender Weise neben der praktischen, der idealen Seite der Frage ihr förderndes Interesse liehen. Durch das anderwärts leider unterstützte Streben, alle möglichen einzelnen Fachschulen mit dem Promotionsrecht auszustatten, steht die altehrwürdige akademische Doktorwürde in Gefahr, von ihrer früheren Bedeutung herabzusinken. Zu unserer großen Genugtuung hat auch die tierärztliche Hochschule sich zu dieser Auffassung bekannt und unter freudiger Zustimmung der Regierung mit uns vereinbart, daß die Würde des Doktor medizin. veter. an der Leipziger Universität von der durch die ordentlichen Professoren der tierärztlichen Hochschule verstärkten medizinischen Fakultät in Zukunft verliehen werde. Wir begrüßen auf das 909

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herzlichste diese Verknüpfung mit unserer Alma mater, die auch zur Hebung des wissenschaftlichen und äußeren Ansehens der frisch aufstrebenden Tierheilkunde gewiß das Ihrige beitragen wird. Vermächtnisse und Zuwendungen von privater Seite sind uns auch im verflossenen Jahre reichlich geworden. An erster Stelle habe ich eines Vermächtnisses des Kaufmanns und Antiquitätenhändlers Jost dankbar zu gedenken. Er bestimmte eine Summe von 4500 Mk. für Freitische außerhalb des Konvikts. Auch den Söhnen des 1904 verstorbenen Direktors des Weimarer Gymnasiums Geh. Hofrat Dr. Hugo Weber, den Herren Dr. Ernst Weber und Dr. Leo Weber ist die Universität zu großem Dank verpflichtet. Sie haben die sehr wertvolle litauische Bibliothek ihres Vaters dem indogermanischen Institut unserer Hochschule zugewiesen, wo sie als „Hugo Weberstiftung“ im Frühjahr Aufstellung fand. Unsere Universitätsbibliothek hatte sich mehrfachen Wohlwollens zu erfreuen. Eine ganze Reihe hiesiger Universitätslehrer überwies ihr in dankenswerter Weise ihre neu erschienenen Schriften. Auch von Seiten des Buchhandels, besonders den Firmen Hiersemann, Winters und Haessels Verlag wurde sie mit wertvollen Zuwendungen bedacht. Herr Professor Gregory hatte wie schon früher die Güte, der Bibliothek eine große Anzahl von Werken aus der amerikanisch-theologischen Literatur zu übergeben. Der letztwilligen Bestimmung des Herrn Dr. P. I. Möbius gemäß konnte die Universitätsbibliothek dem von ihm hinterlassenen Bücherschatz die ihren Bedürfnissen entsprechenden Werke entnehmen. Ihre neurologische Abteilung erfuhr damit, besonders auch durch lange Reihen wertvoller Zeitschriften, eine sehr erhebliche Bereicherung. Neben anderen wichtigen Zuwendungen bedachte die Königl. Gesellschaft der Wissenschaften unsere Universitätsbibliothek noch mit einer eigenartigen kostbaren Gabe. Sie überließ ihr 83 in der vatikanischen Druckerei hergestellte und von der Bibliothek des Vatikans ihr übersandte umfangreiche Bände. Das Archäologische Institut verdankt abermals bewährten Gönnern einen erfreulichen Zuwachs zu der Sammlung antiker Originalwerke. Die Herren Verlagsbuchhändler Dr. Eduard Brockhaus, Hofrat Hermann Credner und Dr. Alfred Giesecke stifteten die Mittel zum Ankauf einer größeren Anzahl griechischer Vasen, Tonfiguren und anderer kleiner Altertümer, die eine selten günstige Gelegenheit im Kunsthandel darbot. Die von Herrn Domherrn Dr. Baumgärtner aus dem abgebrochenen Römischen Hause stammenden, dem Ministerium übergebenen Prellerschen Fresken zur Odyssee sind von diesem, unter Zustimmung des großmütigen Schenkers, zur Einfügung in die Wände des Treppenhauses der Universitätsbibliothek der Hochschule überlassen worden. Nach mancherlei schließlich glücklich überwundenen Schwierigkeiten wurde die Übertragung der Bilder durch die Meisterhand des Prof. Donadini vollzogen und seit Ende April sind sie eine klassische Zierde des monumentalen Baues. Eine dauernde Erinnerung an den bedeutenden Meister, der unter Goethes Augen heranwuchs, eine ernste Mahnung an so manchen modernen Überkünstler zur Bescheidenheit und besseren Pflege historischen Sinnes. 910

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Noch an einen älteren Meister wurde im verflossenen Jahr unsere Erinnerung wach gerufen. Die Munifizenz des Ministeriums ermöglichte uns die Restaurierung der 27 von Anton Graff gemalten Portraits, die 1809 von der verwitweten Frau Friederike Louise Reich aus dem Nachlaß ihres Mannes der Universität als Angebinde zum 400jährigen Jubiläum dargebracht worden waren. Unter der ungemein geschickten Hand des Malers Kühn sind sie wieder in ursprünglicher Frische und Schönheit erstanden, beredte Zeugen dafür, daß wir in Graff einen Meister besitzen, der den größten Bildnismalern aller Länder getrost an die Seite gestellt werden kann. Mit Freuden gaben wir durch Aufstellung der Gemälde im hiesigen Kunstverein auch weiteren Kreisen Gelegenheit sich an unserem kostbaren Besitze zu bilden und zu erfreuen. Der vorige Herr Rektor konnte hier schon die Mitteilung machen, daß unser heimischer Meister Max Klinger die Herstellung des großen Wandgemäldes in diesem Raume bestimmt übernommen und mit der Ausführung bereits begonnen habe. Wir hatten in diesem Sommer Gelegenheit den Karton zu dem Kunstwerke an der dafür bestimmten Stelle zu bewundern. In der Ausführung ist das riesige Werk schon jetzt soweit gediehen, daß wir hoffen dürfen, auch die Erinnerung an unser 500jähriges Jubiläum werde bis in ferne Zeiten mit einer genialen künstlerischen Schöpfung sich verknüpfen. Wer den Hof unserer Universität in den letzten Tagen betreten hat, wird von der mittlerweile dort vollendeten Aufstellung des Leibnizdenkmals überrascht und befriedigt sein. Das im Jahre 1883 auf dem Thomaskirchhof errichtete Denkmal mußte demjenigen von Bach den durch fester begründete historische Rechte ihm zukommenden Platz abtreten. Wir danken den städtischen Behörden, daß sie das seiner Zeit von ihr und der Universität gemeinsam errichtete Monument uns nun überlassen haben und sind stolz darauf in unserer, um ihre Denkmäler nicht allzu sehr zu beneidenden Stadt ein unbestritten hervorragendes zu besitzen. Gehe ich nun zu den Veränderungen im Lehrkörper unserer Hochschule über, so darf gesagt werden, daß sie im vergangenen Jahr weit weniger eingreifend als in vielen früheren waren. Wir haben nur zwei Todesfälle zu beklagen. Am 23. März verschied der Privatdozent in der medizinischen Fakultät Dr. Adolph Glockner nach schwerer mit Mut und Ergebung ertragener Krankheit. Nach langjährigen pathologisch-anatomischen Studien als Assistent der Herren Chiari in Prag und Zahn in Genf trat er am 1. Januar 1899 als Assistent an der Frauenklinik in Leipzig ein. Er blieb in dieser Stellung bis zum Juli 1904, um von da ab bis zu seinem Tode eine gynäkologische Privatklinik zu leiten. Am 23. Juli 03 war er unter die Zahl der Dozenten aufgenommen worden. Seine praktische Befähigung und seine zuverlässigen wissenschaftlichen Arbeiten berechtigten zu schönen Hoffnungen. Sein tadelloser Charakter erwarb ihm viele treue Freunde, die dem allzu früh Verblichenen ein herzliches Andenken bewahren werden. Am 16. September entschlief im 63. Jahre der außerordentliche Professor Dr. William Marshall. Vorher niederländischer Konsul und Privatsekretär der Großherzogin von Weimar, habilitierte er sich, nach eifrigen naturwissenschaftlichen 911

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Studien in Jena und Göttingen, 1880 in Leipzig für das Fach der Zoologie. Seine streng wissenschaftlichen Untersuchungen galten neben tiergeographischen Fragen der Anatomie der Vögel, sowie dem Bau und der Entwickelung der Spongien. In den weitesten Kreisen bekannt wurde er durch seine geistreichen, formvollendeten, populären Schilderungen des tierischen Lebens. Unter den Schriftstellern, die biologische Fragen den Gebildeten näher zu bringen suchten, nahm er einen hervorragenden Platz ein. Durch Berufungen nach auswärtigen Universitäten verlor die medizinische Fakultät die außerordentlichen Professoren Wilms, Krückmann und Hirsch. Der erstere wurde ordentlicher Professor und Direktor der chirurgischen Klinik in Basel, Prof. Krückmann übernahm den Lehrstuhl für Augenheilkunde in Königsberg und Professor Hirsch den der inneren Poliklinik in Freiburg. Der Privatdozent und Prosektor des pathologisch-anatomischen Instituts Dr. Risel wurde zum Vorsteher der anatomisch-bakteriologischen Anstalt in Zwickau ernannt. Die philosophische Fakultät sah den außerordentlichen Prof. Dr. Immisch als Ordinarius für klassische Philologie nach Gießen ziehen. Der Privatdozent der Theologie Lizentiat Stephan hat seine Stellung in Leipzig niedergelegt, um sich in Marburg zu habilitieren. Neuberufungen infolge von Verlusten durch Tod, Pensionierung oder Abgang nach auswärts, sind mit einer Ausnahme zum Glück nicht nötig gewesen. Der Verlust, der unserem archäologischen Institut vorübergehend ernstlich drohte, wurde, Dank der Einsicht und Opferwilligkeit unseres Ministeriums, glücklich abgewendet. Auf den durch Professor Hesses Tod verwaisten Posten des Direktors des zahnärztlichen Instituts wurde der Privatdozent Dr. Dependorf in Jena unter Ernennung zum Professor extraordinarius berufen. Dem Herzogl. Meiningenschen Hofrat Pfaff in Dresden wurde die Stellung eines Abteilungsvorstandes in diesem Institut übertragen, mit der besonderen Aufgabe, die Schüler auf dem Gebiete der neuerdings immer wichtiger werdenden technischen Zahnheilkunde und Orthodontie zu unterweisen. Von den bisherigen Privatdozenten an unserer Universität wurde Lic. theol. Hunzinger zum etatmäßigen Prof. extraord. mit dem Lehrauftrag für Apologetik ernannt. In die gleiche Würde rückten je ein Angehöriger der juristischen und philosophischen Fakultät, die außerordentlichen Professoren Stintzing und Martini ein. Dem ersteren wurde ein Lehrauftrag für Übungen im Römischen Recht, dem letzteren ein solcher für klassische Philologie erteilt. Zu außeretatmäßigen a. o. Professoren wurden in der philosophischen Fakultät die bisherigen Privatdozenten Dr. Dr. Erich Marx und Heinrich Ley ernannt. Einer Anzahl jüngerer Herren, die sich im vergangenen Jahr habilitierten, wollen wir besten Erfolg auf dem neu betretenen Wege wünschen. Die juristische Fakultät nahm Dr. Max Rinteln aus Graz als Privatdozent auf. In der medizinischen Fakultät habilitierten sich die Dr. Dr. Eduard Stadler, Martin Hohlfeld, Carl Paul Schmidt und noch vor wenigen Tagen Dr. Moritz Wolfrum, in der philosophischen Fakultät Dr. Jacob Strieder für Geschichte, Dr. Arnold Schering 912

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für Musikgeschichte, die Dr. Dr. Joh. Scheiber und Adolph Sieverts für Chemie und Dr. Georg Graf Vitzthum für neuere Kunstgeschichte. In der Mitte der einheimischen Dozenten hatten wir im verflossenen Studienjahr zum erstenmal die Ehre und Freude, einen auswärtigen Kollegen vorübergehend tätig zu sehen. Professor John W. Burgeß von der Columbia Universität in the City of New York, hielt, als Roosevelt-Professor nach Deutschland gesandt, vom 2.–8. Juli sechs sehr besuchte Vorlesungen über das gegenwärtige Staatsrecht der Vereinigten Staaten von Nord-Amerika, in denen er ein fesselndes Bild jener eigenartigen Verhältnisse seiner Heimat entrollte. Der liebenswürdige Kollege, der von seiner Studienzeit her in Leipzig kein Fremder war, hat wissenschaftlich und persönlich sich das freundlichste Andenken zu sichern gewußt. Einige zum Teil wichtige Veränderungen sind aus dem Kreise der Universitätsbeamten zu erwähnen. Herrn Professor Dr. Victor Gardthausen wurde nach 31jähriger verdienstvoller Tätigkeit der Abschied aus seiner Stellung als Oberbibliothekar bewilligt. Die frei gewordene Stelle wurde durch Aufrücken ausgefüllt. Der bisherige Bibliothekar Dr. Günther wurde dementsprechend zum Oberbibliothekar, der Kustos Dr. Schmid zum Bibliothekar, der Assistent Dr. Rugenstein zum Kustos und der Volontär Dr. Schröder zum Assistenten befördert. Die durch den Staatshaushaltsetat für 1906 neugegründete Sekretärstelle wurde dem Buchhändler Franz Verlohren übertragen. Für die durch den Abgang des Professor Zöllner frei gewordene Stelle des akademischen Musikdirektors gelang es uns, Herrn Max Reger aus München zu gewinnen. Wir dürfen den Eintritt dieses bedeutenden Meisters mit großen Hoffnungen begrüßen, nicht allein für das gesammte musikalische Leben unserer Stadt, sondern vor allem für die musikalisch-künstlerische Anregung und Erziehung unserer akademischen Jugend. In die Stelle des Organisten der Pauliner Kirche, die man nach Professor Zöllners Abgang gesondert zu besetzen für richtig fand, trat der Gymnasialoberlehrer Ernst Müller ein. Mit dem Ende dieses Universitätsjahres tritt der bisherige Quästor Kanzleirat Wilh. Julius Grosse von seinem Amte zurück. Wir verlieren in ihm einen besonders tüchtigen, pflichttreuen, stets zuvorkommenden Beamten. Die dankbare Erinnerung unseres Lehrkörpers folgt ihm in die wohlverdiente Ruhezeit. In seine Stelle wird der bisherige Kontrolleur der Universitätsquästur Friedrich Wilhelm Burkhardt aufrücken. Sein Posten wurde dem bisherigen Universitätskanzleisekretär Paul Steinert übertragen. An die Stelle des langjährigen im April dieses Jahres in den Ruhestand versetzten verdienten Konviktinspektors Leuschner trat der Lehrer Joh. Georg Krapf. Bevor ich zu den im vergangenen Universitätsjahr erfolgten Verleihungen akademischer Grade übergehe, möchte ich eines hocherfreulichen verwandten Ereignisses gedenken. Am 1. August war es unserm zweiten Professor der Theologie, Geh. Kirchenrat D. Hofmann vergönnt, das seltene Fest des 60jährigen Doktorjubiläums zu begehen. 913

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Zu der großen Zahl der Gratulanten gesellte sich auch eine Deputation der Universität unter Führung des Prorektors. Der von ihr ausgesprochene Wunsch, der hochverdiente Kollege möge unserm Lehrkörper noch lange in bisheriger Frische und Leistungsfähigkeit erhalten bleiben, ist uns allen, ich brauche dies kaum zu versichern, aus vollstem Herzen gesprochen. Unter den Verleihungen akademischer Grade ist an erster Stelle der Ehrenpromotionen Erwähnung zu tun. In der juristischen, medizinischen und philosophischen Fakultät wurde die Würde des Ehrendoktors nicht verliehen. Die theologische Fakultät promovierte honoris causa zum Lizentiaten der Theologie den Divisionspfarrer Max Schmidt in Potsdam. Diplomerneuerungen aus Anlaß der 50jährigen Jahresfeier der Doktorpromotion konnte die medizinische Fakultät einmal, die philosophische 8 mal vollziehen. Rite promoviert wurden in der theologischen Fakultät 3 Bewerber zu Lizentiaten, in der juristischen 302, in der medizinischen 130, in der philosophischen 182. An Festen und Erinnerungstagen auswärtiger Universitäten und wissenschaftlicher Körperschaften äußerte unsere Universität schriftlich und durch persönliche Vertretung im vergangenen Jahr mehrfach ihren Anteil. Gratulationsschreiben wurden an das Michigan Agrikultural-Kollege zur 50ten Stiftungsfeier, an die deutsche technische Hochschule in Prag und die University of Maryland in Baltimore zu ihrer Jahrhundertfeier gerichtet. Nach Bologna sandten wir ein Anschreiben anläßlich des 300ten Todestags ihres großen Gelehrten Aldrovandi. Zur Zentenarfeier der geologischen Gesellschaft zu London überbrachten die Herren Kollegen Zirkel und Credner persönlich die Glückwünsche der Universität. Bei der 200jährigen Geburtstagsfeier Linnés in Upsala war sie durch Herrn Kollegen Pfeffer vertreten. Mit der Vertretung bei der 300jährigen Jubelfeier der Universität Giessen hatte der Senat mich betraut. Unsere Teilnahme bei dem bedeutsamen Feste der Schwesteruniversität war um so wärmer, als wir in ihrem Schirmherrn, S. Königl. Hoheit dem Großherzog Ernst Ludwig von Hessen, unseren ehemaligen auch heute noch treu und gnädigst seiner hiesigen Studienzeit sich erinnernden civis academicus begrüßen durften. Die Erwähnung des Giessener Festes legt es nahe, unserer eigenen, Ende 1909 bevorstehenden Zentenarfeier zu gedenken. Der Senat und die von ihm eingesetzte Jubiläumskommission haben sich bisher mit entsprechendem Erfolg den ausgedehnten und verwickelten Vorbereitungsarbeiten gewidmet, sodaß nicht allein das Festprogramm in seinen allgemeinen Zügen sondern nicht wenige einzelne Einrichtungen und Veranstaltungen schon durchgearbeitet und zum Teil festgestellt werden konnten. Die mächtigste ermutigendste Förderung war uns hierbei das überaus warme Interesse, das S. Majestät, unser erhabener Rektor Magnificentissimus, der Feier unausgesetzt entgegenbringt und mehrfach betätigte. Auch dem hohen Kultusministerium sind wir für alle Mühe und Sorge, und für die wohlwollende Förderung unserer Pläne und Arbeiten zu aufrichtigstem Danke verpflichtet. Möge es uns gelingen, auch dem naturgemäß spröderen Herzen des Finanzministeriums noch näher zu kommen, damit die Feier, bei Vermeidung un914

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nötigen Prunks und Beiwerks, doch so würdig sich gestalte, wie sie der Größe und dem Weltruf unserer Alma mater entspricht. Am Tage vor dem Giessener Jubiläum wurde in Marburg eine Konferenz der Rektoren der Universitäten deutscher Zunge abgehalten. Mit Ausnahme von München waren alle inländischen Universitäten vertreten, von außerdeutschen Hochschulen hatten aus Oesterreich die Rektoren von Wien, Prag, Innsbruck, Graz und Czernowitz, aus der Schweiz die von Basel, Bern und Zürich sich eingefunden. Unter den Beschlüssen war von besonderer Bedeutung, daß die Konferenz der Rektoren deutscher Zunge als ständige Einrichtung begründet wurde, und daß sie alljährlich, bis auf Weiteres am Schluß des Sommersemesters, tagen solle. Auch in Bezug auf die von Leipzig beantragte Haftpflichtversicherung der Universitätsinstitute sowie bezüglich der Bekanntgebung der Fakultätsvorschläge nach erfolgten Berufungen und Neubesetzungen wurden ersprießliche Verhandlungen gepflogen. – Wenn ich mich nun unserer Studentenschaft zuwende, so habe ich vor allem der Kommilitonen zu gedenken, die im vergangenen Universitätsjahr aus dem Leben gerufen wurden. Ist ihre Zahl nur klein im Verhältnis zu derjenigen anderer Jahre, wie viele Hoffnungen wurden doch mit den 7 allzu früh verblichenen zu Grabe getragen. Was die Frequenz der Hochschule betrifft, so beträgt die Zahl der bis gestern Immatrikulierten 4198 gegen 4288 am gleichen Tage des Vorjahrs. Davon entfallen auf die theologische Fakultät 304 gegen 318 im vergangenen Jahr, auf die juristische 959 gegen 1044, auf die medizinische 510 und die Studierenden der Zahnheilkunde 65 gegen 483 und 54, auf die philosophische 2360 gegen 2389 des Vorjahrs. Im vergangenen Wintersemester waren 5466 immatrikuliert, die höchste je erreichte Zahl. Wir werden auch in diesem Winter kaum hinter ihr zurückbleiben. Was das Verhalten der Studierenden in persönlicher und wissenschaftlicher Hinsicht anlangt, so kann ich, wie die meisten meiner Vorgänger freudig feststellen, daß sie der guten Tradition der Leipziger Universität durchaus entsprochen hat. Auch uns Älteren ist die fröhliche Studentenzeit eine der liebsten Erinnerungen. Auch wir haben uns den Sinn für manchmal überschäumende Jugendlust bewahrt. Wenn sie aber wie bei uns in Leipzig mit tüchtiger Gesinnung, mit Gewissenhaftigkeit und Fleiß sich paart, so ist das eine gute Mischung, die wir nicht missen möchten. Die Ereignisse des sozialen und politischen Lebens sind in einer für die Universitätsbehörden bemerkbaren Weise nur vereinzelt an unsere Studentenschaft herangetreten. Es war besonders die Frage des Ausländer-Studiums an unserer und den übrigen deutschen Hochschulen, die eine lebhafte Bewegung hervorrief. Mußten auch die hierbei treibenden Anschauungen als ideal und patriotisch anerkannt werden, so wurde doch bei den studentischen Verhandlungen mehrfach die nötige Besonnenheit vermißt. Auch die Universitätsbehörden sind sich der hohen Wichtigkeit der Frage und der Notwendigkeit, in vieler Hinsicht Wandel zu schaffen, voll bewußt. Sie haben stets genaueste Erhebungen angestellt, wo von Ausschreitungen und Mißbräuchen des den Ausländern gewährten Gastrechts Nachricht kam, sind, wo irgend welche Feststellungen gelangen, aufs schärfste vorgegangen und haben den hiesigen Ver915

Heinrich Curschmann

hältnissen entsprechende Anordnungen getroffen zum Schutze der ungerechtfertigten Benachteiligung der Inländer in Vorlesungen, Laboratorien und Kursen. Eine allgemeine, endgültige Regelung der äußerst schwierigen Frage ist nur von einem gemeinsamen Vorgehen der deutschen Universitäten und Regierungen zu erwarten. Ich gehe in der Hoffnung nicht fehl, daß die deutsche Rektorenkonferenz, als die hier vor Allem berufene Korporation, schon in nächster Zeit sich der Angelegenheit mit Energie und Erfolg widmen wird. An Disziplinarstrafen hat es natürlich auch im vergangenen Jahre nicht gefehlt. Besonders betrübend war es, daß in 4 Fällen auf Relegation erkannt werden mußte. Bei einem der Bestraften, der sich nicht einer eigentlich unehrenhaften Handlung, sondern nur gröbster Ausschreitungen schuldig gemacht hatte, wandelte das Ministerium die Relegation in Unterschrift des concilium abeundi und eine längere Haftstrafe um. Die Taten der drei anderen waren leider krimineller Art, Handlungen von Individuen, wie sie in jede Gemeinschaft sich einschleichen können. Die Studentenschaft als solche kann sie getrost von sich abschütteln. Der Karzer wurde weit weniger als im vorvergangenen Universitätsjahr bewohnt. Während damals 241 Tage zuerkannt worden waren, wurden im abgelaufenen Jahr nur 151 Tage verbüßt, eine bei 4466 Immatrikulierten in der Tat erfreulich geringe Zahl. Aus Berlin meldeten kürzlich die Zeitungen, man habe Teile des dortigen Karzers ihrem ursprünglichen Zweck als überflüssig entzogen und sie zu Unterhaltungsräumen für studierende Damen bestimmt. Wenn wir auch in Leipzig noch nicht an eine so galante Metamorphose denken konnten, so darf doch berichtet werden, daß auch unser Karzer zuweilen wochenlang leer stand und damit anderweitig verfügbar gewesen wäre. Von dem Fleiß und ernstem Streben unter unseren Studierenden gibt die Bearbeitung der Preisaufgaben ein erfreuliches Zeugnis. Über ihre Ergebnisse möchte ich jetzt im Einzelnen berichten: Die von der Theologischen Fakultät gestellte Aufgabe hat eine Bearbeitung gefunden. Die Fakultät hat ihr wegen ihrer besonderen Tüchtigkeit den 1. und 2. Preis vereinigt zuerkannt. Als Verfasser ergab sich der stud. theol. Paul Theodor Kruschwitz aus Bernstadt (in Sachsen). Das von der juristischen Fakultät gegebene Thema hatte zu 5 Bearbeitungen Anlaß gegeben, von denen die mit dem Motto : „ich hab’s gewagt mit Sinnen“ den 1. Preis errang. Der Verfasser ist stud. jur. Walter Eichbaum aus Rastede. Auf die von der medizinischen Fakultät gestellte Preisaufgabe ging eine Arbeit ein, die aber leider vor der Entscheidung wieder zurückgezogen wurde. Um die 5 Preisaufgaben der philosophischen Fakultät sind im Ganzen 12 Bewerbungsschriften eingegangen. Der Aufgabe aus dem Gebiet der klassischen Philologie trat ein Bewerber näher. Sie wurde einer ehrenhaften Erwähnung mit einer Gratifikation für würdig befunden. Der Verfasser ist stud. phil. Fraustadt aus Dahlen. Von den 5 Bewerbern um den Preis für englische Philologie wurde der 1. Preis dem stud. ling. rec. Erich Hartmann aus Lausigk, eine ehrenvolle Erwähnung mit einer Gratifikation dem stud. phil. Edmund Voigt aus Ehrenfriedersdorf zuerkannt. 916

Jahresbericht 1906/07

Die einzige Bearbeitung der Aufgabe aus dem Gebiet der Pädagogik befriedigte so sehr, daß sie der Verleihung beider Preise zusammen für würdig erklärt werden konnte. Ihr Verfasser ist der stud. paed. Alfred Ziechner aus Großschleisdorf. Für die Aufgabe aus der Nationalökonomie lief eine Bearbeitung ein, die den zweiten Preis errang. Als ihr Verfasser ergab sich der stud. jur. et cam. Paul Horster aus Uerdingen. Das aus dem Gebiete der Mathematik gestellte Thema fand vier Bearbeiter. Der erste Preis wurde dem stud. math. Karl Rosenhauer aus Zwickau zuerkannt. Zwei weitere Arbeiten wurden einer ehrenvollen Erwähnung mit Gratifikation gewürdigt. Sie rühren von dem stud. math. Rudolf Förster aus Chemnitz und dem stud. math. Fritz Schürer aus Oelsnitz her. Der Wortlaut der Urteile und die neuen Preisaufgaben werden durch Druck und Anschlag am schwarzen Brett demnächst bekannt gegeben werden. Mein Bericht sei hiermit beendet. Es bleibt mir noch die letzte Pflicht, das Amt, das ich ein Jahr begleiten durfte, feierlich auf meinen erwählten und bestätigten Nachfolger zu übertragen. Ich fordere Sie auf, Herr Carl Chun, das Katheder zu besteigen und die Abzeichen der Rektorwürde aus meiner Hand entgegenzunehmen. Vorher aber habe ich Ihnen den Eid abzunehmen, den nach den Gesetzen unserer Universität der antretende Rektor zu leisten hat. „Sie schwören bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, daß Sie die Verfassung und die Gesetze der Universität treu und gewissenhaft beobachten und die Pflichten des Ihnen anvertrauten Amtes als Rektor der Universität nach bestem Wissen und Gewissen redlich erfüllen wollen.“ – Somit proklamiere ich Sie Herrn Dr. Carl Chun zum Rektor magnificus unserer Universität für das Studienjahr 1907/8. Ich übergebe Ihnen Hut und Mantel als Zeichen Ihrer Würde, die Kette, mit denen Königliche Huld die Schultern des Rektors geschmückt hat, das Siegel der Universität, damit Sie Ihren Willen beglaubigen, die Statuten, die Sie zu bewahren haben, den Schlüssel als Zeichen, daß Sie der Herr des Hauses sind. Es ist mir eine große Freude, als erster Ihnen meine Glückwünsche darbringen zu können. Möge Ihr Amtsjahr für unsere teuere Alma mater und für Sie selbst reich gesegnet sein. ***

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Carl Chun (1852–1914)

31. Oktober 1907. Rede des antretenden Rektors Dr. Karl Chun. Die Erforschung der Antarktis. Hochansehnliche Versammlung! „Die Natur ist das einzige Buch“, sagt Goethe, „das auf allen Blättern großen Inhalt bietet.“ Wem es vergönnt war, es nicht nur im stillen Laboratorium zu lesen, sondern auch fern von der Heimat zu durchblättern, fragt sich gern bei feierlicher Gelegenheit, welcher Inhalt ihn wohl so stark fesselte, daß er wagen darf, ihn einer festlichen Versammlung vorzuführen. War es die überwältigende und sinnverwirrende Pracht des tropischen Urwaldes, die feierliche Stimmung, die über dem Tal von Orotava lagert, waren es die idyllischen Korallenarchipele des Indischen Ozeans oder das stolze, im Blütenschmuck prangende Kapland? Keines hat einen so tiefen Eindruck hinterlassen, wie jenes gewaltige Südmeer mit seinen vom ständigen Weststurm zu unerhörter Höhe aufgetürmten Wogen und dem über ihm bleigrau verhängten Himmel. Vergessen sind die Mühen und Sorgen der unheimlichen Fahrt bei plötzlich hereinbrechendem Nebel an der Grenze des Packeises und in der Erinnerung haftet das Gedenken an vergletscherte Inseln mit tief einschneidenden Fjorden, an blau schillernde, von der Brandung umtoste Eisberge, welche Sturmvögel umflattern und Pinguine beleben. Wer in die Antarktis einen Einblick erhielt, dem hat sie es für das ganze Leben angetan! Es war der Deutschen Tiefsee-Expedition ermöglicht, eine Breite zu erreichen, die der Winterstation der Schwedischen Südpolar-Expedition gleichkommt. Von allen Expeditionen indessen, welche nach Überschreiten des 60. Breitengrades in das eigentliche antarktische Gebiet gelangten, ist ihr nur der bescheidenste Anteil geworden. Mag man es deshalb entschuldigen, wenn ich versuche, jenen tapferen Männern gerecht zu werden, welche neuerdings den Schleier, der immer noch über Antarktika liegt, zu lüften unternahmen. Was ist das Ergebnis der Expeditionen, was ist noch zu leisten? Überblickt man die im antarktischen Gebiete entdeckten Landmassen, so ergeben sich im allgemeinen drei Gruppen, welche ungefähr dem Atlantischen-, dem Indischen- und dem Pacifischen Ozean sich zuwenden. Jede stellt ein Massiv von weit in den südlichen Ozean vorgeschobenen Gebirgsstöcken dar, welche mehr oder minder steil gegen den sie umgebenden Packeisgürtel abfallen. 919

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Das dem Atlantischen Ozean, oder genauer gesagt, der patagonischen Südspitze von Amerika zugekehrte Land ist zugleich auch dasjenige, welches die erste Sichtung jenseits des Südpolarkreises abgibt. Wir verdanken seine Entdeckung dem russischen Kapitän v. Bellingshausen, der im Auftrage des Kaisers Alexander I. mit zwei Schiffen in die Südpolarregion vordrang und das 1820 neu entdeckte Land als Alexanderland bezeichnete. Es setzt sich fort in das von Biscoe, einem kühnen Robbenschläger, 1832 entdeckte Grahamland, das als langgezogene Halbinsel wie ein Wegweiser gegen Patagonien deutet, mit dessen Cordillere es denn auch in geologischer Hinsicht auffällige Übereinstimmungen erkennen läßt. In seine Küste schneiden tiefe Buchten und Fjorde ein, denen ein Gewirr von großen und kleinen Inseln vorgelagert ist. Steile Abstürze, wild zerklüftete Gletscher, hohe vereiste Gipfel kontrastieren mit dem Schwarzblau der gewundenen Kanäle, deren prachtvolle Szenerie die Besucher mit enthusiastischen Worten schildern. Schwere Ost- und Weststürme türmen die Packeismassen in den Buchten auf und veranlassen Pressungen, denen das Expeditionsschiff der schwedischen Südpolar-Expedition zum Opfer fiel. Die weitere Erforschung der Antarktis verdanken wir teils unternehmenden und intelligenten Walfischfängern und Robbenschlägern, teils groß angelegten Expeditionen. Unter den ersteren sei auf Weddell hingewiesen, der westlich von Grahamland 1823 weit nach Süden bis zum 74° vordringt, ohne auf Land zu stoßen. Noch heute bezeichnet man das dort tief einschneidende Meer als Weddellmeer. Nicht minder hervorragend ist die Leistung von Biscoe, der jenseits des Polarkreises auf seiner Brigg Tula sich durch Packeis zwängt und zwischen dem 47° und 49° O einem hohen Lande nähert, welches er, dem Rheder zu Ehren, in dessen Diensten er stand, Enderbyland nannte. Die großen Entdeckungen, welche dem indopazifischen Ozean zugekehrt sind, fallen in die Jahre 1840 und 1841. Die Probleme des Erdmagnetismus standen damals im Vordergrunde des Interesses. Kein Geringerer als Gauß hatte die Lage des magnetischen Südpols berechnet und eifrig war Alexander von Humboldt tätig, die einzelnen Regierungen zur Errichtung von Observatorien für magnetische Messungen in fernen Erdteilen zu veranlassen. Es spricht für die Wertschätzung der beiden deutschen Gelehrten im Auslande, daß Amerika, Frankreich und England sich zur Entsendung groß angelegter Expeditionen entschließen. Ein ganzes Geschwader von Schiffen sucht die Gegenden auf, wo der magnetische Südpol nach den Berechnungen von Gauß gelegen sein sollte. Die amerikanische Expedition steht unter dem Kommando von Wilkes, die französische unter demjenigen von Dumont d’Urville. In ständigem schweren Kampfe mit Packeis und Oststürmen sichten sie ein ungefähr unter dem Polarkreis sich hinziehendes, breit ausgedehntes Land, das auf deutschen Karten als Wilkesland bezeichnet wird. Als die englische Südpolar-Expedition 1840 in Tasmanien eintraf, erhielt sie die Nachricht, daß Dumont d’Urville und Wilkes gerade dieselben Regionen erforscht hatten, in die sie vordringen sollte. Man kann es dem Leiter, James Roß, wohl nachfühlen, daß er über dieses Vorgehen wenig erbaut war. Wilkes hatte ihm zudem eine Karte seiner Landsichtungen übermitteln lassen und so weicht denn Roß von seiner Instruktion ab, indem er Tasmanien in südlicher Richtung verläßt. 920

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Der Packeisgürtel wird im Bereiche des südlichen Polarkreises durchbrochen und, der Magnetnadel folgend, die eine Inklination von 87° zeigt und andeutet, daß der magnetische Pol südlicher liegt, findet er im Januar 1841 den Weg durch eine südlich verstreichende Kette von Hochalpen verlegt, deren Gipfel über 4000 m herausragen. Nach Überschreitung des 76. Breitengrades schiebt sich eine unüberwindliche Barriere vor: Zwei in Eis und Schnee gepanzerte Kegel ragen duftig über die niederen Gipfel empor; der eine entsendet halbstündlich eine mächtige Rauchsäule und eine rote Glut von Lavaströmen ergießt sich in den Eismantel. Roß legt den beiden Vulkanen die Namen seiner Expeditionsschiffe bei; als Erebus und Terror sind sie seitdem allgemein bekannt. Als ob die Natur hier in ihren Wundern sich überbieten wolle, so lehnt sich an die Flanke des Terror eine senkrecht abstürzende Eismauer an, die Roß in diesem und im nächsten Jahre unter unsäglichen Mühen bis auf eine Entfernung von 700 km in östlicher Richtung verfolgt. Himmelblau schillernd und horizontal gestreift steigt sie aus dem Meere auf; nur an wenigen Stellen ist sie so niedrig, daß man vom Mast der Schiffe über ihren Rand zu schauen vermag. Im fernsten Osten buchtet sie sich unregelmäßiger aus und scheint Anlehnung an ein hohes Land zu finden, das indessen Roß, um nicht später eines Irrtumes geziehen zu werden, nicht mit Sicherheit als ein solches anzusprechen geneigt ist. Als Viktorialand, zu Ehren der jung zur Regierung gelangten Königin, bezeichnet Roß die Gesamtheit der von ihm gesichteten Küstenstrecken, hinter denen in südlicher Richtung noch hohe Gipfel hervorschimmern. Der Ruhm der Entdeckungen von Roß überstrahlt weit denjenigen aller Vorgänger und der Nachfolger. Noch heute verbinden wir mit dem Begriff der Antarktis die Vorstellung eines in Eis gepanzerten, von schweren Stürmen durchbrausten, an sonnigen Tagen in unnahbarer Erhabenheit aufragenden Landes, von dessen Steilwänden wild zerklüftete Gletscher in den Ozean sich vorschieben und in dessen äußerstem Süden die Rauchfahne eines mächtigen Vulkankegels über die einsame Pracht des Landes hinwegzieht. Nach den Fahrten von Roß dauert es fast ein halbes Jahrhundert, bis neue wissenschaftliche Impulse zur Erforschung des fernen gefahrvollen Südlandes sich geltend machen. Die Erschließung des schwarzen Erdteiles und der polaren Region steht im Vordergrunde des Interesses und erst langsam, fast schüchtern im Anfang, wird auf den wissenschaftlichen Wert einer erneuten antarktischen Forschung hingewiesen. Unermüdlich ist der greise Direktor der Seewarte, Neumayer, bemüht, auf die Probleme, die im fernen Süden zu lösen sind, hinzuweisen. Man dringt auf erneute magnetische Messungen und auf die genaue Festlegung des magnetischen Südpoles. Die Meteorologen erkennen, daß die Erklärungsversuche der Luftströmungen lückenhaft bleiben, solange die antarktischen Zirkulationsverhältnisse nicht aufgeklärt werden. Die Geologen machen auf die empfindliche Lücke in unserer Kenntnis des Aufbaues der im Süden gesichteten Länder aufmerksam; Geophysiker wünschen Aufschluß über die Gestalt der Erde durch Schweremessungen im äußersten Süden und der Ozeanograph betont nachdrücklich, daß wir über die chemisch-physikalische Beschaffenheit des Seewassers und über die Tiefenverhält921

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nisse des gewaltigen antarktischen Ozeans keine Nachrichten besitzen. Die Biologen wünschen nicht nur Aufschluß über die Formen und das Treiben der antarktischen Tierwelt, sondern suchen auch nach Erklärungen für den erstaunlichen, fast überwältigenden Reichtum, in dem sie an der Küste und im Seewasser auftritt. Vor allem aber ist es der Geograph, der auf die Erweiterung unserer Kenntnisse des unbekannten Südens hindrängt. Zwischen den einzelnen Landsichtungen klaffen weite Lücken; erneute Vorstöße können allein Aufschluß geben, ob ein Kontinent oder ein Archipel dem Süden zukommt. Allmählich kommt es immer mehr zum Bewußtsein, daß, wenn irgend wo auf Erden, so hier, Probleme zu lösen sind, wie sie an Umfang und Bedeutung für keinen anderen unbekannten Abschnitt des Erdenrundes vorliegen. Vorbesprechungen klären das Vorgehen, internationale Vereinbarungen werden getroffen, und die Überzeugung bricht sich Bahn, daß nur fortlaufende Reihen von korrespondierenden Beobachtungen, die freilich die Notwendigkeit einer Überwinterung in sich schließen, Aufschluß bieten können. Die neue Forschungsperiode wird eingeleitet durch zwei Tiefsee-Expeditionen. Die berühmte englische Challenger-Expedition verläßt zu Beginn des Jahres 1874 Kapstadt, um über die antarktischen Inselgruppen der Kerguelen einen Vorstoß gegen die äußerste westliche Landsichtung von Wilkes vorzunehmen. Sie gelangt über den Polarkreis, vermag aber nicht das allerdings von Wilkes nur als zweifelhaft angegebene Termination-Land zu sehen. Wir verdanken der Challenger-Expedition vor allen Dingen die erste Kenntnis der eigenartigen Schichtung des kalten Wassers von der Oberfläche bis zur Tiefe. Ihre Forschungen im Umkreis der Kerguelen lehren die erstaunlich üppig entfaltete marine Fauna im Flach- und Tiefenwasser kennen. Ihre Lotungen zeigen ein sehr wechselndes Relief des Meeresbodens, tragen aber nicht wenig zur Bekräftigung der Auffassung bei, daß gegen die antarktischen Ländermassen der Meeresboden sich abflacht und daß sie aus relativ seichtem Wasser aufsteigen. In dieser Hinsicht hat die Deutsche Tiefsee-Expedition auf der Valdivia zu einer gründlichen Umwandlung der Anschauungen beigetragen. Sie verläßt im November 1898 Kapstadt und setzt ihren Kurs rein südlich. Es gelingt ihr, die älteste Landsichtung in subantarktischen Gegenden, die völlig vergletscherte Bouvet-Insel, wieder aufzufinden, nachdem sie von den Leitern dreier Expeditionen, – darunter von James Roß – vergeblich gesucht worden war. In vierwöchentlicher Fahrt längs der Packeisgrenze überschreitet sie den 64. Grad und führt durch ihre Lotungen den Nachweis, daß ein 5000 bis 6000 Meter tiefes Meer das antarktische Land umgiebt. Während für die genannten beiden Expeditionen das Vordringen in antarktisches Gebiet nur eine Episode in ihrer sonstigen Tätigkeit darstellt, so rüstete Schottland eine Tiefsee-Expedition aus, die auf einem widerstandsfähigen Schiffe sich ausschließlich der Untersuchung des südlichen Eismeeres widmete. Während zweier Sommer, 1903 und 1904, erforscht die Scotia unter der bewährten Leitung von Dr. Bruce das östlich von Grahamland tief einschneidende Weddell-Meer. Sie weist nach, daß die großen von der Valdivia gefundenen Tiefen sich in dieses fortsetzen und erzielt 1904 insofern einen schönen Erfolg, als sie in einem Gebiete, wo 922

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sonst alle früheren Forscher sich vergeblich nach Land umschauten, eine unbekannte Küste unter dem 74. Breitengrade entdeckte. Inzwischen setzte 1898 die eigentliche antarktische Forschung mit voller Macht ein. Die Ehre der ersten Überwinterung gebührt einer belgischen Expedition unter dem tatkräftigen Führer de Gerlache. Sie gelangte im Januar 1898 von Patagonien ausgehend in das Inselgewirr, welches Grahamland umgiebt. In dem Palmerarchipel erforscht sie die von ihr entdeckte malerische Belgicastraße und gelangt dann in die Nähe von Alexanderland. Hier wird sie von Packeis besetzt, in dem sie überwintert und erst im März 1899 freikommt. Den nächsten Winter verbringt ein energischer Norweger, Borchgrevingk, auf Kap Adare, einem malerischen nördlichen Vorsprunge des Viktorialandes. Seine Expedition, an der sich geschulte Beobachter beteiligten, verdankte er der Munifizenz eines englischen Kaufmannes Newnes. Ihre vortreffliche Ausrüstung ermöglichte es, die Entdeckungen von Roß im fernen Süden aufzusuchen und an einer günstigen Stelle die große Eismauer zu betreten. In demselben Jahre, wo die ersten Überwinterungen stattfanden, waren denn auch die Vereinbarungen zu einem gemeinsamen Vorgehen getroffen worden. Mit besonderer Genugtuung begrüßen wir es, daß nunmehr auch Deutschland in den Kreis jener Nationen eintritt, die mit allen Mitteln, welche die fortgeschrittene Kenntnis darbietet, Expeditionen in großem Stile organisieren. Schweden und Frankreich fällt die Erforschung von Grahamland, England diejenige von Viktorialand zu. Die deutsche Expedition war insofern in schwieriger Lage, als ihr von vornherein kein Stützpunkt angegeben werden konnte, an dem sie festen Fuß hätte fassen und von einer Ersatzexpedition hätte aufgefunden werden können. Sie beabsichtigte von den Kerguelen aus vorzudringen, um zwischen den von Wilkes gesehenen Ländern und Enderbyland das Winterquartier aufzusuchen. Die beiden großen Jahre der Südpolarforschung brachen an. 1901 verlassen vier Expeditionen die Heimat und treffen zu Beginn des antarktischen Sommers im Januar und Februar 1902 an ihren Winterstationen ein. Die schwedische Expedition unter Otto von Nordenskjöld und die französische unter Charcot treffen auf sehr ungünstige Eisverhältnisse und werden genötigt, am weitesten nördlich, nämlich unter 64° 20' S. 57° W (Nordenskjöld), zu überwintern. Die Erlebnisse gestalten sich bei der schwedischen Expedition recht dramatisch. Das Expeditionsschiff wird nach dem Verlassen der Station im Packeis zerdrückt, die Besatzung rettet sich unter schweren Mühen in zwei Partieen an das Land und verbringt einen zweiten Winter, indem sie ihr Leben von dem fristet, was Pinguine und Robben liefern. Erst im November 1903 naht die unerwartete Hilfe durch das argentinische Kriegsschiff Uruguay, das die wiedervereinigten Mitglieder der Expedition zurückführt. Die lange Zeit war nicht unbenutzt verstrichen. Auf südlich und nördlich gerichteten Schlittenreisen hat Nordenskjöld die Gliederung von Grahamland aufgeklärt und wichtige Beiträge zur Kenntnis des geologischen Aufbaues gesammelt. Die deutsche Expedition unter Drygalski verläßt Anfang Februar die Kerguelen und Heard Island und wird schon nach 3 Wochen von Packeis eingeschlossen. Ein 923

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besonders günstiges Geschick bewahrt sie vor dem Schicksal der Belgica, indem das Schiff in einer weiten Bucht festkommt, in deren Nähe ein einsamer Vulkankegel, der Gaußberg, gelegen ist. Als Kaiser Wilhelmsland wird das neu entdeckte Gebiet bezeichnet, welches ungefähr in der Flucht von Wilkesland unter dem Polarkreis sich hinzieht. Gegen Ende des antarktischen Sommers, im Februar 1903, wird das Expeditionsschiff, der Gauß, frei vom Eis und tritt, nach vergeblichen Versuchen im Packeis westwärts vorzustoßen, die Heimfahrt an. Die englische Expedition war einem noch jungen Marineoffizier, dem Kapitän Scott, unterstellt worden und trifft ohne erhebliche Schwierigkeiten im Januar 1902 in Viktorialand, der günstigsten Einbruchspforte für den Süden, ein. Sie fährt der Eismauer entlang und entdeckt an deren östlichem Ende das König Eduardland, von dem schon Roß Andeutungen wahrgenommen hatte. Dann sucht sie ihr Winterlager südlich vom Erebus auf, wo das Schiff einfriert und erst nach zwei Jahren wieder freikommt. Den Vorteil einer hohen südlichen Breite, welche die englische Expedition vor den übrigen voraus hat, nutzt sie in einer Weise aus, die allgemeines und berechtigtes Erstaunen hervorruft. Mit Beginn des Sommers, Anfang November 1902, bricht Kapitän Scott zu einer dreimonatlichen Schlittenreise in rein südlicher Richtung auf, die ihn bis zur höchsten bis jetzt im antarktischen Gebiete erreichten Breite, nämlich über den 82° südl. Breite hinausführt. Nicht minder hervorragend ist eine im nächsten Sommer unternommene zweimonatliche Reise, die über das Hochgebirge in westlicher Richtung gegen den magnetischen Pol unternommen wird und nach Besteigen der Gletscher über ein Plateau von 3000 Meter Höhe hinwegführt. Die geographischen Ergebnisse dieser großen und der zahlreichen kleineren Schlittenreisen sind denn auch die bedeutungsvollsten, welche seit den Zeiten von Roß erzielt wurden. Wir erfahren, daß die Vulkane Erebus und Terror auf einer Insel liegen, wie dies anfänglich auch Roß vermutet hatte. In südlicher Richtung setzt sich das alpine Hochgebirge bis zum 83. Breitengrad fort. An seinen Bruchrand lehnt sich mit gewaltigen Spalten der gigantischste Gletscher an, den die Erde kennt. Er ist es, der mit jener berühmten Eismauer von nahezu 1000 km Länge im Meere abbricht. Ihm streben die zahllosen Gletscher zu, welche das Inlandeis von einem 3000 m hohen Plateau abführen, über das ein wahrer Orkan aus Westen, dahinbraust. Gletscher von einer Ausdehnung, wie sie die englische Expedition nachgewiesen hat, erfordern eine weit ausgedehnte kontinentale Landmasse als Unterlage. Die Gesamtheit der äußeren Bedingungen, unter denen alle Expeditionen überwintern, läßt denn auch keine andere Erklärung zu, als daß die südpolare Kalotte der Erde von einem Kontinent bedeckt wird. Der Unterschied der nordpolaren und südpolaren Länder ist denn auch ein recht sinnfälliger und vielfach betonter. Hier ein Meer, das von schwerem Packeis erfüllt und von den breit ausladenden Rändern dreier Kontinente umsäumt wird, dort ein Kontinent, den das gewaltige antarktische Meer bespült. Als Antarktis hat Ratzel die Gesamtheit der südpolaren Land- und Wassermassen bezeichnet. Mit dem Namen Antarktika, der inzwischen auch von deutschen Geographen angenommen wurde, wird der sechste Kontinent unserer Erde belegt. 924

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Er kann es an Umfang mit den übrigen Kontinenten wohl aufnehmen: kommt doch das unerforschte Gebiet Europa und Australien zusammengenommen gleich. Zieht man den Packeisgürtel nicht in Rechnung, so dürfte die kontinentale Landmasse immerhin noch das Anderthalbfache von Europa betragen. Steil steigt Antarktika aus großen Meerestiefen auf, einen unterseeischen Sockel in flacheres Wasser vorschiebend, dem im Winter undurchdringliches Packeis aufliegt. Gegen den Indischen und Atlantischen Ozean baucht sich der Kontinent weit nach Norden bis zum Polarkreis aus, gegen den Pacifik weicht sein Saum weit nach Süden zurück. Sein Kern besteht aus Urgestein, aus Graniten, Gneißen und Quarziten, hier und da überlagert von Sandsteinen, von cretaceischen und tertiären Schichten, deren Petrefakten darauf hinweisen, daß auch diesem in ewiges Eis gepanzerten Gebiet einmal freundlichere Zeiten beschieden waren. Gegen die Küste flacht das Land sich entweder sanft ab, oder es stürzt mit steilem Bruchrand, in eine malerische Alpenkette aufgelöst, in die unterseeische Tiefe. Wild zerklüftete Gletscher schleifen tiefe Täler ein und Vulkane, tätige sowohl wie erloschene, besetzen die Bruchränder. Das Innere ist mit einer Kalotte von Inlandeis bedeckt, deren Dicke sich am Kontinentalrand auf 300–400 m berechnet. Es stellt eine von Schneestürmen durchbrauste Wüste mit welliger Oberfläche dar. Was die Phantasie sich an trostloser Öde, an schauriger Vereinsamung in eisigen, dem Leben feindlichen Regionen vorstellen mag, wird überboten durch das Hochplateau von Viktorialand, wie es Kapitän Scott, ein Held und zugleich ein warmherziger Beobachter, mit seinen beiden Genossen durchwanderte. Allseitig fließen aus dem Hochdruckgebiet des vereisten Innern die Winde ab, um nach Osten abgelenkt mit unerhörter Gewalt den Kontinentalrand zu umbrausen und die Winterquartiere in Schneemassen zu vergraben. Ihnen entgegen wehen von 3000 m Höhe ab westliche Winde, welche die Rauchfahne des Erebus weit über die einsame Landschaft wegtreiben. Wenn man bedenkt, daß die mittlere Jahrestemperatur auf der Gauß-Station 11,5°, im Viktoria-Land 17,8° unter Null liegt, so finden solche Werte nur aus der riesenhaften Ausdehnung der kontinentalen Decke von Inlandeis ihre Erklärung. Es handelt sich hier um Werte, die um 5 bis 6 Grad niedriger liegen, als die mittleren Jahrestemperaturen in gleichen nordpolaren Breiten. Was das sagen will geht daraus hervor, daß eine Erniedrigung unserer mittleren Jahrestemperaturen um den gleichen Betrag die Erscheinungen der Eiszeit zur Folge haben würde. Selten sind die windstillen Tage, an denen sonniger Glanz über einer Landschaft lagert, die an Erhabenheit, an feiner Abtönung der Farben ihresgleichen nicht findet. An solche Zeiten knüpfen die Erinnerungen in der viermonatlichen Winternacht an. Aus ihnen schöpft der Mensch die Energie zu weiteren Unternehmungen, zu unerhörten physischen und moralischen Kämpfen. Die zu Gletschereis sich verdichtenden Schneemassen werden langsam gegen die Küste abgeschoben. Wie Alles in der Antarktika in das Riesenhafte übersetzt ist, so auch die Ausdehnung der Gletscher, deren Stirnflächen sich als Eismauern von 1000 km Länge in den Ozean vorschieben. Ihre äußersten Zungen brechen ab 925

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und schwimmen als tafelförmige Eisberge davon. Kaum geboren, sind sie auch dem Untergang geweiht. Wie Inseln liegen sie verankert, schonungslos der Wirkung der Brandung preisgegeben, die blauschillernde Klüfte und Spalten höhlt, bis sie allmählich von den Strömungen nach Norden getrieben der Sprengwirkung des auftauenden und gefrierenden Wassers ausgesetzt zu malerischen Amphitheatern, Domen und hochragenden Pyramiden umgemodelt werden. Dem organischen Leben ist das Innere des Kontinentes feind. Wir kennen keinen Bereich der Erde, in dem in solcher Ausdehnung selbst dem einfachsten Bakterium die Existenzmöglichkeit geraubt wird. Nur längs der Küste gedeihen Flechten und kümmerliche Moospolster an den Steilhängen, ohne indessen dem dort üppig entfalteten tierischen Leben Unterhalt zu bieten. Als ob die Natur dieser starren Öde auch einen sympathischen Zug habe beigesellen wollen, so bevölkert sie die Klippen, die vorliegenden Eisfelder und Eisberge mit Tausenden von Pinguinen. Auf dem Packeis liegen die mächtigen Robben und die flinken Seehunde, das eisige Wasser wird von Scharen von Walfischen durchfurcht und eifrig fischen in ihm die oft zu weißen Wolken aufwirbelnden Sturmvögel, während der graue Albatroß, fast nie zu einem Flügelschlag ausholend, einsam um das Schiff seine Kreise zieht. Die Tierwelt kennt keinen Feind und in harmlosem Frieden, als ob es sich um gute Freunde handele, staunt sie die fremden Eindringlinge an. Der überwältigende Reichtum an tierischen Formen, wie er auch dem antarktischen Meer zukommt, findet seine Erklärung in der Massenproduktion von pflanzlicher Nahrung, die in Gestalt von Diatomeen oft weithin das kalte Wasser verfärbt und eine unversiegbare Quelle für die Ernährung der tierischen Lebewelt abgibt. Ist nun unser Wissen durch die vereinten Bemühungen der Expeditionen zu einem vorläufigen Abschluß gelangt? In geographischer Hinsicht sicher nicht! Das Kartenbild der Antarktika hat eine auffällig geringe Erweiterung erfahren. Noch immer klaffen die breiten Lücken zwischen den drei seit 1840 bekannten Massiven von festem Lande. Längs der dem Atlantischen- und Indischen Ozean zugekehrten Seite geben nur drei Stichproben dem Kartographen einen Anhalt für eine unsichere Linienführung und auf der pazifischen Seite fehlt zwischen Viktorialand und Grahamland jeder Anhalt für eine Darstellung der Küstengliederung. Etwas besser ist es in ozeanographischer Hinsicht bestellt, insofern drei TiefseeExpeditionen über das Relief des Meeresbodens und über die sonstigen den Ozeanographen und Biologen interessierenden Fragen wichtige Aufschlüsse lieferten. Diese beziehen sich freilich nur auf die Atlantisch-Indische Hälfte des antarktischen Meeres, nicht aber auf die pazifische. Neben den Geographen und Ozeanographen fordern indessen auch die Geophysiker, Meteorologen und Geologen in bisweilen fast leidenschaftlicher Form die Entsendung neuer Expeditionen. Der Ansturm auf die Antarktika gibt dem neuen Jahrhundert sein charakteristisches Gepräge. „Die Geschichte der Wissenschaft ist eine große Fuge, in der die Stimmen der Völker nach und nach zum Vorschein kommen“: in Skandinavien, Belgien und Frankreich wird die Entsendung neuer Expeditionen in die Wege geleitet, während England – pünktlich, wie immer – im 926

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August ds. Js. seine zweite Südpolar-Expedition unter der Leitung von Shackleton entsendete. Mit besonderer Genugtuung begrüßen wir es, daß auch Argentinien die antarktische Forschung sich angelegen sein läßt, indem es ständige Observatorien, im Bereiche des Grahamlandes und der vorliegenden Inseln errichtet. Nur in Deutschland hat die antarktische Forschung keinen Wiederhall gefunden. Prüft man den Charakter der bisherigen Expeditionen, so läßt sich nicht leugnen, daß die englische Art des Vorgehens am meisten Aussicht auf Erfolg bietet. Sie ist dadurch charakterisiert, daß entweder bekannte und im Sommer erreichbare Küstenstrecken zur Überwinterung aufgesucht werden, oder daß man unter Verzichtleistung auf eine Überwinterung im Sommer im Eismeer vordringt und nach unbekanntem Lande Umschau hält. Richten sich die Expeditionen von vornherein auf eine Überwinterung ein, so wird der Schwerpunkt auf fortlaufende Reihen von Beobachtungen und auf Erkundung des Hinterlandes durch Schlittenreisen gelegt. Verzichtet dagegen eine Expedition auf Überwinterung und dringt sie nur im Sommer vor, so gewinnt sie einen rein ozeanographischen Charakter. In beiden Fällen bringt die Teilung der Arbeit den Vorteil mit sich, daß die Expeditionen nicht mit Aufgaben überlastet werden. Das Programm kann fester umschrieben werden und allzu hoch gespannte Erwartungen vermögen nicht aufzukommen. Sucht dagegen eine Expedition, wie dies bei der deutschen und belgischen der Fall war, beide Aufgaben zu vereinigen, so kann sie in eine schwierige Lage kommen. Gewinnt sie tatsächlich einen Stützpunkt an einer bisher unbekannten Küstenstrecke, so ist ein Ersatz und ein Auffinden durch eine Hilfs-Expedition ausgeschlossen. Wird sie dagegen, wie sich dies bei der Belgica gab, vom Packeis eingeschlossen, so verlieren die Beobachtungsreihen an Wert, weil der Ort sich ändert. Es ist selbstverständlich nicht ausgeschlossen, daß eine Expedition, die an Land überwinterte, späterhin der Erkundung unbekannter Küstenstrecken sich widmet. Die Erfahrung hat indessen gelehrt, daß nach einmaliger, oder gar zweimaliger Überwinterung entweder die Neigung zu einem derartigen Vorgehen fehlt, oder daß andere Schwierigkeiten sich in den Weg stellen. Eine Tiefsee-Expedition vermag auch dann noch wertvolle Dienste zu leisten, wenn sie nicht über ein für die Schiffahrt im Eise geeignetes Fahrzeug verfügt. Sie hätte im Süden des Pacifik bis zur Packeisgrenze vorzudringen und sich der Erforschung dieser in ozeanographischer Hinsicht fast unbekannten Meeresgebiete zu widmen. Insbesondere hätte sie die Frage zu lösen, ob auch hier ein tiefes Meer den antarktischen Kontinent bespült, oder ob, wie es vereinzelte Lotungen wahrscheinlich machen, ein sanftes Ansteigen des Meeresbodens gegen Antarktika Platz greift. Die zweite englische Südpolar-Expedition hält an dem bewährten Vorgehen fest. Sie beabsichtigt ihr Winterquartier auf König Eduard-Land, am Ostende der großen Roß’schen Mauer zu nehmen und von hier aus auf Schlitten-Expeditionen das Innere zu erkunden. Die sonstigen geplanten Expeditionen scheinen Grahamland und seine Umgebung als Ausgangspunkt nehmen zu wollen. Es hat gewiß seine Vorzüge, wenn die Expeditionen an jene Territorien anknüpfen, deren Eigenart ihnen von früher 927

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her genau bekannt ist, es wäre indessen in hohem Maße zu bedauern, wenn darüber die Erforschung der unbekannten Kontinentalküsten in den Hintergrund gedrängt würde. Diese gewaltigen Territorien werden freilich erst ganz allmählich unserem Gesichtskreis näher gerückt werden. Wer die alten Berichte über die Eisschiffahrt in diesen Gebieten liest, wird von vornherein seine Erwartungen nicht zu hoch spannen. Besonders ungünstige klimatische Verhältnisse scheinen gerade den am meisten vorgeschobenen Küstenrand gegen den Atlantisch-Indischen Ozean zu charakterisieren. Der Packeisgürtel ist hier so dicht und so schwer zu durchbrechen, daß nur die besten Südpolarschiffe Aussicht auf Erfolg haben. Das Erreichen des Südpoles wird von allen Expeditionen als ideales Ziel hingestellt; König Eduard übergab der zweiten englischen Südpolar-Expedition bei ihrer Abfahrt eine Flagge, die auf ihm aufgepflanzt werden soll. Es ist merkwürdig, welchen Reiz auf die Gemüter das Erreichen eines Punktes ausübt, der in wissenschaftlicher Hinsicht nur einen recht untergeordneten Wert besitzt. Nur eine Expedition, nämlich die von Kapitän Amundsen geplante, strebt einem Punkte zu, dessen genaue Festlegung allerdings von hohem wissenschaftlichem und nautischem Werte ist, nämlich dem magnetischen Südpol. Die Charaktereigentümlichkeiten der einzelnen Nationen spiegeln sich in den neuen Plänen wieder. Die Skandinavier fassen bedächtig das Erreichbare in das Auge, Franzosen und Belgier verkünden redselig, daß sie dem Pol mit Automobilen und lenkbaren Ballons zu Leibe gehen wollen, der Deutsche hat Bedenken und will erst gründlich das Material aufarbeiten, der Engländer sagt nichts, überrascht aber die wissenschaftliche Welt mit der vollendeten Tatsache. Ihm reiht sich würdig Argentinien an, dessen Unternehmen wohl durchdacht und von wissenschaftlichem Geiste getragen ist. Mag es sich nun um den Pol der Erdaxe, oder um den magnetischen Pol handeln, so vermögen wir all den Plänen, welche ihn mit Luftballons oder mit Automobilen zu erreichen versuchen, keine günstige Prognose zu stellen. Es erregt Befremden, daß überhaupt Expeditionen auf die Verwertung derartiger kostspieliger Mittel aufgebaut werden sollen, die sich im Hinblick auf die Existenzbedingungen im antarktischen Gebiete geradezu als leichtfertiges Spiel mit dem Leben erweisen. Auch dann, wenn auf derartige Hilfsmittel verzichtet wird, kann mit Sicherheit vorausgesetzt werden, daß Expeditionen, welche das abgelegene Grahamland oder in seinem Umkreis zu entdeckende Küsten zum Ausgangspunkt für das Vordringen zum Pol wählen werden, mit einem Fehlschlag zu rechnen haben. In Gegenden, wo selbst Polarhunde und gelegentlich der Schneeschuh ihre Dienste versagen, ist heute, so wie früher, der Mensch bei seinem Vordringen in das Innere auf seine eigene Kraft und Energie angewiesen. Wenn wir auch gern den Bestrebungen, den magnetischen Südpol zu erreichen, vollen Erfolg wünschen, so darf doch immerhin auf zwei Punkte hingewiesen werden, die ein Erreichen des Zieles in Frage stellen können. Alles vermag der Mensch zu ertragen und selbst den Schrecknissen des Innern der Antarktika haben zähe Naturen Widerstand geleistet; er erlahmt indessen, wenn 928

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die sicher vorauszusetzende Monotonie des Innern mit ihren Rückwirkungen, in Form von seelischen Depressionen nicht ausbleibt. Bei dem Vordringen bis über den 82. südlichen Breitengrad bewegte sich die englische Schlitten-Expedition längs einer Kette von Hochalpen, deren grandiose Szenerie stets von Neuem fesselte. Der berechtigte Stolz, daß majestätische Gipfel, die noch kein menschliches Auge gesehen hatte, der Reihe nach auftauchten, war kein geringer Ansporn zum weiteren Vordringen. Als indessen im folgenden Jahre die Wanderung über das Hochplateau ging, auf dem keine hervorstechenden Landmarken sichtbar waren, erlahmte das Interesse. Niemals, so erklärt Kapitän Scott, wird jemals wieder mein Fuß diese grauenvolle Einöde betreten. Die Einförmigkeit der von Inlandeis bedeckten Landschaft hat noch eine zweite Gefahr im Gefolge, die, wie es scheint, bei den bisherigen Erörterungen unterschätzt wird. Der magnetische Südpol ist von Viktorialand ungefähr 1100 km, von Wilkesland resp. Kaiser Wilhelmsland etwa 1400 km entfernt. Es sind das immerhin geringe Entfernungen im Vergleich zu dem fast doppelt so weit abgelegenen Südpol der Erdaxe. Da man schwerlich ein zweites Mal den Versuch unternehmen wird, über das Hochplateau von Viktoria-Land den magnetischen Südpol zu erreichen, so muß der Versuch von dem sanfter gegen die Küste sich neigenden WilkesLand oder Kaiser Wilhelms-Land unternommen werden. Mag man nun die Mitwirkung von Polarhunden in Anspruch nehmen, oder auf sie verzichten, so ist nur dann auf Erfolg zu rechnen, wenn der Rückzug vor Erreichen des fernen Zieles gesichert wird. Bei der Ausreise hat ein staffelweises Vorgehen zu erfolgen, wobei durch Anlegung von Depots für Sicherung der Rückzugslinie Sorge getragen wird. Nur die zähesten und widerstandsfähigsten Männer werden schließlich, von Lasten wesentlich erleichtert, zum Endziel vordringen. Aus den Depots haben sie sich auf dem Rückwege mit Nahrung und den notwendigsten Ausrüstungsgegenständen zu versorgen. Wie aber die Depots auffinden, wenn die Einförmigkeit der Landschaft die Benutzung charakteristischer Landmarken ausschließt? Nur durch die genaueste astronomische Ortsbestimmung ist es möglich, dem Depot nahe zu kommen. Das Auffinden ist indessen in Frage gestellt, wenn bedeckter Himmel und Schneestürme eine scharfe Ortsbestimmung unmöglich machen. Man mag sich die Lage der Verzweifelten kaum ausmalen, wenn sie mit dem Hungertode vor Augen in der Einöde umherirren. Daß diese Schilderung nicht zu düster ist, lehren die im antarktischen Gebiete ausgeführten Schlittenreisen. Man lese die ergreifenden Tagebuchblätter des Kapitäns Scott, die den Rückweg nach Erreichen der höchsten südlichen Breite schildern. Die Hunde haben längst ihren Dienst versagt; die täglichen Rationen sind vermindert, heißhungrig, schneeblind, mit gesprungenen Lippen und Wangen geht es auf Gewaltmärschen heimwärts. Der Skorbut ist im Anzuge und einer der kräftigsten unter ihnen bricht zusammen. Man schleppt den Gefährten so gut es geht im Schneesturm weiter, der 10 Tage anhält und jede genauere Orientierung, jeden Ausblick auf die Gebirgskette hindert. Die Lebensmittel reichen nur noch für wenige Tage und alles Dichten und Trachten geht in dem einen quälenden Gedanken auf, ob das 929

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Depot wiedergefunden wird. Da klart der Himmel etwas auf, man vermag die Winkel zu messen, und als die Not auf das höchste gestiegen, wird auf dem endlosen Schneefeld das Depot entdeckt. Und das sind zum Teil dieselben Männer, welche im nächsten Sommer in westlicher Richtung gegen den magnetischen Südpol aufbrachen. Bei einer Kälte von 48° führt der Weg über die Gletscher der Hochgebirgskette bis zu einer Höhe von 3000 m an den Rand eines Hochplateaus. Hier empfängt sie ein Orkan aus West, der sie nötigt, 6 Tage lang in den Schlafsäcken zu verharren. Als seine Wucht nachläßt, geht es einen Monat lang über das wellig gefurchte Hochplateau, an dessen eisigen Zacken der Metallbelag der Schlitten sich abschleift. Bei der Rückkehr stürzen sie in eine Gletscherspalte; am Seile hängend haben sie noch so viel Geistesgegenwart, sich allmählich aus dieser fürchterlichen Lage herauszuarbeiten und schließlich das ersehnte Schiff zu erreichen. Wer solche Schilderungen liest, sieht voraus, daß es auch bei der Erforschung der Antarktika an jener erschütternden Tragik nicht fehlen wird, welche in abgerissenen Sätzen auf Tagebuchblättern von unerhörten Leiden in polaren Gegenden erzählt. Ich habe geglaubt, meine jungen Kommilitonen, Ihnen solche Beispiele männlicher Entschlossenheit und begeisterter Hingabe an wissenschaftliche Ziele nicht vorenthalten zu sollen. Keinem unter Ihnen bleibt, wenn auch nicht in so sinnfälliger Weise, der Kampf um das Dasein erspart. Dann entscheidet es sich, ob der Charakter in jener Zeit der ungebundenen Freiheit sich so weit gefestigt hat, daß man aus eigener Kraft die Anfechtungen überwindet. Die akademische Freiheit soll indessen nicht zu einer Frühreife des Selbstbewußtseins führen, sondern zu der Erkenntnis der Verpflichtungen gegenüber der Allgemeinheit. Und so gestatten Sie mir mit einem ganz speziellen Wunsche zu schließen. Die Universität rüstet sich zum Begehen der Feier ihres 500jährigen Bestehens. Wenn dann die Manen der großen Geister – unter ihnen auch des größten Leipziger Studenten – auftauchen, so möge sich an Ihnen das Dichterwort bestätigen: „O schilt das goldne Jugendalter nicht! Der Kopf ist rasch, allein das Herz ist gut.“ Möge der Rektor des Jubeljahres eine geeinigte Studentenschaft vor sich sehen, bereit, die Sonderinteressen des Einzelnen und der Korporationen zugunsten einer würdigen Gesamtfeier hinten anzusetzen! ***

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31. Oktober 1908. Rede des abtretenden Rektors Dr. Karl Chun. Bericht über das Studienjahr 1907/08. Hochansehnliche Versammlung! Das verflossene Rektoratsjahr stand unter dem Zeichen der Vorbereitung zum 500jährigen Jubiläum der Universität. Wir können nicht umhin, schon jetzt den Landständen und Vertretern der Stadt für die Bereitstellung beträchtlicher Mittel unseren wärmsten Dank auszusprechen. Wenn die Bewilligungen schließlich glatt erfolgten, so ist dies nicht zum wenigsten dem tatkräftigen Eingreifen und Interesse Seiner Majestät des Königs und des vorgesetzten Ministeriums zu verdanken. Die Geschicke unserer Universität sind eng mit denjenigen des Hauses Wettin verwachsen. Von Friedrich dem Streitbaren gegründet, von Kurfürst Moritz mit reichem Grundbesitz ausgestattet, hat dann die ehrwürdige Universität durch das Eingreifen von König Johann die Vorbedingungen zu ihrer derzeitigen Blüte erhalten. Wir erkennen es freudig an, daß unser derzeitiger Rektor magnificentissimus den Traditionen seines Hauses folgend die persönlichen Beziehungen zu der Universität aufrecht erhält. Vom 12. bis 22. Februar dieses Jahres beehrte Seine Majestät huldvollst Professoren aller vier Fakultäten mit seinem Besuche, dem sich dann ein abermaliger Besuch am 1. Juni mit den beiden ältesten Prinzen behufs Besichtigung des Universitätsgebäudes anschloß. Alle Beteiligten waren Zeugen von dem lebhaften Interesse, welches Seine Majestät an den Vorträgen nahm; wir möchten denn auch nicht verfehlen, den Kollegen, welche im Rahmen ihrer Vorlesungen die einzelnen Themata in ebenso anziehender wie gehaltvoller Form behandelten, unseren Dank auszusprechen. Wie Alles, was das Königshaus in Freud und Leid bewegt, seinen Wiederhall auch bei der Universität findet, so hat sie einerseits nicht verfehlt, den Geburtstag Seiner Majestät am 25. Mai feierlich durch einen festlichen Akt, bei dem der Prorektor die Rede hielt, zu begehen, andererseits ihrer aufrichtigen Trauer um das Hinscheiden der allverehrten Königinwitwe Carola Ausdruck zu geben. Galt sie doch einer edlen Fürstin, in der die Tradition einer großen Zeit fortlebte. Was sie dem Lande in ihrer bescheidenen und zielbewußten Art an Wohltaten erwiesen hat, fand nach dem Hinscheiden einen ergreifenden Ausdruck: daß sie warm der Universität, die sie gar manchmal an der Seite von König Albert besuchte, zugetan war, soll ihr unvergessen bleiben! Nach langen Jahren gibt es sich, daß wir das Hinscheiden unseres vorgesetzten Kultusministers zu betrauern haben. Es war uns leider nicht vergönnt, mit Minister von Schlieben während der kurzen Zeit seiner durch die Vorboten eines schweren Leidens getrübten Amtsführung in nähere Berührung zu treten. Daß er indessen 931

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wohlwollend und fördernd eingriff, wo er nur irgend konnte, soll an dieser Stelle gern bezeugt werden. Wir betrachten es als eine günstige Fügung, daß wir seit den Zeiten, wo Minister von Falkenstein den Intentionen König Johanns Ausdruck gab, mit allen Leitern des Kultusministeriums in ein Verhältnis gegenseitigen Vertrauens und offenen Austausches der Meinungen getreten sind. Wenn wir uns unter den deutschen Universitäten einer beneideten Stellung zum Kultusministerium erfreuen, so wird dies nicht zum wenigsten dadurch bedingt, daß es seit jeher die Eigenart des UniversitätsBetriebes berücksichtigte: von einem scharfen Regiment Abstand nahm und feinfühlig dem persönlichen Moment mit seinen Imponderabilien Rechnung trug. So hat denn auch der neue Chef des Kultusministeriums, den wir heute freudig unter uns begrüßen dürfen, seiner Wertschätzung der Universität in warmen Worten Ausdruck gegeben. Wir danken Ew. Exzellenz, daß den Worten rasch die Taten folgten. Durch die zweimalige eingehende und anstrengende Inspektion unseres medizinischnaturwissenschaftlichen Gebäudekomplexes wurde für die beiden rückständigsten Institute, nämlich für die Chirurgische Poliklinik und für die Poliklinik für orthopädische Chirurgie eine rasche Besserung der Existenzbedingungen herbeigeführt. Möge Ew. Exzellenz es auch als ein gutes Omen für die weitere Amtsführung betrachten, daß in beiden Fällen, wo an Ordinarien ehrenvolle Rufe nach auswärts herantraten, es gelungen ist, sie der Universität zu erhalten. Ganz besonders sind wir Ew. Exzellenz für die in der 1. Kammer abgegebene Erklärung verpflichtet, daß die Gehaltsverhältnisse der mit einem Lehrauftrag betrauten außerordentlichen Professoren im Rahmen der etatmäßigen Mittel eine erhebliche Aufbesserung erfahren sollen. Indem hiermit den Wünschen des Senates und der Extraordinarien Rechnung getragen wird, sind wir überzeugt, daß durch die Sicherung der Existenz neue und segensreiche Impulse dem akademischen Unterricht gegeben werden. Die weitere Ausgestaltung des wissenschaftlichen Apparates, wie sie durch die Vertiefung und Spezialisierung der Wissensgebiete bedingt wird, läßt sich in allgemeinen Umrissen bereits festlegen. Wenn wir auch bereit sind, mit Rücksicht auf die allgemeine Finanzlage unsere Forderungen für die nächste Finanzperiode bescheiden zu gestalten, so würde doch ein andauerndes Einengen der traditionellen Fürsorge des vorgesetzten Ministeriums und der Landstände uns empfindlich treffen. Uns gibt nicht, wie der Schwester-Universität Jena, die Technik an materiellem Gewinn das zurück, was sie der Wissenschaft verdankt: wir sind allein auf staatliche Fürsorge angewiesen! Neben glanzvollen Instituten, welche den Stolz Leipzigs bilden, stehen solche mit veralteten Einrichtungen. Wollen wir uns nicht überflügeln lassen, so muß der intensiv ausgenutzte Grundbesitz erweitert werden, um für die späteren Neuanlagen Platz zu schaffen. Der gesteigerten Frequenz sind die überlasteten Auditorien kaum mehr gewachsen und den wertvollen Sammlungen fehlt es in mehreren Instituten an Licht und Raum. Gern erkennen wir es an, daß auch im vergangenen Jahre die staatliche Fürsorge nicht nachgelassen hat. Wenn auch keine Neubauten entstanden sind, so erscheinen 932

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doch manche Institute durch einen umfänglichen Umbau in neuem Gewande. Dies gilt namentlich für die Anatomie und wird späterhin in gleichem Maße für die Augenklinik zutreffen. Für das Zahnärztliche Institut wurde von den Landständen ein Neubau bewilligt und für das Chemische Laboratorium der Umbau des Hörsaales. Dazu gesellen sich Erweiterungsbauten bei der Medizinischen und bei der Chirurgischen Klinik, der Anbau eines Aquariums bei dem Zoologischen Institut und endlich der Umbau des Grundstückes „Goldner Bär“. In sein oberes, behaglich hergerichtetes Geschoß – die einstige Wohnung von Gottsched – sollen die Seminare für Kultur- und Landesgeschichte einziehen. Erwähnt sei endlich noch, daß auf unserem Grund und Boden, nämlich in der Ritterstraße, ein Neubau für die Handelshochschule entstehen wird. Von Schenkungen, die uns während des verflossenen Jahres zugingen, sei der wohlgelungenen Marmorbüste Friedrich Ratzels gedacht, die Geheimrat Prof. Hans Meyer dem Geographischen Seminar in einer feierlichen Sitzung am 25. April d. J. im Beisein der Witwe des Verstorbenen überreichte. Durch den Verlagsbuchhändler Hofrat Hermann Credner wurde ein durch die Eigenart seiner schwierigen Konstruktion fesselndes Epidiaskop für den Hörsaal XI gestiftet, das in erster Linie den archäologischen Vorlesungen dienen soll. Herr Camillo Schaufuß in Meißen schenkte wertvolle Werke dem Geographischen Seminar und dem Zoologischen Institut, außerdem dem letzteren einen Teil seiner reichhaltigen Sammlungen. Das archäologische Institut wurde durch die Munifizenz eines Kunstfreundes, der nicht genannt sein will, und durch die Herren Edward Warren und John Marshall mit einer reichhaltigen Kollektion von Antiken, die zum Teil der besten attischen und römischen Zeit entstammen, bedacht. Auch die Universitäts-Bibliothek hatte sich recht wertvoller Zuwendungen zu erfreuen. So hat Herr Johs. Friedrich Dürr aus Anlaß des bevorstehenden UniversitätsJubiläums 1909 eine Auswahl Bücher aus seinem Verlage gestattet. Das Gleiche gilt für Herrn Konsul Otto Harrassowitz, dessen Schenkung antiquarischer Werke nahezu 600 Bände betrug. Die Buchhandlungen Karl Baedeker, W. Engelmann und Haessel Verlag überwiesen eine Reihe ihrer Verlagswerke. Herr Professor Hilprecht in Philadelphia schenkte seine assyriologischen Ausgrabungswerke und Herr Professor E. Wilke das wertvolle Original der ältesten Statuten des kleinen Fürstenkollegs. Was den Personalbestand unserer Universität anbelangt, so ist zu unserer tiefen Trauer der Lehrkörper von einer ungewöhnlich großen Zahl schwerer Verluste betroffen worden. Am 19. November 1907 starb in Heidelberg der emeritierte ordentliche Professor der beiden Prozesse, Oskar Bülow. Er habilitierte sich 1863 als Privatdozent in Heidelberg, wurde dann nach Gießen, 1872 nach Tübingen und 1885 nach Leipzig berufen. Krankheit zwang ihn im Jahre 1892 zum Übertritt in den Ruhestand. Er hat ihn bis zum Schlusse seines Lebens im Dienste seiner Wissenschaft durch eine Reihe wertvoller Untersuchungen nutzvoll gemacht. Vom römischen Zivilrecht ausgehend, welches er Zeit seines Lebens gepflegt hat, wendete er sich schon früh der Zivilprozeß-Wissenschaft als seinem Hauptfache 933

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zu. Um sie hat er sich hervorragende Verdienste erworben und auf diesem Gebiete hat er durch Schrift und Lehre glänzende Erfolge erzielt. Am 30. November 1907 verstarb im 77. Lebensjahre der ordentliche Professor der Staatswissenschaft, Carl Viktor Fricker. Als junger Beamter beim ständigen Ausschuß des württembergischen Landtages schrieb er seine Abhandlung über die Entstehung der württembergischen Verfassung. Die Stoffbeherrschung, Objektivität und juristische Schärfe seiner Darlegungen lenkten die Aufmerksamkeit der Regierung auf ihn, welche ihn 1863 nach Tübingen berief. 1875 folgte er einem Rufe nach Leipzig, wo er über Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht, daneben auch über benachbarte staatsphilosophische Gebiete vortrug. Fricker hat eine ungemein fruchtbare Tätigkeit auf den Gebieten des Staats- und Völkerrechtes entwickelt. Die Leipziger Zeit seiner Tätigkeit gab ihm denn auch speziell Anlaß, sich mit dem Staatsrechte unseres Königsreiches zu beschäftigen. Alle seine Schriften zeichnet eine seltene Kraft der Abstraktion, eine Plastik der historischen Anschauung und eine philosophische Weite des Blickes aus, wie sie nicht häufig beisammen sind. Daneben war er eine rührend bescheidene Natur von herzgewinnender Liebenswürdigkeit und doch zugleich auch ein charakterfester Verfechter seiner Überzeugung. Am 12. Januar 1908 wurde, noch in voller Schaffenskraft stehend, der außerordentliche Professor für Statistik Ernst Hasse nach kurzer Krankheit abgerufen. Geboren 1846 in Leulitz bei Wurzen, nahm er an den Feldzügen teil und gehörte noch längere Zeit als Offizier der Armee an. Von 1873 an wendete er sich nationalökonomischen und statistischen Studien zu. Unserer Universität gehörte er von 1885 ab an. Zahlreiche Publikationen über Wohnungsstatistik und andere statistische Themata, welche mit Vorliebe an unsere Stadt anknüpfen, legen Zeugnis ab für sein klares, zielbewußtes Erfassen der Aufgabe und für seine Fähigkeit, sie praktischen Lösungen zuzuführen. Die allgemeine Wertschätzung, deren er sich erfreute, fand darin Ausdruck, daß ihn Leipzig als seinen Vertreter in den Reichstag entsendete. Die Universität und die theologische Fakultät beklagen den Verlust ihres Seniors Gustav Adolf Fricke, der am 30. März 1908 entschlief. Hier in Leipzig am 23. August 1822 geboren, hat er seit seiner Habilitation im Jahre 1846 mit Ausnahme von 14 Jahren, die er in Kiel wirkte, ununterbrochen unserer Universität angehört und eine weitreichende Tätigkeit entfaltet. Seine Lehrtätigkeit und wissenschaftliche Arbeit gelten vor Allem der Exegese des Neuen Testaments und der systematischen Theologie. Dort betonte er besonders auch die philologische Seite, hier bewahrte er einen stark spekulativen Zug; auf beiden Gebieten ging er selbständige Bahnen. Ein Mann voll Geist und Leben war er in den Jahren seiner Kraft ein begeisternder Dozent, den Studenten ein väterlicher Freund. Besonders am Herzen lag ihm die Pflege des Zusammenhangs zwischen Theologie und Kirche, wie er denn auch als Pfarrer an der Peterskirche und als Vorsitzender des Gustav Adolf-Vereines von weiteren Kreisen dankbar verehrt wurde. Das Seniorat der Universität ging nach Frickes Hinscheiden auf den ordentlichen Professor der Mathematik, Wilhelm Scheibner, über. Kaum eine Woche sollte er es führen. Am 8. April 1908 verschied plötzlich der 82jährige, der seit seiner Habilitation im Jahre 1853 unserer Universität angehört hatte. Seine Tätigkeit war eine recht 934

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umfassende, insofern sie sich auf theoretisch-astronomisches, auf dioptrisches und mathematisches Gebiet erstreckte. In der Astronomie hat Scheibner die Entwicklungen der Störungsfunktion vervollkommnet, indem er hier sowohl, wie auch bei seinen dioptrischen Untersuchungen an seinen Lehrer Hansen anknüpfte. Zu seinen mathematischen Untersuchungen wurde er vor allem von Jacobi angeregt, dessen Theorie der elliptischen Funktionen er vertiefte. Die Algebra, die Zahl- und Invariantentheorie hat er ohne Scheu vor den mühsamsten Rechnungen durch gewissenhafte und fleißige Untersuchungen gefördert. Scheibner war ein stiller Mann, von strengster Rechtlichkeit und wohlwollendem Sinn jungen aufstrebenden Talenten gegenüber. Als wir ihn beerdigten erhielten wir die Kunde von einem weiteren empfindlichen Verlust, der die Mathematik betroffen hatte. In Bozen, wo er Heilung von seinem Leiden gesucht hatte, verschied am 11. April d. J. der ordentliche Professor Adolf Mayer. In Leipzig am 15. Februar 1839 geboren, gehörte er seit 1866 dauernd unserer Universität an. Seine Arbeiten betreffen die partiellen Differential-Gleichungen, die Variations-Rechnung und die Mechanik. Seine Untersuchungen zeichnen sich durch Klarheit und durch die Eleganz der Beweisführung aus. Er war eine zurückhaltende und bescheidene Natur, dabei ein lauterer Charakter, eine warmherzige, wahrhaftige und liebenswürdige Persönlichkeit, die auf Keinen, der ihm näher kam, ihren Eindruck verfehlte. Am 17. Juli d. J. verschied im 84. Lebensjahre der außerordentliche Professor Richard Hagen. Nach längerer allgemein medizinischer Tätigkeit wandte er sich der Ohrenheilkunde zu, begründete 1864 die erste Poliklinik für Ohrenkranke in Leipzig und habilitierte sich als Privatdozent für dieses Fach 1865. Lange Zeit mußte Hagen auf Anerkennung seiner Tätigkeit seitens der Regierung warten. Erst 1875 wurde er zum außerordentlichen Professor ernannt und erhielt zugleich eine staatliche Subvention für seine Poliklinik. Ein schweres Augenleiden nötigte ihn 1894 die Leitung der Poliklinik und das Halten von Vorlesungen aufzugeben. Er entwickelte eine rege literarische Tätigkeit auf allgemein klinischem Gebiete und dehnte seine Untersuchungen außer auf die Ohrenheilkunde auch auf Nasen- und Kehlkopferkrankungen aus. In der wissenschaftlichen Welt erfreute er sich eines geachteten Namens und weit über Sachsen reichte sein Ruf als erfolgreicher Ohrenarzt hinaus. Die entstandenen Lücken im Lehrkörper sind durch Neuberufungen zum Teil wieder ausgefüllt worden. In der juristischen Fakultät wurde zum ordentlichen Honorarprofessor der ordentliche Professor an der Universität Halle, Friedrich Stein, ernannt. In die philosophische Fakultät wurde der ordentliche Professor Ferdinand Schmid in Innsbruck als Ordinarius für Statistik und Verwaltungslehre berufen. Der außerordentliche Professor Karl Schaum aus Marburg wurde zum etatmäßigen außerordentlichen Professor der Photochemie ernannt. Indem wir die neuen Kollegen herzlich willkommen heißen, freuen wir uns zugleich der Wertschätzung, welche unsere tüchtigen jungen Kräfte auswärts finden. Sie erhält ihren Ausdruck durch die Berufung des außerordentlichen Professors Robert Luther als ordentlicher Professor für Photochemie und Photographie an die Technische Hochschule zu Dresden und des außerordentlichen Professors Siegfried Garten als Ordinarius für Physiologie nach Gießen. 935

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Zu etatmäßigen Extraordinarien für Philosophie wurden in der philosophischen Fakultät die außerordentlichen Professoren Paul Barth und Wilhelm Wirth ernannt, letzterer zugleich auch als Mitdirektor des Institutes für experimentelle Psychologie. Zu außeretatmäßigen Extraordinarien wurden in der medizinischen Fakultät ernannt die Privatdozenten Hieronymus Lange und Erhard Riecke, in der philosophischen Fakultät die Privatdozenten Hugo Miehe und Richard Scholz. Außerdem wurde zum Professor der Musik ernannt der Universitätsmusikdirektor Max Reger und zum Universitätsturnlehrer Dr. Hermann Kuhr. Ein neugegründetes Lektorat für Stenographie wurde Dr. med. Arthur Blachstein übertragen. Für das frisch pulsierende Leben an der Universität zeugt auch die größere Zahl junger Kollegen, die in unseren Kreis eintraten. Es habilitierten sich in der theologischen Fakultät Lizentiat Dr. Johannes Windisch, in der medizinischen die Doktoren der Medizin Max Versé, Ernst von Brücke, Stabsarzt Richard Seefelder, Arthur Läwen und Florus Lichtenstein, in der Philosophischen Fakultät Dr. phil. Wolfgang Ostwald für Zoologie und Dr. phil. Paul Merker für germanische Philologie. Ihre Lehrtätigkeit haben aufgegeben in der Medizinischen Fakultät der Privatdozent Dr. Friedländer und in der Philosophischen Fakultät die Privatdozenten der Chemie Dr. Wilhelm Euler, Dr. Carl Beck und Dr. Georg Lockemann. Die Doktorwürde honoris causa wurde in der theologischen Fakultät dem Geheimen Rat Prof. Emil Friedberg, den Pastoren Hickelmann in Meißen und Katzer in Löbau verliehen. Die juristische Fakultät ernannte den Präsidenten des Reichsgerichtes Freiherrn von Seckendorff und den Ministerialdirektor Geheimen Rat E. O. Kirsch in Dresden zu Ehrendoktoren. Von der philosophischen Fakultät wurde die gleiche Ehrung dem Grafen Zeppelin zuteil und in der medizinischen Fakultät wurden aus Anlaß der 50jährigen Wiederkehr des Tages der Promotion als Arzt die praktischen Ärzte Ernst Pfau und Gottfried Ewald Zschiedrich zu Doktoren der Medizin honoris causa ernannt. Das 50jährige Dozentenjubiläum und 40jährige Jubiläum als ordentlicher Professor feierte in voller Rüstigkeit und Schaffensdrang der Senior unserer Universität Geheimer Hofrat Prof. Carl Neumann. Unter freudiger Beteiligung von Freunden, Kollegen und Schülern begingen zwei Kollegen, die Geheimen Räte Emil Friedberg und Ferdinand Zirkel, die Feier ihres 70sten Geburtstages. In freundnachbarlicher Gesinnung hatte die Universität Jena die Rektoren von Halle und Leipzig zur 350jährigen Jubelfeier eingeladen. Wir haben nicht verfehlt, an der stimmungsvollen Feier teilzunehmen und in einer tabula gratulatoria der Schwesteruniversität mit ihren stolzen Traditionen unsere wärmsten Glückwünsche zu übermitteln. Was die Veränderungen in unserem Beamtenpersonal anbelangt, so wurden die Bureauassistenten Friedrich Wilhelm Efer und Friedrich Curt Jahn zu Kanzleisekretären und die Expedienten Georg Meisel und Erich Kramer zu Bureauassistenten ernannt. Ferner wurde der Hilfsexpedient Walter Leipnitz zum Expedienten und der am 1. Dezember 1907 als Hilfsexpedient angestellte Amtsgerichtsschreiber Carl Schwartz zum Expedienten befördert. Wir betrauern weiterhin den Verlust unseres gewissenhaften und bewährten ersten Pedells Friedrich Wilhelm Holzhausen, welcher 936

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nach längerer schwerer Krankheit am 19. August 1908 gestorben ist. Als dritter Pedell wurde am 1. April d. Js. der bisherige Expedient beim Universitätsrentamt Heinrich Oskar Scharf angestellt. Bei der Universitätsbibliothek wurde der Assistent Dr. Martens zum Kustos, der Volontär Pastor a. D. Rosenthal zum Assistenten befördert. Der Sekretär Verlohren wurde nach seiner Probezeit definitiv angestellt. Indem wir uns nunmehr unserer Studentenschaft zuwenden, so betrauern wir zunächst den Tod von 6 hoffnungsvollen Kommilitonen. Die Frequenz hält sich annähernd auf gleicher Höhe; am gestrigen Tage betrug die Zahl 4219 gegen 4198 am gleichen Tage des Vorjahres. Im vergangenen Wintersemester waren 4341 immatrikuliert, im Sommersemester 4100; sicherlich werden wir nach Beendigung der Immatrikulation hinter der Zahl des vorigen Wintersemesters nicht zurückbleiben. Was die Verteilung auf die einzelnen Fakultäten anbelangt, so fällt ein geringer Rückgang der Juristen auf. Ihr Bestand betrug im vorigen Wintersemester 1013, und hat bis jetzt die Höhe von 871 erreicht. Wir können es nur mit Genugtuung begrüßen, daß die angesichts des übermäßigen Andranges zum juristischen Studium geäußerten Mahnungen von einigem Erfolg begleitet sind. Der Zuwachs an Studierenden kommt hauptsächlich der philosophischen Fakultät zu Gute, welche heute 2410 Studierende aufweist, zu denen sich 78 Studierende der Zahnheilkunde gesellen. Der Bestand der theologischen Fakultät mit derzeit 314 Studierenden bleibt sich annähernd gleich. Die Mediziner mit 546 Studierenden lassen einen leichten Zuwachs erkennen. Rite promoviert wurden in der theologischen Fakultät 2 zu Lizentiaten der Theologie, 353 in der juristischen Fakultät, 173 in der philosophischen Fakultät und 115 in der medizinischen Fakultät, zu denen sich noch 15 Promotionen approbierter Tierärzte gesellen. Wenn ich mich nunmehr dem inneren Leben unserer Studentenschaft zuwende, so gestatte ich mir an Sie meine jungen Kommilitonen, die Sie Verbindungen angehören, ein Wort ernster Mahnung zu richten. Ich bitte, mich nicht als einen laudator temporis acti zu betrachten, sondern als einen wohlwollenden Berater, dem das Gedeihen unserer Verbindungen warm am Herzen liegt. Die Klagen über die wachsenden materiellen Anforderungen werden dem Rektor in bisweilen beweglicher Form vorgetragen. Die Söhne wohlhabender Eltern haben es häufig noch nicht gelernt, in feinfühliger Art ihre Kommilitonen zurückzuhalten. Wie der eine den anderen fortreißt, so will keine Verbindung hinter den übrigen zurückbleiben. Die Verpflichtungen, welche sie ihren Mitgliedern auferlegen, stehen bisweilen nicht mehr im Einklang mit den Tendenzen der älteren Herren und Gründer. Wenn wissenschaftliche Vereine ihre Kartelltage mit Erörterungen über unbedingte Satisfaktion und über den Ausschluß bestimmter religiöser Bekenntnisse füllen, so tritt der Unterschied zwischen Einst und Jetzt besonders sinnfällig hervor. Die Folgen dieses Hinausschießens über die früheren Bestrebungen bleiben denn auch nicht aus: an Stelle der Vertiefung, der warmherzigen Hingabe 937

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an Prinzipien und Ideale tritt nur zu leicht die Wertschätzung des äußerlichen Sichgebens. Wir können nur mahnen und es gehört zu den angenehmsten Rückerinnerungen des Rektors, daß solche Mahnungen häufig auch Erfolg hatten. So bin ich denn auch überzeugt, daß die Bitte um Einschränkung festlicher Veranstaltungen im Laufe dieses Jahres zugunsten einer würdigen und maßhaltenden Vertretung bei dem Jubiläum auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Eine Rückkehr zu der alten Einfachheit des studentischen Verbindungslebens ist indessen so lange ausgeschlossen, als die Eltern und alten Herren nicht eingreifen. Denn das, was sich hier abspielt, ist doch nur der Reflex weitverbreiteter sozialer Anschauungen! Beobachten wir indessen die Studierenden da, wo wir ihnen am nächsten kommen, nämlich in den Seminaren, in Laboratorien und Kliniken, so läßt sich nicht klagen. Hier, wo es nur den einzigen Gradmesser der persönlichen Tüchtigkeit gibt, bedarf es selten der Mahnungen: der Einzelne ist sich seiner Verantwortlichkeit bewußt und der Fleiß ist ein reger. Dazu kommt noch ein besonders sympathischer und das Korrektiv zu manchen Auswüchsen in sich tragender Zug, nämlich die zunehmende Wertschätzung gesunden Sportes. Er bietet zudem Anlaß, daß die Schranken der Verbindungen durchbrochen werden und ein neutraler Boden geschaffen wird, auf dem ein frisches studentisches Leben sich entfaltet. Dies gilt – nur um ein Beispiel hervorzuheben – für unseren aufblühenden akademischen Turnabend, dem korporierte und nicht korporierte Studierende angehören. Rektor und Senat werden es sich angelegen sein lassen, den Wünschen um Schaffung einer akademischen Turnhalle Rechnung zu tragen und hoffen auf ein geneigtes Entgegenkommen bei der Staatsregierung. Als Seine Majestät im Sommer den Karzer besichtigte, stand er leer und man mußsich mit den künstlerischen Darbietungen an den Wänden begnügen. Dem war nicht te immer so: es wurden im Ganzen 133 Tage versessen, gegen 151 im Vorjahre. Wir registrieren gern diese Besserung und heben mit besonderer Genugtuung hervor, daß in diesem Jahre nicht in einem einzigen Falle ein schärferes Einschreiten geboten war. Nicht minder berührt es angenehm, daß die Bearbeitung der von den einzelnen Fakultäten gestellten Preisaufgaben für ein ernstes und gewissenhaftes Streben unter den Studierenden Zeugnis ablegt. Zwar fand die von der theologischen Fakultät gestellte Aufgabe keine Bearbeitung, wohl aber diejenigen aller übrigen Fakultäten. Auf die juristische Aufgabe liefen 3 Bewerbungsschriften ein. Zwar konnten ihnen keine Preise zuerteilt werden, doch wurde zweien derselben eine ehrenvolle Erwähnung und eine Gratifikation von je 50 Mark zugebilligt; ihre Verfasser sind die stud. jur. Ernst Weber aus Leipzig und Willy Thiel aus Liegnitz. Das medizinische Thema erfuhr eine Bearbeitung: ihrem Verfasser, stud. med. Paul Hoffmann aus Leipzig, hat die Fakultät den vollen Preis zuerkannt. Auf jede der drei Preisaufgaben der philosophischen Fakultät ist eine Bewerbung eingegangen. Die von der ersten Sektion gestellte Aufgabe aus dem Gebiete der semitischen Sprachen fand eine so befriedigende Bearbeitung, daß ihr die beiden Preise zu938

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erkannt wurden. Ihr Verfasser ist der stud. philolog. Johannes Kretzschmar aus Dresden. Auf das von der zweiten Sektion gestellte historische Thema ist eine Bearbeitung eingegangen, der leider kein Preis zuerkannt werden konnte. Dagegen ist die von der dritten Sektion geforderte Zoologische Untersuchung so trefflich durchgeführt worden, daß sie wiederum beider Preise für würdig erachtet wurde. Der Verfasser ist der stud. paed. Wilhelm Dietrich aus Frauenhain. Der Wortlaut der Urteile und die neuen Preisaufgaben werden durch Druck und Anschlag demnächst am schwarzen Brett bekannt gegeben werden. Mein Bericht ist zu Ende. Indem ich meinen Kollegen einen warmen Dank für die so überaus wohlwollende Nachsicht ausspreche, die sie meiner Geschäftsführung zollten, gestatte ich mir den Blick nochmals rückwärts zu wenden. 500 Jahre sind vergangen, seitdem an der Hochschule zu Prag die Auswanderung von 2000 deutschen Studenten und 46 Lehrern anhub. Sie bildeten im Universitätsverband die deutsche Nation und ihnen sollte gemeinsam mit den beiden anderen Nationen nur eine Stimme bei allen Geschäftsangelegenheiten der Universität zukommen, während die böhmische Nation deren drei beanspruchte. Der Majorisierung durch die Czechen verdanken wir die Gründung unserer Tochteruniversität Leipzig. Aber ein Teil der Deutschen hat in Prag ausgehalten und das Aufblühen der altberühmten Universität durch 5 Jahrhunderte mitbedingt. Die Wissenschaft ist international und es ziemt sich nicht, daß eine Nation ihre Leistungen ungebührlich in den Vordergrund drängt. Das schließt nicht aus, daß sie stolz auf die führenden Geister der eigenen Nation blickt und daß die Tochteruniversität Leipzig es sich zum besonderen Ruhm anrechnet, einen Leibniz, einen Lessing und einen Goethe zu ihren Studenten zu zählen. Im milden und humanen Geiste dieser Titanen hat sich denn auch die Leipziger Studentenschaft stets davon ferngehalten, die Angehörigen anderer Nationen ihr Übergewicht fühlen zu lassen. Wir nehmen gern und gastlich die Hunderte von slavischen Studierenden bei uns auf und nichts berührt uns sympathischer, als daß die ehemaligen ausländischen Kommilitonen aus Anlaß des Jubiläums – wie es jetzt von der Schweiz aus geschieht – in oft rührender Form ihre Anhänglichkeit bezeugen. Mit banger Sorge sehen wir indessen auf das, was sich in diesen Tagen in unserer Mutteruniversität Prag abspielt. Die schlecht geschützten deutschen Studierenden sind der verhetzten Übermacht des Pöbels auf der Straße ausgesetzt und wir begreifen wohl, wenn vorgestern der Rektor aus Anlaß der feierlichen Übergabe des Amtes die bange Schicksalsfrage stellte: „Will man ein zweites Mal die deutsche Wissenschaft aus Prag vertreiben lassen? Und wo entsteht uns heute, fremdem Übermut zum Trotz, aus der Asche des herostratisch zerstörten deutschen Prag ein neues Leipzig?“ Unsere Antwort lautet: harret aus, verzweifelt nicht! Wenn deutsche Wissenschaft „jugendlich immer, in immer veränderter Schöne“ 500 Jahre in Prag sich hielt, so wird sie dort auch weiterhin mit Ehren bestehen! In dem schweren verantwortlichen Kampfe, den Ihr mit Zähigkeit durchzufechten habt, ist das Gefühl der verwandtschaftlichen Bande bei uns mächtig zum Durch939

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bruch gekommen. Warmherzig reichen wir Euch die Hand und wenn Ihr zum Jubiläum Euch einfindet, sollen die Mißhandelten den Ehrenplatz erhalten und jubelnd wird die Tochter die Mutter aufnehmen! Und nun fordere ich Sie, Herr Karl Binding, auf, das Katheder zu besteigen und die Abzeichen der Rektorwürde aus meiner Hand entgegenzunehmen. Vorher aber habe ich Ihnen den Eid abzunehmen, den nach den Gesetzen unserer Universität der antretende Rektor zu leisten hat. „Sie schwören bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, daß Sie die Verfassung und Gesetze der Universität treu und gewissenhaft beobachten und die Pflichten des Ihnen anvertrauten Amtes als Rektor der Universität nach bestem Wissen und Gewissen redlich erfüllen wollen“. – Somit proklamiere ich Sie, Herr Karl Binding, zum Rektor magnificus unserer Universität für das Studienjahr 1908/9. Ich übergebe Ihnen Hut und Mantel als Zeichen Ihrer Würde, die Kette, mit denen Königliche Huld die Schultern des Rektors geschmückt hat, das Siegel der Universität, damit Sie Ihren Willen beglaubigen, die Statuten, die Sie zu bewahren haben, den Schlüssel als Zeichen, daß Sie Herr des Hauses sind. Es ist mir eine große Freude, als erster Ihnen meine Glückwünsche darbringen zu können. Möge Ihr Amtsjahr für unsere teuere Alma mater und für Sie selbst reich gesegnet sein. ***

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Karl Binding (1841–1920)

31. Oktober 1908. Rede des antretenden Rektors Dr. Karl Binding. Die Entstehung der öffentlichen Strafe im germanisch-deutschen Recht. Hochansehnliche Festversammlung! In dieser feierlichen Stunde treten wir ein in ein Jahr der Rückschau. Die Lebenszeit unsrer Hochschule rundet sich zum halben Jahrtausend. So fühlt sie sich ehrwürdigen Alters! Denn wieviel ernste Arbeit haben diese fünf Jahrhunderte aus ihrem Schoße geboren! Wieviel Wandlungen, Erfolge und Enttäuschungen hat sie in ihnen geschaut! Wieviel gelehrte Geschlechter hat sie gehört, geherbergt und begraben! Und doch ist ein halbes Jahrtausend nur eine winzige Zeitspanne in der Geschichte der Menschheit und eine fast verschwindende Größe in der Geschichte der Welt! Grade deshalb aber besitzen wir zugleich das gute Recht, uns noch jung zu fühlen. Und daß ich es nur gleich bekenne: nicht unter dem Drucke des Greisenalters, sondern im Vollgefühle unverbrauchter und sich stets verjüngender Kraft treten wir in unser Jubeljahr ein. Möglich, daß wir alt schon einmal gewesen sind. Aber diese Jugendkrankheit liegt weit hinter uns! Wie dürften wir uns auch sonst des kommenden Jahres freuen? Der Charakter dieses Jahres bestimmt nun auch billig das Wesen der Rede, die es eröffnet. Auch sie hält Rückschau. Aber sie greift nicht unserm Feste unbefugt vor und beschäftigt sich nicht mit der Entstehung und der Entwicklung unsrer Hochschule. Sie macht auch nicht Halt bei unserem Geburtsjahr 1409, sondern schaut weit über dies Jahr zurück. Wieweit? Das vermag sie nicht einmal nach Jahrhunderten genau zu sagen. Jedenfalls tief in die Zeit heidnischen Germanentums. Und nicht von stiller gelehrter Arbeit will sie erzählen. Die gab es damals noch lange nicht. Sondern von dem erschütternden Ringen zwischen Leidenschaft und Recht und zwischen dem Rechte und seiner eigenen Leidenschaftlichkeit. Ich will sprechen von der Mißtat und der Zeitfolge ihrer Rechtsfolgen. I. Verbrechen und Strafe verbindet man miteinander als selbstverständlich zusammengehörig und denkt beide wohl als verbunden zurück bis an den Anfang allen Rechtes. 941

Karl Binding

Dies mag tun, wer alles Unheil, das die Mißtat von Rechts wegen über ihren Urheber heraufbeschwor, als Strafe zu bezeichnen für gut findet. Damit aber wird ein dunkler Schleier über eine der großartigsten Entwicklungen der Weltgeschichte gebreitet. Über der Gleichheit der Ursache verschwindet die fundamentale Verschiedenheit ihrer Folgen, und ein vages Wort verdeckt die mächtigen Umschwünge im Gefühlsleben, das auf die Mißtat jeweilen die entscheidende Antwort gegeben hat. Denn aus der Leidenschaft geboren erhielt das Verbrechen auf Jahrtausende hinaus auch seine Antwort gerade von der Leidenschaft, die es wachgerufen hatte. Und seltsam! Soweit uns die Geschichte der Kultur-Völker bekannt ist, scheint die Wandlung dieser Antworten, also auch der Gefühlsweisen, wodurch sie bestimmt wurden, wesentlich den gleichen merkwürdigen Gang genommen zu haben. Doch darf ich heute um so weniger vergleichende Strafrechtsgeschichte treiben, als das, was ich klarlegen möchte, schon in der Beschränkung auf das germanisch-deutsche Recht fast den engen Rahmen sprengt, den die Stunde um eine Fest-Rede spannt. II. Unsere heutige Strafe ist eine öffentliche. Nicht deshalb, weil das Staatsgericht sie verhängt, weil Gesetz und Urteil ihren Inhalt bestimmen und Staatsorgane sie meist vollstrecken. Alles dies ist auch bei der Privatstrafe geschehen. Und der Hausarrest für Offiziere, den sie selbst vollstrecken, ist trotzdem echte öffentliche Strafe. Deren Wesen ruht allein darin, daß das Recht auf Strafe ausschließlich dem Staate zusteht und in keinem einzelnen Falle eine Privatberechtigung konkurriert. Mittels dieser öffentlichen Strafe wird das gemeine Wesen, daß ich so sage, innerhalb seiner selbst mit der Mißtat und dem Missetäter fertig. Der Verbrecher hat nie aufgehört Rechtsgenosse zu bleiben. Aber als aufrührerischer Genosse wird er innerhalb der Rechtsordnung durch die Gemeinschaft zur Verantwortung gezogen und dem Rechtszwange wieder förmlich unterworfen. Mich reizt nun der Versuch, Ihnen zu zeigen, daß diese unsre öffentliche Strafe genau so jung ist wie das Verbrechen uralt, und ich möchte Sie durch die Etappen führen, die auf dem Wege von der ältesten Verbrechensfolge zu der unsren Anschauungen allein entsprechenden zurückgelegt werden mußten. Bei diesem Versuche, die Entstehung der öffentlichen Strafe im germanischdeutschen Rechte aufzuweisen, kann manches nur von problematischer Richtigkeit sein. Auf wichtige Fragen lassen uns die Quellen ohne Antwort oder geben sie nur dunkel oder mehrdeutig. Auf nicht unwichtige Verschiedenheiten in den verschiedenen Quellen-Gebieten kann ich nicht eingehen. Eine auch uns annähernd gleichmäßige Berücksichtigung ihrer aller ist undenkbar. Gar manche rückläufige Bewegung, an denen es nicht gefehlt hat, schalte ich aus. Phantastische Ausgangspunkte aber weise ich von der Hand. Ich beginne genau da, bis wohin die ältesten Bestandteile unserer inhaltlich ältesten Quellen den geschichtlichen Rückschluß zulassen. Und diese ältesten Quellen sind trotz der viel jüngeren Zeit ihrer Aufzeichnung die reichen Quellen Skandinaviens von Island bis herab nach Dänemark. III. Mit einem Akte der Wegreinigung muß ich beginnen. Die Geschichte der Verbrechensfolgen wird m. E. gefälscht, wenn MenschenOpferungen als Rechtsfolgen der Mißtat gefaßt und zu den ältesten Todesstrafen 942

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gestempelt werden. Diese Opfer waren bei den Germanen stets Staatsopfer, nach feierlichem Ritus durch den Priester vollzogen. Er gerade fordert Tiere, Männer oder Frauen als Opfer für den Gott. Die amtliche Vollstreckung läßt diese Opfer den Strafen sehr ähnlich erscheinen, und oft genug werden sie auch heute noch als solche gedeutet. Aber wie das Opfer überhaupt, so steht auch das Blutopfer ganz unabhängig von der Schuld der Geopferten, wenn bei den Germanen zweifellos auch Verbrecher geopfert wurden. Die lex Frisionum sagt uns dies bezüglich des Tempelschänders ja fast ausdrücklich. Der Zweck des Opfers ist jedoch ein ganz eigenartiger. Die nach dem dürftigen menschlichen Ermessen erzürnte Gottheit soll durch das Opfer versöhnt, die unerbittliche dadurch erweicht, die Gottheit, die sich um das Volk verdient gemacht, ihm etwa zum Siege verholfen hat, durch das Opfer bedankt und an der Beute beteiligt werden. Deshalb sehen wir neben dem Schuldigen auch Schuldlose in großer Zahl geopfert, wenn sie der Gottheit genehm sind, und vielfach wurde diese sogar durch Ordal erst darum befragt, ob ihr das Opfer willkommen sei. So berichtet Tacitus (Annal. I. 61; XIII. 57) von dem Opfer der Kriegsgefangenen. Die schuldlosen Sklaven, die den Wagen der Nerthus beim Feste der Göttin gezogen hatten, wurden ertränkt. Bei langdauernder Hungersnot opferten die Schweden, wie berichtet wird, im ersten Herbst Tiere, im zweiten Menschen und im dritten den König, das ihnen wertvollste, also der Gottheit genehmste. Soweit aber der Priester den Verbrecher opfert, verfährt er im Namen der Gottheit gegen den Friedlosen. Doch ist diese amtliche Tötung in zweifacher Beziehung für die Entwicklung des Strafrechtes bedeutsam geworden. Wenn es Brauch wurde, den Urheber bestimmter Mißtaten, besonders der sogenannten Nidingswerke, das sind unerhörte, schändlich verübte Verbrechen, und der Verletzung der Heiligtümer zu opfern, so entstand bei den germanischen Stämmen eine analoge Ideen-Assoziation zwischen der Schandtat und dem ihretwegen verhängten Tode, wie sie entsteht bei angedrohter und übungsgemäß angewandter echter Todesstrafe. Ich darf etwas ungenau sagen: es bildet sich die Auffassung von dem todeswürdigen Verbrechen. Des weiteren waren diese Kultakte feierlich und individuell ausgestaltet –: das Rädern, das Verbrennen, das Lebendigbegraben, das Ertränken, das Hängen! Gehängt d. h. schimpflich getötet wurden vor allem die wegen der Heimlichkeit ihrer Handlungsweise ganz besonders verachteten Diebe; sie wurden dem Odin geopfert, ihre Leichen wurden dem Winde preisgegeben. So ward Odin zum Gott der Gehängten!1 Diese Tötungsformen aber wurden dem Volke, das sie in Verbindung mit bestimmten Verbrechen brachte, geläufig. Gegen diese heidnische Menschenopferung mußte sich das eindringende Christentum wenden, und es hat sie nach den Quellen anscheinend nicht ohne Erfolg bekämpft. 1

Deshalb war es ein Delikt gegen den Gott, den Gehängten, der ihm gehört, vom Galgen zu nehmen.

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Aber das Volk hielt an den alten Tötungsriten fest, und so wurde die Tötung von Gotteswegen vorbildlich für die späteren Tötungen von Rechtswegen. IV. Also nicht der Gott und sein Opfer interessieren uns hier, sondern das Recht und sein Feind. Nun führen alle germanischen Quellen auf eine Auffassung des Verbrechens und auf eine Rechtsfolge desselben zurück. Alle, auch die kriegerischsten germanischen Stämme preisen den Frieden, das ist der gesicherte und geordnete Zustand im Volke unter der Herrschaft des Rechts. In der Teilhaftigkeit am Frieden wurzelt die ganze rechtliche Stellung und der Rechtsschutz des Freien: seine Mannheiligkeit, das ist seine Unverletzlichkeit an Leib und Gut.2 An diesem Frieden vergreift sich der Mißtäter. Das Verbrechen ist Friedbruch. Jeder Friedbruch aber fordert die verbrecherische Absicht, den Vorsatz. Nur darf man nicht vergessen, daß die Kunst diese Schuld zu erkennen und festzustellen dem Stande der altgermanischen Psychologie entsprach. Beide staken noch in den Kinderschuhen, und uns entsetzt zum Teil die Rohheit dieser Versuche. Diese Verbrechens-Auffassung aber ist eine durchaus edle. Der Mißtäter vergreift sich schuldhaft nicht nur an dem Einzelnen, den er tötet oder bestiehlt, sondern an der ganzen Friedensgenossenschaft. In heutiger Rechtssprache gesprochen: die Germanen haben das Schuldmoment und das öffentlich-rechtliche Moment im Verbrechen nie verkannt. Weit ärger jedoch, als die Mißtat den dadurch Getroffenen, weit härter noch als die Allgemeinheit schlägt sie den Mißtäter selbst. Der Frieden schützt nur die Friedfertigen. Wer ihn vorsätzlich bricht, dessen Tat schneidet – und zwar im Augenblick ihrer Begehung – unbarmherzig das ganze Band durch, das ihren Täter bisher mit der Friedensgenossenschaft verknüpft hat. Eine unselige Minute wandelte den Friedensgenossen zum Friedlosen, zum in die Acht Gefallenen, für und gegen den es nun kein Recht mehr gab. Eine geradezu erschütternde Logik! Sie könnte kältester Mitleidlosigkeit ebenso zum Ausdruck gedient haben als heißester Leidenschaft. Bei den Germanen, deren Gemüt bei kleinstem Anlasse kochte, kann diese furchtbarste Verbrechensfolge, die es je gegeben, nur als Ausgeburt leidenschaftlichster Erbitterung betrachtet werden. Wer in die Hürde des Friedens brach wie der Wolf, der sollte auch ein Wolf werden, er bekam ein Wolfshaupt, er wurde hinausgestoßen in die Wildnis, er wurde Waldgänger. Und, wie das germanische Sprichwort sagte: „Bär und Wolf haben nirgends Frieden“. Die Leidenschaft des Friedensverbandes ist noch zu groß und er und seine Kraft sind noch zu klein, um den Verbrecher innerhalb des Verbandes zu dulden und innerhalb seiner zur Verantwortung zu ziehen. Darin liegt der tiefe Unterschied zwischen Friedlosigkeit und Strafe; jene ist das absolute Gegenteil von dieser. Man kann den Wolf scheuchen, hetzen, töten, aber nicht strafen! 2

Wie der Sklave keinen Teil am Frieden hat, kann er auch keinen verlieren. Auch die Frauen konnten bei manchen Stämmen nicht friedlos werden.

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Antrittsrede 1908

V. Gegenüber unsrer modernen sorgsamen Isolierung des Schuldigen ist es nun auffallend zu beobachten, wie sich aus zwei Gründen die Verbrechensfolge im germanischen Recht über den ursprünglich Schuldigen nachträglich ausdehnt. Germanischer Betrachtung widerstrebt es nicht, nach abgeschlossener Tat den Täterkreis zu erweitern. Wer für den Mißtäter eintritt, wird seiner Tat mitschuldig. So der Begünstiger, so die Sippe des Täters. Bei dem festen Sippenverband stand nämlich die Sippe zu ihrem Genossen, auch wenn er verbrach, nur nicht gegen sie selbst verbrach: dadurch aber wurde sie in die Folgen der Missetat mit verwickelt. Eine andere Erweiterung wurzelt in dem Totenkult. Die Seele eines von dritter Hand Erschlagenen findet nach germanischer Auffassung ihren Weg ins Seelenreich nicht. Unstät irrt sie umher und sucht sich mit dem toten Körper wieder zu vereinigen. Gelingt dies, so wird der Tote ein „Wiedergänger“ und erscheint den Lebenden als Gespenst, vor dem sie beben. Um dies zu hindern werden die Leichen Verstorbener, von denen man Wiedergängerei befürchten konnte, aber besonders auch lebendig Begrabene mittels eines durch sie geschlagenen Pfahls fest an den Boden geheftet, vielleicht auch noch mit Dornen umhüllt, um ihnen diese Neigung zu verleiden. Solchen gequälten Seelen Ruhe zu schaffen, war die Pflicht ihrer Hinterbliebenen. In dieser Angst und dieser Pietätspflicht ist die eine Wurzel der so heilig gehaltenen Blutrache zu erkennen, wie in der Unerträglichkeit des Unrechts, das die Sippe durch die Tötung ihres Genossen erduldet hatte, die andere. Blutrache aber ist nicht die blutige Rache, sondern die Rache, die das Blut des Gemordeten an dessen Mörder nimmt.3 Diese Vorstellungen aber treiben zur Rache, auch wenn nur unvorsätzliche Tötung, Tötung von Ungefähr, sogenanntes Ungefährwerk vorlag. Und sie wirkten so mächtig, daß das Recht mit ihnen ein Kompromiß eingehen mußte. Aber echter Friedbruch war das Ungefährwerk nie. VI. Alle unsere Quellen sind auch in ihren ältesten Bestandteilen zu einer Zeit geschrieben, worin die Friedlosigkeit schon abkaufbar geworden war. Gerne bezeichnen sie deshalb den Friedlosen als einen solchen, der, wenn erschlagen, „unheilig“ liege und „unvergolten“, für dessen Tötung also Buße nicht gezahlt werden müsse. Während aber von den südwestgermanischen Rechten die Lex der salischen Franken die einzige ist, welche die Friedlosigkeit und zwar als eine ablösbare noch in dem einzigen Falle des Leichenraubes eintreten läßt, erkennen wir ihr Wesen noch ganz klar aus ihrer reichen Verwendung in den nordischen Quellen. Sind es doch in der hierin am weitesten gehenden Isländischen Gragas nur ganz leichte Fälle, auf welche die Friedlosigkeit in ihren Modifikationen keine Anwendung mehr findet – selbst der Schreiber eines verliebten Gedichtes auf eine Frau wird darnach noch friedlos! –, und kennen doch die nordischen Quellen noch eine größere Zahl von Fällen unablösbarer Friedlosigkeit! 3

Das Wort „Blutrache“ ist der Rechtssprache des Mittelalters fremd. Die Quellen sprechen von inimicitia mortalis. Haupt- oder Tod-Feindschaft. S. Frauenstädt, Blutrache S. 10, N. 1.

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Daß aber der Verlust des Friedens ursprünglich die einzige Rechtsfolge aller Friedbrüche war, ergibt sich daraus, daß die Friedlosigkeit bei allen den Verbrechen abgekauft werden mußte, bei denen sie – um mich so auszudrücken – nicht mehr unmittelbar zur Anwendung kam. Auch zeugt dafür das gotische Wort für verurteilen: gavargjan. Vargr ist der Wolf; gavargjan bedeutet: für einen Wolf erklären. Das älteste germanische Urteil war ein Urteil über Untat, und zwar das die Friedlosigkeit des Angeklagten, vielleicht schon Erschlagenen anerkennende Urteil. Endlich beweist dafür die Behandlung handhafter Tat, wovon alsbald noch zu sprechen sein wird. VII. Hatte sich aber der Mißtäter durch seine Untat selbst aus dem Frieden gestoßen, so gab es nun gegen ihn kein Unrecht mehr. Ursprünglich konnte jeder ihm antun, was ihm beliebte, insbesondere ihn töten, verwunden, außer Land jagen. Niemand durfte ihn hausen, auch seine Frau nicht. Die Kinder, die ihm noch geboren werden, sind unehlich; sein Vermögen verfällt und wird eingezogen (Frohndung), und die Flamme verzehrt mit seinem Hause sein Andenken (Wüstung). Uns erstaunt das Gleichmaß in der Maßlosigkeit. Das Gleichmaß bestehend in der völligen Rücksichtslosigkeit der Verbrechensfolge auf die verschiedene Schwere der Mißtat. Die Maßlosigkeit! Denn die Friedlosigkeit war wie ein großes Arsenal, dessen Bestand die schwersten Strafmittel in sich barg – Strafmittel, deren jedes schon allein zur Ahndung schweren Friedbruches genügte, wie Tötung, Verstümmelung, Verbannung, Verknechtung, Einsperrung, Beschimpfung, Wüstung, Vermögenseinziehung. Es lag nahe, diese Bestandteile in selbständige Strafen zu wandeln. Diese „Abspaltungen der Friedlosigkeit“ wie sie Brunner – einen Wildaischen Gedanken treffend bezeichnend – genannt hat, sind auch später in der Geschichte wirklich vorgenommen worden. Man darf mit nur leichter Übertreibung sagen: die Friedlosigkeit ist die Mutter aller späteren Strafen mit Ausnahme der Geldstrafe gewesen. Sie sind ihre selbständig gewordenen Teile. VIII. Alsbald mit der Erkenntnis der Friedlosigkeit wird die Einordnung der Rache in das Rechtsleben klar. Gegen den Wolf gibt es kein Recht. So kannten die Germanen auch kein Rache-, kein Fehde-Recht. Aber unverboten, freigegeben war die Rache, wie heute noch die Tötung des Raubzeuges, wie nach den späteren Reichsgesetzen die Tötung der Zigeuner – ursprünglich freigegeben auch ihrem Umfange nach. Das Motiv zur Ausübung der Rache war die richtige Empfindung von der Unerträglichkeit des Unrechts. Ihr Ausmaß bestimmte sich im Einzelfall nach dem Maße der Leidenschaft des zur Rache Schreitenden. Und nun sehen wir den Rächer als Anwalt des Rechtes seine große weltgeschichtliche Mission erfüllen: das ist die Entdeckung des Vergeltungsgedankens, der Kunst des Ausmaßes der Verbrechensfolge nach der Schwere der Untat. Der Rächer wird zum ersten Vergelter. Bald übt er die Rache durch Tötung, bald durch Verwundung oder Verstümmelung, bald jagt der Rächer den Friedlosen aus dem Lande oder sperrt ihn eine Zeitlang in seinem Hause ein, bald läßt er ihm den roten Hahn aufs Dach fliegen oder nimmt ihm von seiner Habe, bald endlich büßt 946

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er seine Lust in Kränkung und Beschimpfung des Feindes – hie und da durch Taten rohen Galgenhumors! Dadurch wird er zum Teil-Vollstrecker der Friedlosigkeit. Und bei dieser Teilvollstreckung bewendet es dann tatsächlich. Eine amtliche Vollstreckung der Friedlosigkeit hat es – von der Frohndung abgesehen – nie gegeben. Nur vereinzelt bestand wohl eine Rechtspflicht, Friedlose zu töten, oder wurde, wie in Island und England, ein Preis auf ihr Haupt gesetzt. Hatte der Friedbruch aber die Allgemeinheit erregt, war er vielleicht auf der Thingversammlung begangen, so wird der Täter von ihr verfolgt und erschlagen. Am längsten hat sich die Friedlosigkeit an dem bewährt, der auf handhafter Tat ergriffen wurde. Auch wenn seine Tat sonst zu den bußfälligen gehörte, konnte er erschlagen werden und zwar von Jedermann. Der letzte Rest dieser Friedlosigkeit des handhaften Täters besteht noch heute in dem Recht jedermanns, ihn zwar nicht zu töten, aber vorläufig festzunehmen. Die Gesetzgebung hat dann mit der Zeit den Vollzug der Friedlosigkeit eingeschränkt: zeitlich, besonders auch durch die Forderung, mit der Rache das Urteil abzuwarten, persönlich auf den Verletzten und bei Totschlag auf seine Sippe, örtlich, besonders durch Asylgewährung, auch wohl später durch Beschränkung der Acht auf das Banngebiet des ächtenden Richters, inhaltlich durch Ausschluß gewisser Arten der Rache-Übung. Für den Charakter unsrer Vorfahren ist aber charakteristisch, daß sie in dieser Entwicklung auf die Talion nie verfallen sind. Denn diese ist in ihrer ursprünglichen Bedeutung nie eine Strafe gewesen, sondern auch nur ein zumal durch Rohheit und Grausamkeit ausgezeichneter Versuch, die Rache inhaltlich, und zwar nach der objektiven Größe der erhaltenen Verletzung zu beschränken. All dies näher darzulegen liegt jedoch ganz außerhalb meiner Aufgabe. X. Wie schwer aber die germanischen Völker gelitten haben unter diesen Racheübungen, die ja oft zu dauernden Rachekriegen zwischen den Geschlechtern ausgeartet sind, und wie stark dies empfunden wurde, beweist die Einführung der Ablösbarkeit für die erste furchtbare Folge des Friedbruchs. Die Sitte ist hierin zweifellos dem Rechte vorausgeschritten. Wir sehen im Norden angesehene Männer, wie in der Njala-Saga den als so edel dargestellten Njal, bemüht, auch für die Bußnahme in den Verbrechensfällen zu wirken, bei denen auf die Rache am schwersten verzichtet wurde: für Totschlag. Das hat freilich auch bei ihnen eine Grenze. Als die Feinde von Njals Söhnen seinen Hof umstellt hatten, in denen er mit den Söhnen lebte, und als sie dem Alten und dessen Frau anboten, vor der Brenna das Haus zu verlassen, da erwiderte Njal: „Ich bin ein Greis und unfähig, meine Söhne zu rächen. In Schande aber will ich nicht leben.“ Und er legt sich mit seiner Frau auf das Lager und die Flammen schlugen über ihnen zusammen. Was die Sitte eingebürgert, hat dann das Recht sanktioniert. Nur darf nie vergessen werden, daß die Rechtsquellen nur die Ablösung normieren, die gerichtlich geltend gemacht wird: für die ganze Periode der Bußzahlung blieb auch der außergerichtliche Vergleich zulässig, sofern er nicht später in einzelnen Territorien aus fiskalischen Gründen untersagt wurde. 1. Die Ablösung der Friedlosigkeit geschah durch Zahlung, ursprünglich wohl von Kühen, auch wohl von Wollenstoffen, später von Geld. Zahlungspflichtig war 947

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bei dem schwersten Verbrechen der Tötung der Schuldige und seine Sippe: denn auch diese war ja der Rache verfallen, – sonst der Schuldige allein oder sein Herr. Die wichtigste, die Totschlagsbuße, das Mann- oder Wergeld, war so hoch, daß der Verbrecher allein sie regelmäßig nicht aufbringen konnte. So wurde der freie Franke beispielsweise mit 200 solidi gebüßt, und man mag den solidus etwa einer Kuh an Wert gleichstellen. Uns nimmt Wunder, daß auf die so heilig gehaltene Rache gegen Geld verzichtet wurde. War der Hunger nach Gold wirklich noch größer als der Durst nach dem Blute des Feindes? Es wirkte aber nicht allein der Klang des Goldes, auch nicht allein die Erwägung, daß die Buße zugleich erlittenen Schaden zu ersetzen geeignet war, – sie heißt ja auch Besserungsgeld, emenda, – sondern mit dem Anerbieten der Buße verband sich ursprünglich das Schuldbekenntnis. Demütig erfolgt das Erbieten: der Schuldige legt die Waffen nieder und naht sich bittend. Und in dem Bußanerbieten kam die Bereitwilligkeit, für die verübte Unbill Genugtuung zu leisten, zum wirksamen Ausdruck. Dadurch gerade wurde die Buße zur satisfactio. Für solche Erklärung, die ja zugleich eine Abbitte bedeutete, waren unsere Vorfahren trotz ihrer Leidenschaftlichkeit empfänglich genug, wie ja der edel Denkende es auch heute noch ist. Ein ergreifender Zug aus der Thorstein-Saga mag dies erläutern. Dem blinden Thorstein dem Weisen ist der Sohn erschlagen. Auf des Vaters Klage wird der Mörder verbannt. Als dieser nun Buße bietet, wehrt Thorstein ab mit der offenbar zum Sprichwort gewordenen Wendung: „Ich mag den Sohn nicht im Beutel tragen“. Da legt der Verbannte dem Alten den Kopf in den Schoß auf Gnade und Ungnade. Und da schmilzt das Eis um des Alten Herz und er sagt: „Ich will dir den Kopf nicht abschlagen lassen. Die Ohren stehen am besten, wo sie gewachsen sind“. Und nun nimmt er die Buße. 2. Die Bußen unserer Rechtsquellen haben ganz regelmäßig zwei Empfänger: die Buße im engeren Sinne erhält der Verletzte, die Totschlagsbuße die Erben und die weitere Sippe des Erschlagenen; der andere Teil der compositio, des Vergleichsgeldes, wird unter dem Namen des Friedensgeldes (der poena pacis, der wîte, später der Wedde oder des Gewedde) an den Richter, in unserer Sprache an den Staat, bezahlt. Letzteres geschah ursprünglich vielleicht nur dafür, daß der Richter bei Wiedererrichtung des Friedens mitgewirkt hatte; sehr bald aber greift die vielleicht schon ursprüngliche Auffassung im Norden und im Süden vollständig durch, der Verbrecher habe sich den Frieden an zwei Stellen zurückzukaufen: durch die Buße im engeren Sinne vom Verletzten und ev. von dessen Sippschaft, durch das Friedensgeld von der Allgemeinheit. Auf dem Boden einer von Grund aus anderen Auffassung steht es dann, wie sich nachher zeigen wird, wenn später das Friedensgeld als Strafe für den Bruch des gemeinen Friedens aufgefaßt und dann wohl auch „Brüche“ genannt wird. Interessant ist zu sehen, daß das Friedensgeld meist kleiner ist als die Buße: ein Drittel der Gesamtbuße beispielsweise bei den salischen und ribuarischen Franken. Richtiger teilten die Langobarden die ganze compositio zu gleichen Hälften zwischen dem König und dem Verletzten. 948

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Nach Zahlung des gesetzlichen oder vereinbarten Sühnegeldes wurde der Friede, falls Fehde gedroht oder stattgefunden hatte, durch feierlichen Sühnvertrag wiederhergestellt. Die Vertreter der beleidigten Sippe schwören Urfehde. 3. Der Kampf zwischen der Bußgesetzgebung und der Friedlosigkeit und Rache vollzog sich in zwei Stadien: a. Dem Verletzten oder der beleidigten Sippe wird ursprünglich die Klage auf Buße mit der Füglichkeit der Fehde und der Rache zur Wahl gestellt. Nie hatte der Verbrecher selbst das Wahlrecht. Dieser Rechtszustand bestand im friesischen und niedersächsischen Recht sogar noch bis ins 14. und 15. Jahrhundert. b. Oder aber – und das ist der kühnere, offenbar spätere Schritt – den Verletzten wird die Fehde verboten und sie werden ausschließlich auf den Weg der Bußklage gewiesen: cessante faida, id est inimicitia, wie die langobardischen Quellen dies ausdrücken. 4. Der Buße bleibt aber die Friedlosigkeit subsidiär. Wer sie nicht zahlen kann oder will, der wird regelmäßig dem Kläger auf Gnade und Ungnade zugesprochen, ihm gegenüber also friedlos gekündet. Diese Friedlosigkeit nahm dann regelmäßig die Form der Verknechtung an. Die Grenze der Knechtsbehandlung zog – um mit Th. Mommsen und Brunner zu sprechen – gute Gewohnheit. XI. Das ganze Bußsystem, das in dem sogenannten leges barbarorum, den Volksrechten der süd- und westgermanischen Völker durchaus überwiegt, das ihren Sturz lange überdauert und in Friesland zum Beispiel seine volle Herrschaft bis zum 15. Jahrhundert behauptet hat, bildet in der Geschichte der Verbrechensfolgen die merkwürdigste Übergangsperiode zwischen der Ausstoßung des Verbrechers aus der Rechtsgemeinschaft und seiner Bestrafung innerhalb ihrer: zwischen Acht und Strafe. 1. Grundsätzlich wird der Friede noch durch die Tat verloren. Aber in allen Fällen, wo dem Verletzten nicht die Wahl zwischen Buße und Rache gegeben war, bleibt der Vollzug der Friedlosigkeit suspendiert, und wird sie durch Zahlung der Buße und Sühneverfahren von Rechtswegen aufgehoben. So eröffnet die Buße dem Rechtsungenossen die Rückkehr in die Rechtsgemeinschaft, und nur bei Nichtzahlung der Buße gewinnt die Friedlosigkeit, aber in sehr abgeschwächter Form, noch praktische Bedeutung. 2. Die Buße ist ursprünglich keine Strafe, vielmehr Zahlung eines Preises für Wiedererlangung eines unschätzbaren Gutes – Genugtuung für den Verletzten und zugleich für die Gemeinschaft zwar, aber nicht ein Übel, sondern eine Wohltat für den Verbrecher. Dieser Gedanke des Friedkaufs jedoch, wodurch sich, um mit den norwegischen Quellen zu reden, der Friedlose aus dem Wald wieder ins Land kauft, verblaßt mit der Zeit. Damit aber steht die Geschichte an einem großen Wendepunkt, dessen Eintritt sich freilich kalendarisch nicht genau festlegen läßt. Der Verbrecher verliert dann durch seine Tat den Frieden nicht mehr. In demselben Augenblick aber tritt die Strafe zuerst in das germanisch-deutsche Recht ein. Und zwar in sehr merkwürdiger Kombination! Denn nun wandelt sich 949

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die Buße an den Verletzten in echte Privatstrafe an ihn, und das Fredum in die erste dem Gemeinwesen geschuldete, also öffentliche Strafe. Beide gehen regelmäßig, wenn auch nicht immer, Hand in Hand.4 3. Wir hatten früher bei der Acht Anstoß genommen an dem Mangel aller Proportionalität zwischen der einzelnen Mißtat und ihrer Rechtsfolge. Der Vergeltungsgedanke schlummerte noch im Schoß der Zeiten. Mit der Buße tritt aber eine Verbrechensfolge in die Welt, die in ihrer unendlichen Abstufbarkeit wie kaum eine andere geeignet war, die verschiedene Schwere der begangenen Friedbrüche zum Ausdruck zu bringen. Und der Aufstellung dieser Gleichung hat sich die Bußgesetzgebung mehr und mehr, und schließlich eher zu viel als zu wenig gewidmet. Ursprünglich kannten die germanischen Stämme je nur zwei Bußsummen: das hohe Wergeld, das sich übrigens nach den Ständen der Freien im Volke differenzierte, regelmäßig eine Summe bestimmt nach dem Dezimal-Maß (etwa 300, 200, 150 sol.) und eine kleine Bußzahl, vielfach 12 sol., als Generalbuße für alle sonstigen bußfähigen Delikte. Aber diese Ursummen, wenn ich so sagen darf, wurden später verdoppelt, verdreifacht, aber auch geteilt, und so nahmen die Gesetze vielfach die frappierende Gestalt detailliertester Bußtarife für die ganze Stufenleiter der Verbrechen an. Es gewinnt den Anschein, als dürfe das Verbrechen für einen bestimmten Geldbetrag verübt werden – ein Anschein, den auch manche Strafdrohungen der Gegenwart noch erwecken. 4. Fragt man endlich – und diese Frage ist in der Geschichte der Verbrechensfolgen eine der allerwichtigsten –: „in den Dienst welcher Affekte ist dies Bußsystem gestellt gewesen?“ so lautet die Antwort: es diente ganz überwiegend zur Besänftigung der Affekte des Verletzten resp. der Sippe des Getöteten. Alle andern Volksgenossen, sofern sie früher wohl helfen konnten die Acht zu vollstrecken, sind ausgeschieden. Auf ihr Empfinden wird keine Rücksicht mehr genommen. Der Verletzte allein hat die Klage auf die Buße: eine selbständige Inanspruchnahme des Friedensgeldes durch den Staat gibt es nicht. Ist der Missetäter zu arm, um Buße und Friedensgeld zu zahlen, so geht jene vor. Auch bei der außergerichtlichen Buß-Vereinbarung geht der Staat leer aus. Aber nicht mehr kann sich jener Affekt die Mittel seiner Befriedigung nach Art und Maß selbst suchen und nehmen, wie zurzeit der freien Rache, sondern die Volksempfindung bestimmt im Gesetz, daß er sich mit Geld, gezahlt in bestimmter Höhe, zufrieden geben muß, auch wenn sein Gefühl sich dagegen auflehnt. XII. Wilda in seinem vortrefflichen Werke „Geschichte des deutschen Strafrechts“, von dem man auch heute noch nur aufs tiefste bedauern kann, daß es nicht vollendet worden ist – mit solchem Verständnis der Sache und der Quellen ist es geschrieben –, hat nach dem Vorherrschen der Strafarten „drei Hauptperioden des germanischen Strafrechts“ unterschieden, die allerdings nicht nach Jahren getrennt 4

Der Fredum strebt später – und nicht ohne Erfolg – seine Selbständigkeit und Unabhängigkeit von der Buße an.

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werden könnten: die der Friedlosigkeit, die der Buße und die der öffentlichen Strafen. Was Wilda gemeint hat, ist zweifellos richtig: nur war die Friedlosigkeit nie eine Strafe, die Buße wurde es erst ganz zum Schluß ihrer Periode, und die von ihm sogenannten öffentlichen Strafen sind auf lange hinaus noch keine öffentlichen Strafen gewesen. Die genaue Erkenntnis kaum eines Punktes des germanischen Strafrechts ist mit solchen Schwierigkeiten verbunden wie die der Entstehung und des Wesens dieser sogenannten öffentlichen Strafen an Leben, Leib, Freiheit und Ehre. Mit vollem Fuge ist gesagt worden: „Nicht das Strafmittel ist es, welches das Wesen der öffentlichen Strafe ausmacht, sondern der Gedanke, der bei deren Anwendung die Art des Gebrauches bestimmt.“ (Wilda S. 487). Die Quellen reflektieren aber gerade über diesen Gedanken natürlich gar nicht, und so ist gar manches Wahrscheinliche nicht sicher erweislich. Man geht gewiß nicht fehl, das Aufkommen dieser Art der Reaktion wider die Mißtat – ich will sie abgekürzt „die Strafen an Leib oder Leben“ nennen – geschichtlich auf zwei Ursachen zurückzuführen: einmal auf das Unmaß der Friedlosigkeit, die Unsicherheit des Loses, das infolgedessen den Friedbrecher traf, und die Verderblichkeit der Fehden, die sie auslöste, dann aber auch auf die Einseitigkeit und die mangelnde Energie des Bußsystems. 1. Die erste Ursache führte zur Abminderung der Friedlosigkeitsfolgen auf bestimmte Teile. Diese Teile werden selbständig, verdrängen das Ganze und wandeln sich zu echten Strafen. Besonders klar läßt sich dies nach vielen Quellen an der Todesstrafe erweisen. Der Verbrecher wird nun innerhalb der Gemeinschaft der Verbrechensfolge unterworfen. Diese ist dem Gute nach, das dem Verbrecher genommen werden soll, genau bestimmt. Wie aber die Friedlosigkeit alle Tötungsarten umfaßte, so geben viele Quellen die Arten der zu verhängenden Todesstrafen nicht an, und selbst die Urteile füllten diese Lücke nicht aus und erklärten den Schuldigen nur morte dignus. Die Bestimmung der Strafart war dann entweder Sache des die Vollstreckung anordnenden Richters oder der Vollstreckenden selbst. Wie die Friedlosigkeit, wenn auch nicht in ältester Zeit, so doch später durch Geldzahlung ablösbar war, so blieb die Lösbarkeit auch dieser sogenannten öffentlichen Strafen grundsätzlich durch das ganze Mittelalter anerkannt – eine Erscheinung, die man wegen der Ungleichheit krimineller Behandlung von Reich und Arm, zu der sie geführt hat, nur beklagen müßte, wäre nicht zugleich dadurch eine Milderung der maßlos grausamen Bestrafung im Mittelalter herbeigeführt worden. Die Peinliche Gerichtsordnung Karls V. von 1532 verwirft diese sogenannte Ledigung der Strafen ganz. Sie hat sich aber noch tief in die neuere Zeit hinein erhalten. Neben die überwiegende Todesstrafe, die der Friedlosigkeit am nächsten steht, treten dann besonders die Verstümmelungen. Sie hatten schon früher verschiedentlich zur Vorbereitung des Opfers gedient. Jetzt fungieren sie als Abschwächungen der Todesstrafe. Bei ihnen insbesondere bilden sich die Beziehungen zwischen der Strafe und dem Gliede des Verbrechers aus, mit dem er die Tat verübt hat. Der Mißtäter wird gern an diesem Gliede bestraft, wie etwa der Münzfälscher an der 951

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Hand, der Meineidige durch Verlust der Schwurfinger: es entstehen die von Brunner sogenannten spiegelnden Strafen. In dieser ganzen Gruppe von Fällen schließt sich die sogenannte öffentliche Strafe unmittelbar an die Friedlosigkeit an: das Bußsystem wird sozusagen übersprungen. Wilda’s drei Perioden reduzieren sich insoweit auf zwei. 2. Das zeitliche Verhältnis von Buße und diesen sogenannten öffentlichen Strafen ist aber in einer Reihe von Fällen das umgekehrte. Und dann allerdings trifft die Dreizahl der Wildaischen Perioden zu. Wir sehen nämlich diese sogenannte öffentliche Strafe gegen die Überherrschaft des Bußsystems den Kampf aufnehmen, der für sie mit dem vollen Siege, will sagen: mit der vollen Verdrängung der Buße endet. Die Peinliche Gerichtsordnung Karl V. von 1532 kennt die germanische Buße gar nicht mehr, die Buße selbst aber nur noch in verschwindendem Umfange und nur noch in der römischen Form als bürgerliche vorm Zivilgericht einzuklagende Privatstrafe. Dieses siegreiche Zurückdrängen der Buße erklärt sich aus zwei Gründen. Zunächst aus ihrer krankhaften Einseitigkeit. Die Buße setzte den zahlungsfähigen Mißtäter voraus. Aber wie oft fehlten dem besonders zu höherer Buße Verurteilten die nötigen Gelder, während die Lockerung des Sippenverbandes ihn hinderte, bei seiner Sippe Hilfe und Beistand zu finden! Alle Zahlungsunfähigen litten dann das gleiche meist ganz unverhältnismäßig große Übel, dem Gläubiger zugesprochen zu werden. Der Reiche dagegen mochte wohl der Buße spotten. Bei den Stämmen, die auf römischem Boden seßhaft wurden, mochte auch das römische Vorbild den Germanen das Unzureichende dieser Verbrechensfolge für schwere Mißtat anschaulich machen und zum Bewußtsein bringen. Richtig ist gesagt worden, dies Bußsystem habe sich selbst zerstören müssen (Wilda S. 486). Dazu kam ein Anderes! In der Zeit der Volksrechte stärkte sich die öffentliche Gewalt. Die Aufgaben des Königs wuchsen. Er glaubte energischerer Mittel zur Niederhaltung des Verbrechens zu bedürfen, als die Buße ihm bot: der Gedanke der Abschreckung durch die Strafe griff Platz und betätigte sich in der energischen Verwendung der Leibes- und Lebensstrafen. XIII. Aber warum spreche ich so pedantisch immer nur von sogenannten öffentlichen Strafen? Weil sie es in Wirklichkeit noch nicht sind! Noch erscheint das Gemeinwesen nicht als der Strafberechtigte, vielmehr ist es noch der Verletzte. Seinen Anspruch auf Rache erkennt das Gericht an, es gibt ihm nur einen bestimmten Inhalt und eine bestimmte Begrenzung. Seinem Affekte soll dadurch noch an erster Stelle Genüge geleistet werden. Dies ergibt sich unwidersprechlich aus dem Strafverfahren, wie denn zu allen Zeiten und bei allen Völkern jeweilen der beste Aufschluß über die Auffassung von Verbrechen und Strafe aus den Satzungen über das Strafverfahren gewonnen werden kann. Das germanisch-deutsche Strafverfahren ist bis zum endgültigen Siege des von Innocenz III. um 1200 geschaffenen, von der italienischen Jurisprudenz weiter ge952

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bildeten, in Deutschland vom Ende des 15. Jahrhunderts an allmählig rezipierten Inquisitions-Prozesses – und jener Sieg fällt erst in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts – in seiner regelmäßigen Form ein sog. akkusatorisches Verfahren gewesen. Also wo kein Kläger, da kein Richter. Und der Klagberechtigte, der „Hauptmann der Klage“, wie er in manchen Quellen heißt, war der Verletzte ev. sein Erbe. Der Ermordete klagte ursprünglich selbst. Seine Leiche, später die tote Hand wurden vor das Gericht gebracht, und der nächste Schwertmagen sprach statt seiner. Wir finden die Reihenfolge der Klageberechtigten sorgfältig geregelt. Dem zur Klage Berechtigten lag aber keine Klagepflicht ob. Um mit dem Sachsenspiegel zu reden: Jeder konnte seines Schadens schweigen, wenn er es wollte. Diesem privaten Ankläger als echter Partei stand der Angeklagte als echte Partei gegenüber. Zwischen ihnen allein ging der Rechtsstreit. Jede Partei beweist wider die andere, keine dem Gericht. Selbst in dem Bußverfahren trat das Gemeinwesen trotz seines Anspruchs auf das Friedensgeld als Partei in den Prozeß nicht ein. Das Recht, worüber allein entschieden wurde, war also lediglich ein Recht des Anklägers gegen den Angeklagten: vom Affekt des Klägers her beleuchtet jetzt ein wirklicher Rechtsanspruch auf Rache, streng juristisch jetzt ein privates Recht des Verletzten auf Leibes- oder Lebensstrafe. Und so ergibt sich die auf den ersten Blick so befremdende Tatsache, daß auch die Strafmittel an Leben, Leib, Freiheit und Ehre wohl jahrhundertelang in Wahrheit echte Privatstrafen gewesen sind. Damit hängt aufs engste die auch wieder so befremdliche Art der Vollstreckung dieser Strafen zusammen. Das älteste germanische Strafverfahren war eingliedrig: nur Verfahren bis zu dem die Friedlosigkeit des Angeklagten anerkennenden Urteil einschließlich. Seiner Aufgabe nach konnte es ein rechtlich geordnetes Vollstreckungsverfahren nicht kennen. Und die Ausbildung eines solchen hat unbegreiflich lange auf sich warten lassen. Ein amtlich bestelltes Organ der Strafvollstreckung ist noch im späten Mittelalter nicht in allen Gerichten vorhanden. Vielmehr lag die Vollstreckung ursprünglich durchaus auf dem siegreichen Kläger. War der Sippe oder dem Ehemann ein Tötungsrecht gegen ihr schuldiges Mitglied, eventuell die ehebrecherische Frau zugesprochen, so nahmen Sippe oder Ehemann die Tötung vor. Aber in anderen Fällen steht es ganz analog. Wir sehen in Friesland den Bestohlenen den Dieb hängen. Noch 1470 enthauptet zu Buttstedt in Thüringen der älteste Agnat des Ermordeten den Mörder. Nur sehr allmählich ändert sich das und die Vollstreckung geschieht dann durch amtliche oder nichtamtliche Organe des Staates, etwa durch den jüngsten Ehemann der Stadt – eine wenig erfreuliche Beigabe der Flitterwochen! Einige Quellen lassen uns diesen Übergang mit Händen greifen. So wenn mehrfach bestimmt wird, bei der Pfählung dessen, der einer Frau Gewalt angetan, solle die Frau die drei ersten Schläge auf den Pfahl tun, die übrigen aber der Henker. Das Staatsorgan nimmt vor unseren Augen der Racheberechtigten die Rache aus der Hand, ohne daß sie dadurch allein schon in die öffentliche Strafe gewandelt wäre. 953

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Mit diesem Charakter der Leibes- und Lebensstrafen als Privatstrafen stimmt freilich nicht ganz, daß verhältnismäßig früh schon das Geld zu ihrer Lösung voll an die öffentliche Gewalt fiel. XIV. Hatte das germanische Recht die Beziehung der Untat auf den Gemeinfrieden nie verkannt, so war diese Auffassung doch im Bußsystem durch das Übergewicht des Genugtuungsbedürfnisses beim Verletzten ungebührlich zurückgeschoben worden. Es kam jetzt darauf an, dem öffentlich-rechtlichen Moment der Verbrechensfolge zu schärferem Ausdruck zu verhelfen, nachdem die verbrecherische Tat innerhalb der Rechtsgemeinschaft durch Strafe zur Verantwortung gezogen worden war. In dieser Entwicklung spielt – wenn ich hier einmal vom Norden absehen darf – das fränkische Königsrecht im Gegensatz zum fränkischen Volksrecht eine große Rolle. Und zwar in zweifacher Richtung. 1. Während das Friedensgeld erst spät zur öffentlichen Strafe wird und die Leibesund Lebensstrafen einer Reihe der Zahl nach kaum genau bestimmbarer Jahrhunderte bedürfen, um die echte Natur öffentlicher Strafen zu gewinnen, tritt unter dem Merowingischen Königtume plötzlich eine Geldstrafe ganz rein öffentlichen Charakters in die Geschichte ein: das ist die Bannbuße, die Geldstrafe für die Mißachtung eines innerhalb der Schranke des Herkommens und der allgemeinen Rechtsanschauung ergangenen königlichen Befehls, die vom 6. Jahrhundert an als Sechzig-Schillingsbuße zu so großer Bedeutung gelangt ist. Die Bannbuße ist keine compositio, kein Vergleichsgeld, das an den König zu zahlen wäre: sie steht zunächst ganz außerhalb des Bußsystems. Sie fällt aber stets voll an den König, und nie konkurriert der Verletzte, auch wenn ein solcher vorhanden ist. Der König kann auch Handlungen verbieten, die nach Volksrecht erlaubt oder doch bußfrei sind. Er kann aber ebensogut nach Volksrecht schon verbrecherische Handlungen auch noch bei Bannbuße verbieten, und sieben von den berühmten acht großen Bannfällen waren auch Verbrechen nach Volksrecht. Wo dies zutraf, trat der Bann an die Stelle des alten Friedensgeldes, und nur dann konnte die Bannbuße nicht im Verwaltungswege eingetrieben, sondern mußte gerichtlich eingefordert werden. In allen andern Bannfällen war jener der einzige Weg, die Bannbuße zu realisieren. 2. Diese Bannbuße war aber sozusagen ein rasch aufgeschossener Wildling in der Strafrechts-Entwicklung, ganz abseiten von deren ordnungsmäßiger Bahn hervorgebrochen, und blieb in ihrer Eigenheit lange isoliert stehen. Erst viel später wird bei bußwürdigen Verbrechen die Buße öfter zur Scheinbuße und das Fredum, das Gewedde, entwickelt sich zur öffentlichen Geldstrafe. Viel tiefer wirkte eine andere Abweichung vom Volksrecht, die auch auf königliche Initiative zurückzuführen ist: die Einführung der amtlichen Verbrechensverfolgung auf Prozeßweg. Sie führte mit der Zeit zu voller Umwandlung in der Auffassung der Strafberechtigten und demgemäß auch des Wesens der Leibes- und Lebensstrafen. Schon zurzeit der Friedlosigkeit war ja ein amtliches Vorgehen gegen den Waldgänger, besonders zwecks seiner Vernichtung, durchaus zulässig: nur war dies kein 954

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Rechtsverfahren. Es hat gewiß gegen gemeingefährliche Verbrecher, wie Räuber und Gewohnheitsdiebe, oft genug stattgefunden. Schon früh konnte aber der Beamte im fränkischen Reiche wegen gewisser Verbrechen von Amtswegen klagen, besonders auch wegen Todschlags, sofern der Fiskus wie bei dem Todschlag an „elenden Leuten“ begangen, das Wergeld zu beanspruchen hatte. Dieses wurde dann auch zur öffentlichen Strafe. Ein neu gebildetes Rechtsverfahren von Amtswegen gegen verbrechensverdächtiges Volk führte aber das Königsrecht des 9. Jahrhunderts in dem sog. Rügeverfahren, dem Verfahren per inquisitionem ein. Der vom königlichen Richter eingeschworene Rüge-Zeuge – geschichtlich der Ahnherr unserer heutigen Geschworenen – schwört auf die ihm wegen begangener Verbrechen gestellten Fragen des Königs-Richters die Wahrheit zu sagen, also ein Verdikt abzugeben. Bezichtigen diese Geschworenen nun pflichtgemäß auf ihren Eid Jemanden eines Verbrechens, so muß dieser sich durch Eid oder Gottesurteil reinigen, widrigenfalls wird er zur Strafe verurteilt. Dieses Rügeverfahren hat in der Folge eine große Entwicklung genommen. Es hat in seinen letzten Resten das Mittelalter lange überdauert und die letzten Gerichte, die wenigstens den Namen der Rügegerichte bewahrt hatten, sind sogar erst durch die Reichs-Justiz-Gesetze mit dem 1. Oktober 1879 abgeschafft worden. Erst über ein halbes Jahrtausend später verwirklicht sich in Deutschland derselbe Gedanke amtlicher Verbrechensverfolgung in derjenigen Form, von der man nur bedauern kann, daß sie sobald wieder verschwunden ist – andernfalls wäre uns eine Zeit furchtbarster Prozeß-Korruption erspart geblieben –: in der Aufstellung öffentlicher Ankläger in einer Anzahl deutscher Territorien. Und am Ende des 15. Jahrhunderts beginnt die deutsche Gesetzgebung mit Anerkennung und Rezeption des kirchlichen Inquisitions-Prozesses, der sich schon früher in der Praxis eingebürgert haben mußte, den auch die Peinliche Gerichtsordnung von 1532 neben dem akkusatorischen Verfahren auf private wie auf öffentliche Anklage anerkennt, und der in der Folge den ganzen Akkusations-Prozeß erdrosselt hat. Nun leuchtet aber alsbald ein, daß der Grundgedanke amtlicher VerbrechensVerfolgung die Zuständigkeit des Staates zur Bestrafung zur Voraussetzung hat, sich also zum Grundgedanken der Privatstrafe in den schärfsten Gegensatz stellen mußte. In demselben Maße, in dem sich das amtliche Verfahren ausdehnt, wandelt sich die Auffassung der Leibes- und Lebensstrafen. Das Recht auf sie wird als dem Staate zuständig erkannt: sie werden öffentliche Strafen. Erst jetzt hat die öffentliche Strafe die nötige Reichhaltigkeit der Strafmittel erlangt, um ihre Alleinherrschaft anzutreten. Jene Auffassung aber war schon längst durchgebrochen, bevor das Privatklageverfahren verschwunden ist. Kein besseres Zeugnis dafür gibt es, als das Reichsgesetz von 1532. Sein ordentliches Verfahren ist immer noch begründet auf freiwillige Privatanklage. Alle seine peinlichen Strafen aber sind längst echte öffentliche Strafen geworden. Wie lange schon, darauf versagt die genaue Antwort. Vielleicht von heute rückwärts gerechnet 955

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ein halbes Jahrtausend, vielleicht etwas mehr. Sie würde auch für die verschiedenen deutschen Territorien verschieden zu lauten haben. Jedenfalls hat die öffentliche Strafe an Leib oder Leben längst ihren Einzug in Deutschland gehalten, ehe das letzte Überbleibsel aus der Zeit der Friedlosigkeit, die Blutrache in ihrer rechtlichen Anerkennung, aus unsrem Vaterlande verschwunden war. Noch im 16. Jahrhundert war die Blutrache, wie Frauenstädt in seinem schönen Buche darüber klar erwiesen hat, bei den Friesen, den Holsten und in der Schweiz rechtlich freigegeben. Noch in dem Jahre 1577 sind in Holstein vier Brüder Gülzow freigesprochen worden, weil sie zwar einen furchtbaren Mord, aber zur Rache an ihrem Feinde verübt hatten. So wenig fügen sich die Perioden der Geschichte in den gemeinen Zeitablauf ein! Betrachtet man den Werdegang der öffentlichen Strafe noch unter dem Gesichtspunkte der Wandlung in den Affekten, die auf das Verbrechen die Antwort erteilen, so erweist er mehr und mehr das Zurückdrängen der Leidenschaft des Verletzten. Soweit amtliche Verbrechens-Verfolgung Platz greift, entscheidet sie schlechterdings nicht mehr, ob es zur Bestrafung kommen soll oder nicht. Sie ist rechtlich auf das im Erfolg so zweifelhafte Mittel der Verbrechens-Denuntiation, vielleicht auch eines Antrages auf Verbrechensverfolgung zurückgedrängt. Sie entscheidet auch nicht mehr, auch nicht einmal durch die Art des Vollzugs mehr über den Inhalt der Strafe. Diese dient auch nicht mehr zu ihrer Befriedigung. Der Zusammenhang zwischen der privaten Leidenschaft und der Strafe ist völlig gelöst. Gefühlsreaktion ist aber auch unsere öffentliche Strafe im Grunde ihres Wesens geblieben. Auch aus ihr klingt noch die uralte Melodie von der Unerträglichkeit der Mißtat. Ihre Resonanz aber findet diese Melodie heute in dem Gemeingefühl der Gesamtheit. Auch heute noch wendet sich diese Gefühlserregung gegen den allein Verantwortlichen, den Schuldigen, und löst allein gegen ihn den Rückschlag aus. Aber ungetrübt von der Leidenschaft des Einzelnen bestimmt nun die wägende Vernunft des Ganzen sein Maß und gibt diesem Rückschlag den weisen rechtserhaltenden Zweck: Unterwerfung des Verbrechers unter die Macht des Rechts nach Maßgabe seiner Schuld, will sagen, seiner Überhebung. So ist unsere Strafe die edle, gegen früher so unendlich geadelte Antwort des Ganzen auf die oft so unedle Tat seines Gliedes. Für den Verbrecher bildet sie das irdische Fegefeuer: er sühnt dadurch in der Rechtsgemeinschaft, was er an ihr verschuldet hat. Und an diesem tiefen Zusammenhang zwischen der Schuld, die nach Strafe ruft, und der Strafe, die allein des Schuldigen Haupt sucht und trifft – einer Verkettung, zu der es im ganzen weiten Gebiete des sozialen Lebens nicht die entfernteste Analogie gibt! – wird auch die Zukunft ohnmächtig rütteln, sollte sie so unklug sein, der Geschichte zu spotten, und versuchen, sich von einer ihrer größten Schöpfungen zu befreien: der im Feuer der Notwendigkeit gehärteten öffentlichen Strafe! 956

Antrittsrede 1908

Es war eine ernste Rückschau, die ich gehalten! Der Eintritt in unser Jubeljahr soll aber nicht ohne frohen Ausblick in die nächste Zukunft erfolgen. Die Universität rüstet sich zu einem Feste, das, wenn es gelingt, wie es sollte und wie wir wünschen und hoffen, jedem der mitfeiert, eine wertvolle Erinnerung für sein Leben bleiben wird. Soll es aber gelingen, so reicht unsre – des Lehrkörpers – einmütige Anstrengung nicht aus: wir brauchen die allgemeine Teilnahme des Landes, wir brauchen die treue und freundwillige Unterstützung unsrer Stadt und ihrer Bürger, wir brauchen nicht am wenigsten unsere akademische Jugend. Wie könnte eine Universität ein großes Fest feiern, ohne daß die Feststimmung in ihrer Studentenschaft kulminierte? Aber jede große Freude, meine jungen Freunde, will verdient sein, und bleibt rein, nur sofern sie verdient ist. Und so rechnen wir darauf, daß auch Ihr Euch tatkräftig das Anrecht auf frohes Fest und festliche Freude verdienen werdet. Wir vertrauen, daß Ihr Eure jungen Kräfte uns willig leiht zu den so mannigfaltigen Vorbereitungen des Festes, daß Ihr uns helft, unseren lieben Gästen von draußen, besonders aber unserm Rektor Magnificentissimus den würdigen Empfang zu bereiten, daß Ihr unser Fest schmückt durch die Weihe der Töne, daß Ihr uns im historischen Festzug durch die fünf Jahrhunderte unseres Bestandes führen werdet –: auf daß der König, unsere Gäste aus der ganzen Welt, die ganze Universität und alle alten Kommilitonen, die in Scharen kommen werden, ihre helle Freude haben an den jungen Kommilitonen von heute! Dazu ist Eines nötig: unbedingte Einmütigkeit neidlosen Zusammenwirkens. Ein goldenes Friedensjahr bricht an! Jeder, auch der jugendlich Ungestüme, bleibe dessen stets eingedenk! Wie Ihr fest darauf bauen könnt, daß wir Euch bei der Arbeit helfen nach allen Kräften, so bauen wir fest auf Eure einmütige Hilfe, und ich insbesondere getröste mich: Eurer Keiner wird seinen Rektor zuschanden werden lassen, wenn er ihn ruft. Und rufen wird er Euch – des dürft Ihr gewiß sein! Und so wollen wir alle eines Sinnes an die Arbeit gehen! Möchte uns beschieden sein, daß heute übers Jahr von dieser Stelle gesagt werden könnte: dieses Jahr war ein Jahr voller Mühe, aber auch voll froher gemeinsamer Arbeit, einer Arbeit gekrönt von schönem Gelingen, war ein Jahr vor anderen Jahren wert gelebt zu werden! Das walte Gott! ***

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31. Oktober 1909. Rede des abtretenden Rektors Dr. Karl Binding. Bericht über das Studienjahr 1908/09. Hochverehrte Versammlung! „Möchte uns beschieden sein, daß heute übers Jahr von dieser Stelle gesagt werden könnte: dieses Jahr war ein Jahr voller Mühe, aber auch voll froher gemeinsamer Arbeit, einer Arbeit gekrönt von schönem Gelingen, war ein Jahr vor anderen Jahren wert gelebt zu werden! Das walte Gott“. So lauteten meine letzten Worte von dieser Stelle gerade heute vorm Jahre. Und ich rufe Sie Alle zu Zeugen auf, ob sich dieser heiße Wunsch nicht erfüllt hat, ob heute diese Worte nicht wirklich gesprochen werden dürfen, und ob deshalb nicht tiefer Dank unsre Herzen bewegen muß? Bekennen wir offen: dies Jahr hat uns noch mehr gebracht, als die meisten von uns – auch die Optimisten – von ihm erwartet haben: nicht nur Schönes für die flüchtige Stunde, sondern Unvergeßliches fürs Leben. Aber ein Jahr harter, wenn auch froher Gemeinarbeit ist es gewesen. Ich lasse unsere wissenschaftliche Arbeit hier ganz beiseite. Die ist ruhig weiter gegangen, und dessen zum Zeugnis konnte eine ganze Anzahl unserer hiesigen Kollegen der Universität große bedeutende wissenschaftliche Werke, die grade die Presse verlassen hatten, pietätvoll zum Jubiläum widmen. Ich habe vielmehr die große außergewöhnliche Arbeit, die Vorbereitung des Jubiläums und die Sicherung seines würdigen Verlaufs, im Auge. Und darüber ist in der Tat kurz zu berichten. Der Senat hatte diese Aufgabe einer mit Kooptationsrecht versehenen Senatskommission in die Hände gelegt – der Jubiläums-Kommission –, die schließlich aus 12 Mitgliedern einschließlich des Rektors bestand. Ihr gehörten die Herren Kollegen Boehm, Brandenburg, Brieger, Bruns, Chun, Curschmann, Friedberg, Hauck, Köster, Seeliger und Wach an. Die Kommission bildete zehn Ausschüsse, jeden mit einem möglichst scharf umzogenen Geschäftskreis, den Einladungs-, den Begrüßungs-, den Kunst- und Anordnungsausschuß, den Ausschuß für die Festhalle, den für den Festzug, den Wohnungs-, Empfangs-, Preß-, Finanz- und den Damen-Ausschuß. Jedem Ausschuß außer dem der Damen präsidierte ein Mitglied der JubiläumsKommission, wodurch der unumgänglich nötige enge Zusammenhang zwischen den Ausschüssen und der Kommission aufs beste gewahrt blieb. Der Ausschuß-Vorsitzende wählte sich selbst seine Gehilfen aus dem Kreise der akademischen Lehrer und der Studenten. Die Vollmacht der Jubiläums-Kommission ging soweit, daß nur in Prinzipienfragen auf die Entscheidung des Senates zurückgegriffen werden mußte. 958

Jahresbericht 1908/09

Niemand weiß besser als der Rektor dieses Jahres, welche Fülle zum Teil sehr schwieriger und spröder Arbeit durch die Kommission in ihren 15 Sitzungen und durch ihre Ausschüsse bewältigt worden ist. Und wenn ich einmal aus der Schule plaudern darf, so ist mein Eindruck der gewesen, daß der als so unpraktisch verrufene deutsche Professor diesem sehr zweifelhaften Rufe gar keine Ehre gemacht hat. Es wurde – glaube ich – recht praktisch gearbeitet. Leicht und einfach waren diese Aufgaben wahrlich nicht, besonders da sich fast täglich die Lage verschob. Als gleichwertig müssen gelten die Leistungen, die aller Welt in die Augen sprangen, und die vielfach undankbaren, die sich sozusagen hinter den Kulissen vollzogen. Eine ganz ausgezeichnete Hilfe fanden Rektor und Jubiläums-Kommission in den Beamten der Universität, vor allem denen der Kanzlei, die zuletzt die ganzen Nächte durch arbeiteten, aber auch denen des Rentamtes, besonders seinem Vorstande und dem Herrn Bau-Inspektor. Dann aber hat uns hier die Stadt – der Herr Oberbürgermeister, der Rat, besonders der verehrte Herr Stadtbaumeister, die Stadtverordneten – in einer über alles Lob erhabenen Weise zur Seite gestanden, und nur mit ihrer mächtigen Hilfe konnten gewisse große Schwierigkeiten überwunden werden. Ein wichtiger Teil der Vorbereitungsarbeit vollzog sich aber in Dresden. Mit lebhaftestem Interesse wachte Seine Majestät der König über dem Fortgang der Jubiläums-Arbeiten. Mit feinstem Verständnis und liebevollstem Eingehen auf unsere Wünsche ebnete uns Seine Exzellenz der Herr Kultusminister die Wege, und beriet uns Seine Exzellenz der Herr Oberhofmarschall in Fragen, die sein Ressort betrafen – beide Herrn unermüdlich uns zu fördern bemüht. Das war für uns überhaupt das Erfreulichste in dieser ganzen schweren Arbeitszeit: wir sind immer und überall: auf Seite der Stadt, auf Seite ihrer Bürger, auf Seiten der Künstlerschaft, der Gewerken dem allerbesten Willen uns zu helfen begegnet. Eine drollige Verschwörung der illustrierten Blätter, unser Fest zu ignorieren, weil wir für ihre Photographen zu wenig Plätze hatten, haben wir lächelnd ertragen. Dieser grollende Achill konnte die Hellenen nicht schrecken! Die große Vorbereitung der studentischen Teilnahme aber lag in den Händen des studentischen Festausschusses, einer leider nur ad hoc gebildeten Gesamt-Vertretung unserer Studentenschaft, die sich zu diesem Zweck in elf Gruppen geteilt hatte, deren jede einen Vertreter in den Ausschuß wählte. Dieser Ausschuß hat in voller Selbständigkeit und mit vollem Verständnis angestrengt, durchaus einmütig und mit bestem Erfolge gearbeitet. Zu einem guten Teil ist die glänzende Teilnahme der Studentenschaft an unserem Fest, besonders an dem Festzuge und dem Kommerse, ihm zu danken. Es ist ja nun ganz unmöglich, auf diese Vorbereitungszeit des Weiteren einzugehen. Das muß dem aktenmäßigen Festbericht, dessen Herstellung der Senat vor Kurzem beschlossen hat, überlassen bleiben. Nur das eine möchte betont werden: die Hauptnot machte uns die Platzfrage und als ein sehr delikater Teil derselben die Frauenfrage. 959

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Unser Lehrkörper bezifferte sich zur Jubiläumszeit auf ca. 240; annähernd 500 Ehrengäste waren geladen; die weiteren geladenen Teilnehmer beliefen sich auf ca. 500; unsere Studentenschaft betrug 4581; von alten Kommilitonen angemeldet hatten sich gegen 6000; dazu kamen noch die Damen! Der größte Festraum aber, der uns – von der Kommers-Halle abgesehen – zur Verfügung stand, das Theater, zählte ca. 1800 Plätze. Dies war eine schmerzliche Enge, und die Zuteilung der Plätze kostete uns viel Kopfzerbrechens und hat uns manchen Vorwurf eingetragen. Aber die Aufgabe war ungefähr so unlösbar wie die Quadratur des Zirkels. Wir trösten uns mit dem Bewußtsein so gerecht verfahren zu sein als fehlbaren Menschen möglich ist. Die Vorbereitungen waren nahezu fertig, als das Fest am 28. Abends begann. Am Morgen dieses Tages war zuerst die neue Fahne der Universität mit den alten Reichsfarben – schwarz und gold –, welche die Farben des Wettiner Markgrafen 1409 bildeten, auf dem Giebel unseres Hauses in die Höhe gegangen. Wie die Universität, Lehrkörper und Studentenschaft, ihre Feier beging – ihren erlauchten Rector Magnificentissimus, der sich alsbald alle Herzen eroberte, stets an ihrer Spitze, unter der persönlichen Teilnahme fast des ganzen Königlichen Hauses, eines Vertreters Seiner Majestät des Kaisers, der Großherzöge von Baden und Hessen, des Herzogs von Altenburg, des Regenten von Reuß, zahlreicher anderer Fürstlichkeiten, der Vertreter der Sächsischen Staatsregierung und der Sächsischen Stände, der Ehrengäste der Universität aus der Stadt, dem Lande, der ganzen Welt, endlich von Tausenden unsrer lieben alten Kommilitonen –, wie es ausklang in dem herrlichen Feste, das Seine Majestät uns Höchstpersönlich in Meißen gegeben, das steht noch so leuchtend und lebhaft in unser Aller Erinnerung, daß jeder Bericht darüber als matt und schal und als völlig unnütz empfunden würde. Allen Teilnehmern gebührt unser ehrerbietigster, unser herzlichster Dank! Wenige Tage nur gingen dann ins Land – die ganze große Festversammlung war zerstoben, und es galt nun sofort Ordnung zu schaffen, vor Allem die wertvollen Geschenke, welche die Universität in so großer Zahl erhalten hatte, zu inventarisieren und vor Schaden zu sichern. Das hatten dann der Rektor und die Kanzlei zu besorgen. So gedenken wir dankbar, nicht ohne Stolz großer Tage: die Ehrentage unsrer Hochschule waren zugleich Ehrentage der ganzen deutschen Wissenschaft, der die ganze Welt freudig und warm echte Achtung bewies. Wohl wüßten wir gern, was mein Nachfolger in 500 Jahren über unsere Millenarfeier zu berichten hätte? Aber wer hebt den Schleier von dem Antlitz der Zukunft? Ruhig weiter arbeiten heißt ihm vorarbeiten. Wende ich mich jetzt zu dem sonstigen Verlaufe des Jahres, so ist unsre Hoffnung, Seine Majestät, unseren Rector Magnificentissimus in den Tagen vom 16.– 18. Februar l. J. in Leipzig, zugleich auch in der Universität und ihren Instituten begrüßen zu dürfen, zu unserem schmerzlichen Bedauern durch einen kleinen Unfall des Königs, – der glücklicher Weise ohne jede schlimmere Folge geblieben ist – vereitelt worden. Dagegen feierte die Universität am 25. Mai des Königs Geburtstag, wobei an Stelle des verhinderten Prorektors Geh. Rat Dr. Chun, Geh. Hofrat Prof. 960

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Dr. Seeliger die Festrede über „Die Universität Leipzig in früheren Jahrhunderten“ gehalten hat. Die Königliche Staatsregierung hat die Gesinnung gegen die Universität, der sie auf dem Jubiläum so erhebenden Ausdruck gegeben, wie bisher so auch in diesem Jahre wieder betätigt. Die Pensionen für unsre Witwen und unsre Kinder wurden in meinem ersten Rektorat 1890/91 neu geregelt – bescheiden genug, aber doch so, daß uns damals keine deutsche Hochschule vor war. Die Bezüge sind jetzt ganz ungenügend und geringer als an manchen andern Hochschulen geworden; die wichtige Angelegenheit bedarf möglichst bald einer erneuten, befriedigenderen Ausgestaltung. Die knappe Finanzlage allein veranlaßte bisher die Unterlassung dahin gehender Anträge. Das Ministerium hat aber aus freien Stücken anläßlich der Neuregelung der Beamtenverhältnisse im Nov. 1908 vom 1. Juni 1909 an die Pension der Witwen des Ordinarius von 1800 auf 2000, und die der Witwe des Extraordinarius von 1000 auf 1100 M. erhöht. Für unsere Beamten, Unterbeamten und Diener sollen jetzt die Pensionsbestimmungen für die Beamten analoge Anwendung finden. Gedenken wir der Regierung, so dürfen wir heute nicht vergessen, daß mit dem 1. Nov. l. J. Se. Exzellenz, Herr Ministerialdirektor Dr. Wäntig in den Ruhestand tritt. Fünfzehn Jahr hat er das Referat für die Universitätsangelegenheiten zu erstatten gehabt. Er besaß ein warmes Interesse für die Universität und hat sich um sie – besonders auch um ihre Institute – große Verdienste erworben. Unsere besten Wünsche folgen ihm in den Ruhestand nach. Große Sorge bereitet uns seit längerer Zeit bei dem Bedürfnis der Universität nach Errichtung neuer und Vergrößerung bestehender Institute, daß der ihr verfügbare Grundbesitz fast erschöpft und neuer bequem gelegener nur schwer zu erwerben ist. Es bildet ein Verdienst unseres Herrn Rentmeisters, unausgesetzt auf Erwerbung neuen für die Universität geeigneten Grund und Bodens bedacht zu sein, und trotz der knappen Geldverhältnisse hat sich das Ministerium des Kultus im Einverständnis mit dem Finanz-Ministerium – ständische Genehmigung vorbehalten – mit dem Erwerb eines großen Areals in Probstheida und mit dem Ankauf der Taubstummenanstalt für die Universität einverstanden erklärt. Ganz besonders der Ankauf des letztgenannten Grundstücks würde für die Universität und für die Ausrundung ihres Instituts-Viertels von unberechenbarem Werte sein. Ich wende mich jetzt zu den Bewegungen innerhalb unseres Lehrkörpers. Der Tod hat uns vier Kollegen geraubt. Am 11. November 1908 starb hier der emeritierte außerordentliche Professor Dr. phil. Heinrich Hirzel, der langjährige Schweizerische Konsul, im 80. Lebensjahre. Geboren zu Zürich am 22. März 1828, habilitierte er sich in Leipzig 1852, wurde 1865 daselbst Extraordinarius und trat 1891 in den Ruhestand. In den Vorlesungen behandelte er vorwiegend die Anwendungen der Chemie auf Technik und Pharmazie. Diesem Gebiete galten auch seine früher weit verbreiteten Schriften. Die Lauterkeit seines Charakters erwarb ihm bis in sein hohes Alter viel Freunde und Verehrer. 961

Karl Binding

Unseren schweizerischen Kommilitonen ist er stets ein gütiger Berater und Helfer gewesen. Am 21. Januar 1909 starb der langjährige Privatdozent der National-Ökonomie in der philosophischen Fakultät Dr. Karl Walcker, geboren 1839 zu Pernau in Livland – eine stille echte liebenswürdige Gelehrten-Natur, die unbekümmert um fremdes Urteil bescheiden des ihr richtig dünkenden Weges wandelte. Seit 1877 hat er hier sein Fach dozentisch vertreten, sich literarisch vielfach betätigt – sein Hauptwerk ist ein fünfbändiges Handbuch der National-Ökonomie 1882–1884 erschienen –; er war ein eifrig Mitglied des bald nach seiner Habilitation begründeten „Akademisch-volkswirtschaftlichen Vereins“. In den letzten 6–8 Jahren von Krankheit geschlagen, hat er dankbar sein Vermögen von ungefähr 90 000 M. der Universität Leipzig zur Förderung volkswirtschaftlicher und historischer Studien vermacht. Ehre seinem Andenken! Am Sedantage, am 2. September, starb in Thusis, wohin er gegangen war, um mit einer kranken Tochter dort zusammensein zu können, der emeritierte ord. Professor der juristischen Fakultät, Geheimer Hofrat Dr. Heinrich Degenkolb. Geboren am 25. Oktober 1832 zu Eilenburg als Sohn eines sehr wohlhabenden Fabrikanten ist ihm die äußere Not des Lebens nie nah getreten, was ihm wohl auch erleichtert hat, sich die Heiterkeit des Gemütes bis zu seinem Ende zu erhalten. Größer als sein Schicksal, hat er sich auch durch die Nacht der Blindheit, die sich in den letzten Jahren seines Lebens auf ihn niedersenkte, den Mut zu leben nicht nehmen, die innere Heiterkeit seines Wesens nicht brechen, die Liebenswürdigkeit seiner Natur in Bitterkeit nicht wandeln lassen. Er blieb der köstliche Mensch, der er war, nach wie vor. Siebzehnjährig hat er um die Rechte zu studieren die Universität Tübingen, für die er stets eine große Liebe behalten, dann die Hochschulen Heidelberg, Bonn und Berlin besucht. Dort promovierte er 1855 und habilitierte sich als Romanist 1861. Ein Schüler Ludwigs v. Keller ist er später Theodor Mommsen freundschaftlich und wissenschaftlich nahegetreten. 1869 wurde er als ordentlicher Professor nach Freiburg i. Br. gerufen; von 1872–1892 war er Romanist in Tübingen; 1892 kam er nach Leipzig; am 1. Oktober 1904 mußte er sich wegen seines schweren Augenleidens pensionieren lassen. Degenkolb war eine ebenso fein wie scharf ausgeprägte vornehme Gelehrten-Natur. Von römischer Rechtsgeschichte ausgehend ist er später auch literarisch ein ausgezeichneter Dogmatiker geworden und als solcher vom materiellen Rechte zum Prozeßrechte vorwärts geschritten. Die Grenzgebiete zwischen beiden wurden sein Lieblingsfeld, und ganz besonders hier hat er tiefe Anregungen gegeben, die bis heute noch lebhaft nachwirken. Charakteristisch für ihn als Gelehrten war die Weite seines Horizontes, sein wissenschaftlicher Mut, der keinem Problem aus dem Wege ging, die Sicherheit seiner Methode, die absolute Akribie und Gewissenhaftigkeit seiner Arbeit und die Originalität seiner Denkweise. Er war ein unermüdlicher Wahrheitssucher, und seine Achtung vor der Wahrheit war so groß, daß sie seinen Erfolg wie als Schriftsteller so als Lehrer etwas beeinträchtigte: er gab dem Zweifel an selbstgefundner Wahrheit oft mehr Raum als nötig und gut war, und besonders den Schüler konnte dies 962

Jahresbericht 1908/09

irren. Grade deshalb aber besaß er eine Gerechtigkeit gegen alle fremden ehrlich erarbeiteten Ansichten, wie sie den deutschen Gelehrten nicht immer ziert. Feinde hat er kaum je gehabt. Wer ihn verstand, verehrte ihn tief. Große Freundschaft hat er im Leben genossen. In ihm hat die Wissenschaft einen adligen bedeutenden Pfleger verloren! Die Ferienzeit hat uns aber noch einen zweiten großen Verlust gebracht. Am 17. September starb hier nach langen mannhaft getragenen Leiden der ordentliche Professor der Philosophie, Geheimer Rat Dr. Max Heinze. Er war am 13. Dezember 1835 zu Prießnitz in Sachsen-Meiningen geboren, hatte in Leipzig, Tübingen, Erlangen und Halle vornehmlich Theologie studiert, war aber in Berlin von Adolf Trendelenburg zur Philosophie bekehrt worden. Erst 1872 habilitierte er sich als Philosoph in Leipzig, wurde dann in rascher Folge nach Basel und von dort nach Königsberg berufen, um dann am 20. Mai 1875 als ordentlicher Professor der Philosophie in Leipzig angestellt zu werden. Bis zu seinem Tode ist er uns treu geblieben. Seine reichen theologischen und philosophischen Kenntnisse – ist er doch vor seiner Habilitation längere Zeit Lehrer in Pforta gewesen – zusammen mit Trendelenburgs Vorbild führten ihn naturgemäß zur Geschichte der Philosophie, und wenn seine Vorliebe auch wohl den großen hellenischen Philosophen galt, so besaß doch Niemand eine so umfassende ins Einzelne dringende Kenntnis der ganzen Geschichte der Philosophie wie Heinze. So hat er sich denn auch literarisch und als akademischer Lehrer aufs erfolgreichste dieser Disziplin angenommen. Im Übrigen war er ein Freund alles Edlen und Schönen, ein Freund besonders auch unsrer Hochschule, ein warmer vielgeliebter, vielverdankter Freund unserer akademischen Jugend. Intimer wie die Meisten von uns hat er mit ihr zusammengelebt, hat er sie beraten, hat er ihr geholfen: als Vorsitzender des Paulus, als Ephorus der Stipendien, ganz besonders aber in der mühseligen Stellung als Konviktdirektor. Auf wissenschaftlichem wie auf dem akademisch-gemeinnützigen Gebiet ist Max Heinze kaum ersetzbar. Sein Gedächtnis in Ehren! Einen weiteren Verlust erlitt unsre Universität dadurch, daß unser so verehrter Kollege, Herr Geheimer Rat Prof. Dr. Ferdinand Zirkel mit dem 1. Oktober 1909 nach 40jähriger reich gesegneter Tätigkeit an unserer Hochschule in den Ruhestand getreten ist. Möchte ihm an den Ufern des Rheins, der ihn von uns fortgelockt hat, eine schöne wissenschaftlich ausgiebige Muße beschert sein! Nach auswärts berufen wurden: 1. aus der theologischen Fakultät der ao. Professor Dr. Hunzinger als Ordinarius nach Erlangen; 2. aus der juristischen Fakultät der ao. Professor Dr. Reichel als Extraordinarius nach Jena; 3. aus der philosophischen Fakultät der ao. Professor Dr. Correns als Ordinarius der Botanik nach Münster und der kaum habilitierte Privatdozent der Philologie Dr. Karl Meister zunächst als Assistent nach Berlin. Unsere besten Wünsche begleiten diese unsere bisherigen Kollegen in ihren neuen Wirkungskreis. Meist in Rücksicht auf auswärtige Stellungen verzichteten Professor Dr. phil. Arthur Loos auf seine ao. Professur, die Doktoren der Philosophie Henze, Euler, 963

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Beck, Lockemann, Dr. med. Burian und Dr. jur. Max Rintelen – letzterer um sich in Königsberg zu habilitieren – auf die venia legendi. Bereichert wurde der Bestand unserer Lehrkräfte durch drei Berufungen von außen, besonders aber durch zahlreiche Habilitationen. Als ord. Professor der Statistik und der Verwaltungslehre wurde für Leipzig gewonnen Professor Dr. Ferdinand Schmid, bisher in Innsbruck; als ordentlicher Professor der Mathematik Professor Dr. Gustav Herglotz, bisher auf der technischen Hochschule in Wien; als ord. Professor der Mineralogie und Petrographie Geheimer Regierungsrat Professor Dr. Friedrich Rinne, bisher Professor in Kiel. Wir begrüßen unsere neuen Kollegen aufs wärmste, wünschen ihnen, daß sie sich gut einleben, und uns, daß sie gute Leipziger werden. Die venia legendi wurde erteilt: von der juristischen Fakultät den Doktoren der Rechte Otto Eger aus Darmstadt und Johannes Moritz Planitz aus Kaditz; von der medizinischen Fakultät den Doktoren der Medizin Erwin Nissl von Mayendorf aus Brünn, Adalbert Gregor aus Czernowitz, Paul Sick, Chefarzt der chirurgischen Abteilung am Diakonissenhaus, Rudolf Dittler, Oskar Groß, Heinrich Wichern; von der philosophischen Fakultät dem Dr. phil. et jur. Paul Merker für german. Philologie, den Doktoren der Philosophie George Cecil Jaffé für Physik und Karl Dieterich für mittel- und neugriech. Philologie, dem Dr. med. et phil. Otto Steche für Zoologie, den Doktoren der Philosophie Karl Meister für klass. Philologie und indogermanische Sprachwissenschaft, Bernhard Schmeidler für mittlere und neuere Geschichte, Otto Klemm für Philosophie, Heinrich Percy Waentig für Chemie. Zum Lektor der französ. Sprache wurde vom 1. April an Herr Gustav Monod aus Bordeaux und als Lektor der englischen Sprache vom 1. Okt. 1909 Herr Lehre Dantzler bestellt. Möchte sich die Wissenschaft in demselben Maße verjüngen als der Bestand derer, die sie lehren! Innerhalb der Fakultäten wurde der außerordentliche Professor der philosophischen Fakultät Dr. Hans Stumme zum ordentlichen Honorarprofessor ernannt. Zu etatmäßigen Extraordinarien wurden ernannt in der medizinischen Fakultät der technische Direktor im zahnärztlichen Institut Zahnarzt Heinrich Wilhelm Pfaff, zu außeretatmäßigen in der juristischen Fakultät Privatdozent Dr. Hans Reichel, in der medizinischen Privatdozent Dr. Friedrich Rolly, in der philosophischen die Privatdozenten Dr. Alexander Nathanson, Dr. Gottlieb Friedrich Lipps und Dr. Alfred Doren. Mit dem 1. Nov. 1908 schied Herr Universitäts-Musikdirektor Prof. Dr. Max Reger aus seiner Stelle aus. Ihm sukzedierte mit dem 1. Jan. 1909 Herr Professor Dr. Friedrich Brandes aus Dresden. In der Zeit, in der wir uns zum Jubiläum rüsteten, fiel es uns nicht ganz leicht uns an auswärtigen Festen wissenschaftlicher Anstalten zu beteiligen. Nichts destoweniger war die Universität in Verbindung mit der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften bei der am 22.–24. Juni 1909 in Cambridge abgehaltenen Darwinfeier durch Geh. Rat Professor Dr. Rabl, und war die Universität allein bei dem 350jährigen Jubiläum der Universität Genf, die mit der Feier des 400. Geburtstages von Calvin verbunden wurde, durch Geh. Rat Professor Dr. Partzsch vertreten. 964

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Bei beiden Anlässen wurde eine tabula gratulatoria überreicht. Dagegen wurde der katholischen Universität zu Löwen zur 75jährigen Jubelfeier ihrer Wiederaufrichtung, die vom 9.–11. Mai 1909 stattfand, nur ein Glückwunschschreiben gesandt, ebenso der Treptower Sternwarte zur Einweihung ihres neuen Gebäudes am 4. April 1909. Für den 2. Dezember 1908 war die Legung des Grundsteines zum Neubau der deutschen Universität in Prag in Aussicht genommen. Es war dem Rektor der Universität ein Bedürfnis sich mit dem einen oder anderen Kollegen von hier an dieser uns so sympathischen Feier zu beteiligen. Ebenso sollte eine Vertretung der hiesigen Studenten in Prag mittaten. Es ist bekannt, durch welche häßlichen kulturfeindlichen Vorgänge diese Grundsteinlegung erfolgreich verhindert worden ist! Am 12. und 13. Oktober dieses Jahres tagte in Leipzig der dritte deutsche Hochschullehrertag, an dem sich eine größere Anzahl unserer Kollegen lebhaft beteiligte. In Süddeutschland, aus süddeutschen und deutsch-österreichischen Bedürfnissen entstanden, hat er diesmal sozusagen zum ersten Male Norddeutschland betreten. Große Gemein-Interessen aller Hochschulen fanden da eine ihrer Bedeutung durchaus angemessene Behandlung, und in fast allen berührten Fragen zeigte sich ein hocherfreulicher unanimus consensus der Teilnehmer. Daß die deutschen Universitäten ein Organ gemeinsamer Beratung und Wahrnehmung ihrer Interessen besitzen, ist unbedingt notwendig. Und je größer die Beteiligung, um so sicherer wird die so nötige Objektivität der Beratungen auf diesen Tagen sein. Sie müssen an allererster Stelle unserem Vorwärtsschreiten, unserer Vervollkommnung gelten. Gewiß dürfen wir nicht auf unseren Lorbeeren ruhen und müssen allen unseren Schwesteruniversitäten ablernen, was sie besser haben wie wir. Aber wir glauben auch geben zu können und nicht lediglich empfangen zu müssen und halten darauf uns im Wettbewerb mit den Universitäten des ganzen Auslandes noch als ebenbürtig betrachten zu dürfen. Wir haben meines Wissens unser Primat nicht behauptet, aber das Urteil unserer Inferiorität würden wir bis zum exakt erbrachten Gegenbeweis als ungerecht zurückweisen müssen. Als Zeuge kann ich bestätigen, wie gerade unsere amerikanischen Freunde bei unserem Fest mir aus ganz freien Stücken ihre unbedingte Hochachtung, ja ihre Bewunderung deutscher Hochschulen ausgesprochen haben. Die Baugeschichte des letzten Jahres weist eine Reihe von Vergrößerungen, Umund Anbauten an medizinischen und naturwissenschaftlichen Instituten auf. Auch haben die oberen Geschosse des goldenen Bär für Zwecke des im Mai 1909 eröffneten Instituts für Kultur- und Universalgeschichte einen Umbau erfahren. Dieses Institut ist am 15. Mai 1909 durch einen feierlichen Aktus im Auditorium maximum eröffnet worden, und Geheimerat Lamprecht führte dann die Teilnehmer an der Feier in die ebenso anheimelnden als musterhaft eingerichteten Räume seines Institutes in dem alten Gottschedischen Hause. Der Neubau des zahnärztlichen Institutes an der Nürnberger Straße kann wohl anfangs April 1910, die auf unserem Grund und Boden an der Ritterstraße errichtete Handelshochschule wird am 1. April ihrer Bestimmung übergeben werden. Ebenso kann der bedeutende Um- oder Erweiterungsbau beim physikalisch-chemischen 965

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Institute, wofür die Stände wieder 200 000 M. bewilligt haben, wohl bald in Benutzung genommen werden. Die Erweiterung der Augenheilanstalt ist noch im Gange. Im April dieses Jahres ist das Haus der Knaupsischen Stiftung Hainstraße 11 abgebrochen worden, um einem Neubau für Geschäftszwecke Platz zu machen. Mit dem Abbruch der Gebäude Goethestraße 3/5 soll April 1910 begonnen werden und in dem zu errichtenden Neubau wird die Dresdener Bank ihren Einzug halten. So ist ein stetiges Fortschreiten im Aufbau der Universität zu konstatieren, und dankbar gedenkt sie der großzügigen Behandlung, welche die Universitätsbedürfnisse aller Art stets in unserem Landtage gefunden haben. Möge dieser große Zug auch dem neugebildeten Landtage eigen bleiben! Aber nicht nur an Männern und Bauten ist die Universität in diesem Jahre bereichert worden. Wohl noch nie seit den großen Ausstattungen durch die Wettinischen Fürsten ist die Universität so bedacht worden wie in diesem Jahre. Zum größten Teile, aber nicht durchweg galten die Gaben der Feiernden, der 500jährigen Jubilarin. Wer heute offenen Auges hierher gekommen ist, konnte viel Neues bestaunen. Des Königs Standbild in der Wandelhalle – ein Meisterwerk Seffners – ein ganz Königliches Geschenk! Daselbst auch einen herrlichen Lessingkopf aus gleicher Hand hervorgegangen, von Leipzigs Bürgern uns verehrt, und an der Längswand dieses feierlichen Raumes Max Klingers Hellas – ein adlig Geschenk der Regierung und ein noch größeres des Künstlers selbst. Der Rektor spricht von nun an über der schönen Gabe des Reichsgerichts, an andern Stellen der Universität finden Sie die schönen Reliefs der technischen Hochschule und der Tierarzneischule in Dresden in die Wände gefügt. Das große Relief der Akademie der Künste in Dresden konnte seinen Platz noch nicht finden, weil wir einstweilen statt der Bronze nur das Tonmodell besitzen. In dem Senatssaale hat das Ölbild Sr. Exzellenz, unseres unvergeßlichen Kultusministers Dr. von Seydewitz, das er uns selbst zum Jubiläum geschenkt, seinen Platz gefunden. Und so viele schöne Gaben – der reizende Goldschrein unsrer Mutter-Universität Prag, der gewaltige silberne Humpen der Stände des Leipziger Kreises, alle die uns gewidmeten, zum Teil höchst wertvollen Adressen – sind zur Zeit noch weggeschlossen, weil der Platz ihrer würdigen Aufstellung mangelt. Der Senat hat kürzlich beschlossen, für Beschaffung eines solchen Sorge zu tragen. Es würden diese Schätze dann auch der Allgemeinheit zugänglich werden. Ich habe aber hiermit einen Gegenstand berührt, bezüglich dessen ich mich in arger Verlegenheit befinde. Es sind uns in diesem Jahre soviel Zuwendungen in den verschiedensten Formen gemacht worden, daß eine Aufführung derselben im Einzelnen ganz unmöglich ist, während ihr Verschweigen die Universität dem Verdacht der Undankbarkeit aussetzen würde. Trotz dieses Verdachtes muß ich eine Reihe einzelner Geschenke unerwähnt lassen. In dem amtlichen Festberichte werden sie aufs gewissenhafteste verzeichnet werden. 966

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Es ist zunächst eine große Anzahl von Stiftungen, sei es zugunsten der Universität, sei es zugunsten einzelner Fakultäten gemacht worden: zwei von Todeswegen, die andern unter Lebenden; die meisten in Form kapitalistischer Zuwendung, einige durch Aussetzung von Jahresbeträgen. Ich erlaube mir in den letzteren Fällen das Kapital einzusetzen, das der Jahresbetrag zu 4 % Zinsen gerechnet repräsentiert. Ein größerer Teil dieser Stiftungen ist für Konviktstellen, Freitische und Stipendien, also ausschließlich für unsere Studenten bestimmt. Durch andere sollen bestimmte Studienzweige, die volkswirtschaftlichen, die geographischen, die klassischarchäologischen, die kunstwissenschaftlichen, die historischen, das Studium des internationalen Privatrechts, die wissenschaftliche Ausbildung von Journalisten gefördert werden. Einige sind bestimmt, Stipendien für Privatdozenten der Theologie, der Jurisprudenz, der Philosophie zu schaffen. Die Erträgnisse einer größeren Stiftung sollen sehr erfreulicherweise auch zum Ankauf von Kunstwerken und zur künstlerischen Ausschmückung der Universität ihre Verwendung finden. Das gestiftete Kapital beläuft sich auf die stattliche Summe von 852 500 M. Nur vier Stiftungen mit dem Kapitalbetrag von zusammen 270 000 M. haben mit dem Jubiläum keinen Zusammenhang: die große Stipendienstiftung des am 4. September 1908 in Stuttgart verstorbenen früheren Verlagsbuchhändlers Hermann Schönlein, der Nachlaß unseres verstorbenen Kollegen Dr. Walcker, die Karl-Bücher-Stiftung, errichtet von Mitgliedern der vereinigten staatswissenschaftlichen Seminare und die Zuwendung des Herrn Dr. med. Hinze an die der Unterstützung so würdige Hülfs- und Töchterpensionskasse der Universität. Die übrigen Stifter sind unsere liebe Stadt Leipzig, die Städte Dresden, Chemnitz, Plauen, Zwickau, die evangelischlutherische Landeskirche in Sachsen, der Verein Sächsischer Richter und Staatsanwälte, die Anwaltskammer in Sachsen, die philosophische Fakultät der Universität, unsere ehemaligen Kommilitonen, die für den Konvikt eine Max-Heinze-Stiftung errichtet haben, Herr Verlagsbuchhändler Dr. Fritz Baedeker, Herr Professor Dr. Beer in Leipzig, Herr Architekt Brachmann in Leipzig, Frau Auguste Felix in Leipzig, Herr Professor Dr. Francke in Rochlitz, Herr Großkaufmann Adolf Goldschmidt, Herr Verlagsbuchhändler Edgar Herfurth, Herr Geh. Rat Professor Dr. Hans Meyer, Herr Verlagsbuchhändler Dr. Hermann Meyer, Fräulein Helene Schunck, Herr Kommerzienrat Dr. Willmar Schwabe, alle in Leipzig, außerdem zwei Freunde der Universität, der eine in Leipzig, der Andere in Pirna, die ungenannt zu bleiben wünschen. Dazu kommen noch Geldschenkungen im Gesamtbetrage von 38 200 M. zu gunsten des Jubiläums, besonders aber zu gunsten bestimmter Institute der philosophischen Fakultät. Schenkgeber sind Universitätsbuchhändler Herr Victor Edelmann, Professor Dr. Felix in Leipzig, Professor Dr. Hilprecht in Philadelphia, Verlagsbuchhändler Dr. Georg Hirzel in Leipzig. Zu dem Fonds für Errichtung einer akademischen Turnhalle sind beigesteuert worden ca. 20 000 M. Zeichner sind – von kleinen Beiträgen abgesehen – Seine Königliche Hoheit der Großherzog von Baden, Seine Durchlaucht Prinz Otto Heinrich von Schaumburg-Lippe, die Hörer und Hörerinnen der hiesigen Universität, ferner die Herren Professor Dr. Felix, Fabrikbesitzer Ernst Fritzsche, Fabrikbesitzer 967

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Karl Fritzsche, Kommerzienrat Georg Friedrich Giesecke, Verlagsbuchhändler Edgar Herfurth, alle in Leipzig, und Geh. Rat Prof. Dr. Heubner in Berlin. Für den freiwilligen Kirchenchor sind gegeben worden 5900 M. und zwar von Herrn Professor Dr. Felix, besonders aber von Herrn Fabrikbesitzer Ernst Fritzsche in Leipzig. Nicht darf ich nun aber der übrigen Schenker vergessen und frage mich nur, wie soll ich ihrer gedenken bei der Größe ihrer Zahl und der Zahl ihrer Gaben? Unsern Dank haben wir ihnen schon gesagt, und ein genaues Verzeichnis wird der amtliche Festbericht bringen. Aber Einiges darüber zu sagen ist doch unumgänglich. Ich gedenke zuerst des kostbaren Epidiaskopes, welches Herr Verlagsbuchhändler Hofrat Dr. Credner für den Hörsaal XI geschenkt hat, und einer großen Zuwendung von Mineralien an das mineralogische Institut von Herrn Geh. Rat Prof. Dr. Hans Meyer, der uns ja überhaupt so reich bedacht hat. Herr Geheimrat Dr. Siglin in Stuttgart hat dem ägyptologischen Institut zum Jubiläum einen Porträtkopf des Königs Chephren, ein Meisterstück altägyptischer Bildhauerkunst ältester Zeit, zum Geschenk gemacht. Geh. Rat Prof. Dr. Hans Meyer hat demselben Institut den sehr wertvollen Porträtkopf eines römischen Beamten, das Werk eines ägyptischen Künstlers, geschenkt. Auch mit Werken der Kunst der Gegenwart sind wir reich begabt worden. Der Meisterwerke Klingers und Seffners, sowie des schönen Prager Schreins wurde schon früher gedacht. Die Akademie der Künste in Dresden, die technische Hochschule sowie die Tierarzneischule dort haben uns wertvolle Bronzereliefs gestiftet; die Provinzialstände des Leipziger Kreises einen mächtigen silbernen Humpen, die Meißner, Erzgebirgischen und Vogtländischen Kreisstände und die Provinzialstände der Oberlausitz eine silberne Reiterstatue Friedrichs des Streitbaren. Die Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen hat eine besondere Gedenkmedaille für uns prägen lassen, und bei dieser Gelegenheit mag auch der schönen Plakette gedacht werden, die Professor Dr. Max Lange im Auftrage der Regierung für das Festmahl der Regierung im Palmengarten gefertigt hat. Unsere lieben alten Kommilitonen in der Schweiz haben uns zwei herrliche gemalte Fenster gestiftet, an denen sich Jeder freut, der sie betrachtet. Der nordamerikanische Botschafter in Berlin, Mr. David Jayne Hill hatte die große Aufmerksamkeit der Universität für das Institut für Universal- und Kulturgeschichte zwei Abgüsse der Büsten der großen amerikanischen Historiker William H. Prescott und George Bancroft zu schenken. Die königliche Akademie für graphische Künste in Leipzig hat für uns einen kostbaren Nachdruck von Goethes Winkelmann veranstaltet. Der große Bestand der übrigen Geschenke wird durch Bücher gebildet, welche die Universität, ihre Bibliothek, ihre Institute und Seminare teils aus Anlaß des Jubiläums, teils unabhängig davon erhalten haben. Schon im Herbst 1908 schenkte Frau Professor Lily Grube in Halensee, um ihrem verstorbenen Manne an der Stätte seiner Wirksamkeit ein Denkmal zu stiften, die große Ostasien betreffende Bibliothek dieses ausgezeichneten Gelehrten. Unsere Bibliothek hat ein besonderes Zimmer für diese Sammlung Grube hergerichtet, 968

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wozu das Mobiliar von Frau Professor Grube anläßlich des Jubiläums nachgeschenkt wurde. Die Erben des Geheimen Hofrats Prof. Dr. Scheibner schenkten seine Bücherei der Bibliothek des mathematischen Seminars; ebenso Frau Geh. Rat Adolf Mayer einen größeren Teil der Bibliothek ihres verstorbenen Mannes. Eine Reihe von Privatleuten schenkten teils ihre eigenen Schriften, die mehrfach im Buchhandel gar nicht zu haben sind, teils wertvolle Werke aus ihrem Besitze. Es sei mir gestattet der wertvollen Schenkungen Seiner Kaiserlichen und Königlichen Hoheit des Erzherzogs Salvator, ferner der früher in Leipzig promovierten amerikanischen Gelehrten, des Herrn Eugen Platky, sowie der Geschäftsfreunde des Hauses Harassowitz in Leipzig besonders zu gedenken. Ungefähr 30 Verlagsfirmen stellten der Universität ihren ganzen Verlag zur Auswahl. Elf der berühmtesten hiesigen Firmen, deren Sprecher Dr. E. Reinicke bildete, boten ihren Verlag in je einem gebundenen, mit schönem ex libris versehenen Exemplare der Universitätsbibliothek und den Seminar- und Institutsbibliotheken als Geschenk an. Andere Firmen schlossen sich dem an. Und so ist uns ein sehr großer Schatz wertvoller Werke zugeflossen. Die schwierige Verteilung unter verschiedene Liebhaber kann erst beginnen, wenn das noch unabgeschlossen gebliebene Schenkungsgeschäft, das die Geduld der trefflichen Geber auf eine ziemlich harte Probe stellt, seinen Abschluß gefunden haben wird. Soweit diese Gaben von Verlagshandlungen herrühren, haben uns diese sehr kostbaren Schenkungen besonders auch gefreut als Anerkenntnis der von unserer Seite nie verleugneten engsten Zusammengehörigkeit des Buchhandels mit der Wissenschaft und ihren Anstalten – eines Zusammenhangs, der heute mannigfach in bedauerlicher Weise tatsächlich mißachtet wird. Des Weiteren sind uns Gedichte, Kompositionen, besondere Festschriften, wissenschaftliche Werke in großer Zahl gewidmet worden. Wenn ich Ihnen sage, daß es 40 Widmungen sind, begreifen Sie die Unmöglichkeit, ihrer einzeln zu gedenken, so wertvoll sie auch sein mögen. Nur der Festkantate unseres trefflichen Prof. Dr. Schreck möchte ich dankend gedenken: da sie einen so wertvollen Bestandteil unsrer Feier gebildet hat. Kurzum es hat sich eine Dankesschuld bei uns gehäuft von einer Größe, daß deren Bezahlung Stück für Stück uns bankrott machen würde. Und so müssen wir diesen Dank in zwei Worte zusammenfassen: wir danken von ganzem Herzen für den Schatz von Anerkennung und Anhänglichkeit, der uns in dieser ganzen großen gehobenen Zeit zugewendet worden ist. Wir glauben seiner nicht unwert zu sein. Aber wir werden versuchen, ihn auch weiterhin zu verdienen. Da uns indessen eine sprichwörtlich gewordene Bescheidenheit eigen ist, möchten wir nur bitten, daß dieser offene Sinn für die Universität und diese offene Hand für die Universität, wenn auch vielleicht nicht mit der vollen Offenheit dieses Ausnahmejahres, vorläufig einmal bis zum tausendjährigen Jubiläum anhalte! Denn Keiner von uns lebt ihm selber: jeder arbeitet nur für die Allgemeinheit! In dem Verständnis der Tatsache, daß das vermögende Bürgertum dem Betriebe der Wissenschaft helfende Hand leihen muß und daß es sich dadurch selbst die größte Wohltat erweist, ist in der Tat Amerika unserem Vaterlande noch voraus! 969

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Von diesen erfreulichen äußeren Ereignissen wende ich mich zum Innenleben der Universität, wovon ja dieser Bericht stets nur die dürftigste Kunde bringen kann. Aus den Fakultäten ist zu berichten, daß ordentliche Promotionen stattgefunden haben in der theologischen Fakultät keine; in der juristischen 320; in der medizinischen 132, darunter 7 Damen; in der philosophischen 178. Dagegen haben die Fakultäten natürlich den Anlaß des Jubiläums benutzt, um einer großen Anzahl von Männern sehr verschiedener Lebenskreise fast aus allen Teilen der bewohnten Erde ihre Hochachtung und zugleich die Anerkennung und Dankbarkeit der Universität durch promotiones honoris causa zu beweisen. Solche Promotionen honoris causa hat vorgenommen: die theologische Fakultät 16 (sie hat auch den Pfarrer Dr. Oswald Kramer zu Gerichshain zum Lizentiaten der Theologie honoris causa ernannt), die juristische Fakultät 20, die medizinische Fakultät 18, die philosophische Fakultät 35. Die Universität ist stolz darauf, daß selbst Seine Majestät der König, unser verehrter und geliebter Rektor Magnificentissimus, und Ihre Königlichen Hoheiten, die Großherzöge von Baden und Hessen, die wir die Ehre hatten, beim Jubiläum zu begrüßen, geruht haben, die Doktorwürde aus den Händen der juristischen Fakultät entgegen zu nehmen. Die Namen aller dieser Doctores honoris causa wurden am 30. Juli dieses Jahres in der Wandelhalle feierlich verkündet: sie sind notorisch und demgemäß nicht zu wiederholen. Komme ich jetzt zu dem Personenkreise, um derentwillen der Hochschullehrer besteht, auf den unsrer Studenten, so belief sich im Sommersemester ihr Bestand auf 4581. Abgegangen sind seither 974, neu bis zum gestrigen Tage immatrikuliert wurden 960. Somit Gesamtzahl für den heutigen Tag 4569 gegen 4219 am 31. Oktober 1908. Durch den Tod sind uns 12 Kommilitonen verloren gegangen. Wir beklagen das vorzeitige Ende so junger Leben und den Tod aller auf sie gesetzten Hoffnungen. In diesem Jubiläums-Jahre hat unsere Studentenschaft sich und uns nur Ehre gemacht. Ihre Haltung war vortrefflich. Soweit es irgend möglich war, ist unsererseits unseren Studenten die Teilnahme an den einzelnen Festakten gewährt worden. In großem Umfange haben sie auch außerhalb des Festausschusses zum Gelingen des Festes mitgewirkt, sei’s als Festordner, sei’s als unermüdliche Empfangskomitees auf unseren nicht gerade idealen Bahnhöfen, als Wirte der studentischen Deputationen von Prag, Dresden, Tharandt und Freiberg, als Teilnehmer am Festzug und sonst in mannigfacher Verwendung. Dagegen spielen die 211 Tage Karzer, die verbüßt wurden, keine Rolle. Stärkere Disziplinarstrafen gegen Studierende haben sich nur in drei Fällen nötig gemacht. Zu bedauern war, daß der alte allgemeine Studentenausschuß, gegründet Juni 1904, sich schon länger als nicht mehr lebensfähig erwiesen hatte. Er löste sich auf. Aber es gelang, wie oben schon gesagt, einen Festausschuß zu gründen. Dessen Zeit ist aber im Wesentlichen auch vorüber. Es wäre dringend wünschenswert, wenn sich im Anschluß an die einfache Organisation des Festausschusses, die 970

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sich sehr bewährt hat, eine neue dauernde, gleich einfache Gesamtorganisation bilden würde. Der späte Anfang des Semesters hat es untunlich gemacht, die einleitenden Schritte dazu zu tun. Mein Herr Nachfolger wird nachholen, was ich selbst unterlassen mußte. Hoffentlich nimmt die Sache guten Fortgang. Liebe Kommilitonen! Leicht verkennen Sie die Bedeutung solchen Zusammenschlusses. In der Jugend ist die Lust am Partikularismus am größten. Aber Sie haben sehr große gemeinsame Interessen, die durch ein Gesamtorgan vertreten werden sollten: das wird noch nicht genügend erkannt. – Gerade das Jubiläums-Jahr konnte Ihnen dafür eine gute Lehre geben. Ohne Ihren Festausschuß wäre Vieles, was Sie erreicht haben, zu erreichen schlechterdings nicht möglich gewesen: das können Sie mir glauben, denn ich habe es genau beobachtet. Also organisieren Sie sich bundesstaatlich wie das deutsche Reich! Schaffen Sie sich einen Bundesrat: an den Einzelregierungen wird es dann gewiß nicht fehlen. Wende ich mich zum Schlusse zu dem akademischen Wettbewerb, so hat die Preisaufgabe der Theologischen Fakultät zwei Bearbeitungen gefunden. Der einen mit dem Motto: „Ich bin kein ausgeklügelt Buch ...“ konnte der zweite Preis zuerkannt werden. Als Verfasser ergab sich: Stud. theol. Otto Schulze aus Lausigk. Die juristische Preisaufgabe hat zwei Bearbeitungen gefunden, von denen die mit dem Kennwort: „Mens agitat molem“ versehene den ersten Preis, die zweite mit dem Kennwort „Goslar“ versehene eine ehrenvolle Erwähnung erhalten hat. Als Verfasser der ersten Arbeit ergab sich Stud. jur. Max Zülzer aus Leipzig, als Verfasser der zweiten Stud. jur. Rudolf Böhme aus Meerane. Die medizinische Preisaufgabe hat eine Bearbeitung leider nicht gefunden; ebenso die von der 1. Sektion der philosophischen Fakultät gestellte. Die zweite Sektion stellte 2 Preisaufgaben: 1. das Thema „die revolutionäre Bewegung der Jahre 1848 und 1849 im Königreich Sachsen“, hat eine Bearbeitung gefunden, der zwar nicht der Preis, aber eine ehrenvolle Erwähnung und eine Gratifikation von 100 Mark zuerkannt werden konnte. Als Verfasser erwies sich Stud. phil. Karl Hesse aus Dresden. 2. Von den drei Bearbeitungen des zweiten Themas: „Die Ethik Guyaus“ hat die mit dem Motto: „Die Weisheit ist nur in der Wahrheit“ den 1. Preis erhalten. Als Verfasser ergab sich: Stud. phil. Johannes Freyer aus Leipzig. Die einzige Bearbeitung der Preisaufgabe der 3. Sektion – „Elektrische Doppelbrechung in Flüssigkeiten“ – wurde so vortrefflich befunden, daß dem Verfasser, dem Stud. der Mathematik Alexander Lippmann aus Potschappel, beide Preise zuerkannt wurden. Vivant sequentes! Die Urteile mit ihrer Begründung und die neuen Preisaufgaben werden durch Anschlag am schwarzen Brett verkündet werden. Und nun verschreite ich zur letzten Amtshandlung des Rektors: zu seiner Abdankung und zur feierlichen Investitur seines Nachfolgers. Zunächst fordere ich Sie, Herr Dr. Eduard Hölder als den erwählten und bestätigten Nachfolger auf, das Katheder zu besteigen. 971

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Sie haben zunächst den Eid zu leisten, den nach den Gesetzen unserer Hochschule jeder antretende Rektor ablegen muß. Ich spreche Ihnen die Eidesformel vor: „Sie schwören bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, daß Sie die Verfassung und die Gesetze der Universität treu und gewissenhaft beobachten und die Pflichten des Ihnen anvertrauten Amtes als Rektor der Universität nach bestem Wissen und Gewissen redlich erfüllen wollen“. Somit verkünde ich Sie, Herr Dr. Eduard Hölder, zum Rektor der Universität Leipzig für das Studienjahr 1909 bis 1910. Ich übergebe Ihnen Hut und Mantel als Zeichen Ihrer Würde, die Kette, mit welcher zweifache königliche Huld den Leipziger Rektor geschmückt hat, das Siegel der Universität, womit Sie ihre Akte beglaubigen sollen, die Statuten, die Ihrer Hut anvertraut werden, den Schlüssel als das Symbol, daß Sie als Herr dieses Hauses in ihm allein zu gebieten haben. Und nun hat das Jubiläumsjahr sein Ende erreicht, und die Wünsche des gewesenen Rektors gelten seiner Hochschule und ihrem neuen Oberhaupt. Die Zeit stiller Gelehrtenarbeit hat wieder begonnen. Möge die 500jährige Universität darin vorwärts schreiten, an der Seite ihrer Schwestern, überholt wo möglich von keiner, vorwärts dringend in Jugendfrische gepaart mit der Weisheit des Alters, gesucht, geliebt und verehrt von ihren Kommilitonen, unserem Lande und unserem geliebten Rector Magnificentissimus zu dauerndem Stolz und zu dauernder Freude! Ihnen aber, verehrte Magnifizenz, wünsche ich ein gesegnetes, Sie befriedigendes Amtsjahr! ***

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Eduard Hölder (1847–1911)

31. Oktober 1909. Rede des antretenden Rektors Dr. Eduard Hölder. Über das Privatrecht als Objekt gerichtlicher Geltendmachung. Hochansehnliche Versammlung! Verehrte Kollegen! Liebe Kommilitonen! Der sein Amt antretende Rektor ist verpflichtet zu einem Vortrage aus dem Gebiete seiner Wissenschaft. Die von mir vertretene Wissenschaft ist die Wissenschaft des positiven Rechtes, insbesondere des Privatrechtes. Öffentliches und Privatrecht sind Glieder eines Ganzen, deren volles Verständnis nicht möglich ist ohne Rücksicht auf ihren Zusammenhang mit dessen übrigen Gliedern. Am nächsten hängt aber das Privatrecht zusammen mit dem Zivilprozeßrecht, und meine Ausführungen gelten seiner Eigenschaft, ein Objekt prozessualer Geltendmachung zu sein. Das positive Recht existiert nicht um seiner selbst, sondern um des dadurch geförderten Lebens willen. Es fördert nicht nur, sondern hemmt auch das Leben, und es kann dieses in sehr verschiedenem Maße fördern und hemmen. Stets geht aber sein Wert zurück auf den Wert des menschlichen Lebens, das auch die mangelhafteste Rechtsordnung mehr fördert als das Fehlen jeder Rechtsordnung. Die einzelnen Menschen leben teils für sich, teils durch, mit und für einander. Gäbe es nur ein Fürsichsein des Einzelnen, so könnte von einer Rechtsordnung keine Rede sein, was aber ebenso zuträfe, wenn es ein solches nicht gäbe, wie überhaupt das menschliche Zusammenleben keinen Wert haben könnte, wenn das einzelne Menschenleben keinen Wert hätte. Für das Recht tritt aber das individuelle Fürsichsein hinter dem Zusammenleben der Menschen zurück. Was ausschließlich jenem angehört, betritt nicht den Boden des äußeren Daseins und ist ohne rechtliche Bedeutung, die jenes nur dadurch hat, daß es auf die Außenwelt einwirkt und daß es ein Gebiet des äußeren Daseins gibt, innerhalb dessen zu schalten von Rechtswegen dem Einzelnen ausschließlich zusteht. Dieses ist das Gebiet seines Privatrechtes. Frei ist auch das Schalten staatlicher Machthaber innerhalb ihrer Zuständigkeit. Es ist aber ihre Rechtspflicht, ihre Macht zum gemeinen Besten zu benutzen, während ich von Rechtswegen meine private Macht beliebig benutzen oder auch unbenutzt lassen darf. Wenn namentlich Ihering betont hat, daß mein Privatrecht 973

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im Dienste nicht meines beliebigen Willens, sondern meines Bedürfnisses stehe, so ist es in Wirklichkeit für seine Ausübung rechtlich gleichgültig, ob sie diesem gemäß ist oder nicht. Der Zivilprozeß dient der Geltendmachung des Privatrechtes, findet daher nicht statt ohne das Begehren eines sein wirkliches oder angebliches Recht geltend machenden Klägers. Die erste Frage nach seinem Wesen ist daher die Frage nach dem Wesen der Klage. Das römische Recht hat für sie den farblosen Namen der actio. Savigny rühmt an den römischen Juristen „eine treffliche Kunstsprache, die mit der Wissenschaft so zusammenfällt, daß beide ein unauflösliches Ganzes zu bilden scheinen.“ Es gibt aber kaum ein Wort der römischen Rechtssprache, das nicht verschiedene Bedeutungen hätte. In ihr spielen Ausdrücke von unbestimmtestem Wortsinn, wie res und causa, die größte Rolle, und auch wenn ein solcher, wie z. B. condicio, als Kunstausdruck einen ganz bestimmten Begriff bezeichnet, so denken die Juristen nicht daran ihn ausschließlich in diesem Sinn zu verwenden. Von allen Wissenschaften kann die Rechtswissenschaft vielleicht am wenigsten eine von der Terminologie des Lebens ganz getrennte Terminologie haben. Erst die Neueren, insbesondere die Verfasser des BGB, haben sich bestrebt, möglichst ausschließlich in Kunstausdrücken zu reden und dadurch den Sinn ihrer Worte festzulegen. Von den Früchten zu reden, die dieses Bestreben gezeitigt hat, würde mich von meinem Thema abführen. Während die actio als Klage unzweifelhaft der Gattung der actio im allgemeinen Sinne der Handlung angehört, so fragt sich, ob der Klage im Sinne des Rechtes das im sprachlichen Sinne des Wortes liegende Moment eigen ist, Ausdruck eines Leidens zu sein. Man streitet darüber, ob sie notwendig eine Rechtsverletzung geltend macht. Unstreitig wendet sie sich gegen eine bestimmte Person, die man den Beklagten nennt. Da der Kläger diesen nicht etwa beklagt, ist die Bezeichnung falsch gebildet, und sie erklärt sich durch ihre Vergleichung mit andren ebenso falsch gebildeten, aber nicht mehr der heutigen Rechtssprache angehörenden. So setzte man dem Appellanten, der einem andren gegenüber einen höheren Richter anruft, den Appellaten entgegen, womit man also nicht einen Angerufnen, sondern einen solchen meinte, dem gegenüber ein Dritter angerufen wird. Ebenso meint der Name des Beklagten einen solchen, über den man sich bei einem Dritten beklagt, also einen Angeklagten. Daß wir diese Bezeichnung nur im Strafprozeß gebrauchen, würde noch nicht beweisen, daß sie nicht auch für den Zivilprozeß paßt, was zuträfe, wenn es im Begriffe der Klage läge, eine ihrem Subjekte durch den andren widerfahrne Rechtsverletzung geltend zu machen. Manche nehmen dies an und sagen, der Gläubiger, der auf Zahlung klage, mache sein Forderungsrecht geltend als ein durch deren Unterlassung vom Schuldner verletztes. Eben so sagt man, die Klage des Eigentümers gehe gegen den Besitzer als einen solchen, der ihm den Besitz vorenthalte und dadurch sein Recht verletze. Keinesfalls verletzt aber das Forderungsrecht der Schuldner, der nicht zahlt, weil er davon nichts weiß und wissen kann oder das zur Zahlung erforderliche Geld nicht aufzubringen vermag, und doch ist die Klage gegen ihn begründet. Ebenso geht die Klage des Eigentümers auch gegen einen solchen Besitzer, der jenem den Besitz nicht vorenthält, sondern vielleicht nichts sehnlicher wünscht, als ihn dem 974

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Eigentümer, den er nicht kennt, übergeben zu können. Allerdings macht aber die Klage regelmäßig eine Rechtsverletzung geltend im Sinne eines einem Rechte des Klägers nicht gemäßen Zustandes, dessen Änderung sie bezweckt. Hat er eine fällige Forderung, so ist es seinem Rechte zuwider, daß er noch nicht bezahlt ist, und seine Klage bezweckt die Ersetzung dieses Zustandes durch den entgegengesetzten. Ein solcher Zustand begründet aber nicht schon für sich eine Klage. Er besteht für den Eigentümer einer Sache, sobald dieser sie nicht besitzt. Die Klage ist eine Anrufung staatlicher Hülfe zum Zwecke der Realisierung eines Rechtes. Nicht jede Anrufung solcher Hülfe ist aber eine Klage. Es ist ein Stück des staatlichen Eigentumsschutzes, daß dem Eigentümer zur Erlangung des Besitzes seiner Sache auch dann staatliche Hülfe gewährt wird, wenn nicht ein anderer sie besitzt. Ebenso wird dem Vater, dem sein Kind abhanden gekommen ist, staatliche Hülfe zur Realisierung seiner Gewalt gewährt. Eine Klage ist aber hier weder notwendig noch möglich. Sie greift nur dann Platz, wenn einem andern gegenüber mir die Änderung des meinem Rechte nicht gemäßen Zustandes durch eigne Tat nicht zusteht. In dieser Beziehung unterscheiden sich wesentlich von einander die zwei Fälle, daß ich für meine Forderung nicht bezahlt bin und daß ich meine Sache nicht besitze. Es steht mir nicht zu, mich für meine Forderung durch eigne Tat bezahlt zu machen, sondern ich bin für ihre Realisierung angewiesen auf das Verhalten meines Schuldners und, wenn es ausbleibt, auf seine Belangung. Dagegen bin ich für die Erlangung des Besitzes meiner Sache zunächst angewiesen auf meine eigene Tat, und erst dann anstatt jener auf die Belangung eines andren, wenn sein Besitz, den ich nicht antasten darf, jene nicht gestattet. Die Klage wendet sich an den Staat oder sein Organ, das Gericht, um staatliche Hilfe, und sie wendet sich gegen den Beklagten als einen solchen, der, wenn sie Erfolg hat, von diesem betroffen wird. Sie wendet sich zugleich an ihn, zwar nicht als einen solchen, dessen Mitwirkung zu ihrer Erledigung durch das Gericht erforderlich wäre, aber als einen solchen, den sie veranlaßt, ihr zum Zweck ihrer Abweisung durch das Gericht entgegenzutreten, und in der Regel auch als einen solchen, den sie auffordert, ihr durch sein Verhalten abzuhelfen und so ihre Erledigung durch das Gericht überflüssig zu machen. Sie begehrt hier zunächst jenes Verhalten, und staatliche Hilfe nur für den Fall, daß es nicht schon ohne sie erfolgt. Für ihn erbittet sie die Verurteilung des Beklagten, die ihm zugleich eventuell die Zwangsvollstreckung androht. Erst durch sie erfolgt die Realisierung des klägerischen Rechtes unabhängig vom Willen des Beklagten. Sie ist aber nicht etwa dessen normale Realisierung. Diese ist das ihm gemäße Verhalten der Rechtsgenossen. Es ist das Normale, daß es zum Zwecke der Realisierung eines Rechtes, wenn sie überhaupt ohne Prozeß möglich ist, nicht erst zum Prozesse kommen muß. Ebenso ist es, wenn es dazu des Prozesses bedurfte, normaler, daß es nicht seiner Durchführung bis zum letzten Stadium der Zwangsvollstreckung bedarf, sondern die Realisierung des geltend gemachten Rechtes schon in einem früheren Stadium erfolgt. Daß es normaler ist, wenn der Verurteilte leistet als wenn es zur Zwangsvollstreckung kommen muß, wird jeder zugeben. Dagegen betrachten manche die Erledigung der Klage durch die der Verurteilung 975

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zuvorkommende Leistung des Beklagten als einen abnormen Ausgang des Prozesses. Ist es aber normaler, daß der Verpflichtete leistet, ohne die Klage abzuwarten, und daß der Beklagte als Verurteilter leistet, anstatt es zur Zwangsvollstreckung kommen zu lassen, so ist es auch normaler, daß er der Verurteilung durch Leistung zuvorkommt. Mit Unrecht verneint man, daß in diesem Falle die Klage erfolgreich gewesen sei. Den Erfolg einer Verurteilung des Beklagten hat sie freilich nicht gehabt, aber nur deshalb, weil dieser Zwischenerfolg überflüssig geworden ist durch den ohne ihn eingetretenen Enderfolg der Realisierung des geltend gemachten Rechtes. Und kann etwa der Kläger hier nicht die Verurteilung des Beklagten als der unterlegnen Partei in die Kosten verlangen? Wie hier die Klage ohne Urteil Erfolg hat, so kann er ihr trotz der Verurteilung des Beklagten versagt bleiben durch die Unmöglichkeit oder Erfolglosigkeit der Zwangsvollstreckung. Von den Klagen, die eine durch den Beklagten oder durch Zwangsvollstreckung gegen ihn zu bewirkende Änderung bezwecken, sind solche zu unterscheiden, die eine Änderung des bestehenden Zustands durch richterliches Urteil bezwecken. Während im Falle jener die bezweckte Änderung eintreten kann ohne Urteil und nicht eintreten kann unmittelbar durch das Urteil, so ist dieses dafür hier sowohl erforderlich als genügend. Da es nicht eine reale Tat, sondern lediglich ein Ausspruch eines Staatsorgans ist, so kann auch die Änderung, die es bewirkt, nicht eine reale, sondern nur eine rechtliche sein. Es gibt rechtliche Änderungen, die sowohl durch Privatakt als durch den Ausspruch eines Staatsorgans bewirkt werden können, und daher auch Klagen, deren Erfolg sowohl durch das Verhalten des Beklagten als durch gerichtliches Urteil eintreten kann. Hier wird zunächst jenes durch die Klage begehrt und durch das ihr stattgebende Urteil anbefohlen, tritt aber, wenn es trotzdem unterbleibt, die bezweckte Änderung unmittelbar durch das Urteil ein. Da es der Zweck der Verurteilung ist, die durch sie anbefohlene Änderung herbeizuführen, so ist jene Wirkung nicht eine Abnormität, sondern eine größere Vollkommenheit solcher Urteile, deren sie im Gegensatze zu andren fähig sind, weil die durch diese anbefohlene reale Änderung nicht durch sie selbst eintreten kann. Neben den Klagen, die eine Änderung des gegenwärtigen Zustandes als eines dem Rechte des Klägers nicht gemäßen bezwecken, gibt es noch andre. Man nennt sie Feststellungsklagen und setzt ihnen insbesondere entgegen die Leistungsklagen, von denen sie sich dadurch unterscheiden, daß sie eine Leistung des Beklagten nicht begehren. Da das auch die ihren Zweck durch das richterliche Urteil erreichenden sog. Rechtsgestaltungsklagen nicht tun, so unterscheidet man nach ihrem Zwecke drei Arten von Klagen. Doch ist der Zweck der Änderung des gegenwärtigen Zustandes als eines dem Rechte des Klägers nicht gemäßen den Leistungsklagen und Rechtsgestaltungsklagen gemeinsam. Dagegen bezwecken die Feststellungsklagen vielmehr die Verhütung der besorgten künftigen Existenz eines dem Rechte des Klägers nicht gemäßen Zustandes. Weder ist das Begehren richterlicher Feststellung ihnen ausschließlich eigen noch ist sie ihr letzter Zweck. Sie kann nach der Bestimmung unserer ZPO begehrt werden im Falle eines rechtlichen Interesses daran, daß sie alsbald erfolge. Was ist damit gemeint? Es ist als selbstverständlich vorausgesetzt, daß ohne weiteres klagen kann, wer dem andren gegenüber ein fälliges 976

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Recht auf eine Änderung des bestehenden Zustandes hat. Wer dagegen ein solches nicht hat, kann nur klagen im Fall eines besonderen Interesses daran, daß schon jetzt eine Feststellung der bestimmten Rechtslage erfolge. Dieses Interesse muß ein praktisches sein. Man hat als den wesentlichen Prozeßzweck die Rechtsgewißheit bezeichnet, und allerdings kann ich an ihr ein großes selbständiges Interesse haben. Bin ich meines Eigentums an einer von mir besessenen Sache nicht gewiß, so kann mir viel an der Hebung dieser Ungewißheit liegen, weil ich als gewissenhafter Mensch mich ihrer nicht als der meinigen bedienen mag ohne Gewißheit darüber, daß sie die meinige ist. Ich kann aber kein Gericht zu diesem Zwecke anrufen. Ich kann dies auch dann nicht, wenn ein anderer mein Eigentum bestreitet, aber keine Miene macht, mir die Sache abzunehmen oder abzufordern. Und wenn ich es könnte, so wäre jener Zweck durch meine Klage nicht erreichbar. Ich kann durch meine Klage die richterliche Prüfung der Frage meines Eigentums weder dann erwirken, wenn der Beklagte ausbleibt, noch dann, wenn er es anerkennt oder auch nur die von mir vorgetragenen es ergebenden Tatsachen nicht bestreitet. Nur dann ist eine Feststellungsklage begründet, wenn dem Beklagten gegenüber zwar noch nicht ein meinem Rechte nicht gemäßer Zustand, aber die Besorgnis zukünftiger Existenz eines solchen besteht, und die Klage bezweckt die Beseitigung dieser Besorgnis. Gleich der Leistungsklage kann sie ihren Zweck auch schon erreichen durch das ihr stattgebende, das Urteil überflüssig machende Verhalten des Beklagten, und gleich einer solchen kann sie ihn trotz des ihr stattgebenden Urteils verfehlen, weil der Beklagte sich nicht diesem gemäß verhält. Erfolglosigkeit der Praevention begründet das Bedürfnis der Reaktion, die sich für diesen Fall als eine eventuelle mit jener verbinden kann. Man bezeichnet als besondere Fälle der Leistungsklagen die Unterlassungsklage und die Klage auf künftige Leistung. Diese bezweckt aber in erster Linie die rechtzeitige Leistung als eine solche, von der zu besorgen ist, daß sie ohne die Klage unterbliebe, und die sog. Verurteilung zur künftigen Leistung hat, wenn rechtzeitig geleistet wird, nie die Änderung eines dem Rechte des Klägers nicht gemäßen Zustandes anbefohlen, erlangt vielmehr die Bedeutung einer wirklichen Verurteilung erst, wenn die Leistung, trotz ihrer inzwischen eingetretenen Fälligkeit unterbleibt. Ebenso bezweckt die Unterlassungsklage und das ihr stattgebende Urteil zunächst das Unterbleiben des Tuns, dessen Besorgnis sie geltend macht, kann aber mit diesem Zwecke für den Fall, daß die Zuwiderhandlung doch erfolgt, den Zweck ihrer Ahndung verbinden, wodurch sie jedoch für diesen Fall die Unterlassung nicht als eine solche geltend macht, die erfolgen soll, sondern als eine solche, die hätte erfolgen sollen. Wie eine Feststellungsklage zugleich eine eventuelle Leistungsklage sein kann, so ist umgekehrt die Leistungsklage für den Fall, daß sie ihren nächsten Zweck nicht ohne Urteil erreicht, zugleich eine Feststellungsklage; denn sie begehrt für ihn die Feststellung des durch sie geltend gemachten Rechtes als eine solche, die nicht nur die Beseitigung seiner gegenwärtigen, sondern auch die Verhinderung seiner künftigen Verletzung bezweckt; wie noch zu zeigen sein wird. Es ist eine wichtige Frage, ob eine bestimmte Rechtslage durch Klage geltend gemacht werden kann. Die dieser Geltendmachung fähige Rechtslage ist ein Klag977

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recht. Man hat neuerdings die Berechtigung dieses Begriffes verneint, da es sich von selbst verstehe, daß, wer ein Recht habe, es auch durch Klage geltend machen könne. Dem gemäß hat namentlich der erste Entwurf des BGB es ganz unterlassen, von der zum Zwecke der Geltendmachung bestimmter Rechtslagen bestehenden oder nicht bestehenden Möglichkeit der Klage zu reden, wobei er freilich mit dem Wort nicht auch die Sache vermieden hat; denn er bestimmt mehrfach die Möglichkeit etwas zu verlangen so, daß damit nichts andres als die Möglichkeit der Klage gemeint ist. Das Gesetz selbst redet oft von dieser und erkennt dadurch unzweideutig an, daß die Privatrechtslehre Ursache hat, ihrer zu gedenken. Mit Unrecht behauptet man denn auch, für das Leben existiere sie nicht als ein besondres und wichtiges Moment; vielmehr hört man gar oft die Frage, ob im Fall einer bestimmten Rechtslage eine Klage möglich sei. Da diese Frage es zu tun hat mit dem Privatrechte als einem Gegenstande gerichtlicher Geltendmachung, für die sowohl dessen als deren Natur Bedeutung hat, so finden wir Bestimmungen darüber sowohl in Privatrechtsgesetzen als in Prozeßgesetzen. Sie haben es namentlich zu tun mit der Möglichkeit der Klage wegen einer nur besorgten Rechtsverletzung und bestimmen, daß der Richter diese sonst seiner Würdigung überlassene Besorgnis in Fällen bestimmter Art als zutreffend anzunehmen hat. Dagegen wird durch unsre Gesetze nicht erst bestimmt, sondern vorausgesetzt, daß ich im Falle eines meinem Rechte nicht gemäßen Zustandes, dessen Änderung durch eigene Tat mir einem anderen gegenüber nicht zusteht, gegen diesen klagen kann. Es gibt aber Fälle, in denen dies nicht gilt, weil mein Recht nicht stark genug ist, um gegen den Willen des andren realisierbar zu sein. So in den Fällen der römischen naturales obligationes sowie nach heutigem Recht im Fall des Verlöbnisses. Die Fassung des ersten Entwurfes, daß es eine Verbindlichkeit zur Schließung der Ehe nicht begründe, wurde vom Gesetze durch die andre ersetzt, daß aus einem Verlöbnisse nicht auf Eingehung der Ehe geklagt werden könne. Damit ist verneint, daß es ein der Geltendmachung durch Klage fähiges Recht, aber nicht, daß es überhaupt ein Recht begründet. Der Rücktritt vom Verlöbnisse verpflichtet zu Schadensersatz, wenn nicht ein wichtiger Grund für ihn vorliegt. Das Gesetz verschmäht es, den untreuen Verlobten zur Eheschließung zu zwingen, weshalb der Rücktritt auch ohne wichtigen Grund möglich ist. Erfolgt er aber ohne solchen, so besteht eine Rechtsverletzung, deren Beseitigung durch Klage jedoch nicht möglich ist. Eine besondere Rolle spielte früher der Begriff des Klagrechtes in der Verjährungslehre, indem man als Objekte der Verjährung oder des Wegfalles durch langes Ausbleiben ihrer Ausübung die Klagen im Sinne der Klagrechte bezeichnete. Natürlich verjähren sie nur als Rechte auf Beseitigung einer Rechtsverletzung, da jede Verjährung eine Bedeutung der bisherigen Dauer eines Zustandes zugunsten seiner ferneren Dauer ist, während die Besorgnis einer zukünftigen Rechtsverletzung nicht durch ihre Dauer zu einer solchen werden kann, die keine Klage mehr begründet. Das BGB nennt als Objekt der Verjährung anstatt der Klage den Anspruch, den es bestimmt als das Recht, von einem Andern ein Tun oder Unterlassen zu verlangen. Es läßt sie beginnen mit seiner Entstehung, aber für den Anspruch auf ein Unterlassen mit der Zuwiderhandlung, durch die er nicht entsteht, sondern wegfällt, 978

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weil von ihr an die Unterlassung nicht mehr verlangt werden kann oder erfolgen soll, sondern nur noch verlangt werden konnte oder hätte erfolgen sollen. Man streitet darüber, ob im Fall geschuldeter späterer Leistung schon jetzt ein Anspruch besteht. Gewiß kann man etwas erst für spätere Zeit verlangen und zu verlangen haben. Ebenso gewiß ist aber mein Recht auf Zahlung erst verletzt, wenn ich zu einer Zeit noch nicht bezahlt bin, zu der ich bezahlt sein sollte, und regelmäßig beginnt erst dann seine Verjährung. Ist sie eingetreten, so ist es noch nicht ganz erloschen. Erfolgt noch später Zahlung, so ist sie nicht Schenkung, sondern Tilgung einer Verbindlichkeit. Erfolgt spätere vertragsmäßige Anerkennung dieser, so kann wieder Zahlung verlangt werden. Besitze ich ein Pfand, so kann ich mich aus ihm befriedigen. Konnte ich, weil wir einander Gleiches schuldeten, beide Forderungen durch Aufrechnung tilgen, so kann ich dazu gegenüber der fremden Forderung die meinige auch dann verwenden, wenn sie inzwischen verjährt ist. Dazu kommt, daß die Verjährung stille steht, so lange gewisse Hindernisse der Klage bestehen, und daß die abgelaufene Verjährungszeit ihre Bedeutung verliert durch gerichtliche, aber nicht durch private Geltendmachung des bestimmten Rechtes, sowie durch seine Anerkennung gegenüber dem Berechtigten, wegen deren dieser glauben durfte, zu seiner Realisierung der Klage nicht zu bedürfen. So ergibt sich, daß die Verjährung sowohl das Recht aufhebt, den bestimmten Erfolg durch Belangung des anderen zu erlangen, während seine sonstige Erlangung möglich bleibt, als auch ihren Grund hat im Ausbleiben der Geltendmachung jenes Rechtes. Mit der richterlichen Erledigung der erhobenen Klage durch ihre Abweisung hat der Ausschluß der nicht erhobenen Klage durch Verjährung gemein, daß dadurch möglicher Weise, aber auch nur möglicher Weise, ein bisher bestehendes Klagrecht erlischt. Wie die Abweisung der Klage die Nichtexistenz des von ihr aberkannten Rechtes unabhängig davon begründet, ob es bisher bestand, aber doch namentlich dazu bestimmt ist, die Geltendmachung nicht bestehender Rechte zu vereiteln, so tilgt die Verjährung zwar auch Rechte, die bisher bestanden, ist aber namentlich dazu bestimmt, die Geltendmachung solcher Rechte auszuschließen, die schon aus einem andern Grunde nicht bestanden, dessen Prüfung durch die Verjährung wegfällt. Während aber die Abweisung der Klage die ganze Existenz der durch diese geltend gemachten Rechtslage ausschließt, so schließt die Verjährung nur deren Eigenschaft aus, durch Klage geltend gemacht werden zu können. Auch ihr Ausschluß ist aber nicht ein bloßer Ausschluß der Klage, die ohne ihn zur Zeit platzgriffe. Ist z. B. die Eigentumsklage gegenüber dem Besitzer verjährt, so begründet nicht nur sein gegenwärtiger, sondern auch sein späterer Besitz nicht mehr die Möglichkeit jener. Und wenn, wie wir gesehen haben, die Möglichkeit einer Feststellungsklage keine Verjährung begründet, so kann sie doch durch Verjährung ausgeschlossen sein. Kann ein Recht wegen der Dauer seiner bisherigen Verletzung auch ihrer Erneuerung gegenüber nicht mehr durch Klage geltend gemacht werden, so kann um so weniger die bloße Besorgnis ihrer zukünftigen Erneuerung eine solche begründen. Man hat neuerdings dem durch die Klage geltend gemachten Rechte als dem Privatrechtsanspruch das Recht seiner gerichtlichen Geltendmachung als Rechts979

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schutzanspruch entgegengesetzt. Faßt man aber mit dem BGB den Anspruch als das Recht auf ein Tun oder Unterlassen eines andren, so ist Objekt der gerichtlichen Geltendmachung weder nur ein Anspruch noch jeder Anspruch im Sinne des Privatrechtes. Und der Name des Rechtsschutzanspruchs bezeichnet das Klagrecht als einen Anspruch gegen das Gericht. Es ist aber vielmehr eine bestimmte Rechtslage gegenüber dem ihrer gerichtlichen Geltendmachung Ausgesetzten. Und auch die sie geltendmachende Klage erhebt einen Anspruch nicht ausschließlich gegen das Gericht, sondern, wenn sie durch das ihr abhelfende Verhalten des Beklagten erledigt werden kann, zunächst gegen ihn und nur für den Fall, daß dieser Anspruch nicht befriedigt wird, gegen das Gericht. Und im Gegensatze zum Anspruche gegen den der Klage Ausgesetzten entsteht der Rechtsschutzanspruch gegen das Gericht erst durch die Klage, vor deren Erhebung es dem Kläger Rechtsschutz zukommen zu lassen weder verpflichtet noch berechtigt ist. Es ist aber ein wesentlicher Unterschied zwischen der Erledigung der Klage durch das Verhalten des Beklagten und durch das Urteil des Gerichtes. Das ihr abhelfende Verhalten des Beklagten erledigt sie nur als reales und gestattet ihm die spätere Geltendmachung des Umstandes, daß es nicht geschuldet, also die Klage nicht begründet war. Die Klage des Gläubigers ist noch nicht erledigt durch Anerkenntnis des Schuldners, das vielmehr seine Verurteilung begründet. Sie wird aber erledigt durch Zahlung vor dem Urteil, die jedoch die condictio indebiti zuläßt. Wäre diese zu besorgen, weil etwa mit der Leistung die Erklärung verbunden wurde, sie sei nicht geschuldet, so wäre zwar die Leistungsklage erledigt, aber eine Feststellungsklage begründet. Die jener stattgebende Verurteilung kann den bezweckten realen Erfolg nicht selbst bewirken, sondern nur durch die dem Verurteilten für den Fall ihrer unterbleibenden Befolgung drohende Zwangsvollstreckung sicherstellen. Sie stellt aber das Recht darauf als ein solches fest, wegen dessen der Verurteilte nicht nur leisten oder die Zwangsvollstreckung erdulden muß, sondern auch das Geleistete nicht mehr zurückfordern kann. Durch diese seine Rechtskraft sichert das Urteil nicht nur den Eintritt, sondern auch den ferneren Bestand des durch die Klage bezweckten Erfolges, und es widerspricht ebenso dem Wesen der Rechtskraft wie dem praktischen Bedürfnisse, wenn man behauptet, daß der auf Grund der Eigentumsklage zur Herausgabe Verurteilte später jene gegen den damaligen Kläger erheben könne, weil das Urteil nur dessen damaligen Anspruch auf Herausgabe festgestellt habe. Wie das der Klage stattgebende Urteil die Existenz, so stellt das sie abweisende Urteil die Nichtexistenz des durch sie geltend gemachten Rechtes fest und sichert dadurch den Beklagten auch gegen den Versuch seiner erneuten Geltendmachung. Diese Feststellung ist aber nicht eine Konstatierung der Rechtslage, die bisher bestanden hat. Allerdings ergeht das Urteil in der Regel auf Grund ihrer Prüfung, die jedoch ausgeschlossen sein kann. So ergeht ohne solche sowohl das der Klage stattgebende Anerkenntnisurteil als das sie abweisende Versäumnisurteil. Und auch wo eine Prüfung der bisherigen Rechtslage erfolgt, erstreckt sie sich zwar auf alle dafür maßgebenden Rechtsnormen, aber auf die dafür maßgebenden Tatsachen nur insoweit, als sie dem Richter vorgetragen und nicht durch die Partei, zu deren 980

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Ungunsten sie gereichen, bestritten sind. Endlich kann seine Prüfung ergebnislos bleiben, was aber nicht das Urteil ausschließt, sondern die Abweisung der Klage begründet. Ob das Klagrecht bestand oder nicht, ergibt sich durch das Urteil nicht, wird vielmehr durch seine Rechtskraft gleichgültig. Hat es der Klage auf Zahlung stattgegeben oder sie abgewiesen, so steht nicht fest, daß der Beklagte zu zahlen oder nicht zu zahlen hatte, wohl aber, daß er zu zahlen oder nicht zu zahlen hat, wie es auch bisher sich damit verhalten haben mag. So wünschenswert die Übereinstimmung der durch das Urteil begründeten Existenz oder Nichtexistenz der Zahlungspflicht mit ihrer bisherigen Existenz oder Nichtexistenz und eine sie möglichst fordernde Einrichtung des Prozesses ist, so tritt doch stets durch das Urteil an die Stelle der bisherigen Rechtslage eine neue, die auch dann, wenn sie denselben Inhalt hat wie jene, nicht mehr auf demselben Grunde, sondern auf dem Grunde des ergangenen Urteils ruht. Dies ist das Wesen der sog. prozessualischen Konsumtion, die man mit Unrecht für spezifisch römisch erklärt. Eine Besonderheit des altrömischen Rechtes war es, daß die zum Objekte des iudicium erhobene Forderung auch dann nicht mehr anderweitig geltend gemacht werden konnte, wenn das iudicium ohne Urteil erlosch. Im Wesen des richterlichen Urteils liegt es aber, daß es die bisherige Rechtslage durch eine neue ersetzt, wodurch die Frage, wie es sich mit jener verhielt, nicht sowohl beantwortet wird als wegfällt. Das Klagrecht hat bis zum Urteil vielleicht bestanden und vielleicht nicht bestanden, besteht aber jedenfalls nach ihm nicht mehr, und zwar weder nach einem die Klage abweisenden Urteil, das ihre Erneuerung nicht zuläßt, noch nach einem ihr stattgebenden Urteil, das sie gleichfalls erledigt und im Fall eines durch sie erbetenen durch Urteil zu bewirkenden Rechtserfolges ihn bewirkt, aber auch im Fall der erbetenen richterlichen Anerkennung einer bestimmten Rechtslage als einer bereits bestehenden ihre nunmehrige Existenz unabhängig von ihrer bisherigen Existenz begründet. Wie die allgemeineren Bezeichnungen des Rechtes und des Anspruches, so sind auch die Bezeichnungen des Klagrechtes und des Rechtsschutzanspruches vieldeutig und eine beredte Warnung vor der so verbreiteten Überschätzung der Namen. Ganz besonders finden wir bei neueren Juristen diese und eine merkwürdige darauf beruhende Intoleranz in Beziehung auf den Namen des Rechtes. Da soll es z. B. kein Recht genannt werden dürfen, zum Reichs- oder Landtag wählen oder gar gewählt werden zu können. Soll etwa, wer diese Wählbarkeit durch ein neues Gesetz verliert, nicht über Verkürzung seiner Rechte klagen dürfen? Ein mir zustehendes Recht ist jede zu meinen Gunsten bestehende Rechtslage und nicht etwa nur, wie manche wollen, eine rechtliche Macht. Der Inhalt jener Rechtslage kann auch lediglich ein negativer sein, sodaß ein Recht gleich der rechtlichen Macht auch die rechtliche Freiheit ist. Und ich habe Rechte nicht nur als Subjekt eigner, sondern auch als ein Objekt fremder rechtlicher Macht, dem ihr Subjekt ihre Verwendung zu seinem Besten schuldet. So hat das Kind ein Recht auf Erziehung, das keine Macht desselben, sondern eine Pflicht der Menschen bedeutet, die Macht über es haben. Die Frage, welche Ausdehnung dem Begriffe des subjektiven Rechtes zukommt, berührt unmittelbar unser Thema; denn die der Geltendmachung durch Klage einer 981

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bestimmten Person fähige Rechtslage kann nur dann ein Klagrecht dieser sein, wenn sie überhaupt ein Recht derselben ist. Die Feststellungsklage verlangt nach § 256 ZPO die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses. Sein Nichtbestehen ist aber ein Bestehen einer gegenteiligen Rechtslage, und diese muß zugunsten des Klägers bestehen, da er sonst kein rechtliches Interesse an ihrer Feststellung haben kann. Wenn das Gesetz als ein besondres Objekt der Klage die Anerkennung einer Urkunde oder Feststellung ihrer Unechtheit nennt, so konstatiert auch hier das der Klage stattgebende Urteil nicht die wirkliche Echtheit oder Unechtheit der Urkunde, deren Prüfung dem Richter möglicher Weise gar nicht zukam; vielmehr bewirkt es ihre rechtliche Geltung als einer echten oder unechten für die davon abhängenden gegenseitigen Rechtsbeziehungen der Parteien. Und für die Klage genügt nicht die abstrakte Möglichkeit solcher Beziehungen, die ein rechtliches Interesse an der alsbaldigen Feststellung nicht begründet; sondern die Klage muß die Echtheit oder Unechtheit der Urkunde als eine dem Kläger rechtlich günstige und damit eine ihm günstige Rechtslage geltend machen. Hat man für die Feststellungsklage verneint, daß sie überhaupt ein Recht des Klägers geltend mache, so hat man im übrigen das Klagrecht für ein zu dem durch die Klage geltend gemachten Rechte hinzukommendes Recht erklärt. Es ist aber nicht ein solches. Gewiß gibt es ein Recht, gerichtliche Klage zu erheben, das darum nicht weniger ein Recht ist, weil jeder voll Handlungsfähige es hat. Zu den Einschränkungen, die man für den Begriff des Rechtes willkürlich angenommen hat, gehört auch seine Beschränkung auf eine Rechtslage, die ihrem Subjekte im Gegensatz zu anderen eigen ist, und namentlich sein Ausschluß bezüglich der nicht durch eine solche gegebenen Möglichkeit rechtsgültigen Handelns. Mein Recht ist nicht nur, was mir als dieser von jeder andern verschiedenen Person, sondern auch was mir deshalb zukommt, weil ich ein Gemeinde-, Staats- oder Reichsangehöriger oder überhaupt ein Rechtssubjekt bin, und sehr mit Unrecht verneint man, daß meine Rechte verkürzt werden durch die von mir erlittene Entziehung einer mir bisher zukommenden Geschäftsfähigkeit. Würden Menschen, die bisher rechtsgültig klagen konnten, von dieser Möglichkeit ausgeschlossen, so würde ihnen ein Recht entzogen. Auch dieses kann man ein Klagrecht nennen. Es hat aber nichts zu tun mit dem Klagrecht in unserem Sinn, ist unabhängig von dessen Existenz und gehört ausschließlich dem öffentlichen Rechte an. Ein Anspruch gegen das zur gesetzmäßigen Behandlung der Klage verpflichtete Gericht ist es nicht; denn ein solcher entsteht erst durch ihre Erhebung. Er entsteht dadurch nicht nur für den Kläger, sondern ebensogut für den Beklagten. Auch er kann ein Klagrecht genannt werden, als ein durch die Klage begründetes Recht, das aber wesentlich zu unterscheiden ist von dem sie begründenden Rechte. Auch ein Rechtsschutzanspruch kann er genannt werden im Sinne des Anspruchs auf den Rechtsschutz, den nach dem Gesetze das Gericht der betreffenden Partei schuldet. Nach dem Gesetze schuldet es aber dem Kläger oder dem Beklagten ein ihm günstiges Urteil nicht in Gemäßheit der wirklichen Existenz oder Nichtexistenz der von jenem geltend gemachten Rechtslage, deren Konstatierung ihm nicht nur tatsächlich unmöglich, sondern auch rechtlich verwehrt sein kann. Wenn seine Entscheidung der wirklichen Rechtslage kann 982

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widersprechen müssen, so kann es kein Recht auf eine dieser gemäße Entscheidung geben. Die durch meine Klage geltend gemachte Rechtslage verheißt mir den Sieg jener nicht schlechthin, sondern nur für den Fall, daß es zur Existenz dieser für das Gericht kommt. Und so versteht auch der Laie die Frage, ob er unter bestimmten Umständen klagen kann. Er weiß wohl, daß seine Klage wegen mangelnden Beweises trotz der Existenz des durch sie geltend gemachten Rechtes unterliegen und daß sie trotz seines Fehlens durch Anerkenntnis, Geständnis oder Versäumnis des Beklagten durchdringen kann. Er fragt aber nach ihrem Erfolge für den Fall, daß die wirklich existierende Rechtslage zu einer für den Richter existierenden wird. Dem Durchdringen der Klage steht gegenüber ihre Abweisung als eine solche, durch die das Klagrecht ohne Befriedigung wegfällt. Wer es geltend macht, setzt es zugleich aufs Spiel. Indem er dem Beklagten gegenüber Entscheidung verlangt, macht er ihm gegenüber von ihr die fernere Gestaltung der zu ihrem Objekte erhobenen Rechtslage abhängig. Diese Wirkung des Prozesses ist dem Laien keineswegs fremd, wogegen es merkwürdigerweise hervorragende Juristen gibt, die meinen, das richterliche Urteil ändre, soweit es nicht einer Klage stattgebe, die eine richterliche Rechtsänderung bezweckt, die bisherige Privatrechtslage nicht. Natürlich ändert es sie nur soweit es über sie entscheidet und daher regelmäßig nicht bezüglich ihrer Existenz für Dritte. Daß man geglaubt hat, die Bezeichnung des Klagrechtes durch die Bezeichnung des Anspruchs ersetzen zu können, beruht namentlich auf der den Klagrechten mit den Privatrechtsansprüchen gemeinsamen Eigenschaft, Beziehungen des Berechtigten zu einer bestimmten andern Person zu sein. Die Natur dieser Beziehungen ist aber nicht die gleiche. Der Privatrechtsanspruch besteht gegenüber dem andren als einem zu einem bestimmten Verhalten gegen sein Subjekt verpflichteten. Auch der Beklagte kann dem Kläger als ein solcher gegenüberstehen, was aber im Fall der Feststellungsklage nicht notwendig und im Fall der Klage auf eine nur durch Richterspruch bewirkbare Rechtsänderung ausgeschlossen ist. Als Objekt seiner gerichtlichen Geltendmachung erfährt das Privatrecht die Hilfe des Staates zum Zwecke der Realisierung und Erhaltung des ihm gemäßen Zustandes. Es kann sie aber nicht begehren, ohne für den Fall ihrer Versagung seine Existenz einzubüßen, wodurch diese in Abhängigkeit von den für die Gewährung jener maßgebenden Normen des öffentlichen Rechtes gerät. Den Zusammenhang des Privatrechts mit dem öffentlichen Rechte hat das BGB wenig beachtet. Es hat die Eigenschaft des Privatrechtes, ein Objekt gerichtlicher Geltendmachung zu sein, nicht besonders ins Auge gefaßt im Anschluß an Bernhard Windscheid, einen großen Juristen, den zu den ihrigen haben zählen zu dürfen unsre Universität und meine Fakultät stolz ist, aber ausschließlich Privatrechtsjuristen. Als Prozessualisten, die diesen Gegenstand nach verschiedenen Richtungen gefördert haben, von denen allen ich mich aber durch meine Bestimmung des Klagrechts als einer besonderen Privatrechtlage unterscheide, erwähne ich neben meinem Kollegen Adolf Wach zwei frühere Zierden meiner Fakultät: Oskar Bülow und Heinrich Degenkolb. Dieser vortreffliche, zu unserem Schmerz auch nicht mehr unter den Lebenden weilende Mann hat darüber noch neuerdings in hohem Alter und trotz großer körperlicher Hemmung mit bewundernswerter Geisteskraft gehandelt. Ich schließe mit der 983

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Mahnung an unsere geliebte akademische Jugend, auf die Entfaltung ihrer geistigen Kräfte eifrig bedacht zu sein und sich dazu der Hilfsmittel fleißig zu bedienen, die ihr dafür unsere alma mater in so reichem Maße darbietet. ***

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31. Oktober 1910. Rede des abtretenden Rektors Dr. Eduard Hölder. Bericht über das Studienjahr 1909/10. Hochansehnliche Versammlung! Kollegen! Kommilitonen! Beim Rückblick auf das verflossene Universitätsjahr gedenken wir vor Allem der auch in ihm uns in reichem Maße zuteil gewordenen Huld unsres Königs und Rector Magnificentissimus. Vom 15.–17. Februar dieses Jahres besuchte uns Seine Majestät und hörte Vorlesungen bei den Kollegen Strohal, Stieda, Rabl, Chun, Ihmels und Bethe, besichtigte außerdem die Erdbebenwarte, das Institut für Kultur- und Universalgeschichte nebst dem Seminar für Landesgeschichte und Siedelungskunde, sowie das Crednerepidiaskop, und wohnte auch dem Schauturnen des akademischen Turnabends bei. Am 25. Mai feierten wir Königs Geburtstag mit einer Festrede des Prorektors Dr. Binding. Am Jahrestage des Anfangs unsres vorjährigen Jubiläums erfreute uns Seine Majestät durch ein daran erinnerndes Telegramm. Am 10. Juli durfte der Rektor mit dem Prorektor Seiner Majestät den Festbericht über das Jubiläum persönlich überreichen, durch dessen Abfassung der Prorektor Dr. Binding seinen großen Verdiensten um unser Jubiläum das weitere beigefügt hat, für die dauernde Erhaltung des Andenkens daran aufs Würdigste zu sorgen. Am heutigen Reformationsfeste soll nicht unerwähnt bleiben, daß wir zur Borromäusenzyklika Stellung genommen haben durch ein Danktelegramm des Rektors an Seine Majestät den König für Sein landesväterliches Eintreten gegen sie, sowie durch eine von ungefähr 2000 Studierenden besuchte Protestversammlung unter Leitung unsres Kollegen Lamprecht. Am 1. Oktober erfolgte ein Wechsel in der Person des Kreishauptmanns und Regierungsbevollmächtigten bei unsrer Universität durch den Rücktritt Seiner Exzellenz des Freiherrn Dr. v. Welck und den Eintritt des bisherigen Chemnitzer Kreishauptmanns Herrn von Burgsdorff. Wir danken dem bisherigen Kreishauptmann für das von ihm der Universität stets entgegengebrachte warme und verständnisvolle Interesse, zu dessen gleicher Bewährung durch seinen Nachfolger wir volles Vertrauen haben. Am 9. und 10. Februar hielt in unsrer Aula zwei Vorlesungen darüber, „wie die öffentliche Meinung in Amerika regiert“, der Inhaber der Berliner Rooseveltprofessur Präsident Wheeler von der Berkeley-Universität in Kalifornien. Unter den Instituten der Universität, denen, wie der ganzen Hochschule, die Königliche Staatsregierung auch in diesem Jahre wieder die umfassendste und förderlichste Fürsorge zugewendet hat, feierte seinen hundertsten Geburtstag das klassisch-philologische Seminar am 8. Dezember vorigen Jahres und das Triersche Institut am 29. Oktober dieses Jahres. Am gleichen Tag erfolgte die Einweihung des neuen zahnärztlichen Instituts. 985

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Bei dem am 10.–13. Oktober dieses Jahres glanzvoll gefeierten hundertjährigen Jubiläum der Berliner Universität war die unsrige durch den Rektor vertreten, der eine von Prof. Steiner-Prag kunstvoll ausgeführte Adresse überreichte. Reiche Zuwendungen wurden wieder unsrer Universität zuteil. Der am 23. August hier verstorbene Referendar Walter Mey ernannte sie zur Vorerbin seines Nachlasses von ungefähr 350 000 Mk., dessen Nutzungen nach ministerieller Verordnung dem Korporationsvermögen zufließen. Der Studienrat Prof. Dr. Alfred Masius in Döbeln, Sohn unsres früheren Kollegen Hermann Masius, hinterließ 20 000 Mk. als Stipendienstiftung für Studierende der Geschichte und Germanistik, vorzugsweise Abiturienten des Realgymnasiums in Döbeln. Die Leipziger ökonomische Sozietät begründete für Studierende der Landwirtschaft eine Stipendienstiftung mit 10 000 Mk. Kapital. Die im April 1892 mit 5000 Mk. Kapital anonym errichtete Konvikthilfskasse erhielt, nachdem sich ihr Stifter genannt hatte, nach seinem Wunsch seinen Namen als „Dr. Meltzers Konvikthilfskasse.“ Der am 14. August 1910 verstorbene Geh. Justizrat Josef Flügel hat der Universität zur Erinnerung an seinen Vater, den 1870 verstorbenen Orientalisten Prof. Dr. Gustav Lebrecht Flügel, 60 000 Mk. vermacht als legatum Flügelianum zum Zwecke des Drucks von wahrhaft wissenschaftlichen Werken aus dem Gebiete der orientalischen Sprachen, insbesondre der arabischen und persischen. Dem Trierschen Institut hat bei seinem Jubiläum die Stadt Leipzig zwei Stiftungen mit einem Kapital von je 5000 Mk. zugewendet. Für die Hilfs- und Töchterpensionskasse stiftete Prof. Dr. jur. Beer 10 000 Mk., erhöhte Dr. Willmar Schwabe seine Jubiläumsstiftung von 15 000 Mk. um 10 000 Mk. und wurde die Dr. Hintze-Stiftung von 10 000 Mk. um 5000 Mk. vergrößert durch eine Spenderin, die nicht genannt sein will. Dem Institut für Kultur- und Universalgeschichte ist schon seit dem Jahr 1906 eine große Zahl zum Teil sehr bedeutender in den Rektoratsberichten der früheren Jahre nicht erwähnter Zuwendungen gemacht worden. In diesem Jahre haben ihm Gelder zugewendet die Herren Ernst Fritzsche, Kommerzienrat Nauhardt, Kommerzienrat Rehwoldt, Edgar Herfurth, Kommerzienrat Nachod, Prof. Dr. Beer, Oskar Meyer und Prof. Dr. Biermann. Auch dem archäologischen Institute sind wieder zahlreiche Geschenke zugekommen, so kleinere Antiken von Frl. Marianne Brockhaus hier und von ehemaligen Mitgliedern des Instituts, den Doktoren Kurt Müller, Walter Müller, Hans Nachod und Martin Scheck, namentlich aber ein großer Geldbetrag von dem Verlagsbuchhändler Hofrat Dr. Credner, der den Ankauf einer Reihe wichtiger Antiken in Rom ermöglicht hat. Mehrere Bücherschenkungen erhielt die Bibliothek. Wir danken allen Spendern herzlich für ihre Gaben, die hoffentlich reichen Segen stiften werden. Was die Änderungen im Lehrkörper betrifft, so haben wir leider eine Reihe schmerzlicher Todesfälle zu verzeichnen. 986

Jahresbericht 1909/10

Die juristische Fakultät verlor am 7. September d. J. ihren Senior, den Doktor der Rechte und Ehrendoktor der Theologie Geh. Rat Emil Friedberg. Geboren am 22. Dezember 1837 war er seit 1869 der unsrige als ordentlicher Professor des Kirchen-, Staats- und Völkerrechts, des deutschen und des Handelsrechts. Seine wissenschaftliche Arbeit galt neben der von ihm gern behandelten Geschichte unsrer Universität und namentlich seiner Fakultät ganz vorwiegend dem Kirchenrechte, dessen erste Autorität wir in ihm zu besitzen das Glück hatten. Er war ein schneidiger Vertreter der Rechte des Staates gegenüber der Kirche, mit deren Verfechtung er sowohl tief eindringende eherechtliche als quellenkritische Arbeiten verband, darunter das monumentale Werk seiner Ausgabe des Corpus Iuris Canonici. Eine systematische Darstellung von größter Bedeutung widmete er zuerst dem Verfassungsrechte der deutschen evangelischen Landeskirchen und dann dem ganzen katholischen und protestantischen Kirchenrechte, dessen Gesamtdarstellung durch ihn das führende Lehrbuch unsrer Zeit ist. Gleich seiner Lehrtätigkeit war seine sonstige Wirksamkeit an unsrer Universität und für sie von ganz außerordentlicher Ausdehnung, Mannigfaltigkeit und Fruchtbarkeit, deren große Erfolge namentlich auf der ihm durchweg eigenen Klarheit und Sachlichkeit beruhten. Jedes Pathos, aber auch jede Phrase war ihm fremd, und bei aller sachlichen Entschiedenheit entbehrte er ganz persönlicher Schroffheit, wodurch seine Mitwirkung jeder kollegialischen Verhandlung förderlich war. Die medizinische Fakultät verlor am 6. Mai den Direktor der medizinischen Klinik und Professor der speziellen Pathologie und Therapie Geh. Rat Dr. Heinrich Curschmann. Geboren am 28. Juni 1846 in Gießen ging er wesentlich von anatomischen und physiologischen durch die dortigen Professoren Leuckart und Eckardt angeregten Studien aus, so daß er die Pathologie, der er sich dann zuwandte, auf anatomisch-physiologischer Basis pflegte. 1878 wurde er von Berlin, wo er sich habilitiert hatte und auch schon einem Krankenhaus vorstand, zur Leitung der Staatskrankenhäuser nach Hamburg berufen, wo er bei der Errichtung des großartigen Eppendorfer Krankenhauses ein ganz ungewöhnliches Organisationstalent bewies. 1888 hierher berufen, war er ein ungemein anregender Lehrer, dessen Ruhm viele hervorragende Schüler in die weitesten Kreise trugen, ein in fast allen Zweigen der inneren Medizin tätiger und durch viele seiner Arbeiten geradezu bahnbrechender Forscher, sowie nicht minder hervorragend als Arzt und Mensch. Nach langem Leiden starb am 12. Februar d. J. der außerordentliche Professor der Medizin Dr. Franz Windscheid. Geboren am 17. Mai 1862 als Sohn unseres berühmten juristischen Kollegen, habilitierte er sich 1891 und wurde zehn Jahre später außerordentlicher Professor. Er war ein geschätzter Arzt, Forscher und Lehrer im Gebiete der Neuropathologie. Die philosophische Fakultät verlor am 8. Februar d. J. den ordentlichen Professor Geh. Hofrat Professor Dr. Richard Paul Wülcker. Geboren am 29. Juli 1845 entfaltete er an unserer Universität eine umfassende Wirksamkeit seit 1873 als Privatdozent, seit 1875 als Extraordinarius und seit 1880 als erster Ordinarius der englischen Philologie, zu deren Begründern er gehörte. Deren Aufgabe war es namentlich, das Material zu sammeln und zu ordnen. Sein Hauptwerk ist die Geschichte der eng987

Eduard Hölder

lischen Literatur, in der er das englische Schrifttum auf Grund seiner höchst umfassenden Kenntnis desselben von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart vorwiegend deskriptiv darstellte. Er war eine vornehme Gelehrtennatur, ein höchst geschätzter Lehrer und Kollege, ein gerader und hilfsbereiter Mensch von reichstem Wohlwollen gegen seine Studenten und feinem nie verletzendem Humor. Am 3. November v. J. verstarb in Jena der ao. Professor Dr. phil. et med. Paul Fraisse, der schon seit 1894 aus Gesundheitsrücksichten beurlaubt war. Wir werden den uns durch den Tod entrissenen Kollegen stets ein ehrendes Andenken bewahren. In der theologischen Fakultät ließ sich von der Abhaltung von Vorlesungen entbinden ihr Senior, der Geh. Rat D. Hofmann, dem nach langer gesegneter Wirksamkeit unsre besten Wünsche für seinen Lebensabend gelten. Der Kirchenrat D. Hölscher wurde auf sein Ansuchen der ihm vor 17 Jahren übertragenen Leitung der katechetischen Abteilung des Seminars für praktische Theologie unter wärmster Anerkennung seiner erfolgreichen Tätigkeit enthoben. Der ao. Professor D. Dalman ist ausgeschieden durch Übersiedlung nach Jerusalem als Geistlicher und Vorsteher des deutschen evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des heiligen Landes. Rufen folgten in der juristischen Fakultät der Privatdozent Dr. Eger als Ordinarius nach Basel, in der medizinischen der ao. Professor Dr. Perthes als Ordinarius nach Tübingen, in der philosophischen der ao. Professor Dr. zur Straßen nach Frankfurt a. M. als Direktor des naturhistorischen Museums der Senckenbergischen Gesellschaft, die außerordentlichen Professoren Dr. Deutschbein und Krüger als Ordinarien nach Halle und der ao. Professor Dr. Liebmann an die technische Hochschule in München. Unsere besten Wünsche folgen den von uns geschiedenen Kollegen. Hoch erfreulichen Zuwachs haben durch Berufungen von auswärts gewonnen im Frühjahr die theologische Fakultät an dem Konsistorialrat Professor D. Rendtorff aus Kiel als Ordinarius für praktische Theologie und jetzt die medizinische Fakultät an dem Geh. Medizinalrat Dr. v. Strümpell aus Wien als Ordinarius der speziellen Pathologie und Therapie und Direktor der medizinischen Klinik sowie die philosophische Fakultät an Professor Dr. Meumann von Halle als Ordinarius der Philosophie und Pädagogik und Direktor des philosophisch-pädagogischen Seminars anstatt Volkelt, der Max Heinzes Nachfolger als Professor für allgemeine Philosophie und Direktor des philosophischen Seminars wurde. Ebenso gewann die philosophische Fakultät aus Halle den Professor Dr. Förster als Ordinarius der englischen Philologie. Möge das Leben und die Wirksamkeit der neu berufenen Kollegen sich durchweg für sie und für die Universität befriedigend gestalten. An Ort und Stelle wurden befördert zum ordentlichen Honorarprofessor der Geh. Regierungsrat Professor Dr. jur. Häpe, zu etatsmäßigen Extraordinarien die bisher außeretatsmäßigen Dr. Woltereck für Zoologie mit Ernennung zum Abteilungsleiter am zoologischen Institut, und Dr. Miehe für Botanik; sodann der Assistent Dr. Boeke für physikalisch-chemische Mineralogie und Petrographie, wodurch dafür in Deutschland zum ersten Mal ein eigner Lehrstuhl gegründet wurde; endlich die Privatdozen988

Jahresbericht 1909/10

ten Dr. Graf Vitzthum von Eckstädt für Kunstgeschichte und Ikonographie des Mittelalters und Dr. Scholl für angewandte Physik. Der Privatdozent Dr. med. Heineke wurde am Anfang des Universitätsjahres zum außeretatmäßigen und jetzt zum etatmäßigen ao. Professor sowie Direktor des chirurgisch-poliklinischen Instituts ernannt. Ferner wurden zu außeretatmäßigen Extraordinarien ernannt in der medizinischen Fakultät die Privatdozenten Dr. Döllken und Steinert und in der philosophischen, außer dem jetzt fortberufenen Dr. Krüger, die Privatdozenten Dr. Böttger, Plenge, Schall, Dittrich und Biermann. In der philosophischen Fakultät habilitierten sich die Doktoren Süß und Friedberg für klassische Philologie, Schäfer und Elberfeld für Chemie, Friedmann für romanische Philologie, Lilienfeld für Physik und Bergmann für Philosophie. Mit der Leitung der pädagogischen Sektion des Seminars für praktische Theologie wurde beauftragt der Direktor des hiesigen Schullehrerseminars Schulrat Dr. Frenzel. Die venia legendi wurde entzogen dem Privatdozenten der philosophischen Fakultät Dr. Dahms. Unter unseren Beamten ist die wichtige Änderung erfolgt, daß mit dem Jahreswechsel der Universitätsrichter und Universitätssekretär Geh. Justizrat Dr. Meltzer nach beinahe 50jähriger Tätigkeit im Dienste der Universität in den Ruhestand getreten ist, ein Beamter von vorbildlicher Tüchtigkeit und Treue, ein väterlicher Freund der Studenten und ein dermaßen mit der Universität verwachsener Mann, daß er auch nach seinem Scheiden vom Amte ihr und ihren Angehörigen eng verbunden bleibt. Sein Nachfolger in seinen beiden Stellungen wurde mit dem Titel eines Universitätsrats sein bisheriger Gehülfe Hofrat Flade, anstatt dessen zum juristischen Hülfsarbeiter beim Universitäts-Gericht und Universitäts-Sekretariat der Referendar Sperling ernannt wurde. Vom Personal der Bibliothek ist am 10. März gestorben der Aufwärter Paul Thiele, ein Beamter von seltener Tüchtigkeit und Pflichttreue, der ersetzt wurde durch den Bezirksfeldwebel Max Franke, sodann am 25. Juli dieses Jahres der Volontär und pensionierte Oberlehrer Dr. Emil August Wagner, wogegen als Volontär zugelassen wurde Dr. Karl Löwe. Ich komme zur Verleihung akademischer Grade. Ehrenpromotionen haben zwei Fakultäten vollzogen. Die theologische Fakultät hat honoris causa zum Dr. ernannt den ordentlichen Professor der Theologie Otto Procksch an der Universität Greifswald und zum Licentiaten den emeritierten Pastor Georg Jacob in Bautzen. Die medizinische Fakultät hat zum Ehrendoktor ernannt den hiesigen ao. Professor und Leiter der chemischen Abteilung am physiologischen Institut Dr. Max Siegfried. Rite hat die theologische Fakultät einen Licentiaten promoviert, die juristische 269, die medizinische 113, die philosophische 185 Doktoren. Das fünfzigjährige Jubiläum durften von unsren Kollegen feiern am 19. August d. J. der Geh. Rat Rudolf Hofmann als Doktor unsrer theologischen Fakultät und am 14. September der Geheime Rat Ewald Hering als Doktor unsrer medizinischen Fakultät, welchen beiden aus diesem Anlaß ihre Fakultät das Doktordiplom erneuerte. Von weiteren Diplomerneuerungen nach 50 Jahren vollzog die medizinische Fakultät drei und die philosophische sieben. 989

Eduard Hölder

Der Bestand unsrer Studentenschaft betrug im Sommersemester 4592. Abgegangen sind seitdem 985, neu immatrikuliert bis vorgestern 1022. Somit Gesamtzahl für den heutigen Tag 4629 gegen 4567 am 31. Oktober 1909. Durch den Tod haben wir 9 Kommilitonen verloren, deren Heimgang schöne Hoffnungen der Ihrigen und auch ihrer Lehrer zerstört hat. Wir dürfen unsrer Studentenschaft das Zeugnis geben, daß, was die Lehrer und die reichen Lehrmittel unsrer Universität ihr bieten, von ihr eifrig benutzt wird, und bezüglich ihrer Führung ist es ein gutes Zeichen, daß in diesem Jahre das Universitäts-Gericht nicht hat zusammentreten müssen. Schließlich habe ich der Preisaufgaben zu gedenken. Die Aufgabe der theologischen Fakultät hat eine Bearbeitung gefunden, die aber nicht für preiswürdig erachtet werden konnte. Die Aufgabe der juristischen Fakultät wurde nicht bearbeitet. Die Aufgabe der medizinischen Fakultät fand eine Bearbeitung, die den zweiten Preis erhielt und als deren Verfasser sich ergab der cand. med. Walter Gorn. In der philosophischen Fakultät fand die Aufgabe der philologischen Sektion drei Bearbeiter, von denen den ersten Preis erhielt der Stud. paed. Gustav Löscher, sowie eine ehrende Erwähnung nebst einer Gratifikation von 100 M. der stud. paed. Artur Pollmer. Die Aufgabe der zweiten Sektion fand zwei Bearbeiter, von denen den ersten Preis erhielt der stud. philos. Alfred Hennig und den zweiten der stud. paed. Erich Schröbler. Auch die Aufgabe der dritten Sektion wurde einmal und zwar so bearbeitet, daß der Verfasser Ewald Pickert, stud. math., den ersten Preis erhielt. Vivant sequentes! Die Urteile mit ihrer Begründung und die neuen Preisaufgaben werden durch Anschlag am schwarzen Brett verkündet werden. Nun schreite ich zur Übergabe des Rektorates an Sie, Herr Dr. Karl Lamprecht, als meinen erwählten und bestätigten Amts-Nachfolger. Ich fordere Sie auf, den Katheder zu besteigen und zunächst den Rektoreid zu leisten, dessen Formel ich Ihnen vorspreche: „Sie schwören bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, daß Sie die Verfassung und die Gesetze der Universität treu und gewissenhaft beobachten und die Pflichten des Ihnen anvertrauten Amtes als Rektor der Universität nach bestem Wissen und Gewissen redlich erfüllen wollen.“ Somit proklamiere ich Sie Herrn Dr. Karl Lamprecht zum Rektor der Universität Leipzig für das Studienjahr 1910/11. Ich übergebe Ihnen den Hut und den Mantel als Zeichen Ihrer Würde, die Kette, mit welcher Königliche Huld den Leipziger Rektor geschmückt hat, das Siegel der Universität, damit Sie deren Willen rechtlich beglaubigen, die Statuten, die Ihrer Hut anvertraut sind und den Schlüssel als dem Herrn des Hauses. Es ist mir eine große Freude, Eurer Magnifizenz als erster meine Glückwünsche darzubringen zu einem, wie ich hoffe, sowohl für Sie als für die Universität recht gedeihlichen Amtsjahre. *** 990

Karl Lamprecht (1856–1915)

31. Oktober 1910. Rede des antretenden Rektors Dr. Karl Lamprecht. Die gegenwärtige Entwicklung der Wissenschaften, insbesondere der Geisteswissenschaften und der Gedanke der Universitäts-Reform. Hochansehnliche Gäste! Hochgeehrte Kollegen! Liebe Kommilitonen! Unsere Zeit steht unter dem Zeichen einer starken Fortbildung des geistigen Lebens. Sehr begreiflich. Die letzten Jahrzehnte haben aus der völligen Wandlung des Wirtschaftslebens der europäischen und der amerikanischen und fast auch schon eines Teils der ostasiatischen, sowie der australischen Welt, wie aus den allgemeinen Beziehungen, die heute alle Kontinente miteinander verbinden, ungeheure Summen neuer Reize ausgelöst, deren Gesamtheit nun durchdrungen und zur Grundlage einer neuen Welt von allgemeinen Vorstellungen und sittlichen Idealen ausgebaut werden muß. Da krachen denn vor allem die hergekommenen Institutionen des Geisteslebens in den Fugen; und kaum eine unter ihnen besteht, deren Umänderungsbedürftigkeit nicht proklamiert würde. Natürlich haben wir unter diesen Umständen auch den Ruf nach einer Universitätsreform erschallen hören. Und schon ist man an einigen Stellen in Deutschland vom Wort zur Tat übergegangen und hat, wenn auch in bescheidenem Maße, fortgebildet und geändert. Es sind das gewiß berechtigte Richtungen und Vorgänge; und kein Zweifel, daß der einmal eröffnete Weg weiter betreten und verfolgt werden wird. Ist dem so, so wird die Frage dringend, von welcher Seite, von welchen Gesichtspunkten aus eine Fortbildung unseres Universitätslebens in diesem Augenblicke unternommen werden könne. Man ist dabei bisher vielfach, ja im praktischen Handeln wohl fast ausschließlich, von einigen offensichtlichen Mißständen ausgegangen; Fragen der Personalverfassung, der durch steigende Frequenzen hervorgerufenen Übelstände und dergleichen haben da eine Rolle gespielt. Mir will aber scheinen, als ob man von solchen Einzelfragen nicht ausgehen dürfe; das Ergebnis wird bei jedem Versuche, der das Ganze nur vom Teile aus sieht, notwendig Flickwerk sein; die Fortentwicklung des geistigen Lebens erfolgt rationell überhaupt nicht auf dem Wege, daß man gewisse Institutionen in anderer, als der hergebrachten Weise kleinlich durchreglementiert, sondern wohl nur dadurch, daß 991

Karl Lamprecht

an einem entscheidenden Punkte ein Durchbruch eintritt, gleichsam ein Zapfen ausgestoßen wird: worauf dann die ganze Materie sich selbständig in Bewegung setzt und von sich her, aus dem Charakter ihrer autonomen Fortbewegung, die Motive ihrer neuen Bildung im Einzelnen hernimmt. Von diesem Standpunkte aus betrachtet wird die Frage: ob eine Universitätsreform in dem gegenwärtigen Moment notwendig sei und kommen werde, naturgemäß von der anderen abhängig, ob eine starke Fortbildung der Wissenschaften im Gange oder im Anzuge sei. Denn das Universitätsleben ist, wenigstens in Deutschland, letzten Endes und in seiner untersten Tiefe doch nur ein Ausdruck des jeweiligen Gesamtfortschritts der Wissenschaften: bleibt also, untersucht man den innersten Kern seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von der Fortbildung der Wissenschaften abhängig. Nun kann schwerlich geleugnet werden, daß wir uns heute in starken Umbildungen unseres wissenschaftlichen Denkens befinden. Am klarsten zeichnet sich das Bild dabei, wie gewöhnlich, auf dem Gebiete der Naturwissenschaften. In den Naturwissenschaften haben, wenn man ihre Geschichte äußerlich betrachtet, die Entdeckung Röntgens und die darauf folgenden Untersuchungen des Radiums und verwandter Objekte eine jüngste Epoche heraufgeführt. Verfolgt man aber den inneren Entwicklungsgang des 19. Jahrhunderts, so ist es vielmehr die Umbildung des Atombegriffs, welche die Gegenwart immer mehr von den Zeiten zu entfernen beginnt, die in der Entdeckung des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft und im Materialismus der 50er bis 60er Jahre gipfelten. Man braucht dabei auf die Erscheinung eines neuen Vitalismus kein besonderes Gewicht zu legen: das Wesentliche ist, daß sich heute wohl kaum mehr ein Physiker oder Chemiker einer Anschauung verschließen kann, welche das Atom als mit verwickelten Fähigkeiten ausgestattet, sagen wir etwa als eine Art von Homunculus, als Keim gleichsam aller höheren auch organischen Entwicklung betrachtet. Wie in dieser Auffassungsweise, die sich immer weiter verbreitet, die Möglichkeit zu einer Weltanschauung gegeben ist, die naturwissenschaftliches und geisteswissenschaftliches Denken in gleicher Weise umfaßt, das soll an dieser Stelle nicht weiter betont werden; wir werden später davon hören. Das eine aber erhellt aus dem bisher Ausgeführten unbedingt: daß die Naturwissenschaften in einer beträchtlichen Abwandlung ihrer fundamentalen Auffassungsweisen begriffen sind, daß sie dementsprechend auch andere Forschungsmethoden ausbilden werden, und daß dem bei den in Deutschland vorhandenen Verhältnissen wiederum eine starke Umbildung des Universitätsunterrichts und der Universitätsverfassung entsprechen wird. Welcher Art freilich diese Umbildung sein wird, dies im Einzelnen auszuführen würde Jemandem, der seinem Berufe nach den Geisteswissenschaften angehört, nicht eben anstehen; es gehört dazu eine tiefbegründete, ich möchte sagen, instinktmäßige Übersicht von Verhältnissen, die nur der in der Naturwissenschaft Lebende besitzen kann. Aber eben dieser Umstand läßt es vielleicht begreiflich erscheinen, daß Jemand, der den Geisteswissenschaften angehört, die verwandten Regungen, die sich auf diesem Gebiete zeigen, schildern kann, – anschaulich am besten wohl in der breiten Durchführung eines Beispiels, das in den Verlauf der Forschung selbst einführt. – 992

Antrittsrede 1910

In einem Zeitalter, dessen Vorstellungskreis dem Entwicklungsgedanken unterliegt, ist Geisteswissenschaft in manchem Betracht identisch mit Geschichte. Freilich darf man dabei nicht an die alte Auffassung der Geschichte denken, die in der geschichtswissenschaftlichen Arbeit wesentlich die möglichst wahrheitsgemäße Tradition besonders auffallender menschlicher Taten erblickte; aber diese Auffassung ist ja jetzt auch aufgegeben. Geschichte ist heute die Wissenschaft von der Entwicklung des Menschen in das Wesen hinein, das er gegenwärtig aufweist; und in diesem Sinne, als unbedingt notwendige Einführung in den Stand der heutigen Menschheit und Vorbereitungswissenschaft für das Handeln der Zeitgenossen in ihr, umfaßt sie eben so sehr die Wissenschaften von der physiologischen wie von der psychologischen Entwicklung des Menschen. Eingebettet damit in den weiten Bereich aller historischen Wissenschaften greift sie zugleich mit ihren letzten Zielen hinüber in die Probleme eines obersten Verständnisses alles Werdens und der eigentlichen Bestimmung unseres Geschlechts: und derart umfassend als Universalgeschichte gedacht enthält sie in sich so starke Ingredienzien alles heutigen Denkens überhaupt, daß es wohl möglich sein wird, an der Vorführung wesentlicher Probleme ihres Bereichs sich über Stand und Tendenz der heutigen wissenschaftlichen Bewegung überhaupt zu unterrichten. Sucht man aber solche Probleme, so wird man doch ohne weiteres auf das Gebiet der Geschichte im bisherigen engeren Sinne zurückgeführt; denn sieht man von der physiologischen Seite der menschlichen Entwicklung ab, deren Untersuchung wesentlich den historischen Naturwissenschaften zufallen wird, so handelt es sich immer um große Fragen der allgemeinen Psychogenese, und diese Fragen sind nur durch tiefgreifende Untersuchungen induktiver Art, und das heißt durch historischvergleichendes Forschen im Bereiche der Entwicklung mehrerer großen menschlichen Gemeinschaften zu lösen. Da wir nun aber noch in den Anfängen solcher Forschungen stehen, so ist es natürlich eine der wichtigsten Aufgaben wissenschaftlicher Strategie, die Fälle solcher Untersuchungen möglichst einfach zu wählen. Die Geschichte aller Wissenschaften ergibt zwar immer wieder, daß es außerordentlich schwer ist, diesem an sich scheinbar so selbstverständlichen Grundsatz zu folgen, denn immer wieder drängt sich vor dem Einfachen das Komplexe hervor, immer wieder betonen pittoreske Geister, daß vor allen Dingen in der Auflösung der komplizierten Fülle des Interessanten der Reiz der Forschung liege, und immer wieder wird infolge dessen, wie man wohl einmal gesagt hat, im Gange der Forschung das Pferd am Schwanze aufgezäumt. Gegenüber dieser namentlich auf dem Gebiete der Geisteswissenschaften beinahe unausrottbaren Neigung muß um so stärker betont werden, daß nur die unbedingt sichere und klare Aufsuchung einfacher Vergleichsmöglichkeiten geeignet erscheinen kann, den Pfad zum Verständnisse der mehr komplexen Erscheinungen geschichtlichen Gemeinschaftslebens zu weisen, und daß fruchtbar nur der zu arbeiten weiß, der sich als geeignet zeigt, solche einfache Beziehungen aufzufinden, in eingehender Detailarbeit ihrer Struktur nach zu zerfasern und ihrem inneren Zusammenhange nach verständlich zu machen. Das einfachste Beispiel für die vergleichende Betrachtung der Entwicklung zweier großer menschlicher Gemeinschaften, für das die geschichtliche Überlieferung aus993

Karl Lamprecht

reichendes Material darbietet, liegt nun in der parallelen Entwicklung des japanischen Volkes und einer der heutigen großen europäischen Nationen, z. B. etwa der deutschen vor. Es ist daher wohl verständlich, daß auf diesen Parallelismus von dem Augenblicke an, da die europäische Forschung die japanische Entwicklung näher kennen lernte, immer wieder und immer dringlicher hingewiesen worden ist, zumal da bei gänzlicher innerer Unberührtheit der gegenseitigen Entwicklung beider Nationen durch mehr als anderthalb Jahrtausende hin die absolute Chronologie in den wichtigsten Entwicklungsvorgängen auf beiden Seiten wunderlicher Weise immer wieder beinahe in dieselben Jahrhunderte verweist. Es liegt daher nahe, ein Beispiel moderner geschichtlicher Forschung vor allen Dingen der Entwicklung dieser beiden Nationen, der japanischen und der deutschen, zu entnehmen und dabei naturgemäß wiederum die früheren Perioden der beiderseitigen Geschichten in den Vordergrund zu stellen, weil für deren Verständnis die Voraussetzungen nicht notwendig sind, welche sich bei der Wahl späterer Perioden aus der Notwendigkeit ergeben würden, deren Vorgeschichte zu kennen. Aus diesen Erwägungen heraus sind denn auch die vergleichenden Forschungen in dem bei unserer Universität neubegründeten Institut für Kultur- und Universalgeschichte, das als letztes Ziel seiner Bestimmung die vergleichende Forschung zu pflegen hat, von den eben vorgetragenen Überlegungen ausgegangen; und so kann mit dem, was ich als deren Forschungsergebnis vortragen werde, zugleich ein Einblick in die Arbeit dieses neuen Institutes wenigstens an dieser einen Stelle seiner Tätigkeit gewonnen werden. Die älteste Geschichte Japans, die in chronologisch festzulegenden Daten bis frühestens in das 3. Jahrhundert v. Chr. zurückführt, in eine Zeit, in der die Nation vermutlich noch durch Amalgamierung verschiedener nationaler und RassenBestandteile erst im Werden begriffen war, liegt uns in einer ausgezeichneten Überlieferung vor. Im 8. Jahrh. n. Chr., in dem sich in Japan ähnlich wie unter den Germanen des Kontinents während der Karolingerzeit, und vorbereitet schon während der Merovingerzeit ein urzeitlicher Absolutismus entwickelte, der die vor ihm liegende Zeit des Geschlechterstaates als eine abgeschlossene Welt ansah, ist es in Japan zu eingehenden Aufzeichnungen aller noch vorhandenen Traditionen dieser Zeit gekommen. Es ist ein Vorgang genau dem entsprechend, von dem aus der Zeit Karls des Großen berichtet wird; wie damals der Kaiser die Überlieferung seines Volkes in der Nationalsprache niederschreiben ließ, so haben das in verwandter Weise die Herrscher Japans ein Jahrhundert früher (um 700) getan: nur daß die von Karl dem Großen sorgfältig gesammelte Tradition von Ludwig dem Frommen vernichtet wurde, während die japanische ausführlich erhalten blieb. Neben diesem reichen Material, in welchem das nationale Gedächtnis die Geschehnisse wie die geistigen Produkte insbesondere auch der Dichtung mindestens eines halben Jahrtausends vor Vergessenheit sorgfältigst bewahrte, haben wir für Japan bei Beginn des 8. Jahrh. noch eine umfängliche Kodifikation der Einrichtungen der Sitte, des Rechts und des Staates, der im Aufsteigen zu einem Absolutismus nach chinesischem Muster begriffen war: genau wie wir in der karolingischen Kapitulariengesetzgebung eine verwandte Sammlung besitzen. Unterzieht man nun diese japanische Überlieferung in dem merkwürdigen Durcheinander ihrer poetischen und prosaischen 994

Antrittsrede 1910

Formen eingehender quellenkritischer Untersuchung und sucht aus ihr abzuleiten, was als Wirklichkeit der frühesten japanischen Geschichte zu gelten vermag, so ergibt sich etwa das folgende Bild: Wir sehen, wie im südlichsten Japan der himmlische Enkel, der Sohn der Sonne zur Erde herabsteigt, um von dort aus mit seinem in der Verfassung großer Geschlechter dahinlebenden Volke, den Yamato, allmählich die schönen Gestade und Eilande des japanischen Mittelmeergebietes einzunehmen. Auf seinen und seiner Nachkommen Eroberungszügen in dieser Richtung mischt sich dann das Herrenvolk mit Angehörigen anderer Völker und Gästen vom asiatischen Kontinent, breitet sich immer weiter nach Nordosten aus und gewinnt schließlich die traditionsreichen historischen Ebenen der japanischen Geschichte um Nara, Kioto und Tokio. In den Jahrhunderten dieser kampferfüllten Fortschritte ändern sich Lebensgewohnheiten und Wirtschaft, das primitive Fischervolk wird zu einer kopfreichen Nation von Reisbauern, und die Besiedelung, anfangs nur die schmalen Lippen der Gestade umfassend, dringt immer stärker in die spärlichen Ebenen des Landes vor. Gelegentlich dieser Wandlungen treten dann auch die ersten geschichtlich erkennbaren Veränderungen des Gemeinschaftslebens in der Geschlechterverfassung auf. Die alten Geschlechter werden seßhaft und wachsen gewaltig an Zahl ihrer Seelen, Abschichtungen zu neuen Kolonialgeschlechtern, die die Eroberung des Landes fortsetzen, treten auf, und auch sonst bilden sich aus Abkömmlingen zunächst volksfremder Herkunft neue Geschlechter. Aber auch diese neuen Bildungen wiederum, wie schon die alten, wachsen in der Zahl ihrer Angehörigen, und die Entwicklung einer neuen Einzelgliederung läßt sich für alle Geschlechter auf die Dauer nicht vermeiden. Innerhalb der einzelnen Geschlechter treten die Hausgemeinschaften hervor, Gruppen derjenigen Geschlechtsangehörigen, die sich um bestimmte Familien: Vater, Mutter, Kinder und Enkel: in näherer Verwandtschaft sammeln. Und schon im 6. Jahrh. kann es scheinen, als wenn in diesen Hausgemeinschaften der lebendigere Prozeß der Fortbildung zu liegen begönne; und zugleich macht sich gegenüber der bisher rein personalen Entwicklung der Verfassung zum ersten Male ein räumliches, lokales Element geltend; die Nachbarschaft wird von Bedeutung, und friedlich nebeneinander wohnende Gruppen wohl auch verschiedener Geschlechter des nunmehr seßhafter gewordenen Volkes beginnen Gemeinden zu bilden, deren Lebenszweck in der Ordnung des gegenseitigen räumlichen Verhältnisses aufgeht. Konnte nun gegenüber dieser Entwicklung der alte Rahmen der Geschlechterverfassung noch Stand halten? Und schon nahte ihm eben seit dem 7. u. 8. Jahrh., wie die Gesetzgebung von etwa 720 bereits deutlich erkennen läßt, ein neuer Feind: die Einzelpersönlichkeit, das Individuum. Noch waren in den frühesten Zeiten, die eingehenderer geschichtlicher Überlieferung zugänglich sind, die Individuen derart in den Schoß des Geschlechtes gebettet gewesen, daß sie nur als Exemplare der Gattung gelten konnten: jede Art öffentlicher Last und Pflicht war nur als Funktion des ganzen Geschlechtes als solchen lebendig gewesen. Jetzt dagegen beginnt sich das Individuum als Wesen zu eigenem Rechte zu melden. Auf dem Gebiete des Erbrechts versucht es eine Durchbrechung des obligatorischen Erbganges; in den weiten Gebieten der vormundschaftlichen Beziehungen des Geschlechtes will es eine gewisse 995

Karl Lamprecht

Emanzipation erreichen; und schon scheint es nach einzelnen Quellenstellen, als wenn diese Bestrebungen selbst den Bestand der Hausgemeinschaften hätten gefährden können, wenn auch der Einblick in die späteren Quellen, so vor allem des 10. Jahrh., ergibt, daß Befürchtungen dieser Art, wären sie schon im 8. Jahrh. genährt worden, nicht zutreffend gewesen wären. Überblicken wir nun aber den inneren Verlauf der Geschichte des Geschlechts, wie er soeben ganz in der Kürze skizziert worden ist, so haben wir eine Evolution vor uns, die in der Geschichte der Nationen keineswegs einzigartig dasteht. Wir können den selben oder aber einen ganz verwandten Verlauf sogar noch heute bei den Völkern wahrnehmen, die sich im Zustande einer urzeitlichen Verfassung befinden, z. B. bei den Marotse am oberen Zambesi. Auch bei den Germanen liegt der gleiche Verlauf vor. Vergleichen wir die einschlagenden Nachrichten etwa in der Germania des Tacitus, in der Lex Salica, in der fränkischen Gesetzgebung und in den Kapitularien der Karolingerzeit, so tritt uns mit geringen Abwandlungen eben derselbe Vorgang entgegen. – Und dennoch: sehen wir genauer zu, welche auffallende und lehrreiche Unterschiede! In der japanischen Entwicklung bleibt schließlich trotz allem der Geschlechterverband als eine der stärksten, ja geradezu als die stärkste Verbindung japanischer Menschen unter einander erhalten, wie denn auch die Hausgemeinschaften selbst noch in der Gegenwart zahlreich fortblühen. Das Individuum verharrt also trotz aller Emanzipationsbestrebungen im Hintergrund. Bei der deutschen Nation dagegen tritt ein rapider Verfall des schon in der taciteischen Zeit nicht übermäßig festen Geschlechtsverbandes ein. Gegen Ausgang des ersten Jahrtausends der christlichen Aera ist dann von einer lebendigen Kraft dieser alten Institution kaum noch viel wahrzunehmen, wie denn ihr Leben während des ganzen Verlaufs dieses Jahrtausends, in merklichem Gegensatz zu der Fülle der Überlieferung in den japanischen Quellen, in der Tradition nur wenig bedeutend und sicher hervortritt. Woher nun dieser merkwürdige Unterschied? Es läßt sich für ihn ausführen, daß der japanische Geschlechtsverband von vornherein und zu aller Zeit bis zur Gegenwart durch einen mächtigen Ahnenkult in seinem festen Halte gesichert wurde, während für den germanischen Geschlechtsverband, soweit wir sehen können, ein solcher Kult nur wenig in Betracht kam. Allein durch Anführung dieses Unterschiedes sind wir der Lösung des Rätsels nur näher gerückt, haben sie aber noch nicht in Händen. Liegt der Gegensatz auf religiösem Gebiete, so muß er offenbar zu einem näheren Verständnisse zunächst auf diesem erweitert werden. Und hier ergibt sich nun allerdings ein außerordentlicher Unterschied beider Nationen. Der Germane ist religiös von vornherein grübelnder Individualist, und diese Anlage gilt für alle Arier, ja vielleicht ganz besonders für die östlichsten von ihnen, die Inder. Der Japaner dagegen wie der Ostasiat überhaupt ist selbst in der Gegenwart noch nicht zu einem vollen religiösen Individualismus durchgedrungen. Unter diesen Umständen versteht es sich sehr wohl, daß eine durch objektive Mächte des Glaubens gestützte Geschlechterverfassung, wie die japanische, in der Perspektive der Urzeit gesehen, die Gewähr einer beinah unbegrenzten Dauer in sich trug, während die germanische in dem entsprechenden Zeitalter schon an der geringen Entwicklung ihrer kultischen Seite und vielleicht sogar schon an der Skepsis krankte. Ist nun der Gegensatz auf religiösem Gebiete festgestellt, 996

Antrittsrede 1910

so wird man wiederum fragen, wie er sich auf diesem erkläre. Hier bleiben wir nun wirklich einstweilen vor einem Rätsel stehen, das auch dadurch nicht gelöst werden kann, daß man von beiderseits abweichenden Rasseunterschieden spricht. Denn so sicher es ist, daß Rasseunterschiede namentlich auf dem geistigen Gebiete sich besonders zähe durch Jahrtausende erhalten, so ist der Rassebegriff schließlich doch ein historischer Begriff und bedarf daher der Erklärung durch eine geschichtliche Entwicklung. Aber diese Erklärung läßt sich in unserem Falle einstweilen nicht geben, und so sind wir für den Augenblick an der äußersten Grenze der historischen Analyse angelangt. Sehen wir aber von diesem Punkte auf den bisher beschrittenen Weg zurück, so werden wir nicht verkennen, daß der ganze Verlauf unserer Betrachtung und der ihr zugrunde liegenden Untersuchung uns zu zahlreichen, höchst bedeutsamen Problemen der historischen Forschung geführt hat. Aus ihrer Reihe sollen hier nur zwei berührt werden. Einmal ergibt sich aus dem Parallelismus urzeitlicher Geschlechterverfassungen bei so gänzlich miteinander unverwandten Nationen wie der japanischen und der deutschen, wie aus deren häufigem Auftreten auch bei andern Urzeitvölkern der Erde, daß das geschichtliche Geschehen nicht willkürlich sein kann, sondern sich im Bereiche der einzelnen menschlichen Gemeinschaften bestimmten Entwicklungsgesetzen unterordnet. Und aus diesem Ergebnis wiederum folgt bei dessen weiterer gedanklicher und empirischer Durchdringung an der Hand des Tatsachenmaterials der Begriff der gesetzmäßigen Entwicklung nach Kulturzeitaltern, deren Charakter, Verlauf und Reihenfolge nun genauer zu erforschen wäre. Andererseits aber ergibt sich aus dem bisher Ausgeführten als eine letzte einstweilen noch nicht auflösbare historische Anschauung die Anschauung der Rasse, im Gegensatz zu dem gesetzmäßigen Begriff der Kulturzeitalter also eine künstlerische Anschauung der nationalen Individualität. Dabei würde im heutigen Stande der geschichtswissenschaftlichen Entwicklung bei einer Darstellung des nationalen wie universalgeschichtlichen Charakters beiden Motiven, dem der Kulturzeitalter wie dem der nationalen Individualität, gleichmäßig Raum zu gönnen sein. – Der bisher behandelte Gegenstand der vergleichenden deutschen und japanischen Geschichte, die Geschlechterverfassung, hat in ein wesentliches Stück der autonomen Entwicklung beider Nationen eingeführt, so wie sie ohne stärkere Einmischung fremder Gewalten aus dem inneren Fortschritt des nationalen Wesens selbst erfolgte; und daher waren die Probleme, die sich auf diesem Gebiete ergaben, nativistischen Charakters. Gehen wir in der Vergleichung deutscher und japanischer Geschichte weiter, so stoßen wir auf Probleme ganz anderer Art, die dem gegenseitigen Zusammenhang einzelner Nationen untereinander angehören, also als speziell universalistischen Charakters bezeichnet werden müssen. Es ist schon davon gesprochen worden, daß sich auf fränkischem und deutschem wie auf japanischem Boden über der Geschlechterverfassung der frühesten Zeit eingehenderer historischer Überlieferung ein urzeitlicher Absolutismus erhob; hier in der Monarchie der Merovinger und vor allem im Karolingerreiche, verkörpert letzten Endes vornehmlich in den Bestrebungen Karls des Großen, dort in dem Kaisertum der Taikwa-Reform, wie diese den Absichten des Prinzen Shotoku-taishi 997

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und des großen Kanzlers Fujiwara verdankt wurde. In beiden Fällen geht diese Bewegung bei dem Verfall der Geschlechterverfassung von innerlichen, nativistischen Tendenzen aus; die Monarchie macht sich das Erlöschen des alten Geschlechterverbandes zu Nutze, indem sie sich zur Begünstigung ihrer eigenen Entwicklung auf die in Bildung begriffenen räumlich-nachbarlichen Verbände, auf die Hausgemeinschaft und im gewissen Sinne sogar schon auf die da und dort hervortretenden Anfänge der individualistischen Persönlichkeit stützt. In der japanischen Entwicklung tritt diese Wendung in den Quellen ganz deutlich hervor; nicht minder deutlich lassen sich einzelne ganz besonders interessante Phasen, z. B. die Entwicklung der politischen Mittel zur Sprengung der Geschlechterverbände, die Reaktion des urzeitlichen Gemeinschaftsgefühls durch Bildung frühester künstlicher Korporationen und das Vorgehen der Monarchie auch gegen diese in dem Reiche der schon einmal zitierten Marotse am oberen Zambesi verfolgen. Im merovingischen und karolingischen Staate sehen wir die Monarchie den Thunginus, den politischen Vorstand des alten Geschlechterverbandes, beseitigen, entnehmen der Decretio Chlotarii et Childeberti das Bestreben, die staatliche Gewalt auf moderne, erst zu begründende räumliche Verbände zu fundamentieren, und können den wenigen Nachrichten, die wir über Gilden in der merovingischen und karolingischen Zeit besitzen, dann noch am ehesten die Linien eines inneren Zusammenhanges abgewinnen, wenn wir sie als primitive Korporationen zum Ersatz des schwindenden Geschlechterzusammenhanges auffassen, gegen welche die Monarchie beider Dynastien natürlich ebenso Front machte, wie der individualistische Absolutismus des 16.–18. Jahrhunderts ganz ständig und grundsätzlich zum Gegner des in seine Zeiten hineinragenden mittelalterlichen Genossenschaftswesens geworden ist. Indes würde die fränkische, und würde auch die japanische Monarchie, allein aus den geschilderten Bestrebungen her jenen urzeitlichen Absolutismus entwickelt haben, den wir an beiden Stellen vornehmlich in der Zeit vom 7.–9. Jahrhundert wahrnehmen? Tatsache ist, daß die Monarchie in den beiden Kulturen noch ganz andere Kräfte in ihren Dienst stellte, hier das Christentum und den Anschluß an die Antike, wie er vornehmlich in der karolingischen Renaissance hervortrat, dort den Buddhismus und eine umfängliche Rezeption öffentlicher Einrichtungen aus China, das damals, in den schönen Zeiten der T’ang-Dynastie, die prächtige Entfaltung eines individualistischen Absolutismus erlebte, wie er dem europäischen Absolutismus des 17. und 18. Jahrhunderts entsprach. Von den auf diese Weise in den Dienst der urzeitlichen Monarchien gestellten Kräften sind wohl die interessantesten Christentum und Buddhismus. Sie beide waren Religionen höchstentwickelter Kulturen, die in sich alle die geistigen Voraussetzungen trugen, die zur Bekämpfung von urzeitlichen Einrichtungen und Vorstellungen notwendig erschienen, so, wie diese mit dem Geschlechterverband verknüpft waren. Allein so klar diese allgemeine Rolle der Religionen in der Entwicklung des urzeitlichen Absolutismus sowohl im fränkischen Reich wie in Japan ist, weshalb wir in Japan das Kaisertum, obwohl es der geborene Vertreter der Shinto-Religion war, dennoch ständig auf Seiten des Buddhismus sehen: – so wenig wissen wir von der besonderen Art der tieferen und elementaren Kräfte, die hier zur Wirkung gelangten. Die Quellen zur Geschichte der Ent998

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wicklung der primitiven christlichen Frömmigkeitsformen in germanischen Köpfen sind leider überaus spärlich, und ganz ähnlich scheint es mit den Quellen zur inneren Entwicklungsgeschichte des japanischen und selbst schon des primitiven chinesischen Buddhismus zu stehen, wenngleich auf diesem Gebiete der fortschreitenden Forschung noch mancher schöne Fund neuer Erkenntnis mag gelingen können. So wie die Dinge heute erscheinen, sind wir jedenfalls zum Verständnisse der fremden Einwirkung zunächst auf die Untersuchung der antiken Renaissance in dem einen und der chinesischen Rezeption in dem andern Falle angewiesen. Indeß eben diese Konstellation ist vom universalgeschichtlichen Standpunkte aus im höchsten Grade lehrreich. Was Merovinger und besonders Karolinger und namentlich wieder Karl der Große der Antike entnahmen, errangen sie sich auf dem Wege der Konsultation der überlieferten antiken Literatur; von viel geringerer Bedeutung waren daneben die Momente, welche der direkten Tradition auf dem Wege von Brauch und Sitte verdankt wurden. Es handelte sich also um eine echte Renaissance, um das bewußte Wiederauflebenlassen einer untergegangenen Kultur aus deren Traditionsresten. Die Japaner dagegen entnahmen die fremden Faktoren, welche sie zum Aufbau ihres Absolutismus einstellten, einer zwar räumlich von ihnen getrennten, im übrigen aber in blühendem Leben befindlichen Kultur, in deren Kreis nicht wenige von ihnen auch persönlich eintraten, wie denn auch eine Anzahl bedeutender Chinesen bis zu langem oder gar definitivem Aufenthalt in Japan vordrangen; – hier handelte es sich also ganz ausgesprochen nicht um eine Renaissance, sondern um eine Rezeption, um eine Aufnahme fremder Elemente aus einer noch lebendigen Kultur. Nun hat es im Verlauf der uns bekannten Universalgeschichte unzählige Renaissancen und Rezeptionen gegeben, aber nicht häufig mögen wohl die Fälle sein, in denen bei im übrigen außerordentlich analogen Verhältnissen in zwei großen Ereignisreihen hier eine Renaissance, dort eine Rezeption aufgetreten ist. Erinnert man sich, welch außerordentliche Bedeutung für die wissenschaftliche Feststellung des eigentlichen Wesens aller Erscheinungen, namentlich aber der geisteswissenschaftlichen, das Prinzip der Isolierung hat, so wird man ohne weiteres begreifen, welche Wichtigkeit dem vorliegenden Falle für das Verständnis des Charakters der Renaissance wie der Rezeption überhaupt zukommt. Nun erlaubt uns aber die Überlieferung ebenso auf dem karolingischen Gebiete wie im Bereiche der TaikwaReform, in den eingehendsten Detailstudien den Unterschied zwischen den Wirkungen der Renaissance hier und der Rezeption dort festzustellen. Es sind in dieser Richtung im hiesigen Institut für Kultur- und Universalgeschichte einige Stichproben vorgenommen worden; erschöpft ist damit das Thema bei weitem noch nicht; es muß eine fernere eingehende Behandlung erhofft werden. Soviel aber steht doch schon jetzt fest: die Unterschiede sind beträchtlich und beziehen sich z. B. in der Frage des für jeden Absolutismus so wichtigen Verwaltungswesens auf ganz ausschlaggebende Verhältnisse, wie den Gegensatz von allgemeinen Verwaltungsprinzipien und bürokratischer Detailarbeit, auf die Frage nach den Kontrollinstanzen, auf den Bereich der statistischen Untersuchungen als Unterlage der Gesetzgebung und dgl. Dinge mehr. 999

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Für uns hier, in unserem Zusammenhang, wird kein Zweifel bleiben, daß mit einem vergleichenden Studium, wie es soeben angedeutet worden ist, die großen Gegensätze universalistischen Charakters, die in Rezeption und Renaissance gegeben sind, erst anfangen ein wirkliches Dasein zu erhalten, indem der Verlauf des in ihnen pulsierenden Lebens vergleichender und somit begrifflich festlegender Forschung zugänglich wird. Sehen wir aber an dieser Stelle noch weiter rückwärts, auf das, was vorher über die nativistischen Grundbegriffe des Kulturzeitalters und der nationalen Individualität oder Rasse ausgeführt worden ist, so bleibt kein Zweifel, daß die hier kurz behandelten vergleichenden Studien in ihrem gesamten Bereich diejenigen Probleme umfassen, welche bei einer evolutionistischen Behandlung der Geschichte von vornherein als die wichtigsten hervortreten. Nun aber braucht kaum noch gesagt zu werden, daß Untersuchungen dieser Art sich mit den bisher herkömmlichen Lehrmitteln unserer Universitäten wie auch mit den Lehreinrichtungen, soweit sie in Seminarien und Verwandtem vorliegen, nicht bewältigen lassen; vielmehr bedarf es hierfür der Herstellung von Einrichtungen, die weiter und tiefer greifen als die bestehenden. Daß damit die Frage auftritt, ob eine Fortbildung in diesem Sinne an den Universitäten überhaupt möglich sei, ist gewiß. Jedoch haben Versuche, die soweit bekannt bisher nur in Leipzig stattgefunden haben, schon jetzt gezeigt, daß diese Frage mit einem strikten Ja zu beantworten ist. Dabei darf man nicht denken, daß die eben berührten Zusammenhänge nur der Geschichte im gewöhnlichen Sinne oder gar nur der Kulturgeschichte – faßt man diese noch als eine engere Disziplin – angehörten. Ganz im Gegenteil; es handelt sich um die allgemeinsten, in aller Geschichte immer wieder verlaufenden Beziehungen des menschlichen Geisteslebens überhaupt. Alle Geisteswissenschaften werden deshalb in die nicht mehr abzuweisenden Probleme, die soeben behandelt worden sind, hineingezogen werden. Und sie alle werden eine Umbildung ihrer Methode, ihrer Lehrmittel und ihrer Lehreinrichtungen erfahren; die Umbildung wird also allgemein sein, und darum ist es notwendig, daß von ihr aus auch die Universitätseinrichtungen ganz allgemein betroffen werden. Jetzt aber erinnern wir uns der wenigen Worte, die im Anfang dieser Ausführungen den Naturwissenschaften gewidmet wurden. Auch bei ihnen handelt es sich heute um einen ganz evidenten Fortschritt zur Bewältigung neuer Objekte und zur Einführung neuer Betrachtungsweisen, um neue Methoden und dementsprechend um die Notwendigkeit der Fortbildung auch der Universitätseinrichtungen. Dabei ist all das, was bisher aufgeführt worden ist, keineswegs Zukunftsmusik. Ganz im Gegenteil; wir stehen schon mitten in dem Umbildungsprozeß selbst. Und wir können auch schon wahrnehmen, wie er auf unsere Universitätsverhältnisse, Personen und Einrichtungen, einwirkt. Eine vermehrte Anzahl der Kategorien der Forschungsobjekte erfordert die Heranziehung von weit mehr Lehrkräften, als die Ordinarien zu stellen fähig sind. Die innere Verflechtung der Forschungsgebiete drängt namentlich auch in den vergleichenden Disziplinen zu einer anderen Organisation der Institute, als sie in deren bisher rein monarchischer Verfassung vorliegt. Die Lehrmittel endlich bedürfen überall der Erweiterung. Und schon jetzt ist, soweit die 1000

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Personen in Betracht kommen, aus diesen Wandlungen eine Bewegung hervorgewachsen, innerhalb deren die nichtordentlichen Lehrkräfte auf Grund ihrer Tätigkeit eine erweiterte Teilnahme an der Verwaltung fordern oder wohl auch schon gewonnen haben. Dabei läßt sich nach allgemeinen sittlichen Prinzipien wohl aussprechen, daß man diesen Kräften das Recht einer Teilnahme dann nicht wohl wird verweigern können, wenn sie den Pflichten einer ständigen Lehrtätigkeit voll und erfolgreich nachkommen. Endlich aber ist, zeitlich nach den Ausführungen dieser Rede, die schon im Anfang August niedergeschrieben wurde, von allerhöchster Stelle das Wort von den Forschungsinstituten gefallen und damit die Initiative zu einer Fortbildung der gelehrten Studien gegeben in der Richtung, die bisher für die Geisteswissenschaften praktisch nur von dem Institut für Kultur- und Universalgeschichte bei unserer Universität verfolgt worden ist. So ist denn alles im Flusse, und das Wort von der Universitätsreform wird erst dann wieder ersterben, wenn diese Reform gesichert ist. Wenn aber ein solcher positiver Ausgang mit Bestimmtheit eintreten wird, so wird er letzten Endes doch nur dadurch gewährleistet erscheinen, daß die ganze Bewegung Ausdruck ist einer letzten tiefen Wandlung des wissenschaftlichen Denkens und der wissenschaftlichen Arbeit selbst. – Ich könnte an dieser Stelle schließen, bliebe nicht noch eine sehr wichtige Frage zu beantworten, die nämlich, wie die Universitätsentwicklung sich in den großen Strom der kulturgeschichtlichen Bewegung unserer Tage überhaupt einordnet. Wir werden hier zu einem Verständnisse nur gelangen, wenn wir etwas auf das Materielle der Weltanschauungsseite des modernen wissenschaftlichen Denkens eingehen. Denn eben von dieser Seite her erweisen sich die Wissenschaften mit dem allgemeinen Kulturfortschritt stets am innigsten verknüpft. Auf naturwissenschaftlichem Gebiete erinnern sich die Alten von uns noch sehr wohl des Zeitalters des Materialismus. Es ist längst vorüber gerauscht. Die heute noch geltende Lehre naturwissenschaftlicher Weltanschauung, soweit eine besteht, könnte man wohl, will man sie mit einem Werturteil versehen, als pessimistisch bezeichnen. Sie knüpft an eine rein mechanische Interpretation des zweiten Satzes der Wärmelehre an und läuft auf die sogenannte Dissipationstheorie hinaus, nach welcher die Welt unter der Abnahme ihrer mechanischen Energie langsam ein trostloses Ende finden wird. Nun versteht es sich aber von selbst, daß die eben jetzt emporkommende dynamische Atomlehre mit der Dissipationstheorie in dem eben erläuterten Sinne kulturgeschichtlich nicht vereinbar ist, und so wird die ältere Theorie der jüngeren weichen. Auf welchem Wege, kann zweifelhaft sein; vielleicht, daß man der nicht zu leugnenden mechanischen Dissipation ein korrespondierendes Wachstum der psychischen Energie zur Seite setzt, und damit zu einer auch geisteswissenschaftlich befriedigenden Grundlage idealistischer Weltanschauung gelangt. Wie dem auch sei, darüber kann kein Zweifel entstehen, daß auf dem Gebiete der Naturwissenschaften eine dynamische, und auf dem Gebiete der Geisteswissenschaften eine psychogenetische Grundauffassung als Basis einer künftigen Weltanschauung in rapider Ausbildung begriffen ist. Wie stellt sich nun diese Erscheinung zur Gesamtbewegung der nationalen Kultur etwa im Verlauf des letzten Menschenalters bis hinein in unsere Tage? 1001

Karl Lamprecht

Die letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts haben uns, wie bekannt, die rasche Entwicklung des modernen Naturalismus gebracht. Es war ein großer Vorgang, der, am leichtesten auf dem Gebiete der Phantasietätigkeit bemerkbar, dort in gewissen Ausläufern, namentlich in der Musik und in der Malerei, noch immer fortwährt. Stärker freilich sind seine Reste noch im Bereiche der Sitte und des sittlichen Denkens, wie denn die ganze Bewegung der Hauptsache nach schließlich von dem reißenden Aufschwung des nationalen Wirtschaftslebens und der diesem entsprechenden gesellschaftlichen Veränderungen getragen war. So war die sittliche Weltanschauung am frühesten in der sogenannten materialistischen Geschichtsphilosophie der Sozialdemokraten, wie sie Marx aufgestellt hatte, und später nicht minder in dem rein ökonomischen Denken der neuen bürgerlichen Klasse der Unternehmer zum Ausdruck gelangt. Beide gesellschaftliche Gruppen also der Unternehmung, jener spezifischen Form des modernen Wirtschaftslebens, Arbeitnehmer wie Arbeitgeber, hatten ihre sittlichen Anschauungen sehr begreiflicher Weise nach dem für sie zunächst zugänglichen wirtschaftlichen Milieu geordnet. Von diesen beiden Anschauungen kann nun allerdings die materialistische Auffassung der Sozialdemokraten auch in den Kreisen des vierten Standes jetzt als beseitigt gelten, während das staatlich vermutlich noch weit gefährlichere rein ökonomische Denken, eine der wichtigsten Ursachen z. B. der heutigen Zersplitterung unserer politischen Parteien, noch kaum in seinem Besitzstande gestört oder gar als prinzipiell schädlich erkannt, weiter fortwuchert. In diese Lage hinein wirkte nun in ihren Anfängen seit den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts eine ganz anders geartete, idealistische Bewegung. Sie ging von der bis zu dieser Zeit voll entwickelten naturalistischen Phantasietätigkeit aus, indem sie die von dieser errungenen Werte zur Darstellung neuer, persönlicher und nationaler Ideale benutzte. Es war die Zeit einer neuen idealistischen Landschaftsmalerei, die kurze Periode eines Aufschwungs des idealistischen Dramas, das Jahrzehnt der Heimatskunst in Malerei und Dichtung. In diese Bewegung zunächst auf künstlerischem Gebiete mischten sich dann aber seit der Wende des Jahrhunderts andere Motive. Die Poesie der religiösen Sehnsucht trat auf, die bloß sozialen Bestrebungen der bisherigen Entwicklung wurden durch charitative und religiöse Momente erweitert: und langsam zog an dem Horizont einer neuen Zeit, noch wenig geklärt, einstweilen mehr aus Meinen denn aus Wollen, mehr aus Trieb denn aus Tat bestehend, das Ideal einer neuen sittlichen und religiösen Welt herauf. Es ist jener merkwürdige Umschwung, der in seinen einzelnen Vorgängen dem Auge des Kulturhistorikers schon um das Jahr 1900 so klar zu Tage trat, daß er als wesentlich für den nächsten Entwicklungsgang des neuen Jahrhunderts signalisiert werden konnte, einen Entwicklungsgang, in dem wir uns in der Tat heute deutlich befinden. Das Eigentümliche, kulturgeschichtlich aber keineswegs Besondere ist dabei, daß sich aus einem ursprünglichen Naturalismus ein Idealismus erhoben hat, der, im schnellsten Fortschritt begriffen, sich gegen diesen Naturalismus und auch gegen dessen wirtschaftliche und soziale Voraussetzungen zu wenden beginnt und insbesondere auch gegen die aus diesen Voraussetzungen entwickelte Ethik und religiöse Agnostik Front macht. 1002

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Wenn nun dies der Ausdruck der heutigen Lage ist, so sieht man wohl, was der im Anzuge begriffene Umschwung der fundamentalen wissenschaftlichen Anschauungen bedeutet. Indem diese sich dynamischen und psychogenetischen und damit optimistisch-idealistischen Zielen zuwenden, werden sie bald geeignet erscheinen, die Grundlage einer neuen Weltanschauung darzubieten, die den nur ökonomischen Zielen der aus der wirtschaftlichen Unternehmung emporgewachsenen Gesellschaftsschichten mit Erfolg entgegentreten wird. Damit aber wird zugleich der Übergang zu einer neuen Periode des Idealismus definitiv erreicht sein. Denn in Zeiten hoher Kultur mit ihrer starken intellektuellen Entwicklung greifen die wissenschaftlichen Fortschritte entscheidend ein und besiegeln durch ihre Wandlung den Eintritt neuer Epochen. Man wird vielleicht finden, daß mit dem soeben Gesagten viel prophezeit ist. Indeß es ist Aufgabe der Wissenschaft, den Ausblick in die Zukunft zu erhellen; und eine generelle Betrachtung des geschichtlichen Verlaufes hat schon mehr als einmal gezeigt, daß die Kulturgeschichte dieser Aufgabe weit mehr gewachsen ist als etwa die politische Geschichte oder sonst ein Zweig der historischen Wissenschaften. Im Übrigen ist aber nicht zu verkennen, daß unsere Darlegungen mit dem Nachweis der großen öffentlichen Funktion, welche dem Umschwung der Wissenschaften für die Herausbildung einer neuen nationalen Ethik und eines neuen Denkens zugewiesen ist, recht eigentlich erst auf ihren Höhepunkt gelangt sind. Denn wie man auch menschliches Handeln beurteilen mag: darüber kann kein Zweifel sein, daß es erst durch seine Beziehung auf eine große menschliche Gemeinschaft, auf Land und Nation, auf Staat und Welt seinen eigentlichen Wert erhält. Die Wissenschaft wird dieser Zusammenhänge jederzeit eingedenk sein; und hierin liegt es begründet, daß sie von jeher den Staat und dessen legitime Vertreter beachtet und geehrt hat. Mischt sich dann aber eine solche im Gesamtzusammenhang der historischen Tatsachen gegebene Überzeugung mit dem Gefühl germanischer Mannestreue und starker Liebe zur deutschen Heimat, so entsteht jene besondere Kombination von Empfindungen gegenüber dem herrschenden Träger der Staatsgewalt, die uns alle beseelt; und dies Gefühl mag in dem feierlichen Schlußaugenblick dieser Versammlung um so reiner und stärker zum Ausdruck gelangen, als sich unsere Empfindungen dabei der Person eines Monarchen zuwenden, von dem man sagen darf, daß er die Liebe seines Volkes ebenso besitzt, wie er sich in ihr glücklich fühlt. Und so mögen denn meine Worte in der ersten Stunde meines neuen Amtes im vollen Strom der Gefühle in das Salvum fac regem austönen, das von dieser Stelle so oft durch Jahrhunderte hindurch für unsere Herrscher erbeten worden ist. Wir heben unsere Augen auf zu den Bergen, von denen uns Hilfe kommt; und wir wünschen feierlich und flehen, daß die Kraft aus der Höhe, die wir alle, sei es in dieser, sei es in jener Form, fürchten und lieben, verehren und anbeten, mit all ihrem Reichtum das Herz unseres Königs erfülle und ihn ausstatte mit der Macht und der Weisheit, mit der er sein Volk zu regieren geschichtlich berufen ist. 1003

31. Oktober 1911. Rede des abtretenden Rektors Dr. Karl Lamprecht. Bericht über das Studienjahr 1910/11. Hochansehnliche Versammlung! Am Schlusse des Schuljahres der Universität schreite ich zu meiner letzten Amtshandlung als Rektor, zum Vortrage des Jahresberichts und zur Vereidigung des neuen Rektors. Das verflossene Jahr ist äußerlich so ruhig verlaufen, wie es dem Leben einer wissenschaftlichen Genossenschaft geziemt. Die wenigen Unterbrechungen, die eintraten, waren freudiger Natur und standen zumeist in Verbindung mit unserem Herrscherhause. Am 19. und 20. Januar hatten wir die Ehre und Freude, Seine Majestät den König in unserer Mitte begrüßen zu dürfen. Obwohl eben im Begriff, eine längere Reise ins Ausland zu unternehmen, hatte er es sich dennoch nicht nehmen lassen, seiner treuen Universität den seit König Johann üblichen winterlichen Besuch abzustatten. Er hörte in den Tagen seines Aufenthaltes die Vorlesungen einer Anzahl Professoren und besichtigte das neuerbaute zahnärztliche Institut, nahm aber auch darüber hinaus mit dem vollen Interesse eines Rector Magnificentissimus an den tausenderlei akademischen Dingen regen Anteil, deren Nebeneinander sein Besuch ihm nahe brachte. In dem Zeitraum von mehr als einem Jahrtausend, über den sich die Herrschaft der Wettiner in den Landen zwischen Harz, Thüringer Wald und Erzgebirge bis in unvordenkliche Zeiten erstreckt, hat sich immer wieder gezeigt, daß dem waltenden Geschlecht Kriegs- wie Friedensaufgaben gleich nahe stehen, und kräftiger als sonst in deutschen Fürstengeschlechtern sind in der langen Reihe seiner Generationen auch die frohen Gaben künstlerischer und wissenschaftlicher Betätigung vertreten gewesen. Auch dem heute lebenden Geschlecht fehlen sie nicht: und so haben wir außer Seiner Majestät dem König auch dessen Bruder, den Prinzen Johann Georg, unter anderem zur Besichtigung des ägyptologischen Museums, am 14. Januar, bei uns begrüßen dürfen. Neben die Festtage des königlichen Besuches sind im Laufe dieses Jahres einige andere bescheidenere Feiern getreten, teils von intimer Natur, wie die Alters- und Amtsjubiläen einiger lieber Kollegen, teils öffentlicher Art. Ich erwähne davon nur die Tage der Ausstellung der Adressen, welche der Universität zu ihrem Jubiläum im Jahre 1909 überreicht worden waren, in Verbindung mit einer Ausstellung zur Veranschaulichung des amerikanischen Universitätswesens, Ende November 1910. Weit mehr als wir selbst Feste feierten, haben wir an festlichen Veranstaltungen verwandter und nachbarlicher Institutionen frohen Anteil nehmen dürfen. So hat der Rector intra muros Lipsienses die Universität bei der Feier des hundertjährigen Jubiläums der Firma B. G. Teubner und bei der jüngst erfolgten Eröffnung der 1004

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Frauenhochschule, so ante muros, aber noch in Sachsen, bei der Eröffnung der Internationalen Hygieneausstellung in Dresden und bei der Feier des fünfundsiebzigjährigen Bestehens der Technischen Staatsanstalten in Chemnitz vertreten. So hatte die Universität weiterhin bei der Einweihung der Technischen Hochschule und bei dem Universitätsjubiläum in Breslau ihre Vertretung, und zur Repräsentation des Studium Lipsiense bei der Hundertjahrfeier der Universität Christiania wie des Halbjahrtausendjubiläums von St. Andrews in Schottland, der Zwillingsuniversität Leipzigs vom Jahre 1411, ist der Rektor sogar übers Meer gezogen. Bei all diesen Mitteilungen wird sich der Zuhörerschaft, so fürchte ich, beinahe die Anschauung bemächtigt haben, unsere alte Universität sei so modern geworden, im Festefeiern den besseren Teil des Daseins zu finden. Es wäre eine falsche Vermutung. Sie wird schon dadurch widerlegt, daß die Universität noch sehr viel mehr Feiern hätte mitmachen können, wenn sie gewollt hätte. Im Ganzen ist für den Verlauf eines durchschnittlichen Universitätsjahres der feste Halt, der Rost gleichsam und das Geleise, in der Abfolge der an der Universität lehrenden und waltenden Personen gegeben. Und da pflegt ein rasches Tempo im Wechsel selbst für große Universitäten – und erst recht für kleine – charakteristisch zu sein. Denn wir leben mit der Jugend, und die Jugend drängt vorwärts. So gilt für den Lehrkörper einer Universität das Gleichnis der Ilias von den Blättern vielleicht besonders: ἄλλα δὲ ϑ᾽ὔλη τηλεϑόωσα φύει, ἔαρος ϑ᾽ἐπιγίγνεται ὥρη. Gedenken wir in diesem Zusammenhange zunächst unserer teuren Toten, so trat uns der weitklingende Name eines Abgeschiedenen des Vorjahres in diesem Sommer noch einmal besonders ins Gedächtnis: an einem schönen Junitage haben wir eine Büste Curschmanns, ein wuchtiges Werk des Professors Lange, an der Stätte des Wirkens des Dahingegangenen, im Garten der medizinischen Klinik, enthüllen können. Zu den Toten des Jahres gehört, von den älteren Angehörigen des Lehrkörpers, die seine Person und sein Tun kannten, viel betrauert, der Kultusminister a. D. von Seydewitz (gest. 17. Dez. 1910). Seydewitz war eine feine und fromme Seele, die sich den Glauben der Kindheit durch alle Lebensfährlichkeiten bis ins Alter bewahrt hatte. So war er, im Kerne seines Wesens, recht eigentlich zum Kultusminister und zum getreuen Verwalter auch höchster wissenschaftlicher Interessen geboren. Wir haben unter unseren Kultusministern gewiß größere Organisatoren, härtere Verwaltungsmänner, geistreichere Leute gehabt. An Liebe zu unserer Universität und allen ihren Institutionen, an innigem Sichversenken in jedes Bedürfnis unserer weitverzweigten Lehrtätigkeit ist von Seydewitz von keinem übertroffen worden. Im Bereich des Lehrkörpers sind uns im verflossenen Jahre durch den Tod hinweggenommen worden: aus der theologischen Fakultät Geh. Kirchenrat Professor D. Kirn (18. August 1911) und Kirchenrat Pastor D. Hölscher (gest. 11. Februar 1911), der bis kurz vor seinem Tode 17 Jahre hindurch der treue Leiter der katechetischen Abteilung des Seminars für praktische Theologie gewesen ist; aus der juristischen Fakultät Professor Hölder (14. April 1911), aus der medizinischen Professor Hennig (15. Mai 1911) und Privatdozent Haake (9. März 1911), aus der philosophischen Professor Peter (21. Februar 1911). Man spricht dem akademischen Beruf gern das Privilegium der Langlebigkeit – wenn es eins ist – zu. Unter unseren Toten 1005

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haben nur Professor Hennig und Dr. Haake diese Anschauung bewahrheitet. In seinen mittleren Jahren auch als praktischer Arzt weithin und mit anerkanntem Erfolge tätig, hilfreich und wissenschaftlich arbeitsam allezeit, ist Hennig in sehr hohem Alter von uns gegangen. Aber auch Haake hat die Jahre des Psalmisten kennen gelernt, seiner Lehrtätigkeit leider früh schon durch ein Augenleiden entrissen. In den höheren und mittleren Jahren sind die Professoren Peter und Hölder abgeschieden, der eine ein Astronom, dessen Fleiß und Gewissenhaftigkeit unsere Sternwarte zu vollem Dank verpflichtet ist; der andere ein Jurist von besonderem Scharfsinn bei allen praktischen Anforderungen seines Berufes, uns noch in seinem letzten Lebensjahre besonders teuer als bewährter Verwalter des Rektorats und damit unserer äußeren akademischen Geschicke. Im höheren mittleren Alter stand auch Kirn, ein homo vere theologus, klar und klug, voll lebendigster, nicht bloß theologischer, sondern auch philosophischer Interessen, ein milder Freund der Kollegen und ein vorurteilsfreier Berater der akademischen Jugend in ruhigen wie bewegten Tagen. Riß so der Tod in unserem Berufe durch alle Alter hin erbarmungslos Lücken, so dürfen wir diesem Berufe doch Eines nachrühmen: er erschöpft sich nicht leicht mit steigendem Alter. Es liegt in der Natur der Dinge, daß ihm wachsende Erfahrung nützt, und der Verkehr mit der Jugend erhält innerlich frisch trotz aller Austrocknungstendenzen einer wesentlich rationalisierenden Tätigkeit. So sind es immer nur wenige Kollegen, die im höchsten Alter oder aus besonderen Gründen den Ruhestand aufsuchen. Diesmal waren es zwei, aber freilich zwei gewichtige Namen, deren die Geschichte der Wissenschaften immer gedenken wird: der Senior der philosophischen Fakultät Neumann, der Mathematiker, und der Chirurg Trendelenburg aus der medizinischen Fakultät. „Alter ist an und für sich Einsamkeit“ hat Ranke, der Neunzigjährige, gesagt. Möge das Wort an unseren scheidenden Genossen sich als unrichtig erweisen. Unsere Achtung und Freundschaft bleibt ihnen für immer. Der Personalchronist, der jetzt über die Reihen der Lebendigen zu berichten begonnen hat, zieht seines Weges weiter in Gebiete, deren Erscheinungen, für den Einzelnen von jedesmal besonderem Wert, für eine große Körperschaft wie unsere Universität doch nur regelmäßige Ebbe- und Flutvorgänge, regelmäßiges Aus- und Einatmen gleichsam, bedeuten. Eine Reihe von Kollegen sind von uns hinweg an auswärtige Universitäten oder andere wissenschaftliche Institutionen berufen worden: so Privatdozent Wichern aus der medizinischen Fakultät als Chefarzt an das städtische Krankenhaus in Bielefeld, und aus der philosophischen Fakultät der ordentliche Professor Meumann an das Kolonialinstitut in Hamburg, ferner die außerordentlichen Professoren Boeke an die Universität Halle, Ley an die Universität Münster, Lipps an die Universität Zürich und der Privatdozent Freundlich an die Technische Hochschule in Braunschweig. Wir freuen uns vor allem des reichen Erfolges unserer jüngeren Kollegen, der das böse Wort Lipsia vult exspectari wenigstens in der Auslegung, die man ihm in dem hier vorliegenden Zusammenhange geben kann, zu Schanden macht. Und so sehr wir die bei uns außerhalb der Ordinariate wirkenden jüngeren Kollegen lieben: wir wünschen ihnen doch allen im Sinne der eben zusammengestellten Beispiele ein gutes Fortkommen. 1006

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Dem Abfluß von Lehrkräften hat andererseits ein reiches Zuströmen entsprochen. Berufen wurden in die juristische Fakultät als ordentliche Professoren der Kgl. Preuß. Geheime Justizrat, ord. Professor Dr. Victor Ehrenberg von der Universität Göttingen und der ord. Professor Dr. Heinrich Siber von der Universität Erlangen; ferner in die medizinische Fakultät als Ordinarius und Direktor der Chirurgischen Klinik Geheimer Medizinalrat Professor Dr. Erwin Payr von der Universität Königsberg; endlich in die philosophische Fakultät: der Privatdozent Dr. Koebe von der Universität Göttingen, der im Laufe des Universitätsjahres zum etatmäßigen außerordentlichen Professor der Mathematik ernannt worden ist; der Assistent Dr. Nacken von der Universität Berlin als etatmäßiger außerordentlicher Professor der physikalisch-chemischen Mineralogie und Petrographie, und der Privatdozent Dr. Spranger von der Universität Berlin als etatmäßiger außerordentlicher Professor für Philosophie und Pädagogik und Direktor des philosophisch-pädagogischen Seminars. Ich begrüße alle diese Kollegen namens des akademischen Körpers aufs freundlichste. Möchten sie sich bei uns wohl fühlen und in kurzen Tagen ganz die Unseren werden. Neben den Berufungen von außen hat aber nicht minder im verflossenen Jahr das Eigenleben unserer Körperschaft sich kräftig in Frucht, Blüte und Keim geregt. Sichtlich trat das in einer ganzen Anzahl von Ernennungen zu höheren Funktionen oder Stellen, wie in der Habilitation nicht weniger neuer Privatdozenten hervor. Zu ordentlichen Honorarprofessoren sind die bisherigen etatmäßigen außerordentlichen Professoren Jungmann, der Rektor der Thomasschule, und Riemann befördert worden. Dr. Weyhe, der sich im Wintersemester 1910/11 habilitiert hatte, ist etatmäßiger außerordentlicher Professor der englischen Sprache und Literatur geworden. Zu außeretatmäßigen außerordentlichen Professoren in der philosophischen Fakultät sind ernannt worden die Privatdozenten Heller, Löhnis und Schneider. Die venia legendi wurde erteilt in der Juristenfakultät: dem Dr. jur. et phil. Holldack aus Königsberg, in der medizinischen Fakultät: den Doktoren Vörner, Sieglbauer und Hübschmann, in der philosophischen Fakultät: den Doktoren Bergt, Hempelmann, Füchtbauer, Salow, König, Buder und Gröber. Wir beglückwünschen all die Genannten zu ihren Erfolgen und hoffen, daß es nicht die letzten sein werden. Im Zusammenhang mit der Chronik des Lehrkörpers seien noch einige Mitteilungen über die anderweitigen Institutionen und Beamtenkörper der Universität gegeben. Von ihnen ist in mancher Hinsicht am wichtigsten die Bibliothek. Allen Zweigen wissenschaftlicher Tätigkeit dienend, kann sie in ihrer Benutzung wohl noch am ehesten als guter Wertmesser des wissenschaftlichen Lebens in Leipzig gelten. Da ist es denn erfreulich zu sehen, daß die Zahl der Bücher-Bestellzettel bei der Bibliothek von Jahr zu Jahr gewachsen ist: im Jahre 1907 waren es 110 000, 1908: 116 000, 1909: 122 000 und 1910 sind wir auf rund 127 000 angelangt. Weniger erfreulich freilich ist es, zugleich die Beobachtung zu machen, daß von den bestellten Büchern noch immer 13 % aus dem einfachen Grunde nicht ausgeliehen werden konnten, weil sie nicht vorhanden waren, und zu konstatieren, daß das Beamtenpersonal keineswegs in der Progression der Bestellzettel im Wachsen begriffen gewesen ist. Für die Verwaltung wie die Vergrößerung der Bibliothek bleibt also trotz starker Nachhilfe in den letzten Jahrzehnten noch immer viel zu tun. Die 1007

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Verwaltung der Universitätsangelegenheiten im engeren Sinne hat bekanntlich zwei Brennpunkte, einen der wissenschaftlich-erzieherischen, und einen der wirtschaftlichen Tätigkeit. Von ihnen ist der erste autonomen Charakters: Rektor, Senat und die ihnen unterstellten Behörden sind hier maßgebend, soweit sie nicht im Namen und Auftrag des Staates gerichtliche Funktionen ausüben. In diesem Verwaltungskreis hat an erster Stelle lange Jahre hindurch der Geh. Justizrat Meltzer als ständiger Faktor unter dem Wechsel der Rektoren friedlich und freundlich gewaltet: wäre er nur ein wenig länger im Amte geblieben, als es geschehen, so würde er am 1. Dezember 1910 die Feier einer 50jährigen Amtszeit im Dienste der Universität haben begehen können. Der Rektor hat sich aber an die Eigenmächtigkeit seines früheren Abganges nicht gekehrt und ihn an seinem Ehrentage feierlich beglückwünscht. Im übrigen wäre zu berichten, daß der diesem Dienstzweig angehörende Referendar Sperling mit dem Jahre 1910 zum Assessor befördert worden und daß der Universitätsrichter und -sekretär Flade, der Nachfolger von Geheimrat Meltzer und die eigentliche Respektsperson der studierenden Welt, zum Justizrat ernannt worden ist. Der andere, wirtschaftliche Zweig der Universitätsverwaltung ist bekanntlich nicht autonom, sondern staatlich; in Gelddingen sieht sich der Professor fiskalisch bevormundet und der Mittätigkeit des Königlichen Rentamts für die Universität Leipzig anheimgegeben. Am 1. Oktober dieses Jahres ist der Hofrat Riemer aus dem Vorstandsposten dieses Amtes ausgeschieden. Zu seinem Nachfolger ist der Kommissionsrat Illgen ernannt worden, der erste Rentmeister wohl, der im Rentamte von unten auf gedient hat und nicht von oben, d. h. von Dresden her uns gesandt wurde. Die Universität erwartet von ihm bei dieser heimatlichen Erziehung mit doppelter Zuversicht zu den schon bewährten Verwaltungseigenschaften eines bonus pater familias eine klare Respektierung der dem Rentamt gesetzten Verwaltungsgrenzen und ein sicheres Eintreten für die Veredelung und Vermehrung ihres Besitzes. Denn sie ist eine Körperschaft fünfhundertjähriger Lebensdauer und alten Rechtes, der eine lange Erfahrung gezeigt hat, daß große Ideale ihres eigentlichen Berufs nur bei gleichzeitiger verständnisvoller und schöpferischer Förderung ihrer materiellen Mittel zu höherer Durchführung gelangen können. Gehen wir damit auf das sachliche Gebiet der Universitätsgeschichte über, so werden wir ihr noch immer am besten von außen her mit einigen Worten über die bauliche Hülle nahe treten. Wir wissen, daß die Universität vor nicht allzu langer Zeit, wie man sich auszudrücken pflegt, neu erbaut worden ist, d. h. für ihre Verwaltung, für ihre Repräsentation und für gewisse Teile ihres geisteswissenschaftlichen Betriebes neue Räume erhalten hat. Diese Räume haben sich nun, wie offen ausgesprochen werden muß, längst als zu klein herausgestellt, und ein Zustand ständigen Suchens nach mehr Raum mit all seinen Unzuträglichkeiten und Kosten à fonds perdu ist eingetreten. Der einzige Trost dabei ist der, socios habuisse malorum. Denn fast allen deutschen Universitäten ergeht es ähnlich, z. B. auch der Universität Straßburg, der erst 1870 neu gegründeten. Was gegen diesen bedauerlichen und unwirtschaftlichen Zustand zu tun sei, ist Sorge der Universität und des ihr vorgesetzten Ministeriums all die Jahre hindurch gewesen, und es steht zu hoffen, daß gewisse Maßregeln zur Abhilfe, in deren Vorschlag man sich schließlich einmütig getroffen 1008

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hat, die Billigung der Landstände finden werden. Haben doch die Stände des Landes von jeher in dankenswertester Weise für die Bedürfnisse der Universität ein überaus reges und feinfühliges Interesse gezeigt. Rücken wir über die äußere Hülle dem eigentlichen Körper des Universitätslebens näher, so gelangen wir zu einem Gegenstand, bei dessen Erwähnung zwar schwerlich von Fieber, aber doch von einem gewissen Wachstumsunbehagen gesprochen werden kann. Es handelt sich um die Fortbildung unserer gesamten Lehreinrichtungen, um das, was man mit einem etwas vornehmen Worte Universitätsreform zu nennen beginnt. In der leichten Lösung kleinerer Fragen des Fortschritts hat auch das verflossene Jahr hurtig seinen Weg gemacht. Ich möchte da die Neuordnung und Neugründung von Einrichtungen erwähnen, die einer vermehrten Körpertätigkeit unserer Studenten dienen sollen, damit sie zwar nicht Sportmenschen, wohl aber volle Deutsche mit mens sana in corpore sano werden und bleiben; weiterhin könnte ich von allerlei Fürsorgemaßregeln gegen persönliche und soziale Not in den Kreisen des Studententums sprechen, endlich auch von allerlei mehr geistigen Neuerungen, z. B. von der Einrichtung kleiner, durch Kräfte der Studentenschaft bestrittener Sonntagsvormittagskonzerte, die zum Nutzen einer stärkeren musischen Ausbildung aller Studierenden, die den Konzerten beiwohnen wollen, in dieser Aula abgehalten werden sollen. Ja selbst die in Aussicht genommene Durchbildung einer akademischen Auskunftsstelle nach dem Muster der Berliner wäre wohl noch in den Kreis der hier zunächst zu erwähnenden Dinge zu ziehen. Daneben stehen aber weit größere Fragen. Ihr Gemeinsames ist, daß sie die Einwirkungen des seit anderthalb Menschenaltern so unendlich veränderten Weltbildes auf den Betrieb der Wissenschaften und damit auch auf die Universitäten widerspiegeln. Welche Weiten der Erkenntnis sind uns im Verlaufe der erwähnten Zeitspanne erschlossen worden, räumlich und zeitlich! Wie unendlich ist das Material gewachsen, das die Geisteswissenschaften zu verarbeiten haben, welche neuen Probleme sind in den Naturwissenschaften eben jüngst emporgetaucht! Und wie ist in alledem, dazu durch den erleichterten Verkehr und das Zusammenwachsen aller Räume der Oekumene, das universale Motiv aller wissenschaftlichen Arbeit erstarkt! Ein erstes Anzeichen dieser veränderten Lage, das weithin Beachtung fand, ist in Deutschland die Entwicklung von Austauschprofessuren an der Berliner Universität gewesen. Die Einrichtung hat in Berlin durch die nicht seltene Ingerenz des Hofes besondere Färbung angenommen: daß sie für gewisse Gebiete der Geisteswissenschaften nützlich ist, ja notwendig wird, ist schwerlich noch zu bestreiten. Und sicherlich besteht für eine Ausdehnung der Lernmöglichkeit in dieser Hinsicht unter unsern Studierenden Neigung und Bedürfnis, das hat der eifrige und zahlreiche Besuch bewiesen, den im verflossenen Jahre die an unserer Universität gehaltenen sporadischen Vorlesungen der amerikanischen Professoren Tombo und Carpenter von der Columbia-University in New-York und Smith von der Virginia-University gefunden haben. So kam es darauf an, die zerstreuten Anfänge solcher Vorlesungen durch eine feste Institution, eine wirkliche Austauschprofessur zu ersetzen. Verhandlungen in dieser Hinsicht haben nach ziemlich einjähriger Dauer zu dem Ziele geführt, daß unsere Universität vom Sommersemester 1912 ab ihre Austauschprofessur haben 1009

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wird; als erster amerikanischer Professor wird der Inhaber der Rooseveltprofessur für dieses Jahr, Herr Reinsch von der Universität Madison, der Universität des Staates Wisconsin, funktionieren. Indes die Gegenwartsforderungen an eine Reform der deutschen Universitäten gehen weit über die bloße Begründung von Austauschprofessuren hinaus: nicht weniger als eine grundsätzlich höhere Ziele ins Auge fassende Umbildung der Forschungs- und Lehrmethoden steht für sie, wie, aus universalen Gründen, für alle Universitäten der Erde in Frage, darin sind alle weitsichtigen Kenner des In- und Auslandes einig; und schon sind in Frankreich, dessen Unterrichtswesen sich seit 1870 bekanntlich gewaltig gehoben hat, an der Pariser Universität, der Sorbonne, entsprechende Versuche gemacht worden. Für Deutschland ist das Wort „Forschungsinstitute“ in das Zentrum der entsprechenden Bewegung getreten. Dabei ist es in der Entwicklung des neuen Begriffs und der etwa durch ihn zu deckenden Institutionen ziemlich stürmisch hergegangen, und eine volle Klarheit, die überhaupt erst eine experimentierende Praxis bringen kann, ist noch nicht erreicht. Für unsere Universität sind die hierher gehörigen Fragen durch zwei Schenkungen aktuell geworden, die zu den schönsten Erscheinungen des ablaufenden Universitätsjahres gehören. In New-York hat der am 24. Dezember 1910 verstorbene Arzt Dr. Albert Seessel, deutschen Ursprungs, sein Vermögen nach Abzug einer Anzahl von Legaten je zur Hälfte der Yale-University in Newhaven und der Universität Leipzig hinterlassen. Die Erbschaft, die sich für jede Universität auf etwa 200 000 Mk. belaufen mag, hat jetzt nach einer Mitteilung der Firma Knauth, Nachod & Kühne, Leipzig und New York, welche in dieser Angelegenheit eine ebenso sachkundige wie liebenswürdige Sachwalterin unserer Universität gewesen ist und noch ist, nun wohl so ziemlich alle Fährlichkeiten eines amerikanischen Erbanfalls passiert, und wir dürfen der Ankunft des amerikanischen Silberschiffs freudig entgegensehen. Als Theresa-Seessel-Fund soll diese Erbschaft der Förderung biologischer Studien dienen. Eine noch weit größere Summe, als hier den Naturwissenschaften, ist den Geisteswissenschaften durch hochherzige Stiftungsgaben von ausschließlich Leipziger Bürgern im Laufe des nun beendeten Jahres zugeflossen. Der Fonds hat jetzt bereits eine halbe Million Mark stark überschritten und wird sehr wesentlich dazu beitragen, das ihm gesteckte Ziel, die Förderung vergleichender kulturwissenschaftlicher Studien durch die Errichtung von Forschungsinstituten, zu erreichen. Die Erzählung dieser jüngsten, vielfach noch der Zukunft zugewandten, übrigens auch mit dringenden Personalreformen stark verquickten Vorgänge hat bezeichnender Weise unmerklich in ein neues Kapitel geführt, in das der Stiftungen und Schenkungen. Unsere Universität ist von jeher so reich mit Schenkungen bedacht worden, daß sich ihrer fünfhundertjährigen Entwicklung leicht eine Entwicklungsgeschichte der Rechts- und Sittenformen der Schenkung zu idealen Zwecken entnehmen ließe. Man würde da anfangs und noch lange, fast bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein, die mehr konsumtive Schenkung, das Stipendium, die Personenunterstützung blühen sehen, und zwar vielfach noch zu Gunsten des Seelenheils des Stifters, wenn das auch nicht so deutlich, wie im Mittelalter ausgedrückt 1010

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wird. Ja noch bis auf die Gegenwart währt diese Art der Stiftung fort. So ist der Universität im laufenden Jahre nicht bloß aus der vielleicht wichtigsten Stiftung dieser Art aus früherer Zeit, der Knaupsschen, infolge des Neubaues des ihr gehörigen Hauses, des Grauen Wolfs in der Hainstraße, eine außerordentliche Erhöhung ihrer Einnahmen zugeflossen, sondern es hat auch noch der im Mai dieses Jahres verstorbene Herr Ernst Heinrich Martius ein Kapital von 20 000 Mk. zu Stipendien für studierende Verwandte oder, in deren Ermangelung, für andere bedürftige Studierende hinterlassen. Auch die Stiftung von Herrn Professor Beer, 10 000 Mk. für die Hülfs- und Töchterpensionskasse über schon früher gestiftete 10 000 Mk. hinaus, kann, wenn man will, wenn auch in viel edlerem und höherem Sinne noch in diesem Zusammenhang gezogen werden. Daneben ist aber in neuerer Zeit immer mehr die produktive Stiftung, die direkt Lehr- und Forschungsziele der Universität fördern will, entwickelt worden. Sie entspricht einem neueren Stiftungsideal, und sie erfordert zumeist auch größere Kapitalien, wie sie mit dem steigenden Reichtum der Nation heute leichter aufgebracht werden können. Diesem Typ gehören aus dem verflossenen Jahre die obengenannten großen Stiftungen an, ferner die von Professor Biermann mit 50 000 Mk. begründete E. L. Biermann-Stiftung für das volkswirtschaftliche Seminar der Universität zum Zwecke der Förderung volkswirtschaftlicher Studien, sowie die von Herrn Edgar Herfurth auf 40 000 Mk. erhöhte Stiftung für die Gründung von Lehreinrichtungen zur Förderung der Journalistik. Im ganzen sind der Universität im ablaufenden Jahre, kleinere Schenkungen mit eingeschlossen, mehr als eine Million Mark an mehr tragenden und neuen Stiftungen zugeflossen: eine stolze Summe fürwahr, wenn sie auch den Jahreszuwachs amerikanischer Universitäten, der bei der Columbia-Universität zum Beispiel im Durchschnitt des letzten Jahrzehnts 6 Millionen Mark betragen hat, noch nicht erreicht. Indes unter deutschen Verhältnissen bedeuten Jahresstiftungen in der Höhe einer Million ein an unserer Universität auch in dem Jubiläumsjahr 1909 noch nicht erreichtes Niveau, und wenn die Universität in stiller Freude zu bemerken Anlaß hat, daß sich unter den Schenkgebern nicht wenige Angehörige ihres Lehrkörpers befinden, so wird sie doch mit noch ganz anderer Lebendigkeit, Freude und Dankbarkeit den hohen und opferbereiten Sinn der Leipziger Bürger anerkennen, der so wesentliche Erfolge gezeitigt hat. Und darf sie in diesem Zusammenhang alter akademischer Sitte gemäß der caritas Maecenatum eingedenk sein, so wird der Chronist sich nicht scheuen, dies Kapitel mit einem weiteren studentischen Worte, mit einem kräftigen Vivant sequentes zu schließen. Da wären wir denn bei dem letzten Gegenstand des Jahresberichts, bei der Studentenschaft, diesem teuren Zentrum aller unserer Bemühungen angelangt. Gedenken wir auch hier zunächst in Wehmut derer, die nicht mehr unter uns weilen. Die Zahl Frühvollendeter im Kreise der Studentenschaft ist stets nicht gering; diesmal bleibt die Zahl mit neun wohl kaum unter dem Durchschnitt. Und wieviel für immer geknickte Hoffnungen, wieviel Jahre Aussaat ohne Ernte bedeutet jeder einzelne Fall! Und wie mancher stirbt am Wege, fern den Seinen, verlassen, wenn nicht Freunde um ihn walten! Der Studentenschaft als Ganzem muß es da zur Ehre nachgesagt werden, daß sie der Einsamen auch nach dem Tode gedenkt. Es ist wohl seit 1011

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Menschengedenken nicht vorgekommen, daß über einem Leipziger Studentengrab nicht die Fahnen studentischen Grabgeleits geweht, daß den Hügel nicht Kränze studentischer Vertretungen geschmückt hätten. Es ist einer der vielen Fälle, in denen sich das äußert, was man Leipziger studentischen Geist nennen kann: ein unsichtbares und doch sehr konkretes, sehr wohl zu beschreibendes Ding, das selbst das Antlitz des echten Leipziger Studenten stempelt. Es ist vor allem der Geist der Ordnung, der Geist der Ruhe, der liebenswerten Gefälligkeit. Wird er als erstorben zu gelten haben, wenn im letzten Jahre einige Entfernungen Unwürdiger haben stattfinden müssen? Ich glaube nicht. Und auch der für Manchen an sich recht betrübliche Umstand, daß im letzten Jahre von unseren Studenten insgesamt 50 Tage Karzer abgesessen worden sind, wird uns an diesem Urteil nicht irre machen. Denn was weiter zu berichten sein wird, das zeigt, daß der Geist der Leipziger Studentenschaft in alter Frische lebt und neue Aufgaben in harmonischer Entschiedenheit bewältigt. Aber auch dieser Geist hat doch seinen Körper, von dessen Struktur gar manche auch seiner feineren Äußerungen abhängt. Am deutlichsten, freilich auch rohesten, wird das in der Frequenzstatistik ersichtlich. Unsere Universität hatte vor einem Jahrzehnt, im Wintersemester 1900, 3586 immatrikulierte Studenten. Im Wintersemester 1910/11 waren es genau 4900; es war also eine Vermehrung um 1314 Immatrikulierte, ein Jahreszuwachs mithin von 131,4 Immatrikulierten eingetreten. An sich ist das, mit dem Wachstum anderer, namentlich kleinerer Universitäten verglichen, nicht viel. Bezeichnend aber ist die ruhige stetige Zunahme, und zwar, geht man auf die Zahlen der einzelnen Jahre genauer ein, mit steigender Tendenz. Diese Art der Vorwärtsbewegung verbürgt unserem studentischen Leben einen sicheren Weg zu höherer Blüte, und sie ist charakteristisch für das Wesen einer echten Arbeitsuniversität. Und diese Tendenz hat sich nun im verflossenen Jahr in noch verstärkter Weise fortgesetzt. Im vorigen Sommersemester studierten bei uns 4888 Immatrikulierte gegen 4602 im SommerSemester 1910: es war also ein Jahreszuwachs von 246 Immatrikulierten zu bemerken. In dem soeben begonnenen Semester scheint diese Tendenz aber noch mehr akzentuiert aufzutreten. Gestern, noch mitten in der Aufnahme neu zu Immatrikulierender, betrug die Gesamtzahl 4909; und es besteht wohl kein Zweifel, daß sie die Ziffer von 5000, zum ersten Male in der Geschichte der Leipziger Universität erreichen und sogar merklich überschreiten wird. Dazu kommen dann noch mindestens 1000 Hörer, sodaß wir uns auf eine Gesamtsumme von über 6000 Studierenden werden einrichten müssen. Unter den einzelnen Fakultäten aber steht bekanntlich die philosophische mit ihren Zahlen stark im Vordergrund, etwa die Hälfte aller Studierenden gehört ihr an, und sie hat damit schon allein die Frequenz einer stattlichen mittleren Universität. Zieht man die übrigen Fakultäten heran, so ergeben sich die Frequenzen vor allem der theologischen und medizinischen als im Steigen begriffen. Halten wir uns auch im übrigen, für die innere Entwicklung der Studentenschaft, zunächst an ziffermäßige Daten, so steht da, naturgemäß, ein sehr geringes Material zur Verfügung. Man könnte die Zahl der Promotionen, 192 bei der juristischen, 1012

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184 einschließlich 39 tierärztlicher Promotionen bei der medizinischen, 202 bei der philosophischen und keine bei der theologischen Fakultät heranziehen und aus ihrer Vergleichung im Verhältnis zur Zahl der Studierenden der einzelnen Fakultäten zu der Vorstellung gelangen wollen, daß die Theologen am faulsten, die Juristen aber am fleißigsten seien. Indes steht zu vermuten, daß ein solcher Schluß mancherlei Bedenken hervorrufen würde. Man könnte auch an eine Statistik der gelösten Preisaufgaben denken, aber auch sie würde versagen, da das Anstreben von Preisen dem germanischen Genius im allgemeinen weniger nahe liegt, als etwa dem keltoromanischen: und darum das Quantum der Preisbewerbungen und noch mehr der Preiserteilungen von vielen Zufälligkeiten abhängig ist. Am sichersten wird immer noch eine wirklich sachverständige Schätzung urteilen. Und hier stimmen wohl alle kompetenten Beobachter darin überein, daß der Fleiß der Leipziger Studenten durchschnittlich in der Tat rühmenswert ist und sich im allgemeinen auch mehr, als vielfach anderswo, auf breite Gebiete der Wissenschaft erstreckt. Im Lichte dieser Beobachtungen müssen denn auch die Ergebnisse der Preisaufgaben betrachtet werden. Das Resultat für das verflossene Sommersemester war auf diesem Gebiet das Folgende: Die Preisaufgabe der theologischen Fakultät wurde von einem Bewerber, dem stud. theol. Karl Friedrich Straube aus Chemnitz gelöst, und es wurde ihm der einfache Preis zuerkannt. Die Aufgabe der Juristenfakultät hat drei Bearbeiter gefunden. Von ihnen hat einer, stud. jur. Karl Berger, den vollen Preis erhalten; einem zweiten, stud. jur. Johannes Mrose aus Ebersbach in Sachsen, ist eine Gratifikation von 100 Mark bewilligt worden; die Arbeit eines Dritten endlich mit dem Kennwort „Bismarck“ trug zu wenig den Charakter einer wissenschaftlichen Untersuchung, um berücksichtigt werden zu können. In der medizinischen Fakultät ist eine Arbeit eingelaufen; ihr wurde der erste Preis zuerkannt; ihr Verfasser ist der cand. med. Paul Domann aus Wiednitz in der Oberlausitz. Die philosophische Fakultät hat jeweils drei Themata, in jeder ihrer Sektionen je eins, zu stellen. Die diesmalige Aufgabe der ersten Sektion ist nicht zur Bearbeitung gelangt. Die von der zweiten Sektion gestellte kunstgeschichtliche Aufgabe ist zweimal bearbeitet worden: beide Male mit Erfolg. Den ersten Preis erhielt Dr. med. phil. Victor A. Carus aus Leipzig, den zweiten der stud. paed. Curt Buschmann aus Werdau i. Sachsen. Ebenso war der Erfolg für die von der dritten Sektion gestellte Preisaufgabe; hier wurde die Lösung des stud. rer. nat. Erich Schobert aus Dresden mit dem ersten, die des stud. math. Johannes Süß aus Schlettau mit dem zweiten Preise gekrönt. Die Preisaufgaben der Fakultäten für die nächste Bewerbung werden bald im Drucke erscheinen. Ist nun aber mit dem Gebiete der wissenschaftlichen Arbeit der ganze Lebenskreis des Studenten überhaupt umschrieben? Soll er die Jahre seines Studiums wirklich nur und allein gelehrt untersuchen lernen? Ich denke, nicht. Und ich weiß, daß so in den schönsten Zeiten deutscher Universitätsentwicklung seine ganze Aufgabe niemals erfaßt und bezeichnet worden ist. Die Zeit, ja die Muße muß sich für ihn finden, in der er auch einmal über die vier Pfähle seines Studiums hinwegblickt in die weite Welt seiner Umgebung, und, natürlich noch in jugendlicheinfachen Formen, teilzunehmen sucht an dem vollen Leben der Nation: denn ewig 1013

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bleibt das Wort wahr, daß wohl ein Talent sich in der Stille bildet, ein Charakter aber nur im Strom der Welt. Charaktere aber vor allen brauchen wir, willensgesunde Männer, deren Sinn gerade, und deren Blick vorwärts gerichtet ist. Wie sie zu bilden und zu erziehen seien? Niemals, und in den Jahren jugendlichen Heranreifens erst recht nicht anders, als durch Erfahrung: durch gegenseitiges Anziehen und Abstoßen, durch das Verfolgen anderer als nur persönlicher Interessen, durch Eintauchen der ganzen eigenen Persönlichkeit ins Allgemeine bis, wenn es not tut, zum Opfer. Dies ist der letzte tiefste Sinn all der zahlreichen studentischen Vereinigungen, die seit Jahrhunderten in so reicher Blüte dem Boden der deutschen Universitäten entwachsen sind, dies auch der Sinn der seit Menschenaltern wiederholten Bestrebungen aller Studentenschaften zur Gründung allgemeiner studentischer Lebensgemeinschaften. Sie aber wissen, meine Damen und Herren, daß ich, indem ich diese Worte spreche, mich nicht von den Pflichten des einfachen Jahreschronisten unserer Universität entferne. Das verflossene Jahr war reich an Kämpfen auf dem soeben und namentlich zuletzt umschriebenen Felde, und es hat Triumphe und Niederlagen, Sieger und Besiegte gegeben. Aber wir haben das Glück, davon schon jetzt schweigen zu können. Denn über dem mancherlei Hin und Her des Streites um eine allgemeine Studentenverfassung hat sich an unserer Universität schließlich eine Einigkeit letzter öffentlich studentischer Interessen ergeben, wie sie in der Geschichte des deutschen Studententums nicht eben häufig beobachtet werden kann. Doch warum soll ich, meine studentischen Herren Kommilitonen, im Einzelnen von Dingen sprechen, die Ihnen allen wohl bekannt sind. Sie wissen, wie Sie, von Rektor und Senat in all Ihren Körperschaften und Personen ordnungsmäßig berufen, im Verlaufe des beendeten Sommersemesters in die Lage versetzt worden sind, sich ganz nach eigenem Ermessen eine Gesamtverfassung der Leipziger Studentenschaft zu geben. Sie wissen, wie Sie diese Aufgabe einmütig in der einstimmigen Annahme einer solchen Verfassung durch sämtliche über fünfzig Korporationen und durch die überwältigende Mehrheit einer gesetzlich berufenen Versammlung der Nichtinkorporierten gelöst haben; und ich kann dem heute nur noch die Mitteilung hinzufügen, daß Ihre Vorlage unter geringen, fast nur redaktionellen Änderungen auch durch Kommission des Senates, die zu Beratung und endgültiger Beschlußfassung in dieser Materie berufen war, einstimmige Annahme gefunden hat. Das ist fürwahr ein seltenes Zusammentreffen von Einstimmigkeiten. Und wir dürfen hoffen, daß bei der genauen Einsicht des Königlichen Ministeriums des Kultus und öffentlichen Unterrichts in die geistige Verfassung der Studentenschaft und bei dem offenkundigen und oft bewährten Wohlwollen des Herrn Kultusministers für Sie alle, auch die Bestätigung der Regierung diesem Werke nicht fehlen wird. Was aber wäre wohl, wenn die Bestätigung einträte, erreicht? Ich will es hier mit keinem Worte ausmalen; fühlen wird es Jeder von Ihnen, der für das Ganze der Studentenschaft ein Herz hat. Aber das Folgende wenigstens lassen Sie mich noch hinzufügen. Die Organisation, die Sie sich gegeben haben, stellt die erste wirkliche Studentenverfassung auf deutschen Universitäten dar. So erscheint sie jetzt schon vielen anderen Studentenschaften der Nation als erstrebenswertes Ziel, und noch 1014

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bevor sie bei uns eingeführt ist, beginnt man sie schon nachzuahmen. Das verpflichtet Sie. Ist die Verfassung erst genehmigt, so betrachten Sie Ihre Bestimmungen als eine Reihe unverbrüchlicher Kleinodien, und unterlassen Sie jeden Versuch, da oder dort aus dieser Reihe Stücke zu brechen oder zu ändern. Und weiter. Versuche keine Person und keine Korporation sich dem Leben dieser Verfassung zu entziehen. Wer dies tut, wird es der Regel nach, nicht in Strafen, sondern in Schlimmerem, in mißlichen Lebensschicksalen büßen müssen. Aber selbst wenn solche Folgen nicht in Aussicht zu stehen scheinen, halten Sie an der Verfassung fest um des Ganzen willen. Am Niederrhein kursiert noch aus den guten Zeiten des alten Reiches ein bei aller Einfachheit politisch tiefes und wahres Wort: Hol fass am Rich, do Köllscher Buur, et falle söss of suur: Halt fest am Reich, du Kölner Bauer, es falle süß oder sauer. Dieses Wortes, meine Herren, gedenken Sie, wenn sich Ihnen die Versuchung der Uneinigkeit naht, und dann lassen Sie sich mahnen durch die Erinnerung an die feierliche Stunde, in der Sie es hier gehört haben. Und nun lassen Sie mich zu dem Haupt- und Kernpunkte unsrer Feier übergehen: zu der feierlichen Übertragung des Rektorats auf den recht erwählten und recht bestätigten Rektor des neuen Jahres, wie ich sie als meine letzte Amtshandlung, als Oberhaupt unserer Gemeinschaft während des verflossenen Jahres, vorzunehmen habe. Ich ersuche die Versammlung, sich von den Sitzen zu erheben, und fordere Sie, Herr Dr. Heinrici, auf, als mein Nachfolger das Katheder zu besteigen, den Amtseid auf die Statuten unserer Gemeinschaft zu schwören, und die Abzeichen Ihres Amtes aus meiner Hand entgegenzunehmen. Sie schwören bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, daß Sie die Verfassung und die Gesetze der Universität treu und gewissenhaft beobachten und die Pflichten des Ihnen anvertrauten Amtes als Rektor nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen wollen. Hiernach verkündige ich Sie, den Dr. der theol. und phil. Georg Heinrici, zum Rektor der Universität für das Jahr 1911/12 und vollziehe an Ihnen nach altem, von den Vätern heraus vererbtem Brauche die feierliche Investitur. Ich übertrage auf Euer Magnifizenz den Hut und den Mantel, die Abzeichen Ihrer freien Würde, die Kette, mit der Königliche Huld den Leipziger Rektor geschmückt hat, das Siegel der Universität, womit Sie deren Willen rechtlich zu beglaubigen befugt sind, die Statuten, die Sie treu zu hüten und zu halten haben, und den Schlüssel des Hauses, ein Symbol Ihrer hausherrlichen Gewalt in diesen Räumen. Und nun lassen Sie mich Ihnen als Erster huldigen und Ihnen Glück wünschen. Gottes Segen ruhe reich auf all Ihrem Walten! ***

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Georg Heinrici (1844–1915)

31. Oktober 1911. Rede des antretenden Rektors D. Georg Heinrici. Die Eigenart des Christentums. Hochansehnliche Versammlung! Wir stehen in einer tiefgehenden religiösen Bewegung. Die Frage nach dem Wesen des Christentums wird lebhaft von der Wissenschaft erörtert; die Frage nach seiner Lebensfähigkeit und seinem Lebensrecht hält die Gemüter in Spannung. Wenn daher ein Theologe die Ehre hat, als Vertreter unserer Universität sein Amt in feierlicher Stunde zu übernehmen, so ist ihm die Aufgabe für seine Einführungsrede durch die Zeitumstände gegeben. Die Wissenschaft bewährt ihr Leben und ihre Kraft nicht allein durch ihre Methode, sondern vor allem durch den Wert des Gegenstandes, den sie methodisch bearbeitet. Wie also ist das Christentum zu werten? Entspricht es seiner Bedeutung, daß an unseren Hochschulen eine eigene Fakultät seiner wissenschaftlichen Bearbeitung sich widmet? Mit anderen Worten: ist das Christentum eine Religion, deren Eigenart und deren weltgeschichtliche Bedeutung sie zu einem Kulturfaktor macht, durch dessen sachgemäßes Verständnis sowohl das Urteil über die Vergangenheit wie auch die Lebensbedingungen der Gegenwart entscheidend bestimmt sind? Das ist eine weltweite Frage, deren Tragweite das bekannte Wort Goethes beleuchtet: der Kampf des Glaubens und des Unglaubens ist das Hauptthema der Weltgeschichte. In dem engen Rahmen einer akademischen Betrachtung ist sie nicht zu erledigen. Denn fragen wir nach den Ursprungsbedingungen des Christentums, so ist sein Verhältnis zur alttestamentlichen Religion, zum Spätjudentum, zum Hellenismus, zu den sozialen Lebensbedingungen, zum römischen Staat und überhaupt zu den Kulturreligionen zu ermitteln, fragen wir nach seiner Entwicklung und Bewährung in der Geschichte, so entfaltet sich ein fast unübersehbar reiches und mannigfaches Bild der verschiedenartigsten Beziehungen und Wechselwirkungen, in denen Liebe und Haß, heiliger Eifer und wilde Leidenschaft, Irrwahn und Überzeugungstreue miteinander ringen; denn jede ideelle Macht ist auch mit den Fehlern derer, die für sie eintreten, belastet. Und doch ist es erreichbar, zwar nicht durch Vergleichung und Abwägen, aber durch Feststellung der schöpferischen Ideen und Kräfte, vermöge deren das Christentum sich in der antiken Welt durchgesetzt hat, in knappen Zügen eine Antwort zu gewinnen auf die Frage: Worin 1017

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bewährt das Christentum seine Eigenart und seinen Anspruch darauf, als Kulturkraft sich zu behaupten? Demgemäß orientieren wir uns über charakteristische Wertungen des Christentums durch Männer der Wissenschaft, über Motive und Eindrücke, durch welche Träger der antiken Kultur Bekenner des Christentums wurden, um sodann aus den klassischen Quellen und Urkunden dieser Religion, den neutestamentlichen Schriften, zu ermitteln, wie sie sich in ihrer Werdezeit einschätzt, was sie beansprucht und was sie geleistet hat. I. Der erste, der als Historiker in großem Stile über die geschichtliche Tatsache des Siegeszugs des Christentums in dem römischen Weltreiche sich Rechenschaft gab, war Edward Gibbon. In dem berühmten fünfzehnten Kapitel seiner Geschichte des Verfalls und Untergangs des römischen Reichs handelt er von der Verbreitung und Einführung des Christentums. Seine Absicht ist, wie das bei dem klassischen Historiker der Aufklärung zu erwarten steht, „eine unbefangene, nach den Grundsätzen der Vernunft angestellte Untersuchung zu geben.“ Zu dem Zweck will er zwischen der Religion, deren Wesen er bei Seite stellt, und ihren Bekennern scheiden. Es kommt ihm auf die Erkenntnis der „menschlichen Ursachen“ an. Und diese sind nach seinem Urteile allerdings „allzumenschlich“. Fünf Momente hält er für entscheidend: Zuerst den unbeugsamen, intoleranten Eifer der Christen, der jedes Kompromiß verschmäht – eine Erbschaft des Judentums; – sodann die Verheißungen des Lohns im Jenseits, die über die sozialen Nöte hinwegtäuschten, und die Furcht vor den Höllenstrafen; ferner die sensationellen Kraftproben durch Wunder und Zeichen, wie die antike Welt sie erwartete. Dazu kommt die strenge Moral, die Buße forderte und zu asketischen Leistungen anspornte, die Ausgeburt eines finsteren Geistes, endlich die Kirchenzucht der christlichen Republik, wodurch sie ein Staat im Staate wurde. Diese Auffassung erinnert an das kühne Unternehmen jener Schauspielertruppe, deren Leiter erklärte, sie würde den Hamlet ohne den Hamlet aufführen, da der Darsteller der Hauptrolle erkrankt sei. Das Christentum ist eine Religion. Das Wesen und die Wirkungen einer Religion werden doch vor allem durch den Nachweis ihrer Grundkräfte deutlich. Nach den Ermittelungen Gibbons liegen diese im Zelotismus, in der Lohnsucht, in der Todesfurcht, im Wunderglauben. Der geistige Gehalt, ebenso die durchschlagenden weltgeschichtlichen Momente, die einzige Tatsache, daß das Christentum als werdende und erobernde Religion nicht in nationaler Beschränkung sich durchsetzt, sondern als übernationale und übersoziale Macht auf dem Boden einer in sich geschlossenen, reich und allseitig ausgebildeten Kultur erwächst, dies bleibt außer Betracht. Dem trägt hundert Jahre später Leopold von Ranke umsichtig Rechnung.1 Zuerst: Für die Weltreligion ist das römische Weltreich die Voraussetzung. „Der Staat macht die Kirche möglich.“ Die zweite Bedingung ist die Gräzisierung der antiken 1

Vgl. Weltgeschichte IX 2 S. 29 f. und die klassische Einleitung zu seinem Werke: Die römischen Päpste, ihre Kirche und ihr Staat.

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Welt, die das Griechische zur Weltsprache ausbildete und eine Weltliteratur erzeugte. Wäre das Christentum im palästinensischen Idiom verkündigt worden, so wäre es als eine nationale Religion aufgefaßt worden. „In der Weltsprache mitgeteilt wurde es den Menschen, wurde es der übrigen Bildung analog.“ Wie aber hat der römische Staat dem Christentum den Weg geebnet? Durch seine Tendenz auf Konzentrierung der Religion in Rom. Durch die Übernahme der orientalischen Kulte in die Welthauptstadt verlor das nationale Religionsprinzip seinen Wert und die nationalen Religionen büßten ihre Bodenständigkeit ein. Und weiter: Den Erfolgen des Christentums arbeitete vor „die starke Repräsentation moralischer Tendenzen“ im römischen Wesen und die griechisch-römische Popularphilosophie, die ihren Schwerpunkt in der Gesinnungslehre hatte. In ihr wurden eben die großen Daseinsrätsel zum Gegenstande allgemeinen Interesses gemacht. Indem das Christentum mit der Philosophie in Wettbewerb trat, „erkannte man bald, daß es mit den größten Produktionen des menschlichen Geistes zusammentraf.“ Indem es grundsätzlich die Forderungen des Staates von den Ansprüchen der Religion schied, eroberte sich die Religion das ihr zukommende Reich: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“. Soweit Ranke. Aber wie ist nun das Christentum im Zusammenhange mit der antiken Kultur zu beurteilen? Hier setzt die Arbeit derer ein, die im letzten Menschenalter in mehr oder weniger sorgfältiger, oft auch in einseitiger Induktion sowohl für die religiösen, wie für die philosophischen und moralischen Bestandteile der Religion den geschichtlichen Beziehungen nachgespürt haben. Nach vereinzelten Anfängen ist die Arbeit der Gegenwart eifrig damit beschäftigt, immer vollständiger die in Betracht kommenden Tatsachen zu sammeln, zu buchen und für das geschichtliche Verständnis des Christentums nutzbar zu machen. Neue Gebiete sind erschlossen. Der Orient mit seinen uralten Kulturen ist durch erfolgreiche Entdeckungen uns näher gerückt, das Volksleben Ägyptens, sein Handel und Wandel, seine Verwaltung, seine Religionsverhältnisse sind durch die Papyrusfunde in ungeahnter Weise veranschaulicht, die sozialen Verhältnisse der griechisch-römischen Welt, das Genossenschaftswesen, der Aberglaube, die Lebensanschauungen des Volkes sind aus den Inschriften und den Papyri auf das lebensvollste vergegenwärtigt. Während in der Literatur die Geistesaristokratie zu Wort kommt, sind auf Grund jener Funde die Unterströmungen bloßgelegt. Wir besitzen nach umfassender, unermüdlicher Arbeit ein in jeder Hinsicht erweitertes Material für eine Kulturgeschichte der griechisch-römischen Welt, in der das Christentum seinen Platz in dieser Welt sich erobert hat. Auch von philologischer Seite sind der Theologie die kräftigsten Anstöße gegeben, für die geschichtliche Erkenntnis des Christentums diese Fülle neuer Zufuhr von Tatsachen auszubeuten. Dazu kommen die vertieften Einsichten in das Wesen des Menschen und seine geistige Organisation, die wir den Fortschritten der Psychologie verdanken. Reiche Früchte sind durch Ausnutzung dieser Errungenschaften bereits gezeitigt, aber weit entfernt sind wir noch von einheitlichen Ergebnissen. Hier wird das Christentum als synkretistische Religion beurteilt, die einem Parasiten vergleichbar von vieler Herren Tische die Sporteln gesammelt hat. Werde es daher in seine Bestand1019

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teile zerlegt, so finden sich darin enthusiastische, moralische, intellektuelle, magische, abergläubische Elemente, die sich sämtlich aus entsprechenden zeitgeschichtlichen Erscheinungen ableiten lassen. Es stelle sich dar als Entwicklungsprodukt einer Übergangszeit. Dort hingegen werden diese Ableitungsversuche als Verdunkelung des wahren Tatbestandes und als Entleerung des schöpferischen Wesens des Christentums zurückgewiesen. Sie machen fälschlich jede Analogie zur Genealogie der Ideen. Sie verkennen, daß epochemachende Tatsachen nicht durch Anleihen ihre Bedeutung erhalten, sondern durch die neue Kraft, die zerstört und baut, die auflöst und sammelt, die sicher Richtung gibt und sieghaft vordringt. Gerade durch die Analogien, mit denen Werte des Christentums geprüft werden sollen, wie der Chemiker die Stoffe mit Reagentien prüft, um ihre Eigenart zu ermitteln, erweise sich das Christentum als eine originale Religion. Was es gemeinsam hat mit der Umwelt, erfasse es in neuer Weise; was es Neues bringt, behandele es wie Gemeingut der Menschheit: τὰ κοινὰ καινῶς, τὰ καινὰ κοινῶς. Wer es verstehen will, müsse mit den schöpferischen Persönlichkeiten Fühlung suchen, denen es seinen Ursprung verdankt. II. Dies eben ist der Eindruck, den die Bekenntnisse einer Reihe von Männern der alten Kirche wiederspiegeln, die in vollem Sinne auf der Höhe der Bildung ihrer Zeit standen und die dem Christentum in seiner Jugendfrische begegneten. Sie waren Kulturträger und Wahrheitsucher; Gottsucher würde man heute sagen, aber allerdings Gottsucher, die nicht grundsätzlich am Finden verzweifelten, die vielmehr suchten, wie der Kaufmann im Gleichnisse, der die köstliche Perle suchte, oder der Mann, der den Schatz im Acker entdeckte und alles daran gab, um ihn zu besitzen. Verschieden sind die Wege, die sie zum Christentum führen. Was aber die Suchenden im Christentum finden, ist das Gleiche: ein gesichertes, wirksames Lebensideal, das Kraft und Freudigkeit zur Selbstbehauptung im Leben und Mut zum Sterben gibt, eine Religion, die ihnen das gibt, was sie von der Philosophie vergebens gefordert haben. Eingehend berichtet Justin, der Philosoph und Märtyrer, im Anfange des Gesprächs mit dem Juden Tryphon über die Erlebnisse seiner Seele. Der Trieb zur Wahrheit beherrscht ihn. Die Philosophie „die wertvollste von Gott geehrteste Errungenschaft“ der Menschheit verheißt sie. Er sucht die Wahrheit bei den Stoikern, die aber wußten nichts, was das Herz fest machte, von Gott zu sagen. Er wendet sich an den Peripatetiker; der will zuerst Honorar haben, ehe er ihm seine Weisheit preisgibt. Der Pythagoreer aber fordert von ihm, daß er zuerst Musik, Astronomie und Geometrie studiere, ehe ihm die Pforte zur höchsten Weisheit erschlossen werden könnte. Erst der Platoniker bietet ihm Seelennahrung; er spürt, daß seiner Seele Flügel wachsen, wie er eingeführt wird in die Ideenwelt. Er möchte Gott schauen. Aber hier versagt auch Plato. So sucht Justin unruhig und unbefriedigt die Einsamkeit. Am Meeresufer begegnet ihm ein Greis, dem Frieden und Heiterkeit aus den Augen leuchten. Es ist ein Christ. Und wie er dem suchenden Philosophen die Grundlagen seines inneren Glücks enthüllt, da ward „ein Feuer in seiner Seele entzündet 1020

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und heiße Sehnsucht nach den Propheten und jenen Männern, welche Freunde Christi sind“, erfüllt ihn. In Christus findet er den Felsen, von dem lebendiges Wasser in die Herzen derer strömt, die durch ihn den Allvater lieben, wenn sie dieses Lebenswasser trinken wollen. Ein Gegenstück zu dieser Seelengeschichte bietet das Bekenntnis eines pessimistischen Grüblers, den die Frage nach dem Schicksal des Menschen und dem Wesen des Alls nicht zur Ruhe kommen ließ. Es findet sich in der ersten Homilie des Klemens und ist ein echtes document humain. Die Philosophie läßt den Suchenden im Stich. Er erlahmt an ihren Widersprüchen. In immer neue Zweifel gerät er. Aber er kann sich auch nicht entschließen, in epikurëischem Lebensgenuß die Zweifel zu ersticken. In Ägypten hofft er endlich bei den Hierophanten der Mysterien Erleuchtung zu finden. Die sollen ihm einen Geist zitieren, der ihm auf seine Fragen zuverlässige Antwort gibt. Aber es wird ihm klar gemacht, daß auch Geister betrügen können. Da trifft ihm die Botschaft von dem Sohne Gottes, der in Palästina das Evangelium verkündigt und verwirklicht habe. Diese gewährt ihm, was er bisher vergeblich gesucht hat. Das reichste und ergreifendste Bild von dem Suchen und Ringen, das zum Ziele führt, gibt Augustin in seinen Bekenntnissen. Erfüllt von dem aristokratischen Bewußtsein überlegener Einsicht, als Lehrer der Rhetorik mit glänzendem Erfolge sich betätigend, in der Philosophie Platos allseitig orientiert, erscheint ihm zunächst das Christentum, wie es die Kirche bekennt und das Neue Testament darbietet, unterwertig (Confess. III 5). Der Manichäismus fesselt ihn. Er dringt tief ein in das Wesen dieses phantasievollen Dualismus und wird eben dadurch an ihm irre. Seine fromme Mutter Monika wird ihm zu einer lebendigen Predigt. Schmerzliche Erfahrungen und Enttäuschungen weisen ihn immer wieder auf das Christentum hin. Von neuem greift er zu der heiligen Schrift und beginnt Paulus zu verstehen. Durch ihn erkennt er den Abstand der platonischen Weisheit und jener Lehre, die Christus Jesus als die verkörperte Liebe, die sich auf dem Grunde der Demut erbaut, verkündigt. In dieser Anschauung lösen sich ihm die Widersprüche, die er vorher im Christentum fand. So wird er Christ (Confess. VII 19-21). Das Hochgefühl aber des Wahrheitsbesitzes, kraft dessen der Christ sich als Herr aller Dinge weiß, ist besonders kräftig und einleuchtend von Cyprian von Karthago zum Ausdruck gebracht. Er schreibt an Donatus (I 1): „Nimm hin was, ehe es gelernt wird, empfunden und erfahren werden muß“ (accipe quod sentitur antequam discitur). Dann schildert er, wie er zur inneren Erneuerung, zur Seelenruhe, zu einem sicheren und stetigen Selbstbewußtsein gekommen ist. Wie von hoher Warte überschaut er die Ergebnisse der antiken Kultur, ihre grausamen Lustbarkeiten, ihre brutale Genußgier, ihre müde Perversität, ihren Aberglauben, ihren entleerten Kultus, ihre sich selbst auflösenden philosophischen Bestrebungen. Wie rein und licht ist dagegen die Luft, in welcher der Christ atmet. Überblicken wir diese Bekenntnisse, so wird in ihnen eine gewisse Überraschung kund über den Reichtum und die herzbezwingende, einleuchtende Kraft des Christenglaubens. Es erscheint dies wie etwas Neues, Unvergleichliches. Eben deshalb wird es mit um so größerer Hingabe ergriffen. Goethe hat einmal gesagt: „Das 1021

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Christentum ist so tief in der menschlichen Natur und ihrer Bedürftigkeit begründet, daß auch in dieser Beziehung mit Recht zu sagen ist: des Herren Wort bleibt ewiglich.“2 Diese Bekenntnisse liefern hierzu die Belege. Es erfaßt die tiefsten Wahrheiten in der schlichtesten Form. Es ist die einheitliche Geschlossenheit, die allgemeine Zugänglichkeit, die erfrischende Volkstümlichkeit, auch die Knappheit und Bestimmtheit der Verkündigung, wodurch die Herzen gewonnen werden. Seinen Wahrheitsgehalt bietet es dar als „kurzgefaßte Gottesrede“ (Röm. 9, 28), deren Kraft im Leben sich erprobt, eine kurzgefaßte Rede, in der Gott den Weg zu Gott weist. Es bewährt sich als Religion im Unterschiede von der Philosophie, wie das in dem erwähnten Wort des Cyprian bündig erfaßt ist: „Nimm hin was, ehe es gelernt wird, empfunden und erfahren werden muß.“ Der Antike bleibt der Glaube an eine geschlossene religiöse Weltanschauung fremd. Celsus sagt, ganz töricht sei die Meinung, daß Hellenen und Barbaren in Asien, Europa, Lybien, alle bis zu den Grenzen der Welt, auf eine Glaubensnorm sich einigen könnten, daher bleibe jeder in der Religion, die er von den Vätern überkommen hat.3 Dagegen preist Clemens von Alexandrien ebenso wie Origenes das Christentum, weil es, was menschlicher Irrtum zerstreute, wieder zu einem Ganzen einer allen zugänglichen Wahrheit verbände. Eben diese Wahrheit leiste, was der Philosophie versagt bleibt. Justin (Apolog. II 10) führt das aus: „Sokrates trieb die Menschen an, nach der Erkenntnis des ihnen unbekannten Gottes mit der Vernunft zu streben, indem er sprach: Den Vater und Schöpfer alles Daseins ist es weder leicht zu finden, noch, wenn man ihn gefunden, ist es möglich, ihn allen bekannt zu machen.4 Das eben hat unser Christus durch seine Kraft geleistet. Denn durch Sokrates ließ sich niemand dazu bestimmen, für seine Lehre zu sterben, Christus aber, von dem auch Sokrates eine Ahnung hatte, folgten nicht allein Philosophen und Gelehrte, sondern auch Handwerker und ganz unwissende Menschen. Sie verachteten Ehre, Furcht und Tod, da hier die Kraft des sonst unnahbaren Vaters ist und nicht was durch Beweise menschlicher Vernunft gewirkt werden kann.“ Eben diesen Eindruck hat der gelehrteste und geistesmächtigste der theologischen Klassiker, der Alexandriner Origenes, der Mann mit den stählernen Nerven (Adamantinos), in seiner Streitschrift gegen Celsus mit siegesgewisser Freudigkeit immer von neuem wiedergegeben. Dies Werk übrigens ist eine mächtige Geistestat. Mit sicherem Blick erfaßt Origenes, am Alten und Neuen Testamente sich orientierend, die Grundgedanken des Christentums und gewinnt von ihnen aus die Richtlinien für seinen Wahrheitsbeweis. Chrysostomus sagt einmal kurz und bündig: das Christentum macht auch die Bauern zu Philosophen. Damit ist der Sinn des Origenes getroffen. „Im Gegensatze zu den unsicheren Führern der antiken Kultur hat der Christ, so führt dieser aus, die heiligen Männer in der Schrift, die den Weg zur Frömmigkeit weisen und von ihren eigenen Erfahrungen in voller Offenheit Rechen2 3 4

Theodor Vogel, Goethes Selbstzeugnisse. 1888 S. 165 Nr. 770. Origenes gegen Celsus VIII 72 (Wer das glaubt, weiß nichts). Vgl. auch V 26 f. 34. 38. Vgl. Plato Timäus 28 c. Bei Justin findet sich neben ἀδύνατον die Lesart οὐκ ἀσφαλές, „nicht gefahrlos“.

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schaft geben. Ihre Wahrheit ist jedem zugänglich, der Weise schöpft aus ihr die Theologie, die ihn über die irdischen Dinge erhebt, der schlichte Mann, dem es an tieferer Einsicht gebricht, das einfache Weib, der Sklave, kurz jeder, der arm und hilflos ist, versteht eben soviel davon, daß er daraus eine zuverlässige und gesunde Seelennahrung gewinnt“ (gegen Celsus VII 41). Und wie befreiend wirkt das Christentum! „Der Christ, auch der ungebildete (ἰδιώτης), ist überzeugt, daß die Welt ein Tempel Gottes sei und daß er allerorten Gott finde. Wo er auch bete, schließt er die Augen der Sinne und öffnet die Seelenaugen, und so schwingt er sich über die Natur“. Die Seele löst sich von der Naturgebundenheit. So wird in unmittelbarem Verkehr mit Gott die Menschenfreundlichkeit des himmlischen Vaters zur Gewißheit (VII 10. 41. 44). III. Rechtfertigt das Wesen und der Gehalt des Christentums, wie wir ihn aus seinen klassischen Quellen, den im Neuen Testamente vereinten Schriften, kennen lernen, diese Eindrücke? Kein Gegensatz kann größer sein, als der zwischen den Ansprüchen der Urverkündigung und der Beurteilung ihrer Bekenner in der Umwelt. Einerseits: „was kein Auge gesehen und was kein Ohr gehört hat, das hat Gott bereitet denen, die ihn lieben“, so wertet Paulus Jesu Werk. Als genus tertium stellt sich die Christenschaft den Juden und Griechen, das will sagen: den Trägern der nichtchristlichen Religionen, gegenüber (1. Kor. 10, 32). Andrerseits: wie die Umwelt das Christentum zu beachten sich gezwungen sieht, wird es als verderblicher, maßloser Irrwahn beurteilt, der abergläubische Gemüter in den Unterströmungen der Gesellschaft erregt, als unerhörte Barbarei. Es erscheint als ein schädlicher Fremdkörper im Staatswesen, als lichtscheuer Kulturfeind. Es wird zuerst verachtet, dann verfolgt, dann auch mit geistigen Waffen bekämpft. Und doch behauptet es sich. Es erobert die besten Köpfe, es erzeugt eine neue Literatur, ja nach drei Jahrhunderten suchen Staat, Gesellschaft, Wissenschaft in dem Christentum, das sie nicht vernichten konnten, ihren Halt. Es tritt die Herrschaft an über die Welt, eben die Religion, die nicht von dieser Welt sein wollte, aber trotzdem in der Welt ihre Wirkungskraft behauptete. Mögen wir über die Wege und Wandelungen, die das Christentum in diesen einzigartigen Peripetien durchgemacht hat, auch verschieden denken, eines steht fest: solcher Erfolg fordert volle unverbrauchte Kraft. Daher fragen wir: Wo liegen ihre Wurzeln und Quellen? Mit welchen Mitteln hat sie sich zur Geltung gebracht? Jene Männer, deren Bekenntnisse soeben vergegenwärtigt wurden, weisen sämtlich auf den gleichen Quellpunkt ihrer Überzeugung. Sie erhalten den entscheidenden Anstoß von christlichen Persönlichkeiten, deren Gesinnung und Lebensführung durch Jesus erneuert worden ist. Und wie rechtfertigen sie die durch Jesus gewonnenen Überzeugungen? Sie nehmen das Alte Testament, die religiöse Nationalliteratur der Hebräer, als ihr Eigentum in Anspruch; denn Jesus der Herr als der Vollender aller Gottesoffenbarung ist ihnen aus der Verheißung verständlich geworden. So vollzieht sich eine der folgereichsten Enteignungen der Weltgeschichte. Ein nationales Religionsbuch wird Weltbibel. Von dem Jesus aber, dessen Sendung und Werk 1023

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sie vom Alten Testamente aus sich verständlich machen, geben zunächst die Männer Kunde, die mit Jesus gewandelt sind, und dann deren Schüler. Zu dem mündlichen Zeugnis kommen die zuverlässig bezeugten spärlichen schriftlichen Dokumente der urchristlichen Bewegung, die im Laufe des zweiten Jahrhunderts als Neues Testament das Normbuch der Christenheit geworden sind. Das Neue Testament, eine einzigartige Schriftensammlung. Kein Stück derselben war für den literarischen Markt bestimmt. Diese Schriften sind der schriftliche Niederschlag der Missionsarbeit und der Seelsorge des Urchristentums. Und eben sie dienen dann dem Unterricht und der Erbauung als Grundlage für die Orientierung über Inhalt und Wesen des Christentums. Wie verschieden sind sie. Die Evangelien enthalten Zeugnisse von Jesus und Erinnerungen an Jesus von Nazaret. Sie sind Glaubensbücher, die in ehrlicher Überlieferung, im Rahmen des antiken Weltbildes die Worte Jesu und die Tatsachen sammeln, welche die göttliche Sendung Jesu beglaubigen. In ehrlicher Überlieferung; nichts Menschliches in Jesu Wirken wird versteckt – wieviel Not machte dies später den Theologen; – die Schwachheit und Befangenheit der Jünger wird nicht beschönigt, erst eine spätere Zeit hat die Apostel mit dem Heiligenschein geschmückt. Die Briefe dienen teils den besonderen Bedürfnissen und Beschwerden bestimmter Gemeinden, teils fassen sie die Grundwahrheiten der Verkündigung hier schlicht und thetisch, dort abgrenzend zusammen. Sie sind zugleich Zeugnisse von den Kämpfen, in denen das Christentum Klarheit über seine Weltmission sich errang und seine Unabhängigkeit vom Judentum durchsetzte. Und wie Beigaben kommen zu den Evangelien und den Briefen die Apostelgeschichte und die Apokalypse. Jene, die auffallender Weise keines der im Neuen Testamente vorhandenen Briefe gedenkt, gibt fragmentarische Berichte über die Muttergemeinde in Jerusalem und die Missionsarbeit des Paulus, diese ist ein Trost- und Mahnbuch, das sich als liturgisches Vorlesungsbuch einführt. Eindrucksvoll, in bewußt inkorrekter Sprache, verbindet es christliche Gedanken mit spätjüdischen Fassungen der Endhoffnung unter dem Eindruck der Verfolgungen des römischen Staates. Jede dieser Schriften hat ihr individuelles Gepräge. Alle tragen sie die Spuren der Zeit, in der sie entstanden sind. Ihre Sprache ist meist schlicht volkstümlich im edelsten Sinne, nie glatt und roh, durchweg anregend, kraftvoll, anschaulich, reich an originalen Wendungen und Ausdrücken, auch neue Worte für neue Wahrheiten prägend. An Ungleichheiten und Unstimmigkeiten sind sie reich, sowohl in den Berichten von Tatsachen, wie in der Art der Begründung von Glaubenssätzen. Und doch ist es der eine und selbe Geist, der sie alle durchdringt und der herzbezwingend die Herzen derer ergreift, die in ihnen die Wahrheit suchen. Eine Grundwahrheit trägt alles, was in verschiedener Weise nach klarem Ausdruck der frommen Lebenserfahrungen ringt: es ist die lebensvolle Anschauung von Jesus, dem Nazarener, dem Lehrer, dem Propheten, dem Messias, dem Weltheiland, der, wie Schleiermacher sagt, „aller Vermittelung Mittelpunkt geschichtlich geworden ist“. Origenes betont wiederholt das Paradoxe in den neutestamentlichen Schriften. Das Paradoxeste ist die Gleichsetzung Jesu mit dem Inbegriff aller Wahrheit, diese neue Verbindung der geschichtlichen Person des Jesus, der eine kurze Spanne Zeit 1024

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als Lehrer und Prophet wirkte und alsdann als Gotteslästerer verurteilt und als messianischer Empörer ans Kreuz geschlagen wurde, mit dem Geiste Gottes (2. Kor. 3, 17), mit der „überaus farbenreichen Weisheit Gottes“ (Eph. 3, 10), mit der Hoffnung, dem Frieden, der Heiligung, der Erlösung, der Wahrheit, der Weltvernunft, kurz mit allem, was die Fülle der Gottheit und die Seligkeit der Menschen ausmacht. Diese Gleichsetzung bleibt ein Rätsel, wenn sie nicht bewirkt ist durch den Eindruck von Jesu Werk und Wesen auf seine Jünger. In der Tat, betrachten wir das Bild Jesu, wie es in der Überlieferung der synoptischen Evangelien gefaßt ist, welche die Gesinnung der Jünger treu widerspiegelt, beseitigen wir den Staub der Gewohnheit die den Blick abstumpft für die urwüchsige Kraft dieser Überlieferung, für die lebensvolle Plastik der Erscheinung Jesu, – lassen wir dies alles rein auf uns wirken, so erscheint das Ganze wunderbar mächtig bei aller Schlichtheit, überwältigend groß bei aller Demut, die schneidendsten Gegensätze in sich bindend und lösend. Den Seinen ist Jesu Wesen ein Geheimnis, und doch glauben sie an seine göttliche Sendung. Als der gottgesandte Erfüller von Gesetz und Propheten verkündigt er sich, aber er zerschlägt den Wahn, daß Gesetzlichkeit zur Gottesgewißheit führe. Als Messias läßt er sich begrüßen, aber das Reich Gottes, das er verkündigt, ist ein anderes, als die Zeitgenossen es erwarteten; darum spricht er von den Geheimnissen des Gottesreichs in Gleichnissen, und wiederum spricht er „rein göttliche Worte über die menschlichen Dinge ganz einfach“ aus. In erschreckender Selbstsicherheit nimmt er für sich eine ausschließende Gemeinschaft mit dem himmlischen Vater in Anspruch. Er zerreißt mit einem Ruck die Bande, welche die Zeitgenossen an die religiöse Gewöhnung fesselten; das Heil der Seele, die Gotteskindschaft, ist der einzig entscheidende Maßstab der Wertungen für Zeit und Ewigkeit. So stellt er einerseits die gesteigertesten Forderungen an die Selbstverleugnung. Die Bewahrung der Seele, des inneren Friedens, des Überzeugungsmutes, der Freudigkeit zum Leben ist die höchste Pflicht. Andrerseits zeigt er sich sanftmütig und von Herzen demütig in Schonung der Schwachen. In illusionsfreier Menschenkenntnis durchschaut er seine Umgebung, die Jünger, das Volk, die Sadduzäer, die Pharisäer und Schriftgelehrten. Was er sagt, ist Behauptung ohne Beweis. Er begründet nichts, sondern spricht es einfach als Wahrheit aus. „Die Worte, die ich zu euch geredet habe, sind Geist und sind Leben. ,Wer Ohren hat zu hören, der höre.‘ ,Wer es fassen kann, der fasse es.‘ Aber was er lehrt, das bewährt er im Leben“. Die unlösliche Einheit von Glauben und Tun, von Religion und Sittlichkeit, sie lebt er dar und lebt sie vor. Dieser Jesus stirbt am Kreuz, dem Holze der Schmach, aber für die Seinen ersteht er von Neuem. Im Lichte der Auferstehung enthüllt sich ihnen das Geheimnis der Person Jesu. Im Bekenntnis zum Auferstandenen sammeln sich die zerstreuten Anhänger des Gekreuzigten und sein Geist wird die Lebenskraft der Gemeinde der Gläubigen, die bald vermöge ihres Abstandes vom nationalen Judentum von der hellenistischen Umwelt Christianer benannt werden. Und nun fragen wir, auf welche Weise und in welcher Gesinnung hat diese Gemeinschaft, aus der die christliche Kirche herausgewachsen ist, sich gesammelt, ausgebaut und sieghaft behauptet? Die bewährten Reizmittel, durch welche religiöse 1025

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Verbände anziehend wirkten, ein glänzender Kultus, hieratische Autoritäten waren es nicht, denen sie ihre Erfolge verdankt. Gewiß, enthusiastische Verstiegenheiten regen sich, aber sie beherrschen nicht die Lebensäußerungen. Den Wunderglauben teilen die Bekenner Christi mit ihren Zeitgenossen, aber die Wunder gelten nicht als Machtmittel zur Befriedigung ehrgeiziger oder selbstsüchtiger Bestrebungen, sie gelten als Kundgebungen der göttlichen Fürsorge. Mit dem Orakelwesen der ethnischen Religionen findet sich kaum eine Berührung. Die magischen Praktiken der hellenistischen Mysterienkulte werden nicht übernommen. Ihre Geheimnistuerei ist den Christengenossenschaften fremd; auch der Nichtzugehörige hat Zutritt zu den gottesdienstlichen Versammlungen (1. Kor. 14, 16). Ein nationaler Hintergrund fehlt, durch den die orientalischen Religionen im römischen Weltreiche sich legitimierten; im Gegenteil, die größte Feindschaft entstand dem werdenden Christentum von jüdischer Seite. Die sozialen Verhältnisse bleiben unangetastet, die Autorität des Staates ebenso. Was also bewirkt den Siegeszug der neuen Religion in der antiken Welt? Zwei Größen sind es, beide auf das innere Leben, auf die Formung einer festen Überzeugung wirkend: Die Verkündigung der Freudenbotschaft vom Heil und die Glaubensgewißheit, welche durch diese Verkündigung geweckt ward und der Seele einen festen Halt gab. Die Verkündigung. Ihr Inhalt war die Botschaft von der Gottesherrschaft, die Jesus in seinem Werk und Wandel begründete und die durch ihn die Verheißung auf ihre Vollendung erhalten hat, die Gottesherrschaft im Herzen und im Himmel. In den unscheinbarsten Formen vollzog sich die Verkündigung. Es waren Männer des Volks, Wanderlehrer ohne äußere Mittel, allein angewiesen auf die Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft derer, denen sie das „Wort redeten“, die von Ort zu Ort, von Stadt zu Stadt zogen und überall, wie der Sämann auf den harrenden Acker ihre Wahrheitssaat ausstreuten. Es war für sie ein „Tun im nicht lassen können“. Wir lernen sie kennen aus den Missionsberichten der Apostelgeschichte und aus den bewegten Hinweisen auf seine selbstlose, unermüdliche, nie entmutigte Arbeit für seine Gemeinden, die Paulus seinen Briefen einflicht. Ein Leben in Gefahren und Entbehrungen und Siegen verschiedenster Art entrollen sie uns. Was aber hält die Gottesboten aufrecht, was treibt sie vorwärts, was stählt ihre Kraft und erhält ihre Siegeszuversicht? Es ist ihre Glaubensgewißheit, die sich darauf gründet, daß sie Jesu Kraft und Geist in sich erleben. So wie sie von Jesus erworben und gewonnen worden sind, wissen sie sich gebunden, die Menschheit ihm zu gewinnen. „Für Christus also werben wir, als ob Gott bäte durch uns“ (2. Kor. 5, 20). Der Inhalt dieser Gottesbotschaft bringt religiöse Werte zur Geltung, die unabhängig von jedem Weltbilde und unbeschadet ihres geschichtlich bedingten Ausdrucks zum Herzen sprechen. Sie verkündigt das Heil in Zeit und Ewigkeit, wie der Tod verschlungen ist in den Sieg; denn Jesus hat in seinem Tode den Tod besiegt, auf daß er lebe und herrsche in Ewigkeit. Sein Tod ist ein Opfer der Liebe zur Menschheit und eine Tat des Gehorsams gegen seinen himmlischen Vater. Darum ist er für die Seinen „der Herr“. Das Leben, das der Tod überwindet, ist durch ihn gesichert. 1026

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So wird die Verkündigung der Gottesherrschaft durch Christus zugleich der Erweis des Sieges seines Lebens über den Tod. In mannigfacher Form findet diese Glaubensgewißheit ihren Ausdruck. Was Rechtfertigung, Versöhnung, Erlösung bedeutet, wird durch sie deutlich. In wunderbarer Anpassungsfähigkeit zieht sie alles Wahlverwandte an sich, ohne sich selbst zu verlieren. Durchweg, in allen Verbindungen, die sie eingeht, bewährt sie ihre erneuernde umformende Kraft. Die Botschaft von der Gottesherrschaft wird durch Erweckung der Glaubensgewißheit Allen Alles. Allen? Nicht unbedingt. Jesus richtet sein Wort nicht an die Satten, die in sich Genüge finden, sondern an die Mühseligen und Beladenen, die da Ruhe suchen für ihre Seelen, an die nach Gerechtigkeit hungernden und dürstenden. Wer um Hilfe von ihm zu gewinnen zu ihm kommt, dem weckt die Botschaft von der Gottesherrschaft die Selbsterkenntnis und das Gottvertrauen. Selbsterkenntnis, das will sagen, Erkenntnis seiner Schranken und Verfehlungen. Wo Hemmungen eintreten, kommen sie aus der Umwelt oder aus dem Herzen, da erkennt der Jünger Jesu darin zugleich seine Schuld. Steht er doch im ständigen Kampf zwischen Wollen und Sollen. Dabei erfüllt ihn die Sehnsucht, befreit zu werden aus diesem Zwiespalt. Die Erkenntnis der Sünde treibt ihn zu dem Gott, der dem bußfertigen Sünder in väterlicher Güte durch Christus Vergebung darbietet. Er erfährt es, daß Gott, der heilige und vollkommene, die arme Seele trotz ihrer Schwachheit und Verderbtheit nicht verwirft. Da regt sich ein neues Freiheitsgefühl, es erstarkt der Wille zum Glauben an Gottes entgegenkommende Gnade und der Wille zum Wandel in Lebensneuheit durch Gottes Kraft. So wird die Botschaft von der Gottesherrschaft die formende Kraft der christlichen Persönlichkeit. Der begnadigte Sünder erfährt und bewährt sich als Kind des himmlischen Vaters. Vermöge seines Kindesrechts entzieht er sich aller Knechtung der Menschen und Dinge; denn alles, was ihm begegnet, kommt von Gott, sei es Freude, sei es Leid. „Alles ist euer, ihr aber gehört Christus, Christus aber gehört Gott“ (1. Kor. 3, 23). Mit dem Kindesrecht ist aber auch die Kindespflicht verbunden, ein Nachahmer des Gottes zu werden, der als Vater sich in Jesus Christus kund getan hat und seine Sonne scheinen läßt über Gerechte und Ungerechte (Math. 5, 45 f., 1. Kor. 11, 1, Eph. 5, 1). Daraus ergeben sich neue Wertungen und neue Motive des Handelns. Die Wertungen: Leben und Tod kommt von Gott. Das Leben stellt Aufgaben. Mein Beruf ist mir von Gott anvertraut. Als treuer Knecht Gottes erfülle ich ihn. Der Tod aber ist der Übergang in die volle Gottgemeinschaft. Soziale und nationale Gegensätze werden überwunden durch die Gewißheit, daß Gott der Vater aller ist, reich für alle die ihn anrufen (Röm. 10, 12). Der Reichtum als Gottesgabe verhärtet das Herz nicht, die Armut als Gottes Schickung verbittert nicht. Der Christ kennt keinen Pessimismus, er martert sich nicht durch eigenwillige Kasteiungen, er freut sich mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden. Er stellt seine innere Freiheit nicht unter äußere Autorität; denn das höchste Gut ist das gute Gewissen des Gotteskindes. „So uns unser Herz nicht verdammet, haben wir feste Zuversicht zu Gott“ (1. Joh. 3, 21). „Jeder soll in seinem eigenen Sinne voll überzeugt sein“, sagt daher 1027

Georg Heinrici

Paulus (Röm. 14, 5). „Jeder hat seine eigene Gabe, der eine so, der andere so“ (1. Kor. 7, 7). Darum fragt auch Jesus die Pharisäer: „Warum beurteilt ihr nicht auch von euch her, was richtig ist“ (Luk. 12, 57). In dieser Gesinnung ist die Reinheit der Motive des Handelns gesichert. Das Gotteskind erfährt von Tag zu Tag Gottes Treue und Gottes Hut. Es weiß, daß sein Handeln einen Wert hat für den Schöpfer aller Dinge, daß es nicht blos ein zielloses Spiel der Kräfte ist. Daher erwartet der treue Knecht Lohn, aber nicht wie der Lohnarbeiter, der eifersüchtig rechnet, sondern wie das Kind, das sich an seines Vaters Freude freut und der Güte seines Vaters sicher ist. Im letzten Grunde ist demnach die Dankbarkeit gegen Gott die Regel und der Beweggrund für alles christliche Handeln. Solche Gesinnung isoliert nicht. Nicht wie der Stoiker behauptet der Christ seine Herrenfreiheit durch Abtötung des Mitleids, durch Entwertung der irdischen Lebensbedingungen, sondern durch die suchende, tragende, neidlose Bruderliebe, die aus der Gottesliebe entspringt. „Was ihr wollt, das euch die Menschen tun sollen, das tut ihnen auch“ (Matth. 7, 12). Daher bilden die Gleichgesinnten eine Gottesfamilie in dieser Welt, die durch einen Glauben, eine Hoffnung, eine Liebe sich verbunden wissen. Ihr Ideal ist die organische Auswirkung aller Kräfte, bei der jedes Glied an seinem Platze berufstreu seinen Wert behauptet und zugleich dem andern opferwillig und freudig dient (1. Kor. 12, 12 f.). Als das Christentum in der Zeit der Verfolgungen des römischen Staates seine Kraftprobe zu bestehen hatte, waren es diese Gewißheiten, die es unüberwindbar machte. Sie sind die Frucht des Werkes Jesu. Die Apologeten, welche in jenem großen Kampf Rechenschaft von dem Wesen ihrer Religion geben, stimmen daher darin zusammen, eben diese religiös-sittlichen Kräfte als die Wurzeln der Wahrheit zu erweisen. Eben darauf aber beruht die Eigenart des Christentums. Es ist eine Menschheitsreligion. Es erkennt in den an sich so unscheinbaren geschichtlichen Tatsachen des Wirkens und Leidens Jesu die Kundgebung des Heilswillens Gottes zur Erlösung, das will sagen zur Befreiung vom Schuldgefühl, zur Darbietung der Gotteskindschaft. Es rüstet seine Bekenner aus mit unverwüstlicher, herzbeglückender Lebenskraft und Lebenswahrheit, die sie von allem Aberglauben und aller Menschenfurcht frei macht. Es erfüllt sie mit Dankbarkeit gegen den himmlischen Vater, den sie ehren durch Berufstreue und durch Nächstenliebe. So hat das Christentum trotz aller Irrungen und Wirrungen, die ihm auf dem Wege durch eine zweitausendjährige Geschichte nicht erspart bleiben konnten, sein Lebensrecht behauptet. Allezeit hat es denen, die es verstanden haben, die innere Freiheit, die Lebensfreude und die Herrschaft über sich selbst gesichert. Die deutsche Wissenschaft hat den Ruhm, das Erbe der antiken Kultur und die Überlieferung des Christentums am energischsten erfaßt und bearbeitet und am treuesten bewahrt zu haben. Die Früchte dieser Arbeit beweisen, daß sie keine „Energievergeudung“ sind. Durch diese Arbeit sind die formenden Kräfte unserer Kultur blosgelegt und ihre Werte gesichert. 1028

Antrittsrede 1911

Durch diese Arbeit. Ja, wir leisten Arbeit, die wir uns in unserer Universität zusammenfinden, damit das Wort des Dichters kein leerer Schall werde: „Deutschland du Deutungsland der Weltgeschichte“. Deshalb wende ich mich an Euch, Kommilitonen, wetteifert mit Euren Lehrern in der Arbeit! Und welche Arbeit ist fruchtbar? Ich weiß es nicht besser zu sagen, als mit einem Worte, aber einem inhaltsschweren, gewaltigen Worte. Es lautet: Ehrfurcht. Die Arbeit die in Ehrfurcht geleistet wird, also die Arbeit, welche die erwählte Lebensaufgabe ehrt und die da allezeit fürchtet, der Wahrheit nicht gerecht zu werden, das ist die fruchtbare Arbeit. Ein amerikanischer Gelehrter hat auf Grund seiner Eindrücke gesagt: „Die deutsche Universität ist heute der freieste Fleck, den es auf der Welt gibt. Alle alten Formen und Gesetze des Glaubens, die einmal das Leben der Menschen bestimmt haben, wurden in Frage gestellt, jeder Möglichkeit des Denkens wurde nachgegangen, um zu neueren, tieferen unerschütterlichen Grundlagen zu gelangen“.5 Wir sind stolz auf diese Freiheit. Wir wollen sie uns bewahren, indem wir uns verbinden zu unermüdlicher, unablässiger, schwindelfreier Arbeit, der nichts zu klein ist und nichts zu groß, was sie nicht ins Auge fasse, um die Wirklichkeit zu begreifen und der Wahrheit näher zu kommen. Jeder an seinem Platze, jeder um Meisterschaft ringend in seiner Lebensaufgabe. So helft denn auch ihr dazu, Kommilitonen, die ihr zur militia litteraria euch entschlossen habt, daß unsere Universität allezeit den Ruhm bewahre, eine freie deutsche Arbeitsuniversität zu sein. Und daß der alte Ruhm unserer Universität auch durch Sie, meine Kommilitonen, erhalten und gemehrt werden wird, dazu gibt mir die Kunde Zuversicht, die wir eben erhielten, von der Einigung aller Gruppen unserer reich gegliederten Studentenschaft zu einmütigen Beschlüssen. Solche Gesinnung eint uns und erhält uns leistungsfähig. Wer es über sich vermag, seine Sonderinteressen zurückzustellen um des Wohles des Ganzen willen, der betätigt damit den idealen Sinn und die kraftvolle Selbstbeherrschung, die dauernde Früchte tragen, der weint nicht um das eigene Leiden in des Vaterlandes Untergang, sondern er opfert sich für das Vaterland, wo es gilt ihm zu dienen und sein Wohl zu fördern. So gehen wir unter glücklichen Zeichen ins neue Studienjahr. Verbinde uns die gleiche Freude an der Arbeit und die gleiche Liebe zu unserer Universitas studii Lipsiensis. Das walte Gott. ***

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Joseph Unger, Mosaik. 3. Auflage, S. 109.

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31. Oktober 1912. Rede des abtretenden Rektors D. Georg Heinrici. Bericht über das Studienjahr 1911/12. Hochansehnliche Versammlung! Ein neuer Jahresring unseres Universitätslebens hat sich geschlossen. Es war ein Jahr reich an stiller Arbeit, in der unsere Universität ihren Organismus verfestigte, erweiterte und zur fruchtbaren Geltung brachte, in dem sie ihre alte Anziehungskraft nicht nur bewährte, sondern steigerte, in dem sie auch, nach Goethes Wort, sauere Wochen und frohe Feste in wohltuende Harmonie zu bringen verstand. Es ist die letzte Aufgabe des abtretenden Rektors, Rechenschaft zu geben über die wichtigsten Vorkommnisse des Rektorjahrs. Zunächst ist dankbar unseres Rector Magnificentissimus zu gedenken, der durch den Königsbesuch vom 29.–31. Januar von neuem es betätigte, daß er sich als Zugehöriger seiner Landesuniversität fühlt und im Geiste seiner Vorfahren auch die Pflege und Förderung der Wissenschaft in freier Entfaltung ihrer Kräfte als eine der schönsten Aufgaben landesväterlicher Fürsorge hochhält. Seine Majestät besuchte die Vorlesungen der Professoren Wach, Kittel, Lamprecht, Köster, von Strümpell und Le Blanc mit nie versagendem Anteil. Über die akademischen Verhältnisse orientierte Sie sich mit dem Interesse des Sachkenners. Bei der Begrüßung durch den akademischen Studentenausschuß sprach Höchstdieselbe Ihre Freude darüber aus, daß eine Einigung der Studentenschaft zu gemeinsamem Vorgehen zustande gekommen sei. Die Königsgeburtstagsfeier fand mit Rücksicht auf das Pfingstfest einen Tag vor dem Geburtstage statt. Geh. Hofrat Prorektor Professor Dr. Lamprecht hielt die Festrede, welche Zukunftsbilder von der Entwicklung der Universität Leipzig entwarf. Auch Prinz Johann Georg, dessen wissenschaftliche Interessen und Studien ihn enge mit der Universität verbinden, hat, wie im vorigen Jahre, so auch diesmal das Ägyptologische Museum unter Führung des Direktors Professor Dr. Steindorff besucht. Als Landesuniversität wurzeln wir tief im heimatlichen Boden. Daher freuen wir uns des Bestrebens, bei allem, was das öffentliche Leben bewegt, bei allen wichtigen Veranstaltungen die Teilnahme der Universität zu beanspruchen. Allerdings gehen bei der hervorragenden Beliebtheit, deren sich Leipzig als Kongreß- und Ausstellungsstadt erfreut, die Ansprüche auf Beteiligung weit hinaus über das Maß des Leistungsmöglichen. Hervorheben möchte ich die Teilnahme des Rektors und zahlreicher Mitglieder des Lehrkörpers an dem 400jährigen Jubiläum der Nikolaischule in Leipzig, das vom 22. bis zum 24. Mai gefeiert wurde, sodann die Beglückwünschung der Thomasschule zu ihrem 700jährigen Jubiläum durch den Geh. Hofrat 1030

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Prof. Dr. Seeliger. Auch Gästen öffnete die Universität ihre Räume. In der Wandelhalle wurde der deutsch-amerikanische Lehrerbund, der auf seiner Deutschlandfahrt Leipzig besuchte, am 4. August durch den Prorektor Dr. Lamprecht begrüßt und durch einen Vortrag des Professor Dr. Spranger über deutsche pädagogische Wissenschaft orientiert. Vom 17.–20. Oktober endlich tagte die Gesellschaft für Hochschulpädagogik unter dem Vorsitz Dr. Lamprechts in der Universität. Außerhalb Leipzigs war die Universität bei der Eröffnung des internationalen Kongresses für Kunstunterricht, Zeichnen und angewandte Kunst in Dresden am 12. August durch den Rektor, bei dem ebenda abgehaltenen Verbandstag des Vereinsverbandes akademisch gebildeter Lehrer Deutschlands (9.–12. April 1912) durch Geh. Studienrat Prof. Dr. Jungmann vertreten. Aber Leipzig ist nicht nur Landesuniversität; die Wissenschaft ist universell. Dies findet seinen Ausdruck in den Einladungen, die aus allen Landen unseres Erdballs eintreffen. Viele darunter sind internationale Höflichkeitserweise, Aufforderungen zur Teilnahme an Repräsentationsakten mehr lokaler Bedeutung. Aber bei den sachlich bedeutenden Feiern hat Leipzig nicht gefehlt. Der Universität Athen wurden zu ihrem fünfundsiebzigsten Jubiläum (7.–14. April), das mit der Tagung des Orientalistenkongresses verbunden war, durch Geh. Hofrat Prof. Dr. Bethe und Geh. Kirchenrat Prof. D. Dr. Kittel die Glückwünsche unsrer Universität mit Überreichung einer tabula gratulatoria ausgesprochen. Beim 250jährigen Jubiläum der Royal Society in London (16.–18. Juli) vertrat uns Geh. Hofrat Professor D. Dr. Sievers. Bedeutsam war diese Feier dadurch, daß zum ersten Male die deutschen Universitäten durch ein gemeinsames Geschenk, ein künstlerisch ausgeführtes Plaket, ihre Glückwünsche darbrachten. An der 60jährigen Jubelfeier der Geographischen Gesellschaft in New York nahm Geh. Hofrat Professor Dr. Partsch teil. Genug von Festen und Repräsentationen! Wir wenden uns zu dem eigentlichen Gebiete unserer Arbeit und den wichtigsten Ereignissen und Erlebnissen innerhalb des Universitätslebens. Unser Studium Lipsiense, die Freistadt der wissenschaftlichen Arbeit, steht in Verbindung mit dem Königlichen Rentamt, das als Organ des Königl. Ministeriums Fürsorge trägt für die Bereitstellung der Studienmittel. Es hat Platz zu schaffen für neu erstehende Bedürfnisse und Sorge zu tragen für Erhaltung und Ergänzung des Vorhandenen. Die Zeiten sind vorüber, in denen der Weise bekannte: Umsonst habe ich es empfangen; umsonst will ich’s euch geben. Die Wissenschaft ist teuer. Wo zwei Behörden für gemeinsame Interessen einstehen, wie Rektorat und Rentamt, bilden sich leicht Reibungsflächen. Um so erfreulicher ist’s mir, Herrn Kommissionsrat Illgen, der als Nachfolger des verstorbenen Hofrats Riemer am 1. Oktober 1911 sein Amt antrat, es zu bezeugen, daß er in sachgemäßer Würdigung der gemeinsamen Aufgaben und in steter Fühlung mit den beteiligten Kreisen für die weitere Entwicklung der äußeren Lebensbedingungen der Universität klare Grundlagen zu erarbeiten erfolgreich bestrebt ist. Bei der zunehmenden Frequenz und der Schaffung neuer Arbeitsstätten innerhalb der Universität machte die Raumfrage steigend Sorge. Bei umsichtiger Ausnutzung des reichen Besitzstandes der Universität an Grundstücken dürften nach dem Urteil 1031

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des Rentamts keine unlösbaren Schwierigkeiten vorhanden sein. Auch ist nunmehr durch den bereits von meinem Herrn Amtsvorgänger ins Auge gefaßten Erwerb eines umfangreichen Areals auf der Probstheidaer Flur für weitere Bedürfnisse vorgesorgt. Für die Verbesserung der Unterrichtsbedingungen sind, wie stets, erfreuliche Fortschritte zu vermerken. Das neue Gebäude der Klinik und Poliklinik für Ohren-, Nasen- und Halskrankheiten konnte am 2. Mai in Gegenwart Sr. Exzellenz des Kultusministers feierlich seinen Zwecken übergeben werden. Die Erweiterung der Augenheilanstalt ist in der Hauptsache vollendet, ein neuer Hörsaal für das Zoologische Institut ist im Bau, die Erweiterung der Kunstinstitute und verschiedener Seminarien ist im Gange. Auch die Kunst selbst kam zu ihrem Recht. Das Standbild unseres Rector Magnificentissimus in der Wandelhalle hat nunmehr nach eingehenden Prüfungen seinen endgültigen Sockel erhalten. Durch die vorzüglich gelungene Wiederherstellung des Schnitzaltars in der Paulinerkirche ist unserer Universität ein Kunstwerk von hervorragendem Wert neu erstanden. Von besonderer Bedeutung für die akademischen Verhältnisse ist die Neuregelung der Pensions- und Wittwen- und Waisenversorgung für die Professoren, Beamten, Unterbeamten und Diener der Universität, die in der Abänderung einiger Paragraphen des Universitätsstatuts durch Gesetz vom 21. Juni 1912 festgelegt ist. Damit ist die bisher bestehende Ungleichheit in der Behandlung der Hinterlassenen von Staatsdienern und Universitätsbeamten endgültig beseitigt. Von dem gemeinsamen Arbeitsgebiete des Rentamts und der Universität haben wir bisher gehandelt. Wenden wir uns zur Universität. Sie hat ihre selbständige Verwaltung. Die sehr verschieden bedingten Aufgaben machen eine Dreiteilung nötig: das Rektorat, die Kanzlei, die Quästur. Die letzten Entscheidungen, ebenso wie die erforderlichen Anregungen stehen dem akademischen Senate zu, dessen leitendes und ausführendes Organ der Rektor ist, der zugleich als Träger der Autorität den Verkehr mit dem Königlichen Ministerium sowie mit dem Herrn Regierungsbevollmächtigten zu vermitteln hat. Die im Rektorate zu leistende Arbeit ist dadurch erschwert, daß die verschiedenen Zeiten sehr verschieden belastet sind. Sturm und Drang am Anfange und am Ende des Semesters. Aber auch die Ferien sind durch mühsame Kontrollarbeiten und Vorbereitungen reichlich in Anspruch genommen. Da ist es mir in Rücksicht auf das verflossene Studienjahr eine Genugtuung, es auszusprechen, wie gleichmäßig tüchtig, stetig und sicher die Beamtenschaft des Rektorats gearbeitet hat. Insbesondere dankbar bin ich Herrn Justizrat Flade, der im Sinne seines Vorgängers, des Geheimen Justizrat Meltzer, wohlwollend, umsichtig und klar seines Amtes waltet, den Kommilitonen verständnisvoll entgegenkommend, dem Rektor ein zuverlässig orientierender Berater. Manche Personalveränderungen sind in der Beamtenschaft vorgekommen. Einige tüchtige Kräfte sind ausgeschieden, um in andere Stellungen überzugehen. Sie haben einen sich bewährenden Ersatz gefunden. Eine wichtige Erweiterung und willkommene Entlastung des Sekretariats ist die Errichtung einer akademischen Auskunftsstelle, deren Verwaltung provisorisch Dr. Köhler anvertraut ist. Und nun zum Lehrkörper. Zweihundertzweiundfünfzig Dozenten wirken an unserer Hochschule, mehr als die Hälfte davon in der philosophischen Fakultät. In einem 1032

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so großen Kreise ändert sich viel während des Jahreslaufs. Die einen verlassen den Platz, neue Kräfte treten an ihre Stelle. So beklagen wir den Tod zweier Kollegen aus der medizinischen Fakultät, des außerordentlichen Professors Dr. med. Steinert, der als Oberarzt in der medizinischen Klinik sich hoher Achtung und weitgehenden Vertrauens erfreute. Er ist in Dresden am 10. April 1875 geboren und starb am 3. November 1911 in Leipzig. Er studierte Medizin und Philosophie, später nur Medizin, und wurde im Mai 1898 als Arzt approbiert, am 25. Oktober 1898 zum Dr. med. promoviert. Er war sodann Assistent bei Seligmüller-Halle, Mendel-Berlin, Fiedler-Dresden und seit dem 1. April 1901 an der medizinischen Klinik zu Leipzig. Überraschend kam die Kunde am 10. September 1912 aus Oberschreiberhau von dem Tode des außerordentlichen Professors Geh. Medizinalrats Dr. med. Otto Soltmann, des Direktors der Universitätsklinik. Soltmann ist in Berlin am 17. Dezember 1844 geboren. Er studierte in Berlin, Würzburg, Zürich und Prag Medizin. Den Doktorgrad erwarb er 1869 in Berlin und nahm sodann am Feldzuge 1870/71 teil. Nachdem er 1871–72 in Wien zu seiner weiteren Ausbildung sich aufgehalten hatte, ließ er sich als Kinderarzt in Breslau nieder. 1877 wurde er dirigierender Arzt des Wilhelm-Augusta-Hospitals in Breslau und habilitierte sich daselbst. 1883 wurde er zum außerordentlichen Professor ernannt mit einem Lehrauftrag für Kinderheilkunde. Am 12. Juni 1894 erfolgte seine Berufung als außerordentlicher Professor an das Kinderkrankenhaus zu Leipzig, am 3. Dezember 1895 ward er zum ordentlichen Honorarprofessor in der medizinischen Fakultät ernannt. Seine zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten bezogen sich anfangs auf das Nervensystem im Entwicklungsalter und umfaßten später die verschiedensten Kapitel der Pathologie und Therapie der Kinderheilkunde. Die philosophische Fakultät verlor durch den Tod den Geheimen Rat Dr. phil. Ferdinand Zirkel. Er starb im 75. Lebensjahre am 12. Juni in seiner Vaterstadt Bonn, wohin er sich nach seiner Emeritierung zurückgezogen hatte. Geboren ist er am 20. Mai 1838; er promovierte im Jahre 1861 und wurde, ohne habilitiert zu sein, im Herbst 1863 als außerordentlicher Professor nach Lemberg berufen, wo er im Herbst 1865 zum Ordinarius ernannt wurde. Im Herbst 1868 siedelte er als ordentlicher Professor an die Universität Kiel über, die er nach zweijähriger Tätigkeit im Herbst 1870 verließ, um einem Rufe als Ordinarius nach Leipzig Folge zu leisten. Hier widmete er sich bis 1. Oktober 1909 – beinahe 40 Jahre – der akademischen Lehrtätigkeit. Ferdinand Zirkel war einer der Begründer petrographischer Wissenschaft. Er hat die vor ihm nur selten und beiläufig verwendete Methode des mikroskopischen Studiums der Gesteine im Dünnschliff zur allgemeinen Geltung gebracht und weite Gebiete der Gesteinswelt vermittels dieser Untersuchungsart erschlossen. In seinem umfassenden Lehrbuche der Petrographie hat er in mustergiltigen historisch-kritischen Erörterungen die Summe der damaligen petrographischen Erkenntnis niedergelegt. (Vgl auch den Nekrolog von R. Brauns in Bonn im Zentralblatt für Mineralogie u. s. w. 1912 S. 513-521.) Am 13. März verschied der außerordentliche Professor Geh. Hofrat Dr. phil. Theodor Schreiber, langjähriger Direktor des städt. Museums für bildende Künste, 1033

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im 64. Lebensjahre. Zu Strehla a. Elbe am 13. Mai 1848 geboren, habilitierte er sich im Herbst 1879 in Leipzig und wurde 1885 daselbst zum Extraordinarius ernannt. Theodor Schreiber hat mit außerordentlichem Fleiß der archäologischen Forschung obgelegen, obgleich ihn sein Amt als städtischer Museumsdirektor auf die neuere Kunst hinwies und große zeitraubende Anforderungen an ihn stellte. Eine lange Reihe umfangreicher archäologischer Werke zeugt von seinem rastlosen Eifer und vielseitigen Kenntnissen. Er bearbeitete z. B. die Parthenos des Phidias, die Alexanderportraits und schuf in seinem groß angelegten Werke über die hellenistischen Reliefbilder eine grundlegende Sammlung. Leider ist sie nicht zu Ende geführt, so wenig wie seine Arbeiten über Alexandrien, wo er im Auftrage und mit den Mitteln des Herrn Geh. Kommerzienrates Dr. von Sieglin Forschungen angestellt hatte. Auch der neueren Kunst diente er durch ein prächtig ausgestattetes Werk über das Leipziger Museum. Dem künstlerisch veranlagten Manne war Kunstbetrachtung und -forschung Lebensbedürfnis. Stets war er in seiner liebenswürdigen Art bereit, im Privatgespräch und in Vorträgen mitzuteilen und anzuregen. Im besten Mannesalter starb am 14. Mai 1912 in Wannsee b. Berlin, wo er Heilung von seinen Leiden gesucht hatte, der außerordentliche Professor Dr. phil. Raoul Richter. Geboren am 16. Januar 1871, promovierte er im Sommer 1893 in Leipzig, wo er sich 1898 für Philosophie habilitierte und im Jahre 1904 zum außerordentlichen Professor ernannt wurde. In Raoul Richter ging ein Mann von uns, dessen ganzes Sinnen rastlos den letzten Fragen der Menschheit zugewandt war. Seine Werke, erstaunlich zahlreich in Anbetracht seines Alters, in Inhalt und Form gleich sorgfältig durchgearbeitet, zeigen stets gleiche logische Strenge und Schärfe des Verstandes. Er vereinigte damit in wunderbarer Harmonie die größte Wärme des Gefühlslebens und eine reiche und tiefe Phantasie, die erwärmend und belebend auf den umfassenden Kreis seiner Interessen wirkte. So vermochte er gleich gut in strengster kritischer, rein logischer Entwicklung große Gedankenrichtungen von ältester Zeit an zu verfolgen, die Denker der Gegenwart im lebendigen Zusammenhang mit der gesamten Kultur zu erfassen, die großen Züge einer eigenen, Verstand und Gemüt Rechnung tragenden Weltanschauung zu entwerfen. Eine so reiche und kräftige Persönlichkeit vermochte in ihren Vorlesungen, fast noch mehr in den seminaristischen Übungen die Studenten nicht nur anzuregen, sondern auch zu fesseln, und mancher hat von ihm entscheidende Einflüsse auf die Bildung seiner Überzeugung erfahren. Auch der frühere Königliche Regierungsbevollmächtigte bei der Universität, Kreishauptmann a. D. Dr. jur. Freiherr von Welck weilt nicht mehr unter den Lebenden. Er wurde am 27. Februar in Dresden beigesetzt. Durch den Dekan der juristischen Fakultät Geheimen Rat Dr. Mitteis wurde dem Entschlafenen der Dank der Universität für seine allezeit vertrauenerweckende, von Wohlwollen getragene Mitarbeit für die Interessen der Universität während seiner Amtszeit ausgesprochen. Auch mancher der Lebenden ist aus dem Kreise der Kollegen geschieden. In der theologischen Fakultät folgte der Privatdozent Dr. phil. Lic. theol. Heinrich Hoffmann einem Rufe als ordentlicher Professor der Kirchengeschichte nach Bern. Der außerordentliche Professor Dr. med. Alfred Bielschowsky wurde als ordentlicher Professor der Augenheilkunde nach Marburg berufen. Der ordentliche Professor 1034

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Dr. phil. et jur. Ulrich Wilcken folgte einem Rufe nach Bonn als Ordinarius für alte Geschichte. Der Geh. Hofrat Professor Dr. phil. Ernst Beckmann verließ Leipzig, um die Leitung des Chemischen Instituts der Kaiser-Wilhelmsgesellschaft zur Förderung der Wissenschaften in Berlin zu übernehmen. Der außerordentliche Professor Dr. phil. Georg Graf Vitzthum von Eckstädt wurde als Ordinarius für Kunstgeschichte nach Kiel berufen, desgleichen der außerordentliche Professor Dr. phil. Hermann Hirt als Ordinarius nach Gießen. In dankbarer Erwägung dessen, was sie durch ihre Mitarbeit für Leipzig geleistet haben, begleiten sie unsere besten Wünsche in ihre neue Wirksamkeit. Aus ihrer Wirksamkeit schieden und traten in den Ruhestand der Geheime Rat Professor Dr. Georg Rietschel am 1. April und der Geheime Rat Professor Dr. Hermann Credner am 1. Oktober. Ihre Kraft haben sie erfolgreich unserer Universität gewidmet, zugleich förderlich eingreifend in die praktischen Aufgaben, die dem Theologen die kirchlichen Verhältnisse, dem Geologen und Paläontologen die wissenschaftliche Ausnutzung der Schätze der Erde stellen. Möge den verdienstvollen Kollegen eine innerlich reiche Ruhezeit in beata tranquillitate vergönnt sein. Im Hinblick auf den Wandel und Wechsel der Menschen und Dinge ist es erfreulich, einer Tatsache zu gedenken, welche die Stetigkeit und Leistungsfähigkeit eines Gelehrtenlebens eindrucksvoll veranschaulicht. Am 7. Mai feierte der Geheime Rat Professor Dr. Karl Neumann, der berühmte Mathematiker, im Ruhestande seinen achtzigsten Geburtstag. Am 16. August durfte der wirkliche Geheime Rat Prof. Dr. Wilhelm Wundt, der Senior der philosophischen Fakultät, in voller Frische und Freude an seiner so überaus wirksamen Arbeit dasselbe Fest feiern. Der akademische Senat sandte beiden Kollegen seine Glückwünsche, die philosophische Fakultät ehrte Wundt durch eine von Schülern und Gönnern errichtete Stiftung von 7000 M., welche nach dem Wunsche des Empfängers dem Institut für experimentelle Psychologie überwiesen wurde. Schwer empfundene Lücken hat der Tod und der Fortgang von Kollegen in die Reihen der Universitätslehrer gerissen. Aber es ist Sorge dafür getragen, daß sie ausgefüllt werden. In der theologischen Fakultät trat Professor D. Adolf Paul Johannes Althaus, der bisher in Göttingen wirkte, an die Stelle des verstorbenen D. Kirn. Eine Bereicherung und Erweiterung ihres Lehrkreises erhielt die Fakultät durch Errichtung eines neuen Lehrstuhls für Religionsgeschichte. Hierfür ist Professor D. Lars Olaf Jonathan Söderblom aus Upsala berufen worden. Auch für eine ausgiebigere Vertretung der Geschichte der neueren Mission und Missionskunde ist Vorsorge getroffen worden durch Ernennung des Missionsdirektors D. Karl Paul zum ordentlichen Honorarprofessor. Während für die juristische und medizinische Fakultät keine Neuberufungen zu verzeichnen sind, zählt die philosophische Fakultät deren mehrere. Professor Dr. Karl Paal, bisher in Erlangen wirkend, übernimmt das durch Beckmanns Abgang frei gewordene Ordinariat für Chemie und die Direktion des Laboratoriums für angewandte Chemie. Für Professor Wilcken tritt als ordentlicher Professor für alte Geschichte und Direktor des Seminars für alte Geschichte Professor Dr. Karl Julius Beloch, bisher in Rom, ein. Die Professur für Geologie und Paläontologie und die Direktion des geologischen und paläontologi1035

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schen Instituts ist nach Credners Pensionierung dem Professor Dr. phil. Hans StilleHannover übertragen worden. Der außerordentliche Professor Dr. phil. Eduard Spranger ist zum Ordinarius für Philosophie und Pädagogik ernannt worden. Auch in der philosophischen Fakultät ist ein neuer Lehrstuhl, und zwar für koloniale und tropische Landwirtschaft errichtet und hierfür Dr. phil. Arthur Golf-Halle als etatsmäßiger außerordentlicher Professor berufen. Nicht nur von außen her haben wir Ersatz gesucht für die vorhandenen Lücken, sondern auch innerhalb des Lehrkreises fanden sich geeignete Kräfte zur Übernahme neuer Lehraufträge. In der juristischen Fakultät wurde der bisherige Privatdozent Dr. jur. Johannes Planitz zum etatsmäßigen außerordentlichen Professor für das gesamte literarische, künstlerische und gewerbliche Urheberrecht nebst dem Verlagsrecht befördert. Ein neuer Lehrstuhl ist damit geschaffen. In der philosophischen Fakultät wurde der außerordentliche Professor Dr. phil. Ottmar Dittrich zum etatmäßigen außerordentlichen Professor für Philosophie und allgemeiner Sprachwissenschaft ernannt. Außeretatsmäßige außerordentliche Professoren wurden in derselben Fakultät die bisherigen Privatdozenten Dr. phil. Karl Drucker und Dr. phil. Paul Herre. Auch an Nachwuchs fehlt es nicht. Die venia legendi erhielten in der Juristenfakultät der Rechtsanwalt Dr. jur. von Zahn aus Leipzig, Dr. jur. Bertalan Schwarz aus Budapest, Dr. jur. Hans Peters aus Hannover, Dr. jur. Eugen Rosenstock, Dr. jur. Walter Jellinek, Dr. jur. Heinrich Glitsch, Dr. jur. Erwin Jacobi, Dr. jur. Eckard Meister. In der medizinischen Fakultät wurde dieselbe den Doktoren der Medizin Ernst Heller, Paul Frangenheim und Arthur Knick erteilt, in der philosophischen Fakultät den Doktoren der Philosophie Martin Wackernagel, Gustav Reddelin, Erich Krenkel, Dr. phil. Lic. theol. Friedrich Lipsius, den Doktoren Wilhelm Metzger, Emil Mencke-Gluckert, Gotthelf Bergsträsser. Zum Lektor wurde ernannt Israel Issar Kahan für späthebräische, jüdischaramäische und talmudische Wissenschaften. Die Stelle ist neu eingerichtet, ebenso das Lektorat für italienische Sprache, das Franco Marano übertragen ist. An den Platz des Lektors Gaston Monod trat Adolphe Georges Favre aus Lyon. Der Lektor Dr. phil. Martin Seydel erhielt den Professorentitel. Lange haben wir bei den Personalfragen verweilen müssen. Um so kürzer können wir sein, wenn wir uns dem Lehrbetrieb zuwenden. In dem vierfach gegliederten festgefügten Bau der Fakultäten wird die Arbeit geleistet, welche die Grundlagen unserer Kultur, die Ordnung der Kirche und des Staates, die hygienischen Verhältnisse, die Sicherung der allgemeinen Bildung, die Erschließung der Naturerkenntnis und die Ausnutzung der Naturkräfte erfordern, kurz die ungeheuren Stoffmassen der Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften haben hier ihre wohlgeordnete und wohlausgerüstete Pflegestatt. Die Vorlesungen, die Seminare, die großen Institute der medizinischen und philosophischen Fakultät wirken zusammen, einander ergänzend, um in möglichst vollkommener Weise eine gesicherte wissenschaftliche Tradition zu schaffen. So wohlgeordnet und viel umfassend unsere Organisation auch ist, so darf sie doch nicht als abgeschlossen gelten. Die Frage nach der Übernahme der tierärztlichen 1036

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Hochschule aus Dresden nach Leipzig, betreffs deren im Prinzip Einverständnis herrscht, hat die Bedeutung solcher Organisationsänderungen recht ins Licht gestellt. Dazu fordern fort und fort neu erstehende Probleme auch Abänderungen der Lehrbedingungen. Anregend wirkte in dem regelmäßigen Betrieb der Lehrarbeit der Besuch des Roosevelt-Professors Dr. phil. Paul Reinsch von der University of Wisconsin in Madison (U. S. A.), der während des Sommersemesters als Gast der Universität Leipzig Vorlesungen hielt über „Amerikanische Kultur und Politik der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart“, sodann über „Staatsrecht der amerikanischen Union.“ Auch hielt er „Übungen zur Geschichte der amerikanischen Diplomatie“. Wir sind dem Kollegen dankbar, der in lebendiger und scharf charakterisierender Weise uns mit den Verhältnissen seiner Heimat bekannt machte. Die Lehrarbeit der Universität hat ihre bestimmten Ziele. Gewiß, Professor sein, also ein Mann, qui profitetur, heißt Lehrer und Forscher sein; aber über der Lehrarbeit kommt die Forscherarbeit nicht immer zum Recht. Und wie mehrt sich der Wissensstoff auf allen Gebieten. Es ist geradezu erstaunlich, was das letzte Menschenalter den Geistes- und Naturwissenschaften von neuem Wissensstoff zugeführt hat. Wie steht nun die Universität zu dieser Tatsache? Mein Herr Amtsvorgänger hat darauf die Antwort gegeben: Wir bedürfen der Forschungsinstitute, welche in relativer Unabhängigkeit von den Universitätslehranstalten und doch in ständiger Fühlung mit denselben, den Wissensstoff verarbeiten, welcher zunächst nicht in den Lehrkreis des akademischen Unterrichts aufzunehmen ist. Um diesen Plan in die Wirklichkeit umzusetzen wandte er sich in der Stille an hochherzige Männer Leipzigs, denen die Förderung der Wissenschaft Ehrensache ist, und dies nicht vergebens. Er sammelte ein Kapital, dessen Ertrag für den Anfang ausreichend erschien. Die Staatsregierung unterstützte den Plan und fand die Stände bereit, eine bedeutende Summe für die Errichtung von Forschungsinstituten zu bewilligen. Auch die Stadt Leipzig trat hinzu mit der Bewilligung eines beträchtlichen Jahreszuschusses. Damit war eine wichtige und schwierige Aufgabe gestellt. Es galt, innerhalb der durch die vorhandenen Mittel gewiesenen Schranken den Bauriß für die Forschungsinstitute zu entwerfen und die Bedingungen zu schaffen für seine Durchführung. In eingehenden Beratungen sind diese Fragen verhandelt worden. Ein Statut ist entworfen, das noch der Genehmigung des Ministeriums bedarf. Als Institute sind in Aussicht genommen eines für Ethnographie, eines für Kultur- und Universalgeschichte, eines für Religionsgeschichte, eines für Sprachwissenschaft und Literatur mit Einschluß der klassischen Altertumskunde, eines für Psychologie, eines für Kunstgeschichte seit dem Ausgang der Antike, eines für Nationalökonomie. So dürfen wir nach Erledigung der notwendigen Vorarbeiten erwarten, nachdem die zuständigen Instanzen dazu Stellung genommen haben, demnächst die Pläne in fruchtbare Tatsachen umgesetzt zu sehen. Zugleich spreche ich die Hoffnung aus, daß Leipzig seinen alten Ruf als urbs animosa et generosa bewähren wird, wenn es gilt, den bescheidenen Anfängen eine kraftvolle weitere Entwickelung zu sichern. Zu solcher Erwartung stärkt mir den Mut der Blick auf die Stiftungen und Schenkungen, welche auch in dem abgelaufenen Studienjahre der Universität zugewandt 1037

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worden sind. Professor Dr. jur. Beer stiftete zu den bisherigen 20 000 M. weitere 10 000 für die Hilfs- und Töchterpensionskasse. Hofrat Dr. Dr. Ing. Alfred Ackermann, Inhaber der Firma B. G. Teubner in Leipzig stiftete ein Kapital von 20 000 M. als Fonds für den „Alfred Ackermann-Teubner-Gedächtnispreis zur Förderung der mathematischen Wissenschaften“. Der Preis wird zum ersten Male im Oktober 1914 vergeben. Frau Fanny Maria Küstner geb. Hagen und ihr Gatte, der Kaufmann Albert Ludwig Küstner in Leipzig errichteten zum Andenken an den Vater der Ehefrau, den vormaligen Professor Dr. Richard Hagen mit 5000 M. Kapital eine Hagenstiftung bei der Klinik und Poliklinik für Ohren-, Nasen- und Halskrankheiten zur Förderung wissenschaftlicher Zwecke bei Erforschung der hier in Betracht kommenden Krankheiten, auch zur Unterstützung armer kranker und unbemittelter Assistenten. Die Jubiläumsstiftung des Vereins sächsischer Richter und Staatsanwälte wurde um weitere 1000 M., demnach auf 7500 M. Stiftungskapital erhöht, damit alle zwei Jahre ein Stipendium von 600 M. vergeben werden kann. Herr Maximus Valerius Apianus Bennewitz, Inhaber der Firma M. Apian-Bennewitz in Leipzig, errichtet mit 5000 M. Kapital, das allmählich eingezahlt werden soll, eine Stipendienstiftung als Apianus-Bennewitz-Valerius-Herberger-Stiftung. Die Hälfte der Zinsen soll zu Familienstipendien verwendet werden, während die andere Hälfte bis auf 50 000 M. kapitalisiert werden soll. Die Zinsen dieses Kapitals sollen dann zu Studienreisen oder Museums- und Sammlungszwecken verwandt werden. Die am 29. Februar 1912 in Leipzig verstorbene Agathe verw. Dr. Mandelkern geb. Byck hat letztwillig 5000 M. als Stipendienstiftung für einen jüdischen Studierenden vermacht. Aber auch andere wertvolle Gaben sind der Universität zugewiesen. Das archäologische Institut erhielt auch in diesem Jahre namhafte Schenkungen von antiken Originalen sowie von Büchern und Photographien. Dem Institute für Mineralogie und Petrographie sind Stiftungen von Gesteinen zuteil geworden, auch wurden ihm 3300 M. vom Verbande zur wissenschaftlichen Erforschung der deutschen Kalilagerstätten bewilligt. Aus Anlaß des 100jährigen Geburtstags des verstorbenen Leipziger Professors Dr. phil. Karl Biedermann am 25. September 1912 wurde seine Büste von seinem Sohne geschenkt; sie wird im Kultur- und universalhistorischen Institute aufgestellt werden. Ein eigenartiges Geschenk ward der Sanskritabteilung des Indogermanischen Instituts zu teil, eine über 100 Jahre alte Palihandschrift des buddhistischen Werkes „Die Fragen des Melinda“. Sie war Gegenstand der Verehrung im Tempel der heiligen Zahnreliquie Buddhas in Kandy auf Ceylon. Der Oberpriester des Tempels widmete sie dem Dr. ing. Bodemer, der das Vertrauen der Mönche erworben hatte. Von diesem wurde die Handschrift Sr. Exzellenz dem Kultusminister zu wissenschaftlicher Verwertung übergeben, der sie dem Sanskritseminar schenkte. Auch die Bibliothek des volkswirtschaftlichen Seminars hat eine wertvolle Bereicherung erhalten durch eine Schenkung Professor Biermanns. Sie besteht aus einer Sammlung von etwa 200 Broschüren und 800 gebundenen Büchern aus der Bibliothek des Professor Hasbach. Es sind vorzugsweise englische, französische, holländische und italienische Originaldrucke volkswirtschaftlicher und finanzwissenschaftlicher Schriften aus dem 18., teilweise dem 17. Jahrhundert. 1038

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Aber selbst die bestausgerüsteten Institutsbibliotheken können die Universitätsbibliothek nicht ersetzen, die den ganzen Kreis der wissenschaftlichen Literatur zusammenfassend der Gesamtheit dient. Sie bleibt die wichtigste Hilfsanstalt für alle Studien. Das beweist ihre stetig steigende Benutzung. Die Zahl der Bestellungen stieg von 127 176 des Jahres 1910 auf 140 363 im Jahre 1911. Der Zugang an Druckwerken bezifferte sich im Jahre 1911 auf 18 528 Bände, und zwar 10 600 Bücher und 7928 Universitäts- und Schulschriften. An Handschriften wurden 153, darunter 56 arabische, erworben. Hervorzuheben ist der unter mannigfachen Schwierigkeiten glücklich gelungene Wiedererwerb einer auf die Universität Leipzig bezüglichen Handschrift des früheren großen Fürstenkollegs. Sie enthält gleichzeitige geschichtliche Aufzeichnungen des 15. Jahrhunderts, darunter eine Reihe speziell auf Leipzig und seine Universität bezügliche Nachrichten. Auch manche Schenkungen sind zu erwähnen. Unter anderen schenkte Dr. Hertel in Grimma eine wertvolle Palmblatthandschrift, Pierpont Morgan überwies der Bibliothek zwei prächtig ausgestattete Kataloge seiner Juwelen- und Miniaturensammlung. Durch Dublettenaustausch mit den Bibliotheken Breslau, Düsseldorf, Halle (morgenländische Gesellschaft), Hamburg, Utrecht und Dresden, wurde der Bücherbestand vermehrt. Andrerseits wurden Dubletten auch an Institutsbibliotheken abgegeben. Das Tauschverhältnis mit Universitäten und wissenschaftlichen Anstalten erfuhr wiederum eine Erweiterung durch Zutritt neuer amerikanischer Universitäten. Der neue Staatshaushaltsetat brachte der Bibliothek eine Erhöhung ihres Fonds von 6000 M. für Bücheranschaffung und um 2400 M. für Heizung und Beleuchtung. Zugleich konnte eine Vermehrung des Personals vorgenommen werden. Dadurch wurde es möglich, den Lesesaal bis Abends 8 Uhr offen zu halten. Auch ist die Einführung der elektrischen Beleuchtung im Büchermagazin in Angriff genommen. Es ist ein erfreuliches Bild, das unsere Arbeitsuniversität bei dieser Überschau uns darbietet. Überall Blühen und Wachsen. Mit verständnisvollem Entgegenkommen und energischem Vorgehen tritt die Staatsregierung ein für jedes berechtigte Bestreben zur Hebung Leipzigs und zur Mehrung seiner Lehrmittel. Die Stadt ist gewillt, den Interessen der Universität Rechnung zu tragen und sie an ihrem Teile wirksam zu fördern. Die Sympathien der Bürgerschaft und des Landes finden in den Stiftungen und Schenkungen einen kräftigen Ausdruck. Hier haben wir überall zu danken. Dieser Dank aber ist getragen von dem Bewußtsein, daß wir allezeit sein mögen und sein wollen, was wir sein sollen. Seitdem in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die Staatsregierung den entscheidenden Entschluß gefaßt hat, der Universität Leipzig in vollem Umfange die Mittel zu gewähren, vermöge deren sie in der ersten Reihe der Hochschulen Deutschlands sich einen Platz schaffen könnte, hat sich Leipzig als Landesuniversität bewährt und als Weltuniversität behauptet. Die Forderungen, die das Land an die Universität zu stellen hat, sind unverkürzt eingelöst, trotz der vermehrten Anforderungen, welche das Wachsen der Universität an die Lehrkräfte stellt. Und wo sich ein Mangel oder eine Lücke zeigt, wird durch Vermehrung der Lehrkräfte für Abstellung gesorgt. Wenn dem so ist, dürfen wir da den Anspruch erheben, die Landesuniversität Sachsens zu bleiben? Bedarf Sachsen einer zweiten Universität, die doch auch den 1039

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Anspruch erheben müßte auf den ersten Rang? Hier ist nicht der Ort, diese Frage zu beantworten. Aber wir vertrauen darauf, daß die wohlgewürdigte Bedeutung Leipzigs als der Landesuniversität bei allen Verhandlungen über neue Universitätsgründungen, wie sie heute in der Luft liegen, den Ausschlag geben wird. – Worauf aber zielen eigentlich alle diese Ausführungen? Zu guterletzt auf diejenigen, die bisher noch gar nicht genannt sind, auf unsere Studenten. Wenn Niebuhr einst, ein Wort Alexanders zu dessen Kriegern sich aneignend, seinen Studenten zurief: „Ihr seid meine Schwingen“, so können auch wir uns dies Wort aneignen. Eure Teilnahme an unserer Arbeit ist für uns ein Kraftquell. Euer Fleiß, eure Hingabe an die Aufgaben des Studiums ist die Blüte der Universität. Vor einem Jahre überschritt die Zahl der Studierenden zum ersten Male das fünfte Tausend, sie erhielt sich auch im Sommersemester auf dieser Höhe und wird im Wintersemester nicht unbeträchtlich steigen; denn die Zahl der Immatrikulierten beträgt heute schon 5122, 213 mehr als am gleichen Datum des Vorjahres. So hält das langsame stetige Anwachsen der Frequenz stand, ein Beweis für gesunde Lebensbedingungen. Auf die Fakultäten verteilt sich die Zahl in folgender Weise: die theologische Fakultät zählt 450, die juristische 836, die medizinische 892 und die philosophische 2871 Kommilitonen. Und die Gesamtheit der Kommilitonen! Welche bunte, reiche Mannigfaltigkeit der Gliederung! Der Deutsche hat einen starken Zug zum Individualisieren. Die Fülle der Fahnen, welche das stolze Bild unserer Festversammlung einrahmen, kann uns dies veranschaulichen. Es verkörpert sich in den Verbindungen, zu denen nun auch die Vereinigung weiblicher Studierender tritt, die Menge sowohl zusammenklingender als auch auseinanderstrebender Interessen. Freundschaft, die Hingabe an die alten akademischen Ideale, wissenschaftlicher Wetteifer, Pflege des Gesanges, Stählung des Muts, Pflege der Kraft und Gewandtheit des Körpers – mens sana in corpore sano – festigen sich in ihnen und wirken sich aus. Das 100jährige Stiftungsfest des Korps Saxonia, das in feierlicher Weise in der Wandelhalle der Universität eröffnet wurde, gab auch Sr. Majestät, dem Rector Magnificentissimus, Anlaß, durch Schenkung Ihres Bildes dem Korps Höchstderselben Anerkennung für seine tüchtige Haltung durch drei Menschenalter auszusprechen. Und auch der gesunden Pflege der Leibesübungen, für die der akademische Turnabend und verschiedene selbständige Verbände eintreten, widmet nicht nur die Staatsregierung durch Erhöhung des Staatszuschusses für den allgemeinen akademischen Turnabend auf 1800 M. jährlich ihr tatkräftiges Interesse. Auch Se. Majestät stiftete einen Königspokal als Wanderpreis für „leichtathletische Wettkämpfe der sächsischen Hochschulen“. Der Preis wurde zum ersten Male am 20. Juli 1912 in Leipzig ausgetragen, wobei ihn die Mannschaft der Universität errang. Unsere akademische Turnerschaft steht vor einer bedeutsamen Aufgabe. In Verbindung mit der Einweihung des Völkerschlachtdenkmals wird in Leipzig ein akademisches Olympia gefeiert werden; wir vertrauen darauf, zur Ehre der Universität. Die Förderung aller gemeinnützigen Bestrebungen betätigte das Kultusministerium von neuem durch eine Beihilfe zur Unterstützung der „akademischen Arbeits- und Unterrichtskurse“. 1040

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Auch des Konviktoriums ist hier zu gedenken. Seit den Tagen Borners und des Herzogs Moritz besteht es im Segen und ist im Laufe der Jahrhunderte durch reichliche Dotierung und zahlreiche Stiftungen zu einer Anstalt erwachsen, die an den Universitäten Deutschlands ihresgleichen nicht hat. 338 Studierende erhalten hier täglich für Mittag und Abend reichlich bemessene Kost. Eine solche Einrichtung darf aber nicht nur der Leibespflege dienen. Das gemeinsame Speisen führt auch zu geistigem Austausch, sodaß die Pflege edler Geselligkeit in dem weiten, schönen Saale des Konvikts ihre Stelle findet. In welchem Sinne dies angestrebt werden soll, dafür war der Festtag am 26. Juni vorbildlich, an welchem der Geh. Justizrat Dr. Meltzer sein Bildnis dem Konvikt schenkte, dem er vor 58 Jahren selbst angehörte und dessen Gedeihen ihm während seiner langen Amtszeit als Universitätsrichter stets besonders am Herzen lag. Doch dies sind Einzelheiten. Die wichtigste Tatsache des abgelaufenen Rektorjahres ist das Inslebentreten des Studentenausschusses als allgemeine Vertretung der Studentenschaft. Er gliedert sich in den Ausschuß der Inkorporierten (A) und der Nichtinkorporierten (B). Durch sein Verhalten und seine Bestrebungen hat er sein Existenzrecht bewiesen. Schwierigkeiten, die bei den Wahlen des Ausschusses B hervortraten, wurden durch das entgegenkommende Verhalten der Beteiligten beglichen und zwar ohne allen Hochdruck und ohne mißbräuchliche Anwendung behördlicher Autorität. Das Verhältnis zwischen Behörde und Ausschuß gründet sich auf gegenseitiges Vertrauen. Der Ausschuß, der zum ersten Male auch die große Masse aller Nichtinkorporierten umfaßt, hat fruchtbar gearbeitet und manche seiner Anträge konnten genehmigt werden. So ist der Weg beschritten für eine angemessene Vertretung auch derer, die sonst für sich allein standen, und für eine allseitige Pflege der gemeinsamen Interessen der Studentenschaft, die innerhalb der akademischen Aufgaben liegen. Unsere Studentenverfassung ist die erste dieser Art. Wertvolle Rechte hat sie dem Ausschuß anvertraut. Es gereichte Leipzig zum Ruhme, wenn sie sich als vorbildlich erwiese. Und sie wird sich bewähren, so lange die Kommilitonen gewillt sind, Personalfragen nicht zu Prinzipienfragen zu machen. In Summa, darf man aus dem Umfange der Tätigkeit des Universitätsgerichts auf Art und Sinn der Studentenschaft einen Rückschluß machen, so ist das Ergebnis ebenso günstig, als der oben charakterisierte Gesamteindruck. Im Rektoratsjahre mußte das Plenum des Universitätsgerichts gegen 8 Studierende, der engere Gerichtssenat gegen 2 zusammentreten. Erkannt wurde in 4 Fällen auf Wegweisung durch das consilium abeundi, im übrigen auf Karzerstrafen oder Verweis. Die im akademischen Karzer verbüßten 68 Tage waren meistens Polizeistrafen. Aus dem Kreise der Kommilitonen sind sechzehn im abgelaufenen Studienjahre aus dem Leben geschieden. Der Tod des Jünglings ist besonders erschütternd. Wie viele Hoffnungen werden zu Grabe getragen, wenn Vater und Mutter dem Sohne das letzte Geleit geben. Unter den Todesfällen ist wohl der ergreifendste der jähe Tod eines sonnigen, hochbegabten Jünglings, der im Sommersemester sein Studium als Jurist begann und der in den Ferien auf einsamem Bergpfade abstürzte. Wir widmen den verstorbenen Kommilitonen ein wehmütiges Gedenken. 1041

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Die Promotionen zu akademischen Graden, das schöne Recht der Fakultäten, erhalten den Zusammenhang zwischen den Kommilitonen und ihrer alma mater. Deshalb seien sie an dieser Stelle erwähnt. Die theologische Fakultät vollzog eine Promotion zum Lic. theol. Die juristische Fakultät promovierte 139 Kandidaten der Rechte zum Dr. juris utriusque. Die medizinische Fakultät promovierte zum Dr. med. 137 approbierte Ärzte, darunter 8 Damen und 7 Ausländer, zum Dr. med. vet. 37 approbierte Tierärzte. Die philosophische Fakultät promovierte rite zum Dr. phil. 195 Kandidaten. Die Ergebnisse der bearbeiteten Preisaufgaben sind folgende: Für das von der theologischen Fakultät gestellte Thema sind zwei Arbeiten eingelaufen. Die eine mit dem Kennwort „Semper solus“ konnte für den Preis nicht in Betracht kommen. Der Verfasser sagt in der Arbeit selbst, daß ihm nicht die nötige Zeit zur Verfügung stand. Die andere mit dem Motto „Bereschit bara Elohim“ hat zwar das Thema nicht erschöpfend und nicht ohne Fehler behandelt, zeigt aber auf der andern Seite so entschiedene Vorzüge, daß die Fakultät nicht ansteht, ihr um der letzteren willen den ersten Preis zuzuerkennen. Als Verfasser ergab sich: cand. theol. Friedrich Baumgärtel aus Plauen. Die Juristenfakultät hatte für das Studienjahr 1911/1912 die Preisaufgabe gestellt: „Die Natur des echten Unterlassungsdelikts und die Folgerungen daraus.“ Es sind zwei Arbeiten eingegangen. Die Arbeit mit dem Merkwort „Anselm“ weist zu viel methodische Mängel auf, als daß sie für die Preisverteilung in Betracht kommen konnte. Dagegen hat sich der Verfasser der zweiten Arbeit mit dem Kennwort: „Stiefkinder der Wissenschaft“ mit dem Gegenstande so intensiv und förderlich beschäftigt, daß ihr trotz mancher anhaftender Mängel der erste Preis zuerkannt werden konnte. Die Eröffnung der schedula ergab als Verfasser den stud. jur. Adolf Rohde aus Horburg. Die Preisaufgabe der medizinischen Fakultät lautete: „Hirngewicht, Hirntumoren und Schädelkapazität.“ Es ging eine Arbeit ein mit dem Motto: Enkephalon. Dem Verfasser dieser Preisarbeit, stud. med. Otto Rudolph aus Ehrenfriedersdorf i. Erzgeb. wurde laut Beschluß der medizinischen Fakultät vom 23. Oktober d. J. der erste Preis zuerkannt. Die Preisaufgabe für die erste Sektion der philosophischen Fakultät „De Pompei Trogi historiarum Philippicarum consilio et arte“ hat zwei Bearbeitungen gefunden. Der ersten mit dem Hebbelschen Kennwort „Von den Einzelheiten ausgehen heißt die Schöpfung des Werks aus seinen innersten Embryonen anschaulich machen“ hat die Fakultät den ersten Preis zuerkannt. Als Verfasser ergab sich: stud. philol. Karl Ernst Schneider aus Großschweidnitz. Die zweite, mit dem Kennwort „Pompejus Trogus“ versehene Lösung zeichnet die Fakultät gern mit einer ehrenvollen Erwähnung aus, kann ihr aber weder einen Preis noch eine Gratifikation zuerteilen, da sich bei Öffnung des Kuverts ergab, daß sich satzungswidrig ein bereits vor mehreren Jahren promovierter Herr beworben hatte. Die Aufgabe der zweiten Sektion der philosophischen Fakultät „Das Ornament in der Kunst der Naturvölker“ hat keine Lösung gefunden. 1042

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Bei der dritten Sektion der philosophischen Fakultät war die Aufgabe gestellt worden „Beiträge zur Kenntnis der Brechungsexponenten und Dichten verflüssigter Gase“. Es ist eine Arbeit eingegangen unter dem Kennwort „26. September 1912“, die sich mit der Dichte und dem Brechungsexponenten des flüssigen Wasserstoffs beschäftigt. Trotz einiger Fehler in der Berechnung zeigt sie so viel Geschick und Fleiß und überwindet die experimentellen Schwierigkeiten so anerkennenswert, daß die Fakultät ihr den ersten Preis zuerkannt hat. Als Verfasser ergab sich: stud. math. Herbert Augustin aus Dresden. Die Erfolge der Preisaufgaben für 1911/12 sowie die von den Fakultäten für das kommende Studienjahr gestellten Preisaufgaben werden in den nächsten Tagen durch eine Druckschrift sowie auch am schwarzen Brett bekannt gegeben werden. Und nun gehe ich zum Hauptpunkte unserer Feier über, zu der Übertragung des Rektorats auf den recht erwählten und recht bestätigten Rektor des neuen Studienjahres, indem ich denselben in sein Amt einweise und investiere. Ich ersuche die Versammlung, sich von ihren Sitzen zu erheben und fordere Sie auf, Herr Dr. Bruns, als mein Nachfolger das Katheder zu besteigen, den Amtseid auf die Statuten unserer Gemeinschaft zu schwören und die Abzeichen Ihres Amtes aus meiner Hand entgegenzunehmen. Sie schwören bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, daß Sie die Verfassung und die Gesetze der Universität treu und gewissenhaft beobachten und die Pflichten des Ihnen anvertrauten Amtes als Rektor nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen wollen. Hiernach verkündige ich Sie, den Dr. phil. Heinrich Bruns, als Rektor der Universität für das Studienjahr 1912/13 und vollziehe an Ihnen nach altem von den Vätern ererbten Rechte die feierliche Investitur. Ich übertrage auf Eure Magnifizenz den Hut und den Mantel, die Abzeichen Ihrer freien Würde, die Kette, mit der Königliche Huld den Leipziger Rektor geschmückt hat, das Siegel der Universität, womit Sie deren Willen rechtlich zu beglaubigen befugt sind, die Statuten, deren Hüter Sie sind, endlich den Schlüssel des Hauses, das Sinnbild der hausherrlichen Gewalt in den Räumen der Hochschule. Und nun lassen Sie mich Ihnen als erster huldigen. Gottes Segen walte über Ihrer Amtszeit. Wegen Erkrankung des Rektors wurde der Bericht vom Prorektor Geheimen Hofrat Professor Dr. Dr. l. l. Lamprecht verlesen, der sodann die Investitur des neuen Rektors vollzog. ***

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Heinrich Bruns (1848–1919)

31. Oktober 1912.

Rede des antretenden Rektors Dr. Heinrich Bruns. Von Ptolemäus bis Newton. Hochansehnliche Versammlung! Werte Kollegen! Liebe Kommilitonen und Kommilitoninnen! Wenn als neuer Rektor auf diesem Platze ein Astronom steht, so erwarten Sie vielleicht von ihm, daß er sich über Gegenstände verbreite, nach denen der Laie mit Vorliebe zu fragen pflegt, daß er sich also z. B. über Marskanäle, über Planetenbewohner oder ähnliche Dinge auslasse, von denen der Laie mitunter mehr weiß, als sich der Fachmann zu vermuten getraut. Das möchte ich jedoch nicht tun, sondern zunächst, gewissermaßen als Motto, eine kleine Anekdote vorausschicken. Als Kaiser Wilhelm I. einstmals bei einem Besuche der Stadt Bonn die Professoren der dortigen Universität um sich sah, war darunter auch der damalige Direktor der Bonner Sternwarte Argelander. Kaiser und Astronom waren alte Bekannte: waren sie doch Spielkameraden gewesen in jener schweren Zeit, als nach dem Tage von Jena das preußische Königspaar vor dem eindringenden Feinde bis nach Memel zurückgewichen war und die königlichen Prinzen dort in dem Hause von Argelanders Vater Wohnung gefunden hatten. Auf die Frage des Kaisers „Na Argelander, was gibts denn Neues am Himmel“ schaute der so Angeredete ganz treuherzig auf: „Kennen denn Majestät schon alles Alte?“ Eine solche Frage möchte auch ich hier stellen und versuchen, Ihnen in großen Zügen deutlich zu machen, wie denn eigentlich das Weltbild der heutigen Astronomie, das gewöhnlich als das Koppernikanische bezeichnet wird, entstanden ist. Vielleicht gelangen Sie dann zu der Auffassung, daß die landläufige Meinung, wie sie namentlich in populären Schriften zum Vorschein kommt, in mancher Beziehung ein schiefes Bild liefert. Dem Fachmann sind ja diese Dinge wohlvertraut; sie haben schon vor sechzig Jahren durch E. F. Apelt eine klare und ansprechende Darstellung erfahren, und zwar in seiner kulturgeschichtlichen Studie „Die Reformation der Sternkunde“. Des besseren Zusammenhanges wegen habe ich zunächst die Anfänge unsrer Himmelskunde zu streifen. Es ist bekannt, daß deren Wurzeln bis in den Kultur1045

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kreis hinabreichen, der gewöhnlich als der babylonische bezeichnet wird. Zeugnis davon legt unter andrem die sexagesimale Teilung des Kreises ab, mit der die Astronomie bis heute erblich belastet ist. Der Weg, den die babylonischen Sternkundigen verfolgt haben, läßt sich aus den überlieferten Ergebnissen unschwer konstruieren, zumal er durch die Umstände vorgeschrieben wurde; er war kein andrer, als ihn z. B. vor reichlich einem Jahrhundert die Meteorologie eingeschlagen hat, um eine Klimalehre zu begründen. Die alten Beobachter haben die astronomischen Vorgänge, die ihnen wichtig erschienen, registriert, so gut es ihre primitiven Hülfsmittel der Zeit- und Winkelmessung erlaubten, und sie haben damit im Laufe der Zeit ein umfangreiches Material gesammelt, dessen Verlust man bedauern muß, denn zweifelsfrei datierte Angaben über Sonnenfinsternisse und gewisse Konstellationen würden trotz der Ungenauigkeit der alten Beobachtungen noch heute von Wert sein. Unter jene Vorgänge gehörten zunächst die Auf- und Untergänge der Fixsterne bei Beginn oder Schluß der Nacht; sie lieferten in Verbindung mit den vom Sommer zum Winter wechselnden Mittags-Schattenlängen das Mittel, um den Lauf der Sonne durch die Sternbilder des Tierkreises festzulegen. Ferner gehörten dahin die Bewegung des Mondes und der fünf alten Planeten längs des Tierkreises samt den Finsternissen und dem Vorkommen auffälliger Zusammenkünfte der Wandelgestirne. Die Vergleichung solcher Aufzeichnungen führte nach und nach zur Entdeckung gewisser Regelmäßigkeiten, d. h. gewisser Perioden oder Zyklen in dem Ablauf einzelner Bewegungen, und aus dieser Kenntnis entsprang die Möglichkeit von Vorhersagen, die man füglich als Vorausberechnungen bezeichnen darf, und die trotz unvermeidlicher Fehlschläge in den Augen der Uneingeweihten den sternkundigen Priesterstand als den Träger übernatürlicher Fähigkeiten erscheinen lassen mußten. Unter den seither entzifferten Keilschriften befinden sich sogenannte Ephemeriden, d. h. Tabellen, die als Hülfsmittel für solche Rechnungen dienten und die uns gestatten, die zugrunde liegenden Periodenwerte festzustellen. Hierbei hat sich ergeben, daß einzelne Perioden, die zum Teil versteckt liegen, mit einer bemerkenswerten Genauigkeit angesetzt worden sind. Diese Tatsache ist auch für den Historiker von Interesse, denn sie ist nur verständlich, wenn man annimmt, daß die Aufzeichnungen, aus denen jene Tabellen abgeleitet sind, ohne schädliche Lücken einen Zeitraum von vielen Jahrhunderten, vermutlich von zwei Jahrtausenden oder noch mehr überspannen. Daraus folgt dann noch, daß der sternkundige Priesterstand, der sein astronomisches Wissen selbstverständlich als Geheimlehre hütete, das Geschick besessen hat, bei den politischen Umwälzungen, an denen es ja auch in dem Zweistromlande nicht gefehlt hat, stets oben zu schwimmen und mit seiner Machtstellung auch die Überlieferung seines geistigen Besitzes festzuhalten. Diese Macht, soweit sie die Himmelskunde betraf, zerfiel erst bei dem Zusammenstoß mit dem Griechentum unter Alexander dem Großen, denn das Griechentum kennt auf wissenschaftlichem Gebiete in der Hauptsache nur Schulen mit offener Überlieferung; Geheimorden, wie der von Pythagoras gestiftete, bilden eine Ausnahme. Unwillkürlich muß man bei einer solchen Entwicklung an die Stellung des römischen Klerus im Mittelalter denken, ebenso daran, daß bei der Zerstörung seines wissenschaftlichen Monopols die Wiedererwekkung der griechischen Kultur eine wesentliche Rolle gespielt hat. 1046

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Was hat nun der Hellenismus, der das astronomische Erbe der Babylonier mindestens teilweise antreten konnte, seinerseits für die Himmelskunde geleistet? Die Antwort lautet: er hat mit seiner ausgesprochenen Begabung für Spekulation, Systematik und straffe Beweisführung an die Stelle der grob empirischen und deskriptiven Himmelskunde der Babylonier eine mathematisch durchgearbeitete Theorie der Bewegung der Wandelgestirne gesetzt. Das hierzu nötige mathematische Rüstzeug war vorhanden und von ihm selber geschaffen worden; ich brauche nur an die Namen Apollonius, Archimedes und Euklid zu erinnern, sowie daran, daß Archimedes in seinem vor etlichen Jahren von Heiberg aufgefundenen Briefwechsel mit Eratosthenes in voller Klarheit die Grundlagen von Methoden behandelt, deren Entwicklung zu den glänzendsten mathematischen Leistungen eines Leibniz und Newton gerechnet wird. Über die einzelnen Schritte der etwa vierhundert Jahre umfassenden Ausbildung der griechischen Astronomie sind wir leider nur durch literarische Trümmer unterrichtet. So beruht z. B. unsre Kenntnis der Leistungen Hipparchs, der als der Begründer der wissenschaftlichen Astronomie gefeiert wird, gerade in den für uns wichtigsten Stücken auf Mitteilungen aus zweiter Hand. Dafür ist uns aber die Summe der astronomischen Arbeit der Griechen erhalten und zwar in der Syntaxis des Klaudius Ptolemäus, die zumeist mit ihrem arabischen Titel kurz als der Almagest bezeichnet wird, und die vierzehnhundert Jahre hindurch gewissermaßen die Bibel der Astronomen gewesen ist. Das Werk des Ptolemäus wird in populären Darstellungen gewöhnlich mit reichlicher Geringschätzung bedacht. Wer das tut, hat sich niemals die Mühe gemacht, den Inhalt des Almagest anzusehen. Ehe ich jedoch hierauf eingehe, habe ich eine Bemerkung allgemeiner Art vorauszuschicken. Wenn eine Fliege an der Wand dieses Saales in die Höhe kriecht, so erzeugt das eine Änderung in der Massenverteilung der Erde, und diese Änderung wirkt auf die Bewegung der Erde und darüber hinaus durch das Sonnensystem bis zu den fernsten Fixsternen hin. Für einen Studenten der Mathematik, der das normale Pensum der analytischen Mechanik erledigt hat, ist es eine leichte Aufgabe zu berechnen, wie viel hierbei z. B. die Umdrehung der Erde verzögert, d. h. die Dauer des Tages verlängert wird. Der Betrag ist ja recht winzig, aber er ist vorhanden und ohne Mühe anzugeben. Diese Betrachtung lehrt, daß wegen des physischen Zusammenhanges, der zwischen allen Teilen des Kosmos besteht, jeder natürliche Vorgang, auch der anscheinend einfachste, in Wahrheit unermeßlich verwickelt ist, und daß jede mathematische Theorie solcher Vorgänge, sobald sie ziffermäßige Angaben liefern soll, notwendig unvollständig bleibt. Darum ist die Frage, ob eine mathematische Theorie richtig oder falsch sei, schief gestellt – wesentlich ist vielmehr, wie weit sich eine solche Theorie für die geistige, auf Zahl und Maß beruhende Beherrschung der Erscheinungen als brauchbar erweist. Legt man diesen Maßstab an, so sind von dem Inhalte der griechischen Astronomie folgende Hauptstücke zu berücksichtigen. Die Erde ist eine Kugel, frei schwebend und von den Sphären der Gestirne umgeben. Damit war die Vorstellung beseitigt, daß die Erdoberfläche, wie es TrölsLund hübsch ausdrückt, der Fußboden eines Saales sei, dessen Keller die Erde und 1047

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dessen Decke der mit Sternen besetzte Himmel ist. Der Versuch des Eratosthenes, die Größe der Erdkugel zu bestimmen, gab von der Größenordnung des Erddurchmessers eine durchaus zutreffende Vorstellung; der Grundgedanke seines Verfahrens gehört noch heute zu den Methoden der Erdmessung. Die im Almagest vorgetragene Sphärik, d. h. die Vorschriften und Lehrsätze über die Einteilung der Erdkugel und der Sphäre der Gestirne ist, ähnlich wie das Werk des Euklid, in den eisernen Bestand unsrer Lehrbücher übergegangen. Die Erde ruht in der Mitte des Weltalls; das besagt – mathematisch gesprochen – weiter nichts, als daß sie den Nullpunkt für alle räumlichen Beziehungen bildet. Um sie läuft der ganze Himmel in vierundzwanzig Stunden und nimmt dabei die scheinbar zwischen den Fixsternen laufenden Wandelgestirne mit. In dieser Vorstellung denkt und rechnet der Astronom auch noch heute, so lange er es nur mit den Beobachtungen und ihrer Aufbereitung zu tun hat. Sie war damals die plausibelste und bot bei dem damaligen Stande der physikalischen Kenntnisse ungleich geringere Schwierigkeiten als ihr Gegenteil. Ähnlich beginnt die Naturforschung auch heute die Untersuchung eines bestimmten Kreises von Erscheinungen mit Voraussetzungen, die vorläufig als die nächstliegenden und plausibelsten anzusehen sind, und gibt sie erst auf, wenn triftige Gründe dazu nötigen. Bei den Bewegungen der Wandelgestirne stand die griechische Astronomie anfänglich unter dem Banne der Vorstellungen der alten Naturphilosophie. Es hieß damals: der Himmel ist das Vollkommene, deshalb sind es auch die himmlischen Bewegungen; die vollkommenste Bewegung ist aber die gleichförmige im Kreise. Es ist von Interesse zu sehen, wie sich der Almagest mit diesem primitiven Dogma abfindet. Die Sonne bewegt sich allerdings am Himmel in einem Kreise; die Kardinalpunkte dieses Kreises, nämlich die Punkte des längsten und kürzesten Tages, sowie der Tag- und Nachtgleichen stehen um je einen Quadranten, also um gleiche Bögen von einander ab; hingegen sind die vier Jahreszeiten, in denen die einzelnen Quadranten durchlaufen werden, von ungleicher Länge und widersprechen damit einer gleichförmigen Bewegung der Sonne um die Erde. Hipparch, der zwischen Frühling und Herbst einen Unterschied von reichlich sechs Tagen festgestellt hatte, half sich durch den einfachen Ausweg, daß er die gleichförmige Kreisbewegung zwar festhielt, aber ihren Mittelpunkt in einen Ort außerhalb der Erde verlegte. In der Tat ist es möglich, durch dieses Hilfsmittel der exzentrischen Kreisbewegung bei richtiger Wahl der Exzentrizität den scheinbaren Sonnenlauf mit einer Annäherung darzustellen, deren Fehler vor Einführung des Fernrohrs durch Messung überhaupt nicht nachweisbar war. Etwas anders stellte sich die Sache bei den sogenannten alten Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn. Im allgemeinen laufen sie für den Beobachter längs des Tierkreises rechtläufig, d. h. in derselben Richtung wie Sonne und Mond. Von Zeit zu Zeit tritt jedoch periodisch eine Umkehrung dieser Richtung, eine sogenannte Rückläufigkeit ein, wobei allerlei Schlingen und Schleifen entstehen, während die Mitte der Rückläufigkeit jedesmal in die Zeit fällt, zu der Planet und Erde ihre kleinste Entfernung von einander annehmen. Um diese Erscheinung, der die Babylonier hülflos gegenüber gestanden hatten, mathematisch zu fassen, benutzt 1048

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der Almagest das auf Apollonius zurückgehende Hülfsmittel des Epizykels, das in manchen populären Darstellungen als eine Art geistiger Mißgeburt bewertet wird. Wie es in Wahrheit damit steht, lehrt folgende Betrachtung. Geht man von der Ihnen allen geläufigen Vorstellung aus, daß die Erde samt den übrigen Planeten in Kreisen um die Sonne läuft, so hat man, um den beobachteten scheinbaren Lauf eines Planeten zu finden, von seiner wirklichen Bewegung die wirkliche Bewegung der Erde – wie die Mathematik sich ausdrückt – geometrisch abzuziehen. Wird diese Subtraktion ausgeführt, so ergibt sich nachstehende Konstruktion: der Planet läuft zunächst auf einem besondren Kreise, dem sogenannten Epizykel, dessen Mittelpunkt seinerseits auf einem anderen Kreise, dem sogenannten Deferens, um den Beobachter läuft. Das ist aber die Konstruktion, die der Almagest zur Darstellung der Rückläufigkeit benutzt, und sie war lediglich eine geometrisch notwendige Folge der Wirklichkeit, sobald man einmal mit dem Almagest den Nullpunkt aller Bewegungen von vornherein in den Beobachtungsort legt. Es dürfte nicht überflüssig sein, anzuführen, daß heutzutage die rechnenden Wissenschaften, insonderheit die Astronomie, die Physik, die Meteorologie von der epizyklischen Konstruktion den ausgiebigsten Gebrauch machen, wenn es sich um die Analyse periodischer Vorgänge handelt, – nur daß man jetzt den Namen „trigonometrische Entwicklung“ statt Epizykel gebraucht. Ein Beispiel statt vieler: die 1867 vollendete Mondtheorie von Delaunay, die ihrem Urheber die goldene Medaille der Royal Astronomical Society einbrachte, enthält in ihrem zweiten Bande den Ausdruck für den Ort des Mondes in seiner Bahn. Die Formel nimmt 173 Quartseiten ein und setzt sich aus 481 Gliedern zusammen, von denen mit Ausnahme des ersten, jedes einen Epizykel bedeutet. Noch anders als bei den Planeten lagen die Verhältnisse bei der Bewegung des Mondes. Ich muß mir jedoch versagen, an diesem Orte näher darauf einzugehen, wie und wieweit der Almagest mit der Mondtheorie – in der Hauptsache erfolgreich – zurechtkommt. Im übrigen läßt sich unschwer verstehen, daß Ptolemäus den Epizykel, der sich bei der Erklärung der Rückläufigkeiten bewährt hatte, auch zur Erklärung kleinerer Ungleichheiten heranzog. Dasselbe haben nach ihm die Araber und auch Koppernikus getan. Das Ergebnis nach dieser Richtung hin war allerdings unbefriedigend, weil man bei dem Suchen nach solchen Epizykeln auf ein blindes Tasten angewiesen war. Der Grund hierfür lag größtenteils darin, daß man zwar fleißig genug beobachtete, aber von dem ganzen Material immer nur eine kleine Anzahl, meist willkürlich ausgewählter Beobachtungen wirklich benutzte und sich dadurch den Überblick über das Verhalten der vorhandenen kleineren Unstimmigkeiten abschnitt. Dieser Mangel der Methodik hat sich recht lange behauptet; erst im vergangenen Jahrhundert ist den Astronomen nach dem Vorgange von Gauß durch Bessel und Wilhelm Struve der Grundsatz anerzogen worden, daß man bei einer Untersuchung sämtliche für sie in Betracht kommenden Beobachtungen nach Maßgabe ihrer Vertrauenswürdigkeit heranzuziehen habe. Fragt man nunmehr, welches Maß von Brauchbarkeit der Almagest besaß, so darf man ruhig sagen, daß er trotz der Mängel, die weder seinem Verfasser noch seinen Nachfolgern verborgen blieben, den Astronomen die Möglichkeit bot, sich 1049

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in den himmlischen Bewegungen zurecht zu finden, und daß seine Unvollkommenheit nicht größer war, als bei vielen Theorien der Physik, die geraume Zeit schlecht und recht ihre Schuldigkeit getan haben, bis sie durch besseres abgelöst wurden. Wenn z. B. bei dem Planeten Mars, der ob seiner Widerspenstigkeit bei Plinius das „sidus inobservabile“, das der Kunst der Astronomen spottende Gestirn genannt wird, die Rechnung des Almagest gelegentlich um 5° oder zehn Vollmondbreiten vom Himmel abwich, so hatte das für die damalige Zeit ungefähr dieselbe Bedeutung, als wenn heute eine im himmlischen Fahrplan angekündigte Sonnenfinsternis mit zehn Minuten Verspätung eintreffen würde. Für den zünftigen Astronomen war eine solche Abweichung natürlich widerwärtig genug, hingegen hatte die übrige Menschheit keinen Anlaß sich darüber sonderlich aufzuregen. Was diese verlangte und mit Recht von den Astronomen verlangen durfte, nämlich Ordnung in der Zeitrechnung und taugliche Unterlagen für die Bedürfnisse der Geographie, das hat der Almagest seinerzeit reichlich geleistet. An dem Kalenderwirrwarr, der zur Einführung des Gregorianischen Kalenders Anlaß gab, war nicht die Astronomie schuld, sondern die einer vernünftigen Zeitrechnung Hohn sprechende kirchliche Festsetzung über das Osterfest; und über die der Geographie geleisteten Dienste besitzen wir ein lehrreiches Zeugnis von keinem geringeren als Kolumbus. In der Beschreibung seiner vierten Reise heißt es: „Es gibt nur eine untrügliche Schiffsrechnung, die der Astronomen. Wer diese versteht, kann zufrieden sein. Was sie gewährt, gleicht einer prophetischen Vision. Unsre unwissenden Piloten, wenn sie viele Tage die Küste aus den Augen verloren haben, wissen nicht wo sie sind. Sie würden die Länder nicht wiederfinden, die ich entdeckt habe. Zum Schiffen gehört die Bussole und die Kunst der Astronomen.“ Diese von Kolumbus gerühmte Kunst ist aber nichts andres als der von den Arabern überlieferte Almagest. Es ist Ihnen bekannt, daß der erste von Folgen begleitete Versuch, an die Stelle des Almagest etwas vollkommeneres zu setzen, von Koppernikus gemacht worden ist. Sein Werk trägt den Titel „De revolutionibus orbium coelestium libri sex“, wobei die Worte „orbium coelestium“, die mir stets unverständlich geblieben sind, ein Einschiebsel von fremder Hand bilden. Das Buch erschien 1543, im Todesjahre des Verfassers und erst nach seinem Ableben. Das erste Buch der Libri sex, das samt der Widmung an Papst Paul III. für den heutigen Leser den interessantesten Teil bildet, enthält die auf allgemeine Betrachtungen gestützte Darlegung der Sätze, daß der tägliche Umschwung des Himmelsgewölbes nur das Spiegelbild der Erddrehung sei, daß die von Hipparch entdeckte Verschiebung der Nachtgleichen von einer langsamen Änderung der Richtung der Erdaxe herrühre, und daß endlich die Erde samt den übrigen Planeten in exzentrischen Kreisen um die Sonne laufe. Der letzte Satz verlegt den Nullpunkt der himmlischen Bewegungen von der Erde fort in die Sonne und machte den Epizykel überflüssig, den Ptolemäus wegen der Annahme einer ruhenden Erde hatte einführen müssen. Die fünf anderen Bücher enthalten die eingehende mathematische Durcharbeitung der neuen Theorie. Koppernikus wußte genau, daß seinen Fachgenossen nicht mit Worten und allgemeinen Ideen, sondern nur mit Formeln und Zahlen gedient war, und daß ohne klare Rechenvorschriften seiner Lehre das Schicksal 1050

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bevorstand, für die Astronomie ebenso unfruchtbar zu bleiben, wie die Auslassungen seiner sogenannten Vorläufer von Heraklides Pontikus und Aristarch von Samos an bis zu Nikolaus Cusanus. Darum hat er an diesem Teile seines Werkes unablässig gefeilt, nicht nur die Horazischen neun Jahre hindurch, sondern – wie er selbst berichtet – bis in das vierte Jahrneunt hinein, fast bis an sein Lebensende. Will man nun die geschichtliche Stellung der Libri sex richtig abschätzen, so sind zwei Dinge zu scheiden, die allerdings in dem Kopfe des Koppernikus eng mit einander verwachsen waren. Das erste ist die kulturgeschichtliche Bedeutung der neuen Lehre. Es gehörte eine ungewöhnliche Selbständigkeit des Denkens und ein ungewöhnlicher geistiger Mut dazu, den Menschen zu sagen, daß die Erde samt ihren Bewohnern, um derentwillen allein ja nach der christlichen Vorstellung der Gottessohn geboren und gekreuzigt worden war, im Weltall nur ein winziges Stäubchen neben andren darstelle, denn die Zumutung solches zu glauben, forderte eine vollständige Umwälzung in den seither für selbstverständlich gehaltenen Vorstellungen über Erde und Himmel. Doch ich habe bei diesem wohlbekannten Gegenstande nicht zu verweilen, denn hier handelt es sich um die andre Seite, nämlich um die geschichtliche Stellung des Koppernikus innerhalb der Fachwissenschaft. Wie war zunächst die Aufnahme der neuen Theorie bei den Astronomen beschaffen? Man darf sagen: wie in ähnlichen Fällen, wenn eine Persönlichkeit von anerkanntem wissenschaftlichem Rufe mit einer völlig neuen Lehre hervortritt; auf der einen Seite schroffe Ablehnung, auf der andern begeisterte Zustimmung, dazwischen kritische Zurückhaltung, im ganzen jedoch Bereitwilligkeit, mit der neuen Lehre eine ernsthafte Probe auf ihre Brauchbarkeit vorzunehmen. Und wie fiel diese Probe aus? Nun, die landläufige Ansicht geht dahin, daß durch das Erscheinen der Libri sex die Quälerei mit dem Almagest behoben gewesen und den nachfolgenden Generationen im wesentlichen nur die Aufgabe zugefallen sei, das von Koppernikus aufgeführte Gebäude hier und da auszubauen und wohnlicher einzurichten, etwa so, wie man heute in einem schönen alten Schlosse nachträglich Zentralheizung, elektrische Beleuchtung und ähnliche nützliche Dinge anbringt. Das ist aber eine Legende, ein Märchen; das Ergebnis der Probe war eine bittere Enttäuschung. Die von Erasmus Reinhold, einem Schüler des Koppernikus, mit der Theorie und den Daten der Libri sex berechneten Prutenischen Tafeln ließen beispielsweise beim Mars gelegentlich Abweichungen bis zu zehn Vollmondbreiten übrig; wesentlich schlechter hatte aber auch der Almagest nicht gestimmt. Durch die ersten Jahrzehnte nach Koppernikus geht es wie ein Notruf: wer bringt uns die ersehnte neue Astronomie ohne Hypothesen, die Astronomie, die der Wirklichkeit entspricht und die mit dem Himmel stimmt? Petrus Ramus versprach, seinen Lehrstuhl am Collège royal de France demjenigen abzutreten, der eine hypothesenfreie Astronomie schaffe, und Kepler konnte später scherzend bemerken, daß der Pariser Gelehrte durch den Tod davor bewahrt worden sei, sein Versprechen einzulösen. Über Rhetikus, einen begeisterten Schüler des Koppernikus, ging die Erzählung um, er habe in seiner Ratlosigkeit wegen des Mars das Orakel seines Spiritus familiaris befragt, und der habe, ergrimmt wegen der widerwärtigen Frage, den Rhetikus beim Schopfe genommen, ihn erst an die Zimmerdecke und dann auf den Dielen herumgeworfen, 1051

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mit dem Bescheide: das sei die Bewegung des Mars. Kepler bemerkt dazu trocken: die Sache werde wohl so zusammenhängen, daß Rhetikus einmal voller Wut ob der Tücke des Mars mit dem Kopfe gegen die Wand gerannt sei, wie einst Kaiser Augustus ob der Niederlage des Varus. Angesichts der erwähnten Tatsachen könnte es scheinen, als ob die Libri sex für die Astronomie nicht viel mehr als einen unfruchtbaren Versuch bedeutet haben. Und doch bezeichnet – trotz des offenkundigen Mißerfolges – der Name Koppernikus einen Markstein auch in der Geschichte der Astronomie, nur daß der Gewinn nicht da zu suchen war, wo Koppernikus selber vermeinte. Ich will ein Bild gebrauchen. Vor der Pforte, die den Zugang zum Geheimnis der Planetenbewegung verschloß, lag ein großer Felsblock; diesen hat Koppernikus aus dem Wege geräumt, die Pforte selber aber nicht geöffnet, denn dazu bedurfte es, wie wir heute klar zu übersehen vermögen, andrer Männer mit anders gearteter Begabung. Oder ohne Bild gesprochen: die Annahme einer bewegten Erde bot die Möglichkeit einer völlig neuen Fragestellung, bot die Möglichkeit, die wirkliche Gestalt der Planetenbahnen frei von jeder besonderen Voraussetzung durch bloße Messungen, nämlich durch direkte Triangulation festzulegen. Folgende Betrachtung möge das erläutern. Wenn der Feldmesser ein unzugängliches Objekt nur von einem einzigen Standorte aus anvisiert, so erhält er nur die Richtung, aber nicht auch die Entfernung, d. h. der Ort des Objektes im Raume bleibt tatsächlich unbestimmt. Das war die Lage, in der sich Ptolemäus mit seiner rein perspektivischen Theorie befand, denn die als ruhend angenommene Erde lieferte für den Beobachter nur einen einzigen und unveränderlichen Standort, und damit war die Möglichkeit einer wirklichen Ausmessung der Planetenbahnen abgeschnitten. Läßt sich dagegen das unzugängliche Objekt von zwei gegenseitig sichtbaren Standorten aus anvisieren, deren gegenseitige Lage überdies bekannt ist, so hat man damit auch den Ort des Objektes festgelegt. Allerdings ließ sich diese Methode der Triangulation nicht unmittelbar auf das System des Koppernikus übertragen, denn von den einzelnen Orten der bewegten Erde, die allein als Beobachtungsort in Frage kam, war ja die gegenseitige Lage vorläufig unbekannt; auch war das Objekt, nämlich der zu bestimmende Planet, nicht fest, wie es die Triangulation voraussetzt. Trotzdem gelang Kepler die Triangulation. Die Art, wie er dabei die Möglichkeit der neuen Fragestellung erfaßte und das erwähnte Hindernis aus dem Wege räumte, gemahnt an das Ei des Kolumbus und man muß an diesem Streiche des Schwaben Kepler seine helle Freude haben. Doch einstweilen war es noch nicht so weit, und es mußte etwas andres vorhergehen. Die Mängel der vorhin genannten Prutenischen Tafeln entsprangen im wesentlichen aus zwei Ursachen. Zunächst war der im zweiten Buche der Libri sex enthaltene Katalog von rund tausend Fixsternen, der das feste Gerüst für die astronomischen Beobachtungen zu liefern hatte, nur eine Kopie der Sternliste des Hipparch und so ziemlich mit allen Fehlern behaftet, die er nach der Art seiner Entstehung überhaupt besitzen konnte. Die Angaben Hipparchs, die selbstverständlich nicht frei von Beobachtungsfehlern waren, wurden von Ptolemäus übernommen – in der Hauptsache ohne Nachprüfung – und von diesem mit einer fehlerhaften Präzession auf die Epoche des Almagest umgerechnet. Daran schloß sich dann, durch über 1052

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1400 Jahre reichend, die handschriftliche Überlieferung durchs Griechische hindurch ins Arabische und schließlich ins Lateinische. Was dabei herauskommen kann, noch dazu wenn es sich um Zahlenangaben handelt, davon weiß die Philologie ein Lied zu singen. Die andere Ursache lag in der Kreisbewegung der Planeten, die Koppernikus ohne Bedenken aus dem Almagest herübergenommen hatte; damit war gerade das, was in dem mathematischen Ansatz des Ptolemäus den Hauptgrund der Unstimmigkeiten ausmachte, unverbessert geblieben. Unter solchen Umständen war die erste Forderung die Herstellung eines neuen sicheren empirischen Fundaments. Bei den Bemühungen, die von verschiedenen Seiten her auf diese Aufgabe gerichtet wurden, fiel die Palme des Erfolges dem Dänen Tycho Brahe zu; es gelang ihm die Fehler der astronomischen Winkelmessungen auf die Größenordnung der Bogenminute herunterzudrücken und damit die Genauigkeit so weit zu treiben, als dies ohne Anwendung des Fernrohrs im Durchschnitt möglich ist. Tycho ist unsrer Alma mater nicht fremd: im Wintersemester 1561 wurde er – fünfzehnjährig – bei der sächsischen Nation inskribiert. Schon damals hatte ihn die Himmelskunde gefangen genommen; hinter dem Rücken seines Hofmeisters benutzte er die Nächte zu astronomischen Beobachtungen, also wohl nützlicher, als die mit der löblichen Stadtmiliz sich balgenden Insassen der Bursen. Seine ganz interessanten Lehr- und Wanderjahre muß ich hier übergehen. Die Empfehlung des Landgrafen Wilhelm IV. von Hessen-Kassel, der selber ein eifriger Astronom war, bewirkte, daß König Friedrich II. von Dänemark Tycho in die Heimat berief und ihm die Insel Hven, im Sunde etwa 25 Kilometer nördlich von Kopenhagen gelegen, zum persönlichen Lehn gab, nebst reichlichen Mitteln zur Errichtung einer Sternwarte. Was hier auf dem bescheidenen Eiland in den vier Jahren 1576–80 emporwuchs, war – um einen guten alten, seit zwei Jahren jedoch einige Konfusion anrichtenden Ausdruck zu gebrauchen – ein Forschungsinstitut ersten Ranges und, mit dem Maße jener Zeit gemessen, glänzender eingerichtet, als irgend eine wissenschaftliche Anstalt der Gegenwart. Die Anlage umfaßte einen fürstlichen Schloßbau, die Uranienburg, daneben als die eigentliche Sternwarte mit den größeren Instrumenten die halb unterirdisch angelegte Sternenburg, dazu eine eigene Druckerei mit Papiermühle, eine Kornmühle und was sonst noch nötig war, um mit einem stattlichen Stabe von Beobachtern, Rechnern und Handwerkern einen geregelten wissenschaftlichen Betrieb durchzuführen. Doch ungleich wichtiger als der von den Zeitgenossen bewunderte Zuschnitt dieser astronomischen Kolonie war die Tatkraft und die Umsicht, mit der ein klar vorgezeichnetes Ziel nach einem sachgemäßen Plane verfolgt wurde, und die bei den Zeitgenossen dem Leiter des Ganzen den Beinamen eines „Instaurator astronomiae“ verschafften. Als Friedrich II. 1588 gestorben war, wollte der neue Pharao nichts von Joseph wissen. Zudem hatte Tycho Feinde genug, denn er war von hochfahrender Natur, und da ihn der königliche Lehnsbrief schützte, so versuchte man es mit dem Fortärgern. Eine Zeit lang hielt Tycho trotzig Stand, dann ging er 1597 zu dem Grafen Rantzau nach Wandsbek, einem eifrigen Verehrer der Astrologie. Zwei Jahre später berief ihn Rudolf II. nach Prag als kaiserlichen Rat und Mathematikus. Hier ist Tycho 1053

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1601 gestorben, und die Aufgabe, den von ihm hinterlassenen Schatz zu heben, fiel nach einigen Weiterungen Kepler zu. Was Kepler vor sich hatte, war einem Haufen wertvollen Erzes zu vergleichen, aus dem eine kundige Hand das gediegene Metall zu gewinnen hatte, um den Schlüssel zu schmieden, der die verschlossene Pforte öffnen sollte. Ich muß es mir hier versagen, die wechselvollen Lebensschicksale Keplers auch nur zu streifen; man liest die Schilderung davon mit Bewunderung für die geistige Begabung und den Charakter des Mannes, aber auch mit dem Gefühl der Bitterkeit, daß die protestantischen Universitäten Deutschlands in ihrer kirchlichen Einseitigkeit damals unfähig gewesen sind, dieser Zierde des menschlichen Geschlechts eine Stätte des Wirkens zu bereiten. Acht Jahre nach dem Tode Tychos erschien die „Astronomia nova“, in der Kepler den Gang und die Ergebnisse seiner Untersuchung mitteilt. Man hat gelegentlich gesagt, daß dieses Buch von einer geradezu dämonischen Begabung Kunde gebe. In der Tat wird man in der wissenschaftlichen Litteratur nicht leicht ein anderes Werk finden, bei dem in gleicher Weise bohrender Scharfsinn, schöpferisches Kombinationsvermögen bei der Überwindung mathematischer Schwierigkeiten, Beherrschung einer umfangreichen Fachlitteratur im Verein mit einer erstaunlichen, an die Bewältigung mühevoller Rechenarbeit gesetzten, physischen Spannkraft auftreten, und das alles unter niederdrückenden äußeren Verhältnissen, denn der Kaiserliche Mathematikus Johannes Kepler erhielt seinen Anteil an der chronischen Geldklemme Rudolfs II. unverkürzt zugemessen. Schält man nun aus dem Gedankengange Keplers die Hauptstücke heraus und ordnet sie nach dem logischen Zusammenhange, in dem sie für unsere heutige Auffassung miteinander stehen, so stößt man zunächst auf die Frage, was Kepler bei der von ihm – und erst von ihm – formulierten neuen Fragestellung aus dem Werke des Koppernikus übernommen habe. Die Antwort lautet: erstens die Drehung der Erde, zweitens als Arbeitshypothese den Satz, daß sich die auf die Sonne bezogenen Bewegungen der Erde und der Planeten periodisch in geschlossenen Bahnen vollziehen. Im übrigen sind bei seiner Aufgabe die Form und Lage dieser Bahnen, ebenso das Gesetz für die Bewegung längs der Bahn die unbekannten Stücke; über sie werden keinerlei weitere Annahmen gemacht, denn sie sollen ja gerade aus den Messungen gefunden werden. Damit wurde der ganze mühevolle mathematische Aufbau, an den Koppernikus seine Lebensarbeit gesetzt hatte, beiseite geschoben; Kepler brauchte ihn nicht. Der erste Schritt, den Kepler ausführte und für dessen Gelingen die Reichhaltigkeit des Tychonischen Beobachtungsmaterials entscheidend war, bestand in der gleichzeitigen Triangulation der Bahnen von Erde und Mars. Kepler hatte den Mars gewählt, gerade weil er seither der widerspenstigste Planet gewesen war. Die Arbeit war mühevoll, aber für Kepler in ihrer Richtung klar vorgezeichnet, und das Ergebnis folgendes. Ähnlich wie der Feldmesser für den Lauf einer Straße oder eines Flusses auf dem Plane eine Anzahl von Punkten festlegt, so erhielt Kepler für die beiden Bahnen eine Reihe von Punkten, die nur auf Messungen und der vorhin erwähnten, durch eben diese Messungen bestätigten Arbeitshypothese beruhten. Schon 1054

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dieses Ergebnis bedeutete einen außerordentlichen Erfolg, an dessen Möglichkeit Tycho selber seinerzeit gezweifelt hatte, und Kepler durfte in der Erinnerung daran seine von ihm selber verfaßte Grabschrift mit den stolzen Worten beginnen lassen: „Mensus eram coelos, nunc terrae metior umbras“. Durch das gefundene Ergebnis wurde Kepler nunmehr vor die weitere Aufgabe gestellt, aus den ermittelten Örtern von Erde und Mars das Bildungsgesetz der Bahnkurven und das Gesetz der Bewegung in der Bahn abzuleiten. Der zweite Teil dieser Aufgabe erwies sich als der leichtere, war aber trotzdem schwierig genug, denn Kepler mußte die hierbei nötigen mathematischen Methoden, die im Grunde der Integralrechnung angehörten, selber erst erfinden. Die Frucht dieser Mühen war das sogenannte erste Gesetz, nämlich der Satz von der Konstanz der Flächengeschwindigkeit. Ungleich schwieriger war der erste Teil der Aufgabe, das Bildungsgesetz der Bahnkurven. Hier war Kepler auf ein fortgesetztes Suchen und Versuchen angewiesen. Unermüdet hat er lange Zeit Hypothese um Hypothese durchprobiert, doch ohne Erfolg; erzwang er an einer Stelle den Anschluß an die Beobachtungen, so klaffte an einer andern der Widerspruch um so stärker. Endlich bei der vorletzten Hypothese, die er durchrechnete, waren die Widersprüche unter 8' gesunken, also unter einen Betrag, der zur Zeit des Koppernikus als völlig belanglos gelten durfte. Doch auch das war gegenüber der Genauigkeit der Tychonischen Messungen noch vielzuviel, und so versuchte denn Kepler eine letzte Hypothese. Sie führte zu dem ersehnten Ziele, nämlich zu dem sogenannten zweiten Gesetz, welches besagt, daß die Bahn jedes Planeten eine Ellipse ist, mit der Sonne in dem einen Brennpunkte. Eindrucksvoll ist die Stelle, wo Kepler von der entscheidenden Wendung seiner Untersuchung spricht: es hatte, wie später noch manchmal – so z. B. bei der Gravitation – eine grundlegende Entdeckung in letzter Linie von der Genauigkeit der Messungen abgehangen. Unter neidloser Anerkennung des Anteiles Tychos heißt es zunächst: „Nobis cum divina benignitas Tychonem Brahe observatorem diligentissimum concesserit… aequum est, ut grata mente hoc Dei benificium et agnoscamus et excolamus“. Und dann einige Zeilen weiter: „sola igitur haec octo minuta viam praeiverunt ad totam astronomiam reformandam.“ Kepler durfte so sprechen, er durfte mit Fug und Recht auf den Titel seiner Marsuntersuchung setzen „Astronomia nova“, denn das was er gab war die gesuchte neue Astronomie ohne Hypothesen. Die Bemühungen seiner Vorgänger um das Planetenproblem von Hipparch bis Koppernikus hatten ihren Dienst getan und besaßen fortan nur noch geschichtlichen Wert. Aber noch etwas ganz andres war in Keplers Untersuchung völlig neu, denn sie bedeutet – zusammengenommen mit den gleichzeitigen physikalischen Entdeckungen Galileis – das erste und sogleich mit vollem Gelingen gekrönte, für die Nachfolger vorbildliche Auftreten der induktiven Methode. Koppernikus steht mit der Methode seines Denkens noch ganz auf dem Boden der Scholastik, und es dürfte nicht überflüssig sein, hiervon eine Probe zu geben. Im ersten Buche der Libri sex trägt das erste Kapitel die Überschrift: daß die Welt eine Kugel sei. Wohlgemerkt die Welt, denn über dem zweiten Kapitel steht: daß auch die Erde eine Kugel sei. 1055

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Wie sieht nun der Beweis für die Kugelgestalt der Welt aus? Er lautet: „Zuerst müssen wir bemerken, daß die Welt kugelförmig ist, teils weil diese Form als die vollendete, keiner Zusammenfügung bedürftige Ganzheit die vollkommenste von allen ist, teils weil sie die geräumigste Form bildet, welche am meisten dazu geeignet ist, alles zu enthalten und zu bewahren; oder auch weil alle in sich abgeschlossenen Teile der Welt, ich meine die Sonne, den Mond und die Planeten, in dieser Form erscheinen; oder weil alles dahin strebt, sich in dieser Form zu begrenzen, was an den Tropfen des Wassers und den übrigen flüssigen Körpern zur Erscheinung kommt, wenn sie sich aus sich selbst zu begrenzen streben.“ An einer andren Stelle, wo es sich um die Bewegung der Erde handelt, heißt es: „Es kommt nun noch hinzu, daß der Stand der Unbeweglichkeit für edler und göttlicher gilt, als der der Veränderung und Unbeständigkeit, welcher letztere deshalb eher der Erde als der Welt zukommt; auch füge ich hinzu, daß es widersinnig erscheint, dem Enthaltenden und Setzenden eine Bewegung zuzuschreiben, und nicht vielmehr dem Enthaltenen und Gesetzten, welches die Erde ist.“ Nur einmal stößt man zwischen all den scholastischen Floskeln auf eine hausbackene Bemerkung, bei der man geradezu aufatmet. Nachdem nämlich Koppernikus dargelegt hat, daß die Erde nur ein winziges Teilchen des Weltalls darstelle, sagt er, es sei doch wunderlich anzunehmen, daß die unermeßlich ausgedehnte Welt sich in vierundzwanzig Stunden leichter solle im Raume bewegen können, als ein so winziges Teilchen, wie es die Erde ist. Doch wir haben uns wieder zu Kepler zu wenden. Mit dem ersten und zweiten Gesetz war eine für die damalige Zeit erschöpfende Behandlung der phoronomischen Seite des Planetenproblems gegeben. Indessen Kepler blieb dabei nicht stehen, denn in ihm lebte die schon in seinen Jugendarbeiten erkennbare Überzeugung, daß die Harmonie des Kosmos ihren Ausdruck, wie Pythagoras gelehrt hatte, in einfachen Zahlenbeziehungen finde. Und so hat er denn nach diesen Beziehungen gesucht und das Ergebnis seiner Mühen in der „Harmonice mundi“ niedergelegt. Dieses neun Jahre nach der Astronomia nova erschienene Werk enthält neben vielem, was heute nur noch als ein Spiel mit Zahlen erscheint, das sogenannte dritte Gesetz, nämlich den Satz, daß die Quadrate der Umlaufzeiten sich verhalten wie die Kuben der großen Axen der Bahnellipsen. Daß Kepler dieses Gesetz als seine größte Entdeckung aufgefaßt hat, lehrt der dithyrambische Schwung, mit dem die Vorrede zum fünften Buche der Harmonice geschrieben ist, vor allem aber der berühmte Schluß dieser Vorrede: „ich werfe den Würfel und schreibe das Buch, gleichviel ob es die Gegenwart liest oder erst die Nachwelt; es mag hundert Jahre auf seinen Leser harren, wenn Gott der Herr selber sechstausend Jahre auf das Verstehen seiner Werke hat warten müssen“. Keplers Buch sollte seinen Leser finden, bevor ein Jahrhundert vergangen war. Als etwa siebzig Jahre nach dem Erscheinen der Weltharmonik wiederum einer von den großen Entdeckern auf den Plan trat, als Newton die Aufgabe gelöst hatte, Keplers phoronomische Gesetze dynamisch zu deuten, da lautete das Ergebnis: 1. der Satz von der konstanten Flächengeschwindigkeit bedeutet, daß die Bewegungen im Sonnensystem von zentralen Anziehungen regiert werden, deren Sitz in den einzelnen Körpern des Systems liegt; 2. der Ellipsensatz besagt, daß die Anziehung 1056

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umgekehrt proportional dem Quadrate der Entfernung variiert; 3. die Beziehung zwischen den Umlaufszeiten und den großen Axen in der von Newton angegebenen schärferen Gestalt besagt, daß für alle innerhalb des Systems vorhandenen Körperpaare die Konstante der Anziehung den selben Wert besitzt. Dazu fügte dann Newton auf Grund seiner Untersuchung des Systems Erde-Mond den Satz, daß die Kraft, die den geworfenen Stein wieder zur Erde zwingt, als allgemeine Gravitation auch das Sonnensystem beherrscht. Damit war das Fundament der himmlischen Mechanik gelegt und die Entwicklung, die mit Tycho begonnen hatte, an einen Abschnitt gelangt. Gleichzeitig war der Streit um Ptolemäus und Koppernikus müßig geworden: beide hatten – je nachdem – Unrecht und Recht. Denn wenn im Sonnensystem die Bewegungen von der allgemeinen Schwere regiert werden, so kann keiner der in ihm enthaltenen Körper in wirklicher Ruhe sein, und wenn es sich um die relativen Bewegungen handelt, die allein der Beobachtung zugänglich sind, so nimmt der Astronom als ruhend denjenigen Körper an, der ihm jeweils als Nullpunkt der geeignete scheint. Doch die vorgerückte Stunde mahnt zum Schluß; darum noch kurz nur die Stichworte der späteren Entwicklung. War die Sonne samt ihren Begleitern als ein bewegliches, nur von physikalischen Kräften regiertes materielles System anzusehen, so lag die Übertragung dieser Vorstellung auf die Welt der Fixsterne nahe genug, zumal schon zu Newtons Zeit von Halley der Nachweis erbracht wurde, daß seit den Tagen Hipparchs etliche Sterne ihre Stellung gegen die übrigen merklich geändert hatten. Gleichwohl war diese Änderung des Weltbildes nicht gering, denn noch bei Koppernikus bildete den Abschluß des Kosmos die unbewegliche Himmelskugel mit den daran gehefteten Sternen, und auf ihr war für den christlichen Glauben der Platz für den Thron der heiligen Dreieinigkeit, umgeben von den Scharen der erlösten Seelen. Und weiter sollte sich das Weltbild bereichern. Der Fortschritt in den optischen Hülfsmitteln, der mit Wilhelm Herschel beginnt und heute bis zur Einführung des Spektroskops, des Photometers und des photographischen Fernrohrs gediehen ist, enthüllte bei den Gebilden der Sternenwelt eine vorher nicht geahnte Mannigfaltigkeit von Formen und von Vorgängen – eine Mannigfaltigkeit, in der sich die Himmelskunde erst nach und nach zurechtfindet. Daneben tritt schon bei Kant in seiner Nebular-Hypothese ein völlig neuer Gedanke auf. Eine spätere Zeit wird in den Einzelheiten, mit denen Kant und Laplace die Entstehung des Sonnensystems ausmalen, vielleicht nur die ersten Gehversuche eines Kindes sehen – das ist gleichgültig, denn wesentlich ist daran die Vorstellung, daß der Anblick, den jeweils der Kosmos gewährt, nur den augenblicklichen Stand einer über unermeßliche Zeiträume ausgedehnten Entwicklung wiedergibt. Und in der Gegenwart endlich melden sich Fragen an, die sich mit den letzten Problemen aller Erkenntnis berühren: ist der Kosmos endlich oder unendlich? ist er begrenzt oder unbegrenzt? Der Astronom kann sich solchen Fragen nicht entziehen, wenn sie auch weitab von den Dingen liegen, die die laufende Arbeit des Tages von ihm fordert. Ich kehre zum Ausgangspunkt meiner Rede zurück. Vielleicht ist es mir gelungen, Ihnen deutlich zu machen, warum die Geschichte der Himmelskunde – im Gegensatze zur Kulturgeschichte – in Koppernikus, der die bereits im Altertum 1057

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ausgesprochenen heliozentrischen Vorstellungen mathematisch durcharbeitete, nur den Abschluß der mit den Babyloniern beginnenden alten Astronomie erblickt, und warum sie die Geburt der neuen, der heutigen Astronomie in jene Stunde legt, wo in dem weißen Dünensande von Hven der erste Spatenstich für Tychos Uranienburg getan wurde. ***

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20. November 1913. Rede des abtretenden Rektors Dr. Heinrich Bruns. Bericht über das Studienjahr 1912/13. Hochansehnliche Versammlung! Wenn ich, dem Brauche folgend, die Chronik des abgelaufenen Studienjahres mit der Aufzählung festlicher Ereignisse beginne, so habe ich vor allem der Feier des 18. Oktober zu gedenken. Zur Vertretung des Lehrkörpers unsrer Hochschule waren Rektor, Prorektor, Syndikus und Dekane als Ehrengäste geladen worden; zugleich bildete unsre Studentenschaft im Verein mit den von deutschen Hochschulen herbeigeströmten zahlreichen Abordnungen am Fuße des Denkmals jenen farbenprächtigen Rahmen, der in dem leicht verschleierten Glanze der Oktobersonne wohl von jedem Teilnehmer des Festes als ein eindrucksvoller und würdiger Schmuck empfunden worden ist. In den Tagen vom 28.–30. Januar hatten wir die Freude, unseren Rector magnificentissimus begrüßen zu dürfen. Seine Majestät besuchte die Vorlesungen der Herren Althaus, Binding, Hölder, Leskien, Wundt und Zweifel, ferner die Herrn Barth unterstellte Klinik für Ohren-, Nasen- und Halskrankheiten. Im Zusammenhange hiermit möchte ich einen kleinen Vorfall dem Vergessenwerden entziehen. Auf dem Wege zu einer dieser Vorlesungen fiel die Bemerkung, daß der Dozent, dem der Besuch galt, als ein besonders hervorragender Vertreter seines Fachs angesehen werde. Auf meine Erwiderung, daß wir uns die Männer gerade daraufhin aussuchten, kam aus königlichem Munde das Wort: „Sie haben recht, für Leipzig ist das Beste gut genug.“ Dies wollen wir in dankbarer Erinnerung behalten als ein Zeugnis, daß wir nicht bloß mit Akten und Paragraphen regiert werden. Am 11. Januar besuchte Seine Königliche Hoheit Prinz Johann Georg das Ägyptologische Museum, um die neuen Erwerbungen kennen zu lernen. Am 22. Juni besuchte ferner Seine Majestät die Sonderausstellung der Universität in der Internationalen Baufach-Ausstellung, bei deren Eröffnung am 3. Mai durch Seine Majestät der Rektor als Teilnehmer zugegen gewesen war. Am 16. Juni überreichten die deutschen Universitäten in Berlin die von ihnen zu dem 25jährigen Regierungsjubiläum des Deutschen Kaisers gemeinsam gestiftete Tabula gratulatoria. Unsere Hochschule war hierbei durch ihren Rektor vertreten, während zu der gleichzeitig in Breslau stattfindenden Feier der dortigen Universität und Technischen Hochschule Herr Kittel entsandt worden war. Die Veranstaltung der Feier hier in Leipzig hatte der Akademische Senat in die Hand des Allgemeinen Studentenausschusses gelegt, wobei Herr Lamprecht die Festrede hielt. Gleichfalls eine Veranstaltung des Studentenausschusses war die Gerhard Hauptmann-Feier am 23. November 1912. An den Aktus in der Aula schloß sich abends die Aufführung des „Florian Geyer“ im Neuen Theater. 1059

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Das vom 16.–19. Oktober veranstaltete Deutsch-akademische Olympia soll unbeschadet seiner Bedeutung für die Pflege der Leibesübungen innerhalb der akademischen Jugend hier nur erwähnt werden, da darüber ein besonderer und ausführlicher Bericht zu veröffentlichen sein wird. Von anderen Vorgängen, an denen die Universität als solche in der einen oder anderen Weise beteiligt war, habe ich noch zu nennen: das 50jährige Jubiläum des Prediger-Kollegiums zu St. Pauli am 12. November vorigen Jahres; die außeramtliche Rektorenkonferenz am 13. März in Halle; die Konferenz über studentisches Wohnungswesen am 24. Mai in München, wobei Herr Bücher unsre Hochschule vertrat; die Festsitzung der 54. Hauptversammlung des Vereines deutscher Ingenieure am 23. Juni in Leipzig; die Turnhallenweihe des Allgemeinen Turnvereins in Leipzig am 28. Juni; das zwölfte deutsche Turnfest in Leipzig vom 12.– 16. Juli; die Einweihung der Neubauten für die Bauingenieurabteilung und das photographische Institut der Technischen Hochschule in Dresden am 11. Oktober; endlich den fünften deutschen Hochschullehrertag in Straßburg vom 12.– 14. Oktober. Die Feier des 70. Geburtstages begingen die Herren Franz Hofmann am 13. Juni und Adolf Wach am 11. September d. J. Ihnen hat auch der Akademische Senat die herzlichsten Glückwünsche übermittelt, in dankbarer Erinnerung dessen, was die Genannten als Mitglieder des Senates in langen Jahren der Gesamtuniversität gewesen sind. Ferner konnte ich noch in den letzten Tagen, am 13. November, den gleichen Glückwunsch Herrn Albin Hoffmann übermitteln und ihn daran erinnern, wie er und ich vor rund vierzig Jahren in Dorpat das dem angehenden Dozenten verbriefte Recht des Räsonnierens redlich ausgenutzt haben. Zu den Änderungen im Lehrkörper übergehend, gedenke ich zunächst unsrer Toten. Am 21. Juli verstarb der Vertreter der Geologie und Paläontologie Hermann Credner. Ihm ist es vergönnt gewesen, ein groß angelegtes Lebenswerk, die geologische Landesaufnahme von Sachsen, nicht bloß zu beginnen, sondern auch abzuschließen. Am 28. November 1912 wurde in Chemnitz der ao. Professor der osteuropäischen Sprachen, Literatur und Geschichte Asmus Soerensen bestattet. Es liegt eine schmerzliche Tragik darin, daß in ihm ein Gelehrter, der vollgültige Proben seines Könnens abgelegt hat, durch widrige äußere Umstände an der vollen Entfaltung seiner Begabung verhindert worden ist. Am 20. Januar verstarb der Privatdozent der Philosophie Paul Salow; sein Tod schnitt ein junges, hoffnungsvolles Leben ab, bevor es Gelegenheit gehabt hatte, sich recht zu entwickeln. Endlich gedenke ich noch des Ablebens unseres früheren, am 1. Januar 1910 in den Ruhestand getretenen Universitätssekretärs und Universitätsrichters Moritz Meltzer. Die Mehrzahl der Kollegen hat den pflichttreuen und stets liebenswürdigen alten Herren noch in freundlicher Erinnerung. In den Ruhestand trat am 1. April unser Jubiläumsrektor Karl Binding, am 1. Oktober der Vertreter der Hygiene Franz Hofmann. Wir hegen die Hoffnung, daß mit dem Ausscheiden die Beziehung, die uns bisher mit den Genannten verband, nicht vollständig gelöst werden wird. Der ao. Professor der neueren Kunstgeschichte Heinrich Brockhaus, der seit Jahren bereits in einen anderen Wirkungskreis beurlaubt 1060

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gewesen war, ist jetzt endgültig aus unserm Lehrkörper geschieden. Ferner ist der Professor der alten Geschichte Karl Beloch wieder nach Rom zurückgekehrt, nachdem er ein Jahr lang unsrer Hochschule angehört hat. Nach auswärts wurden berufen bei der juristischen Fakultät: der etatmäßige ao. Professor Johannes Planitz als o. Professor des deutschen Rechts und des schweizerischen Zivilrechts an die Universität Basel, der Privatdozent Walter Jellinek als etatmäßiger ao. Professor an die Universität Kiel; bei der medizinischen Fakultät: der ao. Professor Eduard Stadler als leitender Arzt der inneren Abteilung des Stadtkrankenhauses zu Plauen, der ao. Professor Max Löhlein als Prorektor des Krankenhauses Westend und Leiter des städtischen bakteriologischen Untersuchungsamtes in Charlottenburg, der Privatdozent Paul Frangenheim als Professor der Chirurgie an die Akademie für praktische Medizin in Köln; bei der philosophischen Fakultät: der o. Professor Hans Stille als o. Professor der Geologie und Paläontologie nach Göttingen, der ao. Professor Johann Plenge als o. Professor der Nationalökonomie an die Universität Münster. Den von uns Scheidenden folgen unsre aufrichtigen Glückwünsche, eingedenk des Satzes, daß für den jungen Akademiker die rechte Art des Vorwärtskommens die Berufung ist. Auch ist es für den jungen Gelehrten höchst heilsam, wenn er Gelegenheit erhält, sich an verschiedenen Stellen des deutschen Sprachgebietes umzutun. Daß hierin keine unerfüllbare Forderung liegt, lehrt das Beispiel der Mathematiker. Seit einem halben Jahrhundert ist hier in Leipzig von den mathematischen Privatdozenten und Extraordinarien noch keiner sitzen geblieben, und das Geheimnis dieses Erfolges liegt in der strengen Aussiebung bei der Habilitation, sowie darin, daß bei der Erteilung der venia legendi oder des Lehrauftrages die anderwärts manchmal beliebte Beschränkung auf spezielle Teilgebiete des Faches stets und grundsätzlich abgelehnt worden ist. Berufen wurden bei der theologischen Fakultät: als o. Professor für praktische Theologie und Pädagogik Karl Otto Frenzel, bisher Leiter des Lehrerseminars zu Leipzig; bei der juristischen Fakultät: als o. Professor für Strafrecht, Strafprozeß und Staatsrecht Richard Schmidt, bisher o. Professor in Freiburg i. Br.; bei der medizinischen Fakultät: als o. Professor der Hygiene und Leiter des hygienischen Instituts Walter Kruse, bisher o. Professor in Bonn, als etatmäßiger ao. Professor der Kinderheilkunde und als Direktor der Universitäts-Kinderklinik und Poliklinik Martin Thiemich, bisher Oberarzt an der Krankenanstalt Altstadt in Magdeburg; bei der philosophischen Fakultät: als o. Professor der alten Geschichte und Direktor des Seminars für alte Geschichte Johannes Kromayer, bisher o. Professor in Czernowitz, als o. Professor der Geophysik und Direktor des neu gegründeten geophysikalischen Instituts Vilhelm Bjerknes, bisher Professor an der Universität in Christiania, als o. Professor der Geologie und Paläontologie, sowie als Direktor des geologischpaläontologischen Instituts Franz Koßmat, bisher an der Technischen Hochschule in Graz, als ao. Professor der historischen Hilfswissenschaften Hermann Krabbo, bisher Privatdozent in Berlin. Den neuen Kollegen bringe ich im Namen unsrer Hochschule einen herzlichen Willkommensgruß dar. 1061

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Ernannt wurden zu o. Honorarprofessoren die ao. Professoren Karl Sudhoff und Robert Hermann Tillmanns in der medizinischen Fakultät; zu außeretatmäßigen ao. Professoren in der medizinischen Fakultät die bisherigen Privatdozenten Karl Paul Schmidt, Max Löhlein, Eduard Stadler, Arthur Läwen, Max Versé und Ernst von Bruecke; in der philosophischen Fakultät der bisherige Privatdozent Karl Fredenhagen. Die venia legendi erhielten in der medizinischen Fakultät der Assistent an der Frauenklinik Bernhard Schweitzer und der Assistent an der medizinischen Klinik Herbert Assmann; in der philosophischen Fakultät: Max Volmer für anorganische und physikalische Chemie, Erwin Scheu für Geographie, Wilhelm Havers für indogermanische Sprachwissenschaft, Kurt Albert Gerlach für Nationalökonomie, Karl Weimann für Geschichte und der frühere Direktor des Schillerrealgymnasiums in Stettin, Geheimer Studienrat Paul Lehmann für Geographie. Ich begrüße den jungen Nachwuchs, der uns Ältere früher oder später ablösen soll: wir Alten würden schlechte Lehrer gewesen sein, wenn wir nicht dazu beigetragen hätten, daß unsre Schüler uns überholen können. Die venia legendi für Zoologie des Privatdozenten Wolfgang Ostwald wurde erweitert auf Kolloidchemie mit Rücksicht auf Biologie. An Stelle des am 31. März abgegangenen Lektors für Stenographie Artur Blachstein trat der Gymnasiallehrer Rudolf Weinmeister ein. Ferner wurde dem Lektor der englischen Sprache Gilbert Waterhouse der Lehrauftrag auf ein weiteres Jahr bis zum 1. Oktober 1914 verlängert. In dem Kreise unsrer Beamten trat an die Stelle des am 1. Januar ausgeschiedenen Konviktinspektors Johann Georg Krapf der Bureauassistent Erich Kramer, ferner folgte dem am 1. April in den Ruhestand tretenden Konviktökonomen Friedrich Hermann Hoppe, dessen Sohn Otto Hoppe im Amte nach. Bei der Universitätskanzlei wurde als Hilfsarbeiter der frühere Bankvolontär Hermann Willy Schwerdtner am 15. April eingestellt. Zu der Frage des Unterrichts- und Verwaltungsbetriebs übergehend darf ich mich auf die Mitteilung beschränken, daß durch die Verlegung des Rentamtes in das Schwarzsche Haus an der Schillerstraße Raum für wissenschaftliche Sammlungen geschaffen worden ist. Demselben Zwecke dient auch der Anbau für das Archäologische Institut an der Südseite des Johanneums. Da es sich dabei um Maßnahmen handelt, die im Augenblicke noch nicht vollständig durchgeführt sind, so wird es Aufgabe meines Nachfolgers sein, in Jahresfrist darüber zu berichten. Leider ist eine unvergleichliche Gelegenheit, in ausgiebiger Weise Luft zu schaffen, unwiederbringlich verpaßt worden. Ich müßte, wenn ich hier darauf eingehen wollte, sehr bitter werden, und dazu ist Ort und Stunde nicht angetan. Noch manches andre ist im Werke, das des Abschlusses harrt: so die Einrichtung einer Unfallversicherung für Angehörige der Universität, die Erweiterung der Krankenkasse, die Inventarisierung des reichhaltigen Kunstbesitzes der Universität, die endgültige Gestaltung der von hochherzigen Männern geschaffenen Stiftung für Forschungsinstitute und die Wiederaufstellung der Wandgemälde des bei dem Umbau der Universität verschwundenen Kreuzganges des Paulinums. 1062

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Bei der Universitätsbibliothek verstarb am 28. Oktober 1912 der Bibliothekar Dr. Paul Kühn. Die Lücke wurde durch Aufrücken der Beamten besetzt; ferner trat Dr. Kurt Blaß als Volontär ein. Die Benutzung der Bibliothek stieg auf 151 113 Bestellungen (1911: 140 363). Die Öffnung des Lesesaals wurde täglich (außer Sonnabends) um zwei Stunden von 6–8 Uhr abends ausgedehnt. Der Bestand erfuhr in dem abgelaufenen Jahre einen Zuwachs von 21 133 bibliographischen Bänden, darunter 9419 Dissertationen und 102 Handschriften. Von größeren Schenkungen sind zu nennen: die Bibliothek des verstorbenen Majors Bode in Sorau (Literatur zur Faustsage) und des verstorbenen Obermedizinalrats Professor Dr. Naecke in Colditz (Literatur zur Psychiatrie). Mit der Stadtbibliothek in Hamburg und der Universitätsbibliothek in Königsberg fand ein umfangreicher Austausch von Dubletten statt. Endlich ist noch hervorzuheben die Einführung von Bibliotheksgebühren, deren Wirkung im Jahre 1913/14 zutage treten und den Etat für die Vermehrung des Bücherbestandes einigermaßen ausreichend gestalten wird. Auch in dem abgelaufenen Jahre sind uns zur Förderung der Aufgaben der Universität ansehnliche Stiftungen und Schenkungen zugeflossen. Die Theresia SeesselStiftung, von der schon vor zwei Jahren Mitteilung gemacht werden konnte, ist in der Höhe von rund 172 000 Mark an das Universitätsrentamt ausgezahlt worden. Die etwas dornigen Verhandlungen mit den amerikanischen Testamentsvollstreckern hat die hiesige Bankfirma Knauth, Nachod & Kühne in uneigennütziger Weise durch ihren Newyorker Vertreter geführt. Es ist mir eine angenehme Pflicht, ihr an dieser Stelle nochmals besonderen Dank auszusprechen. Der frühere Gymnasialprofessor Dr. Johannes Raase in Rostock stiftete zum Gedächtnis des 18. Oktober eine Konviktfreistelle, die von dem Akademischen Senate mit herzlichem Danke angenommen worden ist. Unser Kollege Professor Beer überwies für die Hülfs- und Töchterpensionskasse wiederum 10 000 Mark zu den bisherigen 30 000 Mark. Der Wert dieser Gaben erhellt am besten aus der Tatsache, daß durch sie eine Erhöhung der an die Witwen und Kinder von Professoren zu leistenden Zahlungen möglich geworden ist. Von Freunden und Schülern Roschers wurde die von Seffner geschaffene Roscherbüste geschenkt; sie bildet jetzt einen Schmuck unsrer Wandelhalle. Ferner schenkte der Kantor zu St. Thomas Herr Professor Dr. Schreck seine 1909 für das Universitätsjubiläum komponierte Festkantate; sie ist mit Dank angenommen und dem Jubiläumsarchiv einverleibt worden. Zur Förderung der musikalischen Aufführungen des Universitäts-Kirchenchors zu St. Pauli sind von gütigen Gönnern 1300 Mark zugewendet worden. Bei der medizinischen Fakultät wurde zum Andenken ihres früheren Mitgliedes Heinrich Curschmann von der Witwe Frau Geheimrat Curschmann eine Stipendienstiftung von 4000 Mark errichtet. Bei der philosophischen Fakultät wurden gestiftet: von Frau Dr. Katharine von Garnier wiederum, wie schon seit einer längeren Reihe von Jahren 100 Mark an das Indogermanische Institut zur Vermehrung seiner Bücherei; von Schülern und Freunden unsres Kollegen Wundt anläßlich seines 80. Geburtstages eine Wilhelm Wundt-Stiftung im Betrage von 7000 Mark, die zur Beschaffung eines Instrumenta1063

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riums für psychologische Akustik und Phonetik dienen wird; von dem K. Gesundheitsamt in Berlin 1000 Mark an das Veterinärinstitut zur Fortsetzung der Untersuchungen über die Beziehungen zwischen Menschen- und Rindertuberkulose; demselben Institut von der Leipziger Ökonomischen Sozietät 500 Mark zur Fortsetzung der Untersuchungen über die Bekämpfung der Rindertuberkulose. Ich darf die allgemeinen Angelegenheiten der Universität nicht verlassen, ohne einen Gegenstand, der in der nächsten Zeit die Öffentlichkeit ausgiebig beschäftigen wird, wenigstens zu streifen. Der Plan, die Tierärztliche Hochschule von Dresden nach Leipzig zu verlegen, ist aus der Überzeugung entstanden, daß die zukünftige Entwicklung der Tierheilkunde als Wissenschaft, und ebenso die zukünftige wissenschaftliche und soziale Stellung der Tierärzte wesentlich von der engen Verbindung mit einer Universität abhänge. Als ich mich vor Jahresfrist von amtswegen mit der Angelegenheit zu beschäftigen hatte, war sie auf einen toten Strang geraten, weil zwischen den Anschauungen hüben und drüben ein Riß klaffte, dessen Überbrückung im ersten Augenblick aussichtslos schien. Die Hauptschuld daran trugen Mißverständnisse, hervorgerufen dadurch, daß sich hinter den Kulissen nicht verantwortliche Ratgeber eingemischt hatten. Im direkten Verkehr mit dem Rektor der Tierärztlichen Hochschule gelang es bald genug, die Mißverständnisse aus der Welt zu schaffen und für die Eingliederung in unsere Universität einen Plan zu entwerfen, der bei den weiteren Verhandlungen die Billigung der amtlich beteiligten Stellen gefunden hat. Es ist nun recht lehrreich zu sehen, wie man, um eine Fachschule von der Stärke einer mittleren Fakultät festzuhalten, zu dem Projekt greift, um die Fachschule eine Volluniversität herumzubauen, an die man unter anderen Verhältnissen überhaupt nicht gedacht hätte. Ich habe zu den gesetzgebenden Faktoren, die in naher Zeit die Frage zu entscheiden haben, das Vertrauen, daß sie die sachgemäße, dem Interesse der Allgemeinheit allein dienliche Lösung zu finden wissen werden. Es ist recht schwer, eine Weltuniversität zu schaffen, noch schwerer sie auf der Höhe zu erhalten, kinderleicht dagegen, sie in einem Jahrzehnt gründlich zu ruinieren. Zu unsrer akademischen Jugend übergehend habe ich zunächst die Freude, von dieser Stelle aus zwei Brüdern, nämlich den Studierenden Felix Erich und Ernst Walter Leonhardt öffentlich die Anerkennung auszusprechen für ihr mutiges Verhalten bei der Errettung eines Kindes vom Ertrinken mitten im Winter. Nicht so erfreulich ist, daß das Universitätsgericht in 8 Fällen teils zur Unterschrift des consiliums, teils zur Wegweisung vermittels des consiliums, teils zu Karzerstrafen in dem Gesamtbetrage von 106 Tagen zu verurteilen hatte. Von zwei Fällen abgesehen handelte es sich um jugendliche Hitzköpfigkeit und Mangel an Selbstbeherrschung. Schmerzlich ist, daß dem Rektor das Ableben von nicht weniger als dreizehn hoffnungsvollen jungen Kommilitonen gemeldet worden ist; es ist ein trüber Trost für die überlebenden Eltern, wenn gesagt wird, daß früh stirbt, wen die Götter lieb haben. Die Frequenzziffer schloß am 30. Oktober d. J. mit der Zahl von 5228 Immatrikulierten ab. Dies bedeutet gegen den 30. Oktober des Vorjahres ein Mehr von 106 Studierenden. Bemerkenswert ist, daß auch die Medizinische Fakultät ein kleines Mehr von 5 Köpfen aufzuweisen hat. Wegen der unhaltbaren Zustände, die vor1064

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nehmlich in der Medizinischen Fakultät durch die Überschwemmung mit einer gewissen Klasse von Ausländern eingetreten waren, hatte das vorgesetzte Ministerium auf Antrag des Akademischen Senats nachdrückliche Abwehrmaßregeln getroffen, deren Wirkung bereits im letzten Sommersemester sehr deutlich zum Vorschein gekommen ist. Trotzdem hat sich die Frequenz der Medizinischen Fakultät nicht gemindert. Der starke Abgang infolge der erwähnten Maßregeln ist offenbar durch einen uns willkommneren Zugang völlig ausgeglichen worden. Daß die Abwehr der Überschwemmung in gewissen Tageblättern einen tosenden Erguß von Druckerschwärze hervorrief, war ebenso selbstverständlich wie gleichgültig. Zu den Promotionen habe ich zu berichten, daß die Theologische Fakultät zwei gewöhnliche Promotionen vollzog und darüber hinaus aus besonderem Anlaß zu Doktoren h. c. ernannte die Herren Superintendent Cordes in Leipzig, Superintendent Hoffmann aus Chemnitz, Pfarrer Hilbert in Dresden. Ferner wurden honoris causa zu Doktoren promoviert die Herren Theodor Zoekler, Pfarrer zu Stanislau, Prof. Dr. Frenzel zu Leipzig und Prof. Liz. Pfennigsdorf zu Bonn. Endlich wurde zum Lizentiaten h. c. promoviert Herr Gustav Lehmann, Pastor und I. Lehrer am Missionsseminar zu Leipzig. Die Juristische Fakultät vollzog 150 Promotionen und ernannte zu Doktoren h. c. die Herren Julius Haber, Geheimen Justizrat und Rechtsanwalt beim Reichsgericht, Dr. Heusler, Professor an der Universität Berlin, Dr. Rudolf Jakob Salomon Hirzel, Professor an der Universität Jena. In der Medizinischen Fakultät wurden 146 Inländer promoviert, darunter 4 Damen. Außerdem erwarben 3 Ausländer den Doktorgrad. Die Philosophische Fakultät endlich vollzog 187 Promotionen. Von den gestellten Preisaufgaben hat die der Theologischen Fakultät keine Bearbeitung gefunden. Zu der juristischen Aufgabe sind zwei Bearbeitungen eingelaufen. Der ersten mit dem Motto „Rastlos vorwärts mußt du streben usw.“ wurde eine Gratifikation von 100 M., der zweiten mit dem Motto „Ora et labora“ eine solche von 50 M. zuerkannt. Verfasser der ersten Arbeit ist stud. jur. Rudolf Keppeler aus Stetternich, der zweiten stud. jur. Alfred Clauß aus Chemnitz. Die medizinische Aufgabe hat eine Bewerbung gefunden mit dem Motto „Kraftvoll vorwärts – liebend aufwärts“. Die Fakultät hat ihr den ersten Preis zuerkannt. Verfasser ist stud. med. Karl Kroher aus Leipzig. Die Preisaufgabe der I. Sektion der Philosophischen Fakultät ist nicht bearbeitet worden. Die wiederholt gestellte Aufgabe der II. Sektion hat drei Bearbeitungen erfahren. Die Arbeit mit dem Motto „Quid novi ex Africa?“ erhält den ersten Preis; Verfasser ist stud. phil. et jur. Martin Heydrich aus Ottendorf. Die Arbeit mit dem Motto „Einheit in der Mannigfaltigkeit“ erhält den zweiten Preis; Verfasserin ist stud. phil. Elisabeth Johanna Wilson aus Sondershausen. Die Arbeit mit dem Motto „Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt geprägte Form, die lebend sich entwickelt“ kann für die Erteilung eines Preises nicht in Betracht kommen. Die neue Preisaufgabe der II. Sektion ist einmal bearbeitet worden. Die Arbeit mit dem Motto „Im Anfang war der Logos“ erhält den zweiten Preis; Verfasser ist stud. phil. Hans Heyse aus Bremen. 1065

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Zu der Aufgabe der III. Sektion sind vier Bearbeitungen eingelaufen. Die Arbeit mit dem Motto „K. H.“ erhält den ersten Preis; Verfasser ist stud. math. Max Petri aus Leipzig. Die Arbeit mit dem Motto „Determinanten“ erhält den zweiten Preis; Verfasser ist stud. math. Heinrich Pahner aus Leipzig. Die Arbeit mit dem Motto „Θεὸς ἀεὶ γεωμετρεῖ “ wird lobend erwähnt und der Gewährung einer Gratifikation von 150 M. für würdig erachtet; Verfasser ist stud. math. Walter Woost aus Kreischa bei Dresden. Die Arbeit mit dem Motto „L’art d’enseigner c’est l’art d’indiquer etc.“ wird lobend erwähnt; Verfasser ist stud. math. Erich Meiselbach aus LeipzigPlagwitz. Die Urteile der Fakultäten und deren Begründung samt den neuen Preisaufgaben werden in der vorgeschriebenen Weise durch Anschlag und Druck bekanntgegeben werden. Ich möchte diesen Bericht nicht abschließen, ohne dem Allgemeinen Studentenausschuß zu danken für den ehrlichen Eifer, mit dem er bestrebt gewesen ist, für die Gesamtheit Nützliches zu leisten. Als ich mein Amt antrat, war ich nicht ohne Sorge, wie ich mit den Herren Kommilitonen zurechtkommen würde, denn ich war eingedenk des Spruches „Studiosus est animal rationale bipes, quod non vult cogi sed persuaderi“ und traute mir alles andre eher zu, als die Kunst sanfter Überredung. Ich glaube jedoch, wir sind ganz gut mit einander zurecht gekommen, und ich wünsche von Herzen, daß mein Nachfolger übers Jahr dasselbe möge sagen können. Und nun komme ich zu der letzten Amtshandlung des scheidenden Rektors. Ich fordere Sie, Herrn Dr. Otto Mayer auf, das Katheder zu besteigen, den vorgeschriebenen Amtseid zu leisten und die Abzeichen Ihres Amtes zu empfangen. Sie schwören bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, daß Sie die Verfassung und die Gesetze der Universität treu und gewissenhaft beobachten und die Pflichten des Ihnen anvertrauten Amtes als Rektor nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen wollen. Hiernach verkündige ich Sie, den Dr. jur. Otto Mayer als den Rektor der Universität für das Studienjahr 1913/14 und vollziehe an Ihnen nach altem, von den Vätern ererbtem Rechte die feierliche Investitur. Ich übertrage auf Eure Magnifizenz den Hut und den Mantel als die Abzeichen Ihrer freien Würde, die Kette, mit der Königliche Huld den Leipziger Rektor geschmückt hat, das Siegel der Universität, womit Sie deren Willen rechtlich zu beglaubigen befugt sind, die Statuten, deren Hüter Sie sind, endlich den Schlüssel des Hauses als das Sinnbild der hausherrlichen Gewalt in den Räumen der Hochschule. Magnifizenz! Wir alle wissen, daß das kommende Jahr ein Schicksalsjahr für die Leipziger Universität werden kann. Möge es Ihnen zur Befriedigung und der Alma mater, in deren Dienste wir alle leben und streben, zum Heile gedeihen! ***

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Otto Mayer (1846–1924)

20. November 1913. Rede des antretenden Rektors Dr. Otto Mayer. Fichte über das Volk. Hochansehnliche Versammlung! Liebe Kommilitonen! Alle stehen wir noch unter dem Eindruck der bedeutsamen Jahrhundertfeier, welche in diesen Herbsttagen unsere Stadt beging. Das ragende Völkerschlachtdenkmal haben wir umstanden mit so vielen und so ausgezeichneten Gästen, die alten Choräle mitgesungen und uns gefangen nehmen lassen von den ernsten Gedanken, die den gewaltigen Steinbau immerdar umwehen müssen. Gedächtnis- und Mahnzeichen will er sein und ein Ehrenmal für das deutsche Volk. Für dieses deutsche Volk war es ja eine Art Geburtstagsfest, das wir feierten; denn erst in den schweren Zeiten, welchen die Leipziger Schlacht den weithin schallenden Abschluß gab, ist es unter tausend Schmerzen geboren worden zum Bewußtsein seiner selbst. Die Männer des Schwertes von damals sollen immer zuerst gepriesen sein; aber auch die des Wortes haben ihr redlich Teil getan. Und wer jahraus jahrein mit deutschem Staatsrecht und deutschem Volk sich beschäftigt hat, dachte wohl gern unter dem Ehrenmal des Geburtstagskindes an den trefflichen akademischen Mann, der es damals in Berlin so inbrünstig angefleht hat, wach und lebendig zu werden. Ich meine den kleinen behäbigen Gelehrten mit dem steifen Nacken und der Rede voll Wucht und Schlagkraft, nicht immer leicht verständlich und zu eigensinnigen Schrullen mehr geneigt, als es selbst einem deutschen Professor zukommt, aber mit der herrlichen Gabe ausgestattet, immer voll tiefster Überzeugung an das zu glauben, was gerade zu sagen war, Johann Gottlieb Fichte, das Oberlausitzer Weberskind. Wer sonst nichts von ihm weiß, hat doch seine Reden an die deutsche Nation nennen hören, welche Reden über die deutsche Nation sind und dasselbe Thema in sinnreichen Worten behandeln, wie unser Denkmal da draußen in wohlbehauenem Stein. Es ist nicht leicht, das Bild eines Volkes anschaulich und klar herauszubringen. Die Künstler des Völkerschlachtdenkmals haben am entscheidenden Punkt ihre Halle mit riesenhaften symbolischen Gestalten gefüllt. Der Wissenschaft sind solche Umwege versagt. Sie geht immer geradeaus und eben deshalb, ach, so leicht in allzu nachweisbar verschiedener Richtung. So hat auch unser Fichte schon früher ausführlich und ausdrucksvoll vom Volke geredet gehabt, vor allem in seiner „Grund1067

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lage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre“, 1796. Und als er nun 1807 auf 1808 wiederum das Wesen des Volks behandelt, siehe da! Nun ist es etwas ganz anderes. Aus dem Saulus Fichte, möchte man sagen, ist ein Paulus geworden. Der Vergleich mit dem großen Apostel stimmt freilich nicht recht. Denn Fichte war schon vorher nichts weniger als ein Volksfeind. Er hält das Volk hoch in Ehren auch schon in seinem „Naturrecht“ bei den uns Juristen so nahe angehenden Fragen des Staatsverfassungsrechts und der richtigen Trägerschaft der Staatsgewalt. Und dafür, daß er ihm dabei den alles überragenden Rang anweist, kann er sich berufen auf eine lange Reihe erlauchter Vorgänger. An der Spitze steht Aristoteles selbst, der Vater der Wissenschaften und Begründer auch der allgemeinen Staatslehre. Das wohlgeordnete Staatswesen, die Politeia, hat seine Verfassung darauf eingerichtet, daß die Areté, die Bürgertugend, zur Herrschaft kommen soll; das kann in Form von Monarchie oder Aristokratie geschehen oder auch so, daß die Vielen, das ganze Volk, zum Träger der Staatsgewalt bestimmt sind. Das letztere bezeichnet Aristoteles nicht, wie ihm wohl nachgesagt wird, als Demokratie, sondern als Politeia im engeren Sinn, – hierdurch schon eine gewisse Vorliebe bekundend. Bei allen drei Staatsformen ist es Glückssache, ob wirklich die Herrschaft der Areté dabei herauskommt. Doch sind die Aussichten bei der Herrschaft der Vielen am günstigsten. Denn mag auch der einzelne nicht viel Areté mitbringen, zusammengerechnet macht das immerhin einen größeren Haufen, als von dem einzigen oder den wenigen geliefert würde; wie bei einem Gastmahl, zu dem viele zusammensteuern, was sie gerade haben, bei einem Picknick würden wir sagen, doch zuletzt etwas Ansehnliches herauskommt, – ein echt hellenisches Rechenexempel! Die Römer haben dann ohne viel eigene wissenschaftliche Forschung mit ihrer nachdrücklichen Art den Gedanken vertreten: Der Staat, die res publica, gehört dem populus, der Bürgerschaft. So muß es sein nach dem Naturrecht, das die Gottheit geordnet hat, und davon gehen sie nicht ab, auch nachdem sie längst einen Caesar und Imperator haben. Die Fiktion, dieses treffliche Beruhigungsmittel des juristischen Gewissens, hilft auch hier: Der Senat ist dafür angesehen, jedesmal namens des Volkes die Gewalt übertragen zu haben. So bleibt das republikanische Dogma heil. Das Mittelalter hat es nicht so glatt übernommen. Vielleicht steckten doch die alten Heidengötter zu deutlich hinter seiner Begründung. Als Marsilius von Padua in seinem wunderbaren Buche Defensor pacis in dem Herrscherberuf des Volkes ein Gegengewicht gegen die Priestermacht suchte, griff er zu naturwissenschaftlichen Belegen. Das Volk, die Bürgergesamtheit, ist allein der wahre Gesetzgeber und Herr im Staat. Denn der Staat gleicht einem Tier; das Volk ist bei ihm, was bei diesem die Seele. Wie nun die tierische Seele zuerst das Herz bildet und dieses dann die weiteren partes organicae – Marsilius setzt das als bekannt voraus, – so die Staatsseele Volk zunächst die Regierung, den principatus, als das Staatsherz, und deren Sache ist es dann, für Rechtsprechung, Verwaltungsanordnungen und Zwang die sonstigen Organe hervorzubringen. Das Volk kann dieses Herz auch wieder umbilden. Aber jedenfalls kann es so wenig wie die Tierseele zwei Herzen 1068

Antrittsrede 1913

schaffen. Also kann die Priesterschaft keine Nebenregierung vorstellen wollen. Quod erat demonstrandum. Später kommt dann die Idee des staatsgründenden Vertrages obenauf. Das Volk als die Masse der einzelnen schafft den Staat durch einen Vertrag, unter sich und mit dem künftigen Herrscher, und macht dabei seine Bedingungen, bezüglich deren man nachträglich allerlei Beweiskräftiges, wenn auch Unbewiesenes, behaupten kann. Damit hat der Protestantismus in der zorndurchglühten Literatur der Monarchomachen der Staatsgewalt, die ihn in Frankreich, Holland und England bedrängte, beweisen wollen, daß sie Unrecht tat. Hobbes hat diesen nämlichen Vertrag zu verwerten gewußt, um den Absolutismus als gewollt zu erklären. Locke gründet die Rechte des englischen Parlaments darauf. Die deutschen Staatsphilosophen übernehmen gelehrig die ursprüngliche Volkssouveränität und den Staatsvertrag und bauen ihn aus zu drei Verträgen: pactum unionis, pactum ordinationis, pactum subjectionis. Von da führt sie der Weg mit Leichtigkeit auf den zur Zeit bestehenden Rechtszustand. So Christian von Wolf in seinem hochberühmten Natur- und Völkerrecht 1754: Alle Herrschaft ist ursprünglich bei dem Volke als eine ihm eigentümliche „unkörperliche Sache“. Es kann sie aber rechtsgeschäftlich übertragen, und daraus ergibt sich der königlich preußische absolutistische Polizeistaat. In diese Schwächlichkeiten hinein platzt nun einer, der keine Rücksicht nimmt, Jean Jacques Rousseau mit seinem Contrat social. Der Staat, la République, entsteht durch Vertrag aller mit allen; sein Inhalt ist die Einrichtung eines Alles beherrschenden Gesamtwillens, der nur von der Gesamtheit der Bürger, dem Volke, ausgehen kann, und unfähig ist zu irren oder unrecht zu tun, wenn er in Form von allgemeinen Regeln spricht. In diesem Falle heißt seine Äußerung Gesetz. Das Volk kann zur Besorgung anderer Dinge abhängige Beamte wählen, die Könige genannt sind, wenn sie als magistrat unique an der Spitze stehen. Das alles muß wieder so sein, denn das Recht des Volkes ist unveräußerlich; was davon abweicht, ist schlechthin Wahnsinn und Verbrechen. Rousseau hat das geglaubt und mit loderndem Feuer geschrieben. Es ist bekannt, wie es gezündet hat. Auch die trauliche Studierlampe deutscher Gelehrter hat er aufflammen lassen. Es mutet wehmütig an, seinen Formeln auch in des großen Kant Alterswerk zu begegnen. Unser Fichte schwimmt natürlich ganz in diesem Fahrwasser. Etwas Montesquieu dazu, manchmal auch eine eigene Wendung, sonst aber Rousseaus Volkssouveränität bis in alle Kleinigkeiten hinein. In einer Richtung allerdings bringt Fichte Verbesserungen an. Schon Rousseau hatte ja den wunden Punkt an dem zu verwirklichenden Staatsrecht empfunden. Die Majestät des Volkes mit dem mystischen allgemeinen Willen kann nur leuchten, wenn man diesen unfehlbaren Gesetzgeber zusammentreibt und sichtbar macht. Das Repräsentativsystem unserer heutigen Verfassungen verwirft Rousseau in unerbittlicher Logik: „la volonté ne se représente pas.“ Also muß das Volk auf dem Markte versammelt werden. Das geht aber nur in kleinen Stadtstaaten wie Genf. Und auch da nicht gut, weil die Bürger mit dem vielen Herrschen nicht zur Besorgung ihrer eigenen Angelegenheiten kämen. Das mag sogar die Sklaverei entschuldigen, insofern sie eben diesem Notstand abhilft: „Il y a de telles positions malheureuses où l’on ne peut conserver sa liberté 1069

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qu’aux dépens de celle d’autrui!“ Auch Fichte will kein Repräsentativsystem; was er Repräsentanten nennt, sind die Regierenden. Die Schwierigkeit möchte er auf ein fremdes Gebiet schieben: „Wie es einzurichten ist, um das Resultat des gemeinsamen Willens rein zu bekommen, ist eine Frage der Politik und keineswegs der Rechtslehre.“ Doch trifft er wenigstens Einrichtungen, um das schwer zu versammelnde Volk zu entlasten. Die Regierung soll ein ausgedehntes Verordnungsrecht haben, gebunden an den allgemeinen Willen des Gesetzes. Und für die jetzt doppelt notwendige laufende Überwachung soll das Volk besondere Beamte bestellen, Ephoren werden sie heißen; sie rufen das Volk, wenn es Zeit ist, daß es einschreite. Solange dieses versammelt ist, verliert die Regierung all’ ihre Gewalt der Tat und dem Rechte nach, ganz nach Rousseau. – Fichte sieht das als „reelle philosophische Wissenschaft“ an und versichert zum Schluß: „Der ganze beschriebene Mechanismus ist erforderlich zur Realisation eines rechtmäßigen Verhältnisses unter den Menschen.“ – Von dem lieben Jena, wo das alles gedieh, war Fichte 1799 weggegangen. Im Winter 1807 auf 1808, wo wir ihn in Berlin wiederfinden, hatte die Welt sich furchtbar verändert. Der unerhörte Zusammenbruch des Staates Friedrichs des Großen hatte tausendfache Jämmerlichkeit offenbart dem brutalen Sieger gegenüber. Desto mehr leuchten die Männer, die damals ihre Kniee nicht gebeugt haben vor Baal. Fichte gehörte zu ihnen. Im runden Saal der Akademie hält er Sonntag für Sonntag seine geharnischten Vorträge, oftmals gestört von den französischen Trommeln auf der Straße, gefaßt darauf, wie der Buchhändler Palm zu enden. Vom deutschen Volke spricht er, um die Betrübten aufzurichten, mannhaft und tröstlich. Aber man hört dem Redner an, auch noch in der gedruckten Rede, wie er kämpft mit dem wilden Schmerzensschrei, der immer wieder aufgellen möchte, um das zertretene Vaterland. Und das Volk, das seine Seele sucht, – er nennt es jetzt vorzugsweise „Die Nation“, – es ist nicht mehr die verfassungsmäßig versammelte Bürgerschaft, deren Rechte er sonst mit dem Behagen des künstlerischen Schaffens ausgemalt hatte. Es bedeutet Höheres, Unvergängliches: Das Volk als die geschichtliche Größe ist ihm in diesen Tagen der Trauer aufgegangen in all seiner Herrlichkeit. „Es handelt sich“, sagt er, „um ein höheres Leben und dieses bringt nicht der Geist der ruhigen bürgerlichen Liebe der Verfassung, sondern die Flamme der Vaterlandsliebe, die die Nation als Hülle des Ewigen erfaßt“. „Das Volk ist das Ganze der in Gesellschaft miteinander fortlebenden und sich aus sich selbst immerfort natürlich und geistig erzeugenden Menschen, das insgesamt unter einem gewissen besonderen Gesetze der Entwickelung des Göttlichen aus ihm steht. Jenes Gesetz ist der Nationalcharakter“. „Der Glaube des edlen Menschen an ewige Fortdauer seiner Wirksamkeit auf dieser Erde gründet sich auf die Hoffnung der ewigen Fortdauer des Volkes, aus dem er selber sich entwickelt hat, und der Eigentümlichkeit desselben nach jenem verborgenen Gesetze. Die ist das ewige“. Fichte findet offenbar in der sichtbaren Welt kein Wort, um die Erhabenheit des Volkes über die einzelnen Menschen zum Ausdruck zu bringen. Er muß schon in das Religiöse hinübergreifen. Das kleine Ich, auch wenn es in Masse auftritt, ist Schaum auf der Welle. Einen festen Wert bekommt es erst als Glied der Men1070

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schengemeinschaft, in der das Wesentliche seiner Eigenart als eine ihr gemeinsame sich auswirken und fortentwickeln will. Eine solche ist in oberster Ordnung das Volk, die Nation, die Kulturgemeinschaft, mit der entsprechenden Volksart: Gemeinsame Gesittung, deren höchster Ausdruck die Sprache, gemeinsame Rasse, gemeinsame Geschichte, in verschiedener Mischung zusammenwirkend, geben ihm ein Gepräge, das jeder Einzelne für seinen Teil mit aufgedrückt erhält, und wovon er nicht loskommt, er sei denn ein ganz verunglücktes Exemplar. Glücklich, wer gerade dem deutschen Volke angehört, ruft Fichte, denn die gemeinsame Eigenart, die dieses darstellt, hat besonders hohen Wert. Den Ernst hebt er hervor, die Ursprünglichkeit, die Echtheit, die Beständigkeit, das feste Herz, um es mit einem Wort zu sagen. Es wäre ein unersetzlicher Verlust für die Welt, wenn dieses deutsche Volk verloren ginge. – Und wie steht es dabei mit dem, was früher so wichtig war: Recht und Rechtsordnung und Verfassung und Staat? Das Volk bedarf des alles, um erhalten und zusammengehalten zu werden. Aber das sinkt jetzt zurück auf den zweiten Rang. „Volk und Vaterland liegt weithinaus über den Staat im gewöhnlichen Sinne des Wortes, als der bloßen Ordnung für gewisses Recht inneren Frieden und Fristung des sinnlichen Daseins. Das ist nur Mittel, Bedingung und Gerüst des Aufblühens des Ewigen und Göttlichen in der Welt“. „Mittel für den Zweck des reinmenschlichen in der Nation“. Deshalb kommt es auf die Art dieser Ordnung gar nicht mehr so viel an. Das mag Republik sein, oder Monarchie, auch einen Tyrannen nähme Fichte schließlich in den Kauf. Wo aber die Gesamtheit der Bürger etwa doch die Herrschaft hat, da kann sie jetzt auch nichts anderes sein als eine Dienerin jenes Volkes im höheren Sinne, der Nation gerade so wie auch der große König sich einen Diener des Staates nannte. Müßig ist die früher so sorgfältig behandelte Frage geworden, wie der Fürst von jener seine Rechte ableite, und ebenso die, ob er zum Volke gehöre. Jener „ganze beschriebene Mechanismus“ des Naturrechts, notwendig für die Menschen so und nicht anders – das war einmal. Fichte steht hier nicht allein. Die Abwendung von Rousseau tritt bei ihm nur besonders dramatisch zutage. Schon 1796 hatte der Engländer Burke ähnliche Ideen entwickelt. Die historische Schule unserer Zivilrechtswissenschaft, die Romantik, die organische Staatslehre wandeln die gleichen Bahnen, oft das Ziel überschießend. Ihren vollendetsten Ausdruck hat wohl die deutsche Auffassung von diesen Dingen bei unserem größten Rechtsphilosophen gefunden, bei Hegel. Nach dem „abstrakten Recht“ und der „Moralität“ läßt er auf der Stufe der „Sittlichkeit“ die Mächte auftreten, die als das „lebendige Gute“, als die „sittliche Substanz“ den Menschen in Anspruch nehmen. Es ist der „wirkende Geist“ seiner Familie, seines Volkes, und dieses Volk ist nichts anderes als Fichtes Nation mit ihrem höheren Leben, in dem der einzelne aufgehen soll; der Staat bedeutet nur die formelle Realisierung der Idee, das dem Volke gegebene Rechtsgewand, in welchem es durch die Weltgeschichte schreitet, „das Volk als Staat“. Ihm gilt die großartige Vision, mit welcher Hegel schließt: „Die konkreten Ideen, die Völkergeister, haben ihre Wahrheit und Bestimmung in der konkreten Idee, wie sie die absolute Allgemeinheit ist, dem Weltgeist, um dessen Thron sie als die Vollbringer seiner Verwirklichung und als Zeugen 1071

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und Zierraten seiner Herrlichkeit stehen“. Auch hier ist es doch zuletzt wieder ein religiöser Hauch, der über diesem Begriffe Volk liegt. – Wenden wir den Blick ab von diesen blendenden Höhen auf das vielerlei andere, das in der Sprache des Alltags sonst noch unter dem Namen Volk geht, so dünkt uns das blaß und unscheinbar. Was muß das geduldige Wort nicht alles leisten. Da bedeutet es die Menschenvielheit, welche Volkslieder singt, Volkstänze tanzt und Volkstrachten trägt. Mit Vorliebe ist es schlecht gekleidet und hat kein Geld, geht in Volksküchen und Volksvorstellungen und liest Volksausgaben, heißt dann auch gern das gemeine Volk. Es hat eine Neigung zur Unzufriedenheit, folgt einem entsprechenden Volksmann und schimpft auf die Regierung. Volk ist auch, was auf der Straße sich breit macht, „das Volk“, heißt es in den Zeitungen, „plünderte mehrere Bäckerläden und warf dem Bürgermeister die Fenster ein“. Wo das Wort Volk als Kunstausdruck unseres konstitutionellen Staatsrechts gebraucht wird, bedeutet es noch immer die Gesamtheit der politisch berechtigten Staatsbürger im Sinne des populus romanus, im Sinne von Marsilius und von Rousseau. So nennt auch die Reichsverfassung Art. 29 die Reichstagsmitglieder die „Vertreter des gesamten Volks“, und Laband erläutert das ganz richtig mit „Gesamtsumme der einzelnen wahlberechtigten Staatsangehörigen“, ohne seine kritischen Bedenken zu verhehlen, ob dies auch ein vertretbares Rechtssubjekt sei. Gemeint ist es so; und wir können unser neuzeitliches Verfassungsrecht juristisch nicht wohl verstehen, wenn wir nicht mit diesem Rechtssubjekt rechnen. Freilich seine Zuständigkeiten sind jetzt viel bescheidener bemessen. Zu Ehren dieser juristisch immerhin sehr wertvollen Gesamtsumme von Wahlberechtigten ragt auch das Denkmal da draußen nicht gen Himmel, das ein Ehrenmal des deutschen Volkes sein soll, und der Staatsrechtsmann, der da nachdenklich vor ihm stand, mußte sich von ihm sagen lassen: Mit deinen Begriffen und deinen Künsten habe ich zunächst gar nichts zu tun; das andere Volk meine ich. – Dafür durfte er mit den Tausenden dort eines Baues mehr geistiger Art gedenken, der auf der Stirne die lapidare Inschrift trägt: „Zum Schutz des Bundesgebietes und seines Rechtes, für die Wohlfahrt des deutschen Volkes“, – des nämlichen, das auch unser Denkmal ehren will. Dem Bauwerk geben seine Gestalt, statt der Granitquadern, klug erdachte und von Juristenhand treu zu pflegende Rechtssätze und Verfassungsbestimmungen. Man soll sie nicht nüchtern schelten: denn in ihnen verwirklicht sich die schmerzensvolle Sehnsucht ganzer Geschlechter. Wir Alten sind euch Jungen die bewegten Zeugen davon. Dem ganzen deutschen Volke dient es, nicht bloß denen, die darin rechtlich zu Hause sind; alles, was deutsch ist auf der Erde, hat irgendwie Anteil an dem Gewinn und dem Ruhm, daß ein deutsches Reich so dasteht in der Mitte des alten Europas. Und wenn die andern ihm nicht immer hold sind und es anmurren: „Du könntest weniger schwer sein und vergnüglicher anzusehen für uns, und nicht immer gar so trutzig ausschauen nach Ost und West“, dann antwortet es ihnen getrost: „Das kommt von der Volksart, die ich vor der Welt vertrete, und von dem festen ernsthaften Herzen, das ihr gutes Erbteil ist.“

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31. Oktober 1914. Rede des abtretenden Rektors Dr. Otto Mayer. Bericht über das Studienjahr 1913/14. Dank sei Gott dem Gnädigen und Barmherzigen, der seine schützende Hand hält über unserem teuren Vaterlande, der ihm selbst den schändlichen Krieg, den seine Feinde ihm bereitet haben, zum Segen gedeihen ließ und uns hoch erhob zu dem herrlichen Bewußtsein, daß wir ein einzig Volk von Brüdern sind. Mag kommen, was da will: was diese schwere Zeit uns schon gebracht hat, bleibt erworben und unvergessen. Als letztes Jahr mein Vorgänger mir das Amt übergab, da richtete er zum Schluß noch einen Gruß und eine Mahnung an mich: Ihr Rektoratsjahr, sagte er, wird ein Schicksalsjahr sein für unsere Universität. Es ist ein Schicksalsjahr geworden in unvergleichlich höherem Sinne. Und nachdem wir es durchschritten haben, dürfen wir sprechen: Dank sei Gott, der bisher geholfen hat und weiter helfen wird. Hochansehnliche Versammlung! Noch kleiner als gewöhnlich nehmen sich diesmal die Dinge aus, über welche der scheidende Rektor zu berichten hat. Das was wirklich wertvoll an uns ist, unsere Geistesarbeit, verschweigt er. Sie ist gleichwohl getan worden, auch diesmal, glauben Sie mir. Aber nur von äußerlichen Erlebnissen der Universität soll hier die Rede sein. Wir haben auch in diesem Jahre wieder schöne Feste begehen dürfen. Als erstes nennen wir den Besuch Sr. Majestät des Königs, der am 2. Februar mehrere Institute besichtigte und eine Vorlesung anhörte; dabei wurde auch der in der Wandelhalle aufgestellte Studentenausschuß begrüßt. Zu Königs Geburtstagsfeier am 25. Mai in der Aula hielt Herr Kollege Dr. Bruns die Festrede. Am 15. Oktober beging unser König sein zehnjähriges Regierungsjubiläum. Mit Rücksicht auf den Ernst der Zeit sollten alle äußerlichen Veranstaltungen unterbleiben. Der Akademische Senat hat seine Glückwünsche schriftlich zum Ausdruck gebracht, die durch ein huldvolles Handschreiben erwidert wurden. Am 15. Januar feierte der Kronprinz, der ja durch rite erfolgte Immatrikulation der Universität angehört, die Vollendung des 21. Lebensjahres. Eine Abordnung der Universität, bestehend aus dem Rektor und zwei Vertretern des Studentenausschusses, den Studierenden Gottlebe und Renker, durfte ihre Glückwünsche darbringen. An Leipziger Festlichkeiten hatte die Universität mehrfach Anlaß teilzunehmen, wie sich das ja auch gehört. Hervorgehoben sei nur das 150jährige Jubiläum der 1073

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Königlichen Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe, mit der die Universität von Anfang an freundnachbarliche Beziehungen unterhält. Dreimal bot sich auswärts den deutschen Rektoren Gelegenheit, als geschlossene Gruppe den Glanz bedeutsamer Feste zu erhöhen, wobei jedesmal der Talar des Leipziger Rektors durch sein ehrfurchtgebietendes Alter ausgezeichnet war: Am 22. März fand in Berlin die Einweihung des Neubaues der Königlichen Akademie der Wissenschaften und der Königlichen Bibliothek statt; die Anwesenheit Sr. Majestät des Kaisers gab dem Feste Mittelpunkt und Form. Im April feierten wir die Einweihung der Universitätsneubauten in Zürich, Ende Juni das 300jährige Jubiläum der Universität Groningen. Die Schweizer wie die Holländer verstehen beide solche Feste zu feiern; die Art ist nicht ganz die gleiche, aber gemeinsam ist hier wie dort die herzliche Teilnahme des ganzen Volkes. Wir haben schöne Eindrücke mitgenommen und werden uns der freundlichen Festgeber immer dankbar erinnern. Sehr angenehm war auch der Verkehr mit französischen und englischen Kollegen – wie viel ist zerstört! wird es wieder aufzubauen sein? Auf ein ganz besonders schönes Fest hatten wir uns schon gefreut und vorbereitet: die Eröffnung der Universität Frankfurt a. M. Es hat nicht sollen sein; in aller Stille hat sich das Ereignis vollzogen. In ruhigeren Tagen holen wir es vielleicht nach. Unserer besten Wünsche darf die junge Schwester sich versichert halten. – Wenden wir nun den Blick zurück auf unseren engeren Kreis, so sei vor allem der schmerzlichen Lücken gedacht, die im vergangenen Jahre der Tod in unseren akademischen Lehrkörper riß. Wir verloren den ordentlichen Professor der Theologie Dr. Georg Rietschel, dereinst unser Rektor, seit 1912 schon im Ruhestande. Er war ein vielseitiger Mann, eifrig und liebenswürdig in allem, was er unternahm, anregend und angeregt. Sodann den ordentlichen Honorarprofessor bei der juristischen Fakultät Dr. Georg Häpe, der sich mit anerkennenswertem Erfolg der schwierigen Aufgabe unterzogen hatte, praktisches Verwaltungsbeamtentum und akademische Lehrtätigkeit zu vereinigen. Weiter unsern prächtigen Emil Strohal, ordentlichen Professor des deutschen bürgerlichen Rechts. Ein gründlicher Arbeiter, gescheit durch und durch und begabt mit einem klaren Blick für die Wirklichkeiten des Rechts, hat er als Lehrer und Schriftsteller seiner Wissenschaft große Dienste geleistet. Und dabei diese rührende Frohnatur, die sich nicht unterkriegen ließ. Sein Bild hat sich uns tief eingeprägt. Einen ehemaligen Rektor verloren wir auch in Dr. Carl Chun, ordentlichem Professor der Zoologie. Wie sehr er unserer Universität durch seine wissenschaftlichen Leistungen zur Zierde gereicht hatte, haben wir Nichtfachgenossen bei diesem Anlaß recht zum Bewußtsein gebracht bekommen. Seine durch und durch echte, vornehme Art hatten wir schon immer hoch geschätzt. Dr. Karl Kormann, Privatdozent der Berliner Universität, war für dieses Semester als außerordentlicher Professor des Verwaltungsrechts berufen; er war ein vielversprechender Gelehrter, entschieden einer der besten unter unseren Jüngeren. In der Schlacht bei Tannenberg ist er als Leutnant der Reserve beim Kampf um einen Schützengraben gefallen. Wegberufen wurden: Dr. Heinrich Hermelink als außerordentlicher Professor für Kirchengeschichte nach Kiel, Dr. Hans Windisch als ordentlicher Professor der 1074

Jahresbericht 1913/14

Theologie nach Leyden, Professor Dr. Nathan Söderblom als Erzbischof der schwedischen Kirche nach Upsala, Dr. Eckard Meister als ao. Professor für deutsche Rechtsgeschichte nach Basel, Dr. Hans Peters als ordentlicher Professor für römisches Recht nach Frankfurt a. M., ao. Professor Dr. Paul Schmidt als ordentlicher Professor der Hygiene nach Gießen, ao. Professor Dr. Felix Löhnis in das landwirtschaftliche Ministerium der Vereinigten Staaten in Washington, ao. Professor Dr. Karl Schaum als ordentlicher Professor für physikalische Chemie an die Universität Gießen, ao. Professor Dr. Paul Koebe als ordentlicher Professor der Mathematik nach Jena, ao. Professor Dr. Richard Nacken als ordentlicher Professor der Mineralogie nach Tübingen, Dr. Robert König als ao. Professor der Mathematik nach Tübingen. Dafür sind uns gewonnen: von Straßburg Dr. Bruno Keil, ordentlicher Professor für klassische Philologie, von Jena Dr. Johannes Meisenheimer, ordentlicher Professor der Zoologie, von Berlin Dr. Fritz Weigert, ao. Professor für Photochemie und wissenschaftliche Photographie, vom Kaiser-Wilhelm-Institut zu Bromberg Dr. J. Vogel, ao. Professor für landwirtschaftliche Bakteriologie, von Wien Dr. Erich Haas, ao. Professor für Geschichte der Physik. Die venia legendi erhielten: in der Juristenfakultät Dr. Herbert Kraus; in der medizinischen Fakultät die Dres. Georg Herzog, Arthur Seitz, Richard Frühwald, Josef Bürgers und Hugo Selter; in der philosophischen Fakultät Dr. Theodor Brandes, Dr. Francis Smith und Dr. Walter Penck. Gehen wir von dem Lehrkörper über auf unsern Lernkörper, wie wir wohl sagen dürfen, so erweisen sich die Wirkungen des Krieges schon äußerlich an den Zahlen: 5532 eingeschriebene Studierende, 931 Hörer, im Ganzen 6463 konnte das vorige Wintersemester sein eigen nennen; das jetzige hat es bis zu diesem Tage nur auf 4481 und 51, im Ganzen 4532 gebracht. Nur 324 waren bis heute neu eingeschrieben. Durch den Tod hatten wir bis zum Kriege 12 verloren, darunter eine bedauerlich große Zahl durch Selbstmord. Es ist von diesen Jünglingen nicht genug bedacht worden, daß unser Leben nicht uns gehört. Soll es gegeben werden, so findet sich leicht glorreiche Gelegenheit dazu und die haben unsere ärmsten Selbstmörder jetzt versäumt. Die akademische Disziplin hat keinen Anlaß gehabt, die Zahl unserer Bürger zu verringern. Auch der Karzer, dessen Wert übrigens keineswegs über alle Kritik erhaben ist, wurde nur wenig in Anspruch genommen. Wir kommen auch so miteinander aus. Einen Augenblick schien dieses Verhältnis größeren Störungen ausgesetzt, als die Studierenden der Zahnheilkunde das Institut des Streikes auf unseren Lehrbetrieb zu übertragen suchten. Die akademischen Behörden haben sich jedoch von vornherein nicht auf den Standpunkt der beleidigten Arbeitgeber gestellt, sondern als ihr Hauptziel betrachtet, daß die beteiligten akademischen Bürger sich nicht allzusehr selber schädigten. Inwieweit die angestrebten Neuordnungen sich verwirklichen lassen, hängt von den Verhandlungen der deutschen Regierungen ab. Infolge des Krieges war die Streichung aller Angehörigen feindlicher Staaten aus unseren Listen notwendig geworden. Dem Königlichen Ministerium ist vorbehalten, Ausnahmen behufs Fortführung und Neuaufnahme zu bewilligen. 1075

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Auf der anderen Seite ist auch gegenüber dem vorhin angegebenen Personalbestand eine bedeutsame Einschränkung zu machen: von jenen 4481 Studenten steht ein beträchtlicher Teil im Felde. Es ist rührend, wie sie daran halten, das als Leipziger Studenten zu tun; während der Ferien ist eine ganze Anzahl junger Männer im feldgrauen Kleide vor dem Rektor erschienen, um sich noch rasch aufnehmen zu lassen. Diese alle werden von uns als ehrenvollst Beurlaubte behandelt. Nicht wenige auch sind jetzt schon den Tod fürs Vaterland gestorben. Wenn wir das erfahren, spricht jedes Mal der Rektor den Angehörigen schriftlich die Mittrauer der Universität aus um ihren lieben Kommilitonen. Die Antworten zeugen von dem hohen Sinn, der jetzt in unserem Volke lebt, und von dem alles erfüllenden Gefühl der Zusammengehörigkeit. Die vielen, die noch draußen im Kampfe stehen, soll heute unser gemeinsamer Gruß und Segenswunsch umschweben. – Zu akademischen Graden wurden rite promoviert von der theologischen Fakultät 3 Lizentiaten, von der juristischen 152 Doktoren, von der medizinischen 180, von der philosophischen 190. Dazu wurden Ehrenpromotionen vollzogen von der theologischen Fakultät 4, von der juristischen 2, von der medizinischen 5 und von der philosophischen 2. Von akademischen Preisaufgaben hat die der theologischen Fakultät eine Bearbeitung gefunden, welcher die Fakultät eine Gratifikation von M. 200 zuerkannt hat. Als Verfasser ergab sich der stud. theologiae Paul Teichgräber aus Leipzig. Die der juristischen Fakultät erhielt eine Bearbeitung, welcher der erste Preis zuerkannt wurde. Der eröffnete Umschlag erwies als Verfasser den stud. jur. Herbert Bondi aus Dresden, der leider inzwischen seinen im Kampfe fürs Vaterland erhaltenen Wunden erlegen war. Für die Preisaufgaben der medizinischen und philosophischen Fakultät sind Bewerbungen nicht eingelaufen. Der Wortlaut der Urteile wird am Schwarzen Brett bekannt gegeben werden; dort wird auch wegen etwaiger neuer Preisaufgaben Mitteilung erfolgen. Von freigebigen Zuwendungen, welche der Universität zuteil wurden, sind zu erwähnen die folgenden: Der verstorbene Geheime Rat Professor Dr. Credner vermachte seine geologischpaläontologische Bibliothek unserem entsprechenden Institut nebst einer Barsumme von M. 500 für die Kosten der Aufstellung; der Obermedizinalrat Professor Dr. Näcke zu Colditz der Universitätsbibliothek seine Sammlung der psychiatrischen, neurologischen und psychologischen Literatur als Prof. Näcke-Stiftung; Professor Dr. Beer stiftete für die Hilfs- und Töchterpensionskasse zu den bisherigen M. 40 000, weitere M. 10 000; die Witwe des Geheimen Rates Prof. Dr. Leuckart schenkte uns eine treffliche Marmorbüste ihres Gatten, die an geeigneter Stelle zur Aufstellung kommen wird. Der Alfred Ackermann-Teubner-Gedächtnispreis zur Förderung mathematischer Wissenschaften wurde erstmalig, durch Verfügung des Stifters Herrn Hofrat Dr. Ackermann-Teubner in Leipzig, dem ordentlichen Professor der Mathematik an der Universität Göttingen, Herrn Geheimen Regierungsrat Dr. Klein verliehen. 1076

Jahresbericht 1913/14

Mehr als in anderen Jahren ist das Leben der Universität bewegt worden von allerlei Plänen und Unternehmungen, die zum Teil ins Werk gesetzt sind, zum Teil noch ihrer Durchführung harren. Bei meinem Amtsantritt stand im Vordergrund unsrer Sorgen und Bestrebungen ein großer Plan, der sich durch gänzliches Scheitern erledigt hat, die Dresdner Universität. Wir trauern ihr nicht nach, sondern sind gewiß, daß diese Lösung ein wahres Glück zu nennen ist für das ganze Sachsenland und seine Stellung in der Kulturwelt. Damit hing eine andere Frage zusammen: Die Verlegung der Tierärztlichen Hochschule von Dresden nach Leipzig. Der Zusammenhang mit einer Universität ist für diese allerdings eine Lebensfrage geworden. Deshalb mußten, wenn sie in Dresden verblieb, die Bestrebungen nach einer Universitätsgründung, die so lebhaft an sie angeknüpft hatten, immer wieder auftauchen; die Leipziger Universität blieb unter einer fortdauernden höchst nachteiligen Bedrohung. Die Durchführung der von der Regierung geplanten Verlegung bedeutete also nicht bloß eine Förderung ihres eigenen wissenschaftlichen Betriebes, sondern mußte jetzt gefordert werden zur Erhaltung ihrer Stellung. Wir schulden dem Herrn Kultusminister Dank, daß er festblieb und sich auf Halbheiten nicht einließ. Die Forschungsinstitute, ausgestattet mit reichen Mitteln durch den Staat wie durch hochherzige Stifter, sind nunmehr, mitten im Kriegslärm, ins Leben getreten. Mögen sie viele Früchte tragen. Neugegründet wurde ein „Ethnographisches Seminar der Universität Leipzig“, sowie ein „Ostasiatisches Seminar“. Über die Kunstschätze der Universität ist jetzt endlich ein sorgfältiges und handliches Inventar aufgestellt worden, durch dessen Ausarbeitung Herr Professor Dr. Becker sich ein großes Verdienst erworben hat. Im Sommersemester wurde die obligatorische Unfallversicherung für Studenten und Assistenten eingeführt durch Vertrag mit der Versicherungsaktiengesellschaft Teutonia hier. Bei der Akademischen Krankenkasse erfolgte die Anstellung einer Kassenärztin für weibliche Studierende. Das Wort „die Räume wachsen, es dehnt sich das Haus“ ist leider nur eine halbe Wahrheit; die Räume sollten das tun. Die Universität empfindet das sehr stark infolge ihres Emporblühens nicht nur, sondern auch des veränderten Unterrichtsbetriebs; die Seminarien lassen sich nicht so leicht befriedigen. In dieser Not hat uns die Stadt Leipzig die helfende Hand entgegengestreckt, indem sie sich erbot, das Grundstück der Ersten Bürgerschule gegen einen annehmbaren Preis abzutreten. Das eröffnete die Möglichkeit, alles zu einer schönen Lösung zu führen, indem die Seminarien des Bornerianums dorthin verlegt und an ihrer Stelle durch einen Neubau die notwendigen größeren Hörsäle geschaffen würden. Der Vertragsabschluß hat sich leider trotz aller Bemühungen des Akademischen Senates hinausgezögert und wird jetzt aus Gründen der durch den Krieg geschaffenen Finanzlage einstweilen überhaupt nicht stattfinden. Für die Universitäten ist es heutzutage eine ganz selbstverständliche Aufgabe geworden, daß sie ihrer Jugend für Turnhalle und Sportplatz sorgen. Leipzig ist darin im Rückstand, namentlich im Vergleich mit den anderen beiden Großstadt1077

Otto Mayer

Universitäten, zu denen es sich sonst rechnen will. Der Senat hat sich entschlossen, von dem großen staatlichen Grundbesitz bei Probstheida, der ja für Universitätszwecke vorbehalten ist, eine Fläche von 10 Hektar für einen Sport- und Spielplatz in Anspruch zu nehmen. Die Studentenschaft stimmte freudig zu, Pläne wurden ausgearbeitet; besonders dringend schien es, daß alsbald wenigstens mit der schattenversprechenden Anpflanzung vorgegangen würde. Die Bemühungen des Senates scheiterten auch hier zuletzt an Gründen der Finanzlage. Ebenso ist es aber auch nicht gelungen, das sehr veraltete Wildpretdeputat des Rektors und der Dekane aus dem Universitätswald durch eine Jagdverpachtung und Verwendung des Erlöses für bedürftige Studenten zu ersetzen. Die Pauliner Kirche hat mit ihren Gottesdiensten eine große Bedeutung für das kirchliche Leben unserer Stadt gewonnen. Die Verwaltung, die teils vom Senat und seinen allgemeinen Ausschüssen, teils vom Königlichen Rentamt und Ministerium geführt wird, sollte vom Senat verbessert werden durch Bestellung eines eigenen Verwaltungsrates. Damit würde namentlich auch die ganz unmögliche Einrichtung aufhören, daß das Königliche Ministerium über die Erträgnisse der Beckensammlung verfügt. Die Genehmigung des Königlichen Ministeriums steht noch aus. Dagegen hat der Senat, um den veränderten Verhältnissen zu entsprechen, die Ausübung der ihm zustehenden kirchlichen Patronatsrechte ein für alle Male der Theologischen Fakultät übertragen, bei der sie in guten Händen ist. Einer Genehmigung des Königlichen Ministeriums hat es hierfür nicht bedurft. – Die Kriegszeit hat ihrerseits eine ganze Reihe von neuen Einrichtungen und Unternehmungen hervorgerufen. Alles hatte ja von Anfang an den lebhaften Drang, sich nützlich zu machen und zu betätigen. Die zu den Waffen Gerufenen waren am besten daran. Die anderen suchten oft vergebens und nicht alles war glücklich, wozu da aufgerufen wurde. Eine gute Sache sind die vom Senat in Vereinbarung mit dem Schillerverein veranstalteten öffentlichen Vorträge vaterländischen Sinnes. Sie werden den Winter hindurch fortgesetzt werden. Neu eingerichtet ist die Offenhaltung der Paulinerkirche bei zeitweiligem Orgelspiel. Die Universitätsgebäude wurden, soweit es mit dem verringerten Unterrichtsbetrieb vereinbar, dem Roten Kreuz angeboten. Unsere Studenten haben ihrerseits ihre Verbindungshäuser zur Verfügung gestellt. Nach Beschluß des Akademischen Senats sollte neben der Beteiligung der Mitglieder des Lehrkörpers an den allgemeinen Sammlungen noch eine besondere Universitätsspende vorbereitet werden. Diese hat bisher M. 13 490 ergeben. Der Senat hat die ersten und die zweiten 10 000 M. der Ausstattung der Leipziger Regimenter mit Wollsachen gewidmet. Unsere Frauen und Töchter, die das besorgten, gewannen dadurch zugleich die Möglichkeit, vielen Bedürftigen durch Zuwendung von Strickarbeit einen Verdienst zu beschaffen. 3115 Pakete sind nach dem Kriegsschauplatz abgegangen. Die Kisten sind gezeichnet „Gruß von Universität Leipzig“. Wir stehen vielleicht erst am Anfange des Krieges. Wir stehen auch erst am Anfange unserer Leistungswilligkeit. – 1078

Jahresbericht 1913/14

Ich aber beende mein Amt, indem ich es Ihnen Herrn Dr. Albert Köster als meinem erwählten und bestätigten Nachfolger übergebe. Ich fordere Sie auf, heranzutreten und den Rektoreid zu leisten, dessen Formel ich Ihnen vorspreche: „Sie schwören bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, daß Sie die Verfassung und die Gesetze der Universität treu und gewissenhaft beobachten und die Pflichten des Ihnen anvertrauten Amtes als Rektor der Universität nach bestem Wissen und Gewissen redlich erfüllen wollen.“ Somit verkündige ich Sie, Herrn Dr. Albert Köster, als Rektor der Universität Leipzig für das Studienjahr 1914/15. Ich übergebe Ihnen den Hut und den Mantel als Zeichen Ihrer Würde, die Kette, mit welcher Königliche Huld den Leipziger Rektor geschmückt hat, das Siegel der Universität, damit Sie deren Willen rechtlich beglaubigen, die Statuten, die Ihrer Hut anvertraut sind, und den Schlüssel als das Zeichen, daß Sie in diesem Hause Herr sind. Ich freue mich, Eurer Magnifizenz als erster meine Glückwünsche darbringen zu dürfen. Möge Ihr Amtsjahr gesegnet sein für Sie und unsere liebe Universität. ***

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Albert Köster (1862–1924)

31. Oktober 1914. Rede des antretenden Rektors Dr. Albert Köster. Der Krieg und die Universität. Hochansehnliche Versammlung! Liebe Kommilitonen! Wenn sonst ein neuer Rektor an die Spitze der Universität tritt, dann sind Sie gewohnt, von ihm in erster Stunde eine Ansprache zu hören, in der er, sei es tiefgründig erörternd, sei es heiter plaudernd, Einblicke gewährt in das Sondergebiet seiner Forschung, in neue Probleme, Methoden oder Ergebnisse seiner besonderen Wissenschaft. Heut werden Sie ein Gleiches von mir nicht erwarten. Denn schwer und ungern würde sich Ihre Aufmerksamkeit zu Betrachtungen sammeln, die uns zeitweilig klein erscheinen angesichts des einen ungeheuren Erlebnisses, das nun schon seit drei Monaten der unablässige Gedanke all unsrer Tage und der Traum unsrer Nächte ist. Und auch mir selbst würde es schwer fallen, in der Stunde meines Amtsantrittes die Blicke von der nächsten Vergangenheit und der nächsten Zukunft abzuwenden. Ohne kleinmütig zu sein, frage ich mich doch beim Beginn dieser neuen Pflichten, welche ungewöhnlichen Aufgaben das kommende Jahr stellen wird. Denn auf das Tiefste ist auch die Universität von dem allgemeinen Schicksal des Vaterlandes, von dem Kriege mit betroffen. Jedes Bangen, jede Sorge, jede Erwartung und Hoffnung, jeden Dank und Jubel erlebt sie als ihre eigenste Angelegenheit mit. Das war nicht immer so. Nicht immer hat ein so kriegbegabtes und doch so friedliebendes Volk, wie die Deutschen, eine solche Hingabe an den Krieg gezeigt wie heute; und nicht immer haben die Universitäten diesen scheinbar so widerspruchsvollen und doch so geschlossenen Enthusiasmus begriffen. Es gab eine Zeit, – sie liegt noch gar nicht so fern – da standen die Hochschulen abseits von beinahe jeglichem kriegerischen Interesse. Wir brauchen nicht einmal ganz zweihundert Jahre zurückzugehn, bis in die erste Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts. Wenn damals oder in noch früheren Zeiten ein Krieg ausbrach, kam er über das Land unvorhergesehen und unbegreiflich, wie ein elementares Ereignis, wie Wasserflut oder Erdbeben. Und verständnis- und wehrlos, fatalistisch, zur Willenlosigkeit verdammt mußte der deutsche Kleinbürger die Heimsuchung über sich ergehen lassen. Wie der Wille der Diplomaten und die Willkür der Soldtruppen es fügten, so geschah’s. Denn mit Soldtruppen, wie es die Heere der italienischen Condottieri, die Fähnlein der Landsknechte, die Schweizerscharen in vieler Herren Diensten gewesen, wurde 1081

Albert Köster

der Krieg geführt. Ausländer waren es vielfach, weil der Landesherr die eigenen Landeskinder zu schonen suchte; dem Volke aber, das sie zu ernähren hatte, waren sie in jeder Hinsicht fremd, ein Gegenstand der Verachtung oder der Furcht. Und der Herrscher, wenn anders er seine Schlachten persönlich leitete, befehligte in Kriegszeiten ganz andere Menschen als in Friedenszeiten. Bei solchem Stand der Dinge wundern wir uns nicht, daß auch der Professor und der Student nicht anders empfanden als der Pfahlbürger. Was man in altklassischer Epik und Lyrik von der Herrlichkeit und Größe des Krieges las, das war jenem Geschlecht nur Gegenstand der Deklamation, nicht lebendige Überzeugung. Der Krieg war damals für die Universitäten nur eine Störung des wissenschaftlichen Unterrichts, ein Vernichter von Kulturwerten, im übrigen aber eine Sache, die vor der Vernunft nicht zu rechtfertigen war, über die man wehklagte und die man sich nebst ihren Folgen möglichst vom Leibe zu halten strebte. Blieb er aber räumlich fern, drangen feindliche Truppen nicht geradezu bis in das Universitätsgebäude hinein, so spürte man zwischen Kriegs- und Friedenszeiten höchstens einige materielle Unterschiede. Die Zahl der künftigen jungen Pfarrer und Magister, die in den Hörsälen saßen, zeigte einen verhältnismäßig geringen Rückgang, der meist nicht direkt, sondern nur indirekt auf den Krieg zurückzuführen war. Das Gesamtverhalten des Bürgertums änderte sich erst langsam, als einerseits die Art der Aushebung und Kriegführung sich wandelte, anderseits das Volk sich zu einer höheren Stufe geistiger und sittlicher Kultur hinaufarbeitete. Und auch die innere Anteilnahme der Universitäten am Kriege hielt in Deutschland Schritt mit der Entwicklung der Heeresorganisation und mit der Zunahme einer freien Geistesund Charakterbildung. Die ersten Anzeichen dafür sind in den Kriegen Friedrichs des Großen zu erkennen. Der geniale Monarch befehligte allerdings noch geworbene Truppen; aber große Teile seines Heeres setzte er, nicht aus freiem Willen, sondern vornehmlich unter dem Zwang der Verhältnisse, doch schon aus Landeskindern zusammen, allerdings nicht gerade aus den Kreisen der höheren sozialen Stellung und Bildung. Und so haben die Untertanen des großen Königs und haben auch die Universitäten des Landes die Kriege, die er führte, schon mit tieferem persönlichen Anteil und Verständnis begleitet, als es in früheren Zeiten der Fall gewesen war. Allgemein bekannt sind ja die tausend Beweise dafür, daß mit diesem von ungeheurer Übermacht bedrängten Herrscher und Heerführer wirklich sein ganzes Volk bangte und daß seine Siege Herzensangelegenheit jedes seiner Landeskinder waren. Von dem Geist jener herrlichen großen Zeit klingt es noch vernehmlich genug aus Gleims Grenadierliedern und Lessings „Minna von Barnhelm“ zu uns herüber. Und doch heftet sich ein Aber an diese Erkenntnis. Es waren doch immer nur die einzelnen Waffentaten, die unvergeßlichen Schlachtepisoden, die man bejubelte; und der Enthusiasmus war an die Person des Königs, an seine glänzendsten Heerführer, an die Helden einzelner Kriegsanekdoten gebunden. Der Krieg als Ganzes aber, als Notwendigkeit war nicht populär, er war nicht aus dem Gesamtwunsche des Volkes hervorgegangen. Die Kleinbürger von damals waren noch nicht reif, um das Ethos des Krieges mitzuerleben und dies Erlebnis als ein Glück, als eine Erhöhung des 1082

Antrittsrede 1914

eigenen Wertes aufzufassen. Die Mehrzahl der geworbenen Soldaten sah den Felddienst als ein Handwerk an, wie Lessings prachtvoller Wachtmeister Werner, der, wenn der König von Preußen keine Truppen mehr braucht, einfach in die Dienste des Prinzen Heraklius tritt. Die große Masse der Untertanen aber, auch der männlichen Jugend des Landes, war zum tatlosen Zuschauen verurteilt. Überdies war die Kluft zwischen Befehlshabern und Untergebenen, und wieder zwischen Soldaten und Bürgern außerordentlich groß, worunter zarte und edle Naturen, wie Ewald von Kleist, so schwer gelitten haben. Und keine Aussicht gab es, diese gewaltigen, zu wechselseitigen Mißverständnissen führenden Unterschiede des sozialen Ranges und der Bildung auszugleichen, solange man bei dem System der Werbung blieb. Wenn man wissen will, wie sich die Edelsten der Nation, um mit dem Kriege sympathisieren zu können, das Heer der Zukunft dachten und wünschten, dann muß man die Dichter unsres Volkes befragen. Das mag beim ersten Anhören widersinnig erscheinen; denn leicht kann man einwenden: was verstehen die Poeten von der Heeresorganisation? Aber ganz so ungereimt ist es nicht. Über die realen Tatsachen und die einzelnen Maßnahmen können sie freilich nicht sachkundig mitsprechen, aber für die zu Grunde liegenden Volksstimmungen, die tiefsten Anlagen und die Hoffnung, die Sehnsucht der Nation haben die Bedeutendsten unter ihnen – und nur sie kommen in Betracht – oft ein seherisches Gefühl. Freilich der Größte unter ihnen bleibt uns die Antwort schuldig; Goethe, der durchaus unkriegerische Lyriker, versagt hier völlig. Er hatte durch die militärischen Eindrücke seiner Kindheit und durch die Leitung des Werbewesens in dem kleinen thüringischen Herzogtum Vorstellungen gewonnen, die auch durch die Campagne in Frankreich und durch die ganz neuen Voraussetzungen der napoleonischen Kriege nicht mehr geändert werden konnten. Dachte er an ein Heer, so erschien vor seiner Vorstellung ein Einzelner und sein Wille, und unter ihm eine blind gehorchende Menge. Den Befehlenden, also auch einen Napoleon, verstand Goethe seiner ganzen Anlage nach, er, der selbst geboren war zum Organisieren und Befehlen. Aber die Masse verstand er nicht; sich in sie einzuordnen, wäre ihm unmöglich gewesen, wie er später auch seinen Sohn nicht in sie eingliedern wollte. Auch in seinen Dichtungen, im „Götz“, im „Egmont“, in den Revolutionsdramen, im zweiten Teil des „Faust“, hat er immer nur den Wagemut und die Kriegslust Einzelner schildern können. Mit dem Krieg als Problem hat er sich zwar abzufinden oder auseinanderzusetzen gesucht; aber als notwendig empfunden oder gar mit leidenschaftlichem Verlangen begehrt hat er ihn nie. Da müssen wir uns schon an die Künstler wenden, die entweder selbst Soldatensöhne waren oder in deren Elternhaus kriegerische Gesinnung doch wenigstens als selbstverständlich galt: an Klopstock, Schiller und Heinrich von Kleist. In Klopstocks, des frommen Messiassängers, Gedichten tönt es freilich meist von Hallelujahgesängen; aber an vielen Stellen bricht doch auch die waffenfrohe Art seines Vaters durch. Der Dichter hat sich eine bequeme Formel zurecht gemacht: so oft er über den Herrschern dieser Erde zu Gericht sitzt, teilt er sie in Friedensfürsten und Eroberer ein. Die einen segnet, die andern verdammt er und prophezeit ihnen ewige Vergessenheit, auch Friedrich dem Großen. So scheint es, als ob er die 1083

Albert Köster

Entscheidung der Waffen ganz und gar verurteile. Aber das ist doch nicht der Fall. Den modernen Krieg freilich, den eigennützigen Angriffskrieg zum Zweck des Ländergewinnes, den Krieg, der mit bezahlten Söldnertruppen geführt wird, den versteht er nicht und verwirft ihn unbedingt. Aber daß er daneben einen berechtigten Waffenruhm, ein notwendiges Blutvergießen anerkennt, beweist er durch seinen Bardiet „Hermanns Schlacht“. Ob die Verhältnisse, die er da vorführt, historisch richtig sind oder nicht, darauf kommt es nicht an; die Hauptsache ist, daß nach des Dichters Überzeugung ein Heer, wie er es hier schildert, unter Gottes Schutze kämpft. Was er vor Augen sieht, ist aber dies: das ganze Volk Germaniens hat die Waffen ergriffen; die älteren erprobten Krieger sind vollzählig erschienen, unter den Jünglingen hat das Los entschieden. Werdomar, der Führer des Bardenchors, sagt: „Ihr müßt keins der Völker Deutschlands vergessen! Meine Cherusker sind es zwar, die sich vor allen und in großen Scharen, dem Tode fürs Vaterland hingestellt haben! Aber auch aus vielen andern Völkern sind nicht kleine Haufen da, diesen edlen Tod zu sterben! und aus Allen rief unser gerechter Zorn und Hermanns Heldenname die Jünglinge herbey, welche die ersten Waffen oder Blutringe tragen“. Und ein Cherusker fügt später hinzu: „Wir waren zwölf, sieben Brüder und fünf Brüder“. Also ganze Familienverbände haben sich gestellt. Die Barden begrüßen diese Krieger mit dem Anruf: O Söhne der Alten, die Kriegesnarben Tragen im hohen Cheruskawald! O Jünglinge mit den Blumenschilden, Die das heilige Loos erkor! Aber die Waffentat selbst dieses begeisterten Volksheeres würde der Dichter nicht gutheißen, wenn nicht der Anlaß des Kampfes gut wäre. Auch darüber läßt er keine Unklarheit. Während den Römern zugerufen wird, daß ihr Krieg „ein Krieg der Herrschsucht, und nicht der Gerechtigkeit“ sei, führt Hermann der Sieger mit dem Centurio Valerius ein Gespräch über den gerechten und den ungerechten Krieg. Allerdings, mit Gründen und klaren Worten vermag zunächst kein Germane auf die Frage des Römers „Was nennest du einen ungerechten Krieg?“ zu antworten. Mit einem Fluch entgegnet ihm Hermann: „Was, wenn ihr nun aus dem Taumelkreise eurer Herrschsucht herausgestoßen seyd, was dann Jupiter, die Rache des Donners in der rechten Hand, zehntausend Meilen in den Abgrund hinunter so nennen wird!“ Erst später, als Valerius ihn fragt: „Du scheinst ein gerechter Krieger seyn zu wollen“, erwidert er: „Mehr als scheinen, Römer! Ihr scheint! Ich bin, und ich will seyn ein Krieger für die Freyheit meines Vaterlands; kennst du einen gerechteren?“ Wiederum fassen die Barden diese Gesinnung in einem Chorgesang zusammen: O Volk, das männlich ist! und keusch! Es wüthe dein Herz! es tödte dein Arm! Wodan! Wodan! Tyrannenblut! Wegen der heiligen Freyheit! 1084

Antrittsrede 1914

Das ist, wenige Jahre nach dem Hubertusburger Frieden, eine hohe und ungewohnte, neue Auffassung des Krieges. Und wir spüren, daß der edle Dichter hier mehr als ein Bild aus altersgrauer Vorzeit, daß er ein Wunschbild für die Zukunft geben wollte. Bei Schiller ist das Verlangen nach solcher unmittelbaren Einwirkung auf die Zeitgenossen und auf Söhne und Enkel schon deutlicher. Langsam rückt auch er in seiner Dichtung dem gleichen Ideal näher, das Klopstock verkörpert hat. In den Jugendwerken des schwäbischen Obristwachtmeistersohnes spielt auffälligerweise das Waffenwerk nur eine ganz geringe Rolle. Erst mit dem Wallensteindrama schreitet er in das Getümmel hinaus. Und von da ab zieht nicht nur die Darstellung, sondern auch das Problem des Krieges ihn immer wieder an. Man hat es gelegentlich bemängelt, daß er in „Wallensteins Lager“ nicht noch hinreißendere Töne gefunden. Aber wie durfte er das? Hier lag ja die ganz bestimmte Aufgabe vor, unter Beobachtung historischer Treue eine bunt zusammengewürfelte Soldateska zu schildern, wie sie für die Kriege des kommenden neunzehnten Jahrhunderts wahrlich nicht mehr wünschenswert war. Dieses Heer hat Schiller mit Humor und großer künstlerischer Objektivität, aber ohne pathetische Anteilnahme uns vor Augen gestellt. Persönlich in die Debatte verflochten ist er nur an jener Stelle des großen Dramas, wo er Wallenstein und Max über die sittlichen Voraussetzungen der Waffenentscheidung, über den guten und bösen Krieg sprechen läßt. Stärker ist seine innere Beteiligung schon in der Tragödie von dem Mädchen von Orleans zu spüren. Aber erst im „Tell“ ist er ganz mit dem Herzen bei der Sache. Denn hier galt es nicht zu schildern, wie ein Monarch oder Feldherr für seine Zwecke bewaffnete Menschen aufbringt, wie persönlicher Mut zum Kaufobjekt wird, sondern wie höchste Landesnot mit Einem Schlage ein friedliches Volk in ein Heer verwandelt. Noch ist es nicht das ganze Volk; die Landleute handeln zunächst ohne Mitwisserschaft des Adels. Aber man sieht für eine nahe Zukunft schon einen Zusammenschluß der Edelleute und der Bauernschaft zu wechselseitigem Schutz voraus. Und ein hohes Verantwortlichkeitsgefühl wohnt in diesem Volksheer, wie es Schiller darstellt. Nicht übereilt, nicht in erster lodernder Leidenschaft schlagen die Eidgenossen los; kein friedliches, sanftes Mittel haben sie unversucht gelassen. Äußerstes Unrecht erst muß ihnen angetan sein, bis alles Gefühl sich ihnen in die flammenden Worte zusammenfaßt: Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, Wenn unerträglich wird die Last – greift er Hinauf getrosten Mutes in den Himmel, Und holt herunter seine ew’gen Rechte, Die droben hangen unveräußerlich Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst – Der alte Urstand der Natur kehrt wieder, Wo Mensch dem Menschen gegenüber steht – Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben – Der Güter höchstes dürfen wir verteid’gen 1085

Albert Köster

Gegen Gewalt – Wir stehn vor unser Land, Wir stehn vor unsre Weiber, unsre Kinder! Und selbst dann, als der Entschluß zum Losschlagen schon gefaßt ist, dringt noch Walther Fürsts Mahnung zur Besonnenheit durch: Denn bill’ge Furcht erwecket sich ein Volk, Das mit dem Schwerte in der Faust sich mäßigt. So ist die Gesinnung und Parteinahme des Dichters vollkommen klar; er brauchte sie nicht noch am Schluß zu verstärken durch die anfechtbare Gegenüberstellung von Parricidas Mordtat aus Ehrsucht und Tells gerechter Notwehr. Und auch Heinrich von Kleist scheint sich mit seiner Auffassung von einem künftigen Volksheer und einem Volkskrieg der Zukunft Schulter an Schulter neben die beiden älteren Dichter zu stellen. Es scheint so; denn völlig klar spricht er sich nicht aus. Die beiden wundervollen vaterländischen Kriegsdramen, die er uns geschenkt hat, so wesensverschieden sie auch sind: in dem Einen erscheinen sie doch gleich, daß sie beide die Masse der Soldatenscharen unsern Blicken verbergen und uns nur die Beratungen und Schicksale der Heerführer vor Augen stellen. Aber auch ohne ausdrückliche Schilderung fühlt man es doch heraus, daß der Dichter in jedem Falle hinter den Befehlshabern eine ganz eigenartige Armee deutlich geschaut hat. Das preußische Heldendrama von der jugendlich genialen Eigenmächtigkeit und der mannhaften Selbstüberwindung des Prinzen von Homburg ist gar nichts anders denkbar, als daß dem großen Kurfürsten und seinen Generalen das geworbene, an Subordination gewöhnte brandenburgische Heer gehorcht. In der Zucht solch einer Armee war auch Heinrich von Kleist, der Offizier, selbst aufgewachsen. Als er aber das furchtbare Rache- und Vergeltungsdrama von der Hermannsschlacht schuf, da setzte seine heiße Sehnsucht es als selbstverständlich voraus, daß hinter dem Befreier Germaniens nicht eine Söldnerschar stehe, sondern ein freies großes Volksheer. Heimlich hat Hermann ein „Gezelt mit Waffen“ gefüllt, „Cheruskas ganzes Volk damit zu rüsten“. Scheinbar befehligt er nur eine ungeordnete Schar und wiegt die römischen Anführer damit in Sicherheit, daß er sie bittet, ihm den wüsten Heereshaufen nach Römerart in kleinere Manipeln abzuteilen. In Wahrheit steht eine Landeswehr von stärkster innerer Disziplin bereit; und als der Tag der Entscheidung gekommen ist, kann Wolf, der einst so mißvergnügte, jetzt aber bekehrte Kattenfürst, dem Herzog melden: In Waffen siehst du ganz Germanien lodern; Wir aber kamen her, dich zu befragen, Wie du das Heer, das wir ins Feld gestellt, Im Krieg nun gegen Rom gebrauchen willst? Auch Kleist aber, so ungebändigt auch der Haß gegen den Feind und die Vernichtungslust durch seine Dichtung braust, läßt den Krieg nur als ultima ratio gelten. 1086

Antrittsrede 1914

Die Barden singen bei ihm, die „süßen Alten“, jenen unendlich milden Gesang, dessen Klänge des Hörers Ohr nie wieder verlassen wollen: Wir litten menschlich seit dem Tage, Da jener Fremdling eingerückt; Wir rächten nicht die erste Plage, Mit Hohn auf uns herabgeschickt; Wir übten, nach der Götter Lehre, Uns durch viel Jahre im Verzeih’n: Doch endlich drückt des Joches Schwere, Und abgeschüttelt will es sein! So sind diese drei Dichter, die ihrerseits wieder als Wortführer für hundert andere gelten dürfen, in ihrer Gesinnung wie in dem ehernen Klang ihrer Stimme einander nah verwandt und fast identisch. Wenn diese hochgesinnten Männer unter dem Bilde längst vergangener Völkerschicksale zum Ausdruck brachten, wie sie sich den einzig berechtigten Anlaß und die einzig berechtigte Führung eines Krieges vorstellten, dann sind immer zwei Bedingungen unlöslich miteinander verbunden: nur den Krieg der unabwendbaren Notwehr, den Krieg, den eine Nation um ihrer weltgeschichtlichen Sendung willen auf sich nimmt, vermochten sie zu verteidigen, und nur den Krieg, in dem die bewaffnete Kraft des Volkes das eigene Blut vergießt. Ob sie es wußten, daß sie mit ihrer Vorstellung von einem solchen Volksheer uralte tatsächliche Zustände aus den Tagen früher germanischer Völkerverschiebungen, aus den Zeiten mittelalterlich-städtischer Kriegsnot, aus den Kämpfen der Schweizer und der Hussiten wieder wachriefen? Wir wissen es nicht. Sie werden sich wohl nur von ihrem unbeirrbar sicheren Gefühl für deutsche Volksart haben leiten lassen. Weder Klopstock, noch Schiller, noch Kleist haben die Erfüllung ihrer Sehnsucht erlebt. Aber, als der Jüngste unter ihnen 1811 die Augen schloß, stand sie nahe bevor. 1813 hat Deutschland die Träume seiner Dichter verwirklicht. Das ganze zersplitterte und zerklüftete Volk fand sich einmütig, leidenschaftlich bewegt in jenem Geiste zusammen, der als die Voraussetzung eines gerechten Krieges gelten mußte. Und wie mit innerer Notwendigkeit wurde um dieselbe Zeit auch die deutscheste Heeresorganisation, die allgemeine Wehrpflicht vorbereitet durch den Mann, der Vertreter des Adels zu Mitarbeitern hatte, selbst aber ein Mann aus dem Volke war, ein Taktiker und Gelehrter zugleich: Gerhard Scharnhorst. Das allgemeine Aufgebot, zu dem die bedrängte Lage des Vaterlandes gebieterisch aufforderte, dies Aufgebot, das bisher immer nur als ein Ausnahmezustand für die Zeiten der Landesnot erschienen war, machte er mit Hilfe der Militär-Reorganisations-Kommission zu einer dauernden Einrichtung, zur Grundlage der militärischen Ausbildung des ganzen Volkes. Den Söhnen des Landes gab er die Verteidigung der Heimat wieder, eine eiserne Pflicht, die äußerste Anspannung aller Kräfte, aber auch ein hohes, unveräußerliches Recht. Und das Volk erwies sich jedes Zutrauens würdig, es hieß die Erneuerung uralten Kriegsbrauches als ein ungeduldig erwartetes Geschenk 1087

Albert Köster

stürmisch willkommen. Ja, es kam allen Aufforderungen und Maßnahmen sogar leidenschaftlich zuvor. Denn die große Aushebung von 1813 und die Bildung von Freiwilligen-Detachements, die Scharnhorst nicht mehr erleben sollte, und der erst 1814 die Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht folgte, war im Grunde schon die Verwirklichung von Steins, Gneisenaus und Scharnhorsts Wünschen. Auch in seiner moralischen Haltung rechtfertigte das deutsche Volk damals alle Erwartungen, die seine Lehrer und Erzieher, seine Dichter und Denker gehegt hatten. Der Krieg von 1813 und 15 hat wohl seit althellenischen Zeiten zum ersten Mal wieder eine Wahrheit offenbart, die unbeachtet natürlich immer wirksam gewesen war, die aber nun jählings in die volle Bewußtseinshelle trat: daß nämlich im Kriege die Energie nicht nur durch die größere Truppenzahl und die höhere Feldherrnkunst wächst, sondern vorzüglich auch durch die sittliche Kraft, von der das kämpfende Volk befeuert wird. Für jene große nationale Bewegung von 1813 wurde zum ersten Mal das seitdem viel zu oft ausgesprochene, vor allem aber auch von andern Völkern entwertete Wort von dem heiligen Kriege allgemein gebraucht. Aber jene Zeit durfte dieses Wort „heilig“ aussprechen, denn sie war beherrscht von einem Gefühl, das dem religiösen aufs Tiefste verwandt ist. Wie der wahrhaft fromme Mensch seinen Eigenwillen demütig eins werden läßt mit dem Weltwillen, so ging auch in der großen Volkserhebung von 1813 der Sonderwille jedes Patrioten restlos auf in dem allgemeinen Volkswillen. Wo sich aber das jemals wiederholt, wo alle Volksgenossen sich je und je zu solcher hohen sittlichen Gemeinschaft zusammenschließen und für den heimatlichen Boden, für Haus und Hof, für Weib und Kind und für des Lebens höchste Güter reinen Sinnes, ohne Eigensucht, nur in bitterer Notwehr streiten, da liegt eine Weihe über solchem Kampf; und da darf dieses Volk ohne Selbstgerechtigkeit wieder von einem heiligen Kriege sprechen. Und bei diesem Krieg, da standen nun auch die Universitäten nicht mehr seitab. Diese Gesinnung verstanden sie aus dem tiefsten Grunde; sie deckte sich ja mit dem Besten, was deutsche Hochschullehrer, vornehmlich in Königsberg und Jena, gelehrt hatten. Die felsenfeste sittliche Überzeugung jener Generation ruhte zum einen Teil auf der internationalen Aufklärung, zum andern, für uns wichtigeren Teil aber auf dem deutschen Pietismus. Die deutsche Gelehrtenstube und das deutsche Pfarrhaus, sie sind seit langer Zeit Hege- und Pflegestätten jenes Sinnes gewesen, aus dem die Begeisterung von 1813 hervorging. Hier liegen auch noch heute die starken Wurzeln der Kraft unseres Volkes. Ja, auch eine ganz persönliche Angelegenheit war nun der Krieg für die Universitäten geworden. Zog die ganze Wehrkraft des Landes ins Feld, so konnten sie die Blüte der Jugend zu den Fahnen entsenden. Aus den Hörsälen strömte es hinaus, wo eben noch die Hochschullehrer selbst anfeuernde, läuternde Worte geredet hatten, Ansprachen von dichterischer Schönheit. Und heute, nach hundert Jahren, wie ist da unser Volk, und wie sind die Universitäten dem neuen Kriege begegnet, den wir zwar nie gefürchtet, aber doch lange vorausgesehen hatten? Waren da die militärischen und die sittlichen Voraussetzungen so, daß die Nation zu ihnen unbedingtes Vertrauen haben durfte? 1088

Antrittsrede 1914

Seien wir ehrlich: weit verbreitet ist in den letzten Jahren der Zweifel gewesen. Wenn auch England bei dem System des Mietlingsheeres stehen geblieben war, die kontinentalen Völker, die in Frage kamen, waren doch alle längst im Wetteifer mit Deutschland zur allgemeinen Wehrpflicht übergegangen. Frankreich hatte sie am strengsten ausgebildet, während Deutschland mit der Durchführung seines Wehrgesetzes von 1912 eben erst begonnen hatte. Das konnte manchen bedenklich stimmen, der dann weiter fragte: Ist unsre Volkskraft noch so gesund wie einst? Ist nicht das Heer in der langen Friedenszeit erschlafft? Darf man den Heerführern vertrauen, die doch noch nie durch eine Schlacht erprobt waren? Und weiter griesgrämelten viele: Hat nicht der erbitterte Kampf der politischen Parteien die Einheit unsres Volkes untergraben? Hat die jahrzehntelange satte Ruhezeit nicht entnervend gewirkt? Auf so viele Schäden wußte man hinzudeuten: auf den Müßiggang mit all seinen Begleiterscheinungen, die Nachäffung des Auslandes, den Snobismus, den Luxus, die Vergnügungssucht, das unaufhörliche Festefeiern, die Übersättigung. Pessimistische Voraussagungen konnte man vielerorts hören, wo man politischen Gesprächen lauschte. Und was trat in Wahrheit gleich in den ersten denkwürdigen Tagen, am ersten und am vierten August, hervor? Das beängstigende Gewölk zerflatterte wie leichte Frühnebel; unter der dünnen Oberschicht des Mißvergnügens erwachten alle guten Geister des Volkes und brachen an das Licht. Einmütiger war kein Volk der Erde, schlagkräftiger kein Heer und keine Flotte, durchgebildeter nirgends auf der Welt die wirtschaftliche Vorbereitung. Unvergeßlich für jeden das Ausrücken der Truppen. Tage und Wochen hindurch rollt Zug um Zug heran, jeder gefüllt mit der blühenden Wehrkraft Deutschlands. Jede größere Bahnstation sieht täglich Zehntausende kommen und jubelnd weiterfahren. Denn alle beherrscht Ein Geist, Ein Zorn, Ein Wille, Eine Zuversicht. Viele unsrer Kollegen von allen deutschen Universitäten sind mit ausgerückt, und, schwach geschätzt, mindestens fünfundzwanzigtausend deutsche Studenten, junge Menschen, so viele junge Menschen, ein ver sacrum, zahllose wohl dem Tode geweiht, die meisten hoffentlich zur Verjüngung der Erde bestimmt. Jeder von ihnen hat sich die Zukunft aus dem Sinn geschlagen, um ganz nur der unerbittlichen Gegenwart zu dienen. Wie hat die Zuversicht, das Gefühl, daß nun das Leben wieder größer und reicher geworden sei, die Millionen gleichgültiger Gesichter in jenen Tagen verschönt! Armverschlungen standen sie da, die Mannschaften, mit blitzenden Augen und blitzenden Zähnen. Gemeinsames Lachen und gemeinsamer Gesang verriet, daß Abwechslung in das sonst so unerträgliche Gleichmaß des Lebens gekommen war; ein Gliederrecken und Gliederstraffen gab es, die Erwartung eines ungeheuren Erlebnisses, das nun nachwirken werde bis an den Tod. In das Leben jedes Einzelnen, der sonst schon zage, müde und traurig geworden und der schon daran verzweifelt war, in seiner Niederung je zur Geltung zu kommen, fiel jählings die Möglichkeit, teilhaftig zu werden des höchsten Ruhmes des ganzen Landes und seinerseits Ruhm zu erwerben, erzählen zu können von großen Tagen, Heldenschaft zu gewinnen, fremde Länder und Völker zu sehen und als Sieger mit auf den Höhen der 1089

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Menschheit zu schreiten. Wir wollen uns den Inhalt dieser gewaltigen Tage durch keinen Doktrinarismus zerfasern lassen, sondern uns vollen Herzens, demütig dankend der ungeheuren Erhebung dieser großen Zeit hingeben. Nur so wird sie uns ein unverlierbarer Gewinn bis an das Ende unsres Lebens bleiben. Daheim aber, wenn man von all diesen Eindrücken sprach, konnte man tausendfach die Meinung hören, die große Zeit von 1813, von 1870 sei wiedergekehrt; alles sei wie damals, wie Heinrich von Kleist es beobachtet: die Menschen seien weiser und wärmer und durch das allgemeine Unglück erzogen worden. So mögen auch viele von uns anfangs geurteilt haben. Aber allmählich fühlten wir’s und lernten es begreifen: so groß und herrlich die Erhebung von 1813, so unvergeßlich und erhaben die Kette der Siege von 1870/71 gewesen, gewaltiger ist doch noch dieser Weltkrieg von heute. Wie noch niemals solche Heeresmassen einander gegenüber gestanden haben, wie die Schlachten so gigantisch sind, daß man sie nicht mehr nach einzelnen Orten, sondern nur nach Provinzen oder der Ausdehnung ganzer Flußläufe benennen muß, so ist auch der letzte Sinn und Zweck dieses Krieges erhabener als man es sonst gewohnt ist. Denn wir führen ihn nicht wie früher um unsrer politischen Befreiung oder Einigung willen, nicht nur für unsern Schutz, unsre Weltstellung, unsre Existenz: wir führen ihn zugleich für die höchsten sittlichen Güter, die nicht uns allein, sondern der ganzen Menschheit gehören. Unendlich viel von dem, was sonst als heilig galt, ist gleich in den ersten Tagen dieses Krieges unter die Füße getreten worden. Wo blieb das Märchen von der Rassegemeinschaft, das uns Phantasten so gern erzählt haben, wo blieben Eide und Verträge, wo des Mannes unverbrüchliches Ehrenwort, wo die Vereinbarungen, die selbst im Kriege den Völkern alter Kultur unumstößlich sein sollten? Für diese Güter müssen wir einstehen, wenn einst die Leidenschaften schweigen und der Friede ins Land kommt; bis dahin aber muß unser Volk für sie kämpfen, für seine eigene innere Wiedergeburt und für ein neues Europa. Es liegt keinerlei Selbstgerechtigkeit und Überhebung darin, daß wir uns diese Aufgabe stellen; edelste Menschen aus vielen Völkern weisen sie uns schon heute zu. Wie Deutschland nach seiner geographischen Lage das Herz Europas ist, so soll es nach seinem Verhalten das Gewissen Europas sein. Und solange es dessen eingedenk ist, darf es auch den gegenwärtigen Krieg mit Fug und Recht wieder als einen heiligen Krieg bezeichnen. Von solchem Ernst der Auffassung war unser ganzes Volk offenkundig, ganz unbewußt seit dem Tage der Mobilmachung ergriffen. Menschen, die ihre Zeit nicht verstanden, fragten wohl am Beginn des Krieges verwundert und fast enttäuscht: Wo ist denn der Jubel, das laut rufende Verlangen nach dem Kriege, die tosende Begeisterung, von der man doch aus früheren Zeiten und von anderen Völkern so viel hatte reden hören? Und immer mußte man an diese Daseinsblinden die Gegenfrage richten: Ja, fühlt ihr’s denn nicht, daß solche verhaltene Leidenschaft, solche Stille das Höhere ist? In der Tat, mit seiner Selbstbeherrschung hat unser Volk vielleicht das Größte geleistet. Unter den anderthalb Millionen Freiwilliger waren viele von der Schulbank hergekommen; Kindergesichter sahen uns unter den Militärmützen entgegen. Aber betrachteten wir gleich am ersten Tage die gefestigte Haltung dieser jungen 1090

Antrittsrede 1914

Körper, so schienen sie Männer zu sein. Ein Jeder fühlte, daß in diesem Kriege, in dem das Äußerste auf dem Spiele steht, keine Kraftleistung, auch keine Begeisterung unnütz vergeudet werden dürfe, daß alle Energie gesammelt werden müsse zur Tat. Und hier, bei dieser ruhigen Pflichterfüllung, wo die militärische Erziehung noch nicht hatte wirken können, hier hat wohl die deutsche Schule und die deutsche Universität ihre Macht am eindrucksvollsten kundgetan. Uns aber erwächst aus dem Anblick höchster Opferfreudigkeit der Jugend eine große ernste Aufgabe. Gewiß werden wir den alten Bittruf „Dona nobis pacem“ nicht voreilig und schwachherzig anstimmen, sondern in Ruhe und Fassung des Tages harren, an dem unserm Volke der Siegespreis unwidersprechlich zufällt und die Ereignisse selbst uns zurufen: Es ist genug. Aber daß in dem heute beginnenden Rektoratsjahr uns der Friede, und, wie wir zuversichtlich hoffen, ein glorreicher Friede beschert werden möge, das, denke ich, ist unser aller sehnlichster Wunsch. Kehren sie dann aus dem Felde zu uns zurück, die jungen Verteidiger des Landes, reich an Erlebnissen, zu Männern gereift, manche wohl geschmückt mit dem eisernen Kreuz, und tun sie die Frage an uns „Was habt denn ihr inzwischen getan?“, dann wollen wir gerüstet vor ihnen stehn, um auch unserseits das Ergebnis einer entschlossenen, unauffälligen Pflichterfüllung darzuzeigen. Wie wir in diesem Winter alle versprochenen Vorlesungen und Übungen abhalten und dadurch symbolisch das unbedingte Vertrauen zu unsrer vaterländischen Sache und unserm Heere zum Ausdruck bringen, so wollen wir auch für den Tag der Wiederkehr unsrer Studenten alles bereit halten. Das aber fühlt wohl ein Jeder: „Alles bereit halten“ heißt bei weitem nicht „Alles beim Alten lassen“. Jeden von uns hat das ungeheure Erlebnis der vergangenen Monate erschüttert, aber auch erfrischt und verjüngt. Denn in jede Wissenschaft greift der Krieg mit der gebieterischen Forderung ein: Jetzt prüfe das, was du bisher gelehrt hast, unmittelbar am Leben; prüfe, ob nicht Naturwissenschaft und Heilkunde wieder vor neuen Aufgaben stehen, ob die bisher vertretenen Lehren der Ethik, des Rechts, ob die historischen Disziplinen überall standhalten. Manche ernste Selbstschau wird stattgefunden haben. Und wenn auch die Gesetze der Mathematik nicht gerade ins Wanken geraten sind, an seiner Lebensanschauung, an dem Weltbild, das sich der Einzelne gemacht hat, wird doch wohl Jeder von uns manches zu revidieren haben und in manchem umlernen müssen. Und so wird der Krieg gewiß an vielen Stellen zu einer Erneuerung und Verjüngung wissenschaftlichen Lebens Anstoß geben. An dieser Segnung eines Tages teilzunehmen, erwartet die akademische Jugend. Ist in den Seelen all der jungen Menschen die Begeisterung plötzlich wie eine helle Fackel aufgelodert, so ziemt es uns dereinst, das heilige Feuer weiterhin zu nähren. Ja, ob nicht auch in die Organisation der Universität hier und dort etwas frisches Leben kommen wird, wer mag das voraus entscheiden? So lange freilich das gewaltige Völkerringen andauert, wird man wohl gut tun, sich nicht in unerprobte, umstürzende Neuerungen einzulassen und nur die bewährten Satzungen mit denkbarster Liberalität handhaben. Aber für die Zeit nach dem Friedensschluß werden wir vielleicht eine große Schere bereit halten müssen, um wenigstens einige Zöpfe abzuschneiden. 1091

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So treten wir in ein ernstes, stilles Wintersemester ein, das arm an äußeren Ereignissen, aber für Jeden reich an erregenden inneren Erlebnissen sein wird. Viel Geduld und manchen Verzicht wird die Zeit fordern. Denn während des Krieges steht der Universitätslehrer nicht hoch im Kurs, und mancher wird sich und sein Tun vielleicht als recht überflüssig ansehen. Aber diese Erkenntnis hat nichts Niederdrückendes für uns. Froh und stolz vielmehr fühlen wir, wie eng wir mit dem Ganzen unsres Volksschicksals verbunden sind, auch wenn die Flutperioden des nationalen Lebens bisweilen Ebbezeiten im Sonderdasein der Universitäten sind. Wir harren zuversichtlich der künftigen Tage; wenn wieder Friede im Lande ist, dann kommt unsere Zeit. ***

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31. Oktober 1915. Rede des abtretenden Rektors Dr. Albert Köster. Bericht über das Studienjahr 1914/15. Was sind Hoffnungen, was sind Entwürfe, Die der Mensch, der vergängliche, baut! Als ich vor einem Jahr an dieser Stelle stand, klang durch meine Worte der Erwartung noch ein Ton gläubiger, wenn auch leider verfrühter Gewißheit hindurch, einer Gewißheit, als könne das Rektoratsjahr nicht enden, ohne uns den Frieden zu bringen. Von solchen Hoffnungen haben wir längst Abschied nehmen müssen. Zwei Kriegssemester, die wir in Geduld und Fassung getragen haben, liegen hinter uns; und in ein drittes sind wir bereits eingetreten. Zwar ist vieles in diesem abgelaufenen Jahr unverändert geblieben. Unerschüttert steht unsre Zuversicht, die wir bis jetzt als einzigen Dank unsern unvergleichlichen Truppen zurufen und nicht oft genug zurufen können. Ehern wie am ersten Tage ist der Wille zum Siege und nun auch, da man uns einmal das Schwert in die Faust gezwungen hat, der Wille zur Macht, zu einer Macht, die ein Segen für die Völker werden muß. Und unverändert ist auch der äußere Anblick Deutschlands geblieben. Sieht man von wenigen Grenzgebieten im Elsaß und in dem schwer geprüften Ostpreußen ab, die wir schöner wieder aufbauen werden, so hat unser Vaterland, beschirmt von der lebendigen Mauer seiner Söhne, fünfzehn Monate lang wie im Frieden dagelegen. Zweimal hat man das Korn geschnitten und die Frucht geerntet; und schon wird wieder eine neue Saat bestellt. Aber sieht man in das Seelenleben deutscher Männer und Frauen hinein, so erkennt man doch, daß Heer und Volk sich tief im Innersten verwandelt haben. Aus den siegverlangenden, jubelnden Truppen, die wir in den ersten Monaten hinausziehen sahen, ist ein trotziges kriegserprobtes Heer geworden. Mütter werden ihre Söhne mit einem Gemisch von Stolz und Befremdung betrachten, wenn sie einst zurückkehren. Denn viele sind draußen um zehn Jahre gereift. Auch das wirkliche Durchschnittsalter der Truppen ist um sechs bis acht Jahre gestiegen, weil die Blüte unsrer Jugend sich geopfert hat. Durch jeden Siegesjubel klingt doch auch die berechtigte Klage um so viel Kraft und Schönheit, so viel Begabung und unwiederbringliche Lebenshoffnungen hindurch. Und auch drinnen im Lande ist die Bevölkerung in ihren besten Elementen von Grund aus umgeschaffen. Das ist das Volk nicht mehr, das in den ersten Wochen des Krieges auf Worte eines gutgemeinten Optimismus lauschte; es ist inzwischen durch eine strenge Schule gegangen. Die Zeit hat die Menschen hart geschmiedet; möchten sie so bleiben. Durch täglich neue Opfer und neues Leid, durch Entsagung, die, wenn auch viele Einzelne murrten, doch das Volk als Ganzes willig auf sich 1093

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nahm, durch tausendfache Anpassung, die erfinderisch machte, ist Deutschland vorbereitet worden auf die ernsten Jahre, die nun erst kommen werden. Geworden, Geworden, so klingt es vernehmlich durch jede Stunde hindurch. Und inmitten all dieses Werdenden oder eben erst Gewordenen, das unser Volk als Ganzes betrifft, ergeht auch an jeden Einzelnen, der sich zu einem berechtigten Bürger des neuen Deutschland heranbilden will, das stärkste der Gebote, jenes „Stirb und werde“, ohne das nach des Dichters Wort der Mensch nur ein trüber Gast auf der dunkeln Erde ist. Gestehen wir es nach ruhiger Selbstprüfung ein: wir sind samt und sonders der ungeheuren Opfer, die für uns geschehen sind, heute noch gar nicht wert. In unsern künftigen Erdentagen uns dieses überwältigenden Geschenkes erst würdig zu machen, unser armes Tagewerk zu adeln, das Jämmerliche und Kleinliche früherer Zeit abzustreifen und mitzuhelfen an der Erneuerung unsres Volkes, das ist die einzige Aufgabe, die uns ziemt und die es verhindert, daß wir schamrot und gedemütigt derer gedenken müssen, die für uns gestorben sind. Wie das im Einzelnen geschehen kann, das liegt noch im Schoß der Zukunft und ist heute noch nicht zu bestimmen. Nur daß das erschütternde Erlebnis dieser gewaltigen Zeit hinfort all unsre Gedanken zu durchdringen und all unsre Taten zu bestimmen hat, das tut not. Solch ein inneres Verarbeiten ungeheuerster Eindrücke kann aber nicht in kurzer Frist geschehen; es braucht Zeit und geduldiges Abwarten wie das Warten des Ackermanns auf die Ernte, die ja auch die Erfüllung eines Stirb-und-WerdeGebotes ist. Drum möchte ich gerade die ungeduldige Jugend, gerade Sie, meine jungen Kommilitonen, warnen vor den stillen Feinden, die durch unsre Reihen gehn und die jenen großen Umwandlungsprozeß unsres Volkes entweder hemmen oder überhasten wollen. Die Einen wollen das Absterben des Vermorschten verhüten, die Andern das Werden voreilig beschleunigen. Die Einen sitzen ängstlich da und suchen die dürftigen Kümmernisse ihres kleinen Kulturbesitztums, wie es vor dem Kriege war, zu retten; die Andern leben in Unrast und vermeinen das Wachstum der Blüte, die einst aufbrechen soll, zu fördern, wenn sie schon an der Knospe rupfen und zupfen. Vor beiden Gruppen unerbetener Ratgeber hüten Sie sich. Helfen im Augenblick können uns nur die Männer der Tat und die tiefblickenden Erläuterer des Bestehenden und Gewordenen. Helfen bei dem Werk der Zukunft können uns aber in erster Linie die Besten derer, die einst aus dem Felde zu uns zurückkehren werden, und auch die Edelsten von denen, die wir niemals wiedersehn sollen. Was will nun inmitten so ungeheurer Weltschicksale und angesichts so heiliger Erwartung ein armes kurzes Rektoratsjahr bedeuten. Mir kommt es, auch wenn es reich an Arbeit war, ergebnislos vor. Seine Wochen sind gleichförmig verflossen. Nur zwei frohe festliche Tage heben sich heraus. Sie sind beide an die Person unsres erhabenen Landesherrn geknüpft. Es hat die Universität tief beglückt, daß S. Majestät der König es sich auch im vergangenen Winter nicht haben nehmen 1094

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lassen, der höchsten Bildungsstätte seines Landes seine Gegenwart zu schenken. Ja, der kurze Besuch am 25. Januar 1915, bei dem Herr Geh. Hofrat Dr. Sievers über neue Methoden und Ergebnisse der Stimmforschung und Herr Geh. Hofrat Dr. Otto Mayer über die Mitwirkung des Heeres bei der Sicherheitspolizei Vorlesungen hielten, galt fast noch ausschließlicher als sonst der Landesuniversität. Und ebenso fühlten wir uns festlich gestimmt, als wir am 20. Mai 1915, wenn auch in schlichtester Form, die Vorfeier des Geburtstages Sr. Majestät begingen. Der Prorektor, Herr Geh. Hofrat Dr. Otto Mayer, hielt an diesem Tage die Festrede über die Bedingungen, unter denen sich nach dem Kriege das zwar noch bestehende, aber hart verletzte Völkerrecht wieder erneuern könne. Gern hätten wir am 1. April die hundertjährige Wiederkehr des Geburtstages des eisernen Kanzlers gefeiert; aber es war unmöglich, in Abwesenheit des größeren Teiles der akademischen Jugend ein Fest, das Bismarcks würdig gewesen wäre, ja selbst nur einen Fackelzug zustande zu bringen. So haben sich denn alle deutschen Universitäten zu einer gemeinsamen Huldigung zusammengetan. Die sämtlichen Rektoren waren an dem sonnenhellen Vormittag des 31. März im Mausoleum von Friedrichsruh versammelt, wo nach kurzer Ansprache ein gewaltiger Kranz niedergelegt wurde. Ich selbst habe dann noch am 1. April namens der Universität Leipzig an der Hamburger Gedenkfeier teilgenommen, die wie alle Bismarckfeiern rings im Reich eindrucksvoll, aber zurückhaltend war. Denn das deutsche Volk hatte keine Zeit, an jenem Tage laut zu jubeln; es brachte in dem starken Beweis seiner nationalen Einigkeit dem Gründer des Reiches die stolzeste Geburtstagsgabe dar. In Leipzig hatte inzwischen die Universität im Neuen Theater an der Bismarckfeier des Rates der Stadt teilgenommen und sich durch Entsendung studentischer Abordnungen an der Einweihung des Bismarckturmes beteiligt. Was Bismarck recht war, mußte Gellert billig sein. Auch sein Geburtsfest haben wir bei der zweihundertjährigen Wiederkehr am 4. Juli nicht mit einem eignen akademischen Festaktus verherrlichen können, so dankbar wir auch des vielverdienten einstigen praeceptor Germaniae gedacht haben, dessen artige Verserzählungen die Freude unsrer Jugendtage waren und dessen Kirchenlieder noch jetzt die Erbauung jeder Gemeinde sind. Es wurde in unsrer Universitätskirche ein Festgottesdienst abgehalten; im übrigen aber haben wir uns der Feier in Gellerts Geburtsort Hainichen angeschlossen, wo der Dekan der Theologischen Fakultät, Herr Prof. Althaus, die Hochschule vertreten hat. Nur einmal, als nicht für ganz Sachsen oder gar für ganz Deutschland, sondern nur für die Universität Leipzig ein Gedenktag herangekommen war, als sie am 19. Oktober bei der 150. Wiederkehr des Tages von Goethes Eintrag in die Matrikel gleichsam ein Familienfest begehen konnte, da hat in der Wandelhalle eine kleine Feier stattgefunden, bei der jugendfrische Gesänge des Thomanerchores eine kurze Ansprache des Rektors umrahmten und Kränze unter des Dichters Büste befestigt wurden. Daß im übrigen während des ganzen Jahres bei manchen Gelegenheiten, Einweihungen und Jubiläen (90. Geburtstag des Geh. Rats Prof. Hofmann 3. Jan., 50jähriges Doktorjubiläum des Geh. Rats Prof. Pfeffer 10. Febr., Einweihung der 1095

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neuen Taubstummenanstalt 7. Sept. usw.), der Rektor die Universität vertreten, bedarf keiner ausführlichen Erwähnung; bei der Einweihung des Friedrich-AugustHeims in Bad Elster am 20. Mai trat Herr Geh. Medizinalrat Dr. von Strümpell an seine Stelle. Von diesen wenigen Unterbrechungen abgesehen sind die beiden ersten Kriegssemester von gleichmäßig stiller und ernster Tätigkeit erfüllt gewesen, die nur durch das Zusammenwirken vieler Faktoren möglich wurde. Ihnen allen heute an gegebener Stelle zu danken, ist mir ein tiefes Herzensbedürfnis. Denn ich habe, wo immer ich Wünsche äußern mußte oder Anregungen geben durfte, viel Verständnis und reiche Förderung gefunden. Größere Unternehmungen mußten freilich zurückgestellt werden; zwar wurden begonnene Bauten, wie die Erweiterung der Frauenklinik und der Aufbau auf dem Paulinum vollendet, sonst aber gebot die Zeitlage Sparsamkeit. So wird der künftige Rektor die zurückkehrenden Studierenden noch nicht mit dem Geschenk eines akademischen Sportplatzes erfreuen können; die baulichen Veränderungen der Universitätsbibliothek mußten einstweilen unterbleiben; und unsrer Hoffnung auf die schon in naher Aussicht stehenden Hörsaal- und Seminargebäude müssen wir noch für einige Zeit entsagen. Aber zu lebhaftem Dank hat uns der Rat unsrer Stadt verpflichtet durch das Versprechen, uns die Möglichkeit des Ankaufs der Bastei an der Schillerstraße, also jenes Bauplatzes, dessen die Universität zu ihrer Ausdehnung dringend bedarf, noch für eine Reihe von Jahren offen zu halten. Nicht immer leicht ist im abgelaufenen Jahr die Handhabung der Satzungen gewesen. Eine Ausnahmezeit erheischte selbstverständlich auch viele Ausnahmemaßregeln: bei den Immatrikulationen, Beurlaubungen, Ausweisungen und wiederum bei den Ausnahmen von diesen Ausweisungen. Die Königliche Regierung hat Anspruch auf den lebhaftesten Dank für die Wachsamkeit, mit der sie stets das Wohl der Universität verfolgt hat und auch auf die meisten Vorschläge des Rektors und des Senates bereitwilligst eingegangen ist. Und in diesen Dank möchte ich auch die höchste hiesige Militärbehörde einschließen, die bei einer langen Reihe von Gesuchen uns jederzeit Geduld und Entgegenkommen bewiesen hat. Die wichtigsten von dem Kgl. Ministerium genehmigten Maßregeln waren die Beurlaubung aller Studierenden, die im Felde, im Heere oder im Dienst des Roten Kreuzes stehn, für die ganze Kriegsdauer, die Verlängerung der Matrikel aller dieser Studierenden um die durch den Krieg eingebüßten Studiensemester und die zum ersten Mal zugelassene immatriculatio in absentia. Ausnahmebestimmungen waren auch für die studentischen Ausschüsse nötig, deren Vorstände nur schwach besetzt werden konnten und deren Satzungen weitherzig ausgelegt werden mußten. Es gehört zu meinen angenehmsten Erinnerungen, wie vertrauensvoll sich die beiden Ausschüsse mit dem Rektor verständigten. Wir haben ein paar Versammlungen und eine Reihe von Einzelbesprechungen abgehalten, deren Ergebnisse kurz niedergeschrieben wurden, im Übrigen aber den sonst üblichen Eingaben- und Aktenverkehr einfach über Bord geworfen. Dies Verfahren hat zu den günstigsten Ergebnissen geführt. Vor Allem war es mein stetes Bemühen, in dem ich auch durch die Studentenschaft dankenswert unterstützt wurde, bei jeder 1096

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Maßnahme dafür zu sorgen, daß die im Felde stehenden Studierenden in keinem ihrer Rechte und Vorteile geschmälert wurden. Damit hängt auch der von dem Königl. Ministerium bestätigte Senatsbeschluß zusammen, daß während der Dauer des Krieges alle Stipendien nur immer auf ein halbes Jahr vergeben werden. Mit diesen im Felde Stehenden dauernd verbunden zu bleiben, hat sich das Rektorat eifrigst gemüht. Diesem Zweck dienten, außer aller Einzelkorrespondenz, die öffentlichen und privaten, allgemeinen und persönlichen Bitten um Einsendung der Feldadressen, ihm diente der im Dezember 1914 mit ministerieller Unterstützung versandte Weihnachtsgruß, die Beteiligung an mehreren allgemein studentischen Liebesgabensendungen und endlich im Juli 1915 die Versendung umfänglicher Fragebogen an jeden einzelnen Krieger, der der Leipziger Universität angehörte. Gerade diese letzte Umfrage ist von Vielen sehr schön und ausführlich beantwortet worden. Ein großes und wertvolles Aktenmaterial, das sich zu Bergen getürmt hat und künftiger Verwertung harrt, überlasse ich meinen Amtsnachfolgern. An dieser Stelle aber möchte ich ein Wort der Anerkennung für die Beamtenschaft der Universität aussprechen, ohne deren Eifer solch ein Schriftenverkehr gar nicht möglich gewesen wäre. Man muß sich vergegenwärtigen, daß jede einzelne Feldsendung in rund 3000 Exemplaren verschickt worden ist und mit den bekannten vierteiligen Adressen versehen werden mußte. Das erforderte jedesmal wochenlange Arbeit, an der sich auch einzelne Studierende freundlichst beteiligt haben. Wenn ich mich von der Gesamtverwaltung der Universität und den ins Weite gehenden Maßnahmen zu den Veranstaltungen mehr privaten Charakters wende, so hab ich hier am Ende meines Amtsjahres wohl das Recht, auch einmal der großen Opferwilligkeit der Mitglieder des Lehrkörpers zu gedenken. Ich habe oftmals bitten müssen und nie vergebens gebeten. Von mancher stillen Hilfstätigkeit ist zu schweigen. Die Universitätsspende, deren schon vor einem Jahre hier gedacht wurde und die im ganzen auf etwa 20 000 Mark angewachsen war, hat nicht nur für umfängliche Liebesgabensendungen an die Soldaten im Felde gedient; sondern es sind aus ihr auch mehrere Wohlfahrtseinrichtungen unterstützt worden, und endlich hat sie ermöglicht, daß die Universität stiftendes Mitglied des Kriegshilfsvereins für die Stadt Hohenstein in Ostpreußen wurde. Der Lehrkörper hat auch dadurch zu der allgemeinen Hilfstätigkeit beigesteuert, daß eine große Reihe seiner Mitglieder sich an dem Vortragsunternehmen beteiligte, das Rektor und Senat in Verbindung mit dem Schillerverein ins Leben gerufen hatten; die Versammlungen fanden anfangs in der Alberthalle, seit dem Januar 1915 in der Aula der Universität statt. Auch über ganz Sachsen erstreckte sich ein wohl organisiertes Vortragswesen, an dem sich viele Kollegen mit Ansprachen erhebenden und belehrenden Inhaltes beteiligt haben. Eine genaue Statistik hierüber läßt sich freilich nicht geben; durch das Sekretariat der Universität sind 110 derartige Vorträge für sächsische Orte vermittelt worden. Sehr gern hätte ich in meinem Amtsjahr zwei große Unternehmungen für die Kriegswohlfahrt bis zu ihrem völligen Inkrafttreten gefördert. Aber es ist mir nur beschieden gewesen, sie durch die Monate und Wochen ihrer Vorbereitung zu geleiten. Die eine ist die Zentralisierung der Bücherversorgung für die deutschen 1097

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Kriegsgefangenen in Frankreich, ein Unternehmen, das die Universität Leipzig in Verbindung mit der Deutschen Gesandtschaft in Bern durchzuführen beabsichtigt. Die andere ist die Organisation der sächsischen Ortsausschüsse für den Akademischen Hilfsbund, der seinen Mittelpunkt in Berlin hat. Beide Schöpfungen können so viel Segen stiften, daß ich meinen Nachfolger bitten möchte, sie mit aller Tatkraft und aller menschlichen Teilnahme zu fördern. Für den späteren Leipziger Landesund Ortsausschuß sind an der Universität selbst die Vorbereitungen so weit vorgeschritten, daß aus Beiträgen der Mitglieder des Lehrkörpers eine Gesamtsumme von rund 20 000 Mark gewährleistet ist, deren Zahlung sich auf fünf Jahre verteilt. Endlich möchte ich noch erwähnen, daß zu den Unternehmungen, die der Krieg hervorgerufen hat, auch ein Kriegsarchiv gehört, das die Professoren Eulenburg und Herre mit Unterstützung der Albrecht-Stiftung geschaffen haben und das jedermann zu wissenschaftlicher Benutzung zugänglich ist. Die wirtschaftlich-soziologische Abteilung dieser Sammlung umfaßt schon jetzt etwa 30 000 Blatt und geht bis in den Anfang des Krieges zurück; die historisch-politische Abteilung, die erst kürzlich begründet worden ist, dürfte es bis zum März nächsten Jahres auf den gleichen Umfang gebracht haben. Ich nahe mich den schmerzlichsten meiner Mitteilungen. Es ist ein Schnitter, der heißt Tod; der hat in diesem Jahr eine grausige Ernte gehalten. Und wenn ich ihrer gedenke, so ist es recht und billig, die Jugend voranzustellen. Seit dem November 1914 hängt in der Eingangshalle dieses Hauses eine Ehrentafel, seit dem September 1915 schon eine zweite. Sie haben sich mit 387 Namen gefüllt, jede kleine Zeile eine Welt von zerschlagenem Glück und vernichteten Hoffnungen. Möchten wir nie vergessen, daß wir unser Leben diesen Toten verdanken. Auf die Beileidschreiben an die Hinterbliebenen sind viele ergreifende Antworten erfolgt; sie werden treu bewahrt bleiben. Auch in den Lehrkörper hat der Krieg beklagenswerte Lücken gerissen. Wenn auch im Rektoratsbericht des vorigen Jahres die Doktoren der Jurisprudenz Eckard Meister und Hans Peters schon als ausgeschieden aus unserm Verbande genannt waren, so hab ich diese beiden ungewöhnlich begabten, zukunftreichen jungen Gelehrten und herzgewinnenden Menschen, als sie gefallen waren, doch noch in die Ehrentafel unsrer Hochschule aufgenommen. Auch die Medizinische Fakultät betrauert zwei ihrer Mitglieder, die der Feldschlacht zum Opfer gefallen sind: den außerordentlichen Professor der Zahnheilkunde Dr. Theodor Dependorf, einen Mann von streng wissenschaftlichem Sinn, der seine Studien auf breitester medizinischer und naturwissenschaftlicher Basis aufgebaut hatte und seinen Namen auf immer mit dem Bau und der Einrichtung unsres Zahnärztlichen Instituts verbunden hat, und den ehemaligen Assistenten an der Dermatologischen Universitäts- und Poliklinik Dr. Otto Valentiner. Der eine ist als Oberleutnant und Kompagnieführer bei Ypern, der andre bei Basseville Cabinet nordöstlich von Zandvoorde als Oberarzt gefallen. Rühmend gedenke ich weiter zweier bewährter Beamten der Universität, des Kanzleisekretärs und Konviktinspektors Erich Kramer (gefallen am 25. Sept. 1915 als Leutnant in der Champagne) und des Expedienten bei der Frauenklinik Paul 1098

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Bernhard Kästner (gefallen am 18. Sept. 1915 als Feldwebel-Leutnant bei Nydziany an der Wilna), sowie der pflichttreuen Angestellten Richard Arnold, Curt Büchner, Rudolf Köhler, Walter Lohmann und Ernst Paul. Der Tod hebt die Rangstufen auf, und unser Dank gilt ihnen Allen. Aber nicht nur auf dem Schlachtfeld, auch im Siechbett ist uns mancher wertvolle Kollege entrissen worden. Die Theologische Fakultät hat in kurzer Frist zwei namhafte Mitglieder verloren: Theodor Brieger († 9. Juni 1915) und Georg Heinrici († 29. Sept. 1915), beide durch langjähriges gemeinsames Wirken an unsrer Hochschule und durch enge Freundschaft und Gesinnungsverwandtschaft miteinander verbunden, beide bis in ihr hohes Alter unermüdlich tätig. Brieger hat fast dreißig Jahre unsrer Universität angehört. Er führte ein vorwiegend zurückgezogenes Gelehrtendasein. Seine Lebensarbeit galt der Erforschung der Reformationsgeschichte, deren Ergebnisse er in einer Reihe von Einzeldarstellungen und in seinem abschließenden Hauptwerk über die Reformation niedergelegt hat. Sein tiefes geschichtliches Verständnis und seine gründliche methodische Schulung hat er auf einen großen Kreis von Schülern vererbt. Heinricis Eigenart ist durch eine solche Vielseitigkeit der Interessen und durch so umfassende Gelehrsamkeit gekennzeichnet, daß er in seiner Persönlichkeit und seinen literarischen Arbeiten den Typus eines echten Humanisten darstellen konnte. Seine Haupttätigkeit war auf die Untersuchung der christlichen Urgemeinde gerichtet. Aber er stellte seine Arbeit in einen weiten Rahmen und versuchte es, das Christentum der ersten Jahrhunderte in seinen engen Beziehungen zu der hellenistischen Umwelt zu verstehn, in deren Mitte es eintrat und innerhalb deren es sein besondres Gepräge gewann. Unsrer Universität hat Heinrici bis zuletzt nicht nur als Gelehrter, sondern auch durch seine hingebende Fürsorge für das Convictorium gedient. Am 10. Mai verlor die Philosophische Fakultät durch den Tod den ordentlichen Professor der Geschichte Geh. Hofrat Dr. Karl Lamprecht, einen der plänereichsten deutschen Hochschullehrer. Die Universität wird es nie vergessen, daß sie seiner Anregung die Einrichtung der staatlichen Forschungsinstitute, seiner Energie und Organisationsgabe das auch künstlerisch schöne Institut für Kultur- und Universalgeschichte verdankt. Es war Lamprecht vergönnt, das große Hauptwerk seines Lebens, die Deutsche Geschichte, die eine Entwicklungsgeschichte der deutschen Volksseele sein sollte, zu vollenden; aber aus weitschauenden Unternehmungen wurde der Unermüdliche jählings herausgerissen. Der Ausbau seiner universalhistorischen Pläne bleibt einer jüngeren Generation überlassen; und es wird sich dabei sicherlich offenbaren, wer sich in Wahrheit als seinen Schüler bezeichnen darf. Von weiteren Personalveränderungen im Lehrkörper ist zu berichten, daß in der Medizinischen Fakultät der außerordentliche Professor Dr. Birch-Hirschfeld als ordentlicher Professor der Augenheilkunde nach Königsberg, der außerordentliche Professor Dr. Oskar Gros als ordentlicher Professor der Pharmakologie nach Halle berufen wurde. Ausgeschieden sind aus der Medizinischen Fakultät der Hilfslehrer und erste Assistent am Zahnärztlichen Institut Ernst Schuster, aus der Philosophischen Fakultät der außerordentliche Professor Dr. Nathanson, der sich nach Wien 1099

Albert Köster

umhabilitiert hat, der Privatdozent Dr. Mentz, der Schulleiter in Berlin geworden ist, und der Privatdozent Dr. Steche, der sich an der Universität Frankfurt a. M. habilitiert hat. Auch die Privatdozenten Dr. Bergsträßer und Dr. Penck, die einem Rufe an die Universität Konstantinopel gefolgt sind, gelten zunächst nur als auf fünf Jahre beurlaubt. Manche Kollegen, von deren Lehrtätigkeit wir uns viel versprechen und die wir aufrichtig willkommen heißen, haben wir zum Ersatz gewonnen: in der Theologischen Fakultät den ordentlichen Professor für Religionsgeschichte Herrn Dr. Hans Haas, bisher in Jena; in der Juristenfakultät den ordentlichen Professor Dr. Paul Koschaker, bisher in Frankfurt a./M.; in der Philosophischen Fakultät den ordentlichen Professor der Geschichte, Geh. Hofrat Dr. Walther Goetz, bisher in Straßburg, den ordentlichen Honorarprofessor der Kolonialgeographie Geh. Hofrat Dr. Hans Meyer, den etatmäßigen außerordentlichen Professor der Mathematik Dr. Wilhelm Blaschke, bisher in Prag, und den etatmäßigen außerordentlichen Professor der physikalisch-chemischen Mineralogie und Petrographie Dr. Paul Niggli, bisher in Zürich. Befördert wurden in der Medizinischen Fakultät die Privatdozenten Dres. Dittler, Gros und Quensel zu außeretatmäßigen außerordentlichen Professoren, in der Philosophischen Fakultät der etatmäßige außerordentliche Professor Dr. August Eber zum ordentlichen Honorarprofessor, der außeretatmäßige außerordentliche Professor Dr. Felix Salomon zum etatmäßigen außerordentlichen Professor und die Privatdozenten Dres. Strieder, Schering, Scheiber und Sieverts zu außeretatmäßigen außerordentlichen Professoren. Habilitiert haben sich in der Juristenfakultät die Doktoren Engländer, Kisch und Oeschey, in der Philosophischen Fakultät Dr. Wenger für Geophysik. Zu Lektoren ernannt wurden Dr. Heinrich Wengler für französische und Dr. Willy Ernst Peters für englische Sprache. Zur Zeit stehn aus dem Lehrkörper 34 Herren im Felde und außerdem noch 36 im Heere; ausgezeichnet sind von ihnen 32, darunter 2 mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse, 23 mit dem Eisernen Kreuz 2. Klasse. Auch im Kreise der Beamtenschaft sind einige Veränderungen zu nennen. Der Königliche Rentmeister für die Universität, Kommissionsrat Illgen, ein überaus pflichttreuer und wohlwollender Verwalter seines Amtes, starb am 7. Mai 1915; an seine Stelle trat am 1. Oktober der Kommissionsrat Pickert aus Dresden. Der Pedell Robert Foerster, der der Universität so manches Jahr seine Dienste gewidmet hat, geht mit dem heutigen Tage in den wohlverdienten Ruhestand. Im Ganzen stehn 91 Angestellte der Universität im Felde und außerdem noch 56 im Heere; von diesen sind 46 ausgezeichnet worden, darunter 36 mit dem Eisernen Kreuz 2. Klasse. Auf dem Papier zählt unsre Universität augenblicklich 4291 Studierende und Hörer. Von diesen stehn 1718 im Felde und außerdem 1285 im Heere. Dem Roten Kreuz gehören 46 Studierende an. Ausgezeichnet sind 344 worden, darunter einer mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse, 256 mit dem Eisernen Kreuz 2. Klasse. Es ist anzuerkennen, daß die zu Hause Gebliebenen sich angemessen betragen haben; Karzerstrafen brauchten nicht verhängt zu werden. Nur mußte leider das 1100

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Plenum des Universitätsgerichts einmal zusammentreten und in einem Falle auf consilium abeundi, in einem andern Fall auf Unterschrift des consilium abeundi erkennen. Gestorben sind im abgelaufenen Jahr 11 Studierende, darunter bedauerlicherweise wiederum 3 durch Selbstmord. An Ehrenpromotionen wurden bei der Theologischen Fakultät drei, bei der Philosophischen eine vollzogen. Außerdem fanden bei der Theologischen Fakultät 2 Promotionen, bei der Juristischen 75, bei der Medizinischen 40 zum Dr. medicinae, 3 zum Dr. medicinae veterinariae, bei der Philosophischen 108 Promotionen statt. In der Universitätsbibliothek machte sich die Kriegszeit stark fühlbar, nicht nur dadurch, daß fünf Herren des Personals, vier Aufwärter und ein Heizer ins Heer einberufen wurden, sondern auch dadurch, daß die Benutzung bei der geringen Zahl von Studierenden stark zurückging und daher an Leihgebühren ein Ausfall von etwa 18 000 Mark entstand. Da die meisten fremdsprachlichen Bücher und Zeitschriften unerreichbar waren, so wurden hierdurch ansehnliche Mittel für den Ankauf antiquarischer Werke frei. Manches ist im vergangenen Jahr zur Ausschmückung der Universität geschehn: die Büste des ehemaligen Professors Dr. Leuckart wurde aufgestellt; der Sockel des Standbildes Sr. Majestät wurde mit einer Inschrift versehn; in der Wandelhalle erzählt jetzt eine große Tafel von der Jubelfeier des Jahres 1909; und manche Altertümer, die die Universität besitzt, wurden in Pflege genommen. Immer wieder offenbart sich bei solchen Konservierungsarbeiten, wie manche wertvolle, historisch und künstlerisch ansehnliche Gegenstände die Universität ihr Eigen nennt. Und es ist sehr zu wünschen, daß, wenn nach Jahren das Bornerianum erneuert wird, man dort auch ein Universitätsmuseum einrichtet, wo dann viele kostbare Besitztümer aus langer Verborgenheit ans Licht treten können. Mit Schenkungen wurde die Universität reich bedacht, und dankbar trägt sie alle die freigebigen Spender in ihre Annalen ein. Die Rudolf Hofmann-Stiftung wurde durch den Stifter selbst anläßlich seines neunzigsten Geburtstages (3. Januar 1915) vom 1. April 1915 ab um ein Kapital von 2000 Mark vergrößert. Im Archäologischen Institut gelangten bei der Neuordnung der Sammlungen bedeutende Geschenke an Gipsabgüssen zur Aufstellung, wofür die Mittel, im Betrage von 13 200 Mark, schon im Vorjahr gestiftet worden waren. Sie kamen von alten und neuen Gönnern der Anstalt: dem Herrn Fritz Baedeker, den Professoren Beer und Biermann, den Doktoren Alfred Giesecke und Fritz von Harck, den Herren Edgar und Paul Herfurth, den Doktoren Georg Hirzel und Fritz Pringsheim, den Herren Quelle und Meyer und Arthur Seemann, endlich von drei alten Schülern des Direktors, den Doktoren Walter Müller in Dresden und Hans Nachod in Leipzig, sowie dem Direktor bei den Königlichen Museen in Berlin Dr. Theodor Wiegand. Dazu stiftete ein Gönner in Leipzig, der ungenannt bleiben will, zur Ausfüllung von Lücken der Sammlung, besonders der Bücherei, die Summe von 30 000 Mark. Den Bestand an antiken Originalen vermehrte die königliche Skulpturensammlung in Dresden durch einige wertvolle Tongefäße, Dubletten aus der ihr von Herrn 1101

Albert Köster

Geh. Hofrat Dr. Ernst von Sieglin in Stuttgart geschenkten griechisch-ägyptischen Sammlung Herold aus Alexandrien. Der am 8. Oktober 1914 als k. k. Leutnant der Landwehr auf dem östlichen Kriegsschauplatz gefallene Dr. phil. Ernst Klauber aus Wien, Privatdozent für Assyriologie an der Universität Göttingen, hat letztwillig der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig, an der er s. Zt. promoviert worden war, die Summe von 30 000 Kronen vermacht mit der Bestimmung, daß die Erträgnisse des Kapitals ausschließlich für Zwecke der assyriologischen Abteilung des Semitistischen Instituts Verwendung finden sollen. Das Vermächtnis führt den Namen Ernst KlauberStiftung. Ein rührendes Erbe hat das Germanistische Institut angetreten, als ihm aus dem Nachlaß des am 8. Nov. 1914 bei Warneton gefallenen Studenten Karl Brügmann eine große Menge von handschriftlichen Volksliedertexten überwiesen wurde, die der Verstorbene und seine Freunde zum größten Teil in Westfalen aus dem Volksmund gesammelt hatten und die sein liebevoll gehegtes Studienmaterial gewesen waren. Dem Physikalischen Institut wurde von den Erben des Physikers Dr. Victor Schumann eine wertvolle Stiftung gemacht, bestehend aus einer Anzahl von größeren und wichtigen Apparaten für Spektraluntersuchungen, insbesondre auf dem von ihm mit bahnbrechendem Erfolg gepflegten Gebiete der ultravioletten Strahlen. Dem Geologisch-palaeontologischen Institut endlich hat Herr Professor Dr. Johannes Felix seine reiche prähistorische Sammlung und eine Anzahl wertvoller Bücher, sowie zahlreiche Sonderabdrücke zum Geschenk gemacht. Über die Preisaufgaben ist wenig zu sagen. Nur in der Philosophischen Fakultät, und auch hier nur für die dritte der vor zwei Jahren gestellten und im letzten Jahre wiederholten Aufgaben ist eine Bearbeitung eingegangen. Das Thema lautete: „Beiträge zur Kenntnis des Verhaltens von Bakterien gegenüber dem Gewebe der Pflanzen“; die Arbeit, die das Kennwort „Immer strebe zum Ganzen, und kannst du selber kein Ganzes Werden, als dienendes Glied schließ’ an ein Ganzes dich an“ trug, erhielt den ersten Preis. Ihr Verfasser ist der stud. rer. nat. Erich Ernst Berthold aus Bodenbach in Böhmen. Für das Jahr 1915/16 stellt keine Fakultät eine Preisaufgabe. Und nun zu meiner letzten Amtshandlung, der Übergabe des Rektorates an meinen erwählten und bestätigten Nachfolger, Herrn Dr. Adolf von Strümpell. Ich bitte Sie, Herr Kollege, heranzutreten und den Eid zu leisten, dessen Formel ich Ihnen vorspreche: „Sie schwören bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, daß Sie die Verfassung und die Gesetze der Universität treu und gewissenhaft beobachten und die Pflichten des Ihnen anvertrauten Amtes als Rektor der Universität nach bestem Wissen und Gewissen redlich erfüllen wollen.“ Somit verkündige ich Sie, Herrn Dr. Adolf von Strümpell, als Rektor der Universität Leipzig für das Studienjahr 1915/16. Ich übergebe Ihnen den Hut und den Mantel als Zeichen Ihrer Würde, die Kette, mit welcher Königliche Huld den Leipziger Rektor geschmückt hat, das Siegel der Universität, damit Sie deren Willen 1102

Jahresbericht 1914/15

rechtlich beglaubigen, die Statuten, die Ihrer Hut anvertraut sind, und den Schlüssel als das Zeichen, daß Sie in diesem Hause Herr sind. Ich begrüße Sie, Magnifizenz. Möchte Ihr Amtsjahr heller, heiterer, glücklicher sein als das Ihres Vorgängers! Möchte es vor Allem unserm Vaterland ein Jahr des Segens sein! ***

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Adolf von Strümpell (1853–1925)

31. Oktober 1915. Rede des antretenden Rektors Dr. Adolf von Strümpell. Die Entwicklung der Sprache und die aphatischen Sprachstörungen. Hochansehnliche Versammlung! Kollegen! Kommilitonen! Dem neuen Rektor, der sein Amt in herkömmlicher Weise mit einer Rede anzutreten hat, mag es wohl nicht leicht fallen, in dieser ereignisreichen und schicksalsschweren Zeit die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer für eine wissenschaftliche Betrachtung zu gewinnen. Denn kleinlich und unnütz dünkt uns Daheimgebliebenen all unser Tun und Treiben, wenn wir an die Leiden und Kämpfe derer da draußen im Felde denken, die uns nicht nur Herd und Heimat schützen, sondern mit am Werke sind, eine neue Periode der Weltgeschichte zu gestalten. Aber dennoch, wenn wir nach den Quellen jener gewaltigen Kraftentfaltung in dem großen Völkerringen forschen, so finden wir, daß auch die stille Arbeit in unseren Laboratorien und Studierstuben nicht ganz unbeteiligt ist an den Erfolgen, die unser Volksheer auf den blutigen Kampfstätten des Ostens und Westens errungen hat. Denn nicht die rohe Gewalt der Massen verbürgt in den Kriegen der Jetztzeit den Sieg. Alle Hilfsmittel der Technik und alle Errungenschaften der Wissenschaft müssen herangezogen werden, um jene großartige umfassende Organisation zu gestalten, die das um seine nationale Stellung kämpfende Volk in seiner Gesamtheit darstellt. Und ferner – wir alle wissen, daß die materiellen Kräfte tot oder wirkungslos sind, wenn sie nicht von einem klaren zielbewußten Wollen geleitet werden, und ebenso, daß menschliche Kraft nur dann an Energie und Ausdauer ihren Höhepunkt erreicht, wenn sie von geistigen Ideen erweckt und getragen wird. Darum, denke ich, können auch wir deutschen Professoren uns einen Posten zugute anrechnen lassen in der großen Schlußrechnung dieses Krieges, die, falls nicht alle Zeichen trügen, zugunsten unseres Volkes ausfallen wird. Denn wir haben mitgearbeitet an den verwendbaren Fortschritten der Wissenschaft und Technik und wir haben uns bemüht, in unseren Studenten und weiter in unserem Volke den Geist der Treue, der Pflichterfüllung, der Beharrlichkeit und Wahrheitsliebe zu erwecken, ohne den keine Arbeit ihres Erfolges sicher ist. So nehmen auch wir älteren Professoren, die wir nicht mehr ins 1105

Adolf von Strümpell

Feld hinausziehen können, an dem Kriege teil. Nicht Säbel und Gewehr, wohl aber Gedanke, Rede und Schrift sind die Waffen, mit denen wir in dem großen Kampfe mitzuwirken bestrebt sind. Und darum mag eine wissenschaftliche Betrachtung der Sprache und Schrift vielleicht kein ganz unpassender Gegenstand für eine KriegsRektoratsrede sein. Sie werden vielleicht erstaunt sein, daß gerade ich als Mediziner mir Sprache und Schrift zum Gegenstande einer Erörterung gewählt habe. Dies erklärt sich aber, wenn Sie bedenken, daß Sprechen und Schreiben verwickelte Tätigkeiten unseres Gehirns sind. Will man einen genaueren Einblick in den inneren Betrieb eines komplizierten unbekannten Apparates gewinnen, so muß man ihn auseinander nehmen, in seine Bestandteile zerlegen und hierdurch die Bedeutung jedes einzelnen Teiles für die Leistung des Ganzen zu erkennen suchen. Auch Sprache und Schrift sind Leistungen eines höchst zusammengesetzten Mechanismus. Wir haben uns an diese Leistungen so gewöhnt, daß wir sie in der Regel an uns selbst und an Anderen als etwas Fertiges und Selbstverständliches hinnehmen, ohne an ihre Entstehung und an die ihnen zu Grunde liegenden inneren Vorgänge zu denken. Da kommt nun die Krankheit und schädigt jenen wunderbaren Apparat, der unsere Sprechtätigkeit ermöglicht. Meist hört damit nicht jede sprachliche oder schriftliche Äußerung vollständig auf, aber der geordnete anhaltende Betrieb der Sprache wird unmöglich. Jetzt sehen wir den zusammengesetzten Apparat zerfallen. Einzelne Teile arbeiten noch, andere aber versagen und fügen sich nicht mehr richtig ineinander, notwendige Verbindungen fehlen, neue ungehörige Übertragungen kommen zustande. Mit teilnehmender Wehmut sieht das Mitleid dieses Wunderwerk der Natur zerstört, aber die Wissenschaft zieht auch aus der Not ihren Nutzen und sucht aus den Trümmern des zerstörten Apparats die Bedeutung seiner einzelnen Teile zu erkennen. So ist das genaue wissenschaftliche Studium der bei den Gehirnerkrankungen nicht selten auftretenden eigentümlichen Sprachstörungen – der sogenannten aphatischen Symptome – zu einer wichtigen und m. E. noch keineswegs völlig ausgeschöpften Quelle geworden für die Erkenntnis nicht nur der rein sprachlichen, sondern auch der geistigen Vorgänge, die zu der Sprache in engster Beziehung stehen. Wollen wir aber die krankhaften Störungen der Sprache einer genauen Analyse unterwerfen, so müssen wir unbedingt dabei von den Vorgängen des normalen ungehemmten Sprechens ausgehen. Bezeichnete ich vorhin als den einen Weg zur Erforschung eines komplizierten Mechanismus dessen Zerlegung in seine einzelnen Teile, so ist ein anderer verheißungsvoller Weg hierzu die Verfolgung seiner Entstehung, die Beobachtung seiner Entwicklung aus den einfachsten Anfängen zur vollen Ausgestaltung. Daher wollen auch wir versuchen, einen Einblick in den verwickelten Betrieb der Sprache dadurch zu gewinnen, daß wir ihrer Entstehung und ihrer allmählichen weiteren Fortbildung nachgehen. Zwei verschiedene, wenn auch innerlich verwandte Aufgaben bieten sich uns dabei dar. Wir könnten einmal versuchen, dem Ursprunge der Sprache in der großen allgemeinen Entwicklungsreihe der Organismen nachzuforschen, könnten die ersten keimenden Anfänge sprachlicher Äußerungen bei den Tieren aufsuchen, könnten dann weiter eine Anschauung von der Entstehung der einfachsten Ursprachen zu 1106

Antrittsrede 1915

gewinnen suchen und deren weitere Entwicklung zu den umfassenden Sprachen der Jetztzeit verfolgen. Diese Aufgabe, so verlockend sie auch dem Naturforscher erscheint, wollen wir aber hier beiseite lassen. Wir wenden uns vielmehr der zweiten einfacheren Aufgabe zu, der Verfolgung der sich bildenden Sprachvorgänge beim Kinde im Zusammenhange mit seiner allgemeinen körperlichen und geistigen Entwicklung. Beide Aufgaben haben, wie schon erwähnt, vielfach innere Beziehungen zu einander. Denn das große allgemeine Grundgesetz, wonach die individuelle ontogenetische Entwicklung in vieler Hinsicht eine zusammengedrängte Wiederholung der allgemeinen generellen phylogenetischen Entwicklung ist, hat nicht nur in der morphologischen Gestaltung der Organe, sondern ebenso in der physiologischen Entwicklung der Funktionen seine Geltung. So lassen sich in den wirksamen Faktoren der individuellen Sprachentwicklung zum Teil gewiß dieselben Einflüsse nachweisen, die einst bei der ersten Entstehung sprachlicher Äußerungen überhaupt zur Geltung kamen. Allein der große Unterschied in der primär generellen und der jetzigen individuellen Sprachentwicklung liegt darin, daß das neugeborene sprachlose Kind jetzt unmittelbar in eine bereits sprechende Umgebung versetzt ist und daß ihm der gesamte von unzähligen Generationen bereits angesammelte Sprachschatz entgegengetragen wird. Aber wenn irgendwo, so gilt hier der Satz, daß man das, was man ererbt, erst neu erwerben muß, um es als frei verfügbares Gut nicht nur zu besitzen, sondern auch entsprechend verwerten zu können. Herodot erzählt, der alte ägyptische König Psammetich habe das Problem über die Entstehung und Art der ersten Ursprache dadurch lösen zu können geglaubt, daß auf seinen Befehl zwei neugeborene Knaben von allen anderen Menschen völlig abgeschlossen, ohne je ein gesprochenes Wort zu hören, aufwachsen sollten. Psammetich glaubte, die Kinder würden nun von selbst in der ältesten Ursprache zu reden anfangen. Dies Experiment ist an sich nicht uninteressant und für einen alten Ägypter nicht schlecht erdacht. Zu dem gewünschten Ergebnis hat es aber natürlich nicht führen können. Denn die erste Sprachentwicklung war selbstverständlich nicht der Erwerb einiger weniger gleichzeitiger Individuen, sondern schon das Ergebnis der in zahllosen Generationen wirksam gewesenen sprachbildenden Vorgänge. Diesen langsamen Prozeß der ursprünglichen Sprachbildung, der sich aller Wahrscheinlichkeit nach an verschiedenen Orten in gleichartiger, aber keineswegs identischer Weise abgespielt hat, macht nun gegenwärtig das neugeborene, in einer bereits sprechenden Umgebung heranwachsende Kind, unter unendlich viel günstigeren Bedingungen in kürzester Zeit noch einmal durch. Mit seinen zur Aufnahme fertigen Sinnesorganen und Nervenapparaten tritt das neugeborene Kind in das chaotische Gewirr der äußeren Sinnesreize ein. Hat es auch schon vor der Geburt eine vielleicht nicht ganz belanglose Menge von Berührungs- und Druckreizen, und daneben vielleicht auch schon die ersten von fern kommenden leisen akustischen Reize erfahren, so strömen ihm doch erst jetzt die Sinnesreize in unermeßlicher Fülle und Mannigfaltigkeit zu. Vor Allem ist es die unendliche Welt des Lichts, die sich mit einem Male neu vor dem Kinde auftut. Aber alle diese Tausende von Reizen und die ihnen folgenden dämmernden Empfindungen bilden zunächst ein zusammenhangloses Gewirr. Erst allmählich tritt eine 1107

Adolf von Strümpell

gewisse Ordnung ein, die Sinneseindrücke gruppieren sich, fügen sich zu gewissen Verbänden zusammen. Das in der äußeren Welt zusammengehörige findet sich auch in der inneren Welt, die das Kind sich aufbaut, wieder zusammen. Und nun geht gleichzeitig mit dieser Ordnung und Gruppierung der Sinneseindrücke eine diese stets begleitende Reihe besonderer akustischer Eindrücke einher, die in regelmäßiger, stets wiederkehrender gleichartiger Weise immer mit denselben oder wenigstens mit ähnlichen Eindrücken zeitlich verbunden sind. Nehmen wir an, das Kind hat als erstes Spielzeug einen kleinen Gummihund bekommen. Das Kind betastet seine Umrisse, es sieht seine Gestalt und lernt alle diese Eindrücke allmählich unterscheiden. Später sieht es eine ähnliche Gestalt in seinem Bilderbuch und sieht auch einen wirklichen Hund, hört ihn bellen, befühlt sein wolliges Fell. Und immer wieder bei jedem dieser durch ihre stets wiederkehrende Gleichzeitigkeit als innerlich zusammenhängend erkannten Eindrücke, aber auch nur bei diesen, hat das Kind außerdem daneben immer noch einen und denselben akustischen Eindruck, es hört zugleich immer wieder denselben Laut – das gesprochene Wort „Hund“ oder vielleicht zunächst das bekannte Kinderwort „wau-wau“. Die fast allgemein übliche Wahl dieses und zahlreicher ähnlicher Worte der Kindersprache erleichtert dem Kinde offenbar wesentlich das Verständnis und das Einprägen des inneren Zusammenhanges zwischen dem gehörten Sprachlaut und den übrigen ursprünglichen Sinneseindrücken. Denn in der onomatopoëtischen Nachahmung gewisser von dem wirklichen Objekte (dem bellenden Hunde) kommenden Empfindungen durch den akustischen Sprachreiz ist zweifellos ein wirksames Mittel zur leichten und innigen Verknüpfung der Objekt-Eindrücke mit den hinzugehörigen Wort-Eindrücken gegeben. Sicher hat die onomatopoëtische Wortbildung bei der ursprünglichen Entstehung der Sprache dieselbe große Bedeutung gehabt, wie noch jetzt in der sich individuell neu bildenden Kindersprache. Erst mit der zunehmenden Einsicht von der meist relativ belanglosen Bedeutung der akustischen Objektreize gegenüber den zahlreichen anderen weit wichtigeren Objektwirkungen tritt die Onomatopoëse in der allgemeinen Sprachentwicklung ebenso wie in der Kindersprache allmählich immer mehr in den Hintergrund. So sehen wir also, wie das zugehörige Wort allenthalben zum Sammelpunkt und Brennpunkt aller einzelnen, von einem und demselben Objekt ausgehenden Sinneseindrücke wird. Durch die unzählige Male sich immer wiederholende Verknüpfung desselben Wortlauts mit all den verschiedenen, aber doch durch die Einheit des Objektes untereinander verbundenen Sinnesempfindungen bildet sich allmählich jenes feste und innige Band zwischen all den Objekten der Außenwelt und den ihnen zugehörigen Wortbezeichnungen. Alles, was das Kind allmählich von den Eigenschaften und Äußerungen des einzelnen Objektes kennen lernt, verknüpft sich immer wieder mit demselben Klange, der als gesprochenes Wort stets in gleicher Weise an sein Ohr tönt. Und so hilft der identische Wortklang dem Kinde, die Menge der Objekte zu gruppieren, das Zusammengehörige und Gleichartige als solches zu erkennen. Aus den Anfängen einzelner zuerst verstandener und im Gedächtnis behaltener Worte bildet sich allmählich der gesamte, immer reicher werdende Sprachschatz des Kindes. Eine leichte Überlegung, deren nähere Ausführung mich hier zu 1108

Antrittsrede 1915

weit führen würde, zeigt uns, wie sich zunächst wohl nur die konkreten Hauptwörter, dann gewisse konkrete Eigenschaftswörter, dann die aktiven Zeitwörter (Tätigkeitswörter), endlich die Zahlwörter und allmählich in immer reicherer Entfaltung die Fürwörter, Umstandswörter und endlich die abstrakten Wortbezeichnungen in dem Bewußtsein des sich geistig immer mehr entwickelnden Kindes festsetzen. Je reicher sich das geistige Innenleben entfaltet, um so größer ist die Fülle der Worte, die dem geistigen Besitz erst seinen festen und gesicherten Bestand gewährt. Wir wissen, wie klein der Wortvorrat der unkultivierten Naturvölker und der ungebildeten Menschen ist im Gegensatz zu der überreichen Fülle der Worte, die ein Goethe und Shakespeare nötig hatten, um den Reichtum ihrer Gedankenwelt zum Ausdruck zu bringen. Immer ist aber das Wort die feste Ummauerung für die einheitliche Zusammenfassung der zusammengehörigen Einzelempfindungen. Erst mit Hilfe des Wortes können sich aus den Empfindungen und Wahrnehmungen die Begriffe bilden. Erst durch die stets wiederkehrende Lautwahrnehmung desselben Wortes „Hund“ lernt das Kind, daß es große und kleine, schwarze und braune Hunde gibt. Mit anderen Worten, in ihm bildet sich der Begriff „Hund“, der alle diese verschiedenen Einzelwahrnehmungen zu einer höheren Einheit zusammenfaßt. Man hat oft die Frage aufgeworfen, ob ein Denken auch ohne inneres Sprechen möglich ist. Die Antwort ist nicht schwer. Gewiß finden zahllose unbewußte geistige Vorgänge statt ohne das gleichzeitige Auftauchen von Wortvorstellungen. Aber sobald das Denken sich zur klaren Begriffsbildung und Urteilsfällung verdichtet, bedarf es der festen Stütze und Sicherung durch das Wort. Erst mit der Bildung der Sprache konnte sich menschliches Geistesleben über das, wenn auch unzweifelhaft wesensgleiche, aber unendlich ärmlichere und unentwickeltere Geistesleben der Tiere erheben. Je reicher unser Wissen und unsere Erfahrung werden, um so reicher wird auch der zusammengefaßte begriffliche Inhalt der einzelnen Worte. Welch enormer Unterschied der geistigen Beziehungen, wenn ein Kind oder wenn ein Zoologe das Wort „Hund“ denkt oder ausspricht. Die Entwicklung der Sprachvorgänge beim Kinde führt zunächst nur zur festen Verknüpfung bestimmter gehörter Sprachlaute mit bestimmten Objekten oder Vorgängen der Außenwelt. Mit anderen Worten: die Anfänge des Sprachverständnisses treten wohl ausnahmslos früher ein, als die eigenen sprachlichen Äußerungen. Jede Mutter weiß, daß ein Kind, wie man zu sagen pflegt, oft schon »alles versteht«, ehe es selbst noch ein einziges eigenes Wort hervorbringt. Freilich ist das Sprachverständnis zunächst nur eine rein äußerliche Verknüpfung zwischen den gehörten Worten und den hinzugehörigen Gesichts- oder sonstigen Wahrnehmungen. So zeigte z. B. eins meiner eigenen Kinder als eins seiner ersten Kunststückchen auf die Frage »wo ist das Stethoskop« stets sofort richtig auf das auf meinem Schreibtisch stehende ärztliche Hörrohr hin, ohne natürlich eine Ahnung von der Bedeutung des Instruments zu haben. Erst allmählich im Laufe der weiteren Entwicklung des Kindes füllen sich die einzelnen Worte mit ihrem geistigen Inhalt. Neben dem allmählich sich ausbildenden Sprachverständnis tritt nun aber eine weitere ganz andersartige Gruppe von Vorgängen im kindlichen Organismus ein, durch deren Ausbildung die sprachlichen Leistungen erst zu dem werden, was der 1109

Adolf von Strümpell

Sprache ihren vollen Wert verleiht, zu dem geistigen Bande, das die Menschen miteinander verbindet und ihr geistiges Zusammenarbeiten ermöglicht. Sagte ich vorhin, daß beim Kinde unzweifelhaft das Sprachverständnis dem eigenen Sprechen zeitlich vorhergeht, so bezieht sich dies doch nur auf die fertig entwickelte Wortsprache. Betrachten wir die Frage von einem allgemeineren Gesichtspunkte aus, so zeigt sich auch hier deutlich die Übereinstimmung der individuellen Entwicklung mit dem Gange der ursprünglichen allgemeinen Sprachbildung. Denn sicher muß bei der ursprünglichen Entstehung sprachlicher Vorgänge die Sprachbildung dem Sprachverständnis vorhergegangen sein, da ja das Sprachverständnis selbstverständlich das vorherige Vorhandensein eines Sprachlautes voraussetzt. Dementsprechend finden wir auch beim Kinde genau ebenso die ersten lautlichen Äußerungen überhaupt dem Lautverständnis lange vorhergehen. Sie entstehen in denselben Organen, die später zum ausgebildeten Sprechen verwandt werden, und zwar als Wirkungen bestimmter reflektorischer Vorgänge in den Muskeln des Kehlkopfes und Mundes, sei es infolge störender äußerer Reize, sei es infolge allgemeiner körperlicher Lustoder Unlustgefühle. Vom Standpunkt der Entwicklungsgeschichte aus betrachtet sind alle diese ersten lautlichen Äußerungen des Kindes schon die Anfänge der Sprachbildung, sowohl das Schreien des Kindes, als auch die ersten leisen, für jede Mutter so beseligenden Kinderlaute. Zeigt doch das Schreien der Mutter an, daß das Kind sich nicht wohl fühlt, während die leisen ersten Stimmübungen ein sicheres Zeichen für ein gesundes und behagliches Allgemeingefühl sind. Aus diesen ersten Betätigungen der Lautbildung entwickeln sich allmählich die immer erfolgreicher werdenden Versuche zur Nachahmung der gehörten Sprachlaute. Auf zahlreiche hierbei in Betracht kommende Einzelheiten kann ich nicht eingehen. Aber alle gebildeten Eltern, die das Glück haben, die erste Sprachentwicklung bei einem gesunden Kinde verfolgen zu können, möchte ich dringend dazu auffordern, die Sprachfortschritte ihres Kindes nicht nur unter dem Gesichtspunkte der freudigen Bewunderung für dessen besondere Fähigkeiten, sondern als einen der merkwürdigsten und bedeutungsvollsten Vorgänge in der belebten Natur aufmerksam zu beobachten. Der physiologische Vorgang der beim Sprechen notwendigen komplizierten Lautbildung beruht auf einem genau abgestuften und geordneten Zusammenwirken einer großen Anzahl von Muskeln des Kehlkopfes, des Gaumens, der Zunge und von Muskeln in der Umgebung der Mundhöhle. Man kann sich mithin vorstellen, ein wie ungemein zusammengesetztes, feines und mannigfaltig abgestuftes und veränderliches Muskelspiel beim Sprechen notwendig ist. Auf welche Weise lernt nun das Kind, seine Sprechmuskeln in dieser schwierigen Weise zu gebrauchen? Die Physiologie lehrt uns, daß jede geregelte zusammengesetzte Muskeltätigkeit nur mit Hilfe einer ununterbrochenen Führung und Regelung durch sensible, den Muskeln zugeführte Eindrücke möglich ist. Wie die dressierten Pferde eines Wagens beständig durch die von den Zügeln ihnen übermittelten sensiblen Reize gelenkt werden, genau ebenso werden auch unsere Muskeln unausgesetzt bei allen gewollten Zweckbewegungen durch die ihnen zufließenden sensiblen Eindrücke beherrscht und geleitet. Bei den gewöhnlichen Bewegungen des Körpers, der Arme und der Beine gehen diese regulierenden Empfindungen der Hauptsache nach von den 1110

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Muskeln selbst aus. Ein Mensch, der sein Muskelgefühl verloren hat, kann nicht mehr sicher stehen, gehen, greifen usw. Welche sensiblen Eindrücke beherrschen nun aber die notwendige, offenbar so ungemein fein abgestufte Koordination der zahlreichen zum Sprechen notwendigen Muskeln. Hierbei spielen die Muskelempfindungen jedenfalls eine nur geringe Rolle. Vielmehr übernehmen sicher die akustischen Lautempfindungen die Regulation der Sprechbewegungen. Das Kind hört die von ihm selbst hervorgebrachten Laute, vergleicht sie, wenn auch zunächst halb unbewußt, mit den ihm entgegentönenden fertigen Sprachlauten seiner Umgebung und lernt so durch die Verwertung akustischer Eindrücke seine eigene motorische Sprachbildung den gehörten fremden Sprachlauten immer ähnlicher zu gestalten. Bei der Sprecherlernung geht also ein beständiger Strom akustischer Eindrücke von dem sensorischen Gehörapparat zu den motorischen Zentren der Sprechmuskeln. Vom Gehörapparat geht der erste Antrieb und alle weitere Entwicklung der eigentlichen Sprachbildung aus. Fehlt dieser Antrieb, wie es beim taub geborenen Kinde der Fall ist, so bleibt das Kind trotz aller normal vorhandenen Sprachmuskeln sprachlos oder, wie man es richtig auszudrücken pflegt, taubstumm. Erst durch die einheitliche akustische Gestaltung der Sprachlaute erfolgt die notwendige Übereinstimmung der Sprachbildung bei allen zusammenlebenden Menschen. Mit dem schönen und inhaltreichen Worte „Muttersprache“ stattet die Sprache unserer aller Dank an diejenigen ab, die uns diesen unermeßlichen Schatz in unserer Kindheit zu dauerndem Besitz zugeführt haben. Und daß die Sprache auch das festeste Band ist, das die Glieder eines Volkes zusammenhält, beweist die Antwort, welche auf die Frage nach den Grenzen des deutschen Vaterlandes gegeben wurde: „Soweit die deutsche Zunge klingt“. Nachdem wir im Vorhergehenden den Gang der Sprachentwicklung beim Kinde wenigstens in seinen Grundzügen verfolgt und damit einen vorläufigen Einblick in das Wesen der Sprache gewonnen haben, wenden wir uns nunmehr der Frage zu, an welchem Orte in unserem Gehirn die besprochenen Vorgänge des Sprachverständnisses und der eigenen lautlichen Sprachbildung stattfinden. Damit betreten wir nun dasjenige Gebiet der Sprachlehre, auf dem gerade die Pathologie die grundlegenden und entscheidenden Entdeckungen gemacht hat. In Wilhelm Meisters Lehrjahren im 6. Kapitel des 7. Buches läßt Goethe die Therese in ihrer Geschichte eines deutschen Mädchens von ihrem Vater erzählen: „ganz unvermutet wurde mein Vater von einem Schlagflusse befallen, der ihm die rechte Seite lähmte und den reinen Gebrauch der Sprache benahm. Man mußte alles erraten, was er verlangte, denn er brachte nie das Wort hervor, das er im Sinne hatte.“ An dieser etwa im Jahre 1796 geschriebenen Stelle ist nicht nur die kurze, treffende Beschreibung des jetzt allgemein mit dem Namen der Aphasie (Sprachlosigkeit) bezeichneten Krankheitssymptoms bemerkenswert, sondern vor Allem der Umstand, daß Goethe hier ausdrücklich die Vereinigung des Sprachverlustes mit einer Lähmung der rechten Körperhälfte hervorhebt. Die Stelle zeigt wiederum, welch genauer Beobachter Goethe war. Denn was Goethe hier in einem besonderen Falle beschrieben hatte, wurde erst 40 Jahre später als gesetzmäßiges Vorkommen erkannt, daß nämlich nur Krankheitsherde in der linken Gehirnhälfte, die also meist gleichzeitig zu 1111

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einer Lähmung der rechten Körperhälfte führen, mit aphatischen Sprachstörungen verbunden sein können. Und im Jahre 1862 trat der berühmte französische Arzt und Anthropologe Paul Broca mit der durch zahlreiche Krankenbeobachtungen und Sektionsbefunde gestützten Behauptung hervor, der Sitz der Sprachvorgänge im Gehirn, also das sogenannte Sprachzentrum, sei in der linken dritten Stirnwindung gelegen. Diese vermeintliche Entdeckung Brocas machte allgemein das größte Aufsehen. Bedeutete sie doch in der Tat den ersten Schritt in der später so erfolgreich weiter ausgebauten Lehre von den Lokalisationen im Gehirn d. h. von der Gebundenheit bestimmter Gehirnfunktionen an bestimmte anatomische Gehirnteile. Heute wissen wir, daß die sog. Brocasche Stelle im Gehirn d. h. das hintere Ende der dritten linken Stirnwindung den Namen eines Sprachzentrums nur in beschränktem Sinne verdient. Sie ist nämlich nur der Ausgangspunkt für den Hauptteil der beim rein lautlichen Sprechakt notwendigen motorischen Innervationen der Zunge, der Lippen usw. Sie ist also das allerdings sehr geschickt ausführende Organ, aber keineswegs die leitende Stelle, von der die eigentlichen Sprachbefehle ausgehen. Das große Verdienst, den Ort des eigentlichen sog. Sprachzentrums im Gehirn erkannt zu haben, d. h. den Ort, in dem die lautlichen Sprachwahrnehmungen des Kindes entstehen und als sog. Sprach-Erinnerungsbilder aufbewahrt werden, um von sich aus die Anregung zur entsprechenden eigenen lautlichen Sprachbildung zu geben – dieses Verdienst gebührt einem deutschen Forscher, dem erst vor wenigen Jahren gestorbenen Breslauer Neurologen Carl Wernicke. Wernicke zeigte zuerst auf Grund eingehender Krankenbeobachtungen und genauer Sektionsbefunde, daß das eigentliche sensorische Sprachzentrum d. h., wie man sich kurz auszudrücken pflegt, der Sitz der Sprachvorstellungen im oberen Abschnitte des linken Schläfenlappens, in der sog. obersten oder ersten linken Schläfenwindung gelegen ist. Wird diese Stelle im Gehirn durch irgendeinen Krankheitsherd zerstört, so haben die Kranken die Erinnerung an ihren gesamten oder wenigstens an einen mehr oder weniger großen Teil ihres Wortschatzes verloren. Sie können sich der Sprache nicht mehr bedienen, um ihren Gedanken Ausdruck zu verleihen, aber sie können auch nicht mehr oder wenigstens nur beschränkt mit inneren Worten denken. Für einen gesunden Menschen ist es nicht leicht, sich vollkommen in das Bewußtsein eines Aphatischen hinein zu versetzen. Am verständlichsten wird der Zustand für uns wohl dadurch, daß wir uns vorstellen, der Aphatische befinde sich in seiner gewohnten Umgebung in derselben hilflosen Lage, wie etwa ein Reisender unter einem fremden Volke, von dessen Sprache er garnichts oder nur sehr wenig versteht. Er hört die fremdartigen Laute an sein Ohr klingen, hat aber keine Ahnung von deren Bedeutung und ebensowenig kann er sich seiner fremden Umgebung verständlich machen, weil er für das, was er sagen will, die hinzugehörigen Worte nicht kennt. Der aphatische Kranke, dessen linker Schläfenlappen erkrankt ist, hört ebenso alle die ihm früher so vertrauten Laute seiner Muttersprache. Aber er versteht sie nicht mehr, sie finden keine Anknüpfung mehr an das früher Erworbene und Erlernte. Sie klingen ihm ins Ohr wie die Laute eines fremden unbekannten Volkes. Und für seine eigenen Gedanken und Wünsche kann er ebenso wenig in seiner Muttersprache den sprachlichen Ausdruck finden, wie der Reisende unter 1112

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fremdem Volk, dem er sich nicht verständlich machen kann, weil er dessen Sprache nicht kennt. Viel schwerer als das Verständnis für die Sprachbeschränkung des Aphatischen ist der Versuch, sich in das innere Bewußtsein eines Aphatischen hineinzudenken. Sind wir alle doch gewohnt, den inneren Verlauf der Vorstellungen zum größten Teil mit den hinzugehörigen Sprachvorstellungen zu begleiten und habe ich doch vorhin selbst hervorgehoben, daß ein klares begriffliches Denken erst durch die festen allseitigen Stützpunkte der inneren Sprachvorstellungen möglich wird. Wollen wir uns nun in das Bewußtsein eines Aphatischen versetzen, der die SprachErinnerungsvorstellungen verloren hat, während ihm sein übriger geistiger Besitz an optischen, taktilen und sonstigen direkten und abgeleiteten Vorstellungen geblieben ist, so können wir uns diesen Zustand am ehesten dadurch klar machen, daß wir an unseren eigenen oft recht unbequemen Zustand denken, wenn uns einmal vorübergehend „ein Wort fehlt“, wenn uns z. B. der Name eines Menschen, von dem wir etwas aussagen wollen, „entfallen ist“. Wir wissen genau, wie der Betreffende aussieht, welches sein Beruf und seine bürgerliche Stellung ist, aber sein Name d. h. das Wort, das alle uns bekannten Beziehungen zu diesem Menschen zusammenfaßt, an dieses Wort können wir uns nicht erinnern. So etwa, wie unser eigenes Bewußtsein in einem solchen vereinzelten Falle, müssen wir uns das Bewußtsein eines Aphatischen im Ganzen vorstellen. Der Aphatische ist also eigentlich keineswegs geisteskrank, er wird nichts Falsches tun oder denken, aber doch ist seine Geistestätigkeit in hohem Grade gehemmt und beeinträchtigt. Ihm fehlt das wichtigste geistige Werkzeug, die Sprache, und daher ist er zu einer höheren geistigen Leistung niemals fähig. In den meisten Fällen von Aphasie, die der Arzt beobachtet, handelt es sich übrigens keineswegs um einen völligen, sondern nur um einen teilweise eingetretenen Verlust der Sprache. Nur ein Teil der Sprach-Erinnerungsbilder ist verloren gegangen, oder, was der häufigste Fall ist, die Sprach-Erinnerungsbilder treten nur unvollständig und erschwert ins Bewußtsein. Der Kranke hat sie gewissermaßen nicht jeder Zeit bereit im Bewußtsein, er muß oft lange nach ihnen suchen. Aber gerade das aufmerksame Studium derartiger unvollständiger Fälle von Aphasie ist psychologisch besonders interessant. Es gewährt oft einen geradezu überraschenden Einblick in die Art der Verknüpfung und Auslösung der Sprach-Erinnerungsbilder und der mit ihnen sonst verbundenen Vorstellungen. Ich will versuchen, Ihnen dies wenigstens an einigen selbstbeobachteten Beispielen zu erläutern. Bei jedem Aphatischen müssen wir zunächst zwischen seiner eigenen WortReproduktion d. h. seinem eigenen spontanen Sprechen und seinem Wortverständnis d. h. seinem Verständnis für das von Anderen zu ihm Gesprochene unterscheiden. Wie das Kind zuerst die Bedeutung der Worte kennen lernt, ehe es sie selbst aussprechen kann, und wie es auch jedem Erwachsenen wesentlich leichter fällt, eine fremde Sprache zu verstehen, als sie selbst zu sprechen, so finden wir häufig Aphatische, die das zu ihnen Gesprochene größtenteils verstehen, dagegen die Worte für das, was sie sagen wollen, nur in sehr unvollkommener Weise finden. Ich zeige z. B. dem Kranken ein Taschentuch und frage ihn was dies sei. Der Kranke gibt 1113

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mir zu erkennen, daß er die Bedeutung und den Gebrauch eines Taschentuchs ganz gut kenne, aber auf das Wort „Taschentuch“ kommt er nicht. Trotzdem schwebt dem Kranken doch oft, wie man zu sagen pflegt, das Wort noch irgendwie in unbestimmter Weise vor. Denn wenn ich ihn frage, ob dies eine Blume sei, dann stutzt er und verneint es, entweder lachend und bestimmt oder auch in anderen Fällen zögernd und zweifelnd. Frage ich aber den Kranken ein anderes Mal „wo ist das Taschentuch“, so zeigt er sofort richtig auf das vor ihm liegende Tuch hin. Jetzt kann er häufig das soeben gehörte Wort „Taschentuch“ auch leicht und richtig nachsprechen. Aber vielleicht schon nach wenigen Minuten hat er es wieder vergessen. Sage ich ihm nun die ersten beiden Silben „Taschen-“ vor, so fällt ihm vielleicht gleich das ganze Wort ein und er ergänzt richtig „Taschentuch“. Hier sehen wir also schon die große Wirksamkeit der assoziativen Hilfen beim Auffinden der Worte. Die beiden erst vorgesagten Silben des Wortes „Taschentuch“ rufen die mit ihnen assoziativ fest verbundene dritte Silbe ohne weiteres hervor. Derartige assoziative Vorgänge machen sich bei den Aphatischen beständig in der mannigfachsten Weise geltend. Teils sind es die von früher her festgefügten assoziierten Wortfolgen, teils sind es neue Wort-Assoziationen infolge rein äußerlich lautlicher Ähnlichkeit oder auch infolge begrifflicher Verwandtschaft, die sich oft fördernd, oft aber auch sehr störend bei den Sprachäußerungen der Aphatischen bemerkbar machen. Ich zeige einem Kranken meine Hand und frage ihn, wieviel Finger ich an meiner Hand habe. Er versteht die Frage, kann aber das Wort „fünf“ nicht finden. Nun zähle ich ihm vor „eins, zwei, drei, vier“ und sofort ergänzt er die gewohnte, früher fest eingeprägte Zahlenreihe mit dem Worte „fünf“. Ein Kranker soll die Wochentage hersagen. Er versteht die Frage nicht recht und findet jedenfalls für keinen Wochentag das Wort. Ich sage „Dienstag, Mittwoch“ und sofort fährt der Kranke mühelos fort mit „Donnerstag, Freitag“ usw. Ich zeigte einmal einer Kranken eine Blume und fragte, was dies sei. Sie konnte das Wort „Blume“ nicht finden. Als ich ihr aber sagte „Du bist wie eine“, ergänzte sie sofort den bekannten Vers „wie eine Blume“. Selbst beim Nachsprechen vorgesprochener Worte macht sich der fördernde Einfluß der Assoziationen oft genug geltend. So z. B. bemühte sich einer meiner Kranken vergebens, das Wort „Kameraden“ nachzusprechen, obwohl ich es ihm mehrmals deutlich und langsam vorsprach. Nun sagte ich ihm den ganzen Anfang des bekannten Liedes „ich hatt einen Kameraden“ vor und in diesem von Kindheit an fest gefügten und eingeübten Zusammenhange konnte er das Wort „Kameraden“ ganz gut und deutlich aussprechen. Wie man sieht, beruht also auch die Unfähigkeit des Nachsprechens bei den Aphatischen nicht darauf, daß ihr motorisches Sprachzentrum an sich die Fähigkeit verloren hat, die zur richtigen Aussprache eines Wortes nötigen Sprachbewegungen zu veranlassen. Aber die Anreize, die es von den sensorischen Sprachvorstellungen, von den Sprach-Erinnerungsbildern, erhält, erfolgen nicht mehr in normaler Weise. Eine echte rein motorische Aphasie gibt es meines Erachtens gar nicht. Bei genauer Untersuchung ergeben sich bei jedem Aphatischen deutliche Störungen in dem Verhalten der inneren Sprache, der Sprach-Erinnerungsbilder. 1114

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Auch der Zustand des Gesamtbewußtseins kommt für die Auslösung der Sprachvorstellungen und der von ihnen abhängigen Sprachbewegungen in Betracht. Manche aphatische Kranke können im starken Affekt laut und verständlich fluchen, während sie sonst fast kein Wort hervorbringen. Ich beobachtete lange Zeit eine Kranke, die das einfache Wort „nein“, wenn man es ihr auch noch so oft vorsprach, trotz aller Bemühungen nicht nachsprechen konnte. Wenn ich ihr aber dann in scherzhaft-unwilligem Tone sagte „Sie sind eine ganz böse Frau“, so antwortete sie stets sofort abwehrend ganz deutlich „nein“ – und eine Minute später konnte sie dasselbe Wort „nein“, wenn sie es einfach nachsprechen sollte, nicht herausbringen. Aber auch fehlerhafte, nicht gehemmte Assoziationen machen sich bei den Aphatischen oft in der auffallendsten Weise bemerkbar. Ich zeigte einmal einer Kranken ein weißes Taschentuch. Auf die Frage, was dies sei, antwortete sie nach längerem Besinnen „Schnee“. Offenbar hatte ihr die weiße Farbe des Tuches das Wort für den weißen Schnee assoziativ ins Bewußtsein gebracht. Besonders reich ist die Ausbeute an fehlerhaften Assoziationen, wenn man aphatische Kranke veranlaßt, einen etwas längeren Satz nachzusprechen. Ich beobachtete eine Kranke, die auf Wunsch jedes einzelne Wort des kurzen Satzes „auf einem Baum sitzt ein Vogel und singt“ ganz richtig nachsprechen konnte. Sobald sie aber den ganzen Satz zusammenhängend nachsprechen sollte, gelang ihr dies fast niemals. Vor allem fiel ihr meist schon der richtige Anfang des Satzes nicht ein. Als ich ihr nun mit dem Vorsagen des ersten Wortes zu Hilfe kommen wollte und ihr das erste Wort „auf“ noch einmal vorsprach, fuhr sie in unerwarteter Weise fort mit den Worten „auf Wiedersehen“. Die namentlich jetzt häufig gehörte Wortfolge „auf Wiedersehen“ war im Bewußtsein der Kranken assoziativ offenbar viel fester verbunden, als die Worte „auf einem Baum“. Ich führe Ihnen nun einige Beispiele an, wie die Kranke den ihr oft vorgesprochenen einfachen Satz „auf einem Baum sitzt ein Vogel und singt“ nachsprach. Sie wiederholte den Satz in folgender Weise: „Eins Vogel Baum singt ein Vogel.“ „Auf einem Vogel und singt ein Vogel.“ „Auf dem Baum sitzt ein Vogel und frißt.“ „Auf dem Baum sitzt ein Vogel und pickt.“ „Auf dem Baum wächst eine Pflaume.“ „Auf einem Baum wächst ein Vogel.“ „Auf dem Baum, Baum, Baum sitzt einer, der pfeift.“ usw. usw. Man erkennt also deutlich, wie die Fähigkeit des festen und geordneten Zusammenschlusses einer so einfachen Wortreihe vollständig geschwunden ist. Entweder bringt die Kranke die vorgesprochenen Worte einfach durcheinander oder es kommen ihr an Stelle der vergessenen Worte andere fehlerhafte Worte auf die Zunge, deren assoziative Beziehung zu den vorgesprochenen, also doch immerhin noch etwas im Bewußtsein der Kranken nachwirkenden Worte auf der Hand liegt. Wenn 1115

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die Kranke mit dem Worte „eins“ anfängt („eins Vogel Baum usw.“), so ist dies gewiß kein Zufall, sondern eine assoziativ hervorgerufene Reminiszenz an den Anfang der Zahlenreihe. Noch auffallender sind die fehlerhaften, aber ebenfalls leicht verständlichen Assoziationen „frißt“ und „pickt“, statt „singt“. Das falsche Wort „Pflaume“ ist einerseits eine fehlerhafte begriffliche Assoziation, andererseits wahrscheinlich aber auch durch die lautliche Ähnlichkeit mit dem Worte „Baum“ ins Bewußtsein getreten. Eine interessante, bei Aphatischen häufig zu beobachtende Erscheinung ist die sog. Perseveration. Man versteht darunter die bei vielen Aphatischen hervortretende Neigung, dasselbe Wort, was sie gewissermaßen glücklich einmal gefunden haben, nun immer wieder, wenn auch an durchaus falscher Stelle, zu gebrauchen. Durch das einmalige Aussprechen eines Wortes ist bei den Kranken gerade für dieses Wort eine besondere Erleichterung, eine sogenannte Bahnung der Laut-Innervation eingetreten. Bei jedem neuen motorischen Sprachantrieb schlägt nun die mangelhaft geleitete Sprach-Innervation immer wieder denselben einmal gebahnten Weg ein und endet somit immer wieder in derselben fehlerhaften Wortbildung. Ich zeige einem Kranken ein Taschentuch und nach längeren Bemühungen und wiederholtem Vorsprechen des Wortes „Taschentuch“ kann er dies Wort ganz gut aussprechen. Nun zeige ich ihm aber ein Buch oder einen Bleistift u. a. und auf die Frage „was dies sei“, sagt der Kranke nun immer wieder „dies ist ein Taschentuch“. Den höchsten Grad dieser Einengung der motorischen Sprachinnervationen bieten derartige Fälle dar, wo die Kranken überhaupt bei jedem Sprachantrieb immer nur dasselbe Wort oder zuweilen sogar nur denselben sinnlosen Laut oder dieselbe sinnlose Wortfolge hervorbringen. Ich beobachtete lange Zeit einen aphatischen Kranken, der bei allen Sprachversuchen immer nur die Worte „selber sag ich nämlich selber“ hervorbrachte. Eine andere Kranke meiner Beobachtung sagte fast nichts Anderes als „tinne, tinne“, eine dritte fast immer nur „bi bi bi“, so daß sie im ganzen Krankenhause unter dem Namen „die Bibi“ bekannt war. – Wenn, wie wir gesehen haben, das richtige Erhaltensein und vor Allem die jeder Zeit bereite Verfügbarkeit der Wort-Erinnerungsbilder an die normale Beschaffenheit des linken Schläfenlappens unseres Gehirns gebunden sind, so liegt die Frage nahe, wie es sich denn in den Fällen von Aphasie mit den anderen akustischen, aber nicht gerade zum Sprachgedächtnis gehörigen Erinnerungsbildern verhält. Denn das Wortgedächtnis ist sicher keine isoliert stehende spezifische Fähigkeit unseres Gehirns, sondern nur eine bestimmte und zwar die praktisch wichtigste Teilerscheinung unseres allgemeinen akustischen Gedächtnisses. Der linke Schläfenlappen unseres Gehirnes ist der Ort, an den nur die rein lautlichen Wort-Erinnerungsbilder gebunden sind. Zu wirklichen begrifflichen Sprachvorstellungen werden die lautlichen Wort-Vorstellungen erst dadurch, daß sich mit jeder lautlichen Wortvorstellung eine große Menge anderer Vorstellungen in fest assoziativer Weise verknüpft. Es erscheint daher von vornherein wahrscheinlich, daß man bei ausgedehnteren Erkrankungen des linken Schläfenlappens auch sonstige akustische Erinnerungsdefekte nachweisen kann. Dies trifft nun auch tatsächlich zu, wenn man in der Lage ist, bei aphatischen Kranken die vor ihrer Erkrankung etwa ausgebildeten 1116

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musikalischen Fähigkeiten und Leistungen zu untersuchen. Wir besitzen schon eine ziemlich große Anzahl genauerer Beobachtungen an musikalisch begabten und ausgebildeten Menschen, die das Unglück hatten, von einer mit Aphasie verbundenen Erkrankung ihres linken Schläfenlappens befallen zu werden. Da zeigten sich nun zuweilen ausgesprochene Störungen ihrer früheren musikalischen Fähigkeiten: Verlust der Erinnerung an bekannte Melodien, Schwierigkeiten in der Auffassung und Reproduktion einfacher Tonfolgen u. dgl. Im ganzen muß ich aber doch nach meiner eigenen Erfahrung sagen, daß bei den meisten Aphatischen das Reproduktionsvermögen für einfache Tonfolgen viel besser erhalten ist, als das Sprachgedächtnis. Ich vermute, daß bei dem einfachen Tongedächtnis auch der rechte Schläfenlappen in ausgiebiger Weise in Funktion tritt, während die, eine eigenartige Sonderstellung einnehmenden Wort-Erinnerungsbilder viel ausschließlicher an den linken Schläfenlappen gebunden sind. Besonders interessant ist bei den Aphatischen die Untersuchung des Gesangs d. h. der festen Verknüpfung zwischen Wort- und Tonvorstellungen, wie sie sich im gesungenen Liede vorfindet. Der Gesang ist die erste und ursprünglichste lautliche Äußerungsform seelischer Erregungen. Nicht nur in der großen Entwicklungsreihe der Tiere geht der Gesang der Ausbildung der Sprache vorher. Auch bei Kindern treten gewisse rhythmische lautliche Äußerungen, die man wohl als Gesang bezeichnen kann, nicht selten wesentlich früher auf, als die eigentliche Sprachentwicklung. In der späteren Zeit findet aber vielfach eine innige assoziative Verknüpfung zwischen bestimmten Wort- und bestimmten Tonfolgen statt und so entsteht das gesungene Lied. Das Lied ist die ursprünglichste Form aller musikalischen Gestaltung. In ihm finden sich Sprache, Ton und Rhythmus vereinigt. Erst aus dem Bestreben, Sington und Rhythmus zu verstärken, hat sich die einfache instrumentelle Begleitung des Gesanges und erst hieraus später die selbständige Instrumentalmusik entwickelt. Die ursprüngliche Bedeutung des Liedes macht sich noch jetzt in der allgemeinen Verbreitung des Kinderliedes und Volksliedes geltend. Die innige assoziative Verbindung zwischen Wort und Ton im Liede tritt bei der Untersuchung aphatischer Kranker deutlich zutage. Oft zeigt es sich, daß die seit der Kindheit festgefügten melodiösen Tonfolgen bei den Kranken zu wesentlichen Hilfen für die Reproduktion sonst nicht reproduzierbarer Wortfolgen werden. Sehr häufig habe ich feststellen können, daß ein aphatischer Kranker den Text irgendeines Volksliedes z. B. des allgemein bekannten „ich hatt’ einen Kameraden“ trotz aller Bemühungen nicht einfach hersagen konnte. Sobald man ihm aber den Anfang des Liedes vorsang, fiel er alsbald mit seinem eigenen Gesange ein und sang jetzt nicht nur die richtige Melodie, sondern sprach dabei auch die zugehörigen Worte ganz deutlich aus – ein neuer Beweis dafür, daß die aphatische Störung nicht in der mangelhaften Befähigung der motorischen Sprachinnervation an sich, sondern nur in der unzureichenden Mangelhaftigkeit der ihr gegebenen Sprachanregungen liegt. Mit dem bisher Gesagten haben wir erst einen, wenn auch den wichtigsten Teil der sprachlichen Äußerungen des Menschen in den Kreis unserer Betrachtung gezogen. Erkannten wir zunächst die Wortbildung als das wertvollste Hilfsmittel für die Bil1117

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dung und Fixierung der Begriffe und somit als die Grundlage eines jeden geordneten begrifflichen Denkens, sahen wir ferner, wie das lautliche Sprechen die Quelle und die Grundbedingung jeder höheren geistigen Gemeinschaft der miteinander lebenden Menschen ist, so hat der menschliche Geist noch weiter die Möglichkeit gefunden, mit Hilfe der Sprache zu einer geistigen Gemeinschaft auch der räumlich voneinander getrennten Menschen zu gelangen. Das Mittel hierzu war die Erfindung der Schrift. Erst durch die Entwicklung der Schrift hat die Sprache ihre letzte und höchste Bedeutung gewonnen. Erst hierdurch wurde sie zum geistigen Bande der gesamten Menschheit. Die Schrift setzt selbstverständlich die Sprache voraus. Dem Schreiben geht stets ein innerliches Sprechen, ein innerliches Ertönen der zu schreibenden Worte vorher. Während aber beim Sprechen die inneren Wortvorstellungen die zur Hervorrufung des laut gesprochenen Wortes notwendigen Bewegungen der Sprechmuskeln unmittelbar hervorrufen, müssen sich beim Schreiben die Wortvorstellungen erst mit den optischen Erinnerungsbildern der zur Gestaltung des geschriebenen Wortes erfundenen Schriftzeichen verbinden. Erst diese optischen Erinnerungsbilder übertragen sich in eingeübter Weise auf die Muskeln der rechten Hand, welche durch die entsprechenden Schreibbewegungen mit Hilfe der verschiedenen Schreibhilfsmittel die geschriebenen Worte gestalten. Dieser ziemlich komplizierte Weg im Gehirn von den Erinnerungsstätten der Wortbilder bis zu den Erinnerungsstätten der optischen Schriftbilder und von da bis zu den zerebralen Zentren für die Bewegungen der rechten Hand wird zwar bei jedem im Schreiben geübten Menschen von der Nervenerregung so rasch und mühelos zurückgelegt, daß wir uns der Weite und der verschiedenen Ausbuchtungen des Weges für gewöhnlich gar nicht bewußt werden. Aber die aufmerksame Beobachtung der Erlernung des Schreibens beim Kinde und ebenso wiederum die pathologischen Störungen der Schrift bei Gehirnkranken geben uns einen deutlichen Einblick in den ganzen inneren Ablauf der beim Schreiben in Betracht kommenden zerebralen Vorgänge. Die einzelnen beim Schreiben in Wirksamkeit tretenden Gehirnteile sind uns ihrer Örtlichkeit nach ziemlich gut bekannt. Daß das deutliche Vorhandensein und die leichte Auslösbarkeit der lautlichen Wortvorstellungen an die normale Beschaffenheit des linken Schläfenlappens gebunden sind, haben wir bereits erwähnt. Damit nun aber die lautlichen Wortvorstellungen in das geschriebene Wort übertragen werden können, muß auch das Gedächtnis für die fest bestimmten und eingeübten optischen Schriftzeichen erhalten sein. Wir wissen nun aus zahlreichen klinischen Erfahrungen, daß das Erhaltenbleiben der optischen Erinnerungsbilder überhaupt und somit auch die Erinnerungsbilder der einzelnen Schriftzeichen an den hinteren Abschnitt der linken Großhirnhemisphäre, den sog. Hinterhauptslappen gebunden ist. Erkrankungen an dieser Stelle des Gehirns führen zu einem mehr oder minder großen Verlust der optischen Erinnerungsbilder überhaupt und somit auch zu einer Störung in dem raschen und richtigen Auftauchen der Erinnerungsbilder für die einzelnen Buchstaben. Um nun aber diese optischen Erinnerungsbilder in die eigentliche Schrift zu übertragen, bedarf es der entsprechenden Schreibbewegungen und somit einer Erregung in den motorischen Zentren für die rechte Hand. Diese Zentren liegen 1118

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wiederum ziemlich weit vorn im Gehirn, etwa am hinteren Ende der linken sog. zweiten Stirnwindung. Haben wir uns diesen komplizierten Vorgang beim Schreiben klar gemacht, so können wir leicht ein genaueres Verständnis für die mit der Aphasie meist verbundenen Störungen der Schrift gewinnen. Zunächst ist es klar, daß jeder Verlust und ebenso jede Störung der Wort-Erinnerungsbilder die entsprechenden Störungen der Schrift zur Folge haben müssen. Denn ein Wort, das nicht innerlich lautlich klar vorgestellt wird, kann auch nicht geschrieben werden. Somit ist in sehr vielen Fällen bei den aphatischen Kranken die Unmöglichkeit zu schreiben, die sog. Agraphie, einfach die unmittelbare notwendige Folge der Wortamnesie. Man kann hier also von einer aphatischen oder etwa auch von einer akustischen Agraphie sprechen. Alle vorhin erwähnten Störungen in der Assoziation der Worte werden dann ebenso auch beim Schreiben beobachtet. Die Kranken machen dieselben Fehler beim Schreiben, wie beim Sprechen, weil die falsch oder unvollständig in ihnen auftauchenden Wortvorstellungen zu den entsprechenden fehlerhaften schriftlichen Äußerungen führen. Ganz anders und oft viel komplizierter gestaltet sich aber die Störung, wenn durch den Krankheitsherd entweder ausschließlich oder zugleich mit aphatischen Symptomen auch noch die optischen Erinnerungsbilder für die Schriftzeichen an sich gelitten haben. Dann kennt der Kranke vielleicht das Wort, das er hinschreiben soll, ganz gut. Er kann es auch richtig aussprechen. Aber die Übertragung des Worts in die Schrift ist ihm unmöglich. Der Kranke steht wieder auf dem Standpunkte des Kindes oder des völlig ungebildeten Menschen, der das Schreiben überhaupt nicht erlernt hat. Hier handelt es sich also um eine optische oder vielleicht besser ausgedrückt visuell-amnestische Agraphie. In solchen Fällen ist natürlich auch umgekehrt die richtige Erkennung und Deutung der geschriebenen oder gedruckten Worte sehr oft gestört. Es besteht neben der Agraphie auch die Unmöglichkeit richtig zu lesen – eine sog. Alexie. Um Ihnen wenigstens durch ein Beispiel zu zeigen, bis zu welch vollständiger Verwirrung Sprache und Schrift in solchen schweren Fällen von gleichzeitiger Aphasie und Agraphie gelangen können, habe ich hier nur eine Probe mitgebracht. Der Kranke, ein gebildeter Kaufmann, sollte denselben einfachen Satz, den wir schon früher als Beispiel gebrauchten „auf einem Baum sitzt ein Vogel und singt“, niederschreiben. Er schrieb darauf eine größtenteils sinn- und zusammenhanglose Reihe von Worten und Buchstaben hin und las das von ihm geschriebene dann etwa in folgender Weise vor: „auf einem neuen Bahnhof sitzt zieht sich ein Herz ein einziger Sitz und Sehnsucht versteht usw.“ Auf eine genauere Analyse dieser merkwürdigen Fehler kann ich nicht eingehen. Nur auf den interessanten Assoziationsfehler „Baum“ und „Bahnhof“, der sich dann in einer bei einem Leipziger leicht verständlichen Weise zu dem „neuen Bahnhof“ erweitert, möchte ich aber doch hinweisen. Durch meine bisherigen, wenn auch noch so skizzenhaften Ausführungen, glaube ich Ihnen gezeigt zu haben, welche interessanten und wichtigen Einblicke in den Ablauf der geistigen Vorgänge das eingehende Studium der aphatischen Störungen uns gewährt, und wie die Pathologie mitwirken kann und muß bei unseren Versuchen, allmählich immer tiefer in die Probleme des Bewußtseins einzudringen. 1119

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Daher sei es mir zum Schluß gestattet, wenigstens noch kurz anzudeuten, zu welchen allgemeinen Folgerungen die klinischen Beobachtungen über die aphatischen Störungen hinzuführen scheinen. Der gesamte Aufbau unseres geistigen Lebens, der in der Sprache seinen vollendetsten Ausdruck findet, setzt sich aus den unzähligen einzelnen sinnlichen Eindrücken und ihren Erinnerungsbildern zusammen. Wir haben die allmähliche Entstehung dieses Wunderbaus beim Kinde zu verfolgen versucht und gesehen, welch unheilvolle Zerstörung und Verwirrung die Krankheit in die Harmonie des Ganzen bringen kann. Dabei lernten wir aber die bedeutungsvolle Tatsache kennen, daß alle die elementaren Vorgänge der einzelnen Sinnesempfindungen und ebenso die Aufspeicherung ihrer Erinnerungsbilder an gesonderte Teile unseres Gehirns gebunden sind. Aber gerade die genaue Beobachtung der noch übriggebliebenen Leistungen des durch Krankheit teilweise zerstörten Gehirns zeigte uns, daß diese einzelnen Teile und ihre Funktionen bei ihrem Zusammenwirken stets noch ihre gesonderten Einzelleistungen beibehalten. Es ist daher meines Erachtens unrichtig, ganz allgemein von einem „Sprachzentrum“ zu sprechen und noch viel unrichtiger, von einem „Schriftzentrum“. Die Sprache und ebenso die Schrift sind das Ergebnis des Zusammenwirkens einer großen Menge einzelner elementarer Funktionen, durch deren zusammenfassende einheitlich geordnete Tätigkeit erst die höheren Formen geistiger und damit auch sprachlicher Gestaltung entstehen. Die Lehre von den Lokalisationen im Großhirn zeigt uns immer nur die örtliche Gebundenheit der einzelnen elementaren sensorischen und motorischen Funktionen an bestimmte Hirnteile. Die letzte und größte Aufgabe der Gehirnforschung ist es, zu zeigen, wie sich aus diesen zahllosen Einzelleistungen allmählich unser ausgebildetes geistiges Leben, unser Gesamtbewußtsein mit all seinen Äußerungen als die höchste Gesamtleistung unseres Gehirns entwickelt. Unsere Sprache und unser sprachliches Denken ist seiner Entstehung nach einer aufgeführten symphonischen Tonschöpfung zu vergleichen, die von den zahlreichen Einzelinstrumenten des Orchesters zum Erklingen gebracht wird, wobei jedes Instrument seine eigene Stimme spielt, dabei aber doch mit allen anderen Instrumenten und deren Stimmen in beständigem inneren Zusammenhange steht. Erst durch diesen Zusammenhang erhält jedes Instrument seine Bedeutung und seinen Wert und erst durch das richtige Zusammenwirken aller Instrumente kommt die volle Schönheit und Einheit des Tonwerks zum Ausdruck. Fehlen einzelne Instrumente oder spielen sie in falschem Ton und Rhythmus, so leidet die Harmonie des Ganzen und gerät in Gefahr, auseinander zu fallen. Genau dasselbe sahen wir bei den aphatischen Störungen, wenn einzelne Teile des gesamten sprachlichen Apparats in Unordnung geraten oder gar zerstört waren. Die ganze Entwicklung unseres geistigen Lebens ist aber nur dadurch möglich, daß die Wirkung aller äußeren Eindrücke nicht restlos vergeht, sondern daß von jeder äußeren Erregung ein gewisser dauernder innerer Zustand in uns zurückbleibt, der mit den unzähligen anderen dauernden inneren Zuständen in eine innige Wechselwirkung treten kann. Nur hierdurch ist es möglich, daß wir uns einen Schatz geistiger Erfahrung ansammeln, der unser eigenster innerer Besitz ist. Welcher Art diese inneren Zustände sind, welcher Art die Erinnerungsbilder, die Vorstellungen, die 1120

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Vorgänge der Assoziation und Reproduktion sind, von denen wir im Vorhergehenden ohne näheres Eingehen auf ihr Wesen gesprochen haben, wissen wir nicht. Hier ist die Grenze, wo die physiologische Forschung Halt macht und das weitere Nachdenken über die Rätsel des Gedächtnisses der Psychologie überläßt. Neue Qualitäten des Geschehens scheinen hier in Wirksamkeit zu treten, auf welche die Gesetze der bewegten Materie keine Anwendung mehr finden. Wenn wir aber erkannt haben, daß trotzdem alle Quellen unseres Geisteslebens in der uns umgebenden Welt entspringen, so müssen auch die Beziehungen zwischen der äußeren und unserer inneren Welt fest geregelte sein. Erst in der bewußt gewordenen Übereinstimmung unseres Denkens mit den Tatsachen der Außenwelt finden wir das beglückende Gefühl der Wahrheit und der fortschreitenden Erkenntnis. Auch die Sprache als die höchste Entfaltung unseres Geistes soll daher der Wahrheit dienen und nichts erscheint dem sittlichen Empfinden verabscheuungswürdiger, als die Lüge und die Verstellung. Darum berührt es uns alle, die wir der Erforschung der Wahrheit unser Leben gewidmet haben, so unendlich traurig, wenn wir in dieser furchtbaren, wilden, vernunftlosen Zeit so oft der Unwahrheit und Heuchelei begegnen. Glücklicherweise nicht von einem Deutschen stammt das frech-frivole Wort, wonach die Sprache dazu dienen soll, die Gedanken zu verbergen. Kämpften wir Deutsche in diesem harten, uns aufgedrungenen Kampf nur Kraft gegen Kraft und Macht gegen Macht, der Sieg wäre längst unser. So aber müssen wir erst die Stacheldrahtverhaue der Lüge und Verleumdung zerstören, ehe wir an ein erneutes friedliches Zusammenleben der Völker wieder denken können. Aber gerade die Zuversicht, daß Vernunft und Wahrheit doch schließlich die Welt beherrschen, gibt uns die Gewißheit des Sieges. Hätten wir nicht den festen Glauben an den endlichen Sieg des Rechts und der Wahrheit, so hätten die Welt und das Leben keinen Sinn. In diesem Glauben an die Macht der Wahrheit wollen wir aushalten. Magna est veritas et praevalebit. ***

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31. Oktober 1916. Rede des abtretenden Rektors Dr. Adolf von Strümpell. Bericht über das Studienjahr 1915/16. Hochansehnliche Versammlung! Kollegen! Kommilitonen! Als ich heute vor einem Jahr mein Amt als Rektor unserer Universität antrat, da gipfelten fast alle guten Wünsche, die mir aus diesem Anlaß von Freunden und Kollegen ausgesprochen wurden, in dem einen Hauptwunsche, daß es mir vergönnt sein möge, bei der Friedensfeier unserer Hochschule unsere aus dem Felde siegreich heimgekehrten Studenten hier festlich und freudig zu begrüßen, ihnen zu danken für das Große, das sie geleistet haben und dann dazu mitzuhelfen, die Universität aus den Schwierigkeiten der Kriegsjahre wieder in die ruhigen Bahnen friedlicher, ungestörter wissenschaftlicher Arbeit zurückzulenken. Diese guten Wünsche haben sich nicht erfüllt. Wir sind in das dritte Kriegsjahr eingetreten und können nicht einmal mit Sicherheit sagen, daß wir heute dieselben Wünsche meinem Nachfolger mit wesentlich größerer Hoffnung auf Erfüllung aussprechen können, als heute vor einem Jahr. Noch immer steht all unser Denken, all unser Tun und Lassen unter dem einen Alles beherrschenden, Alles durchdringenden Gedanken – dem Gedanken an den schrecklichen Kampf der Gegenwart und an das zukünftige Schicksal unseres deutschen Vaterlandes. Kein Tag meines Rektorats ist vergangen, an dem ich nicht daran erinnert wurde, daß auch unsere Universität mit tausend Fäden an den gewaltigen Kriegsapparat verknüpft ist, in den unser ganzes Volk verwandelt ist als Ausdruck seines einheitlichen Willens, zu kämpfen und zu siegen. Und jedem von Ihnen geht es wohl ebenso, wie mir, daß sein Blick, wenn er die Vorhalle unserer Universität betritt, sich immer zunächst auf jene beiden mit vergoldeten Lorbeerblättern umrankten Tafeln lenkt, wo die Namen derjenigen unserer lieben Kommilitonen verzeichnet sind, die stolz und kampfesfroh hinaus in den Krieg zogen, die mitgeholfen haben, den Sieg zu erstreiten, die aber nie mehr zurückkehren werden, um unseren Dank entgegenzunehmen und sich der Früchte ihres Sieges in dem neu erstarkten Vaterlande zu erfreuen. Schmerzlich durchzuckt es unser Herz, wenn wir sehen, wie die lange Reihe der Namen unserer gefallenen jungen Helden immer mehr und mehr zunimmt. Sie zählt jetzt 602 Namen! Wie viel Schmerz, wie viel begrabene Hoffnungen, wie viel Verluste an geistiger Kraft und an Talent sprechen aus diesen ernsten traurigen Tafeln zu uns. Auch aus dem engeren Kreise unserer Kollegen haben Mehrere ihr Teuerstes für das Vaterland hingeben müssen und zwei ausgezeichnete Dozenten aus unserer philosophischen Fakultät, der Privatdozent Dr. phil. Theodor Brandes und der Privatdozent Dr. phil. Wilhelm Metzger haben durch den Krieg ihr junges hoffnungreiches Leben verloren. Im Kampfe fürs Vaterland fielen auch der Assistent am Institut für gerichtliche Medizin Dr. med. Rudolf 1122

Jahresbericht 1915/16

Gieseler, der Assistent am chemischen Laboratorium Dr. phil. Walter Hünlich, der Assistent am zahnärztlichen Institut Zahnarzt Siegfried Nauenburg und der Assistent am Laboratorium für angewandte Chemie Dr. phil. Karl Siecke. In Folge seiner erlittenen Verwundung starb der Bau- und Hausaufseher beim Rentamt der Universität Otto Bruno Wettengel. In stiller Trauer gedenken wir heute dieser Toten. Uns tröstet nur die feste Zuversicht, daß sie ihr junges Leben nicht vergebens geopfert haben. – Außer den im Kriege Gefallenen und Gestorbenen haben wir während des vergangenen Jahres 7 Kommilitonen durch den Tod in der Heimat verloren. Gestern am 30. Oktober starb nach kurzer Krankheit auch der Assistent an der UniversitätsBibliothek Rudolf Quos. Schreiten wir weiter aus der Vorhalle in die inneren Räume der Universität, so mahnt uns auch hier mancher Blick an den draußen tobenden Krieg. Immer kleiner wird die Schar unserer Studenten in den Gängen und in den Hörsälen. Zwar zählt unsere Hochschule augenblicklich noch 4577 eingeschriebene Studierende, aber 3492 von ihnen stehen zur Zeit im Heeresdienst. Wie tapfer sie sich bewährt haben, geht daraus hervor, daß, soweit uns bekannt, 11 von ihnen mit dem eisernen Kreuz I. Klasse, weit über 600 mit dem eisernen Kreuz II. Klasse geschmückt sind. Auch hier in unseren eigenen Räumen begegnen wir allenthalben der feldgrauen Uniform und mit einem aus Wehmut und aus dankbarer Ehrerbietung gemischten Gefühl haftet unser Blick besonders an den immer zahlreicher werdenden jugendlichen Gestalten, deren mühsamer Gang oder deren in der Binde getragene Arm uns daran erinnert, daß von dem blühenden jungen Körper ein wichtiges Glied verloren oder verstümmelt ist. Den Toten können wir nur nachtrauern, aber den Verwundeten und Kranken müssen wir helfen. Das ist der Dank, den die von dem Feinde bewahrt gebliebene Heimat ihnen schuldet, und das will auch der Bund, den wir geschlossen haben, um allen jetzigen und früheren Angehörigen unserer Universitäten, wenn sie an Kraft und Gesundheit geschädigt aus dem Kriege zurückkehren, zu helfen, ihre bürgerliche Berufsarbeit mit Erfolg wieder aufnehmen zu können. Der Akademische Hilfsbund, dessen Organisation sich über ganz Deutschland erstreckt, hat am 26. Januar d. J. auch einen Leipziger Ortsausschuß erhalten. Dieser zählt heute 564 Mitglieder und kann bis jetzt über ca. 21 000 M. an einmaligen und ca. 6600 M. an jährlichen Beiträgen verfügen. Auch derer gedenken wir, die – zum Teil ebenfalls verwundet – das schwere Los der Kriegsgefangenschaft in feindlichem Lande erdulden müssen. Um ihnen ihr hartes Geschick etwas zu mildern und sie wenigstens vor geistigem Hunger zu bewahren, ist von Mitgliedern unserer Hochschule eine „Sammelstelle von Büchern für Kriegsgefangene in Frankreich“ gegründet worden, die von fast allen anderen deutschen Hochschulen, vom sächsischen und preußischen Kriegsministerium, vom Roten Kreuz und von zahlreichen Privaten und Vereinen in dankenswerter Weise unterstützt worden ist. In steter Verbindung mit der Berliner Bücher-Zentrale für Kriegsgefangene und vor allem mit den ungemein werktätigen und stets hilfsbereiten entsprechenden Hilfs-Organisationen an den Schweizer Hochschulen hat unsere Sammelstelle im Laufe des letzten Jahres 60 Kisten und 135 Pakete mit im Ganzen ca. 15 000 Bänden über die Schweiz in die französischen Gefangenenlager 1123

Adolf von Strümpell

gesandt. Bisher standen ihr an Mitteln im Ganzen ca. 25 000 M. zur Verfügung, die zwar in erster Linie für kriegsgefangene Studenten und Akademiker, aber außerdem auch für Zivilgefangene und für die in der Schweiz Internierten Verwendung finden. Und endlich möchte ich noch erwähnen, daß auch unsere noch im Felde kämpfenden und im Heere stehenden Universitäts-Angehörigen aus Anlaß des letzten Weihnachtsfestes 1915 wiederum erfahren sollten, daß die Alma mater ihrer Söhne in Treue gedenkt. Durch die von privater Seite und vom Königl. Ministerium in dankenswerter Weise gespendeten Mittel waren wir in der Lage, über 3000 kleine Weihnachtspakete als Gruß aus der akademischen Heimat ins Feld zu senden. Wenn somit ein großer Teil der Tätigkeit des Rektors und der Verwaltungsorgane der Universität während meines Amtsjahres in unmittelbarer Beziehung zu dem Kriege stand, so hat doch trotz des Krieges daneben das Leben der Universität im Innern und nach außen hin seinen gewohnten Fortgang genommen. Auch im vergangenen Jahre hatten wir die Freude, unseren erlauchten Rector magnificentissimus in unserer Mitte begrüßen zu dürfen. Am 21. und 22. Januar d. J. beehrte Se. Majestät der König unsere Hochschule mit seinem Besuch. Er hörte eine Reihe von Vorlesungen mit um so lebhafterem Interesse, als die Vortragenden ihren Gegenstand vielfach in Beziehung zu den großen Zeitereignissen bringen konnten. Herr Prof. Brandenburg sprach über Englands Politik vor dem Kriege, Herr Prof. Frenzel über die Pädagogik der Philantropen, Herr Prof. Kruse über Kriegsseuchen und Herr Prof. Siber über Verträge im Kriege. Am Nachmittag des 21. Januars besuchte Se. Majestät auch unsere beiden neuen schönen Universitäts-Museen, das ägyptologische des Herrn Prof. Steindorff und das archäologische des Herrn Prof. Studniczka. Am 25. Mai feierten wir in herkömmlicher Weise das Geburtsfest unseres geliebten Landesherrn durch einen Festgottesdienst in der Paulinerkirche und einen Redeakt in der Aula, wobei der Prorektor, Herr Prof. Albert Köster einen fesselnden inhaltsreichen Vortrag über die neuere flämische Literatur hielt. Am 29. Juli d. J. überbrachte der Rektor mit einer kurzen Ansprache der Bergakademie Freiberg, die an diesem Tage das Fest ihres 150jährigen Bestehens feierte, die schwesterlichen Glückwünsche unserer Hochschule dar in Form einer einfachen, aber künstlerisch ausgestatteten Glückwunschadresse. Ebenso nahm der Rektor als Vertreter der Universität Teil an der Feier zur Einweihung unseres neuen schönen Leipziger Hauptbahnhofes am 4. Dez. 1915 und an der Feier der Eröffnung des groß angelegten Unternehmens der Deutschen Bücherei am 2. Sept. 1916. Freudigen Anteil erweckte eine Anzahl festlicher Gedenktage von Mitgliedern unserer Hochschule. Verbot auch der Ernst der Zeit oder die Zurückhaltung der zu Feiernden jede größere festliche Veranstaltung, so hat der Rektor doch stets mündlich oder schriftlich die Glückwünsche der Universität und unsere Gefühle dankbarer Anerkennung zum Ausdruck gebracht. Ihren 70. Geburtstag feierten die Herren Professoren Hauck, Otto Mayer, Jungmann, Marchand und der Privatdozent Dr. Freiherr von Lesser, den 80. Geburtstag Herr Prof. Artur von Oettingen, das 50jährige Doktorjubiläum die Herren Prof. Wach und von Oettingen, das 60jährige DoktorJubiläum unser allverehrter Kollege Prof. Lipsius. Auch dem Präsidenten des Reichs1124

Jahresbericht 1915/16

gerichts Freiherrn von Seckendorff hatte ich die Freude zu seinem 50jährigen Dienstjubiläum die Glückwünsche der Universität aussprechen zu dürfen. Aber auch zwei schmerzliche Ereignisse, von denen unsere Universität und insbesondere unsere philosophische Fakultät betroffen wurden, habe ich zu erwähnen. Am 20. Sept. d. J. starb nach längerer Krankheit im Alter von 76 Jahren der ordentliche Professor der slavischen Philologie Geh. Rat Dr. August Leskien. Ein echter Sohn seiner holsteinischen Heimat war er eine schlichte, aber gerade und kernige Persönlichkeit, ein vornehm denkender, stets hilfsbereiter Mensch von edelster Art. In ihm ist einer der größten Sprachforscher der Gegenwart hingeschieden. Durch eine vielseitige und umfängliche Schriftstellerei, noch mehr vielleicht durch mündliche Lehre als wissenschaftlicher Erzieher hat er wie wenige auf den Entwicklungsgang zweier Wissenschaftszweige, der Indogermanistik und der Slavistik bestimmend eingewirkt. Sechsundvierzig Jahre gehörte er unserer Hochschule an. Die zahlreichen Kundgebungen der Trauer und Teilnahme bei seinem Tode, von nah und fern, waren ein sichtlicher Beweis treuer Liebe und Dankbarkeit, die der Verstorbene sich bei seinen zahlreichen Schülern, von denen viele jetzt selbst angesehene Hochschullehrer sind, erworben hatte. Am 27. März 1916 starb im Alter von 56 Jahren der ordentliche Professor der klassischen Philologie Dr. Bruno Keil. Nur zwei Jahre lang hat er an unserer Hochschule wirken dürfen, aber diese Zeit hat ausgereicht, um die philosophische Fakultät seinen vorzeitigen Tod als schweren Verlust empfinden zu lassen. Als kernhafter und lebensvoller Mensch hat er sich die Freundschaft der Kollegen, als hingebender, aus der Fülle des Wissens spendender Lehrer die Bewunderung und Dankbarkeit seiner Schüler erworben. Keil war ein Gelehrter von glänzender Kombinationsgabe, tief eingreifendem Spürsinn und unermüdlicher Arbeitskraft. Er beherrschte weite Gebiete der antiken Literatur, vor allem aber so vollständig, wie wenige unter den lebenden Forschern, die griechische Epigraphik und Paläographie, das griechische Staats- und Rechtsleben, die griechische Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Seine Veröffentlichungen, so zahlreich und wertvoll sie auch sind, geben doch nicht annähernd ein Bild von dem, was er in sich trug, und was er selbst hoffte, der Wissenschaft einst als völlig ausgereifte Gabe darzubringen. Von den Veränderungen im Personalbestande der einzelnen Fakultäten, die, dem Stoffwechsel der Organismen vergleichbar, das eigentliche Leben der Fakultäten in Ersatz und Wachstum ausmachen, erwähne ich zunächst, daß in der theologischen Fakultät an Stelle des verstorbenen Professor Brieger der Prof. Dr. th. et ph. Heinrich Böhmer aus Marburg als ordentlicher Professor der Kirchengeschichte und als Nachfolger unseres verstorbenen Kollegen Heinrici Herr Prof. Dr. Johannes Leipoldt als ordentlicher Professor der neutestamentlichen Wissenschaft aus Münster berufen wurden. Die venia legendi erhielt der Lic. theol. Friedrich Baumgärtel für die alttestamentliche Wissenschaft. Die juristische Fakultät verlor durch Wegberufung den ordentlichen Honorarprofessor des internationalen Rechts Herrn Dr. Ludwig Beer, der zum Senatsvorsitzenden in der Reichsentschädigungskommission in Berlin ernannt worden ist. Der seitherige Privatdozent Dr. jur. Erwin Jacobi wurde zum etatmäßigen außerordentlichen Professor des deutschen und sächsischen Ver1125

Adolf von Strümpell

waltungsrechts und sächsischen Staatsrechts ernannt. In der medizinischen Fakultät trat nach einer langen und ungewöhnlich erfolgreichen Wirksamkeit als Lehrer und Forscher der ordentliche Professor der Physiologie Herr Geh. Rat Dr. Ewald Hering in den Ruhestand. Sein Nachfolger wurde der bisherige ordentliche Professor der Physiologie in Gießen Dr. Siegfried Garten. Die bisherige physiologisch-chemische Abteilung des physiologischen Instituts wurde in ein selbständiges UniversitätsInstitut verwandelt, mit dessen Leitung der bisherige außerordentliche Professor Max Siegfried unter Ernennung zum ordentlichen Honorarprofessor betraut wurde. Als Nachfolger des im Felde gefallenen Prof. Dependorf wurde der außerordentliche Professor Dr. med. Oskar Römer aus Straßburg zum ao. Professor der Zahnheilkunde und Direktor der operativen Abteilung des zahnärztlichen Instituts ernannt. Der bisherige außerordentliche Professor der Physiologie Ernst von Brücke folgte einem Rufe als ordentlicher Professor der Physiologie an die Universität Innsbruck. Vier junge Gelehrte haben sich in der medizinischen Fakultät als Privatdozenten habilitiert, Dr. Kleinschmidt für das Fach der Chirurgie, Dr. Hintze für Hygiene, Dr. Goldschmidt für Augenheilkunde und Dr. Sonntag für Chirurgie. Unsere besten Wünsche für ihre fernere akademische Laufbahn begleiten sie. Die Philosophische Fakultät sah mit Bedauern das Zurücktreten des Geh. Hofrats Prof. Dr. Karl Bücher von seinem Lehramt für Nationalökonomie und von der Direktion der staatswissenschaftlichen Seminare. Erfreulicherweise will Prof. Bücher aber an unserer Universität noch weiter wirken als Direktor des neu geschaffenen Instituts für Zeitungskunde. Durch Fortberufung verlor die philosophische Fakultät den Prof. Dr. Miehe, der als Professor der Botanik an die Landwirtschaftliche Hochschule Berlin, den Privatdozent Dr. Füchtbauer, der als ao. Professor der Physik nach Tübingen berufen wurde. Der Privatdozent für Mittel- und neugriechische Philologie Dr. Dieterich wurde vom 1. Juni ab zunächst auf ein Jahr beurlaubt, um einer Berufung in das bosnisch-herzegowinische Institut für Balkanforschung zu Sarajewo Folge leisten zu können. Der Privatdozent für Nationalökonomie Dr. Gerlach trat als Privatdozent in die Universität Kiel ein. Zu außerordentlichen außeretatmäßigen Professoren befördert wurden die Privatdozenten Drr. Ostwald, Jaffé, Süß, Bergmann, Schmeidler und Lilienfeld. Von Erweiterungen des Lehrkörpers in der Philosophischen Fakultät habe ich nur eine zu nennen, die aber einen ausgesprochen zeitgeschichtlichen Charakter hat, die Ernennung des Herrn Ahmed Muhieddin zum Lektor der türkischen Sprache. Den Doktorgrad erwarben in der juristischen Fakultät 54, in der medizinischen Fakultät 46, in der philosophischen Fakultät 64 junge Akademiker. Die summi honores des Ehrendoktorats wurden von der theologischen Fakultät dem Professor des öffentlichen Rechts an unserer Universität Dr. Otto Mayer, und dem Missionar Siegfried Sebastian Zehme, Mitglied der Leipziger evangelisch-lutherischen Missionsgesellschaft, zuerkannt. Die medizinische Fakultät ernannte zum Dr. med. vet. honoris causa den Professor der Anatomie an der tierärztlichen Hochschule zu Dresden Geheimrat Dr. phil. Baum. Das studentische Leben unserer Hochschule war durch den Krieg begreiflicher Weise wesentlich beeinträchtigt. In den wenigen Fällen, wo eine Verhandlung mit 1126

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den Studierenden notwendig wurde, haben die Vertreter der beiden Studentenausschüsse ihre Aufgabe stets in einsichtiger und taktvoller Weise erfüllt. Das Verhalten der Studierenden war durchweg musterhaft. Diesem Umstande und nicht der milden Sinnesart des Rektors ist es zu danken, daß während meines ganzen Amtsjahres keine einzige Disziplinarstrafe verhängt zu werden brauchte. Erwähnt mag hier noch werden, daß mit dem jetzt beginnenden Semester die praktisch bedeutungslose, aber altehrwürdige Einrichtung der Testate für die belegten Vorlesungen größtenteils abgeschafft wurde. Preisaufgaben für die Studierenden haben die Fakultäten im vergangenen Jahre in Anbetracht der besonderen Zeitverhältnisse nicht gestellt. Dagegen ist zu erwähnen, daß der Alfred Ackermann-Teubner-Gedächtnispreis zur Förderung der mathematischen Wissenschaften im Betrage von 1000 M. vom Preisgerichte dem Herrn Professor Dr. E. Zermelo in Zürich für seine Arbeiten über Mengenlehre und insbesondere für seine im Jahre 1907 erschienene Arbeit „Neuer Beweis für die Möglichkeit einer Wohlordnung“ zuerkannt worden ist. Trotz des Krieges ist eine Reihe größerer Baulichkeiten für Universitätszwecke in Ausführung begriffen: die Umgestaltung und Erweiterung der Sammlungsräume des Zoologischen Instituts, der Umbau des bisherigen Gebäudes der Taubstummenanstalt für die Einrichtung des mineralogisch-petrographischen, geophysikalischen und medizingeschichtlichen Instituts, der Umbau des alten physikalischen Instituts zum Zwecke der Erweiterung des geologisch-paläontologischen und des mathematischen Instituts und endlich die Erweiterung der psychiatrischen und Nervenklinik. Mit den Neubauten für die tierärztliche Hochschule, für die im Staatshaushalt-Etat eine Summe von über 4 Millionen Mark vorgesehen ist, wird demnächst begonnen werden. Im Sommersemester 1916 ist auch das unter der Leitung des Herrn Prof. Steindorff stehende ägyptologische Museum in dem im Hofe des Grundstückes Schillerstraße 8 errichteten Neubau der Benutzung übergeben und an den Sonntagen für den Besuch des Publikums eröffnet worden. Die reichen Sammlungen stammen zum großen Teil von Ausgrabungen, die auf ägyptischem Boden unternommen und durch die Freigebigkeit des Geh. Hofrats Dr. Ernst von Sieglin ermöglicht worden sind. Im Zusammenhang mit dem Neubau der Ägyptischen Sammlung durch Anbauten erweitert und durch die namhaften Schenkungen hiesiger Gönner bereichert, hat im Sommerhalbjahr 1916 auch das Antiken-Museum dem allgemeinen Besuche wieder zugänglich gemacht werden können. Nur ein Teil der Sammlung kleiner Originalantiken, die zumeist von dem Bostoner Freunde der Anstalt E. P. Warren gestiftet sind, kann noch nicht gezeigt werden, da der Krieg den Bau entsprechender Glasschränke erschwert. Die eingehende Beschriftung der meisten Gipsabgüsse hat zu dem sehr guten Besuche des Museums beigetragen. Einen praktisch wertvollen und künstlerisch wirksamen neuen Schmuck hat die Wandelhalle unserer Universität durch die Aufstellung von fünf schönen Ruhebänken aus Eichenholz erhalten. Die Mittel für deren Herstellung wurden, wie mit nochmaligem Dank an den Spender zu erwähnen ist, aus der Goldschmidt-Stiftung entnommen. 1127

Adolf von Strümpell

Mit neuen Stiftungen wurde unsere Universität auch während des vergangenen Jahres reichlich bedacht. Mit wehmütigem Dank erwähne ich zuerst die hochherzige Spende eines unserer Kollegen, des Herrn Geheimrats Albert Köster und dessen Gemahlin, die zum dauernden Gedächtnis an ihren im Kampfe fürs Vaterland gefallenen, geliebten und hoffnungsvollen Sohn der Universität eine größere Summe zuwandten, aus deren Zinsen alljährlich ein Studierender der Geographie ein Stipendium erhalten soll. Ein anderer unserer Kollegen, Herr Prof. Dr. Beer, hat bei seinem durch Fortberufung bedingten Scheiden von uns durch Schenkung einer reichen Geldspende an unsere Hülfs- und Töchterpensionskasse seinen edlen Gebersinn, wie schon so oft, aufs Neue erwiesen. Der am 15. November 1915 in Dresden gestorbene Gymnasialprofessor a. D. Dr. Simon Ißleib hat sein Nachlaßvermögen im Betrage von ungefähr 20 000 M. nach Erfüllung der auferlegten Vermächtnisse der Universität zuerkannt zur Unterstützung von bedürftigen und würdigen Studierenden ohne Unterschied des Geschlechts und ohne Rücksicht auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Fakultät. Der Stabsarzt Dr. Wolfgang Teucher, gestorben am 14. November 1915 in Dresden, hat der Universität die Summe von 5000 M. letztwillig gestiftet zu Stipendien für bedürftige Studierende der Medizin. Der Gutsbesitzer Rudolf Meller und seine Frau Henni Meller aus Törökbálint bei Budapest haben in hochherziger Weise unter dem Namen einer „Adolf StrümpellStiftung“ der Universität ein Kapital von 20 000 Kronen geschenkt, dessen Zinsen von dem jeweiligen Direktor der medizinischen Klinik für wissenschaftliche oder Unterstützungszwecke nach seinem freien Ermessen verwandt werden können. Die Universitäts-Bibliothek hat aus dem Nachlasse des Fräuleins Lilly Wüstefeldt eine Sammlung von 20 Ölgemälden erhalten als Ergänzung der wertvollen Autographensammlung, die der Adoptiv-Vater des Fräuleins Wüstefeldt, der Privatmann Georg Kestner, ein Nachkomme des Gatten von Goethes Lotte, schon vor längeren Jahren der Universitäts-Bibliothek letztwillig vermacht hatte. Das der Universität angegliederte Forschungsinstitut für Kultur- und Universalgeschichte erhielt von dem Verlagsbuchhändler Dr. Alfred Giesecke in Leipzig die Summe von 20 000 M. zur Verfügung. Dem Institut für Kultur- und Universalgeschichte schenkten die Töchter unseres verstorbenen Kollegen Lamprecht, die Fräulein Marianne und Else Lamprecht, eine größere Anzahl elsäßischer Geschichtsund Literaturwerke aus dem Nachlaß ihres Großvaters, des Herrn Geheimrat Mühl in Straßburg. Die im Jahre 1909 von Herrn Kommerzienrat Heinrich Toelle in Niederschlema zur Wiederherstellung und Neu-Aufstellung der alten Kreuzgang-Gemälde geschenkten 30 000 M. sollen nunmehr, nachdem sich der ursprüngliche Zweck der Stiftung als wenig ratsam erwiesen hat, zu anderen Kunstzwecken und zwar zunächst zur Aufstellung eines Altars in der Beichtkapelle der Paulinerkirche aus vorhandenen alten Altarflügeln verwandt werden. Allen den genannten edlen Spendern spreche ich hiermit im Namen der Universität noch einmal den herzlichsten Dank aus. – 1128

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Und nun schreite ich zu der mir obliegenden letzten Amtshandlung, der Übergabe des Rektorats an meinen erwählten und bestätigten Nachfolger, Herrn Professor Dr. Wilhelm Stieda. Ich bitte Sie, Herr Kollege, heranzutreten und den Eid zu leisten, dessen Formel ich Ihnen vorsprechen werde: „Sie schwören bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, daß Sie die Verfassung und die Gesetze der Universität treu und gewissenhaft beobachten und die Pflichten des Ihnen anvertrauten Amtes als Rektor der Universität nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen werden“. Somit verkündige ich Sie, Herrn Dr. Wilhelm Stieda, als Rektor der Universität Leipzig für das Studienjahr 1916/17. Ich übergebe Ihnen den Hut und den Mantel als Zeichen Ihrer Würde, die Kette, mit welcher Königliche Huld den Leipziger Rektor geschmückt hat, das Siegel der Universität, damit Sie deren Willen rechtlich beglaubigen, die Statuten, die Ihrer Hut anvertraut sind und den Schlüssel als Zeichen, daß Sie in diesem Hause Herr sind. Es ist mir eine Freude, Sie Magnifizenz, als erster beglückwünschen zu können. Möge Ihr Amtsjahr für Sie und unsere geliebte Hochschule gesegnet sein, mögen sich alle guten Wünsche, die Ihnen heute ausgesprochen werden, auch erfüllen! ***

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Wilhelm Stieda (1852–1933)

31. Oktober 1916. Rede1 des antretenden Rektors Dr. Wilhelm Stieda. Ausblicke in das deutsche Wirtschaftsleben nach dem Kriege. Hochansehnliche Festversammlung! Sehr verehrte Damen und Herren! Seit mehr als zwei Jahren ist das deutsche Volk in einen Krieg verwickelt, wie ihn die Vergangenheit noch nicht aufzuweisen hatte. Trotz aller unleugbaren Erfolge schlägt er uns schwere Wunden, die gleichwohl von der Bevölkerung mit Gelassenheit getragen werden. Von dem Bewußtsein durchdrungen, daß große Dinge auf dem Spiele stehen, hat jeder sich an den Platz gestellt, der ihm gewiesen ist. Dem frivol bedrängten Vaterlande helfen zu sollen, ist das Gebot der Stunde. Mit nicht erschüttertem Mannesmute und nicht erlahmender Jugendkraft geht in den Kampf, wer dazu fähig ist – unter zahlreichen Entbehrungen und nicht geringen körperlichen Leiden hält man unentwegt, selbst nach zweijähriger Dauer an der Pflichterfüllung fest. Was unsere Feldgrauen, unsere Marine, unsere Luftschiffer in Wind und Wetter, in brandenden Wogen und Wellen, unter Donner und Blitz im Kampfe mit ungestümen Naturgewalten und rachsüchtigen Feinden, in steter Todesahnung und doch bis zum letzten Atemzuge nicht verzagend, geleistet haben und noch täglich leisten, – was Eltern und Frauen, Geschwister und Kinder in namenlosem Schmerze in dieser langen Zeit haben über sich ergehen lassen, – keine eherne Tafel von noch so gewaltiger Ausdehnung würde ausreichen, um diese Heldentaten und Zeugnisse eines ungebrochenen Willens für kommende Geschlechter aufzubewahren. Nie ist wohl ein wahreres Wort geprägt als jenes von denen, die da draußen sterben, damit wir leben können. Wenn auch die große Volkserhebung vor 100 Jahren eine ähnliche begeisterte Entschlossenheit und Opferwilligkeit zeigt, heute tritt doch die Einmütigkeit und Willensstärke angesichts der sehr viel schwereren Opfer und Leistungen, die gefordert werden, um so glänzender hervor. Und über dem allen der lähmende Zustand der Ungewißheit, was die Zukunft bringen wird, ob der kommende Frieden in der Vergrößerung unseres Gebiets und unserer Macht die Gewähr dauernder Ruhe gegenüber übelwollenden Nachbarn in 1

Der Abdruck erfolgt hier in etwas erweiterter Gestalt.

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Wilhelm Stieda

sich schließen wird oder wir damit rechnen müssen, in absehbarer Zeit neuen erbitterten Kämpfen ausgesetzt zu sein. Aber nicht nur nach außen, auch nach innen ist die Zukunft dunkel. Das Wirtschaftsleben, das während des Krieges ganz ungewohnte Formen gewonnen hat, scheint eine zunächst uns befremdende Gestaltung beibehalten zu wollen. Zu untersuchen was in dieser Richtung erwartet werden darf, sei mir in dieser weihevollen Stunde vergönnt. Es reden und träumen die Menschen viel Von bessern künftigen Tagen: Nach einem glücklichen goldnen Ziel Sieht man sie rennen und jagen. Die Welt wird alt und wieder jung, Doch der Mensch hofft immer Verbesserung! (Schiller.) Es soll jedoch dieser Ausblick gehalten werden nicht in dem Sinne, daß ich ein tunlichst vollständiges Bild von dem, was wir zu gewärtigen haben, zu zeichnen versuche – das würde uns mehr verwirren als unser Vertrauen auf einen guten Ausgang stärken –, sondern daß ich mich beschränke. Zwei Seiten unseres Wirtschaftslebens sind es besonders, die in neuerer Zeit den Vaterlandsfreunden Besorgnis einflößen, die Möglichkeit der angemessenen Ernährung und die finanzielle Belastung. Auf deren Beleuchtung wollen Sie mir erlauben, Ihre Aufmerksamkeit zu richten. 1. Die Ernährung des deutschen Volkes ist seit Jahren erschwert durch die Agrarzölle. Sie haben unleugbar die Preise für viele landwirtschaftliche Erzeugnisse in die Höhe getrieben. Bei freigegebener Einfuhr kann man das Getreide von dorther beziehen, wo es unter den günstigsten Bedingungen erzeugt wird. Das schließt die Gewähr, trotz der Beförderungskosten, eines niedrigen Preises in sich, während der Zoll den Preis bis zur Höhe der inländischen Produktionskosten anschwellen läßt. Oft genug ist über diese Erschwerung der Lebenshaltung geklagt. Man hört so oft, daß die Zölle lediglich eingeführt seien, um dem linkselbischen Großgrundbesitz, dem ostpreußischen Junker zu helfen aus seiner Schuldenlast herauszukommen. Das Wort Agrarier hat den häßlichen Nebensinn eines selbstsüchtigen, seinen Nächsten ungebührlich ausnutzenden Landwirten bekommen. Ja man nennt sogar die großstädtischen Hausbesitzer, die freilich nicht immer glimpflich mit ihren Mietern umgehen: Hausagrarier. Unter dem Drucke der heutigen schweren Zeit ist man nur zu geneigt die hohen Lebensmittelpreise den Landwirten zur Last zu legen. Man wird nicht müde sich auf England zu berufen, das in den 40er Jahren seine Kornzölle aufhob, um seiner sich entwickelnden Textilindustrie billiges Brot zu verschaffen. Obwohl bei uns ganz andere Lebensbedingungen vorherrschen, haben manche Volkswirte es für das richtigste gehalten es England gleich tun zu sollen. Wer so urteilt, vergißt vollständig die Ursachen, die im Jahre 1879 den Fürsten Bismarck zur Einführung der Agrarzölle bewogen haben. Getreidezölle sind in Deutschland keine völlig neue Erscheinung und haben bei uns so gut wie in anderen 1132

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Ländern lange vor 1879 bestanden. Der preußische Tarif von 1818 hatte für die Einfuhr von Getreide in den östlichen Provinzen solche vorgesehen, die im Laufe der Jahre mannigfach verändert, bald ermäßigt, bald erhöht wurden, bis sie 1865 ganz aufhörten. Wenige mögen damals daran gedacht haben, daß die Zeit so rasch wiederkehren würde, wo man ihre Neueinführung als zweckmäßig erachten würde. Fürst Bismarck ist zu seiner Tarifreform vom 15. Juli 1879 offenbar gedrängt worden, weil er gegenüber dem Hereinfluten von Getreide aus Rußland und den Vereinigten Staaten, wo man Getreide unter beispiellos günstigen Bedingungen erzeugte, für die Fortdauer der deutschen Landwirtschaft fürchtete. Während er von Hause aus freihändlerisch gesinnt war, beginnen seit 1876 die Anzeichen, die auf einen Wechsel seiner handelspolitischen Anschauungen schließen lassen. Wenn er die Rückkehr zur ruhmreichen wirksamen Zollvereinspolitik befürwortete, so vertrat er damit keineswegs ausschließlich agrarische Interessen, sondern den weiterragenden Gedanken eines Solidarschutzsystems. Insofern er aber die Landwirtschaft als einen schutzbedürftigen Beruf anerkannte, wich er von den sonst durch die Theorie des Schutzzolls vertretenen Gedanken ab. Ursprünglich wurde ein Zoll nur für neue einzubürgernde oder vorhandene im Aufblühen begriffene Industrien gefordert. Ihm blieb es vorbehalten mit allem Nachdruck darauf hinzuweisen, daß der Landwirtschaft, einem wichtigen altehrwürdigen Berufe großen Stils, dieser Schutz ebenfalls gebühre. Schutz der nationalen Arbeit überhaupt war die Losung. Handel und Schiffahrt, Industrie und Landwirtschaft – sie alle können verlangen gegen einen sie in ihrem Bestande bedrohenden Wettbewerb geschützt zu werden. Man wollte im Sinne Friedrich Lists allen Produktivkräften Gelegenheit geben sich zu entwickeln, industriearme Gegenden bereichern, die Vorliebe für ausländische Erzeugnisse, die im Inlande in gleicher Güte hergestellt werden können, dämpfen. Es ist klar, daß man unter gewissen Voraussetzungen die Freiheit der Einfuhr landwirtschaftlicher Produkte nicht scheuen wird. Wo der einheimische Landwirt das Mitwerben des ausländischen Konkurrenten aushalten kann, wo er zur Hervorbringung anderer Erzeugnisse übergehen kann, die sogar noch bessere Erträge versprechen, also etwa zur Ausdehnung der Viehhaltung, oder wo die Landwirtschaft überhaupt aufgehört hat in der Organisation der Volkswirtschaft eine Rolle zu spielen – unter solchen Umständen wird man nicht nötig haben sich gegen die Einfuhr zu sperren, sondern deren Annehmlichkeiten bereitwilligst entgegennehmen. Ist jedoch die Landwirtschaft in der Lage die einheimische Nachfrage voll oder teilweise zu befriedigen, so wird sie hart getroffen, wenn die ausländische Produktion mit niedrigeren Gestehungskosten arbeitet. Dann bleibt ihr nichts anderes übrig als den Betrieb einzustellen. Sie erreicht ja keine Preise, die ihre Unkosten decken. Ein solcher Rückzug aber gefährdet die Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen und politischen Selbständigkeit. Nur das Land ist selbständig, das den größten Teil der wichtigsten Nahrungsmittel oder womöglich alles selbst hervorbringt. Die wirtschaftliche Unselbständigkeit tritt besonders zutage in Zeiten, wo die Ernten im Auslande mißraten sind oder wo Kriegsunruhen drohen oder Kämpfe ausgebrochen sind, die die Zufuhr hemmen oder unmöglich machen. Dann hat das auf die Zufuhr angewiesene Land die höchsten Preise für die unentbehrlichen Lebensmittel zu 1133

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gewärtigen. Wenn man früher geneigt war, diese Begründung als eine doktrinäre zu belächeln, weil es zu einem solchen Kriege der gesamten Kulturwelt nie kommen würde – der gegenwärtige Augenblick hat uns die bittere Wahrheit dieser Erwägungen sehr deutlich zum Bewußtsein gebracht. Im übrigen hatte Fürst Bismarck die Anschauung, daß die deutschen Getreidezölle von dem einführenden Auslande getragen werden müßten. Er nahm an, daß die getreideproduzierenden Länder auf den Absatz ihres Überflusses in Deutschland angewiesen wären und sich daher eine Verminderung der von ihnen gewohnheitsmäßig geforderten Preise um den Zollbetrag gefallen lassen müßten. Sonst würde niemand ihr Getreide kaufen. Somit sah er in den Zöllen keine Gefahr für uns. Ein Freund vielmehr der indirekten Besteuerung, faßte er auch die finanzielle Seite ins Auge und betonte, daß deren Ertrag die direkte, der Bevölkerung zugemutete steuerliche Belastung weniger empfinden machen würde. Um so günstiger für uns, wenn das Ausland die Zölle zu tragen auf sich nehmen müßte. Derartig liegt freilich der Fall nicht. Den Träger des Zolls kann man nicht mit Sicherheit vorher bestimmen. Bei einem Gegenstande wie Getreide, auf dessen Bezug Deutschland ebenso angewiesen ist wie das erzeugende Land auf dessen Absatz, kann mit der Abwälzung des Zolls nicht sicher gerechnet werden. Wie dem immer sein mag, wir haben 1879 die Agrarzölle bekommen und sie bis zum 4. August 1914 behalten. Beim Beginn des Krieges ist der Bundesrat ermächtigt worden, Getreide und andere landwirtschaftliche Erzeugnisse zollfrei zu lassen. Daß diese Maßregel als eine vorübergehende Erleichterung in der Versorgung der Bevölkerung gedacht ist und nach Friedensschluß der Agrarzoll wieder aufleben wird, versteht sich wohl von selbst. Für die Reichsfinanzen sind diese Zölle während ihres 30jährigen Bestehens sehr bedeutsam geworden. Die Erträge, die 1897 sich auf rund 135 Millionen, d. h. 28 Prozent des gesamten Zollertrages beliefen, waren 1913 auf 271 Millionen Mark gestiegen und machten 31 Prozent der gesamten Zolleinnahme aus. Bei aller Wichtigkeit für die Gesamtheit sind sie ein fühlbarer Druck auf die Privatwirtschaft. Bei einem Jahresertrage von 4 Mark pro Kopf der Bevölkerung zahlt eine Arbeiterfamilie von 5 Köpfen an Getreidezöllen mindestens 20 Mark jährlich. Einem durchschnittlichen Einkommen von 900 bis 1200 Mark gegenüber, wie es die Mehrzahl der Haushaltungen zur Verfügung hat, fällt dieser Posten beträchtlich ins Gewicht. Und es will weiter in Betracht gezogen sein, daß die Getreidezölle gleich allen anderen indirekten Abgaben den wirtschaftlich schwächeren Teil der Bevölkerung stärker belasten als den in besserer Lage befindlichen. Diese Ungerechtigkeit auszugleichen sind die neueren Vermögenssteuern bestimmt und der Zuschuß, der von Reichswegen in der Alters- und Invalidenversicherung gewährt wird. Sind diese Begleiterscheinungen der Zölle weniger erfreulich, so muß man zugeben, daß sie ihren Hauptzweck die deutsche Landwirtschaft zu behüten erreicht haben. Alljährlich pflegt bei dem Festmahl, das die Verhandlungen des deutschen Landwirtschaftsrats abschließt, sein Vorsitzender einen Rückblick auf die Fortschritte der Landwirtschaft zu werfen. Behaupten auch manche, daß bei dieser Gelegenheit der Mund etwas voll genommen wird, so hindert doch die kritisierende 1134

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Öffentlichkeit die zu starke Auftragung von Farbe. Auch das Sr. Majestät dem Kaiser zum Regierungsjubiläum vorgelegte Werk über die Landwirtschaft von 1888–1913 läßt staunenswerte Fortschritte erkennen. Im Jahre 1913 hat die gesamte deutsche Getreideernte zum ersten Male 30 Millionen Tonnen überschritten, d. h. die durchschnittliche Getreideernte der 80er Jahre um etwa 66 Prozent übertroffen. Die Ernte an Weizen, Roggen, Gerste, Hafer war 1913 um 2 1/2 Millionen t größer als im Vorjahre. Diese gewaltige Zunahme ist wesentlich einer Steigerung der Bodenkultur, nicht der Ausdehnung der Bodenfläche zuzuschreiben. Auch die Kartoffelproduktion war 1913 um 4 Millionen t höher als 1912 und um 24 Millionen t größer als 1911. Wenn nun auch in der gleichen Zeit die Bevölkerung ebenfalls zugenommen hat, 1913 fast 67 Millionen gegen 49 Millionen vor 25 Jahren beträgt, so bleibt der Vorteil, daß eben für die stark vermehrte Volkszahl durch die inländische Erzeugung größtenteils gesorgt gewesen ist, ohne daß wir nötig hatten erheblichere Mengen als bisher aus dem Auslande zu beziehen. Ja darüber hinaus haben wir sogar die Genugtuung erlebt, nach 50jähriger Pause wieder Getreide ausführen zu können. Seit einigen Jahren wird mehr Roggen aus- als eingeführt im Austausch gegen Gerste, die mehr zugeführt wird als früher. Das hängt mit der Ernährung unseres Viehstandes zusammen. Dem deutschen Schweine älterer Züchtung wurde früher gerne Roggenmehl als Mastfutter gereicht. Jetzt hat man sich davon überzeugt, daß für das feinknochige Schwein der neueren Zeit die Gerste das geeignetste Futter ist. Deutschland ist für den Roggenbau, Rußland für die Gerstenkultur sehr geeignet und so ist nach den Grundsätzen weltwirtschaftlicher Arbeitsteilung ein sehr vorteilhaftes Tauschgeschäft eingeleitet worden. Ein futterwirtschaftlich ungeeigneter Gegenstand wird in ein hochwertiges Viehfutter ausgewechselt, das unserer Schweinehaltung und damit der Ernährung der Bevölkerung zugute kommt. Indes nicht diese Tatsachen allein sind für die Bewertung der Wichtigkeit der Agrarzölle maßgebend, sondern das Verhältnis, in dem die im Inlande erzeugten Nährstoffe zu den von auswärts zugeführten stehen. Im Durchschnitt der Jahre 1906–1910 belief sich die Erntemenge an Roggen, Weizen und Spelz auf 14,4 Millionen t. Die Mehreinfuhr über die Ausfuhr erreichte die Höhe von 2 Millionen t. Nach Abzug des Saatkorns blieben fast 15 Millionen t zur Ernährung der Bevölkerung, d. h. 239 kg pro Kopf. Die Mehreinfuhr betrug etwa 13 % des gesamten Verbrauchs. Nachdrücklicher kommt das gute Verhältnis zutage, wenn man auf die in Getreide, Hackfrüchten, Heu- und Futterstroh für menschliche und tierische Ernährung enthaltenen Nährstoffe eingeht. Hier berechtigen sorgfältigste Erwägungen geschätzter Statistiker, mit deren Einzelheiten ich Sie verschonen will, zu dem Schluß, daß unser Bedarf an Rohprotein mit 76 1/2 % vom Inlande, 23 1/2 % vom Auslande, unser Bedarf an Stärkewerten zu 81 1/2 % vom Inlande, zu 18 1/2 % vom Auslande unmittelbar vor dem Kriege gedeckt wurden. Derartige Aufstellungen sind sehr beruhigend. Freilich bezogen wir stets gewaltige Mengen von Lebensmitteln aus dem Auslande, für 183 Millionen Mark Eier, für 168 Millionen Mark tierische Fette, für 309 Millionen Mark Fleisch und leben1135

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des Vieh, um nur einiges anzuführen. Die 18–24 % Rohproteinstoffe und Nährwerte stellen, in Mark ausgedrückt, recht erhebliche Beträge dar. Aber die Hauptsache bleibt, daß unter dem Schutze der Zölle die Landwirte ihre Tätigkeit verdoppelt und verdreifacht haben und ihre Wirtschaft einen hohen Grad der Intensität erreicht hat, der auf nahezu gleicher Fläche mehr als früher zu erzeugen erlaubt. Vergegenwärtigt man sich, daß der Betrieb der Landwirtschaft immer schwieriger wird, daß die Landarbeiter der groben, wenig ergötzlichen Tätigkeit müde, immer schwerer auf dem Lande festzuhalten sind, so ist von der deutschen Landwirtschaft ein besonders anerkennenswertes Stück Arbeit geleistet worden. Die Erfahrungen der beiden letzten Jahre haben uns belehrt, was das deutsche Volk hätte aushalten müssen, wenn nicht 3/4 unserer Nahrungsmittel durch eigenen Betrieb gesichert gewesen wäre. Wären wir ohne Zölle geblieben, so wäre ein allmählicher Rückgang der Landwirtschaft unaufhaltsam eingetreten. Von der Vielen widerwärtig erscheinenden, schlecht gelohnten Arbeit hätte man sich mehr und mehr abgewandt. Da aber für die sich vermehrende Bevölkerung hätte gesorgt werden müssen, so würde die Industrie zu stärkerer Ausdehnung gelangt sein. Vermutlich wäre England schon viel früher auf unseren Wettbewerb aufmerksam geworden, hätte den Vernichtungskrieg schon früher vom Zaune gebrochen, zu einer Zeit, wo noch keine so glänzend entwickelte Marine und Luftschiffahrt uns für alle Feinde, die uns bedrohen, so gefährlich gemacht hätte wie heute. Von aufgespeicherten Vorräten lebend, hätten wir vielleicht ein Kriegsjahr aushalten können, gegenüber einem so kraß über uns verhängten Aushungerungsplan schwerlich längere Zeit. England, das sehr viel mehr auf Getreide aus anderen Ländern angewiesen und jedenfalls in deren Bezug viel weniger beschränkt ist als Deutschland, hat gleichwohl höhere Brotpreise. Das englische 2 Pfund-Roggenbrot, gleich 0,90 kg, kostete vor dem Kriege 21 1/4 Pfennig, das kg mithin 23 1/2 Pfennig – im November 1915 bereits 52 Pfennige. In Berlin kostete ein kg Brot vor dem Kriege etwa 30 Pfennige, heute 40 Pfennige, in Sachsen nur 33 Pfennige. Die großen Zufuhrgebiete Argentinien, Vereinigte Staaten lassen mit ihren Ernten in diesem Herbste zu wünschen. Australien, das größere Mengen abgeben könnte, – man spricht von 1,3 Millionen t Weizen, die verfügbar seien, kann aus Mangel an Schiffsraum die Verschiffung nicht vornehmen. Wie würde es uns ergehen, wenn wir in gleichem Maße auf die Einfuhr angewiesen wären? Wenn man bei uns Klagen hört, daß viele Lebensmittel wie Fleisch, Wildpret, Honig, Butter usw. von der Bildfläche verschwunden zu sein scheinen, so hat diese Erscheinung mit dem Systeme der Agrarzölle keinen Zusammenhang. Einige dieser Lebensmittel führten wir schon vor dem Kriege ein, kein Wunder, daß sie jetzt bei gehemmter Zufuhr knapp werden. Im übrigen sind Lebensmittel in genügender Menge vorhanden. Nur die eingeschlagene Enteignungs- und Verteilungspolitik ist eine verkehrte. Es ist nicht erfreulich, wenn Leipzig-Land sich durch AusfuhrVerbote gegen Leipzig-Stadt abschließt. Die Kriegsgesellschaften, die auf eine Monopolstellung im Handel hindrängen, auf- und absteigende Höchstpreise, Beschlagnahmen und ihre Wiederaufhebung, zahlreiche Verordnungen verwirren das 1136

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Wirtschaftsleben schließlich mehr als sie es fördern und die Folge ist, daß die Produzenten mehr von ihren Vorräten zurückhalten als sie sonst tun würden. Vielleicht fällt auch einige Schuld auf die Leistung jener Zentralgesellschaften, an deren Sitze Männer stehen, die dem Betriebe des Wirtschaftslebens fremd sind und kühne Spekulanten an ihre Seite gerufen haben. Diese strebten schon vorher privatwirtschaftlich auf die höchst erreichbaren Gewinne hin und beharren jetzt in derselben Richtung. So darf man getrost behaupten, daß die Bismarcksche Zollpolitik ihre Schuldigkeit getan hat. Immerhin hat sie auch ihre Schattenseiten. Sie erscheinen in der starken Steigerung des Getreidebaues, während die Notwendigkeit einer Ausdehnung der Viehhaltung weniger beachtet wird, in dem Übergewicht des Großgrundbesitzes, während die innere Kolonisation nicht in dem Maße fortschreitet, als die Vermehrung der Bevölkerung fordert, in der Steigerung der Bodenpreise und manchem anderen. Allerdings ist ein zuverlässiger Nachweis, daß die Bodenpreise wegen der höheren Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse gestiegen sind, nicht erbracht. Es mag etwas wahres daran sein, daß verbesserte Viehzucht, Vergrößerung des Inventars, Verbesserung der Gebäude usw. eine höhere Wertschätzung des Geländes bedingen. Demgemäß wird nach dem Kriege mehr als bisher an die innere Kolonisation gedacht werden müssen. Nur kleine und kleinere Güter können in intensivster Bewirtschaftung für die Gesamtheit die wünschenswerte Steigerung des Ertrages herbeiführen, nur sie für die Vergrößerung des Viehstandes, die Erzeugung von Fleisch und Fett, Milch und Butter in befriedigender Weise sorgen. Vor allen Dingen aber muß sparsames Umgehen mit dem Gewonnenen und Einbürgerung einer Vorratswirtschaft im Frieden für die Periode kommender Kriegsunruhen eine neue Maßnahme zur Unterstützung der bisherigen Zollpolitik bilden. Das führt auf ganz andere Organisationen in der künftigen Volkswirtschaft. In der Neubearbeitung von Roschers Nationalökonomie des Ackerbaues hat Heinrich Dade 1912 darauf hingewiesen, daß es sich empfehlen möchte, für den Bedarf eines etwa 4 Millionen Mann betragenden Heeres 1 Million t Weizen und 500 000 t Roggen als eine Art Kriegsschatz seitens der deutschen Heeresverwaltung bereit zu stellen. Er griff damit auf einen Gedanken zurück, der die ältere Zeit beherrschte, nämlich die Magazinierung von Getreide für die Zeiten der Not. Getreidespeicher in großen Städten waren in Perioden eines gering entwickelten Getreidehandels allgemein verbreitet. Sie sahen es darauf ab im Falle von Mißernten der hungernden Bevölkerung zu Hilfe zu kommen, hatten vielfach auch militärische Bedeutung. Sie wurden durch Einkauf oder durch eine von den Exporteuren zu leistende Abgabe gefüllt. Sie waren ansehnliche Gebäude, wie denn z. B. die Magazine in Hamburg im 17. Jahrhundert für 5–7000 Menschen Getreide enthielten. Im Kurfürstentum Sachsen befolgte der Kurfürst August (1553–86) eine sehr selbständige Magazinpolitik in ähnlicher Weise. Zur Vollendung ist aber das Magazinwesen in Preußen unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich dem Großen gebracht worden. Als Friedrich Wilhelm I. zur Regierung kam, fand er in Berlin und in den befestigten Plätzen der Monarchie Getreidemagazine vor. Sie stammten aus dem 16. Jahrhundert und waren vom Großen Kurfürsten erweitert. In erster Linie wurden 1137

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mit ihnen militärische Zwecke verfolgt: die Verpflegung der Garnisonen in Kriegsund Friedenszeiten. Neben solchen Festungsmagazinen auch Landmagazine für Notzeiten und Hungerjahre ins Leben zu rufen, war von Friedrich III. geplant worden, aber nur unvollkommen zur Ausführung gelangt. Friedrich Wilhelm I. schuf 21 Kriegsmagazine mit je einem königlichen Proviantamt, einem Proviantmeister, einem Kontrolleur und mehreren Kornschippern. Die Vorräte wurden streng geheim gehalten. Nur das Gouvernement und das Generalproviantamt hatten eine vollständige Übersicht über die sämtlichen Bestände. Die Gesichtspunkte, von denen sich die Verwaltung beim Einkaufe leiten ließ, waren durchaus wirtschaftspolitischer Natur. Es kam nicht darauf an, billig für Rechnung des Königs einzukaufen und teuer zu verkaufen, sondern auf eine Ausgleichung des inländischen Getreidepreises. Der König wünschte die Preisgestaltung auf den inländischen Märkten zu beeinflussen, in allen wohlfeilen Jahren den Preis heben, in allen teueren Jahren ihn herabdrücken zu können. Dahin geht eine vom Könige selbst entworfene Instruktion vom Jahre 1722 für das Generaldirektorium. Dieses Programm ist wohl nie in vollem Umfange durchgeführt worden. Dem Könige lagen kaufmännische weit ausschauende Berechnungen fern. Seine Magazinpolitik war eine gut geordnete, aber eine schwerfällige. Er ließ die Magazine durch Ankäufe auf den festen vorgesehenen Etat bringen und gab dann ungern aus den einmal gesammelten Vorräten wieder etwas heraus. Friedrich der Große gestaltete diese Gedanken großartig aus. Wenige Tage nach seinem Regierungsantritt genehmigte er die Errichtung neuer Magazine. Er erklärte seinen Willen dahin „die Magazine auf den Fuß zu setzen, daß für die Armee und das Land Vorräte jederzeit für 1 1/2 Jahre vorhanden sei.“ Ließen sich diese weitgreifenden Pläne nicht sofort verwirklichen, so zeitigte das System wahrhaft glänzende Ergebnisse in der zweiten Hälfte seiner Regierung 1763/86. Er zog durch seine Maßregeln die Aufmerksamkeit aller auf sich. Auch unter Friedrich dem Großen blieben die Vorräte geheim. Sie wurden daher im Lande weit überschätzt. Man meinte, daß es in der Hand des Monarchen läge, die Getreidepreise hoch oder niedrig zu halten. Ein angesehener preußischer Beamter, der Landesdirektor von Stotz erwiderte einmal dem Könige auf dessen Frage nach dem Ausfall der Ernte „sie sei sehr gesegnet. Ob es aber wohlfeile oder teuere Zeit werden wird, solches depentiert von Ew. Majestät“. Das war natürlich nicht zutreffend. Aber die Hauptsache war doch, daß das Magazinwesen nicht im Privatinteresse einzelner, sondern im Gesamtinteresse gehandhabt wurde. Die Magazine traten in der Tat in Teuerungszeiten als Mitwerber auf den Kornmärkten auf und zwangen durch ihren wohlfeilen Verkauf die Getreidehändler und Landleute in ihren Forderungen herunterzugehen. So erscheint in letzter Linie diese fridericianische Handelspolitik als ein Stück gesunder wohltuender Sozialpolitik. Sie bemühte sich einen Ausgleich zu schaffen zwischen reich und arm, zwischen Besitzenden und Darbenden. „Dem Fürsten liegt es ob“, schrieb Friedrich der Große in sein Testament von 1768, „in den Getreidepreisen die genaue Richtschnur und Mittellinie zu halten zwischen den Interessen des Edelmannes, des Domänenpächters und des Bauern auf der einen Seite und den Interessen des Soldaten und Fabrikarbeiters auf der anderen Seite.“ 1138

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Man kam von diesen Magazinen ab, als nach Maßgabe der Entwicklung der neuen Verkehrsmittel die Gefahr einer Hungersnot in weite Ferne gerückt schien. Heute legen die politischen Gefahren, wie der gegenwärtige Krieg sie auch für die Zukunft heraufbeschworen hat, den Gedanken an ihre Wiedereinführung nahe. Schon in dem Antrag Kanitz von 1893 spielte die Vorratswirtschaft eine Rolle. Die einmaligen Kosten für die Herstellung der Gebäude und die Einlagerung von Getreide, das nach seiner Haltbarkeit allmählich erneuert werden müßte, sind von Dade auf 345–435 Millionen Mark berechnet worden. Ein solcher Betrag wäre im Hinblick auf die militärische Bedeutung und die Möglichkeit, sie als Preisregulator benutzen zu können, wohl nicht zu hoch. Die Hauptschwierigkeit zeigt sich jedoch in der Durchführung. Die Lagerung bestimmter Getreidemengen bei Genossenschaften, Getreidehändlern, Lagerhaltern usw. kann nicht ausreichen. Sie bedänge eine Kontrolle, die kaum wirksam gestaltet werden kann. Daher muß auf eine andere Organisation Bedacht genommen werden und diese zeigt sich im Monopol. Die Kriegsgetreidegesellschaft in Berlin dürfte vielleicht den Ausgangspunkt bilden. Am 25. November 1914 ins Leben getreten, zunächst nur für den Erwerb und die Lagerung inländischen Roggens zwecks Veräußerung hat sie bereits im Dezember das Recht zur Beschlagnahme für alles Brotgetreide erhalten. In der Folge hat sie durch Verordnung des Bundesrats vom 25. Januar 1915 die Aufgabe bekommen, für die Deckung des Bedarfs an Brotgetreide sowohl des Heeres als der Zivilbevölkerung zu sorgen. Sie kauft Getreide ein, läßt es in den ihr angeschlossenen Mühlen vermahlen und übergibt es den Kommunalverbänden. In ihrer jetzigen Fassung ist sie bereits eine vollständige Monopoleinrichtung für den inneren Verkehr mit Getreide und Mehl. Ihre Mitglieder sind der preußische Staat, 48 Großstädte und verschiedene großgewerbliche Unternehmungen. In der Direktion der Gesellschaft ist ein vortragender Rat des preußischen Finanzministeriums und dessen Unterstaatssekretär ist für die Überwachung der Ausführung des Gesetzes bestellt. In Deutschland ist zuerst durch den bekannten Antrag Kanitz, der starke Wellen schlug, die Frage eines einzuführenden Getreidehandelsmonopols lebhaft erörtert worden. Am 14. April 1894 kam der Antrag des Grafen Kanitz auf Einführung des Getreidehandelsmonopols im Deutschen Reichstag zur Verhandlung und wurde mit großer Mehrheit, 159 gegen 46 Stimmen abgelehnt. Mit Ausnahme der Konservativen, einiger Antisemiten, Bauernbündler und Wilden waren alle Parteien gegen die Neuerung. Auch der im nächsten Jahre wiederholte etwas geänderte Vorschlag erlebte das gleiche Schicksal. Er wurde mit 219 gegen 97 Stimmen in eine Kommission verwiesen, aus der er nicht wieder zum Vorschein kam. Der Mißerfolg rührte wohl wesentlich daher, daß es in erster Linie auf Mindestverkaufspreise abgesehen war. Der Bund der Landwirte hatte sich das Verhältnis etwas anders gedacht. Er wünschte die Wiederverkaufspreise auf die Höhe des Durchschnitts der Getreidepreise in den letzten 40 Jahren gebracht zu sehen. Ähnlich forderte Graf Kanitz bei Wiederholung seines Antrages, die Verkaufspreise auf die inländischen Durchschnittspreise der Jahre 1850–90 zu gründen. Indeß auch in dieser Form fand die Idee keinen Anklang. Es kommt jedoch jetzt nicht nur darauf an den Erzeugern stetige Preise zuzusichern, sondern auf die Sicherheit für die Gesamtheit jederzeit 1139

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genügend Brotgetreide zur Verfügung zu haben. Wird somit in Zukunft der Standpunkt des Konsumenten entscheidend werden, so kann man sich auch nicht mehr an der Monopolisierung des auswärtigen Getreidehandels genügen lassen, sondern muß den ganzen Verkehr mit Getreide dem Staate überlassen. Das Reich muß den Alleinverkauf des gesamten in- und ausländischen Getreides haben. Einerseits sollen dadurch die Verbraucher gegen Teuerungen geschützt werden, andererseits müssen Preise gezahlt werden, die einen angemessenen Gewinn des Erzeugers in sich schließen. Sonst geht eben die einheimische Produktion des Getreides zurück. 2. Liegt nun bei dem einzuführenden Getreidehandelsmonopol das Schwergewicht in der volkswirtschaftlichen Notwendigkeit, ohne den Getreidepreis im Interesse des Fiskus hoch gesteigert sehen zu wollen, so führt der andere Punkt, auf den ich zu sprechen kommen wollte, ebenfalls zu den Monopolen. Der Krieg hat uns schwere finanzielle Lasten auferlegt. In fünf Anleihen während zweier Kriegsjahre hat das deutsche Volk den Betrag von 47 Milliarden Mark aufgebracht. Man begreift die Bedeutung dieser Summe erst, wenn man sich ins Gedächtnis zurückruft, daß hervorragende Geldmänner, wie vor dem Kriege die Möglichkeit Anleihen aufzunehmen, bestritten. „Kriege“, erklärte einer derselben am 25. Juni 1911 im preußischen Herrenhause, „können heutzutage nicht mit Anleihen geführt werden. Ich wüßte nicht, wer uns die Milliarden geben sollte – das Ausland gewiß nicht, Anleihen sind nur im Frieden zu machen.“ So wurde in Bankkreisen, die auch heute noch unsere Lage gegenüber dem angeblich finanziell stärkeren England schwarz zu malen lieben, die Kraft des deutschen Volkes beurteilt und so hat ihm das deutsche Volk geantwortet: Von 1871 bis 1914 hatte das deutsche Reich zusammen 5 Milliarden Mark Schulden aufgenommen, jetzt in zwei Jahren den fast zehnfachen Betrag allein. So bewundernswert diese Opferwilligkeit ist, sie rettet uns noch nicht. Nun kommt die jährliche Verzinsung! Im Rechnungsjahr 1913 war für die Verzinsung und Tilgung die Summe von 240 Millionen Mark vorgesehen. Der Etat von 1915 hatte eine Zinszahlung in Höhe von 1268 Millionen eingestellt und der Voranschlag für das laufende Jahr rechnet mit 2302 Millionen. Es geht uns wie allen kriegführenden Mächten, so wie der Marschall im 2. Teile von Goethes Faust ausruft: „Welch Unheil muß auch ich erfahren! Wir sollten alle Tage sparen Und brauchen alle Tage mehr, Und täglich wächst mir neue Pein.“ Wir wollen uns nicht dabei aufhalten, zum Troste einen Vergleich mit den Schulden anderer Länder zu ziehen. Dafür ständen ja nur Angaben aus der Zeit vor dem Kriege zur Verfügung. Damals fiel die Staatsschuld, auf den Kopf der Bevölkerung berechnet, in Rußland niedriger als in Deutschland, in Österreich-Ungarn 1140

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und England nahezu gleich mit uns, in Italien und Frankreich höher als bei uns aus. Die Kriegskredite haben natürlich eine gründliche Veränderung hervorgebracht. Wir haben auch keine Veranlassung in eine Kritik unserer Schulden einzutreten. Ohne Schulden ist bekanntlich kein Land in die Höhe gekommen. In neuerer Zeit sind überall dem Staate Aufgaben zugewiesen, deren Lösung nicht nur der Gegenwart dient, sondern auch der Zukunft zugute kommt. Daß man in solchen Fällen nicht mit den laufenden Einnahmen auskommt, sondern zur Aufnahme von Anleihen schreitet, versteht sich von selbst. Die Ausgaben für den bewaffneten Friedenszustand und für unsere Flotte wurden von manchen Seiten bekrittelt. Aber könnte man sich einen Zustand denken, bei dem der Schutz nach außen nicht vom Reiche käme? Würde jeder deutsche Einzelstaat so wie früher für den Schutz seiner Angehörigen Sorge zu tragen haben, so würde die Ausgabe noch größer und jedenfalls weniger wirkungsvoll sein. Wie einmal die geographische Lage Deutschlands ist, mitten im Herzen Europas, leicht Angriffen von mehreren Seiten ausgesetzt, müssen wir eben bis auf die Zähne bewaffnet auf unserer Hut sein. Entgegen der landläufigen Ansicht darf man behaupten, daß diese Ausgaben für des Reiches Wehr und Waffen produktiv sind, auf den Handel und die Industrie günstig eingewirkt haben. Die Handelsgeschichte lehrt uns, daß ohne eine starke Kriegsflotte der Seehandel nicht gedeihen wollte. Die schöpferischen Staatsmänner der älteren Zeit, ein Colbert, ein Cromwell, später der erste Napoleon haben, von der Wichtigkeit einer Kriegsflotte durchdrungen, daran gearbeitet eine solche zu beschaffen. Die deutsche Hanse ist daran zugrunde gegangen, daß noch kein einheitliches deutsches Reich hinter ihr stand und sie nicht in der Lage war, sich der Angriffe der allmählich aufkommenden ihr feindlich gesinnten Mächte zu erwehren. Unsere Ausgaben für innere Reformen, für das Gesundheitsamt, die Durchführung der Sozialversicherung, für Dampfersubventionen und Kolonien – sie waren keine Luxusausgaben. Sie haben uns nicht ärmer, sondern mit den wirtschaftlichen Fortschritten, die sie haben bewirken helfen, reicher gemacht. Daß nun seit 1914 zu allen diesen Ausgaben neue in sehr viel beträchtlicher Höhe gekommen sind, mag ja bedauerlich erscheinen. Aber wir dürfen hier doch getrost uns daran erinnern, daß wir keinen Eroberungskrieg, sondern einen Verteidigungskrieg, der uns aufgezwungen wurde, führen. Dient zu unserer Rechtfertigung, daß bittere Notwendigkeit, der Selbsterhaltungstrieb uns zu dem Aufwande zwang, so entsteht gleichwohl die Frage, wie die Deckung in die Wege zu leiten ist. Dem Deutschen Reich sind die Quellen zur Deckung seines ordentlichen Finanzbedarfs im Artl. 70 der Verfassung angewiesen. Sie bestehen in Zöllen und Verbrauchsabgaben, der sogen. privatwirtschaftlichen Einnahme aus Post und Telegraph, Reichsdruckerei, Reichsbank, Reichseisenbahnen, endlich den Matrikularbeiträgen. Die letzteren sind nur als subsidiaires Deckungsmittel gedacht, wenn die aus anderen Quellen fließenden Einnahmen nicht ausreichen. Die Einnahmen, die der Staat als Privatwirtschaft bezieht, indem er seine Leistungen direkt bezahlen läßt, können gewiß gesteigert werden. Reichsbank und 1141

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Reichsdruckerei haben im Laufe der Jahre ihre Beiträge zu den Reichseinnahmen vergrößert, die erstere schließlich 34 Millionen, die letztere 5 Millionen netto geliefert. Aber beider Einnahmen sind durch den Gang des Wirtschaftslebens bedingt und haben daher im Etat für 1916 niedriger angesetzt werden müssen. Post und Telegraphen gaben 1913 Überschüsse von mehr als 100 Millionen und werden mit den am 1. August 1916 eingeführten Zuschlägen höhere Summen liefern. Stärkere Tariferhöhungen werden im Interesse des Verkehrs kaum zulässig sein. So bleibt das Reich auf Steuern angewiesen. Seinen Schwerpunkt hat es heute in den indirekten Steuern. Den höchsten Betrag liefern die Zölle, demnächst die Stempelabgaben, die Branntwein-, Zucker-, Brau-, Tabak- und Zigarrettensteuer. Direkte Steuern besitzt das Reich in dem Wehrbeitrag, der einmalig 1913 als erstes Drittel 315 Millionen abwarf, in der Steuer auf Kraftfahrzeuge, auf Personenfahrkarten, auf Erbschaften. Über die Vorzüge der indirekten und direkten Besteuerung ist viel gestritten worden. Tatsächlich ist es ein Vorteil für den Pflichtigen, daß er die schuldigen Steuern in so verschwindend kleinen Beiträgen zahlen darf, wie es bei den indirekten Steuern der Fall ist. Jedermann weiß selbstverständlich, daß er in dem höheren Preise für Brot, Salz, Bier, Branntwein eine Abgabe entrichtet. Jedoch dieser Aderlaß ist wegen der Geringfügigkeit weniger empfindlich als wenn es heißt, von seinem Einkommen 3–4 % ohne Zaudern herzugeben. Für den empfangenden Staat zeigt sich der große Vorzug, daß nach Maßgabe der Zunahme der Bevölkerung die Steuererträge wachsen. Je zahlreicher die Bevölkerung ist, desto mehr vergrößern sich die Ausgaben des Staates für sie und es ist somit nur billig, daß diese sich vermehrende Bevölkerung die Unkosten, die durch ihr Dasein bedingt sind, tragen hilft. Mit der Möglichkeit eines Rückganges im Konsum und also in den Einnahmen hat man deshalb nicht nötig zu rechnen, weil es sich um unentbehrliche Gegenstände handelt, auf deren Genuß, wie bei Brot und Salz, niemand verzichten kann. Erlaubt aber die steigende Wohlhabenheit der Bevölkerung einen ausgedehnteren Genuß der versteuerten Artikel, so hat wieder der Staat den Vorteil, ohne daß die Pflichtigen, die ja überdies leistungsfähiger geworden sind, bedrückt werden. Auf diese Weise bleibt an den indirekten Steuern nur hängen, daß sie die ärmeren Schichten der Gesellschaft verhältnismäßig zu hoch belasten. Sie lassen keine Verteilung der Abgaben nach der Leistungsfähigkeit der Pflichtigen zu. Brot, Salz, zum Teil auch Bier sind Lebensmittel, auf deren Genuß nicht verzichtet werden kann, die man aber in der Regel nur in beschränktem Umfange zu sich nehmen kann, daher die Reicheren nicht in demselben Maße als ihre Mittel es erlauben, sie gegenüber den Ärmeren stärker verzehren. Die indirekte Abgabe lastet schwerer auf den weniger wohlhabenden Schichten der Bevölkerung als auf den besser gestellten und in dem Falle der Salzsteuer wirkt sie geradezu umgekehrt progressiv, da die vorzugsweise vegetabilische Kost der Ärmeren sie zwingt, größere Mengen von Salz zu sich zu nehmen. Es ist berechnet worden, daß die Verbrauchsbelastung durch Reichssteuern und Zölle heute bei einem Einkommen von 4–6000 Mark ungefähr 1,04–1,48 %, aber bei einem Einkommen von weniger als 800 Mark zirka 4,64–5,22 % des Einkommens beträgt. 1142

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Die Ungerechtigkeit, die hierin liegt, läßt sich so ausgleichen, daß man auf der anderen Seite die besitzenden Klassen durch direkte höhere Steuern trifft wie die Erbschaftssteuern und die Reichsstempelabgaben, daß man die Einkommenbesteuerung erst von einem bestimmten Betrage des Einkommens ab verlangt, die kleinen Einkommensstufen frei läßt, daß man endlich aus öffentlichen Mitteln den ärmeren Schichten der Gesellschaft Zuwendungen macht wie bei der Alters- und Invaliden-, Witwen- und Waisenversicherung. Bis auf den heutigen Tag hat daher Wahrheit behalten, was der englische Premier Gladstone eines Tages im Unterhause im Jahre 1861 sagte: „Mir erscheinen direkte und indirekte Steuern niemals anders als zwei anziehende Schwestern, die in die gute Londoner Gesellschaft eingeführt, beide mit großem Vermögen, beide von denselben Eltern abstammend ..., sich nur so unterscheiden, wie das bei 2 Schwestern vorkommt, in dem blonderen oder brünetteren Typ ... Die eine ist freier und offenherziger, die andere etwas schüchterner, zurückhaltender und rätselvoller. Ich sehe keinen Grund, warum zwischen den Bewunderern der beiden Damen eine unfreundliche Rivalität sein sollte, und bekenne frei – man mag es unmoralisch finden oder nicht –, daß ich als Schatzkanzler und Mitglied dieses Hauses es nicht für zulässig, sondern für pflichtgemäß hielt, beiden meine Aufmerksamkeit zu beweisen. Ich bin daher zwischen direkten und indirekten Steuern vollständig unparteiisch.“ Es fragt sich jetzt auf welchem Wege die weitere Entwicklung der Reichsfinanzen vor sich gehen soll. In den Bundesstaaten hat man sich einschließlich der Gemeindeabgaben sehr deutlich der Erschließung der direkten Steuerquellen zugewandt unter fast völliger Vernachlässigung der indirekten. Grundsätzlich würde gegen direkte Reichssteuern kein Bedenken zu erheben sein. Daß sie wie manche sagen, dem Geiste oder dem Wortlaute der Verfassung widersprächen, trifft nicht zu. Der angezogene Art. 70 der Verfassung läßt die Erhebung von Matrikularbeiträgen zu „so lange Reichssteuern nicht eingeführt sind“. Unter solchen können nur direkte verstanden werden, da indirekte tatsächlich damals schon vorhanden waren. Und man geht kaum fehl, wenn man an diejenigen Steuern denkt, die in den Tagen, als die Verfassung entstand, den volkswirtschaftlichen Anschauungen am meisten zusagten, nämlich Einkommensteuern. Aber die steigende Inanspruchnahme der direkten Steuern bedeutet nur zu leicht einen Steuerdruck. Die Mängel der direkten Steuern treten um so mehr hervor, je schwerer die Last wird, die getragen werden soll. Volkswirtschaftliche Bedenken raten mithin davon ab im Reich direkte Steuern weiter zu entwickeln. Die in den letzten Jahren in allen deutschen Bundesstaaten eingeführten und vervollkommneten Einkommensteuern beruhen auf ungleichen Grundlagen. Die Behandlung außerordentlicher Einnahmen, die Belastung der Aktiengesellschaften, die Festsetzung des Steuerfußes, die Höhe des freizulassenden Existenzminimums, die Anrechnung etwaiger Versicherungsbeträge, die Berücksichtigung persönlicher ungünstiger Verhältnisse der Pflichtigen – diese und andere Punkte sind in den Gesetzgebungen verschieden erledigt. Wird die Besteuerung des Einkommens auch vom Reich in Anspruch genommen, so müssen überall die gleichen Grundsätze anerkannt werden. 1143

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Demnach müßten die Bundesstaaten ihre historisch überkommenen Einrichtungen ändern oder es müßten für die beiden Besteuerungen, im Reich und im Bundesstaate, zwei gesondert zu berechnende Einkommen aufgestellt werden. Auf geringere Bedenken stieße eine Reichsvermögenssteuer. Sie besteht zwar auch schon in 14 deutschen Ländern, aber sie hat den versöhnlichen Zug, daß der Besitz stärker herangezogen wird. Die Grundlage einer Vermögenssteuer ist eine dauernde gegenüber den Schwankungen eines insbesondere auf Arbeit gegründeten Einkommens. Gegen beide Steuern muß eingewandt werden, daß, wenn sie befriedigende Ergebnisse liefern sollen, sie in sehr hohen Prozentsätzen gefordert werden müssen. Bei früheren Reformvorschlägen ist berechnet worden, daß, wenn in Deutschland auf dem Wege der Einkommenbesteuerung 100 Millionen aufgebracht werden sollen, l % verlangt werden müßte. Das würde heißen, daß ein sächsisches Einkommen von 3000 Mark, das heute 67 Mark zahlt, außer der kommunalen Steuer noch eine Summe von 30 Mark zu entrichten hätte. Das wäre angesichts der Kriegslage wohl erträglich – aber gegenüber einem Schuldendienst von 2302 Millionen verschlagen 100 Millionen gar wenig. Um eine Milliarde zu erhalten, müßte man 10 % nehmen, das wäre im vorliegenden Falle 300 Mark. Und man würde selbst dann noch nicht reichen. Das Deutsche Reich hat den direkten Weg beschritten im Wehrbeitrag vom 3. Juli 1913, in der Besitzsteuer vom 3. Juli 1913 und der Kriegssteuer vom 21. Juni 1916. Der erstere war einmalig gedacht und brachte in drei Jahren eine Milliarde auf. Die Besitzsteuer ist eine Abgabe vom Vermögenszuwachs, die zum 1. April 1917 eingeführt wird. In Abständen von je drei Jahren wird sie mit 0,75 % bei einem Zuwachs von weniger als 50 000 Mark erhoben und steigt bei größerem Zuwachs prozentual. Darüber hinaus hat es die Kriegssteuer auf diejenigen Personen abgesehen, die während des Krieges keine Verminderung ihres Vermögens um mindestens 10 % erfahren haben. Am 31. Dezember 1916 wird festgestellt, ob das Vermögen gegenüber dem Stande vom 1. Januar 1914 eine Veränderung erfahren hat. Hat es sich nicht verringert, so wird, sofern es 90 % des für den Beginn des Veranlagungszeitraums festgestellten Vermögens übersteigt, mit 1 % belegt. Ein in dem dreijährigen Zeitraum unverändert gebliebenes Vermögen von 100 000 Mark würde somit von 10 000 Mark l %, d. h. 100 Mark zu entrichten haben. Im übrigen ist von der Vergrößerung eine außerordentliche Kriegsabgabe zu zahlen, die prozentual mit der Größe des Zuwachses steigt. Hat jemand, der am 1. Januar 1914 100 000 Mark besaß, am 31. Dezember 1916 110 000 Mark, so muß er von 10 000 Mark Zuwachs 5 %, also 500 Mark bezahlen. An Besitzsteuer würde er außerdem für 10 000 Mark Zuwachs 75 Mark zu entrichten haben, im Ganzen mithin 575 Mark von den 10 000 Mark Zuwachs. Man kann gewiß nicht behaupten, daß eine derartige Besteuerung zu hoch gegriffen ist, zumal der Zuwachsbesteuerung nur Vermögen unterliegt, dessen Betrag über 20 000 Mark hinausgeht, von der Kriegssteuer freilich schon Vermögen von mehr als 10 000 Mark und Zuwächse von mehr als 3000 Mark getroffen werden. Den Anforderungen steuerlicher Gerechtigkeit entsprechen aber diese Steuern nicht, 1144

Antrittsrede 1916

passen sich der verschiedenen Leistungsfähigkeit der Individuen ungenügend an, werden sicher eine Verlangsamung in der Bildung neuer Vermögen bewirken. Unwillkürlich gerät man hierbei auf den mephistophelischen Standpunkt: Wo fehlt’s nicht irgendwo auf dieser Welt? Dem dies, dem das, hier aber fehlt das Geld. Vom Estrich zwar ist es nicht aufzuraffen Doch Weisheit weiß das Tiefste herzuschaffen In Bergesadern, Mauergründen Ist Gold gemünzt und ungemünzt zu finden: Und fragt ihr mich, wer es zutage schafft: Begabten Manns Natur- und Geisteskraft. Sollten diese Einwände vielleicht als doktrinäre zurückgewiesen werden, so bleibt doch vor allen Dingen schlimm, daß auch auf diesem Wege noch keine volle Deckung unserer Verpflichtungen erreicht werden kann. Der Ertrag ist vom Schatzsekretär auf mehr als 1 Milliarde geschätzt worden. Wir brauchen aber mindestens deren drei, und zwar alljährlich, während Kriegs- und Besitzsteuer doch nur in dreijährigen Perioden eingesammelt werden sollen. Somit wird uns nicht erspart, nach anderen Steuerquellen uns umzusehen. Diese zeigen sich auf direktem Wege in einer Ausdehnung der Erbschaftssteuern, indirekt durch vergrößerte Anwendung des Monopols. Das Reich zieht aus der Besteuerung der Erbschaften 1913 46 1/3 Millionen, die Bundesstaaten gleichzeitig aus ihnen 23 Millionen. Den letzteren kann man diese Einnahmen nicht fortnehmen wollen. Aber verglichen mit den Einnahmen anderer Staaten aus der gleichen Quelle zeigt sich die Gelindigkeit unserer Erbschaftssteuer. England vereinnahmt 378 Millionen, Frankreich 201 Millionen. Pro Kopf der Bevölkerung beläuft sich der Betrag an Erbschaftssteuern in England auf 9, in Frankreich auf 5, in Deutschland auf noch nicht eine Mark. Das kommt daher, daß mit Ausnahme von Hamburg und ElsaßLothringen Ehegatten und Deszendenten in Deutschland steuerfrei bleiben. Indem man diese ganz allgemein heranzöge, ließe sich der Betrag der Erbschaftssteuer im Reiche erheblich vermehren. Indes selbst mit dieser Steuer kämen wir nicht ans Ziel und so werden eben die Monopole nicht mehr unberücksichtigt bleiben dürfen. Die grundsätzlichen Bedenken, die man früher gegen diese Besteuerungsform einwandte, hören mit der Erkenntnis auf, daß auf anderem Wege die erforderlichen hohen Erträge nicht herausgewirtschaftet werden können. Gewiß ist es bedenklich, daß vielen Privatpersonen mit ihrer Einführung die Möglichkeit selbständiger Existenz erschwert wird. Allein man darf nicht übersehen, daß in sehr vielen Zweigen des heutigen Wirtschaftslebens eine unverkennbare Neigung zur Konzentration besteht, wobei die Gefahr droht, daß schließlich die Regelung einzelner Industrien und Berufszweige in die Hände weniger gerät, die dann die anderen von sich abhängig machen. Da bietet die staatliche Monopolisierung viel mehr Gewähr für die Berücksichtigung auch privater Interessen. In den Kriegsjahren hat man leider erfahren müssen, wie z. B. der Handel die 1145

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Gunst der Lage für sich monopolistisch sehr zum Schaden der Gesamtheit auszubeuten geneigt ist. Bis zu einem gewissen Grade hindert oder beeinträchtigt das Monopol technische Fortschritte. Das läßt sich nicht leugnen. Im freien Wettbewerb wird von selbst auf Ermäßigung der Produktionskosten hingearbeitet, um mehr verdienen und dem andern den Rang ablaufen zu können. Das veranlaßt Verbesserungen der Technik. Doch braucht man sich davor nicht zu fürchten, daß bei deutschen Staatsbeamten dieser Trieb wegfallen wird. Auch sie werden den Ehrgeiz betätigen, dem Staat tunlichst große Einnahmen verschaffen zu wollen und dadurch auf technische Veränderungen sinnen. Für die Arbeiter und Beamten kann im Monopol besser gesorgt werden als bisher. Der Unternehmer ist oft sozialen Änderungen abhold, weil damit Verzicht auf eigene Annehmlichkeiten verknüpft ist. Der Staat dagegen als Arbeitgeber steht unpersönlich da und kann der modernen Auffassung, die dem Arbeiter mehr zubilligen will, leichter huldigen. Die so sich offenbarende angemessene Behandlung versöhnt dann wieder diejenigen, die ihre wirtschaftliche Selbständigkeit im staatlichen Monopolbetriebe einbüßen. Von vorübergehenden Nachteil ist die Entschädigung derer, die auf die Weiterführung ihrer Betriebe zu Gunsten des Staats verzichten müssen. Man hat aber nicht nötig, diese Summen hoch zu bemessen, da eben die betreffenden Privaten doch längere Zeit im Genusse der Gunst der Lage gewesen sind und das Interesse der Gesamtheit gebieterisch Sparsamkeit fordert. Jedenfalls stehen diese Bedenken zurück hinter der erfahrungsgemäß großen Ergiebigkeit der Monopole. In einer für den Steuerpflichtigen durchaus bequemen Weise läßt sich der Steuerfuß verändern, hinaufschieben oder heruntersetzen. Von selbst gehen die Erträge in die Höhe, wenn die Bevölkerung wächst und stärkerer Konsum entwickelt wird. Im übrigen kann das Monopol auf den jeweiligen Staatsbedarf durch Erhöhung oder Ermäßigung der Preise eingestellt werden. Die Aussicht, daß Monopolpreise eines Tages herabgesetzt werden, ist nicht so gering, wie häufig behauptet wird. Eine Ermäßigung hängt von der Höhe des Staatsbedarfs ab und über diese hat die Volksvertretung zu befinden. Welche Gegenstände sich am besten zum Monopol eignen, wollen wir nicht mehr untersuchen. Außer dem Getreide können Steinkohlen, Kali, Zündhölzer, Zigaretten, Tabak überhaupt, der Branntwein, die Lebensversicherung usw. in Betracht gezogen werden. Es würde zu weit führen über die größere oder geringere Zweckmäßigkeit im einzelnen Falle Betrachtungen anzustellen. Nur darauf mag hingewiesen werden, daß die Schwierigkeiten der Organisation nicht so groß sind als manche meinen. Viele schrecken vor dem großen Apparat, der bei der Einführung des Monopols nötig zu sein scheint, zurück. Andere glauben, daß in der Verfassung des deutschen Reichs Hemmnisse lägen. Ich für meine Person würde für das Zweckmäßigste eine einheitliche Organisation durch das Reich halten. Doch könnte ich mir schließlich denken, daß z. B. beim Getreidemonopol Bayern oder Sachsen die Magazinierung ihres Weizens oder Roggens und die Abgabe an die Konsumenten selbständig in 1146

Antrittsrede 1916

die Hand nehmen würden. Nur müsste man über den Einkaufspreis des einzukaufenden Getreides sich verständigen, damit man nicht gegenseitig sich Konkurrenz mache und wohl auch den Verkaufspreis im gegenseitigen Einvernehmen festsetzen. Auf einem der eingangs erwähnten Festmahle des deutschen Landwirtschaftsrats hat der Reichskanzler gesagt: „Gott hat dem deutschen Volk eine Stelle auf dem Erdball angewiesen und unsere Geschichte so gefügt, daß Opfer, große Opfer unser schweres Erbteil sind“. Sicher liegt diesem Ausspruche ein richtiger Gedanke zu Grunde. Aber wir haben nicht nötig, uns deswegen mutlos zu fühlen. Schon Montesquieu lehrte, daß nur hochstehende Völker hohe Steuern erträgen, weil nur sie ihren Wert und ihre Bedeutung zu schätzen wüßten. Unser Volksvermögen ist seit Jahren im Wachstum begriffen. Wir können diese Opfer bringen und wir wollen sie bringen, damit Deutschland mit der Ehre und Achtung, die unserem Volke gebühret, genannt werde. Wenn Jesus Sirach uns rät „Gib dem Herrn Opfer, die ihm gebühren“, so dürfen wir das getrost auf das Vaterland ausdehnen. Und dürfen daran die anderen Worte schließen „Was du gibst, das gib gerne und heilige deine Zehnten fröhlich“. Ihnen aber, meine lieben jungen Kommilitonen, möchte ich besonders ans Herz legen, auch fernerhin der Verpflichtungen dem Vaterlande gegenüber eingedenk zu bleiben. Sie sollen einst die Früchte des gegenwärtigen heißen Völkerringens mehr genießen als wir. Sie haben schon heute nicht gezaudert, dem Vaterlande die Treue mit ihrem Blute zu besiegeln. Welche Opfer man immer einst von Ihnen verlangen wird – mögen sie Ihnen nie zu groß für Kaiser und Reich, für Vaterland und Volk erscheinen. Benutzte Literatur. 1. Ludw. Pohle, Deutschland am Scheidewege, 1903. – Adolf Wagner, Agrarstaat oder Industriestaat. – Ballod, Die Volksernährung im Krieg und Frieden in Jahrbuch für Gesetzgebung u. Verwaltung 39. Jahrg. (1915) S. 77 ff. – Zeitschrift für Agrarpolitik in verschiedenen Jahrgängen. – Naudé, Getreidehandelspolitik der Europäischen Staaten, Berlin 1896. 2 Bde. – Hainisch, in Schriften d. Ver. f. Sozialpolitik 155, 2 S. – J. A. Zehnter, Der Antrag Kanitz auf Verstaatlichung der Getreideeinfuhr, 1895. – F. Pichler, Der Antrag Kanitz o. J. – L. von Graß, Kornhaus kontra Kanitz, 1895. – H. Dade, Friedensziele d. deutschen Landwirtschaft nach dem Kriege in Konserv. Monatsschrift 1916 Juliheft. 2. W. Eras, Das Branntwein-Monopol, 1886. – Desider Kürti, Betrachtungen über das Staatsmonopol im allgemeinen, 1890. – E. Kühn, Das Getreidemonopol, 1903. – Ed. Goldstein, Monopole u. Monopolsteuern, 1916. – Kahl, Wagner, Lamprecht, Die nationale Bedeutung der Reichsfinanzreform, 1908. – Die Reichsfinanzreform, 2 Bde. 1909. – Ad. Wagner, Die Flottenverstärkung und unsere Finanzen, 1900. – Ad. Wagner, Die Reichsfinanznot, 1908. – G. Schmoller, Skizze einer Finanzgeschichte im Jahrbuch f. Gesetzgebung und Volkswirtschaft 33 (1909) S. 1 ff. – K. Th. von Eheberg, Die Kriegsfinanzen, 1916. – O. Schneider, Die Kriegssteuern im Jahrbuch für Gesetzg., Verwaltung und Volksw. 39 (1915) S. 225. – Köppen, 1147

Wilhelm Stieda

Die Deutschen Kriegsanleihen in Jahrbuch f. Nationalökonomie 3. F. 51 (1916) S. 321. – J. Wolf, Die Steuerreserven in England und Deutschland, 1915. – Gerloff, Die steuerliche Belastung in Deutschland während der letzten Friedensjahre, 1916. ***

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31. Oktober 1917.

Rede des abtretenden Rektors Dr. Wilhelm Stieda.

Bericht über das Studienjahr 1916/17. Hochansehnliche Versammlung! Noch immer hängen die Gewitterwolken des Krieges tief über unserem Vaterlande. Trotz des mannhaften Widerstandes im Westen, der es uns ermöglicht, unsere Stellungen festzuhalten, trotz der unleugbaren großartigen Erfolge im Osten und auf den Meeren ist die Lage noch nicht geklärt. Der Frieden war schon in greifbare Nähe gerückt, um dann wieder, weil er mit Forderungen verknüpft war, die mit der deutschen Waffenehre und dem deutschen Selbstbewußtsein unvereinbar erschienen, in unabsehbare Ferne entrückt zu werden. So bleibt auch für das begonnene Semester nur die Losung des Aushaltens. Von der Überzeugung durchdrungen, daß ein Frieden, der den riesenhaften Opfern an Blut und Gut nicht gebührend Rechnung trägt, zu Deutschlands Verhängnis werden muß, dürfen wir nicht vor geduldigem Ausharren zurückschrecken. Möge der Allmächtige dem deutschen Volke in allen seinen Teilen die Stärke verleihen, die nötig ist, um gegenüber den vielen Anfechtungen von außen und von innen die erstrebenswerten Ziele keinen Augenblick aus dem Auge zu verlieren. Unter dem Drucke des Kriegszustandes gewinnt der Bericht des zurücktretenden Rektors seine Färbung. Fast alle Entschließungen, Vorgänge und Sitzungen hatten immer wieder ihren Ausgangspunkt im Kriege und den durch ihn bedingten Veränderungen. Allem zuvor geziemt es unserer teueren, durch den Krieg von uns gerissenen Toten zu gedenken. Aus dem Lehrkörper hat er den ordentlichen Honorarprofessor der Theologie Caspar Rene Gregory und den Privatdozenten für Geschichte Francis Smith geraubt. Geboren am 6. November 1846 in Philadelphia, erhielt Gregory seine Bildung in seiner Vaterstadt und auf dem Princeton Seminar 1867–73. Darauf begab er sich nach Deutschland, um seine Studien zu vollenden. Hier wurde für sein Leben entscheidend einerseits seine Freundschaft mit Harnack, anderseits die Tatsache, daß er in die Lebensarbeit des 1874 verstorbenen Tischendorf eintrat. Dem ersteren verdankt er seine theologische Richtung. Die Fortführung der Arbeiten Tischendorfs gab ihm die Aufgabe für seine wissenschaftlichen Bestrebungen; sie galten in erster Linie der Herstellung des Textes des Neuen Testamentes. Gregory habilitierte sich im Sommer 1884 an der Theologischen Fakultät, wurde 1887 außerordentlicher, 1889 ordentlicher Honorarprofessor. Die theologische Doktorwürde erhielt er 1893. Gregory hat seine amerikanische Heimat nie vergessen. Aber Deutschland hat er geliebt wie sein Vaterland. Als der Krieg ausbrach duldete 1149

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es ihn deshalb nicht zu Hause. Obgleich fast 70jährig, zog er mit ins Feld. Dort hat er auf dem französischen Kriegsschauplatze am 10. April 1917 einen ruhmvollen Tod gefunden. Francis Smith, in London geboren, war erst im Frühjahr 1914 nach Leipzig übergesiedelt und hatte im Sommersemester seine Lehrtätigkeit noch nicht aufnehmen können. Aus der Schule Hans Delbrücks hervorgegangen, bevorzugte er als sein spezielles Arbeitsgebiet die Kriegsgeschichte, namentlich des Altertums und Mittelalters, auf dem er einige tüchtige und selbständige Untersuchungen veröffentlicht hat. Bei Ausbruch des Krieges meldete er sich freiwillig zum Sanitätsdienst, in dem er vorwiegend auf bulgarischem Boden tätig war, bis er bei der von der Heeresleitung verfügten Ausmusterung der Sanitätsmannschaften zu den Pioniertruppen übernommen wurde. Als Pionierunteroffizier ist er am 6. September 1917 im 37. Lebensjahre gefallen. Von unseren lieben jungen Kommilitonen haben in den drei Kriegsjahren schon 805 die Liebe zum Vaterlande mit ihrem Blute besiegelt, davon im letzten Rektoratsjahr allein 202. Ihr früher Heimgang löst in uns das Gefühl der herzlichen Dankbarkeit und Bewunderung für diese treu bis zum Tode als Helden sich Bewährenden aus. Unbekümmert um das Schicksal ihrer Vorgänger sind sie immer wieder im Bewußtsein der ihnen auferlegten Pflicht und dessen, was die Zukunft des Vaterlandes gebot, frisch, lebendig, tatkräftig ins Feld gezogen, der Stolz und die Freude der Regimenter, denen sie angehörten. Wie ist es doch so gut um die Kraft eines Volkes bestellt, das immer wieder aufs neue so zahlreiche totesmutige Mannschaft einzusetzen hat! Ohne die verheißungsvollen Freuden des Lebens je gekannt zu haben, sahen sie sich vor seinen Ernst gestellt und ertrugen das schwere Schicksal mannhaft. In der Tat haben die deutschen Hochschulen die denkbar größten Opfer auf sich nehmen müssen. Voll Anerkennung und Stolz gedenken wir heute derer, die einst die unsrigen waren und trauern aufrichtig mit den tiefgebeugten Eltern, Geschwistern, Verlobten, daß so viele nicht erfüllte Hoffnungen ins frühe Grab sinken mußten. Das Gedächtnis der Gefallenen zu ehren beteiligte sich am 3. Dezember 1916 der Rektor mit einer Anzahl Studenten und Studentinnen an der Fertigstellung des in städtischen Kreisen unter der Führung der Frau Bürgermeister Roth begonnenen zum Schmucke des Rathauses bestimmten Ehrenteppich. In einem dazugehörenden Buche sind die Namen aller gefallenen Kommilitonen eingetragen, deren Andenken auf diese Weise der Nachwelt überliefert werden soll. Außerdem hat die Universität noch 8 Kommilitonen im jugendlichen Alter durch den Tod infolge von Erkrankung verloren. Unter den angestellten Beamten der Universität hat der Krieg dahingerafft: den Büroassistenten bei der Universitätskanzlei Carl Schwartz. Er zog als EinjährigFreiwilliger mit hinaus, war seit dem 25. September 1915 vermißt und hat unter dem 26. September 1916 für tot erklärt werden müssen. Ferner den Expedient bei der Psychiatrischen und Nervenklinik Arnolf Sachse, als Einjährig-Gefreiter gefallen am 11. Mai 1917; den Heizer am Pathologischen Institut Oskar Ebert, gefallen am 27. August 1917. Ehre ihrem Andenken! 1150

Jahresbericht 1916/17

Darüber hinaus haben wir schmerzliche Lücken, die der Tod in der Kollegenschaft entstehen ließ, zu beklagen. Nicht weniger als 8 Professoren und Dozenten sind außer den beiden schon genannten im abgelaufenen Berichtsjahr dahingegangen. Die Theologische Fakultät verlor am 19. Februar 1917 ihren Senior, der zugleich der Senior der Universität war, Hugo Rudolf Hofmann. Geboren am 3. Januar 1825 in Kreischa bei Dresden, erreichte er das hohe Alter von 92 Jahren. Seit 1862 als außerordentlicher Professor an unsere Universität berufen, nachdem er einige Jahre praktisch im Pfarr- und Lehramt tätig gewesen war, erhielt er 1871 das Ordinariat und bekleidete zugleich bis 1889 das Amt eines Universitätspredigers. Seit dem Sommersemester 1910 war er von der Verpflichtung zur Abhaltung von Vorlesungen entbunden. Vertreter der praktischen Theologie und Pädagogik, gehörte seine Neigung der letzteren. Seine Tätigkeit in dem von ihm begründeten Seminar hat mannigfache Anerkennung gefunden und ihm die dankbare Verehrung vieler erworben. Auch seine literarische Tätigkeit war erheblich. Er war einer der ersten Gelehrten, die die Bedeutung der neutestamentlichen Apokryphen für die ältere Kirchengeschichte erkannt hatten. Im 65. Lebensjahre starb am 14. Januar 1917 Georg Hermann Schnedermann, außerordentlicher Professor der Theologie. Geboren am 3. Juni 1852, seit 1880 Privatdozent in Leipzig, folgte er 1883 einem Rufe nach Basel, kehrte aber 1888 an die Universität Leipzig zurück, die ihm 1890 eine außerordentliche Professur für systematische Theologie und neutestamentliche Exegese übertrug. Für seine wissenschaftliche Arbeit ist sein Schülerverhältnis zu dem Erlanger Dogmatiker Frank maßgebend geworden. Nach einer anderen Seite hat die gemeinsam mit Franz Delitzsch besorgte Herausgabe des von dem gelehrten bayrischen Pfarrer Weber hinterlassenen Werkes über die jüdische Theologie (1884, 2. Auflage 1897) tief auf ihn eingewirkt. Sie führte ihn auf den Gedanken, den jüdischen Untergrund des Christentums stärker zu betonen als es gewöhnlich der Fall ist. Seine Anschauungen vertrat er in einer ungewöhnlich umfangreichen literarischen Tätigkeit. Die Juristische Fakultät verlor in dem am 16. Mai 1917, am Tage vor Himmelfahrt, im Alter von 76 Jahren in die Ewigkeit abgerufenen Geheimen Rate und ordentlichen Professor der Rechte Rudolf Sohm einen ihrer glänzendsten Namen, die deutsche Rechtswissenschaft einen ihrer hervorragendsten Vertreter. Geboren am 29. Oktober 1841 in Rostock wirkte er als Privatdozent und Professor seit 1866 in Göttingen, Freiburg und Straßburg, bis er seit dem 7. Juni 1887 als Ordinarius in Leipzig berufen wurde. Ehrendoktor der Theologischen und Philosophischen Fakultät, zugleich ausgezeichnet als Forscher wie als Lehrer, hat er unserer Universität 30 Jahre hindurch angehört, allgemein beliebt und verehrt von Kollegen und Schülern. Seine wissenschaftliche Bedeutung liegt vor allem auf den Gebieten der deutschen Rechtsgeschichte und des Kirchenrechts. Daneben aber verdankt ihm das geltende bürgerliche Recht und das Handelsrecht wertvolle Anregungen. Sein Werk über die fränkische Reichs- und Gerichtsverfassung ist von grundlegender Bedeutung. Er hat dann als der Erste das Geheimnis des altdeutschen Vertragsrechts entschleiernd in großzügiger Weise die Entwicklungsgeschichte des Rechts der Eheschließung dargestellt und eine ganz neue Auffassung vom Wesen der Kirche 1151

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und des Kirchenrechts begründet. Auch über sein eigenstes Gebiet hinausgreifend, hat er den Studierenden das beste Lehrbuch des römischen Rechts geschenkt. Seine wissenschaftlichen Werke fesseln nicht nur durch ihren Ideenreichtum, sondern auch durch ihren ungewöhnlichen Reiz der Form. Vorbildlich im öffentlichen wie im privaten Leben wird seine zugleich charakterfeste, geistvolle und im tiefsten Sinne des Wortes liebenswürdige Persönlichkeit in unser aller Erinnerung fortleben, weit über die Kreise der Universität hinaus. Die Medizinische Fakultät verlor am 16. Dezember 1916 den Privatdozenten Max Seifert, am 22. Dezember desselben Jahres den außerordentlichen Professor Otto Fischer und am 21. April 1917 den außerordentlichen Professor Wilhelm Schoen. Max Seifert, geboren am 18. August 1865, trat 1894 als Laboratoriumsassistent und Prosektor in die Kinderklinik ein und habilitierte sich zwei Jahre später für Kinderheilkunde. Seine Studien waren hauptsächlich der Bakteriologie und Biologie der Milch gewidmet. Seine Absicht war eine praktisch ausreichende Keimfreiheit der Milch ohne Zerstörung ihrer feinsten biologischen Eigenschaften zu erzielen. Er glaubte diesen Zweck durch die Einwirkung der ultravioletten Strahlen des Spektrums auf die Milch zu erzielen. In jahrelangen mühsamen und kostspieligen Untersuchungen, denen er in Ermangelung staatlicher Mittel fast sein ganzes persönliches Vermögen opferte, hatte er endlich die Genugtuung die Stadt Leipzig ein städtisches milchhygienisches Laboratorium einrichten zu sehen, dessen Leitung ihm übertragen wurde. Er vermochte dieses Institut zu einer Zentralstelle für die hygienische Überwachung der gesamten nach Leipzig gelieferten Milch und zu einer Kindermilchanstalt auszubauen, die in manchen Beziehungen vorbildlich für andere Großstädte geworden ist. Wir betrauern in seinem Hingang den Verlust eines aufrichtigen, zuverlässigen Freundes und Kollegen und hochbegabten originell denkenden Forschers. Otto Fischer, geboren am 26. April 1861 in Altenburg, studierte in Jena und Leipzig Mathematik unter Felix Klein, durch den er zu dem Gebiete der angewandten Mathematik geführt wurde. Bestimmend für seine ganze spätere Lebensarbeit wurde die Verbindung mit dem Anatomen Braune, mit dem er gemeinschaftlich eine größere Anzahl von Untersuchungen über die Mechanik der Gelenkbewegungen veröffentlichte. Er wurde mit diesen Arbeiten zum Begründer einer neuen Lehre von der Mechanik der Körperbewegungen. Im Sommer 1893 als Privatdozent für physiologische Mechanik in der philosophischen Fakultät habilitiert, hielt er sehr besuchte Vorlesungen als Einführung in die höhere Mathematik für Mediziner und Naturwissenschaftler. Zugleich bekleidete er im praktischen Schuldienst ein Lehramt an der Petrischule seit 1895, der er bis zu seinem Tode, seit 1912 als Direktor, treu blieb. Die Medizinische Fakultät der Universität Würzburg ernannte ihn 1896 zum Ehrendoktor. Trotz seiner gehäuften amtlichen Arbeit widmete sich Fischer andauernd wissenschaftlichen Untersuchungen, die außer seinem ursprünglichem Arbeitsgebiet auch die physiologische Akustik und Optik zum Gegenstande hatten. So war Fischer eine einzigartige Persönlichkeit, die sowohl in ihrer Bedeutung als hervorragender Schulmann, wie als Universitätslehrer und wissenschaftlicher bahnbrechender Forscher unvergängliche Spuren hinterläßt. 1152

Jahresbericht 1916/17

Wilhelm Schoen, geboren am 29. März 1848, war ein Schüler des hochangesehenen Professors Horner in Zürich und begann seine Dozentenlaufbahn mit einer vielbeachteten Schrift über das Gesichtsfeld. Auch weiterhin blieb sein Interesse vorwiegend den Funktionsstörungen des Auges und ihren Folgen zugewandt, über die er viele Jahre hindurch im Jahresberichte für Ophthalmologie die Referate schrieb und Monographien herausgab. Wenn auch Schoens eigene Ansichten auf diesem Forschungsgebiete sich nicht haben aufrecht erhalten lassen, so ist doch sicher, daß er dem Fortschritte dienen wollte, unbekümmert um persönliche Vorteile. Und es darf ihm nachgerühmt werden, daß er schon 1905 einen Weg zur Heilung des Glaukoms andeutete, den er freilich nicht selbst weiter ausgebaut hat, der aber jetzt von anderen unabhängig von ihm gangbar gemacht, zu den überaus günstigen gegenwärtigen Erfolgen geführt hat. Die philosophische Fakultät hat den Tod des ordentlichen Professors der romanischen Philologie, Geheimen Hofrats Dr. Adolf Birch-Hirschfeld am 11. Januar 1917 und des außerordentlichen Professors der Zoologie, Heinrich Simroth, am 31. August 1917 zu beklagen. Adolf Birch-Hirschfeld hat ein volles Menschenalter an unserer Universität die romanischen Sprachen gelehrt. Am 1. Oktober 1850 in Kiel geboren, siedelte er 1860 mit seinen Eltern nach Leipzig über und studierte seit 1867 anfangs Naturwissenschaften. Von Ebert und Zarncke angezogen ging er indes bald zur Philologie über, habilitierte sich 1878 in Leipzig und ward 5 Jahre später als ordentlicher Professor auf das neubegründete Ordinariat für neuere Sprachen nach Gießen gerufen. Nach mehrjähriger Tätigkeit daselbst kehrte er 1890 als Nachfolger seines einstigen Lehrers Ebert nach Leipzig zurück. Der Eigenart seiner geistigen Veranlagung entsprechend, war seine wissenschaftliche Arbeit weniger der Einzeluntersuchung als vielmehr der zusammenfassenden Darstellung großer historischer Entwicklungsreihen gewidmet. Dies zeigen besonders seine beiden Hauptwerke über die Geschichte der französischen Literatur. Auch in seiner Lehrtätigkeit wandte er sich mit besonderer Liebe der Literaturgeschichte zu, die er mit einer Vollständigkeit und gleichmäßigen Berücksichtigung aller Perioden behandelte, wie das nur an wenigen deutschen Universitäten zu geschehen pflegt. Sein stillbescheidenes, innerlich zufriedenes Wesen lenkte ihn wenig zur Betätigung nach außen hin. Dem offenen aufrichtigen Manne mit dem lauteren friedfertigen Charakter werden die Universitätskollegen ein dankbares Gedächtnis bewahren. Heinrich Simroth, geboren 1851 zu Riestädt in Thür. widmete sich zunächst medizinischen und naturwissenschaftlichen Studien und wandte sich alsdann dem praktischen Berufe als Lehrer zu. Seit 1876 zunächst an der Realschule zu Naumburg an der Saale, später an der städtischen Oberrealschule zu Leipzig, tätig, habilitierte er sich an unserer Universität im Jahre 1888. Von ihr wurde er im Jahre 1895 zum außeretatmäßigen außerordentlichen Professor ernannt. In dieser ganzen Zeit entfaltete er eine rege Tätigkeit als akademischer Lehrer, im besonderen wirkte er in Vorlesungen und Exkursionen überaus verdienstlich für die Vertiefung des biologischen Unterrichts. Als Gelehrter hat er sich einen bedeutenden, in der ganzen Welt geachteten Namen gemacht durch seine zahlreichen Untersuchungen auf dem 1153

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Gebiete der Malakozoologie. An allgemeine biologische Probleme rührt seine Pendulationstheorie, deren Begründung und Durchführung seine Lebensaufgabe geworden war. Der an der Universitätsbibliothek als Oberbibliothekar und Kustos der Gehlerschen Medizinischen Bibliothek angestellte Dr. Robert Abendroth starb am 14. Februar 1917. Geboren am 9. März 1843 hat er von seinem langen arbeitsreichen Leben 33 Jahre der Universitätsbibliothek mit unermüdlichem Eifer gewidmet. Die gesamten naturwissenschaftlichen und medizinischen Kataloge verdanken ihm ihre Neubearbeitung. In einem wenige Jahre vor seinem Tode herausgegebenen Werk über das bibliographische System der Naturgeschichte und Medizin, hat er eine ausführliche Darstellung seiner Katalogisierungsarbeiten hinterlassen. Allen Benutzern der Bibliothek wird er, allezeit mit seinem reichen Schatze von Kenntnissen ihnen nachdrücklichst zu dienen bemüht, in dauernder Erinnerung bleiben. Von außerhalb der Universität vorgekommenen Todesfällen berührten uns nahe: der Heimgang des Grafen Zeppelin am 8. März 1917 und des Ministerialdirektors i. R. Wirklichen Geheimen Rat Exzellenz Dr. Heinrich Waentig am 20. April 1917. Graf Zeppelin war Ehrendoktor der Juristischen und Philosophischen Fakultät unserer Hochschule. Bei seinem Heimgange schickten der Rektor der Universität und der Dekan der Philosophischen Fakultät an Ihre Exzellenz die Gräfin Zeppelin folgendes Beleidstelegramm: „Der Rektor der Universität und die Philosophische Fakultät der Universität Leipzig, deren Ehrendoktor Graf Zeppelin war, sprechen Ew. Exzellenz ihre tiefgefühlte Teilnahme aus an den schweren Verlust, der Sie durch das Hinscheiden Ihres Herrn Gemahls betroffen hat und mit Ihnen das ganze deutsche Volk. Es denkt nicht nur an die Ruhmestaten des dahingegangenen Helden, die er schon vollbracht hat, sondern auch an die, die er hätte vollbringen können. Denn in unermüdlichem Schöpferdrang verstand er stets neue Mittel zur Fortentwicklung seines Werkes auszudenken und das als richtig Erkannte sofort in die Tat umzusetzen“. Die Juristenfakultät depeschierte: „Die Leipziger Juristenfakultät trauert mit Ihnen um den großen Patrioten in dankbarem Stolze, daß auch sie den Grafen Zeppelin in bescheidenem Grade zu ihren Angehörigen zählen durfte.“ An der Beisetzung am 12. März in Stuttgart nahm der Dekan der philosophischen Fakultät Professor Des Coudres teil und legte im Namen der Universität und beider genannten Fakultäten einen Kranz nieder. Heinrich Waentig war Ehrendoktor der philosophischen Fakultät unsrer Hochschule. In den langen Jahren seiner amtlichen Tätigkeit war er aufs Nachdrücklichste bedacht, das Ansehen und den Ruhm unserer alten ehrwürdigen Akademie zu fördern. Erhebliche Neu- und Umbauten an unserer Universität fallen in seine Zeit. Das Landwirtschaftliche Institut, das Veterinärinstitut, das Physikalische, das Zahnärztliche, das Pathologische, das Hygienische Institut und manche andere wertvolle Errungenschaften verdankt man ihm. Viele segensreiche Neuerungen und Verbesserungen sind mit seinem Namen verknüpft. Die Universität wird das Andenken an den verdienten und unermüdlichen Förderer ihrer Bestrebungen immer hoch halten. Bei der Beisetzung am 23. April 1917 war die Universität durch ihren Rektor ver1154

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treten, der dem Dahingeschiedenen an seinem Sarge herzliche Worte des Dankes nachrief. An der gemeinsamen Beileidskundgebung der deutschen Universitäten an die östreichischen beim Ableben Sr. Majestät des Kaisers Franz im Dezember 1916 war auch Leipzig beteiligt. Für die verstorbene Königin Eleonore von Bulgarien, eine deutsche Prinzessin, fand am 20. September 1917 eine Trauerfeier statt. Der Rektor hatte auf Antrag dazu die Universitätskirche zugestanden und nahm selbst an der Feier teil. Glücklicher Weise ist das hinter uns liegende Berichtsjahr nicht nur ein Trauerjahr voller Verluste gewesen. Wir haben auch freudige Ereignisse zu verzeichnen; allem zuvor den Besuch Sr. Majestät des Königs, unseres erhabenen Rectoris magnificentissimi am 20. Februar 1917. Seine Majestät geruhten am Vormittage 11 Uhr in der Chirurgischen Klinik zu St. Jakob einen Vortrag vom Geheimrat Professor Payr über Erfahrungen in der Kriegschirurgie entgegenzunehmen und begaben sich alsdann in die Universität, wo sie um 12 Uhr den Vortrag des Herrn Geheimrat Professor Ehrenberg über die Verstaatlichung des Versicherungswesens durch Ihre Anwesenheit auszeichneten. Den Geburtstag Sr. Majestät beging die Universität mit einem Gottesdienst in der Pauliner Kirche und daranschließendem Festakt in der Aula, bei dem der Prorektor Professor von Strümpell die Rede über Schutzimpfung und ihre jetzige Verwendung im Kriege hielt. Zum Beginn des neuen Jahres 1917 sandte der Rektor an Se. Majestät einen alleruntertänigsten Glückwunsch im Namen der Universität, da bei der herrschenden Kriegszeit es ausgeschlossen war wie sonst üblich, Sr. Majestät persönlich gratulieren zu dürfen. Se. Majestät geruhten huldvollst die Wünsche in einem Telegramm zu erwidern. Durch Besuche von auswärts wurde die Universität erfreut: im Januar 1917 von seiten Bulgarischer Schriftsteller und Künstler, im April von seiten des Chefarchitekten der Stadt Konstantinopel, des Stadtbaurats Assim Bei, im Juni von seiten des türkischen Kultusministers Shükri Bei, im Juni von seiten einer Anzahl türkischer Journalisten. Bei der Gedenkfeier, die für Werner Siemens aus Anlaß der hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages am 13. November 1916 in der Technischen Hochschule zu Charlottenburg veranstaltet wurde, war unsere Universität durch den Rektor vertreten. Innerhalb der Kollegenschaft war ebenfalls Gelegenheit geboten, denkwürdige Tage zu feiern, zwar nicht in dem Sinne, daß sie durch festliche Veranstaltungen in größerem Umfange hervorgehoben wurden, aber doch derart, daß Rektor und Senat ihre herzliche Anteilnahme zum Ausdruck brachten. So konnten zum 70. Geburtstage dem Herrn Professor Dr. Gregory am 6. November 1916, dem Herrn Geheimen Hofrat Professor Dr. Bücher am 14. Februar 1917, dem Herrn Geheimrat Professor Dr. Flechsig am 29. Juni 1917, zum 50jährigen Doktorjubiläum Herrn Geheimrat Professor Dr. Windisch am 20. Juni 1917 und Herrn Geheimen Medizinalrat Professor Dr. Boehm am 7. August 1917 die wärmsten Glückwünsche dargebracht werden. 1155

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Die Universitätskirche erfuhr eine hervorragende Bereicherung durch den im Beichtraum neuaufgestellten Altar, dessen Kosten in Höhe von 5517 M. aus der Heinrich Toelle-Stiftung bestritten werden konnten. Eine Inschrift am Altar hält diese denkwürdige Tatsache fest und führt Folgendes an: Der Hauptaltar der Pauliner Kirche wurde um das Jahr 1500 geschaffen. Wahrscheinlich im 17. Jahrhundert wurde er abgebrochen und seine Bildwerke an verschiedenen Orten der Kirche zum Schmuck angebracht. Diese alten Schnitzwerke ließ die Universität in den Jahren 1911 und 12 zu einem neuen Altar wieder vereinigen, sie bedurften meist nur der Reinigung und zum Teil der Auffrischung ihrer Farben. Zu ergänzen waren nur Kleinigkeiten. Von ganzen Figuren fehlte der Gekreuzigte; er ist ein Werk der Münchener Bildschnitzer Boser und Götz; alle übrigen Arbeiten, auch das durchaus neue Rahmen- und Rankenwerk führte die Werkstatt von Franz Schneider in Leipzig aus. Die alten gemalten Altarflügel wurden im Jahre 1917 im Beichtraum der Kirche zu dem neuen Altarwerk vereinigt. An freigebigen Zuwendungen sind viele zu erwähnen. Zwei große Ölgemälde sind dem Ägyptischen Museum von dem Orientmaler Professor Max Rabes in Charlottenburg geschenkt worden. Der Großkaufmann Adolf Goldschmidt in Leipzig, dem die Universität bereits einige Spenden verdankt, hat dem Ägyptischen Museum eine Anzahl getönter Gipsabgüsse zugewiesen. Dem Institut für Kultur- und Universalgeschichte sind von der Historischen Kommission der Ungarischen Akademie der Wissenschaften Werke zur ungarischen Geschichte im Subskriptionswerte von ca. 1000 Kronen, darunter viele Quellenpublikationen, geschenkt worden. Dem Physikalisch-chemischen Institut sind zur beliebigen Verwendung für Institutszwecke nach dem Kriege von Herrn Professor Dr. Schall 500 M. übergeben worden. Professor Felix schenkte einen großen Teil seiner geologisch-paläontologischen Sammlung und seiner Bibliothek dem Geologisch-paläontologischen Institut. Außerdem stiftete er 7000 M. zum Ankauf einer wichtigen Sammlung fossiler Säugetiere aus Argentinien für dasselbe Institut. Der in Leipzig-Reudnitz am 11. April 1914 verstorbene Privatmann Karl Felsche hat in seinem Testament vom 3. Januar 1911 die Universität als Nacherbin seines Nachlasses eingesetzt. Da der Fall der Nacherbschaft eingetreten ist, ist die Universität in den Besitz des auf ca. 150 000 M. zu schätzenden Vermögens gelangt, das als Karl Felsche-Stiftung verwaltet werden soll. Ihre Zinsen sind zur Beschaffung naturwissenschaftlicher, besonders zoologischer Werke für die Universitätsbibliothek bestimmt. Die in Dresden verstorbenen Eheleute Oberstabsarzt Dr. der Medizin Carl Theodor Häschke und seine Ehefrau Auguste Maria Häschke, geborene Rechenberger, haben in ihrem gemeinschaftlichen Testament 15 000 M. zur Errichtung eines Stipendiums für Studierende an der Universität Leipzig vermacht, unter der Bezeichnung: Oberstabsarzt Dr. Häschkes Familienstipendium. Herr Edgar Herfurth in Leipzig hat am 1. Oktober dieses Jahres anläßlich des 25jährigen Jubiläums seiner Zeitung den Betrag seiner früheren Stiftung für journalistisches Bildungswesen um das Doppelte, also um 40 000 M. erhöht. Einer unserer ehemaligen Kollegen, der jetzige Geheime Regierungsrat Senatsvorsitzender und Leiter der wissenschaftlichen Abteilung der Reichsentschädigungs1156

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kommission Professor Dr. Beer in Berlin hat unserer Hilfs- und Töchterpensionskasse aufs neue 10 000 M. zukommen lassen. Herr Ministerialdirektor i. R. Dr. theol. h. c. Geheimrat Friedrich Kretschmar hat am 25. November 1916 ein Kapital von 1000 M. überwiesen, dessen Zinsen der jeweilige Dekan der Theologischen Fakultät zur Unterstützung bedürftiger und würdiger Studierender der Theologie, namentlich in besonderen Notfällen, verwenden soll. Frau Dr. Sylvia Klauber in Wien, die in den beiden vergangenen Jahren in Erinnerung an den Todestag ihres im Oktober 1914 gefallenen Sohnes zur Vermehrung der aus ihren Mitteln errichteten Ernst Klauber-Stiftung bei der philosophischen Fakultät namhafte Summe hergegeben hat, hat dieses Mal 1000 Kronen für die assyriologische Abteilung des Semitistischen Instituts gespendet. Freunde und Verehrer Wilhelm Wundts und der Psychologie haben eine PorträtPIakette von Wilhelm Wundt der Universität zum Geschenk gemacht. Da grundsätzlich die Bildnisse lebender Kollegen nicht zur Aufstellung in dem Universitätsgebäude gelangen sollen, wird die Plakette zunächst im Rektoratszimmer aufgestellt, um seinerzeit an einem noch zu bestimmenden Orte öffentlich zugänglich gemacht zu werden. Da mehr gesammelt worden ist, als zur Honorarzahlung an den Künstler notwendig war, ist der Überschuß in Höhe von etwa 900 M. der Völker-psychologischen Abteilung des Forschungsinstitutes für Psychologie zugefallen. Der Universitätsbibliothek sind eine Reihe von Bücherschenkungen gemacht worden: von den Herren Professor Dr. Köster, Professor Dr. Bücher, Professor Clemen in Mitau, Oberschulrat Dr. Müller, Leipzig, Bezirkstierarzt Preetsch, den Bibliothekaren Dr. Schmidt und Dr. Mühlbach, den Buchhandlungen Liebisch, Hinrichs, Lorentz, der Leipziger Esperantobuchhandlung, dem Antiquariat Hiersemann, das mehr als 3000 Bände überwiesen hat, sowie von dem Landgericht Dresden und den Amtsgerichten Plauen, Lichtenstein und Chemnitz. Der Krieg hat bewirkt, daß die geplanten größeren Neu- und Umbauten im vergangenen Jahr noch nicht haben ausgeführt werden können. Doch hat die nötige Weiterbildung der akademischen Institute darunter nicht gelitten. So ist durch ministerielle Verordnung vom 25. Juni 1917 ein Südosteuropa- und Islaminstitut geschaffen, sowie das bisherige Privatinstitut des Hofrats Professor Dr. Weigand für rumänische Sprache in ein Universitätsinstitut umgewandelt worden. Es soll in ihm der Unterricht in allen auf den südosteuropäischen Kulturkreis und den islamischen Orient sich beziehenden Fächern nach und nach vereinigt und in systematischer Weise betrieben werden. Ferner ist das Seminar für Siedelungskunde in ein solches für Sächsische Geschichte umbenannt. Zu einem vorläufigen Abschluß sind die Beratungen über die Vor- und Ausbildung der bibliothekarischen Beamten im Königreich Sachsen gelangt. Es ist für das Königreich Sachsen am 25. September 1917 eine Prüfungsordnung für die mittleren Beamten an wissenschaftlichen Bibliotheken und eine solche für Beamte an volkstümlichen Büchereien erlassen worden. Die Ausarbeitung einer Prüfungsordnung für die oberen (wissenschaftlichen) Beamten ist vorläufig auf das Ende des Krieges vertagt worden. 1157

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Die Universitätsbibliothek konnte am 25. Oktober 1916 auf 25 Jahre zurückblicken, seit sie aus den Räumen des Paulinums, der alten Universität, in den Neubau der Beethovenstraße übersiedelte. In diesem Zeitraum hat sich die Bibliothek nach Beständen, Personal und Mitteln so stark entwickelt, daß die Räume nicht mehr ausreichen. Die bereits vorgesehenen veranschlagten und zum Teil im Staatshaushalt bewilligten Erweiterungen haben durch den Krieg einen vorläufigen Stillstand erfahren. Die Benutzung der Universitätsbibliothek stand zwar stark unter dem Einflusse des Krieges, war aber trotzdem erheblich. Im Wintersemester 1916/17 lösten 1285, im Sommersemester 1917 1145 immatrikulierte Studenten Leihkarten im Gesamtbetrage von 2515 M. zu denen von nichtstudentischen Personen in demselben Zeitraum gelöste Karten im Betrage von 1210 M. dazukamen. Diese nichtstudentische Benutzung hat sogar etwas zugenommen. Die Versendungen nach auswärts stiegen, indem für 1916 909 Pakete mit 3428 Büchern gegen 744 Pakete mit 2447 Büchern im Vorjahre versandt wurden. Am Ort wurden 36 771 Bände ausgeliehen, im Lesesaal außer der Handbibliothek 23 288 Bände und 220 Handschriften benutzt. Der Büchersammlung wuchsen 1917 18 924 Bucheinheiten gegen 17 524 im Vorjahr zu. Dabei war der Finanzbedarf insofern ein geringerer, als die Literatur der feindlichen Länder nicht beschaffbar ist. Die auf diese Weise am Ende des Jahres 1916 sich ergebenden Überschüsse konnten zum Ankauf der sehr wertvollen, von Professor Leskien hinterlassenen slavischen Bibliothek, die eine reiche Ergänzung der Slavistik bedeutet, benutzt werden. Sehr erheblich sind die Veränderungen in der Zusammensetzung der Kollegenschaft und im sonstigen Personalbestande gewesen. In den Ruhestand trat am 30. September 1917 Se. Exzellenz der Wirkliche Geheime Rat Professor Dr. Wundt, Ordinarius für Philosophie und Direktor des Instituts für experimentelle Psychologie. Als ordentliche Professoren traten neu ein: in der juristischen Fakultät Herr Professor Alfred Schultze aus Freiburg in Breisgau für deutsches Recht, Handelsrecht, Kirchenrecht und deutsches bürgerliches Recht; in der medizinischen Fakultät der bisherige außerordentliche Professor und Prosektor am anatomischen Institut Hans Held für Histologie; in der philosophischen Fakultät Herr Professor Alfred Körte aus Freiburg i. Br. für klassische Philologie, Herr Professor Matthias Murko aus Graz für slavische Philologie, Herr Professor Friedrich August Becker aus Wien für romanische Philologie, Herr Professor Felix Krueger aus Halle für Philosophie. Als etatmäßige außerordentliche Professoren wurden berufen: der bisherige Privatdozent Robert Wenger, Leipzig, für Geophysik und der Privatdozent Walter Schnee aus Breslau für Mathematik. Die etatmäßigen außerordentlichen Professoren Wilhelm Wirth und Rudolph Kötzschke erhielten neue Lehraufträge, der erstere für Philosophie insbesondere Psychophysik, der letztere für sächsische Geschichte. Zu etatmäßigen außerordentlichen Professoren wurden ernannt: in der Juristischen Fakultät der bisherige außeretatmäßige außerordentliche Professor Felix Holldack für internationales Recht, Rechtsphilosophie und vergleichende Rechtswissenschaft, der außeretatmäßige außerordentliche Professor Robert Scholvin für slavische Philologie, der Privatdozent Johannes Buder für Botanik. Zu außeretatmäßigen außerordentlichen Professoren wurden befördert die bisherigen Privatdozenten Martin Wackernagel, 1158

Jahresbericht 1916/17

Percy Waentig, Konrad Schäfer, Paul Merker. Den zur Lehrtätigkeit an die Universität Konstantinopel beurlaubten Privatdozenten Gotthelf Bergsträßer und Walter Penck wurde unter Belassung ihrer Stellung als Privatdozenten an der Universität Leipzig der Titel Professor verliehen. Die venia legendi wurde erteilt: in der theologischen Fakultät dem Lizentiaten der Theologie Gerhard Kittel für Neutestamentliche Theologie und Zeitgeschichte, in der Juristenfakultät dem Regierungsrat Dr. jur. Willibald Apelt für deutsches und sächsisches Verwaltungsrecht, in der medizinischen Fakultät dem Dr. med. Georg Dorner für innere Medizin, in der philosophischen Fakultät den Drs. phil. Eduard Erkes für Chinesisch, Peter Stark für Botanik, Heinrich Gössel für Sanskrit, indische, altiranische, armenische Philologie und indogermanische Sprachwissenschaft, dem Dr. Ing. Wilhelm Wilke für technische Physik. An der Universitätsbibliothek rückte der bisherige Titularoberbibliothekar Otto Günther zum etatmäßigen Oberbibliothekar, Herr Bibliothekar Professor Heinrich Weißbach zum Oberbibliothekar, der Bibliotheksassistent Dr. phil. Karl August Löwe zum Bibliothekar, der Volontär Dr. jur. Heinrich Treplin zum Bibliotheksassistenten. Der Organist der Pauliner Kirche, Realgymnasialoberlehrer Ernst Müller erhielt den Titel Professor. In der Universitätskanzlei wurden die bisherigen Expedienten Willi Johannes und Kurt Süß zu Büroassistenten ernannt, ferner Hans Sattler als Beamtenanwärter angestellt. Allen neu zu uns gekommenen oder in eine andere Stellung aufgerückten Kollegen und Beamten wünschen wir in ihrem neuen Wirkungskreise eine gedeihliche Tätigkeit. Zu den notwendigen Einbußen gehören die Fortberufungen der jüngeren Herren Kollegen: der außerordentlichen Professoren wie Privatdozenten an andere Universitäten. Sie ergingen im Berichtsjahre innerhalb der Medizinischen Fakultät an den außerordentlichen Professor Hugo Selter als Ordinarius der Hygiene nach Königsberg, an den außerordentlichen Professor Erhard Riecke als etatmäßiger außerordentlicher Professor der Dermatologie nach Göttingen, an den Privatdozenten Felix Sieglbauer als Ordinarius für normale Anatomie nach Insbruck; innerhalb der Philosophischen Fakultät an den außerordentlichen Professor Franz Eulenburg als Ordinarius für Nationalökonomie nach Aachen, an den außerordentlichen Professor Wilhelm Blaschke als Ordinarius der Mathematik nach Königsberg, an den ordentlichen Professor Geheimen Hofrat Dr. Vilhelm Bjerknes als Ordinarius für Geophysik an die neuzugründende Universität Bergen in Norwegen. Wir begleiten die Herren Kollegen mit unseren herzlichen Glückwünschen in ihre neueren Stellungen und erinnern uns mit lebhaftem Danke dessen, was sie uns seither gewesen. In der Theologischen Fakultät lehnte der außerordentliche Professor Karl Thieme den an ihn ergangenen ehrenvollen Ruf als Ordinarius nach Breslau ab. Wir wollen nicht unterlassen, ihm auch an dieser Stelle den Dank dafür auszusprechen, daß seine geschätzte Lehrkraft uns erhalten blieb. Die Theologische Fakultät promovierte zum Licentiaten der Theologie: 2, die Juristische Fakultät zu Doktoren: 37, die medizinische Fakultät: 36, die philosophische Fakultät: 60. 1159

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Zu Ehrendoktoren wurden ernannt: In der theologischen Fakultät: 2, nämlich am 10. Dezember 1916 Hermann Strathmann, ordentlicher Professor der Theologie in Rostock und am 7. Oktober 1917 Martin Braunschweig, Probst der deutschen evangelischen Kirche in Brasilien; von der philosophischen Fakultät Se. Exzellenz der General der Infanterie Kuno Liborius von Steuben, Oberbefehlshaber der 11. Armee. Zu Doktoren der Veterinärmedizin wurden 13 Tierärzte promoviert. Das studentische Leben und Treiben ist wie sich von selbst versteht, durch den langandauernden Krieg hart in Mitleidenschaft gezogen. Wenn auch der Bestand am 31. Oktober 1917 zahlenmäßig ein befriedigender ist, nämlich 5285, so darf man nicht übersehen, daß 4/5 aller Studenten etwa der Militärpflicht in Feld und Heer genügen müssen. Zu Weihnachten 1917 wurde diesen von Rektor und Senat eine Gabe in Gestalt eines Kalenders mit Erinnerungsbildern von Leipzig übersandt. Das Königliche Kultusministerium stellte für diesen Zweck 2000 M. zur Verfügung. Der darüber hinaus zur Deckung der Kosten notwendige Betrag wurde durch Sammlung unter den Mitgliedern des Lehrkörpers aufgebracht. Im übrigen wurden an die vaterländische Hilfsbereitwilligkeit auch der Studenten, die nicht im Heeresdienst tätig sein können sowie der Studentinnen Anforderungen gestellt. Sie erschienen im Zivildienstgesetz vom 5. Dezember 1916 und in dem Aufrufe, den das preußische Kriegsministerium am 18. September 1917 an alle Hochschulen versandt hat, behufs Heranziehung der Studentinnen zur Mitarbeit in der Rüstungsindustrie. Das erste legte die Befürchtung nahe, daß die Universitäten geschlossen werden könnten, weil alle Kommilitonen zum Dienste herangezogen werden würden. Diese Besorgnis zu zerstreuen wurde auf Veranlassung des Königlichen Ministeriums im Januar 1917 ein dahingehender Anschlag am schwarzen Brett gemacht, daß zunächst von freiwilligen Meldungen zum Eintritt in den vaterländischen Hilfsdienst abgesehen werden möge. Die Ausführung des Gesetzes hat sich dann glatt bewerkstelligen lassen, indem an allen Universitäten grundsätzlich die Meldungen durch die Hand der zuständigen Rektoren geleitet wurden, die sich gleichzeitig über Zweckmäßigkeit und Art der Verwendung zu äußern hatten. In der Rektoratskanzlei wurden Verzeichnisse der sich Meldenden aufgestellt, die an das Kriegsamt weitergegeben wurden. Es hat sich dabei herausgestellt, daß die Meldungen dem Bedarf weit voraus geeilt waren, somit keine Stockung des Universitätsbetriebes aus Mangel an Zuhörern eintrat. Die Ausdehnung des Zivildienstgesetzes auf die Studentinnen erbat eine Bittschrift des Verbandes der Studentinnenvereine Deutschlands an den Reichstag vom 28. November 1916. Wenn auch in diesem Umfange dem Wunsche nicht stattgegeben werden konnte, so wurde doch den Studentinnen einige Monate später durch den erwähnten Aufruf Gelegenheit geboten, ihre Opferwilligkeit zu beweisen. Bereits im Sommersemester 1917 ließ das hiesige Kriegsamt daraufabzielende Wünsche laut werden, die indes trotz einer Versammlung von Studentinnen, in der die Angelegenheit eingehend und eifrig erörtert wurde, noch nicht viel Anklang fanden. Als jedoch infolge der sich ausdehnenden Kriegshandlungen immer mehr Männer für die Front freigemacht werden mußten, schien die Stunde gekommen, wo man sich an die Frauen aller Stände wenden mußte, wenn nicht ein Mangel an Munition 1160

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sich bitter rächen sollte. Gestützt auf die Anweisungen des Königlich Sächsischen Kriegsministeriums und des Königlich Sächsischen Kultusministeriums hielt der Rektor am 11. Oktober 1917 eine sehr gutbesuchte Versammlung ab, auf der nunmehr der Aufruf in großem Maßstabe Widerhall fand. Durch die Kriegslage bedingt war die Erhöhung der Pränumerationspflicht im Königlichen Konvikt auf 1 M. wöchentlich während des Semesters und 2 M. in der Ferienzeit. So schmerzlich es war, gerade den wirtschaftlich bedrängten Kommilitonen diese erhöhte Auflage zumuten zu müssen, so ließ sie sich bei der Steigerung der Lebensmittelpreise nicht umgehen. Sie ist nur für die Kriegsdauer vorgesehen. Preisaufgaben wurden mit Rücksicht auf den Krieg im vorigen Jahre ebensowenig wie in den beiden vorhergehenden Kriegsjahren gestellt. Auch für das neue Jahr ist von allen Fakultäten davon abgesehen worden, Preisaufgaben auszuschreiben. Das Verhalten der Studierenden war durchaus befriedigend. Kein einziges Mal ist nötig gewesen mit der Strenge des Karzers oder andern Strafen gegen Äußerungen im jugendlichen Übermut einzuschreiten. Schwierigkeiten im Betriebe des Unterrichts traten in dem strengen Winter 1916/ 17 insofern zu Tage, als infolge des Kohlenmangels nicht mehr alle Räume des Universitätsgebäudes für Vorlesungszwecke in Anspruch genommen werden konnten. Man beschränkte sich zunächst auf die Benutzung der Hörsäle im ersten Stock und im Erdgeschoß und als auch zu deren Erwärmung die Kohlen nicht mehr reichten, verlegte man einen Teil der Vorlesungen in die Institute und begnügte sich mit den wenigen Räumen des Erdgeschosses im Universitätsgebäude. Nach 8 Uhr wurden überhaupt in dem Universitätsgebäude keine Vorlesungen mehr gehalten. Um ähnlichen Störungen aus dem Wege zu gehen, hat das Wintersemester 1917/18 bereits am 1. Oktober begonnen und soll am 2. Februar 1918 schließen. Auch für das laufende Semester ist die Benutzung der Räume im zweiten Stock unterblieben und der Schluß der Vorlesungen um 8 Uhr vorgesehen. Den kriegsgefangenen und kriegsbeschädigten Kommilitonen sind die Sammelstellen von Büchern für Kriegsgefangene und die Leipziger Ortsgruppe des akademischen Hilfsbundes gewidmet. Die Leipziger Sammelstelle von Büchern bedient die Gefangenenlager in Frankreich und hat im abgelaufenen Rektoratsjahr durch Vermittlung der deutschen Gesandtschaft in Bern ansehnliche Büchersendungen abgefertigt. Auch den Internierten in der Schweiz sind Bücher zugegangen. Im ganzen wurden 10 650 Bände gegen 15 000 im Vorjahre versandt. Der Unterschied erklärt sich daraus, daß unter den im ersten Jahre beförderten Büchern sich tausende von geschenkten Büchern befanden, während die im zweiten Jahr abgesandten Bände sämtlich aus den von der Sammelstelle aufgebrachten Geldmitteln haben angeschafft werden müssen. Der Leipziger Ortsausschuß des akademischen Hilfsbundes, der am 26. Januar 1916 gegründet wurde, ist erst im Laufe des verflossenen Berichtsjahres zur Wirksamkeit gelangt. Seiner Entwicklung stand in Sachsen ein Umstand entgegen, der geradezu verhängnisvoll zu werden drohte. Es wurde nämlich angeregt, die Fürsorge nicht nur den kriegsbeschädigten Akademikern selbst angedeihen zu lassen, sondern sie auch auf die Hinterbliebenen gefallener Akademiker auszudehnen. Dieser 1161

Wilhelm Stieda

Gedanke bedang eine völlig andere finanzielle Regelung und über ihn mußte das ganze Jahr 1916 bis tief in das neue Jahr verhandelt werden. Endlich war man in der Lage, am 26. Juni 1917 dem Vorstande die neue Fassung der Satzung vorzulegen. Nach § 7 sind nunmehr zwei Kassen geschaffen; die eine lediglich für kriegsbeschädigte Akademiker umfaßt die bisherigen und die künftigen Einnahmen aus den Beiträgen solcher Mitglieder, die vor dem Inkrafttreten der neuen Satzung sich angeschlossen haben. Die andere Kasse enthält die Beiträge neuer Mitglieder sowie sonstige künftige Spenden. Aus ihr werden Spenden, die lediglich für die Kriegsbeschädigten-Fürsorge bestimmt sind, sowie der vierte Teil der übrigen Einnahmen in die Kriegsbeschädigtenkasse übergezahlt, der Rest für die Hinterbliebenenfürsorge benutzt. Die Zahl aller Mitglieder hat sich auf 688 vermehrt. Die sämtlichen Einnahmen der Ortsgruppe seit ihrer Begründung bis zum 31. Dezember 1916 beliefen sich auf 28 166 M., die Ausgaben auf 1524 M., sodaß ein Vermögensbestand von 26 642 M. nachblieb. Im ersten Halbjahr bis zum 30. Juni 1917 beliefen sich die Einnahmen auf 3835 M., die Ausgaben auf 2004 M., sodaß der Vermögensbestand sich noch weiter vergrößert hat auf 30 478 M. Behufs schnellerer Erledigung der eingehenden Gesuche ist im März 1917 ein Arbeitsausschuß aus den Herren Sanitätsrat Dr. Dippe, Konsul Meyer-Bremen, Universitätsrichter Flade und Professor Dr. Köster eingesetzt, der nur in Zweifelsfällen und bei grundsätzlichen Fragen die Entschließung des Gesamtvorstandes einzuholen hat. Ich beende nunmehr mein Amt, indem ich es meinem erwählten und bestätigten Nachfolger Herrn Dr. Rudolf Kittel übergebe. Ich fordere Sie auf heranzutreten und den Rektoreid zu leisten, dessen Formel ich Ihnen vorspreche: „Sie schwören bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, daß Sie die Verfassung und die Gesetze der Universität treu und gewissenhaft beobachten und die Pflichten des Ihnen anvertrauten Amtes als Rektor der Universität nach bestem Wissen und Gewissen redlich erfüllen wollen.“ Somit verkündige ich Sie, Herrn Dr. Rudolf Kittel als Rektor der Universität Leipzig für das Studienjahr 1917/18. Ich übergebe Ihnen den Hut und den Mantel als Zeichen Ihrer Würde, die Kette, mit der Königliche Huld den Leipziger Rektor geschmückt hat, das Siegel der Universität, damit Sie deren Willen rechtlich beglaubigen, die Satzungen, die Ihrer Hut anvertraut sind und den Schlüssel als das Zeichen, daß Sie in diesem Hause Herr sind. Ich freue mich Ew. Magnifizenz als erster meine Glückwünsche darbringen zu dürfen. Möge Ihr Amtsjahr gesegnet sein für Sie und unsere liebe Universität, vor allen Dingen durch einen Frieden, der die Weltstellung Deutschlands dauernd gewährleistet. ***

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Rudolf Kittel (1853–1929)

31. Oktober 1917. Rede des antretenden Rektors Dr. Rudolf Kittel. Luther und die Reformation. Hochansehnliche Versammlung! Kollegen! Kommilitonen! Es ist eine Eigentümlichkeit der Universität Leipzig, daß sie seit langen Zeiten den Tag, an dem wir heute zusammenkommen, den 31. Oktober, als ihren akademischen Festtag hochhält. Der Tag des Reformationsbeginns ist längst bei uns durch die feierliche Übergabe des Rektoramtes vor allen andern Tagen des Jahres ausgezeichnet. Wir pflegen die Feier in diesen Räumen in akademischer Weise sonst so zu gestalten, daß der neu antretende Rektor seiner Festrede einen Gegenstand aus seinem besonderen Studiengebiete zu Grunde legt. In diesem Jahre aber hat der heutige letzte Oktobertag, wie überall in evangelischen Landen, so auch für uns sein besonderes Gesicht. Unsere Universität hat schon in den Jahren 1617, 1717 und 1817 den 31. Oktober mit großen Jubelfeiern festlich begangen. Wir handeln also durchaus im Sinne unserer Väter, wenn wir den Tag heute, da sich seine Jahrhundertfeier zum 4. male wiederholt, nicht nur so, wie alle Jahre sonst, zum Festtag machen, sondern wenn wir ihn auch gemäß seiner besonderen Bedeutung durch eine Feier auszeichnen, die auf das, was erstmals an ihm geschah, ausdrücklich Bedacht nimmt. So mag es auch durch das Gebot der Stunde gerechtfertigt erscheinen, wenn der Rektor dieses Jahres, von dem Brauche abweichend, das, was er Ihnen heute zu sagen hat, nicht seinem eigensten Studiengebiete entnimmt, sondern seine Gedanken zum heutigen Tage lediglich als protestantischer Christ und als Sohn der Kirche der Reformation vorträgt. In der Tat haben wir auch ohne jene besondere Überlieferung unserer Universität allen Anlaß zu dieser heutigen Feier. Luther und die Reformation bezeichnen einmal einen Höhepunkt im Geistesleben der Menschheit. Auch wer etwa dem fremd oder kühl gegenüberstünde, was sich der bewußt evangelisch denkende Christ heute sagt, wird bei Luther und seinem Werke immer noch genug des Großen finden, um in seinem Auftreten einen Markstein in der Geschichte, vor allem der Geschichte des geistigen Lebens der Menschheit, den gewaltigsten seit dem Auftreten Jesu von Nazaret und der Seinen, zu erkennen – bedeutsam genug, um die Wiederkehr des 1163

Rudolf Kittel

heutigen Tages in besonderer Weise festlich zu begehen an einer Stätte, die der Pflege des geistigen Lebens der Nation, und über sie hinaus, gewidmet ist. Auch der mörderische Krieg, in dem wir immer noch stehen, kann uns daran nicht hindern. Im Gegenteil, je stärker alle Kulturgemeinschaft, nicht minder auch alle religiöse Gemeinschaft unter den einander feindlichen Völkern unterbrochen scheint, desto kräftiger haben wir daran festzuhalten, daß es doch noch Bande gibt, die über das jetzt Trennende hinüberreichen. Sie auch äußerlich neu zu knüpfen, wollen wir bereit sein, sobald die Stunde geschlagen hat, in der der Bann von den Völkern genommen ist. Ein Mönch in der Zelle seines Klosters kämpft einen verzweifelten Kampf. Luther hatte das Studium der Philosophie hinter sich. Er war auch schon im Begriff, in die Rechtswissenschaft einzudringen. Aber weder die Probleme der Weltweisheit noch die Fragen des Rechts hatten jene Erregung in sein Gemüt getragen. Es war etwas ganz anderes, was ihn um die Ruhe der Seele brachte. „Meine Sünden! meine Sünden!“ – in diesem Rufe strömt er die Qual seines Inneren aus. Das heiße Verlangen, Gott zu besitzen, auf der einen Seite, auf der andern das zehrende, vernichtende Gefühl, um seiner Sünde willen von Gott getrennt zu sein, das ist es, was seine Seele aufreibt, ja an den Rand der Verzweiflung bringt. Also die Sehnsucht nach einem gnädigen Gott und nach der Gewißheit seiner Gnade und das Unvermögen, diese beiden zu finden. Er sucht die Kluft zu überbrücken und die Gnade des himmlischen Richters zu erzwingen auf dem Wege, den die Kirche der Zeit ihn wies: durch Bußleistungen und allerlei genugtuende Werke und durch unausgesetzte Selbstertötung. Umsonst. Die von der Kirche empfohlenen Mittel der Selbstheiligung versagen bei ihm. Sie bringen ihn der Verzweiflung nur näher. Ein bezeichnendes Bekenntnis Luthers lautet: „Ich kenne einen Menschen,“ – er denkt an sich selbst – „der mir versichert hat, daß er öfter Qualen erduldet habe, … so heftige und infernale, daß keine Zunge sie aussagen, kein Griffel sie beschreiben, keiner, der sie nicht erfahren, sie glauben könne … Da gibt es keine Flucht, keinen Trost, weder innen noch außen, sondern alles ist Anklage. Da wehklagt er: „Verstoßen bin ich von Deinem Angesicht!“ Mit Recht sagt ein neuerer Darsteller: Luther meinte im Kloster mit seiner Sünde zu ringen, in Wahrheit rang er mit der Religion seiner Kirche. Und er führt den Kampf zum Siege, indem er Gott findet, ihn als gnädigen Gott erlebt, so daß die Sünde ihn nicht mehr anfechten kann. Aber indem er so den Sieg davonträgt, hat er zugleich die herrschende Form des Christentums, hat er das Mittelalter in der christlichen Religion überwunden und eine neue Zeit heraufgeführt. Er entdeckt wieder den längst verschütteten Weg zu Gott, wie ihn einst Paulus gekannt hatte: nicht Priestervermittlung, nicht Selbstertötung und eigene Genugtuung, überhaupt nicht äußere Leistung führen den Sünder zum gnädigen Gott und zur Gewißheit seiner Gnade, sondern der Glaube allein: das zuversichtliche Erfassen und Festhalten von Gottes in Christus offenbarter Barmherzigkeit und Vatergüte. Damit ist bereits der eigentliche Kernpunkt seines Werkes genannt. Indem Luther den Weg zum gnädigen Gott neu entdeckte, ist er über die Jahrhunderte hinweg auf die Bahn des Urchristentums zurückgetreten und ist damit einer der ganz Großen 1164

Antrittsrede 1917

in der Menschheit, einer ihrer religiösen Heroen geworden. Seit den Tagen des Apostels Paulus hatte man diese Töne in der christlichen Kirche so nicht mehr vernommen. Manchem in dem Geschlecht unserer Tage mag das alles befremdlich erscheinen. Wir wollen uns darüber nicht täuschen, daß es nicht wenige in der heutigen Kulturwelt gibt, denen die genannten Dinge nichts mehr zu sagen haben und denen darum die Worte „Glaube“ und „Gottes Gnade“ kaum noch wirkliche Werte bedeuten. Aber wenn wir bedenken, daß alle Religion ihrem Wesen nach Gemeinschaft mit der Gottheit, Leben in Gott, ist, so müssen wir auch verstehen, daß jede Störung dieser Gemeinschaft durch eigene Schuld dem wirklich religiösen Menschen einen Riß zwischen ihm selbst und der Gottheit bedeutet, der ihm sein Dasein hemmen, ja ihm das Leben unerträglich machen kann. „Der Übel größtes ist die Schuld“, darin bleibt doch eine ewige Wahrheit – in welche Form im besonderen man sie auch kleiden mag. Es bedarf kaum vieler Worte, mag aber doch nicht ungesagt bleiben, daß Luther mit dem, was er Glauben nennt, etwas ganz anderes im Sinne hat als die herrschende Kirche. Ist für sie der Glaube die willige Unterwerfung unter ihre Lehrsätze, so ihm diejenige innere Stellung zu Gott, die alles in sich schließt, was Gott vom Menschen fordert und die darum das sittliche Handeln oder die „guten Werke“ mit innerer Notwendigkeit zur Folge hat. „Oh es ist ein lebendig“ – sagt er – „geschäftig tätig, mächtig Ding um den Glauben, daß es unmöglich ist, daß er nicht ohne Unterlaß sollte Gutes wirken… also daß unmöglich ist, Werk vom Glauben scheiden, ja so unmöglich als Brennen und Leuchten vom Feuer mag geschieden werden.“ Da ist der Glaube nicht mehr bloßes Fürwahrhalten oder sich Unterwerfen, nicht mehr eine bloß äußerliche Stellung zur Kirche und zu göttlichen Dingen, sondern eben jenes tief innere Ergreifen und Festhalten Gottes auf Grund persönlichen Erlebens der Gnade Gottes, zugleich ein solches, das mit Notwendigkeit zum Handeln treibt. Damit aber ist Luthers Glaube ganz und gar zu einem innerlichen, rein persönlichen Verhältnis des Menschen zu Gott geworden. Und da die mittelalterliche Kirche das Verhältnis des Menschen zu Gott von seiner Stellung zu Papsttum und Priesterschaft abhängig machte, hat Luthers Satz von der Rechtfertigung durch den Glauben allein oder einfacher seine Idee vom Glauben das ganze mittelalterlich-kirchliche System gesprengt. Das Mittelalter ist grundsätzlich überwunden, ein neues Zeitalter der Geschichte ist angebrochen. Luther hat in der großen, weltbewegenden Frage nach der Stellung des Sittlichen zur Religion einen neuen Weg betreten. Ja er hat, indem er das Verhältnis von Religion und Moral auf eine neue Grundlage stellte, eine entscheidende Wendung in der Religionsgeschichte und durch sie in der Geschichte überhaupt heraufgeführt. Fürs erste freilich bringt er eine neue Zeit nur für das religiöse Leben, indem er die Stellung des Menschen zu seinem Gott rein geistig, ausschließlich von Person zu Person, verstehen lehrt, weder durch zauberhafte Formeln vermittelt, noch an menschliche Einrichtungen gebunden. Aber das religiöse Leben war nicht loszulösen vom übrigen Dasein. Sind die Fesseln gebrochen, die jenes gefangen hielten, so mußte auch das übrige Geistesleben der Freiheit gewonnen werden, der Gewissens1165

Rudolf Kittel

freiheit, der Freiheit des Denkens und Forschens, ja selbst der politischen Freiheit. Das sollte bald offenbar werden. – Ein anderes Bild. Der Mönch hat seinen Seelenkampf im Kloster zu Ende gekämpft. Aus ihm ist ein Professor geworden. Eines Tages verläßt der Professor den Hörsaal und tritt mit 95 Streitsätzen vor die große Öffentlichkeit. In ihnen ist das, was die Seelenkämpfe der vergangenen Jahre ihn gelehrt hatten, in markigen Worten niedergelegt und ist der herrschenden Gewalt die Fehde angesagt. Was ihm selbst zur Gewißheit geworden war, soll auch andern gehören. Das Joch des Papsttums ist damit grundsätzlich gebrochen, die Geistesfreiheit ist der Zeit, der Welt verkündet. Mit dem Ablaß als der durch Geld käuflichen Lossprechung von den Sündenstrafen trifft Luther an jenem denkwürdigen 31. Oktober nicht nur diese eine Einrichtung der Kirche und nicht nur einzelne ihrer Vertreter und Werkzeuge. Seine Hammerschläge treffen das Papsttum selbst mit fast vernichtendem Streiche. Luther selbst will ja zunächst nur etwas rein Religiöses: er kämpft um das rechte Verhältnis zu Gott. Aber die Einrichtung, gegen die er auftritt, griff tatsächlich aufs tiefste ein in das Leben der herrschenden Kirche, und sie war zugleich eine Lieblingsschöpfung der Päpste. Luthers Angriff auf den Ablaß war damit nichts geringeres als ein Angriff auf die päpstliche Gewalt selbst und mit ihr auf das göttliche Ansehen des Papstes und die geistliche Gewalt der Kirche. Hat Luthers Wiederentdeckung des Glaubens das Verhältnis des Menschen zu seinem Gott neu geregelt und den Gläubigen auf das Urchristentum zurückgeführt, indem die Innerlichkeit des Verhältnisses zu Gott wiedergewonnen wird: so hat sein Kampf gegen das Papsttum die Freiheit von menschlicher Gewalt und Autorität zur Geltung gebracht, indem die Freiheit des Zutritts zu Gott wieder erobert wird. Bald zeigt es sich in seinen reformatorischen Hauptschriften und in seinem Auftreten hier in Leipzig und wenig später in Worms, wie für Luther keine menschliche Autorität mehr bestimmende Macht hat. Nur Gott und sein Wille und Wort gilt ihm noch. Ihm gegenüber schwindet alles andere. Was Jahrhunderte vergeblich angestrebt hatten, woran die Macht des Kaisertums gescheitert war, weil sie bei allem Widerstreben doch sich immer wieder innerlich an das Papsttum gebunden fühlte, das hat Luther erreicht: die Loslösung vom Papsttum in einem Christentum, das nur an Gott und an keinen Menschen, auch nicht an den Stellvertreter Gottes auf Erden, sich gebunden wußte. Der Geist der Innerlichkeit und der Freiheit Gott gegenüber ist nun auch zum Geist der Freiheit, der Gewissensfreiheit, Menschen gegenüber geworden. Das Recht der Persönlichkeit, der Begriff des freien, auf sich selbst und sein Gewissen gestellten Individuums ist wiedergewonnen. – Endlich ein drittes Bild: Luther im Kreise seiner Genossen und Mitarbeiter. Das Ringen um das rechte Verhältnis zu Gott hatte Luther in seinem eigenen Innern und darum für sich allein durchzukämpfen gehabt. Nicht minder war er für sich allein und lediglich auf sich selbst gestellt zum Kampf um die Gewissensfreiheit und das allgemeine Priestertum in die Öffentlichkeit getreten. Aber nun er einmal der großen Öffentlichkeit gehörte, konnte er nicht länger für sich allein bleiben. Die Arbeit der Bibelübersetzung und der ganze Fortgang seines Werkes mußte ihm Genossen und Mitarbeiter zuführen. 1166

Antrittsrede 1917

„Es sei denn, daß ich durch Zeugnisse der Schrift oder durch helle Gründe überwunden werde … so bin ich überwunden durch die von mir angeführten heiligen Schriften“ – mit diesen Worten hat sich Luther auf dem Reichstag zu Worms unzweideutig auf den Boden der heiligen Schrift gestellt. Schon sein Ringen um den gnädigen Gott und den Heilsweg durch Glauben allein war ja nicht lediglich auf die christliche Erfahrung gegründet. Vielmehr war die persönliche Erfahrung bestätigt und vergewissert durch das paulinische Evangelium. Besonders einschneidende Bibelworte und somit das biblische Zeugnis hatten ihm schließlich entscheidend den Weg gewiesen. Ähnlich verhielt es sich mit der Lossagung von der päpstlichen Ablaßgewalt und der Verkündigung des allgemeinen Priestertums der Gläubigen. Sie waren nicht nur aufgebaut auf dem persönlichen Gewissen und dem heiligen Recht der persönlichen Freiheit, sondern zugleich gegründet im klaren Zeugnis des Evangeliums. Das persönliche Gewissen sucht seinen Halt im biblischen Wort als dem Urzeugnis der religiösen Gemeinschaft aus den Tagen ihres Werdens. Damit ist aber von selbst ein Weiteres gegeben. Das Bibelwort als urchristliches Zeugnis gegenüber der Überlieferung der Jahrhunderte und den Aussprüchen von Papst und Konzilien, zusammen mit dem Gedanken des allgemeinen Priestertums, mußten mit Notwendigkeit dazu führen, jenes biblische Zeugnis allem Volk zugänglich zu machen. So wird Luther der Dolmetsch der Bibel für sein deutsches Volk. Was Luther in dieser seiner Bibelübersetzung seiner Kirche und seinem Volke geleistet hat, liegt am Tage. Ist das Wesen einer über den engen Kreis der Gelehrten hinausstrebenden Übertragung eines Geisteswerkes in eine andere Sprache nicht die sklavische Wörtlichkeit, nicht die wörtliche, gleichsam photographische Herübernahme der Ausdrücke und Sätze, sondern die Übermittlung des eigenartigen Geistes im Gewande der andern Sprache, so hat Luther auf diesem Gebiete in der Tat Größtes geleistet. Sein Werk bedeutet das Eintauchen der Bibel in den Geist der deutschen Sprache, so daß der Leser nicht mehr eine Übersetzung, sondern die Urschrift glaubt vor sich zu sehen, „Wer deutsch reden will“, sagt er, „der muß nicht der hebräischen Worte Weise geben, sondern muß darauf sehen, wenn er den hebräischen Mann versteht, daß er den Sinn fasse und denke also: Lieber, wie redet der deutsche Mann in solchem Fall?“ So macht Luther seine Bibel zu einem echt deutschen Buch, in dem das Gemüt des deutschen Volkes mit dem Geiste der Bibel sich innig vermählt hat. Was Luther für die deutsche Sprache und Literatur getan und was hierin die Nation seiner Übersetzung und seinen eigenen Schriften zu danken hat, ist desgleichen längst anerkannt. Etliche seiner Schriften stehen bis auf den heutigen Tag in unserer Literatur einzig da. Und ist Luther durch seine Übersetzung auch nicht gerade der Schöpfer des Neuhochdeutschen, wie man ihn oft genannt hat, so ist doch kaum ein Zweifel darüber, daß es sein Verdienst ist, wenn die von ihm geschriebene Sprache Gemeingut der Nation geworden ist. Nicht minder, daß diese Sprache, eben als die Sprache der deutschen Bibel, von da an ein wichtiges Einheitsband und ein Vorbote der deutschen Einigung wurde. Ist aber einmal von Luther als Übersetzer die Rede, so kann der Kenner der Urtexte nur immer aufs neue staunen über die Feinheit des religiösen und sprachlichen Empfindens, mit der Luther durch sein seherhaftes 1167

Rudolf Kittel

Eindringen in den Geist der biblischen Bücher und sein geniales Nachempfinden dem Sinn des Grundtextes gerecht wird. In bewundernswerter Weise tritt dies besonders vielfach zutage in Fällen, wo die Sprachwissenschaft der Zeit noch nicht im stande war, das Richtige exakt zu erhärten. Er ahnt es. Sein meisterhaftes Beherrschen der deutschen Sprache und sein feines Gefühl für Rhythmus und Stimmung der Vorlage läßt ihn dabei nicht selten in geradezu überraschender Weise den natürlichen Wohlklang der Sätze und sogar den vielfach halb verschütteten Rhythmus der Texte belauschen. Der Katholik Josef Haydn wußte wohl, was er tat, wenn er in seinem Oratorium über die Schöpfung auch für ein katholisches Publikum Luthers Übersetzung der Schöpfungsgeschichte zu Grunde legte. Ist die Übersetzung so auch im letzten Grunde Luthers eigenstes Werk, so hat er doch nie verkannt, wie viel er gerade hier seinen Mitarbeitern dankte, allen voran dem gelehrten und feinsinnigen Praeceptor Germaniae Philipp Melanchthon. Und je mehr das Werk der Reformation fortschritt, desto mehr erweiterte sich naturgemäß dieser Kreis. Trat der Humanismus, den er ehedem als Mitstreiter freudig willkommen geheißen hatte, mehr und mehr beiseite, so erwuchsen auf andern Gebieten Schüler und Mitarbeiter oder auch selbständige Geistesgenossen oder wenigstens Streiter in demselben Kampfe, den er kämpfte. Ja bald genug schreitet die Bewegung weiter. Das einmal entzündete Feuer läßt sich nicht mehr bannen und wird zum gewaltigen Brande, der die halbe Welt in Flammen hüllt. Wie Luthers Thesen und erste Schriften rasch über die Lande hinfliegen, als wären sie „auf Engelsflügeln“ fortgetragen, so die ganze Bewegung. Sie greift über seine Person und sein Zeitalter und über die deutschen Grenzen hinaus. Aus dem an sich eng begrenzten wittenberger akademischen Vorgang an der Tür der Schloßkirche wächst die deutsche Reformation heraus, aus der deutschen Reformation der weltweite Protestantismus. Denn auch heute, da wir auf vier Jahrhunderte der Bewegung zurückschauen, können wir nicht anders urteilen als unsere Väter vor 100, 200 und 300 Jahren: die Tat Luthers am 31. Oktober 1517 bezeichnet die Geburt einer neuen Zeit im Leben unseres Volkes und der Völker, und wir Heutigen – so vieles uns sonst von den verflossenen vier Jahrhunderten scheiden mag – stehen noch mitten in ihr. Die Bewegung, die in Luthers kühner Tat ihre Wurzel hatte, hat bis heute nicht nur die Kirche, sondern auch die Welt vielfach umgestaltet, und noch sind wir nicht am letzten Ende dieses Prozesses angelangt. – – Verhält es sich aber so, so dürfen wir am heutigen Tage auch nicht bei Luthers Person, so sehr sie in den Mittelpunkt tritt, stehen bleiben. Die Frage mag auf sich beruhen, wie weit Ulrich Zwingli von Luther angeregt war und wie weit er auf eigenen Füßen stand. Tatsache bleibt, daß die schweizer Reformation nicht den Erfolg gehabt hätte, der ihr beschieden war, wäre nicht in Deutschland seit Jahren die Bewegung im Flusse gewesen. Tatsache bleibt aber auch, daß Zwinglis Einfluß dem Protestantismus seines Gebietes einen stärkeren Einschlag an humanistischer und zugleich an rationaler Denkweise gegeben hat, als es der Geistesart Melanchthons, des eigentlichen Humanisten und Systematikers im Kreise der deutschen Reformatoren, unter dem überragenden Einfluß Luthers möglich war. Denn Luther selbst steht die rein religiöse Frage im Mittelpunkt des Interesses: 1168

Antrittsrede 1917

das persönliche Verhältnis der Seele zum gnädigen Gott. Das hatte ihn zum religiösen Helden und Propheten seines Volkes gemacht, und darauf will er sich beschränken. Er will es auch im Hinblick auf den Staat und die irdischen Dinge. Hier überläßt er grundsätzlich alles der Macht der Idee. Er selbst aber fühlt sich nicht berufen, die irdische Gewalt zu brauchen. Geistliches und Weltliches sind ihm getrennte Gebiete. Die irdische Obrigkeit hat ihre Gewalt von Gott und sie mag die Dinge dieser Welt verwalten. Damit gibt Luther dem Staat, was des Staates ist. Er verlangt aber auch für Gott, was Gottes ist. Der Staat hat keine religiöse Aufgabe. Wenigstens war das Luthers grundsätzliche Stellung. Luther hat damit, wie er selbst sagt, „die Obrigkeit wieder an ihren Platz gestellt“. Das heißt, er hat damit die moderne Staatsidee angebahnt und einen Grundsatz aufgestellt, der, so schwer es sein mag, ihn in seiner Reinheit durchzuführen, doch immer wieder als das Ideal wird erkannt werden müssen. Denn dadurch allein kann die Religion auf sich selbst gestellt werden, wie es ihr als der vornehmsten Provinz des menschlichen Geistes zukommt. Und dadurch allein konnten auch die andern Gebiete menschlichen Lebens: Familie, Recht, Staat, Wissenschaft, einer gesunden Entwicklung zugeführt werden, wenn sie aus der unnatürlichen, ihnen aufgezwungenen Verbindung mit der Religion gelöst wurden. Gerade hierin hat nun der schweizer Reformator ganz andere Wege eingeschlagen. Im Grunde war es aber doch ein Rückfall ins Mittelalter, wenn er für den Staat das Recht und die Pflicht heischte, die kirchlichen Dinge zu lenken und für die Kirche und deren Vertreter das Recht, der weltlichen Obrigkeit die Richtschnur ihres Handelns aus der Religion darzubieten. Zwang auch in Gewissenssachen der Bürger war die notwendige Folge. Indes in diesem Punkte berührt sich mit Zwingli der Mann, welcher der Reformation im Westen unseres Erdteils, und zum Teil bis in die neue Welt hinein, ihr vornehmstes Gepräge gegeben hat – Johann Calvin. Keiner unter den Reformatoren des 16. Jahrhunderts, außer Luther selbst, hat gleich großen Einfluß auf die Mit- und Nachwelt ausgeübt. Religiös und theologisch vielfach von Luther beeinflußt ging er doch seine eigenen Wege. Seine persönliche, von der Luthers vielfach verschiedene Eigenart, bei der scharfes Denken und unerbittliche Folgerichtigkeit die wichtigsten Züge ausmachen, ebenso wie seine Nationalität als Franzose gaben seiner Auffassung und Betätigung der reformatorischen Grundsätze eine besondere Färbung. So hat Calvin in viel stärkerem Maße als Zwingli eine neue Form des Protestantismus geschaffen. Dabei kommt ihm der Umstand zu Hilfe, daß er als der bedeutend Jüngere in vielem die Hauptarbeit als schon getan vorfindet und so seine ganze Kraft dem Ausbau des schon begonnenen Werkes widmen kann. Ist Luther der Mann des religiösen Gefühls, dem das religiöse Erleben der göttlichen Gnade alles ist, so ist Calvin ganz Wille, ein in sich geschlossener, eherner Charakter. So ist ihm auch Gott ganz Wille, die absolute, unerforschliche Kausalität. Gott wirkt alles; nichts geschieht ohne seinen Willen, auch das Böse. Aus diesem Gedanken von Gottes Allwirken fließt seine Anschauung von der Vorherbestimmung, der sogen. Prädestination, das vollendetste System eines religiösen Determinismus, das die Geschichte kennt – von härtester, vielen schreckhafter Folgerichtigkeit. Es ist 1169

Rudolf Kittel

ein System von bewundernswerter religiöser Kraft, in seiner Reinheit als Darstellung eines wesentlichen Grundgedankens aller Religion vielleicht das Tiefsinnigste und Kraftvollste, was systematisches religiöses Denken hervorgebracht hat. Aber der Versuch der Überführung seiner Grundsätze in das praktische Leben zeigt gerade bei Calvin noch viel mehr als bei Luther die gefährlichen Klippen eines solchen Unternehmens. Sein Ideal ist eine Gemeinde der Erwählten. Aber das Kennzeichen der Erwählung ist ihm ohne weiteres der heilige, sittenstrenge Wandel. Das Mittel, ihn sicherzustellen, ist die strengste, von der kirchlichen Obrigkeit geleitete Kirchenzucht. Ein gesetzlicher Zug, der Gegensatz der von Luther geforderten evangelischen Freiheit und Unbefangenheit, wird das Kennzeichen der calvinischen Gemeinden. Aber daneben ist seine Verfassung ein Meisterstück großzügiger Organisation der Kirche. Sie sichert der letzteren dem Staat gegenüber ein unabhängiges Dasein. Sie faßt ferner – ganz im Gegensatz zu Luthers patriarchalischem Idealismus in wirtschaftlichen Dingen – mit vollem Bewußtsein auch die weltlichen Aufgaben ins Auge. Sie ist so – oft in verhängnisvoller Weise – bestrebt, auch das wirtschaftliche und politische Leben in Handel, Geldverkehr und Industrie nach christlichen Grundsätzen zu gestalten. Der Stiftung Calvins selbst in Genf, wo der Staat auf dem besten Wege war, zur mittelalterlichen Hierokratie zu werden, hafteten dabei außerdem mancherlei Härten und Einseitigkeiten an. Sieht man über sie weg und auf die weitere Entwicklung der calvinischen Gemeinwesen, so wird man gerade hier den Wurzelboden finden, aus dem überaus achtbare, von reichem Erfolg begleitete und heute noch vielfach unsere Anerkennung verdienende Schöpfungen des calvinischen Protestantismus entsprossen sind. Freilich darf auch nicht verkannt werden, daß ebenso der englisch-amerikanische ‚Cant‘ die heuchlerische Überschätzung der äußeren Korrektheit, besonders auch in religiösen Dingen, im Calvinismus seine Wurzel hat. Sie rührt zum großen Teil her von der mangelhaften Scheidung des Geistlichen und des Weltlichen und der den Angelsachsen geläufigen (und doch immer wieder in ihrer Undurchführbarkeit erkannten) Meinung, auch rein weltliche, nach den bloßen Regeln der Zweckmäßigkeit, zu gestaltende Dinge wie die Politik und das Wirtschaftsleben können nach religiösen Normen geordnet werden. Hochansehnliche Versammlung! Die Grundlagen für die große religiöse und kirchliche Neubildung sind damit gekennzeichnet. Luther, Zwingli und Calvin sind die tragenden Säulen, aus denen der neue Bau sich aufbaut, der in zwei mächtigen, auf demselben Fundament ruhenden Domen sich darstellt als lutherisches und als reformiertes Kirchenwesen. Halten wir daher hier zunächst inne! Es war in erster Linie eine religiöse Bewegung, die aus dem Erlebnis Luthers in der Klosterzelle und weiterhin aus seinem ersten öffentlichen Auftreten an jenem 31. Oktober herausgewachsen ist. Aber sie hat schon in ihrem anfänglichen Werden auch Staat und Gesellschaft in ihre Kreise gezogen, ja sie im Prinzip umgestaltet. Wenn wir nun heute nach 400 Jahren uns anschicken, der Bedeutung dieser Bewegung gerecht zu werden, so wird gerade die Universitas literarum Grund haben, 1170

Antrittsrede 1917

das Augenmerk darauf zu richten, daß es kaum einen Punkt im Geistes- und Kulturleben der Nation, bis in ihr öffentliches Leben hinein, gibt, wo sie nicht auf die Auswirkung jener ersten Bewegung stößt. Vor einer Stunde haben wir in dem seit Alters dieser hohen Schule gehörigen Gotteshause den Festgottesdienst begangen, in dem von berufenem Munde Töne angeschlagen wurden, die den vorhin vernommenen verwandt waren. Denn Luther als religiöser Meister und die Reformation als religiöse Tat müssen überall, wo man dem heutigen Tage gerecht werden will, an der ersten Stelle genannt werden. Wenn aber das erwählte Haupt dieser Gemeinschaft von dieser Stätte aus heute das Wort ergreift, so kann dies kaum in anderer Weise geschehen, als indem zugleich auf die Bedeutung der Reformation für das gesamte Geistes- und Kulturleben der Nation, ja der von ihr erfaßten Menschheit, hingewiesen wird. Ich habe schon vorhin daran erinnert, daß schon unsere Väter und Vorväter gerade den 31. Oktober dazu gewählt haben, um an ihm den Ehrentag unserer Alma mater zu begehen und dabei einem Vortrag des jeweiligen Rektors aus irgend einem Gebiete der gesamten Wissenschaft zu lauschen. Das war kein Zufall. Es war ein Bekenntnis zu der Überzeugung, daß Universität und Wissenschaft, so alt sie an sich selbst sein mögen, so, wie wir sie heute kennen und brauchen, im Grunde Töchter der Reformation und des Protestantismus sind. Diese Tatsache trat ehedem zunächst innerhalb der Theologie zutage, griff aber dann rasch auch auf andere Gebiete der Wissenschaft über. Indem Luther in seiner Betonung der heiligen Schrift als des authentischen Zeugnisses aus der christlichen Urzeit den Rückgang auf die Quellen der religiösen Erkenntnis, und in seiner Bibelübersetzung denjenigen auf die Urtexte fordert, hat er sich nicht um die Religion allein ein Verdienst erworben. Er dient ebenso der Wissenschaft. Er hat mit dem Rückgang auf die Quellen gegenüber der bloßen, durch die Jahrhunderte weitergetragenen Überlieferung einen der vornehmsten wissenschaftlichen Grundsätze zu Ehren gebracht. Und er hat in seiner Übersetzung der streng wissenschaftlichen, exakt philologischen und historischen Erforschung jener Urkunden den Weg gewiesen. Daß Luther im letzteren Stücke nicht immer im Stande war, das von ihm aufgestellte Prinzip in voller Reinheit durchzuführen, kann sein Verdienst wohl schmälern, nicht aber aufheben. Es war schon ein Großes, daß er den Grundsatz mit solcher Entschiedenheit aufstellte. Bekanntlich ist seine Forderung dann erst wieder durch den theologischen Rationalismus mit rechtem Eifer aufgenommen worden. Wie man immer sonst über diese Erscheinung denken mag, hier sind ihr entschiedene Verdienste nicht abzusprechen. Auch wer urteilen muß, daß der Rationalismus vielfach einer Verflachung der religiösen Ideen und damit auch des religiösen Lebens das Wort geredet habe, wird ihm die Anerkennung nicht versagen, daß er auf theoretisch wissenschaftlichem Gebiete der eigentliche Begründer der geschichtlichen Auffassung von der Bibel durch die Anwendung der historisch-kritischen Forschung auf sie geworden ist. Was Männer wie Semler, Eichhorn, Michaelis hierin anstrebten, lag tatsächlich durchaus in der Linie dessen, was Luther selbst gewollt hatte. 1171

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Es ist bekannt genug, daß Luther nicht nur zum überlieferten Texte des Alten und Neuen Testaments eine durchaus freie Stellung einnahm, sondern daß er auch über einzelne biblische Bücher, ihre Entstehung und ihr Verhältnis zum Kanon und zum Zentrum der christlichen Wahrheit durchaus selbständig und nach gesunden wissenschaftlichen und religiösen Grundsätzen urteilte. Er selbst schon hat, wie oben angedeutet ist, nicht immer von seinen Grundsätzen vollen Gebrauch gemacht. Vor allem aber ist die lutherische Kirche nach ihm – aus Gründen, die psychologisch und aus der Lage der Dinge durchaus verständlich sind – andere Wege gegangen. Dem reformatorischen Kirchenwesen ist dadurch ernster Schade zugefügt und seine gesunde Entwicklung ist durch Jahrhunderte aufgehalten worden. Neben voller Anerkennung nicht nur der an sich durchaus berechtigten Beweggründe des orthodoxen Protestantismus, sondern auch seiner hohen Verdienste um Glauben und Lehre der lutherischen Kirche muß diese Tatsache, an deren Folgen wir heute noch zu tragen haben, rückhaltlos anerkannt werden. – – Was Luther selbst zunächst suchte, war freilich immer die Religion und die religiöse Erkenntnis. Ihnen will er dienen. Aber indem er die Quellen des religiösen Erkennens neu zugänglich macht und der methodischen Erforschung dieser Urkunden, zugleich der richtigen, unbefangenen Würdigung der kirchlichen und christlichen Vergangenheit, im Papsttum und in der Urzeit, den Weg weist, hat er von selbst weitergegriffen. War aber hier einmal die Bahn gebrochen und war der Grundsatz der freien Forschung erkannt, so konnte auch die übrige Wissenschaft vor ihm nicht Halt machen. Für die biblische Wissenschaft haben die schon genannten rationalistischen Theologen, für die Kirchengeschichte Flacius und die Magdeburger Centurien eine kritische Geschichtsbetrachtung begründet. Auf dem Gebiete des klassischen Altertums haben Friedr. Aug. Wolf und Niebuhr den Bann gebrochen und einer wirklich geschichtlichen Anschauung die Wege geebnet. Auf ihre Schultern traten andere. Und wenn Männer wie die großen Meister der geschichtlichen Wissenschaft bis auf Ranke und Sybel fast durchweg bewußte Protestanten waren, so werden wir darin kaum eine bloße Laune des Schicksals erkennen. Was die Geisteswissenschaft an sich erfuhr, das erlebte aber auch die Naturerkenntnis. Kopernikus und Kepler, und später der fromme Newton, indem sie den Grundsatz der freien Forschung auf die Naturbeobachtung übertrugen, sind gleichermaßen unter dem Einfluß des neuen von Luther ausgegangenen Geistes. Sie sind es selbst dann, wenn sie gelegentlich in Widerspruch treten zu Sätzen, in denen er selbst oder die Seinen jenem Grundsatz nicht volle Rechnung tragen. Vollends aber wirkt der neue Geist sich aus in der Philosophie. Wieweit bereits die neue Wissenschaft über die Kreise der zünftigen Theologie hinausgegriffen hatte, beweist am besten der den Geist der Neuzeit und des protestantischen Christentums in sich vereinigende Leibniz. Im Mittelpunkt der Wissenschaft seiner Zeit stehend, ihr anerkannter Führer und universalster Genius, der die Mathematik nicht minder als die Philosophie und Geschichte, die Physik und Chemie ebenso wie die Jurisprudenz mit neuen Ideen und Aufgaben bereicherte, hat er zugleich der Theologie des Protestantismus neue fruchtbare Anregungen gegeben. Wie sehr sich dieser Aristoteles der Neuzeit als Christ, und zwar bei aller Anerkennung des Katholizismus 1172

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als evangelischer Christ fühlt, zeigt der Umstand, daß sein Ziel kein geringeres ist, als Religion und Wissenschaft, genauer die Philosophie und die biblisch-kirchliche Weltanschauung mit einander zu versöhnen. Freilich scheint ihm dies nicht möglich ohne starke Umdeutung der letzteren, indem er den Kern des Christentums in gewissen allgemeinen Vernunftwahrheiten – der sogen. natürlichen Religion – findet, deren wesentlicher Inhalt in den drei Ideen: Gott, Unsterblichkeit, jenseitige Vergeltung beschlossen ist. Nächst Leibniz sind es besonders Lessing und Kant, die wir als Vertreter echt protestantischen Geistes nennen dürfen. Lessing danken wir die wiederentdeckte Erkenntnis von der Offenbarung als einer Erziehung des Menschengeschlechtes. Auch gelegentliche Anfechtung seiner Urheberschaft wird daran wohl nichts ändern. Dieser Gedanke der Relativität auch der religiösen Wahrheit auf gewissen Stufen der religiösen Erkenntnis, und damit der Gedanke, daß die göttliche Offenbarung sich in einzelnen Zeitaltern dem Fassungsvermögen der Menschen anpasse, ist für das Verständnis der biblischen Urkunden von unberechenbarer Tragweite. Ist Lessing damit wesentlich über den herrschenden Rationalismus hinausgeschritten, so tut dasselbe nach einer andern Richtung Kant, indem er die religiösen Ideen nicht mehr als Gegenstand des Verstandes begriffen wissen will, sondern sie der praktischen Vernunft anheim gibt. Mit Recht hat man Kant den Philosophen des Protestantismus im besonderen Sinne genannt. Den Versuch, Gott und Unsterblichkeit wissenschaftlich beweisen zu wollen, hat Kant ein für allemal zurückgewiesen und er hat diesen Vernunftideen ihre Provinz in einem anderen Gebiete des menschlichen Geisteslebens zugesprochen, in dem des sittlichen Lebens. Damit war freilich nicht das letzte Wort gesprochen. Aber es war dem religiösen Erkennen, wenigstens nach der negativen Seite, für alle Zeiten ein wesentlicher Dienst getan: Rationalismus und rationale Theologie waren endgültig zu Grabe getragen. Kants Kritik der reinen Vernunft darf auf dem Gebiete der Erkenntnistheorie, als eine Art Luthertat gelten: sie räumt auf mit der Herrschaft einer überlebten Metaphysik. Nicht minder aber verdient diesen Namen seine praktische Philosophie: sein kategorischer Imperativ und seine Forderung des Guten um des Guten willen atmen Geist vom Geiste Luthers. In der Tat sind Leibniz, Lessing und Kant, die großen Führer der rationalistischen Periode, im innersten Wesen, auch wenn sie der Kirche und ihren Lehren selbständig gegenüberstehen, Zeugen protestantischen Geistes und fühlen sich durchaus als solche. Dasselbe gilt von den bahnbrechenden Meistern der folgenden Zeit: Fichte, Schelling, Hegel. Es muß genügen auf den letztern einen kurzen Blick zu werfen. Man mag über die hegelsche Philosophie und besonders ihre Versetzung der Religion in das Gebiet des Vorstellens urteilen, wie man will. Ebenso über die Forderung der Erhebung des Vorstellens zum philosophischen Denken. Immerhin hat die spekulative Richtung dieser Philosophie, vermöge welcher sie die Einheit des Menschengeistes mit Gott behauptet, dem religiösen Denken kräftige Anreize dargeboten. Wenn nach Hegel der Mensch deshalb von Gott weiß, weil er im Grunde mit ihm selbst eins ist, so ist damit von ihm ein wirklich religiöser Gedanke ausgesprochen. Insbesondere aber hat die von Hegel vertretene Idee der Entwicklung bei aller Ge1173

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waltsamkeit der Durchführung doch der Religionsgeschichte – der biblischen und der außerbiblischen – fruchtbare Gesichtspunkte eröffnet. So ist es durchaus verständlich, daß Männer wie Ferd. Christ. Baur und seine Schule von Hegel ausgehend eine tiefgreifende Einwirkung auf gewisse Kreise des Protestantismus des 19. Jahrhunderts ausübten und daß sie in einzelnen ihrer Schüler oder Geistesverwandten heute noch nachwirken. – Aber Luther ist, wenn auch Professor, doch nicht nur Mann der Wissenschaft, und seine und der Seinen Arbeit ist weit davon entfernt, nur oder nur in erster Linie der Theorie dienen zu wollen. So greift auch ihre Wirkung weit über die Theorie hinaus und ins Leben selbst hinein. Ich übergehe, was Luther der Schule geleistet hat; wie er als geistlicher Dichter der Nation diente und was er der Musik geworden ist; muß es mir auch versagen, von seiner Einwirkung auf Männer wie Albrecht Dürer und Hans Sachs zu reden, um mich dem Lebensideal der Reformation zuzuwenden. Indem sie das mittelalterliche Lebensideal beseitigt und an seiner Stelle ein neues als sittlich vollberechtigt anerkennt: die Arbeit im Beruf, in Familie, Staat und Gesellschaft, in Kunst und Wissenschaft und auf allen Gebieten des Lebens, die überhaupt sittliche Berufsarbeit ermöglichen, hat sie auch auf dem Gebiete des sittlichen Lebens Neues geschaffen. Und zwar ein solches, das wir noch heute nicht überboten haben. Luther der Mönch hat dem Kloster den Rücken gekehrt und ist in die Ehe getreten. Er wird damit von selbst Laie. Er schließt die Ehe mit einer gleich ihm in den weltlichen Stand zurückgetretenen früheren Klosterfrau und führt durch lange Jahre einen gesegneten, Ehestand und einen vorbildlichen Haushalt. Andere sind seinem Beispiel gefolgt. Nur im Vorübergehen sei erwähnt, daß Luther damit zugleich der Stifter des evangelischen Pfarrhauses geworden ist. Welche Segensspuren dieses im Leben der Nation hinterlassen hat, haben begeisterte Lobredner, unter ihnen besonders Treitschke und Gust. Freytag, längst gepriesen. Zeugen davon sind Männer wie Lessing, Wieland und Jean Paul; ferner Otfried Müller, Linné, Billroth und Bergmann; weiter die Schlegel, Geibel, Schelling, von Schubert, Euler, Joh. v. Müller, Schlözer, Mommsen; auch Admiral Scheer, der Sieger am Skagerrack, und General von Stein, der Klassiker der ersten deutschen Siegesberichte, endlich von den Unseren, neben vielen, Fechner, Lamprecht und Wundt entstammen dem Pfarrhaus. Doch zurück! Die Reformation hat damit dem mittelalterlichen Lebensideal der Askese entsagt. Die Weltflucht, das sich Zurückziehen von den Aufgaben und Arbeiten der Gesamtheit, von Familie, Staat und Gesellschaft, gilt nicht mehr als ein Beweis höherer Sittlichkeit und als im besonderen Sinne heilig und gottgefällig. Es gilt nun als ein Verkennen der wahren Pflicht und ein Versagen ihr gegenüber. Die Arbeit für die Gesamtheit, der Beruf, wird wieder geadelt. Welcher Art er immer sei: – ist er nur eine an sich sittliche Arbeit, eine Förderung der Ziele der Gesamtheit, so ist er ein Dienst Gottes, Arbeit am Reiche Gottes. Die Magd mit dem Besen, der Arbeiter mit Pflug, Hacke oder Schraubstock dienen Gott so gut wie der Gelehrte und der Künstler oder der König und der Krieger. Luther ist damit der Entdecker einer neuen Moral. Richtiger gesagt: er hat auch hier die alte, durch Jahrhunderte vergessene oder verschüttete Wahrheit wiederentdeckt, und seine Nachfolger haben seine Gedanken fortgeführt. Die Tragweite dieser Tat1174

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sache ist fast unermeßlich. Was in Kultur, Kunst, weltlicher Wissenschaft, Technik, Handel und Industrie – kurz auf allen Gebieten des Lebens außerhalb des unmittelbar religiösen Gebietes Großes geschaffen ist, trägt in dieser Hinsicht den Stempel der Reformation an sich. So paradox es klingen mag, daß eine rein religiöse Tat auch für das ganze Gebiet des weltlichen Lebens die Schranken durchbrach – in Luther wird das Fremdartige Ereignis. Auch Schiller und Goethe sind ohne ihn nicht denkbar. Ich möchte indes nicht mißverstanden sein. Nicht als wäre nicht auch auf katholischem Boden auf allen diesen Gebieten vorher und nachher Großes möglich gewesen. Aber nicht nur werden durch die Weltflucht zahllose Kräfte der Gemeinschaft entzogen; sie liegen brach. Sondern nach richtig mittelalterlicher Beurteilung ist doch das auf anderem als dem religiösen Gebiet geleistete Gute immer nur an zweiter Stelle gut: die Ehe ist gut – Ehelosigkeit um der Kirche willen besser; Arbeit im Beruf ist gut – Flucht aus der Welt ist besser. Damit ist von selbst ein Stigma auf jede Art weltlicher Arbeit und Betätigung gelegt. Eine lähmende Kraft hemmt und verneint im Grunde alles das, was der Protestantismus in Arbeit und Kulturtätigkeit jeder Art freudig bejaht. Ein Blick in die Länder des Katholizismus, vor allem die der romanischen Welt, im Vergleich zu den protestantischen Ländern läßt keinen Zweifel darüber aufkommen. Als ein besonderes Stück der neuen Moral mag noch die Toleranz Erwähnung finden. Die Hochhaltung der Persönlichkeit, von der noch zu reden ist, bringt die Achtung vor ihrer ehrlichen Überzeugung, welcher Art sie sei, mit sich – vor allem in religiösen Dingen. Aber auch ein materieller Grund führt dahin. Indem die Evangelischen den von der römischen Kirche allezeit festgehaltenen Anspruch, die allein seligmachende Wahrheit zu haben, aufgeben, gestehen sie mittelbar anderen Überzeugungen ein relatives Recht und damit Duldung zu. Ein Verzicht auf die volle Wahrheit ist in diesem Grundsatz die Duldung durchaus nicht – wie man manchmal lesen kann – einbegriffen. Auch wer sich im Besitz der höchsten Wahrheit weiß, kann doch bei den Andern Stufen der Wahrheit anerkennen, die zwar verhältnismäßig niedriger und dem letzten Ziel noch ferner sind als der eigene Besitz, die aber doch soviel wirklichen Wahrheitsgehalt in sich schließen, um bei ernster Verwendung ihrer religiösen Kräfte und Werte einen Menschen Gott und dem Ziel der Vollkommenheit wirklich nahe zu bringen. Das letzte und weiteste Feld der Betätigung des sittlichen, vor allem des Berufslebens ist aber der Staat. Hat die Reformation das sittliche Lebensideal umgestaltet, so wird sie auch, wie oben schon angedeutet, diese höchste irdische Gemeinschaft nicht unberührt gelassen haben. Wir hörten, daß Luthers Vorgehen gegen den Ablaß zugleich einen Angriff auf die päpstliche Gewalt selbst bedeutete. Indem er die Freiheit der Christenheit vom römischen Priestertum und seinen Gnadenmitteln aussprach, nahm er den Kampf nicht allein gegen die religiöse Machtstellung der römischen Hierarchie auf, sondern auch gegen ihre politische Macht. Geistliche Macht auf politischem Boden ist damit für Luther ein Unding. Oder was dasselbe bedeutet: politische Macht, weltliche Gewalt, hat mit den geistlichen 1175

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Dingen nichts zu tun. „Ein Fürst kann wohl ein Christ sein, aber als Christ muß er nicht regieren, und nachdem er regieret, heißt er nicht ein Christ, sondern ein Fürst. Die Person ist wohl ein Christ, aber das Amt oder Fürstentum gehet sein Christentum nichts an.“ So sind denn Luther Geistliches und Weltliches getrennte Gebiete: der Kirche gehören die religiösen Dinge, der weltlichen Obrigkeit die Dinge dieser Welt. Und er hegt das große Zutrauen, die richtige innere Stellung eines Volkes müsse von selbst und von innen her normale sittliche und soziale Zustände im Staat hervorbringen, auch ohne Gewalt. Die Idee ist eine freie Himmelstochter. Überall aber, wo sie mit diesem unvollkommenen Erdenleben in Berührung kommt, da ist es unvermeidlich ihr Los, daß sie mit der Erdenschwere behaftet und mit dem Erdenstaub verunreinigt wird. Nirgends zeigt sich dies Gesetz deutlicher als bei Luthers Staatsidee. Der Zwang der Verhältnisse nötigt ihn, seine Stiftung unter den Schutz der weltlichen Gewalt zu stellen. Der Fürst erscheint ihm als Notbischof. Aber was als Notbehelf für die Anfänge gedacht ist, wird zum System. Staat und weltliche Obrigkeit nehmen die Regierung der Kirche an sich, ja sie verfügen über den Glauben der Untertanen. Die Fürsten werden weltliche Bischöfe, die Kirche vielfach – trotz Luther – eine Dienerin des Staates. Sie ist es, zum Teil wenigstens, geblieben. Luther hat in Oliver Cromwell insofern einen Nachfolger gefunden, als Cromwell den Staat als eine religiös neutrale Macht denkt. Er soll nach ihm die Glaubensfreiheit so hochachten, daß er bei der Wahl seiner Diener nur auf den ehrlichen Willen, ihm zu dienen, sieht. Und die geschichtliche Entwicklung, indem sie mehr und mehr den religiös gemischten Staat schuf, verhalf jenem Grundsatz von selbst zum Sieg. Auch ist kein Zweifel, daß der Protestantismus außerhalb des europäischen Festlandes im ganzen der Gefahr des Staatskirchentums weniger verfiel als in seinen Stammlanden. Seiner Idee ist er auch dort nicht vollkommen treu geblieben weder bei Cromwell noch später; erst die Zukunft muß lehren, in welchem Maße er noch imstande sein wird, sich ihr anzunähern. Aber der protestantische Staatsgedanke ist damit nicht erschöpft. Man denke an den streng protestantisch-calvinisch frommen Großen Kurfürsten und seine Auffassung von den Pflichten eines Herrschers; besonders aber an den großen Märtyrer des Luthertums Gustav Adolf von Schweden, der schon im Leben seinem Land und Volk die größten Opfer gebracht und schließlich sein edles Leben im Heldentod für seine Sache dahingegeben hat. Man denke weiter an Friedrich den Großen, den man – bei aller sonstigen Verschiedenheit – insofern den Kant unter den Staatsmännern und Staatslenkern nennen darf, als sein kategorischer Imperativ auf politischem Gebiet lautet: „Der König ist der erste Diener des Staates.“ Das echt Protestantische an ihm wird man erkennen, wenn man die Auffassung Ludwigs XIV. vom Staat und dem Rechte des Fürsten dagegen hält: „Der Staat bin ich!“ Was ist die Wurzel dieses politischen Pflichtbegriffs? Doch wohl der Gedanke, daß der Staat nicht eine Masse von blind Regierten darstelle, sondern eine Fülle freier Persönlichkeiten, eine Menge selbständiger, politisch mitberechtigter Individuen. Also die echt reformatorische Idee der Persönlichkeit bestimmt auch den protestantischen Staatsgedanken und erfüllt ihn mit jener höheren Verantwortlichkeit, die 1176

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aus der Achtung vor dem freien Individuum von selbst fließt, während das Papsttum als der vollendete religiöse Absolutismus auch die politische Autokratie als Gegenstück fordert. Mag das Papsttum in der Praxis je und dann andere Wege gehen, seiner Idee entspricht das „l’état c’est moi“. Man denke ferner an Gestalten wie E. Moritz Arndt und Fichte, an die Bestrebungen zur Hebung der niederen Klassen in Preußen von seiten des echten Lutheraners Stein, und nicht zuletzt an Bismarcks soziale Gesetzgebung, die er selbst als den Ausfluß seiner protestantisch religiösen Überzeugung, als sein „praktisches Christentum“ bezeichnet. Die Achtung vor der Person und dem gleichen Rechte aller ist auch hier die Wurzel. Sie aber ist letztlich protestantisches Gut, wie es gewiß kein Zufall ist, daß jene segensreiche Gesetzgebung, um die uns andere beneiden, zuerst im protestantischen Hohenzollernstaat in die Erscheinung trat. Hier hat sich jener ideale Grundsatz Luthers von der Macht des Guten, sich selbst durchzusetzen, als das Wort eines echten Propheten erwiesen. Damit sind wir von selbst zum Letzten geführt, dem mehrfach genannten Gedanken der freien Individualität. Mit der Behauptung des freien Zutritts zu Gott und der Unabhängigkeit von irdischer Autorität in Sachen der Überzeugung hat Luther das Recht der Persönlichkeit, die Selbständigkeit des Subjekts, wiedergewonnen. Sein großes Bekenntnis vor Kaiser und Reich in Worms ist das Losungswort für das Recht des Individuums einer ganzen Welt gegenüber. Von diesem Recht nun hat der Protestantismus ausgiebigen Gebrauch gemacht, im besondern auf seinem eigensten Gebiete, dem des religiösen Lebens. Schon die radikalen Schwarmgeister der ersten Zeit bekunden das. Aber eine ihrer edelsten Blüten hat diese Richtung auf deutschem Boden im Pietismus hervorgebracht. Er tritt einem im Laufe von 1 1/2 Jahrhunderten vielfach veräußerlichten und in Theorie und Praxis verflachten Kirchenwesen auf lutherischem wie reformiertem Boden gegenüber mit der Erneuerung des alten Verlangens nach Verinnerlichung der Religion. Im Gegensatz zu einem vielfach herrschend gewordenen Dringen auf das Dogma wird ein innerlich persönliches, auf Erfahrung gegründetes Erfassen der religiösen Wahrheit und gegenüber einer gewissen sittlichen Laxheit wird die lebendige praktische Betätigung des Christenstandes gefordert. Das subjektive, persönliche Element gewinnt hier neue Bedeutung, und seine Betonung von diesen Kreisen aus ist der Kirche bis heute vielfach zum Segen geworden. Indes ganz abgesehen von dem äußerlich wenig sichtbaren und doch nicht gering anzuschlagenden Gewinn, den die Verinnerlichung des religiösen Lebens dem Protestantismus und damit der Nation und einem großen Teil der Kulturwelt brachte, ist aber auch der Zuwachs an greifbarem Vorteil offenkundig. Die gesteigerte Inangriffnahme und Durchführung des Erziehungswesens beim hallischen und dem ihm nahe verwandten herrnhutischen Pietismus, überhaupt das sich ausbreitende Interesse an der Jugenderziehung, desgleichen der erwachende Sinn für die Heidenmission sind die Belege dafür. Jenes Interesse hat seine Wurzel, wie schon bei Luther selbst, so auch hier in der Achtung vor der Persönlichkeit im Kinde als der „kleinen Majestät“, dieser Missionssinn in der immer stärker erwachenden Wertung auch des Naturmenschen als menschlicher Person. Ja im 19. Jahrhundert feierte derselbe Geist 1177

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reiche Triumphe durch die Ausbreitung der christlichen Liebesarbeit im großen Stil, vor allem bei den der Verwahrlosung und dem Verkommen Anheimgegebenen: in Deutschland durch die an Namen wie Wichern und Bodelschwingh geknüpfte Bewegung, die wir als Innere Mission kennen, in England besonders durch die Namen Fry und Nightingale. Der Mensch auch im Unglücklichen, der göttliche Funke auch im Gefährdeten, ist hier der leitende Gedanke. Aber so sehr diese echt evangelischen Gedanken sich in die Praxis umzusetzen bestrebt sein mußten, der Protestantismus konnte doch nicht vergessen, daß sie für ihn ihre letzte Wurzel im Ringen Luthers um den gnädigen Gott hatten. Das religiöse Erlebnis, die persönliche Erfahrung des im Glauben gewonnenen Gottes, bildete die letzte Grundlage. So entspricht es mit einer gewissen Notwendigkeit dem inneren Gang der Dinge, wenn zu Beginn des 19. Jahrhunderts Schleiermacher die religiöse Erfahrung auch in der Theorie neu zur Geltung brachte. Er tut es im Gegensatz zum Rationalismus und anknüpfend an den Pietismus wie an die Romantik und an die religiöse Erhebung der Zeit der Befreiungskriege und faßt die religiöse Anregung aller dieser Erscheinungen wie in einem Brennpunkt zusammen. Hier ist nicht der Ort, auf die Stärke und die Schwächen der Art einzugehen, wie Schleiermacher seine Anschauung durchführt. Die Tatsache bleibt, daß der Protestantismus des 19. Jahrhunderts mehr unter seinem Einflusse steht als unter dem eines anderen. Noch heute zehren wir von seinem Erbe. Und keine der Richtungen innerhalb der protestantischen Theologie, die im Laufe des 19. Jahrhunderts und bis heute um die Herrschaft über die Geister rangen, konnte sich der grundlegenden Auseinandersetzung mit ihm entschlagen. Daß es so ist, entspricht der Lage der Dinge. Die religiöse Erfahrung des Subjekts und mit ihr ein gewisses Maß von Individualismus gehören zum Wesen des Protestantismus. Vielen scheint darin der schwächste Punkt des religiösen Protestantismus, ja selbst die Verneinung der Kirche gegeben. Mit Unrecht. Gegeben aber ist damit, daß das protestantische Kirchenwesen, als Organismus und als Machtfaktor angesehen, sich mit dem katholischen nicht messen kann. Darin liegt freilich seine Schwäche jenem gegenüber – aber nur so lange, als es sich mit jenem messen will. Die scheinbare Schwäche wird zur Stärke, sobald der Protestantismus entschlossen auf solche Ansprüche verzichtet. „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ Luther hat bekanntlich die Landeskirchen nur als Notbehelf betrachtet. Darin liegt, daß sie nicht die notwendige Form der äußeren Vertretung evangelischen Lebens sind und nicht für die Ewigkeit bestimmt. Man kann den mannigfachen guten Dienst, den diese Form äußerer Organisation bei allen ihren Schwächen doch immer unleugbar der evangelischen Sache getan hat, mit vollem Danke würdigen; man kann sogar lebhaft bedauern, daß Luther und die Geschlechter nach ihm nicht noch einen Schritt weiter zum Zusammenschluß der Landeskirchen und zur Wahrung des Bewußtseins der Einheit der protestantischen Christenheit gegangen sind, und doch jener Überzeugung Ausdruck geben. Jedenfalls aber wird man davor warnen müssen, ein Haus selbst niederzureißen, in dem man leidlich, wenn auch ohne sonderliche Bewegungsfreiheit, untergebracht ist, ehe ein besseres sicher bereit steht. 1178

Antrittsrede 1917

Aber den Ausblick in die Zukunft wird man heute weniger denn je unterlassen dürfen. Denn daß dieses 5. Jahrhundert der Reformation, ja aller Wahrscheinlichkeit nach die nächsten Jahrzehnte – wo nicht schon Jahre – nach dem großen Kriege, uns gewaltige Veränderungen auch auf religiös-kirchlichem Gebiet und im Verhältnis der Kirche zum Staat bringen werden, ist heute schon mit Händen zu greifen. Wie die evangelische Kirche sich dann äußerlich gestalten wird, das vorhersagen zu wollen, ist müßig. Aber was vielen ihre Schwäche scheint, kann hier schon ihr zur Stärke werden, weil für sie die Form im letzten Grunde unwesentlich ist. Man zerschlage die katholische Kirche – und sie steht in der Luft. Man zerschlage die protestantischen Kirchen: – dem evangelischen Christen kann damit vieles genommen sein; aber es bleibt ihm sein Bestes, worauf letztlich alles ankommt: sein Glaube, also seine Gemeinschaft mit Gott, und die Gemeinschaft mit Gleichgesinnten. Damit kommen wir von selbst zu unserem Ausgang zurück: es bleibt ihm das religiöse Erlebnis aus der Klosterzelle in Wittenberg. Sorgen wir bewußten Protestanten, daß wir dieses Kleinod hüten, so wird weder die Welt noch die Pforte der Hölle uns überwinden! Nach der Rede nahm der neue Rektor seinen Platz im Saale ein. An seiner Stelle betrat die Rednerbühne der Dekan der theologischen Fakultät Dr. Hauck zu folgender Ansprache: Kollegen, Kommilitonen, hochansehnliche Festversammlung! Es ist alter akademischer Brauch, daß die Hochschulen die Festfeiern, welche sie begehen, dadurch auszeichnen, daß sie verdienten Männern den Doktorgrad ehrenhalber verleihen. Daß die vierhundertjährige Gedächtnisfeier der Reformation in eine Zeit der schwersten Kämpfe und Sorgen für das deutsche Volk fällt, verbietet zwar lauten Jubel, aber es soll nicht verhindern, daß an dem heutigen Gedenktag alles geschieht, was geeignet ist, die Feier zu erheben, zu bereichern und zu vertiefen. In diesem Gedanken hat die theologische Fakultät beschlossen, einer Anzahl von Männern, die sich um die Kirche des Evangeliums, sei es durch praktische Arbeit im Dienste der Gemeinde, oder durch wissenschaftliche Forschung anerkannte Verdienste erworben haben, die theologische Doktorwürde ehrenhalber zu erteilen. Unsere Wahl traf aus der hiesigen Stadt den Pfarrer bei St. Nikolai, Hofprediger a. D. Lic. theol. Herrn Max Schmidt, der in hervorragenden kirchlichen Ämtern sowohl in der Heimat wie im Felde der evangelischen Wahrheit in Wort und Schrift, in Predigt und Seelsorge mit hingebender Treue gedient hat, indem er für Mahnung und Trost, für Stärkung und Förderung stets das rechte, zu Herzen sprechende Wort fand; sodann den Direktor der Stadtbibliothek Dr. phil. Herrn Ernst Kroker, der mit bewundernswürdigem Scharfsinn und unermüdlichem Fleiße der Lutherforschung neue Quellen erschlossen und viel benützte, durch fremde Zutaten fast unbrauchbar gewordene alte Quellen in ihrer Urgestalt wieder zugänglich gemacht hat; ferner den Pfarrer und Redakteur, Herrn Wilhelm Laible, der als langjähriger Leiter einer führenden Kirchenzeitung vielbewährt, zugleich als kirchlicher Erbauungsschriftsteller eine dankbare Gemeinde zu sinnender Versenkung in das 1179

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Schriftwort anleitete und sich auf mannigfache andere Weise um die Kirche der Reformation verdient gemacht hat. Ihnen gesellen wir aus dem übrigen Sachsen bei den Geheimen Konsistorialrat, Herrn Johann Kuno v. Zimmermann in Dresden, der nach langjähriger verdienstvoller Arbeit im Predigt- und Ephoralamt gegenwärtig als Mitglied der obersten Kirchenbehörde Sachsens der gesamten Kirche unseres Landes mit Wort und Tat dient und dabei vorbildlichen Eifer, ganze Hingabe und vielseitige Sachkenntnis bewährt, und den emeritierten Pfarrer Lic. theol. Herrn Friedrich Julius Winter in Dresden, der in stiller Lebensarbeit sich nicht nur in der Praxis hervorragend bewährt, sondern auch an der wissenschaftlichen Arbeit der Theologie auf verschiedenen Gebieten ernsthaft und erfolgreich teilgenommen hat und von vielen in unserer Landeskirche als Führer dankbar verehrt wird. Aus dem deutschen Reich und den Gebieten der deutschen Sprache, die dem Reiche nicht angehören, richtete sich unsere Wahl auf den Generalsuperintendenten von Kurland, Herrn Alexander Bernewitz in Mitau, den um die Erhaltung der lutherischen Kirche Kurlands in schwerster Zeit wie um ihre Neuordnung in den Tagen der Befreiung hochverdienten Leiter seiner heimatlichen Landeskirche, den furchtlosen Bekenner des Evangeliums, den treuen Hüter angestammten deutschen Wesens im baltischen Volk; den Generalsuperintendenten von Schwarzburg. Herrn Dr. phil. Arnold Braune in Rudolstadt, der wissenschaftlich und praktisch in gleicher Weise erfahren, nicht bloß der eigenen Landeskirche durch viele Jahre hindurch ein sorgfältiger, unermüdlicher und erfolgreicher Führer gewesen ist, sondern auch das kirchliche Leben im übrigen Thüringen und darüber hinaus mannigfach gefördert hat; den ordentlichen Professor der Kirchengeschichte in Bern, Herrn Lic. Dr. Heinrich Hoffmann, der, nachdem er an unserer Hochschule in die akademische Lehrtätigkeit eingetreten war, seit Jahren die deutsche Wissenschaft an einer ausländischen Universität ehrenvoll vertritt und in manchfachen literarischen Arbeiten die Beziehungen, die das geistige Leben Deutschlands während der letzten Jahrhunderte mit Religion, Theologie und Kirche verbanden, sorgfältig untersucht und mit feinem und maßvollen Urteil beleuchtet hat; den außerordentlichen Professor der Theologie in Erlangen, Herrn Lic. Dr. Hans Preuß, der, von unserer Universität ausgegangen, seit Jahren mit Erfolg in der akademischen Lehrtätigkeit steht und durch feinsinnige Forschungen zur Kirchengeschichte des späteren Mittelalters und der Reformationszeit die historische Wissenschaft gefördert hat; endlich den ehemaligen ordentlichen Professor der Assyriologie an der PennsylvaniaUniversität in Philadelphia, Herrn Dr. phil. Herm. Vollrat Hilprecht, den treuen Sohn unserer Hochschule, den ausgezeichneten Gelehrten auf dem Gebiete der semitischen Sprachwissenschaft und Altertumskunde, den erfolgreichen Forschungsreisenden und Entdecker altbabylonischer Kulturschätze, den hochherzigen Förderer der biblischen Wissenschaft, den überzeugten Vertreter des evangelischen Glaubens, den opferbereiten deutschen Mann. Als Dekan der theologischen Fakultät proklamiere ich die Genannten als Doktoren der Theologie und verleihe ihnen die Würde, den Titel und die Rechte des theologischen Doktors. 1180

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Es folgte der Dekan der juristischen Fakultät Dr. Richard Schmidt mit folgenden Worten: Daß die Leipziger Juristenfakultät mit der theologischen Schwester Hand in Hand zu gehen wünscht, wenn es gilt, einen Markstein in der Geschichte der Reformation nach akademischem Brauch mit einem Kranze zu schmücken, liegt in der Natur unserer Fakultät begründet. Denn in ihrer gesamten, über die Generationen weiterschreitenden Arbeit ist das Jahr 1517 einer der Richtpunkte gewesen, auf die ihr Auge eingestellt bleiben mußte. Nicht einer der großen Gegenstände, mit deren Einordnung unter die Regeln des Rechts der Jurist unablässig ringt, läßt sich denken, der nicht von der Reformation mit neuen Gedanken erfüllt worden wäre – Familienleben wie Güterverkehr und Vereinsbildung ebenso wie Gemeindedasein und Staatsleben, von der Kirche selbst, soweit sie Gegenstand der Rechtsordnung ist, ganz zu schweigen. Und nicht minder ist es die Art unserer wissenschaftlichen Arbeit selbst gewesen, auf die der Geist der Reformation umgestaltend gewirkt hat und in der er weiter wirkt. Aber wenn wir für dieses Bewußtsein Zeugnis ablegen, indem wir von unserem Recht der Ehrenpromotion Gebrauch machen, haben wir dabei den Wunsch, die Sphäre nicht zu überschreiten, in die uns die Not der Zeit gewiesen hat. Einer rechtsgelehrten Körperschaft fällt heute die Aufgabe zu, in stiller Selbstbescheidung unter der Asche kriegerischer Zerstörung die Funken glühend zu erhalten, aus denen mit Gottes Hilfe in besseren Tagen ein neues Feuer wissenschaftlich gedachter Rechtserkenntnis und Rechtspflege aufschlagen soll. Deshalb möchten wir heute nur einer Reihe von denen unter den Dienern der evangelischen Sache einen Gruß sagen, mit denen wir uns auf dem gleichen Wege der gemeinsamen Arbeit begegnen. Es sind die theologischen Gelehrten, die in der Pflege der Kirchengeschichte vor andern fördernd und anregend für den Juristen gewirkt haben. Nicht nur da, wo ihre Forschungsarbeit mit der juristischen fast untrennbar verschmilzt, wo sie sich den genetischen Grundlagen des rechtlichen Organismus der Kirche selbst zuwendet, sondern auf den mannigfaltigsten Gebieten der Geschichte des deutschen wie des ausländischen Privatrechts oder Staatsrechts haben sich mehr und mehr gemeinsame Problemstellungen entfaltet. Ist doch in den letzten Dezennien auch der entlegenste Teil der christlichen Dogmengeschichte, die der frühchristlichen Zeit, unserer Rechtsgeschichte nahe gerückt, seit diese begonnen hat, sich der Quellen und Rechtsgedanken des hellenistischen, römischen und byzantinischen Orients zu bemächtigen. Hieraus möchten wir es verstanden wissen, wenn wir heute vier in ausgeprägter individueller Eigenart hervortretende Persönlichkeiten unserer deutschen Kirchenhistorik, und nur sie, zu juristischen Ehrendoktoren kreieren. Zunächst verleihen wir unsere akademische Würde an einen Lehrer der Hochschule, in der für uns heutigen die erloschene Heimatsuniversität unsres Reformators mit ihren korporativen Rechten und ihrer Tradition fortlebt, an den Professor der Kirchengeschichte der Universität Halle-Wittenberg Friedrich Loofs. Nunmehr schon seit Jahrzehnten eines der geistigen Häupter der Hochschule an der Saale, mit der uns von altersher ungezählte treu-nachbarschaftliche Beziehungen verbinden, hat Friedrich Loofs seine wissenschaftliche Laufbahn, erst als Lernender, dann als 1181

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Lehrender in Leipzig eröffnet. Von hier aus hat er seine tiefdringenden dogmengeschichtlichen Untersuchungen aus der frühchristlichen Zeit eingeleitet, um zu dem Ausbau jener alle Seiten des kirchlichen Lebens, der kirchlichen Lehre wie der kirchlichen Verfassung umschließenden historischen Gelehrsamkeit fortzuschreiten, die ihn heute auszeichnet und die ihn zum unbestechlichen Wegführer einer exakten Methode für alle, die sich auf irgend einem Gebiet geschichtlicher Quellenforschung bewegen, gemacht hat. Aus ihr schöpft er die bewunderte, im Laufe der Jahre auch von langen Reihen juristischer Hörer mit Eifer genutzte Fähigkeit, an den verschiedensten Stellen die Beziehungen unserer Religion zu unserm nationalen Geistesleben lichtvoll zu kennzeichnen, bald an dem Verhältnis Lessings zum Christentum, bald aus den Zusammenhängen Luthers mit dem Mittelalter wie auch der neuen Zeit, bald an der Bedeutung, die die Vorläufer unseres heutigen Reformationsjubiläums in den vergangenen Jahrhunderten jedes für ihre Zeit: vor dem Ausbruch des dreißigjährigen Kriegs, an den Schwellen der Aufklärung, wie auch dem siegreichen Ende der Freiheitskriege gewonnen haben. Weiter promovieren wir zum Doctor iuris utriusque den Professor der Kirchengeschichte an der Universität Heidelberg Hans von Schubert, einen Sohn unsres sächsischen Landes. Ihm, dem Schöpfer einer weitverbreiteten lebendigen Gesamtdarstellung der Kirchengeschichte, dankt der Jurist, der seinen Einzeluntersuchungen folgt, wertvolle Hinweise auf bisher verborgene Kräfte, die am Werk der deutschen Verfassung mitgearbeitet haben. Tief eingelebt in die Schicksale der Kirche während der Völkerwanderung hat er es unternommen, der Kirchenpolitik der Germanenfürsten arianischen Bekenntnisses neue Züge abzulauschen und den Nachweis zu führen, daß vielleicht schon der älteste Rivale, der dem römischen Katholizismus innerhalb des Christentums im Arianismus erstanden war, im Bunde mit dem germanischen Rechtsgeist fähig war, im Staate der Goten, Burgunder und Langobarden organisierend und normenbildend wirksam zu werden. Noch viel unmittelbarere und uns näher berührende Wechselwirkungen zwischen dem Werdegang unseres Staats und unserer Kirche hat er im Reformationszeitalter herausgestellt, wenn er hier neben den bekenntnisbildenden Idealen Luthers und seiner Umgebung die staatsbildenden, religionspolitischen Kräfte beobachtet hat, die durch Bündnis der evangelischen Fürsten und Städte dem neuen Glauben die notwendige Stütze zu geben suchten, – Kräfte, die, wie wir heute wissen, ein Glied in der Kette der Einungen dargestellt haben, in denen sich allmählich der föderative Aufbau unseres Reichs vollziehen konnte. Und auch sonst haben bei Hans von Schubert die Motive des Staats- und Rechtslebens immer mitgeklungen; wie anderwärts da, wo er die Geschichte und Bedeutung der evangelischen Trauung, das Problem des Eherechts, untersuchte, auch da, wo er, seinen Beitrag zur heutigen Feier beisteuernd, Luther „seinen lieben Deutschen“ als den Wortführer und volkstümlichen Helden der Nation schildert. Als Dritten in der Reihe unserer Promovenden verkünde ich den Professor der Kirchengeschichte an der Universität Berlin Karl Holl. Auch diesem schwäbischen Denker, der nun bereits seit einem Jahrzehnt endgültig sein Tübingen mit der Wirkungsstelle der Reichshauptstadt vertauscht hat, können wir Juristen nicht in seinen weitgespannten Arbeitskreis nachgehen, der die kirchliche Literatur von der Patristik 1182

Antrittsrede 1917

bis zur Gegenreformation des Stifters des Jesuitismus umfaßt. Aber wir dürfen aussprechen, daß er sich die dauernde Erkenntlichkeit der Juristen vor allem durch eine doppelte Leistung gesichert hat. Mit festem breiten Pinselstrich hat er uns ein neues Porträt Johann Calvins vor Augen gestellt. Die ernsten Tage von heute, da Calvins picardische Heimat das Opfer aller Schrecken des Kriegs und Zeuge des Heldenkampfs unserer Brüder bildet, dürfen uns nicht hindern, uns an der Hand Karl Holls klar zu werden, daß der französische Reformator der Geistesverwandte und der edle Nachfolger des deutschen Luther war, zugleich freilich auch der, der durch seine eigne Art, und durch sein tiefes Gefühl der Pflichttreue gegen den Höchsten, berufen wurde, nach Luthers Tod dem erschlaffenden und in partikulären Gebilden seine Kraft verzettelnden evangelischen Bekenntnis die politische Aktionsfähigkeit und den weltpolitischen Weitblick einzupflanzen. Und als ein Seitenstück hierfür durften wir die glänzende Untersuchung begrüßen, in der uns Holl das Innenleben Luthers selbst in einer der wichtigsten und schwierigsten Fragen seines Lebenswerks, in der Frage des landesherrlichen Kirchenregiments, nahe zu bringen gewußt hat. Wenn sich die Kirchenrechtswissenschaft bisher ohne reines Ergebnis abgemüht hat, dem inneren Zwiespalt nachzugehen, der sich bei der äußeren Ordnung der neuen Kirche in Luthers Gewissen zwischen seinem religiösen Ideal der geistigen Eigenständigkeit der Kirchen und seiner Ehrfurcht vor der schützenden Hoheit des Staats öffnen mußte, so ist es Karl Holl gewesen, der mit ebenso großer Feinheit des Nachfühlens wie Kunst scharfer Formulierung einen neuen Weg gewiesen hat, uns vielleicht endgültig das Bild unseres Glaubenshelden von den Einwänden gegen die Folgerichtigkeit oder Klarheit seines Denkens oder gar gegen die Beständigkeit seiner religiösen Anschauungen zu befreien. Endlich – zuletzt, doch nicht als letztem unseres Herzens – bieten wir unsere summi honores dem Mitglied unserer theologischen Schwesterfakultät, dem Professor der Kirchengeschichte zu Leipzig, Heinrich Böhmer. Fast in jeder seiner zahlreichen Schriften hat er auch dem Juristen Belehrung gegeben. Wenn, wie soeben erwähnt, als unmittelbares Ergebnis der Reformation ein Kirchenregiment des Landesherren die rechtliche Form der evangelischen Landeskirchen bestimmen sollte, so hat Heinrich Böhmer zuerst in vollem Umfang das imposante Urbild dieses kirchenrechtlichen Gebildes innerhalb der Kirche des Mittelalters anschaulich gemacht, die Stellung des König-Bischofs im anglonormannischen Staat Wilhelms des Eroberers. Er hat nicht minder die ganz anders geartete Kirchenpolitik der Kirchenfürsten der deutschen Ottonen geklärt. Er hat aber auch der allgemeinen Staatslehre und Rechtslehre starke Anregung gegeben durch die neue Darstellung des Ideenkreises des Reformators, die wir seinem „Luther im Licht der neueren Forschung“ verdanken. Freilich gerade an dieses reiche und schöne Werk wird der Jurist nicht in erster Linie den Maßstab des Interessenkreises seiner Sonderwissenschaft legen wollen. Zunächst ist es der menschliche Anteil an dem mächtigen Deutschen, der in dieser Zeit mehr denn je eine Zuflucht unserer Gedanken ist, was den Anteil auch an Heinrich Böhmers Schilderung seines Wesens bestimmt und an der ganzen Fülle ihres Stoffs, dessen kritische Durchdringung im Einklang steht mit der überlegenen 1183

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Form der Darstellung. Und so darf denn auch diese unsere letzte Promotion zu einem Teil dem Ausdruck der Freude gelten, daß wir nach dem Heimgang unseres unvergessenen Theodor Brieger wiederum einen eindrucksvollen Lutherbiographen in unserer Mitte besitzen. Den Beschluß der Ehrenpromotionen machte der Dekan der philosophischen Fakultät Dr. Des Coudres mit den Worten: Die philosophische Fakultät der Universität Leipzig ernennt am Tage der vierhundertjährigen Feier der Reformation den Doktor der Theologie, und ordentlichen Professor an der Universität Rostock Herrn Wilhelm Walther in Anerkennung seiner Verdienste um die deutsche Bibelforschung und das Verständnis Luthers ehrenhalber zum Doktor der Philosophie. ***

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31. Oktober 1918. Rede des abtretenden Rektors Dr. Rudolf Kittel. Bericht über das Studienjahr 1917/18. Hochansehnliche Versammlung! Seit Jahren hat sich bei uns der Brauch eingebürgert, daß der abtretende Rektor seinem Amtsnachfolger den Wunsch mit auf den Weg gab, es möge ihm beschieden sein, unser Friedensrektor zu werden. Nun haben wir den Frieden nach allem menschlichen Ermessen in naher Aussicht. Freilich einen ganz andern als wir alle zuversichtlich hofften und die überwiegende Mehrheit unter uns und im deutschen Volke felsenfest glaubte. Viele unter uns sehen die politischen Ideale ihrer Jugend und ihrer Mannesjahre in Scherben gebrochen am Boden liegen; und ein tiefes Weh geht durch unsere Seelen im Gedanken an den Jammer der Gegenwart und die Nöte der Zukunft. Hat doch – von allem andern abgesehen – allein die Ziffer unserer gefallenen Heldensöhne die Elfhundert beinah erreicht. Und die Zahl der durch den Krieg schwer Geschädigten wird uns jeden Tag neu in unsern Hörsälen vor die Augen geführt. Trotz alledem darf uns das Leid, in dem wir stehen, nicht klein finden. Nicht mit weinerlichen Klagen, auch nicht mit gegenseitigen Anklagen oder mit der unfruchtbaren Jagd nach den Schuldigen sollen wir uns verzehren, sondern in männlichem Glauben an die unverwüstliche innere Kraft des deutschen Volkes und an seine Zukunft uns zu neuer Arbeit rüsten. Das deutsche Volk kann nicht verloren sein, – wenn nur wir nicht unterlassen, gerade jetzt an unserer eigenen Kraft nicht zu verzagen, vor allem aber aus dem Leid der Gegenwart für die Zukunft zu lernen. Nur die Selbstbesinnung und die Einsicht in unsere eigenen politischen und vor allem unsere moralischen Schäden, die leider vor aller Augen sind, kann uns zur Heilung und zu einem neuen Aufschwung helfen, wenn auch vielleicht in anderer Richtung als wir bisher zumeist dachten. Auch unsere Alma Mater wird wohl in den nächsten Jahren in manchen Dingen auf bescheidenere Verhältnisse rechnen müssen als vor dem Kriege. Sie wird manche Wünsche zurückstellen, manches, was ihr bisher nahe erreichbar schien, auf bessere Zeiten vertagen müssen. Auch dieses Jahr hatte die Universität die Freude, ihren Obersten Rektor, Seine Majestät den König bei sich begrüßen zu dürfen. Seine Majestät wollte sich auch durch die Schwierigkeit der Zeitverhältnisse nicht abhalten lassen, der alten Sitte treu zu bleiben, wenngleich die Umstände eine Verkürzung des Besuches geboten. Der König hörte am 9. Januar 1918 die Vorlesungen der Herren Böhmer und Schmarsow über Augustin und über Kunst und Kultur. Die Universität feierte ihrerseits den Geburtstag ihres erhabenen Rektors magnificentissimus in der üblichen Weise durch einen Festakt, der indes mit Rücksicht 1185

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auf die Pfingstferien auf den 29. Mai 1918 verlegt werden mußte. Die Festrede hielt der Prorektor Hr. Stieda über unser Leipziger Konvikt. Am 16. Dezember 1917 wurde in Anwesenheit Seiner Majestät des Königs die Begründung des deutschen Kulturmuseums durch den deutschen Verein für Buchgewerbe und Schrifttum festlich begangen. Die Grundlage der neuen Schöpfung bilden die 1914 in der Halle der Kultur zusammengestellten Schätze, deren Erhaltung und Erweiterung eine vornehme Sorge des neugegründeten Museums sein wird. Der Rektor wohnte der Feier bei und sprach dem Museum namens der Universität deren Glückwünsche aus. Ebenso nahm der Rektor namens der Universität an der durch Se. Kgl. Hoheit den Prinzen Johann Georg vollgezogenen Eröffnung des deutschen Kulturmuseums, die am 12. Oktober erfolgen konnte, teil. Die Schätze des Museums sind bis auf weiteres in einem Neubau der Zeitzer Straße in glücklicher und wirkungsvoller Weise untergebracht und nunmehr in dankenswertester Weise der Allgemeinheit zugänglich gemacht. Am 8. November 1917 besuchte die Universität der arabische Emir Schekib Arslan, der den syrischen Hauran in der türkischen Deputiertenkammer vertritt, eine überaus sympathische Erscheinung. Ihm die Räume und Einrichtungen der Universität zu zeigen, war dem Rektor eine aufrichtige Freude. Diesem Besuche eines türkischen Würdenträgers folgte am 26. Juni 1918 derjenige einer Kommission hochgestellter türkischer Rechtsgelehrter, die mehrere Städte Deutschlands aufsuchten und sich auch einige Tage in Leipzig aufhielten. Wir lernten in ihnen Männer kennen, die gegenüber manchem, was ihnen bei uns fremd war, eine bemerkenswerte Freiheit von Vorurteilen bekundeten. Wenn sie dieselbe Vorurteilsfreiheit in anderen Dingen bewähren und insbesondere in ihrem Teil auf das Verhalten der Behörden gegenüber den nach Stambul gerufenen deutschen Gelehrten zu übertragen bemüht sind, so dürfen wir hoffen, daß der Besuch auch für die neu heranbrechende Zeit nicht ohne Frucht gewesen sein werde. Eine uns vorliegende Druckschrift der Genannten meldet uns leider üble Mißstände. Am 5. u. 6. März 1918 tagte die außeramtliche Konferenz der deutschen Universitätsrektoren in Halle. Wichtige Fragen des allgemeinen Lehrbetriebs wie des akademischen Lebens, die auf der Tagesordnung standen, wurden zum Teil sehr eingehender Erwägung unterzogen. Es darf gehofft werden, daß diese Zusammenkünfte sich immer mehr ausbauen und dadurch nicht nur ein wichtiges Bindeglied der einzelnen Universitäten untereinander, sondern zugleich eine Stätte gedeihlicher Förderung gemeinsamer Angelegenheiten werden. Der Rektor vertrat gemeinsam mit seinem zweiten Amtsvorgänger Hrn. v. Strümpell unsere Universität. Eine wichtige Stelle unter den durch den Krieg und seine Nöte ins Leben gerufenen Gründungen nimmt der sogen. Akademische Hilfsbund ein. Er will den durch den Krieg zu Schaden gekommenen Studierenden und Akademikern hilfreich zur Seite stehen und hat dafür schon beträchtliche Mittel aufgebracht. Der Vorsitzende des Leipziger Ortsausschusses ist der jeweilige Rektor unserer Universität. In dieser Eigenschaft habe ich am 16. März an den Beratungen des Arbeitsausschusses in Berlin und am 10. und 11. Mai an der mit der Generalversammlung verbundenen Einweihung der Helmstädter Burse teilgenommen. Die Burse ist ein in der reizvoll 1186

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gelegenen, an akademischen Erinnerungen reichen ehemaligen Universitätsstadt eingerichtetes Erholungsheim für kriegsbeschädigte Studenten, denen zugleich von Professoren der benachbarten Hochschulen von Zeit zu Zeit wissenschaftliche Vorträge gehalten werden sollen. An beide Versammlungen schlossen sich eingehende Erörterungen über die von Berlin aus ins Leben gerufene Zentralstelle für Berufsberatung der Akademiker an, in denen ich – leider zunächst ohne viel Gegenliebe zu finden – nachdrücklich vor einer allzugroßen Zentralisierung der Beratung in Berlin warnen zu sollen glaubte. Doch ist die Hoffnung begründet, daß man mit der Zeit in Berlin selbst an den maßgebenden Stellen zu der Einsicht durchdringen wird, daß mit einer Überspannung jener Bestrebungen der Gesamtheit schließlich doch nicht gedient sein werde. Wie sehr die deutsche Wissenschaft sich auch dadurch in den Dienst des Krieges gestellt hat, daß sie den Kämpfenden draußen durch wissenschaftliche Lehrgänge oder durch Vorträge allgemeineren Inhaltes die dem Krieger auf die Dauer nicht minder als das tägliche Brot nötige geistige Kost zuführte, ist hinreichend bekannt. So sind zahlreiche Kollegen vereinzelt oder in kleinen Gruppen da und dort an unsern Fronten, im Westen, Osten und Süden tätig gewesen. Eine Besonderheit stellte es dar, daß an unsere Universität als solche im Sommer die Bitte erging, den sächsischen Truppen in der Ukraine durch Entsendung einer Anzahl von Vortragsrednern geistige Anregung zu bieten. Es fand sich ohne Schwierigkeit die hinreichende Zahl von Kollegen hierzu bereit, und sofort nach Beendigung unserer Vorlesungen zogen wir, begleitet von zwei Herren der Dresdener Technischen Hochschule, nach Kiew und Charkow. Keiner der Teilnehmer wird die zwar anstrengende und nicht ohne kleine Abenteuer verlaufende, aber auch für uns selbst überaus anregende und lehrreiche Fahrt, ganz abgesehen von dem uns von allen Seiten ehrlich entgegengebrachten Danke, unter seinen Erlebnissen missen wollen. Die Reise bis Charkow vollzog sich im Zeichen und unter den unmittelbaren Wirkungen des großen ukrainischen Bahnstreiks; unsere Ankunft in Kiew am Tag nach der Ermordung des Feldmarschalls von Eichhorn, während die Leiche noch in der Stadt lag; die Reise nach Charkow auf Bahnen, die ständig das Ziel des Angriffs starker, auf Kiew losstrebender bolschewistischer Banden waren. Wir brachten den doppelten Eindruck in die Heimat mit: einmal daß die halbe Million dort stehender deutscher Truppen mit dem von ihr geführten Kleinkrieg gegen wohlbewaffnete und gut geführte feindliche Scharen ein schweres, aber unbedingt nötiges Stück Arbeit tut – es wäre um des Landes selbst wie um unseres Verhältnisses zu ihm willen tief zu beklagen, wenn militärische oder politische Notwendigkeiten die Zurückziehung der deutschen Truppen nötig machen sollten –; sodann daß auch dort die Wissenschaft nicht ruht. Nicht nur hielten wir in Charkow unsere Vorträge in den wohlausgestatteten Räumen der dortigen Universität; nicht nur bewunderten wir die reichen Museumsschätze, vor allem die großartigen Ergebnisse der Ausgrabungen in der Krim und Südrußland, die eine Kultur erschlossen haben, die bis ins 3. vorchristliche Jahrtausend hinaufreicht und ganz überraschende Ähnlichkeit mit mykenisch-ägäischen Gebilden aufweist: sondern wir nahmen mit Freude wahr, wie auch das deutsche Heer neben der Waffenarbeit das Interesse an 1187

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den Wissenschaften nicht verabsäumt. Der kommandierende General des von Charkow aus befehligten 1. Armeekorps hatte die Güte, mir eingehend über die von ihm in seinem Befehlbereich vollzogenen Ausgrabungen zu berichten, bei denen es gelang, eine ganze alte Totenstadt zutage zu fördern. Er machte mir auf meine Bitte die Zusicherung, unserem Leipziger Völkermuseum eines der ausgegrabenen Korsarengräber zu überlassen. Ich gebe mich der Hoffnung hin, daß die Umstände es werden ermöglichen lassen, das Versprechen seiner Erfüllung zuzuführen. Eine der letzten Amtshandlungen des scheidenden Rektors von allgemeinerem Interesse, und damit schließe ich diese Mitteilungen über die Vertretung der Universität nach außen, war die Entsendung von Telegrammen an den gegenwärtigen Reichskanzler und den Generalfeldmarschall von Hindenburg, in denen der Wortlaut der Kundgebung mitgeteilt wird, mit der der Lehrkörper in den jetzigen entscheidungsschwangeren Tagen seiner Stellung zu dem, was jetzt aller Herzen tief bewegt, glaubte einmütigen Ausdruck geben zu sollen. Indem ich mich nun der Universität selbst, ihrer Verwaltung und Arbeit und ihrem Lehrkörper zuwende, habe ich vor allen Dingen dem schmerzlichen Bedauern Ausdruck zu geben, daß die politische Neuordnung der Dinge es nötig erscheinen ließ, daß der bisherige Vorgesetzte unserer Hohen Schule, Staatsminister Dr. Beck, sein Amt in andere Hände lege. Dr. Beck fand in seinen politischen und unterrichtspolitischen Anschauungen und Bestrebungen durchaus nicht überall innerhalb der Universität Zustimmung. Aber er hatte in allen Kreisen derselben, auch in politisch ganz anders gerichteten, seit Jahren aufrichtige Freunde. Er verstand es, das fünfhundertjährige Jubelfest unserer Alma Mater 1909 zu einer unerreicht stolzen und glanzvollen Feier zu gestalten, und seine vornehme von bürokratischer Enge freie Persönlichkeit, sein offener Sinn für das dem Gedeihen der Wissenschaft Nötige, sein weitherziges Entgegenkommen gegenüber allen Bedürfnissen der Universität und ihrer Glieder sichern ihm unser dankbares Gedenken. Wir begrüßen seinen Nachfolger mit dem Wunsche, daß es ihm gelingen möge, das Werk des Vorgängers in schwieriger Zeit auf der Höhe zu halten. Ich habe vorhin angedeutet, daß wir uns bewußt sind, einer Zeit mannigfacher Bescheidung entgegenzugehen. Ich darf aber hinzufügen, daß vor einem Jahrhundert in schwerster Zeit die Hebung des deutschen Geisteslebens durch Gründung und Ausrüstung von Universitäten als eines der Heilmittel befunden wurde. Die Feier des 70. Geburtstages konnten im abgelaufenen Rektorjahre begehen die Herren Howard, Zweifel, Kirchner, Volkelt und Bruns. Im Blick auf das, was ihnen die Gesamtuniversität zu danken hat, wiederhole ich den genannten Herren auch hier die früher schon ausgesprochenen herzlichen Wünsche. In den wohlverdienten Ruhestand sind übergetreten die Herren Otto Mayer, Ordinarius des öffentlichen Rechtes, von Bahder, außerordentlicher Professor der deutschen Sprache und Literatur, und Settegast, außerordentlicher Professor für romanische Philologie. Alle drei, deren Mitarbeit wir dankbar hochschätzten, begleiten wir beim Scheiden aus unserem engeren Kreise mit unseren besten Wünschen. Auch in diesem Jahre hat der Schnitter Tod eine reiche Ernte unter uns gehalten. Die Gesamtzahl der für das Vaterland gefallenen Kommilitonen habe ich schon 1188

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genannt. Es sind im verflossenen Jahr allein 282. Wieviel Herzeleid damit über eine ganze Anzahl von Familien kam, wieviel stolze Hoffnungen zerstört, wieviel kostbare Kraft dem Vaterland entzogen ist, wissen wir alle mit Schmerzen. Wir Überlebenden können nichts anderes tun als unseren dahingegangenen Getreuen unsern Dank nachrufen und die Hoffnung, daß ihr Sterben für die gemeinsame Sache nicht umsonst gewesen sei. Trägt es wohl auch nicht die Frucht, die wir zumeist erhofften, so vielleicht die andere, höhere, daß es uns der Einsicht wenigstens einen Schritt näher gebracht hat, daß des grauenhaften Blutvergießens einmal ein Ende werden müsse unter den Völkern. Aber auch der Lehrkörper und die Beamtenschaft haben schwere Verluste zu beklagen. Ich nenne zunächst vier besondere Zierden unsrer Universität. Die theologische Fakultät trauert in dem Vertreter der Kirchengeschichte Albert Hauck, der am 7. April nach kurzem Kranksein verschied, um ihren, bis zuletzt in wunderbarer Frische unter uns stehenden Senior, zugleich den Sekretär der Gesellschaft der Wissenschaften. Seit langem als Meister historischer Forschung allgemein anerkannt, wird er innerhalb der Wissenschaft vor allem durch sein vielbändiges Monumentalwerk, die Kirchengeschichte Deutschlands, weiterleben. Suveränes Beherrschen des Materials, Vielseitigkeit und Gründlichkeit der Untersuchung, ein abgeklärtes, den Weltweisen verratendes Urteil und eine ungekünstelte Schönheit, ja zuweilen ein unerreichter Glanz der Darstellung sind die Züge des Gelehrten. Dem stillen Manne – still nicht aus Zaghaftigkeit, sondern aus Überlegenheit – dankt die Universität die charaktervolle Führung des Rektorats, wie mannigfache wertvolle Mitarbeit und Beratung im Senat und in Arbeitskommissionen. Seinem Sarg folgten seinem Willen gemäß nur die Seinen. Die Tagespresse, die sonst manchmal mit dem Prädikat des berühmten Gelehrten so freigebig ist, nahm von seinem Hingang kaum Kenntnis – und doch war mit Hauck nach vieler Urteil „der“ Historiker geschieden, der größte Geschichtschreiber für die Zeit nach Christus, den die Welt seit Ranke gesehen hatte. Unser Geschehen hat immer noch vieles vom Satirspiel an sich: als Hauck längst auf der Höhe seines Weltruhms stand und schon lange der Träger der höchsten wissenschaftlichen Auszeichnungen geworden war, da äußerte im sächsischen Landtag jemand, der es ja wohl wissen muß: der Arbeitskreis, dem er angehörte, verfüge über keine führenden Geister. Am 24. Dezember 1917 starb der ordentliche Professor der Anatomie und Direktor des Anatomischen Institutes Carl Rabl, eine in jeder Hinsicht glänzende Persönlichkeit. Mit ihm ist ein sehr gefeierter Lehrer seines Faches und einer der hervorragendsten Anatomen überhaupt aus dem Leben geschieden, welcher durch bahnbrechende Untersuchungen über den Vorgang der Zellteilung, der Furchung, der Keimblätterbildung, der Entwicklung des Auges, der Entstehung der Gliedmaßen die großen Probleme der Entwicklung und Vererbung weiter geführt hat. Er wurde geboren am 2. Mai 1853 in Wels in Oberoesterreich und studierte dann, nachdem er 1871 das Gymnasium zu Kremsmünster absolviert hatte, in Wien, Leipzig und Jena Medizin und Zoologie. Seine akademische Laufbahn begann er 1882 als Forscher bei Langer in Wien. Im folgenden Jahr erfolgte seine Habilitation und zwei Jahre später (1885) seine Ernennung zum außerordentlichen Professor. 1886 wurde 1189

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Rabl ordentlicher Professor der Anatomie an der deutschen Universität in Prag. Von dort folgte er 1904 dem Ruf auf die durch den Tod von His verwaiste Professur an der Universität Leipzig, wo er das Anatomische Institut umbaute und zu seinem Reorganisator wurde. Am 26. Januar 1918 verschied Ewald Hering im 84. Lebensjahre. Dem greisen, bis zuletzt frischen Gelehrten, der noch bis Ostern 1916 sein Amt als Lehrer und Forscher ausüben konnte, war es vergönnt, auf eine nahezu 60jährige Forschertätigkeit zurückzublicken. Diese fiel in eine Periode des Aufschwungs der Physiologie, wie sie selten eine Wissenschaft erlebt und an der Herings Forschungen einen wesentlichen Anteil haben. Er war 1834 am 5. August zu Altgersdorf in der Lausitz geboren. Nach seinem Studium in Leipzig in den Jahren 1854–60 habilitierte er sich hier 1862 und wurde bereits 1865 als Nachfolger von Carl Ludwig an das Josephinum, die militärmedizinische Akademie in Wien, berufen. 1870 folgte er einem Rufe nach Prag, wo er 25 Jahre (bis 1895) wirkte. Hier entfaltete er, neben der rein wissenschaftlichen eine rege politische Tätigkeit: die Gründung der jetzt arg gefährdeten deutschen Prager Universität war hauptsächlich seinem Wirken zu danken. Als 1895 Carl Ludwig in Leipzig starb, wurde er wiederum zu seinem Nachfolger gewählt. Hier war es ihm vergönnt, noch 21 Jahre zu forschen und zu lehren. Sein Hauptarbeitsgebiet war die Sinnesphysiologie. Seine Theorie des Raumsinns, die er als jugendlicher Forscher aufstellte, hat ihn überlebt und immer weitere Anhänger gewonnen. Dasselbe gilt für seine Theorie der Licht- und Farbenwahrnehmung. Sein philosophischer Blick schweifte oft auch weit über die engsten Grenzen seines Spezialgebietes hinaus und in bedeutsamen Reden suchte er über Fragen, die bei jedem Teilnahme erwecken mußten, Aufschluß zu geben. Seine Rede über die Theorie der Vorgänge in der lebendigen Substanz und namentlich seine Rede über das Gedächtnis, als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie, können als solche Beispiele seiner glänzenden Darstellung gelten. Als Grundzug seines Wesens, der ihn auch zu seinen wissenschaftlichen Erfolgen geführt hat, muß seine große Gewissenhaftigkeit gelten. Trotz aller äußeren Auszeichnungen blieb er anspruchslos und bescheiden. Gütig gegen jedermann, der sich ihm mit einer Bitte nahte, hart und unnachgiebig, wenn es galt, ein Unrecht zu bekämpfen. So werden nicht nur seine Werke, sondern auch die Erinnerung an seine Persönlichkeit in uns fortleben. Am gestrigen Tage wurde Ernst Windisch, der Vertreter der Sanskritphilologie, von langjährigen, mit bewundernswerter Seelenstärke getragenen Leiden durch den Tod erlöst. In Dresden am 4. September 1844 geboren und ebenda aufgewachsen, hat er in Leipzig studiert und sich 1869 für die Fächer des Sanskrit und der vergleichenden Sprachwissenschaft habilitiert. Fünf Jahre, von 1872 an, lehrte er als Ordinarius an den Hochschulen Heidelberg und Straßburg und hat dann von 1877 an bei uns die ordentliche Professur für Sanskrit bekleidet. Schon in jungen Jahren ein Gelehrter von staunenswerter Vielseitigkeit in dem weitverzweigten Gebiet der philologisch-sprachwissenschaftlichen Fächer, hat er sich als Forscher wie als Lehrer mit der Zeit mehr und mehr auf die beiden Zweige der indischen und der keltischen Philologie beschränkt. In jedem von diesen beiden Fächern hat er eine außerordentlich reiche literarische Tätigkeit, sowohl nach der sprachwissenschaftlichen als 1190

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auch nach der im engeren Sinne des Wortes philologischen Seite hin, entfaltet, und er gewann in beiden Arbeitsgebieten schon frühzeitig eine Stellung unter den ersten des Faches. In der Keltologie darf er noch zu den Gründern dieses Faches gezählt werden, wie denn ihm die heutige Blüte dieses noch jungen Zweiges der Philologie mit in erster Linie verdankt wird. Aber nicht nur als auf einen Forscher und Gelehrten von Weltruf darf unsere Universität auf Ernst Windisch stolz sein. Sie ist ihm zugleich zu hohem Dank verpflichtet dafür, daß er in den langen Jahren seiner Leipziger Universitätstätigkeit, insbesondere seit seinem Rektoratsjahr, an den Verwaltungsgeschäften unseres Lehrkörpers aufs regste und förderlichste sich beteiligt hat. Noch von seinem Krankenzimmer aus bis in die letzten Wochen hinein, hat er sich solchen Arbeiten mit der ihm eigenen Umsicht und Gewissenhaftigkeit gewidmet. Gleichwie in seiner Forscher- und Lehrtätigkeit, treten hier, neben der durch unermüdlichen Fleiß erworbenen genauen Sachkenntnis, diejenigen Züge seines Wesens glänzend hervor, die ihm zu allen Zeiten die Hochachtung und Liebe seiner Kollegen eingetragen und gesichert haben: Zuverlässigkeit, Liebenswürdigkeit und Friedfertigkeit. Eine Kampfnatur ist Windisch nie gewesen, weder als Gelehrter noch als Mitglied seines Kollegenkreises, und doch allzeit ein fester, aufrechter Mann. An die Genannten reihen sich einige Opfer des Krieges aus unserem engern und weiteren Kreise. Am 20. Januar starb Anton Grappich, Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Haut- und Geschlechtskrankheiten, an einem im Felde zugezogenen schweren Leiden als landsturmpflichtiger Arzt. Ferner wurde uns erst in diesem Jahre die traurige Gewißheit, daß Otto Westphal, Assistent am Institut für Mineralogie und Petrographie, am 26. September 1915 in der Champagne auf dem Felde der Ehre fiel. Ewald Lemcke, Büroassistent beim kgl. Rentamt, starb am 22. Dezember 1917 in einem Feldlazarett im Westen an der am 13. Dezember erlittenen Verwundung. Am 28. April 1918 starb der Hilfspförtner Gustav Paul Gräfe bei der psychiatrischen und Nervenklinik an den Folgen seiner Verwundung. Auch ihrem Andenken besondere Ehre! Am 21. März 1918 schied nach langen und schweren Leiden unser Oberpedell Paul Schuster und am 16. August der Pedell im Ruhestand Robert Förster aus unserer Mitte. Den beiden pflichttreuen und eifrigen Beamten bewahren wir ein dankbares Andenken. Durch Berufung nach auswärts verlor die Universität in der medizinischen Fakultät den ao. Prof. Max Versé, der als Leiter des städtischen bakteriologischen Untersuchungsamtes und Prosektor des Krankenhauses Westend nach Charlottenburg übersiedelte, in der philosophischen Fakultät den ao. Prof. Hermann Krabbo, der als Archivar an das Kgl. Preuß. Geheime Staatsarchiv in Berlin, den ao. Prof. Friedrich Falke, der als Vortragender Rat in das Kgl. Ministerium des Innern in Dresden, den Privatdozenten Wilhelm Havers, der als Ordinarius für indogermanische Sprachen an die Universität Bern und den ao. Prof. Paul Niggli, der als Extraordinarius für Krystallographie, Mineralogie und Petrographie sowie als Direktor des Mineralogischpetrographischen Instituts der Universität Tübingen berufen wurde. Den Scheidenden folgen unsere aufrichtigen Wünsche. Auch wenn wir sie vermissen, lassen wir sie 1191

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gerne ziehen. Denn für jüngere Glieder des Corpus academicum ist das Wandern die einzige Gewähr des Aufstiegs. Wir selbst aber haben das Glück, daß uns durch Berufung hierher immer wieder neue Kräfte zufließen. Es wurden berufen in der philosophischen Fakultät: Ludwig Pohle, bisher in Frankfurt a. M., als Ordinarius der Nationalökonomie und Direktor der vereinigten staatswissenschaftlichen Seminare, Richard Hartmann, bisher in Kiel, als planmäßiger ao. Prof. der Islamkunde, Fritz Rörig, bisher Archivar der Freien und Hansestadt Lübeck, als planmäßiger ao. Prof. der geschichtlichen Hilfswissenschaften. Den neuen Kollegen bringe ich in unser aller Namen einen herzlichen Willkommgruß entgegen. Ernannt wurden in der medizinischen Fakultät: Hans Held, Ordinarius der Histologie zum Direktor des Anatomischen Instituts unter gleichzeitiger Ausdehnung seines Lehrauftrags auf das Gesamtfach der Anatomie, in der philosophischen Fakultät: der ao. Prof. Paul Barth zum ordentl. Honorarprofessor und Mitdirektor des philosophischen Seminars; zu planmäßigen ao. Professoren in der medizinischen Fakultät: die Privatdozenten Paul Huebschmann und Heinrich Klien, in der philosophischen Fakultät: Privatdozent Friedrich Hempelmann. Die venia legendi erteilte die Juristenfakultät an Friedrich Ebrard, die medizinische Fakultät an Wolfgang Rosenthal für Chirurgie, Roderich Sievers für Chirurgie, Hermann Stieve für Anatomie und Anthropologie, Eduard Freise für Kinderheilkunde, die philosophische Fakultät an Erwin von Beckerath für Nationalökonomie, Fritz Neubert für romanische Philologie, Herbert Schöffler für englische Philologie, Ernst Schultze für Nationalökonomie und Sozialwissenschaften, August Kirschmann für Philosophie. Diesem jungen Nachwuchs gilt mein besonderer Gruß. Wir Alten müssen wissen, daß wir dazu da sind, rechtzeitig Sorge zu tragen, daß neue Kräfte an unsere Stelle treten und womöglich uns überbieten. Gymnasiallehrer Ernst Schuppe wurde zum Lektor der altgriechischen Sprache ernannt, Studienrat Carl Hünlich wurde mit Übungen in Mathematik und Naturwissenschaften am praktisch-pädagogischen Seminar beauftragt. Hilfspedell Friedemann wurde zum Pedell ernannt. In der Universitätsbibliothek machten sich wie allerwärts die Folgen des Krieges immer deutlicher fühlbar. Die Benutzung ist infolge der geringen Zahl anwesender Studenten weiter gesunken, von 34 406 verliehenen Bänden auf 31 963. Der Zugang an Büchern umfaßt 12 533 Bände. Aus den Beständen des russischen Hauses der Buchgewerbeausstellung wurde eine stattliche Sammlung von Werken moderner russischer Literatur erworben, ebenso in Antwerpen eine Sammlung vlämischer Werke. Die ständig wachsende Teurung machte sich auch hier empfindlich geltend, doch wurde durch die Einführung durchgehender Arbeitszeit im Winter und durch die Ersetzung des großen Lesesaales durch einen kleineren wenigstens einige Ersparnis erzielt. Als größere Schenkung ist, neben mancherlei kleineren, eine Sammlung von Akademieschriften zu nennen, die Exzellenz Wundt der Bibliothek überwies. Auch sonst sind der Universität im verflossenen Jahre ansehnliche Stiftungen und Schenkungen zugekommen. Aus Anlaß des Reformationsjubiläums haben kirchlich interessierte Glieder der Friedensgemeinde in Gohlis eine Reformations1192

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dankstiftung von 7821,50 Mark errichtet. Die Zinsen sollen einem Studenten der Theologie zufallen, der sich später in den Dienst der evangelischen Kirche der Diaspora zu stellen gedenkt. Der Dr. med. Schuster aus Dresden hat von seiner Bibliothek die philosophischen Bücher der Universität vermacht. Der Fabrikbesitzer Lebrecht Steinmüller in Gummersbach schenkte für die Adolf Strümpell-Stiftung 5000 M. Frau Professor Gregory überwies dem Neutestamentlichen Seminar eine Reihe wertvoller Lehrmittel (besonders Tafeln), die allen Dozenten der Universität jederzeit zur Verfügung stehen sollen. Dem geologisch-paläontologischen Museum sind neben kleineren Zuwendungen durch Herrn Kollegen Felix eine Anzahl wertvoller Geschenke zugeflossen. Dem kunsthistorischen Institut sind aus Anlaß seines 25jährigen Bestehens von einer Reihe hiesiger Verlagshandlungen namhafte Schenkungen an Büchern teils schon übermittelt, teils angekündigt worden. Bis jetzt liegen Gaben vor von den Firmen: Carl Baedecker, K. W. Hiersemann, K. F. Köhler, A. Kröner, E. A. Seemann und B. G. Teubner. Der berühmte Forschungsreisende Sven Hedin ist durch die hochherzige Zuwendung des Herrn Disponenten Arvid Hernmarck in Djursholm-Stockholm in die Lage versetzt worden, 25 Exemplare seines neusten großen Werkes „Southern Tibet“ geschenkweise in Deutschland zu verteilen. Er hat eines dieser Exemplare (5 Bände 4° und Atlas) der Bibliothek des geographischen Seminars überwiesen. Der Gymnasialdirektor a. D. Wilhelm Roscher hat dem Ministerium des Kultus 1500 M. zur Errichtung eines Stipendiums für Philologen und Archäologen übergeben mit der Bestimmung, daß die Zinsen alljährlich einem bedürftigen Studierenden der klassischen Philologie und Archäologie, der eine besonders tüchtige Doktorarbeit verfaßt hat, als Beitrag zu deren Druckkosten zufließen sollen. Das Südosteuropa- und Islaminstitut hat vom Oesterreichisch-Ungarischen K. u. K. Militärgeneralgouvernement in Serbien eine größere Anzahl z. T. sehr wertvoller Werke philologischen, volkswirtschaftlichen, geschichtlichen und juristischen Inhaltes erhalten. Das Forschungsinstitut für Psychologie hat zum Ausbau der völkerpsychologischen Bibliothek aus dem Überschuß der Sammlung für das Porträtrelief Wilhelm Wundts eine Summe von 1289,60 M. erhalten, die an das Universitäts-Rentamt abgeführt wurde. Dem Institut für Zeitungskunde sind auf Veranlassung des Direktors des Kgl. Lehrerseminars in Zschopau, Herrn Schulrat Seiffert, 40 Jahrgänge der früheren Augsburger, späteren Münchener Allgemeinen Zeitung (1848–1852 und 1870–1904) übereignet worden. Das Physikalische Institut hat eine Schenkung von 1000 M. von der Gesellschaft für drahtlose Telegraphie in Berlin erhalten auf Grund einer von Prof. Marx im Institut ausgeführten für Kriegszwecke wichtigen Erfindung. Dem Laboratorium für angewandte Chemie ist von der Firma Gebr. Wetzel, Fabrik moderner Transmissionen in Leipzig-Plagwitz, auf Anregung von Privatdozent Wilke 1193

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eine wertvolle Sammlung von Maschinen-Bestandteilen schenkungsweise überlassen worden. Der Alfred Ackermann-Teubner-Gedächtnispreis zur Förderung der mathematischen Wissenschaften in Höhe von 1000 M. ist in diesem Jahre dem Professor Dr. Ludwig Prandtl in Göttingen für seine Arbeit über „Den Luftwiderstand von Kugeln“ in den Göttinger Nachrichten von 1914 zuerkannt worden. Preisaufgaben waren für das abgelaufene Universitätsjahr nicht gestellt und werden auch für das neue Jahr nicht in Aussicht genommen. Die Gesamtziffer der Studenten beträgt zur Zeit 5659 (gegen 5285 im Vorjahr), wovon freilich – infolge des Krieges, zum Teil wohl auch um der üblen Ernährungsverhältnisse willen – nur 1375 anwesend sind. Promotionen wurden vollzogen: In der Theologischen Fakultät keine; in der Juristenfakultät 57; in der Medizinischen Fakultät wurde zum Dr. med. vet. honoris causa der o. Honorarprofessor an der Kgl. Tierärztlichen Hochschule zu Dresden Edelmann ernannt; rite wurden promoviert zum Dr. med. 50, zum Dr. med. vet. 9. Die Philosophische Fakultät vollzog rite 83 Promotionen. Als Neuerung in unserem so fest am Bestehenden klebenden Staat im Staate ist zu vermelden die Verdeutschung der Matrikel und der Diplome der theologischen und philosophischen Fakultät. Die Universität hat sich, wie in den vorhergehenden Kriegsjahren, so auch jetzt wieder nach Kräften bemüht, die Verbindung mit ihren draußen kämpfenden Söhnen aufrecht zu erhalten und was immer ihr möglich war zu tun, das Los ihrer Tapfern zu erleichtern. Zahllose Anfragen aus dem Felde wurden bereitwillig beantwortet, Ratschläge erteilt, Anträge auf Beschaffung von Gelegenheit zur Fortsetzung der Studien befürwortet. Die Gefangenenfürsorge ging in ihrer großzügigen Weise weiter ihren Gang. Besonders war es uns angelegen, zu Weihnachten wieder jedem unserer Kommilitonen und übrigen Glieder einen Gruß der Universität zugehen zu lassen. Das Kgl. Ministerium hat dazu in dankenswerter Weise 2000 M. verwilligt. Als eine besonders reiche und ausgesucht schmucke Gabe dachten wir uns ein an unsere und andere Kommilitonen draußen zu versendendes Werk über Leipzig als Stätte der Bildung, das wir im Verein mit dem Deutschen Studentendienst bearbeitet haben und wofür das Kgl. Ministerium und die Stadtverwaltung je 5000 M. Beisteuer verwilligt hatten. Leider haben die schwierigen Verhältnisse der Gegenwart die erhoffte Fertigstellung im Sommer verhindert. Trotzdem soll das Werk, wenn auch in der Ausführung vielleicht etwas schlichter als erst geplant, zu Ende geführt und unseren Kommilitonen im Kriegerrock, sei es den kämpfenden, sei es den heimkehrenden, als Gruß der Heimat zugeeignet werden. Über das Verhalten unserer studierenden Jugend ist viel Erfreuliches zu berichten. Jeder von uns Lehrern wird mit Freuden beobachten, wie die aus dem Kriege Heimkehrenden, allen voran die durch ihn körperlich oder seelisch Geschädigten, einen Ton des Ernstes und der Reife in die Studentenschaft gebracht haben. Und war Leipzig immer eine Arbeitsuniversität, so darf man jetzt den Fleiß unserer Jugend doppelt rühmen. Auch von einem Teil der Studentinnen kann mit Befriedigung gemeldet werden, daß sie, um in der Leistung fürs Vaterland nicht hinter ihren Kommilitonen zurückzustehen, den heroischen Entschluß gefaßt haben, tätig an der 1194

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Munitionsarbeit in Fabrikbetrieben teilzunehmen. Ich weiß, daß man an verschiedenen Stellen sehr verschieden über diese Bestrebungen urteilte. Von hier kann ich aus genauer Kenntnis des Sachverhaltes heraus bezeugen, daß die Mitarbeit unserer Studentinnen in der Munitionsfabrik, in der sie arbeiteten, überaus willkommen war und die ersprießlichsten Dienste leistete. Ich unterlasse nicht, auch an dieser Stelle den tapfern Töchtern unserer Alma Mater meine warme Anerkennung auszusprechen. Immerhin, die Pflicht des Chronisten heischt die ungeschminkte Wahrheit. Wenn überall im Lande darüber Klage geführt wird, daß eine gewisse Erweichung des Pflichtbewußtseins eine der Begleiterscheinungen des langen Krieges sei, so dürfen wir uns freilich auch innerhalb der akademischen Jugend nicht darüber wundern, daß das Universitätsgericht zum erstenmal wieder seit Ausbruch des Krieges, und zwar in mehreren Fällen, strafend einschreiten mußte. Trotzdem ist die Tatsache zu beklagen. Und wenn ich soeben rühmend erwähnte, daß unsere weiblichen Kommilitonen es sich zur Ehre rechneten, im Guten den männlichen ebenbürtig zur Seite zu treten, so darf ich nicht verschweigen, daß einzelne danach auch nach der andern Seite hin zu streben scheinen. Denn daß es, wenn auch nur in einem Falle, zu Klagen an amtlicher Stelle über Tätlichkeiten unter ihnen kommen konnte, weist doch immerhin bei Vertreterinnen des sonst zarten Geschlechtes auf etwas rauhe Sitten. Ich komme zum Schlusse. Überall sehen wir Neues werden oder sich anbahnen. Auch die deutschen Universitäten werden aus dem ungeheuren Ringen und Gähren der Gegenwart nicht als die alten hervorgehen. Sowenig jemand sagen kann, was schon in einem oder etlichen Jahren aus unserem Vaterland geworden sein wird, sowenig können wir sagen, wie das Bild unserer Alma Mater in einem oder einigen Jahren aussehen wird. Eines ist sicher: gewaltige und teilweise ganz neue Aufgaben stehen uns bevor. Über sie zu reden, ist heute weder Zeit noch Möglichkeit, da alles eben im Werden und Fließen ist. Nur eine Aufgabe hebt sich deutlich heraus, die jetzt schon laut vernehmbar an unsere Tür pocht, die soziale Fürsorge für die akademische Jugend. Der Krieg hat uns alle am eigenen Leibe gelehrt, wie jeder, der nicht in der Lage ist, aus dem Kriege Gewinn zu ziehen, um seines Leibes Notdurft hart zu ringen hat. Wie der Student in der schlecht versorgten Großstadt mit seinem bescheidenen, ja oft keinem Wechsel sich sein Dasein fristen und dabei noch arbeiten soll, darüber haben wir zumeist uns wahrscheinlich noch wenig Gedanken gemacht. Das „plenus venter non studet libenter“ hat er mit uns allen längst gründlich verlernt. Aber es geht nicht an, daß wir uns damit trösten, daß wir ja unser treffliches Konvikt haben. Auch bei ihm ist schon lange Schmalhans Küchenmeister und es reicht bei den teuren Preisen längst nicht mehr aus, das Bedürfnis zu befriedigen. Wollten wir dem gleichgültig gegenüberstehen, wir würden nicht bloß eine elementare Pflicht jedes sozial Denkenden verletzen, wir würden auch gar bald durch die Abwanderung unsrer Studenten am eigenen Leibe die Folgen verspüren. Dazu kommt die Wohnungsfrage. Das studentische Wohnungswesen liegt längst im argen und schreit förmlich nach einer Reform. Wir selbst haben einen amtlichen 1195

Rudolf Kittel

Wohnungsnachweis, der aber in vielen Stücken ein Hohn auf diesen Namen ist. Trotzdem ist es bisher nicht gelungen, Besseres an seine Stelle zu setzen. Aber es mußte wenigstens der Versuch gemacht werden, gerade jetzt, wo wir sofort nach der Rückkehr der Tausende draußen stehender Kommilitonen aller Wahrscheinlichkeit nach einer schweren studentischen Wohnungsnot entgegengehen. Ich habe es daher mit Freuden begrüßt und außeramtlich bei der Gründung mitgewirkt, daß ein freier Verein wohlgesinnter, sozialinteressierter Einwohner der Stadt zusammen mit Vertretern der Studentenschaft eine Vereinigung für studentisches Wohnungswesen gründete, habe der Vereinigung auch alle mir mögliche Förderung angedeihen lassen. Ich gebe auch hier der jungen Gründung meine besten Wünsche auf den Weg, vor allem den, daß auch die Studentenschaft sich tätig an ihrer Arbeit beteilige. Es geht bei den ungeheuren Aufgaben der Zukunft nicht mehr an, daß die Studentenschaft sich zu einem großen Teil lediglich als Empfänger von Stipendien und als Gegenstand der Fürsorge betrachtet: sie muß zu dem Stolz erwachen, ihr Los selbst mit in die Hand zu nehmen und tätig an dem mitzuwirken, was ihr eigenes Ergehen und ihre Wohlfahrt anlangt. Schwieriger noch als der Nachweis ist das Problem der Beschaffung guter Wohnungen. An sich schon und zweimal jetzt, da wir einen so starken Prozentsatz körperlich beschädigter und teilweise recht hilfloser Kommilitonen bei uns aufzunehmen haben. Daß hier nicht mit einem Schlage alle Wünsche und Bedürfnisse befriedigt werden können, liegt auf der Hand. Wer das wollte, müßte Millionen zur Verfügung haben. Aber darum die Hände in den Schoß legen und warten, bis die Millionen heranfließen, wäre das Verkehrteste. Wer gerne Großes schaffen möchte, muß oft mit Kleinem anfangen. So ist im letzten Jahr, um wenigstens auf einem kleinen Punkte das große Werk tätig anzufassen und über das bloße Halten oder Anhören von Kongreß- und Versammlungsreden hinauszukommen, ein Heim für kriegsbeschädigte Studenten entstanden. Es ist durch das Entgegenkommen der Familie in der Wohnung des Verlagsbuchhändlers Adolf Rost, Dresdnerstr. 15 I unter der Aufsicht einer gebildeten Dame eingerichtet und ist unter der sachkundigen Leitung des Architekten Prof. Quint sowie mit Hilfe der unermüdlichen Arbeit von Frau Prof. Krueger in schlichter, aber geschmackvoller und stilgerechter Ausstattung zu einem kleinen Schmuckkästchen geworden, das ein behagliches Wohnen verspricht. Zu den Kosten haben ein ungenannter Freund der Sache einen hohen, außerdem eine Anzahl von Gönnern: die Herren Kommerzienräte Karl Fritzsche und Georg Giesecke mit Frau Gemahlin, die Herren Fabrikbesitzer Edmund Becker in Leutzsch, Professor Biermann hier, Geh. Reg.-Rat Beer in Berlin, Hofrat Ackermann-Teubner und Frau Kommerzienrat Bernh. Meyer hier, namhafte Beiträge geleistet. Trotzdem fehlen noch einige Tausend Mark, um das Unternehmen für eine ausreichende Reihe von Jahren sicher zu stellen, dazu einige Einrichtungsgegenstände wie Bettvorleger und Tischdecken. Es wäre mir eine Befriedigung, wenn diese Mitteilung dem Heim neue Freunde oder Freundinnen zur Beschaffung des noch Fehlenden werben würde. Eine Dame, die ihr übervolles soziales Herz, als sie von der Sache gehört hatte, zu mir ins Rektorat trieb, um ihre Mitwirkung anzubieten, bat ich in dieser Richtung. Ich bekam einige sehr billige Ratschläge, aber weder Klingendes, 1196

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noch sonst Greifbares. Vielleicht erwacht irgendwo das Bedürfnis, die Scharte auszuwetzen. Der Gedanke, der mich bei der Gründung leitete, war, einen Anfang zu machen. Sollte er sich bewähren, so wird er mit Notwendigkeit durch sich selbst weiter wirken. Es muß die Einrichtung, wenn ihre erste Frist abgelaufen ist, Gönner geworben haben, die sie ferner aufrecht erhalten; und sie muß andere, ähnliche nach sich ziehen. Denn ein solches Heim gleicht zunächst dem Tropfen auf heißem Stein. Haben wir einmal fünf oder sechs, so wird man die Folgen anfangen zu spüren. Es war mein Stolz, das Heim ganz ohne die Hilfe der Behörden ins Leben zu rufen. Vielleicht reizt aber das Beispiel die Staats- oder Stadtverwaltung und die Verwaltungen anderer Städte des Landes zur Nachahmung, die letzteren aus dem Bewußtsein heraus, daß auch sie Pflichten gegen die akademischen Bürger der Landesuniversität haben. Zahlreiche Söhne Leipziger Einwohner, ebenso Dresdener, Chemnitzer und Plauener Bürgersöhne studieren hier. Das mögen die Städte nicht vergessen. Auch ist zu hoffen, daß mit der Zeit der Berliner Studentendienst sich davon überzeugen werde, daß die großen von ihm aus ganz Deutschland gesammelten Gelder auch anderen Universitäten als Berlin zugute kommen müssen. Aber mit der Wohnung ist es nicht getan. Die Brot- und Magenfrage ist im Augenblick das Kernstück der sozialen Frage. So mußte neben dem Konvikt vor allem auch für die Kriegsbeschädigten und die Studentinnen eine Möglichkeit geschaffen werden, sich in guten, würdigen Räumen zu mäßigem Preise leidlich satt zu essen, – soweit dieser Begriff heute noch überhaupt mehr als nur Begriff ist. Zu diesem Behuf wurde im Burgkeller am Naschmarkt ein studentischer Mittags- und Abendtisch eingerichtet, der aber, um einen mäßigen Preis einhalten zu können, erheblicher Beihilfen bedurfte. Auch sie wurden aus privaten Mitteln aufgebracht, besonders mit Hilfe der Herren Geheimrat Ritter von Philipp, Konsul Herfurth und Meister Klinger, der einen Teil des bei der Ausstellung seines Chemnitzer Bildes erzielten Ertrages diesem Zwecke zur Verfügung stellte. Aber das Unternehmen muß fortgeführt und die Mittel dazu müssen beschafft werden. Auch dafür darf auf die fernere Hilfe alter und neuer Freunde und der vorhin genannten Stellen gerechnet werden. Auch hier gilt, was ich vorhin andeutete. Würde nicht das eigene Pflichtgefühl uns zum Handeln treiben, so müßte schon die Erwägung uns selbst und unser vorgesetztes Ministerium leiten, daß Preußen neuerdings ein eigenes Dezernat für studentische Wohlfahrtspflege im Ministerium eingerichtet hat. Die Einrichtung wird selbstverständlich auf das Verhalten der preußischen Universitäten bestimmenden Einfluß üben und würde Leipzig, ist es nicht auf seiner Hut, den Wettbewerb wesentlich erschweren. Und nun komme ich zu der letzten Amtshandlung des scheidenden Rektors. Ich fordere Sie, Herrn Dr. Otto Hölder auf, das Katheder zu besteigen, den vorgeschriebenen Amtseid zu leisten und die Abzeichen Ihres Amtes zu empfangen. Sie schwören bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, daß Sie die Verfassung und die Gesetze der Universität treu und gewissenhaft beobachten und die Pflichten des Ihnen anvertrauten Amtes als Rektor nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen wollen. 1197

Rudolf Kittel

Hiernach verkündige ich Sie, den Dr. Otto Hölder als den Rektor der Universität für das Studienjahr 1918/19 und vollziehe an Ihnen nach altem, von den Vätern ererbtem Rechte die feierliche Investitur. Ich übertrage auf Eure Magnifizenz den Hut und den Mantel als die Abzeichen Ihrer freien Würde, die Kette, mit der Königliche Huld den Leipziger Rektor geschmückt hat, das Siegel der Universität, womit Sie deren Willen rechtlich zu beglaubigen befugt sind, die Statuten, deren Hüter Sie sind, endlich den Schlüssel des Hauses als das Sinnbild der hausherrlichen Gewalt in den Räumen der Hochschule. Magnifizenz! Wir alle wissen, daß das kommende Jahr ein Schicksalsjahr für die Leipziger Universität werden kann. Möge es Ihnen zur Befriedigung und der Alma Mater, in deren Dienste wir alle stehen, zum Heile gedeihen! ***

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Otto Hölder (1859–1937)

31. Oktober 1918. Rede des antretenden Rektors Dr. Otto Hölder.

Die Mathematik im Verhältnis zu den anderen Wissenschaften. Hochansehnliche Versammlung! Kollegen! Kommilitonen! Wenn der angehende Rektor der Übung gemäß es versucht, ein die Allgemeinheit interessierendes Probestück aus seinem Fach vorzulegen, so ist er als Mathematiker in etwas schwieriger Lage. Seine Wissenschaft steht weiteren Kreisen besonders fern, so daß es nicht leicht ist, von der Tätigkeit des Mathematikers ein Bild zu geben oder gar ein Einzelproblem herauszugreifen und es gemeinverständlich zu behandeln. Diese eigentümliche Stellung der Mathematik beruht weit weniger auf ihrem Gegenstande, als auf ihrem Verfahren. Ihr streng logischer Aufbau in langen und verschlungenen Ketten von Schlüssen bringt die genannten Schwierigkeiten mit sich und bewirkt insbesondere, daß jeder Teil des Wissensgebietes zu seinem Verständnis die vorhergehende Überwindung eines anderen Teils erfordert. In der Mathematik ist eben die Regel, was in den historischen Wissenschaften für unerlaubt gilt, daß Schlüsse angeknüpft werden an Grundlagen, die selbst wieder nur Erschlossenes und nicht unmittelbar Beobachtetes darstellen. Das genannte Verfahren, das nur wenige, der Erfahrung oder der Anschauung entstammende Voraussetzungen benutzt und schrittweise fortgeht, ohne dabei von Neuem die Erfahrung heranzuziehen, wird in den exakten Wissenschaften und zwar in allen Sprachen heutzutage als „Deduktion“ bezeichnet. Dabei darf dieses Verfahren nicht mit dem verwechselt werden, was gelegentlich in anderen Wissenschaften mit demselben Wort bezeichnet wird, z. B. wenn von „juristischer Deduktion“ oder wenn bei Kant von der „Deduktion der reinen Verstandesbegriffe“ die Rede ist. In den letzten Fällen handelt es sich mehr um eine vergleichende Betrachtung, nicht um einen lediglich durch Schlußketten bewirkten Aufbau. In unserem Sinne ist die Mathematik die einzige durchweg deduktive Wissenschaft und nur diejenigen Wissenschaften, für welche die Mathematik eine Hilfswissenschaft ist, sind in einigen theoretischen Teilen gleichfalls deduktiv. Das Verfahren der Deduktion bestimmt auch meistens die durchaus nicht immer schmeichelhaften Werturteile, die über die Mathematik gefällt werden. Einige Wenige, 1199

Otto Hölder

in deren erkenntnistheoretische Ansichten ein solches Verfahren hineinpaßt, sind ihres Lobes voll; andere sind davon überzeugt, daß Mathematik das Wissen niemals erweitere, und halten an dieser Ansicht fest, obwohl sie nicht läugnen können, daß jeder neu bewiesene mathematische Lehrsatz vorher unbekannt war und nur eben auf dem mühsamen Wege seines Beweises eingesehen zu werden vermag. Schopenhauer besonders war der mathematischen Methode nicht günstig gesinnt. Er sagt einmal: „Daß, was Eukleides demonstriert, alles so sei, muß man, durch den Satz vom Widerspruch gezwungen, zugeben: warum es aber so ist, erfährt man nicht. Man hat daher fast die unbehagliche Empfindung wie nach einem Taschenspielerstreich, und in der Tat sind einem solchen die meisten Eukleidischen Beweise auffallend ähnlich“.1 An einer anderen Stelle spricht er von dem „Euklidischen Mausefallenbeweis“2 für den Lehrsatz des Pythagoras. Am Beispiel eben dieses Lehrsatzes wollte Schopenhauer ein anderes Beweisverfahren, wie es ihm als das richtige vorschwebte, erläutern. Schade nur, daß ihm dies bloß für einen ganz speziellen Fall möglich war, in welchem Sonderfall der Lehrsatz eben trivial ist.3 Andere Tadler, welche vielleicht an die algebraischen Buchstabenrechnungen und Umformungen denken, die in der Schule im Übermaß behandelt zu werden pflegen, und die deren Bedeutung nicht verstanden oder wieder vergessen haben, bezeichnen die Mathematik als ein leeres, nutzloses Spiel mit Zeichen. Immerhin wird neuerdings der praktische Nutzen der Mathematik seltener bezweifelt, da die Anwendungen in der Technik in die Augen springen; dafür wird dann umsomehr der theoretische, ideale Wert geläugnet. Jenes eigentümliche deduktive Verfahren, das ja aus dem geometrischen Unterricht hinreichend bekannt ist, ist eine Erfindung des griechischen Geistes. Die Feldmessung, aus der sich die Geometrie entwickelt und von der sie auch den Namen erhalten hat, war schon in Ägypten in alter Zeit gepflegt worden. Es wurden dort Regeln angewendet, nach denen man z. B. den Flächeninhalt eines viereckigen Ackers aus seinen Seiten berechnete.4 Diese Regeln waren ohne Zweifel erfahrungsmäßig gefunden worden, was daraus hervorgeht, daß die eben erwähnte Regel nur für solche Vierecke, die sich wenig vom Rechteck unterscheiden und zwar nur annäherungsweise richtig ist. Aus dem ihnen von den Ägyptern überlieferten erfahrungsmäßigen Material haben griechische Denker eine Wissenschaft gemacht, die deduktiv exakte Lehrsätze aus den sogenannten Axiomen entwickelt. Euklid’s Elemente, die 300 Jahre vor Christus verfaßt sind, bilden noch heute die Grundlage der Geometrie und werden z. B. in England teilweise jetzt noch unmittelbar im Unterricht benutzt. 1 2 3 4

„Die Welt als Wille und Vorstellung“, 2. Aufl. 1844, Bd. 1, S. 79-80. „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“, 2. Aufl. 1847, S. 132. Schopenhauer beschränkt sich auf das rechtwinklig gleichschenklige Dreieck, vergl. Die Welt als Wille usw. Bd. 1, S. 83. Stellen a und b das eine, c und d das andere Paar von Gegenseiten des Vierecks dar, so wird der Flächeninhalt nach der Formel

a+b 2

.

c+d 2

gerechnet, vergl. H. Hankel, Zur Geschichte der Mathe-

matik im Altertum und Mittelalter 1874, S. 86.

1200

Antrittsrede 1918

Das geschilderte Verhältnis von ägyptischer Feldmessung und griechischer Geometrie läßt sich aus Urkunden, die im 19. Jahrhundert veröffentlicht worden sind, zum mindesten sehr wahrscheinlich machen.5 Merkwürdig ist, daß Kant im Jahre 1787, als er die Vorrede zur 2. Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft schrieb, bereits dieses Verhältnis in der Hauptsache richtig beurteilt hat. Er sagt: „Die Mathematik ist von den frühesten Zeiten her, wohin die Geschichte der menschlichen Vernunft reicht, in dem bewunderungswürdigen Volke der Griechen den sicheren Weg der Wissenschaft gegangen. Allein man darf nicht denken, daß es ihr so leicht geworden, wie der Logik, wo die Vernunft es nur mit sich selbst zu tun hat, jenen königlichen Weg zu treffen, oder vielmehr sich selbst zu bahnen; vielmehr glaube ich, daß es lange mit ihr (vornehmlich noch unter den Ägyptern) beim herumtappen geblieben ist, und diese Umänderung einer Revolution zuzuschreiben sei, die der glückliche Einfall eines einzigen Mannes in einem Versuche zustande brachte, von welchem an die Bahn, die man nehmen mußte, nicht mehr zu verfehlen war, und der sichere Gang einer Wissenschaft für alle Zeiten und in unendliche Weiten eingeschlagen und vorgezeichnet war. Die Geschichte dieser Revolution der Denkart, welche viel wichtiger war als die Entdeckung des Weges um das berühmte Vorgebirge, und des Glücklichen, der sie zustande brachte, ist uns nicht aufbehalten.“ Aus dem Gesagten erhellt, daß das spezifisch mathematische Denken sich von dem in anderen Wissenschaften und im Leben geübten wesentlich unterscheidet. Diese Eigenart der Mathematik und ihr Verhältnis zu den anderen Wissenschaften und zur Technik möchte ich im Folgenden noch näher durch Beispiele erläutern. Es liegt in dem deduktiven Wesen der Mathematik, daß sie sich vielfach auch mit selbstgeschaffenen Begriffen beschäftigt, teils mit solchen, die lediglich aus der Verstandestätigkeit allein entspringen, wie z. B. die Zahlen, teils mit solchen, die auf Grund gewisser Voraussetzungen gebildet sind, wie die durch Konstruktionen erzeugten Begriffe der Geometrie, also etwa der Begriff des Quadrats, des regelmäßigen Fünfecks, eines regelmäßigen Vielecks von beliebiger Seitenzahl usw. Besonders eigentümlich ist es, daß von solchen Begriffen ganze gesetzmäßige Reihen gebildet werden können: z. B. die Reihe der natürlichen Zahlen, die nicht abbricht, d. h. also unendlich ist; die Reihe der Primzahlen, von der nicht ohne weiteres erhellt, ob sie unendlich ist oder nicht; die Reihe der Zahlen, welche mit 4 dividiert den Rest 1 ergeben, d. h. die arithmetische Progression, in der jedes folgende Glied um 4 größer ist als das vorhergehende, 1, 5, 9, 13..., die unendlich ist; die Reihe der Zahlen, die mit 4 dividiert den Rest 3 ergeben, d. h. die arithmetische Progression 3, 7, 11, 15 ...; die Reihe der Quadratwurzeln 1 , 2 , 3 , 4 ...; die Reihe aller der verschiedenen Wurzeln aus 2, d. h. also die Reihe 2 2 , 3 2 , 4 2 , 5 2 ...; die Reihe aller regelmäßigen Vielecke und dergleichen mehr. Der Umstand, daß hier von unendlichen Inbegriffen gesprochen werden kann, bringt es mit sich, daß Fragen gestellt werden können, die nicht dadurch zu erledigen sind, daß man alle Fälle nach einander behandelt, und die in einer rein empirischen Wissenschaft gar nicht möglich wären. Einige Beispiele: Gibt es unendlich viele 5

Vergl. Hankel, a. a. O. S. 85-87.

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Otto Hölder

Primzahlen? Sind, falls es unendlich viele gibt, in jeder der beiden genannten arithmetischen Progressionen oder nur in einer von beiden unendlich viele Primzahlen enthalten? Diese Fragen können beantwortet werden; es sind jedoch dazu weite Umwege nötig. Für die unendliche Anzahl der Primzahlen hat bereits Euklid einen Beweis gegeben. Daß überhaupt in jeder arithmetischen Progression unendlich viele Primzahlen enthalten sind, abgesehen von solchen Progressionen, in denen alle Glieder augenscheinlich einen gemeinsamen Teiler besitzen, ist von dem deutschen Mathematiker Dirichlet, der Gauß’ Nachfolger auf dem Göttinger Lehrstuhl war, durch ein überaus verwickeltes Verfahren nachgewiesen worden. An den erwähnten beiden arithmetischen Progressionen läßt sich auch der versteckte Zusammenhang erläutern, der manchmal zwischen den Eigenschaften der Zahlen waltet. Es läßt sich nämlich jede Primzahl, die in der ersten Progression enthalten ist, in die Summe zweier Quadratzahlen zerfällen6, während dies für die Primzahlen der anderen Progression niemals möglich ist. Dieser tiefliegende, überraschende, weil zunächst garnicht erkennbare Satz ist im 17. Jahrhundert von dem Juristen Fermat in Toulouse, der in seinen Musestunden Mathematiker war, auf induktivem Wege, also durch Beobachtung einer Anzahl von Beispielen, gefunden worden. Erst von Euler wurde der Lehrsatz für alle die unendlich vielen in Betracht kommenden Fälle allgemein bewiesen. Noch ein Beispiel für die allgemeine Art mathematischer Fragestellung. Kann die Gleichung 5. Grades so aufgelöst werden, wie die Gleichungen 2., 3. und 4. Grades bereits gelöst sind, d. h. gibt es unter den unendlich vielen Formeln, die mit Hilfe der Zeichen der Algebra einschließlich der Wurzelzeichen gebildet werden können, eine, welche allgemein die Gleichung 5. Grades löst? Der Norweger Abel hat in einer im Jahr 1826 erschienenen Abhandlung diese Frage im negativen Sinne entschieden. Die Anwendungen der Mathematik sowohl im gewöhnlichen Leben, als auch in der Technik und in den anderen Wissenschaften beruhen vielfach auf dem Maßbegriff. Es ist ja ein altes Wort, daß die Welt nach Zahl und Maß geordnet ist, und es erscheint uns die Anwendung der Zahl als Maßzahl geradezu als etwas Triviales. Und doch ruht jede Messung auf einer eigentlich nicht selbstverständlichen Grundlage. Es hätte keinen Sinn, zu sagen, daß z. B. die Kraft a das Doppelte sei von der Kraft b, wenn nicht die Erfahrung lehrte, daß zwei einander gleiche Kräfte – etwa zwei der Art und Größe nach völlige gleiche, elastische Spiralfedern, die um gleichviel ausgezogen und dadurch gespannt sind – einer dritten Kraft das Gleichgewicht halten können, und daß zwei solche Kräfte sich stets und überall durch die eine Kraft ersetzen lassen. Auf ähnlichen Erfahrungen beruht überhaupt jede physische Addition, auf der Addition des Gleichen beruht die Vervielfachung, auf der Vervielfachung die Messung. Der Umstand, daß für solche physische Addition erfahrungsgemäß gewisse einfache Beziehungen gelten, bildet die Grundlage für die Theorie der Messung. Das Messen hat aber noch eine Voraussetzung. Es ist dazu ein Maßstab, eine Maßeinheit nötig. So hatte man z. B. die Längen im Altertum nach Schritten oder Fußen gemessen. Trotzdem war der von dem berühmten französischen Mathematiker Descartes, zugleich dem Vater der neueren Philosophie, gefaßte Gedanke, auch in 6

z. B. 5 = 22 + 12, 13 = 22 + 32, 17 = 42 + 12 usw.

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den theoretischen Überlegungen alle Größen derselben Art auf eine einzelne Größe dieser Art als auf die Maßeinheit bezogen zu denken, ein ganz neuer, dem eine ungeheuere Tragweite zukam. Infolge dieses Gedankens werden alle Größen der betreffenden Art durch ihre Maßzahlen vorgestellt. Im Gegensatz zu dieser Auffassung arbeitete das Altertum theoretisch nicht mit der Maßzahl, sondern mit der Proportion. Daran, daß eine Größe zu einer zweiten sich verhält wie eine dritte zu einer vierten, knüpften damals alle Betrachtungen an, die wir heutzutage mit Hilfe des Maßbegriffs erledigen, und man erkennt den Fortschritt, wenn man das schwerfällige Schließen mit Hilfe der Proportionallehrsätze mit der Art vergleicht, wie wir Neueren mit den Maßzahlen auf Grund der Rechengesetze verfahren. Der erwähnte Gedanke der Einführung einer Einheit hat Descartes in der Geometrie gleich noch ein weiteres, wichtiges Ergebnis geliefert. Er zeigte in seinem 1637 erschienenen Werke „La Géométrie“, daß diejenigen Längen, die aus einer vorgegebenen bloß mit Hilfe des Zirkels und des Lineals herauskonstruiert werden können, wenn man sie durch die vorgegebene Länge gemessen denkt, eine besondere Art von Maßzahlen ergeben. Es sind dies die Zahlen, welche durch solche algebraische Formeln dargestellt werden können, die keine anderen Wurzelzeichen enthalten als Quadratwurzeln.7 Hieraus ergab sich Gauß die Konstruktion des regelmäßigen 17-Ecks, mit der er als junger Gelehrter das größte Aufsehen erregte, nachdem die Konstruktion der regelmäßigen Vielecke oder, was dasselbe ist, die Teilung des Vollkreises in eine Zahl gleicher Bögen, von der Zeit der Griechen bis auf ihn, also in einer Zeit von etwa 2000 Jahren keinen Fortschritt gemacht hatte. Daß andererseits z. B. die 7-Teilung des Kreises mit Zirkel und Lineal allein nicht ausgeführt werden kann, war gleichfalls Gauß schon bekannt, wenn er auch nicht dazu gekommen ist, einen Beweis dafür zu veröffentlichen.8 Die Hilfsmittel der modernen Algebra machen es verhältnismäßig leicht, auf Grund des erwähnten Ergebnisses von Descartes derartige Unmöglichkeiten strenge nachzuweisen. Auf dieselbe Weise ergibt sich die Unlösbarkeit des sogenannten Delischen Problems, welches verlangte, aus einem Würfel einen zweiten, der doppelt so groß ist, durch die zugelassenen konstruktiven Mittel abzuleiten. Dieses Problem war im Altertum sehr berühmt; ein Spruch des Orakels zu Delphi sollte den Bewohnern der Insel Delos, auf der die Pest herrschte, befohlen haben, den kubischen Altar des Gottes zu „verdoppeln“. Auf ähnliche Weise wird auch bewiesen, daß es keine Konstruktion gibt, die für alle Winkel zugleich die Dreiteilung des Winkels leistete. Angebliche Lösungen dieser Aufgabe werden noch heute der Universität eingesandt. Viele Lehrsätze der Geometrie und der Mechanik, obwohl durchaus nicht alle, beziehen sich auf das Abhängigkeitsgesetz, in dem gewisse Maße zueinander stehen. 7

8

Dabei kann aber Wurzel über Wurzel gesetzt werden. So ist z. B. der Wert

3−

1 1+ 2

konstruier-

bar. Ist p eine Primzahl, so kann der Kreis dann und nur dann mit Zirkel und Lineal in p gleiche Teile geteilt werden, wenn p − 1 eine Potenz von 2 ist.

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So ergibt sich für eine Bewegung, die unter dem Einfluß einer unveränderlichen Kraft in der Richtung dieser Kraft vor sich geht, und mit der Geschwindigkeit 0 beginnt, daß die von Beginn der Bewegung durchlaufenen Wege sich wie die Quadrate der zugehörigen Zeiten verhalten, dasselbe, was Galilei beim Fall auf schiefer Ebene beobachtet hat. Um solche Lehrsätze überhaupt aussprechen zu können, muß man im Besitz gewisser Begriffe sein, welche die besonderen Abhängigkeiten einer veränderlichen Zahl von einer anderen beschreiben. Ein solcher Begriff wird als eine Funktion bezeichnet. So ist in dem vorigen Beispiel das Quadrat eine Funktion der Zahl, die quadriert worden ist, wobei dann beide im Zusammenhang mit einander veränderlich gedacht werden. Die Projektion eines gegen die Horizontalebene unter einem gewissen Winkel geneigten Stabes ergibt, wenn sie durch den Stab selbst gemessen wird, eine Maßzahl, die nur von dem Neigungswinkel allein abhängt. Es ist diese Maßzahl eine Funktion von der Maßzahl des Winkels und zwar ist dies die Funktion, die unter dem Namen des Cosinus die bekannte Rolle in der Dreiecksmessung spielt. Der Luftdruck ist, wenn man von den zeitlichen Änderungen absieht, eine Funktion von der Höhe des Ortes, an dem wir den Druck messen und zwar eine solche, deren mathematisches Gesetz sich, wie wir nachher sehen werden, bestimmen läßt. Die Temperatur des Fieberkranken ist eine, freilich wenig gesetzmäßige Funktion der Zeit. Der einfachste Fall einer Funktion ist der, in welchem die abhängige Veränderliche gleich ist dem Produkt der unabhängigen und eines unveränderlichen Faktors. In diesem Fall sind zwei Werte der abhängigen Veränderlichen mit den beiden entsprechenden Werten der unabhängigen Veränderlichen in Proportion, weshalb man diese Art der Abhängigkeit kurz als die Proportionalität bezeichnet. Diese einfache Art der Abhängigkeit ist für viele mathematische Laien die einzige, die sie kennen, und es scheint hauptsächlich aus diesem Grunde nicht verstanden zu werden, daß auch verwickeltere Abhängigkeiten mathematisch bewältigt werden können. Mit Recht ist deshalb die Forderung erhoben worden, daß der Begriff der mathematischen Funktion bereits auf den höheren Schulen klar gemacht werden soll, wozu verschiedene der elementar-mathematischen Gebiete, namentlich die Geometrie und die Trigonometrie, Gelegenheit geben. Ein neues Beispiel ist geeignet, weitere mathematische Begriffe zu erläutern. Auf einem gerade vor uns liegenden rechteckigen Stück Papier können wir irgend eine einzelne Stelle dadurch charakterisieren, daß wir ihren Abstand von dem senkrechten und von dem wagrechten Rand angeben. Der erste Abstand ist die „Abszisse“, der andere die „Ordinate“ der betreffenden Stelle. Ist nun auf dem Papierblatt ein veränderlicher Punkt an eine gesetzmäßige Kurve als an seinen geometrischen Ort gebunden, so bewirkt dies, daß zwischen der Abszisse und der Ordinate, d. h., wie wir auch sagen, zwischen den beiden „Koordinaten“ des Punktes, ein gesetzmäßiger Zusammenhang besteht. Dieser Zusammenhang drückt sich z. B. dann, wenn die Kurve eine Ellipse, eine Parabel oder eine Hyperbel ist, durch eine Gleichung 2. Grades aus. Das Studium der Kurven im Zusammenhang mit den ihnen zugeordneten Gleichungen ist die Aufgabe der „analytischen Geometrie.“ 1204

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Betrachtet man nun in einer vertikalen Ebene eine Kurve, etwa die Bahn, in der ein Flieger sich erhebt, so kann auch wieder von Abszisse und Ordinate gesprochen werden. Es ist dann für eine bestimmte gegebene Bahn die Ordinate, d. h. die Höhe, eine bestimmte Funktion der Abszisse. Das Steigungsmaß der Bahntangente an einer einzelnen Stelle ist das, was der Mathematiker den Differentialquotienten jener Funktion nennt für die betreffende einzelne Stelle. Dieses Steigungsmaß kann angenähert werden durch die Steigung auf einer kleinen Strecke der Bahn, d. h. durch das Verhältnis der Erhebung zu der horizontalen Fortbewegung in dieser Strecke. In diesem Sinne erlaubt man sich die uneigentliche Ausdrucksweise, daß der Differentialquotient das Verhältnis zweier „unendlich kleiner“ Größen sei, und man bezeichnet deshalb die Differentialrechnung als einen Zweig der Rechnung mit dem Unendlichkleinen, als einen Zweig der Infinitesimalrechnung. Ich wende mich jetzt zu den anderen Wissenschaften, die mit der Mathematik in Beziehung stehen. Da die Geometrie, die Geodäsie und die Mechanik üblicher Weise zur Mathematik mitgerechnet werden, so ist die am meisten mathematische Naturwissenschaft die Astronomie. Eine wohlbekannte Leistung dieser Wissenschaft ist die außerordentlich genaue Vorausberechnung einer Himmelserscheinung, z. B. des Eintritts einer Verfinsterung. Diese Leistung, und zwar nicht nur die Berechnung des einzelnen Ereignisses, sondern auch die ganze Theorie solcher Berechnungen, ist eine reine mathematische, nachdem einmal Newton durch eine geniale mechanische Auffassung der von Kepler beschriebenen Planetenbewegungen und durch eine mathematische Analyse derselben das Anziehungsgesetz der Himmelskörper gefunden hat. Die Beziehung zwischen den Wissenschaften ist aber hier eine doppelte. Nicht nur erscheint die Mathematik als Hilfswissenschaft der Astronomie, indem sie die von dieser gestellte Aufgabe löst, den Weg der Himmelskörper aus dem Anziehungsgesetz zu bestimmen; es hat auch die Astronomie zur Entwicklung der Mathematik durch die Stellung dieser Aufgabe wesentlich beigetragen. An ihr hat Newton die Infinitesimalrechnung entwickelt; sie ist allerdings gleichzeitig auch auf anderem Wege entdeckt worden von Leibniz, dem Mathematiker und dem Philosophen. Es ist wohl möglich, an der Hand der eben genannten Aufgabe eine allgemeinverständliche Vorstellung von einem zweiten Zweig der Infinitesimalrechnung zu geben. Die mechanische Auffassung von der Bewegung der Himmelskörper besteht darin, daß sie mit der Wurfbewegung in der Nähe der Erdoberfläche analog gedacht wird. So wie hier der geworfene Stein an und für sich vermöge seiner Anfangsgeschwindigkeit nach dem Trägheitsgesetz in stets derselben Richtung mit konstanter Geschwindigkeit fortfliegen würde, diese Geschwindigkeit aber im Lauf der Zeit nach Größe und Richtung durch die Wirkung der Schwere abgeändert wird, so werden die Geschwindigkeiten der Himmelskörper durch die Anziehungen, die sie auf einander ausüben, abgeändert. Die Anziehung zwischen zwei Körpern wirkt nun in ihrer momentanen Verbindungslinie und ist während ihrer Bewegung dem Quadrat der momentanen gegenseitigen Entfernung umgekehrt proportional. Denkt man sich jetzt für einen Augenblick die Stellungen zweier Körper und nach Größe und Richtung ihre Momentangeschwindigkeiten als bekannt, so kann man für einen kleinen, an diesen Augenblick 1205

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sich anschließenden Zeitteil die aus den Geschwindigkeiten sich ergebenden Wege und somit die am Ende des Zeitteils sich ergebenden Lagen berechnen. Aus der bekannten Anziehung, wie sie sich aus den beiden ursprünglichen Lagen ergibt, berechnen sich aber gewisse Änderungen der Geschwindigkeiten und damit für den Endpunkt jenes Zeitteils die neuen Geschwindigkeiten selbst. Für einen weiteren an diesen Zeitpunkt sich anschließenden Zeitteil kann dann die Berechnung wiederholt und diese so beliebig weit fortgesetzt werden. Im Grunde ist hier eine Vernachlässigung begangen worden. Es sind nämlich die Lagen am Ende des ersten Zeitteils so gerechnet worden, als wären in diesem Zeitteil die Geschwindigkeiten unveränderlich geblieben, als hätten sich diese erst am Ende des Zeitteils ruckweise geändert. In Wahrheit ändern sich die Lagen und die Geschwindigkeiten stetig und unmerklich, d. h. also kontinuierlich, von Augenblick zu Augenblick. Trotzdem vermögen wir diese Änderungen zu beherrschen. Rechnet man die Lagen für das Ende eines größeren Zeitintervalls, indem man dieses aus vielen kleinen Teilen zusammensetzt und das geschilderte, nicht ganz genaue Verfahren anwendet, so erhält man eine Näherung. Diese liefert trotz der Häufung der Rechenoperationen das Ergebnis mit um so geringerem Fehler, je zahlreicher und kleiner die Zeitteile genommen werden. Das wahre Ergebnis aber, dem jene Näherungen zustreben, kann durch gewisse Regeln gefunden werden, welche im Grund auf einer Umordnung der geschilderten Betrachtung beruhen. Diese Regeln gehören in das Gebiet der Integralrechnung, eines anderen Zweigs der Infinitesimalrechnung. Nicht wesentlich anders gestaltet sich die Anwendung der Mathematik auf die Physik. Auch hier findet die Infinitesimalrechnung häufige Verwendung. Mit ihrer Hilfe kann z. B. aus dem empirischen Gesetz von Mariotte die Funktion hergeleitet werden, welche, wenn man von anderen Umständen absieht, die Abhängigkeit des Luftdrucks von der Höhe ausdrückt. Nach jenem Gesetz sind Druck und Dichtigkeit derselben Gasmenge bei sonst gleichbleibenden Umständen zu einander proportional. Man hat nun nur zu bedenken, daß der an der Erdoberfläche etwa auf einem Quadratmeter lastende Druck gleich ist dem Gewicht der ganzen Luftsäule, die über diesem Quadratmeter steht und sich bis ans Ende der Atmosphäre erstreckt. Der in einer gewissen Höhe über dem Erdboden herrschende Druck ist nur gleich dem Gewicht des Teils der Luftsäule, der sich oberhalb der betreffenden Stelle befindet. Wird eine noch etwas höhere Stelle gewählt, so kommt ein Teil der Luftsäule zum Abzug, dessen Volum sich aus der Höhenänderung berechnen läßt und dessen Gewicht sich angeben ließe, wenn der Druck und damit nach dem Gesetz von Mariotte auch die Dichte der Luft an der betreffenden Stelle schon bekannt wäre. Es ergibt sich hieraus der Quotient der Änderungen von Höhe und Druck ausgedrückt in dem Druck selbst, der an jener Stelle vorhanden ist. Hieraus aber läßt sich mit Hilfe der Infinitesimalrechnung die Funktion finden, welche den Druck in Abhängigkeit von der Höhe darstellt. Auch die Physik liefert dem Mathematiker viele Anregungen, indem sie uns Probleme stellt und vielfach zugleich die allgemeine Form der Lösung voraussehen läßt. Als Beispiel kann die Wärmeleitung in einer ebenen Platte angeführt werden. Setzt man diese an ihrem Rande mit Wärmequellen in Verbindung und kann man 1206

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dafür sorgen, daß in den Randpunkten vorgegebene Temperaturen gehalten werden, so stellt sich nach einiger Zeit im Innern eine bestimmte, von da an unveränderliche Temperaturverteilung ein. Die Temperatur ist dann im Innern der Platte eine Funktion des Ortes. Diese Funktion genügt einer mathematischen Gleichung, und das physikalische Problem der Wärmeverteilung in der Platte klärt den Mathematiker darüber auf, daß die Lösung der erwähnten Gleichung so möglich ist, daß die Werte der Funktion, die ihr für die Randpunkte der Platte zukommen, willkürlich vorgegeben werden können. Nicht viel anders als in der Physik gestaltet sich in der Technik die Anwendung der mathematischen Wissenschaft. Hier tritt zu dem Bedürfnis, das Gegebene zu verstehen und Vorgänge vorauszuberechnen, noch das praktische: gewollte Wirkungen zu erzielen. So kann auf dem Papier durch Zeichnung oder Berechnung ausgemittelt werden, ob eine Pumpe die gewünschte Wassermenge in einer bestimmten Zeit zu liefern, ob eine Brücke die in Frage kommende Last zu tragen vermag. Der Laie wird vielleicht dem mathematischen Techniker das Sprichwort entgegenhalten, daß Probieren über Studieren geht, und wird von dem Experiment mit einem verkleinerten Modell größere Erfolge als von der Zeichnung oder der Berechnung erwarten. Dies jedoch mit Unrecht. Es kann vorkommen, daß das verkleinerte Brückenmodell einen kleinen Wagen tragen kann, während zugleich die Brücke in natürlicher Größe unter dem entsprechend größeren Wagen zusammenbrechen muß, unter der Voraussetzung, daß beide Gebilde aus demselben Material wie vorher die Modelle bestehen. Dies ist eine Folge des Umstandes, daß das geometrische Gesetz der Ähnlichkeit in der Festigkeitslehre nicht gilt. Schon Galilei hatte auf Grund von Versuchen und von Überlegungen diesen Umstand entdeckt und hatte daran die merkwürdige Bemerkung geknüpft, daß Riesentiere von einer gewisse Grenzen überschreitenden Ausdehnung schon deswegen nicht existieren, weil sie vermöge ihres eigenen Gewichts in sich selbst zusammenbrechen müßten.9 Bei der Anwendung der Mathematik auf die Chemie spielt eine andere mathematische Disziplin die Hauptrolle. Die Chemie geht von der Zusammensetzung der Materie aus kleinsten, selbst nicht wieder teilbaren Partikelchen, den Atomen, aus, die selbst wieder von verschiedener Art sind. Ein Kohlenstoffatom hat nach der chemischen Grundauffassung vier Seiten, an welche sich ein anderes Atom anlegen kann, ein Sauerstoffatom hat zwei, ein Wasserstoffatom eine solche Seite. Daraus ergibt sich die Anwendung der Kombinationenlehre, und es lassen sich durch Kombinationen die verschiedenen chemischen Verbindungen voraussehen, die aus einigen Grundstoffen gebildet werden können. Ähnliche Vorstellungen spielen in der Mineralogie eine Rolle und erklären den Bau der Krystalle. Aber auch Massenwirkungen, die nach Zeit und Raum kontinuierlich sich ausbreiten, werden in der modernen Chemie betrachtet und bilden hier wiederum den Anlaß zur Anwendung der Infinitesimalrechnung.

9

Unterredungen und mathematische Demonstrationen über zwei neue Wissenszweige, zweiter Tag (Ostwald’s Klassiker der exakten Wissenschaften Nr. 11, S. 108-110).

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Es ist leicht erkennbar, daß überall da, wo allgemeingiltige Gesetze unbedingt walten, oder vielmehr mit Grund angenommen werden können, wie in den exakten Naturwissenschaften und in der auf sie aufgebauten Technik, die Mathematik angewendet werden kann. Auf die biologischen Naturwissenschaften, denen auch die Medizin zuzurechnen ist, und auf die in der Hauptsache mit historisch-philologischen Mitteln arbeitenden sogenannten Geisteswissenschaften findet nach der Natur der Sache die Mathematik wenig Anwendung. Doch können auch hier mathematische Fragen mit hereinspielen und Bedeutung gewinnen. So kann man die Mathematik auf die Theorie des Gehens anwenden, und es arbeitet der Augenarzt mit einer Reihe von mathematischen Begriffen, was niemand verwundern kann, da das Auge ein optischer Apparat ist. Eine Rechtsfrage kann gleichfalls gelegentlich mit mathematisch-physikalischen Begriffen und Tatsachen verknüpft sein. So wurde im Jahr 1900 ein Reichsgesetz erlassen, welches die Entziehung von Elektrizität mit Strafe bedroht.10 Es beruht dieses Gesetz auf dem Begriffe der „elektrischen Arbeit“ und war notwendig geworden, weil nach juristischer Auffassung die Entziehung von Elektrizität, da Elektrizität keine „Sache“ ist, nicht als im Begriff des Diebstahls mit eingeschlossen angesehen wurde. Auch kann einmal in einer historischen Untersuchung über Zeitangaben die Entscheidung davon abhängen, ob die geschichtlichen Urkunden die näheren Umstände einer Sonnenfinsternis in Übereinstimmung mit einer solchen angeben, die mit Hilfe der mathematisch-astronomischen Theorie nach rückwärts berechnet ist.11 Zu der Wissenschaft, welche als die Geisteswissenschaft im eigentlichsten Sinn angesprochen werden muß, zur Philosophie, hat die Mathematik eine besondere Stellung. Von einer Anwendung mathematischer Methoden in der philosophischen Forschung kann meines Erachtens nicht ernstlich die Rede sein. Wohl hat Spinoza es unternommen, die Ethik, wie er sagt, „nach geometrischer Methode“ darzustellen, d. h. also deduktiv zu behandeln; es werden ihm aber heutzutage nur wenige auf diesem Wege folgen. Und wenn auch neuerdings Mathematiker gewisse Teile der formalen Logik durch eine Art algebraischer Rechnung ausgedrückt haben, so dürfte diesem Umstand kaum eine große Bedeutung zukommen. Die Mathematik hat aber eine andere Beziehung zur Philosophie. Sie bietet dieser Wissenschaft, die sich mit dem erkennenden Geist und mit dem Wesen der Erkenntnis selbst befaßt, ein vorzügliches Beispiel eines besonderen Erkenntnisverfahrens dar. In der Tat hat schon seit Plato die Philosophie hier angeknüpft, hat auf die Voraussetzungen hingewiesen, welche die Mathematik macht, und hat durch diesen Hinweis einer idealistischen Erkenntnislehre den Boden geebnet. Auch haben die Philosophen die deduktive Methode selbst, freilich nicht immer mit dem gewünschten Erfolg, studiert. Von Bedeutung für die Philosophie sind unter anderen die geometrischen Untersuchungen, welche an das 5. euklidische Postulat, das sogenannte Parallelenaxiom 10 11

Hier und noch an einigen anderen Stellen verdanke ich Herrn Prof. Lorey eine kleine Berichtigung. In die benutzte Einteilung passen die praktischen Staatswissenschaften nicht recht hinein. Für sie, die sich bis jetzt auch nur wenig der Mathematik bedienen, dürfte eine viel weitergehende Anwendung der Mathematik möglich und in hohem Grade wünschenswert sein.

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anknüpfen. Diese Untersuchungen haben ihren Ursprung genommen in dem Streben, das Parallelenaxiom durch einen Beweis zu sichern, da es schon an und für sich nicht einen so selbstverständlichen Eindruck wie die anderen Axiome machte, wie es denn auch schon bei den Griechen Gegenstand von Diskussionen gewesen ist.12 Das schließliche Ergebnis war, daß man das Parallelenaxiom auch fallen lassen kann, und daß außer der gewöhnlichen Geometrie noch zwei andere Systeme möglich sind, von denen das eine im Jahre 1829 von dem Professor der Universität Kasan Lebatschefskij bereits vollständig entwickelt veröffentlicht worden ist.13 Diese „nichteuklidischen Geometrien“, in denen z. B. die Summe der Winkel des gradlinigen Dreiecks nicht gleich zwei Rechten ist, sind zunächst in philosophischen Kreisen begreiflicherweise auf die größte Ablehnung gestoßen. Im Hinblick auf sie ist sogar das Witzwort geprägt worden, daß die Mathematiker sich damit beschäftigen, zu untersuchen, wie die Welt sein müßte, wenn sie anders wäre, als sie ist. Man mag sich aber im erkenntnistheoretischen Sinne zur nichteuklidischen Geometrie stellen, wie man will, eines muß mathematischerseits betont werden. Die beiden erwähnten neuen Geometrien sind in sich unbedingt widerspruchslos. Vielleicht werden Sie erstaunen, daß die Mathematiker so kühn sind, zu versichern, daß aus den betreffenden Annahmen in allen etwa noch anzustellenden geometrischen Untersuchungen der Zukunft niemals ein Widerspruch zu Tage gefördert werden kann. Dies beruht aber darauf, daß jede der nichteuklidischen Geometrien – geradeso wie die euklidische – auf eine Zahlenmannigfaltigkeit, wie wir sagen „abgebildet“ werden kann. Es soll das heißen, daß man den geometrischen Begriffen und den zwischen ihnen bestehenden Relationen Gebilde einer Zahlenmannigfaltigkeit und Relationen zwischen solchen Gebilden so zuordnen kann, daß von der Zahlenmannigfaltigkeit auf die Geometrie ein sicherer Rückschluß möglich ist. Das Bestehen der den geometrischen Annahmen in der Zahlenmannigfaltigkeit entsprechenden Beziehungen ist aber einwandfrei bewiesen. Hieraus scheint mir zu folgen, was von philosophischer Seite teilweise zugegeben, zum Teil aber auch bestritten wird, daß man jedenfalls einen Punkt in Kant’s Erkenntnistheorie aufgeben muß. Kant hat die geometrischen Axiome, und zwar die euklidischen, aus denen die Lehrsätze der gewöhnlichen Geometrie denknotwendig 12

13

Vergl. R. Bonola, die nichteuklidische Geometrie, historisch-kritische Darstellung ihrer Entwicklung, Deutsch von Liebmann, 1908, S. 2. Sind in den Endpunkten einer Strecke AB zwei Senkrechte g und h nach derselben Seite errichtet, so folgt aus dem fünften Postulat Euklids, daß jede von B ausgehende, zwischen g und h gelegte Gerade l die Gerade g in einem Punkt s schneidet, während Lobatschefskij unendlich viele durch B gehende und g nicht schneidende Gerade l annimmt, die zwischen g und h einen Winkel mit der Spitze B erfüllen.

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folgen, zwar nicht als denknotwendig, aber doch als anschauungsnotwendig betrachtet. Die Geometrie – und zwar die gewöhnliche, d. h. die euklidische Geometrie – sollte einer Anschauung entspringen, die, wie Kant es nennt, „a priori“ ist, und es sollte ohne diese Anschauung auch kein geometrisches Denken möglich sein. Das letzte vor allem erscheint mir unvereinbar mit der Tatsache, daß wir die Folgerungen aus Annahmen, welche den euklidischen entgegen sind, widerspruchslos verarbeiten können. Wir haben es gesehen, daß die Mathematik nicht ohne Beziehung neben den anderen Wissenschaften, neben der Technik einhergeht. Sie hat auch enge Beziehungen zum Leben, auch zum Leben der Gegenwart und zur Kriegführung. Die Messung der Entfernungen, die Vorausberechnung der Geschoßbahn mit Rücksicht auf den Luftwiderstand und auf die Achsendrehung des Geschosses, alles dies sind Aufgaben, die in ihrer Lösung von der Mathematik abhängig sind. Schon im Altertum war ein Mathematiker in Verbindung mit der Kriegstechnik bekannt gewesen: Archimedes, der seine Vaterstadt, die Griechenkolonie Syrakus, vor ihrer Eroberung durch die Römer im Jahr 212 v. Chr. durch technische Erfindungen hat verteidigen helfen, derselbe Archimedes, auf dessen streng logisch entwickelte „Exhaustionsmethode“ wir in der Neuzeit haben zurückgreifen müssen, um nachträglich eine stichhaltige Begründung der Infinitesimalrechnung zu gewinnen. Es besteht hier eine innige Beziehung zwischen der Theorie und der Praxis. Jene ist nicht ohne praktischen Nutzen, und Lehrsätze, die ursprünglich nur aus dem mathematisch-theoretischen Bedürfnis heraus entdeckt und bewiesen worden sind, wurden in späteren Jahrhunderten in der Naturwissenschaft und der Technik angewendet. So hat Kepler i. J. 1609 durch eine geniale Induktion nachgewiesen, daß die an den Planetenbewegungen gemessenen und berechneten Zahlen mit den Eigenschaften der Kegelschnitte übereinstimmen, welche die Griechen aus rein geometrischem Interesse entwickelt hatten, und er fand so die nach ihm benannten Gesetze. Aber auch der hohe Wert, der der reinen Theorie ganz unabhängig von der Anwendbarkeit zukommt, darf nicht geläugnet werden. Ich habe im Anfang ein Beispiel von der wunderbaren Verknüpfung gegeben, die zwischen ganz verschiedenen Eigenschaften von Zahlen besteht. In solcher, meist induktiv entdeckter, vorher ungeahnter, nachher mit vieler Mühe logisch erklärbarer Harmonie liegt das, was der Mathematiker als die Schönheit seiner Wissenschaft ansieht, und gerade mit solchen, im allgemeinen nicht praktisch anwendbaren, Eigenschaften der abstrakten reinen Zahlen beschäftigen sich Viele, wie schon oft bemerkt worden ist, mit förmlicher Leidenschaft. Dabei ist es sehr bemerkenswert, daß die Lösung der Probleme zur Bildung neuer Begriffe zwingt, und die neuen Begriffe wieder neue Probleme enthüllen. So erklärt es sich auch, was so oft Verwunderung auslöst, daß eine solche Wissenschaft stets wieder Neues zutage zu fördern vermag. Hochansehnliche Versammlung! Die Anwendung der Mathematik in der Kriegstechnik, von der ich vorhin sprach, tritt vielleicht bald wieder in den Hintergrund. Es erscheint möglich, daß in kurzer 1210

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Frist Friede eintritt, daß unsere Kommilitonen von der Front zu uns zurückkehren und ihre Studien wieder aufnehmen. Freilich, anders kommt der Friede, als wir ihn früher erhofft haben. Trotzdem aber vertrauen wir darauf, daß die Reichsregierung einen Frieden erreichen wird, der unsere Ehre wahrt und der unsere zukünftige Entwicklung nicht einschnürt. ***

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31. Oktober 1919. Rede des abtretenden Rektors Dr. Rudolf Kittel. Bericht über das Studienjahr 1918/19. Hochansehnliche Versammlung! Als ich heute vor einem Jahre die Würde des Rektors in die Hände meines Nachfolgers zu legen mich anschickte, da begann ich meine Worte mit einem Ausblick auf den nahenden langersehnten Frieden. Wir fürchteten ihn schon damals mehr, als wir von ihm erwarteten. Inzwischen ist der Friede zur Tat geworden. Unser Volk liegt am Boden, geschändet und geknechtet – und was noch schlimmer ist: betrogen und verraten von denen, die ihm und der Welt das Gaukelspiel von Recht und Gerechtigkeit und von der Freiheit der Länder und Meere und der Beseitigung aller Gewaltherrschaft vortäuschten. Wir erheben diese Anklage nicht in der Leidenschaft des Augenblickes, sie würde sich für solch eine Feierstunde wenig ziemen, sondern mit gutem Bedacht. Und sie soll fortklingen und soll in unserer Seele und unserem Munde nicht ersterben bis an den Tag, an dem endlich die Welt einsehen mag, welch ein bitteres Unrecht sie unserem Volke antat. Der jetzt geschlossene Friede wird der Welt noch in Jahrhunderten ein Zeugnis der unerhörten Blindheit siegestrunkener Völker sein. Die Folgen wird die ganze Weltkultur zu tragen haben. Sofort nach dem Beginn des heute zu Ende gehenden Rektorjahres brach der Sturm der Revolution über unser Vaterland herein. Auch unsere Alma mater ist von ihm nicht unberührt geblieben. Dem gegen Ende Oktober 1918 ins Amt getretenen und heute vor einem Jahr von dieser Stelle aus begrüßten Kultusminister v. Nostiz waren nur wenige Tage beschieden. Mit dem 9. November zog als sein Nachfolger der sozialdemokratische Abgeordnete Buck in das Ministerium ein. Es ist damit wohl zum ersten Male der Fall eingetreten, daß den höheren und höchsten Bildungsanstalten des Landes ein oberster Vorgesetzter zuteil wurde, der keine von ihnen selbst durchgemacht und somit aus eigener Anschauung kennen gelernt hatte. Niemand wird sagen können, daß damit ein normaler Zustand geschaffen sei. Aber unsere Anstalt ist in der glücklichen Lage, Herrn Minister Buck am Schlusse dieses Studienabschnittes für beinahe ein Jahr gerechten und wohlwollenden Regimentes danken zu können. Die Universität war in den bewegten Tagen und Monaten nach dem 9. November mehrfach darauf angewiesen, das vorgesetzte Ministerium um Schutz gegen fremde Übergriffe anrufen zu müssen. Sie erkennt gerne an, daß die Staatsregierung alles in ihren Kräften Stehende tat, um der gerade hier in Leipzig besonders großen Schwierigkeiten Herr zu werden. – Inzwischen ist infolge der Übernahme des Ministeriums durch den demokratischen Abgeordneten, früheren Seminardirektor Dr. Seyfert, seit wenigen Wochen abermals ein Wechsel in der obersten Stelle unserer Unterrichtsverwaltung eingetreten, der dritte im Laufe eines 1212

Jahresbericht 1918/19

Jahres. Wenn irgendwo, so ist aber in der Verwaltung und Betreuung des geistigen Lebens eine gewisse Stetigkeit erwünscht. Wir können daher nur wünschen, daß dem neuen Herrn Minister, den wir heute unter uns zu sehen die Ehre haben, eine ebenso lange als gedeihliche Wirksamkeit beschieden sei. Möge es ihm gelingen, in den mancherlei schwerwiegenden Fragen, die gerade auf dem Gebiete des öffentlichen Unterrichts noch zu lösen sind, den Weg der Lösung zu finden, den die Geschichte, die unparteiische Richterin, später als einen solchen anerkennen wird, der dem Heile des Vaterlandes diente! Die Universität hat beim Ausbruch der Revolution von Anfang an keinen Zweifel darüber gelassen, daß sie sich als eine der Wissenschaft, nicht der Politik gewidmete Korporation betrachte. Sie hat dem entsprechend erklärt, daß sie sich, unbeschadet der persönlichen Überzeugung jedes Einzelnen, als Korporation ehrlich auf den Boden der Tatsachen stelle. Trotzdem sollten gewisse Reibungen, nicht sowohl mit der neuen vorgesetzten Behörde, als mit einzelnen wirklichen oder angeblichen Organen der örtlichen Gewalten, nicht ausbleiben. Der Rektor sowohl als die Studentenschaft in ihrer erdrückenden Mehrheit waren bei aller Anerkennung der neuen Zustände doch nicht gesonnen, sich die Gesetze ihres Handelns durch örtliche Instanzen vorschreiben zu lassen. Soweit die Universität sich nicht auf verbriefte Freiheiten berufen konnte, hat sie allezeit (außer in Zeiten des Belagerungszustandes) streng darauf gehalten, ausschließlich ihrem vorgesetzten Ministerium Gehorsam zu schulden. Der erste Versuch eines gewaltsamen Eingriffes durch Hissung eines der Universität als solcher fremden Hoheitszeichens auf dem Dache der Universität wurde von der Studentenschaft eigenmächtig durch kecken Handstreich auf dem Weg einer „nächtlichen Kletterpartie“, wie es hieß, vereitelt. Die zwangsweise Herstellung führte zu stürmischen Szenen, in deren Verlauf der Arbeiter- und Soldatenrat glaubte zur Verhaftung einzelner Studenten schreiten zu dürfen, ein Unterfangen, das freilich sofort mit der gewaltsamen Befreiung der Gefangenen durch die Kommilitonen beantwortet wurde. In dieser im höchsten Grade gespannten Lage glaubte der Rektor Otto Hölder im Interesse seiner Gesundheit die Kollegen und das Ministerium um Enthebung von der Bürde des Amtes ersuchen zu sollen. Auch heute sei ihm noch einmal der Dank der Universität für seine aufopfernde Arbeit und sein Eintreten für ihre Rechte gesagt. Bis zur Entscheidung über die Zukunft fiel nach den Satzungen der Universität die Last der Geschäfte von selbst auf den eben abgetretenen Rektor als den Prorektor des Jahres. In der Fahnenfrage gelang es, durch persönliche Verhandlungen zwischen der Universität – Prorektor und Studentenschaft – einerseits und dem Ministerium und dem A.- und S.-Rat andererseits zu einer Vereinbarung zu gelangen, die uns bisher weitere Eingriffe nach dieser Richtung hin erspart hat. Die Ruhe selbst war aber weder in der Studentenschaft noch in dem Teil der Bevölkerung, der dem A.- und S.-Rat ergeben war, hergestellt. Wenige Tage darauf wurde sogar von einer auswärtigen Organisation aus, dem Roten Soldatenrat oder Sicherheitsdienst Kassel-Hof-Leipzig, mit einem beträchtlichen Aufgebot von Truppen und unter Vorwissen und Duldung des hiesigen A.- und S.-Rates der Versuch gemacht, den Vorsitzenden des Studentenausschusses zuerst in seiner Wohnung und hernach 1213

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in der von Truppen vollständig umstellten Universität dingfest zu machen. Der Versuch scheiterte, da sich der Genannte erst in der Lesehalle und hernach nichtsahnend, aber um so vergnüglicher beim Abendbrot in einer Wirtschaft befand. Es war aber doch ein bedrohliches Anzeichen dafür, wie man über uns dachte und wessen wir uns möglicherweise zu versehen hatten. Ich konnte daher nicht unterlassen, genaue Protokolle über den Hergang aufzunehmen und sie mit der Bitte um Schutz vor ähnlichen Vorkommnissen an die Regierung nach Dresden einzusenden. Inzwischen hatte der Senat nach § 38 des Statuts dem Antrag des Prorektors gemäß sich dahin entschieden, daß die Stelle des abgetretenen Rektors durch Neuwahl zu besetzen sei. Die Wahl fiel mit überwältigender Stimmenzahl auf den Prorektor, mich selbst. Unter diesen Umständen glaubte ich die zahlreichen und schwerwiegenden Bedenken, die ich vorher und jetzt hegte, zurückstellen und meine alle anderen in Schatten stellende Pflicht darin erkennen zu müssen, das Meine zu tun, um das schwergefährdete Schifflein unserer Alma mater durch die hochgehende Brandung zu führen. An Arbeit und Mühen hat es nicht gemangelt. Meine ganze Kraft und meine ganze Zeit, ich darf ohne Übertreibung sagen, bis zur letzten Minute, gehörte der Universität. Auch an Kämpfen hat es gelegentlich nicht gefehlt. Aber ich darf mit Freude und mit Dank bekennen, daß ich das Vertrauen und die hilfreiche Mitwirkung der Kollegen und besonders die mir oft in rührender Weise entgegentretende vertrauensvolle Zuneigung der Studentenschaft als eine der köstlichsten Gaben meines Lebens dafür entgegennehmen durfte. Die tatkräftige Entschiedenheit, mit der die Universität, voran die Studentenschaft, sich aller Eingriffe in ihre Rechte zu erwehren gewußt hatte, scheint in gewissen uns vorher schon mit unverhohlenem Mißtrauen gegenüberstehenden Kreisen die fast unausrottbare Vorstellung wachgerufen zu haben, die Universität sei ein Herd gegenrevolutionärer Bestrebungen. Insbesondere sollte sie ein Stapelplatz für Waffen sein, von dem aus bewaffnete Angriffe auf die neue Ordnung der Dinge vorbereitet würden. Alle Versicherungen des Gegenteiles waren erfolglos. So mußte in Tagen leidenschaftlicher Erregung der Volksmassen, an denen Leipzig im letzten Winter und Frühjahr keinen Mangel hatte, die Wut der fanatischen Menge sich fast von selbst gegen die Universität und die akademische Bürgerschaft richten. Die Lage des Universitätsgebäudes im Mittelpunkt der Stadt und an dem für Demonstrationsversammlungen und Demonstrationszüge besonders geeigneten Augustusplatz trugen das Ihre dazu bei. Am 11. Januar wurden aus Anlaß des Todes von Liebknecht und Rosa Luxemburg große Demonstrationsversammlungen auf dem Augustusplatze abgehalten. Unsere Vorlesungen gingen ruhig ihren Gang, ohne von jenen behelligt zu werden. Um 12 Uhr sollte im Hörsaal an der Wandelhalle die Antrittsvorlesung des Professors Bergmann über das Wesen der Philosophie stattfinden. Während kurz vor 12 1/4 Uhr der Rektor und der Dekan der Fakultät sich im Rektorat anschickten, in der üblichen Weise den Vortragenden feierlich zum Saale zu geleiten, melden Studenten, in der Wandelhalle sei das Volk eingedrungen und wolle die Abhaltung der Vorlesung hindern. An Ort und Stelle ergab sich, daß in der Menge der Glaube verbreitet worden war, die Vorlesung solle eine Gegendemonstration gegen die auf dem Augustus1214

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platze stattfindende Versammlung darstellen. Die Erregung hatte einen ziemlichen Grad erreicht. Die Führer waren ein jüngerer Herr im wohlgepflegten Bürgerkleide und schmuckem Pelzmantel und ein reiferer Mann im Arbeitsgewande. Der erstere war keinerlei Vorstellung zugänglich – begreiflich, er mußte ja eigentlich die Wahrheit wissen. Der letztere ließ sich durch ruhige Darlegung des Tatbestandes, daß das Wesen der Philosophie kaum das geeignete Thema einer Gegendemonstration darstellen würde, sowie daß die Vorlesung schon Wochen vor dem Tode Liebknechts geplant und längst öffentlich angekündigt sei, überzeugen und half der Vernunft zum Siege. Am 17. Januar bewegte sich ein Demonstrationszug die Goethestraße entlang, am Hauptportal der Universität vorbei. Eine Anzahl Demonstranten drang in das Gebäude ein und versuchte, sich eines mit der Schließung des Portales beschäftigten Dozenten zu bemächtigen. Er wurde unter starken Mißhandlungen schließlich auf den Augustusplatz herausgezerrt und von dort auf die Polizeiwache gebracht. Hier mußte er, weil keinerlei Grund zum Vorgehen gegen ihn vorlag, selbstverständlich freigelassen werden. Trotzdem verbreitete sich sofort in der Menge das Gerücht, ein Professor habe aus der Universität geschossen. Eine Anzahl Bewaffneter bemächtigte sich infolgedessen der Eingänge zur Wandelhalle und verlangte von jedem, der aus- und einging, die Gewährung körperlicher Durchsuchung auf Waffen. Eine große Zahl von Studenten und mehrere Professoren wurden auf diese Weise, teilweise gröblich, behelligt, bis es endlich dem aus einem der Seminargebäude herbeigeholten Rektor gelang, dem sinnlosen Treiben zum Teil höchst minderwertiger Elemente Einhalt zu gebieten. Die fortdauernd gespannte Lage führte in den Tagen vom 28. Februar bis 10. März zur Erklärung des Generalstreiks für den gesamten Bezirk der Stadt Leipzig. Die Streikleitung hatte mir auf meine Vorstellung hin ausdrücklich die Weiterbelieferung der Universität und ihrer Institute mit Heizung und Beleuchtung zugesichert, solange die Streiklage dies irgend gestatte. Doch spitzte sich der Konflikt so zu, daß, als auch die bürgerlichen Kreise der Stadt in den Gegenstreik einzutreten beschlossen, auf der einen Seite die Studenten sowohl als die Beamten der Universität ihr Recht auf Teilnahme am Streik geltend machten, auf der anderen durch die Einstellung der Lieferung von Kohlen und Elektrizität der Lehr- und Institutsbetrieb der Universität von selbst lahmgelegt wurde. So blieb auch der Universität nichts übrig als die Hörsäle und Institute bis zur Beendigung des Streiks zu schließen. An verschiedenen Punkten der Stadt, auf Straßen und öffentlichen Plätzen, wurden Studenten von Bewaffneten wegen wirklichen oder angeblichen Führens oder Verteilens von Flugblättern angehalten. Auch an Verhaftungen und Mißhandlungen fehlte es nicht. Begreiflicherweise bemächtigte sich daher auch der Studentenschaft allmählich eine starke Erregung, und es bedurfte immer erneuter Mahnung zur Besonnenheit und Zurückhaltung. Am 8. März, als die Studentenschaft zu einer Versammlung, in der über die Lage beraten werden sollte, in der Wandelhalle vereinigt war, kam die Meldung, ein starkes Aufgebot Bewaffneter der sogen. Sicherheitswache habe sich am Eingange aufgestellt und wehre jedem den Austritt, der sich nicht auf Flugblätter und Waffen 1215

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durchsuchen lasse. Ich eilte zum Eingang, und auf die Frage nach dem Rechte zu diesem Vorgehen wurde mir von stark Bewaffneten unter steter persönlicher Bedrohung mit der Waffe die Antwort erteilt: aus der Universität sei ein Schuß auf die Sicherheitstruppen gefallen. Da ich selbst seit 3 Stunden in den Universitätsräumen anwesend war, konnte ich die bestimmte Versicherung von der Unrichtigkeit dieser Behauptung abgeben. Es stellte sich nachträglich heraus, daß in der Tat ein Schuß gefallen war, aber nicht aus oder in der Universität, sondern auf der Grimmaischen Straße beim Mauricianum, und nicht von einem Universitätsangehörigen, sondern von einem Mitglied der Sicherheitswache gegen ein anderes. Die beiden waren in Streit geraten gewesen. Aber im Augenblick der Erregung war von Belehrung wenig zu erhoffen. Auch reichte die Einsicht der gegen uns aufgebotenen Wächter der öffentlichen Sicherheit nicht einmal dazu hin, zu erkennen, daß eine Durchsuchung auf Flugblätter sich nicht wohl durch bloßes Abtasten, mit dem sie sich schließlich begnügen wollten, vollziehen ließe. Man wird es deshalb verstehen, daß ich schließlich an den Führer einer neuen, inzwischen angelangten Abteilung der Roten Garde das nachdrückliche Ersuchen stellte, uns wenigstens mit halbidiotischen Sicherheitswächtern zu verschonen. Das Ansuchen stieß nicht etwa auf entrüsteten Protest, sondern auf überraschendes Verständnis. Beschämt wies der Angeredete die Eindringlinge auf die Straße. Immerhin darf ich es als ein besonderes Glück buchen, daß nicht unversehens einer der Halbtollen losdrückte. Die Folgen wären bei der starken Erregung der Studentenschaft unübersehbar gewesen. Das alles hinderte freilich nicht, daß wenige Tage später, als in der Nacht zum 10. März auf dem Augustusplatz und anderwärts heftiges Schießen ertönte, eine Abteilung von etwa 50 Bewaffneten bei dem verdienten greisen Kastellan Meisel eindrang, ihn mit vorgehaltenem Revolver aus dem Bette zerrte und ihn zwang, sie in halb angekleidetem Zustande stundenlang über das Dach und durch alle Räume des weitläufigen Gebäudes zu führen. Man wollte ihn unter fortgesetzter Bedrohung mit dem Äußersten nötigen, die großen hier aufgestapelten Waffenvorräte zu zeigen und besonders den angeblichen unterirdischen Gang nach dem Museum zu erschließen. Für die geistige Verfassung auch dieser würdigen Vertreter der öffentlichen Sicherheit ist besonders bezeichnend die Tatsache, daß einer ihrer Wortführer sich von der Behauptung nicht abbringen ließ, der geheime Gang müsse vorhanden sein, er selbst habe ihn in seiner Jugend gesehen. Alle diese hier nur in Kürze skizzierten Hergänge sind protokollarisch festgelegt. Sie werden dem dereinstigen Geschichtsschreiber der Universität in den Tagen der Revolution ein ausgiebiges und manchmal wohl nicht ohne Heiterkeit zu lesendes Material darbieten. Als Gesamtergebnis meiner nicht ganz unerheblichen Erfahrung auf diesem Gebiete darf ich wohl die Beobachtung feststellen, daß gewisse Herrschaften, wenn man ihnen nur mit der nötigen ruhigen Entschiedenheit entgegentrat, fast ausnahmslos sofort die Angst vor ihrer eigenen Kurasche ankam. – Daß unter solchen Umständen die Vertretung der Universität nach außen, die sonst einen beträchtlichen Teil der Aufgaben des Rektors ausmacht, erheblich zurücktrat, bedarf keiner weiteren Worte. Der Verkehr mit der Außenwelt war bei der Unruhe der Zeiten ohnehin gering, zeitweilig ganz unterbunden, Reisen nach aus1216

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wärts vielfach eine Unmöglichkeit. Die einzige größere Veranstaltung außerhalb Leipzigs, an der der Rektor namens der Universität teilnahm, war die außeramtliche deutsche Rektorenkonferenz, die in Halle vom 2. bis 5. Juni tagte und in diesem Jahre allerdings über besonders bedeutsame Themen zu verhandeln hatte. Außerdem waren nur gelegentliche Reisen nach Berlin zu unternehmen, behufs persönlicher Rücksprache mit den obersten Reichsbehörden über die politische Lage, und nach Dresden zu wichtigen Besprechungen mit dem Kultusministerium, beide zum Teil in Begleitung von Vertretern der Studentenschaft. Einladungen zur Teilnahme an der Eröffnungsfeier der Universität Hamburg und der lettischen Universität Riga konnte der Reiseschwierigkeiten wegen, der letzteren zugleich aus politischen Gründen, nicht Folge gegeben werden. Nach Hamburg sandte der Rektor ein Glückwunschtelegramm, nach Riga schien es mir bei der verworrenen politischen Lage das Richtigere, statt eines Glückwunsches ein Wort der Mahnung zu senden, die neue Gründung möge sich der hohen Aufgabe, die sie sich gesteckt, würdig erweisen. Außerdem wurde namens des Senates ein Protest gegen die unmenschliche Behandlung der Straßburger Gelehrten erlassen, der an die neutralen Universitäten ging und dem sich andere deutsche Hochschulen anschlossen; und eine der letzten Amtshandlungen des scheidenden Rektors war auf dringendes Ersuchen der Berner Gefangenenhilfe ein offener Brief an die immer noch in französischer Gefangenschaft schmachtenden Studenten, in dem sie aufgefordert werden, den Glauben an ihre Zukunft und vor allem an die Teilnahme und die spätere Hilfe der Hochschulen nicht von sich zu werfen. – Ich wende mich nun zur Universität selbst, ihrer Verwaltung und Arbeit und ihrem Lehrkörper. Hier ziemt sich, daß ich an erster Stelle des Besuches gedenke, den die beiden in diesem Jahre neu ins Amt getretenen vorgesetzten Minister der Universität und ihren einzelnen Anstalten abstatteten. Am 19. Mai wurde Herr Minister Buck zunächst in der Frühe in Begleitung des seit dem Beginn des Sommersemesters seines Amtes waltenden Vortragenden Rates Dr. Apelt im Rektorate vom Rektor und den Dekanen begrüßt. Der Rektor hielt die folgende Ansprache: Herr Minister! Im Namen der Universität bringe ich Ihnen bei Ihrem erstmaligen Besuche, den Sie unserer Hochschule als deren Vorgesetzter abstatten, unseren aufrichtigen Willkommgruß entgegen. Die Universität ist stolz darauf, Sie auf eigenem Grund und Boden begrüßen zu können; der Boden, auf dem wir stehen, ist vor bald 500 Jahren der Universität als Eigentum überwiesen. Unsere Universität ist eine der wenigen, vielleicht die einzige auf deutschem Boden, die nicht durch höhere Huld gegründet ward, sondern die sich selbst gegründet hat: Lehrer und Lernende sind vor mehr denn 500 Jahren aus dem tschechischen Prag ausgezogen und haben sich hier niedergelassen. Wir haben deshalb auch alle Zeit Wert darauf gelegt, nicht herzogliche oder fürstliche Universität zu heißen, sondern nannten uns bis in die Gegenwart schlicht und stolz schlechtweg „Universität Leipzig“. Wir glauben uns der Hoffnung hingeben zu dürfen, daß auch die gegenwärtige Regierung wie ihre Vorgängerinnen der Universität dasjenige Wohlwollen und das 1217

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Maß von Anerkennung ihrer alten Freiheiten entgegenbringen werde, dessen sie zu einer gedeihlichen Ausrichtung ihres idealen Berufes nicht entraten kann. Wir unsererseits sprechen dafür gern die Versicherung aus, daß wir bereit und schon am Werke sind, uns allen vom Geiste der Zeit gebotenen Neuerungen in Verfassung und Unterricht zu erschließen, soweit sie nicht die geschichtlich gewordenen Grundlagen der Größe und Eigenart der Universität selbst antasten. Möge auch dieser Besuch unseres neuen Vorgesetzten dazu beitragen, das Band des Vertrauens, das allezeit schon zwischen unserer vorgesetzten Behörde und uns bestanden hat, neu zu knüpfen! worauf der Herr Minister mit der Versicherung antwortete, daß die Förderung des Wohles der Universität eine seiner vornehmsten Sorgen sein solle. Ein Rundgang durch die Räume des Augusteums schloß sich an, darnach besichtigte der Herr Minister eine große Anzahl von Instituten und Seminaren der verschiedensten Wissensgebiete unter Führung der einzelnen Direktoren. Wesentlich in denselben Formen verlief der Besuch, den gestern Herr Minister Seyfert der Universität abstattete. Im Laufe des Frühjahres schied aus dem Amte der langjährige und verdiente oberste Berater des Ministers in Sachen der Universität, Ministerialdirektor Geheimer Rat Dr. Schmaltz. Er hatte vor und besonders während des Krieges seine ganze Kraft bis auf den letzten Rest in den Dienst seines verantwortungsvollen Amtes gestellt. Allmählich war er unter der Last buchstäblich zusammengebrochen. Wir können nur mit Dank und Verehrung solcher aufopfernder Treue gedenken. An seine Stelle trat der bisherige Vortragende Rat Dr. Boehme unter Ernennung zum Geheimen Rate, und an dessen Stelle der Privatdozent Regierungsrat Dr. Apelt in Leipzig. Auch eines weiteren schweren Verlustes außerhalb des Lehrkörpers der Universität mag hier schon gedacht werden. Mit dem 1. Oktober hat der langjährige Regierungsvertreter bei der Universität, Kreishauptmann von Burgsdorff seine Ämter niedergelegt, um in den wohlverdienten Ruhestand überzutreten. Die Universität verliert in ihm einen Vertreter ihrer Interessen bei der Staatsregierung, dem sie um seiner von hoher Einsicht und starkem persönlichem Interesse am Wohle der Universität getragenen Geschäftsführung willen dauernden Dank schuldet. Die beiden letztgenannten Herren wurden zu Ehrendoktoren ernannt. Auch dieses Jahr hat der Tod wieder eine reiche Ernte unter uns gehalten. Am 4. Januar starb der außerordentliche Professor Hermann Howard. Er war der Vertreter des landwirtschaftlichen Rechnungswesens, eines zwar nicht umfangreichen, aber doch wichtigen Zweiges der Wirtschaftslehre des Landbaues. Howard hat dieses Gebiet erfolgreich erweitert und vertieft, und wenn auch seine Ansichten über die Schlüsse vielfach nicht geteilt wurden, die er aus den Ergebnissen seiner Art der Buchführung für die Bedeutung der einzelnen Wirtschaftszweige zog, so ist ihm doch ein bleibendes Verdienst dadurch gesichert, daß er die Landwirte auf den Wert eines geordneten Rechnungswesens unausgesetzt und nachdrücklich hingewiesen hat. Am 29. Juni verloren wir den ordentlichen Professor der vergleichenden Sprachwissenschaft Karl Brugmann, welcher seit seinem 28. Lebensjahre – mit nur drei1218

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jähriger Unterbrechung in Freiburg – unserer Universität als Lehrer angehört hat. Er hat sich einen dauernden Namen in der Wissenschaft gemacht durch die Schaffung der ersten „Griechischen Grammatik“, welche alle Teile, auch die Syntax, vom sprachvergleichenden Standpunkte aus behandelte, und durch die vielbändige „Vergleichende Grammatik der indogermanischen Sprachen“, welche zugleich eine Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse und einen völligen Neuaufbau der vergleichenden Sprachwissenschaft bedeutete. Das Epochemachende an beiden Werken war, daß sie von gänzlich neuen Grundanschauungen über die Bedingungen des sprachlichen Lebens ausgingen und vor allem dem Begriff des „Lautgesetzes“ einen neuen Inhalt gaben. Durch strenge Sachlichkeit und schlichte Gradheit verbunden mit edler Herzensgüte und stiller Bescheidenheit hat er sich hohes Ansehen bei den Kollegen erworben. Am 10. Juli starb der ordentliche Honorarprofessor Hugo Riemann, wenige Tage vor seinem 70. Geburtstage. Ein Gelehrter von starker Originalität und Geistesschärfe, dessen ergebnisreiche Forschungen sich in gleicher Weise über das gesamte Gebiet der Musikgeschichte vom Altertum bis zur Gegenwart wie über Ästhetik und praktische Musikpflege erstreckten und vielfach von grund aus umgestaltend wirkten. Er stellte die Theorie des musikalischen Vortrags auf eine neue wissenschaftliche Grundlage und erwarb sich namentlich durch Begründung einer neuen Lehre von der Harmonie internationalen Ruf. Am 23. September hatten wir den Verlust von Heinrich Bruns zu beklagen. Bruns wirkte, nachdem er erst Observator in Pulkowa und sodann Extraordinarius in Berlin gewesen war, seit 1882 als ordentlicher Professor der Astronomie und Direktor der Sternwarte unter uns. Als theoretischer Astronom in allererster Linie stehend, war Bruns ebenso sehr mathematischer Forscher, wie denn auch seine wissenschaftlichen Arbeiten über das Gebiet der Astronomie hinaus weit in die reine Mathematik hineinreichen. Die Gesamtuniversität dankt ihm als Rektor wie als Senator und Mitglied wichtiger Arbeitskommissionen vielfache und wertvolle Dienste. Auch sonst hat der Lehrkörper mancherlei Veränderungen erfahren. Ist doch eine Universität, um lebensfähig zu sein, auf ein stetes Kommen und Gehen geradezu angewiesen. Durch Versetzung in den Ruhestand wie durch Berufung nach auswärts sind eine Anzahl Kollegen ausgeschieden. Für sie ist Ersatz durch Neuberufungen, Beförderungen und Neueintritt junger Kräfte in den Lehrkörper geschaffen worden. In den Ruhestand traten über die Herren: Ferdinand Schmid, Ordinarius der Statistik und Verwaltungslehre; der ordentliche Honorarprofessor Arthur von Oettingen, Lehrer der Physik und Meteorologie; der etatmäßige außerordentliche Professor Bruno Lindner, Lehrer der arischen Sprachen und Religionsgeschichte; Robert Hermann Tillmanns, ordentlicher Honorarprofessor der Chirurgie; endlich August Schmarsow, Ordinarius der Kunstgeschichte. Ausgeschieden ist der außerordentliche Professor Reinhold Reinisch (für Mineralogie und Petrographie) als sächsischer Landesgeologe und Observator der Erdbebenwarte in Leipzig. Nach auswärts sind berufen der außerordentliche Professor Eduard Biermann als Ordinarius der Nationalökonomie nach Greifswald; der Privatdozent Professor 1219

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Gotthelf Bergsträsser als außerordentlicher Professor der semitischen Sprachen nach Berlin; der außerordentliche Professor Adolf Sieverts als außerordentlicher Professor der Chemie nach Greifswald; der außerordentliche Professor Richard Seefelder als Ordinarius der Augenheilkunde nach Innsbruck und der Privatdozent Georg Jahn als außerordentlicher Professor der Nationalökonomie an die Technische Hochschule in Braunschweig. Von auswärts berufen sind: der ordentliche Professor Hans Achelis-Bonn als Ordinarius für Kirchengeschichte und christliche Archäologie; der ordentliche Professor der neueren Geschichte Karl Stählin-Straßburg als ordentlicher Honorarprofessor der osteuropäischen Geschichte; der Oberlehrer am Realgymnasium Döbeln Professor Johannes Hertel als Ordinarius der indischen Philologie (Sanskrit); der Privatdozent Adolf Zade-Jena als etatmäßiger außerordentlicher Professor der Pflanzenbaulehre; der ordentliche Professor Johannes Andreas Jolles-Gent als etatmäßiger außerordentlicher Professor für flämische und nordniederländische Sprache und Literatur. Befördert wurden: die ordentlichen Honorarprofessoren Karl Sudhoff zum Ordinarius der Geschichte der Medizin; Max Siegfried zum Ordinarius der physiologischen Chemie; Johann Heinrich Rille zum Ordinarius der Haut- und Geschlechtskrankheiten und der außerordentliche Professor Martin Thiemich zum Ordinarius der Kinderheilkunde. Ferner zu planmäßigen außerordentlichen Professoren: die außeretatmäßigen außerordentlichen Professoren Friedrich Rolly für physikalische und diätetische Heilmethoden und Georg Witkowski für deutsche Sprache und Literatur. Außerdem zu nichtplanmäßigen außerordentlichen Professoren in der medizinischen Fakultät: die bisherigen Privatdozenten Herbert Aßmann, Josef Bürgers, Arthur Knick und Bernhard Schweitzer; in der philosophischen Fakultät die bisherigen Privatdozenten Erich Krenkel und Friedrich Wilhelm Lipsius. Die venia legendi wurde erteilt: von der theologischen Fakultät den bisherigen ordentlichen Professoren an der Universität Straßburg Wilhelm Nowack und Gottfried Naumann; von der medizinischen Fakultät Walter Sulze für Physiologie, Hans Oeller für innere Medizin; von der philosophischen Fakultät Friedrich Levi für Mathematik, Georg Jahn für Nationalökonomie, Alfred Willy Möbius für Physik, Hermann Voß für Kunstgeschichte. Der belgische Sprachlehrer René Ledoux wurde als Lektor der französischen Sprache angestellt; der Lehrer für Obst- und Gartenbau Hans Grabbe wurde zum Lektor für Obst- und Gartenbau ernannt. In der Universitätskanzlei wurde Hilfsarbeiter Willy Schwerdtner als Expedient angestellt, August Iserhorst als Beamtenanwärter angenommen. Zum 3. Pedell wurde der bisherige Aufwärter Paul Koblischeck, zum Hilfspedell und Gerichtsdiener der bisherige Wachtmeister Emil Arthur Martin ernannt. Promotionen sind vollzogen worden: Von der theologischen Fakultät ehrenhalber 3; von der Juristenfakultät ehrenhalber 3, sonstige Promotionen 98; von der medizinischen Fakultät Ehrenpromotionen zum Doktor der Tierheilkunde 2, sonstige Promotionen zum Doktor der Medizin 133, der Tierheilkunde 46; von der philosophischen Fakultät Ehrenpromotionen 2, sonstige 116. 1220

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Preisaufgaben wurden im verflossenen Jahre nicht gestellt, doch werden sie nun wieder aufgenommen werden. Stiftungen und Schenkungen wurden der Universität in größerer Anzahl zuteil. Die wichtigeren unter ihnen sind: Für die Hülfs- und Töchterpensionskasse schenkte wiederum 10 000 M. unser früherer Kollege Ludwig Beer in Berlin; 15 000 M. hat die am 8. Februar 1919 verstorbene Fabrikantenwitwe Rosalie Thekla Wagner geb. Nitzsche als „Thekla Wagner-Stiftung“ für Studierende der Rechte oder der Naturwissenschaften hiesiger Universität hinterlassen; 3000 M. schenkte der Rauchwarenhändler Eugen Platky der Akademischen Auskunftsstelle zu statistischen Arbeiten und Erhebungen auf dem Gebiete der Berufskunde; 5000 M. haben Schüler und Freunde des kurz vor dem 70. Geburtstage verstorbenen Professor Dr. Riemann zu einer „Hugo Riemannstiftung“ gesammelt, deren Zinsen für einen Musikwissenschaft im Hauptfach Studierenden hiesiger Universität bestimmt sind; rund 23 000 M. hat Frl. Marie Luise Suppe, gestorben am 30. April 1918 in Leipzig, als „Suppe-Stiftung“ mit der Bestimmung hinterlassen, die Zinsen als Stipendien an bedürftige Studierende der Theologie zu verleihen; je 1000 M. spendeten unsere Kollegen Prüfer und Biermann und Geh. Kommerzienrat Biagosch für das Studentenheim in der Dresdner Straße, der letztere außerdem für den Bund der Frontsoldaten, endlich Konsul Kürsten für in den Grenzschutz eingetretene Studierende. Der Königl. Norwegische Vizekonsul C. Lassen in Hamburg schenkte je 100 Exemplare dreier Werke von Thomas Mann, Ernst Bertram und Martin Havenstein zur Ausgabe an die aus dem Kriege zurückgekehrte akademische Jugend; dem kolonialgeographischen Seminar sind von Prof. Hans Meyer Werke im Werte von 1000 M. überwiesen worden; dem semitistischen von den Erben des Dr. Ernst Klauber 700 M.; dem archäologischen durch Prof. Prüfer eine wertvolle Sammlung kleiner Antiken aus dem Nachlaß des Prof. Robert Lange; dem Institut für angewandte Chemie von den chemischen Werken „Lothringen“, den Maschinenfabriken Gebr. Wetzel und Schumann & Cie. hier wertvolle Hilfsmittel für Lehre und Forschung. Das bedeutsamste Ereignis im Eigenleben der Universität im verflossenen Jahre war die durch den Abbruch der Kriegshandlungen veranlaßte Rückkehr unserer kämpfenden Kommilitonen. Schon im Laufe des November und Dezember, noch mehr im Januar füllten sich die Hörsäle zusehends. Es war eine Freude, zu sehen, wie die Kommilitonen fast ausnahmslos mit dem höchsten Ernste, ja mit wahrem Heißhunger zu den langentbehrten Studien zurückkehrten. Da mit Rücksicht auf die Kohlenknappheit auch in diesem Jahre wieder das Wintersemester schon am 1. Oktober begonnen hatte und demgemäß mit dem Ende des Januar seinen Abschluß erreichte, wurde den Zurückgekehrten, soweit sie noch in die Vorlesungen des Wintersemesters eintreten wollten, in eigenen Stunden der schon vorgetragene Stoff nachgeholt. Ebenso wurde in den Monaten Februar, März und April ein eigenes Zwischensemester für die Kriegsteilnehmer veranstaltet. Eine für den Schluß des Wintersemesters ins Auge gefaßte Begrüßungsfeier, mit der zugleich die Ehrung unserer fürs Vaterland Gefallenen verbunden werden sollte, mußte um der Unsicherheit der politischen Verhältnisse willen bis zum Zwischensemester, und da die Lage 1221

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sich auch während des Zwischensemesters nicht besserte, bis zum Beginn des Sommersemesters verschoben werden. Sie fand tatsächlich am 1. Juni im Neuen Theater statt. Den musikalischen Teil hatte das Städtische Orchester unter Leitung von Arthur Nikisch freundlich übernommen, die Ansprache zum Gedächtnis der über 1200 Gefallenen hielt der Rektor, die Rede zur Begrüßung der Heimgekehrten Professor Krueger. Im Namen der heimgekehrten Kommilitonen sprach Studiosus Rosenberger Worte, die zeigten, daß in der akademischen Jugend der alte Geist von 1813 und 1914 auch heute noch lebendig ist. Zum Schluß überreichte der Rektor die inzwischen fertiggestellte, schon im vorigen Bericht erwähnte Schrift: „Leipzig als Stätte der Bildung“ als Ehrengabe an die Heimgekehrten. Inzwischen hatte die feindliche Diplomatie nach monatelangem Zögern die Antwort auf unser Friedensangebot gefunden, in der Gestalt der uns auferlegten Friedensbedingungen. Ganz Deutschland, mit ihm auch unsere Universität, war starr vor Entsetzen über ihre wahrhaft unmenschliche Härte. Auch die akademische Jugend fühlte das Bedürfnis, zu dem, was alle bewegte, Stellung zu nehmen, und trat an mich mit der Bitte heran, in einer allgemeinen Studentenversammlung am 13. Mai über die Friedensfrage zu sprechen. Ich entschloß mich schweren Herzens, der Bitte Folge zu geben. Was ich zu sagen hatte, konnte nichts anderes sein, als eine furchtbare Anklage, gegen die, durch deren, insbesondere gegen den, durch dessen Schuld wir uns so schnöde verraten und betrogen sahen. Sehe ich heute auf das damals Gesagte zurück, so finde ich kein Wort zuviel oder zu scharf, auch nicht Wilson gegenüber, so beklagenswert vom rein menschlichen Standpunkt aus sein Los sein mag und so schnell, über alles Erwarten rasch, manche jener Worte fast prophetischen Charakter gewonnen haben. Sechs Wochen später war kein Zweifel mehr, daß die Regierung unter dem Druck der ihren Sturz betreibenden Parteien genötigt sein werde, den Vertrag zu unterzeichnen. Der Tag der Schmach mußte zugleich ein Tag der Trauer für alle Freunde des Vaterlandes sein. So unternahm ich es auf eigene Hand, die Universität auf den für die Unterzeichnung in Aussicht genommenen Tag, den 26. Juni, zu einer großen einmütigen Trauerkundgebung abermals in unsere Wandelhalle einzuladen. Unsere Räume werden schwerlich je eine größere Zahl von Besuchern gesehen haben. Ich würde es begrüßen, wenn dieser Tag als nationaler Trauertag sich auch für die Zukunft bei unseren Universitäten und Schulen und überhaupt im öffentlichen Leben einbürgerte. Denn Feste zu feiern, was immer ihr Inhalt sein möge, haben wir für die nächste Zukunft keinerlei Anlaß. Ich würde es überhaupt begrüßen, wenn einer Anregung in dieser Rede folgend, stärker als es bisher geschah, alle unsere größeren Feste und Feiern, die freudigsten am meisten, unter den Eindruck unseres großen nationalen Leides gestellt würden1. Was ich bisher von Festlichkeiten zu sehen Gelegenheit hatte, ließ zu meinem Schmerze wenig von jener Trauer spüren, die uns doch eigentlich nie verlassen sollte, – nicht mehr als unser öffentliches Leben bei Tag und bei Nacht, und das will sagen: nichts. 1

Die genannten drei Reden sind gedruckt unter dem Titel: Leipziger Akademische Reden zum Kriegsende. Leipzig, Alfr. Lorentz.

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Das Schlagwort der Zeit ist Umgestaltung. So hallt es auch in allen Kreisen der Universität und weit über sie hinaus wider von der Universitätsreform. Demgemäß hat ein ganz erheblicher Teil der Arbeit des verflossenen Rektorjahres der Frage der Reform gegolten. Was wir in Kommissionen, im Senat, im Plenum, und abermals in Kommissionen und Senat an Zeit und Kraft auf die Frage verwandt haben, war wirklich einer guten Sache würdig. Möge das Ergebnis, dem wir nun außerordentlich nahe gerückt sind, den Mühen entsprechen und möge es gelingen, einer Gestalt der Universitätsverfassung zum Leben zu helfen, in der die beiden Grundsäulen unangetastet erhalten bleiben, auf denen die Größe der Universitäten bisher ruhte: die Freiheit der Wissenschaft und die Auswahl der Besten! Die endgültige Denkschrift des Senates, nach welcher das Angesicht der zukünftigen Universität in vielen Stücken dem der alten nicht mehr gleichen wird, liegt bereits dem Ministerium zur Entscheidung vor. Nachdem nunmehr der Krieg sein Ende gefunden hat, ist es billig, auch der mancherlei Leistungen der Universität und ihrer Glieder zusammenfassend zu gedenken, die man als Kriegsarbeit und Kriegsfürsorge im weitesten Sinn bezeichnen kann. Die Universität hat ihre Kliniken und Institute in umfassendem Maße zur Verfügung gestellt, ihre Lehrer haben durch Forschung wie durch öffentliche Vorträge zu Hause und an der Front nach Kräften vaterländischen Zwecken zu dienen gesucht. Kurse, Repetitorien, Übungen aller Art sind für Kriegsteilnehmer veranstaltet worden. Im Vorfrühling 1919 fand ein eigenes Zwischensemester statt, 1920 soll ein zweites folgen. Dreien aus Straßburg vertriebenen Kollegen wurde hier bereitwillig eine neue Wirkungsstätte eröffnet. Für die äußeren Nöte sorgte und sorgt nach besten Vermögen der akademische Hilfsbund und eine eigens von uns gegründete Darlehnskasse, um welche sich besonders Direktor Bolte verdient gemacht hat. Den Gefangenen wurde durch die Zentralstelle in Bern, an welcher unser Kollege Woltereck wirkte, und von hier aus durch die unter der Leitung unseres Kollegen Köster stehende Büchervermittlungsstelle jede nur mögliche Hilfe gewährt. Kollege Woltereck wird seinen Bericht, da die Arbeit noch fortgeht, im nächsten Jahre liefern. Herrn Kösters Bericht lautet: Einer Anregung der Deutschen Gesandtschaft in Bern folgend habe ich im September 1915 in Leipzig eine „Sammelstelle von Büchern für Gefangenenlager in Frankreich“ eingerichtet. Sie hatte die Aufgabe, zur Ergänzung der ausgebreiteten, über die Schweiz geleiteten Bücherversorgung hauptsächlich die von einzelnen Kriegsgefangenen geäußerten Wünsche nach wissenschaftlicher Literatur zu befriedigen. Doch wurden manche Lagerbibliotheken auch mit Unterhaltungsstoff und Musikalien versehen und die vielerorts in Frankreich eingerichteten Kurse mit Lehrbüchern, Grammatiken, Wörterbüchern ausgestattet. Höchst erfreulich war das Zusammenarbeiten mit den Schweizerischen Hochschulkomitees in Basel, Bern, Freiburg und Zürich, denen die kriegsgefangenen Deutschen viel Dank schulden. Die Sammelstelle hat vier Jahre lang ganz in der Stille ihre Tätigkeit entfaltetet. Ihr Geschäftslokal war in Leipzig in der Ritterstraße 8/10, wo die Universität einen Raum zur Verfügung gestellt hatte. Die laufenden Arbeiten wurden von Frau 1223

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Dr. Marshall und Frl. Schinkel geleistet. Herr Professor Kötzschke hatte den Verkehr der Sammelstelle mit den Buchhändlern, hauptsächlich mit den Firmen Liebisch und Schlemminger, übernommen. Und zur Prüfung der eingegangenen Bücherwünsche, vor allem zur Entscheidung, welche Werke bei unklar geäußerten Wünschen gesandt werden sollten, leisteten die Herren Professoren und Dozenten Bergt, Brahn, Doren, Hübschmann, Kisch, Kötzschke, Köster, Salomon, Sieverts, Thieme und Wackernagel bereitwillig ihre Hilfe. So konnten oft die allerindividuellsten Ansprüche der Kriegsgefangenen erfüllt werden, wenn nicht das Begehren sich etwa gar zu hoch verstieg. Denn selbstverständlich mußte sparsam gewirtschaftet werden. Da alle Büchersendungen für die Kriegsgefangenen unentgeltlich waren, konnte für den Einzelnen nur ein Aufwand von höchstens 20 Mark gemacht werden. Ausnahmen kamen in solchen Fällen vor, wo für eine Lagerbibliothek Studien- und Nachschlagewerke verlangt wurden, die vielen Benutzern zugute kommen konnten; in solchen Fällen wurde selbst für das einzelne Werk bisweilen die Summe von 100 Mark überschritten. Im Ganzen hat die Sammelstelle etwa 60 Kisten zu je 300 Bänden und 2400 Pakete zu je 10 Bänden angeschafft und versandt. Im ersten Halbjahr wurden von Verlegern und einzelnen Gönnern, auch von den Universitäten Würzburg und Kiel Bücher für den gemeinnützigen Zweck gespendet; in den späteren 7 Halbjahren war das Unternehmen fast ganz auf eigene Ankäufe gestellt. Es ist mir gelungen, die Sammelstelle andauernd gut zu finanzieren. Wiederholte Reisen waren nötig, um nach und nach die erforderlichen 85 000 Mark zusammenzubringen, über die die genaueste Abrechnung mit allen Unterlagen für die Zukunft in der Obhut der Universität Leipzig bleiben soll. Da das Ganze kein sächsisches, sondern ein deutsches Unternehmen sein sollte, habe ich absichtlich sächsische Hilfsquellen fast garnicht in Anspruch genommen; es sind mir nur vom sächsischen Kultusministerium 3000 Mark, vom sächsischen Kriegsministerium 500 Mark, von der Universität Leipzig und einer größeren Anzahl Leipziger Professoren insgesamt 1000 Mark zur Verfügung gestellt worden. Die größten Beisteuern haben bewilligt: das Rote Kreuz 24 000 Mark in 5 Spenden, das Preußische Kriegsministerium 2000 Mark, die General-Militärkasse in Berlin 10 000 Mark, die Hindenburgspende 10 000 Mark, die Berliner Gefangenenfürsorge, der Deutsche Studentendienst und der Berliner Ausschuß zur Versendung von Liebesgaben insgesamt 23 000 Mark in fünf Spenden. Von den deutschen Hochschulen, so weit sie einem Aufruf des Leiters der Sammelstelle Gehör gaben, waren am freigebigsten die Universitäten Kiel, Würzburg und Bonn. Vom Sommer 1917 an wurde durch einige Monate hindurch der Versuch gemacht, die Familien der gesuchstellenden Kriegsgefangenen zu den Kosten der Büchersendungen heranzuziehen, in der Annahme, daß dadurch den Empfängern wie ihren Angehörigen die Gaben innerlich noch wertvoller würden. Aber dies Verfahren, das in 196 Fällen durchgeführt wurde, war so mühevoll und erntete so wenig Dank, daß es wieder aufgegeben wurde. So war die Sammelstelle wieder ganz auf die eigenen Sammlungen und schließlich, als mit dem Jahre 1919 alle Beisteuern aufhörten, auf ihre Ersparnisse angewiesen. Sie hat aber doch bis zur Rückkehr der Gefangenen ihre Arbeiten fortsetzen können. Mit dem Eintritt 1224

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des Winters 1919/20 mußte sie aufgelöst werden. Da noch ein Geldbetrag übrig blieb, war mit der Deutschen Gesandtschaft und der Deutschen Gefangenenfürsorge in Bern verabredet worden, daß diese Summe dem Rektor der Universität Leipzig überwiesen werden sollte, mit der Bitte, sie der Fürsorge kriegsbeschädigter oder aus der Gefangenschaft heimkehrender Studenten zuzuwenden. Im weiteren Sinne gehört hierher auch die vermehrte Teilnahme an der Volkshochschulbewegung und die Erneuerung des Turn- und Sportwesens. Während schon früher vielfach die Lehrer der Universität sich in den Dienst der Volkshochschulkurse gestellt hatten, hat nunmehr die Universität sich nicht allein von Amts wegen der schon bestehenden Kurse angenommen, sondern auch von sich aus den Versuch gemacht, gemeinsam mit den Vertretern der Arbeiterschaft aus der hier herrschenden Richtung, die auf Förderung der Bildung unter den letzteren gerichteten Bestrebungen in die Hand zu nehmen. Der Versuch war von bestem Erfolge begleitet, hat aber zunächst keine Fortsetzung gefunden. Die Schuld liegt nicht auf der Seite der Universität, und ob unser Anerbieten später Gegenliebe finden wird, kann nur die Zukunft lehren. Aber die neue Zeit heischt zugleich auch neue Wege auf dem Gebiete der körperlichen Ertüchtigung der akademischen Jugend. Mit dem Aufhören des militärischen Dienstjahres ist die körperliche Ausbildung der studierenden Jugend vor eine bedenkliche Krisis gestellt, wenn nicht Mittel und Wege gefunden werden, in Turnen und Sport einen Ersatz zu schaffen. Der Akademische Senat hat deshalb schon vor Monaten weitgehende Anträge in dieser Hinsicht an das Ministerium gerichtet. Er gibt der Zuversicht Ausdruck, daß man an leitender Stelle die Tragweite dieser Angelegenheit für die Zukunft des Vaterlandes würdigen werde. Nicht minder gehört hierher die soziale Fürsorge für die akademische Jugend. Schon am Schlusse meines vorigen Berichtes konnte ich darauf hinweisen, daß die neue Zeit auch der Universität neue Aufgaben stelle, unter denen die soziale Fürsorge für die akademische Jugend sich schon jetzt deutlich heraushebe. Das war vor dem endgültigen Zusammenbruch gesprochen. Heute sind die Worte doppelt und dreifach wahr. Die vielfache, oft schreiende Notlage unserer Studenten, die ins Ungemessene wachsende Teuerung auf allen Gebieten, die große Zahl der Heimgekehrten, das geringe Angebot an brauchbaren Wohnungen – alle diese und manche anderen Umstände haben zusammengewirkt, um die beiden schon im vorigen Jahre in Angriff genommenen Aufgaben: die Förderung des studentischen Ernährungs- und die des Wohnungswesens in diesem Jahre noch viel dringender werden zu lassen. Mit der Rückkehr der draußen Kämpfenden und der fortschreitenden Verteuerung der Lebensmittel wurde die Lage unseres altbewährten Konviktes immer schwieriger. Auch der im vorigen Jahre eingerichtete freie studentische Mittagstisch hatte unter den veränderten Verhältnissen stark zu leiden. Die Zahl der Teilnehmer wuchs allmählich bis gegen 600 und 700, auch der inzwischen angegliederte Abendtisch war bis zu rund 300 Teilnehmern angeschwollen. Die von Anfang an in Aussicht genommene Beihilfe wuchs dadurch zu unerschwinglicher Höhe an. Es kam dazu, daß der Unternehmer in der Beschaffung der Lebensmittel bei der stei1225

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genden Knappheit immer mehr ins Gedränge kam, so daß die Klagen über Nachlassen der Qualität bei starrem Festhalten an den alten Preisen oder Steigerung derselben stetig überhandnahmen. Im Kreise der überwachenden Damen setzte sich immer mehr die Überzeugung fest, daß hier ein Mißverhältnis obwalte, das nur zu beseitigen sei, wenn es gelinge, die Beköstigung in die eigene Hand zu nehmen. Frau Professor Dora Förster ist die rettende Tat gelungen. Ihr und ihrem Stabe von Helfern und Helferinnen dankt der studentische Mittags- und Abendtisch, daß es trotz aller Schwierigkeiten und Hemmungen immer wieder gelang, den Teilnehmern ein reichliches und gutes Mahl zu liefern. Welch eine Unsumme täglicher Mühe, Sorgfalt und Findigkeit dazu nötig war, und wie opferbereit und freudig die Leiterin sie immer wieder aufbrachte, das können nur die unmittelbar Eingeweihten ermessen. Das zweite Schmerzenskind schon meines vorigen Amtsjahres war die Wohnungsfrage. Daß die Lage sich auch hier nach derselben Richtung verschärft hat wie bei der Ernährung, ist schon erwähnt. Das im letzten Bericht beschriebene Heim für Kriegsbeschädigte an der Dresdner Straße hat nun sein erstes Jahr hinter sich. Es hat die ihm entgegengebrachten Erwartungen voll erfüllt und sich als eine außerordentlich segensreiche Einrichtung erwiesen. Es krankt nur an einem Fehler: die leidige allgemeine Teuerung hat alle Berechnungen schnöde zu schanden gemacht. Das für eine Reihe von Jahren aufgesammelte Betriebskapital schmilzt mit unheimlicher Raschheit zusammen. Was dann werden soll, ist eine bange Frage. Im vorigen Jahre haben sich zwei Teilnehmer an dieser Versammlung durch meine Mitteilungen über das Heim zu einem namhaften Beitrag für dasselbe veranlaßt gesehen: sollte sich jemand unter den heute Anwesenden durch dessen gegenwärtige Lage bewogen sehen, dem Heim tätiges Interesse entgegenzubringen, so will ich selbst mich gern zum Vermittler der Großmut in jeglicher Höhe erbieten. Indes war ein kleines einzelnes Heim schon im vorigen Jahre als ein bloßer Anfang bezeichnet worden. Wieviel mehr muß das heute gelten! Die Vereinigung für studentisches Wohnungswesen und der vom Senat eingesetzte gemischte Ausschuß haben deshalb seit dem vorigen Herbst dauernd der Frage ihre Aufmerksamkeit zugewandt. So wenig die Studentenschaft im ganzen sich noch ihrer Pflicht bewußt ist, auch hier selbsttätig mitzuwirken, eine so rühmliche Ausnahme machten Studiosus Schenderlein und Frl. Lauterbach, die einen guten Teil ihrer Zeit auf die selbstlose Mitarbeit an der Wohnungssache verwandten. Mehrere der Verwirklichung zum Teil schon recht nahe gerückte Pläne stießen schließlich doch auf Hindernisse. Da trat eine neue Erscheinung in das Gesichtsfeld. Das zum Eigentum der Universität gehörige, bisher der Zivilliste mietweise überlassene frühere Königliche Palastgebäude an der Goethestraße konnte während des Generalstreiks, solange die Seminare und Arbeitsräume der Universität ungeheizt standen, den Studierenden vorübergehend als Arbeitsraum zugänglich gemacht werden. Dadurch wurde die Aufmerksamkeit auf dieses wertvolle und durch die Nähe der Universität besonders begehrenswerte Gebäude gelenkt. Es entstand der Wunsch, die großen Repräsentationsräume für gesellige und Versammlungszwecke, die Wohnräume für Wohnzwecke der Studentenschaft verfügbar zu machen, und somit das ganze Gebäude in den Dienst der Studentenschaft zu stellen. Auch der Senat nahm sich dieses Gedankens 1226

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warm an und vertrat mit Nachdruck den Gesichtspunkt, daß eine derartige Verwendung sicher auch mehr im Sinne des früheren hohen Bewohners sein würde als eine Verwendung für reine Nützlichkeitszwecke. Die Staatsregierung glaubte indes, auf den sehr hohen Mietertrag bei der jetzigen Finanzlage nicht ganz verzichten zu dürfen, schloß deshalb ein Abkommen mit einer hiesigen Firma, wonach das Gebäude zwar während der Messe als sog. Meßpalast dienen, aber in den meßfreien Zeiten der Universität für die Zwecke der Studentenschaft zur Verfügung stehen soll. Die militärische Inanspruchnahme des Gebäudes hat bis vor kurzem seine Verwendung zu Wohnzwecken gehindert. Doch sind wir mit der Vorbereitung rüstig tätig gewesen. Daß es sich bei alledem nur um einen Notbehelf für die nächste Zeit handeln kann, ist allen Beteiligten klar; über kurz oder lang muß etwas Gründliches geschehen. Es ist üblich, in diesen Mitteilungen auch ein Wort über das Verhalten der Studenten zu sagen. Ob das heute noch zeitgemäß ist, mag dahinstehen; vielleicht sieht mancher die Zeit kommen, wo man eher ein Wort der Studenten über das Verhalten der Professoren erwartet. Wie dem sei, jedenfalls kann aufs neue festgestellt werden, daß über die höhere Lebensreife und den Eifer der Studenten in ihrer überwiegenden Mehrheit, sich tüchtige Kenntnisse anzueignen, nur eine Stimme des Lobes sein darf. Es mögen ja die Beweggründe des vermehrten Fleißes verschiedener Art sein, und manchem mag die rasche Erledigung des Examens mehr am Herzen liegen, denn die Wissenschaft als solche. Aber einmal ist das letztere nach vier verlornen Jahren durchaus verständlich, und sodann – es ist immer ein erfreuliches Zeichen ernster Lebensauffassung. Wenn auf der anderen Seite schon im vorigen Jahre darüber Klage zu führen war, daß des öfteren eine gewisse Erweichung der sittlichen Begriffe, wie überall so auch in unseren Reihen, zu verspüren sei, so kann man sich nicht wundern, daß auch im verflossenen Jahre das Universitätsgericht mehr als einmal, und zum Teil in recht unerfreulichen Fällen, zusammenzutreten hatte. Leider tritt auch die Unsicherheit des Eigentums in der Universität und ihren Instituten zum Teil in bedenklichem Maße in die Erscheinung. Lange gaben wir uns der Hoffnung hin, daß es, wie sicher vielfach der Fall ist, ausschließlich um von draußen Kommende handele. Wir sind leider dieses Glaubens nicht mehr gleich sicher. Endlich muß ich die Kommilitonen bitten, mir auch in anderer Richtung ein offenes Wort zu gestatten. Ich habe schon bei der Trauerfeier im Stadttheater Gelegenheit genommen, anzudeuten, daß doch nicht überall in der Studentenschaft und in ihrem Verhalten vor der Öffentlichkeit das volle Bewußtsein von dem furchtbaren Ernst der Zeit und von dem, was wir – hier in Leipzig mehr als anderswo – der Rücksicht auf die übrige Bevölkerung schuldig seien, zu Tage trete. Die Kommilitonen wissen, daß ich bestimmte Fälle im Auge hatte. Sie haben sich inzwischen vermehrt. Die brausende Jugend bei den einen, das wiedergewonnene Leben bei den anderen – den heil aus dem Felde Zurückgekehrten – erklärt vieles. Aber wir sollen nicht vergessen, daß wir in anderen Zeiten stehen als ehedem und nicht in einem glücklichen und innerlich geeinten, sondern in einem am Boden liegenden und von Parteizwist zerfleischten Vaterlande, und daß tausend Augen solcher allezeit 1227

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auf uns gerichtet sind, die uns argwöhnisch zurufen: Das wollen die Gebildeten, die künftigen Führer der Nation sein! Ich habe in den letzten zwei Jahren, während des Krieges und zuletzt nach seiner Beendigung, keine Gelegenheit, die sich mir bot, versäumt, um vor allem die großen studentischen Verbände darauf hinzuweisen, daß das studentische Leben im neuen Deutschland nicht mehr genau in derselben Richtung werde gehen können, wie zuvor, und besonders auch da, wo etwa bisher der Bier- und Paukkomment die Hauptorientierung darbot, höhere Ziele und geistigerer Inhalt in den Mittelpunkt treten müssen. Ich glaube das sagen zu dürfen als einer, der selbst einmal – und ich meine mit Ehren – das schwarz-rot-goldene Band getragen hat. Die Anzeichen mehren sich, daß diese Mahnung immer noch am Platze ist. Möchte die Studentenschaft nicht vergessen, in welch idealem Sinne vor 100 Jahren die akademische Jugend an den Aufbau des Vaterlandes herantrat, möchte sie auch nicht übersehen, wie heute die furchtbaren Gegensätze, welche die Nation zerwühlen, nicht Abschließung einzelner Stände von anderen, sondern Annäherung und soziales Verständnis heischen! Lassen Sie mich, Kommilitonen, am Ende eines Schicksalsjahres des Vaterlandes und der Universität mit der Mahnung aus dem Amte scheiden, daß von dem richtigen Verständnis der nachwachsenden akademischen Jugend für die Zeichen der Zeit zu einem großen Teile die Zukunft des Vaterlandes abhängen wird. Im Augenblick steht die Universität und die gesamte Intelligenz nicht allzuhoch im Kurse. Der seit einem Jahre bestehende Wettbewerb zwischen Geist und Arm, zwischen Hirn und Muskel ist zur Zeit zugunsten des letzteren entschieden. Wer zeitig sein sicheres Brot haben will, soll nicht studieren oder sich geistig betätigen – er arbeitet besser mit Hacke, Beil oder Spaten. Aber es wird – soll nicht unsere ganze Kulturwelt in die Brüche gehen – die Zeit kommen, wo auch die Machthaber wieder viel mehr als jetzt einsehen müssen, daß ohne die Intelligenz kein Staatswesen bestehen kann, und daß die geistigen Werte, nicht Hand, Arm und rohe Gewalt schließlich den Ausschlag geben werden. Bis dahin ist den Geist zu pflegen ein Werk des selbstverleugnenden Idealismus. Kommt aber die Zeit, so soll sie uns vorbereitet finden. Das aber kann sie nur, wenn unsere akademische Jugend sich nicht mit Tand und scheinbaren Ehrenhändeln abgibt, sondern wenn sie nach den höchsten geistigen Werten und Idealen trachtet. Und nun komme ich zu der letzten Amtshandlung des scheidenden Rektors. Ich fordere Sie, Herrn Dr. Erich Brandenburg auf, das Katheder zu besteigen, den vorgeschriebenen Amtseid zu leisten und die Abzeichen ihres Amtes zu empfangen. Sie schwören bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, daß Sie die Verfassung und die Gesetze der Universität treu und gewissenhaft beobachten und die Pflichten des Ihnen anvertrauten Amtes als Rektor nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen wollen. [Eidesleistung.] Hiernach verkündige ich Sie, den Dr. Erich Brandenburg, als den Rektor der Universität für das Studienjahr 1919/20 und vollziehe an Ihnen nach altem, von den 1228

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Vätern ererbtem Rechte die feierliche Investitur. Ich übertrage auf Eure Magnifizenz den Hut und den Mantel als die Abzeichen Ihrer freien Würde, die Kette, mit der einst königliche Huld den Leipziger Rektor geschmückt hat, das Siegel der Universität, womit Sie deren Willen rechtlich zu beglaubigen befugt sind, die Statuten, deren Hüter Sie sind, endlich den Schlüssel des Hauses als das Sinnbild der hausherrlichen Gewalt in den Räumen der Hochschule. Magnifizenz! Ich freue mich, der erste zu sein, der Ihnen zu Ihrer neuen Würde Glück wünschen darf. Möge das Jahr Ihnen zur Befriedigung und der Alma mater, in deren Dienste wir alle stehen, zum Heile gedeihen! Q. D. F. F. F. Vor seiner Rede richtete der antretende Rektor folgende Worte an seinen Vorgänger: Verehrter Herr Kollege Kittel! In schwerer Stunde haben Sie sich im Herbst vorigen Jahres auf den Wunsch der Kollegen in opferwilliger Weise bereit erklärt, das Rektorat zum zweiten Male zu übernehmen. Sie haben die Interessen unserer Universität und ihrer Glieder in sturmbewegter, schwieriger Zeit mit männlicher Charakterstärke, mit nie ermüdender Geduld, Umsicht und Ruhe vertreten. Sie haben sich dadurch ein außergewöhnliches Verdienst um unsere Alma mater erworben. Ich darf daher hoffen, im Sinne aller Kommilitonen zu handeln, wenn ich Ihnen auch in außergewöhnlicher Form an dieser Stelle den Dank der Universität aus vollem Herzen zum Ausdruck bringe. ***

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Erich Brandenburg (1868–1946)

31. Oktober 1919. Rede des antretenden Rektors Dr. Erich Brandenburg. Die materialistische Geschichtsauffassung und ihre Wandlungen. Hochansehnliche Versammlung! Kollegen! Kommilitonen! Einer Generation, die so Großes und Furchtbares erlebt hat, wie die unsrige, drängt sich mit besonderer Gewalt die alte, ewig neue Frage auf, ob in dem Verlaufe der geschichtlichen Ereignisse eine vom Denken und Wollen der Menschen unabhängige Notwendigkeit, ein unabänderliches Schicksal waltet. Unter den vielen Versuchen, die zu ihrer Beantwortung gemacht worden sind, beansprucht einer unsere besondere Aufmerksamkeit. Denn er will zugleich wissenschaftliche Theorie und Grundlage eines großen sozialen und politischen Programms sein. Ich meine die sogenannte materialistische Geschichtsauffassung, die bekanntlich von Karl Marx und Friedrich Engels zur theoretischen Grundlage der sozialistischen Gedankenwelt gemacht worden ist. Mit älteren Systemen teilt sie die Eigenschaft, in ihrem letzten Sinne nicht ganz eindeutig bestimmt zu sein; ein beständiger heftiger Streit tobt nicht nur um ihre Geltung, sondern schon um ihre richtige Auslegung. Anhänger und Gegner sind daran beteiligt. Man hat dem ersten Auftauchen dieser Anschauung bereits vor Marx und Engels nachgespürt, man hat ihren Zusammenhang mit den Gedanken Spinozas, Kants, Hegels, Feuerbachs, Comtes, der klassischen Nationalökonomen, der modernen Naturwissenschaft und mit dem Darwinismus untersucht. Allmählich droht eine Art von Marxphilologie zu entstehen, die jeden Satz dieses Denkers einer mikroskopischen Untersuchung und Auslegung unterwirft und darüber den Sinn für das Ganze seines Gedankenbaus verliert. Aber nur vom Ganzen, vom innersten Motiv des Systemes aus sind dessen Einzelheiten richtig zu würdigen. Ich darf zunächst an einige bekannte Tatsachen erinnern. Marx und Engels haben ihre Theorie der geschichtlichen Entwicklung in enger Zusammenarbeit in den Jahren 1844 und 1845 entdeckt. In einigen polemischen Schriften haben sie ihre neu gewonnenen Anschauungen, denen sie selbst von Anfang an eine epochemachende Bedeutung beimaßen, ohne systematische Zusammenfassung ausgesprochen, am ausführlichsten Marx in seiner gegen Proudhon gerichteten Schrift „Das Elend der 1231

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Philosophie“. Auch im Kommunistischen Manifest von 1848 wird die Theorie mehr vorausgesetzt, als eigentlich dargelegt. Ein größeres von beiden gemeinsam verfaßtes Werk fand damals keinen Verleger und hat sich nur in Bruchstücken erhalten. Erst zehn Jahre später (1859) hat Marx in der Vorrede zu seiner Kritik der politischen Ökonomie in einigen kurzen, scharf zugespitzten Sätzen die Grundzüge seiner Auffassung ohne nähere Begründung zusammengefaßt. In seinem Hauptwerk, dem Kapital, das 1867 zu erscheinen begann, wird sie überall als bekannt vorausgesetzt. Einen Versuch genauer Ausführung und Begründung unternahm Engels erst 1878 in einer Streitschrift gegen Eugen Dühring. Hier verwandte er auch zum ersten Male die Bezeichnung „Materialistische Geschichtsauffassung“, die seitdem so unzertrennlich mit der ganzen Theorie verwachsen ist, daß selbst solche Anhänger, die sie für unzutreffend halten, sie nicht über Bord zu werfen wagen. Bei den Philosophen und Historikern fand die Theorie zunächst gar keine Beachtung. Erst 1890 setzt eine ernstere Beschäftigung mit ihr ein, ausgehend von Paul Barths Schrift über die Geschichtsphilosophie Hegels und der Hegelianer. Zur Verteidigung ergreift der alte Engels selbst noch einmal das Wort, Franz Mehring und Karl Kautsky sekundieren ihm; aber zugleich erheben sich aus den Reihen der Sozialisten selbst Stimmen, die einen weiteren Ausbau, ja sogar eine Revision der ursprünglichen Auffassung für notwendig erklären. Sie finden stärkeren Widerhall, seit Eduard Bernstein sich ihnen angeschlossen hat. Von rechtsphilosophischer, nationalökonomischer, ethischer Seite mehren sich die Angriffe und Einwände; die Literatur schwillt unübersehbar an; nur die Historiker von Fach verhalten sich auffallend gleichgültig. In den heftigen Fehden, die Lamprechts Schriften hervorriefen, wurde dieser zwar gelegentlich von seinen Gegnern für einen Anhänger des historischen Materialismus erklärt; er wies diese Behauptung zurück, ohne sich jedoch in einer seiner zahlreichen theoretischen Schriften eingehender mit Marx und Engels auseinanderzusetzen. Inwiefern ihre Theorie auf die Praxis der neueren Geschichtsschreibung eingewirkt hat, soll hier nicht untersucht werden. Uns interessiert vielmehr die Frage, ob sie durch die Einwände von gegnerischer Seite als in sich widerspruchsvoll und unhaltbar nachgewiesen ist oder nicht, und ob die Anhänger bei ihren Versuchen, jene Angriffe zurückzuweisen, nicht selbst zu einer Umbildung der Theorie gelangt sind, die deren Charakter wesentlich verändert hat. Es wäre für den Historiker verlockend, die Richtigkeit der Theorie an der Hand der geschichtlichen Tatbestände zu prüfen. Wenn man aber die von ihren Anhängern herangezogenen historischen Beispiele in ihrer Beweiskraft mit guten Gründen anficht, so erwidern jene: Die Falschheit einer Theorie kann nicht dadurch erwiesen werden, daß man ihre unrichtige Anwendung in einem Einzelfalle dartut. Und führt man Tatsachen an, die der Theorie widersprechen, so heißt es gewöhnlich: Ihr habt deren Sinn nicht richtig begriffen und versteht sie darum auch nicht auf Tatsachen anzuwenden. Wir wollen daher lieber versuchen, in den Zusammenhang ihrer Gedanken selbst einzudringen um so den Punkt zu finden, an dem jede Diskussion über ihre Geltung einsetzen muß. Die Hauptsätze der materialistischen Geschichtsauffassung lassen sich kurz folgendermaßen formulieren: 1232

Antrittsrede 1919

Für alle Verhältnisse und Veränderungen des menschlichen Zusammenlebens ist die Entwicklung der Güterproduktion bestimmend. Alle Kräfte in Natur und Menschenwelt, die zum Leben notwendige Güter hervorbringen, kann man zusammenfassen unter der Bezeichnung Produktivkräfte. Zu ihnen gehört ebenso der Acker, der Frucht bringt, wie der Ochse, der den Pflug zieht, wie die menschliche Arbeitskraft und die immer neue Werkzeuge und Arbeitsmethoden schaffende menschliche Intelligenz und Willenskraft. Diese Produktivkräfte sind nun in einer beständigen Zunahme und Verfeinerung begriffen, die sich nach Art eines Naturprozesses mit zwingender Notwendigkeit und nach Gesetzen, die erforschbar sind, vollzieht. Dem augenblicklichen Stande in der Ausbildung der Produktivkräfte entspricht notwendig eine bestimmte Gestaltung der Produktionsverhältnisse. Darunter versteht Marx die gesamte Organisation der wirtschaftlichen Betriebe. Z. B. ist die moderne Fabrik ein Produktionsverhältnis. Der jeweilige Stand der Produktivkräfte zwingt, wie er sich ausdrückt, den Produzenten, auf dieser oder jener Stufenleiter zu produzieren. Die Arbeitsmittel sind „die Anzeiger des gesellschaftlichen Verhältnisses, worin gearbeitet wird“. Da mit der Organisation der Betriebe auch die Verteilung des Ertrages unter die Arbeitenden im Wesentlichen gegeben ist, so sind die Eigentumsverhältnisse nichts anderes wie die Produktionsverhältnisse, unter juristischem Gesichtspunkt betrachtet. In ihrer Gesamtheit bilden sie „die ökonomische Struktur der Gesellschaft“. Der Unterschied von Reichen und Armen, von leitenden und dienenden Gliedern der Wirtschaftsbetriebe bildet die Grundlage der sozialen Klassen, die einander, durch verschiedene wirtschaftliche Interessen gespalten, naturgemäß feindselig gegenüberstehen. Daher ist auch die soziale Gliederung letzten Endes abhängig vom Stande der Arbeitsmittel. „Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten.“ Die innerhalb einer Gesellschaft bestehenden tatsächlichen Verhältnisse finden ihren rechtlichen Ausdruck in den Gesetzen und Verfassungsformen; Marx bezeichnet sie zusammenfassend als den juristisch-politischen Überbau. „Sowohl die politische als die bürgerliche Gesetzgebung proklamieren, protokollieren nur das Wollen der ökonomischen Verhältnisse.“ Sie empfangen ihre Ausbildung durch die herrschende Klasse und sind für diese das Mittel, um ihre auf wirtschaftlicher Grundlage beruhende Machtstellung juristisch festzulegen und möglichst dauerhaft zu machen. Endlich schafft die herrschende Klasse auch eine ihren Interessen entsprechende geistige Atmosphäre; in Religion, Moral, Kunst und Philosophie prägt sie eine ihren Lebensbedingungen entsprechende Denkweise aus. So selbständig und jeder wirtschaftlichen Beeinflussung entrückt diese Kulturgebiete auch auf den ersten Blick erscheinen, in Wahrheit sind sie doch nur die geistigen Niederschläge bestimmter Lebensverhältnisse. Der einzelne Künstler, Gelehrte oder Priester braucht sich dieses Zusammenhanges freilich durchaus nicht bewußt zu sein. Zusammen bilden sie den ideologischen Überbau. So erklärt Marx das Christentum „mit seinem Kultus des abstrakten Menschen“ für die „einer Gesellschaft von Warenproduzenten entsprechendste Religionsform“ und behauptet: „Die Ideen der Gewissens- und Reli1233

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gionsfreiheit sprechen nur die Herrschaft der freien Konkurrenz auf dem Gebiet des Wissens aus.“ Da nun die Produktivkräfte beständig wachsen und immer neue Produktionsverhältnisse hervorbringen, so sind auch der juristisch-politische und der ideologische Überbau in beständiger Veränderung begriffen, wenn diese auch zuweilen so langsam vor sich gehen mag, daß Einrichtungen und Anschauungen Generationen lang scheinbar unverändert bleiben. Auch verschwindet das Alte nicht ohne Kampf. Die bisher herrschenden Klassen suchen vielmehr trotz des Aufkommens neuer Produktivkräfte die alten Eigentumsverhältnisse, Gesetze, Verfassungen und Denkweisen aufrechtzuerhalten. Daraus entsteht mit Notwendigkeit ein Widerstreit zwischen der neuen Form der Produktivkräfte, die nach ihr entsprechenden Lebensformen auf allen Kulturgebieten hindrängt, und den überlieferten Einrichtungen und Anschauungen, die nunmehr zu Fesseln der Produktion werden. Dieser Widerspruch äußert sich in der Geschichte als Klassenkampf und endet unweigerlich mit dem Siege der neuen, von den anwachsenden Produktivkräften getragenen Formen. Es ist nach Marx ein Irrtum, wenn man den Weltanschauungen oder dem Recht eine selbständige Entwicklung zuschreibt. Nach seiner Meinung kann jede Veränderung der Ideen oder Einrichtungen erst dann als wissenschaftlich begriffen angesehen werden, wenn die zugrundeliegende Umwandlung der Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte aufgezeigt ist. Es scheint zwar oft so, als würden große Umwälzungen der Gesellschaft durch das Auftreten neuer Ideen bewirkt; aber das wahre Kausalverhältnis ist stets das umgekehrte. „Man spricht von Ideen, sagt das Kommunistische Manifest, welche eine ganze Gesellschaft revolutionieren; man spricht damit nur die Tatsache aus, daß sich innerhalb der alten Gesellschaft die Elemente einer neuen gebildet haben, daß mit der Auflösung der alten Lebensverhältnisse die Auflösung der alten Ideen gleichen Schritt hält.“ Das Eigentümliche und Wesentliche dieser ganzen Anschauungsweise liegt offenbar darin, daß eine einzige Entwicklungsreihe als bestimmend für den gesamten Geschichtsverlauf betrachtet wird, nämlich das Anwachsen der Produktivkräfte. Alles übrige – Eigentumsverhältnisse, Klassenbildung, Recht, Verfassung und geistiges Leben – ist hierdurch eindeutig bestimmt, und kann die Weiterentwicklung der Produktivkräfte weder verhindern noch in ihrer Richtung beeinflussen. Einzelne Äußerungen von Marx und namentlich von Engels, an die neuere Sozialisten angeknüpft haben, lassen zwar die Auslegung zu, als wollten sie den Einrichtungen oder Ideen doch eine Einwirkung auf den Produktionsprozeß einräumen. Aber man darf sich dadurch nicht beirren lassen. Denn entscheidend für die Interpretation einzelner Stellen muß immer der Grundgedanke bleiben, von dem beide Männer ausgingen. Nun war aber für sie selbst ihre Geschichtsauffassung nicht nur eine wissenschaftliche Theorie, sondern zugleich, ja in erster Linie, die Grundlage ihres revolutionären Programms. Es kam ihnen nur soweit darauf an, die Geschichte zu begreifen, als sich aus ihr die Notwendigkeit der praktischen Umgestaltung dartun ließ, die sie erstrebten. Auf Grund ihrer Geschichtsauffassung sollte erwiesen werden können, daß die sozialistische Gesellschaft notwendig kommen müsse. Darin sahen sie 1234

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ihren Fortschritt über den „utopischen Sozialismus“ eines Saint-Simon, Fourier, Proudhon hinaus. Diese hätten zwar den Sozialismus als die ethisch wertvollste, darum auch erstrebenswerteste Gesellschaftsform erwiesen, aber sie hätten keine Garantie dafür zu bieten gehabt, daß er auch wirklich kommen werde. Sie selbst aber könnten aus dem bisherigen Verlauf der Geschichte beweisen, daß ebenso, wie auf die feudale Gesellschaft die kapitalistische notwendig habe folgen müssen, diese durch die sozialistische abgelöst werden müsse. Wie das Wachstum der innerhalb der feudalen Gesellschaft selbst entwickelten Produktivkräfte diese zersprengt und neue Formen des Lebens und Denkens, eben die kapitalistischen, erzwungen habe, so arbeiteten auch die durch den Kapitalismus entfesselten neuen Produktivkräfte an dessen Vernichtung und an der Verwirklichung des Sozialismus; denn nur in der Vergesellschaftung der Produktionsmittel könne die ihrer Eigenart entsprechende neue ökonomische Struktur der Gesellschaft liegen. Aus diesem Gedankengang, der für Marx und Engels durchaus zentral ist, würde man die logischen Stützen fortbrechen, wenn man annehmen wollte, daß die Entwicklung der Produktivkräfte durch gesetzgeberische Maßnahmen oder die Einwirkung religiöser und ethischer Ideen aufgehalten oder in ihrer Richtung verändert werden könnte; denn alsdann wäre der Zusammenbruch des Kapitalismus und das Kommen des Sozialismus nicht mehr mit Sicherheit vorauszubestimmen. Um so brennender wird aber nun die Frage, was unter dieser mit unheimlicher Wucht die menschlichen Geschicke bestimmenden Macht, den Produktivkräften, eigentlich zu verstehen sei. Hier liegt der Kernpunkt für das Verständnis und für die Beurteilung der materialistischen Geschichtsauffassung. Manche glauben, die Entwicklung der Produktivkräfte sei als ein Prozeß gedacht, der sich ohne Mitwirkung des menschlichen Bewußtseins und Wollens vollziehe. Diese Deutung gründet sich vornehmlich auf die, wie schon erwähnt, von Engels herrührende Bezeichnung „materialistische Geschichtsauffassung“, und auf einzelne Stellen bei Marx und Engels, wo die Erscheinungen der geistigen Kultur als Abspiegelungen der gesellschaftlichen Verhältnisse im menschlichen Bewußtsein bezeichnet werden. Es liegt gewiß nahe, auf Grund dieser Indizien den Marxismus für eine Abart des philosophischen Materialismus zu erklären, wonach Veränderungen in der materiellen Welt nur durch materielle Ursachen hervorgerufen werden können und die Vorgänge im menschlichen Bewußtsein nur einflußlose Begleiterscheinungen oder Spiegelungen materieller Vorgänge im Nervensystem sind. Alle die schwerwiegenden Einwendungen, die sich gegen diese Weltanschauung erheben lassen, würden dann auch den Marxismus treffen. Allein so einfach liegt die Sache nicht. Marx und Engels haben wiederholt unzweideutig ausgesprochen, daß nach ihrer Ansicht das bewußte und planmäßige Handeln ein wichtiges und wirksames Glied jedes geschichtlichen Kausalzusammenhanges ist. Gerade darin sehen sie einen schwerwiegenden Unterschied zwischen Naturprozeß und Geschichtsverlauf. In den Entdeckungen der Naturwissenschaft und den Erfindungen der Technik erblicken sie die mächtigsten Hebel des Produktionsprozesses. Sie nehmen also eine Wechselwirkung zwischen Materie und Bewußtsein an, die der Materialismus durchaus ablehnt. 1235

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Aber warum bezeichneten sie sich dann beide so gern als Anhänger des Materialismus? Sie wollten damit nur ihren scharfen Gegensatz gegen jede Einmischung übernatürlicher Kräfte und Ursachen in die Erklärung zum Ausdruck bringen. Sie fanden diesen Standpunkt zur Zeit ihres ersten Auftretens am klarsten ausgeprägt bei den Anhängern des Materialismus, namentlich bei Feuerbach (von dem es übrigens auch noch zweifelhaft ist, ob er als Materialist im strengen Sinne betrachtet werden kann), und sie fühlten sich in diesem für sie außerordentlich wichtigen Punkte mit den Vertretern dieser Weltanschauung am nächsten verwandt. Daß der Materialismus bei den damals herrschenden Kreisen besonders verrufen war, bildete für die jungen Revolutionäre eine Verlockung mehr, sich zu ihm zu bekennen. Übrigens wollten Marx und Engels garnicht Philosophen sein, erst ihre Epigonen haben sie dazu zu stempeln versucht. Ihre Bekanntschaft mit der theoretischen Philosophie war verhältnismäßig gering, wie die teilweise recht oberflächlichen Äußerungen von Engels über Kants Erkenntniskritik beweisen. Sie wollten keine neue Weltanschauung geben, sondern eine neue Theorie des sozialen Lebens. Es war daher für sie im Grunde gleichgültig, ob diese Theorie, deren Richtigkeit ihnen durch die Erfahrung erwiesen schien, sich irgendeinem philosophischen System restlos einfüge oder nicht. Gaben sie doch gleichzeitig immer wieder ihrer Verehrung für Hegel Ausdruck, der doch gewiß kein Materialist war, denn sie fühlten sich auch mit ihm in einer anderen wichtigen Anschauung einig, nämlich in der Betrachtung des Geschichtsverlaufs als eines der Vernunft begreifbaren, von dem individuellen Wollen der Einzelnen abhängigen Ganzen. Daß die Bezeichnung „materialistische Geschichtsauffassung“ unzutreffend ist, haben auch viele ihrer eifrigen Anhänger empfunden und zugegeben. Verschiedene andere Benennungen sind vorgeschlagen worden; aber sie werden nicht durchdringen, weil dieser Name ein Stück des sozialdemokratischen Parteiprogramms geworden ist, und jeder Vorschlag zu einer Änderung des Namens den Verdacht erweckt, als sollte damit auch ein Teil des sachlichen Inhaltes dieser Anschauung preisgegeben werden. Wenn aber menschliches Denken und Wollen zu den Produktivkräften gehören, mitwirkende Glieder in ihrer Entwicklung bilden, so erhebt sich sofort eine neue Frage. Sind nicht die Erzeugnisse menschlichen Wollens und Denkens, zu denen doch auch Wissenschaft und Technik gehören, von Marx und Engels für Teile des ideologischen Überbaus erklärt worden? Und ist es nicht ein wesentlicher Satz ihrer Lehre, daß dieser Überbau die Produktivkräfte nicht beeinflussen könne? Erscheinen die psychischen Faktoren also nicht zweimal an verschiedenen Stellen des Systems unter verschiedenen Namen? Und wäre es nicht richtiger, offen einzugestehen, daß die sog. Ideologie zugleich ein Teil der Produktivkräfte sei, oder mit anderen Worten, daß sie den Produktionsprozeß mit hervorbringe? Wie wir gesehen haben, wäre mit diesem Zugeständnis derjenige Teil der ganzen Auffassung preisgegeben, der für ihre Urheber der wesentlichste war. Aber sollte Marx wirklich garnicht gemerkt haben, daß er die feierlich aus der Weltgeschichte hinausgewiesene Ideologie selbst durch die Hintertür der Produktivkräfte wieder einschmuggelte? Als bewußte Sophisterei würde ein solches Verfahren 1236

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für die Ehrlichkeit, als unbewußte Selbsttäuschung für den Scharfsinn des Denkers Marx vernichtend sein. Aber auch hier waltet ein Mißverständnis ob. Tatsächlich haben Marx und Engels die Naturwissenschaft und die Technik niemals zum ideologischen Überbau, sondern stets zu den Produktivkräften gerechnet. Sie unterscheiden stets zwischen einer nur durch Beobachtung die Wirklichkeit erfassenden, ihre Gesetze nur konstatierenden Wissenschaft und einer über das Gegebene hinausgehenden Deutung und Bewertung der Dinge. Nur das letztere nennen sie Ideologie, mag es sich nun in religiöse, künstlerische oder wissenschaftliche Form kleiden. In ihrem Sinne kann auch die Naturwissenschaft nur insofern als wirksame Erkenntnis gelten, als sie durch Erfahrung nachzuprüfende, für das Handeln verwertbare Sätze aufstellt; unternimmt sie aber das Wesen der Atome zu bestimmen oder eine allgemeine Weltanschauung zu entwickeln, so wird auch sie zur Ideologie. Es steht hier nicht zur Diskussion, ob diese Unterscheidung wirklich durchführbar ist; Marx und Engels hielten sie jedenfalls für zulässig. Genau so verhält es sich mit der Sozialwissenschaft. Damit erledigt sich ein weiterer zunächst sehr beweiskräftig erscheinender Einwand. Er geht dahin, daß die materialistische Geschichtsauffassung selbst als ein Erzeugnis menschlichen Denkens nur Ideologie, die Weltanschauung einer Klasse des Proletariates, demnach eine bloße Widerspiegelung bestimmter ökonomischer Verhältnisse sei, daß sie also mit diesen verschwinden und neuen Ideologien Platz machen müsse. Wolle man sie für eine vom Wechsel der Lebensverhältnisse unabhängige Wahrheit halten, so verstoße man gegen ihre eigene Grundvoraussetzung. Für Marx und Engels liegt die Sache ganz einfach. Ihre Theorie ist auf Beobachtung gegründete Erkenntnis, ist Aufstellung eines Sozialgesetzes, welches den Naturgesetzen durchaus analog ist; sie ist ein Stück Wissenschaft, eine Produktivkraft, welche die Vorausberechnung und Beeinflussung der sozialen Lebensvorgänge ermöglicht. Sie gehört daher nicht zu den Ideologien. Ebenso fällt damit die Behauptung, daß die Theorie im Laufe der Zeit immer unrichtiger werden müsse, weil die zunehmende Erkenntnis der Natur- und Gesellschaftsgesetze den Verlauf der Dinge nicht nur verständlicher, sondern auch in immer höherem Grade beherrschbar mache. Damit aber erhöhe sich der Einfluß des menschlichen Bewußtseins auf den Gesamtverlauf und schwäche sich die Wirksamkeit der blindwirkenden Kräfte ab. Diese Behauptung würde nur dann richtig sein, wenn Marx und Engels jemals behauptet hätten, daß der menschliche Geist nicht zu den Naturfaktoren gehöre, welche den Geschichtsverlauf bestimmen. Mit der Zurückweisung solcher Mißdeutungen tritt aber das eigentliche Problem erst recht deutlich hervor. Versuchen wir es näher zu bestimmen. Wir wissen, daß die Entwicklung der Produktivkräfte gesetzmäßig und in einer unbedingt feststehenden Richtung erfolgt. Wie ist das aber mit der Annahme vereinbar, daß menschliches Bewußtsein und menschlicher Wille, die sich doch auf sehr verschiedene Ziele richten können, selbst ein Teil dieser Produktivkräfte sein sollen? Könnte nicht einmal der menschliche Wille dieser Entwicklung eine andere Richtung geben? Könnten nicht andere als wirtschaftliche Motive einmal die Oberhand gewinnen und die 1237

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Menschen zu Handlungen bewegen, welche die Entfaltung der Produktivkräfte aufzuhalten oder in eine von wirtschaftlichen Gesichtspunkten aus nicht vorauszusehende Richtung zu lenken geeignet wären? Offenbar würde in diesem Falle die Entwicklung der Produktivkräfte nicht mehr berechenbar sein, und ebensowenig die von ihr abhängigen Wandlungen des menschlichen Zusammenlebens. Marx leugnet durchaus nicht, daß die einzelnen Menschen von sehr verschiedenartigen Motiven bewegt werden. Er ist weit entfernt von der Meinung, daß nur wirtschaftliche Interessen als wirksame Motive in Betracht kämen, und daß alle idealen Motive Heuchelei oder Selbsttäuschung seien. Das ist eine Vergröberung und Verzerrung seiner Gedanken, die sich bei manchen seiner Schüler findet, für die man ihn selbst aber nicht verantwortlich machen darf. Sie haben die Theorie ihres Meisters auf ein tieferes Niveau herabgedrückt, indem sie überall nach kleinlichen egoistischen Motiven suchen und sich freuen, wenn sie einen menschlich Großen in den Staub des Alltages herabgezogen haben. Marx selbst erkennt durchaus an, daß der Mensch aus uneigennützigen, edlen Motiven handeln könne. Seine Meinung ist nur, daß das Motiv über die Wirksamkeit der Tat gar nicht entscheidet. Die menschlichen Handlungen, aus den verschiedensten Motiven hervorgehend, heben sich in ihren Wirkungen gegenseitig zum großen Teile auf. Der übrigbleibende Rest, der allein für die Weiterbildung der menschlichen Lebensverhältnisse dauernde Bedeutung hat, wirkt immer in der gleichen Richtung. Handlungen, welche der Entwicklungsrichtung entgegengesetzt sind, können freilich einen momentanen Erfolg haben, verzögernd wirken; aber auf die Dauer können sie den notwendigen Gang der Dinge nicht aufhalten. Da es Marx aber nur darauf ankommt, den allgemeinen Entwicklungsgang in seiner Richtung zu erkennen, so ist ihm die Erforschung der menschlichen Motive eine höchst nebensächliche Angelegenheit. Er hat es selbst ausgesprochen, daß gerade er, der die Entwicklung der Gesellschaft als Naturprozeß auffasse, unmöglich den Einzelnen verantwortlich machen könne für Verhältnisse, deren Geschöpf er bleibe, so sehr er sich auch subjektiv über sie erheben möge. Marx behauptet also nicht das Überwiegen oder gar die ausschließliche Herrschaft wirtschaftlicher Motive, sondern die Überlegenheit sachlicher, im letzten Grunde wirtschaftlicher Notwendigkeiten über jedes subjektive Motiv. Ganz wie für Hegel ist für ihn der Einzelne zwar Träger des Weltgeschehens und von den verschiedensten Motiven und Zwecken bewegt; aber eine von ihm unabhängige Macht leitet ihn, ohne daß er es weiß und will, nach einer bestimmten Richtung hin und benutzt sein Planen und Streben als Mittel zur Herbeiführung von Wirkungen, die er niemals gewollt hat. Was bei Hegel die List der Idee, das ist bei Marx der Zwang des nach unwandelbaren Gesetzen ablaufenden Produktionsprozesses. Seine Meinung über die Rolle des psychischen Faktors in diesem Prozeß kann jetzt folgendermaßen umschrieben werden. Die Gesamtheit der in einer Gesellschaft zusammenlebenden Menschen muß die zu ihrer Existenz notwendige Gütermenge schaffen. Diese Nötigung ruft bestimmte Handlungen hervor, die auf einer niederen Stufe der Entwicklung ohne das Bewußtsein von ihrer Notwendigkeit aus ganz verschiedenen Motiven vollbracht werden, auf höherer Stufe aus klarer Erkenntnis 1238

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heraus und mit der Absicht, die Entwicklung zu erleichtern und zu beschleunigen. Wenn das Bedürfnis nach einer neuen technischen Verbesserung hervortritt, so werden die dazu nötigen Entdeckungen und Erfindungen früher oder später gemacht. Gewöhnlich wirken soviele einzelne Individuen dazu mit, daß die Leistung als ein Ergebnis gesellschaftlicher Arbeit betrachtet werden kann. Derjenige, der sie zum Abschluß bringt, vollzieht nur den letzten Akt eines notwendigen Prozesses. Hätte er es nicht getan, so würde sich ein anderer dazu gefunden haben. Menschliches Erkennen und zweckbewußtes Handeln sind also unentbehrlich, aber sie sind nur dienende Glieder in der Ursachenkette. Werden sie aber auf diese Art nicht doch wieder zu voller Wirkungslosigkeit herabgedrückt? Muß diese Anschauungsweise nicht zu einem alle Tatkraft lähmenden Fatalismus führen? Wozu soll sich der Mensch noch Ziele stecken, Mühen und Opfer für ihre Erreichung auf sich nehmen, wenn doch kommt, was kommen muß? Ist es nicht besser, man legt die Hände in den Schoß und läßt über sich ergehen, was man doch nicht ändern kann? Diese Deutung kann unmöglich der Meinung von Marx und Engels entsprechen. Sollte ihre Theorie doch gerade die Grundlage für eine umwälzende Praxis bilden, das Kommen der neuen Gesellschaft befördern und erleichtern. Es versteht sich also für sie von selbst, daß dasjenige, was kommen muß, nur durch menschliches Handeln und nicht ohne dies kommen kann. Wenn die Jahreszeit wechselt, der Winter kommt, so müssen die Menschen ihre Lebensweise den veränderten Lebensbedingungen gemäß ändern. Aber selbstverständlich steht es jedem einzelnen frei, in der Kälte einen leichten Anzug zu tragen oder in einer Winternacht im Freien zu schlafen; nur wird er es vermutlich ohne Schaden an seiner Gesundheit nicht lange aushalten. Die große Mehrzahl wird sich bewußt oder unbewußt den veränderten Verhältnissen durch veränderte Handlungen anpassen. Diese Erfahrung kann man in dem Satze aussprechen, daß der Wechsel der Jahreszeiten gewisse Veränderungen in Kleidung und Wohnung verursache, die sich im Ganzen vorausbestimmen lassen. Wollte nun jemand aus diesem Satze die Folgerung ziehen, er habe es nicht nötig, sich Winterkleider zu kaufen oder seinen Ofen zu heizen, da sich ja mit Sicherheit voraussagen lasse, daß die nötigen Änderungen in Kleidung und Wohnung auf jeden Fall eintreten würden, möge er nun etwas dazu tun oder nicht, so würde er den gleichen logischen Fehler begehen, wie jene fatalistische Deutung der materialistischen Geschichtsauffassung. Denn die Voraussage bezieht sich nicht auf den Einzelfall, sondern auf die Allgemeinheit, und sie besagt nicht, daß die vorausgesagten Folgen ohne menschliches Handeln eintreten würden, sondern gerade dadurch, daß die Mehrzahl ihre Handlungen auf die veränderten Bedingungen einstellt. So kann auch ein neuer Gesellschaftszustand nur deshalb eintreten, weil die Mehrzahl auf die veränderten Bedingungen durch allmähliche Wandlung ihres Tuns und Denkens reagiert. Der einzelne, der sich dessen weigert, wird zugrundegehen oder wenigstens ohne Wirkung bleiben. Würde eine ganze menschliche Gemeinschaft sich weigern, die notwendigen Folgerungen zu ziehen, so würde sie nicht weiterexistieren können. Sie muß es tun, sagt Engels, bei Strafe des Untergangs. 1239

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Es würde demnach ohne den psychischen Faktor keine Weiterbildung der Zustände geben. Er ist nötig, um die der neuen Lage entsprechenden Handlungen herbeizuführen, aber er kann der Entwicklung nicht willkürlich die Richtung geben. Er ist ein besonders komplizierter Anpassungsapparat. Aber er wirkt nur so, wenn man die Handlungen einer größeren Menschengruppe im Ganzen betrachtet. Das einzelne Glied der Gesellschaft hat die Möglichkeit, sich in Gedanken und Handlungen recht weit von der Linie des Notwendigen zu entfernen; es kann beliebige Pläne zur Umbildung des Gegebenen entwerfen und deren Durchführung versuchen. Aber es wird damit nur Erfolg haben, wenn sie in der notwendigen Richtung der Entwicklung liegen oder mit anderen Worten, wenn sie wirklich geeignet sind, der Gesamtheit das Weiterleben unter den veränderten Verhältnissen zu ermöglichen. Der psychische Faktor kann es also nicht sein, der die Richtung der Entwicklung bestimmt; denn er ist nur eine von äußeren Notwendigkeiten dirigierte Hilfskraft. Wo aber liegt dann die eigentlich bestimmende Kraft? Was zwingt die Produktivkräfte, sich immer weiter zu entfalten und in einer ganz bestimmten Richtung zu wirken? Bei Marx und Engels finden wir auf diese Frage keine Antwort. Und doch hängt an ihr das Schicksal der ganzen Theorie. Suchen wir den Grund in den Naturfaktoren, so geraten wir in große Verlegenheit. Boden, Klima, Fauna und Flora eines Landes bleiben lange Zeiträume hindurch die gleichen, während die gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse der Bewohner sich durchgreifend ändern. Die Natur wird anders ausgenutzt, aber der Grund dafür kann nicht in ihr selbst liegen. Der Ochse fängt nicht von selber an, den Pflug zu ziehen, wenn der Mensch ihn nicht einspannt. Auch die physische Beschaffenheit der Menschen ändert sich nicht so durchgreifend, daß man hier den Anstoß suchen könnte. Der einzige Naturvorgang, der zu einer beständigen Erschließung neuer Produktivkräfte zwingen könnte, wäre die natürliche Volksvermehrung, die den Nahrungsspielraum verengert und einen Ansporn zu intensiverer Wirtschaft bildet. Aber doch nur einen Ansporn, keinen Zwang. Durch Auswanderung, Eroberung neuen Gebietes, wachsende Kindersterblichkeit kann das Mißverhältnis zwischen Volkszahl und Gütermenge auf anderen Wegen ausgeglichen werden. Aber selbst wenn man annehmen wollte, daß von der Menschenzunahme ein absoluter Zwang zur Vermehrung des Gütervorrats und damit zur Steigerung der Produktivkräfte ausginge, so müßte dieser doch in dem Augenblicke zu wirken aufhören, wo der dringendste Bedarf der Gesamtheit gedeckt wäre. Dies ist aber keineswegs der Fall. Eine Gesellschaft steht keineswegs still in ihrer Entwicklung, wenn alle ihre Glieder das Notdürftigste zum Leben haben. Vielmehr geht man nun auf Verbesserung der Lebensbedingungen aus. Neue Bedürfnisse steigen sofort empor, wenn die dringendsten befriedigt sind. Warum geschieht das? Und warum tauchen gerade diese Bedürfnisse auf und keine anderen? Warum konnten sie nur auf die eine Art befriedigt werden, wie es tatsächlich geschehen ist? Nur wenn die Reihenfolge, in der sie wirksam werden, sich eindeutig bestimmen läßt, und wenn jedes Bedürfnis nur eine einzige Art der Befriedigung zuläßt, nur dann ist die Entwicklung der Produktivkräfte in ihrer Richtung so bestimmt festgelegt, daß ihre Gesetze erkannt werden können und ihr Gang vorauszubestimmen ist. Diesen zwingenden Charakter kann aber nur die unmittelbare Lebensnotdurft 1240

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haben, weil die Menschen untergehen müssen, die nicht für ihre Befriedigung in der einzig möglichen Form Sorge tragen. Handelt es sich hingegen nur darum, wie man besser leben kann als bisher, so bieten sich stets verschiedene Möglichkeiten dar. Und wovon wird es schließlich abhängen, ob eine Gesellschaft sich dafür entscheidet, das eine Bedürfnis für dringender zu halten als das andere, die eine Art der Befriedigung einer anderen vorzuziehen? Offenbar von der seelischen Beschaffenheit jener Menschengruppe, oft sogar vielleicht von dem Beispiel führender Individuen. Verschiedene Gruppen könnten durch eine lange Reihe in verschiedener Richtung verlaufender Entscheidungen von dem gleichen Ausgangspunkte her im Laufe der Zeit zu ganz von einander abweichenden Zuständen gelangen. Sobald man dies aber zugibt, verschwindet die absolute Eindeutigkeit der Entwicklungsrichtung und ihre Unabhängigkeit vom menschlichen Willen. Eduard Bernstein und andere Anhänger von Marx, die sich solchen Erwägungen nicht verschlossen, zogen daraus die Folgerung, daß die jeweilige Lage der Produktivkräfte nur die Grenzen angebe, innerhalb deren das Denken und Tun einer bestimmten Gesellschaft sich bewegen müsse. Innerhalb dieser Grenzen habe die schöpferische Fähigkeit des menschlichen Geistes Raum zu verschiedenartiger Betätigung. Nur könne sie keine Umwandlungen bewirken für welche die Mittel in dem Stande der natürlichen Hilfsquellen und ihrer wissenschaftlichen Erfassung nicht gegeben seien. So hätte man zur Zeit Friedrich Barbarossas nicht die Dampfmaschine konstruieren und einführen können. Ebensowenig hätten die Menschen des 18. Jahrhunderts das Nibelungenlied dichten können, weil ihre Dichtung sich im Rahmen der durch ihre Lebensverhältnisse bedingten psychischen Atmosphäre halten mußte. Danach würde es nicht die Aufgabe der historischen Erklärung sein, die Veränderungen der Gesellschaft, des Staates und der geistigen Kultur direkt aus den Produktivkräften abzuleiten, sondern man könnte aus ihrem jeweiligen Stande nur die Schranken erkennen, innerhalb deren alle übrigen Lebensbedingungen sich bewegen müßten. Sobald man mit diesem Gedanken Ernst macht, muß man auf die Vorstellung verzichten, daß die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung unwandelbar feststehe und berechenbar sei. Die Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse werden zu bloßen Bedingungen des historischen Geschehens; sie sind nicht mehr die einzigen, einen bestimmten Verlauf erzwingenden Ursachen, sondern nur ein Teil des großen Ursachenkomplexes. Es handelt sich dann im einzelnen Falle nicht mehr um den Nachweis, auf welche Veränderungen der Produktivkräfte bestimmte Wandlungen in Gesellschaft, Staat und Weltanschauung zurückzuführen sind. Es handelt sich vielmehr um die sehr viel kompliziertere Untersuchung, welchen Anteil sie daran gehabt haben. Die materialistische Geschichtsauffassung wird damit aus einem Versuch der Erklärung zu einem heuristischen Prinzip, zu einem bloßen Ratschlag an den Forscher, bei jeder historischen Erscheinung zunächst danach zu fragen, wieviel von ihr etwa auf den Einfluß der Produktivkräfte zurückzuführen sei. Sicherlich ist dies nicht die Meinung von Marx und Engels gewesen; denn für sie waren Richtungsbestimmtheit und Berechenbarkeit des Gesamtverlaufes wesentlich, während hier darauf verzichtet wird. Bernstein und seine Gesinnungsgenossen be1241

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finden sich also im Irrtum, wenn sie glauben, die Theorie folgerichtig fortzubilden; sie haben sie vielmehr grundlegend verändert und sind im Wesentlichen auf den Boden der sogenannten bürgerlichen Wissenschaft hinübergetreten, die sich mit solchen Fragen längst eingehend beschäftigt hat. Es kann uns also keineswegs befremden, daß viele Anhänger des historischen Materialismus sich geweigert haben, diesen Weg zu gehen. Da sie aber, soweit sie nicht in blindem Dogmenglauben erstarrt sind, anerkennen müssen, daß sich aus den Darstellungen von Marx und Engels die Notwendigkeit in der Entwicklung der Produktivkräfte nicht begreiflich machen läßt, so gilt es für sie eine neue, befriedigende Erklärung dafür zu finden. Nach tastenden Anläufen anderer hat Max Adler einen interessanten Versuch dazu unternommen. Er leugnet nicht, daß es unmöglich ist, die Richtungsbestimmtheit der Entwicklung aus den Naturfaktoren abzuleiten, die einen Teil der Produktivkräfte bilden. Diese sind in der Tat nur Bedingungen und lassen verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten zu. Soll also die Eindeutigkeit des Prozesses im Sinne von Marx gerettet werden, so gibt es nur einen Ausweg: die Richtung, die er nimmt, muß durch die menschliche Anlage bestimmt sein. Eine in ihrem Wesen liegende Nötigung muß die Menschen zwingen, unter den verschiedenen Möglichkeiten, die im Rahmen der gegebenen Bedingungen vorhanden sind, immer diejenige zu wählen, die in einer bestimmten Richtung weiterführt. Adler sieht den Grund hierfür darin, daß der Mensch von Natur ein soziales Wesen ist und daher Verwirklichung eines nach vernünftigen Prinzipien geordneten Zusammenlebens erstrebt. Die in der Menschenbrust ursprünglich und unausrottbar wohnende Idee der sozialen Gemeinschaft ist die wahre Triebfeder des Geschehens; die wirtschaftlichen Produktivkräfte bilden nur die äußere Maschinerie, mit deren Hilfe sie verwirklicht wird. Wie man mit jeder Maschine nur solche Dinge herstellen kann, für deren Erzeugung sie geeignet ist, so kann auch der sozial gerichtete Wille jederzeit nur das schaffen, was mit den Mitteln der zur Zeit vorhandenen Produktivkräfte möglich ist. Im Hinblick auf Kants berühmte Formulierung des Verhältnisses von Begriff und Erfahrung faßt er seine Anschauung so zusammen: Das Ideelle ohne das Materielle ist wirkungslos, das Materielle ohne das Ideelle richtungslos. Demnach ergibt sich für ihn als Inhalt des historischen Prozesses die allmähliche Verwirklichung eines ethischen Wertes, der unbewußt in den Menschen selbst als dauernd wirkendes Grundmotiv lebt, und vom Bewußtsein nach und nach als oberstes Prinzip erkannt wird. Die Geschichte, sagt er, ist Ethik en marche; das Ergebnis, zu dem sie mit kausaler Notwendigkeit hinführt, stellt sich dem denkenden Geiste zugleich als höchster ethischer Wert dar. Er proklamiert damit die prästabilierte Harmonie von Ethik und Wirtschaft; denn offenbar muß die Maschinerie der wirtschaftlichen Produktivkräfte von Anfang an so beschaffen sein, daß sie, wenn auch langsam, unter dem richtunggebenden Antrieb des ethischen Willens die praktische Verwirklichung jener obersten Werte ermöglicht. Sicherlich hat auch Adler den Gedankenkreis von Marx und Engels verlassen. Zwar hält er an der Eindeutigkeit und Vorausbestimmbarkeit der Entwicklung fest; aber er kann dies nur erreichen, indem er ethische Werte neben den Produktivkräften 1242

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als wirksam annimmt, während jene gerade stolz darauf waren, die Ethik aus der Erklärung der Geschichte und aus der Grundlegung des Sozialismus verbannt zu haben. Gewiß sind auch sie innerlich davon überzeugt gewesen, daß die Geschichte schließlich etwas schaffen werde, was ethisch höher stehe als die vergangenen Zustände, nämlich die sozialistische Gesellschaft. Trotzdem würden sie nie anerkannt haben, daß das soziale Ideal als psychologische Triebkraft die Geschichte bestimme, weil ihnen bei ihrer naturalistischen Betrachtungsweise das Übergewicht ethischer Wertungen über die wirtschaftlichen Bedürfnisse nicht genügend gewährleistet, und der Sozialismus als einzig mögliches oder immer vorherrschendes ethisches Ideal nicht genügend gesichert schien. In der Tat liegt hier die Schwäche von Adlers Theorie. Gibt es wirklich nur einen einzigen für die menschlichen Handlungen absolut bestimmenden ethischen Wert, die sozialistische Idee? Können nicht religiöse Vorstellungen oder anders geartete sittliche Werte, wie das Ideal der Freiheit, ebensogut einen richtunggebenden Einfluß gewinnen? Und selbst zugegeben, daß das soziale Gemeinschaftsideal stets latent vorhanden sei, wer kann behaupten, daß es zuletzt stets über alle mitwirkenden natürlichen und psychischen Kräfte den Sieg behaupten und die Richtung des Geschehens eindeutig bestimmen müsse? Oder daß es dies zu allen Zeiten getan habe? Aber wie dem auch sei, jedenfalls zeigen uns diese Versuche aufs deutlichste, daß der schwache Punkt der materialistischen Geschichtsauffassung auch ihren Anhängern deutlich zum Bewußtsein gekommen ist. Sie führt alle Veränderungen des menschlichen Zusammenlebens auf Veränderungen der Produktivkräfte zurück; aber sie vermag nicht zu erklären, warum diese selbst sich dauernd verändern müssen, und warum sie es gerade in der Richtung zum Sozialismus hin tun müssen. Ihre Anhänger stehen vor dem unausweichlichen Dilemma, daß sie entweder die Richtungsbestimmtheit dieser Änderungen aufgeben, oder ihren Grund in Wertungen suchen müssen, die das menschliche Handeln in eine bestimmte Richtung ziehen. In beiden Fällen wird die Starrheit des Marxschen Systems gemildert, aber auch seine Einheitlichkeit geopfert. Gerade auf die Vorstellungen von der ursächlich zwingenden Gewalt des Produktionsprozesses und von der Wirkungslosigkeit des ethischen Faktors in der Geschichte gründete sich der Gegensatz zwischen dem historischen Materialismus und der bürgerlichen Geschichtsphilosophie und Geschichtsschreibung. Werden sie aufgegeben, so handelt es sich nur noch um Gradunterschiede in der Bemessung wirtschaftlicher und geistiger Einflüsse. Das sind Fragen, über die man sich niemals völlig einigen wird, weil sie mit den Mitteln empirischer Forschung nicht entschieden werden können. Eine Meinungsverschiedenheit darüber schließt aber gegenseitiges Verständnis und gemeinsame Arbeit nicht aus. Die materialistische Geschichtsauffassung in ihrer ursprünglichen Form imponiert durch ihren streng geschlossenen Aufbau, erreicht aber ihre scheinbar einfache Erklärung des historischen Verlaufes nur durch die Einführung des unklaren Sammelbegriffs der sich selbst zielstrebig verändernden Produktivkräfte. Zweifellos hat sie außerordentlich anregend gewirkt, weil sie mit mächtiger Kraft und Einseitigkeit einen früher in seiner Bedeutung für die Gesamtentwicklung zu gering eingeschätzten 1243

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Teil des Ursachenkomplexes, den wirtschaftlichen, in den Vordergrund des Interesses schob. Unverändert angewandt schafft sie aber doch ein Zerrbild der Geschichte. Sie ist nicht auf Grund eingehender Kenntnis und Erforschung der Tatsachen entstanden, sondern aus einer schnellen und kühnen Verallgemeinerung einzelner Beobachtungen. Ihre Urheber wußten nur etwas von der Geschichte der westeuropäischen Völker; sie hatten sehr wenig völkerpsychologisches und religionsgeschichtliches Material und Verständnis und waren selbst auf wirtschaftsgeschichtlichem Gebiete nur unvollkommen orientiert. Daher trug ihre Theorie alle Merkmale einer vorläufigen Versuchshypothese an sich; sie wurde aber zum feststehenden Lehrsatz erhoben, weil sie aus politischen Motiven geboren war und sofort agitatorisch nutzbar gemacht werden sollte. Auf bloße Vermutungen kann man Programme und Parteien nicht begründen; nur der Glaube, daß in ihr eine sichere Grundlage der Erkenntnis, der Schlüssel zur Berechnung des künftigen Ganges der Dinge gegeben sei, konnte dieser Anschauung ihre große Anhängerschaft zuführen. Indem sie die Geschichte in ein mechanisches Schema bannen, sie berechenbar machen wollte, sah sie sich genötigt, die schöpferische Macht des Menschengeistes zu leugnen, die ewig unberechenbar bleibt. Und doch läßt sich ohne diese kein großes Menschenwerk, keine Neues hervorbringende Entwicklung, auch nicht in Wirtschaft und Gesellschaft, begreifen. Ohne sie würde die Menschheit über die bloße Befriedigung der Lebensnotdurft so wenig hinauskommen, wie das Tier; man müßte denn annehmen, daß ein dunkles Schicksal oder eine übernatürliche Macht unser Geschlecht in vorbestimmter Richtung weiterstoße. Man mag sich die Menschen noch so stark eingeengt vorstellen durch die Lebensverhältnisse und die Denkweise ihrer Zeit: sie würden niemals zu anderen Zuständen gelangen können, wenn sie nicht wenigstens aus eigener Kraft ein Stück über diese Schranken hinauszukommen vermöchten. Gewiß ist die Gabe, Neues zu denken und zu schaffen, unter die Menschen ungleich verteilt; aber ganz fehlt sie keinem, der nicht im dumpfen Dahinleben nach den Gewohnheiten des Alltags sein Genügen findet. Darum vermögen wir auch nachfühlend zu verstehen, wie das Genie seine Werke schaffen konnte, wie eine neue wissenschaftliche Entdeckung, eine Umgestaltung der Wirtschaft oder des Staates bei einer bestimmten Lage der Dinge möglich war. Aber wir vermögen nicht zu erweisen, daß gerade das geschehen mußte, was geschehen ist und nichts anderes hätte geschehen können, und ebensowenig vorauszuberechnen ist, was geschehen wird. Die abwägende Betrachtung der historischen Bedingungen läßt uns wohl Grade der Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit dessen, was kommen kann, unterscheiden; aber welche der möglichen Wendungen wirklich eintritt, das hängt doch von den schöpferischen Taten der Menschen ab, die unter diesen Bedingungen leben und wirken. Bleiben sie aus, so erstarrt das Leben zu verknöcherten Formen, die Gesellschaft verliert die Fähigkeit, auf gefährliche Veränderungen der Umwelt zweckmäßig zu reagieren und neue Kulturwerte hervorzubringen. Wo aber diese Kraft noch in einem Volke lebt, da sind auch unter den schlimmsten äußeren Verhältnissen neue und eigenartige Leistungen, da ist auch nach dem tiefsten Fall die Wiedererhebung möglich. 1244

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So dürfen auch wir in allem Jammer der Gegenwart unsere Hoffnung auf nichts anderes richten als auf die Hilfsquellen, die in dem deutschen Geiste selbst sprudeln. Wenn unser Volk noch lebenskräftig und gesund ist, wie wir glauben, so werden sie sich Bahn brechen durch den Schutt und die Trümmer des Schlachtfeldes, auf dem wir stehen, und ausströmen in schaffenden Taten unserer besten Volksgenossen. Nur davon, ob wir als Volk diese Schöpferkraft noch in uns haben, hängt die Entscheidung über unsere Zukunft ab, nicht von blind wirkenden äußeren Mächten. Auch unserem Volke als Ganzem gilt das Wort unseres Dichters: „In Deiner Brust sind Deines Schicksals Sterne“. ***

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31. Oktober 1920. Rede des abtretenden Rektors Dr. Erich Brandenburg. Bericht über das Studienjahr 1919/20. Hochansehnliche Versammlung! Kollegen! Kommilitonen! Das vergangene Jahr ist für unser Vaterland eine Zeit beginnender Beruhigung gewesen; langsam fängt der Wiederaufbau unseres zerstörten Wirtschafts- und Staatslebens an; noch sind wir nicht über die Gefahrenzone hinaus; aber wir dürfen doch hoffen, sie zu überwinden. Daher waren auch die äußeren Schicksale unserer Universität nicht so dramatisch bewegt wie im vorhergehenden Jahre. Nur einmal wurde die ruhige Arbeit jäh unterbrochen, als in den Märztagen dieses Jahres der Kapp-Putsch mit seinen Folgen auch in Leipzig zu schweren Kämpfen führte. Mehrere Wochen hindurch war das Hauptgebäude der Universität militärisch besetzt und in den kritischen Tagen wurde es von den Aufständischen heftig beschossen. Nicht nur unsere Eingangstüren und unsere Außenfront tragen noch die sichtbaren Spuren dieser Kämpfe; auch in unsere Aula drangen Schüsse und nur wenig hätte gefehlt, so wäre das Werk Max Klingers, das diesem Raume seine Weihe gibt, zerstört worden; noch heute sehen Sie den Geschoßeinschlag unterhalb des Bildes. In diesen stürmischen Tagen ist unsere Studentenschaft mit vollster Hingebung opfermutig für die Erhaltung von Ruhe und Ordnung und für die gesetzmäßigen Gewalten eingetreten. Sie bildete den Kern des Zeitfreiwilligenregimentes, das die innere Stadt besetzt hielt, und ich möchte den tapferen Kommilitonen, die Leben und Gesundheit für die Stadt, die ihnen Gastfreundschaft gewährt, eingesetzt haben, auch von dieser Stelle aus den Dank der Hochschule zum Ausdruck bringen. Leider haben diese Kämpfe auch uns Opfer gekostet; zwei Studierende, stud. phil. Karl Köhler und stud. med. Karl Ernst Siebers, haben ihre Treue mit dem Tode bezahlt, andere schwere Verwundungen davon getragen. Außerdem ist der Oberassistent Dr. Reckleben in seiner Wohnung von einer Kugel getroffen worden. Mögen es die letzten Opfer sein, die ein Kampf Deutscher gegen Deutsche fordert. Selbstverständlich konnte der Unterrichtsbetrieb von den Vorgängen nicht unberührt bleiben. Die Vorlesungen und Übungen mußten eingestellt werden, solange ein großer Teil unserer Studierenden unter den Waffen stand. Das an und für sich schon kurze Zwischensemester fand dadurch ein jähes Ende; ein großer Teil der unterbrochenen Vorlesungen ist aber während des Sommers neben dem gewöhnlichen Unterricht nachträglich zu Ende geführt worden. Die Beziehungen der Universität zur Staatsregierung waren vertrauensvolle und herzliche. Bei der Lösung der großen und schwierigen Aufgaben, die durch die Universitätsreform und die Neuregelung des Besoldungswesens gegeben waren, haben 1246

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wir bei dem Kultusministerium verständnisvolles Entgegenkommen gefunden. Ich spreche unseren herzlichen Dank dafür den Vertretern des Ministeriums aus, die heute unter uns weilen, und verbinde damit den Ausdruck der Hoffnung, daß uns auch in Zukunft bei der Überwindung der schweren Sorgen und Gefahren, die uns wie alle wissenschaftlichen Institute Deutschlands bedrohen, die Unterstützung der Staatsregierung nicht fehlen werde. Am 10. Januar stattete der damalige Ministerpräsident Dr. Gradnauer in Begleitung des Kultusministers Dr. Seyfert der Universität einen Besuch ab und wurde vom Rektor und den Dekanen begrüßt. Er gab seinem Interesse für unsere Hochschule durch eine Stiftung von 3000 M. für das Konvikt Ausdruck, deren ich hier dankend gedenke. Zu den Beratungen der sächsischen Landesschulkonferenz in Dresden, die im April stattfanden, wurden drei Vertreter der Universität zugezogen. Die Verhandlungen dieser Versammlung dienten der Vorbereitung der Reichsschulkonferenz in Berlin und der Klärung dieser für die Zukunft unseres Vaterlandes und unserer Hochschulen so überaus bedeutsamen Fragen. Vom 25.–27. November 1919 beging die Universität Rostock die Feier ihres 500jährigen Bestehens. Der Rektor brachte zusammen mit den Vertretern der übrigen Hochschulen der nordischen Schwesteranstalt die Glückwünsche Leipzigs zum Ausdruck. Es war tröstend und erhebend, zum ersten Male seit dem Kriege wieder einer Kundgebung beizuwohnen, aus der das Lebens- und Kraftgefühl des deutschen Geistes sprach, und aus der Teilnahme der skandinavischen, finnischen, holländischen und spanischen Vertreter wieder einmal zu empfinden, daß wir doch noch Freunde in der Welt haben, die unsere Leistungen auf geistigem Gebiete zu schätzen wissen, und sich über die Landesgrenzen hinweg geistig mit uns verbunden fühlen. Die Anwesenheit fast aller deutschen Hochschulrektoren in Rostock wurde aber auch dazu benutzt, um in ernster Arbeit ein seit längerer Zeit im Werden begriffenes großes Werk der Vollendung entgegenzuführen, die Gründung des Deutschen Hochschulverbandes. In einer Zeit, wo alles schwankend geworden ist, wo der Wert der geistigen Arbeit von vielen verkannt wird, und das Interesse der Massen mehr volkstümlichen Bildungsanstalten sich zuwendet als den alten Hochschulen, die nur einem engeren Kreise besonders Vorgebildeter zugänglich sein können, war es unbedingt nötig, daß diese Hochschulen sich ein Organ zur Geltendmachung ihrer gemeinsamen Interessen gegenüber den Regierungen und der Öffentlichkeit schufen. Zugleich bietet ein solcher Zusammenschluß Gelegenheit zur Aussprache über die Anschauungen und Interessen der verschiedenen Kreise innerhalb der Hochschulen. Gemäß den in Rostock getroffenen Verabredungen fand in Halle zugleich mit der jährlichen Rektorenkonferenz vom 4.–7. Januar 1920 die konstituierende Versammlung des Deutschen Hochschulverbandes statt. Jede Hochschule war durch ihren Rektor und zwei andere Mitglieder vertreten, von denen eines dem Kreise der ordentlichen Professoren, eines der übrigen Dozentenschaft angehörte. Auch Vertreter der Assistenten und der Studentenschaft waren anwesend und wurden in solchen Fragen, die ihre Interessen näher berührten, zugezogen. Mitglieder des Verbandes sind die Hochschulen selbst, nicht die einzelnen Hochschullehrer. Denn es sollte nicht ein Inter1247

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essenverband wirtschaftlicher Art, eine Professorengewerkschaft, ins Leben gerufen werden, sondern eine Organisation, welche die Sache des akademischen Unterrichts und der Wissenschaft im ganzen nach außen hin zu vertreten in der Lage sei. Aufgenommen wurden alle Hochschulen deutscher Zunge, die auf dem alten Gebiete des Deutschen Reiches liegen. Wir hoffen aber bald auch die Hochschulen DeutschÖsterreichs als Mitglieder dieses Verbandes begrüßen zu können. Zum Vorsitzenden wurde Professor Schenck in Münster gewählt, der sich um das Zustandekommen der Vereinigung die größten Verdienste erworben hatte. Die neue Einrichtung hat bereits segensreich gewirkt und wird bei weiterem Ausbau viel dazu beitragen können, daß den Hochschulen ihre alte Stellung im deutschen Leben und die Möglichkeit zu weiterer fruchtbarer Arbeit gewahrt bleibt. Denn wir dürfen uns nicht verhehlen, daß dies ungeheuer schwer sein wird. Das Anschwellen aller Preise bedroht die Hochschulen stärker als der Außenstehende weiß und glaubt. Das unerläßlichste Mittel zur Fortführung wissenschaftlicher Forschung und akademischen Unterrichtes sind Bücher und Zeitschriften. Sie sind heute fast unerschwingbar geworden; namentlich ausländische Literatur ist gar nicht mehr zu bezahlen. Dazu fehlt uns die ganze ausländische Literatur der Kriegsjahre. Wenn wir aber nicht mehr wissen, was in England, Amerika, Frankreich gearbeitet wird, weil wir ihre Bücher und Zeitschriften in unseren Bibliotheken nicht mehr haben, so geraten wir in die Gefahr der geistigen Isolierung, des Zurückbleibens hinter den anderen, die sich mit leichter Mühe alles zugänglich machen können, was wir entdecken und erfinden. Unsere ganze geistige Weltstellung steht auf dem Spiele. Aber noch mehr. Für den Unterricht brauchen unsere Institute, namentlich die medizinischen und naturwissenschaftlichen, Instrumente und Chemikalien aller Art, deren Preise ebenso gewaltig gestiegen sind. Dazu kommen die Kosten für Heizung und Reinigung, die in gar keinem Verhältnis mehr zu den übrigen Ausgaben stehen. Manche Institute verbrauchen allein für Heizung mehr, als ihr ganzer Friedensetat betrug. Der Staat kann beim besten Willen nicht so viel Geldmittel bereitstellen, daß der Betrieb unserer Hochschulen in der notwendigen Weise aufrechterhalten werden kann. Unsere Regierung hat uns die Aufstellung eines neuen Etats zugesagt, der den unumgänglichen Bedürfnissen möglichst Rechnung tragen soll. Aber es läßt sich unschwer voraussehen, daß er immer noch weit hinter dem eigentlichen Bedarf zurückbleiben wird. Die Gefahr droht riesengroß heran, daß die deutschen Hochschulen aus Mangel an Mitteln allmählich einschrumpfen und geistig versumpfen. Man hat ja sogar schon vom Abbau der Universitäten gesprochen; und wenn auch dieses Wort als ein Mißverständnis bezeichnet worden ist, so wissen wir doch, daß solche Pläne immer noch in der Luft liegen. Lieber sollte man leichtsinnige Neugründungen vermeiden, zu denen nicht das geringste Bedürfnis vorliegt. Unter diesen Umständen muß die deutsche Wissenschaft versuchen, sich noch andere Hilfsquellen zu erschließen. Sie darf darauf rechnen, daß Freunde unseres Geisteslebens im In- und Ausland, die über die nötigen Mittel verfügen, bereit sein werden, ihr in ihrer schweren Notlage beizuspringen; noch mehr aber vertraut sie darauf, daß Industrie und Handel einsehen werden, daß es sich hier auch um ihre 1248

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Zukunft handelt. Wenn unsere Hochschulen der Industrie nicht mehr den erforderlichen Nachwuchs an gut geschulten technischen Kräften liefern können, so muß sie langsam aber sicher in ihrer Leistungsfähigkeit zurückgehen. Beruht doch ihre Stellung in der Welt nicht zum geringsten Teile auf der wissenschaftlichen Überlegenheit ihrer technischen Methoden und Hilfskräfte. Und mit dem Sinken der Industrie verliert auch unser Handel seine sicherste Grundlage. Gewiß hängt die Erhaltung unserer Industrie sehr stark auch von anderen Faktoren, z. B. der Beschaffung der Rohstoffe ab. Aber eine ihrer stärksten Wurzeln hat sie in der Wissenschaft und darf daher in ihrem eigensten Interesse deren Pflegestätten, die Hochschulen, nicht verkümmern lassen. Wir kommen zu ihr nicht als Bittsteller, die eine Wohltat erhoffen, sondern als ernste Mahner an ihr eigenes Interesse, in dem Vertrauen auf den bewährten Weitblick ihrer Leiter, der sie erkennen lassen wird, daß jede Aufwendung für die Wissenschaft eine lohnende Kapitalanlage ist, und daß Unterlassungssünden auf diesem Gebiete sich an ihr selbst rächen werden. Um auch diesen Bestrebungen die nötige Einheitlichkeit zu sichern und allen Gebern die Gewähr zu bieten, daß ihre Beiträge zweckmäßig, gerecht und wirtschaftlich verwendet werden, hat sich im Laufe des Sommers eine neue Organisation gebildet, deren Gründung erst gestern in Berlin zum Abschluß gelangt ist, die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft. In ihrem Vorstande ist auch unsere Universität vertreten. An der Spitze steht der frühere preußische Kultusminister Dr. Schmidt. Die Reichsregierung hat sich bereit erklärt, durch eine Bewilligung von 20 Millionen Mark den finanziellen Grundstock für ihre Arbeit zu schaffen. Aber viel mehr wird nötig sein, wenn sie erfolgreich arbeiten und den deutschen Bibliotheken und Instituten die Möglichkeit zu weiterer fruchtbarer Wirksamkeit schaffen soll. Schon bevor diese große gesamtdeutsche Bewegung begann, haben wir auch für unsere Universität im besonderen eine Hilfsaktion eingeleitet. Sie hat im Juli zur Gründung einer Vereinigung von Freunden und Förderern der Universität Leipzig geführt, an der zahlreiche wirtschaftlich führende Personen und Firmen unserer Stadt und des sächsischen Landes beteiligt sind. Von anderen erhoffen wir noch ihren Beitritt und ihre Mitarbeit. Den Vorsitz hat Herr Hofrat Meiner übernommen, als stellvertretender Vorsitzender fungiert der jedesmalige Rektor. Ein Teil der bereits gesammelten Mittel ist ausdrücklich dazu bestimmt, den unbesoldeten Dozenten der Universität, die sich in einer schweren wirtschaftlichen Notlage befinden, über die nächste Zeit hinwegzuhelfen und hat manchem unserer Kollegen wenigstens für den Augenblick die dringendsten Lebenssorgen abgenommen. Allen denjenigen, die zu diesem Werke beigetragen haben und es ferner tun werden, spreche ich hier den herzlichen Dank unserer Hochschule aus. Möge ihre werktätige Unterstützung dazu helfen, ihr die bisherige Stellung unter den deutschen Bildungsanstalten zu erhalten, und möge ihr Beispiel Nachahmung finden bei allen, die für diesen alten Mittelpunkt des sächsischen Geisteslebens Liebe und Achtung empfinden. In diesem Zusammenhange habe ich auch der Bemühungen auswärtiger Gelehrter und Körperschaften zu gedenken, uns in unserer Not die hilfreiche Hand entgegenzustrecken. Ein früherer Lehrer unserer Hochschule, Erzbischof Söderblom in Upsala, 1249

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hat in England Schritte unternommen, um die freie Lieferung englischer Bücher nach Deutschland und Österreich oder ihren Austausch gegen deutsche Schriften in Anregung zu bringen; wir danken ihm dafür von Herzen und senden dem früheren Kollegen einen Gruß freundschaftlichen Gedenkens über das Nordische Meer. In Holland hat sich eine Anzahl von Gelehrten zu ähnlichen Zwecken zusammengetan. Auch von Amerika her ist der deutschen Wissenschaft eine Unterstützung durch Bücherlieferungen zugesagt worden, ohne daß bis jetzt Genaueres über Umfang, Art und Verteilung dieser Gaben bekannt geworden ist. Wir begrüßen in diesen Vorgängen nicht nur eine willkommene Hilfe, sondern vor allen Dingen ein Zeichen dafür, daß allmählich das Gefühl von der Einheit der Wissenschaft, die eine Sache der ganzen Menschheit ist, wieder lebendig zu werden beginnt. Was vom Auslande zur wirtschaftlichen Unterstützung unserer Studenten und Dozenten getan worden ist, wird später noch zu erwähnen sein. Mehr als je sind wir uns dessen bewußt geworden, daß auch unsere Hochschulen ein organisches Glied des gesamten Volkslebens sind, die die Not des Ganzen miterleben und mitzutragen haben. Wir wissen aber, daß alle Opfer, welche Staat und einzelne in dieser Zeit ihnen bringen, dem Volksleben schließlich wieder zugute kommen, daß alle Einzelrinnsale, die uns zugeführt werden, in das große Strombett des Gesamtlebens zurückfluten werden. Was für uns geschieht, legt uns die heilige Pflicht auf, alle Kräfte anzuspannen, um uns solcher Opfer würdig zu erweisen, und darum auch unausgesetzt an uns selbst und unseren Einrichtungen zu arbeiten, damit wir den großen Aufgaben der Gegenwart gewachsen bleiben. Der Ruf nach einer Reform der Universitäten ist seit zwei Jahren stärker und eindringlicher als früher erschollen. Obwohl wir der Überzeugung sind, daß unsere Hochschulen im Kern ihres Wesens gesund und lebenskräftig sind, daß es ein nie wiedergutzumachender Fehler wäre, sie nach fremden Mustern umzumodeln oder zugunsten von Neuschöpfungen ganz oder teilweise zu zerstören, so geben wir doch gern zu, daß vieles an ihnen einer Verbesserung bedürftig ist. In engster Zusammenarbeit mit allen Kreisen der Dozenten und mit der Studentenschaft hat der akademische Senat schon im vorigen Studienjahre ein Reformprogramm entworfen, das die Grundlage für die Verhandlungen mit der Staatsregierung gebildet hat. Wir erkennen dankbar an, daß die Regierung stets den Standpunkt festgehalten hat, die notwendigen Reformen müßten aus den Bedürfnissen und Anregungen der Universität selbst herauswachsen und ihr nicht von außen her auferlegt werden. Sie hat sich entschlossen, das ihr vorgelegte Programm nach sorgfältiger Prüfung und wiederholter Durchberatung mit den Vertrauensmännern der Universität allmählich auf dem Wege einander ergänzender Einzelverordnungen durchzuführen. Erst wenn die so geschaffenen Einrichtungen sich bewährt haben, oder, wo dies nicht Fall gewesen ist, verbessert worden sind, soll das gesamte neue Recht zu einem neuen Universitäts-Statut zusammengefaßt werden. Zunächst ist die Wahl des Rektors neu geordnet worden. Außer den ordentlichen und planmäßigen außerordentlichen Professoren nehmen jetzt auch Vertreter aller übrigen Dozenten, der Assistenten und der Studentenschaft daran teil. Sodann ist den ordentlichen Professoren und Privatdozenten eine starke Vertretung in den 1250

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Verwaltungskörpern der Universität, dem Senat und den Fakultäten eingeräumt worden. Auch die Assistenten, Beamten und Studierenden sollen in ihre besonderen Interessen berührenden Fragen zugezogen werden. Neben die bisherigen Organe der Hochschule sind die Dozentenversammlung und die allgemeine Universitätsversammlung getreten. An der letzteren, die in besonderen Fällen dem Gesamtwillen der Hochschule Ausdruck verleihen soll, nehmen außer dem Lehrkörper auch die Beamten und alle immatrikulierten Studierenden teil. Dagegen ist das Plenum der ordentlichen Professoren, das auch früher nur eine sehr geringe Wirksamkeit hatte, beseitigt. Ferner ist für alle planmäßigen Professoren die Altersgrenze von 70 Jahren in der Weise eingeführt worden, daß dem emeritierten Professor zwar das Recht, Vorlesungen zu halten und an den Fakultätsgeschäften teilzunehmen, verbleibt, die offizielle Vertretung des Faches, die Abhaltung der Prüfungen und die Leitung des Institutes aber an seinen Nachfolger übergeht. Wir wissen alle, daß gerade hochbedeutende Gelehrte noch nach dem 70. Lebensjahre auch als Lehrer eine hervorragende Wirksamkeit entfaltet haben; aber wir haben uns doch der Erkenntnis nicht verschließen können, daß es im allgemeinen berechtigt ist, für eine Verjüngung des Lehrkörpers rechtzeitig Sorge zu tragen. Wir halten es aber für äußerst wertvoll, daß den emeritierten Professoren die Möglichkeit zu weiterer akademischer Wirksamkeit verbleibt. Endlich ist die größte und am vielfältigsten zusammengesetzte Fakultät, die philosophische in zwei Abteilungen, die philologischhistorische und die mathematisch-naturwissenschaftliche mit eigenen Dekanen an der Spitze gegliedert worden. Jedoch bleibt sie für Berufungsfragen und andere gemeinsame Angelegenheiten als Einheit bestehen unter der Leitung eines der beiden Dekane, dem der Vorsitz in der Gesamtfakultät durch Wahl übertragen wird. Zu den durch die Zeitumstände notwendig gewordenen Änderungen gehört auch die Umgestaltung des Besoldungswesens der Hochschullehrer. Wir begrüßen es dankbar, daß die Staatsregierung und die Volkskammer durch eine erhebliche Aufbesserung der Gehälter den Professoren wenigstens eine bescheidene Lebensmöglichkeit geschaffen haben. Die ungeheure Steigerung der Kosten selbst für eine einfache Lebenshaltung bedroht gerade die geistigen Arbeiter, die nicht in der Lage sind, durch Streikdrohung und Stillegung der Arbeitsstätten ihren Forderungen materiellen Nachdruck zu geben, mit den schwersten Gefahren. Diese sind auch jetzt keineswegs überwunden. Namentlich wird es uns immer schwerer, uns das nötige geistige Rüstzeug unseres Berufes zu beschaffen. Wir hoffen, daß die Erkenntnis immer allgemeiner werden wird, daß die Erhaltung eines gesunden und leistungsfähigen Hochschullehrerstandes eine Lebensfrage für die geistige Zukunft der Nation ist. Nur wer von materiellen Sorgen frei ist, vermag wirklich seine ganze Kraft dem Dienste der Wissenschaft und der akademischen Lehrtätigkeit zu widmen und das zu leisten, was die Allgemeinheit im Interesse der Heranbildung einer hochwertigen geistigen Arbeiterschaft verlangen muß. Wenn diese Möglichkeit nicht mehr geboten werden kann, so werden die tüchtigsten Kräfte abgehalten, sich der akademischen Laufbahn zu widmen; der Beruf des Universitätslehrers muß dann zum Monopol der Reichen werden, oder er sinkt zu einer Nebenbeschäftigung herab, weil der einzelne gezwungen ist, sich daneben nach anderen Erwerbsmöglichkeiten umzusehen. 1251

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Ein besonders schweres, noch ungelöstes Problem bildet die Heranziehung eines tüchtigen akademischen Nachwuchses. Wir möchten die bewährte Einrichtung des freien Privatdozententums an unseren Hochschulen nicht missen. Aber es ist heute für einen unbemittelten jungen Gelehrten ganz unmöglich, sich ohne Unterstützung aus öffentlichen Mitteln ein Jahrzehnt oder länger durchzuschlagen, bis er eine feste Anstellung erhält, wenn er nicht durch die Übernahme bezahlter Nebenarbeit seine Kraft zersplittert und seine volle wissenschaftliche Ausbildung beeinträchtigt. Zwar hat die Staatsregierung durch die Errichtung neuer besoldeter Assistentenstellen eine gewisse Lebensmöglichkeit für einen Teil der jüngeren Lehrkräfte geschaffen; aber auch diese Einrichtung ist nicht unbedenklich und genügt dem bestehenden Bedürfnis in keiner Weise. Die Öffentlichkeit weiß nur wenig von der furchtbaren Notlage vieler junger Gelehrter, die unter schweren Nahrungssorgen für sich und ihre Familien verkümmern, und deren hoffnungsvolle Anlagen der Gesamtheit schließlich verloren zu gehen drohen. Auch bei uns wären manche von ihnen ohne die Hilfe der Freunde und Förderer unserer Hochschule über das letzte schwere Jahr kaum hinweggekommen. Nach dem Vorgange Preußens hat auch Sachsen eine Erhöhung der Kolleggelder um 60 % vornehmen müssen, obwohl sich Regierung und Universität wohl bewußt waren, daß dadurch das Studium für die Söhne des Mittelstandes von neuem erschwert wird. Im Kriege schwer beschädigte Studierende sind jedoch von dieser Erhöhung befreit. Diese vermehrten Einnahmen fließen aber nicht mehr allein den Professoren zu; vielmehr ist zugleich mit der Gehaltserhöhung ein Abzug vom Ertrag der Kolleggelder eingeführt worden, der namentlich diejenigen trifft, die bisher hohe Einnahmen aus dieser Quelle erzielten. Der aus diesen Abzügen gebildete Fonds ist von der Regierung zur Hälfte der freien Verfügung der Universität überlassen worden und soll zur Unterstützung der sozialen Einrichtungen der Studentenschaft dienen. Auch für das Gebührenwesen bei der Doktorpromotion wird eine Neuregelung vorbereitet. Die philosophische Fakultät hat seit dem Sommersemester 1920 die Verleihung der Würde des Doctor rerum politicarum an Nationalökonomen, die medizinische Fakultät des Doctor medicinae dentariae an Zahnärzte neu eingeführt. Leider haben alle Fakultäten auf den früher als unerläßlich für die Promotion betrachteten Druck der Dissertationen wegen der Höhe der Kosten vorläufig verzichten müssen. Die Fakultäten haben jedoch, um den Verfassern die Möglichkeit zur Mitteilung ihrer wissenschaftlichen Ergebnisse zu gewähren und zugleich der Außenwelt einen Überblick über das Geleistete zu bieten, die Herausgabe von Jahresberichten mit knappen Inhaltsangaben der Dissertationen beschlossen. Wir hoffen, daß es in absehbarer Zeit möglich sein wird, zu dem alten Zustande zurückzukehren oder wenigstens die besten Arbeiten vollständig zu drucken, da wir uns nicht verhehlen können, daß die Mitteilung von Auszügen nur ein recht unvollkommenes Auskunftsmittel ist. Auch die Verfassung der Studentenschaft ist durch weitere Ausgestaltung der studentischen Selbstverwaltung und Zusammenfassung der bisher nebeneinander stehenden Ausschüsse der Korporierten und der Nichtinkorporierten zu einem auf 1252

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Grund der Listenwahl gewählten Allgemeinen Studentenausschuß auf neue Grundlagen gestellt worden. An der Verwaltung der akademischen Krankenkasse ist die Studentenschaft beteiligt worden. Das neue Studentenrecht wird demnächst nach seiner Genehmigung durch das Ministerium auch formell in volle Wirksamkeit treten. Zu den organisatorischen Veränderungen ist auch die Gründung der Volkshochschule bei der Universität Leipzig zu rechnen. So sehr wir daran festhalten müssen, daß an die Hochschule nur genügend vorgebildete Elemente zugelassen werden, damit das Niveau des Unterrichts nicht herabgedrückt wird, so wenig verkennen wir die Berechtigung des Strebens nach Vertiefung und Verbreiterung der allgemeinen Volksbildung und fühlen die Verpflichtung, unsere Lehrkräfte und Einrichtungen dafür nutzbar zu machen. Schon seit längerer Zeit bestanden an unserer Universität volkstümliche Hochschulkurse, die sich eines regen Besuches aus allen Volkskreisen erfreuten. Sie sind jetzt mit tatkräftiger Unterstützung der Staatsregierung zu einer Volkshochschule bei der Universität Leipzig ausgebaut worden, deren Leitung Professor Schmeidler übernommen hat. Sie ist am 24. Oktober feierlich eröffnet worden. Hier werden nicht nur zusammenhängende Vortragsreihen über Gegenstände von allgemeinem Interesse aus allen Wissenschaften geboten, sondern auch Arbeitsgemeinschaften für eine kleinere Zahl von Teilnehmern eingerichtet, die eine selbsttätige Weiterbildung auf engeren Gebieten ermöglichen sollen. Sonderkurse für Arbeiter und Beamte sollen die Schulung für bestimmte praktische Lebensaufgaben erleichtern. Wir hoffen, daß die neue Volkshochschule, die jedem Volksgenossen offen steht, erzieherisch im Geiste wahrer Wissenschaft auf ihre Hörer wirken, daß sie über alle sozialen und parteipolitischen Gegensätze hinweg dem geistigen Austausch und der geistigen Annäherung aller Bevölkerungsschichten dienen, und daß sie die Verbindung zwischen Wissenschaft und Leben, die einander nicht entbehren können und sich doch so oft nicht recht verstehen, enger und fruchtbarer gestalten möge. Auch der Kreis der zum Studium an der Universität selbst Zugelassenen hat sich erweitert. Durch Verordnung des Ministeriums vom 15. November 1919 sind alle Volksschullehrer unter Wegfall der früheren Beschränkungen zum Studium zugelassen worden; ferner sollen die Studierenden der Hochschule für Frauen als Hörerinnen aufgenommen werden. Immer schwieriger gestaltet sich die Ausländerfrage. Wir müssen wohl wünschen, daß Ausländer nach wie vor unsere Hochschulen besuchen, schon damit nicht andere Länder sie an sich ziehen. Frankreich entfaltet eine Kulturpropaganda von unheimlicher Intensität gerade in den uns befreundeten Ländern, wie Skandinavien und Bulgarien. Aber wir müssen auch dafür sorgen, daß in erster Linie unseren Studierenden Raum zu ihrer Ausbildung bleibt. Namentlich den Zustrom aus Osteuropa, wo die einheimischen Bildungsstätten ganz darniederliegen, müssen wir möglichst einzudämmen bemüht sein. Daß wir von den Ausländern Zahlung der Gebühren in Gold verlangen, solange unsere Valuta so niedrig steht, ist nicht mehr als recht und billig, da sie sonst fast umsonst die gleichen Bildungsmöglichkeiten haben würden, die unseren eigenen Landeskindern nur unter schweren Opfern zugänglich sind. Von solchen Ausländern, die der deutschen Sprache nicht genügend mächtig sind, wird in Zukunft eine Aufnahmeprüfung im Deutschen ver1253

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langt werden. Dagegen versteht es sich von selbst, daß Auslandsdeutsche ganz wie Inländer behandelt werden. Auch der Lehrbetrieb an unserer Hochschule hat nach einer Richtung hin eine wesentliche Erweiterung erfahren. Das Turnwesen ist völlig neugestaltet worden. Nachdem die große körperliche Ausbildungsanstalt für unser Volk das auf der allgemeinen Dienstpflicht ruhende Volksheer infolge der Furcht unserer Feinde vor einer Wiederbelebung unserer militärischen Kraft gemäß dem Friedensvertrage hat aufgelöst werden müssen, ist den Hochschulen die unabweisliche Pflicht erwachsen, in ganz anderem Maßstabe wie bisher auch für die körperliche Ausbildung der akademischen Jugend Sorge zu tragen. Herr Professor Kuhr ist als akademischer Turnlehrer im Hauptamt angestellt, ein Lehrplan für die Ausbildung von Turnlehrern ist entworfen und für die allgemeine turnerische und sportliche Betätigung der Studierenden sind vermehrte Gelegenheiten geschaffen worden. Auch diese Einrichtungen bedürfen noch der reicheren Entfaltung. Aber schon jetzt möchte ich an die Kommilitonen die dringende Mahnung richten, das Gebotene eifrig zu benutzen, um ihren Körper auszubilden und zu stählen. Die Zukunft bedarf eines nicht nur geistig regsamen und weitblickenden, sondern auch körperlich kräftigen und tüchtigen Geschlechts inmitten der Gefahren, die uns umdrohen. Leider hatte unsere Hochschule in diesem Jahre eine Reihe besonders schwerer Verluste zu beklagen. Am 4. Juli 1920 starb der Ehrendoktor unserer philosophischen Fakultät, der Schöpfer unseres großen Aulabildes, der weltberühmte Leipziger Maler und Bildhauer Max Klinger. Obwohl er nicht dem engeren akademischen Kreise angehörte, haben auch wir seinen Hingang als einen herben Verlust für das geistige Leben unserer Stadt mit tiefer Trauer empfunden. Was an diesem leidenschaftdurchglühten, phantasievollen und gedankenreichen Künstler sterblich war, ist dahingeschwunden, schneller als wir zu hoffen berechtigt waren; aber seine Werke werden ihn und sein großes Streben unserem Auge und Geiste gegenwärtig erhalten. Am 31. Januar 1920 verschied Geheimer Rat Dr. Wilhelm Pfeffer, Ordinarius der Botanik und Direktor des Botanischen Instituts, kurz vor der Vollendung seines 75. Lebensjahres. Mit ihm verlor unsere Universität einen Gelehrten von Weltruf, der seiner Wissenschaft ein bahnbrechender Führer war. Namentlich hat er die Lehre von der Physiologie der Pflanzen in ihrem Aufbau mächtig gefördert und sie zu seltener Vollkommenheit geführt. Tiefe geistige Durchdringung der Probleme, reiche Erfindungsgabe in der Anwendung experimenteller Arbeitsmethoden und schärfster kritischer Sinn vereinigten sich in ihm. Sein Lebenswerk wird noch auf lange hinaus den Forschungsweg seiner Wissenschaft bestimmend beeinflussen. Über ein Menschenalter lang, seit 1887, wirkte er als Lehrer an unserer Universität; eine große Zahl von Schülern zog der Ruf seines Namens an, und überraschend groß ist die Zahl der jüngeren Gelehrten, die bei ihm entscheidende Anregung und fördernde Beratung fanden. Auch im inneren Leben unserer Hochschule hat er durch klugen Rat und stete Bereitschaft des Handelns überaus nutzbringend gewirkt. Am 22. Februar 1920 starb im Alter von 56 Jahren Dr. Max Sigfried, Ordinarius der physiologischen Chemie. Nachdem er sich 1892 in der philosophischen Fakultät 1254

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unserer Universität für Chemie habilitiert hatte, wurde er 1897, obgleich er nie Medizin studiert hatte, in Anbetracht seiner bedeutenden Leistungen in der physiologischen Chemie zum ao. Professor der Medizin, 1916 zum ordentl. Honorarprofessor, 1919 zum Ordinarius ernannt. Seine Hauptverdienste liegen in seinen Untersuchungen über den Aufbau des Eiweißmoleküls. Insbesondere hat er wichtige Aufklärungen über den Zusammenhang der komplexen Elemente des Eiweißes, der Peptone, gegeben, bei deren Analyse ihm die selbstgeschaffene, jetzt allgemein bekannte Carbaminoreaktion wichtige Dienste leistete. Als anregender Lehrer verstand er es, eine große Zahl von Schülern an sich zu ziehen. Die aus seinem Laboratorium hervorgegangenen Arbeiten zeigen, daß die Eigenschaften des Meisters, planmäßiges Arbeiten und peinliche Gewissenhaftigkeit, auch auf seine Schüler übergegangen sind. Am 7. April 1920 starb in Freiburg im Breisgau der Wirkliche Geheime Rat Dr. Karl Binding, emeritierter Ordinarius des Strafrechts, des Strafprozesses und des Staatsrechts, Ehrenbürger der Stadt Leipzig, im Alter von 79 Jahren. Seit 1873 gehörte er unserer Hochschule an und übte von Anfang an durch seine glänzende Persönlichkeit und seinen eindringlichen temperamentvollen Lehrvortrag einen starken Einfluß auf die Leipziger Studentenschaft. Seine wissenschaftliche Arbeit knüpfte an Adolf Merkel an und diente vor allem der Erforschung des Strafgesetzes, seines Wesens und Inhalts, sowie der Klarlegung der Verbrechenstatbestände. Sie war von dem Gedanken beherrscht, eine feste, den Richter bindende Grundlage der Strafrechtspflege zu schaffen, ein Ideal, dem er mit unbeirrbarer Konsequenz nachstrebte. Sein wiederholt in neuen Auflagen herausgegebenes Jugendwerk „die Normen und ihre Übertretung“ hat zwar manchen Widerspruch hervorgerufen, aber doch eine ganz ungewöhnlich anregende Kraft entfaltet. Es legt zusammen mit seinem groß angelegten, leider nicht völlig abgeschlossenen Handbuch des Strafrechts von der Eigenart seiner literarischen Erscheinung Zeugnis ab. Zugleich machte sich Binding um zahlreiche Gebiete der Universitätsverwaltung verdient; die Kollegen dankten ihm dies durch die Ehre, ihm, der schon früher das Rektorat bekleidet hatte, die Vertretung der Universität auch für das Jubiläumsjahr 1909 zu übertragen, eine Aufgabe, die er mit Frische und Würde erfüllte. Kurz vor dem Kriege hatte er seinem Amt entsagt und sich nach Freiburg i. B., der Stätte seiner ersten akademischen Wirksamkeit, zurückgezogen. Am 4. August 1920 starb Geheimer Hofrat Dr. Karl Rohn, Ordinarius der Mathematik und Direktor des mathematischen Instituts im Alter von 62 Jahren. Rohn war ein vorzüglicher Geometer, der die mathematische Kenntnis von den algebraischen Kurven und Flächen durch schöne und wichtige Forschungen bereichert, ein akademischer Lehrer, der in unermüdlicher Arbeit zahlreiche Schüler ausgebildet hat, wobei er aufrichtig bestrebt war, in ihnen die Fähigkeit der Anschauung zu entwikkeln. Als Kollege hat er durch seinen geraden, aufrechten und gerecht abwägenden Sinn der Universität in den Verwaltungsangelegenheiten, in deren Dienst er stets bereitwillig seine Kräfte stellte, außerordentlich genützt. Am 31. August 1920 verschied der Wirkliche Geheime Rat Dr. Wilhelm Wundt, emeritierter Ordinarius der Philosophie und Direktor des Instituts für experimentelle 1255

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Psychologie, Ehrendoktor der Medizin und der Rechte, Ehrenbürger der Stadt Leipzig, im beginnenden 89. Jahre seines Lebens. Von der Physiologie und Medizin ausgehend, hat dieser große Gelehrte mehr als 4 Jahrzehnte hindurch unter uns gewirkt und in unvergleichlicher Weise die Philosophie und Psychologie vertreten. Sein Name wird für immer mit dem unserer Universität verknüpft sein. Wir sind stolz darauf, daß er der Unsere war. Das hier von ihm gegründete erste Institut für experimentelle Psychologie ist ein Vorbild für alle ähnlichen Lehr- und Forschungsstätten der Welt geworden. Von einer erstaunlichen, seit Leibniz niemals wieder erreichten Vielseitigkeit der Interessen und des Wissens, hat er auf fast allen Gebieten der Philosophie schöpferisch gearbeitet. Vor allen Dingen aber war er der Bahnbrecher und anerkannte Führer der wissenschaftlichen Psychologie in dem letzten halben Jahrhundert. Die reichen Ergebnisse seiner exakten Forschungen wußte er stets zu den großen Fragen der philosophischen Weltanschauung in Beziehung zu setzen. Zu ihm drängten sich Schüler aus allen Teilen der bewohnten Erde. Auf der Höhe des Ruhms blieb er immer der schlichte sachliche Mensch, den wir verehren mußten, der pünktliche Verwalter seiner vielfältigen Berufspflichten, der aufrechte deutsche Mann, dessen Glaube an sein Vaterland auch in den Tagen des Unglücks nie erschüttert werden konnte. Sein geistiges Erbe zu hüten und fruchtbar zu machen, bleibt gerade für unsere Hochschule, der er bei ihrer 500jährigen Jubelfeier die Festrede hielt, eine ebenso verantwortungsvolle wie schöne Aufgabe. Am 5. September starb der ordentliche Professor der klassischen Philologie Justus Hermann Lipsius, der ehrwürdige Träger einer halbhundertjährigen Tradition in unserem Lehrkörper, dem er seit 1869 angehörte, bis nahe an das 80. Lebensjahr seine Amtstätigkeit in vollem Umfange ausübend. Er war ein durch unfehlbar sichere Kenntnis der griechischen Sprache, durch Scharfsinn und Genauigkeit, durch Klarheit des Gedankens wie des Ausdrucks ausgezeichneter Philologe, der von seinem Lehrer Westermann das Erbe der Schule Gottfried Herrmanns übernommen hat, aber mit diesem die weitere Auffassung der Altertumswissenschaft im Sinne von Friedr. Aug. Wolf und Boeckh vereinigte. Sein Hauptwerk, die überaus gründliche und durchsichtige Darstellung des attischen Rechts und Rechtsverfahrens, wird als wichtigste Vorarbeit für eine wissenschaftliche Gesamtdarstellung des griechischen Rechts lange in Geltung und Ansehen bleiben. An demselben Tage starb der ordentliche Honorarprofessor der Physik und der Meteorologie Dr. Artur von Öttingen. In ihm verlor die Universität einen bedeutenden Physiker von seltener Eigenart. Er gehörte zu dem großen Physikergeschlecht des letzten Jahrhunderts, das die neue Physik heraufführen half. Als deutscher Mann, der es ablehnte, an der bis dahin deutschen Universität in Dorpat russisch zu lesen, mußte er seinen dortigen Lehrstuhl aufgeben und fand in Leipzig eine neue Heimstätte, wo er in tatkräftiger Weise weiterwirkte. Hier vollendete er seine neue Grundlegung der Musikwissenschaft und erbaute ein Reinharmonium von seltener Klangschönheit, das der neuen Lehre als Stütze diente. Dem glänzenden Lehrer, dem ausgezeichneten Forscher und kernigen Deutschen wird die Universität ein dankbares Andenken bewahren. 1256

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Am 15. September 1920 starb im Alter von 78 Jahren der Geheime Rat Dr. Franz Hoffmann, emeritierter Ordinarius der Hygiene und Direktor des hygienischen Instituts. Von 1872–1913, also 41 Jahre, hat er erst als außerordentlicher, dann als ordentlicher Professor an unserer Hochschule gewirkt und hier das hygienische Institut, das zweite seiner Art in Deutschland, gegründet. Hoffmann war nicht bloß ein Gelehrter, der unermüdlich den Fortschritten seiner Wissenschaft folgte, ein Forscher von Scharfsinn und Eigenart, ein außerordentlich anregender Lehrer, sondern verstand es auch in besonderem Maße, seine Wissenschaft zum besten der Allgemeinheit namentlich unserer Stadt Leipzig zu verwerten. Noch in den letzten Jahren seiner Tätigkeit erwarb er sich ein besonderes Verdienst durch den Umbau des hygienischen Instituts, das dadurch zu einer der größten und am besten ausgestatteten Anstalten dieser Art in unserem Vaterlande wurde. Die zunehmende Schwächung seines Sehvermögens zwang ihn 1913, sein akademisches Amt niederzulegen. Zwar völlig erblindet, aber geistig frisch verlebte er die letzten Jahre auf einem Landgütchen seiner bayrischen Heimat. In den Ruhestand traten in der Juristenfakultät der Wirkliche Geheime Rat Dr. Adolf Wach, Ordinarius des Strafrechts und beider Prozesse und der ordentliche Honorarprofessor Dr. Wolfgang Stintzing. Nach auswärts berufen wurden der außerordentliche Professor Dr. Felix Holldack als Ordinarius der Rechtswissenschaft an die Technische Hochschule in Dresden, die Privatdozenten Dr. Karl von Zahn als Regierungsrat und ständiger Hilfsarbeiter in das Reichsministerium des Innern in Berlin, Dr. Herbert Kraus als außerordentlicher Professor, Dr. Guido Kisch als Ordinarius der Rechte, beide an die Universität Königsberg, und Dr. Friedrich Ebrard als außerordentlicher Professor an die Universität Hamburg. Ferner die außerordentlichen Professoren Dr. Artur Läwen als Ordinarius für Chirurgie an die Universität Marburg und Dr. Josef Bürgers als Direktor des hygienischen Instituts an die Akademie für praktische Medizin in Düsseldorf. In der philosophischen Fakultät die ordentlichen Professoren Dr. Eduard Spranger als Ordinarius der Philosophie an die Universität Berlin und Dr. Matthias Murko als Ordinarius der südslawischen Philologie an die tschechische Universität in Prag, der ordentliche Honorarprofessor Dr. Karl Stählin als Ordinarius für osteuropäische Geschichte an die Universität Berlin; die außerordentlichen Professoren Dr. Hans Weyhe als Ordinarius der englischen Philologie an die Universität Halle, Dr. Martin Wackernagel als außerordentlicher Professor der Kunstgeschichte an die Universität Münster i. W., Dr. Arnold Schering als Ordinarius der Musikwissenschaft an die Universität Halle, Dr. Jakob Strieder als außerordentlicher Professor der Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftsgeographie an die Universität München; die Privatdozenten Dr. Mencke-Glückert als vortragender Rat und Geheimer Schulrat in das Kultusministerium in Dresden und Dr. Erwin von Beckerath als außerordentlicher Professor der Nationalökonomie an die Universität Rostock. Von auswärts wurden an unsere Universität berufen: Professor Dr. Erwin Jacobi, der erst im Frühjahre 1920 von Leipzig nach Greifswald berufen worden war, als Ordinarius des öffentlichen Rechts; der Geheime Medizinalrat Dr. Ernst Hertel, bisher Honorarprofessor an der Universität Berlin, als Ordinarius der Augenheil1257

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kunde, Professor Dr. Wilhelm Pinder von der Universität Breslau als Ordinarius der Kunstgeschichte, Professor Dr. Hermann Abert aus Halle als Ordinarius der Musikwissenschaft, Professor Dr. Julius Bauschinger aus Straßburg als Ordinarius der Astronomie, Professor Dr. Wilhelm Streitberg aus München als Ordinarius der vergleichenden Sprachwissenschaft; Dr. Theodor Litt, bisher außerordentlicher Professor in Bonn, als Ordinarius der Philosophie und Pädagogik; Geheimer Regierungsrat Professor Dr. Friedrich Falke, bisher vortragender Rat im Wirtschaftsministerium zu Dresden, als Ordinarius der landwirtschaftlichen Betriebslehre; Dr. Karl Wildhagen, bisher Oberlehrer der Leibniz-Oberrealschule in Charlottenburg, als planmäßiger außerordentlicher Professor der englischen Philologie; Dr. Wilhelm Eitel, bisher Privatdozent in Frankfurt a. M., als planmäßiger außerordentlicher Professor der physikalisch-chemischen Mineralogie und Petrographie. Befördert wurden zu ordentlichen Professoren der Zahnheilkunde die bisherigen außerordentlichen Professoren Dr. Oskar Römer und Dr. Wilhelm Pfaff; zum ordentlichen Professor der speziellen Pathologie und Therapie der bisherige außerordentliche Professor Dr. Friedr. Rolly; zum ordentlichen Professor für Völkerkunde der außerordentliche Professor Dr. Karl Weule; zum ordentlichen Professor der Pflanzenbaulehre der außerordentliche Professor Dr. Alfred Zade; zum ordentlichen Professor der Geophysik der außerordentliche Professor Dr. Robert Wenger; zum ordentlichen Professor der Tierheilkunde der ordentliche Honorarprofessor Dr. August Eber. Zu ordentlichen Honorarprofessoren in der juristischen Fakultät der Privatdozent Dr. Willibalt Apelt, vortragender Rat im Kultusministerium, und in der philosophischen Fakultät der außerordentliche Prof. Dr. Viktor Gardthausen. Zu planmäßigen außerordentlichen Professoren in der juristischen Fakultät die Privatdozenten Dr. Konrad Engländer für Urheber- und Verlagsrecht und Dr. Heinrich Glitsch für Arbeitsrecht und deutsche Rechtsgeschichte; in der medizinischen Fakultät Privatdozent Dr. Roderich Sievers für Chirurgie des Kindesalters; in der philosophischen Fakultät Prof. Dr. Erich Marx für Radiophysik. Zu nicht planmäßigen außerordentlichen Professoren: in der juristischen Fakultät die Privatdozenten Dr. Bertalan Schwarz und Dr. Rudolf Oeschey; in der medizinischen Fakultät die Privatdozenten Dr. Georg Herzog, Dr. Artur Seitz, Dr. Walter Sulze und Dr. Otto Kleinschmidt; in der philosophischen Fakultät die Privatdozenten Dr. Gustav Reddelien, Dr. Wilhelm Wilke und Dr. Otto Schulz, sowie der erste Observator der Sternwarte Dr. Fr. Hayn. Die venia legendi erhielten: in der juristischen Fakultät Dr. Joh. Kreller für römisches Recht und juristische Papyruswissenschaft; in der medizinischen Fakultät Dr. Carly Seyfarth für allgemeine Pathologie und pathologische Anatomie, Dr. Richard Pfeifer für Psychiatrie und Neurologie, Dr. Karl Wilh. Jötten für Hygiene; Dr. Adolf Hille für Zahnheilkunde und Dr. Josef Hohlbaum für Chirurgie; in der philosophischen Fakultät Dr. Max Müller für Tierzuchtlehre; Dr. Karl Heinrich Meyer für slawische Philologie; Dr. Fritz Krause für Völkerkunde; Dr. Johannes Freyer für Philosophie; Dr. Benno Landsberger für semitische Philologie; Dr. Alexander Hoffmann für Nationalökonomie und Privatwirtschaftslehre; Dr. Friedrich Oertel für Alte Geschichte. 1258

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Als ständiger Universitätsturnlehrer wurde der bisherige Oberturnlehrer am KönigAlbert-Gymnasium Dr. Hermann Kuhr angestellt, als Lektoren Privatdozent Dr. Wilhelm Friedmann für die italienische und Privatdozent Dr. Heinrich Wengler für die französische Sprache. Der Lektor Israel Kahan erhielt den Titel Professor. Unter den Beamten der Universität sind folgende Veränderungen zu verzeichnen: Assessor Sperling, juristischer Hilfsarbeiter an der Universität, wurde zum Regierungsrat ernannt. Als Leiter der akademischen Auskunftsstelle wurde Dr. Artur Köhler fest angestellt. Quästor Burkhardt und Quästurkontrolleur Steinert erhielten die Dienstbezeichnung Rechnungsrat. An der Universitätsbibliothek trat der Oberbibliothekar Dr. Helßig mit Ende des Jahres 1919 in den Ruhestand; Oberbibliothekar Otto Kippenberg wurde zum planmäßigen Oberbibliothekar, Bibliothekar Dr. Richard Schmidt zum Oberbibliothekar, Assistent Dr. Egon Mühlbach zum Bibliothekar, außerordentlicher Professor Dr. Richard Scholz zum ersten Assistenten, Dr. Heinrich Treplin zum zweiten und Herr Edgar Richter zum dritten Assistenten ernannt. In der Studentenschaft hatten wir den Tod von 21 jungen Kommilitonen zu beklagen. Nachträglich wurde festgestellt, daß im Kriege weitere 173 Studierende gefallen sind, so daß die Gesamtzahl der Gefallenen sich jetzt auf 1372 beläuft, wovon 8 dem Lehrkörper, 5 der Assistentenschaft, 14 der Beamtenschaft und 1345 der Studentenschaft angehörten. Unsere Verlustziffer ist größer als die jeder anderen deutschen Universität. An Promotionen vollzog die Juristenfakultät 155, die medizinische Fakultät 186, außerdem 93 zum Dr. med. vet. und 15 zum Dr. med. dent., die philosophische Fakultät 145, außerdem 5 zum Dr. rer. pol. Honoris Causa promovierte die theologische Fakultät den Landeskirchenkurator der evangelischen Kirche Siebenbürgens, Obergespan und Comes der Sachsen Fr. Walbaum zu Hermannstadt, die medizinische Fakultät den Hofrat Julius Parreidt in Leipzig, den Hofrat Prof. Wilhelm Pfaff in Leipzig und den Professor Oskar Römer in Leipzig zu Ehrendoktoren der Zahnheilkunde, die philosophische Fakultät den Geheimen Hofrat Prof. Artur Nikisch, Leiter der Gewandhauskonzerte in Leipzig zum Doktor der Philosophie. Als Preisaufgabe hatte die Juristenfakultät für das Studienjahr 1919/20 gestellt: „Der Erbvertrag der Ehegatten.“ Es ist eine Arbeit eingelaufen mit dem Kennwort: „Nicht der ist auf der Welt verwaist, dessen Vater und Mutter gestorben, sondern der für Herz und Geist keine Liebe und kein Wissen erworben.“ (Fr. Rückert.) Die Arbeit beschränkt sich im wesentlichen auf die Darstellung der einschlagenden Grundsätze des BGB. Sie zeugt von gutem Verständnis, von einer anerkennenswerten Beherrschung des Schrifttums und von der Fähigkeit des Verfassers, sich auch in verwickelten Fragen zurechtzufinden. Trotz einzelnen Mängeln konnte ihr unbedenklich der volle erste Preis zuerkannt werden. Als Verfasser ergab sich stud. jur. Herbert Wöller (Veserde Kr. Altena i. Westfalen). Die Preisaufgabe der mathematischnaturwissenschaftlichen Abteilung der philosophischen Fakultät lautete: „Quadratische Irrationalitäten und Fermen im Gebiete der höheren Kongruenzen.“ Darauf ist eine Arbeit mit dem Kennwort ὁϑεὸς ἀριϑμηϑίζει eingegangen. Sie erzielt durch Feststellung der fόr die Zahlentheorie eines quadratischen Kφrpers [v f(x)] wesent1259

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lichsten Tatsachen ein interessantes Resultat. Auf der andern Seite beweist ihre Durchführung eine erhebliche Fähigkeit, sich mit richtigem Blick die geeigneten mathematischen Begriffe selber zu schaffen und dann ihre Gesetze in scharfsinniger Untersuchung zu ermitteln. Die Fakultät hat diese Arbeit der Verleihung beider Preise für würdig erklärt. Als Verfasser ergab sich stud. math. Emil Artin aus Wien. Die Aufgaben der philologisch-historischen Abteilung und der theologischen und medizinischen Fakultät haben keine Bearbeitung gefunden. Die Preisaufgaben für das nächste Studienjahr werden am Schwarzen Brett bekannt gegeben werden. Der Alfred Ackermann-Teubner-Gedächtnispreis zur Förderung der mathematischen Wissenschaft wurde in diesem Jahre Herrn Professor Dr. Gustav Mie in Halle für seine Arbeit: „Theorie der Materie“ (Annalen der Physik, Band 37, 39, 40) einstimmig zuerkannt. Auch in diesem Jahre wurde die Universität reich mit Stiftungen und Schenkungen bedacht. Kommerzienrat Heinrich Tölle in Blauenthal, der uns bereits früher eine reiche Zuwendung machte, hat der Universität weitere 30 000 M. gestiftet und bestimmt, daß diese Summe zusammen mit der früheren Schenkung zur Errichtung eines Denkmals für die im Kriege gefallenen Angehörigen der Universität verwendet werden soll. Die Universität begrüßt es mit besonderer Freude, daß ihr dadurch Gelegenheit gegeben wird, den tapfern Kommilitonen, die für das Vaterland ihr Leben geopfert haben, ein würdiges Gedächtnismal zu errichten. Die Ausführung des Denkmals, das sich bereits in Arbeit befindet, ist mit Genehmigung des Kultusministeriums dem bekannten Berliner Bildhauer Professor Hermann Gaul übertragen worden. Nach seinem Entwurfe verspricht es eine Zierde unserer Wandelhalle zu werden, in der es Aufstellung finden soll. Die Universität hat dem Spender ihren Dank dadurch zum Ausdruck gebracht, daß sie ihn zum akademischen Ehrenbürger ernannte. Herr Kommerzienrat Tölle ist der erste, dem diese neue Ehrung zuteil geworden ist, die in Zukunft dazu dienen soll, solchen Persönlichkeiten die Anerkennung der Hochschule zum Ausdruck zu bringen, die sich durch andere als wissenschaftliche Verdienste um sie verdient gemacht haben. Die Eheleute Hugo und Anni Pevsner in Leipzig haben zum Andenken an ihren verstorbenen Sohn ein Kapital von 5000 M. gestiftet, dessen Zinsen als Stipendien für ehemalige Abiturienten der Thomasschule dienen soll. Weitere Zuwendungen wurden einer großen Zahl von Instituten gemacht, unter denen ich hier nur eine Schenkung von 15 000 M. erwähne, die der Vorstand des sächsischen Viehhandelsverbandes dem Veterinärinstitut für Versuche zur Bekämpfung des seuchenhaften Verfalles und anderer Geschlechtskrankheiten der Rinder gemacht hat. Mit besonderer Freude begrüßen wir es, daß die Familie unseres verstorbenen Kollegen Binding uns die von Fritz Klimsch geschaffene Büste des Verewigten zum Geschenk gemacht hat. Wir werden für ihre würdige Aufstellung Sorge tragen. Die Lage eines großen Teiles unserer Studentenschaft ist auch während des Berichtsjahres eine recht traurige gewesen. Immer größer wird die Gefahr, daß die Unmöglichkeit, sich ohne aufreibende Nebenarbeit auch nur die notwendigsten 1260

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Mittel für Wohnung, Nahrung und Kleidung zu verschaffen, vielen begabten jungen Leuten das Studium verleidet und daß dadurch viele geeignete Kräfte unserem geistigen Leben verloren gehen. Die Stipendien, die schon in früheren Zeiten nur eine kleine Beihilfe für den Einzelnen darstellten, sind bei dem gesunkenen Geldwert als Mittel zur Erleichterung des Studiums kaum mehr ernstlich in Betracht zu ziehen. Es muß sehr sorgfältig erwogen werden, ob es nicht möglich ist, die verfügbaren Summen zu einem Fonds zu vereinigen, aus dem dann wenigstens eine Anzahl besonders bedürftiger Studierender reichlicher bedacht werden könnte. Vereinzelte Gaben können nicht dauernd helfen, selbst wenn sie so stattlich sind, wie die Schenkung des Gustav-Adolf-Vereins, der dem Rektor 30 000 M. zur Linderung der Not der Studierenden zur Verfügung gestellt hat, die aus Südafrika zur Bekämpfung sozialer Notstände gespendet worden sind. Wir sind für diese reiche Gabe, die in manchen Fällen ein Eingreifen ermöglicht, wo sonst die Mittel dazu gefehlt hätten, ganz besonders dankbar. Auch die segensreiche Einrichtung des Konvikts, die so vielen ärmeren Studierenden die Sorge für ihre Ernährung abgenommen hat, litt schwer unter der Ungunst der Zeitverhältnisse. Da größere Staatsmittel zur Erhaltung dieser Anstalt in ihrem alten Umfang nicht dauernd zur Verfügung gestellt werden konnten und die Zuweisungen aus vorhandenen Stiftungsmitteln den Bedürfnissen nicht genügten, so blieb keine andere Möglichkeit übrig, als die Zahl der Stellen zu vermindern. Wir hoffen dem Konvikt aus den Abzügen von den Kolleggeldern eine dauernde Aufbesserung zuteil werden lassen zu können; aber auch diese wird nicht genügen, um die Schwierigkeiten zu überwinden. Neben dem Konvikt hat der akademische Mittagstisch, dessen Leitung in den Händen von Frau Geheimrat Förster liegt, wieder eine außerordentliche segensreiche Wirksamkeit entfaltet. Es konnten an etwa 400–500 Studierende regelmäßig ein gutes und reichliches Mittagessen zum Preise von 2,60 M. und ein Abendessen zum Preise von 1,50 M. verabfolgt werden. Es sind dies die billigsten Preise, welche derartige Anstalten an einer deutschen Hochschule gegenwärtig überhaupt aufzuweisen haben. Ich spreche Frau Geheimrat Förster im Namen des Senats und aller Kommilitonen herzlichen Dank für ihre aufopferungsvolle und erfolgreiche Tätigkeit aus, und schließe in diesen die studentischen Hilfskräfte mit ein, die sich in ehrenamtlicher Stellung an der Verwaltung dieses verdienstvollen Unternehmens beteiligt haben. Von verschiedenen Seiten wurde auch sonst für die bessere Ernährung der Studentenschaft dankenswerte Hilfe geleistet. Ein schweizerisches Hilfskomitee hatte sich zur besonderen Aufgabe gemacht, über 100 kränklichen oder schlecht ernährten Studierenden ein schmackhaftes und auskömmliches Abendessen zum Preise von 60 Pf. zu bieten. Ferner haben die Quäker uns schon im vergangenen Sommer Lebensmittel zur Verbesserung der Verpflegung im Rahmen der vorhandenen Einrichtungen zukommen lassen. Es konnten davon außerdem etwa 200 Studierende verpflegt werden. Dies soll auch im kommenden Jahr womöglich in noch größerem Maßstab geschehen. Wir sprechen für diese Hilfe in der Not den edlen Menschenfreunden, die diese Einrichtungen ins Leben gerufen haben, unsern wärmsten Dank aus. 1261

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Zur Ergänzung aller dieser Veranstaltungen hat sich ein Verein zur Errichtung und Erhaltung studentischer Freitische in unserer Stadt gebildet. Sein Zweck ist, bedürftigen Studenten in den Familien Leipzigs, die sich dazu bereit erklären, einbis zweimal in der Woche gastfreundliche Aufnahme zu sichern. Bisher sind 108 Familien beigetreten. Wir danken diesen Leipziger Bürgern und Bürgerinnen von Herzen, und sprechen die Hoffnung aus, daß ihr Beispiel im kommenden Jahre verstärkte Nachahmung finden möge. Auch die Unterbringung unserer Studierenden in billigen, gesundheitlich und moralisch einwandfreien und einigermaßen behaglichen Wohnungen bereitet namhafte Schwierigkeiten. Um diese zu überwinden, ist das studentische Wohnungsamt eingerichtet worden, das den Kommilitonen unentgeltlich geeignete Wohnungen nachweist. Es hat schon im letzten Semester eine sehr ausgedehnte und erfreuliche Wirksamkeit entfaltet. Auch für die Versorgung der Studentenschaft mit Brennholz aus den Universitätswaldungen ist Vorsorge getroffen worden. Eine ganze Reihe von anderen Einrichtungen zur Erleichterung der sozialen Nöte ist im Werden begriffen. Sie sind zusammengefaßt im studentischen Fürsorgeamt, das von der Studentenschaft selbst verwaltet wird und auch den Einkauf wichtiger Lebensbedürfnisse zu billigeren Preisen, sowie Vergünstigungen für den Besuch von Theatern und Konzerten vermittelt. Der weitere Ausbau dieser Anfänge ist eine dringende Aufgabe der Zukunft. Bei der großen Zahl verschiedener Veranstaltungen dieser Art, von denen jede ihrer Entstehung und ihrem Sonderzweck nach ihren besonderen Charakter hat, entstand die Gefahr einer Kraftvergeudung und gelegentlicher Reibungen. Es wurde daher notwendig, eine Zentralorganisation zu schaffen, die alle diese Einzelgestaltungen umschließt, ihr Zusammenarbeiten gewährleistet und sie finanziell fundiert. Dies geschah im Laufe des Sommers durch die Gründung des sozialen Fürsorgeausschusses bei der Universität, in dem alle diese Vereinigungen oder Ämter mit begrenzten Zwecken vertreten sind. Den Vorsitz führt der Rektor; der Senat und die Dozentenschaft, die an der sozialen Tätigkeit beteiligten Damen der Universität und der Allgemeine Studentenausschuß sind außerdem daran beteiligt. Dieser Ausschuß stellt den Etat für die gesamte Fürsorgetätigkeit auf; ihm ist die Verfügung über alle sozialen Zwecken dienenden Einkünfte vom Senat übertragen worden; er gleicht Reibungen unter den Einzelausschüssen aus und hat einen Geschäftsführer angestellt, der hauptsächlich für die Zwecke des studentischen Fürsorgeamtes tätig sein wird, da die sich beständig häufenden Aufgaben durch ehrenamtlich tätige studentische Kräfte allein nicht mehr bewältigt werden können. Weitere Unterstützungen fanden diese Bemühungen durch Geldbeiträge von privater Seite für die Ausgestaltung des studentischen Kasinos im Betrage von über 7000 M. Leider ist es bisher nicht möglich gewesen, der Studentenschaft ein eigenes Heim von solcher Ausdehnung zu schaffen, daß dort Mittagstisch und Kasino zugleich dauernd untergebracht und namentlich in der kalten Jahreszeit behagliche Aufenthaltsräume für die Freistunden bereitgestellt werden können. Auch dies bleibt eine große Aufgabe der Zukunft, die wohl nur gelöst werden kann, wenn es sich ermöglichen läßt, ein staatliches Gebäude zu diesem Zweck zur Verfügung zu stellen. 1262

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Auch für die körperliche und seelische Erholung unserer Studierenden in den Ferien ist von verschiedenen Seiten in liebenswürdiger Weise geholfen worden. Von schweizerischer Seite wurden Mittel zur Verfügung gestellt, um 60 Leipziger Studierenden in fünf Erholungsheimen in Vorarlberg für mehrere Wochen einen Aufenthalt in der Alpenwelt zu ermöglichen. Ferner gebührt unser Dank dem Schwedischen Roten Kreuz und einer Anzahl warmer Freunde Deutschlands in Schweden, an ihrer Spitze Erzbischof Dr. Söderblom und seiner hochgesinnten Gemahlin. Schon im Vorsommer erging von Upsala an weit über 100 Kinder aus Leipzig, Dresden und anderen Orten des Landes, darunter eine Anzahl von Kindern der Angehörigen unserer Hochschule, die Einladung zu kostenfreiem Sommeraufenthalt dort. Bald darauf wurden auf Veranlassung der sogenannten Kollegenhilfe der Universität Upsala 10 Studenten aus Leipzig und im August weitere 20 durch Vermittlung der Frau Gräfin Wachtmeister, sowie einige andere auf besondere Einladung zu längerem Aufenthalt in gastfreien schwedischen Familien untergebracht. Die gestärkt Zurückgekehrten sind begeisterten Lobes voll über die ihnen entgegengebrachte ebenso herzliche wie vornehme Freundlichkeit. Als den größten Gewinn rühmen sie den in ihnen neu geweckten Glauben an wahres Menschentum und an Deutschlands Zukunft. Sie haben reichlich erfahren, daß es auch in fremden Ländern noch Menschen gibt, die an Deutschland glauben und einen Deutschen nicht, wie es jetzt so oft geschieht, verachten und hassen, nur weil er ein Deutscher ist, sondern ihn gerade deshalb hochschätzen und lieben. Unsere Jugend lernt so erkennen, daß die Leistungen deutschen Geistes und deutschen Heldentums immer noch werbende Kräfte sind, die auch ihr zugute kommen. Aber wertvoller als alle Hilfe von außen, so dankbar wir sie begrüßen, ist der frische Geist der gemeinsamen Selbsthilfe und Selbstverantwortung, den wir in der Studentenschaft mit Freuden hervortreten sehen. Er bedarf auch eines Ausdrucks nach außenhin. Daher wurde im Einverständnis mit dem Allgemeinen Studentenausschuß der weitere Ausbau der „Akademischen Nachrichten und Leipziger Studenten-Zeitung“, die zugleich das gemeinsame Organ der Leipziger Hochschulverwaltungen ist, in Angriff genommen. Um die nötige finanzielle Grundlage zu schaffen, mußte der Semesterbeitrag der Studierenden erhöht werden. Dafür aber wird nun jedem Studenten diese Zeitschrift ohne weiteres geliefert, und sie kann sich immer mehr zu einem Organ entwickeln, das der freien Aussprache unter den Kommilitonen und der Pflege des studentischen Gemeingeistes dient. Das Verhalten der Studentenschaft im ganzen war der höchsten Anerkennung wert, wenn auch gelegentlich einmal ein Verstoß einzelner gegen den guten Ton akademischer Sitte vorkam. Leider zeugt das häufige Vorkommen von Paletotdiebstählen und von Bücherentwendungen in den Instituten davon, daß auch unter der Studentenschaft selbst noch zu viele Elemente vorhanden sind, denen der Druck der Not das Gefühl für das Recht verwischt hat. Es wird vielleicht noch fleißiger gearbeitet als vor dem Kriege, und wo es das Gesamtinteresse fordert, da ist der Leipziger Student, wie er bewiesen hat, bereit, Kräfte und Leben einzusetzen. Daß auch die froheren Seiten des akademischen Lebens, soweit es die Zeitverhältnisse gestatten, wieder ihr Recht erhalten, können wir nur freudig begrüßen. Daß sie 1263

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nicht allzu laut in den Vordergrund treten und die ernste Ausbildung für Wissenschaft und Leben nicht beeinträchtigen, dafür sorgt schon der eherne Druck der Not, der über dem gesamten deutschen Leben lastet. Sie werden aus diesem Berichte den Eindruck gewonnen haben, daß unsere Hochschule nicht dem Bilde entspricht, das sich manche von ihr machen, als sei sie ein starres Petrefakt, das aus der Vergangenheit fremd in die Gegenwart hineinrage. Sie ist voll bewegten Lebens, durchflutet von starken Kräften, die aus dem allgemeinen Leben unseres Volkes stammen, bedroht von denselben Gefahren, die ganz Deutschland umlauern. So stark und mannigfaltig sind Leben und Bewegung in ihr, daß es oft der ganzen Kraft dessen, den sie an ihre Spitze berufen hat, und der tätigen Unterstützung aller ihrer Mitglieder bedarf, um sie in gesundem Gleichgewicht zu erhalten. Darf ich jetzt zum Schlusse noch ein Wort der Mahnung an Sie richten, Kommilitonen, so sei es dies: Benutzen Sie die kurze Zeitspanne, wo Sie Gelegenheit dazu haben, um nicht nur in Ihrem besonderen Fache tüchtig zu werden, Ihren Körper zu stählen und Erfahrungen für das Leben zu sammeln, sondern vor allen Dingen, um sich mit dem Gefühle zu durchdringen, daß Sie berufen sind, das neue Deutschland zu erbauen, und daß Sie sich für diese große Aufgabe vorbereiten müssen. Benutzen Sie die Studienzeit, um auch das öffentliche Leben unseres Volkes mit den schweren Problemen, die es stellt, gründlich kennen zu lernen, bevor Sie eingeschworen sind auf das Dogma einer Partei. Und was Sie sonst auch werden wollen, trachten Sie am ersten danach, daß Sie echte, deutsche Männer werden, besonnen und tatkräftig, pflichttreu und weitherzig, aufnahmefähig für alles Gute, das uns das Ausland bieten kann, und doch erfüllt von gerechtem Stolz auf das Volk, dem wir angehören, und dem wir die Treue um so fester bewahren wollen, je lauter und grimmiger Haß und Furcht seiner unversöhnlichen Nachbarn es umdrohen. Denn solche Männer brauchen wir für den schweren und langsamen Wiederaufbau unseres Lebens und für die entschlossene Abwehr neuer Gefahren. Ich komme nun zu meiner letzten Amtshandlung. Ich fordere Sie, Herr Dr. Richard Schmidt, auf, das Katheder zu besteigen, um den vorgeschriebenen Amtseid zu leisten. Sie schwören, daß Sie die Verfassung und die Gesetze der Universität treu und gewissenhaft beobachten und die Pflichten des Ihnen als Rektor anvertrauten Amtes nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen wollen. Hiernach verkündige ich Sie als den Rektor der Universität für das Studienjahr 1920/21 und vollziehe an Ihnen nach altem Brauch die feierliche Investitur. Ich übertrage auf Eure Magnifizenz den Hut und Mantel als die Abzeichen Ihrer freien Würde, die Kette, mit der einst königliche Huld den Leipziger Rektor geschmückt hat, das Siegel der Universität, womit Sie deren Willen rechtlich zu beglaubigen befugt sind, die Statuten, deren Hüter Sie sind, endlich den Schlüssel des Hauses als Sinnbild der hausherrlichen Gewalt in ihren Räumen. Magnifizenz! Nehmen Sie von mir den ersten Glückwunsch zu Ihrer neuen Würde entgegen. Möge Ihr Amtsjahr gesegnet für unsere Alma mater, befriedigend für Sie selber sein. 1264

Richard Schmidt (1862–1944)

31. Oktober 1920. Rede des antretenden Rektors Dr. Richard Schmidt. Staatsbürgerkunde und Literaturunterricht. Hochansehnliche Versammlung! Kollegen! Kommilitonen! Wenn ich von dem Rechte Gebrauch mache, das mir soeben von meinem Vorgänger übergebene Amt mit einem Wort der Begrüßung an die Sollennitätszeugen dieses Aktes anzutreten und damit dem alten Ritus unserer Hochschule Genüge zu tun, so darf ich mir dabei nicht verhehlen, daß meine künftige Amtsführung im Vergleich mit der der früheren Rektoren vielfältig neue und veränderte Bedingungen vorfindet. Anders als früher war schon der Wahlkörper, der mir die Verwaltungsleitung unsrer Korporation im vergangenen Juli übertragen hat, erweitert durch einen wesentlich ausgedehnteren Kreis der Kollegenschaft und vor allem auch durch eine Vertretung der Studentenschaft. Anders werden auch die Aufgaben sein. Die im letzten Vorstadium angelangte Verfassung der Leipziger Studentenschaft schickt sich an, den von ihr geschaffenen Organen auch für die Dauer eine Mitwirkung an der überlieferten Autonomie und Selbstverwaltung der Universität einzuräumen, und die Funktionen des Rektors werden dadurch mannigfach beeinflußt. Das wird besonders bedeutungsvoll für einen Träger des Amts, der wie ich das öffentliche Recht in Dozentenberuf und schriftstellerischer Tätigkeit zu vertreten hat. Dem Staatsrechtslehrer weist sein Lehrauftrag heute in allererster Linie die Aufgabe zu, sich für die staatsbürgerliche Erziehung seiner Hörer einzusetzen, die eines der Schlagworte der Zeit geworden ist. Aber auch der § 2 der neuen Studentenschaftsverfassung setzt dieser Verfassung den Zweck, die Kommilitonen „durch tätige Mitarbeit an den Angelegenheiten der Hochschule zu tüchtigen Staatsbürgern zu erziehen“. Es ist klar, daß mit beiden Dingen verschiedenerlei gemeint ist. Von dem Lehrenden wird in der Hauptsache nur die politische „Intellektserziehung“ erwartet, die Anleitung des Hörers zur Verstandeseinsicht in die staatlichen Dinge, in die naturgegebenen und die menschlichen Vorbedingungen des politischen Lebens, in die Aufgaben, in die Rechtsgrundsätze des Staates und in deren Bedeutung und Rückwirkung auf die Einzelbürger oder auf fremde Staaten. Bei der Erziehungswirkung einer Verfassung auf den Bürger dagegen wird zunächst an die politische 1265

Richard Schmidt

„Charaktererziehung“ gedacht, an die Ausbildung der Empfindungs- und Willensfähigkeiten, die das staatliche Zusammenleben bei seinen Bürgern voraussetzt, an die Fähigkeit des innerlichen Miterlebens der Schicksale des Gemeinwesens und an die Gabe, unter Hintansetzen des eigenen Vorteils hingebend für die Bedürfnisse des Ganzen einzutreten1. Beide erzieherische Faktoren wie die Ergebnisse dieser Erziehung sollen – das ist das Ideal – letzten Endes zusammenstimmen. Aber der Gewissenhafte muß sich fragen: wird die Kraft gegeben sein, im Rahmen der neuen, noch unerprobten Ordnung die Zusammenarbeit des Rektors mit den Kommilitonen, anders ausgedrückt: die freie Aussprache der eigenen politisch-pädagogischen Überzeugung und das berechtigte Streben der Studentenschaft nach der Selbsterziehung des politischen Charakters, unter einander in Harmonie zu setzen? Hier wie an zahllosen anderen Stellen unsrer umgewühlten Gesellschaftsordnung kann nur die langdauernde Übung, die allmähliche Bildung einer neuen Tradition den wünschenswerten Ausgleich schaffen, und für die nächste Zukunft muß der gute Wille auf beiden Seiten die Bürgschaft geben und als solche genügen. Aber das schließt nicht aus, – im Gegenteil, gerade diese Lage verlangt, daß wir uns schon jetzt in dem oder jenem Punkte über die Vorbedingungen eines gesunden Zustands auseinandersetzen, und ich benutze darum die heutige Stunde, in der mir der Übung nach als dem Vertreter meiner Wissenschaft das Wort erteilt ist, um sie dem Thema der staatsbürgerlichen Erziehung zu widmen und auf eines der Gebiete hinzuweisen, wo zwischen der Theorie, die das intellektuelle Verständnis für Leben und Lebensgesetze des Staats fördern will, und der Praxis, in der sich der Einzelne selbsttätig in die staatsbürgerlichen Pflichten und Rechte einzuleben trachtet, vielleicht am frühesten und wirksamsten eine Berührung und Verständigung herbeigeführt werden kann. Allerdings denke ich dabei nicht in erster Linie an die Aufgaben, die dem akademischen Lehrvortrag in seiner Berührung mit dem akademischen Leben erwachsen. Die wissenschaftliche Disziplin der Politik oder allgemeinen Staatslehre, im Rahmen des Hochschul-Lehrplans zugleich der gegebene Sitz der Staatsbürgerkunde, besitzt ja im wesentlichen bereits ihre feste Überlieferung. Man kann es, recht erwogen, nicht zugeben, daß diese Sonderwissenschaft, wie es manche darstellen, sozusagen überhaupt noch fehle. Ihre Materialien und ihre Gedankenkreise sind seit der Zeit der großen griechischen Politiker stetig erweitert, geklärt und vertieft worden, und ihre Methode liegt für uns Deutsche im Grunde fest, seitdem vor hundert Jahren Ranke und Dahlmann sie in den Hauptpunkten unanfechtbar skizziert haben – als die Methode einer Systemwissenschaft, die zwischen Rechtswissen1

Die beiden Seiten der staatsbürgerlichen Erziehung sind seit der literarischen Erörterung der Vorkriegszeit und noch mehr in der Flut der Schriften während und nach dem Krieg landläufige Vorstellungen geworden. Bei Eröffnung der deutschen Hochschule für Politik in Berlin am 24. Oktober 1920 sagte der Vorsitzende des Vorstands der Hochschule Staatsminister Dr. Drews in seiner eröffnenden Ansprache: „Politischer Wille kann hier freilich nicht gelehrt werden, denn er ist eine Charaktergabe, aber der politische Intellekt kann gehoben und gefördert werden, und je mehr das Wissen um die politischen Dinge erweitert wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß der Wille der mit Politik beschäftigten das Richtige trifft“.

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schaft, Philosophie und Geschichte, aber auch zwischen Geographie und Ethnologie, Pädagogik und Ethik eigenartig in der Mitte steht. Wenn heute viele klagen, daß wir trotz der Vorarbeiten für unser Bedürfnis die zusammenfassenden literarischen Werke oder wenigstens ein erprobtes Buch der systematischen Politik nicht besitzen, so ist die Klage berechtigt. Aber der Mangel liegt begründet in den durch eben jenen Mischcharakter der Wissenschaft bedingten Vielverschlungenheiten ihrer Gedankengänge, angesichts deren die Auslese des Wesentlichen und die gedankliche Gruppierung des Stoffs einer überdurchschnittlichen Kraft harrt. Es ist nun einmal nicht anders, daß ein Zeitalter sich seinen Aristoteles oder seinen Macchiavelli nicht bestellen kann, – den überragenden politischen Schriftsteller so wenig wie den leitenden Politiker des Staatslebens. Aber ein anderes Feld der politischen Erziehung gibt es, aus dem heute für uns ein akutes Problem entsteht, das der politischen Propädeutik, der staatsbürgerlichen Elementarlehre der Schule. Schon die eben betonte Schwierigkeit und Umfassendheit der Staatslehre macht es höchst dringend wünschenswert, daß der Student von seiner Schule politisch mehr mitbringe als bisher. Diese Forderung aber wird verschärft durch die Lage, die ich vorhin kennzeichnete. Will und soll der akademische Bürger vom ersten Augenblick des Erwerbs dieses Bürgerrechts ab an Autonomie und Selbstverwaltung der Hochschule teilnehmen, als gewählter Repräsentant, als Wähler, als Mitglied der Studentenversammlung, so kann er nicht warten, bis er an der Universität kümmerlich einige Fragmente der Staatsbürgerkunde gelernt hat. Er muß sie schon besitzen, wie auch der Nichtstudent, der junge Mann und das junge Mädchen aller anderen Klassen sie besitzen müssen, wenn sie die ihnen von der Verfassung so sehr viel früher verliehenen Rechte ausüben wollen. Und das braucht hier nicht mehr begründet zu werden, seitdem bekanntlich die RV. die Staatsbürgerkunde grundgesetzlich zum Lehrfach der Schulen erklärt hat. Denn bereits hat sich ja offiziell eine Konferenz der Juristenfakultäten in Halle und nach ihrem Bericht die Reichsschulkonferenz dieses Jahres in Berlin mit Aufstellung eines Lehrplanes der Staatsbürgerkunde beschäftigt2. Die damit auftauchenden Fragen sind jedoch völliges Neuland. Man darf hier wagen, sich über das eine oder das andere auszusprechen, ohne schon unzähligemale Gesagtes zu wiederholen, und es ist ein einzelner Gesichtspunkt, den ich hervorheben möchte. 2

Über diese Vorarbeiten für den Lehrplan der Staatsbürgerkunde an der Volksschule berichtet Radbruch, die Staatsbürgerkunde, Jur. Zeit. 1920, S. 618. Paul Rühlmann, die Frage der staatsbürgerlichen Erziehung im Verfassungsausschuß, Vergangenheit und Gegenwart. Bd. IX (1919), S. 109. Die Landesregierungen als Träger der Schulhoheit haben seit der Stellungnahme der Reichsschulkonferenz die Ausführung des Art. 148 RV. in Angriff genommen. (Sächsische Verordnung über die Staatsbürgerkunde in den Schulen vom 23. Dezember 1920; wonach in den einzelnen Schulen für die Gestaltung des staatsbürgerlichen Unterrichts Pläne bearbeitet werden sollen; Verordg.-Bl. des Kultusministeriums S. 161; – Preußische Bekanntmachung, betr. Einführung der Schuljugend in die Reichsverfassung vom 4. September 1920, Zentralblatt für die Unterrichtsverwaltung, S. 637. Deutsches Rechtsblatt 1920, S. 849.)

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I. Der Wert des Dichtungswerks für die politische Erziehung. Überschaut man die Vorschläge, die für den künftigen Schulunterricht in der Staatsbürgerkunde formuliert worden sind, so laufen sie in zwei Hauptforderungen zusammen. Sie sehen in der Abschlußklasse der Volksschulen und in den entsprechenden Klassen der Mittel- und höheren Schulen zwei regelmäßige Wochenstunden vor, in denen Grundzüge der Verfassung, Verwaltung, Wirtschaft, das System der bürgerlichen Rechte und Pflichten, der Völkerrechtsordnung mit vergleichendem Ausblicke auf die Auslandsstaaten zu besprechen sind. Sie sollen an juristische und national-ökonomische Gedankenkreise anknüpfen. Daneben fordert man Verbindung des geschichtlichen, geographischen, philologischen, naturwissenschaftlichen Unterrichts mit den ihren Gegenständen benachbarten politischen Einzelmaterien, den sog. staatskundlichen Teilwissensgebieten. Sicher wird es Niemandem in den Sinn kommen, Vorschläge wie die genannten zu bemängeln. Was sie als Lehrstoff ins Auge fassen, ist ja in Anwendung auf den Anfänger im Grunde gar nichts anderes, als was schon heute die akademische Vorlesung der Politik für den Fortgeschrittenen erstrebt. Die Anfangsgründe, die Grundzüge dieses Lehrgebiets sollen bereits an der Schule gelehrt werden, – das bedeutet jenes Programm. Aber eins ist hierbei unverkennbar: die eigentliche Hauptfrage eines politischen Elementarunterrichts wird bei den Vorschlägen noch gar nicht berührt, geschweige denn beantwortet, – die Frage nämlich, die für den Pädagogen stets im Vordergrunde steht: auf welchem Wege, in welcher Form dem Schüler die Anfangsgründe der Politik nahe gebracht werden sollen. Nach den Vorschlägen wäre die Art der Stoffdarlegung wieder die systematische, und was kann eine systematische Aufzählung bei beschränkter Zeit für einen noch ganz unerfahrenen geben? Gewiß muß ein bestimmtes Maß von gut gegliedertem Lernstoff auch hier in erster Linie dargeboten und dessen Aufnahme abverlangt werden. Aber angenommen, der Schüler hat den Grundsatz „Reichsrecht bricht Landesrecht“ oder das parlamentarische Prinzip begriffen, hat die Grundrechte und Grundpflichten des Deutschen erläutert erhalten und auswendig gelernt oder im Geographieunterricht sich die natürlichen Grenzen Deutschlands verdeutlicht, – es bleibt doch sehr fraglich, ob er mit solchen Kenntnissen ausgerüstet, einigermaßen klare Vorstellungen darüber in seine Berufsausbildung mitbringe, was der Staat für den Einzelnen bedeutet und was von ihm selbst für das staatliche Leben erwartet wird. Ein Bedürfnis würde jedenfalls bei solchem Vorgehen völlig unbefriedigt bleiben, – das der Anschaulichkeit, das für den Anfänger erste und unentbehrlichste Bedürfnis des Unterrichts. Speziell in Anwendung auf den Staat kann es nur dann als erfüllt gelten, wenn der Lernende in seiner Vorstellung den Staat als das denken kann, was ihn für das Menschenleben wertvoll oder je nachdem gefahrvoll macht, als lebendiges tätiges Wesen, als eine wirkende Macht, die sich selbst in handelnden Menschen verkörpert und durch sie für die Mitmenschen Segen oder Unheil stiftet. Und darin liegt schon enthalten, daß man überhaupt zunächst gelernt haben muß, den Staat als ein Wesen, d. h. als eine Einheit, als einheitliche Macht zu denken, in der die verschiedenen Seiten des Wirkens und der wirkenden Organe unausgesetzt 1268

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in Austausch und Berührung, auch hier oft in feindliche, treten. Auch hier braucht es die Kunst zusammenzudenken – die verschiedenen Seiten des staatlichen Wirkens – Wehrwesen, Finanzen, Wirtschaft, Unterricht, Rechtspflege – und die verschiedenen tätigen Organe oder Gewalten – Regierung, Volksvertretung, Volk, Behörden. Und das ist nicht auf dem Wege verstandesmäßiger Beschreibung zu erreichen: es kann nur erreicht werden durch Anregen und Nähren der Phantasie, durch Einprägen instinktmäßiger Ideenassoziationen. Bei dem reiferen Menschen wird einfach das Erleben der Dinge selbst dafür sorgen. Der Anfänger dagegen, der politische Dinge überhaupt noch nicht beobachten gelernt hat und wenigstens für die einfachsten von ihnen vorgeschult werden soll, braucht ein Surrogat für diese ihm noch fehlenden eignen Erlebnisse. Ihm muß das Bild des Staats in verkleinerter, leicht überschaubarer Form vorgeführt werden, damit er es – um mit Hegel zu reden – als das „lebendige Kunstwerk“ erfasse, m. a. W. als den Organismus, der zugleich Mechanismus ist, als das Lebewesen, das zugleich planmäßige Vorrichtung bedeutet. Wo finden wir im Elementarunterricht das Ersatzmittel des unmittelbaren Erlebens politischer Dinge? Ich glaube: nur an einer Stelle, da, wo allein die reale Welt, in eine ideale Sphäre gerückt, in einem Spiegelbild aufgefangen und festgehalten werden kann, – in dem Gebilde der Dichtung. Und deshalb ist der Literaturunterricht das Lehrgebiet, das für den Zweck der politischen Veranschaulichung ausgebildet werden muß. Nur ausgebildet werden muß. Denn als etwas eigentlich Neues kann diese Forderung kaum gelten. Der klassisch-philologische Unterricht des Gymnasiums hat von jeher diese Seite bei der Lektüre der antiken Literatur berücksichtigt, wie die meisten von uns, ich selbst eingeschlossen, in dankbarer Erinnerung an ihre Schulzeit bekennen werden, und ich bin überzeugt, daß unter den Tausenden ausgezeichneter Lehrkräfte aller unserer höheren Lehranstalten viele sind, die seit Jahren oder Jahrzehnten auch den deutschen, englischen, französischen Unterricht im Dienst politischer Veranschaulichung nutzbar gemacht haben werden. Nur soll das nicht nur eine anregende Zugabe, sondern eine planmäßig ausgebaute Seite des Literaturunterrichts werden, weil diese Nutzbarmachung durch nichts anderes zu ersetzen ist3. Nur der wahre Dichter kann, wenn er sich mit dem Staat beschäftigt, den Lernenden und Lernbereiten das vor Augen stellen, was not tut, den Staat in seinem Leben und in seiner Entwicklungsbewegung einerseits, den Staat in seiner Ganzheit, im Zusammenhang und in Wechselwirkung seiner verschiedenen Funktionen andrerseits. Beides zusammen kann auch dem Anfänger einigermaßen für das das Auge schärfen, wofür es bei ihm, wie sich in den letzten Jahren in unserem Volke schrecken3

Auf der Vortagung des Allgemeinen Deutschen Neuphilologen-Verbandes in Halle am 1. und 2. November 1920 wurden folgende von Max Förster (Leipzig) aufgestellten Leitsätze angenommen: „Die Erfahrungen während des Weltkriegs haben gezeigt, daß die deutsche Neuphilologie mehr als bisher von der vorwiegend ästhetisch-literarhistorischen zur kulturhistorischen Einstellung überzugehen und insonderheit auch die Geschichte sowie die geistigen, wirtschaftlichen und politischen Bestrebungen der Fremdvölker zu beachten hat. – Die preußische Bekanntmachung (Anm. 2. a. E.) schreibt die Einführung in die Staatsbürgerkunde im Rahmen des Geschichts-, gegebenenfalls des Deutschunterrichts, vor.“

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erregend gezeigt hat, ganz besonders blöde ist, – dafür, daß ein Staat sich nicht in einer Redaktion von Verfassungsparagraphen oder überhaupt in dem, was man die „Staatsform“ nennt, erschöpft, daß vielmehr mit dem geschriebenen Recht und mit der Staatsform auch etwas bewirkt werden muß. Die Bedeutung des schöpferischen Handelns im Staat kann am besten der verdeutlichen, der das Bild dieses Handelns im Kunstwerk selbst schöpferisch gestaltet, und von ihm allein wird deshalb der jugendliche Geist eine Ahnung gewinnen, daß eine Verfassung völlig verschiedene Bedeutung erhält, je nachdem sie in die rechten oder in die unrechten Hände gerät. Und noch ein anderes kommt dazu. Dem Unterricht wird kaum ein wirksameres Mittel zu Gebote stehen, um für die staatlichen Dinge Interesse und Eindrucksfähigkeit zu erwecken, als die Dichtung. Das ist neben vielen Schattenseiten und Unvollkommenheiten unserer Volkspsyche doch von jeher die Stärke des deutschen Geistes gewesen, daß er der inneren Erhebung und Begeisterung am dichterischen Kunstwerk zugänglich ist. Ganz besonders auch der der deutschen Jugend. In den jungen Leuten beider Geschlechter und aller Bevölkerungsklassen sind zweifellos Tausende, die man an ihrer literarischen Empfänglichkeit fassen und gewinnen kann. Und deshalb wird ein Meister der Kunst auch da, wo er das Handeln und Kämpfen des Menschen im Staat, die Konflikte, Erfolge oder Mißerfolge des Staatsmannes oder Staatsbürgers vorführt, am sichersten auf die politische Erziehung des Jugendlichen einwirken. Er erreicht es mittels des Vorbilds oder des Abschreckungsbeispiels, das er ihm dramatisch oder erzählend vor Augen stellt. Gelingt es dem Dichter hier den heranwachsenden und seine noch bildsame Seele zur Begeisterung für das staatsmännische Handeln fortzureißen oder ihn zu Mißbilligung und Widerwillen gegen den unheilvollen Staatsmann zu entflammen, so wird es ihm möglich, mit dem Appell an das Empfindungsleben seines Lesers oder Zuschauers sogar die Schranken zu durchbrechen, die die Bereicherung des politischen Intellekts von der Schulung des politischen Charakters trennt. Eine Zucht zu der „Hingabesittlichkeit“, in der nach Kerschensteiners Ausdruck die politische Charaktererziehung hauptsächlich besteht, läßt sich nicht nur, wie es das normale sein wird, in dem tätigen Selbsterleben staatlicher Schicksale denken, sondern auch als intuitives Nacherleben solcher Schicksale, wie sie im Spiegelbild vom Dichter aufgefangen worden sind, und so erhebt die Anschauung des poetischen Kunstwerks tatsächlich in eine Sphäre, in der sich schon die beiden Seiten der politischen Erziehung vereinigen lassen. Mit Erfolg für den Anfänger wird sich jedenfalls das, was zu Anfang als das Ziel jeder Bürgerpädagogik bezeichnet wurde, nur hier, hier aber auch verhältnismäßig früh erreichen lassen. Nur freilich, mit dem bloßen Anpreisen des Rezepts ist es nicht getan. Man muß es sich in Funktion vorstellen und da entspricht es dem Zwecke am besten, diese Funktion nicht durch den Hinweis auf eine Menge literarischer Notizen bloß anzudeuten, sondern sie an zwei herausgegriffenen monumentalen Beispielen genauer auszuführen.

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II. Die Lehrbedeutung des klassischen Dramas für die Erziehung des politischen Führers. Das einleuchtendste Beispiel bietet – man braucht es kaum auszusprechen – der beherrschende Geist der englischen Dramatik, der vor der Pforte der neueren deutschen Nationalliteratur steht und uns durch Schlegel und Tieck zum deutschen Dichter geworden ist. Wer in das klassische Zeitalter der deutschen Dichtung einführen, wer seinen Schülern ein persönliches Verhältnis zu Lessing, Goethe und Schiller, aber auch zu Kleist, Grillparzer und Hebbel gewinnen helfen will, der muß notwendig den Weg über Shakespeare nehmen. Seit der Hamburgischen Dramaturgie bildet er den gegebenen Beurteilungsmaßstab für Wahl und Behandlung des dramatischen Stoffs. Und schon damit rückt er in eine Beziehung zur Staatsbürgerkunde. Der englische Bühnendichter steht für die ästhetisch-literarische Kritik ganz ebenso wie das englische Staatsleben für die politische Kritik. Auch dies nicht in dem Sinn, daß wir trachten müßten es nachzuahmen. Wir wissen heute, daß wir das gar nicht im Stande wären, weil England in Boden und Gesellschaftsbau, in Schicksalen und aufgehäuften seelischen Traditionen über ein Kapital verfügt, das wir ebenso wie andere Völker uns gar nicht schaffen können. Aber in dem feineren, übertragenen Sinn bedeutet der englische Staat für uns eine Norm, daß er der bisher andauernd erfolgreichste gewesen ist, daß wir deshalb an ihm und nur an ihm studieren können, für welche Bedürfnisse in einem gesunden und erfolgverheißenden Staate gesorgt werden muß und welche Mittel an bleibenden Einrichtungen wie an staatsmännischen Entschließungen für jede nur denkbare Lage in Betracht kommen. So sind englische Bühnendichtung und englischer Staat in ihrer Vorbildlichkeit analoge Erscheinungen, und unter diesen Umständen ist natürlich das Verbindungsglied von höchster Bedeutung, das sich ergeben hat, indem das englische Drama sich selbst in den Dienst des nationalen Staats gestellt und das politische Geschehen, die Staatsaktion, zum Gegenstand der Bühnendichtung gemacht hat, noch dazu in einer Breite der Ausdehnung und in einer Frühreife der Entfaltung, die ebenso einzigartig ist wie die beiden primären Phänomene selbst. An sich sind es nicht nur Shakespeares Historien, die dafür in Frage kommen. Seine Werke sind umringt von einem Kranz von Dramen teilweise recht erheblicher Autoren, die beinahe jede Phase der älteren englischen Staatsgeschichte, bald mehr abenteuerlich-romantisch, bald auch ernsthaft politisch verarbeitet haben4. Aber allerdings, im entscheidenden Punkt wird Shake4

Die von Creizenach, Geschichte des neueren Dramas Bd. 5 (1916), S. 587, zusammengestellte Zeittafel gibt einen bequemen Überblick über die Produktivität der elisabethanischen Dramatiker auch auf dem Historiengebiet. Nimmt man die dort zugrunde gelegten (im Text des Werkes Bd. 4 und 5 mit Belegen gestützten) Datierungen als richtig an, worüber ich mich des Urteils selbstverständlich enthalte, so waren vor Shakespeares Königsdramen bereits entstanden ein anonymer Heinrich V. (the Famous Victories of king Henry V., inhaltlich den beiden Teilen Heinrichs IV. und dem Heinrich V. Shakespeares entsprechend), aufgeführt vielleicht schon vor 1588 (gedruckt 1598), ein anonymer König Johann (1591), Christoph Marlowes Eduard II. und Peeles Eduard I. (beide 1593). Parallel mit Shakespeares Historienfolge, beginnend (1591 auf 92?) mit Heinrich VI. und endend 1599 mit Heinrich V. (vgl. o.), gehen ein anonymer Richard III. (1594 vor Shakespeares

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speare für uns der alleinige Repräsentant des – falls dieser Ausdruck erlaubt ist – politischen Dramas. Darin, daß nur er die Aufgabe in großem Stil unternommen und gelöst hat. Ich meine dabei nicht das Überragende seiner künstlerischen Gestaltung, die ich als etwas außerhalb meiner wissenschaftlichen Sphäre liegendes bei diesen Betrachtungen möglichst ausschalten will, die ich als unbestritten einfach voraussetze. Vielmehr denke ich bei der Größe seines Stils nur an das Ausmaß, in dem er den politischen Stoff anfaßt und bewältigt. Shakespeare allein hat das ganze große Kernstück der englischen Staatsgeschichte, soweit sie ihm vorausgegangen war, im Zeitraum eines vollen Jahrhunderts zu seinem Thema gemacht. Die Reihe der acht Hauptdramen, wie sie heute fertig vor uns steht, setzt um 1385 im Beharren eines Höhepunkts englischer Machtstellung und Staatsreife ein, auf dem Stand, den Eduard III. im inneren glänzend und nach außen siegreich hinterlassen hatte, und führt im Rhythmus einer weitgedehnten Wellenlinie mit zwei großen Senkungen und Wiedererhebungen bis zum Jahre 1485, da der Großvater Elisabeths die Herrschaft ergreift, um eine neue Blütezeit, Shakespeares eigne Zeit, vorzubereiten. Der scharf markierte mittlere Wellenberg liegt in dem vierten Stück von den acht Historien, im Drama von Heinrich V., der den Sieg seines Urgroßvaters Eduard über Frankreich erneuert und noch einmal eine kurze äußere Glanzzeit Englands begründet. Es bezeichnet den Gipfel des Gesamtwerkes, der in seiner zentralen Bedeutung von Shakespeare selbst dadurch betont wird, daß vor jedem Akt Heinrichs V. das außergewöhnliche Mittel einer hochpathetischen Chorus-Apostrophe an die Zuschauer in Bewegung gesetzt wird. Aber zum Gipfel führt der Tiefstand einer Thronumwälzung, die der ältesten Linie des Hauses Eduards III., der des Schwarzen Prinzen, die Krone entzieht und sie an den zweiten Mannsstamm, das Haus Lancester, die rote Rose bringt, und ebenso führt von Heinrich V. fort ein neuer Bürgerkrieg, durch den sich die dritte Linie, die Dynastie York, die weiße Rose, des Throns bemächtigt. Das Wesentliche des ganzen Kunstwerks also ist, daß das Staatsschicksal vom Dichter in heiß pulsierendem Leben und Bewegen gezeigt wird, in einem geschlossenen Lebensabschnitt des Staats, der zweimal in Zerrüttung versinkt, zweimal zur Höhe wieder hinaufklimmt. M. a. W. gerade das wird veranschaulicht, wie die Menschen politische Entschlüsse fassen, handeln, Widerstände überwinden oder an ihnen scheitern, – vor allem aber, wie sich der Mensch, von dem alles abhängt, der Fürst, erzieht oder gegen die auf ihn eindringenden erzieherischen Einflüsse verschließt. Nur in lockerem Zusammenhang mit dem einheitlichen Gefüge, das die vier Dramen der Lancester- und die vier der York-Tetralogie bilden, stehen die beiden Stücke, die sich mit zeitlichem Abstand vor den Hauptzyklus legen und an ihn anfügen, einerseits König Johann, anderseits König Heinrich VIII. Wie eine Ouvertüre führt das eine in die älteren Kriege zwischen England und Frankreich ein. Wie ein Epilog zum Ganzen gibt das andere ein isoliertes Stimmungsbild aus der neuen Glanzzeit der Tudor-Monarchie. Starkes menschliches gleichnamigen Stück im gleichen Jahre; gedruckt 1597), ein anonymer Eduard III. 1595, Heywoods Eduard IV. u. a. m.

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und politisches Interesse können sie nicht beanspruchen. Dies haftet ausschließlich an den acht Hauptdramen5. Eine Schranke freilich wird dem Blicke des politisch Interessierten in dem ganzen Werk gezogen, auch innerhalb der acht klassischen Historien. Von den Bewegungen der englischen Verfassung gibt Shakespeare kein greifbares Bild. Nicht etwa, daß das Recht überhaupt und seine Bedeutung für den Staat außerhalb seines Gesichtskreises läge, – im Gegenteil. Aber die Einzelheiten der Rechtsform, die Konflikte und Veränderungen zwischen ihren Organen erscheinen ihm kein Objekt für die dichterische Gestaltung. Die Staatsform des Staats ist die Monarchie der Plantagenets, die mit ihren Magnaten als Staatsrat und ihrem Parlament der zwei Häuser als großem Rat herrscht und durch ihre obersten Gerichte die Rechtspflege handhabt. Sie steht als ruhende Erscheinung hinter allen, noch so tumultiösen Vorgängen6, und von Kämpfen zwischen Krone und Parlament, zwischen Hochadligen und neueren Elementen im Staatsrat und anderem, damals in leidenschaftlichem Ringen stehenden Kräften verlautet nur gelegentlich etwas. Im König Johann, den er unter Umarbeitung eines schon vorhandenen Stückes dem Gesamtzyklus vorausschiebt, wird das Hauptereignis der ganzen Regierung, der Verfassungskampf zwischen Johann und den Baronen und die Erteilung der Magna Charta, des ältesten Keims einer euro5

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Über das aus dem Rahmen dieser Ausführungen ebenso wie aus dem Rahmen der früheren Königsdramen heraustretende Problem des Dramas „Heinrich VIII.“, das auch zeitlich in weiterem Abstand von sämtlichen übrigen Historien (1611) zur Entstehung gekommen ist, muß ich mir an dieser Stelle versagen, mich näher auszusprechen. Die Frage ist gerade neuerdings wieder in Fluß gekommen durch den Aufsatz Liebermanns in der Festgabe für Geiger (Beitr. zur Llt.- u. Theatergesch. 1918) S. 13. Ebenso muß ich, um die Grenzen der paradigmatischen Behandlung nicht zu überschreiten, für jetzt darauf verzichten, auch die großen Dramen der Vollreife und der Altersperiode Shakespeares mit ihrem politischen Lehrgehalt heranzuziehen. Es ist jedenfalls möglich, sie in zweite Linie zu stellen, weil bei ihnen sämtlich die Einzelcharaktere im Vordergrund stehen, der Staat und seine Wertideen immer nur in gelegentlichen Ausblicken, nie als Hauptgegenstand zur Anschauung gebracht werden. Das gilt in gleicher Weise für Romeo, Kaufmann, Hamlet, Macbeth, Othello, Troilus, Wintermärchen, Cymbeline, Sturm. Natürlich soll damit die Tatsache nicht abgeschwächt werden, daß jene aphoristischen Gedanken großenteils zum Tiefsten gehören, was überhaupt über den Staat gesagt worden ist. Der streng monarchistische Standpunkt Shakespeares ist längst bekannt. Kohler, der ihn in seinem Aufsatz: „Die Staatsidee in Shakespeares Richard II.“, Shakespeare-Jahrbuch Bd. 53 (1917), S. 1 ff. kürzlich wieder breit ausgeführt hat, bringt dabei kaum neues. Wirklich neue, aber wohl übertreibende Gedanken macht Wolfgang Keller, Shakespeare und sein König, ebenda Bd. 54 (1918), S. XIII über das Verhältnis des Dichters zu König Jakob I. geltend. Das bekannte und oft zitierte Wort Kants, daß es für den guten Staat nicht auf die Verfassungsform, sondern auf die Regierungsweise ankomme, ist, – worauf mich einer meiner Zuhörer aufmerksam macht – sehr präzis in einem Epigramm Alexander Popes vorgebildet: „The form of government let fools contest. Whatever is best administered, is best.“ Man kann übertragen: „Um gute Staatsform disputiert der Tor. Die gut regierten Staaten zieh ich vor.“

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päischen Verfassungsurkunde, nicht einmal erwähnt7, und es ist sehr charakteristisch, daß in dem reichen Gewebe der elisabethanischen Historiendichtung überhaupt – auch in dem über Shakespeare hinausgehenden Dichterkreise – kein Stück dem größten politischen Charakter gewidmet worden ist, von dem nicht nur die englische, sondern die gesamte europäische Verfassungsform ihr endgiltiges Gepräge erhalten hat: Simon von Montfort, dem eigentlichen Schöpfer des englischen Parlaments, so sehr seine Gestalt, halb die des Höflings und Abenteurers, halb die des überzeugten, religiös inspirierten Reformers, zur poetischen Behandlung drängen mußte8. Das weitaus hauptsächliche Gewicht verlegt jedenfalls Shakespeare auf das, was menschliche Kräfte aus der Verfassung machen, auf den Beitrag der Persönlichkeit zum politischen Leben. Die politischen Führer: König, Königin, Prinz, Earl, Prälat, Minister treten einander gegenüber. Aber in dieser Sphäre des menschlichen Handelns entfaltet sich die politische Intuition des Dichters um so reicher, und wir sind glücklicherweise sogar imstande, die fortschreitende Erweiterung und Vertiefung seines Begriffshorizonts in die staatlichen Probleme zu verfolgen, weil wir die Zeitfolge seiner Schöpfungen kennen. Für seinen Gedankengehalt wird es entscheidend, daß er die Dramenkette der Historien, die sich heute scheinbar lücken7

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Schon der anonyme „König Johann“, vielleicht das älteste Drama aus der nationalen Geschichte, an das sich Shakespeare hierin ziemlich eng angeschlossen hat (Creizenach a. a. O. IV, S. 596), behandelt den König als Verteidiger des wahren Glaubens und der Unabhängigkeit Englands von der geistig-politischen Oberhoheit des Papsttums, also aus dem Anschauungskreis des englischen Protestanten des Elisabethzeitalters. In zweiter Linie ist der König der Vorkämpfer gegen Frankreich. Der Bastard des Königs Richards Löwenherz, der im älteren Drama wie in dem Shakespeares die Hauptrolle spielt, faßt in seiner Schlußrede die Tendenz des Ganzen dahin zusammen (S. 601): „If Englands peers and people join in one, nor pope nor France nor Spain can to them wrong.“ Shakespeare fügt insofern einen neuen, der geschichtlichen Wahrheit näher kommenden Gedanken hinzu, als er den König als schwachen und schlechten Charakter, als Tyrannen, vorführt und dies durch den Mord an Arthur v. Bretagne demonstriert; und hieraus wird auch die Unzufriedenheit der Barone abgeleitet. Aber das letztere Motiv wird auch von Shakespeare nicht entwickelt. Eine kurze Zusammenfassung der Gesichtspunkte, nach denen Graf Simon zugleich in dem menschlichen Reiz seiner Persönlichkeit und in der universalhistorischen Nachwirkung seines Eingreifens zu würdigen ist, gibt meine Abhandlung: „Die Vorgeschichte der geschriebenen Verfassung“ (Leipziger Festgabe für Otto Mayer 1916) S. 159 ff. Ich habe dort darauf hingewiesen, daß der staatsrechtliche Gehalt der Staatslehre des 14. Jahrhunderts, vor allem der der Italiener, des Marsilius von Padua und des Bartolus, nur verständlich wird aus der Staatspraxis, die Simon von Montfort durch die bewußte Anwendung des „Widerstandsrechts“ der Reichsstände gegen den „Tyrannen“ in den von der Magna Charta eingeräumten Formen geschaffen hatte – m. a. W. durch die praktische Einbürgerung des Rechtsgedankens, der für die Anfänge der neueren Verfassungseinrichtungen der alles beherrschende geworden ist. Wenn also Kern in seinem Aufsatz über das Widerstandsrecht (histor. Zeitschr. Bd. 120 S. 76) mir vorwirft, ich hätte das Widerstandsrecht nicht aus realen Rechtsgebilden, sondern nur aus „Lesefrüchten“ bei Marsilius und Bartolus erklären wollen, so ist das – ganz abgesehen von der Unangemessenheit des wegwerfenden Ausdrucks – sachlich vollkommen unbegreiflich. Der Fehler liegt bei Kern selbst, der das Widerstandsrecht einseitig und viel zu spät nur in der hugenottischen Doktrin des 16. Jahrhunderts – ausgebildet findet. Die entscheidenden Nachweise sind längst von Hans Plehn in seiner Schrift über den Chronisten des englischen 13. Jahrhunderts, Mattheus Parisiensis, geliefert (Schmollers sozialwiss. Forsch. 14. 1897).

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los vor uns abrollt, nicht nach der chronologischen Folge der Ereignisse, sondern unabhängig davon ausgeführt hat. Die vorhin genannte zweite Vierergruppe, die York-Tetralogie, ist früher zwischen den Jahren 1590 und 97, die erste Vierergruppe, die Lancaster-Tetralogie, zeitlich später in den Jahren 1597–99 gestaltet worden9. Ich markiere die Problemstellung des Meisters unter dem politischen Gesichtpunkt ganz kurz, indem ich alle bloß literarhistorischen und staatsgeschichtlichen Einzelfragen, aber auch die ästhetische und künstlerische Seite seines Werkes unbeachtet lasse. Hier kommt es nur darauf an, den politisch-didaktischen Gehalt, wie früher angedeutet, ins Licht zu stellen. Daß der einführende Unterweiser vor seinen Schülern in erster Linie auch der Phantasie und dem Geschmack zu geben hat, was ihnen gebührt, versteht sich von selbst. Der York-Zyklus schlägt das einfachste Thema an. Er führt das Schicksal der herrschensunfähigen Monarchie und des herrscherlosen Staats vor. Ein in kritischer Stunde verwaistes Gemeinwesen wird gleich bei Beginn sinnfällig gemacht. In der Westminsterhalle steht der Katafalk des königlichen Kriegshelden, der Frankreich noch einmal erobert und seine Krone neben der englischen getragen hat. Aber keinen Thronfolger sieht man unter den Trauernden. Er ist ein unmündiges Kind, zunächst politisch unsichtbar. In den leidtragenden vier Prinzen der Dynastie dagegen flammt bereits an der Bahre der ganze Haß derer, die um die Nachlaßmasse der Macht hadern und dadurch die Macht selbst zerstören. Man sieht in ihren Intriguen und Raufereien den Krieg auf dem Festland scheitern, das geschlagene und enttäuschte Heer auf die heimische Insel zurückströmen und nun – uns heute unheimlich vertraut – die Anarchie in der Heimat entfesseln. In diesem Wust allmählich hervortretend der König, jung, dann im Fortschreiten des dreiteiligen Dramas, im Ablauf seines 50jährigen Regentendaseins rasch alternd, aber immer der gleiche in Willensschwäche und Passivität, frömmelnd, unerschöpflich in banalen Sentimentalitäten und im Schwanken zwischen den Umtrieben seiner Großen und seiner leidenschaftlichen welschen Gattin und ihrer Günstlinge, gegen seine Feinde nachgiebig, unzuverlässig für seine Freunde und ihnen kein Führer. Herzenstugenden für sich allein, das ist die harte Sentenz des Dichters, sind noch nicht Herrschertugenden, und ein König, der ausspricht: „Nie sehnt’ ein Untertan sich nach dem Thron, wie ich mich sehn’ ein Untertan zu sein“, 9

Über die Zeitfolge der Entstehung der Königsdramen in der Ordnung; „Heinrich VI.“ 1.-3. Teil, „Richard III.“ – „Richard II.“, „Heinrich IV.“. Teil 1-2, „Heinrich V.“ vgl. die Belege bei Creizenach Bd. 4, S. 649, Bd. 5, S. 4 ff., S. 45 ff. „König Johann“ schiebt sich – in der Form einer bloßen Überarbeitung des älteren anonymen Dramas (v. Anm. 7) mutmaßlich zwischen Richard III. und Richard II., also zwischen die Beendigung der York-Tetralogie und den Beginn der LancasterTetralogie hinein. – Die Verbindung zwischen dem Abschluß Heinrichs V. und des – damals längst vorhandenen, zeitlich anschließenden – Heinrich VI. stellt der Epilog des Dichters zu dem letzten Stück des Lancaster-Zyklus her; er weist wiederanknüpfend darauf hin, daß auf die kurze Heldenzeit Heinrichs V. die unglückliche Regierung Heinrichs VI. folgte, „durch dessen vielberatenes Regiment Frankreich verloren ward und England schwach; was oft auf unserer Bühne vorgegangen“. Vgl. auch Büttner, Sh. Stellung zum Hause Lancaster, Freib. Diss. 1904.

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verwirkt den Thron durch den Mangel des Herrscherwillens. Der blutige Schlamm von Verbrechen, den wir mit Widerwillen anschwellen sehen, wälzt sich über ihn dahin, und wenn auch der skrupellose Geschlechtsvetter York vor ihm hinweggerafft wird, den Yorkischen Prinzen March und Gloster, Eduard und Richard, wird die befleckte Krone zuteil. Nur fordert jetzt der aus den Fugen geratene Staat eine überstarke Hand, ihn zurecht zu renken, und folgerichtig erzeugt der Willensmarasmus Heinrichs VI. in Gegenwirkung der Extreme die Machthypertrophie seines Nachfolgers. Shakespeare konzentriert sie unter kühner Vergewaltigung des geschichtlichen Verlaufs in der Person Richards III. Indem er die bedeutungsvolle und politisch fruchtbare zwanzigjährige Regierung Eduards IV., in Wirklichkeit des Begründers der neueren englischen Monarchie, beiseite schiebt, entwickelt er aus der anderthalbjährigen Usurpatorlaufbahn seines verwachsenen Bruders, des Vormunds und Mörders seiner Söhne, den politischen Charakter, der als Henker des Schicksals unter der allgemeinen Zuchtlosigkeit aufräumt. Man sieht Richard von Gloster, basiliskenhaft umgarnend, diplomatisch überlistend, brutal niedertretend, zynisch triumphierend, ganz nach den Verhaltungsmaßregeln, die Macchiavelli im „Fürsten“ für den Renaissancepolitiker, – freilich wohlverstanden nur für den in abnormen Zuständen der Anarchie und Zersetzung – ein Jahrhundert vor Shakespeare gebilligt hatte10. Historisch betrachtet als Abschluß der ganzen Reihe erscheint das Nachtstück Richards III. – dank der grellen Schlaglichter, mit denen die virtuose Schilderung des politischen Übermenschen arbeitet, – leicht als das Meisterstück der Königsdramen. Und doch nimmt Shakespeare nunmehr erst – jetzt 33jährig und in seine Vollreife tretend – das Hauptproblem des politischen Dramas in Angriff. Er geht vor den zeitlichen Ausgangspunkt der York-Tetralogie zurück, setzt aber den Lancaster-Zyklus mit demselben Motiv ein, mit dem er jene bei Richard III. geschlossen hatte, – mit dem Kampf gegen den „Tyrannen“. Aber sein neuer Gegenstand, der zweite Richard, verkörpert einen Tyrannen ganz anderen Kalibers, eine Fürstenpersönlichkeit von viel größerer Differenziertheit und Delikatesse. Es ist nicht das Geschick des Usurpators und politischen Hazardeurs, sondern das Verhängnis des begünstigten Erben einer großen Tradition, das sich an dem begabten, liebenswürdigen, glänzenden Sohn des glorreichen Schwarzen Prinzen erfüllt. Seine Tyrannei erwächst aus der Genußfreude des Sinnen- und Stimmungsmenschen, der überhaupt nicht begriffen hat, daß dem Herrschen als natürliches Äquivalent ein Leistenmüssen gegenübersteht, der im einschläfernden Bann der Schmeichelei und in Eitelkeit verstrickt, jede Selbstkritik verloren hat: „Sein Ohr verstopfen – Schmeicheltöne vom Rühmen seines Hofstaats –. 10

Über den anachronistischen Hinweis auf den „mörderischen Macchiavelli“, dem Richard von Gloster durch Shakespeare in den Mund gelegt, vgl. Fester, Macchiavelli S. l ff. Dazu meinen Aufsatz: „Macchiavelli und Michelangelo“, Zeitschr. für Rechtsphilosophie, Bd. II (1917), S. 137. Parteilichkeit Sh.’s gegen Eduard IV. betont Büttner a. a. O.

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Wo treibt die Welt ’ne Eitelkeit ans Licht, die ihm nicht schleunig wird ins Ohr gesummt. Zu spät kommt Rat. Er wird nicht mehr gehört, Wo sich der Wille dem Verstand empört –.“ Richard ist also ein Ausbeuter des Throns. In Vergeudung der öffentlichen Gelder durch ihn und seine Günstlinge sinkt er vom König zum Grundherrn, „Landlord“ von England herab. Schlimmer als das, er vergeudet damit das öffentliche Ansehen der Krone, – – „wird ein Gesell der öffentlichen Gassen, gehört, doch nicht bemerkt, – gesehn mit Augen, die matt und stumpf von der Gewöhnlichkeit kein außerordentlich Betrachten kennen, wies sonnengleiche Majestät umgiebt.“ Und auch damit nicht genug. Er wird – und hier greift Shakespeare zum ersten mal in die Probleme der Verfassung, des Staatsrechts – er wird zum Brecher des Rechts11. Dem Prinzen, der gegen einen bevorzugten Günstling die Hochverratsanklage erhebt, seinem Vetter Heinrich von Lancaster, versagt er die Justiz. Er unterbricht rechtswidrig den gerichtlichen Zweikampf. Er verbannt den unbequem gewordenen Günstling zusamt dem lästigen Vetter aus dem Reich und zieht dessen Güter ein. So wird der Kampf, den dieser nun gegen ihn entfesselt und der mit der Thronentsetzung des Königs im Parlament abschließt, nicht zum rohen Kampf um die oberste Macht, sondern zur legitimen Revolution. Richard geht des Throns verlustig als Tyrann, sowohl wie Aristoteles diesen Begriff gefaßt hatte als egoistischer Herrscher, wie im Sprachgebrauch des Augustin oder des Thomas von Aquino, als ungerechter Herrscher12. Wenn auch das Parlament untätig bleibt und nur als Sollennitätszeuge und Billiger der Entthronung figuriert, so ist diese Szene doch als politische Anspielung empfunden worden, die der selbstherrlichen Monarchie der Elisabeth mißfällig war. Sie mußte im Druck des Dramas und wohl auch bei der Aufführung wegbleiben13. 11

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Daß es Shakespeare an diesem Motiv als dem wichtigsten gelegen ist, beweist nicht nur die Weiterführung des Gedankens in den folgenden Dramen, sondern auch seine Abweichung von den vor ihm vorhandenen Dichtungen. Die Pflichtvergessenheit, die Empfänglichkeit für Schmeichelei, die Günstlingswirtschaft hatte unmittelbar vor ihm schon Christoph Marlowe in seinem „Eduard II.“ (o. A. 4) geschildert. Sehr viele Züge des persönlichen Kolorits klingen in dem Richard-Drama Shakespeares nach. Aber die Rechtsverletzungen des Königs stellt erst der jüngere Dichter in den Vordergrund. In Kohlers Aufsatz (s. Anm. 5a) muß dieser Gesichtspunkt schon deshalb zu kurz kommen, weil er die enge Beziehung zu den drei Heinrichs-Stücken des Lancaster-Zyklus ignoriert. Über das doppelte Kennzeichen des Tyrannenbegriffs in der antiken und in der christlich-mittelalterlichen Staatslehre vgl. meine „Vorgeschichte der geschriebenen Verfassung“, S. 112, 124. Der Thronwechsel wird im Drama durch den Thronverzicht Richards und die einseitige Thronergreifung Bolingbrokes juristisch konstruiert. Eine offizielle Äußerung des Parlaments unterbleibt und der Bischof von Carlisle protestiert ausdrücklich gegen die irrige Auffassung, als könne ein Untertan den König richten. In Wahrheit ist Richard II. (obwohl er bereits zuvor eine Verzichtsurkunde unterzeichnet hatte) von dem durch ihn selbst noch einberufenen Parlament nach Verlesung einer Liste

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Mit der Herrschaft des Rechts im Staat ist das Motiv fixiert, das in den drei folgenden Teilen der Tetralogie nicht wieder losgelassen wird. Denn die drei Heinrichsdramen, die sich anschließen, zeigen – auf das engste in die Konflikte der menschlichen Persönlichkeiten verflochten – den Kampf des Fürsten um und für das gerechte Regiment. Die beiden Teile Heinrichs IV. führen den mit Hilfe des Parlaments erhöhten Fürsten vor. Sie zeigen ihn unfroh der errungenen Krone. Nicht das schlimmste ist die Anmaßung der Magnaten, seiner nun überheblich gewordenen Parteigänger von ehemals, aus denen die Figur des Heißsporns Percy in den hellglänzenden wie in den unecht gleißenden Lichtern des Feudalbarons herausschillert. Schlimmer und gefährlicher als ihre Ränke ist der Feind, der dem König in seinem eigenen Thronerben erwächst. Die Lebensführung des Prinzen von Wales in der Gesellschaft seines liederlichen Gelichters von Trunkenbolden und Beutelschneidern untergräbt die Autorität der Dynastie. Denn so teuer Falstaffs dicke Behaglichkeit unserm Humor geworden ist, der Dichter vergißt über der Vorliebe für seinen unverwüstlichen Günstling nie, daß er den eigentlichen Gegenspieler des alten Königs bedeutet, während dieser im Mittelpunkt des Dramas stehen bleibt. Der Schmarotzer ringt mit König Heinrich um die Seele des Thronfolgers; und in diesem Ringen behauptet zunächst der Gauner das Feld: Prinz Heinrich verhöhnt um des wegen Schulden und Straßenraubs verfolgten Lieblings willen die Justiz in ihrem obersten Träger. Shakespeare hat es verschmäht, die Gerichtsszene selbst auf die Bühne zu bringen, wie es ein anonymer Dramatiker vor ihm in einem uns erhaltenen älteren Schauspiel von Heinrich V. getan hatte; hier wurde der Oberrichter vom Prinzen Heinz schließlich mit Ohrfeigen mißhandelt14. Aber wenn die rohe Form dem Takte Shakespeares und seinem Gefühle für die Würde des Reichsgerichtspräsidenten widerstreiten mochte, in der feineren Form zieht sich der Konflikt zwischen dem Prinzen und dem Lord Chief Justice auch bei ihm durch das ganze Stück hin, und der König legt seinem mißratenen Sohn die Lage schließlich schonungslos klar: „Was du zu dieser Zeit, war Richard damals, als ich aus Frankreich kam“ –. Die Katastrophe des entthronten Vorgängers scheint sich in der siegreich gewordenen Dynastie wiederholen zu sollen.

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seiner Verfehlungen durch formellen Urteilsspruch für abgesetzt erklärt worden (Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte, im Handb. d. mittl. u. neueren Gesch. 1913, S. 202). Trotz dieser Abschwächung des historischen Rechtsvorgangs mußte die Abdankungsszene in den älteren Drucken und vermutlich auch bei den Aufführungen wegbleiben; sie wurde erst in der Ausgabe von 1608 abgedruckt. Überhaupt galt das Drama von Richard II. als ein Werk mit revolutionärer Tendenz. (Vgl. die Belege und spez. die Rolle, die das Drama beim Ausbruch der Rebellion des Grafen Essex spielt, bei Creizenach S. 49, 50.) Schilderung der Szenenfolge und besonders der Gerichtsszene des anonymen „Heinrichs V.“ (s. Anm. 4) bei Creizenach Bd. 4 S. 31 ff. Der Prinz verspricht dem liederlichen Ned, seinem Lieblingsgefährten (bei Shakespeare: Poins), für den Fall seines Regierungsantritts die Stelle des Lord Oberrichters.

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Doch diesmal tritt rechtzeitig der Umschwung ein. In Percys kaprice-zerfressener Natur kommt der anarchische Geist, der Rebell aus Anlage, zum Vorschein, – Prinz Heinz streift die faule Schale des Lebenskünstlers von dem eingeborenen Kern des Pflichtmenschen ab, und nach der Entscheidung der Waffen, nach der hoheitsvollen und ergreifenden Aussprache zwischen Vater und Sohn im Angesicht des Todes klingt das Drama Heinrichs IV. in die beiden unvergleichlichen Schlußszenen aus, die das erschütterte Gleichgewicht des Rechts im Staat endgültig herstellen. Hier, am Angelpunkt der Dichtung, zeigt sich einmal schlagend die, wie Goethe es nennt, Exaktheit der Phantasie, mit der Shakespeare seine Handlung systematisch aufbaut. Er ist darin dem großen bildenden Künstler ähnlich, der auf dem Festland sein Zeitgenosse ist, so sehr er auch – wie Rubens – die Symmetrie in der Plastik der Menschenmodellierung und in der farbigen Fülle des Beiwerks zu verdecken weiß. Man mag selbst die beiden korrespondierenden Auftritte wieder vergleichen, die auch in der Bühnenwirkung – trotz ihres juristischen Kerns – kaum ihresgleichen haben. Dort die Audienz des neuen Herrschers, die gedrückten Höflinge und Prinzen, die dem Erscheinen des neuen Herrn entgegenfrösteln, der in seiner Isoliertheit unsichere Oberrichter, das Erscheinen des Königs, seine ausforschende und scheinbar ungnädige Anrede, die mannhafte Selbstrechtfertigung des Juristen und endlich das blitzartig die Atmosphäre klärende Wort des Fürsten: „Recht habt Ihr, Richter, Ihr erwägt dies wohl“; – hier die auf der Straße des Krönungszugs harrende Menge, das prahlerische Gehaben der alten Zechgesellen, Falstaffs freches Herandrängen an den König und diesmal umgekehrt wie im ersten Falle die zerschmetternde Abweisung: „Ich kenn dich nicht, du Greis; geh ans Gebet“. Schließlich wird der Triumph des Rechts in aller Form demonstriert. Der Dichter beruhigt sich nicht bei der königlichen Ungnade oder, wenn man will, dem Akt königlicher Kabinettsjustiz. Das Drama muß nach Verschwinden des Zugs mit der Rückkehr des Oberrichters und der Abführung Falstaffs ins Schuldgefängnis enden. Er ist sozial ein toter Mann, und darf in der eng anschließenden Fortsetzungshistorie, trotz seiner Beliebtheit beim Publikum, nicht mehr auftreten. Bekanntlich wird dort nur sein wirklicher Tod gemeldet. So tritt in dem zeitlich zuletzt entstandenen Stück, in dem, wie schon hervorgehoben kulminierenden Drama Heinrichs V., der fürstliche Held bereits mit dem Nimbus des gerechten Herrschers seine kriegerische Laufbahn an. Aber sorgsam führt der Dichter an dem Idealkönig, wie er ihm vorschwebt, jenen Charakterzug des Gerechtigkeitstriebs weiter durch. Mit peinlicher Genauigkeit, hier sogar entschieden auf Kosten der Bühnenwirkung und in ziemlich trockener Form, läßt sich Heinrich V. den Rechtsstandpunkt seines Thronfolgeanspruchs an die französische Krone vom Erzbischof von Canterbury klarlegen, ehe er sich zum Krieg gegen Frankreich entschließt. – „Gott verhüte, mein getreuer Herr, Daß Ihr die Einsicht drehn und modeln solltet. Denn Gott weiß, wie so mancher, jetzt gesund, Sein Blut zu deß Bewährung noch vergießt, 1279

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Wozu uns Euer Hochwürden treiben wird. Darum gebt Acht, – – Wenn Ihr des Krieges schlummernd Schwert erweckt.“ Und als sich im Verlauf einige der Lords durch Konspirieren mit dem Feind des Landesverrats schuldig machen, überweist dieser König sie nicht dem Gericht, ohne ihnen vorher an einem Parallelfall, über den er ihren Rechtsrat aus ihrem eignen Munde einholt, zu Gemüte geführt zu haben, daß sie nur erleiden, was sie anderen, geringeren Untertanen selbst als Strafe zuerkannt haben. Die Musterrolle des patriarchalen Heerkönigs, die König Heinrich schließlich auf dem Feld von Azincourt durchführt, gläubig, genügsam und um seine Krieger besorgt, gibt demnach dem ganzen Charakterbild nur seinen Abschluß. Alles in allem genommen, – das Gedankengerüst, das den Bau der Historien in ihren politischen Elementen zusammenhält, stellt sich als ebenso einfach wie gehaltvoll heraus. Das, wozu der Monarch – das ist das Grundthema – sich zu erziehen hat, ist die Fähigkeit, Macht und Recht in Einklang zu halten und Heinrich V. leistet dies. Aber der König, der nur rührselig im Gerechtigkeitsgefühl schwelgt und die Ordnung im Staat nicht kraftvoll erhalten kann, – Heinrich VI. – verfehlt seinen Herrscherberuf ebenso wie der glänzende Herrscher, der die Macht gebraucht, ohne der Gerechtigkeit genug zu tun, – die Gerechtigkeit nicht nur in der vagen Bedeutung gemeinnütziger Gesinnung, allerdings auch nicht im Sinne formeller Verfassungseinrichtungen, wohl aber im Sinne der volkstümlichen Schutzanstalt genommen, der der Monarch ebenso unterworfen ist wie der Bürger, der Justiz, – so Richard II. Im Grunde sind das Gedanken, wie sie eine empirische Staatslehre auch heute noch als systematische Hauptgedanken aus dem realen Staatsleben herausentwickeln muß, und eine andere Quelle als diese ist es ja auch nicht, aus der der Dichter geschöpft hat, mag ihm daneben irgendwelche publizistische Literatur vorgeschwebt haben, die wir nicht mehr nachprüfen können. Die wichtigste Richtschnur gab ihm doch das eigene politische Erlebnis. Die Jahre, die dem Dezennium der neun Königsdramen vorangegangen waren, hatten eine höchst kritische Phase für England bedeutet. Seit Elisabeth die Regierung angetreten, das heißt, seit England sich endgültig der Reformation zugewendet, hatte der Boden unausgesetzt unter den Angriffen der päpstlichen Gegenreformation und ihrer rivalisierenden beiden Vormächte Spanien und Frankreich geschwankt15. Noch bedient sich der Staat des Vorteils seiner insularen Lage. Aber unausgesetzt ist auch die schwache Stelle seiner Meeresisolierung fühlbar, – die Nachbarschaft Schottlands, des katholischen Brükkenkopfs auf dem Inselboden, den auszunützen die Feinde, Spanier wie Franzosen, nicht müde werden. In den Jahren, da Shakespeare eben geboren war, hatten Elisabeths Staatsmänner es erreicht, sich der katholischen Schottenkönigin zu bemächtigen, ihren Thronerben Jakob unter englische Vormundschaft zu nehmen, Schottland in Form eines Protektorats tatsächlich zu annektieren. Aber Maria lebt, intriguiert, 15

Eine ausgezeichnete Charakteristik der Lage Englands in der Zeit von 1567–87 gibt neuerdings Stählin, das Problem der englischen Landgrenze, historische Zeitschrift, Bd. 98 (1907), S. 69 ff.

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König Philipp rüstet, und im französischen Staatsrat betreibt der Agent des spanischen Katholizismus Heinrich Guise das landesverräterische Projekt, Spanien mit seinen Niederlanden und Frankreich zu einem einzigen schnürenden Ring um England zusammenzuschmieden. Seitdem der Mord großen Stils in den Jahren 72 und 76 Coligny und den Oranier vernichtet hatte, ist kein starker Freund mehr da, die Einkreisung von England abzuwehren. So hatten Walsingham und Burleigh 1587 zu dem Verzweiflungsmittel greifen müssen, der schottischen Maria das Haupt vor die Füße zu legen; ein Zwang zur Einigung der konfessionellen Parteien, aber auch das Signal zum neuen Ansturm der feindlichen Kräfte. Da war die Wendung eingetreten. Das Jahr achtundachtzig überlieferte Philipps große Flotte dem Sturm, das Jahr neunundachtzig verhalf – nachdem ein neuer beispielloser Doppelmord Frankreich sowohl von dem Führer der spanischen Liga wie von seinem katholischen König befreit hatte – dem Haupt der Hugenotten, dem Bundesgenossen Elisabeths, zum französischen Thron. Während in England beim Aufatmen von äußerster Bedrängnis die Gefahr noch nachzitterte, entwarf – 1590 auf 92 – der junge Schauspieler des Finsbury-Theaters seinen Heinrich VI. Was der Dichter politisch mit ihm erstrebte, ist danach klar. Kräftige Leitung und Bändigung alles Parteihaders, vor allem in den religiösen und kirchenpolitischen Fragen, – das ist es, was es ihn seinen Landsleuten vor allem ans Herz zu legen drängte: „England sicher für sich, bleibt es sich selbst nur treu“16. Und eben deshalb, weil Shakespeare das Unikum fertiggebracht hat, an einem ausgedehnten Ausschnitt der staatlichen Wirklichkeit förmlich ein System der Politik zu demonstrieren und diese Lehre noch dazu seiner eigenen Generation auf den Leib zu passen, – deshalb bleibt seine Dramatik, ganz abgesehen von ihrem poetischen Gehalt, auch in ihrem politischen Gehalt das Werk, nach dem sich der Blick auf alle andern nach ihm folgenden Arbeiten unwillkürlich einstellen muß, – auch das Urteil über die spanische, die französische speziell auch über die deutsche Dramendichtung. Teils bezeugt das deutsche Drama stofflich seine enge Beziehung zu den Historien Shakespeares. So die „Jungfrau“, die uns Vorgänge Heinrichs VI. von der französischen Seite her gesehen vorführt – so auch „Carlos“, „Egmont“, „Maria Stuart“, denn sie schöpfen sämtlich ihre Gegenstände aus der Weltlage, in der England, zwischen Frankreich, Spanien und Schottland eingeschlossen, jene kritische Zeit durchlebt, die den Nährboden für das Werden der Historien Shakespeares bedeutet; Elisabeths Monolog vor der Unterzeichnung des Bluturteils resumiert treffend alle Elemente der großen Krise. Vor allem aber finden wir in unseren Bühnendichtungen immer wieder die Anklänge an solche Problemstellungen, wie sie typisch bereits von Shakespeare gewählt worden waren. Wir treffen auf den politischen Übermenschen nach Art Richards III. wieder beim Wallenstein Schillers, wie beim König Ottokar Grillparzers, wie auch beim Holofernes Hebbels. Wir begegnen 16

Der an zahlreichen Aufführungen erprobte Bühnenerfolg „Heinrichs VI.“ – dahingestellt ob nur des ersten Teils oder aller drei Teile – wird im März 1592 bezeugt (Creizenach, Bd. 4, S. 648 ff.). Die Apostrophe: „England is safe, if true within itself“ (3. Teil. IV. 1) erinnert an die o. Anm. 7 zitierte Schlußwendung des anonymen King John.

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dem tragischen Motiv des passiven, herrschensunfähigen Fürsten in ausgeprägtester Form wieder bei Kaiser Rudolf II. in Grillparzers Altersdichtung vom „Bruderzwist in Habsburg“. Wir sehen das Problem der Gerechtigkeit im Staat mit seinem eigenartigen Bezug auf den militärischen Pflichtenkodex von Kleist in seinem Meisterdrama behandelt; wie Prinz Heinz in Shakespeares Historie aus dem flachen Lebenskünstler, so wird Prinz Friedrich von Homburg aus dem Träumer und Phantasten im Kampf mit der Gerechtigkeit zum politischen Menschen hartgeschmiedet. Wir werden dabei aber auch Lessings Minna und die wahrhaftig nicht lustspielmäßige, im Gegenteil den allergrößten Historienstil atmende Szene nicht vergessen, in der dem ungerecht verdächtigten wackeren Offizier durch die Kabinettsjustiz des aufgeklärten preußischen Absolutismus die Rehabilitation zuteil wird und die herbe, reine Gestalt König Friedrichs visionsartig unter den handelnden sichtbar wird. Solche Hinweise ließen sich ins unendliche vermehren, und jeder einzelne würde dem politisch verständnisvollen Lehrer Anknüpfungen aller Art ermöglichen. III. Die Lehrbedeutung der modernen Novelle für die Bürgererziehung. In einem Punkte ist jedoch der politische Gesichtskreis unsres klassischen Dramas ein eng begrenzter und zwar in einem Punkte von entscheidender Wichtigkeit. Sein Gegenstand sind durchweg nur die Persönlichkeiten der politischen Führer, der Fürsten oder derer, die ihnen als ihre Räte oder Feldherrn zur Seite oder als ihre Feinde oder Rivalen entgegenstehen. Das Volk, die Masse der Bürger, spielt in allen jenen Dichtwerken nicht die Rolle der aus eigenem Antrieb verantwortlich mithandelnden Menschen. Es figuriert nur als Spielball der Führer, unter Umständen als Werkzeug ihrer Politik, etwa eines von ihnen bestellten und inszenierten Tumults, regelmäßig als Träger von Stimmungsreflexen ihrer Handlungen. Und auch die letzteren sind überwiegend passiv und instinktmäßig. Nur selten verdichten sie sich zu selbständiger Kritik, wie vereinzelt in dem Prachtstück des Hofgärtners Richards II., der seinen Gesellen vor den Ohren der sorgenerfüllten Königin das Sinken des königlichen Sterns ausdeutet16a. Auch da, wo wie in Shakespeares Römerdramen republikanische Staatsaktionen zur Darstellung gelangen, steht es kaum anders. Soweit wir also aus der Dramatik politischen Erziehungsgehalt abnehmen wollen, müssen wir sie genau so betrachten wie die Staatslehre der älteren Zeit, die seit Aristoteles mit der Sympathie für die Republik und dem Sinn für die Bürgererziehung abgedankt hat, und unter dem Einfluß der Spätantike, der helleni16a

Richard II., Akt 3 Szene 5: O welch ein Jammer ist es, daß er nicht Sein Land so eingerichtet und gepflegt, Wie wir den Garten! – Um die Jahreszeit Verwunden wir des Fruchtbaums Haut, die Rinde, Daß er nicht überstolz vor Saft und Blut Mit seinem eignen Reichtum sich verzehre. Hätt’ er erhöhten Großen das getan, So konnten sie des Dienstes Frucht noch bringen, Und er sie kosten.

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stisch-römischen Schriftsteller, etwa Plutarchs, von Thomas von Aquino bis zu Macchiavellis „Principe“ nur Fürstenspiegel liefern will. Nun bezeichnet aber schon Macchiavelli selbst den Wendepunkt, von dem aus sich die Ausdehnung des Wirkungsfelds politischer Erziehung vollzogen hat. Seine andre Hauptschrift, die „Discorsi“ zu Livius oder das Republikenbuch, wie er sie selbst verstanden wissen will, fordern die „virtù del universale“, die Tüchtigkeit der Allgemeinheit und die Erziehung der Bürger zu ihr17. Sie erschöpft sich ihm freilich zunächst wesentlich in der Waffentüchtigkeit der Bürger. Aber ein neuer Grundton ist auch damit schon angeschlagen; denn der Florentiner zeigt zurück auf das altrepublikanische Rom, auf den antiken Stadtstaat überhaupt, und es bedurfte ja nur der Wiederanknüpfung an die Klassiker der griechischen Politik, in letzter Linie an den „Arete“-Begriff des Sokrates, um hier im Keime schon das zu finden, was wir heute die staatsbürgerliche Erziehung im Sinne der politischen Charakterschulung, die Erziehung nicht zur intellektuellen Einsicht in den Staat, sondern zum Staatssinn, zur inneren Hingabe an den Staat nennen. Und diesem erweiterten Ideal der Staatslehre kommt mindestens die dramatische Dichtung nur sehr zögernd nach. Bei Shakespeare bildet wohl die einzige Nutzanwendung größeren Stils das Bild des englischen Heeres bei Azincourt, dessen Geist in der Tat etwas von Macchiavellis „Gattungstüchtigkeit“ atmet. Es repräsentiert aber auch nur die Tüchtigkeit auf militärischem Gebiet, den Staatssinn des Volksheers, – das Gegenstück dazu mag man später in dem Mietlingsgeist des Soldheers finden, wie ihn die meisterliche Vorführung von „Wallensteins Lager“ verkörpert, den sympathischen Widerhall in den Ausblicken auf das brandenburgische Heer in Kleists Prinzendrama und in Hebbels „Torgauer Haide“. Aber des bürgerlichen Volkes, der Kaufleute, Handwerker, Bauern oder gar Arbeiter und ihres mittätigen Handelns bemächtigt sich die Poesie erst später und sehr episodisch. Gerade die Ereignisse, von denen man hierzu einen befruchtenden Einfluß hätte erwarten können, die großen Revolutionen des 17. und 18. Jh., die englische, die amerikanische, die französische haben ihn nicht ausgeübt, und sehen wir von einzelnen tastenden Versuchen ab, in manchem spanischen Drama der Glanzzeit, im Goetz, im Egmont, in ganz eigenartiger, feiner, aber poetisch verunglückter Weise in der natürlichen Tochter, so werden wir doch unbedingt feststellen dürfen, daß erst ein Werk der deutschen Klassik das entscheidende Wort gesprochen hat. Denn erst im „Tell“ wird ein ganzes Volk verantwortlich handelnd auf die Bühne gestellt. Gottfried Keller bezeugt: „das Buch drückt auf eine wunderbar richtige Weise die schweizerische Gesinnung aus“, – und leitet damit in seinem Jugendroman die herrliche Schilderung der improvisierten Tellaufführung ein, die die Bevölkerung eines Züricher Landkreises aus dem Leben heraus und in das Leben hineinspielt18. 17

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Über das Ergänzungsverhältnis zwischen „Principe“ und „Discorsi“ und das Grunderfordernis, das nach Macchiavelli gleichmäßig für Monarchien wie für Republiken gilt (die „regola generale“), daß die Tüchtigkeit des Volkes in der Hauptmasse seiner Glieder, die „virtu del ’universale“ in Harmonie und Zusammenwirken treten müsse mit der „virtu di un uomo“, vgl. meine Abhandlung „Macchiavelli und Michelangelo“ in der Zeitschrift für Rechtsphilosophie Bd. II (1917), S. 110-139. Keller, Urfassung des grünen Heinrich, Bd. II, S. 460: „Das Buch ist den Leuten sehr geläufig, denn es drückt auf eine wunderbar richtige Weise die schweizerische Gesinnung aus, und besonders

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Aber man braucht diesen Zeugen nur zu nennen, um durch ihn von vornherein ins Licht zu setzen, wie anders für die dramatische Poesie mit dem neuen Objekt auch die Aufgaben wurden. Schon im Tell sehen wir die Kunst des großen Darstellungskünstlers rasch erlahmen, wo er das Volk handelnd vorführen will. Nach dem unvergleichlichen Anlauf des Rütli treten die Eidgenossen zurück, tritt die Einzelpersönlichkeit Tells in den Vordergrund19. Und ebenso würde es, wie wir heute als sicher annehmen dürfen, Schiller ergangen sein, wenn ihm vergönnt gewesen wäre, seinen letzten Vorwurf, den Demetrius, auszuführen. Der grandiose Eingangsakt des polnischen Reichstags, das typische Gemälde der politischen Verlotterung eines Volks, gewisse dagegen kontrastierende Szenen des russischen Volkslebens im zweiten Akt, hätten im weiteren Verlauf keine Fortsetzung gefunden20. Und ganz dasselbe zeigt sich nun dem Betrachter, der auf Schweizer Boden bleibt, an dem, der in seiner Jugend geträumt hatte, ein vaterländisches Drama nach Art des Tell über die politischen Vorgänge der neuen Zeit fortzusetzen, an Keller selbst. Wir besitzen aus seiner Jugend dürftige Fragmente eines Dramas „Der Sonderbund“. Es sollte die Jesuitenbewegung und die daraus erwachsende Luzerner Gährung von 1845 behandeln, die zum Zusammenstoß mit dem Bund und zur Begründung der festeren eidgenössischen Verfassung von 1848 leitete21. Aber er hat diese Pläne nie ausgeführt. Zum Teil gewiß aus Gründen persönlicher Anlage; zum wesentlichen Teil

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der Charakter des Tell entspricht ganz der Wahrheit und dem Leben.“ Ferner: Ebenda I, 50 (in dem u. Anm. 21 erwähnten Gespräch): „Zu unsrer Beschämung müssen wir (die Schweizer) alle Trinksprüche, Mottos und Inschriften bei öffentlichen Festen aus Schillers Tell nehmen, welcher immer noch das Beste für dieses Bedürfnis liefert.“ Natürlich liegt die Schwäche nicht darin, daß Tell neben den Eidgenossen und ohne Verbindung mit ihnen allein handelt, wohl aber darin, daß die Eidgenossen ihre anfängliche ebenbürtig-aktive Haltung zugunsten Tells allmählich einbüßen. Vgl. Oskar Walzels Bemerkungen in der Einleitung der Säkularausgabe Bd. 7, S. XXX: „Ein großer Aufwand wird fast erfolglos vertan.“ Vgl. Gustav Kettners „Einleitung zum Demetrius“ in der Säkularausgabe Bd. 8, S. XXXI. Der „Sonderbund“ (Entw. v. 1849) wollte den Kampf des ehrlich ultramontanen Volksmanns Josef Leu und des unsympathischen, diplomatisch verschlagenen Demagogen Schultheiß Siegwart innerhalb des Luzerner Kantonsvolks und das Entgleisen der Bewegung in die extreme pfäffische Richtung schildern. Die dürftigen Fragmente enthalten Teile einer aufreizenden Rede, mit der Siegwart in einer Volksversammlung seinen Gegner angreift: „Staatsmänner sind sie, diese wackern Herren, Vom höchsten Rang, das muß man ihnen lassen! Da ist zum Beispiel schlecht und recht ein Volk, Das stellt durch ganz verfassungsmäßige Wahl, Ganz formgerecht und streng, mit größter Mehrheit Die wackern Herren höflich vor die Thüre –“ Das Volk (lachend): „Ganz recht, das war ja anno einundvierzig.“ Siegwart: Sodann beliebt es diesem Volke auch, Sich seiner Väter Gott so zu bewahren, wie es ihn überkommen hat – etc. Vergl. Bächtold, Kellers Leben II, S. 495. Ebenda das Gespräch einiger Achtundvierziger Krieger der deutschen politischen Flüchtlingslegion im „Stern“ zu Heidelberg mit Studenten und Bürgern aus dem Fragment „Die Freischärler“. Man unterhält sich darüber, wie man im badischen Oberland unter Lörracher Spießbürgern „exequiriert und requiriert“ hat.

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aber doch gewiß auch wegen der sachlichen Grenzen, die der Schöpferkraft des Dichters gesteckt sind, wo er die psychischen Zustände der Massen und ihr politisches Erleben und Entschlußfassen zur Anschauung bringen will22. Sie wird notwendig in ein anderes, breiteres Bett gedrängt, als es das Drama bietet. Der Dichter braucht einen gedehnteren Rahmen und greift zur epischen Behandlung. Schon als Keller jene Fragmente schrieb, hatte der „grüne Heinrich“ im Jahre 1845 seine erste Form zu erhalten begonnen, die dann 1855 abgeschlossen wurde, und gerade diese Urfassung des Jugendromans stürzt sich kopfüber in die Fragen der staatsbürgerlichen Erziehung. Die Erzählung beginnt in dieser ersten Form, bei der nur die Kindheitsgeschichte des Helden als Selbsterzählung in deren Mitte eingeschoben wurde, mit dem Aufbruch Heinrichs, alias des 21jährigen Keller, zu der verunglückten Kunstschülerfahrt nach München. Unmittelbar nach Überschreitung der Grenze hat der Held ein Zusammentreffen mit einem süddeutschen Grafen, mit dem er ein langes politisches Gespräch führt und den Gegensatz von Monarchie und Republik erörtert. Natürlich debutiert Heinrich mit einem Preislied auf die Schweizer Demokratie23. 22

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Über das Ringen Gottfried Kellers mit dem dramatischen Ehrgeiz und der allmählichen inneren Abkehr davon ist – dem Interesse-Gehalt dieses psychologischen Problems entsprechend – eine ganze kleine Literatur vorhanden. Vgl. Albert Köster, Gottfried Keller 1900, S. 49 ff. Gustav Steiner, Gottfried Keller 1918, S. 126 ff. Ermatinger, Gottfried Kellers Leben (1915), S. 261 ff. (das Ringen ums Drama) u. a. Grüner Heinrich, Urfassung S. 45. Die gräfliche Reisebekanntschaft richtet (durch ein Reiseerlebnis veranlaßt) an Heinrich die Frage, ob in der Schweiz das Landvolk Gewicht darauf lege, als republikanischer Souverän respektiert zu werden? „Durchaus nicht – sagt der Grüne –, das Volk hat bei uns nicht nötig, sich seine Bedeutung durch solche Dinge zu vergegenwärtigen, es atmet seine Lebensluft, ohne daran zu denken. Der Herzschlag seines politischen Lebens gehört ebensowohl zu den unwillkürlichen Bewegungen, als derjenige seines physischen Körpers.“ (S. 47.) „Ich habe – darüber nachgedacht,“ läßt er den Grünen zu dem Grafen (über dessen spätere Funktion s. A. 27) weiter sagen: „daß mein Volk so wenig Aufhebens macht mit seiner Republik, während es sich wahrhaft unglücklich fühlen würde, wenn es durch irgend eine Übermacht bezwungen, auch von dem besten Fürsten zu besitzen und zu regieren versucht würde.“ Im weiteren Verlauf entwickelt Heinrich die nationale Zusammengehörigkeit der Schweizer und seine republikanische Verfassung aus dem Gebiet, etwa in demselben Sinn, wie neuerdings Kirchhoff (Begriffe Nation und Nationalität 1905) gerade an der Schweiz diesen Gedanken demonstriert hat (S. 49): „Wie die Familie die schönste trostreichste Zuflucht ist nach jeder Abschweifung und Irrfahrt, so ist das Vaterland, wenn seine Gränzen einen natürlichen Zusammenhang haben, und wenn es jedem noch den sicheren Schoß eines aufgeweckten und vergnüglichen bürgerlichen Lebens bietet, der erste und letzte Zufluchtsort für alle seine besseren Kinder und je ungleicher diese sich an Stamm und Sprache manchmal sind, desto fester ziehen sie sich, nach gewissen Gesetzen, gegenseitig an, freundlich zusammengehalten durch ein gemeinsam durchgekämpftes Schicksal und durch die erworbene Einsicht, daß sie zusammen, wie und wo sie sich nun eingerichtet haben, am glücklichsten sind. Eine solche Lage ist die unsrige. Um einen uralten Kern hat sich nach und nach eine mannigfaltige Genossenschaft angesetzt; welche die Überlieferungen derselben, soweit sie in ihrer Bedeutung noch lebendig sind, mit aufnahm und sich bestrebte, sie fortwährend in gangbarer Münze umzusetzen. Ähnliche Neigungen in der durchweg ähnlichen schönen Landschaft, eine Menge nachbarlicher Berührungen bei der gemeinsamen Zähigkeit, den Boden unabhängig zu erhalten, haben ein von jedem andern Nationalleben unterschiedenes Bundesleben hervorgebracht, welches allen seinen Teilnehmern wieder einen gleichmäßigen Charakter bis in die feineren Schattierungen

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Von dieser Phase an bleibt Keller der Schilderer des modernen Staats, und obwohl man gewiß, wenn man überhaupt den Blick vom neueren Drama zu Roman und Novelle der Weltliteratur wendet, auf diesem Gebiet mannigfache Vorläufer seiner Figuren und Probleme finden würde – in Don Quixote und Gil Blas und Tom Jones ebenso wie im Meister, im Waverley oder an hundert anderen Stellen –, so liegt es doch schon im Hinblick auf die überragende Bedeutung, die das republikanische Gemeinwesen heute beansprucht, nahe, daß man die poetisch-didaktische Behandlung des Verhältnisses zwischen Gemeinwesen und Einzelbürger in erster Linie an Meister Gottfried beobachtet. So wäre es, auch wenn Keller nicht durch die Feier seines hundertjährigen Geburtstags im Jahre 1919 und durch den Ablauf der dreißigjährigen Schutzfrist seiner Autorrechte im Jahre 1920 eben jetzt sozusagen offiziell zum Klassiker und Volksdichter geworden wäre. Freilich ist nicht zu verkennen, daß wir mit Keller in ein ganz anderes Feld des literarischen Parnasses geraten. Nicht nur die Verschiedenheit der Dichtungsgattung wirkt hier ein, auch die Verschiedenheit der psychischen Komplexion des Dichters. Keller ist kein „Shakespeare der Novelle“, wie ihn Paul Heyse in ehrlich freundschaftlicher Begeisterung, aber fehlgreifend ehren wollte. Sein Stil ist ein anderer. Er gehört, wenn man der schönen symbolischen Klassifikation der Leonore Goethes folgen will, zu den Dichtern, die den Blumenkranz, nicht den Lorbeerkranz tragen. Seine geistigen Ahnen heißen Ariost und Cervantes, Jean Paul und Eichendorff. Und eine andere überwiegend logische Eigenart des dichterischen Schauens kommt hinzu, die in ihrer Wirkung auch wieder mit dem ausgeprägten Sinn für die Sphäre des Volkes, der Einzelmenschen, diese im Gegensatz zu den Führern und „großen Männern“ genommen, zusammentrifft; sie muß hier beiseite bleiben24. Aber gerade weil die Gegensätzlichkeit der poetischen Ausgangspunkte so groß ist wie möglich, tritt die Analogie zu Shakespeare auf dem speziellen Gebiet der

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der Sitten und Sinnesart verliehen hat. Und je mehr wir uns in diesem Zustande geborgen glauben vor der Verwirrung, die uns überall umgibt, je mehr wir die träumerische Ohnmacht der altersgrauen großen Nationalerinnerungen, welche sich auf Sprache und Farbe der Haare stützen, rings um uns zu erkennen glauben, desto hartnäckiger halten wir an unserm schweizerischen Sinn fest. So kann man wohl sagen, nicht die Nationalität gibt uns Ideen, sondern eine unsichtbare, in diesen Bergen schwebende Idee hat sich diese eigentümliche Nationalität zu ihrer Verkörperung geschaffen“. Es ist nicht ausgeschlossen, daß bei der Konzentration auf die Novelle bei Keller auch ein metaphysisches Bedürfnis eine entscheidende Rolle gespielt hat. Diesen Gesichtspunkt betonte mit besonderer Schärfe Paul Wüst. „Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer in ihrem persönlichen und literarischen Verhältnis“ 1911. Kellers Interesse haftet, meint er, vermöge seines strengen Wirklichkeitssinns ausschließlich am Tatsächlichen jedes Stoffes, besonders an der Tatsächlichkeit der geschichtlichen Begebenheiten und Personen. Demgemäß zieht er sich – zunächst auch vor allem an seinen geschichtlichen Novellen sichtbar – fast völlig auf das Zuständliche zurück (S. 49). Den Schritt in das große Getriebe der Geschichte und in das Leben der führenden Persönlichkeiten tut er nicht. Wüst erklärte hieraus vor allem die Wesensungleichheit und Entfremdung gegenüber Meyer, und sein nur vorübergehendes Interesse für die historische Novelle, – soweit er sich aber ihr widmet, seine Vorliebe für das Kulturhistorische in ihr. Aber es ist klar, daß er sich – falls diese Diagnose richtig sein sollte – auch dem Drama innerlich entfremden mußte, mindestens dem ihn ursprünglich am Herzen liegenden historischen, politischen Drama. Hier nur beiläufig zu dieser Frage Stellung zu nehmen, ist nicht möglich.

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politisch-didaktischen Darstellung nur um so schärfer hervor. Auf diesem Gebiet, wo Keller ganz speziell den Spuren Pestalozzis und Jeremias Gotthelfs folgt, ergibt sich nach dem, was ich vorhin ausführte, beinahe Punkt für Punkt eine auffallende Parallelität zu dem Engländer. Zunächst schon in den Grundanschauungen über die Staatsform. Auch Keller haftet mit seinem Interesse nicht an den Verfassungseinrichtungen der Schweiz und seines heimischen Zürich. Allerdings tritt er an sein Thema heran unter dem Eindruck der bewegten 40er Jahre und als überzeugter Liberaler25. Aber das Jahr 48 hat ja für die Schweiz eine ganz andere, viel abgeschwächtere Bedeutung als für Deutschland, nicht wie hier die eines grundstürzenden Einschnitts in die Entwicklung, sondern bloß als eine Zeit belebteren Fortschritts der längst ererbten republikanischen Institutionen, die sich seit dem Sturz des hartherzig gewordenen Zunft-Regiments durch die Franzosenkriege in kleinen Schritten zu einer sich allmählich verbreiternden Demokratie hinbewegt haben, schon lange vor 1848 in den Kantonsverfassungen nahe an ein allgemeines gleiches Wahlrecht herangerückt sind. Ebenso steht er ohne Vorbehalt der speziellen Form der Schweizer Demokratie gegenüber. Sie ist ihm selbstverständlich die repräsentative, die Herrschaft des Parlaments, des großen Rats, obwohl er sich keineswegs über gewisse kranke Stellen des parlamentarischen Systems im Unklaren ist. Sehr bedeutsam schiebt Keller in den buntfarbigen Trubel der Tellaufführung einen auch poetisch herrlich wirkenden Ruhepunkt ein in Form einer Unterhaltung, die er sich in einer Pause des Festes zwischen einigen Festteilnehmern entspinnen läßt. Der Wirt des in den Bergen gelegenen Gasthauses zum Löwen, der persönlich die Tell-Rolle durchführt, gerät da mit einem reichen Holzhändler, einem Abgeordneten des Kantonsrats, scharf aneinander über die schwebende Frage, ob eine Straße über das Gebirge oder durch die Flußniederung zu führen sei, ein jeder von seinen sehr realen Interessen getrieben. Der Verwaltungsbeamte des Bezirks, der Statthalter, versucht vergeblich in dem Streit zu vermitteln, und dem grünen Heinrich geht hier zum ersten Mal das Verständnis auf für die Probleme, die uns Deutsche seit zwei Jahren mit so bedeutungsvoller Intensität berühren, für den Gegensatz zwischen dem Berufsbeamten, der ohne am Besitz der Macht beteiligt zu sein, der neutralen Sorge um das Gemeininteresse dient und dem Berufspolitiker, der sich nicht scheut seine parlamentarische Machtstellung ungescheut für sein Geschäft in die Wagschale zu werfen. „Zum Teufel“, – sagt da der Grüne zu seinem Vertrauensmann, dem Schulmeister, – „sind denn unsere Herrn Regenten zu irgend einer Zeit etwas anderes als ein Stück Volk, und leben wir nicht in einer Republik“? Da klärt ihn sein alter Freund, der Vater seiner Anna, auf über die „wunderbare Tatsache, wie besonders in neuerer Zeit ein solches Stück Volk, ein repräsentativer Körper, durch den einfachen Prozeß der Wahl sogleich 25

Heyse hatte diese, wie Keller es gegen Conrad Ferdinand Meyer nannte, „unbedachte Guttat“ begangen, als er im Februarheft der „Rundschau“ zwölf Sonette „Dichterprofile“ veröffentlichte. Vgl. das Gedicht und die sich daraus entwickelnde Korrespondenz bei Max Kalbeck, Paul Heyse und Gottfried Keller im Briefwechsel 1919, S. 118. Noch April 1881 schreibt Keller an Heyse (ebenda S. 210): „Die Schelle des Shakespeare der Novelle, die du mir an den Hals gehängt, wird da und dort angezogen; ich werde nächstens meinen Kommentar liefern.“

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etwas ganz merkwürdig verschiedenes wird, – eines Teils immer noch Volk, und andern Teils etwas dem ganz entgegengesetztes, fast feindliches. Es ist wie mit einer chemischen Materie, welche durch das bloße Eintauchen eines Stäbchens, ja sogar durch bloßes Stehen auf geheimnisvolle Weise sich in ihrem ganzen Wesen verändert. Manchmal will es fast scheinen, als ob die alten patrizischen Regierungen (der Deutsche würde sagen: die alten monarchischen Regierungen) mehr den Grundcharakter ihres Volkes zu zeigen und zu bewahren vermochten.“ Dem jungen Helden geht dadurch das Entsagungsvolle der Stellung eines Berufsbeamten auf, der wie hier der Statthalter bei jeder politischen Krise mit edlem Stolze gleichmäßig aller Kundgebungen sich enthält und dieses Verhältnis der Abhängigkeit doch erträgt, weil ihm bei seinen Anlagen und seinem Entwicklungsgang die Eigenschaften fehlen oder verkümmert sind, die er brauchen würde, um sich in der harten Konkurrenz des Erwerbslebens eine wirtschaftlich unabhängigere Stellung zu schaffen, als die des festbesoldeten Beamten ist; ja, Keller unterstreicht diese Konflikte sogar dadurch, daß er dem Beamten in dem Gefühl dieser Resignation die beiden egoistischen Gegner nach deren Auseinandergehen verteidigen und ihn ein Loblied auf ihr naives Eintreten für ihr Erwerbsinteresse anstimmen läßt. „Erst später, fügt der Grüne hinzu, ward es mir klar, daß (dieser Mann) das Schwerste gelöst habe, eine gezwungene Stellung ganz so auszufüllen, als ob er allein dazu gemacht wäre, ohne mürrisch oder gar gemein zu werden.“ So hat der 33jährige Schriftsteller um 1853 den vollen Einblick in die tiefsten Probleme der Demokratie, dieselben, die für Deutschland nun seit 2 Jahren so zeitgemäß wie möglich geworden sind. Aber er setzt sich – damals – darüber hinweg. Den Schulmeister, der Kellers Konterfei im Roman alle diese Dinge aufzeigt, „dieses verworrene Gemisch von Abhängigkeit und Freiheit“, läßt er schließen: „Aber lasse dich ja nicht etwa verführen, die repräsentative Demokratie nicht für die beste Verfassung zu halten. Besagte Erscheinung dient bei einem gesunden Volk nur zu einer wohltätigen Heiterkeit, da es sich mit aller Gemütsruhe den Spaß macht, die wunderbar verwandelte Materie manchmal etwas zu rütteln, die Phiole gegen das Licht zu halten, prüfend hindurch zu gucken und – sie am Ende doch zu seinen Nutzen zu verwenden“26. Und damit langen wir bei dem hauptsächlichen Gesichtspunkt wieder an, – demselben, dem wir gleich zu Anfang bei Shakespeare begegneten. Nicht bloß die Formen und Normen der Verfassung, sondern erst die Gesinnung des Volks und die Art, wie es die Verfassung handhabt, macht den gesunden Staat. Darauf also 26

Die Hauptstellen über den – vom Standpunkt der Schweiz – unbedingten Vorzug der republikanischen Staatsform vgl. bereits oben Anm. 21. Die hier im Text wiedergegebene Apologie der repräsentativen Demokratie findet ihre Ergänzung in einer Briefstelle an einen Züricher Freund v. J. 1852 (Bächtold II., S. 203). Der heftige Angriff auf die schon damals auftauchenden Versuche zur Einführung des Volksbegehrens und Volksentscheids, die 1869 in der Züricher Verfassung zum Durchbruch kam (unt. Anm. 32) läuft aus in dem ironischen Satz: „Die repräsentative Demokratie wird deshalb solange der wichtigste Ausdruck der züricherischen Volkssouveränität sein, bis alle psychischen und physischen Materien so klar und flüssig geworden sind, daß die unmittelbarste Selbstregierung ohne zuviel Geschrei, Zeitverlust, Reibung und Konfusion vor sich gehen kann, bis das goldene Zeitalter kommt, wo alles am Schnürchen geht und nur einer den andern anzusehen braucht, um sich in ihn zu fügen.“

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kommt es an, daß sich wie in der Monarchie die Fürsten und Minister, so in der Republik die Bürger dazu eignen und erziehen, pflichttreu und lebensvoll am Staate mitzuwirken. Der Einzelne soll bei Wahlen und Wählerversammlungen, gleichviel wer er ist, in der rechten Gesinnung sich einsetzen, das staatliche Leben tätig mitempfinden und miterleben. Und darin, daß er sich zu dieser Überzeugung durchringt, vollendet sich auch der Erziehungsgang des grünen Heinrichs. Unter Überwindung aller seiner Liebesschmerzen, seiner verunglückten und verschrobenen künstlerischen Ideale, seiner unfruchtbaren religiösen Spekulationen bekehrt er sich in einer späteren Wiederbegegnung mit dem bewußten deutschen Grafen zu dessen Rat, er tue besser sein Streben an die Rolle eines brauchbaren Mitglieds des Gemeinwesens zu setzen27. Hier tritt, wie man ohne weiteres sieht, der große Hauptgedanke hervor, der den grünen Heinrich mit Wilhelm Meister verbindet, nur daß das tätige Leben, zu dem sich der Held Goethes erzieht, bei Keller viel ausgesprochener das politisch-tätige Leben wird28. 27

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Die Anschauungen des demokratisch gesinnten deutschen Grafen – einer Gestalt, für die Keller Formen und Farben während seiner Heidelberger Lehrzeit (1851) gefunden zu haben scheint (Anmerkung Ermatinger zur Urfassung des Grünen Heinrich IV. S. 551 [zu S. 458]), stimmen im wesentlichen mit den Ideen überein, die Keller schon am 2. Mai 1848 in sein Tagebuch eintrug (Ermatinger, Kellers Leben, Briefe und Tagebücher 1916, Band II): „Der Wind hat sich gelegt, die Wolken sind verschwunden. Rein und tief wölbt sich der kristallene Himmel, die Sonne flammt still, groß und sicher an ihm. Und ebenso still, groß und sicher leuchtet das Gestirn unseres Schicksals und unserer Tage über der tosenden Verwirrung dieses Frühjahres. Ja, es ist ein gewaltiges Gestirn, und deutlich lesen wir in ihm, daß unsere äußere Lebensruhe dahin ist, und daß wir (nur) durch rastloses Ringen und riesenmäßige Arbeit die Ruhe unserer Seele erkämpfen können. Die goldenen Locken unserer Jugend werden in diesem Kampfe ergrauen, mit dem Schwerte in der Hand wird sie ihre Erfahrungen sammeln, und unter den Waffen ihre Studien vollenden, und sie wird gedrängte Tage an das verwenden können, wozu die Väter lange Jahre brauchten. Das ganze zarte Geschlecht der Jungfrauen von heute wird unter Sturm und Gewitter verblühen und in kurzen fliegenden Augenblicken die heitere Freude haschen, welche es sonst in langen Lenzmonden schlürfte, aber diese Minuten werden schwerer, feuriger, seliger sein als jene langen ruhigen Jahreszeiten der müßigen Lust. Der Reiz seiner Unschuld wird die glühende Tugend der Jünglinge zieren, welche sich dem Vaterlande weihen. Die Mütter werden unter schweren Sorgen ihre Söhne aufziehen, aber jede hat dafür die stolze Hoffnung, dem Vaterlande einen Retter zu schenken, denn es wird keinen überflüssigen und unnützen Bürger mehr geben. Die Greise aber werden noch am Rande ihres Grabes die Summe ihres langen Lebens verdoppeln können und die Erfahrungen und Früchte eines Jahrhunderts mit hinübernehmen. Mein Herz zittert vor Freude, wenn ich daran denke, daß ich ein Genosse dieser Zeit bin. Wird dieses Bewußtsein nicht alle mitlebenden Gutgesinnten als das schönste Band seiner allgemein gefühlten heiligen Pflicht umschlingen und am Ende die Versöhnung herbeiführen? Aber wehe einem jeden, der nicht sein Schicksal an dasjenige der öffentlichen Gemeinschaft bindet, denn er wird nicht nur keine Ruhe finden, sondern dazu noch allen inneren Halt verlieren und der Mißachtung des Volkes preisgegeben sein, wie ein Unkraut, das am Wege steht! Der große Haufe der Gleichgültigen und Tonlosen muß aufgehoben und moralisch vernichtet werden, denn auf ihm ruht der Fluch der Störungen und Verwirrungen, welche durch kühne Minderheiten entstehen. Wer nicht für uns ist, der sei wider uns, nur nehme er teil an der Arbeit, auf daß die Entscheidung beschleunigt werde.“ – Am folgenden Tage (3. März) fügt Keller noch den einen Satz hinzu: „Nein, es darf keine Privatleute mehr geben!“ Das Wesentliche des Gegensatzes findet man leicht, wenn man die besonders knappe Charakteristik Windelbands („Aus Goethes Philosophie“ in den „Straßburger Goethevorträgen“ 1899, S. 97 ff.) zum Vergleich heranzieht.

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Aber da ergibt sich nun die sonderbare Hemmung, daß für den Helden des Jugendromans diese Erkenntnis zu spät kommt. Bei der Heimkehr findet Heinrich die geliebte Mutter tot, von der Sorge um den vermeintlich ungeratenen Sohn aufgerieben, und Heinrich fühlt sich nicht mehr fähig, die Mission eines tüchtigen Bürgers zu erfüllen. Er hat sich – so erläutert Keller seinen Standpunkt selbst zu Hermann Hettner – an der Familie, der Keimzelle des Staats, versündigt und wählt den Tod29. Und da nun der Jugendroman auf solche Weise im Sande verläuft, da auch die spätere Umarbeitung (1879) das Schiff des armen Heinrich nicht wieder flott machen kann – statt des Todes wählt er hier ein resigniert zurückgezogenes Leben –, so nimmt Keller das von ihm zunächst nicht erledigte Thema der bürgerlichen Erziehung in seine gesamte weitere Schriftstellerlaufbahn mit hinüber, um sich mit ihm nun erst recht und bis an den Abschied vom eigenen Dasein auseinanderzusetzen. Zunächst hat er die notwendige Ergänzung durchaus im Sinne des Optimismus der Jugendperiode geliefert, im raschen Anschluß an den „grünen Heinrich“ in zwei innerlich eng zusammengehörigen Novellen, einerseits in der ursprünglichen Eröffnungsnovelle des ersten Bandes der Seldwyler (1856), der Frau Amrain – andererseits in dem vorweggenommenen Prachtstück der späteren Züricher Novellen, dem Fähnlein der Aufrechten (1860) – beide nach ihrer Fülle und Klarheit Werke, die im Schimmer wahrer Klassizität stehen. Das „Fähnlein“ stimmt aus vollem Herzen den Panegyrikus der gesunden Bürgergesinnung des Volkes an, – eben des kleinbürgerlichen Volkes, das nichts weiter ist und sein will als das Mundstück der öffentlichen Meinung und als das Kontrollorgan der gewählten Vertreter, das aber diese Funktion auch wirklich ernsthaft ausübt. Das Verhältnis der sieben weißhaarigen Freunde in ihrer altväterisch-würdevollen Hochachtung für einander und in ihrer vorbehaltlosen Aufrichtigkeit untereinander, ohne Rücksicht auf die Verschiedenheit der Vermögenslage des Schneiders, des Maurermeisters, des Weinhändlers und der anderen – das verkörpert glänzend den Geist eines der minimalen politischen Klubs, die den Kitt für Volksversammlungen und Wahlen bilden und bilden müssen, wenn etwas dabei herauskommen soll. Nur so kann die Einheit in der Vielheit geschaffen werden, durch deren Mangel die Demokratie zunächst ganz zweifellos hinter der Monarchie zurücksteht. Sie sieht Keller – das will er sagen – damals in den Kantonen und im Bund gesichert. Dem Wunsch nach Pflege dieses Zusammenhaltes ordnen die alten Aufrechten sogar das Glück der eigenen Kinder unter. Hediger und Fryman wollen keine Heirat zwischen dem armen Sohn und der reichen Erbtochter, um ihre freie Haltung nicht im Luxus einzubüßen, und der frische Sohn muß erst den Beweis liefern, daß es auf politische 29

Keller an Hermann Hettner (Bächtold Bd. II., S. 282): „Wie kann er, da er in bezug auf die Familie, welche die Grundlage der Staatsgemeinschaft ist, ein verletztes oder wenigstens beschwertes Gewissen hat, ein öffentliches Wirken beginnen oder sich für dasselbe vorbereiten? Ferner, da er mit der Erfahrung der geläuterten Liebe zurückgekehrt und eine lebendige Hoffnung darauf trägt, macht ihm gerade diese Hoffnung das Leben unmöglich, weil sich wohl kein edleres und ungetrübtes Lebens- oder Eheglück denken läßt nach dem so beschaffenen Tod der Mutter.“

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Gespräche und Gesinnungstüchtigkeit allein auch nicht ankommt, daß Gewandtheit des Wortes und Sicherheit des Auftretens, Waffentüchtigkeit und Körperkraft hinzutreten müssen. Damit hat er, indem er den Alten aus der Patsche hilft, der jungen Generation ihr Recht erobert. So steckt in der köstlichen Geschichte, einer der Perlen der Weltliteratur, in nuce ein Katechismus der Bürgermoral, besser als eine Anzahl auswendig gelernter Sätze der Verfassungsurkunde oder gar jene phrasenhafte Morale civique wie sie in Frankreich unter Comtes Auspizien in Blüte gekommen ist. Ein mehr skeptischer Grundton kündigt sich ja freilich schon im ersten Band der „Leute von Seldwyla“ an. Ist ja doch dieses mystische Städtchen, von dem „ein Turm in jeder Stadt oder jedem Tale der Schweiz ragt“, nichts anderes als ein symbolischer Extrakt der ganzen Schweiz, von der Seite ihrer mehr oder minder liebenswürdigen Untugenden gesehen – des Pläneschmiedens, der fröhlichen Pumpwirtschaft, der ewige Festfeiern und Juxfreuden, der Oppositionsmacherei als Selbstzweck und über allem der Anbetung der Gemütlichkeit und des Lebensbehagens als Hauptzwecke des Daseins. Aber noch sind diese Untugenden harmlos. Und außerdem – diesen Trost predigt Keller in der Frau Amrain – wenn der Mann versagt, so steht die Schweizerin alter Prägung für den Riß. So stellt sich das volle Gegenstück der Aufrechten heraus, so daß sich die beiden Novellen nach Heyses Ausdruck wie Schlangenringe wohlmotiviert in die Schwänze beißen. Wie dort der Junge den Alten aus der Klemme zieht, und ihnen – so kann man sagen – den letzten Schliff in der politischen Erziehung gibt, so hilft hier die Mutter dem Sohn, indem sie die ihn bedrängenden Verführungen eine nach der anderen pariert. Nachdem sie ihn aus leichtfertiger Frauengesellschaft freigemacht, treibt sie ihm das überflüssige Politisieren und Kannegießern aus, die Gefahr, ein Schwätzer und Prahler zu werden, der immer das Gleiche sagt und sich selbst gern reden hört. Dann heilt sie ihn von der Sucht, an „übel angewandter Tatkraft zu verderben“, bei schönem Wetter im Lande herumzustreichen, wohlbewaffnet mit seinem Zivilgewehr, versehen mit gewichtigen Bleikugeln und silbernen Talern und sinnlos in die Luft zu knallen und ein friedfertiges Staatswesen zu beunruhigen. Und schließlich verleidet sie ihm auch das andere Extrem, das gefährlichste, das des politischen Schmollens und des bürgerlichen Quietismus und Indifferentismus und zwingt den hochmütig Beiseitestehenden zu den nüchternen Geschäften des politischen Alltags und an die Wahlurne heran. Zwischen der Skylla der politischen Wichtigtuerei, der platonischen Polypragmosyne, und der Charybde der politischen Passivität, die beim Bürger genau dieselbe schwerste Untugend darstellt wie beim Herrscher im König Heinrich VI., – zwischen diesen Klippen steuert Frau Amrain ihren Fritz genau in das Fahrwasser des bescheidenen Selbstbewußtseins und der bedachtsamen Entschlossenheit hinein, das Karl Hediger schon von selbst gefunden hat. So ist hier bei kleinem Sommergewölk alles Sonnenschein in der republikanischen Demokratie wie bei Shakespeare im Heinrich V. in der Monarchie, und so wie er sie schildert, sieht Keller vor 1860 seine Schweizer an. In der ersten Fassung schloß die Novelle mit den zu „Romeo und Julia“ überleitenden Worten über Frau Amrain: 1291

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„Das Beste an ihrem Charakter, von ihren Meinungen und Reden aber ist, daß dieselben durchaus nicht etwa erfunden, sondern in einer wirklich lebendigen Frau begründet gewesen.“ Aber30 in der langen Pause, in der die späteren Werke allmählich in seinem Innern reiften, begann sich Kellers republikanischer Horizont zu umdüstern und 1878 war es soweit, daß er an Julius Rodenberg schreiben konnte: „Das Fähnlein würde leider dermalen zu schreiben nicht mehr möglich sein, da es von glücklicheren Tempi passati handelt und nun politisch und sozial bei uns ein großes Mißbehagen herrscht.“31 1861 hatten die Zeitungen zur allgemeinen Überraschung gemeldet, daß der Dichter der revolutionären Lyrik und der Journalist der oppositionellen Presse durch den gemäßigten Regierungsrat zum Staatsschreiber von Zürich berufen worden sei, und indem er nun zu den Herrschenden gehörte, erfüllte sich an ihm selbst der chemische Prozeß der Veränderung der Materie, den er entdeckt hatte. Ihn selbst traf die Opposition der radikaler werdenden Politiker, und ablehnend stand er der Reform der Verfassung seines Heimatkantons gegenüber, die sich bis 1869 allmählich durchsetzte und schließlich die repräsentative Demokratie mit Hilfe des Referendums, des Volksentscheids, in die unmittelbare umwandelte, – wirklich umwandelte, da die Erledigung der Gesetze und Regierungsbeschlüsse, besonders der Finanzbeschlüsse nicht eine durch Hindernisse aller Art verbarrikadierte war, wie in unseren heutigen Verfassungen, sondern sich von vornherein sehr frei auswirken konnte. Aber nicht das war es, was aus dem optimistischen Republikaner einen pessimistischen machte. Wenn Keller auch die Reform mißbilligte, stand er ihr doch nicht leidenschaftlich entgegen. 1868 schreibt er an Varnhagens Nichte Ludmilla Assing: „da ich zu denen gehöre, die nicht von der Zweckmäßigkeit und Heilsamkeit der Sache überzeugt sind, so werde ich ganz resigniert abspazieren, ohne dem Volke zu grollen, das sich schon wieder zurecht finden wird“32, eine versöhnliche Stimmung, 30 31

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Bächtold, Kellers Leben II., S. 65. In den Aufrechten idealisiert Keller noch mit Bewußtsein. „Es ist noch lange nicht alles Gold, was glänzt“, schreibt er an Auerbach (Ermatinger I., S. 411). „Dagegen halte ich es für Pflicht eines Poeten, nicht nur das Vergangene zu verklären, sondern das Gegenwärtige, die Keime der Zukunft soweit zu verstärken und zu verschönen, daß die Leute noch glauben können: ja, so seien sie und so gehe es zu. – Kurz, man muß, wie man schwangeren Frauen etwa schöne Bildwerke vorhält, dem allezeit tüchtigen Nationalgrundstock stets etwas besseres zeigen, als er schon ist; dafür kann man ihn auch um so herber tadeln, wo er es verdient.“ Kellers Äußerung – in einem Brief an Varnhagen von Enses Nichte Ludmilla Assing am 12. Juli 1868 (Bächtold III., S. 55) – bezieht sich auf die bedeutsame Verfassungsänderung, die auf Initiative des Züricher Kantonsvolks am 26. Januar 1868 durch Volksabstimmung beschlossen worden war und am 31. März u. 18. April 1869 durch Zustimmung des großen Rates und des Volks zu dem Verfassungsentwurf ihr Ende fand. Sie wandelte die bisherige repräsentative Demokratie in die unmittelbare um, indem sie dem stimmberechtigten Volk das Gesetzesbegehren, den Volksentscheid

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die seine politischen Gegner übrigens damit erwiderten, daß sie 1869, als sie in die Regierung kamen, ihn nicht nötigten, „abzuspazieren“, sondern ihn in seinem Amte bestätigten. Also nicht die Verfassungsänderung, die Radikalisierung, etwas anderes ist es vielmehr, was den Apologeten Keller allmählich zum Kritiker der Republik überhaupt, auch in ihrer repräsentativen Form, macht, die Veränderung der Gesinnung, die er im Volk wahrzunehmen glaubt und die veränderte Handhabung der bisherigen Formen. Schon bei dem Erscheinen des zweiten Seldwyler Bandes 1874 sehen wir die Nebel aufgestiegen in der Geschichte vom verlorenen Lachen, – bezeichnenderweise auf einem Schauplatz, der noch vor der radikalen Verfassungsänderung gelegen ist. Auf diesem Schauplatz bewegt sich das junge Ehepaar Jukundus und Justine, auf das nach kurzem Liebesfrühling der Reif des Nichtverstehens und der Entfremdung fällt. Justine gerät in die Strömungen einer seichten neumodischen Religiosität, Jukundus unter die noch weit schlimmeren Einflüsse einer verhetzenden Parteitaktik, die sich an die herrschenden politischen Kreise hängt, und unter dem Schein der gesinnungstüchtigen Opposition gegen beliebige Mitglieder der Regierung oder der Behörden einen systematischen Verläumdungsfeldzug eröffnet.33 Mit unverkennbarer Bitterkeit malt Keller diesen seelischen Erkrankungszustand der heimischen Demokratie, dessen Exzesse mittelbar sein eigenes Leben grausam getroffen hatten: Verdächtigungen seiner Lebensgewohnheiten hatten ihm, wie wir jetzt wissen, das letzte weibliche Wesen, das sich ihm vertrauensvoll angeschlossen hatte, in tragischer Weise entrissen.34 Immerhin macht er sich in seiner Dichtung noch einmal von den trüben Bildern frei, und seine Helden, die beiden Eheleute, wissen sich aus dem Nebelgrau wieder in den Sonnenschein ihres Glückes zurückzufinden. Aber mit diesem Präludium hat sich Keller doch in die Stimmung versetzt, aus dem nach zehnjährigem Grübeln der große Altersroman Martin Salander hervorgewachsen ist, sein politisches Vermächtnis an die Schweiz, an die Welt, – die

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über Gesetz und Haushaltsplan und die unmittelbare Beamtenwahl übertrug (Bächtold III., S. 4 ff. Ermatinger I., S. 417 ff.). Der Hintergrund des „verlorenen Lachen“ bezeichnet die Übergangszeit, in der gegen die bisherige Herrschaft des Altliberalismus im Kanton Zürich die Agitation des vor allem in Winterthur aufkommenden neuen Demokratismus in Gang kommt. Sie entlädt sich in maßloser Preßfehde gegen den langjährigen Präsidenten des Regierungsrats, den Finanzmann Alfred Escher, den „Princeps“, und gegen das angebliche „System“ seiner Verwaltungsführung, das als Korruption, Scheinverfassungsmäßigkeit, Vetternwirtschaft verunglimpft wird. Dieser Verleumdungsfeldzug erzeugt zunächst eine Jahre lang währende Beunruhigung der öffentlichen Meinung, die durch die methodisch genährte, epidemieartig um sich greifende Erregung – von Keller in der Gestalt des „Ölweibs“ verkörpert – ein Mißtrauen gegen beinahe alle höheren Beamten des bestehenden Regimes faßt. (Ermatinger, Kellers Leben I., S. 415 ff.). Keller selbst hatte sich im Frühjahr endlich – bereits den Fünfzig nahe – mit Luise Scheidegger, Tochter eines Arztes im Emmenthal, verlobt. Unter dem Einfluß ähnlicher Einflüsterungen, die sich Kellers schroffer Außenseite, seiner Wirtshausgewohnheiten bemächtigt hatten, gab sie sich – ohnehin melancholisch veranlagt – im Juli 66 den Tod. (Walter Huber, Gottfried Keller und die Frauen 1914).

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Dichtung, in der freilich der didaktische Geist Pestalozzis und Gotthelfs am stärksten neben dem poetischen zur Geltung kommt, und doch trotz mancher Schwächen des Altersstils bis heute die bedeutendste dichterische Behandlung der modernen demokratischen Republik.35 Er ist sich dessen voll bewußt.36 „Ein starker Tabak soll darin geraucht werden“, kündigt er Storm an. An Freund Paul aber meldet er nach München, daß es Mäuse kosten werde, oder gut alemannisch: ’s koscht Mäus’, und er holt (1882) Heyses Rat ein über den Titel „Excelsior“, den er ursprünglich plant. Heyse rät ab; das sei nicht Kellerisch genug, erinnere an „Gartenlaubenalluren und Dingelstedterei“. Keller läßt ihn fallen und setzt den Namen des Helden an die Spitze. Aber der ursprüngliche Titel bezeichnete in der Tat das Wesentliche. Gerade den Doppelsinn meinte Keller. „Höher hinauf“ im Sinn des ehrlichen Ideals, aber zugleich im Sinn der übeln Reklamemacherei und Streberei. Jene Vermischung von politischer Machtstellung und Privatgewerbe, die im grünen Heinrich und in den Seldwylern duldsam als unvermeidliche Beigabe der repräsentativen Demokratie hingenommen wurde, wird nunmehr in der autokratischen Demokratie des Staates Münsterberg, wie Zürich verhüllend bezeichnet wird, scharf gegeißelt. Der Held Salander, der durch ein und denselben Gauner zweimal in seinem Geschäft ruiniert über See gegangen ist und zweimal mit einem sicher erworbenen Vermögen in die Heimat, zu seinem Beruf, zur Frau und seinen Kindern zurückkehrt, stürzt sich nun als ein lauterer Liberaler der alten Schule, bescheiden, begeistert und arbeitsam in das politische Getriebe. Aber er wird in seiner Sympathie für das sich selbst regierende Volk mehr und mehr wankend, als er bei Schritt und Tritt auf die Emporstrebenden des anderen Schlags stößt, hier auf Hohlköpfe, die immer nur im Brustton von der „Republik“ reden, „als ob dadurch alles gewonnen sei“, dort auf einen Schweizer Arbeiter, der sich von einem Deutschen um der Weinzeche willen Schmeicheleien auf die Schweiz sagen läßt, da auf den Gauner Wohwend, der ihm seine Jugend zerstört hat und nun den respektablen Bürger mit Frömmigkeitsallüren spielt, dort auf die Waschfrau, die keinen anderen Gedanken kennt, als ihre verhätschelten Zwillingsbuben zu ansehnlichen und wohlsituierten Leuten heranwachsen zu sehen. Auch Julian und Isidor streben über die Brücke des Notariats zur Parteipolitik und ihre Gesinnungsweise wird offenbar, als sie beim Weine vereinbaren, daß sie sich als Dokument ihrer Gesinnungstüchtigkeit nach außen verschiedenen Parteien anschließen wollen und den Anschluß an Altliberale und Demokraten mit dem Würfel zwischen sich ausmachen, – wohl die bitterste Ironie auf die Form der Korruption, von der das Parteileben einer Demokratie bedroht ist, – die Durchsteckerei der Parteiführer, die sich heimlich schmunzelnd in die Beute der Macht teilen, während sie vor ihren Wählern die Komödie des leidenschaftlichen Prinzipienkampfs aufführen, das „Bäumerollen“ der Amerikaner, der „Kameradenrepublik“ 35

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Zuerst Josef Victor Widmann war es, der in seiner Besprechung des Salander im „Bund“ 1886 no. 347 den Roman das Wertvollste nannte, was das Schweizervolk seit Schillers „Tell“ in nationaler und erziehender Einsicht besitze. Vgl. neuestens bes. das große Material, das der Heyse-Keller-Briefwechsel (1919) für Kellers Absichten und Hoffnungen gerade mit Bezug auf diese Dichtung erschlossen hat (bes. Kalbeck, S. 314, 316, 389, 419 etc.; dazu Bächtold III., 645).

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des heutigen Frankreich. Um so dehmütigender für Salander, als diese zwei Jünglinge ihm die Herzen seiner zwei Töchter entfremden, gleichzeitig mit ihm, dem ernst arbeitenden ins Parlament gelangen, sich endlich als Schwiegersöhne in sein Haus drängen, um beim Steigen durch schmähliche Defrandationen und Schwindelgeschäfte ihren Ruf, ihre junge Ehe, das Leben der eigenen Mutter zu zerstören. Ziemlich grau in grau geht das Buch aus. Einen Ausblick in bessere Zeiten hatte Keller ursprünglich in einem romantischen Schluß geplant. Am Pfingstfest sollte sich das gesamte destruktive Gesindel, auch eine Gruppe Anarchisten, auf einer Bergfahrt zusammenfinden, Salander mit seinem unreifen Sanguinismus noch einmal in Verlegenheit kommen, schließlich aber sollte eine Elementarkatastrophe, wohl ein Wolkenbruch, die Böcke von den Schafen sondern und Martins Sohn Arnold mit seinen Genossen als Träger der neuen Generation die Situation retten. Aber der Dichter hat sich schließlich mit einem stillebenmäßigen Notdach begnügt. Mag noch heute mancher, wie beim Erscheinen Kellers sämtliche Freunde frostig von diesem Notbehelf berührt werden, für den politischen Lehrgehalt, – die politische Erbauung, wie Heyse schrieb – ist gerade dieses letzte Wort des Meisters klärend. Denn das ist nun einmal in Kellers Novellenzyklus die Hauptidee wie in Shakespeares Historiengruppe: das Staatsleben in seinem ewigen Vorwärtsdrängen, in seiner irdischen Ewigkeit, ist nicht immer auflöslich wie es jedes Einzeldasein durch das natürliche Ende des Organismus ist. Die gleiche Verfassung lebt fort – so ist die poetisch versinnlichte Lehre – aber sie wechselt ihren Charakter unter den verschiedenen Händen, in die sie gerät. Bei Shakespeare kommt Segen und Unsegen mit dem gut oder dem schlecht erzogenen Fürsten, im Sprachgebrauch der hellenistisch-römischen Politiker, mit dem Wechsel des βασιλεῦς εὐεργέτης oder des ἡγεμὼν ἀπαίδευτος; – für Keller wechselt er mit dem gut oder schlecht erzogenen Demos, der als Einheit gedacht wird, wie ihn Parrhasios gemalt und Aristophanes leibhaft auf die Bühne gestellt hatte; und die Eigenschaften, von denen das abhängt, sind beim Fürsten wie beim Volk im wesentlichen die gleichen, einerseits Pflichttreue, Hingabe ans Gemeinwohl, Selbstbeherrschung und Bescheidenheit, andererseits Egoismus in allen Ausstrahlungen, vor allem in dem Sinn der Benutzung des Staats für private Interessen, Eitelkeit, Launenhaftigkeit, Willkür. Mit anderen Worten schlechthin gute oder auch nur bessere Verfassungen gibt es nicht. Jede Verfassung ist nur gut, wenn der Träger ihrer obersten Gewalt sich ihrer würdig erweist durch gute Leistungen.37 Immerhin, gewisse Vorzüge und Sicherungen hängen nach Kellers Anschauung auch an den äußeren Formen der Verfassung. Einmal bietet eine Verfassung, unberührt von ihrem Inhalt, unter einer Bedingung stets eine Garantie der Gesundheit des Staatslebens und einen erzieherischen Antrieb auf das Leben der Bürger, – unter der Bedingung, daß sie sich ungezwungen aus dem Leben heraus entwickelt hat 37

So sehr deutlich Brief an Julius Rodenberg vom 5.7. August 1885 (Ermatinger 3, 494): „Der Umstand –, daß es am Ende lohnt, zu zeigen, wie keine Staatsform gegen das allgemeine Übel schützt und ich meinem eigenen Lande sagen kann: „voilà, c’est chez nous comme partout“, läßt mich – ausharren.“ Über andere Äußerungen gleicher Richtung vergl. Hans Max Kries, Gottfried Keller als Politiker 1918.

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und in langer Tradition mit ihm verwachsen ist. Diese Entwicklungskontinuität, auch wo sie auf Kosten des planmäßigen Ausbaues besteht, ist mehr wert als eine systematisch redigierte Verfassungsurkunde. Dann aber gibt es für Keller in jeder Verfassung eine Stelle, auf die ein Volk unbedingt muß zählen können, – es ist das Besitztum, auf dem auch für Shakespeare in letzter Linie jeder Staat ruht, die Integrität des Rechts und der Rechtspflege. Solange sie unerschüttert steht, wird sich – das ist bei beiden Dichtern die Zuversicht – der Träger der Staatsgewalt wieder zurechtfinden. Wir hörten am grünen Heinrich trotz alles Sonnigen der Gesamtschilderung, auch des politischen Milieus am Schlusse doch einen Mißklang heraus: aus diesem Milieu wächst in der Hauptperson eine gescheiterte Existenz heran. Warum? Weil Heinrich in früher Jugend das Opfer eines Justizmordes geworden ist, – freilich in diesem Falle einer Ungerechtigkeit nur innerhalb der Disziplinarjustiz und sogar nur innerhalb der Schuldisziplin, aber gerade deshalb tieftragisch. Der Knoten wird geschürzt durch die Ausstoßung des Helden aus der Schule, als er bei einer kindischen Demonstration der Klasse gegen einen unbeliebten Lehrer die Mitschüler zu kameradschaftlichem Zusammenhalten aufgefordert hat. Scheinbar ein ganz geringfügiges Ereignis, – in Wahrheit die Vernichtung der Lebensbahn eines Menschenkindes. Wir wissen ja heute, wie schwer und höchstpersönlich Keller, der gerade diese Erfahrung ganz im Einzelnen getreu aus dem eigenen Leben schöpfte, bis in die Spätreife seiner Jahre unter der Zerstörung seines Bildungsgangs gelitten hat, die ihm auch die Unmöglichkeit schuf, sich im rechten Augenblick das heißersehnte Familienglück zu gründen. Die ganze Bitterkeit darüber, die dauernd in ihm nachwirkte, klingt in der Stelle durch, wo er ausmalt, wie man seiner Mutter, einer alleinstehenden hilflosen Frau, ihr Kind als „unbrauchbares Glied des Gemeinwesens vor die Tür stellt“. Aber merkwürdig, während in der sonst so optimistischen Jugenddichtung durch einen Mißgriff der Disziplinarjustiz die Ursache des tragischen Ausgangs gesetzt wird, erhält der trübe Salanderroman am Schlusse durch das Eingreifen der staatlichen Strafrechtspflege seine Aufhellung. Als die Notars- und Abgeordnetenzwillinge Isidor und Julian wegen ihrer Schwindellaufbahn endlich von der Anklage gefaßt worden sind, entblöden sie sich nicht, auch die öffentliche Schwurgerichtsverhandlung zu demagogischen Manövern zu mißbrauchen. In der Verhandlung, die Keller vorführt, verunglimpfen sie die eigenen Eltern, klagen sie den Staat an, die beide nicht genügend für ihre Erziehung gesorgt hätten. Ihre Verbrechen seien die Folge unverschuldeter Ausbildung in Haus und Schule. Da greift die Rechtsbelehrung des Gerichtspräsidenten ein, die – ebenfalls streng nach dem Leben gearbeitet – ganz wie ein Gegenstück der Rede des Oberrichters an König Heinrich V. wirkt. Gramerfüllt und bitter zählt er auf, was der Staat gegen früher für seine Bürgerkinder im Unterricht an Opfern gebracht, ausdrücklich den großen Reformer Pestalozzi anrufend. Zornig zeigt er darauf, wie ihm gedankt werde. So werden die beiden Gauner verurteilt. Ihre eitle, nun hart getroffene Mutter rührt der Schlag, sie wandern ins Zuchthaus. „Um diese Stunde glichen die Söhne der Toten einander wieder ganz so, wie sie ehedem getan, und setzten die Beamten der Strafanstalt durch ihre Ähnlichkeit in Verlegenheit, da sie geschoren, rasiert 1296

Antrittsrede 1920

und in Sträflingskleider gesteckt waren, als lebende Beweistümer, daß das eiserne Uhrwerk der Gerechtigkeit noch aufgezogen war und seinen Dienst tat.“ Mit diesem Gedanken schloß bei dem ersten Erscheinen das letzte Werk Kellers ab. Und in der Tat, es gibt wohl keinen Gedanken in dem ganzen Vorstellungskreis, den es hier zusammenzufassen galt, der so deutlich veranschaulichen könnte, daß das hingebende Studium unserer großen Dichtungen imstande ist, der Jugend neben ihren künstlerischen Eindrücken auch die intensivste staatsbürgerlich-politische Anregung und Förderung zu geben. Er enthält den Hinweis auf das auch heute am meisten zeitgemäße Bedürfnis unsers öffentlichen Lebens. Denn in der Justiz haben wir auch in unserm zersetzten Gemeinwesen den Eckstein, der es bisher gestützt hat und der es weiterhin notdürftig stützen kann, falls er selbst unerschüttert bleibt. Noch steht er unerschüttert trotz der Schwierigkeiten, die die hochgestiegene Flut der Unsolidität des Verkehrslebens der Zivilrechtspflege bereitet, – trotz des Anbrandens und Überschäumens des Verbrechertums in der Strafrechtspflege, – trotz der unabsehbaren Fülle neuer Zweifelsfragen, die die noch gar nicht gefestigte Verwaltungsrechtspflege, die überhaupt noch fehlende Staatsrechtspflege in sich trägt. Leipzig, das in seinen Mauern das oberste Palladium der Rechtsprechungshoheit des Reichs beherbergt, weiß es am besten, was Deutschland an der Justiz besitzt. Aber es ist denkbar, daß unserer Rechtspflege ihr voller Ausbau in Zukunft noch bevorstehe. Für den kritischen Betrachter kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die Verfassung von Weimar, indem sie die feste und gesunde Basis des Dualismus der Gewalten von monarchischem Ministerium und Reichstag vielleicht für immer verlassen und alle Gewalten, sowohl die der Gesetzgebung wie die der Kabinettsbildung, im Reichstag vereinigt hat, den prinzipalen Anforderungen an verfassungsmäßige Garantien der Stetigkeit unsres Staatslebens noch nicht genügt hat. Die Gegengewichte gegen das schlechthinnige Übergewicht des Parlaments sind zur Zeit kümmerlich und zerspalten; sie sind so gut wie gar nicht vorhanden. So tritt die Frage in den Vordergrund, ob nicht in einem obersten Rechtspflegeorgan, d. h. eben im Staatsgerichtshof, früher oder später der Korrektor für Übergriffe der obersten Reichsorgane in ihrem Verhältnis zu einander gewonnen werden muß38. Meine Betrachtungen sind am Ende. Denn die adhortatio ad commilitones, die bei der Ansprache des antretenden Rektors wohl üblich ist, kann ich mir heute sparen. Ich habe es vorgezogen, verehrte Kommilitonen, sie Ihnen aus dem Munde der beiden Großen zu erteilen, deren Geister ich zu zitieren versuchte. Möchte es uns zuteil werden, in dem Geist, der aus ihren Dichtungen zu uns spricht, zu Ehren unsrer Alma Mater in freundschaftlichem Vertrauen zusammen zu arbeiten. 38

Die weiteste Grenze einer solchen erweiterten Kompetenz des Staatsgerichtshofs würde der Vorschlag Erich Kaufmanns (Untersuchungsausschuß und Staatsgerichtshof 1920) bedeuten: „Bestehen – Meinungsverschiedenheiten darüber, ob – das Verhalten des Reichspräsidenten, der Reichsregierung, des Reichstags, des Reichsrats oder des Reichswirtschaftsrats oder ein Volksbegehren mit der Reichsverfassung im Einklange ist, so kann der Reichspräsident, die Reichsregierung, der Reichstag, der Reichsrat oder der Reichswirtschaftsrat die Entscheidung des Staatsgerichtshofs anrufen –.“ Der Frage ist hier nicht nachzugehen. Vergl. die zusammenfassende Darstellung in meiner Einführung in die Rechtswissenschaft (1921) I., S. 356 ff.

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31. Oktober 1921. Rede des abtretenden Rektors Dr. Richard Schmidt. Bericht über das Studienjahr 1920/21. Hochansehnliche Versammlung! Kollegen! Kommilitonen! Wir sind in den letzten Jahren immer bescheidener geworden. Die Hoffnung, von unserem Niedergang auf der Grundlage des Friedenszustandes mit unserem staatlichen und wirtschaftlichen und geistigen Dasein rasch – wenn nicht zu einem Wiederaufbau, so doch zu einer Aufwärtsbewegung zu gelangen, diese Hoffnung haben wir längst beiseite gelegt, und wir sind zufrieden, wenn uns in den umgestalteten Verhältnissen innerhalb der unabsehbar weiter wirkenden Bedrängnisse von außen und von innen ein leidlich beruhigtes durch äußere Störung unbeirrtes Arbeiten möglich wird. Nur an diesem Maßstab können und dürfen wir auch das Ergebnis des laufenden Studienjahres messen. Mit anderen Worten: auch in unserem akademischen Sonderleben müssen wir das Erreichbare als erreicht ansehen, wenn wir die eigentlichen Funktionen der Hochschule mit den veränderten Bedingungen unseres Gemeinlebens und mit den veränderten Bedürfnissen der Einzelnen, vor allem unserer Studierenden, einigermaßen in Einklang gebracht sehen. Dies ist im vergangenen Jahre der Fall gewesen. Wir dürfen aussprechen, daß es trotz aller politischen, wirtschaftlichen und geistigen Schwankungen unsres Volkslebens gelungen ist, für eine weitere Spanne Zeit die stetige Bahn unseres engeren Korporationslebens innezuhalten, und solche Stetigkeit ist und bleibt ja die Luft, die eine Universität zu ihrem geistigen Atmen vor allem anderen braucht. Wir erfreuten uns hierbei in gewohnter Weise der verständnisvollen Obhut und Unterstützung unserer Landesregierung und Volksvertretung, die auch in der krankhaft gehemmten finanziellen Bewegung des Landes alles ihr nur irgend Mögliche getan hat, um durch Erhaltung alter und Gewinnung neuer Lehrkräfte, durch Pflege der Lehranstalten und Lehrmittel, durch Erleichterungen des studentischen Daseins die Universität auf ihrer Höhe zu erhalten. Nicht hoch genug angerechnet werden kann – um nur eines zu nennen – die höchstpersönliche Bemühung um die Lösung der Wohnungsfrage, die jetzt bei jeder einzelnen Berufung die Hauptrolle spielt. Zum ersten Male traten auch die seit Änderung der Verfassung in Sachsen herrschenden Gewalten unmittelbar mit der Universität in Berührung. Im März des Jahres gab die Frage der Verlegung der Forstakademie von Tharandt nach Leipzig einen Anlaß, daß der Leiter des uns übergeordneten Ministeriums, Minister Fleißner, und der Haushaltausschuß des Landtages, geführt von seinem damaligen Vorsitzenden Abgeordneten Fellisch, zu einer Besichtigung der hierbei beteiligten Institute und der Universität selbst in Leipzig erschienen. Wenn auch in der sachlichen Einzelfrage die Entschließung 1298

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des Landtages später aus Finanzgründen nicht zu unseren Gunsten gefallen ist, so hatte jener Besuch doch Gelegenheit geboten, in zwanglosem Zusammensein einen Austausch der Volksvertreter mit einem großen Kreis der Kollegen herbeizuführen, und der Ausschuß-Vorsitzende, der seitdem zum Chef des sächsischen Wirtschaftsministeriums aufgestiegen ist, fand warme und verstehende Worte für die Universität. Halten wir also ohne hochfliegende Zukunftsträume und im gefaßten Bewußtsein des menschlich Begrenzten unserer Lage Umschau über den Bestand der Kräfte unserer Korporation und über die Ergebnisse ihres Wirkens im Jahre 1920/21. Soweit der eine Zweig am Gesamtstamm der Universität, die Studentenschaft, in Frage kommt, hat das Amtsjahr bekanntlich grundsätzlich einschneidende Bedeutung gehabt. Was mein Amtsvorgänger am letzten Reformationstag an dieser Stelle ankündigte, hat sich vollzogen: die Verfassung der Studentenschaft der Universität Leipzig, damals schon von der Regierung bestätigt, trat mit ihrem Erscheinen im Druck am 1. Dezember 1920 in Kraft. Unser coetus academicorum ist damit aus dem Zustand herausgetreten, der ihm lediglich die Rolle eines unselbständigen Teiles der gesamtdeutschen Studentenschaft zuwies. Vielmehr hat die Studentenschaft nunmehr auch im lokalen Rahmen der Einzeluniversität ihre eigenen Funktionen zu entfalten begonnen. Einmal tut sie dies in unmittelbarer Selbstverwaltung durch ihre eigenen Organe, durch den allgemeinen Studentenausschuß von mindestens 25 Mitgliedern und durch die vom „Asta“ aus ressortierenden studentischen Ministerialstellen, die „Ämter“, die als Fürsorgeamt, Wohnungsamt, soziales Amt usw. von den Einzelmitgliedern des Asta verwaltet werden – beides, Asta sowie Ämter von der allgemeinen Studentenversammlung beaufsichtigt. Außerdem aber wirkt die Studentenschaft auch bei den Funktionen der allgemeinen akademischen Organe mit, zu denen der Asta seine Vertreter entsendet, 15 zur Rektoratswahl, 6 zum Senat. Auch in das Universitätsgericht, zu allen möglichen Ausschüssen bei Beratungen studentischer Angelegenheiten, entsendet er Beisitzer. Speziell für Leipzig wird der Formenapparat noch reicher insofern, als Leipzig zugleich Sitz der Leitung des 4. Hochschulkreises geworden ist, der als Zwischenstufe zwischen der Einzelstudentenschaft und der Gesamtstudentenschaft mit ihrer Hauptgeschäftsstelle in Göttingen selbstverwaltende Befugnisse ausübt und die Universität und Technische Hochschule Breslau, Technische und Tierärztliche Hochschule Dresden, die Universitäten Halle und Jena, die Berg- und Forstakademien in Freiberg und Tharandt sowie auch die Leipziger Handelshochschule umfaßt. Die Aufgabe, diese Institutionen zum ersten Male in die Praxis umzusetzen, fiel im vorigen Wintersemester dem stud. phil. Walther Zimmermann, der als erster Vorsitzender des Asta fungierte, mit stud. jur. Etzold als erstem Schriftführer und stud. Günther als erstem Kassenwart, – im Sommer dem Studenten der Theologie und Philosophie Martin Doerne als Vorsitzenden mit stud. jur. et rer. pol. Hellmut Volkmann als Schriftführer und stud. hist. Ilse Niethammer als Kassenwart zu. Die Studentenschaft im weiteren Sinne, die diesen studentischen Organen als das studentische „Volk“ gegenübersteht, und ihnen durch Wahl das Dasein gibt, behielt das Gepräge von ehedem. Sie war wie gewöhnlich im Sommersemester etwas minder zahlreich im Vergleich zum Wintersemester 5614 gegenüber 5793 im Winter, 1299

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während im Vergleich mit dem vorangegangenen Studienjahr 1919/20 das Wintersemester einen gewissen Rückgang (5614 gegen 5925), das Sommersemester eine geringfügige Steigerung der Zahl (5793 gegen 5583) aufwies. Auch das Verhältnis der sächsischen zu den nichtsächsischen Kommilitonen blieb ungefähr das alte, ca. 60 %. 22 unserer Kommilitonen sind uns durch den Tod genommen worden. In dem anderen, älteren Zweig unseres akademischen Verbandes, dem Lehrkörper, waren die von der neuen Zeit bewirkten Reformen, bes. die Aufnahme der Nichtordinarien in die akademischen Organe, schon unter dem Rektorat Erich Brandenburgs abgeschlossen, – ebenso auch die Eingliederung unserer Universität in den umfassenden Hochschulverband aller deutschen Universitäten, der sich in der Pfingstwoche in der Abhaltung der Rektorenkonferenz und des Hochschultages in Halle wieder einmal zu betätigen strebte. Sind wir uns auch bewußt, daß wir diese Neuschöpfung als einen möglichen Rückhalt in noch kommenden Krisen hochhalten müssen, so empfinden wir ihre Wirksamkeit für jetzt nur wenig, und wir messen das Niveau unseres Kräftebestands daran, wie weit es gelang, im eigenen Hause den Betrieb unverändert zu erhalten und noch vorhandene oder neu entstehende Lücken der Lehrkräfte auszufüllen. Dies war für Hochschule und Regierung keine leichte Aufgabe vor allem in der Sphäre der medizinischen Fakultät, wo die von der Republik angenommenen Grundsätze über die Altersbegrenzung des Lehramts plötzlich eine große Anzahl ihrer hervorragenden Mitglieder nötigte, ihr Amt und die Direktion ihrer Klinik oder ihres Instituts niederzulegen. Nachdem noch im vorigen Jahre an Stelle Hubert Sattlers Professor Ernst Hertel die Leitung der Augenklinik, an Stelle Albin Hoffmanns Professor Friedrich Rolly die der Medizinischen Poliklinik übernommen hatte, traten in diesem Jahre auch die Vertreter der Psychiatrie, der Pharmakologie, der pathologischen Anatomie und der Gynäkologie vom Amte zurück. Als Nachfolger Paul Flechsigs wurde nunmehr Professor Oswald Bumke aus Breslau als Direktor der psychiatrischen und Nervenklinik berufen, ebenso als Nachfolger Rudolf Boehms Professor Hermann Fühner von Königsberg als Direktor des pharmakologischen Instituts, als Nachfolger Felix Marchands Professor Werner Hueck aus Rostock als Direktor des pathologischen Instituts, als Nachfolger Paul Zweifels Professor Stoeckel aus Kiel als Direktor der Frauenklinik. Da der letztere sein Amt erst zu Beginn des Sommersemesters antreten kann, wurde die Vertretung des gynäkologischen Lehrstuhls und die Leitung der Klinik dem Oberarzt Professor Florus Lichtenstein unter Aufsicht Professor Payrs übertragen. Auch gelang es jetzt, das seit Frühjahr 1920 durch das Hinscheiden Max Sigfrieds verwaiste Ordinariat für physiologische Chemie durch Berufung von Professor Karl Thomas von Greifswald zu besetzen. Aber noch im Sommer riß das Verhängnis eine neue Lücke durch den jähen Tod des Direktors der Kinderklinik Martin Thiemich, noch fühlbarer geworden dadurch, daß dieser in wenig Wochen von seinem bisherigen Oberarzt, Privatdozenten Dr. Freise im Tode gefolgt wurde. Sie ist endgiltig noch nicht ausgefüllt und wurde nur vorläufig durch den vertretungsweisen Eintritt des soeben erst für Kinderheilkunde habilitierten Dr. Armando Frank geschlossen. Außer diesen Kollegen erwarben die Venia Dr. Josef Schüller für Pharmakologie, Dr. Hans Günther für innere 1300

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Medizin, während die bisherigen Privatdozenten Dr. Kurt Hintze, Dr. Erich Sonntag und Dr. Richard Frühwald zu außerplanmäßigen Extraordinarien ernannt wurden. Die theologische Fakultät blieb in ihrem engeren Bestand fast unberührt. Nur trat der planmäßige außerordentliche Professor Hermann Guthe, einer der mit dem Schicksal unserer Universität engstverflochtenen Dozenten, in den Ruhestand, während der bereits für ein hiesiges Extraordinariat designierte Privatdozent Gerhard Kittel als Ordinarius für Neues Testament an die Universität Greifswald berufen wurde. Der bisherige Privatdozent Alfred Jeremias, Pfarrer an der Lutherkirche, erhielt den Charakter als außerordentlicher Professor. Die venia legendi für neutestamentliche Wissenschaft wurde dem Lic. theol. Ernst Sommerlath erteilt. Für die Juristenfakultät wurde es bedeutsam, daß der durch eine vier Jahrzehnte umfassende Tradition einer großen Gelehrtenpersönlichkeit ehrwürdige Lehrstuhl Adolf Wach’s nach dessen Rücktritt für die Fächer des Strafrechts und Strafprozesses unter Einbeziehung des Völkerrechts in dem bisherigen Tübinger Ordinarius Franz Exner einen neuen Inhaber erhielt. Im übrigen lichtete sich der Kreis der Dozenten durch den Tod des Honorarprofessors Wolfgang Stintzing und durch das Ausscheiden der Privatdozenten Dr. Eugen Rosenstock und Dr. Hans Kreller, deren ersterem die Leitung der neuen Arbeiterakademie in Frankfurt übertragen wurde, während Dr. Kreller eine Professur in Tübingen übernahm. Statt dessen gewann die Fakultät zwei neue Lehrkräfte in Landgerichtsrat Dr. Fröhlich für deutsche Rechtsgeschichte und Kirchenrecht und in Dr. Gotthold Bohne für Strafrecht und Strafprozeßrecht. Die philosophische Fakultät erfuhr in ihrer mathematisch-naturwissenschaftlichen Abteilung wenig Veränderung; sie erlitt nur einen, allerdings um so erschütternderen und schmerzlicheren Verlust durch den wie ein Blitz aus heiterem Himmel treffenden Tod des soeben neuberufenen Direktors des botanischen Instituts Friedrich Czapek. Eine Reihe von Privatdozenten traten in sie ein: Dr. Kaempf für Physik, Dr. Wagler für Zoologie, Dr. Schiller für Physik und Luftschiffahrt, Dr. Hein für Chemie. Dagegen war das Schicksal der philologisch-historischen Abteilung ein bewegtes. Hier galt es zunächst die Gefahr des Wegziehens erprobter Lehrkräfte nach auswärts abzuwehren, und es war zu unser aller Freude, daß es der Regierung gelang, das Verbleiben der Vertreter der Musikwissenschaft, der Kunstgeschichte und der englischen Philologie gegen glänzende Berufungen nach Berlin, Wien und Göttingen zu sichern. Aber auch neue Mitglieder wurden berufen, als Ordinarius der slavischen Philologie Professor Max Vasmer von Dorpat, als Nachfolger Johannes Volkelts, der sich vom Amte zurückgezogen hat, Professor Dr. Hans Driesch von Köln, für ein neu begründetes planmäßiges Extraordinariat der Nationalökonomie Professor Bruno Moll von Kiel. Außerdem gewann die Fakultät eine erprobte Lehrkraft dadurch, daß der bisherige Professor der germanischen Philosophie in Petersburg Dr. Friedrich Braun sich in Form der Habilitation in Leipzig niederließ. Todesfälle hatte die philologische Gruppe in dem Scheiden des außerordentlichen Professors der deutschen Sprache und Literatur Dr. Holz zu beklagen; an seine Stelle trat der Göttinger Privatdozent Dr. Neumann. Aber auch in der philosophischen Fakultät erwarben zahlreiche jüngere Kräfte die venia legendi: Dr. Leisegang für 1301

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Philosophie, Dr. Hoffmann und Dr. Muß für Nationalökonomie und Privatwirtschaftslehre, ersterer inzwischen bereits durch Berufung als Professor an die technische Hochschule Darmstadt wieder ausgeschieden, Dr. Rudolphi für Geographie, Dr. Suter für mittlere und neuere Kunstgeschichte. Die Professoren Dr. Otto Scholz und Dr. Ernst Friedrich erhielten ein planmäßiges Extraordinariat übertragen. Andererseits schieden durch Wegberufung von uns Professor Merker an die Universität Greifswald, Professor Herre an das Reichsarchiv in Berlin, Professor Schmeidler als planmäßiger außerordentlicher Professor an die Universität Erlangen. Von größter Bedeutung für die Gesamtuniversität, Lehrer wie Lernende aller Fakultäten, wurde es endlich, daß die Regierung ihre Energie daran setzte für den langjährigen ausgezeichneten Leiter der Universitätsbibliothek Geheimrat Karl Boysen, der sich in den Ruhestand zurückzog, einen an autoritärem Charakter ebenbürtigen Nachfolger nach Leipzig zu ziehen. Der Rektor hatte die Genugtuung, den bisherigen Oberbibliothekar der bayerischen Staatsbibliothek zu München, Dr. Otto Glauning, am 2. Mai in den Räumen unserer Bücherei einführen und ihm die verantwortungsvolle Mission anvertrauen zu können, die in den Kriegszeiten unseren Bücherbeständen geschlagenen Wunden allmählich zu heilen. Zugleich übernahm Dr. Glauning eine Honorarprofessur für Bibliothekswissenschaft. – Mit diesem Kräftebestand treten wir in das neue Studienjahr ein. Aber über die Zuversicht, die uns der Besitz zahlreicher Arbeitsgenossen gibt, dürfen wir die für immer von uns geschiedenen nicht vergessen, und wir verweilen noch mit einem dankbaren Rückblick bei unseren Toten, die ich soeben bereits nannte. Vor allem haftet unser Auge noch einmal an der vertrauten und verehrten Gestalt unseres greisen Kollegen der Landwirtschaftswissenschaft Wilhelm Kirchner, der im Ruhestand uns genommen ward. Er war 1848 in Göttingen geboren. Aus dem 70er Kriege mit dem eisernen Kreuz heimgekehrt, war er in Halle Schüler Julius Kühns geworden, der damals bahnbrechend das Studium der Landwirtschaft als Physiologie und Biologie in den Kreis der akademischen Wissenschaften neu einführte. Auf dieser Grundlage entstand in vorbereitenden Stellungen zu Kiel und wieder zu Halle Kirchners Handbuch der Milchwirtschaft, das nach kurzer Durchgangszeit durch ein Göttinger Ordinariat 1890 für seine Berufung nach Leipzig entscheidend ward. Während dreier Jahrzehnte hat er hier sein landwirtschaftliches Institut in glänzender Weise ausgebaut und zu einer der besten Lehr- und Forschungsstätten Deutschlands entwickelt, zugleich ein hervorragender Lehrer und ein nie versagender Helfer in den allgemeinen Interessen der Universität, der er 1899/ 1900 als Rektor vorstand, ein Mann von aufrechter, vornehmer Gesinnung und feiner menschenfreundlicher Haltung, die er bewahrte, auch als er in den letzten Jahren mit bewunderungswerter Standhaftigkeit sein tötliches Leiden über sich ergehen ließ. Nicht so voll erfüllt und harmonisch abgeschlossen war der Lebensgang der anderen, die in diesem Jahre von uns gegangen sind. Im besonderem Maße gilt dies von dem Honorarprofessor der Juristenfakultät Wolfgang Stintzing. 1856 in Altona als Sohn des Romanisten Roderich Stintzing geboren, der dann als Bonner Rechtslehrer und Historiker der Rechtswissenschaft 1302

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einen großen Namen erlangt hat, war ihm durch sein Naturell eine angeregte, aber unstete Jugendentwicklung beschieden, aus der er sich erst fast vierzigjährig zur Gelehrtenlaufbahn durchrang, um 1903 zum außerordentlichen Professor, 1914 zum Honorarprofessor ernannt zu werden, stets tief erfüllt von der Bedeutung der akademischen Berufspflicht und ihr mit Begeisterung hingegeben, literarisch unermüdlich tätig. Aber die Früchte seines Strebens blieben ihm versagt. Als er etwa das 50. Lebensjahr erreichte, wurde seine Arbeitskraft durch eine rasch voranschreitende Krankheit geschwächt und bald ganz gelähmt, ein Zustand, aus dem ihm der Tod zum Erlöser wurde. Im Gegensatz zu ihm war es ein jäher Tod, der am 2. Juni den planmäßigen außerordentlichen Professor der deutschen Sprache und Literatur Dr. Georg Holz aus einer eifrig gepflegten Lehrtätigkeit herausriß. Er hatte, 1863 geboren, schon als Abkömmling unseres großen Privatdozenten Christian Thomasius zu unserer Hochschule alte Beziehung. Aber er hatte auch selbst in Leipzig seine Ausbildung gefunden und blieb mehr als dreißig Jahre mit ihr verbunden. Seine stille, von den wechselnden Strömungen des Tags wenig berührte Forscherarbeit galt vor allem dem deutschen Altertum und seiner Literatur, und in erster Linie wiederum deutscher Heldensage und Heldendichtung. Auf diesem Gebiet insbesondere hat er sich dann auch als sorgsamer Herausgeber wie als wohlüberlegter Darsteller größerer sagengeschichtlicher Zusammenhänge ein wohlverdientes Recht auf dankbar anerkennende Erinnerung erworben. Gleich Holz, nur auf einer noch viel rüstigeren Lebensstufe wurde Martin Thiemich, unser Kinderkliniker, einem angespannten, fruchtbaren Schaffen entzogen. Ein Breslauer, 1869 geboren, fand er auch seine ganze Ausbildung und für lange Jahre seinen Wirkungskreis in seiner schlesischen Vaterstadt, bis zu seinem 40. Jahr als Assistent seines Lehrers Czerny, als Schul- und Milchküchenarzt tätig, bis er 1908 als städtischer Oberarzt nach Magdeburg gerufen wurde. 1913 übernahm er in Leipzig zunächst als Extraordinarius, 1919 als Ordinarius einrückend, das Fach der Kinderheilkunde mit der Kinderklinik, die 1891 als erste in Deutschland von Heubner gegründet worden war, um sich dieser Tätigkeit mit höchster Intensität zu widmen. Neben bedeutungsvollen wissenschaftlichen Arbeiten, in denen es ihm vor allem gelang, die Krampfzustände bei Kindern zu einer geschlossenen klinischen Einheit zusammenzufügen, nahm er die bauliche Anlage eines chemischen Laboratoriums an seiner Klinik, dann deren Erweiterung, einen Plan, den der Krieg durchkreuzte, endlich die Errichtung einer Schwesternschule in Angriff, letztere als erste in Sachsen vorbildlich für Dresden und Chemnitz, überall seine große organisatorische Befähigung beweisend. Die Universität sowie die Stadt hat in ihm eine unschätzbare Kraft verloren. Und in womöglich noch gesteigertem Sinn tragisch mußte uns endlich das Geschick unseres neuen, uns kaum noch bekannt gewordenen Botanikers Friedrich Czapek ergreifen. Der nicht mehr als 53jährige Gelehrte hatte in diesem Jahre erst die Genugtuung erlebt, von Prag, seinem bisherigen Wirkungskreis, an die Stätte des Mannes berufen zu werden, dem er in der Jugend seine Ausbildung verdankt hatte und dessen Lebenswerk er als hervorragender Pflanzenphysiologe fortsetzen 1303

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sollte, – auf den Lehrstuhl unseres in seiner Güte und Weisheit unvergeßlichen Wilhelm Pfeffer. In der letzten Woche des Sommersemesters hatten wir von diesem Katheder herab Czapeks Antrittsvorlesung angehört, und vielen von uns wird es in der Erinnerung haften, wie der Forscher in seiner anspruchslosen, ruhig vertrauenerweckenden Art, selbst über die Ergebnisse höchst exakter Einzeluntersuchung referierend, die unsolide Hypothesenmacherei, die unsere Zeit gerade in biologischen Dingen liebt, von sich ablehnte. Wenige Tage darauf fand man ihn an derselben Stelle des botanischen Instituts vom Herzschlag getroffen, wo vor einem Jahre sein edler und von ihm hingebend verehrter Lehrer in derselben Weise sein Ende gefunden hatte. – Auch der unerwartet frühe Tod des großen Tierbildhauers Professor August Gaul in Berlin hat die Universität in Trauer und zugleich in Sorge versetzt. Ihm verdanken wir den schönen, überzeugenden Entwurf des Denkmals für unsere Gefallenen, und wir erwarteten den nahen Abschluß seiner eigenhändigen Arbeit an dem mächtigen, ruhenden Löwen, der die furchtbar langen Namensreihen des Sockels zusammenhalten und bewachen soll. Das Werk blieb unvollendet, obgleich ihm der Meister seine letzte Kraft gewidmet hat. Hoffentlich gelingt es uns, die befriedigende Fertigstellung durch eine mit Gauls Arbeitsweise vertraute Künstlerhand recht bald zu erreichen. Überschauen wir nun in Kürze, was unsere alma mater im vergangenen Jahre geleistet hat, so dürfen wir wohl überall mindestens das ehrliche Streben bezeugen, die weiter gesteckten Aufgaben zu erfüllen, die die Zeitverhältnisse an eine deutsche Universität herantragen. In erster Linie auf ihrem eigensten Feld der wissenschaftlichen Lehre. Während, wie natürlich, die Fachstudien unserer Zuhörer in den einzelnen Wissenschaftszweigen im Mittelpunkt blieben, hat die Universität sich daneben doch auch angelegen sein lassen, dem von vielen Kritikern der Revolutionszeit erhobenen Vorwurf die Spitze abzubrechen, daß sich die deutsche Hochschule von dem Wirtschafts-, Staats- und Geistesleben des Volkes abschließe. Ihm begegnet zunächst die Volkshochschule, die als staatlich anerkannte Zweiganstalt der Universität jetzt auf das erste Jahr ihres Wirkens unter Leitung Professors Schmeidlers zurückblickt. Freilich gibt es höchstgespannte Wünsche, denen sie auch jetzt nicht genügen wird. Aber wenn gefordert wird, daß die an einer Volkshochschule tätigen Lehrer sich des Mannes aus dem Volke, besonders des Arbeiters, seelisch vollkommen bemächtigen, in enger persönlicher Zusammenarbeit aus ihm einen selbständig forschenden Geist, womöglich einen Charakter bilden sollen, so sind wir wohl fast alle darin einig, daß mindestens eine an die Universität angegliederte Volkshochschule dieses ideologische Ziel nicht zum Hauptziel machen kann. Der in angespannter akademischer Arbeit stehende Dozent leistet alles, wenn er die Zeit erübrigt, um sich gelegentlich dem Bildungsbedürfnis nicht studentischer Zuhörer dienstbar zu machen, und wem es nicht genügt, sich ein Wissenschaftsgebiet von einem Kenner aus der Fülle des Materials heraus in knappem Rahmen vorführen zu lassen, wer dem einen minder erprobten Berater vorzieht, dem ist nicht zu helfen. Aber in Wirklichkeit bestätigen die Erfahrungen diese Unzufriedenheit gar nicht 1304

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als allgemeine Erscheinung. Wo sie vorhanden ist, sind ganz andere Gründe auf der Gegenseite wirksam. Über 5000 Hörer hat unsere Volkshochschule im ersten Jahre um sich versammelt, von denen u. a. 31 % den kaufmännischen Angestellten, 17 % der mittleren und unteren Beamtenschaft und immerhin 11 % dem Kreis der Industriearbeiter angehörten. Zudem konnte aber doch auch jener persönlichkeitsgestaltenden Aufgabe bis zu gewissem Grade Rechnung getragen werden. Neben 20 Vorlesungen im Winter konnten 17 Arbeitsgemeinschaften mit konversatorischem Charakter gebildet werden, neben 10 Vorlesungen im Sommer 14. Durch gewählte Vertrauensmänner in ihnen, durch mehrere Versammlungen ihrer Teilnehmer oder auch solche der gesamten Hörerschaft wurde ein engerer Kontakt zwischen Hörern und Dozenten hergestellt. Mit Bedauern sehen wir Kollegen Schmeidler seinem Ruf nach Erlangen folgen; wir müssen hoffen, daß sein Nachfolger die noch jugendliche Tradition fortführen werde. In Variation desselben Gedankens entstand auch der Versuch zur Herstellung einer Verbindung mit der Öffentlichkeit, der in der Leipziger Universitätswoche Gestalt gewann. Vor einer buntfarbigen Zuhörerschaft, Leipziger Mitbürgern, auswärtigen Volksgenossen, ausländischen Gästen aus Holland, Schweden, Dänemark und vielen anderen Staaten, vor allem vor unseren eigenen Kommilitonen aller Fakultäten wurden acht Tage lang in lockerer Kette Einzelvorträge über die verschiedensten Themen, mit Führungen, künstlerischen Veranstaltungen, Ausflügen abwechselnd geboten, alles durch Dr. Friedrich Rinne als Vorsitzenden des Ausschusses und durch unsere Beamten, Justizrat Flade, Dr. Köhler und Regierungsrat Sperling, mit großem Aufwand von Arbeit mustergültig vorbereitet. Da die Zeit noch in frischer Erinnerung steht, erspare ich Ihnen die Wiederholung. Doch darf ich feststellen, daß der Versuch bei einer durchaus auf geistige Zusammenarbeit gerichteten Stimmung und ernster Haltung des scheinbar ungleichartigen Publikums geglückt und von der Presse ganz Deutschlands als eine Tat in der Sphäre des akademischen Lebens anerkannt worden ist. Noch in den allerletzten Tagen hat die Universität in einer dritten Form eine Lehrtätigkeit außerhalb der normalen Grenzen entfaltet, nämlich in Form von Kursen zur Fortbildung höherer Beamter der auswärtigen, der inneren Verwaltung, der Justiz und anderer Behördenzweige, die von unserer Landesregierung auf zwei Wochen nach Leipzig beurlaubt wurden, da sie den Wunsch hegten, erneute Fühlung mit dem Stande der Wissenschaft in aktuellen Problemen der Praxis oder allgemeinwissenschaftlicher Gebiete zu gewinnen. Wir konnten unter den Teilnehmern manchen ehemaligen Schüler unserer Alma Mater wieder begrüßen und freuten uns der harmonischen Zusammenarbeit und zwanglosen Geselligkeit in alt-akademischem Geiste. Aber es bedarf nicht der Betonung, daß die Universität aus der Anerkennung dieser neuen Pflichten nicht das Recht herzuleiten gesonnen ist, ihrer eigentlichen Hauptbestimmung einer intensiven Pflege des gelehrten Fachstudiums mit ihren Zuhörern minder treu zu werden. Als greifbares äußeres Merkzeichen dafür mag die lange Reihe der Promotionen dienen, die die sämtlichen Fakultäten wie immer, so auch in diesem Jahre vollzogen, – die theologische Fakultät 2, die juristische 163, 1305

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die medizinische 167 neben 71 veterinärmedizinischen und 38 zahnärztlichen, die philosophische Fakultät endlich insgesamt 190 an Zahl, von denen 94 auf die philologisch-historische, 63 auf die mathematisch-naturwissenschaftliche Abteilung, 33 auf das Gebiet der Staatswissenschaften entfielen. Als ein anderes Zeichen wissenschaftlichen Strebens dürfen auch diesmal die Bearbeitungen gelten, die den gestellten akademischen Preisaufgaben zu Teil wurden. Nur durch die von der juristischen Fakultät und die von der historisch-philologischen Gruppe der philosophischen Fakultät ausgeschriebenen Aufgaben hatte sich kein Bewerber anregen lassen. Die theologische Fakultät jedoch konnte den Preis für eine Bearbeitung des Themas: „Die lettres édifiantes als Quelle für die allgemeine Religionsgeschichte“ dem stud. theol. Alfred Jepsen aus Hamburg zuerkennen; die medizinische für eine Arbeit über das Thema „Die Fortpflanzung des Erregungsvorganges in einer gleichmäßig narkotisierten Nervenstrecke“ dem stud. med. Johann Daniel Achelis aus Göttingen; – die naturwissenschaftliche Abteilung der philosophischen Fakultät für eine Arbeit über das Thema „Die Bedeutung der oberen Kreidediskordanz in den Ostalpen“ dem stud. rer. nat. Carl Walther Kockel in Leipzig. Endlich legen die zahlreichen wissenschaftlichen oder doch gelehrten Berufen entstammenden Vereinigungen Zeugnis ab, die sich im Laufe des Sommers Leipzig und unsere Universität zu ihrem Versammlungsort wählten. Die vorher erwähnte Universitätswoche im Juni war umrahmt von dem zwanzigsten deutschen Geographentag, der Tagung des deutschen Richterbundes im Mai und dem Orientalistentag, der seinerseits mit der Sitzung der morgenländischen Gesellschaft verbunden wurde, am Ende des September. Neben den Lehraufgaben nahmen im vergangenen Studienjahr die Funktionen der Fürsorge eine immer stärkere Berücksichtigung in Anspruch. Der Verpflegung und Speisung der Studentenschaft widmeten sich die bekannten drei verschiedenen, aber freundnachbarlich ineinandergreifenden Veranstaltungen mit gesteigerter Energie. Unser altbewährtes Konvikt, dessen Direktor, Professor Althaus, sein lange Jahre hingebend geübtes, besonders während der Kriegszeit unsäglich mühevoll gewordenes Amt in diesem Jahre niederlegte und an seinen Fakultätskollegen Achelis abgab, steigerte seine Leistungsfähigkeit so, daß zurzeit 240 Studenten täglich gespeist werden können. Neben ihm bestand in den gleichen Räumen der in der Kriegszeit gegründete studentische Mittagstisch weiter unter der ausgezeichneten Leitung von Frau Dora Förster, mit der im Verein in diesem Jahre auch Frau Helene Zimmern ihre volle Kraft einsetzte. Sie konnten erreichen, daß im Tagesdurchschnitt mittags und abends zusammengenommen 900 Portionen, manchmal bis zu 1200, abgegeben werden konnten, und zwar zu Preisen, die noch immer die wohlfeilsten einer mensa academica in Deutschland sind. Weiter vermittelte der Verein für Familientische unter Leitung von Dr. Köhler für mehr als 200 Kommilitonen Freitische im privaten Haushalt, 433 Familien sind daran beteiligt. Und endlich ist dankend zu erwähnen auch die Tätigkeit des Deutschen Fürsorge-Büros unter Leitung von Professor Wolterek, das durch eine mensa academica abends für einen Kreis Studierender sorgte, die aus gesundheitlichen Gründen besonders guter Ernährung bedurften; auch für Erholungsaufenthalte hat das Büro Einrichtungen getroffen, 1306

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durch die es möglich wurde, größere Gruppen von Studierenden im Gebirge und an der See unterzubringen. Schon um allen diesen Studentenspeisungen eine Basis für die Versorgung mit Nahrungsmitteln zu sichern, vor allem aber auch um darüber hinaus allen Angehörigen der Universität, Dozenten und Studenten, Beamten und Arbeitern eine erleichterte Versorgung ihres Haushaltes zu ermöglichen, wurde allmählig die Schaffung einer Verbraucherorganisation zum unabweisbaren Bedürfnis. Unser landwirtschaftswissenschaftlicher Kollege Friedrich Falke unterzog sich opferbereit dieser Aufgabe, und im Januar d. J. konnte die Gründung der gemeinnützigen Wirtschaftsgemeinschaft an der Universität Leipzig, einer eingetragenen Genossenschaft mit beschränkter Haftung, vollzogen werden, juristisch vor allem von Ernst Jäger und Konrad Engländer beraten. Bei den steten Preisschwankungen war es gerade in diesem Jahre nicht leicht für den Verein, sich einzubürgern. Aber es scheint, daß die Übergangsbeschwerden jetzt überwunden sind. Ganz neuerdings hat das Studentische Fürsorgeamt mit Zustimmung des Asta noch eine zweite Organisation der Wirtschafts- und Selbsthilfe der Leipziger Studenten begründet, die den einzelnen Kommilitonen den Bezug von der Wirtschaftsgenossenschaft zu erleichtern strebt, außerdem aber auch anderen Bedürfnissen, z. B. durch Erteilung von Schreibmaschinenunterricht, abzuhelfen beabsichtigt. Während bei der Beschaffung von Wohnungsgelegenheit das studentische Wohnungsamt mit Dr. Prochno und Dr. Pröpper für die Kommilitonen das Trefflichste leisteten, hat sich der Versorgung bedürftiger Studierender mit Geldmitteln nach wie vor eine ganze Reihe akademischer Stellen gewidmet, wie auch das studentische Fürsorgeamt unter Reps und Wagner. Da aber der schon im vorigen Jahre vom Senat eingesetzte Fürsorgeausschuß bei einer kollegialen Zusammensetzung dem Zwecke einer Konzentration aller dieser Bestrebungen noch nicht hinlänglich zu erfüllen in der Lage war, wurde nach Analogie des Konviktdirektoramtes eines der Ausschußmitglieder Professor Dr. Körte vom Senat als „Fürsorgedirektor“ mit einem ständigen Kommissariat betraut, in dem Sinne, daß er sich über die Verfügbarkeit und Verwendung sämtlicher Mittel auf dem Laufenden zu erhalten, Reibungen und unzweckmäßige Verschleuderungen bei den verschiedenen Zuwendungen zu verhüten, und die Homogenität der außerordentlichen Unterstützungen und des Stipendienwesens zu überwachen bemüht sei. Die Mittel für die baren Zuwendungen sicherte sich die Universität teilweise selbst durch die sehr bedeutenden Abzüge von den Kolleggeldhonoraren, die ihre Mitglieder sich auferlegten. Aber da diese Mittel zu einer Hälfte für das Unterstützungsbedürfnis der nicht festbesoldeten Dozenten, die studentische Hälfte in erster Linie durch die Bedürfnisse des Mittagstisches in Anspruch genommen ist, so ist fort und fort eine Ergänzung aus anderen Quellen nötig. Auch für sie haben gelegentlich die akademischen Kräfte selbst sorgen können, so vor allem durch den Ertrag eines stattlichen Universitätsfestes im Zoologischen Garten, für dessen Zustandekommen sich Frau Hanna Brandenburg und der Direktor der Niederländischen Bank Dr. Jummel einsetzten, und das eine der sozialen Fürsorge zufließende Einnahme von nicht weniger als 100 000 Mark ergab. Es bot zugleich endlich einmal eine ästhetische Leistung der Hochschule, wie sie 1307

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Leipzig im Vergleich zu den süd- und westdeutschen Universitäten leider ferner zu liegen pflegt, in Gestalt eines gedankenreichen und farbenfrohen pantomimischen Festspieles, das Prof. Andreas Jolles entworfen und einstudiert und der inzwischen als Kapellmeister nach Duisburg berufene Kommilitone Ladwig durch feinsinnige Musik belebt hatte. Aber alle diese wertvollen Zubußen wären doch für die stets wachsende Notlage unserer Studenten unzulänglich geblieben, wenn nicht zahlreiche außerhalb unserer Körperschaft stehende Gönner der Universität in berechtigter Einsicht, was für die ganze Nation der Nachwuchs eines kraftvollen gelehrten Berufsstandes bedeutet, freigebig für unsere Unterstützungsfonds gespendet hätten. Von den Bleichert’schen Braunkohlenwerken Neukirchen-Wyhra ist eine mit jährlich 3000 Mark dotierte Patenschaft begründet worden. Ein Unbekannter hat uns 100 Mark zugewendet, weiter Graf zu Dohna-Finkenstein 300 Mark, Herr von der GoltzDomhardt 400 Mark, Herr Georg Grimpe in Leipzig 1000 Mark, Herr Karl Schäfer im Haag 500 Mark, Herr Direktor Steinhagen der Aktiengesellschaft Gontard & Henny, Leipzig, 3000 Mark, eine in der Universitätswoche gesammelte Schwedenstiftung 1085 Mark, das Relief Commitee zu New Haven 22 000 Mark, der Verband der Metallindustriellen im Bezirk Leipzig 6000 Mark, die Mannsfelder Kupferschieferbau-Gewerkschaft durch Vermittlung des Herrn Oberbürgermeisters 25 000 Mark, die Waggon- und Maschinenfabrik Aktiengesellschaft, vorm. Busch in Bautzen 50 000 Mark, Herr Direktor Kottke von der Schiege Aktiengesellschaft in Paunsdorf 11 400 Mark, das Niederländische Rote Kreuz im Haag 10 000 Mark, Herr Christian Schulz in San Franzisco 50 000 Mark, der Zentralvorstand der Gustav Adolf-Stiftung in Leipzig 20 000 Mark, Herr Geheimer Kommerzienrat von Borsig in Berlin – speziell für Oberschlesier bestimmt – 10 000 Mark. Hiezu kommt noch – ebenfalls vom Herrn Oberbürgermeister uns übermittelt – eine von einer ungenannten Leipziger Firma für Unterstützung von Dozenten ausgesetzte Dotation von 50 000 Mark. Desgleichen schulden wir dem Kreisverein Leipzig vom „Frauendank 1914“ Erkenntlichkeit, durch dessen Vorsitzende, Frau Direktor Germershausen, größere Summen gespendet wurden, um durch Wohnungsbeihilfen die wirtschaftliche Lage besonders der kriegsbeschädigten Studierenden zu erleichtern. Sie wurden vom hiesigen Ortsausschuß des Akademischen Hilfbundes verteilt, der auch seinerseits seine Fürsorgetätigkeit für kriegsbeschädigte Akademiker fortgesetzt hat. Trotz allem sind die genannten Mittel jetzt erschöpft, und es bedeutet uns deshalb eine große Beruhigung, daß unsere Regierung den Landtag bewogen hat, für die Zukunft einem diesen Zwecke dienenden größeren Betrag in den Haushaltsplan einzustellen. Das Eingreifen unserer politischen Verbände, Staat und Stadt, das hat sich gezeigt, können wir auch da nicht entbehren, wo bei der Beschaffung der geistigen Werte für unsere Kommilitonen eine Nachhilfe geboten ist. Eine solche hat von jeher die Akademische Auskunftstelle geleistet, deren Leitung nach wie vor in den Händen von Dr. Arthur Köhler liegt. Aber auch ihre Bedeutung hat sich erhöht, insofern sie in diesem Jahre die Berufsberatung in ihre Funktionen aufgenommen hat. Im Anschluß an die reichsgesetzliche Regelung einer allgemeinen Berufsberatung und deren Einrichtung in Sachsen erkannte unsere Regierung an, 1308

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daß lediglich eine der Hochschule angegliederte Amtsstelle in der Lage sei, über akademische Fragen, sowohl Studien- wie Berufswahlfragen sachgemäße Anleitung zu gewähren. Die Regierung gestand demgemäß der Auskunftstelle die Kompetenz zu, alle immatrikulierten Studierenden, sowie die Schüler und andere Nichtstudenten zu beraten, die sich für ein Hochschulstudium entschieden haben. Der Leiter der Akademischen Auskunftstelle Dr. Köhler ist aus Anlaß dieser Vorgänge zum Regierungsrat ernannt worden. Eine andere auf Förderung und Bereicherung des akademischen Studiums berechnete Fürsorge, die ursprünglich ebenfalls in den Bereich der Auskunftstelle fiel, haben die studentischen Organe selbst in die Hand zu nehmen versucht, – den planmäßigen Verkehr mit den studentischen Kreisen der ausländischen Universitäten, besonders der neutralstaatlichen. Vor 2 Jahren hatte zunächst Dr. phil. Julius Lips mit ungewöhnlicher Initiative ein Netz solcher Beziehungen mit skandinavischen, holländischen, schweizerischen, deutsch-böhmischen Kommilitonen angeknüpft und im Zusammenwirken mit dem ersten Asta-Vorsitzenden Zimmermann auf einer internationalen Konferenz in Prag eine Verständigung über das gemeinsame Ziel eines geregelten Austausches herbeigeführt. Ganz neuerdings hat jedoch die Zentrale der gesamtdeutschen Studentenschaft in Göttingen Schritte getan, um diese Funktion an eines der Ämter ihrer Hauptgeschäftsstelle zu ziehen, und Dr. Lips hat zu deren Gunsten auf eine bisher nur private, nur vom Senat und Rektor beaufsichtigte Einrichtung verzichtet. Es ist zu hoffen, daß das Verdienstliche seiner Bestrebungen in der neuen Form zu Anerkennung und Ausbau gelangen werde. Die Deutsche Studentenschaft schuldet ihm dauernden Dank dafür, daß er den Stein ins Rollen gebracht hat. Für eine dritte Anstalt geistiger Wohlfahrtspflege der Studentenschaft hat das oft bewährte Wohlwollen unserer Stadtverwaltung einen Weg gewiesen. Es gilt die offensichtlichen Hemmnisse auszugleichen, die sich bei dem abnormen Anwachsen der Bücherpreise dem Bedürfnis der Kommilitonen nach allgemeinbildender Lektüre, nach schöngeistiger, philosophischer, historischer, kulturgeschichtlicher und anderer Literatur entgegenstellen. In vorbildlicher Weise hat dem – dank günstiger Bedingungen – unsere Schwesteruniversität Bonn durch Gründung einer akademischen Bücherhalle abgeholfen. In Leipzig lassen sich Mittel nur in beschränkten Verhältnissen beschaffen. Um so mehr müssen wir dankbar sein, daß der Oberbürgermeister, angeregt und beraten durch den Leiter der städtischen Bücherhallen, Direktor Walter Hofmann, sich hat bereit finden lassen, in einem gegebenen Raume der Universität eine Zweigstelle dieser mustergültig organisierten städtischen Anstalt einzurichten. Wir hoffen demnächst, wenn auch vorläufig in bescheidenen Grenzen, an das Werk herantreten zu können. Auch für eine planmäßige Versorgung mit fachwissenschaftlicher Literatur sind Organisationen im Werden. Einstweilen hilft hier einigermaßen die Initiative der einzelnen Dozenten. Doch bedarf es auch hier eines systematischen Ausbaues auf genossenschaftlicher Grundlage. Lebensfrage bleibt natürlich, daß in erster Linie die wissenschaftlichen Institute und Seminare auf der Höhe erhalten werden. Auch sie haben sich beträchtlicher und wertvoller Einzelzuwendungen hochherziger Spen1309

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der zu erfreuen. Eine solche ganz großen Maßstabs hat das Kolonialgeographische Seminar aus der Hand seines eigenen Leiters, unseres Kollegen Geheimen Hofrat Hans Meyer, empfangen, der seinem Apparat Bücher und andere Literaturmaterialien im Wert von 72 000 Mark, Karten, Photographien, Lichtbilder, Sammlungsobjekte, einen Projektionsapparat von mehr als 70 000 Mark, also zusammen eine Stiftung von 145 410 Mark überwiesen hat, noch vervollständigt durch eine größere Zahl von Negativen und Originalphotographien aus einer Schenkung des Herrn Prof. Dr. Hauthal in Hildesheim. Entsprechend sind dem physikalisch-chemischen Institut von der Liebigstiftung 15 000 Mark zur Anschaffung von Hilfsmitteln für Unterricht und Forschung zu Teil geworden, dem chemischen Laboratorium von der gleichen Stiftung 32 355,50 Mark, der Sternwarte eine Kollektion von Publikationen der Observationen und astronomischen Gesellschaften des Auslandes, – dem musikwissenschaftlichen von der Firma Julius Blüthner ein neuer Konzertflügel, von der Verlagsfirma Breitkopf und Härtel die Gesamtausgaben der Werke Mozarts, Beethovens, Schuberts und Schumanns, von der Firma Ernst Eulenburg die vollständige Sammlung der dort erschienenen Orchester- und Kammermusikpartituren, – dem philologischen Seminar aus der testamentarischen Zuwendung unsres i. J. 1920 verstorbenen ehrwürdigen Kollegen Justus Lipsius, dessen wertvolle Bibliothek, deren Doubletten mit einem Erlös von 36 000 Mark nach dem Willen des Testators zur Verstärkung des Kapitals des Lipsius-Stipendiums verwendet wurden, – dem Archäologischen Institut neben kleineren Geschenken von der Direktion des Nationalmuseums zu Athen mehrere Gipsabgüsse noch nicht bekanntgemachter Skulpturen und eine Auswahl vorgeschichtlicher Gefäßbruchstücke aus dem neolithischen Thevalien und von der Insel Melos. Zu diesen einzelnen Betätigungen freundlichen Interesses kam nun aber im vergangenen Jahre eine höchst großsinnig geplante und in großem Stil durchgeführte Neugründung hinzu, in deren Zustandekommen unsere Universität, Dank einer besonders günstigen Schicksalsfügung, heute einen Vorgang vor vielen anderen unserer deutschen Schwesterhochschulen genießen darf. Einer unserer Mitbürger, der Privatgelehrte August Stern, hat seine ganze Kraft in jahrelanger Arbeit in den Dienst der Aufgabe gestellt, unter Mithilfe unserer Produktionsstände, in erster Linie der sächsischen und speziell der Leipziger Großindustrie, einen Fundus von mehr als 6 Millionen Mark aufzubauen, aus dem in den nächsten Jahren annähernd eine Million jährlich zur Unterstützung des Druckes wissenschaftlicher Arbeiten, besonders von Zeitschriften und gelehrten Editionen und zur Versorgung der Institute mit besonders kostbaren Apparaten und Instrumenten, verwendet werden sollen. In solenner Sitzung am 9. Juli hat sich die „Vereinigung von Förderern und Freunden der Universität Leipzig“ unter dem Vorsitz von Hofrat Dr. med. hon. c. Arthur Meiner in dieser Aula konstituiert, und der Senat versuchte seiner Dankbarkeit für dies von selten gemeinnütziger Gesinnung getragene Werk dadurch Ausdruck zu geben, daß er sechs Herren, die sich durch Zuwendung oder Werbetätigkeit um sein Zustandekommen ganz besonders verdient gemacht hatten, zu Ehrenbürgern unserer Korporation ernannte, nämlich Herrn Motty Eitingon, Herrn Kommerzienrat Karl Fritzsche, Herrn Kommerzienrat Wilhelm Frosch, Herrn Direktor Richard Kottke, Herrn Direktor Elimar Müller, sämtlich in Leipzig und Herrn Fabrikbesitzer 1310

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Oskar Philipp in Chemnitz. Dem Namen des geistigen Vaters der Organisation hat die Universität zunächst in der Weise eine bleibende Stätte in ihrem Wirken geschaffen, daß sie einen Betrag der gestifteten Kapitalien in Höhe einer Million zu einer selbständigen Stiftung im Rahmen des Ganzen abzweigte, die dem speziellen Zweck der materiellen und literarischen Förderung des kostbarsten Elements der Hochschule, unseres jugendlichen Nachwuchses, der Habilitanden, dienen soll, und diesem Zweig des Unternehmens den Namen der „August Stern-Stiftung“ beilegte. So lagert sich um die ursprünglich so einfachen Organisationsformen der Universität, in denen fast alle wesentlichen Funktionen unter Aufsicht von Senat und Dekanen den einzelnen Dozenten und den freien Korporationen und Vereinsbildungen des Studenten überlassen waren, ein immer formenreicher sich auswachsender Apparat von Organen der Gesamtkorporation, und die Idee der Sozialisierung bemächtigt sich wie des Staates und der Stadt auch des akademischen Selbstverwaltungskörpers. Nur bei persönlicher und wissenschaftlicher Nothilfe für die Dozentenschaft steht noch immer die private Initiative im Vordergrund. Ich mache aber in meinem Bericht über diese Dinge Halt, denn die akademische Sitte verlangt, daß am heutigen Tage in erster Linie dem das Wort frei bleibe, dem künftig die Leitung der Geschäfte unserer Körperschaft zusteht. In der Tat wird ja auch erst unter meinem Nachfolger im Amte oder vielmehr gar unter unsern weiteren Nachfolgern sich zeigen können, was von jenen Keimen lebensfähig ist, inwieweit manche flüchtigen Versuche zu dauernden Einrichtungen werden können. Und das wird in sehr wesentlichen Stücken zunächst von Ihnen abhängen, Kommilitonen, davon, ob Sie die neuen Verfassungsanstalten auch energisch und sinngemäß ausüben. Schon vor einem Jahre sprach ich es in anderem Rahmen aus und ich wiederhole es heute: die formellen Veranstaltungen einer Verfassung dürfen nicht verwechselt werden mit dem lebendigen Gehalt, der ihr durch die geistige Anwendung ihrer Formen verliehen wird. Gerade diese Erkenntnis liegt großen Schichten der Deutschen Studentenschaft heute noch sehr fern. Doktrinäre Freude an der Überorganisation und unduldsamer Parteifanatismus machten sich unter der deutschen Studentenschaft im Laufe der vergangenen Jahre ungebührlich breit, und an manchen unserer Hochschulen scheint es ganz vergessen zu sein, daß eine organisatorische Einheit nichts bedeutet, wenn nicht die innere Einheit, das tolerante Sichineinanderfügen der Gemüter, hinzutritt, – das Erfordernis, das allen großen politischen Denkern von Platon bis zu Hegel als erstes am Herzen gelegen hat, – auch dem, dessen Gestirn mächtig am klaren Herbsthimmel des Jahres 1921 über Europa funkelt. Die Universität hat das Ihre getan, um die Mahnung wahr zu machen, die uns vom Kenotaph des Dante Alighieri in der Florentiner Franziskanerkirche mit seinen eigenen Worten entgegenklingt: onorate l’illustrissimo poeta! Dr. Wilhelm Friedmann hat bei der städtischen Dantefeier im Theater, Dr. Philipp August Becker bei unserer eigenen Feier hier in der Aula vor 8 Tagen uns Wesen und Gehalt des Dichters ausgedeutet. Aber es würde etwas fehlen, wollten wir nicht auch auf die Stimme des politischen Predigers Dante hören, und da ist es wohl richtig, was der neueste deutsche Interpret der Commedia behauptet: woran dem Meister am meisten gelegen ist, ist das, was wir aus dem Aufbau seiner drei Reiche für den Staat lernen sollen, 1311

Richard Schmidt

die vollkommene Einheit des äußeren Aufbaues, durchwebt und durchpulst von der vollkommenen Harmonie der Gemüter im Dienste der Gesamtheit, die „Communione“ der Seelen im Rahmen der „Civiltà“. Indem ich das sage, bin ich mir vollkommen bewußt, und ich spreche das mit innerster Überzeugung aus, daß gerade die Leipziger Studentenschaft dieser Mahnung weniger als viele andere bedarf. Ich bin in meinem Amte nie auf Reibungen gestoßen, fand immer bei den Leitenden maßvolle Gesinnung, um deren Pflege sich die beiden ersten Asta-Vorsitzenden, Zimmermann und Doerne besonders verdient gemacht haben. Und auch die Gesamtheit der Studentenschaft hat daran Teil, wie sich besonders an dem schönen Symptom zeigt, daß die nächste Astawahl mutmaßlich auf Grund einer einheitlichen, auf freundlicher Verständigung beruhenden Wahlliste zustande kommen wird. Aber noch sind andere Einflüsse nicht ausgeschaltet, und es muß darum gerungen werden, daß das Bestehende erhalten bleibe. Das ist mein Wunsch auch für meinen Amtsnachfolger Herrn Dr. Richard Heinze, den ich nunmehr ersuche, sich zu mir auf dieses Katheder zu begeben und sich von mir den Rektoreid abnehmen zu lassen. Sie schwören, daß Sie die Verfassung und die Gesetze der Universität treu und gewissenhaft beobachten und die Pflichten des Ihnen als Rektor anvertrauten Amtes nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen wollen. Hiernach verkündige ich Sie an dieser Stelle, an der vor Jahren bereits ihr allverehrter, nun in Gott ruhender Vater als Rektor unserer Alma Mater verpflichtet worden ist, als den Rektor der Universität für das Studienjahr 1921/22 und vollziehe an Ihnen nach altem Brauch die feierliche Investitur. Ich übertrage auf Eure Magnifizenz Hut und Mantel als die Abzeichen Ihrer freien Würde, die Kette, mit der einst königliche Huld den Leipziger Rektor geziert hat, das Siegel der Universität, womit Sie deren Willen rechtlich zu beglaubigen befugt sind, die Statuten, deren Hüter Sie sind, endlich den Schlüssel des Hauses, das Sinnbild der hausherrlichen Gewalt in diesen Räumen. Und nachdem dies geschehen ist, lassen Sie, Magnifizenz, mich den Ersten sein, der Ihnen seine wärmsten Segenswünsche auf den Weg Ihrer Amtsführung mitgibt. ***

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Richard Heinze (1867–1929)

31. Oktober 1921. Rede des antretenden Rektors Prof. Dr. phil. Richard Heinze. Von den Ursachen der Größe Roms. Hochansehnliche Gäste! Hochgeehrte Kollegen! Liebe Kommilitonen! Die Wissenschaft vom klassischen Altertum gehorcht, wie alle lebendige Wissenschaft von geistigen Dingen, den Impulsen, die sie aus dem Leben der Gegenwart empfängt. Die erschütternden Erlebnisse der letzten Zeiten haben den Blick so manches Philologen, der früher mit Vorliebe literarhistorischen oder sprachgeschichtlichen Problemen nachging, auf die Fragen des antiken Staatslebens gerichtet. Wir haben Völker sinken und steigen, Staaten entstehen und vergehen sehen, haben die politische Umwälzung eines Erdteils erlebt. Von dieser Gegenwart erfüllt sieht der Philolog wie mit neuen Augen das altvertraute Bild eines Reiches, das ein Jahrtausend hindurch in langsamem Wachstum die Welt erobert, dann in dauernder Stetigkeit beherrscht hat, des imperium Romanum. Und von neuem lockt die alte, so oft schon gestellte und immer wieder in anderer Weise beantwortete Frage nach den Ursachen der Größe Roms. Es ist eine alte Frage: über zweitausend Jahre sind verflossen, seit an einem Höhepunkte römischer Geschichte der griechische Historiker Polybios sie mit klarem Blick gestellt und von der Höhe seiner politisch-philosophischen Einsicht zu lösen versucht hat; und sie ist seitdem nicht zur Ruhe gekommen: Augustinus, Machiavelli, Montesquieu haben ihr nachgehangen, um nur ein paar erlauchte Namen aus der Zeit vor dem neuzeitlichen Aufschwung der historischen Wissenschaft zu nennen. So verschieden wie das Denken dieser Forscher und das Denken ihrer Zeit war, sind die Antworten ausgefallen, und man darf wohl sagen, daß keine darunter ist, die nicht etwas richtiges enthielte; aber ich glaube andererseits nicht, daß irgend eine von ihnen als voll und endgültig befriedigend gelten kann. Das historische Denken unserer Zeit, durch geisteswissenschaftlich psychologische Forschung befruchtet, weist neue Wege, auf denen wir hoffen dürfen, der Wahrheit näher zu kommen. Lassen Sie mich versuchen, diese Wege anzudeuten. Wenn Polybios die Lösung des Rätsels in der Eigentümlichkeit der römischen Verfassung zu erkennen meinte, die in wohlabgewogener Mischung monarchische, 1313

Richard Heinze

aristokratische und demokratische Elemente enthalte; wenn Theodor Mommsen erklärte, Rom danke seine Größe lediglich dem energisch durchgeführten System der politischen Centralisierung – so werden wir von dem sachkundigen antiken Beobachter einerseits, von dem größten römischen Historiker der Neuzeit andererseits wie immer auch hier wichtiges zu lernen haben. Aber: Institutionen, mögen sie noch so wichtig und folgenreich sein, können doch niemals als primäre Ursachen politischer Entwickelung gelten; hinter ihnen stehen die Menschen, die sie geschaffen, erhalten und getragen haben. Und wo es sich um Institutionen von jahrhundertelanger Geltung handelt, da ist nicht ein einzelner vielleicht genialer Mensch, auch nicht eine einzige seinem Einfluß unterliegende Generation, sondern das Volk in langer Folge von Generationen Ursache der Institutionen wie dessen, was durch sie erreicht worden ist. Auf das Wesen des römischen Volkes würden wir also auch bei jenen Annahmen letzten Endes zurückverwiesen. Wir dürfen nun aber hierbei nicht, wie es zuerst der Philosoph Poseidonios und seitdem bis in neueste Zeit viele andere getan haben, das Gewicht auf gewisse moralische Wesenszüge legen. Es hat Völker genug gegeben, die etwa von Habsucht und Genußsucht mindestens so frei waren wie die alten Römer, und die es doch nicht annähernd zu gleicher politischer Machtstellung gebracht haben. So sicher es steht, daß ein Volk, in dem Habsucht und Genußsucht vorherrscht, unfähig zu politischem Aufstieg sein und bleiben wird, so unzweifelhaft ist es, daß politischer Aufstieg positive seelische Kräfte und Richtungen voraussetzt. Diese gilt es kennen zu lernen, ihr Übergewicht über andere seelische Strebungen zu ermessen, ihre Wirkungen als solche zu begreifen; die Ursachen der Größe Roms müssen in der Gesamtstruktur der römischen Seele gesucht werden. Um diese zu erfassen, wird man Wege verfolgen müssen, die die neuere Psychologie der Persönlichkeit erschlossen hat. Ihr ist es gelungen mit wachsender Bestimmtheit gewisse Grundtypen der Individualität als primäre, nicht weiter ableitbare Tatsachen des seelischen Lebens zu erkennen und zu beschreiben; so insbesondere Eduard Spranger in seinen „Lebensformen“, dem Werke, das, soweit meine Kenntnis und mein Urteil reicht, die Höchstleistung dieser Richtung darstellt. Nach der höchsten Wertsetzung, die der einzelne für sich vollzieht, unterscheidet Spranger als ideale Typen den ökonomischen, den theoretischen, den ästhetischen und den religiösen Menschen, sodann, auf das Gebiet gesellschaftlicher Seelenhaltung übergehend, den sozialen und den Machtmenschen, den er auch als politischen bezeichnet, weil der Staat, wenn auch keineswegs das einzige, doch das vornehmste Gebiet der Machtentfaltung ist. Mit der Zuordnung zu einem dieser Grundtypen ist selbstverständlich, wie Spranger stark betont, nur der erste Schritt getan, die Individualität nur mit den gröbsten Zügen umrissen; die Erscheinungsformen jedes Typus sind nicht nur zeitlich bedingt, sondern weisen auch unter Zeitgenossen unzählige Variationen auf. Die Aufgabe der Zukunft nun, deren Lösung nur einen psychologisch durchgeschulten Historiker gelingen kann, wird es sein, nach solchen Methoden die Struktur der römischen Seele zu verstehen. Aber bevor ich hier einen Schritt auf diesem Wege zu tun wage, fordert ein Zweifel, der sich jedem aufdrängen wird, Beseitigung. Lassen sich denn überhaupt die Methoden der Erforschung einer Einzelseele auf ein Volk als ganzes anwenden? Geht es an, ein Volk zu charakterisieren, 1314

Antrittsrede 1921

als wäre es ein Individuum? Nun es kann ohne weiteres zugegeben werden, daß jeder Versuch verfehlt wäre, etwa den Deutschen oder den Griechen einem jener Grundtypen zuzurechnen; hier kann es sich, soviel ich sehe, nur darum handeln, gewisse Gleichmäßigkeiten in den Erscheinungsformen aller möglichen Typen aufzuweisen. Unsere Aufgabe dagegen läßt, meine ich, eine einfachere Lösung zu. Es handelt sich für uns zunächst nicht um den antiken Römer schlechthin, sondern um den Römer einer freilich langen, aber immerhin begrenzten Strecke, der Periode des Aufstiegs der römischen Macht bis zu dem Zeitpunkt, da die entscheidende Stunde für die Weltstellung Roms geschlagen hat, also bis zu Roms Sieg über Karthago im zweiten punischen Kriege. Schon in dem folgenden halben Jahrhundert, das freilich einem Sallust als der politische und moralische Höhepunkt Roms erschien, beginnt doch eine Wandlung merkbar zu werden; sie hat einerseits zu geistigen Leistungen geführt, die dem politischen Gebiet ebenso fern wie dem alten Römertum unzugänglich waren, andererseits eine Entartung der ursprünglichen psychischen Struktur des Römertums mit sich gebracht, die selbst den Zeitgenossen nicht entging. Was die römischen Bürger der ausgehenden Republik und der Kaiserzeit für die Ausdehnung und Erhaltung des Reichs geleistet haben, war ein Kinderspiel im Vergleich mit den fast übermenschlich dünkenden Großtaten der Vorfahren, zu denen diese Nachfahren, soweit sie noch Sinn für wirkliche Römergröße besaßen, mit Beschämung und sehnsüchtiger Bewunderung aufblickten. Wir werden also von dem intellektuell und künstlerisch gehobenen, politisch gesunkenen Römertum dieser Spätzeit absehen und uns auf die Frühzeit beschränken dürfen. Und hier nun treffen wir in der Tat auf eine Einheitlichkeit der nationalen Geistesrichtung, die in der Geschichte der Kulturvölker kaum ihresgleichen findet. Den Beweis dafür werden wir uns hüten, vertrauensvoll der römischen historischen Überlieferung zu entnehmen; denn es könnte an der Unzulänglichkeit dieser Überlieferung liegen, wenn sie so wenig von eigenartigen, aus ihrer Umgebung sich abhebenden Individualitäten zu berichten weiß. Sondern wir erwägen dies: Die Römer in ihrer Gesamtheit sind keine theoretischen Menschen gewesen; das Bedürfnis und damit die Fähigkeit, die Wahrheit über die Welt und den Menschen zu erforschen, hat ihnen so sehr gefehlt, daß selbst in jüngerer Zeit, als in wenigen Auserlesenen das Verlangen nach einer theoretisch begründeten Weltanschauung erwachte, dies Verlangen ausschließlich durch Anleihen bei der griechischen Philosophie befriedigt wurde. Einem systematischen Nachdenken auch über politische und soziale Fragen begegnen wir erst bei Cicero, und bei ihm hält es schwer genug, in dem griechischen Gedankengewebe den echt römischen Einschlag zu erkennen. Den Römern war ferner eigen eine neben dem Griechentum doppelt auffallende Schwäche der Phantasie, die auf allen Gebieten des Künstlertums zu einer Anlehnung an griechische Schöpfung, und auch dies erst in jüngeren Zeiten, führte. Die Römer sind endlich ein religiöses Volk nicht in dem Sinne gewesen, daß der Einzelne das Bedürfnis empfunden hätte, einen eigenen Zugang zum Göttlichen zu suchen, daß mit der Entwicklung des Volks, soweit sie sich vor unseren Augen vollzieht, eine Entwicklung der Religion Hand in Hand gegangen wäre, daß religiöse Genies neue Tiefen der Empfindung entdeckt, zu neuen Höhen der Gottesvorstellung emporgeführt hätten. Ein Volk nun, das weder 1315

Richard Heinze

wissenschaftlich – dies Wort im weitesten Sinne genommen – noch künstlerisch, noch religiös produktiv ist, wird selbstverständlich auch nach allen diesen Richtungen nicht differenziert sein, ein ungewöhnlich hoher Grad von Einförmigkeit des Denkens und Strebens ist damit ohne weiteres gegeben, in striktem Gegensatze etwa zu Athen, das mit beispielloser Universalität hervorragende und ganz verschieden geartete Vertreter aller Typen der Individualität erzeugt hat. Weit aussichtsreicher demnach als etwa beim Athener wird der Versuch sein, das Römertum alter Zeit als seelische Einheit zu fassen und deren Wesen wenigstens in so großen Zügen zu umreißen, wie sie zur Lösung unserer Frage ausreichen. Vermögen wir aber denn die römischen Menschen so weit zu erkennen, trotz unserer überaus mangelhaften, in allen Einzelheiten unzuverlässigen Überlieferung? Ich glaube doch. Denn zunächst stehen in den Hauptzügen fest die Taten der alten Römer, die in der Gestaltung ihres Staates, im Inneren wie nach außen, dauernden Bestand gewonnen haben. Zweitens aber: auch aus dem späteren Römertum ist über das alte noch viel zu lernen, wenn man sich nur auf die Analyse versteht, die den jüngeren Bestand vom alten absondert. Und drittens: ein unschätzbares Hilfsmittel ist das lateinische Lexikon, wenn man es recht zu lesen weiß. Man muß nur die Termini wie der moralischen und religiösen so auch der politischen Sprache statt in dem vielfach abgebogenen oder abgeblaßten Sinne, in dem wir diese Worte unserer Sprache zumeist einverleibt haben, in ihrer vollen, ursprünglichen Bedeutung fassen, wie sie uns am Beginn der römischen Literatur entgegentreten: dann werden sie zu kostbaren Dokumenten vorliterarischen geistigen Lebens und spenden auch den Zeiten Licht, die sonst für uns im Dunkel der Traditionslosigkeit begraben lägen. Lassen sie mich gleich mit einem besonders inhaltsschweren Wort beginnen. Res publica – wir pflegen es mit „Staat“ zu übersetzen, und das kommt dem richtigen oft nahe, erschöpft aber den Begriff keineswegs. Res publica ist für den Römer identisch mit res populi, einer „Sache“ des Volks, vorwiegend aber ganz allgemein der „Sache“ des Volks: nicht im konkreten Sinne des Besitzes, sondern abstrakt, alle Interessen der völkischen Gesamtheit umfassend. Mir scheint die Bildung dieses Begriffs, der jedem Römer in Fleisch und Blut übergegangen ist, allein schon ein deutliches Symptom der stark ausgeprägten und eigentümlich gerichteten römischen Staatsgesinnung. Die Selbstverständlichkeit, mit der das Wort ausdrückt, daß das Volk gemeinsame, jedem einzelnen Volksgenossen zugehörige Interessen besitzt, die Abstrahierung eines solchen Begriffs, unter den alles subsumiert wird, was die Gesamtheit angeht, dieser Denkvorgang setzt eine Höhe des politischen Sinnes voraus, zu der sich vielleicht kein anderes Volk in einem verhältnismäßig so primitiven Stadium seiner Entwicklung aufgeschwungen hat. Die Trennung, die hiermit zwischen „Volk“ und „Volksinteresse“ vollzogen wird, ist nur scheinbar unwesentlich, in Wahrheit von größter Bedeutung. Es ist doch etwas anderes, ob der Bürger Verpflichtung gegenüber dem populus oder der res publica empfindet; das letztere greift weiter und tiefer als das erste. Das Volk bleibt bestehen, auch wenn es unter Fremdherrschaft gerät oder an Besitz und Macht und Größe verliert; die res publica wird dadurch vernichtet oder geschmälert. Unserer eigenen Sprache fehlt ein wirklich entsprechendes Wort. Das Übersetzungslehrwort „das gemeine 1316

Antrittsrede 1921

Wesen“ hat sich im Volksempfinden nicht eingewurzelt; das Wort „Staat“ aber, ein spät von Gelehrten eingeführtes Lehnswort, ist, man darf wohl sagen, ein nationales Unglück. Was eigentlich „Staat“ bedeutet, darüber streiten sich die Gelehrten, und kein Ungelehrter, den man etwa befragen wollte, wird mit einer klaren Antwort rasch bei der Hand sein. Für den Römer hätte die Frage selbst keinen Sinn gehabt: neben der res privata, dem Interesse des Einzelnen, steht eben wie selbstverständlich die res publica. Kein Römer hätte darauf verfallen können, von der res publica als „diesem Racker von Staat“ zu reden, wie jener uckermärkische Bauer zu Friedrich Wilhelm IV.; der Gedanke selbst an prinzipielle Feindschaft gegen die res publica wäre dem Römer unfaßbar gewesen. Alle Schwierigkeit, die uns die Feststellung des Verhältnisses zwischen „Volk“ und „Staat“ bietet, fällt für den Römer von vornherein weg. Klar ist das Wort res publica, und nüchtern zugleich, ganz römisch. Es gibt Völker, die höchster Leistungen des Patriotismus nur in kurzen Zeiten begeisterter Aufwallung fähig zu sein scheinen; Gneisenau hatte als Deutscher wohl recht, wenn er behauptete, Vaterlandsliebe sei ohne Poesie nicht möglich. Für den Römer war Hingabe an die res publica etwas ganz prosaisches, in den ersten Ursprüngen wohl einfach Sache der Zweckmäßigkeit, dann aber eine durch die festgewurzelte Tradition gefestigte und ohne Frage nach den Gründen geübte Pflicht. Im ersten punischen Krieg, so erzählt der alte Cato, konnte eine vom Feind umzingelte römische Legion nur gerettet werden, wenn eine Schaar von einigen Hunderten sich freiwillig aufopferte; der Konsul zweifelt, ob sich ein Offizier finden werde, der die Abteilung in den sicheren Tod führe; da sagt der Tribun, der auf jenen Ausweg verfallen ist: „Wenn du keinen anderen findest, so nimm mich: ich gebe mein Leben für dich und für die res publica hin“. Also nicht dem „Vaterland“, auch nicht den Volksgenossen, nicht der Legion römischer Bürger opfert er sich auf, sondern dem Führer – und daran werde ich später noch zu erinnern haben – und der res publica, für die der Rest der Legion wertvoller ist als er selbst und seine vierhundert Todesgenossen. Das aber ist typisch römisch, im eigentlichen Sinne politisch gedacht: ohne Aufwallung patriotischer Begeisterung – beachten Sie wohl die Worte „wenn du keinen anderen findest“ – folgte jener Offizier einfach dem altrömischen Gefühl politischer Pflicht, die auf der Überzeugung ruht, daß der res publica als dem Größeren und Umfassenderen der Vorzug von der res privata gebührt. Der Begriff „Sache des Volks“ ist freilich an sich mannigfacher Deutung fähig. Ein Volk kann als sein Hauptanliegen etwa seine eigene kulturelle Entwickelung, oder möglichst großen materiellen Wohlstand, oder, wenn die religiöse Geistesrichtung überwiegt, Gottgefälligkeit der Gesamtheit empfinden. In der Richtung dieses Empfindens werden stets auch die Hauptleistungen und Haupterfolge des Volkes liegen. Roms Erfolge liegen in seiner stetigen Machtentwickelung beschlossen; Inbegriff seiner res publica ist in allererster Linie die Macht und Größe des Volks, die maiestas populi Romani – denn der Begriff der Majestät, den Rom geprägt hat, ist für das Volk gedacht, ehe er auf die Volksbeauftragten – die Magistrate – übertragen und schließlich vom Kaiser für sich allein in Anspruch genommen wurde. Für eine durch Jahrhunderte fortgesetzte erfolgreiche Machtpolitik ist 1317

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aber zweierlei erforderlich: erstens ein fest im Volksgeist verwurzelter zäher Wille zur Machterweiterung, der Jahr aus Jahr ein diesem Ziel zu Liebe, wie es die Römer getan haben, Blutopfer darbringt und die ungeheuren Mühen und Entbehrungen des Kriegsdienstes ertragen läßt; und zweitens eine eben so stetige Führung, die den Volkswillen in rechter Weise zu lenken und zu nutzen versteht, dieser schweren Aufgabe in der inneren Politik sowohl wie militärisch und diplomatisch dauernd gewachsen. Denn wo ein Wille ist, da ist freilich auch ein Weg: aber es kommt darauf an, daß dieser Weg auch gesehen und fest innegehalten werde. Den Willen zur Machterweiterung haben nun freilich sehr bedeutende Historiker den Römern oder doch wenigstens der römischen „Regierung“ mehr oder weniger abgesprochen. Nur die Furcht vor Karthago soll zur Eroberung Siziliens, die Eifersucht auf Karthago zur Eroberung Spaniens geführt haben; nicht aus eigenem Antrieb, sondern dem Drang der Tatsachen gehorchend, habe Rom in die Verhältnisse des Ostens eingegriffen und dort seine Herrschaft gegründet; den Schutz der Reichsgrenzen habe später die Expansion nach Norden im Auge gehabt. Ich kann dieser Auffassung nicht zustimmen, muß mich aber hier darauf beschränken, nur dies eine zu sagen, daß mir die Entstehung eines Weltreichs, bei der der positiv gerichtete Wille des Herrschervolks so gut wie nichts, Furcht und Zwang alles bedeutet, psychologisch unbegreiflich erscheint. Zwar kann ein Volk sich zu Kriegen und Eroberungen genötigt sehen, um früher Erobertes, um seine herrschende Weltstellung zu behaupten, und gewiß ist dergleichen im Rom der Kaiserzeit mehrfach eingetreten: aber wenn so ein Volk auf der Bahn der Welteroberung weiter als ihm selbst lieb ist vorwärts gedrängt wird, beschritten hat es diese Bahn doch aus eigner Initiative, und auch die zähe Energie, mit der das Gewonnene, sei es auch unter den schwersten Opfern behauptet wird, setzt einen positiv gerichteten Machtwillen voraus. Dieser Wille aber kann aus zwei verschiedenen Wurzeln entspringen. Maßgebend kann sein einmal das Verlangen nach materiellen Gütern, wobei also die Macht nur Mittel zum Zweck ist; oder der Trieb zur Machtentfaltung und zum Machtgenuß um seiner selbst willen. Eine dritte Kraft, an die man denken könnte, ist vielleicht für andere Eroberervölker, nicht aber für Rom in Rechnung zu setzen: ich meine die Freude am Kampf an sich. Denn, so seltsam es klingen mag, die Römer, das kriegerischste Volk der Weltgeschichte, sind doch niemals, so weit wir zurückzublicken vermögen, kriegslustig gewesen. Von einer Wertung des Kampfs und Kriegs als des schönsten und höchsten Manneswerks, von einer Lust am rücksichtslosen Einsetzen des eignen Lebens, Mann gegen Mann – davon ist bei den Römern schlechterdings nichts zu spüren. Das Kriegführen ist schwere Arbeit, der sich der römische Bürger unterzieht um der res publica willen, wie er der res privata zuliebe im Schweiße seines Angesichts den Acker pflügt; aber wer die endlosen Kriegsberichte der römischen Annalen liest, wird nie den Eindruck gewinnen, daß dabei der elementare Drang gewaltet habe, sich in blutigen Kriegen des vollen Manneswertes bewußt zu werden. Es ist bezeichnend, daß auch die Heldentaten Einzelner, von denen jene Annalen legendarisch oder historisch berichten, kaum je kühne, überschäumendem Selbstvertrauen entsprungene Angriffsstückchen sind, 1318

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sondern totesmutige Pflichterfüllung oder Eintreten für die römische Waffenehre gegenüber höhnischer Herausforderung durch den Feind. Es entspricht ganz der seelischen Verfassung, die hier sich äußert, daß auch das friedliche Gegenstück des Krieges, die Jagd, für den alten Römer keinen Reiz gehabt hat. Es bleibt also die vorhin bezeichnete Alternative: Habsucht oder Herrschsucht, um es ganz kurz zu sagen, als Quelle der Machtpolitik. Ich zweifle nicht daran, daß der ökonomische Sinn schon im alten Römertum stark ausgeprägt gewesen ist. Wir können in historisch hellen Zeiten sein Umsichgreifen verfolgen; sein Kampf gegen das eigentlich Politische, in dem er schließlich den Sieg davon trägt, ist in den letzten Jahrhunderten der Republik das zentrale Ereignis der inneren Geschichte Roms. In der Zeit aber, die uns hier beschäftigt, liegt dieser Sieg noch in der Ferne, ist sogar, meine ich, der Kampf noch gar nicht wirklich entbrannt. Erlassen Sie mir den Beweis dafür, der eine Untersuchung für sich verlangen würde; ich hoffe, meine weiteren Ausführungen werden Sie ohnehin davon überzeugen, daß es nicht materieller Wohlstand, sondern ein anderes war, was des alten Römers Begierde weckte und alle Kräfte seines Willens anspannte. Vergegenwärtigen wir uns zunächst den engsten Kreis der Gemeinschaft, die Familie. Sie ist in Rom bis in recht junge Zeiten fest gefügt gewesen als ein Staat im kleinen, und zwar ein absolut monarchischer Staat. Der Hausvater ist zugleich Hausherr im weitesten Sinne des Wortes. Zur Familie werden nicht gerechnet die der hausherrlichen Gewalt nicht unterstehenden Blutsverwandten, etwa die selbständigen Geschwister, wohl aber das Gesinde; famulus bezeichnet den Diener. Das Befehlsrecht des Vaters auch über den erwachsenen Sohn ist rechtlich unbeschränkt, währt bis zum Tode und läßt es z. B. zu, daß der Vater den Sohn in die Sklaverei verkauft. Also auf absoluter Herrschaft einerseits, absoluter Unterordnung und Selbstverleugnung andererseits ruht das römische Hauswesen – so gut wie das römische Heerwesen: die disciplina domestica ist das Gegenstück der disciplina militaris: ich erinnere an jenen Tribunen Catos, der sich für die res publica und seinen Führer opfern wollte. Auch das Verhältnis des Herrn zum Sklaven ist in Rom ein strengeres als in Athen, wenigstens im Athen hellenistischer Zeit, wie am besten ein Einzelzug veranschaulicht: in den aus dem Griechischen übersetzten und in griechischem Kostüm gespielten Komödien des Plautus und Terenz ist es gar nichts seltenes, daß der Sklave den Herrn an Klugheit und Witz überragt; in der comoedia togata, die in römischen Bürgerkreisen spielte, durfte dergleichen, so wird uns berichtet, nicht vorkommen. Dazu stimmt aufs beste, daß unter den Vorschriften, die der alte Cato in seinem Leitfaden der Landwirtschaft dem Gutsverwalter gibt, auch die sich findet, daß er, der Sklave, sich nicht einbilden soll, klüger zu sein als sein Herr: so etwas glaubte man in Rom befehlen zu können. Außerhalb des Kreises der väterlichen Machtbefugnis ist der Römer frei, und wacht aufs eifersüchtigste über diese seine Freiheit. Aber er fühlt sich dadurch nicht eingeschränkt, daß er sich dem Gebot des „Höheren“, des Magistrats, unterwirft: denn dieser gebietet kraft der ihm durch freie Volkswahl übertragenen, an die vom Volk gegebenen Gesetze gebundenen Machtbefugnis, von der vorausgesetzt wird, daß er sie nur zum Wohle des Volkes ausübt. Jedem Versuche, auf anderem Wege, 1319

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etwa durch Anhäufung großen Reichtums, geschweige denn durch Gewalt, Macht über die Mitbürger zu gewinnen, ist das römische Volk mit zäher Konsequenz und äußerstem Mißtrauen entgegengetreten; es sind aber auch solche Versuche in älterer Zeit, wenn überhaupt, nur verschwindend selten unternommen worden. Der Freiheitsdrang des einzelnen findet seine Schranke am Freiheitsdrang aller übrigen; innerhalb dieser Schranken zur Macht zu gelangen, d. h. zur Magistratur, und am Ende der Laufbahn zum Consulat, das ist das Ziel römischen Ehrgeizes. Man kann diesen Grundzug römischen Wesens nicht stark genug betonen, um die abgrundtiefe Kluft zu ermessen, die das römische Leben und Streben etwa vom unseren trennt. Wenn heute der große Arzt von Tausenden, die ihm Gesundheit, vielleicht das Leben verdanken, als Wohltäter verehrt wird, wenn ähnliche Ziele schönen Ehrgeizes dem Lehrer, dem Prediger, dem Künstler, dem Unternehmer winken, so steht dem Römer, der sich aus der Masse des Volkes erheben will, nur ein Ziel vor Augen: die Magistratur. Oder, um tiefer zu greifen: im Grunde nicht die Magistratur selbst, die jedesmal nur ein Jahr währt und also, wenn sie sich auch vier-, fünfmal wiederholt, schwerlich ein Leben bestimmen kann, sondern das Sich-durchgesetzt-haben, die Anerkennung durch die Volksgenossen, die sich in der Wahl ausdrückt und die als unverlierbares Gut bleibt, auch wenn der Inhaber seine Insignien längst abgelegt hat. Das prägt sich darin aus, daß die Magistratur, lange Zeit gewohnheitsmäßig, später auch gesetzlich, den Zugang zum Senat erschließt und damit die im allgemeinen lebenslängliche Zugehörigkeit zur höchsten politischen Körperschaft des Reichs, in der wieder Rang und Ansehen und dem entsprechend auch Einfluß und Macht sich nach der Höhe des zuletzt bekleideten Amtes abstuft. Es ist aber auch in beispielloser Weise dafür gesorgt, daß die errungene Ehre noch über das Grab hinaus lebt: nicht nur, daß die Hinterbliebenen, schon in früher Zeit, soweit überhaupt römische Grabschriften zurückreichen, die volle Ämterlaufbahn dem Namen auf dem Stein beifügen – woran kein Grieche je gedacht hat –: die Ädilität erst, die zweite Stufe dieser Laufbahn, gibt ihrem Inhaber das Recht der Bilder, d. h. das Recht, ein Wachsporträt im Atrium des Hauses aufzustellen; die Anzahl solcher Bilder, von Generation zu Generation wachsend, ist der Stolz des Geschlechts, und bei jedem Leichenbegängnis eines Geschlechtsgenossen gehen diese Bilder, von Figuranten getragen, im Leichenzuge mit, zu ehrfürchtigem Staunen der Zuschauer, wie dies Polybios beschreibt, er selbst ergriffen durch diese unvergleichlich eindrucksvolle Veranstaltung, die doch an sich den Griechen primitiv barbarisch anmuten mußte. Von der Macht dieses politischen Ehrgeizes über das römische Gemüt eine ausreichende Schätzung zu gewinnen, fällt uns nicht leicht. Ich müßte, um sie ganz zu veranschaulichen, etwa zeigen, wie noch die Männer der sinkenden Republik, soweit sie altrömischer Art anhängen, wie etwa der für römische Verhältnisse freidenkende und vielseitige Cicero, von ihm geradezu besessen sind. Ich müßte die mannigfachen Auswirkungen schildern, die dieser Ehrgeiz in der ganzen Lebenshaltung des politischen Römers guter Familie mit sich bringt: das Streben, durch Dienst, die den niedriger gestellten erwiesen werden, eine möglichst große Zahl von Bürgern sich zu verpflichten, eine Art von Gefolgschaft sich zu bilden, die dann bei den Wahlen 1320

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zur Verfügung steht – auf diese Form der Klientel und des Patronats beschränken sich im wesentlichen die Äußerungen sozialer Geistesrichtung –; die Sitte, solchen Anhang dadurch kenntlich zu machen, daß man sich auf dem Forum in zahlreicher Begleitung zeigt, daß das Atrium des Hauses Tag für Tag von Morgenbesuchern gefüllt ist: alles Dinge, die uns erst in der Entartung jüngerer Zeiten recht kenntlich sind, die aber in ihrem Wesen hoch hinaufreichen. Die Beredsamkeit, von allen Künsten des Worts im alten Rom einzig geschätzt und eifrig gepflegt, steht im Dienst dieses politischen Ehrgeizes, da sie die Prozesse der Klienten zu gewinnen und dem Volk zu imponieren hilft; die Poesie wird, sobald sie aus Griechenland übernommen Geltung gewinnt, in den Dienst dieses Ehrgeizes gestellt, indem sie, abgesehen von der dramatischen, vom Magistrat veranstalteten Volksbelustigung, als historisches Epos die Aufgabe erhält, die Taten der römischen Politiker und Heerführer zu verherrlichen. Aber genug von solchen Manifestationen eines Geistes, der nun wohl klar geworden ist: was uns hier vor allem angeht, ist dies. Wenn der populus Romanus es in der Hand hat, den Ehrgeiz zu befriedigen und damit das höchste Erdenglück zu verleihen, so ist die natürliche Folge, daß das Streben, sich ein Verdienst um die res publica zu erwerben und damit Anspruch auf den ersehnten Lohn zu gewinnen, das ganze Leben des Römers erfüllen muß, der etwas anderes kennt als die Sorge um sein Hauswesen. Was irgend an politischer Befähigung irgendwo schlummerte, das mußte so geweckt, was irgend an Kraft verborgen war, das mußte so hervorgeholt und zur höchsten Anspannung im Dienste der res publica getrieben werden. Die höchste Wertsetzung, die der einzelne Römer für sein eignes Ich vollzieht, weist ihn genau denselben Weg, auf den eine völlig selbstlose Hingabe an die res publica führen würde. Sie wissen, verehrte Zuhörer, daß nicht bei allen Völkern und nicht zu allen Zeiten die politische Betätigung über gleich kräftige Lockmittel verfügt hat. Nun aber denken wir uns den politischen Ehrgeiz, den der Einzelne für sich und sein Geschlecht innerhalb der römischen Bürgergemeinde hegt, auf das ganze Volk und seine Stellung innerhalb der Völkergemeinde übertragen – so werden wir die Ausnahmestellung dieses Volks erst recht begreifen. Es ist selbstverständlich, daß der Anspruch auf die Weltherrschaft, der Gedanke des imperium Romanum als eines Universalreichs Jahrhunderte gebraucht hat, um zu klarem Bewußtsein durchzudringen, und frühestens nach dem endgültigen Sieg über Karthago im hannibalischen Kriege können einzelne besonders weitblickende und hochstrebende Politiker diesem Gedanken Einfluß auf ihre Bestrebungen verstattet haben. Aber man darf wohl sagen, der Keim dieses Gedankens hat in der Seele des römischen Volks gelegen, soweit wir seine Schicksale zurückverfolgen können. Eine höchst wunderbare Erscheinung, deren tiefsten Gründen man nicht müde wird nachzusinnen, ist die völlige Isoliertheit Roms, die es von jeher gewollt behauptet hat. Es ist ein seltsam tiefsinniger Zug der römischen Gründungslegende, daß sie das neue Gemeinwesen, von einem Göttersohn gegründet, also schon durch seinen Gründer nicht in einem anderem Volkstum verwurzelt, von den ersten Anfängen an in feindlichen Gegensatz zu allen Nachbarn stellt. Diese Gemeinde, latinischen Bluts, wenn auch vielleicht mit starker etrurischer Beimischung, hat sich doch niemals eigentlich zu den Latini gerechnet: 1321

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sie steht dem Bunde der latinischen Städte als Sondermacht gegenüber, mit ihm zu einer religiösen und politischen Gemeinschaft vereinigt, aber im Besitz einer Vormachtstellung, die sie in altersgrauen Zeiten gewonnen haben muß und immer behauptet hat. Und von da nun schreitet Rom den Jahrhunderte langen ersten großen Abschnitt seines Weges vorwärts, der zur Einigung Italiens führt: zu einer Einigung der Art, daß alle italischen Städte und Stämme Roms Bundesgenossen heißen, aber in Wahrheit seine Untertanen sind. Und so dann fort bis zur zweiten großen Entscheidung, der Niederwerfung Karthagos, das wohl bereit gewesen wäre, die Herrschaft über das Westmeer mit Rom zu teilen, wenn dies sich nur zu solcher Teilung hätte verstehen wollen. Aber es ist, als wäre es diesen Römern unerträglich gewesen, ein Volk, mit dem sie im Lauf ihrer Entfaltung zusammenstießen, gleichberechtigt neben sich, geschweige denn über sich zu dulden. Bei jedem Konflikt ruhen sie nicht, bis sie sich als die Besseren, die Stärkeren durchgesetzt haben, weil sie felsenfest davon überzeugt sind, die Stärkeren und also die zum Herrschen Berufenen zu sein. Virgil läßt es in einem prachtvollen, von nationalem Stolz durchleuchteten Eingangsbilde der Aeneis vor Roms Gründung schon als den Willen des Schicksals verkünden, daß diese Stadt über den Erdkreis gebieten solle: dies Schicksal war nichts anderes als der Wille des Volkes selbst. Der civis Romanus dünkt sich kraft dieses Bürgerrechts allein jedem anderen Erdbewohner überlegen, und hat dies gewiß getan, lange ehe die Weltmachtstellung Roms ein objektives Recht dazu gab. Unverbrüchlich hat Rom, im Gegensatz z. B. zu griechischen Städten, daran festgehalten, daß mit diesem Bürgerrecht keines einer anderen Gemeinde vereinbar sei. Es ist, namentlich in frühen Zeiten, keineswegs besonders spröde mit der Aufnahme Fremder unter die römischen Bürger gewesen; ist doch jeder Sklave, selbst barbarischer Herkunft, einfach durch den Akt der Freilassung römischer Bürger geworden; Rom vertraute darauf, daß der Neuling wirklich zum Römer werde. Und Rom hat wirklich dank seinem festen nationalen Gefüge und starken nationalen Bewußtsein eine erstaunliche Fähigkeit bewiesen, fremdes Blut dem eignen zu amalgamieren, eine ebenso erstaunliche Widerstandskraft gegen die Versuchung, zu stammfremder Art überzugehen. Die durch Italien verbreiteten römischen Bürgerkolonien haben ihre Nationalität dauernd bewahrt, und nie hat eine dieser Kolonien mit den Umwohnenden zusammen gegen Rom gestanden, so schwer sie auch oft unter der Kriegsnot zu leiden hatten. Es fehlen in der Geschichte Altroms jene in der Geschichte griechischer Republiken so häufigen schmachvollen Fälle, daß Vertriebene gemeinsame Sache mit dem Landesfeinde machen oder mit seiner Hilfe die Rückkehr zu erzwingen suchen. Die Legende hat zwar, ohne jeden Anhalt an wirklicher Überlieferung, die sehr eindrucksvolle Gestalt eines Coriolan geschaffen, aber, wie um zu zeigen, daß es dem Römer unmöglich sei, so argen Verrat durchzuführen, läßt sie den Coriolan vor den Mauern Roms umkehren, als ihn Mutter und Gattin an seine Pflicht mahnen, und ihm gegenüber steht etwa das Musterbeispiel des Camillus, der, von seinem Volke mit schlimmstem Undank gelohnt und aufs bitterste gekränkt, doch keinen Augenblick zögert, der hart bedrängten Stadt seinen sieggewohnten Arm zu leihen. Noch in den Tagen gesunkenen Nationalgefühls, in den letzten Kämpfen der Republik, ist es im Wettstreit um die Gunst der 1322

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öffentlichen Meinung die wirksamste Waffe Octavians gegen Antonius gewesen, daß dieser seine Römerehre soweit vergessen konnte, um mit dem Landesfeinde, der ägyptischen Königin, gemeinsame Sache zu machen. Augustus ist es denn auch gewesen, der das tief gesunkene Volk auf die alte Höhe dadurch zu heben versuchte, daß er aus der Asche alten Römerstolzes die fast verloschenen Funken zu neuer heller Flamme entfachte. Das war vergebens; aber die Besten seiner Zeit haben doch ihm zur Seite gestanden, und die römische Dichtung hat aus diesem Versuche des Aufschwungs mit die besten Kräften zu ihrem höchsten Aufstieg gewonnen. Damals ist denn auch dem römischen Machtgedanken gleichsam die letzte Weihe und ein idealer Gehalt gegeben worden, indem es als der Wille der göttlichen Vorsehung gedeutet wurde, daß Rom über das Weltall gebiete, um ihm den Frieden zu geben. „Tu regere imperio populos Romane memento, haec tibi erunt artes, pacique imponere morem, parcere subiectis et debellare superbos“: „du bist ein Römer – dies sei dein Beruf: die Welt regiere, denn du bist ihr Herr; dem Frieden gib Gesittung und Gesetze, begnadige, die sich dir gehorsam fügen, und brich im Kriege der Rebellen Trotz“. So läßt Virgil den Geist des alten Anchises prophetisch seine Nachkommen, die dereinstigen Römer, mahnen. Es ist ein weiter Weg von der reisigen Gemeinde der sieben Hügel, die sich mühsam gegen die andringenden Nachbarstädtchen behauptet, bis zu dem Weltreich des Augustus; aber es ist, als hätten die Römer auf der ganzen Länge dieses Weges jenes „tu regere imperio populos Romane memento“ wie ein Gesetz ihres Wesens in sich getragen. Und nun bliebe mir zu zeigen, wie Rom die zweite Bedingung erfüllt hat, die ich vorhin nannte: auf diesem Wege die rechten Führer zu gewinnen und ihnen die Möglichkeit zu schaffen, ihres Führeramtes zum Wohle der res publica zu walten. Um dies durchzuführen, wäre nichts geringeres nötig, als das gesamte römische Staatsrecht auf die psychische Struktur derer zurückzuführen, die dieses Recht sich gesetzt haben. Ich muß mich darauf beschränken, auf eine Gruppe von Tatsachen, die mir die wichtigste scheint, hinzudeuten. Das römische Volk, das wenn irgend eines jemals stolz auf seine Freiheit gewesen ist, hat diese Freiheit nie darin finden wollen, sich selbst zu regieren, sondern darin, diejenigen zu wählen, von denen es sich regieren lassen wollte, diesen aber dann auch den nötigen Spielraum zum regieren zu lassen. Rom hat diesen Männern seiner Wahl nicht nur das Regieren, sondern Überhaupt das Politisieren überlassen. Denn Politiker ist in Rom allein der vom Volk gewählte Beamte, während seiner Amtszeit und dann als Senator, also der, den das Volk für würdig erklärt hat, politischen Einfluß auszuüben, und der die volle Verantwortung für die Wirkung dieses Einflusses trägt. Unverantwortliche Demagogen, die im sinkenden Athen eine so verhängnisvolle Rolle gespielt haben, gibt es in Rom nicht, denn die Initiative jedes Antrags in der Volksversammlung, ja das Recht Versammlungen zu berufen und in ihnen das Wort zu führen oder nach Gutdünken anderen zu erteilen, ist Privileg des Beamten, den das Volk stehend anzuhören hat: über die griechische Sitte, etwa im Theater sitzend stundenlang über politische Fragen zu debattieren und jeden beliebigen Bürger, der sich zum Worte meldet, anzuhören, haben die Römer verächtlich die Achseln gezuckt. Je größer aber der Machtumfang der Beamten, um so mehr 1323

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kommt auf die rechte Wahl an. Es ist in jeder Demokratie – und nach der Grundidee ihrer Verfassung werden wir ja die römische Republik auf ihrer Höhe als Demokratie ansprechen müssen – es ist, sage ich, in jeder Demokratie das schwerste Problem, von dessen glücklicher Lösung das Heil des Staats in erster Linie abhängt, wie es erreicht werden kann, daß immer wieder die tüchtigsten Männer ans Ruder kommen. Für Rom also, dessen Ruder die Magistrate, amtierende und gewesene, führen, ist die Beamtenwahl von kardinaler Bedeutung. Nachdem in langem zähem Kampfe – bei dem übrigens kaum Bürgerblut geflossen ist – das alleinige Recht des alten Geschlechteradels, des Patriziats, auf die Beamtenposten beseitigt war, hat es beim Volk gestanden, jeden beliebigen Bürger, der danach verlangte, zur Magistratur zu erheben, und eine Oligarchie in dem Sinne, daß ein kleiner Kreis von Geschlechtern die Regierung monopolisiert hätte, ist Rom nie wieder geworden. Es sind immer wieder neue Männer aus neuen Familien emporgestiegen, und zwar ohne daß dem von dem älteren Amtsadel, den nobiles, hartnäckiger Widerstand geleistet worden wäre. Allerdings hat die politische Tätigkeit zur Voraussetzung ökonomische Unabhängigkeit, da jedes Amt unbesoldetes Ehrenamt ist und auch der Senator keinen Gehalt empfängt: diesen Grundsatz zu beseitigen und damit auch dem Unbemittelten den Zugang zu den Ämtern zu eröffnen, hat auch die radikale Demokratie nicht versucht. Er ruht, von anderem abgesehen, auf der altrömischen Auffassung des Lohns für persönliche Dienste, die man dem andern leistet: empfinge der Magistrat Lohn, so würde er sich damit gleichsam in den Dienst des Volkes stellen, über dem zu stehen er doch berufen ist. Aber auch über diese erste Beschränkung hinaus hat bei den Wahlen nicht jeder Bürger gleich gute Aussicht, die Mehrheit der Stimmen auf sich zu vereinigen, und zwar ohne daß hierfür die den Besitz begünstigende Gestaltung des allgemeinen aktiven Wahlrechts von wesentlicher Bedeutung wäre. Zweierlei fällt ins Auge. Zunächst: der Angehörige einer Familie von altem Adel hat lange über die Zeiten der patrizischen Vorrechte hinaus tatsächlich bei der Wahl einen erheblichen Vorsprung vor seinen Mitbewerbern aus noch unbekanntem Geschlecht, wagt auch diesen Vorsprung öffentlich zu beanspruchen; noch Horaz geißelt das, von seinem Standpunkt aus als Zeugnis für den verblendeten Stumpfsinn des Pöbels, der in ehrfürchtigem Staunen vor den Inschriften und Ahnenbildern der alten Geschlechter steht und der dumme Sklave ihres Ruhmes ist. Versuchen wir tiefer zu sehn, so erkennen wir zwei Motive anderer Art. Einmal: in jener Bevorzugung äußert sich der echt römische Gedanke, den ich schon früher hervorhob, daß das Verdienst um die res publica seinen Träger überlebt: man ehrt die großen Ahnen in ihren spätesten Nachkommen. Und ein zweites: wir würden von der Bedeutung der Tradition reden, die in einem Geschlecht fortlebt; der Römer glaubt an eine Vererbung hervorragender Tüchtigkeit und ist geneigt, den Nachkommen tüchtiger Männer zuzutrauen, daß sie auch Erben ihrer virtus sind. Das wird verständlich, wenn man das Maß von Verpflichtung bedenkt, die in Rom der Träger eines großen Namens schon als solcher zu empfinden pflegte, und andererseits das Maß von Verpflichtung, das der zu den öffentlichen Ehren Emporgestiegene empfand, seinen Sohn zu der Aufgabe zu erziehen, das Geschlecht würdig fortzupflanzen. 1324

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Die andere Beschränkung ist diese: so oft auch neue Männer zu den unteren Magistraturen, ja bis zur Prätur gelangt sind, so seltne, ja in den letzten Jahrhunderten der Republik seltenste Ausnahme ist es, daß ein solcher zur höchsten Stufe, dem Konsulat emporsteigt und damit, was noch wichtiger ist, unter die ausschlaggebenden Mitglieder des Senats einrückt. Ein Mann wie Cicero, der mit diesem, seiner Auffassung nach sinnlosen Vorurteil zu kämpfen hatte, machte dafür lediglich die Engherzigkeit und den Standesdünkel der Nobilität verantwortlich. Aber es liegt doch auch hier, wenn ich recht sehe, ursprünglich ein tieferes zu grunde, ein echt politischer Gedanke: man traut die Fähigkeit zur Bekleidung des höchsten staatlichen Amts nur dem zu, der als Sohn eines Magistrats schon gleichsam in politischer Atmosphäre aufgewachsen und von früh an für die politische Laufbahn erzogen worden ist. So führen denn auch die gewohnheitsmäßigen Beschränkungen der freien Wahl schließlich auf die persönliche Eignung des Bewerbers zurück. Und diese ist in Wahrheit ausschlaggebend gewesen: die Wahl ist nicht Parteisache – denn politische Parteien in unserem Sinne hat es nicht einmal in den letzten Zeiten der Republik, geschweige denn im alten Rom gegeben –, sondern Sache des persönlichen Wertes des Bewerbers, der gemessen wird an seiner Schulung und seiner Bewährung. Innerhalb der hierdurch gezogenen Grenzen hat begreiflicher Weise die Familienpolitik vornehmer und reicher Geschlechter ihren Einfluß ausgeübt; aber immer wieder erkennt man, wie diesem Einfluß zum Trotz doch der Tüchtige sich durchsetzt. Und die Möglichkeit, den Tüchtigen herauszufinden, ist bereits beim ersten Eintritt in die Laufbahn vorhanden: dafür sorgt die vor aller Augen sich vollziehende Vorbereitung; sie ist mit einem Ernste gehandhabt worden, der zu den eigentümlichsten Zügen des römischen politischen Lebens gehört. Zwar der Staat kümmert sich um die Erziehung seiner Beamten so wenig wie um die seiner Bürger überhaupt: er überläßt es jedem Vater, seinem Sohne die Erziehung zu geben, die ihm für dessen künftigen Beruf die richtige erscheint. Ich frage hier nicht nach den Folgen, die das für die römische Kultur gehabt hat; für das politische Leben hat sich dies System bewährt, dank der politischen Einstellung der römischen Seele. „Staatsbürgerkunde“ hat der junge Römer, der zum Staatsdienst erzogen werden sollte, nicht in einigen Schulstunden, sondern als Knabe von seinem Vater gelernt, der eben selbst sich als Staatsbürger fühlt, zumeist selbst Politiker ist; dann aber, indem der Heranwachsende, wie ein Lehrling des Handwerks einem Meister, so irgend einem der politisch hervorragenden Männer als politischer Lehrling beigesellt wurde, hörend und sehend sein politisches Leben mitlebte. Das zweite Stadium der politischen Ausbildung ist der Kriegsdienst: volle 10 Dienstjahre mußte zu Polybios’ Zeit, aus der wir allein genaueres wissen, der aufweisen können, der sich um ein Amt bewarb. In diesem Jahrzehnt wird der angehende Staatsmann nicht nur zum Offizier ausgebildet – er hat ja später als Konsul, vielleicht schon als Prätor, römische Legionen zu führen –; er lernt auch für den innerpolitischen Dienst gründlich, was bekanntlich jeder, der regieren will, gelernt haben sollte: gehorchen. Inzwischen hat er, da er ja nur den Sommer durch im Felde steht, Zeit genug, im täglichen Verkehr auf dem Forum das öffentliche Leben kennen zu lernen und selbst bekannt zu werden, auch sich als 1325

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Redner zu zeigen, indem er etwa in Kriminalprozessen die Rolle des Anklägers übernimmt. Nun erst darf er sich dem Volk zur Wahl stellen: man sieht, wie vielfach er schon bis dahin Gelegenheit gehabt hat, sich persönlich vor einem großen Kreise zu bewähren; es ist ausgeschlossen, daß irgend eine Null durch irgend eine politische Konstellation oder durch eine kleine einflußreiche Gruppe plötzlich auf den Schild erhoben wird. Und die Staffelung der Ämter ist, zunächst durch den Brauch, dann ausnahmslos gesetzlich streng durchgeführt: der Politiker muß nacheinander in der Staatskassenführung, in der städtischen Polizei und Verwaltung, in der Rechtsprechung seinen Mann gestellt haben, ehe er zur höchsten Stufe, dem Konsulat, gelangen kann. Bis dahin aber hat er als Mitglied des Senats wieder jahrelang erst hörend, dann auch aktiv mitwirkend, an den Staatsgeschäften teilgenommen. Man sieht, es war alles darauf angelegt, die Anwärter gründlich sieben zu können, um die tüchtigsten Männer an die leitenden Stellungen zu bringen. Es ist aber nun einer der schönsten Züge im politischen Leben des alten Rom, daß das Volk zu den Männern, die es der Ehre der Magistratur würdigt, auch ein großartiges Vertrauen hat: das ist ja schließlich nichts anderes, als das Vertrauen des Volks auf die Richtigkeit seiner Wahl. Im Gegensatz zu dem von häßlichem Mißtrauen erfüllten Kontroll- und Rechenschaftswesen der athenischen Demokratie steht in diesen Dingen römische Unbekümmertheit: das Volk sieht es als das Normale an, daß seine Magistrate anständige Menschen sind, insbesondere in finanzieller Beziehung, der Bestechung unzugänglich, sicher vor Unterschlagung; und nach dem Zeugnis des Polybius hat noch zu seiner Zeit dies Vertrauen nicht getäuscht. Der großartigste Beweis solchen Vertrauens ist aber wohl das Sittenrichteramt des Zensors, das man viel wunderbarer finden sollte, als es gemeinhin geschieht. Daß ein demokratisches Gemeinwesen einem Beamten das Recht einräumt, politische Degradationen über den zu verhängen, der seiner Überzeugung nach in irgend einer Weise, auch ohne gegen die Gesetze zu verstoßen, die Pflicht des Senators oder Bürgers verletzt hat, und wäre es auch nur durch mangelhafte Sorge um sein Hauswesen, daß dann eine solche zensorische Rüge vom Volk anerkannt wird, das scheint mir ein glänzendes Zeugnis einerseits für die Höhe des Verantwortlichkeitsgefühls und des Gerechtigkeitssinnes, die das Volk seinen Beamten zutraut, andererseits für die feste Entschlossenheit, auf restlose Erfüllung der Bürgerpflicht zu halten, auch über die Anforderungen hinaus, die sich in Gesetzesparagraphen fassen lassen. Der Beamte genießt neben dem Vertrauen des Volks auch einen hohen Grad von Achtung, der seiner Machtstellung entspricht. Als Diener der res publica würde jeder Magistrat sich gern bezeichnen, keiner als Diener des populus: der Unterschied wiegt sehr schwer. Der Magistrat ist eben, wie das römische Wort besagt, ein „Größerer“, „Höherer“ als der gewöhnliche Bürger und wird danach behandelt. Es eignet ihm das imperium – wir müssen, da wir diesen Begriff in seinem eigentümlich weiten Umfang nicht besitzen, das Wort annähernd mit „Befehlsgewalt“ wiedergeben; und wenn auch im Laufe der Zeiten dies imperium immer mehr zu Gunsten der Volkssouveränität geschmälert worden ist, geblieben ist es doch und hat seinen Träger dauernd eine Machtstellung verliehen, um dann im imperium der Kaiser, 1326

Antrittsrede 1921

der imperatores, wieder zu ganzer Größe aufzuleben. Das zum Herrschen geborene Volk hat eben aufs Gehorchen sich meisterlich verstanden. Aber man könnte meinen: was will das alles besagen, da doch der jährliche Wechsel der Magistratur die gesamte Amtstätigkeit eines römischen Politikers auf vier bis fünf Jahre seines Lebens beschränkt. Wo bleibt da vor allem die Stetigkeit des Regiments, die eine Stetigkeit der inneren und äußeren Politik allein gewährleisten kann? Nun man darf zunächst auf römische Verhältnisse nicht die unendliche Kompliziertheit unseres heutigen Verwaltungs- und Regierungsmechanismus übertragen. In einem Staat, der fast allen seinen Gemeinden ausgedehnte Selbstverwaltung zugesteht, der für Kirche und Schule, für Post und Eisenbahnen nicht zu sorgen hat, dessen Steuer- und Finanzsystem nach unseren Begriffen unsäglich primitiv ist – da ist ein jährlicher Wechsel in den hohen und höchsten Beamtenposten selbstverständlich nicht von den schlimmen Folgen, die ein zu rascher Wechsel in diesen Posten für den modernen Staat zu haben pflegt. Sodann: die Beamten führen zwar die Geschäfte; aber regieren tut der Senat: alles gewesene Beamte, lebenslängliche Mitglieder dieser höchsten Behörde, die alles in sich faßt, was Rom an politischer Energie und Weisheit besitzt. Er regiert, nicht kraft irgend eines Staatsgesetzes – denn rechtlich ist er nur eine beratende Körperschaft, an deren Rat der Prätor oder Konsul keineswegs gebunden ist. Und er regiert in Wahrheit trotzdem, einzig kraft seiner Autorität. Auctoritas – das ist wieder ein Begriff römischer Prägung, der in die Seele des Volkes blicken läßt. Wer Autorität ausübt, der hat kein Recht zu befehlen – und niemals würde das freie Volk der Römer einer aus lebenslänglichen Mitgliedern bestehenden Körperschaft ein Befehlsrecht zugestanden haben –; wohl aber ist das Volk bereit, Erfahrung, Einsicht, Klugheit und Wissen, wo sie in einem einzelnen oder wie im Senat in einer Gruppe von Männern verkörpert sind, neidlos und selbstlos anzuerkennen und sich da unterzuordnen, wo es Überlegenheit weiß: im vollen Vertrauen darauf, daß diese Überlegenheit in den Dienst der res publica gestellt wird. Solche Autorität ist kein bequemes Ruhekissen: sie muß immer von neuem sich makellos bewähren, um zu dauern, und der Senat der Revolutionszeit hat seine Autorität verloren, als er sich ihrer nicht mehr würdig erwies; aber niemals, das darf man wohl sagen, hat eine politische Körperschaft ihren Anspruch auf Autorität länger und mit besseren Rechte behauptet als der Senat der guten Zeiten Roms. Lassen Sie mich zusammenfassen, was mir als das wesentliche Ergebnis dieser Betrachtungen erscheint, und was analoge Betrachtungsreihen erweitern, in der Hauptsache aber nur bestätigen würden. Die Römer alter Zeit sind, um auf den Sprangerschen Terminus zurückzugreifen, Machtmenschen, der einzelne wie das Volk als ganzes, und die Macht, nach der sie verlangen, ist anerkanntes Höherstehen, Herrsch- und Befehlsgewalt. Wenn in einem Volk, das als ganzes politisch indifferent ist, einzelne Machtmenschen auftreten, die, um ihren Willen zur Macht durchzusetzen, sich rücksichtslos aller erlaubten und unerlaubten Mittel, der eine gegen den anderen, bedienen, so führt dies notwendig zum Bürgerkrieg, zu innerer Zerklüftung und damit zu äußerer Ohnmacht. In Rom ist der Machtwille jedes einzelnen durch den aller übrigen beschränkt. Das Ziel völkischer Machtfülle, das der äußeren Politik Roms unverrückbar vorschwebte, hat es vor allem dadurch erreicht, 1327

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daß es mit unvergleichlichem politischen Instinkt Freiheit aller Bürger mit freiwilliger Unterordnung zu verbinden wußte. Weil jeder Bürger die res publica als sein höchstes Anliegen empfindet und also selbst bereit ist, in der Not ihr alles zu opfern, ist der Ehrgeiz des einzelnen darauf gerichtet, sein Verdienst um die res publica vom Volke anerkannt zu sehen. Weil aber nicht jeder Bürger sich für geeignet und befugt hält, bei der Leitung der res publica selbst mit Hand anzulegen, überläßt er neidlos das Steuerruder denen, die sich vor seinen Augen als geschickt zu solchem Dienst bewähren, voll Vertrauen darauf, daß sie den Kurs fest und stetig halten und das Schiff auch durch Sturm und Wogen in den Hafen führen werden. Dies Vertrauen war gerechtfertigt: der Beweis ist die Größe Roms. Hochansehnliche Versammelte: Sie werden nicht erwarten, daß ich den Versuch mache nachzuweisen, was etwa wir, bei aller Verschiedenheit der Verhältnisse, für unsere Politik von den alten Römern lernen könnten. Das wäre Sache des Politikers; ich spreche hier nicht als Politiker, sondern einfach als Philolog. Aber es würde Ihnen doch wie eine erkünstelte Zurückhaltung erscheinen müssen, wenn ich nicht zum Schlusse ein Wort von dem sagte, was mir als Deutschem das Herz bewegt hat, während ich den wissenschaftlichen Gedanken nachhing, die ich vor Ihnen entwickelt habe. Ich schweige von dem, worin ich vielleicht nicht Ihrer aller Zustimmung finden würde. Aber in einem, hoffe ich, sind wir doch alle eines Sinnes. Wir wollen kein Volk von Machtmenschen werden, selbst wenn wir es, was gewiß nicht der Fall ist, könnten. Deutschland hat nicht, wie Rom, nach der Weltherrschaft gestrebt, und daß wir in diesem Streben den Weltkrieg entfacht hätten, ist unter allen Lügen unserer Feinde eine der offenkundigsten gewesen. Heute nun gar liegt uns jener Gedanke ferner als je. Aber daran, daß das deutsche Volk kraft seines eingeborenen Wesens zu großen Kulturtaten berufen ist, zur Lösung von Aufgaben, die kein anderes Volk der Erde ihm abnehmen kann, daran haben wir, die wir hier versammelt sind, wohl alle geglaubt, und haben uns diesen Glauben auch durch unser Unglück nicht rauben lassen. Um diese Aufgabe ganz zu erfüllen, bedürfen wir nicht der Herrschaft über andere Völker, wohl aber der Freiheit, die in der Welt der Gegenwart nur dort möglich ist, wo auch soviel politische Größe ist, wie sie der Größe eines Volkes entspricht. Um zu solcher wieder aufzusteigen, bedarf es zunächst eines festen Willens, der getragen wird vom Stolz auf die klar erkannte Eigenart und den Eigenwert unseres Volks; und um diesen Willen durchzusetzen, gibt es nur einen Weg: daß wir endlich das erwerben, was dem römischen Volke als Geschenk in die Wiege gelegt wurde, das Gefühl, ein Volk zu sein und den Entschluß, über unser Sonderwohl zu stellen unsere res publica. ***

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31. Oktober 1922. Rede des abtretenden Rektors Dr. Richard Heinze. Bericht über das Studienjahr 1921/22. Hochansehnliche Versammlung! Kollegen und Kommilitonen! Das Jahr, das seit dem 31. Oktober 1921 verflossen ist, war für unser deutsches Volk wiederum ein Jahr der Trauer und der leider wachsenden Sorge, vielfach der Not. Wir alle, die wir die universitas studii Lipsiensis ausmachen, Dozenten und Studenten, haben das Leid unseres Volkes, auch wo es uns persönlich nicht berührte, doch dauernd als eigenes Leid empfunden, und es ist nicht leicht gewesen, Freiheit und Schwungkraft des Geistes zu bewahren, die unerläßlichen Voraussetzungen ersprießlicher wissenschaftlicher Arbeit. Frohe Feste hat die Universität in diesem Jahre nicht gefeiert; wenn sich ihre Glieder alle zusammengefunden haben, so ist dies zu ernster Besinnung, oder gar zum Ausdruck gemeinsamer Trauer geschehen. Der Gedenktag der Reichsgründung versammelte uns in unserer Wandelhalle; so soll es nach dem Beschluß des Senats fortan alljährlich geschehen. Von den Errungenschaften der großen Zeit Deutschlands ist uns das Reich geblieben; es zu erhalten gegen den Druck von außen und Zersplitterungsgelüste im Inneren, ist eine große, heilige Aufgabe, der auch die Universität Leipzig ihrer alten Tradition getreu, nicht kühl gegenüber stehen kann. Was sonst an diesem Tage unsere Herzen bewegte, hat die Rede des Herrn Kollegen Brandenburg zum Ausdruck gebracht. Am 11. August, dem Jahrestage der neuen Reichsverfassung, beteiligte sich die Universität an der von den städtischen, staatlichen und Reichsbehörden gemeinsam im Festsaal des Rathauses veranstalteten schlichten Gedenkfeier; die einzige Ansprache hatte das Vertrauen aller Beteiligten unserem Kollegen Goetz übertragen, der als Mitarbeiter an dem Werk der Verfassung dazu besonders berufen war. Am 17. Juni flaggte die Universität auf Halbmast, um zu bekunden, daß sie an der Trauer teilnahm, die das ganze deutsche Volk an diesem lange gefürchteten Tage bedrückte, der durch Machtspruch der Sieger ein reiches Stück deutschen Landes von der Heimat löste. Acht Tage darauf traf uns wie ein Blitz aus heiterem Himmel die erschütternde Nachricht von der frevelhaften und sinnlosen Ermordung Walther Rathenaus. Rektor und Kommilitonen begegneten sich in dem Wunsche, durch eine Kundgebung der gesamten Universität ihre Trauer um den Ermordeten und ihren Abscheu vor der verblendeten Tat zu bezeugen. Am 29. Juni hat Herr Kollege Kittel in unserer Wandelhalle diesen Empfindungen in einer ergreifenden, zur politischen Besonnenheit eindringlichst mahnenden Rede Ausdruck verliehen. Dies alles waren zwar Kundgebungen politischer Art, aber sie entsprangen politischen Erwägungen und Gefühlen, die allen Deutschen ohne Unterschied der Partei gemeinsam sind oder gemeinsam sein sollten. Aller Parteipolitik dagegen die Universität fern zu halten, ist, wie 1329

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ich hier mit gutem Gewissen in dieser feierlichen Stunde sage, mein ernstliches Bestreben dies ganze Jahr hindurch gewesen. So wenig es mir in den Sinn kommen kann, die verfassungsmäßig festgelegte Freiheit der politischen Überzeugung und ihrer Äußerung irgend einem Mitgliede der Universität, ob jung oder alt, zu bestreiten, und so erwünscht, ja notwendig es ist, daß Studenten politische Interessen hegen und pflegen, so entschieden habe ich doch, nach links wie nach rechts, darauf gehalten, daß die Gegensätze, die so unvermeidlich entstehen müssen, nicht innerhalb der Universität ausgetragen werden, und daß die Universität auch nicht durch offizielle Teilnahme an irgend welchen politischen Veranstaltungen, die nicht von dem Gesamtwillen des deutschen Volkes getragen werden, ihren neutralen Standpunkt aufgebe. Es ist in dieser politisch erregten Zeit nicht immer ganz leicht gewesen auch alle Kommilitonen von der Notwendigkeit dieses Verhaltens zu überzeugen; sie werden sich mehr und mehr davon überzeugen müssen, daß nur so innerhalb der Universität die Atmosphäre bestehen bleiben kann, deren wir für unsere Arbeit bedürfen. Aus dieser Gesinnung heraus bedaure ich besonders, daß ich, wie ich offen bekennen muß, unbedacht den ersten Anlaß zu einem Ausbruch politischer Leidenschaft gegeben habe, der weite Kreise gezogen hat. Am 1. Mai hatte ich aus eigenem Entschluß, ohne vom Ministerium dazu veranlaßt zu sein, die Beflaggung der Universität, und zwar, wie es seit Jahren bei uns üblich ist, mit der Universitätsfahne, verfügt. Durch ein Versehen der Hilfskräfte war statt ihrer die Reichsfahne gehißt worden, die als einzige Flagge weder zu der ministeriellen Verordnung für die staatlichen Dienstgebäude, noch zu dem Charakter des Feiertages, noch endlich für die sächsische Landesuniversität paßte. Auf mein Geheiß wurde, während noch die feiernde Arbeiterschaft auf dem Augustusplatz versammelt war, die ursprüngliche Anordnung hergestellt. Nicht meine Schuld und, wie genaueste Untersuchung ergeben hat, überhaupt nicht die irgend eines Beteiligten, sondern ein unglücklicher Zufall war es, daß die neu gehißte Universitätsfahne nur bis auf Halbmast heraufging. Es ist begreiflich und auch entschuldbar, daß die Arbeiterschaft, bevor die Aufklärung erfolgte, hierin eine gegen ihre Feier gerichtete Demonstration erblickte. Nicht entschuldbar war es, daß eine Anzahl junger Leute sich durch Einbruch Zutritt in die Universität und auf das Dach verschaffte und die Universitätsfahne herunterriß, die dabei in Stücke ging. Nicht genug aber damit, haben dann noch Scharen von Jugendlichen die Universität stundenlang belagert und unter allen möglichen unsinnigen Vorwänden Einlaß verlangt, bis sie durch die Polizei zerstreut werden mußten. Bedauerlicher noch, als diese Vorfälle selbst, war das Echo, das sie in Stadtverordnetenversammlung und Landtag, sowie in einem Teil der Presse fanden. Ich gehe darüber weg, daß die Darstellung, die der Rektor der Universität von den Vorgängen gab, ohne weitere Prüfung unwahr gescholten wurde; schmerzlicher war mir, daß bei dieser Gelegenheit das Vorurteil weiter sozialistischer Kreise, als sei die Universität ein Hort der finstersten Reaktion, die Studentenschaft der Todfeind der Arbeiterschaft, wieder einmal geflissentlich genährt wurde. Ich halte es für meine Pflicht, in dieser Stunde ein offenes Wort darüber zu reden, und kann nur wünschen, daß es weithin gehört werde. Es kann und soll nicht geleugnet, darf aber auch von keiner Seite der Universität zum Vorwurf gemacht werden, daß Professoren 1330

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und Studenten, soweit sie überhaupt politisch Partei nehmen, in ihrer überwiegenden Mehrzahl den sogenannten bürgerlichen Parteien angehören; das ist die natürliche Folge ihrer Zugehörigkeit zu den sogenannten bürgerlichen Kreisen. Aber ein ganz anderes ist die Frage, ob diese Parteistellung der Einzelnen die Haltung der Universität als solche in Verwaltung und Unterricht beeinflußt. Und da wäre es doch zu wünschen, daß diejenigen, die jenes Vorurteil hegen, sich klar machten, wie klein der Kreis wissenschaftlicher Fächer ist, die Anlaß oder Möglichkeit dazu bieten, im Unterricht politische Fragen zu behandeln oder auch nur zu streifen; und es wäre weiter zu wünschen, daß sie durch eigne Erfahrung sich davon überzeugten; wie auch die wenigen Fächer, für die dies nicht zutrifft, von unseren Dozenten in strenger Wissenschaftlichkeit und politischer Objektivität gelehrt werden. Und was die Verwaltung angeht, so möchte ich den Studenten sehen, der wahrheitsgemäß behaupten kann, daß ihm wegen seiner Zugehörigkeit etwa zu einer sozialistischen oder zur kommunistischen Partei, selbst wenn diese bekannt war, irgend ein Nachteil von amtlicher Seite erwachsen ist. Das gilt von der studentischen Verwaltung in gleichem Maße; ich wünschte auch hier, daß sich jene Vorurteilsvollen durch recht eingehende Nachfrage davon überzeugten, wie unendlich fern es etwa den Beamten der studentischen Fürsorge liegt, nach der politischen Parteistellung derer, die sich an sie wenden, auch nur zu fragen. Wollte man, statt dem Vorurteil blindlings zu folgen, auf die Handlungen der Universität sehen, so würde man sich leicht überzeugen, daß aus diesen nicht feindliche Gesinnung gegen die Arbeiterschaft, sondern im Gegenteil der ernste Wille spricht, die unselige Kluft, die unser Volk in zwei große Heerlager zerspaltet, nach Möglichkeit zu überbrücken. Die Universität hat auf ihre eigne, erst ein Jahr lang in dieser Form bestehende und blühende Volkshochschule, der sich die Arbeiterkreise leider fern hielten, verzichtet und ist am 13. März in der Gründungsversammlung der neuen, ganz wesentlich auf Arbeiterkreise berechneten und von diesen unterstützten Volkshochschule Leipzig als Mitglied beigetreten, in deren Vorstand sie die Herren Kollegen Jacobi und Litt entsandt hat, in der sicheren Erwartung, daß diese Volkshochschule, wie es ihre Satzungen besagen, politisch und religiös durchaus neutral sein wird. Zahlreiche Dozenten haben sich im vergangenen wie in dem laufenden Semester in den Dienst dieses Unternehmen gestellt und, wie ihnen vielfach bezeugt worden ist, das volle Vertrauen ihrer Hörer gewonnen. In losem Zusammenhange erst mit der alten, jetzt mit der neuen Volkshochschule haben Studenten Arbeiterunterrichtskurse begründet, in denen Schulkenntnisse aufgefrischt und erweitert werden sollen; die Teilnahme der Arbeiterschaft ist überraschend groß, wird doch trotz der Kürze des Bestehens schon in diesem Semester mit einer Zuhörerschaft von weit über 1000 gerechnet. Ebenfalls Studenten sind es gewesen, die aus eigner Initiative und in selbstloser sozialer Gesinnung Kinder aus den ärmeren Volksschichten zu Jugendgruppen zusammenfaßten und bei Spiel und Lehre und Wanderung betreuten; dies Unternehmen wird zweifellos noch reichere Früchte tragen, wenn das städtische Jugendamt sich zu einem Entgegenkommen in der Frage der räumlichen Unterbringung entschließen kann. Das akademisch soziale Amt hat sein Bemühen, Verständnis und innere Teilnahme für soziale Fragen in der Studentenschaft zu wecken, auch in diesem Jahre 1331

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fortgesetzt, in seinen sehr stark besuchten Vortragsabenden Redner aller politischen Richtungen zu Worte kommen lassen und mit Erfolg versucht, zu seinen Arbeitsgemeinschaften auch Handarbeiter heranzuziehen. Ich wünsche von Herzen, daß allen diesen jungen Bestrebungen eine glückliche Zukunft beschieden sei; die Universität wenigstens wird, soweit sie es mit ihren eigentümlichen und wichtigsten Aufgaben vereinigen kann, in ihrem Bemühen nicht nachlassen, Handarbeiter und Kopfarbeiter einander näher zu bringen, in ihrer doch schließlich auf das Wohl des Gesamtvolkes gerichteten Arbeit zu einen, und sie kann heute durch meinen Mund nur die schönen Worte bestätigen, die Herr Kollege Wiener aus dieser Gesinnung heraus vor wenigen Wochen in der feierlichen Schlußsitzung der Säkularversammlung deutscher Naturforscher und Ärzte gesprochen hat. Die eigentümliche und oberste Aufgabe der Universität ist und bleibt freilich die rein wissenschaftliche Forschung und Lehre. Dieser Aufgabe vollauf gerecht zu werden, ist ihr heute durch die Ungunst der Zeiten aufs äußerste erschwert. Eine Universität, die sich darauf beschränkt, das Vorhandene nur eben zu erhalten, geht notwendig zurück; und jeder auch geringfügige Fortschritt erfordert heute Mittel in einer Höhe, von der wir uns noch vor wenigen Jahren nicht träumen ließen. Es ist mit wärmstem Dank anzuerkennen, daß Regierung und Volksvertretung auch im verflossenen Jahre, in gerechter Würdigung der von der Universität bisher geleisteten und in Zukunft erwarteten Arbeit, alles getan haben, was in ihren Kräften stand, um die Institute und die der Vermehrung ihrer Mittel ganz besonders bedürftige Universitätsbibliothek auf ihrer Höhe zu erhalten. Es bedeutet heute, um nur dies eine hervorzuheben, viel mehr als in früheren Zeiten, daß die Gelder bereit gestellt wurden, um an der Straße des 18. Oktober auf einem von der Stadt in verständnisvollem Entgegenkommen zur Verfügung gestellten Platz einen großen Neubau für die Frauenklinik zu errichten, nach dessen Vollendung das alte Gebäude für die von der medizinischen Fakultät längst dringend gewünschte selbständige Dermatologische Klinik frei werden wird. Auch bei Berufungen und bei der Abwendung von Wegberufungen hat das Ministerium nach wie vor in dankenswerter Weitherzigkeit seines Amtes gewaltet. Für die neuberufenen Kollegen ist freilich in steigendem Maße die Wohnungsfrage eine Lebensfrage geworden, und es ist trotz aller Bemühungen nicht immer gelungen, diese anders als provisorisch zu lösen. Auch hier ist für die nahe Zukunft wenigstens eine Erleichterung durch das tatkräftige Eingreifen der Regierung zu erwarten; im Vorort Marienhöhe ist der Bau mehrerer Professorenwohnhäuser in Angriff genommen, die, wenn sie auch in erster Linie für den bei Übersiedelung der tierärztlichen Hochschule bevorstehenden Zuzug von Kollegen bestimmt sind, doch auch manchem schon hier weilenden ein schönes Heim bieten werden. Im übrigen wäre sehr zu wünschen, daß auch das städtische Wohnungsamt in Würdigung der Wichtigkeit, die die Wohnungsfrage für das Gedeihen der Universität und damit doch wohl auch für die kulturelle Blüte der Stadt besitzt, die Besonderheit der hier einschlagenden Fälle erkenne und der Universität wenigstens dann nicht Schwierigkeiten bereite, wenn sie in einem ihr selbst gehörigen Gebäude einen neuberufenen Professor unterzubringen wünscht. Aber ich muß noch länger auf solchen äußeren Bedingungen der akademischen Lehrtätigkeit verweilen. Schwer 1332

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lastet die Sorge um das tägliche Leben vor allem auf vielen der unbesoldeten Professoren und der Privatdozenten, die sich einst in der scheinbar sicheren Annahme habilitiert haben, daß sie mindestens bis zur Anstellung aus eigenen Mitteln durchhalten könnten. Das Ministerium hat auch hier durch Erteilung von besoldeten Lehraufträgen vielen geholfen, ohne doch damit aller Not abhelfen zu können. Es wird sich nicht länger umgehen lassen, daß auch bei uns, wie es in anderen Staaten bereits geschehen ist, den unbesoldeten Lehrkräften ein Existenzminimum gesichert werde. Vorerst war es ein Glück, daß ein ungenannter Gönner Ende vorigen Jahres 150 000, und ganz vor kurzem wieder 500 000 M. gespendet hat, die er zum kleineren Teile für bedürftige Studenten, zum weitaus größeren für unbesoldete, vor allem für verheiratete Dozenten bestimmt hat. Ich weiß, daß der Zuschuß aus dieser Stiftung von manchen unter ihnen als Befreiung aus drückender Not freudig begrüßt worden ist. Aber auch die Institute der Universität, nicht zum wenigsten die Bibliothek, haben sich vielfach dankenswertester privater Fürsorge erfreut. Ich bedaure, daß ich es mir versagen muß, schon hier, wie es dann im gedruckten Bericht geschehen wird, mit den Namen der Geber alle die Spenden aufzuführen, die den einzelnen Instituten zugeflossen sind; ich erwähne hier nur, daß im April auf Veranlassung des Herrn Kommerzienrats Schleich aus der Liquidationsmasse der sächsischen Zuckerverteilungsstelle 100 000 M. den juristischen und volkswirtschaftlichen Seminaren zugewendet wurden. Und sodann sei in aufrichtiger Dankbarkeit auch hier die Vereinigung der Förderer und Freunde der Universität genannt; ihr Fonds ist nunmehr, dank vor allem der unablässigen, nicht hoch genug anzuerkennenden Werbetätigkeit des Herrn August Stern, Ehrendoktors der philosophischen Fakultät, auf 7 1/2 Millionen M. angewachsen und sie hat daraus unsere Institute vielfach aufs förderlichste unterstützt, die Universitätsbibliothek reichlich bedacht, insbesondere aber die Drucklegung wissenschaftlicher Werke unserer Dozenten ermöglicht. Ich hoffe, daß die Mitglieder der Vereinigung bei ihrer zweiten Jahresversammlung am 8. Juli den Eindruck gewonnen haben, daß die Universität ihre helfende Tätigkeit nach Verdienst würdigt. Bei dieser Gelegenheit konnte der Rektor den Ehrenbürgern der Universität die für sie neu geschaffene Medaille, ein Werk der Leipziger Künstlerin Fräulein Lotte Mädler, überreichen und zugleich die vom Senate beschlossene Ernennung dreier neuer Ehrenbürger verkünden, der Frau Josefine Liebeskind-Rivinus in Leipzig sowie der Herren Geheimer Kommerzienrat Karl Weichelt in Leipzig und Kommerzienrat Adolf Schinkel in Penig. Hervorragende wissenschaftliche Verdienste haben die Fakultäten auch in diesem Jahre durch Ehrenpromotionen anerkannt, deren die theologische Fakultät 4, die juristische 3, die philosophische 2 vollzogen hat. Der Alfred-Ackermann-TeubnerGedächtnispreis zur Förderung mathematischer Wissenschaften wurde verliehen dem Professor Paul Koebe in Jena. Unser Lehrkörper hat schwere Verluste durch den Tod erlitten. So mancher Kollege wurde uns entrissen, dem Jahrzehnte erfolgreicher akademischer Lehr- und Forschungstätigkeit vergönnt waren; andere wurden dahin gerafft, ehe sie die volle Frucht ihres verheißungsvollen Strebens pflücken durften. Wir gedenken nun der Einzelnen in wehmütiger Trauer und ehrender Erinnerung. 1333

Richard Heinze

Am 24. November schied aus unserem Kreise, schmerzlich noch heute vermißt, Gerhard Seeliger im Alter von 61 Jahren, nachdem er 26 Jahre hindurch erst die historischen Hilfswissenschaften, dann die mittelalterliche Geschichte an unserer Universität vertreten hatte. Wir verloren in ihm einen Forscher, der Gründlichkeit und eindringende Sachkenntnis mit der Gabe einer lebendigen Anschauung vergangener Zustände verband, der auf dem Gebiet der mittelalterlichen Verfassungsund Sozialgeschichte Deutschlands der Wissenschaft die wertvollsten Anregungen gegeben und neue Methoden erschlossen hat; wir verloren in ihm zugleich einen Lehrer von starker Wirkung auf die akademische Jugend, die er zu strenger und hingebender kritischer Arbeit und zum Verständnis für die großen Fragen, die hinter aller historischer Einzelarbeit liegen, zu erziehen verstand. Auch in allen Aufgaben der Verwaltung war er uns ein unermüdlicher Mitarbeiter und Berater von klarem praktischem Blick und nie versagendem Eifer; vorbildlich hat er im Universitätsjahre 1905–1906 das Rektorat bekleidet und seitdem ununterbrochen dem akademischen Senat angehört. Und weit über die Kreise der Universität hinaus hat er, ein Mann von aufrechter deutscher Gesinnung und tätiger Hilfsbereitschaft, kraftvoll und segensreich gewirkt. Am 26. Dezember verlor die Universität eine hochragende wissenschaftliche Größe in Ludwig Hermann Mitteis, einem Gelehrten von eminenter juristischer wie historischer Begabung, der seit 1899 der unsere war und blieb, auch als ihn ehrenvolle Rufe nach Berlin und München lockten. Seine führende Stellung in der Wissenschaft des römischen Rechtes hatte er schon 1891 durch sein „Reichsrecht und Volksrecht in den östlichen Provinzen des römischen Reichs“ begründet; dies Werk hat das Studium des römischen Rechts aus seiner Isolierung herausgenommen und wichtigste Ausblicke auf das griechische, vor allem das gräco-ägyptische Recht gegeben. In nahem Zusammenhange hiermit steht ein zweites großes Verdienst: Mitteis’ Name wird auch unvergessen bleiben als des Begründers der juristischen Papyrus-Forschung, deren Ergebnisse er in dem juristischen Teil der im Verein mit Ulrich Wilcken herausgegebenen „Grundzüge und Chrestomathie der Papyruskunde“ 1912 zusammenfaßte. Lebhaften Anteil hat er ferner an der Feststellung der Interpolationen in den Texten des Corpus Iuris genommen. So war er, wenn irgend einer, berufen zu einer neuen, umfassenden Darstellung des römischen Privatrechts, von der zum Leidwesen aller Beteiligten nur der erste Band erschienen ist. Krankheit und dann der Tod, der den noch nicht 63jährigen entraffte, hat die Vollendung jenes groß angelegten Werkes verhindert. Aber die tiefgehenden Anregungen, die er in seinen Vorlesungen, vor allem in der weit über Deutschlands Grenzen hinaus berühmten Pandektenvorlesung gegeben hat, bleiben unverloren und haben schon jetzt in der Arbeit zahlreicher Schüler die schönsten Früchte gezeitigt. Am 30. September ging nach kurzem Leiden dahin der ord. Honorarprofessor der Philosophie und Pädagogik Paul Barth, der unserer Gemeinschaft 32 Jahre lang, die volle Hälfte seines Lebens, ununterbrochen angehört hat. Seine weitreichenden und sorgsamen Forschungen waren vor allem einerseits der Soziologie, andererseits der wissenschaftlichen Pädagogik gewidmet. Die umfassenden Werke, in denen er die Ergebnisse dieser Forschungen niedergelegt hat, „die Geschichte der Erziehung“, 1334

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die „Elemente der Erziehungs- und Unterrichtslehre“, die „Philosophie der Geschichte als Soziologie“ haben im Inland wie im Ausland zahlreiche dankbare Leser gefunden. Die Erinnerung der Universität wird aber, wie dem gewissenhaften und wissensreichen Forscher, so auch dem vornehmen, selbstlosen und gütigen Menschen gelten, der sich in den Herzen seiner zahlreichen Schüler ein bleibendes Denkmal gesetzt hat. Am 15. April starb in Tübingen der ao. planmäßige Professor der Chirurgie Hermann Heinecke im 49. Lebensjahre. In ihm hat die deutsche Chirurgie einen durch Begabung, Schärfe und Strenge der Kritik, durch unermüdlichen Fleiß und neue fruchtbare Gedankengänge hervorragenden Vertreter verloren, der auch als akademischer Lehrer auszeichnete pädagogische Veranlagung und ernstes Pflichtgefühl bewährt hat. Eine große Reihe vortrefflicher Arbeiten wird ihm verdankt; seine Monographie über die Verletzungen und Erkrankungen der Speicheldrüse wird von den Kennern zu dem Besten gerechnet, was deutscher Gelehrtenfleiß im Fach der Chirurgie geschaffen hat. Als ein ernster, stiller, in sich zurückgezogener Mann mit besten Charaktereigenschaften wird er im Gedächtnis seiner Fachgenossen ebenso noch lange weiterleben, wie in der Erinnerung seiner zahlreichen, ihn als geschickten und menschenfreundlichen Arzt verehrenden Kranken. Am 17. Juli verschied plötzlich infolge eines Herzschlags der ao. Professor der Chemie und langjährige Vorstand der analytisch-anorganischen Abteilung des chemischen Laboratoriums Conrad Schäfer, vor Vollendung des 48. Lebensjahres, ehe er noch die seinen großen Verdiensten von uns zugedachte planmäßige Professur für anorganische Chemie antreten konnte. Seine Arbeiten, die durchweg dem erfolgreichen Streben nach dem Verständnis einfacher chemischer Vorgänge entsprungen sind, haben die Wissenschaft um eine große Zahl wichtiger Erkenntnisse, vor allem im Bereich der Säuren und Salze bereichert. Er war aber auch ein bei seinen Studenten allgemein beliebter Lehrer, als Kollege hochgeschätzt wegen seiner Objektivität, Gleichmäßigkeit, Zuverlässigkeit und vor allem wegen des hohen Adels seiner Gesinnung. Sein zu früher Tod wird von allen, die ihn kannten, aufs schmerzlichste beklagt. An der Schwelle reifen Mannesalters wurde uns am 14. Dezember durch tückische Krankheit der planmäßige ao. Professor für Arbeitsrecht und deutsche Rechtsgeschichte Heinrich Glitsch genommen. Als Schweizer Bürger in der deutschen Kolonie Sarepta im Gouvernement Saratow 1880 geboren, hat er sich schon als Student aus seiner Heimatstadt nach Deutschland gezogen gefühlt und vor 10 Jahren an unserer Universität habilitiert; die Professur hat er zum Leidwesen seiner Fakultät nicht volle drei Jahre bekleiden dürfen. Seine scharfsinnigen und gründlichen Arbeiten galten vor allem der älteren Geschichte des schweizerischen und deutschen Strafrechts und Gerichtswesens. Ein feiner Gelehrter von schlichtem Sinn, von wohltuend ausgeprägter alemanischer Eigenart ist in ihm dahingegangen. Robert Wengers schmerzlich überraschender Tod, der am 20. Januar den hochbegabten Mann in der Blüte des Lebens, noch nicht 36jährig, ereilte, hat große Hoffnungen zu nichte gemacht. Nachdem sich Wenger, ein Lothringer deutschen Stammes und deutscher Gesinnung, schon in den Jahren 1909–12 als Leiter der 1335

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deutschen geophysikalischen Station in Teneriffa bewährt hatte, wurde er Assistent am neugegründeten hiesigen geophysikalischen Institut bei Professor Bjerknes, habilitierte sich 1915 und wurde nach seines Lehrers Weggang dessen Nachfolger in der Direktion des Instituts, erst als ao., seit 1920 als ordentlicher Professor. Er erkannte früh die Bedeutung der Bjerknesschen Methoden für die Meteorologie und leistete seinerseits auf diesem Gebiet hervorragende Forscherarbeit. Er war im Begriff, sein durch den Krieg schwer geschädigtes Institut zu neuer Blüte zu bringen, als ihn der Tod mitten aus vielverheißender Arbeit und aus eben erst begründetem häuslichem Glück abberief. Dieser langen Verlustliste unserer im Amt verstorbenen Kollegen reiht sich endlich der verehrte und geliebte Name Karl Boysens an. Am 16. April, dem Ostersonntag, zwei Monate nach seinem 70. Lebensjahre, erlag er der Krankheit, der seine kräftige Natur lange widerstanden hatte. Von 1906–21 hat Boysen an der Spitze unserer Universitätsbibliothek gestanden, hierher berufen in reifem Mannesalter, nachdem er sich in Göttingen und Marburg die Sporen verdient, in Berlin und Königsberg als Meister seines Fachs gewirkt hatte. Er gehört zu der Generation von Männern, die dem bibliothekarischen Beruf nach seiner Verselbständigung durch ihre vorbildlichen Leistungen erst zur rechten Vollwertigkeit verholfen haben; in der Geschichte unserer Bibliothek wird er, der sachkundige und geschäftskundige, unermüdlich sorgende und bis zur Aufopferung pflichteifrige Verwalter ihrer Schätze, der als Forscher selbst bewährte Förderer wissenschaftlicher Arbeit, einen Ehrenplatz behaupten. Wer ihm näher gestanden hat, wird sich zeitlebens erquicken und stärken an dem Gedächtnis seiner Güte und Treue, seiner schalkhaft spielenden Laune und schließlich seines mit mannhaft heiterer Ergebung getragenen Leidens. Durch Berufung nach auswärts haben wir aus dem Kreise der Ordinarien glücklicherweise nur einen, und auch ihn nicht ganz verloren. Herr Kollege Ihmels hat am 1. Oktober das Amt des ersten Landesbischofs der evangelisch-lutherischen Kirche von Sachsen in Dresden angetreten, aber er bleibt zu unserer Freude als ord. Honorarprofessor der theologischen Fakultät erhalten. Vier Kollegen sind nach Erreichung der Altersgrenze in den sogenannten Ruhestand getreten, aus der juristischen Fakultät der ord. Professor Victor Ehrenberg, aus der philosophischen der ao. Professor Scholvin und die ord. Professoren Sievers und Partsch. Unser Dank und unsere herzlichen Wünsche begleiten sie in ihr otium; aber wenigstens von den beiden letztgenannten, die in Leipzig verbleiben, hoffen wir zuversichtlich, daß sie der Lehrtätigkeit, in der sie Jahrzehnte hindurch Triumphe gefeiert haben, noch manches Jahr lang nicht gänzlich entsagen werden. Bei der Wegberufung jüngerer Kollegen überwiegt dem Bedauern über ihren Verlust die Freude an dem Gewinne, den ihnen selbst der Eintritt in einen größeren Wirkungskreis bedeutet. Unsere Universität kann im Grunde stolz darauf sein, daß die Zahl dieser Verluste verhältnismäßig groß gewesen ist. Es wurden berufen aus der theologischen Fakultät der ao. Professor Baumgärtel als ordentlicher Professor nach Rostock, aus der philosophischen als Ordinarien die ao. Professoren Martini nach Prag, Buder nach Greifswald, Hartmann nach Königsberg, die Privatdozenten Muß nach Rostock, Oertel nach Graz, Freyer nach Kiel, ferner der Privatdozent 1336

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Stark als Extraordinarius nach Freiburg i. B. Wir sind selbstlos genug, um ihnen allen herzlich zu wünschen, daß sie in ihrer neuen Heimat Leipzig nicht allzusehr vermissen mögen. Die Lücken, die in diesem oder schon im vorigen Universitätsjahre entstanden sind, wurden durch zahlreiche Berufungen oder Beförderung ausgefüllt. Die theologische Fakultät gewann als ordentlichen Professor der alttestamentlichen Wissenschaft Albrecht Alt, bisher in Halle, der freilich, auf ein Jahr nach Jerusalem beurlaubt, sein Amt erst zu Ostern antreten wird, und aus Greifswald den ordentlichen Professor der systematischen Theologie Karl Girgensohn, der zugleich als zweiter Universitätsprediger neben unseren nunmehr ersten Universitätsprediger Kollegen Rendtorff trat; als ao. Professor der neutestamentlichen Wissenschaft Albrecht Oepke, bisher theologischer Lehrer am Missionsseminar. Die Juristenfakultät berief aus Breslau als Ordinarius des deutschen Rechts und Handelsrechts Paul Rehme, als planmäßigen ao. Professor aus Münster Erich Molitor. Als Nachfolger unseres unvergeßlichen Kollegen Thiemich kam aus Breslau der Ordinarius für Kinderkrankheiten Georg Bessau, und mit Beginn dieses Jahres trat der schon im vorigen berufene Ordinarius der Gynäkologie Walther Stöckel sein Amt an. Endlich ergänzte sich die philosophische Fakultät durch Berufung der Ordinarien Leon Lichtenstein aus Münster für Mathematik, Wilhelm Ruhland aus Tübingen für Botanik, Alexander Hoffmann aus Darmstadt für Privatwirtschaft, Albert Werminghoff, den leider Krankheit noch in Halle festhält, für neuere Geschichte und Wilhelm Volz aus Breslau für Geographie; unser Kollege Friedrich Neumann rückte als Sievers’ Nachfolger in das Ordinariat für Germanistik ein; der Königsberger Privatdozent Georg Gerullis wurde an Scholvins Stelle ao. Professor für slavische und baltische Sprachen. Neu begründet und durchweg mit hiesigen Kollegen besetzt wurden erfreulicherweise eine ganze Anzahl von Ordinariaten und planmäßigen Extraordinariaten. In der medizinischen Fakultät wurden zu Ordinarien ernannt die bisherigen Extraordinarien Barth für Nasen- und Ohrenheilkunde, Kockel für gerichtliche Medizin, Kölliker für Chirurgie, zu planmäßigen Extraordinarien die Professoren Aßmann für physikalisch-diätetische Heilmethoden und Sonntag für Chirurgie. In der philosophischen Fakultät rückten zu Ordinarien auf die bisherigen Extraordinarien Moll für Nationalökonomie, Conrady für ostasiatische Sprachen, Golf für Tierzuchtlehre und koloniale Landwirtschaft, ferner der Privatdozent Dieterich zum planmäßigen Extraordinarius für Byzantinisch und Neugriechisch zu ordentlichen Honorarprofessoren der bisherige ao. Professor Böttger für analytische Chemie, sowie die bisherigen Privatdozenten Kirschmann für Philosophie und Braun für germanische Philologie. Zu außerplanmäßigen Extraordinarien wurden befördert die Privatdozenten in der medizinischen Fakultät Goldschmidt, Doerner und Seyfarth. Einen beträchtlichen Zuwachs an jungen Lehrkräften konnten wir auch in diesem Jahre mit Genugtuung verzeichnen. Es habilitierten sich für Strafrecht Dr. Gotthold Bohne, für innere Medizin Dr. Johannes Weicksel, für Psychiatrie und Neurologie Dr. August Boström, für Anatomie Dr. Eduard Jacobshagen, für Dermatologie Dr. Walter Oelze, für Philosophie Dr. Hans Volkelt, für Ägyptologie Dr. Hermann 1337

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Kees, für Chinesisch und ostasiatische Religionsgeschichte Dr. Friedrich Weller, für Zeitungskunde Dr. Walter Schöne, für Mathematik Dr. Ludwig Neder, für indogermanische Sprachwissenschaft und Sanskrit Dr. Walter Porzig, endlich für Botanik Dr. Fritz Bachmann. Möchten sich diesen jungen Gelehrten, die wir herzlich in unserem Kreise begrüßen, alle Hoffnungen erfüllen, mit denen sie die Schwelle des akademischen Lehramts überschritten haben. Es verzichteten auf die venia legendi die Privatdozenten Dr. Menke-Glückert und Dr. Schüller. Ein Privatdozent der philosophischen Fakultät musste aus unserer Gemeinschaft, als ihrer unwürdig, ausgestoßen werden. Als Lektor des Schwedischen wurde Magister Einar Törnqvist angestellt. Aus den wissenschaftlichen Beamten der Universitätsbibliothek schieden durch Rücktritt aus die Oberbibliothekare Professor Zarncke und Dr. Günther; zum Oberbibliothekar und Stellvertreter des Direktors wurde Bibliothekar Dr. Sickel ernannt; innerhalb der übrigen Herren fanden Beförderungen in größerer Zahl statt. Bibliothekar Dr. Hilliger wurde an Stelle von Professor Zarncke Vorsteher des Münzkabinetts. Bei allen diesen Personalveränderungen war so lange zu verweilen, daß ich befürchten muß, im Rest der verfügbaren Zeit nicht alles erschöpfen zu können, was ich über unsere Studentenschaft sagen sollte und möchte. Ich möchte sehr vieles, denn ich könnte fast nur Erfreuliches berichten; die freilich nicht geringen Sorgen, die uns die Studentenschaft bereitet hat, sind Sorgen, an denen sie selbst unschuldig ist. Denn die Aufrechterhaltung der akademischen Disziplin hat man uns so leicht gemacht, daß ich sie unter die Sorgen nicht rechnen kann. Angesichts der drückenden Not der Zeit kann es verwundern, daß die Zahl unserer Studierenden in diesem Jahre nur unerheblich zurückgegangen ist. Sie betrug im Wintersemester 5660 gegen 5793, im Sommersemester 5531 gegen 5619 des Vorjahres. Auch das laufende Semester wird schwerlich eine erhebliche Verminderung aufweisen; denn wenn auch am gestrigen Tage die Zahl der Inscribierten erst 5347 betrug, so ist doch in der ersten Novemberwoche erfahrungsgemäß noch eine beträchtliche Erhöhung zu erwarten. Allerdings ist eine Verschiebung der Studienrichtung, namentlich in der philosophischen Fakultät unverkennbar: wenn diese schon heute fast die Frequenz des vorigen Winters erreicht hat, so verdankt sie das der außerordentlichen Zunahme des Studiums der Nationalökonomie, nächst dem Landwirtschaft und Chemie stark bevorzugt sind: also Studien, die ganz überwiegend der Vorbereitung auf einen praktischen Beruf dienen. Viel weniger als man erwarten sollte, ist das Studium der Medizin zahlenmäßig zurückgegangen, hat sich sogar gegenüber dem Sommer jetzt schon gehoben; aber hier fällt allerdings unter den Anfangssemestern die große Zahl der Ausländer stark ins Gewicht. Solange unsere deutschen Studenten hierdurch nicht benachteiligt werden, kann die Universität diesen Zuzug aus der Fremde nur begrüßen, namentlich aus Ländern wie Griechenland und Bulgarien, in denen Deutschland, die deutsche Wissenschaft und insbesondere die Universität Leipzig seit Alters über einen Schatz von Sympathie verfügt, den wir nicht verscherzen dürfen: die Freunde Deutschlands sind im Auslande ja leider nicht allzu zahlreich, und ein ablehnendes Verhalten gegen die uns aufsuchenden Ausländer würde nur der namentlich von französischer Seite aufs 1338

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eifrigste und mit gewaltigen Mitteln betriebenen feindlichen Kulturpropaganda zugute kommen. Eine große Anzahl unserer Kommilitonen hat wiederum die Studien mit der Erwerbung eines akademischen Grades abgeschlossen. Die theologische Fakultät creierte 2 Licentiaten, die juristische Fakultät 174 Doktoren, die medizinische deren 150, dazu 90 der Zahnheilkunde, die philosophische 178, dazu 60 Doktoren der Staatswissenschaften. Von der Not unserer Studentenschaft ist in der Öffentlichkeit viel die Rede gewesen; aber wenn jemand behaupten wollte: zu viel, so würde ich entgegnen: noch viel zu wenig, und noch längst nicht eindringlich genug. Statistische Erhebungen haben festgestellt, daß 84 % unserer Studenten über einen Wechsel verfügen, der unter dem amtlich angenommenen Existenzminimum bleibt; so bedarf es wohl, um meine Behauptung zu begründen, keiner Worte mehr. Es kann in der Tat nicht oft genug und nicht laut genug wiederholt werden, daß die Schichten unseres Volkes, aus denen sich die akademischen Berufe bisher vorwiegend rekrutierten, nicht mehr in der Lage sind, ihren Söhnen durch die Jahre des Studiums hindurch den kärglichsten Lebensunterhalt zu gewähren. Und doch sind es dieselben Schichten, auf die wir noch auf lange hinaus rechnen müssen, wenn Deutschland nicht als geistige Weltmacht abdanken will. Die Erkenntnis dieser Gefahr ist erfreulicherweise in der Zunahme begriffen; das bezeugen die zahlreichen opferwilligen Helfer, die in unserem noch leistungsfähigen Bürgertum den Studenten erstanden sind. Ich würde gern ihnen allen hier durch Namensnennung bezeugen, wie dankbar ihnen die gesamte Universität ist; aber ich muß mich hier aufs äußerste beschränken. So berichte ich nur, außer jener schon früher erwähnten großen Spende, daß die Firma Stöhr & Co. 30 000 M., die Mechanische Flachsspinnerei Meyer & Co. in Wiesenbad 25 000 M., die Firma Riebeck & Co. in Leipzig 20 000 M. für studentische Fürsorge spendete; über 200 000 M. sind der Studentenschaft vom Deutschen Roten Kreuz zugeflossen, und durch das Rote Kreuz wiederum eine Spende des Dr. Lieber in New-York von 1 000 000 M.; der deutsche und österreichische Hilfsverein Capstadt sandte 23 000 M., aus Peru kamen von ungenannter Seite, vermutlich auch einem Deutschen, 100 000 M. Aber auch nichtdeutsche Ausländer haben hochherzig der Not deutscher Studenten zu steuern gesucht; so sind uns durch Vermittelung des Herrn Kollegen Ihmels vom dänischen kirchlichen Laienbund und von Kopenhagener Kollegen erhebliche Summen zugegangen. Über 100 000 M. betrug die Beisteuer der Europäischen Studentenhilfe. Die sehr beträchtliche Spende des Papstes für lungenkranke Studierende ist auch zahlreichen Leipziger Kommilitonen zugute gekommen; dabei hat sich das unter Leitung unseres Kollegen Woltereck stehende Deutsche Fürsorgebüro große Verdienste erworben, das auch in anderen Krankheitsfällen durch unentgeltliche Gewährung angemessener Kost wertvolle Hilfe leistet. Leipziger Bürger haben sich an der vom Regierungsrat Dr. Köhler geleiteten Vereinigung für Familienfreitische und in der Vereinigung für Wohnungswesen durch Spenden oder durch Gewährung von Freitischen und freien oder doch sehr billigen Wohnungen aufs dankeswerteste beteiligt, und eine Dame aus der Kollegenschaft, Frau Professor Spalteholz, hat durch unermüdliche Werbetätigkeit mehrere hunderttau1339

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send Mark aufgebracht, um bedürftige Studenten mit Büchern, Kleidern, Nahrungsmitteln zu versorgen. Dank den zahlreichen Spenden und dank den beträchtlichen Zuschüssen, die das Ministerium geleistet hat, ist es u. a. möglich gewesen, zahlreiche Freistellen oder Preisermäßigungen am studentischen Mittagstisch zu gewähren, ihn auf der alten Höhe der Leistungen und auf verhältnismäßig niedriger Höhe der Preise zu erhalten. Aber mit den verfügbaren Geldern wäre doch hier nicht entfernt das gleiche zu erreichen gewesen, wenn nicht Frau Geheimrat Förster und Frau Geheimrat Zimmern auch in diesem Jahre wieder ihre selbstlose Arbeit in den Dienst des segensreichen Unternehmens gestellt hätten; die Opfer an Zeit und Kraft, die beide Damen gebracht haben, kann der ferner Stehende kaum ermessen, der Eingeweihte nur mit Bewunderung und wärmstem Danke anerkennen. Aber auch ehrenamtliche studentische Hilfsarbeit, insbesondere die überaus eifrige Tätigkeit des stud. pharm. Mothes, Vertreters der Studentenschaft im Mittagstischausschuß, hat viel zur Verbilligung der Speisung beigetragen. Im Sommersemester aßen täglich etwa 1100 Studenten mittags und 700 abends für den Preis von 6,50 M. und 5,50 M. In diesem Semester freilich mußte trotz aller vorsorglichen Einkäufe, bei denen nicht wenige Lieferanten freundlichstes Entgegenkommen gezeigt haben, auf 30 M. für das Mittagsessen heraufgegangen werden, und mit schwerer Sorge sehen wir der weiteren Entwickelung entgegen. Auf dem Konvikt, dem alten Stolz unserer Universität, das sich im vorigen Semester der Kostenersparnis wegen mit dem Mittagstisch vereinigt hat, lastet gleiche Sorge; reichen doch die Zinsen der Stiftungsgelder nicht entfernt mehr aus, um den Stiftungszweck zu erfüllen. Schon hatten wir uns schweren Herzens entschließen müssen, den größten Teil der auf privaten Stiftungen beruhenden Freistellen einzuziehen; da traf heute die befreiende Nachricht ein, daß Herr Professor Morehead in Amerika, Ehrendoktor unserer theologischen Fakultät, diese Gefahr vorerst durch eine Spende von 300 000 M. abgewendet hat. Ähnlich schwere Sorge wie die Ernährung bereitet die Unterkunft der Studenten, da auch hierbei die Preise eine für die Mehrzahl kaum mehr erschwingliche Höhe erreicht haben; zwar ist es in diesem Semester gelungen, in freistehenden Räumen des Lehrerseminars Connewitz 40 Studenten gegen sehr geringes Entgelt unterzubringen; aber was will diese Zahl gegenüber der Menge der noch unversorgten besagen. Und wenn selbst Wohnung geschafft ist, wird es nur zu vielen an Kohlen fehlen, um die Wintermonate hindurch zu Hause arbeiten zu können. Der schöne Plan eines neu zu erbauenden Studentenheims scheint leider noch lange der Erfüllung harren zu sollen. Erfreulich ist es, daß vornehmlich dank der Spende eines Ungenannten und dank der tatkräftigen Hilfe, die eine auch sonst um unsere Studentenschaft sehr verdiente amerikanische Dame, Fräulein Knoch, leistete, unter Führung unseres Kollegen Kittel sowie einiger Damen aus unseren Kreisen in einem der Universität gehörigen Hause ein behagliches Tagesheim für Studentinnen eingerichtet und am 21. Januar eröffnet werden konnte, das seitdem mit großem Danke benutzt wird. Aller dieser Not gegenüber hat aber unsere Studentenschaft, zu ihrem Ruhm sei es gesagt, die Hände keineswegs in den Schoß gelegt. Die wirtschaftliche Selbsthilfe unserer Studenten ist im vergangenen Jahre kräftig emporgewachsen. Nicht nur, 1340

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daß die Einzelnen für sich die verschiedensten Verdienstmöglichkeiten in aller erdenklichen praktischen Arbeit gesucht und gefunden haben, es ist auch durch eine vortrefflich funktionierende Organisation dafür gesorgt, daß solche Arbeit vom studentischen Amte nachgewiesen und vermittelt wird; ein akademisches Dolmetscher- und Übersetzungsbüro hat überraschend schnell Wurzel gefaßt und schöne Erfolge erzielt; eine studentische Druckerei ist eingerichtet und reichlich beschäftigt; eine naturwissenschaftliche Werkgemeinschaft gibt eine naturwissenschaftliche Korrespondenz heraus und betätigt sich mit Gewinn auch für die eigene Ausbildung in einer Lehrmittel- und Präparatenwerkstatt; die Einrichtung eines Schreibmaschinenbüros ist im Werke. In allen diesen und manchen nicht genannten Betrieben sind es fast ausnahmslos Studenten gewesen, die die Initiative ergriffen haben und die größtenteils ehrenamtlich die erforderliche Verwaltungsarbeit in mühsam abgesparten Nebenstunden leisteten; vollauf und mit ganzer angespannter Kraft beschäftigt ist freilich der oberste Leiter des studentischen Fürsorgeamts, das im Winter dem stud. philos. Reps, im Sommersemester dem stud. germ. Thieme unterstanden und stets im besten Einvernehmen mit Herrn Kollegen Körte, dem vom Senat bestellten „Fürsorgedirektor“ gearbeitet hat. Ich bekenne, daß die Beobachtung und gelegentlich auch die Unterstützung dieser studentischen Arbeit zu den größten Freuden meines Rektorjahres gehört hat; hier wurden Leistungen vollbracht, an die wir als Studenten uns nicht herangetraut hätten. Aber freilich ist auch dieses aufopfernde Ringen der Selbsthilfe, wenn es dauernd volle Frucht tragen soll, auf das angewiesen, was der Student bei aller Aufopferung nicht schaffen kann: auf Kapital. Und so erhebt sich auch hier wieder drohend das Gespenst der Not in dem kommenden Winter. Mehr und mehr scheint sich unter den Kommilitonen die Erkenntnis durchzusetzen, daß gegenüber den wirtschaftlichen Aufgaben der studentischen Organisationen die hochschulpolitischen, die nach dem Kriege im Vordergrund standen, zunächst zurückzutreten haben. Stark mitgewirkt hat die bedauerliche Spaltung, die durch politische Meinungsverschiedenheiten in die Gesamtorganisation hineingetragen worden ist. Die einst mit so stolzen Hoffnungen auf einheitliche Zusammenfassung aller Kräfte begründete „Deutsche Studentenschaft“ ist auseinandergebrochen, und es fragt sich, ob sie sich sobald wieder zusammenschließen wird. Sehr bedauerlich wäre es, wenn unter dieser Spaltung auch die einheitliche Vertretung der deutschen Studentenschaft gegenüber den ausländischen litte. Gerade in diesem Frühjahr hatte das studentische Auslandsamt, das aus Leipzig nach Göttingen übergesiedelt ist, einen schönen Erfolg zu verzeichnen: vom 8. bis 10. April hat in den Räumen unserer Universität unter dem Vorsitz des Leiters des Auslandsamtes Walter Zimmermann eine internationale Studentenkonferenz getagt, die, im Gegensatz zur Confédération internationale des étudiants, sich auf politisch durchaus neutralen Boden stellte und mit sachlicher Ruhe namentlich Austauschfragen verschiedenster Art behandelte. Aus den hier gegebenen Anregungen kann sehr Gutes erwachsen; aber die deutsche Studentenschaft wird daran nur Teil haben, wenn bei ihr wenigstens in necessariis unitas herrscht. Unser Leipziger Allgemeine Studentenausschuß hat, soviel ich beobachten konnte, unter dem Vorsitz des stud. jur. Hellmut Volkmann, dann des stud. jur. Maximilian Burlage, eine durchaus maßvolle und einsichtige 1341

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Haltung eingenommen. Auch seine Beziehungen zu den akademischen Behörden sind, auf gegenseitiges Vertrauen gegründet, durchweg gute, mir persönlich sehr erfreuliche gewesen. Unter den verschiedenen Ämtern des Asta hat sich besondere Verdienste erworben das Amt für Leibesübungen unter stud. Untucht durch energische Propaganda für die Pflege der Turn- und Sportübungen. Die Einführung von Leistungsprüfungen, die auf Grund regelmäßiger Übungen in den ersten Studiensemestern abgelegt und in dem jedem Studenten bei der Immatrikulation eingehändigten Leistungsbuche bescheinigt werden, wird hoffentlich den Erfolg haben, daß schließlich jeder gesunde Student es als moralische Pflicht anerkennt, freudig das für den eignen Körper zu tun, was einst das Einjährigenjahr Vielen gegeben hat. Auch der endlich errungene Besitz einer eignen Universitätsturnhalle, die wir am 14. Februar einweihen konnten, wird gewiß dazu beitragen, die Pflege der Leibesübungen an unserer Universität immer mehr einzubürgern; daß sie schon jetzt in erfreulichem Aufschwung begriffen sind, hat uns das am 12. Juli begangene Turnund Sportfest sowie der am 23. Juli ausgetragene Wettkampf um die Hochschulmeisterschaften vor Augen geführt; es war ein Labsal für Auge und Herz, die jugendlich elastischen Gestalten unserer Kommilitonen und Kommilitoninnen auf dem grünen Plan ihre Kräfte messen und um die Ehre des Sieges wetteifern zu sehen. Und wahrhaft erfreulich, ja erhebend verlief ein anderes studentisches Fest, daß ich doch aus der Zahl der in diesem Jahre begangenen Jubiläumsstiftungsfeste herausheben muß: die 100jährige Jubelfeier unserer seit ihrem Bestehen so eng mit der Geschichte unserer Universität verbundenen Universitätssängerschaft zu St. Pauli. Zumal der feierliche Aktus in dieser Aula am 16. Juli hat wohl, vornehmlich dank der meisterlichen Festrede des alten Pauliners Pfarrer Schultze, in jedem Teilnehmer einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen. Bald darnach haben zahlreiche Pauliner mit anderen Leipziger Kommilitonen auf Veranlassung des studentischen Auslandsamtes im Dienst der europäischen Studentenhilfe eine Sängerfahrt durch Danzig, Lettland und Finnland unternommen, deren musikalische Leitung in den Händen unseres Universitätsmusikdirektors und Paulinerdirektors Professor Brandes lag; sie sind durchweg nicht nur von Studenten, sondern von der Gesamtbevölkerung mit größter Sympathie, zum Teil geradezu enthusiastisch begrüßt und gefeiert worden. Mag dieser neue Erfolg als gutes Omen für das an dieser Stelle eingeweihte neue Säkulum unseres alten und doch so jugendfrischen Paulus gelten. Unsere Aula hat in den letztverflossenen Universitätsferien, gleichfalls aus Anlaß einer Jahrhundertfeier, noch eine festliche Veranstaltung ganz anderer Art gesehen. Vom 18. bis 24. September tagte in Leipzig die Säkularversammlung der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte, ein wissenschaftlicher Kongreß von imposantem Ausmaß, der für die ungebrochene Kraft deutschen Geistes glänzendes Zeugnis abgelegt hat. Am Abend des 18. September hatte Herr Ministerpräsident Buck einen Kreis von Versammlungsteilnehmern zu einem Empfang geladen, für den ihm die Universität gern ihre Räume zur Verfügung gestellt hat. In seinem Auftrage hat dabei Herr Kollege Wiener die hervorragendsten Gäste aus dem Auslande gefeiert, vor allem den jedem Deutschen bekannten, um Deutschland so hochverdienten Dr. Sven Hedin. 1342

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Ich schließe meine Rede, wie es so viele Rektoren vor mir getan haben, mit dem Bericht über den Erfolg der von den Fakultäten ausgeschriebenen Preisaufgaben, an denen sich zu unserer Freude eine größere Zahl von Studenten als in den letzten Semestern versucht hat. Freilich nicht alle mit Erfolg: dem einzigen Bewerber um den Preis der medizinischen Fakultät konnte dieser ebensowenig zuerkannt werden wie den beiden Bewerbern der Preis der zweiten Sektion der philosophischen Fakultät. Wohl aber hat die Juristenfakultät unter drei Bewerbern mit dem ersten Preis ausgezeichnet den stud. iur. Hans Maier, mit dem zweiten den stud. iur. Hans Rosenblatt, und die Aufgabe der mathematisch-naturwissenschaftlichen Abteilung der philosophischen Fakultät hat eine vollauf befriedigende und mit dem ersten Preis belohnte Bearbeitung durch den stud. math. Fritz Mühlig gefunden. Die Preisaufgaben für das neue Universitätsjahr werden am schwarzen Brett bekannt gegeben. Und nunmehr schreite ich zu meiner letzten Amtshandlung. Ich ersuche meinen erwählten und bestätigten Nachfolger, den Professor der Anatomie Hans Held, heranzutreten und sich von mir den Rektoreid abnehmen zu lassen. Sie schwören, daß Sie die Verfassung und die Gesetze der Universität treu und gewissenhaft beobachten und die Pflichten des Ihnen anvertrauten Amtes nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen wollen. – Hiernach verkündige ich Sie, den Dr. Hans Held, als den Rektor der Universität für das Studienjahr 1922/23 und vollziehe an Ihnen nach altem Brauch die feierliche Investitur. Empfangen Sie Hut und Mantel als Zeichen Ihrer freien Würde, die Kette, mit der einst königliche Huld den Leipziger Rektor geschmückt hat, das Siegel der Universität, womit Sie deren Willen rechtlich zu beglaubigen befugt sind, die Statuten, deren Hüter Sie sind, endlich den Schlüssel des Hauses, das Sinnbild Ihrer hausherrlichen Gewalt in diesen Räumen. Und nachdem dies vollzogen ist, freue ich mich, Magnifizenz, der erste zu sein, der Sie mit diesem Ehrentitel begrüßt und Sie zu Ihrer neuen Würde beglückwünscht. Mögen Sie, wenn der heutige Tag sich jährt, dankbar und befriedigt auf den Weg Ihrer Amtszeit zurückblicken. Anhang. Der Universität und ihren Instituten sind außer den in der vorstehend abgedruckten Rede erwähnten noch andere z. T. sehr beträchtliche Schenkungen zugegangen, die hier dankbar verzeichnet seien, mit der Bemerkung, daß die meisten der angeführten Summen zur Zeit, da sie gespendet wurden, erheblich mehr bedeuteten als jetzt. Es stifteten für Zwecke der studentischen Fürsorge 10 513 M. die deutsche und österreichische Mittelstandshilfe durch Herrn Michael Singer; 10 000 M. der Bund deutscher Fabriken feuerfester Erzeugnisse; 2500 M. Porzellanfabrik Friedrich Kästner (Oberhohndorf); 3000 M. Sondermann und Stier, A.-G. Chemnitz; 10 000 M. Herr Geheimer Kommerzienrat v. Borsig (Berlin); 12 000 M. Herr Hering (Holland); 10 000 M. Herr Pikton (England); 10 000 M. der evangelische Verein der GustavAdolf-Stiftung; 4650 M. die Loge Vesta; 5000 M. Herr Nordahn (Hamburg). Die 1343

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Bleichert’schen Kohlenwerke (Neukirchen-Wyhra) erhöhten ihre Patenschaft von 3000 auf 6000 M. Dem studentischen Mittagstisch schenkte die Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft einen Motor; ferner gingen ein als Tischgabe von Kommilitonen 20 470 M. 50 Pfg.; als Ergebnis von Sammlungen durch Frau Geheimrat Förster 10 000 M., Frau Vetter 15 000 M., Herrn Kollegen Kittel 10 000 M.; 100 000 M. spendete der Vaterlandsdank, 10 000 M. der Bund der Landwirte. Dem Psychologischen Institut schenkte für bedürftige Studierende 34 000 M. Frau Dr. med. Geijerstam (Stockholm); 300 M. Herr Eisenbahnarbeiter Pfost (Greiz); dem Germanistischen Institut zur Verteilung an Studierende 25 000 M. eine Gruppe von Deutsch-Amerikanern aus Wisconsin durch Vermittelung des Herrn Professor Dr. Hohlfeld; dem Institut für rumänische Sprache (Druckkostenfonds) 10 000 M. die Herren Meier und Weichelt, 1000 M. Herr W. Rieschel (Liebertwolkwitz); 2000 M. Herr Albert Sußmann, G. W. 5100 M., M. J. 500 M.; dem Slavischen Seminar als Druckkostenunterstützung Herr Dr. Kai Donner (Helsingfors) ca. 82 000 M., Herr Bankdirektor Bruno Meyer aus Reval 25 000 M., Herr Kaufmann Walter Veros aus Reval 11 900 M., Herr Buchhändler Stefan Mágr 2500 M.; dem Kolonialgeographischen Seminar überwies Herr Kollege Hans Meyer Bücher und Lehrmittel im ungefähren Werte von 11 350 M., das Reichsmarineamt Segelhandbücher und Admiralitätskarten im Werte von 1790 M.; das Volkswirtschaftliche Seminar erhielt vom Statistischen Reichsamt in Berlin 110 Bände seiner offiziellen Veröffentlichungen; dem Institut für Zeitungskunde bewies Herr Geheimrat Edgar Herfurth seine fortdauernde Teilnahme durch eine Spende von 30 000 M. Sechs naturwissenschaftlichen Instituten stiftete aus Anlaß seines Geschäftsjubiläums Herr Dr. Fritz König je 5000 M. zur Beschaffung von ausländischer Fachliteratur. Ferner erhielt das Physikalisch-chemische Institut 25 800 M. aus dem Liebig-Stipendienfonds; von zwei früheren Studenten der Hochschule, Herrn Professor A. A. Noyes (V. St. von Nordamerika) und Herr Professor J. G. Donnan (London) Serien von ausländischen Zeitschriften. Dem Mineralogischen Institut gewährte Herr Dr. Jolowicz in Firma G. Fock 45 000 M. als Beihilfe zur Beschaffung der Zeitschrift „Physikalische Chemie“ und schenkte wertvolle Bücher; dem Geologisch-paläontologischen Institut stiftete Herr Hofrat Felix Hübel eine große Platte mit einem weiblichen Ichthyosaurus, die Herren Kommerzienrat Bleichert, Fabrikbesitzer F. Schröder und Verlagsbuchhändler A. Vörster einen Schädel von Bos primigenius aus dem Diluvium der Provinz Sachsen. Der Universitätsbibliothek bewilligte die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft 500 000 M. für Anschaffung von ausländischen Neuerscheinungen; Herr Verlagsbuchhändler Martinus Nijhoff im Haag schenkte über 500 Bände seines Verlags; die Leipziger Verlage Baedeker, Hirzel und Inselverlag setzten ihre Lieferung von Freiexemplaren fort; andere Zuweisungen erfolgten aus unserem Lehrkörper sowie von außerhalb der Universität stehenden Schenkern, an ihrer Spitze Sr. Durchlaucht dem Fürsten von Schönburg-Waldenburg. *** 1344

Hans Held (1866–1942)

31. Oktober 1922. Rede des antretenden Rektors Dr. Hans Held. Befruchtung und Vererbung. Hochansehnliche Versammlung! Kollegen! Kommilitonen! „Befruchtung und Vererbung“ soll das Thema meiner Antrittsrede sein, ein schon oft behandeltes aber unerschöpfliches Thema, das immer im Brennpunkt der Forschung stehen wird. Es berührt die Grundfragen alles organischen Lebens auf der Erde und darf wohl insofern des allgemeinen Interesses sicher sein. Nur wenige und mehr einleitende Worte über den Vorgang der Vererbung. Er ist von Alters her den Menschen bewußt geworden. Und bald müssen sich die Vorstellungen über ihn der Sprache mitgeteilt haben, welche uns von der „Erbsünde“, dem „Erbübel“, der „Erbweisheit“, dem „Erbadel“ usw. erzählt. Im Grunde genommen begegnet das Auge überall dem gleichen Geschehnis. Daß sich musikalische Talente in einer Familie lange Zeit hindurch vererben können, zeigt der Name Bach. Ein gleiches gilt für mathematische, naturwissenschaftliche, technische Talente. Auch die äußerlichen Merkmale des Menschen, seine Gesichtszüge, sein Gang, seine Haltung unterliegen jenem Vorgang in der gleichen Weise. Und wenn man die Pathologen und Kliniker fragt, so erfährt man, daß auch gelegentlich krankhafte Merkmale hierbei festgehalten werden. Die Vermehrung der Finger auf 6, die Verminderung ihrer Glieder auf 2, der Pigmentmangel, die Bluterkrankheit, der Diabetes insipides und weitere Störungen des normalen Lebens werden von den Eltern auf die Kinder vererbt. Es gibt also erblich zähe Merkmale, eine Eigentümlichkeit, welche nicht minder für die Tiere und Pflanzen gilt und hier von den Landwirten und Züchtern ausgenutzt wird, um die Rasse zu verbessern. Die Wissenschaft von der Vererbung und ihrer Gesetze wird immer umfassender und eindringlicher. Die Historiker und Soziologen gehen immer mehr mit vollen Fahnen in ihr Lager über, und bald wird es eine weitgehende Aufgabe der Regierungen sein müssen, die Resultate der Vererbungsforschung zu einer Grundlage für Maßnahmen zu machen, welche das ganze Volk betreffen, um es in rassehygienischem Sinne zu erziehen und in seinner kulturellen Eigenart fremden Völkern gegenüber zu schützen und zu sichern. Lehrstühle für Vererbungsforschung sind zeitgemäßer denn je. Für die Wissenschaft 1345

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erhebt sich die Frage, was liegt dem geheimnisvollen Prozeß zu Grunde, welches ist die Ursache dafür, daß aus dem „Bündel von Merkmalen“, welches ja jedes Individuum ist, gewisse Qualitäten in der Reihe der Generation zurücktreten und verschwinden, um mit einem Male wieder zu erscheinen, oder daß im anderen Fall bestimmte Eigentümlichkeiten oder Talente zu dem Charakteristikum der Nachkommenschaft werden. Gibt es etwa eine Vererbungssubstanz? Die Quelle für alle diese Phänomene ist erst aufgespürt worden, als die Zellenlehre ihren Siegeszug im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts begann und das Problem der Befruchtung aufklärte. Als am Ende des 17. Jahrhunderts die Samenfäden entdeckt waren, wurden sie lange Zeit für Parasiten gehalten und „Samenwürmchen“ genannt. Man hielt das flüssige für das wichtigste, bis der Abt Spallanzani feststellte,

daß das befruchtende Prinzip keine Flüssigkeit sein könne. Er filtrierte, und nun blieb der Erfolg der Besamung aus. Nur feste Teile könnten das wirksame sein. Dann wurden die Samenfäden und die Eier als Zellen definiert. Aber man ließ noch bei der Befruchtung die Samenfäden sich im Ei auflösen und verschwinden. Der wahre Sachverhalt wurde erst 1875 von Oscar Hertwig entdeckt, welcher bei dem sehr durchsichtigen Seeigelei nachwies, daß aus dem eingedrungenen Samenfaden der Spermakern wird, und daß dann dieser mit dem Eikern zu dem ersten Kern des entstehenden neuen Organismus, dem Embryonalkern oder Keimkern verschmilzt. Die Tafel I zeigt einzelne Phasen dieser berühmten Entdeckung. Auf der Figur 1 dringt die Samenzelle oder Spermie in das runde große Ei hinein. Der Schwanzteil geht verloren; der Kopf mit dem strahligen Mittelstück ist in Figur 2 dem Eikern genähert, in der Figur 3 ihm angedrückt und dann in der Figur 4, dem Schlußakt, mit ihm verschmolzen Die materielle Verschmelzung von Ei- und Samenkern ist nach Oscar Hertwig das Wesen der Befruchtung, welche in der Folge, wie die Figur 5 erkennen läßt, den Teilungs- und Vermehrungsprozeß des befruchteten Eies nach sich zieht und den vielzelligen Organismus entstehen läßt. Und da seine immer wieder und gleich1346

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mäßig sich teilenden Zellenkerne alle auf den ersten Keimkern zurückzuführen sind, der aus je einem väterlichen und mütterlichen Anteil zusammengeschmolzen war, so müssen nach Hertwig die Kerne der beiden Geschlechtszellen die Träger der Vererbung sein. So grundlegend auch die Beobachtungen Oscar Hertwigs geworden sind, die nächste Frage sollten sie offen lassen, wie sich im feineren die sogenannte „Verschmelzung“ vollzieht. Sie ist erst 1883 durch Van Beneden gelöst worden, welcher bei der Befruchtung des Pferdespulwurms fand, daß wie auf der Tafel II die Figur 1 zeigt Ei und Samenkern nicht verschmelzen. Beide entwickeln vielmehr – siehe Figur 2 – und jeder für sich feinere schleifen- oder stäbchenförmige Elemente, die sogenannten Chromosomen, im Spermakern schwarz, im Eikern dunkelgrau gemalt. Immer bleiben sie in der Folge von einander getrennt. Und merkwürdig ist, daß ihre Zahl in beiden Kernen stets dieselbe ist, mag sie wie auf Tafel II je eins oder wie bei anderen Tieren bis über 100 betragen. In der Figur 3 werden nun beide Chromosomen, das väterliche wie das mütterliche gespalten, dann in der Figur 4 auseinander bewegt, um schließlich paarweise und dicht neben einander in den Kernen der jungen Tochterzellen der Figur 5 eingeschlossen zu werden. Als dann zur gleichen Zeit Carl Rabl nachwies, daß die Chromosomen jedes Zellenkerns von Generation zu Generation als dauernd getrennte Elemente persistieren, war mit einem Schlage ihre Bedeutung über das individuelle Leben der Zelle hinaus und für die Ableitung der Merkmale des neuen kindlichen Organismus aus denjenigen der Eltern in das hellste Licht gerückt. Noch eine zweite Conzeption knüpft sich an den Namen Van Beneden, die Analyse der eigentümlichen Reifung der Geschlechtszellen. Nur reife Geschlechtszellen können die Befruchtung durchführen. Und reif werden sie, sobald die ursprüngliche und für jede Tierart typische Zahl der Chromosomen auf die Hälfte reduziert worden ist, was durch zwei Reifeteilungen geschieht, welche die Tafel III illustriert. In

der Figur 1 hat die Reifung eben begonnen; es sind die zwei Chromosomen des unreifen Eikerns schon gespalten, sodaß vier entstanden. Von diesen wirft die I. Reifeteilung der Fig. 2 und 3 zwei heraus, und die II. Reifeteilung dann von den zwei im 1347

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Ei der Figur 4 zurückgebliebenen noch eins, das letzte der überflüssigen, sodaß der reife Eikern der Figur 5 nur noch ein Chromosom enthält. Und da die Samenzellen das gleiche durchmachen, so sind Ei- und Spermakern Halbkerne geworden. Bei der Befruchtung vereinigen sie sich, und so wird ein neuer Vollkern geboren, aus dem alle weiteren Zellenkerne des neuen Organismus in erbgleicher Teilung hervorgehen, sodaß sich in ihnen die Mischung von gleichviel männlichen wie weiblichen Chromosomen dauernd erhält. Die Vollkerne sind also Zwitter oder Hermaphroditen. Und wenn die Reifung der Geschlechtszellen als Vorbereitung der Befruchtung in einer Reduktion ihrer Chromosomen auf die halbe Zahl besteht, so hat die Befruchtung selber die bei dieser Reduktion ausgestoßenen Chromosomen zu ersetzen. Ihr Wesen ist ein Ersatz, der auf eine neue Kombination von gleichviel männlichen und weiblichen Chromosomen hinarbeitet und zugleich die elterlichen Eigenschaften auf den kindlichen Organismus überträgt. Dies ist die Lehre Van Benedens. Ist sie eine reine Spekulation, eine mikroskopische Phantasie oder die geniale Konzeption eines der größten Naturforscher? Von einer ganz anderen Seite her, ja als diese Lehre noch gar nicht existierte, hat sie ein biologisch wichtiges Beweismaterial erhalten. Angeregt durch Darwin’s Lehre von der Entstehung der Arten hatte 1865 Gregor Mendel, um ihre Richtigkeit zu prüfen, in großem Stile Kreuzbefruchtungen an verschiedenfarbigen Erbsenarten angestellt und das Verhalten dieser Bastarde einer rot und einer weiß blühenden Art in den folgenden Generationen systematisch verfolgt. Gregor Mendel fand, um unter den vielen von ihm analysierten Merkmalen des Stengels, der Blätter und Blütenstiele, der Blütenfarbe und der Hülsen, der Samenschale und des Samens nur eins und zwar das sinnfälligste genauer zu verfolgen, daß die ganze erste Tochtergeneration ausschließlich rote Blüten zur Welt bringt, ein dominierendes Merkmal, in welchem die weiße Blütenfarbe der anderen Art aufgegangen ist, daß aber, wenn man diese merkwürdig einseitig gewordenen Erbsen weiter züchtet und unter sich befruchten läßt, die nächste Generation sich wieder vielfarbig verhält. Drei Viertel blühen rot und ein Viertel weiß. Es ist also mit einem Male ein verborgen gewesenes großelterliches Merkmal wieder lebendig geworden, ein rezessives, wie es Mendel genannt. In der folgenden Generation ist nun das weitere Verhalten so, daß die rein unter sich fortgezüchteten weißblütigen Erbsen auch weiß bleiben, daß jedoch von den übrigen Blumen nur ein Drittel die rote Blütenfarbe behält, während zwei Drittel sich wieder spalten und zwar nach dem gleichen Zahlengesetz wie bei der ersten Generation. Und so geht es immer weiter. Dies ist die Mendel’sche Spaltungsregel, zu welcher später einige Variationen hinzugekommen sind. Es kann die Dominanz eines Merkmales unvollständig sein. Bei der von Correns studierten Wunderblume z. B., welche ebenfalls eine rot und eine weiß blühende Art umfaßt, trägt – und zwar abweichend von der Angabe Mendel’s – die erste Generation nicht rote, sondern nur rosafarbene Blüten, eine anscheinend gleichartige Mischung der beiden elterlichen Blütenfarben. Auch kann das Zahlengesetz variieren, worauf aber nicht weiter eingegangen werden soll. Die Mendel’sche Spaltungsregel ist das oberste aller Vererbungsgesetze. Denn es gilt von allen Pflanzen und Tieren, bei denen sich solche und ähnlich bedeutungs1348

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voll einseitige Merkmale finden und mit einander kreuzen lassen, wie z. B. die Bänderung oder Bänderlosigkeit der Schnecken, der zackige oder glatte Contour von Blättern, die Farbe der Augen, die Hautpigmentierungen vieler Menschenrassen und zahlreiche andere. Sehr kompliziert wird aber das ganze Ereignis der Mischung und Entmischung vererbter Merkmale bei den sogenannten Di- und Polyhybriden, bei welchen zum Unterschied von den geschilderten Monohybriden, den rot- und weißblühenden Erbsen nicht ein, sondern zwei oder mehr markante Merkmale sich vereinigen und wieder trennen. Auch das Geschlecht gehört zu den Eigenschaften, welche bei der Befruchtung bestimmt und nach dem Spaltungsgesetze vererbt werden. Worauf beruht nun diese Spaltung von Merkmalen, welcher Vorgang spielt sich in den Keimzellen ab, wie verhalten sich die beiden Blütenmerkmale bei der Befruchtung und wie können sie sich wieder trennen, obgleich sie bei der ersten Tochtergeneration in einer einzigen Farbe aufgegangen waren? Die Tafel IV gibt das mikroskopische Bild dieser wichtigen Ereignisse wieder, wie sie Heider schematisch von der Wunderblume entworfen hat. Die erste Reihe zeigt in den Fig. 1 und 2 die beiden verschiedenfarbigen Blumeneltern und jedesmal rechts daneben den Chromosomenbestand ihrer Geschlechtszellen, in welchen der Boveri’schen Theorie von dem Qualitätsunterschied der Chromosomen entsprechend je ein Chromosom in der betreffenden Blütenfarbe1 gemalt ist. Die Figur 3 zeigt die Vereinigung beider Geschlechtszellen in der Befruchtung, und die Fig. 4 das Resultat, die hellrote Mischlingsfarbe der ersten Tochtergeneration. Die zweite und dritte Reihe zeigt die Reifeteilungen der Geschlechtszellen dieser Tochtergeneration an, welche für beide dieselben sind. In der ersten Reifeteilung spalten sich die Chromosomen, legen sich paarweise zusammen und verteilen sich schließlich (am Ende der Reihe) auf die zwei Tochterzellen a und b in der Weise, daß a nur die beiden roten und b die beiden weißblütigen Chromosomen erhält. Nun unterliegen die beiden gebildeten Zellen a und b (siehe 3. Reihe) der II. Reifeteilung, welche nicht mehr die Chromosomen spaltet, sondern nur noch in einfacher Weise auf ihre neuen Tochterzellen verteilt, sodaß jede die halbe Zahl der ursprünglichen Chromosomen als Mitgift bekommt. So sind schließlich die vier reifen Keimzellen der Figur 5 entstanden, von denen immer zwei je ein rotblühendes und zwei je ein weißblühendes Chromosom beherbergen. Vereinigen sich nun diese 2 Arten von Geschlechtszellen zur Befruchtung, so müssen nach der Combinationslehre und der Wahrscheinlichkeitsrechnung und wie die unterste Reihe illustriert 3/4 rot und 1/4 weißblütige Individuen entstehen, und von den 3/4 rotblütigen sind 1/4 dunkelrot und 2/4 hellrot gefärbt. Anders kann es nicht ausfallen, oder es müßten Entwicklungsstörungen bei der Reifeteilung oder bei der Befruchtung der Keimzellen eingetreten sein.

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Anmerkung. Für die Reproduktion ist das „rotblütige“ Chromosom tiefschwarz, das „weißblütige“ dagegen im Umriß angegeben worden.

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So sind also zwei getrennte Wege der Forschung an demselben Ziel zusammengetroffen. Und man kann sagen, daß die Bastardforschung mit ihren Mendel’schen Gesetzen erschlossen hat, daß von den vielen Kernbestandteilen die Chromosomen wesentlich an der Vererbung beteiligt sind. Aber sind sie es ausschließlich, repräsentieren sie die Vererbungssubstanz schlechthin, jenes hypothetische Idioplasma Nägeli’s, wie Oscar Hertwig, Straßburger u. a. gemeint haben? Ist wirklich die Frage nach der Vererbungssubstanz dahin entschieden, daß nur die Kerne der Geschlechtszellen das für die Erhaltung der Art so wichtige Vererbungsmonopol zu verwalten haben? Die Geschlechtszellen sind doch Zellen mit allen Attributen von solchen. Welche Rolle kommt ihrem zweiten Hauptbestandteil, dem Protoplasma zu, welches bei der Eizelle durch die Einlagerung von Dotter mehr oder minder vergrößert erscheinen kann, bei der Samenzelle dagegen erheblich konzentriert worden ist, um ihre Beweglichkeit zu steigern? In dem Problem der Befruchtung hat Boveri zweierlei begrifflich unterschieden, ihr Wesen und den Zweck ihrer Einrichtung in der Natur. Die Qualitäten der Eltern in einem neuen Individuum zu mischen, sei ihr Zweck. Und hierfür diene die Vereinigung der Kerne, in welchen die Chromosomen Vererbungsträger seien, welche alle qualitativ verschieden und den zahlreichen erblich wichtigen Merkmalen entsprechend höchst kompliziert zusammengesetzt wären. Das Wesen der Befruchtung dagegen bestünde darin, das Ei mit seinem neuen Mischungskern zu teilen und so den neuen vielzelligen Organismus entstehen zu lassen. Im Protoplasma der Spermie aber sei das hierfür notwendige Teilungsorgan, das Centrosom, vorhanden. Während es im Ei zu Grunde ginge, persistiere es in der Samenzelle, die es bei der Befruchtung, wie die Tafel 1 zeigt, in das allzu träge gewordene Ei einführe und mit dem neuen Leben der Zellteilung erfülle. Es sind noch weitere Gebilde im Protoplasma vorhanden, welche Boveri unberücksichtigt gelassen hat, die Plasmosomen, und ihr Verhalten ist so merkwürdig, daß es ein neues Licht auf 1350

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den ganzen Prozeß der Befruchtung geworfen hat. Es sind erst neuere Untersuchungen (L. u. R. Zoja, Meves, Held) gewesen, welche – und zwar wiederum an dem Ei des Pferdespulwurms als dem klassischen Objekt der Forschung, die Bedeutung der Plasmosomen weitgehend aufgeklärt haben. Es trifft das Gegenteil der Van Beneden’schen Ansicht zu, wie Tafel V erkennen läßt, auf welcher die Plasmosomen des Eies grau und diejenigen der Samenzelle schwarz gemalt worden sind. Von vornherein steht die Befruchtung unter dem Zeichen der aktivsten Teilnahme des Protoplasmas

beider Geschlechtszellen, deren Vereinigung mit dem Eindringen der Spermie in das noch unreife Ei der Figur 1 beginnt. Ist die Samenzelle wie in Figur 2 eingedrungen, so teilen und vermehren sich alsbald die Eiplasmosomen, das erste Signal, daß die mütterliche Zelle dem Einfluß der Spermie erlegen ist. Dann dringt dieselbe bis in die Mitte des Eies vor und streut nun wie in der Figur 3 den ganzen Vorrat der mitgebrachten väterlichen Plasmosomen aus, die sich in rascher Folge teilen und vermehren und schließlich so dicht dem mütterlichen Protoplasma untermischen, 1351

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daß ein neues Protoplasma, dasjenige des befruchteten Eies wie in Figur 4 zu Stande gekommen ist, in welchem ungefähr gleichviel väterliche und mütterliche Elemente in gleichmäßig enger Mischung enthalten sind. Nun erst folgt die Bildung der Halb- oder Vorkerne mit ihren Chromosomen. Und sind endlich durch das Eingreifen des männlichen Centrosoms und der von ihm herbei geführten Teilung die beiden Tochterkerne mit ihrer zwiefachen Garnitur von väterlichen und mütterlichen Chromosomen gebildet, so ist längst das zugehörige Protoplasma für sie bereit gestellt, der neue Protoplasmaleib der jungen Tochterzelle der Figur 5, welcher aus einer neuen Kombination von väterlichen und mütterlichen Plasmosomen aufgebaut worden ist und ein elementares Gegenstück zu demjenigen ihrer Kerne bedeutet. Sehr klar läßt sich jetzt das Wesen der Befruchtung nach der morphologischen Seite hin auflösen, wenn man die drei Teilprozesse ansieht, die in ihm mit einander konkurrieren. Das erste, was herbei geführt wird, ist die Teilung, Vermehrung und Vermischung der väterlichen und mütterlichen Plasmosomen und zwar zu gleichen Anteilen. Dann folgt die Teilung des väterlichen Centrosoms und schließlich diejenige des befruchteten Eies in zwei Tochterzellen mit ihren Kernen, in welchen und zwar wiederum zu gleichen Anteilen väterliche und mütterliche Chromosomen dicht nebeneinander liegen. Fügt man diesem Bilde die Reifung der Geschlechtszellen im Sinne einer Vorbereitung zur Befruchtung hinzu – nach dem kühnen Schema von Carl Rabl sollen auch die Plasmosomen reduziert werden –, so besteht das Wesen der Befruchtung nicht in einer Verschmelzung, sondern in dem Ersatz einer bestimmten Menge weiblicher (oder mütterlicher) Zellbestandteile durch männliche (oder väterliche). So verschieden nun auch jene drei Teilprozesse der Befruchtung erscheinen mögen, ein wesentliches Merkmal ist allen gemeinsam, die Tätigkeit der Selbstteilung und Vermehrung ihrer feineren zugehörigen Elemente. Es ist die Kontinuität der Substanz, welche das Centrosom – mit Ausnahme des weiblichen alleins – ebenso auszeichnet wie die Chromosomen und Plasmosomen und sie über den Rahmen des individuellen Zellenlebens hinaus von Generation zu Generation mit vitaler Energie sich fortpflanzen läßt. Nur eine in diesem biologischem Sinne kontinuierliche Substanz kann, allgemein gesagt der Träger der Vererbung sein. Und hier ist die Brücke, welche Befruchtung und Vererbung fest miteinander verbindet. Aber nun fragt sich – und damit komme ich zu dem schwierigsten Abschnitt meiner ganzen Ausführungen – welcher biologische Wert jenen 3 Teilgebilden der Zelle inne wohnt, die gewissermaßen „noch elementarere Elemente der lebenden Substanz“ bedeuten wie die Zellen, in denen nur eine besondere Organisation des Lebens überhaupt repräsentiert wird. Gibt es Experimente, welche auf diese Frage zu antworten vermögen? Unter den vielen Versuchen, die Entwicklung des befruchteten Eies abzuändern, mögen die von Oscar Hertwig und seinen Schülern neuerdings angestellten herausgegriffen werden, welche diejenigen von Herbst fortgeführt und ebenso wie diese an der Quelle der Vererbung eingesetzt und die Konstitution der Keimzellen zu beeinflussen versucht haben. 1352

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Behandelt man die reifen Samenzellen des Frosches mit Methylenblau oder Chloralhydrat, welche ihre Beweglichkeit nicht aufhebt, oder setzt man sie oder auch im anderen Fall die Eier der Wirkung der Radiumstrahlen aus, so zeigt sich bei den Embryonen eine gewisse Störung. Die Entwicklung bleibt entweder von einem gewissen Stadium an ganz stehen oder führt zur Bildung von Zwerglarven oder sogar von pathologischen und mißgebildeten Individuen, denen das Gehirn fehlt, oder das Herz verkümmert ist, oder denen eine Bauchwassersucht ein jähes Ende bereitet. Bei intensiverer Radiumbestrahlung werden sogar die Samenfäden so sehr geschädigt, daß der Spermakern seine Rolle bei der Befruchtung nicht mehr durchzuführen vermochte und ausgeschaltet wurde. Es gab eine parthenogenetische d. h. nur vom Eikern inszenierte Entwicklung, Zwerglarven mit entsprechend verkleinerten Zellkernen. Die männliche Keimzelle war zu einem Agens herabgesunken, welches nicht mehr dem inneren Befruchtungsprozeß seinen Stempel eingeprägt, sondern nur noch als allgemeiner Entwicklungserreger gedient hatte. Ob sie, wie O. Hertwig gemeint, nur noch eine physikalische Wirkung ausgeübt hat, so wie es in den Versuchen Bataillon’s das Anstechen des Eies mit einer feinsten Nadel oder nach Mathew das einfache Abreiben mit einem Tuch, oder das Schütteln und Abbürsten (Tichomirow) auch sind, ist nicht sicher zu entscheiden. Vielleicht hat die Substanz der radiumkranken Samenzelle im Ei noch eine chemische Befruchtung herbeigeführt, wie sie in den berühmten Loeb’schen Versuchen das Magnesiumchlorid oder andere Salze gegeben. Wie dem auch sein möge, Oscar Hertwig hat aus seinen Experimenten geschlossen, daß sie für die ausschließliche Rolle der Chromosomen als Vererbungssubstanz sprechen. Aber es ist nicht von ihm gezeigt worden, daß das Radium oder das Methylenblau nur die chromatische Substanz alterieren und das Protoplasma unbeschädigt lassen. Die ganze Argumentation Hertwig’s ist in der Hauptsache eine indirekte und beruht auf drei Beweisstücken: Das erste besagt, daß Ei und Samenkern die einzigen Gebilde sind, welche äquivalente Stoffmengen enthalten und sie zur Bildung des Keimkerns vereinigen. Dies trifft nicht zu. Auch die Plasmosomen der beiden Keimzellen sind sehr bald im befruchteten Ei auf die gleichen Mengen gebracht. Es ist geradezu eines der auffälligsten Phänomene der Befruchtung, daß die anfängliche Differenz der männlichen und weiblichen Plasmosomen durch eine größere Teilungsenergie der männlichen ausgeglichen wird. Dem gegenüber kann die geringere Zahl der Plasmosomen bei der befruchtenden Spermie nur als eine Konzentrierung der Substanz im Sinne der für die Erreichung und Durchbohrung des Eies notwendigen Beweglichkeit aufgefaßt werden. Endlich, für die angebliche Äquivalenz des Chromatins gibt es keine „strenge Gültigkeit“, wie Fick hervorgehoben hat. Denn die gegenseitigen Chromosomen sind ungleich groß. Der zweite Beweis, daß allein die Chromosomen eine „gleichwertige Verteilung der sich vermehrenden Erbmasse“ auf die aus dem befruchteten Ei hervorgehenden Zellen bedingen, trifft ebenfalls nicht zu. Dasselbe läßt sich von den Plasmosomen sagen, wie die Tafel V erkennen läßt. Es bleibt das dritte Beweisstück übrig, daß die „Verhütung der Summierung der Erbmasse“ eine petitio principii sei, und daß ausschließlich die Kerne der Keimzellen es durchführten, indem sie ihre Chromo1353

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somenzahl in der zweiten Reifeteilung auf die halbe Zahl reduzierten. Auch dieser Satz hält einer strengen Kritik nicht statt. Denn es ist keineswegs entschieden, daß es für Plasmosomen keine Rückbildung geben könne, weil sie die Ausstoßung der Richtungskörper nicht besorgt. Sie kann intraplasmatisch erfolgen, so wie es das Reifeschema von Rabl bereits angenommen, oder wie es Duesberg aus der unmittelbaren Folge der beiden Reifeteilungen der Spermatocyten im Hoden abgeleitet hat. Die drei Beweisstücke Hertwig’s sind also nicht zwingend. Und wie alle biologischen Experimente sind auch die seinigen mit ihren trotz der erheblichen Variation der Eingriffsmittel allzu monotonen Entwicklungsstörungen in der Hauptfrage vieldeutig. Wie Hertwig bereits selber hervorgehoben, haben seine Experimente nur den „allgemeinen, uhrwerkartigen Gang der Entwicklung verlangsamen oder zum Stillstand bringen“ können. Genau betrachtet ist dies aber ein mageres Ergebnis, das gerade vom Standpunkt der Kernidioplasmatheorie überraschend wirkt. Wenn die Chromosomen wirklich entsprechend ihrer Rolle als Erbmasse qualitativ verschieden und als Träger aller der vielen Erbeinheiten eine mosaikartig bunte Zusammensetzung aus feinsten und verschiedenwertigsten Merkmalssubstanzen besitzen würden, so hätten die Embryonen jener doch sehr verschiedenartigen Versuchsbedingungen eine mehr elektive Veränderung und ein mehr spezifisches Störungsbild ihrer Entwicklung zeigen müssen. Im Grunde genommen sind die neueren Versuche Hertwig’s nur eine Bestätigung der älteren und einfacheren von C. Herbst, welcher mit Änderungen der Temperatur und der Alkalescenz des Seewassers gearbeitet und gesagt hat: „Unsere Versuche, durch Schädigung der Geschlechtsprodukte die Tätigkeit der letzteren, elterliche Eigenschaften zur Entfaltung zu bringen, in merklicher Weise abzuschwächen, sind sämtlich negativ ausgefallen“. Für die Frage nach der Vererbungssubstanz und ihrem Sitz im Kern sind demnach die Hertwig’schen Versuche nicht entscheidend geworden. Ein neues Experiment mag ihnen hier gegenüber gestellt werden, welches Prof. Kaestner im Anatomischen Institut angestellt hat und die Lokalisation der experimentellen Schädigung zu bestimmen erlaubt. Behandelt man die reifen Spermien des Frosches kurze Zeit mit sehr verdünnten Lösungen von salpetersaurem Silber, so entstehen aus den mit diesen Spermien befruchteten Froscheiern dieselben Bildungen wie nach der Einwirkung von Methylenblau, Radium usw. Untersucht man nun die Höllensteinwirkung auf die Samenzellen, so zeigt sich an den im Licht reduzierten Spermien, daß nur ihr Protoplasma, welches jetzt im mikroskopischen Bild ganz leicht gelblich erscheint, von der Höllensteinwirkung betroffen worden ist. Und untersucht man den Chromatinbestand in den Kernen der betreffenden Embryonen, so erweist er sich als normal. Eine experimentelle Parthenogenese kann also auch nicht mit im Spiele gewesen sein. Das vorläufige Ergebnis des Höllensteinexperimentes ist, daß das Protoplasma an der Vererbung keinen geringeren Anteil besitzt, wie der Kern. Seit vielen Jahren schon steht die Frage nach der Lokalisation der Vererbungssubstanz im Brennpunkt der entwicklungsmechanischen Forschung. Und so wie die Morphologen sind auch die Biologen, welche durch scharfsinnige Experimente die Vererbung aufzuklären versucht haben, in zwei feindliche Lager gespalten. In dem einen gilt die Nägeli-Hertwig’sche Kernidioplasmatheorie als Wahlspruch, und in 1354

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dem anderen heißt es „eine Alleinherrschaft des Kernes gibt es nicht im Leben der Zelle“ (Verworn). Welche Meinung wird den Sieg davontragen? Vor langen Jahren hat bereits Rauber hier in Leipzig in dramatischer Weise versucht, den Kampf zu entscheiden. Er extrahierte an einem eben befruchteten Froschei mit einer eingestochenen feinen Spritze den ersten Embryonalkern und mit einer zweiten Spritze denjenigen eines Kröteneies, um nun beide Spritzen zu vertauschen und jeden Kern in das andere Ei einzuführen. Enthält allein der Kern die Funktion der Vererbung, so mußte sich aus dem Froschei nunmehr eine Kröte und aus dem Krötenei ein Frosch entwickeln. Fragestellung und Versuchsanordnung waren richtig, die Ausführung jedoch zu grob. Und so mußte der Versuch scheitern. Dann ist die Idee der Kreuzbefruchtung in der experimentellen Biologie aufgekommen. Es konnte ja kein Mittel geeigneter erscheinen, um den gegenseitigen Anteil der Eltern in der Nachkommenschaft abzugrenzen, als die Paarung von zwei Individuen mit homologen aber hochgradig differenten Merkmalen. Realisierbar ist sie erst geworden, als Loeb zeigte, daß die Möglichkeit für eine solche heterogene Bastardierung von der chemischen Beschaffenheit des umgebenden Mediums abhängig ist. Erhöht man die Alkalescenz des Seewassers, so gelingt es, die Widerspenstigkeit der betreffenden Geschlechtszellen aufzuheben und sie in der Befruchtung zu vereinigen. Aber es zeigte sich bald, als man den ganzen Prozeß mikroskopisch kontrollierte, daß bei hochgradiger Differenz der beiden Geschlechtszellen keine wirkliche Befruchtung mit einem Zusammenwirken der beiden Kerne, sondern nur eine künstliche Parthenogenese durch die artfremde Spermie ausgelöst wurde. Mehr oder weniger früh werden die väterlichen Chromosomen aus dem Kernteilungsprozeß eliminiert, sodaß die Embryobildung ganz unter den Einfluß des mütterlichen Eikerns gerät, der gewissermaßen für sich allein die Entwicklung inszeniert und eine Larve mit mütterlichen Eigenschaften, einen falschen Bastard, wie er genannt wird, entstehen läßt. Solche Resultate hat es oft gegeben bei den verschiedensten Bastardierungsversuchen. Für die vorliegende Frage können sie keinen entschiedenen Wert beanspruchen. In den Bastardierungsexperimenten, welche Driesch mit verschiedenen Seeigelarten angestellt hat, waren solche Fehlerquellen allem Anschein nach nicht vorhanden. Denn es zeigte sich die Skeletbildung der Bastarde als eine echte Mischung väterlicher und mütterlicher Merkmale, die je nach der Kombination der beiden artverschiedenen Seeigeleltern mehr zu dem Vater oder mehr zu der Mutter hinneigte. Die Kreuzungsprodukte waren also unzweifelhaft echte Bastarde. Zum Unterschied von der gemischten Skeletbildung waren jedoch bei diesen andere Eigentümlichkeiten wie z. B. der Typus der Eifurchung, die Gestalt der sogenannten Blastula, die Zahl der Skeletbildungszellen, die Ausfärbung der jungen Larven stets von rein mütterlichem Charakter, welcher nach Driesch nicht vom Kerne sondern vom Protoplasma des Eies mit großer Wahrscheinlichkeit bestimmt wird. Am eindringlichsten sind die Versuche von Godlewski ausgefallen, welcher Seeigel mit Haarsternen gekreuzt hat, zwei Tierarten, die ungefähr so verschieden sind, wie Hund und Rind. Die bis zum skelethaltigen Pluteusstadium entwickelten Bastarde zeigten alle einen streng mütterlichen Typus, obgleich sie echt waren, obgleich also 1355

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Ei und Samenkern sich in normaler Weise vereinigt hatten, sodaß die väterlichen Chromosomen bei allen Teilungsprozessen mitwirken konnten. Niemals wurde eine Elimination der väterlichen Chromosomen beobachtet, wie sie später Baltzer bei gewissen Seeigelbastarden gefunden hat, sodaß er meinte, es nehme das sich entwickelnde Skelet nur dann einen Mischcharakter an, wenn beide Garnituren elterlicher Chromosomen zusammen wirkten, während rein mütterliche Eigenschaften sich geltend machen müßten, wenn die homologe väterliche Garnitur eliminiert worden sei. Das allgemeine Ergebnis von Baltzer, daß bei der Skeletbildung die Chromosomen die „entscheidende Rolle“ spielten, kann aber nicht stichhaltig sein. Denn es stimmt mit jenem Befund von Godlewski nicht überein, an dem umsoweniger zu zweifeln, als er von Baltzer nachuntersucht und bestätigt worden ist. Es müssen in den Experimenten Baltzer’s unbekannte Faktoren den Ausschlag gegeben haben. Godlewski hat übrigens noch einen kühnen Schritt weiter getan. Die Brüder Hertwig hatten früher einmal gefunden, daß auch Bruchstücke von Eiern entwicklungsfähig sind. So groß ist der Entwicklungsdrang der Natur. Diese Tatsache hat nun Godlewski benutzt, um kernlose Bruchstücke von Seeigeleiern mit Haarsternsperma zu befruchten. Es gab rein mütterlich aussehende Larven, obgleich der mütterliche Eikern von Anfang an aus dem Spiel der Kräfte ausgeschaltet war. Dieses Godlewski’sche Experiment und sein Ergebnis ist das Gegenstück von dem bekannten Versuch Boveri’s aus dem Jahre 1889, welcher einen „geschlechtlich erzeugten Organismus ohne mütterliche Eigenschaften“ proklamierte und wie der Blitz einschlug. Boveri hatte kernlose Bruchstücke von Sphaerechinus mit Echinussamen – Samen einer anderen Seeigelart – befruchtet und Larven mit rein väterlichen Merkmalen gezüchtet. In einer nachgelassenen Schrift vom Jahre 1918 ist nun Boveri, welcher damals ebenso wie heute „alle essentiellen Merkmale des Individuum und der Art durch das Chromatin von Ei- und Samenkern determiniert“ sein ließ, auf sein altes Experiment zurückgekommen. Wie Boveri jetzt angegeben, ist er damals das Opfer einer Täuschung gewesen. Die Bruchstücke waren gar nicht kernlos, sodaß die Wissenschaft jetzt vor einer neuen ebenso großen Schwierigkeit steht: der Kerntheorie nach wäre eine Larve mit gemischten Merkmalen zu erwarten gewesen, und es hatte ein rein väterlich gestaltetes Individuum gegeben, obgleich der Eikern als der Träger mütterlicher Merkmale von Anfang an dabei gewesen war. Zum Unterschied von seiner früheren einseitigen Ansicht lautet nun die hinterlassene Meinung Boveri’s etwas anders. Jetzt hat auch das Eiprotoplasma seine Rolle zugewiesen erhalten. Es bestimmt den ersten Abschnitt der Entwicklung, die allgemeinen Formverhältnisse des neuen Organismus, seine Körperachse und das erste Auftreten der Organanlagen. Auch können alle diese Differenzierungen, meint Boveri weiter, mit beliebigen Chromosomen bewirkt werden. Nun, wenn dies richtig sein sollte, so sind die Chromosomen als Träger bestimmter Merkmale abgesetzt und nur noch mit der Aufgabe betraut, das Protoplasma mit der Entfaltung seiner Organanlagen anzuregen. Aber auch für den zweiten großen Abschnitt der Entwicklung, meint Boveri weiter, bedürfe das Chromatin der Geschlechtskerne immer „eines zu seinen besonderen Eigenschaften richtig abgestimmten Protoplasmas“. Ja noch mehr, es vermöge „eine Seeigelspermie mit einem anderen Seeigelei „nur 1356

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dann“ eine Larve von rein väterlichem Aussehen zu erzeugen, wenn „der mütterliche Eikern die Entwicklung mitmacht“ – eine Wandlung der Anschauung, welche den Kern der Geschlechtszelle nur noch als „Entwicklungsfaktor“ und nicht mehr als „Träger der erblichen Anlagen“ hinstellt. In seinen Zweifeln hat Boveri schließlich noch auf die von ihm und Herbst angestellten Experimente zurückgegriffen, nach welchen das gesuchte Vererbungssubstrat quantitativ zu wirken vermag. Wird z. B. der Protoplasmaleib der Eizelle verringert, indem man einen großen Teil abträgt und dann das kernhaltige Eifragment mit dem Sperma einer anderen Seeigelart befruchtet, so nimmt die Mutterähnlichkeit, die sich an den aus ganzen Eiern gezüchteten Bastarden messen läßt, nicht ab. Aber geht dies Rechenexempel wirklich so einfach auf? Was nützt die gegenseitige Berechnung der Quantität von Kern und Protoplasma, wenn man nicht ausschließen kann, daß die den Kern umhüllende schmale Protoplasmazone keine größeren Valenzen hat? Auch setzt die Zerteilung und Verkleinerung des Eies einen Wundreiz, welcher den kernhaltigen Protoplasmarest in seiner Vererbungsfunktion steigern kann. Daß der Kern das Vererbungssubstrat enthält, geht also aus diesem Versuch nicht unbedingt hervor. Das Quantitätsexperiment von Herbst ist wesentlich anders. Herbst hat, statt das Protoplasma zu verkleinern, den Eikern vergrößert, was gelingt, wenn bei einem Seeigelei durch Vorbehandlung mit Ammoniak oder Kohlensäure eine künstliche Parthogenese eingeleitet wird. Der Eikern schickt sich zur Teilung an und vergrößert dadurch die Menge seines Chromatins. Unterbricht man nun den weiteren Verlauf und befruchtet mit Seeigelsamen einer anderen Art, so fallen die Larven mutterähnlicher aus, wie die aus unbehandelten Eiern mit normal großem Eikern gezüchteten Kontrolllarven. Beweist dieses Experiment wirklich, daß der Kern die Vererbungssubstanz enthält? Auch hier ist das Ergebnis nicht eindeutig, weil die Quelle der Chromatinvermehrung im Protoplasma liegt, wie dies Godlewski, R. Hertwig u. a. beobachtet haben. Auch läßt sich nicht ausschließen, daß unter dem Einfluß jener Chemikalien das Eiprotoplasma aktiviert worden ist und eine stärkere Vererbungsfunktion bekommen hat. Herbst selber hat hervorgehoben, daß noch andere unbekannte Faktoren die Ursache enthielten. So vieldeutig und widerspruchsvoll auch alle diese biologischen Experimente erscheinen mögen, ein sicheres Hauptresultat haben sie doch und dieses lautet, daß es ein Kernmonopol nicht gibt. Auch das Protoplasma ist ebenso gut an der Vererbung beteiligt, eine weitgehende Übereinstimmung zwischen Experiment und Morphologie der Befruchtung. Über die gegenseitige Größe des Kernfaktors und des Protoplasmaanteiles gehen dagegen die Meinungen sehr auseinander. Für die meisten Biologen ist der Kern die Hauptsache und das Protoplasma ein Anhängsel. So hat z. B. de Vries gesagt „Die Überlieferung eines Charakters und seine Entwicklung sind verschiedene Vermögen. Überlieferung ist Funktion des Kernes, die Entwicklung die Aufgabe des Protoplasmas“, ein prägnanter Satz, den O. Hertwig noch zu dem Ausspruch zusammen gedrängt hat: „Die Ausführung liegt im Protoplasma, die Leitung im Kern“. Ist dies der Sachverhalt? Wie sich aus den entwicklungsmechanischen Experimenten von Driesch, Boveri und Godlewski ergeben, ist die ganze erste Entwicklungsperiode eine Leistung der Protoplasmas. Und da diese 1357

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nach den Beobachtungen Rabl’s die eigentliche Bildungszeit der Ur- oder Anlagezellen für die späteren Organe bedeutet, so läßt sich der Begriff des Nebensächlichen hier nicht mehr anwenden. Kann trotzdem das Leitmotiv im Kern gelegen sein, und geht es etwa so zu, daß die hypothetischen und vielseitigen Träger der Vererbungssubstanz, die Chromosomen sich selber spalten und bewegen, um ihre Eigenschaften zu entfalten? In dieser Hinsicht steht eine soeben bekannt gewordene experimentelle Untersuchung des belgischen Embryologen Brachet jenem Ausspruch Hertwig’s gegenüber. Brachet hat entdeckt, daß frisch aus dem Ovarium entnommene und noch unreife Seeigeleier (zum Unterschied von Seesterneiern) unreif bleiben, wenn man sie in das Seewasser legt. Das Seewasser blockiert sie, sodaß sie die Reifung nicht durchführen können. Aber auch die Befruchtung wird nicht perfekt, obgleich Samenzellen in Mehrzahl eindringen. Es imitieren immer nur die entstehenden Spermakerne den jedesmaligen Zustand des Eikerns, mag er nun in dem einen Ei noch ein geschlossener Ruhekern oder in einem anderen schon in die Chromosomen der ersten Reifeteilung aufgelöst sein. Der Zustand der Eiprotoplasmas ist es, welcher das Verhalten des Spermakerns bestimmt. Wie kann also die Leitung im Kern liegen? „Es ist das Schicksal des Kerns“ – so lautet die von Brachet aufgestellte ontogenetische Regel –, „unter der absoluten Herrschaft der Protoplasmaqualitäten zu stehen und selber unfähig zu bleiben, die wesentlichen Entwicklungspotenzen des Protoplasmas zu modifizieren“, und sein cytologischer Zusatz besagt: „Form und Struktur des Kerns werden durch den Zustand des Protoplasmas regiert, in dem er sich befindet. Sie folgen beide seinen Veränderungen“. Ein weiteres Beispiel hierfür bilden die älteren Beobachtungen Boveri’s, nach welchen die Differenzierung der Urgeschlechtszellen durch Chromatindiminution erfolgt, die wiederum vom Protoplasma der Urgeschlechtszellen abhängig ist. So kann kein Zweifel übrig bleiben, daß im Protoplasma Entwicklungsfaktoren erster Größe verborgen sind. Und daß sie maßgebend werden, zeigen die Versuche von Wilson, Conklin, Fischel über eng begrenzte Defektbildungen des Embryos bei Abtragen bestimmter Protoplasmateile des Eies. Aus welchen Beobachtungen und Schlüssen heraus ist überhaupt die Kernidioplasmatheorie Hertwig’s entstanden? Diese historische Frage dürfte jetzt am Platze sein. Als Nägeli 1884 seine Idioplasmatheorie begründete, war er von dem lebhaften Widerspruch zwischen der so auffälligen Volumendifferenz der beiden Geschlechtszellen und ihrem theoretisch gleichen Anteil bei der Vererbung erfüllt. Die Zellen müßten aus zwei Substanzen bestehen, dem Idioplasma als dem Träger der Vererbung und dem Trophoplasma als ihrem Ernährungsmaterial. Das Trophoplasma, welches im Ei 100- oder 1000mal mehr betrüge wie in der Samenzelle, könne nicht die erblichen Anlagen enthalten. Denn sonst begriffe man nicht, warum „das Kind nicht immer in ganz überwiegendem Grade der Mutter ähnlich würde“. Dies war der Ausgangspunkt jener Theorie, welche bis heute regiert hat. Daß in dem Protoplasma der winzigen Samenzelle, wie es die Tafel V angibt, potentiell ebensoviel wirksames Plasmosomenmaterial enthalten ist, wie in der großen Eizelle, konnte natürlich Nägeli nicht wissen. Aber es war ein Denkfehler dieses genialen Botanikers, daß er mit einer solchen Möglichkeit überhaupt nicht gerechnet hat. So geist1358

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reich auch seine Theorie erscheinen kann, sie wird vor der Wirklichkeit verblassen müssen. Der Idioplasmatheorie folgten die Entdeckungen Hertwig’s von der Verschmelzung zweier gleich großer Geschlechtskerne und die noch tiefere Van Beneden’s über das sich Zusammenlegen von an Zahl gleichen elterlichen Chromosomen in den neuen Zellkernen. Es kam hinzu, daß die mikroskopische Technik sich nur einseitig entwickelte. Sie vermochte wohl die Kernsubstanzen durch Färbung sichtbar zu machen, scheiterte aber an der Schwierigkeit des Protoplasmas. So konnte O. Hertwig alle jene Begriffe, die Nägeli rein theoretisch seinem Idioplasma zugeschrieben, die Äquivalenz der Erbmasse, die Gleichartigkeit ihrer Verteilung und die Verhütung ihrer Summierung usw. übernehmen, um sie ausschließlich in dem Verhalten der Kernsubstanz realisiert zu finden. Von neuem ist nun durch die Feststellung Brachet’s, die außerdem noch eine mikroskopisch unsichtbare spezifische Artdifferenz zwischen dem Eiprotoplasma eines Seeigels und dem eines Seesterns nachgewiesen hat, der alte Einwand wieder lebendig geworden, den Verworn allen Lokalisationsbestrebungen nach einer „besonderen Vererbungssubstanz“ im Zellkern entgegen gehalten hat. Um alle Eigenschaften der Vorfahren besitzen und vererben zu können, sei eine „vollständige Zelle“ nötig, deren Charakter von jenem Stoffwechsel bestimmt sei, welcher zwischen Kern und Protoplasma bestehe, gleichviel, ob es sich um die „ungeschlechtliche“ Fortpflanzung einzelliger Organismen oder um die geschlechtliche der höheren Tiere handele, bei denen auch der kindliche Stoffwechsel eine Mischung der beiden elternlichen sein müsse. Vielleicht beginnt dieser Stoffwechsel bei den Plasmosomen des Zelleibes, um zu den Chromosomen des Zellkerns fortzuschreiten. Tatsache ist jedenfalls, daß sich der Stoffwechsel mit seinen vielen Besonderheiten vererbt. Der Rassengeruch ist hierfür der beste Beweis. Und spezifisch wie die Hautausdünstung ist auch die Blutart, wie die Entdeckung der biologischen Eiweisreaktion und die auf sie gegründete Feststellungsmöglichkeit der Blutsverwandtschaft im Reagenzglas ergeben haben. Daß sich auffallende Empfindlichkeiten des Stoffwechsels, Idiosynkrasien gegen allerhand Speisen vererben, und daß auch krankhafte Störungen desselben wie Fettleibigkeit oder Gicht in der Nachkommenschaft sich fortpflanzen, ist ein weiterer Hinweis auf die Bedeutung jener Wechselwirkung zwischen Protoplasma und Kern. Die Definition der Vererbung kann demnach nur so lauten: Sie ist die Übertragung einer bestimmten Organisation, in welcher alle Bestandteile der Zelle, ihres Kerns wie ihres Protoplasmas zusammenwirken. Und wenn sich das Wesen der Befruchtung als ein Ersatz oder als ein Austausch einer bestimmten Menge weiblicher Kern- und Plasmaelemente durch männliche erwiesen hat, so ist damit zugleich ihr in den Dienst der Vererbung gestellter Sinn offenbar geworden, der immer wieder jene neuen und vermehrungsfähigen Teilgebilde auf den typischen Platz der alten bringt, um die Organisation der Zelle in verjüngter Gestalt fortzusetzen. Mit diesem Vererbungseffekt der Befruchtung ist aber noch ein zweiter fest verbunden, der mehr bedeutet, als eine einfache Verjüngung, und ohne den es nichts neues geben würde unter der Sonne. Da die väterlichen und mütterlichen Chromo1359

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somen und Plasmosomen verschiedenwertig sind, so wird durch ihren Ersatz eine neue Combination von Teilgebilden im Raum der Zelle herbeigeführt und dadurch eine ungeahnte Möglichkeit von Qualitätenmischungen angebahnt, welche für die Reihe der nur auf Befruchtungsfortpflanzung eingestellten höheren Organismen ganz besonders wichtig ist. So fließt in die Quelle ihrer Verjüngung der Faktor der Variabilität hinein und mit ihm die Anpassungsfähigkeit an die Bedingungen der Außenwelt. Und doppelt interessant ist es in dieser Hinsicht – nun die ganze Entwicklung ist ja nur eine Vorbereitung der Funktion – daß auf einen solchen Reizeffekt von außen her die Geschlechtszellen bereits vorzeitig zu reagieren allem Anschein nach im Stande sind. Die lebhafteste, ja eine geradezu leidenschaftlich behandelte Frage auf diesem Gebiet ist wohl diejenige nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. Weismann hat sie auf das bestimmteste geleugnet, weil es ihm nicht gelungen sei, eine schwanzlose Mäuserasse zu züchten, obgleich er immer wieder und generationenweise dem frischen Wurf die Schwänze abgeschnitten habe. Daß es keine Vererbung von Verletzungen gibt, wird niemanden in Verwunderung setzen. Das Problem liegt tiefer und heißt: reagieren bereits die Geschlechtszellen erfolgreich auf die Außenfaktoren, zu denen in erster Linie die Zustände der übrigen Körperzellen gehören würden, oder tun sie es nicht? Daß von den Geschlechtszellen Wirkungen ausgehen, welche den ganzen Körper beeinflussen und ihm die sekundären Geschlechtsmerkmale einprägen, bedarf ja keines Beweises mehr. Aber gibt es eine chemische Fernwirkung in der entgegengesetzten Richtung? Wenn man den Beobachtungen von Magnus und Guthrie glauben dürfte, so ist dies der Fall. Magnus hatte die Eierstöcke weißer Kaninchen in kastrierte schwarze überpflanzt und dann nach einiger Zeit von einem weißen Bock belegen lassen. Die Jungen waren teils weiß aber auch teils schwarz. Dasselbe hat Guthrie mit einer rein weißen und rein schwarzen Hühnerrasse getan. Einige Kücken krochen weiß, andere schwarz und eine dritte Sorte scheckig aus dem Ei heraus. Beide Experimente sind sehr sinnfällig. Aber es ist ihre Beweiskraft bestritten worden. Daß der herausgeschnittene Eierstock sich wieder regeneriert und seinen schwarzen Einfluß ausgeübt haben soll, ist sehr wohl möglich. Auch läßt sich nicht ausschließen, daß keine reinen, rückschlagsfreien Rassen im Spiele gewesen sind. Analoge Versuche von Harms bei Regenwürmern und Salamandern, und solche von Klatt bei Schwammspinnern haben ein negatives Ergebnis gehabt. Entschieden ist aber die Frage damit nicht. Für die Wirkung von Faktoren