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German Pages 170 [181] Year 1983
PARADEIGMATA 4
PARADEIGMATA Die Reihe Paradeigmata präsentiert historisch-systematisch fundierte Abhandlungen, Studien und Werke, die belegen, daß sich aus der strengen, geschichtsbewußten Anknüpfung an die philosophische Tradition innovative Modelle philosophischer Erkenntnis gewinnen lassen. Jede der in dieser Reihe veröffentlichten Arbeiten zeichnet sich dadurch aus, in inhaltlicher oder methodischer Hinsicht Modi philosophischen Denkens neu zu fassen, an neuen Thematiken zu erproben oder neu zu begründen.
]ohn Sallis, geh. 1938, zählt heute zu den führenden Vertretern der Phänomenologie in den Vereinigten Staaten. Die Society for Phenomenology and Existencial Philosophy, eine der bedeutendsten amerikanischen philosophischen Gesellschaften, widmete seinem jüngsten, hier in deutscher Übersetzung vor· liegenden Buch 1982 eine besondere Sektion ihres Jahreskongresses. 1983 berief die Loyola University of Chicago John Sallis zum Professor für philosophische Forschung.
John Sallis
Die Krisis der V emunft Metaphysik und das Spiel der Einbildungskraft
Ubersetzt von Gisela Shaw
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprüng lichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. isbn 978-3-7873-0596-4 ISBN eBook: 978-3-7873-2564-1
© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1983. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de
"C'est l'imagination qui etend pour nous Ia mesure des possibles soit en bien soit en mal, et qui par consequent excite et nourrit !es desirs par l'espoir de !es satisfaire."
J .·J. Rousseau, Emile
VORBEMERKUNG ZUR ÜBERSETZUNG
Der Originaltitel des hier in deutscher Übersetzung vorgelegten Buches von John Sallis lautet: The Gathering of Reason. Das im Titel herausgestellte und im Text zum zentralen Term der Argumentation erhobene und als Terminus technicus ständig wiederkehrende Verb ,to gather' hat im Deutschen keinen Gegenbegriff, der die beiden Bedeutungsaspekte des englischen Worts ebenfalls zugleich ausdrückte und der ebenso durchgehend verwendbar wäre. Im Englischen hat ,to gather' die Bedeutung von: "sammeln, versammeln"; im Unterschied zu seinem unmittelbaren deutschen Äquivalent deckt das Wort ,to gather' zugleich zwei Aspekte ab, unter denen der Vorgang des "Sammelns" betrachtet werden kann - 1. das Einholen, Aufnehmen, -Auflesen, Sammeln disparat vorliegender Dinge in eine sie zusammenfassende Ganzheit oder Einheit (dies deckt sich mit der Bedeutung des deutschen Wortes "sammeln"); 2. das Stiften oder Hervorbringen der die so gesammelten Dinge zusammenfassenden Einheit eben durch den Akt des Sammelns, d.h. das Hervorbringen bzw. Setzen - der Form der Einheit. Dies deckt sich nicht mehr mit der Bedeutung des deutschen Wortes "sammeln", sondern wird im Deutschen durch Worte wie "hervorbringen" oder "setzen" ausgedrückt, die dann allerdings die Abhängigkeit von der Vorgegebenheit der Mannigfaltigkeit der Dinge unterschlagen, die das ,Setzen von Einheit' kennzeichnet, das im vorliegenden Text mit dem Wort ,to gather' bezeichnet wird. Da der im Deutschen naheliegende Weg, den Term ,to gather' in Abhängigkeit vom jeweils engeren Kontext verschieden wiederzugeben, den Intentionen des Autors zuwiderlaufen würde, ·gibt die Übersetzung das Verb ,to gather' durchgängig mit "sammeln" bzw. "versammeln" wieder, obwohl Formulierungen wie "das Versammeln des Horizontes (der Interpretation)" oder "das Sammeln der Einheit" - in beiden Fällen ist das Hervorbringen eines Ganzen durch das Aufnehmen, "Sammeln", Ider dieses Ganze konstituierenden Momente gemeint -im Deutschen ungewöhnlich klingen.- Zur Bedeutung, in der das Wort/der Begriff "sammeln" im vorliegenden Text zu nehmen ist, vgl. auch die Einleitung, Seite 13 ff. Der Verlag
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Erstes Kapitel: Auslegungshorizonte 1. Das Problem der Metaphysik Das Sammeln Modi des Sammelns 20
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Drittes Kapitel: Das Sammeln der Vernunft in den Paralogismen Der Paralogismus überhaupt a) Die Probleme des Paralogismus b) Die transzendentale Apperzeption c) Der transzendentale Paralogismus Die vier Paralogismen a) Substantialität b) Simplizität c) Personalität d) Idealität Die projektive Auslegung 10
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Viertes Kapitel: Das Sammeln der Vernunft in den Antinomien 1. Die kosmologischen Ideen Die vier Antinomien Das Interesse der Vernunft Die kritische Lösung der Antinomien Der regulative Gebrauch der Vernunft Freiheit und Notwendigkeit Projektive Auslegung der Antinomien o
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VIII
Inhalt
2. Die Existenz Gottes ..................................... 129 3. Die projektive Auslegung des Ideals ......................... 137 Sechstes Kapitel: Vernunft, Einbildungskraft, Wahnsinn ............ 1. Die Umkehrung ........................................ 2. Die Einbildungskraft .................................... 3. Einbildungskraft und dialektische Täuschung ..................
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Siebtes Kapitel: Die Sicherheit der Metaphysik und das Spiel der Einbildungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Spiel der Abwesenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Spiel der kritischen Metaphysik ......................... 3. Das Spiel der Einbildungskraft .............................
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VORWORT
Im vorliegenden Text lege ich einen Weg frei, der auf die Thematik der Einbildungskraft zurückführt. Mein Ziel ist, jene Verdeckung der Thematik methodisch zu umgehen, die in die Geschichte der Metaphysik von Beginn an hineinspielte und die sich heute geradezu aufdrängt - zunächst in der völligen Nivellierung des Unterschieds, der einst Einbildungskraft und Phantasie voneinander abhob, sodann in der mit dieser Nivellierung einhergehenden, unterschiedslosen Verdrängung der beiden Begriffe durch die Vorstellung einer unverbindlich-unterhaltsamen Operation der Psyche, die sich in der Vorspiegelung bloßer Schein-Bilder erschöpft. Radikale Schritte sind erforderlich, um diese Verdeckung der eigentlichen Thematik zu unterlaufen: Sie müssen fähig sein, der Einbildungskraft eine Sphäre einzuräumen, in der die in der Tradition ausgebildeten Gegensätze, die ihren Begriff vorlaufend determinieren, aus den Fugen gebracht, in Unbestimmtheit aufgelöst, der Anarchie überantwortet werden können. Der besondere, hier eingeschlagene Weg führt über die Vernunft hinaus, hinaus über die Frage nach der Vernunft (so wie Kant sie stellte), die mit der Frage nach der Metaphysik zusammenfällt. Oder genauer: Es geht darum, sich behutsam an der Kante einer bestimmten Deformation der Vernunft entlangzutasten - eines Phänomens, das sich auf einer anderen Ebene und in der Unbedingtheit, mit der es heute auftritt, auch mit dem Namen "Nihilismus" benennen ließe. An bestimmten, einschneidenden Kehren dieses Weges werde ich darum auch einige angrenzende Fragen anschneiden, die in den Kontext der hier verfolgten Fragestellung gehören, so etwa die Fragen nach dem Gegensatz von Vernunft und Erfahrung und von Vernunft und Wahnsinn; und ich werde einige Schritte unternehmen, diese Fragen in einem Sinne neu zu stellen, der den Blick auf die Thematik der Einbildungskraft eröffnet, so z.B. durch deren Transposition in Fragen nach den Gegensätzen von Anwesenheit und Abwesenheit und von selbstbewußtem Vorstellen und selbstentrückter Ekstase. In einem gewissen Sinne bleibt dieser Weg peripher, bietet er nicht mehr als nur einen ergänzenden "historischen" Abschluß, die kritische Vorbereitung für eine direkte Annäherung an die eigentliche Thematik selbst. Doch kann es hier genügen, die Thematik wiederzuentdecken, die Frage nach der Einbildungskraft in einer neuen, unbestimmten Sphäre wiederaufzugreifen? Wäre nicht auch der Versuch einer im strengsten Sinne direkten Annäherung an diese Thematik eben wegen seiner Strenge gezwungen, seinerseits in sich eine Bewegung mit derselben Drehung auszuführen, der auch die hier begonnene kritische Vorbereitung jetzt schon fast unmittelbar nachgeht -
X
Vorwort
der Drehung von der Vernunft zur Einbildungskraft, der Bewegung von einer (rationalen) Theorie der Einbildungskraft zur Applikation der Einbildungskraft auf sich selbst, zur Freisetzung der der Einbildungskraft innewohnenden Reflexivität? Ist es uns überhaupt möglich, uns die Radikalität des Schrittes auch nur vorzustellen, den der wirkliche Vollzug einer solchen Bewegung verlangen würde? Teile dieses Textes wurden bereits öffentlich vorgetragen, so in einem Vortrag mit den Titel "Imagination and Truth", meinem Beitrag zu einem Colloquium im Gedenken an Martin Heidegger der Pennsylvania State University im April 19 77, in einem Vortrag mit dem Titel "Immateriality and the Play of Imagination" anläßtich der Tagung der American Catholic Philosophical Association im April 1978, sowie in mehreren Vorlesungsreihen an der Dusquesne University. Für ihre großzügige Unterstützung in den verschiedenen Arbeitsstadien und in verschiedenen Hinsichten danke ich der Sankt Ulrich scholarly community, David Krell und Kenneth Maly, Charles Sherover, James Risser und meiner Frau. Besonderen Dank schulde ich der Alexander-von-Humboldt-Stiftung für die Unterstützung während des Jahres, in dem der vorliegende Text erste Gestalt annahm.
J. s.
Mill Run, Pa.
EINLEITUNG
1. Vernunft - schon das Wort kündet heute von der aufgebrochenen Krisis, dem Versagen aller uns zu Gebote stehenden Formen des Denkens vor dem Anspruch, der Intention auf verbindliche Sinnerschließung auch genügen zu können, von der wir gleichwohl nicht abrücken können. Die Krisis ist tiefgreifend; denn in jedem anderen Falle wäre es die Vernunft, auf die wir zurückgreifen würden, um eine besondere Krisis einzugrenzen und aufzulösen, um einen überzeugenden Lösungsweg aufzufinden und einzuschlagen. Dagegen verlangte der Versuch, den Begriff ,Krisis' auch nur zu thematisieren, bereits im Voraus danach, die Krisis der Vernunft in bestimmter Weise aufgelöst zu haben - das heißt, die hier angesprochene Krisis entzieht uns selbst die Möglichkeit, sie als solche zu thematisieren, verleiht allen Versuchen ihrer begrifflichen Eingrenzung einen bloß provisorischen Charakter. Die Krisis ist so tiefgreifend, daß selbst das bloße Schema, das Schema ,Krisis', in einem solchen Maße bedeutungsleer wurde, daß es heute auf beinahe alles Anwendung findet, was in irgendeinem Sinne problematisch wird; das Schema ,Krisis' ist selbst in eine Krisis geraten. Der Rekurs auf die Vernunft angesichts einer Krisis (um mich dieses Schemas vorläufig noch zu bedienen) ist eine tief in die Tradition des abendländischen Denkens eingebettete Strategie. Genauer gesagt, er bezeichnet die Wende, die diese Tradition begründete und in der Folge durchgängig bestimmte. Vollzogen wurde diese grundlegende Wende in den Dialogen Platons - am deutlichsten in jenem Schwanengesang, den Sokrates im Phaidon in der Hoffnung anstimmte, so die Furcht bannen zu können, die ihn angesichts des Todes, der absoluten Krisis befiel. Unter den von Sokrates angestimmten Banngesängen gibt es einen, in dem er, in sich selbst, in sein Leben zurückschauend und den Blick vom Tode abwendend, seinen Weg in die Philosophie erinnernd wiederholt: er erzählt, wie er mit einem wundersamen Verlangen nach der Weisheit begann, die sich aus der Erforschung der Naturdinge gewinnen lassen sollte, wie er sich, von diesem Weg enttäuscht, dann vergebens den Lehren des Anaxagoras zuwandte und wie er schließlich zu dem Entschluß kam, eine "zweite Fahrt zur Erforschung der Ursache" zu unternehmen. Diese zweite Fahrt, Vollzug der die Tradition begründenden Wende, begann mit einer Abwendung von dem unmittelbar Gegenwärtigen, in dem Sokrates die Gefahr einer Blendung vermutete: Aus Furcht, ihn könne das Mißgeschick derer treffen, die während einer Sonnenfinsternis in die Sonne schauen, aus Furcht seine Seele könne geblen-
Einleitung
2
det werden, wenn er die Dinge unmittelbar mit Augen ansehe, sei er - so berichtet er seinen Gesprächspartnern - zu der Oberzeugung gelangt, er "müsse zu den A6-yot seine Zuflucht nehmen und in diesen das wahre Wesen der Dinge anschauen" 1 . Im Verlauf der so begründeten Tradition wurde der Sokratische Rekurs auf die A6-yot übersetzt in einen Rekurs auf ratio, die Vernunft. Die Übersetzung verlieh dem Rekurs eine bestimmte, festgelegte Richtung: Aus dem Rückzug vor der unmittelbaren Gegenwärtigkeit der Dinge zum Zwecke der Wiederaneignung eben dieser Dinge in ihrer Wahrheit wurde der einsinnige Rekurs vom Sinnlichen (ro ala8TJrov) auf das Intelligible (ro VDTJTOV). Durch den Rekurs auf die Vernunft wurde die sinnliche Naivetät der sprachlosen Versenkung in das Unmittelbare und Besondere verdrängt von der Tiefe und umfassenden Allgemeinheit theoretischer Erkenntnis. Der Mensch bestimmte sich infolge dieser Übersetzung zum unimal rationale. Heute ist diese Obersetzung in einem radikalen Sinne fragwürdig geworden. Nicht so sehr in dem Sinne, daß die Menschheit damit begonnen hätte, sich der Bestimmung durch diese Übersetzung zu widersetzen, daß es gegenwärtig Zeugnisse für eine unaufhaltsame Wiederkehr des Irrationalen gäbe. Im Gegenteil, der heutige Mensch, der Mensch des technologischen Zeitalters, legt Zeugnis ab von der bezwingenden Macht einer Rationalität von beispielloser innerer Geschlossenheit, bekräftigt die getroffene Obersetzung durch die fortschreitende Rationalisierung aller Bereiche des menschlichen Lebens. Im höchsten Grade fragwürdig geworden ist nicht die Rationalisierung des Menschen, sondern vielmehr die Rationalität selbst, auf die die Übersetzung des Menschen zum animal rationale zurückgeht; es ist die Vernunft selbst, die heute in Frage steht, die in Verdacht geriet. Die Metapher aus der Rechtsprechung ist hier angemessen - oder vielmehr gerade ihre Unangemessenheit vermag den Abgrund aufzuzeigen, der sich durch die Krisis der Vernunft aufgetan hat: Die Vernunft, bisher das Tribunal, vor dem alle Streitigkeiten, alle Differenzen beigelegt werden konnten, ist jetzt selbst umstritten, birgt offenbar Widersprüche in sich selbst; sie selbst ist es, die vor ein Tribunal zu rufen und an die die Forderung zu stellen wäre, ihre Identität auszuweisen und den Verdacht zu widerlegen, sie sei voreingenommen, sei nur eine blendende Maske, hinter der sich andere Interessen verbergen. Aber schon die Forderung nach einem Beweis - um von der Forderung nach Auflösung von Widersprüchen gar nicht erst zu sprechen - ist ohne Rückgriff auf die Vernunft undenkbar, und die Möglichkeit eines hinreichend unparteüschen Urteils, einer auf Unvoreingenommenheit beruhenden Auflösung der Widersprüche gerät bereits im gleichen Augenblick in Gefahr, in dem der Vernunft die Vorladung zugestellt wird. Könnte die Vernunft sich selbst je so unvoreingenommen gegenübertreten, daß sie über sich selbst zu 1
95e-99e.
Einleitung
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Gericht sitzen könnte? Läßt sich innerhalb der Vernunft je eme solche Distanz auftun? 2 Ohne den Unterschied zu verwischen, der zwischen dem Rekurs auf die AD'YOt und dem rationalen Rekurs auf das Intelligible besteht, läßt sich bereits in der Platonisch-Sokratischen Wende ein Erscheinungsbild der Krisis der Vernunft erkennen. Noch vor der Übersetzung des Sokratiochen in den rationalen Rekurs wurde die tiefgreifende, jedem Rekurs auf die M'Yot unvermeidlich anhaftende Ambivalenz erkannt und als das Problem der Sophistik erfahren: Sokrates, den Sophisten darin verbunden, daß er wie sie auf die AO'YOt rekurrierte, fand in diesen Sophisten seine stärksten Gegner, gerade wegen dieser Verbundenheit. Er sah sich beständig gezwungen, die fast wie von selbst immer wieder in sich zusammenbrechende Differenz zu erneuern, die Integrität des Sokratischen Rekurses und damit dessen diskursiven Charakter neu zu erweisen, die Philosophie von der Sophistik abzugrenzen. Der Prozeß gegen Sokrates sowie das über ihn verhängte Urteillegen Zeugnis ab von den politischen Grenzen, die dem Versuch dieser Abgrenzung gezogen waren - das heißt, von der Tiefe der Krisis. Es gibt weitere Erscheinungsbilder der Krisis in der Tradition, und es ist eines von diesen, ihr Aufscheinen bei Kant, dem ich mich zuwenden möchte. Genauer gesagt werde ich jene Kritik der Vernunft einer Reflexion unterziehen, mit der Kant auf die Krisis der Vernunft, auf den "Mißverstand der Vernunft mit ihr selbst" reagiert 3 • In dieser Kritik lebt das Problem der Sophistik stillschweigend wieder auf4 : Ihr geht es darum zu bestimmen, in welchem Grade die Vernunftschlüsse "Sophistikationen nicht der Menschen,
In vielen seiner Texte kündigt Nietzsche eine Umkehrung des traditionellen Rekurses auf die Vernunft (eine Umkehrung des "Platonismus") ausdrücklich an, wobei gerade diese Ausdrücklichkeit einen inneren (gewöhnlich nicht zum Ausdruck gebrachten) Widerspruch hervorbringt, in dem sich die auf sich selbst bezogene Wende der Krise der Vernunft ereignet. Ein Beispiel von dem ., ,Vernunft' in der Philosophie" überschriebenen Abschnitt in Götzendämmerung: Stellen wir endlich dagegen, auf welche verschiedne Art wir (- ich sage höflicher Weise wir ... ) das Problem des Irrthums und der Scheinbarkeit in's Auge fassen. Ehemals nahm man die Veränderung, den Wechsel, das Werden überhaupt als Beweis für Scheinbarkeit, als Zeichen dafür, dass Etwas da sein müsse, das uns irre führe. Heute umgekehrt sehen wir, genau so weit als das Vernunft-Vorurtheil uns zwingt, Einheit, Identität, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglichkeit, Sein anzusetzen, und gewissermaassen verstrickt in den Irrthum, necessitirt zum Irrthum; so sicher wir auf Grund einer strengen Nachrechnung bei uns darüber sind, dass hier der Irrthum ist (Werke: Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Berlin 1969, VI,3, S. 71). 3 Kritik der- reinen Vernunft, AXII. Im Folgenden verweise ich im Zusammenhangmit diesem Werk auf die Paginierung der ersten (A) und zweiten (B) Auflage. Alle Verweise auf Kants übrige Werke beziehen sich auf die Akademieausgabe (Kants Gesammelte Schrif ten). 4 Vgl. Brief 112: An Marcus Herz, 24. Nov. 1776.-X,199. 2
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sondern der reinen Vernunft selbst" (A339/B397) sind. Es geht darum, die der reinen Vernunft selbst eigene Sophistik zu entlarven, das Ausmaß der Uneinigkeit der Vernunft mit sich selbst zu bestimmen. Diese Bestimmung vollzieht Kant in der "Transzendentalen Dialektik" der Kritik der reinen Vernunft, weshalb sich unsere Reflexion vor allem auf diesen Teil des Kantischen Werks konzentrieren wird.
2. Metaphysik - auch dieses Wort kündet von der Krisis, nicht weniger als das Wort Vernunft. Von derselben Krisis: Fast von Anbeginn hat sich der Rekurs auf die Vernunft - korrelativ - als der grundlegende Schritt verstanden, der die Unterscheidung zwischen dem Intelligiblen und dem Sensiblen etablierte. Durch die Etablierung dieser Unterscheidung wurde die Metaphysik begründet. Diese Unterscheidung wird jedoch nicht erst durch eine derartige Etablierung konstituiert; ihre Konstituierung erfolgt weder in Abhängigkeit von der Reflexion noch von der Geschichte. Vielmehr ist sie bereits inkraftgetreten mit dem Ereignis der Rede, der Voraussetzung für die Möglichkeit der Reflexion und der Geschichte. Die Unterscheidung tat sich ein für allemal in dem Augenblick auf, als die Rede erstmals über das durch die Sinne Gewisse hinausgriff - in einem unwiederbringlichen Augenblick, einer absoluten Vergangenheit. So radikal sind wir an diese Unterscheidung gebunden. Sie aufzugeben steht nicht in unserem Ermessen - nicht einmal durch einen Rückzug in das Schweigen, das immer zu spät kommt, da es allererst aus der Möglichkeit der Rede erwächst. Angesichts der Krisis könnte man darauf verfallen, diese der Geschichte vorausliegende Unterscheidung unabhäniig von der Geschichte einer Reflexion unterziehen zu wollen, also den vor-metaphysischen Ursprung der Metaphysik zum Gegenstand einer von allen Bezügen auf die Geschichte, die Metaphysik und die Geschichte der Metaphysik befreiten Reflexion zu machen, d.h. außerhalb der Metaphysik ein verbindliches Tribunal für die Beurteilung der Metaphysik zu errichten. Oder vielmehr könnte man dazu versucht sein, verriete der Versuch selbst nicht gar so schnell die Unhaltbarkeit eines solchen Ansatzes. Denn auch eine Reflexion dieser Art ist unlöslich an das Medium des Ausdrucks und damit an die Geschichte gebunden: Von dem Augenblick an, in dem man der Unterscheidung Ausdruck verleiht, ist bereits ein Bezug zur Geschichte hergestellt, in die die sprachlichen und die kategorialen Ausdrucksformen eingebunden sind, auf die ein solcher Ausdruck unvermeidlich zurückgreifen muß. Die Unterscheidung als die Unterscheidung zwischen dem Intelligiblen und dem Sensiblen auszudrücken heißt bereits, die Reflexion auf dem Boden der Metaphysik zu eröffnen. Es bedeutet nichts anderes als an deren Geschichte anzuknüpfen
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- und dies mit Notwendigkeit, denn daneben haben wir keine andere Wahl außer der Option auf das Schweigen der Nichtreflexion, das uns jedoch einer noch unerbittlicheren Notwendigkeit ausliefern würde. Wir müssen an diese Geschichte anknüpfen. Aber können wir es? Jedes einfache Wiederanknüpfen an die metaphysische Tradition steht heute außer Frage - dies gilt selbst dann, wenn es sich um ein Wiederanknüpfen im durchaus echten Sinne handelte, bei dem etwa in Rechnung gestellt würde, daß jede Anknüpfung an die Tradition immer auch nach einem Moment der Erneuerung, der Anpassung und der Wiederbelebung verlangt. Weshalb steht dies außer Frage? Weil wir heute nicht mehr einfach an die oben vorgestellte Unterscheidung anknüpfen können, der diese Tradition ihre Einsetzung verdankt, weil wir an der Unterscheidung zwischen dem Intelligiblen und dem Sensiblen nicht festhalten können, an dieser Unterscheidung, an die wir - wie oben ausgeführt - gleichwohl gebunden sind und die unsere Reflexion dazu zwingt, ihre Verwurzdung in der metaphysischen Tradition einzugestehen. Oder anders gesagt: Das einfache Festhalten an dieser Unterscheidung und damit auch die Anknüpfung an die metaphysische Tradition, die aus dieser Unterscheidung hervorging, könnte nur zu dem Preis erfolgen, daß wir außer Frage stellten, was heute im höchsten Maße fragwürdig ist, daß wir uns blind stellten vor der Krisis der Metaphysik. Es sei mir an dieser Stelle erlaubt, ein geschichtliches Phänomen nur in den Blick zu rücken, ohne so etwas wie eine Herleitung dieses Phänomens zu versuchen; denn jeder Versuch auch nur zu ermitteln, ob und in welchem Sinne eine solche Herleitung überhaupt möglich ist, welchen Sinn eine Herleitung hier haben könnte, würde im vorliegenden Falle nicht nur in einen unabschließbaren Prozeß der Analyse führen, sondern auch sehr schnell in eben das Phänomen verstrickt werden, das hier in Frage steht. In welches Phänomen? Nietzsche nannte es die Ankunft des Nihilismus. Ich möchte es vorziehen, es mit dem Wort "Okklusion" zu benennen, von der Okklusion der Unterscheidung zwischen dem Intelligiblen und dem Sensiblen sowie, korrespondierend, von der Okklusion - daher Krisis - der Metaphysik zu sprechen. Der zentrale Aspekt dieses Phänomens zeigt sich in der ständig wiederkehrenden Aushöhlung jedes Zufluchtortes, der einer reinen lntelligibilität Sicherheit böte - das heißt in der ständig wiederkehrenden Rückverweisung alles vermeintlich Intelligiblen in die Sphäre des Sensiblen. Man erinnere sich einiger der Höhepunkte dieses Angriffs auf das Intelligible: der Reduktion des Intelligiblen, in seinem theologischen Aspekt, auf das Menschlich-allzu-Menschliche in den Händen Feuerbachs, Nietzsches, Freuds; der Reduktion des Noumenalen, zuerst im Deutschen Idealismus und dann radikal bei Nietzsche und in der Phänomenologie; der Reduktion der Idealität der Bedeutung, deren empirischer Reduktion im Psychologismus, deren transzendentaler Reduktion bei Husserl und deren Reduktion auf ein System von Differenzen in der strukturellen Linguistik.
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Wenn ich von der Okklusion der Unterscheidung spreche, dann unter gleichzeitiger Beibehaltung aller drei Bedeutungen des Wortes. Es hat erstens die Bedeutung von Absorption, so wie man in der Chemie von einem bestimmten Gas sagt, es werde okkludiert, etwa durch Holzkohle; in diesem Sinne wird die Unterscheidung des Intelligiblen und des Sensiblen durch die Absorption, durch die Rücknahme des Intelligiblen in die Sphäre des Sensiblen von diesem okkludiert. Die zweite, sich aus der ersten ergebende Bedeutung bezeichnet den Effekt der Absorption, das die Möglichkeit der Unterscheidung beschließende Verschwinden, das Verdecken des Unterschieds. Drittens versperrt, blockiert dieses Verdecken der Okklusion uns den Weg; insbesondere macht sie es unmöglich, jenen Weg noch zu beschreiten, auf dem wir an unser metaphysisches Erbe anknüpfen und es weitertragen könnten. Wir dagegen stehen einerseits noch viel zu tief im Banne der Metaphysik, andererseits haben wir uns schon viel zu weit aus ihr entfernt- das heißt wir mißtrauen all ihren Mitteln, doch wir verfügen über keine anderen. Die Okklusion der Unterscheidung, auf die Metaphysik sich gründete, kehrt in jeder Dimension wieder, in der die Unterscheidung auch neu konstituiert werden mag; die oben genannten Beispiele verweisen auf einige dieser Dimensionen. Die Okklusion kehrt stets so unerbittlich wieder, daß der Wunsch, auf allen Widerstand zu verzichten, durchaus verständlich wäre. Nur das steht gar nicht zur Wahl, es sei denn, wir wären bereit, alle Reflexion ein für allemal aufzugeben. Sobald wir jedoch reflektieren, sobald wir auf die einzigen uns tatsächlich verfügbaren sprachlichen und kategorialen Erkenntnisformen zurückgreifen, haben wir die metaphysische Unterscheidung zwischen dem Intelligiblen und dem Sensiblen erneut getroffen und uns selbst, wenn wir unserer Reflexion Radikalität abverlangen, vor die Aufgabe gestellt, diese Unterscheidung neu zu konstituieren. An dieser Stelle können wir vielleicht darangehen, die beiden möglichen Wege zu bestimmen, die uns bleiben. Der eine Weg ist bestimmt durch die ständig wiederkehrende Okklusion, durch das sich endlos wiederholende Schwanken zwischen dem Vertrauen auf die Mittel und der Enttäuschung über den Zusammenbruch der Reflexion, durch das Hin- und Herpendeln zwischen der Anknüpfung an die Metaphysik und deren Preisgabe, durch die Hervorrufung einer manifesten, doch gleichwohl verbotenen Erschöpfung. Dennoch sollten wir diesen Weg nicht übereilt verlassen, ihn nicht vorschnell verurteilen. Es scheint vielmehr, daß eine gewisse Zurückhaltung in der Beurteilung dieses Weges geboten ist - zumindest solange, wie wir noch nicht über bloße Kenntnisnahme von dessen Schema hinausgelangt sind, noch keinerlei Anstrengung gemacht haben, ihm konkret und systematisch zu folgen. Insbesondere würde ich gern, vielleicht sogar auf immer, den Schluß hinausschieben, dieser Weg sei einfach der Weg der Hoffnungslosigkeit und Anarchie; denn der. Nihilismus ist eben nicht irgend etwas Einfaches, sondern vielmehr ein Phänomen von einer derartigen Komplexität, daß es sich möglicherweise den uns bisher bekannten Beurteilungsmaßstäben
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gänzlich entzieht. Fast möchte ich sogar behaupten, daß es für uns zumindest auf einige Zeit unabdingbar ist, diesem Weg zu folgen - auf ihm zu verweilen, bis wir überall nurmehr das Antlitz dieses "unheimlichsten aller Gäste" 5 erblicken. Unter der Beachtung eines gewissen Sinnes für Ökonomie und Strategie läßt sich in einem begrenzten Kontext die Okklusion soweit hinausschieben, daß sich die Metaphysik gegen sich selber kehrt. Wer kann heute schon sagen, ob nicht vielleicht doch - noch über eine solche Destruktion hinausgehend - ein abrupter, eruptiver Sprung aus der metaphysischen Tradition heraus möglich werden könnte? Ist eine solche "aktive VergeBlichkeit", wie Nietzsche sie ins Auge faßte, schon jemals auf die Probe gestellt worden? Können wir uns heute auch nur vorstellen, wie Zarathustra sich bewähren könnte? Doch selbst angenommen, der Sprung in das Jenseits der Tradition, der Sprung vom Menschen zum Obermenschen böte uns eine alternative Möglichkeit zur Oberwindung der Okklusion, so ist sie doch nicht die einzige. Es gibt noch einen zweiten Weg, einen Weg, der sich in die Tradition zurück kehrt, ohne jedoch zu einer bloßen Anknüpfung an die Tradition herabzusinken oder aber, um das andere Extrem zu nennen, die Tradition selbstzerstörerisch gegen sich selbst zu kehren. Zur Kennzeichnung dieses anderen Weges möchte ich den Begriff archaische Reflexion verwenden. Eine derartige Reflexion vollzieht einen Regreß zu einer dpx'lj, eine Rückkehr zu einem Beginn, zu einer Ursprungsphase der Tradition, zu einer Phase, in der etwas Entscheidendes seinen Anfang nahm. Ein Merkmal solcher Phasen ist es, daß in ihnen nichts je so gesichert ist, wie es später erscheinen wird; und eben diese Unsicherheit sichert sie vor der Alternative, entweder (sinnentleert) wiederholt oder aber (anarchisch) aufgegeben zu werden. In einer Ursprungsphase herrscht bewegende Offenheit, und über eine reflektierende Rückkehr zu den Texten, in denen eine solche Phase ihre genuine Darstellung fand, über eine die verschiedenen, sich in diesen Texten überlagemden Schichten aufdeckende Lektüre dieser Texte, läßt sich die von der späteren Tradition unterdrückte Vielfalt der Momente dieser Phase erneut ins Spiel bringen, läßt sich das Spiel der verschiedenen Ebenen, verschiedenen Richtungen, verschiedenen Dimensionen erneut freisetzen, jenes Spiel, das sich jeglicher Rückführung auf eine in sich abgeschlossene Struktur widersetzt und eben jene Offenheit konstituiert, in der etwas Entscheidendes seinen Anfang nehmen kann. Unser Interesse an der Wiedereinsetzung dieses Spiels beruht zunächst jedoch darauf, daß es unsere ~eflexion vorantreiben könnte - das heißt, die archaische Reflektion wendet sich zurück in eine der Ursprungsphasen des Denkens, um Fragen, die uns heute bedrängen, im Rückgriff auf eine solche Phase des Anfangs zu reflektieren, um auf der Ebene dieses Anfangs ein um
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5 Nietzsche, Werke, VIII 1: Nachgelassene Fragmente, Herbst 1885-Herbst 1887, 123.
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die Offenheit dieses Anfangs angereichertes Bild jener Fragen freizulegen. Letztlich geht es darum, die unentwickelten Möglichkeiten Zurückzugewinnen und herauszuarbeiten, die von der archaischen Reflexion aufgedeckt werden. Das Ziel der Reflexion ist die Einbringung der aus der Reflexion auf die Ursprungsphase eines Problems gewonnenen Mittel in die Anstrengung zur Bewältigung des aktuellen Problems, um dessenwillen die Reflexion aufgenommen wurde.
3. Meine Absicht geht dahin, die Krisis der Vernunft sowie - Hand in Hand damit - die Krisis der Metaphysik einer archaischen Reflexion zu unterziehen, einer Reflexion auf die Form, in der sie in jener Ursprungsphase der Tradition auftraten, die in den Hauptwerken Kants ihre Darstellung fand. Die Reflexion wird sich primär auf die "Transzendentale Dialektik" der Kritik der reinen Vernunft konzentrieren; denn in diesem Text legt Kant die Krisis, der Vernunft und Metaphysik in gleichem Maße ausgesetzt sind, am deutlichsten dar. Doch ist es überhaupt angemessen, die Form, in der das Problem von Vernunft und Metaphy~ik von Kant aufgenommen wird, als Ausdruck einer Krisis zu betrachten? Haben wir es hier auch nur im entferntesten bereits mit einem Erscheinungsbild der Krisis in jenem radikalen Sinne zu tun, die ich oben als die Krisis unserer Zeit umrissen habe? Es kann keinerlei Zweifel daran geben, daß Kants Destruktion der traditionellen Metaphysik letztlich dem konstruktiven Vorhaben dienen sollte, die Metaphysik auf krisensicherem Boden neu zu begründen 6 • In diesem Sinne ging es Kant nicht um die Destruktion, sondern um die Vollendung der Metaphysik, vergleichbar der Aristotelischen Vollendung der Logik. Er wollte die Metaphysik zur Wissenschaft erheben, indem er jenes metaphysische Datum zum Gegenstand der Prüfung machte, das in einem fundamentalen Sinne zur Natur des Menschen gehört, jenes unmittelbare Streben nach Erkenntnis, das Bemühen um die Auflösung von Fragen, deren Exposition und Beantwortung die reine Vernunft sich aus einem ihr innewohnenden Zwang selbst auferlegt. In ihrer ausgeführten Gestalt, so Kant, wäre die Metaphysik "nichts als das Inventarium aller unserer Besitze durch reine Vernunft, systematisch geordnet" (Axx), ihre Vollständigkeit durch das Verhältnis der Vernunft zu sich selbst ~arantiert:
Außer den zahlreichen Erklärungen dieser Art in den kritischen Hauptschriften (z.B. Kritik der reinen Vernunft, BXIX -XXI, BXXXVI, B22f.), gibt es Kants ausdrückliche Behauptung in einem frühen Brief an Lambert: "Ehe wahre Weltweisheit aufleben soll, ist es nöthig, daß die alte sich selbst zerstöhre" (Brief 34: An Johann Heinrich Lambert, 31. Dez. 1765.-X,57). 6
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Es kann uns hier nichts entgehen, weil, was Vernunft gänzlich aus sich selbst hervorbringt, sich nicht verstecken kann, sondern selbst durch Vernunft ans Licht gebracht wird, sobald man nur das gemeinschaftliche Princip desselben entdeckt hat (Axx ). Die reinen Produkte der Vernunft können, hat die Vernunft sich als Produkt ihrer selbst geformt, ihr nicht verborgen bleiben 7 • Nicht einmal das Dunkel der Verborgenheit, das die Metaphysik zum Kampfplatz endloser Streitigkeiten (AVIII) machte, ist im eigentlichen Sinne unaufhebbar, sondern für Kant nur die Folge daraus, daß "das gemeinschaftliche Princip" noch nicht entdeckt worden war - das Werk des puren, vom rechten Weg wegführenden Zufalls an der Quelle der Notwendigkeit. Kein essentieller Mangel trennt die Vernunft vom Zustand des völligen Beisichseins, sondern nur die "Versuche, Übung und Unterricht", deren sie zufälligerweise bedarf, "um von einer Stufe der Einsicht zur andern allmählig fortzuschreiten" 8 • Was dieses Zusiehkommen der Vernunft, die Entdeckung ihres Wesens aus sich selbst angeht, so ist der Gang der Aufklärung gesichert: Wenn man dem Menschen "nur Freiheit läßt" - ,Freiheit' meint hier die Befreiung von vernunftfremden Zwängen, solchen Zwängen, die nicht aus einem "Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes" hervorgehen, durch deren Aufhebung also die vorher herrschenden Bedingungen völlig aus den nun gesetzten Bedingungen des Denkens ausgeschieden werden - dann ist es "beinahe unausbleiblich", daß der Mensch "sich selbst aufkläre" 9 • Es ist fast so, als hätte es der Geschichte der Metaphysik eigentlich nicht bedurft, als stellte sie allenfalls die Kindheitsphase der Vernunft dar. Es scheint, als könne die Vernunft jetzt, nachdem sie mit dem Einsetzen der Kantischen Kritik ihre Reife erlangte, ihre Autarkie auf sicherem Boden befestigen, unerreichbar für jede Erschütterung durch eine radikale Krisis gleich welcher Art 10 • Als könne durch die Arbeit der transzendentalen Dialektik ein von Vgl. Brief 112: An Marcus Herz, 24. Nov. 1776.-X,199: "Sie wissen: daß das Feld der, von allen empirischen Principien unabhängig urtheilenden, d.i. reinen Vernunft müsse übersehen werden können, weil es in uns selbst a priori liegt und keine Eröfnungen von der Erfahrung erwarten darf." Vgl. auch Kritik der reinen Vernunft, B2 3. 8 "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht", VIII,19. 9 "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?", VIII,35f. 1 0 Man sollte hier genau auf die Geste achten, mit der Kant die Kritik der reinen Vernunft beschließt - oder vielmehr die Geste, den "flüchtigen Blick" (A852/B880), der die abschließende Abteilung des Systems, die Abteilung, die "Die Geschichte der reinen Vernunft" behandeln würde, ersetzt. Der Blick zurück auf das "Kindesalter der Philosophie" (A852/B880) liefert den denkbar günstigsten Kontext für Kants letzten Appell an die Urteilskraft des Lesers, was die Aussicht betrifft, Sicherheit für die menschliche Vernunft zu gewinnen: Wenn der Leser diesen [d.h. den kritischen Weg] in meiner Gesellschaft durchzuwandern Gefälligkeit und Geduld gehabt hat, so mag er jetzt urtheilen, ob nicht, wenn es ihm beliebt, das Seinige dazu beizutragen, um diesen Fußsteig zur Heeresstraße zu machen, 7
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Grund auf gesichertes neues Gebäude neben den Trümmern der alten Metaphysik errichtet werden. Als könne die Krisis auf diesem Wege ihre Auflösung finden, eine Auflösung, die mit dem klassischen Schema des Rekurses auf die Vernunft völlig im Einklang stünde - kurz, als werde sich am Ende erweisen, daß die Krisis keine Krisis von radikaler Bedeutung war. Der neuralgische, allesentscheidende Angelpunkt für den möglichen Erfolg dieser Strategie ist das Postulat der Selbstgewißheit, des essentiellen Beisichseins der Vernunft. Allein der verbindliche Nachweis der absoluten Selbstgewißheit der Vernunft über ihr Wesen kann der Vernunft die Berechtigung erteilen, ihr eigener Richter zu sein. Allein dieser Nachweis kann es rechtfertigen, das Problem, in das die Vernunft selbst geriet, durch eine Wiederholung des klassischen Schemas des Rekurses auf die Vernunft auflösen zu wollen. Allein dieser Nachweis kann die Kantische ,,Metaphysik der Metaphysik" 11 der Gefahr entheben, sich am Ende ihrer Reflexion auf sich selbst in die gleiche Problematik verstrickt zu finden, die bereits die traditionelle Metaphysik in die Krisis stürzte; denn wenn dem Postulat des Beisichseins, der Selbstgewißheit der Vernunft entgegengehalten werden müßte, daß der Vernunft ihr eigenes Wesen verborgen ist, dann würde diese SelbstVerborgenheit der Vernunft auch in den Prozeß der kritischen Reflexion hineinwirken und sie auf allen Ebenen verfolgen, sie jener Sicherheit berauben, mit der sich die Krisis endlich niederschlagen ließe. Es ist erstaunlich~ in welch konsequentem Maße die Texte Kants eine solche Selbst-Verborgenheit der Vernunft anzeigen, die Annahme ihres Vorhandenseins rechtfertigen und dieses Vorhandensein indirekt zum Ausdruck bringen; am deutlichsten nachweisbar in der Theorie des inneren Sinnes und der Freiheit. Der Mangel an Kontinuität ist hier unübersehbar: die Versicherung, daß die Vernunft essentiell bei sich sei - diese Versicherung, die für die Ausführung des Kantischen Rekurses erforderlich ist - wird im Verlauf der Durchführung des Rekurses entschieden zurückgenommen; mit anderen Worten, die vorausgesetzte Bedingung der Kritik wird durch die Kritik zurückgenommen. Die Frage des Beisichseins der Vernunft bildet somit die Angel zwischen zwei sich widerstreitenden Schichten in Kants Diskurs. An dieser Angel ereignet sich eine Wende, eine Rückwendung in die Krisis. Diese Rückwendung, diese Subversion der Sicherheit der Metaphysik, verleiht dem Kantischen Beginn, auf tiefster Ebene, seine ihn bezeichnende Offenheit.
dasjenige, was viele Jahrhunderte nicht leisten konnten, noch vor Ablauf des gegenwärtigen erreicht werden möge: nämlich die menschliche Vernunft in dem, was ihre Wißbegierde jederzeit, bisher aber vergeblich beschäftigt hat, zur völligen Befriedigung zu bringen (A856/B884). 11
Brief 166: An Marcus Herz, nach dem 11. Mai 1781.-X,269.
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4. Die archaische Reflexion, die sich auf bestimmt Texte konzentriert, ist interpretierend, hermeneutisch. Sie wahrt eine gewisse Distanz zu diesen Texten, die ihr die Möglichkeit eröffnet, einen genuinen Zugang zu dem zu finden, dem in diesen Texten nachgegangen wird, und die es ihr insbesondere erlaubt, auch Nebenspuren wahrzunehmen, die auf verschiedene, sich möglicherweise widersprechende Ebenen des Textes hindeuten, vielleicht sogar solche Spuren, die dem Verfasser des Textes selbst verborgen blieben. In der Kritik der reinen Vernunft gesteht Kant der Interpretation offen einen solchen hermeneutischen Freiraum zu: Ich merke nur an, daß es gar nichts Ungewöhnliches sei, sowohl im gemeinen Gespräche als auch in Schriften durch die Vergleichung der Gedanken, welche ein Verfasser über seinen Gegenstand äußert, ihn sogar besser zu verstehen, als er selbst sich verstand, indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimmte und dadurch bisweilen seiner eigenen Absicht entgegen redete oder auch dachte (A314/B370). Es ist nicht ohne Bedeutsamkeit, daß sich diese Bemerkung in einem Textabschnitt findet, welcher der Betrachtung von Platons Verwendung des Wortes "Idee" gewidmet ist. Zwei allgemeine hermeneutische Grundsätze lassen sich Kantischen Texten entnehmen. Sie ergeben sich dort aus der, sei es nun explizit oder implizit vollzogenen, Transposition komplementärer methodologischer, die Beziehung Autor-Text regierender Grundsätze in die Dimension der Interpretation, wo sie die Beziehung Interpret-Text regieren sollen. Der erste Grundsatz hat für die klassische Hermeneutik kanonische Bedeutung; er gilt der Beziehung zwischen einem Teil und seinem Ganzen. Den komplementären methodischen Grundsatz formuliert Kant in einem Brief an Garve: "Auch hat diese Art von Wissenschaft dieses Eigenthümliche an sich, daß die Darstellung des Ganzen erforderlich ist jeden Theil zu rectificiren und man also, um jenes zu Stande zu bringen, befugt ist diese eine Zeitlang in einer gewissen Rohigkeit zu lassen" 12 • Dieser methodologische Grundsatz, der vorschreibt, daß dem Fortschreiten von den Teilen zum Ganzen ein Rückschreiten vom Ganzen zu seinen Teilen folgen solle, der also ein Kreisen vorschreibt, in dem jedes von beiden durch das jeweils andere bestimmt wird, dieser Grundsatz wird in der Vorrede zur Kn"tik der praktischen Vernunft in seine hermeneutische Form transponiert: Wenn es um die Bestimmung eines besonderen Vermögens der menschlichen Seele nach seinen Quellen, Inhalte und Grenzen zu thun ist, so kann man zwar nach der Natur des menschlichen Erkenntnisses nicht 12
Brief 205: An Christian Garve, 7. Aug. 1783.-X,339.
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anders als von den Theilen derselben, ihrer genauenund (so viel als nach der jetzigen Lage unserer schon erworbenen Elemente derselben möglich ist) vollständigen Darstellung anfangen. Aber es ist noch eine zweite Aufmerksamkeit, die mehr philosophisch und architektonisch ist: nämlich die Idee des Ganzen richtig zu fassen und aus derselben alle jene Theile in ihrer wechselseitigen Beziehung auf einander vermittelst der Ableitung derselben von dem Begriffe jenes Ganzen in einem reinen Vernunftvermögen ins Auge zu fassen. Diese Prüfung und Gewährleistung ist nur durch die innigste Bekanntschaft mit dem System möglich, und die, welche in Ansehung der ersteren Nachforschung verdrossen gewesen, also diese Bekanntschaft zu erwerben nicht der Mühe werth geachtet haben, gelangen nicht zur zweiten Stufe, nämlich der übersieht, welche eine synthetische Wiederkehr zu demjenigen ist, was vorher analytisch gegeben worden ... (V, 10) 13 • Der zweite Grundsatz verknüpft denjenigen vom Ganzen und den Teilen mit der Frage der Definition. Er findet sich in demselben Text, in Form einer Mahnung zur "Behutsamkeit": Eine solche Behutsamkeit [bei der Aufstellung von Definitionen] ist in der ganzen Philosophie sehr empfehlungswürdig und wird dennoch oft verabsäumt, nämlich seinen Urtheilen vor der vollständigen Zergliederung des Begriffs, die oft nur sehr spät erreicht wird, durch gewagte Definition nicht vorzugreifen. Man wird auch durch den ganzen Lauf der Kritik (der theoretischen sowohl als praktischen Vernunft) bemerken, daß sich in demselben mannigfaltige Veranlassung vorfinde, manche Mängel im alten dogmatischen Gange der Philosophie zu ergänzen und Fehler abzuändern, die nicht eher bemerkt werden, als wenn man von den Begriffen einen Gebrauch der Vernunft macht, der aufs Ganze derselben geht (V, 9 Anm.). Die Ermahnung zur Behutsamkeit warnt vor der vorschnellen Einsetzung von Definitionen und damit vor der endgültigen Festlegung auf Bestimmungen des Partikularen, noch ehe man von der Erfassung des Ganzen zu den Teilen zurückkehrt; man kann - sei es bei der Niederlegung, sei es bei der Auslegung eines Textes - nicht von festliegenden Bestimmungen ausgehen, sondern muß dem Text eine Schichtung zugestehen, die verschiedenen Gra13 Es ist bedeutsam, daß Kant hier ausdrücklich den Begriff des Ganzen in seiner der
Kritik angemessenen materiellen Bestimmung zur Einheit der Vernunft in Wechselbezie· hung setzt. Man müßte letzten Endes die Verformung des hermeneutischen Grundsatzes, der durch diese Wechselbeziehung getragen werden könnte, thematisieren: Sollte die Einheit der Vernunft untergraben werden, sollte sich die Vernunft als mit sich selbst uneins erweisen, sollte sie sich als [ ... ] von sich selbst getrennt [(vielleicht durch eine ihr eigene Selbstverborgenheit)] erweisen, dann würde das einschlägige Ganze, so wie auch der mit Hilfe dieses Ganzen definierte hermeneutische Grundsatz verformt.
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den der Bestimmtheit des Dargelegten korrespondiert. Die Einräumung einer solchen Schichtung ist besonders dann geboten, wenn es um die systematische Aneigung tradierter Begriffe geht, weil sie es erlaubt, diese Begriffe zunächst in einer gewissen Unbestimmtheit aufzunehmen und ihnen dann fortschreitend, gemäß der Aufeinanderfolge unterschiedener Ebenen der Bestimmtheit, ihre Bestimmtheit neu zuriickzugeben. Diese strenge Form der Aneignung ist natürlich auch kennzeichnend für das methodische Vorgehen Kants. Es versteht sich fast von selbst, daß die archaische Reflexion, der die Transzendentale Dialektik unterzogen werden soll, der Begrenzung und der Auslotung des hermeneutischen Freiraums besondere Beachtung schenken muß, der ihr von ihrem Gegenstand - eben der Transzendentalen Dialektik - vorgegeben ist. Zudem muß sie mit den hermeneutischen Grundsätzen harmonieren, die Kant oben bereits zugeschrieben werden konnten. Allerdings erschöpfen sich diese, allein auf Begriffe wie Teil, Ganzes und Bestimmung abhebenden Grundsätze im bloß Formalen, und sie reichen keineswegs hin, die komplexen und unterschiedenen Strukturen des Textes aufzudekken, die sich bei Ausschöpfung der hermeneutischen Freiräume freilegen lassen. Zum überwiegenden Teil sind diese Strukturen der Reflexion materialiter vorgegeben, von ihr nur in deren Bestimmtheit aufzunehmen -das heißt, sie ergeben sich aus der offen zutageliegenden Struktur des Textes selbst, aus der im Text thematisierten Materie und aus dem Zusammenspiel von Reflexion, Materie und Text. Aufgrund dieser Vorgaben ist eine vorlaufende Auslotung des hermeneutischen Freiraums im strengen Sinne ausgeschlossen. Andererseits ließe sich die Reflexion auf den Text kaum auch nur eröffnen, ohne die Strukturen zumindest in etwa zu antizipieren, die diese Reflexion leiten sollen. Eine vorlaufende Skizze dieser Strukturen ist unentbehrlich. Ich möchte vier unterschiedlich strukturierte Freiräume der Reflexion voneinander abheben, denen jeweils eine besondere Strategie der Textinterpretation korrespondiert. Die erste dieser Strategien ist die Methode der verdoppelnden Interpretation (duplex interpretation) oder des Kommentars. Es ist, als würde ein loses, nur zur Hälfte beschriebenes Blatt so gefaltet (plicare), daß zwei (duo) Spalten entstehen, und dann auf die bis dahin leere Hälfte des Blattes ein Abbild des originalen Textes geschrieben. Eine Interpretation dieser Art, die den Kantischen Text verdoppelt, bleibt innerhalb des Horizonts, den der originale Text als den seinen explizit macht, innerhalb des Horizonts, der durch die vom Verfasser ausdrucklieh angegebene und den Text beseelende Problem- und Zielkonzeption konstituiert wird. Die Interpretation bleibt im Rahmen der tradierten Begrifflichkeit, der sie sich anpaßt und von der sie geformt wird. Dennoch wird bereits durch diese einfache Verdoppelung eine Distanz hergestellt, der Freiraum für die Reflexion eröffnet: der Unterschied zwischen dem Text und seinem Doppel, zwischen Original und Abbild.
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Die zweite der Strategien, die der projektiven Interpretation (projective interpretation), erhält ihre Bestimmtheit aus einer vorgeordneten Reflexion, die ich bereits angesprochen habe: jener Reflexion, die den Kantischen Begriff der Vernunft auf deren griechischen Ursprung zurückführt, der Rückübersetzung von Vernunft in ACryfX _ Diese Reflexion interpretiert den Text unter Rückgriff auf eine bereits in bestimmter Weise vollzogene Wiederentdeckung jenes Ursprungs; sie stellt die Interpretation unter die Voraussetzung, daß - auf dem Wege über eine genaue Umkehrung der Bewegungsrichtung der Tradition - der Sinn von AO')'fX ins Griechische zurliekübersetzt wurde. Den Vollzug dieser Wiederentdeckung kann ich hier nur skizzieren 14 • Es handelt sich um eine Wiederentdeckung, welche die Bedeutung der Verbform Af')'€tV hinter jenen Sinn ("reden") zurückträgt, der geschichtlich die Oberhand gewann und den späteren Sinn von ACryfX weitgehend bestimmte. Sie trägt Af')'€tll zurück in den Sinn: "legen"- in der Bedeutung von: Dinge beisammen vor uns liegen lassen, sie für uns offenbar werden lassen, sie in die Anwesenheit auflesen, sammeln. A{yyor; meint ursprünglich: das Sammeln in die Anwesenheit - und nur deshalb, weil die Rede als ein solches Sammeln erfahren wurde, konnte X{yyor; einen spezifisch sprachlichen Sinn gewinnen. Als dieses Sammeln beschränkt sich ACryfX weder auf ein bloßes Umschreiben, daß die so gesammelten Elemente gänzlich unbezeichnet ließe, noch zwingt er diesen Elementen eine sie nivellierende Vereinheitlichung auf. Vielmehr läßt er einander entgegengesetzte Elemente beisammen vorliegen, zusammen kommen, und es ist dieser ursprungliehe Sinn von AO')'Of;, aus dem die Begriffe von Synthesis und Gliederung hervorgehen. Indem der AO')'Of; einander entgegengesetzte Elemente versammelt, nimmt er sie alle in eins zusammen, ohne jedoch deren Gegensätzlichkeit zu unterdrücken. Der X{yyor; ereignet sich als 'Ev Ild.vra. Dementsprechend geht es in der pro.jektiven Interpretation darum, das Kantische Problem der Vernunft auf die ursprüngliche Thematik des AO')'Of; als eines Sammelns zu reprojizieren, darum, jene Spuren des ursprünglichen Sinnes von X{yyor; aufzudecken, die unterschwellig auch in den von Kant gegebenen Begriff der Vernunft hineinwirken. Es geht darum, die Vernunft als ein Sammeln zu setzen, dieses Sammeln der Vernunft tätig werden zu lassen und zugleich als in den Texten Kants wirksam gewordenes Tun aufzunehmen, dem Kantischen Text auf diese Weise also eine Ausrichtung zu geben, die es erlaubt, aus der Neuausrichtung der Te:l!.telemente einen 14 Sie wurde von Heidegger in Sein und Zeit (Tübingen 9 1960), § 7 B,34 ingang gesetzt und im Hinblick auf die Heraklit-Fragmente in Heideggers Text "Logos (Heraklit, Fragment 50)" (in Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 2 1954) streng durchgeführt. Verschiedene nähere Ausführungen finden sich im Text eines Heraklit-Seminars, das Heidegger und Fink 1966-6 7 hielten: Heraklit (Frankfurt/M 1970). Ich habe meinerseits eine ähnliche Wiedergewinnung des 'A.Iryoc; in den Platonischen Dialogen unternommen, in Being and Logos. The Way to Platonic Dialogue (Pittsburgh 1975), insbes. S. 7f., 149ff., 524-31.
Einleitung
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Horizont für die Interpretation zu gewinnen, der im Text selbst nicht offen wirksam wird. Die projektive Interpretation, die die Ergebnisse der verdoppelnden Interpretation in sich aufnimmt, besteht also darin, diese Ergebnisse so auf jenen Horizont zu projizieren, daß sie von ihm her verstanden, von ihm zurückgespiegelt, reflektiert werden. Die dritte Strategie, diejenige der inversiven Interpretation (inversive interpretation), erweitert die Textgrundlage, ohne jedoch die Konzentration auf die Transzendentale Dialektik aufzugeben. Ihr hermeneutischer Freiraum ist der des inversiven Abbildens, der Umkehrung. In diesem Raum geht es darum, andere Texte (in unterschiedlichen differenzierten Hinsichten) als Umkehrungen des zentralen Textes darzustellen. Es geht hier darum, die inversiven Abbildungen, die Wiederspiegelungen, die dieser Text, die Transzendentale Dialektik, in einer Reihe anderer Kantischer Texte erfährt, auf eine solche Weise herauszuheben, daß sich durch das Spiel dieses Abbildens, dieser wiederspiegelnden Reflexion eine verborgene Schicht des zentralen Textes an den Tag bringen läßt. Die letzte Strategie, die der subversiven Interpretation (subversive interpretation), verweist die Kautischen Texte zurück in die Geschichte der Metaphysik, indem sie der Reflexion auf das Problem der Vernunft einen Raum zuweist, der es ihr auferlegt, eine unvermeidliche Abfolge von Kehren zu vollziehen: zunächst die Kehre in die metaphysische Deformation der Vernunft, die Abkehr vom ursprünglichen Sinn des X(yyrx; ; sodann die Aufhebung dieser Kehre durch die Kehre der Kritik; und schließlich eine Kehre, die die Möglichkeit von Metaphysik überhaupt untergräbt und die Reflexion dazu führt, sich von den Texten Kants gänzlich zu lösen.
ERSTES KAPITEL AUSLEGUNGSHORIZONTE
1. Das Problem der Metaphysik [wir] fangen nur von dem Punkte an, wo sich die allgemeine Wurzel unserer Erkenntnißkraft theilt und zwei Stämme auswirft, deren einer Vernunft ist. Ich verstehe hier aber unter Vernunft das ganze obere Erkenntnißvermögen und setze also das Rationale dem Empirischen entgegen (A835/B863). Dieser Punkt bezeichnet auch den Punkt, mit dem die Metaphysik einsetzt, an dem sie ihren Anfang nimmt: es ist diese von Kant angeführte Teilung, die in jener Bewegung vollzogen wird, aus der die Metaphysik entspringt, der aus der Abwendung von dem unmittelbar Gegenwärtigen entspringende Rekurs auf die Vernunft; der Vollzug dieser Bewegung begründet die Teilung in einem Bereich einer gewissen Offenheit und läßt so das unmittelbar Gegenwärtige, aus retrospektiver Sicht, zum bloß Empirischen herabsinken. Weil dieser Punkt den Anfang der Metaphysik markiert, kann Kant kurz vor dem Schluß der Kritik der reinen Vernunft von hier aus damit beginnen, "die Architektonik aller Erkenntniß aus reiner Vernunft zu entwerfen", das heißt, die Architektonik jener Metaphysik, für die das gesamte Unternehmen der Kritik der reinen Vernunft die erforderliche Vorbereitung darstellt, jener Metaphysik, die die Vollendung aller menschlichen Kultur erbringen würde (A850/B878). Und eben an diesem - am Ende der Einleitung unübersehbar markierten - Punkt (" ... daß es zwei Stämme der menschlichen Vernunft gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen", Al5/B29) setzt die gesamte kritische Propädeutik ein. Von diesem, im Kantischen Text derart hervorgehobenen Punkte aus, läßt sich der Horizont, der diesen Text ausdrücklich beherrscht, vielleicht am unmittelbarsten und mit den wenigsten Strichen skizzieren. Derselbe Horizont wird auch die verdoppelnde Interpretation beherrschen, der ein Hauptteil dieses Textes unterzogen werden wird. An diesem Punkt der Teilung entspringt die traditionelle Unterscheidung zwischen historischer und rationaler Erkenntnis 1 • Kant verleiht dieser Unterscheidung eine Form, in der er sich auf den je unterschiedlichen Ursprung der Erkenntnis bezieht: "Die historische Erkenntnis ist cognitio ex datis, die Die Unterscheidung geht zurück auf den oben erwähnten Abschnitt im Phaidon (95e-99e): Sokrates stellt "diese zweite Fahrt zur Erforschung der Ursache", die er schließlich unternahm, indem er seine Zuflucht zu den AO'YOt nahm, seiner früheren Beschäftigung mit rrepi cpv aewc; laropi a gegenüber. 1
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Auslegungshorizonte
rationale aber cognitio ex pn'ncipiis" (A836/B864). Selbst auf dieser Ebene der bloßen aneignenden Umformung ist bereits eine merkwürdige Verschiebung im Spiele (eine Verschiebung, die sich letztlich als entscheidend für die Einordnung des Kantischen Textes in die Geschichte der Metaphysik erweist): Indem Kant die historische Erkenntnis als diejenige Erkenntnis abgrenzt, die von "anderwärts" gegeben ist, verschiebt er den Ort des unmittelbar Anwesenden; was ursprünglich ein Sich-Abwenden vom unmittelbar Anwesenden war, ist zu einem Sich-Hinwenden zu etwas in tieferem und nicht weniger unmittelbarem Sinne Anwesenden geworden, nämlich ein Sich-Abwenden vom Anwesendsein von Gegenständen (einem eben wegen des Gegenstände vom Subjekt trennenden Unterschiedes unvollkommenen Anwesendsein) hin zum Beisichsein der Vernunft, ein Wenden vom Anwesendsein zum Beisichsein. Was aber im vorliegenden Zusammenhang entscheidender ist, ist die durch den Begriff der rein rationalen Erkenntnis hervorgerufene und durch einen flüchtigen Blick auf die Geschichte der Metaphysik bestätigte Problematik. Es ist ein von Kant immer wieder aufgegriffenes Problem: Wenn die Metaphysik aus rein rationaler Erkenntnis, einer Erkenntnis "ex principiis", bloß durch Begriffe, besteht (im Unterschied zur historischen, also empirischen Erkenntnis, aber auch zur mathematischen Erkenntnis, die zwar nicht empirisch ist, dafür aber der Konstruktion in der Anschauung bedarf), dann erhebt sich die Frage, wie sich die Metaphysik als eine Erkenntnis von Dingen, als synthetische Erkenntnis legitimieren läßt. Wie kann es Erkenntnis von etwas geben, was "anderwärts" (außerhalb des bloßen Denkens, des Begriffs) ist, ohne daß die Erkenntnis ihrerseits auch von "anderwärts" käme? Wie ist reine synthetische Vernunfterkenntnis möglich? Nur wenn dieses Problem streng und zwingend gelöst ist, kann die Metaphysik, "dieser Kampfplatz fvonf ... endlosen Streitigkeiten" (Avm), den sicheren Gang einer Wissenschaft einschlagen. Daher das Problem der Metaphysik: Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich? Betrachtet man dieses Problem mit der nötigen Allgemeinheit, formuliert man es im Hinblick nicht nur auf theoretische Erkenntnis (Bestimmen von Gegenständen), sondern auch aufpraktische Erkenntnis (Selbstbestimmung), dann läßt es sich als der Horizont von Kritik überhaupt ansehen, der Horizont des gesamten Unternehmens, dem die drei Kritiken gewidmet sind. Mit der Lösung dieses Problems soll die Kritik den Boden für die Metaphysik (als Wissenschaft), für ein System der reinen Vernunft, bereiten: Denn wenn ein solches System unter dem allgemeinen Namen der Metaphysik einmal zu Stande kommen soll (welches ganz vollständig zu bewerkstelligen, möglich und für den Gebrauch der Vernunft in aller Beziehung höchst wichtig ist): so muß die Kritik den Boden zu diesem Gebäude vorher so tief, als die erste Grundlage des Vermögens von der Erfahrung unabhängiger Principien liegt, erforscht haben, damit es nicht
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an irgend einem Theile sinkt, welches den Einsturz des Ganzen unvermeidlich nach sich ziehen würde 2 • Andererseits bildet dasselbe Problem - nur im Hinblick auf die theoretische Erkenntnis betrachtet -den Horizont der Kritik der reinen Vernunft. Was also ist für die Auflösung des Problems erforderlich, wenn wir es nun in seiner eingeschränkten Form betrachten? Die Antwort liegt in dem Titel, den Kant demjenigen Teil der Kritik der reinen Vernunft gibt, der nahezu den gesamten Text- nämlich alles außer den Vorworten, der Einleitung und der abschließenden Methodenlehre- umfaßt: Erforderlich ist eine Transzendentale Elementarlehre. Eine Elementarlehre: eine Analyse, welche diejenigen Elemente herausarbeitet, die gegenstandskonstituierend sind, zu den Bedingungen der Möglichkeit von Gegenständen gehören und deshalb die Quelle reiner Vernunfterkenntnis von jenen Gegenständen sind; eine Analyse, die besonders die Unterschiede zu denjenigen Elementen herausstellt, die nur scheinbar solche Erkenntnis liefern, uns durch diese Täuschung zum Selbstbetrug verleiten und auf den dadurch bereiteten Kampfplatz endloser Streitigkeiten locken. Diese Aufteilung der Analyse in ein Abgrenzen konstituierender Elemente und ein Abgrenzen dieser Elemente von nur scheinbar konstituierenden Elementen entspricht der Aufteilung der gesamten Transzendentalen Elementarlehre (und somit nahezu der gesamten Kritik), wo die Transzendentale Dialektik, die negative Komponente, allem anderen gegenübergestellt wird. Zwar ist das nicht die einzige Gliederung auf dieser Ebene - eine weitere verläuft quer dazu: die Aufteilung, die aus der Aufspaltung der gemeinsamen Wurzel entspringt, die Aufteilung in Transzendentale Ästhetik und Transzendentale Logik; aber sie erstellt doch den unmittelbarsten, den ausdrücklichsten Horizont der Transzendentalen Dialektik und ist somit von zentraler Bedeutung für die entsprechende Doppelauslegung.
2. Das Sammeln Im Falle der projektiven Auslegung ist der Horizont völlig anders geartet. Er ist nicht im Text selbst explizit enthalten, nicht schon durch die vom Autor im Text zum Ausdruck gebrachte Konzeption von Problemen und Zielen in seiner Einheit vorgebildet; vielmehr muß er versammelt werden. Jedoch geht es keineswegs darum, unabhängig vom Text einen Horizont zu konstruieren, der dann diesem Text als ein ihm fremder Rahmen aufzuzwingen wäre. Gegenüber einer solchen von außen kommenden gewaltsamen Auslegung wird die Gegenforderung nach einer Befreiung, einer Wiederherstellung des Textes immer den Vorrang haben. Dennoch braucht eine solche Wiederherstellung nicht in das Extrem des hermeneutischen Positivismus zu 2
Kritik der Urteilskraft, V,l68.
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verfallen. Ja, das dann implizit verwandte Schema hält die Frage der Auslegung in einem fremden, um nicht zu sagen ontologisch naiven Rahmen, als ginge es bestenfalls darum, daß sich verschiedene Grade mit äußerster Kontinuität zwischen zwei Extremen erstreckten: hier der Text, wie er an sich selbst ist (als wäre seine Objektivität evident); dort der Text, wie er vermittels eines ihm fremden Rahmens verstanden wird. Es liegt auf der Hand, daß dieses Schema alles echte hermeneutische Fragen wirksam unterdrückt. Mit dem Versammeln eines Horizontes für eine projektive Auslegung wird nicht eine Verfremdung dieses Textes vorbereitet, sondern vielmehr eine in diesem Text vorhandene, aber von anderen überlagerte Diskursebene freigelegt und dessen Einheit durch den Bezug auf eine bestimmte untergeordnete Reflexion aufgewiesen - im vorliegenden Falle die Reflexion des Kantischen Vernunftbegriffs zurück in dessen griechischen Ursprung, die Übersetzung der Vernunft in den AO"'f()(;, das Setzen der Vernunft als eines Sammelns. Aber der Horizont soll aus dem Text selbst versammelt, streng aus den Elementen des unmittelbaren Kontextes des jeweiligen Textes zusammengesetzt werden. Beginnen wir mit den ersten Sätzen der Transzendentalen Ästhetik (A19/ B33). Zwar weisen sie äußerlich die Form einer bloßen Aneinanderreihung von Definitionen auf; dennoch kommt ihnen großes Gewicht im System und in der Auslegung zu: An dem Punkt beginnend, wo sich die gemeinsame Wurzel teilt, skizziert Kant in diesen ersten Sätzen den Beginn der Kritik der reinen Vernunft, d.h. jene Anordnung der hier zur Diskussion stehenden Fragen, aus der die gesamte Entfaltung dieses Textes ihren Ausgang nehmen wird. Hier muß das Versammeln des Horizontes ansetzen. Was untersucht werden soll, ist die Erkenntnis von Gegenständen. So beginnt Kant: Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer emc Erkenntniß auf Gegenstände beziehen mag, so ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselbe unmittelbar bezieht, ... die Anschauung. Das besagt: Bei aller Gegenstandserkenntnis, bei aller synthetischen Erkenntnis, gleichgültig wie sie im einzelnen beschaffen sein mag, kommt der Anschauung ein gewisses Primat zu. Die Anschauung ist dasjenige, wodurch die Erkenntnis in einer unmittelbaren Beziehung zu ihrem Gegenstand steht. Gleichgültig, woraus sich die Gesamtstruktur des Gegenstandsbezugs der Erkenntnis ergibt, gleichgültig, was sonst noch in diese Beziehung eingeht, ist es immer die Anschauung, der sie das Element der Unmittelbarkeit verdankt. Die Anschauung stellt den unmittelbaren Erkenntnisinhalt bereit. Dieses Primat kommt der Anschauung bei aller Gegenstandserkenntnis zu; es übergreift alle Unterscheidungen zwischen verschiedenen Erkenntnisarten. Immer ist es die Anschauung, die der Erkenntnis ihre objektive Unmittelbarkeit verleiht.
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Die Frage nach möglichen weiteren der Erkenntnis zukommenden Elementen muß deshalb auf dem Hintergrund des Primats der Anschauung erörtert werden. So betont Kant im ersten Satz, die Anschauung sei das, "worauf alles Denken als Mittel abzweckt". Zumindest auf der Ebene des Anfangs dürfen Anschauung und Denken nicht als einander zugeordnete Stämme betrachtet werden; vielmehr hat auf dieser Ebene die Anschauung das Primat über das Denken, das seinerseits nicht mehr als ein Mittel im Dienste der Anschauung ist. Aber die Grenzen dieser anfänglichen Bestimmung sind sorgfältig zu ziehen: Daß Kant das Denken als ein Mittel im Dienste der Anschauung setzt, heißt nicht, daß dem Denken innerhalb der Erkenntnisstruktur eine untergeordnete Rolle zugeteilt wird. Im Gegenteil ist das Denken das Problematischste an dieser Struktur und bedarf am dringendsten der Disziplin der Kritik; entsprechend ist der Großteil der Transzendentalen Elementarlehre eine Transzendentale Logik, d.h. eine Untersuchung der Rolle des (reinen) Denkens bei der Erkenntnis von Gegenständen. Trotzdem ist festzuhalten: Sollte es sich im Laufe der Kritik der reinen Vernunft - also bei der Entfaltung des vorliegenden Problems, im Gegensatz zu dessen anfänglicher Anordnung -erweisen, daß dem Denken in einer Hinsicht doch ein Primat in der Erkenntnisstruktur zukommt, so wird ein solches Primat sozusagen darauf aufbauen, daß das Denken ein Mittel im Dienste der Anschauung ist, und somit das die Anschauung kennzeichnende Primat nicht negieren, sondern ergänzen. Kant fährt fort: "Diese [die Anschauung] findet aber nur statt, sofern uns der Gegenstand gegeben wird". Auf welche Weise kann uns der Gegenstand gegeben werden? Wie kann ein solches Geben eintreten? Welche Form kann es annehmen? Zweierlei Form wäre denkbar; denn das Geben kann entweder vom Subjekt oder vom Objekt ausgehen. Im ersten Falle würde das Subjekt sich selbst das Objekt geben; im zweiten Falle würde das Objekt sich selbst dem Subjekt geben. Diese Unterscheidung zwischen zweierlei Art des Gebens, die ihrerseits formal aus der Subjekt-Objekt-Spaltung entspringt, führt uns wiederum zur Unterscheidung zwischen einer wesentlich in sich selbst geschlossenen, unbegrenzten Erkenntnis einerseits und der offenen, begrenzten Erkenntnis, auf die sich der Mensch beschränkt sieht, andererseits. Erstere wird zwar (auf betont leere Weise) mit dem Begriff des Göttlichen in Verbindung gebracht, wird jedoch fast ausschließlich strukturell thematisiert. Es ist für solche unbegrenzte göttliche Erkenntnis bestimmend, daß bei ihr die Anschauung des Gegenstandes von aller Einschränkung durch das angeschaute Objekt wesentlich frei, in keiner Weise von dem Sich-Geben des Objekts abhängig oder dadurch eingeschränkt ist. Dagegen ist die Anschauung bei der beschränkten menschlichen Erkenntnis davon abhängig, daß das Objekt sich selbst dem Subjekt gibt. Diese Unterscheidung zwischen göttlicher und menschlicher Erkenntnis ist für den zu versammelnden Horizont von entscheidender Bedeutung.
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Genauer gesagt werde ich diesen Horizont versammeln, indem ich die gegensätzlichen Terme dieser Unterscheidung strukturell herausarbeite und sie letztlich in einen Begriff der Bewegung der menschlichen Erkenntnis verwandle. Dieses Herausarbeiten des Unterschiedes erfordert nichts als das Entfalten der einschlägigen Begriffe, das Entfalten der im Begriff der Erkenntnis enthaltenen Möglichkeiten und deren Modalisierung in begrenzte und unbegrentze Modi; nach Kant gehört diese Entwicklung auf die Seite des Denkens und nicht des Erkennens 3 • Ganz gewiß darf sie nicht theologisch verstanden werden, als ginge es um die Erkenntnis von Gott; vielmehr geht es darum, die Unterscheidung so zu entfalten, daß der menschlichen Erkenntnis ihr Ort zugewiesen und das Problem der menschlichen Erkenntnis gestellt wird 4 • 3 Die treffendste Formulierung dieser Unterscheidung ist vielleicht die im Vorwort zur zweiten Auflage: "Einen Gegenstand erkennen, dazu wird erfordert, daß ich seine Möglichkeit (es sei nach dem Zeugniß der Erfahrung aus seiner Wirklichkeit, oder a priori durch Vernunft) beweisen könne. Aber denken kann ich, was ich will, wenn ich mir nur nicht selbst widerspreche, d.i. wenn mein Begriff nur ein möglicher Gedanke ist" (BXXVI). Kant wendet sich mehrfach unmittelbar der Frage solcher unbegrenzter Erkenntnis zu als etwas, was sich zu Beginn der Kritik, deren Eröffnung bestimmend, denken läßt: (1) Gegen Ende der Tranzendentalen Analytik (A256/B311): Ein Noumenon ist "nicht ein besonderer intelligibler Gegenstand fiir unsern Verstand, sondern ein Verstand, fiir den es gehörte, ist selbst ein Problema, nämlich nicht discursiv, durch Kategorien, sondern intuitiv, in einer nichtsinnlichen Anschauung, seinen Gegenstand zu erkennen, als von welchem wir uns nicht die geringste Vorstellung seiner Möglichkeit machen können" (A256/B311-2). Von dem Begriff eines solchen Verstandes wird sich herausstellen, daß er mit dem einer göttlichen oder unbegrenzten Erkenntnis weder als wirklich (d.h. erkannt) noch auch als möglich vorgestellt werden kann, letzteres in dem in den Postulaten des empirischen Denkens bestimmten Sinne von "Möglichkeit", also reale oder objektive Möglichkeit im Gegensatz zur bloßen logischen Möglichkeit (Widerspruchsfreiheit) (vgl. A218/B266- A224/ B272; A596/B624 Anm.). Eine derartige Erkenntnis läßt sich nur denken. (2) Kritik der Urteilskraft, § 77: "Nun können wir uns aber auch einen Verstand denken, der, ... nicht wie der unsrige discursiv, sondern intuitiv ist" (V,407-meine Hervorhebung). (3) Und wieder: "Es ist hiebei auch gar nicht nöthig zu beweisen, daß ein solcher intellectus archetyptu möglich sei, sondern nur daß wir in der Dagegenhaltung unseres discursiven, der Bilder bedürftigen Verstandes (intellectus ectypus) und der Zufälligkeit einer solchen Beschaffenheit auf jene Idee (eines intellectus archetypus) gerührt werden, diese auch keinen Widerspruch enthalte" (V,408). 4 Diese Rolle der Unterscheidung kommt am unmittelbarsten (in Parenthese) in der Kritik der Urteilskraft zum Ausdruck: "Wenn das aber ist, so muß hier die Idee von einem andern möglichen Verstande, als dem menschlichen zum Grunde liegen (so wie wir in der Kritik d.r.V. eine andere mögliche Anschauung in Gedanken haben mußten, wenn die unsrige als eine besondere Art, nämlich die, für welche Gegenstände nur als Erscheinungen gelten. gehalten werden sollen) ... (V ,405 ). Von den Interpreten, die auf diese Unterscheidung aufmerksam gemacht haben, seien die folgenden ausdrücklich genannt: Heinz Heimsoeth, Studien zur Philosophie
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Beide Erkenntnisarten sind so darzulegen, daß gewisse Komponenten ihrer Gesamtstruktur explizit gemacht werden. Im Falle der göttlichen Erkenntnis sind diese Komponenten Formen der Einheit: Der Begriff der göttlichen Erkenntnis schreibt die vierfache Einheit, die dann darzustellen ist, vor. Die göttliche Erkenntnis entspricht derjenigen Form des Gebens, bei der das Subjekt sich selbst das Objekt gibt. Sich selbst das Objekt geben heißt, das Objekt hervorbringen, es im Akt der Erkenntnis selbst erschaffen. Die bei solcher Erkenntnis wirksame Anschauung nennt Kant ursprünglich (B 72): Sie ist ursprünglich, indem sie das angeschaute Objekt selbst hervorbringt, d.h. in sich den Ursprung dieses Objekts enthält und somit das Objekt erst ins Dasein ruft. Im Falle der ursprünglichen Anschauung existiert das Objekt nicht jenseits der Anschauung ( d.i. unabhängig von ihr); weder entspringt es außerhalb des Bereichs dieser Anschauung, noch wird es, nachdem es in dieser Anschauung seinen Ursprung nahm, dann aus dieser entlassen, um für sich zu bestehen. So wird die ursprüngliche Anschauung nicht von ihrem Gegenstand getrennt; und insofern die göttliche Erkenntnis mit einer solchen Anschauung zusammenfällt, ist sie eine Erkenntnis, die mit ihrem Gegenstand eine unmittelbare Einheit bildet, eine Erkenntnis, die ihrem Gegenstand unmittelbar gegenwärtig, unmittelbar bei ihm ist. Diese Einheit von Subjekt und Objekt macht die erste der vier vom Begriff der göttlichen Erkenntnis vorgeschriebenen Formen der Einheit aus. Die Einheit ist umfassend; denn die göttliche Erkenntnis ist nichts als eine solche ursprüngliche Anschauung, nichts jenseits dieser Anschauung. Göttliche Erkenntnis und ursprüngliche Anschauung sind ein- und dasselbe: Kant erklärt, beim Denken des ursprünglichen Wesens müsse zugestanden werden, daß seine Erkenntnis nur Anschauung sein könne, "und nicht Denken, welches jederzeit Schranken beweiset" (B 71 ). Welcher Art sind diese Schranken, r:lie vom Denken bewiesen, gezeigt, offenbar gemacht würden? Es sind nicht nur - und nicht grundlegend - Schranken des Denkens als solchen, sondern Schranken innerhalb der Anschauung. Des Denken würde nicht so sehr seine eigenen Schranken beweisen, aufzeigen, als vielmehr diejenigen der Anschauung. Aber wie? Der Beweis liegt in dem Zusammenhang zwischen der Tatsache, daß wir des Denkens bedürfen, und der Beschränktheit der entsprechenden Anschauung: Die bloße Tatsache, daß wir des Denkens bedürfen, daß in einer Erkenntnis das Denken eine Rolle
Immanuel Kants, Köln 1956, S. 192f.; Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt/M. 1973 4 , S. 23f.; lngeborg Heidemann, Spontaneität und Zeitlichkeit: Ein Problem der Kritik der reinen Vernunft, Köln 1958, S. 81. Gottfried Martin erörtert das Problem mit Hilfe einer Analogie und zitiert Reflexion 6260, wo Kant davon spricht, daß wir "den Begriff von unserem Verstande ... durch die Erhebung zur Vollständigkeit brauchen können, um den göttlichen uns vorzustellen" (Immanuel Kant. Ontologie und Wissenschaftstheorie, Köln 1951, S. 187).
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spielt, würde bezeugen, daß die Anschauung, worauf diese Erkenntnis beruht, Schranken aufweist. Das Denken ist ein Hilfsmittel im Dienste der Anschauung, und daß wir dieses Hilfsmittels bedürfen, würde auf das Vorhandensein von Schranken in der Anschauung verweisen. Ist umgekehrt die Anschauung ohne Schranken, vollkommen, vollständig, so bedarf es keines Denkens; weshalb eine auf schrankenloser Anschauung beruhende Erkenntnis nichts als Anschauung wäre und keines Denkens bedürfte. Die ursprüngliche Anschauung ist genau eine solche schrankenlose, vollkommene Anschauung. Sie bringt ihren Gegenstand in unmittelbarer Einheit mit sich selbst hervor, verfügt daher völlig über ihren Gegenstand, ist ganz und gar in sich geschlossen. Einer solchen Anschauung kann der Gegenstand nicht entzogen werden; er kann sich ihr nicht vorenthalten. Es ist ihm versagt, sich selbst nur partiell zu geben, so daß in ihm als gegebenem, als der Anschauung zugekehrtem, eine gewisse Unbestimmtheit bliebe eine Unbestimmtheit, die dann durch die bestimmende Kraft des Denkens wettzumachen wäre. Vielmehr ist die ursprüngliche Anschauung so beschaffen, daß der Gegenstand von Anfang an in voller Anwesenheit gesetzt ist; in anderen Worten bedarf es im Zusammenhang mit der ursprünglichen Anschauung keine Sammelns des Objekts in die Anwesenheit. Der in voller Anwesenheit gesetzte Gegenstand wird in seiner vollen Bestimmtheit angeschaut; es bleibt ihm die Unbestimmtheit erspart, die, da sie ein Vorenthalten bezeugt, eine bestimmte Abwesenheit ankündigt (offenbar macht, anwesend macht), den Spiegel des vollen Anwesendseins zerspringen lassen würde. Göttliches Erkennen ist die vollständige Vision, sein Gegenstand eine keinerlei Unbestimmtheit, keinerlei Bruchstückhaftigkeit zugängliche Einheit des Anwesendseins; und wenn Gott nicht denkt, so deshalb, weil seine Anschauung so vollständig ist, daß er des Denkens nicht bedarf. Diese Einheit der Anschauung macht die zweite der vom Begriff der göttlichen Erkenntnis vorgeschriebenen Formen der Einheit aus. Das in dieser Form der Einheit liegende Problem kommt auch in Kants Kennzeichnung der ursprünglichen Anschauung als "intellektueller Anschauung" zum Ausdruck (B 72). Dieser Ausdruck stammt noch aus seiner Inauguraldissertation. In dieser früheren Arbeit wird die göttliche Anschauung als unabhängig (d.i. von keinem unabhängig von ihr existierenden Gegenstand abhängig) und archetypisch (d.h. ihren Gegenstand selbst hervorbringend) beschrieben; sie ist "deswegen vollkommen intellektuell" 5 . Im Zusammenhang der Dissertation bedeutet eine intellektuelle Anschauung eine Anschauung von intelligiblen im Gegensatz zu sensiblen Dingen, eine Anschauung von Dingen, wie sie sind, und nicht von Dingen, wie sie einer sinnlichen Anschauung erscheinen 6 •
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De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, 11,397 (§ 10). Ebd., 392f. (§ 4).
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Der Zusammenhang liegt auf der Hand: Weil die göttliche Anschauung ursprünglich ist, liegt ihr Gegenstand völlig innerhalb ihres Verfügungsbereichs, kann also dieser Anschauung unmöglich in irgendeiner Hinsicht entzogen, von ihr abwesend, ihr verborgen sein; in einer solchen Anschauung muß sich der Gegenstand zeigen, wie er ist, und folglich ist die Anschauung intellektuelL Der Ausdruck "intellektuelle Anschauung" verweist auf eine weitere Frage; denn die in diesem Ausdruck gesetzte Konjunktion hat etwas höchst Problematisches an sich. Im Aufbau der menschlichen Erkenntnis wird das Intellektuelle der Anschauung gegenübergestellt: Während die Anschauung als Sinnlichkeit die Rezeptivität des Subjekts ist, kraft derer ihm Gegenstände erscheinen, ist das Intellektuelle dasjenige, was nicht erscheinen kann, was vielmehr gedacht werden muß 7 • So verbindet der Ausdruck "intellektuelle Anschauung" Denken und Anschauung miteinander. Wie lassen sich diese jedoch so verschmelzen, daß die Anschauung nicht nur das Denken als Hilfsmittel verwendet, sondern sogar vom Wesen des Denkens gezeichnet, also intellektuell wird? Und wie vor allem ist eine solche Konjunktion in der göttlichen Erkenntnis möglich? Wie kann die göttliche Anschauung intellektuell sein, wenn Gott nicht denkt? 8 Dieselbe problematische Konjunktion wird auch in anderer Form eingeführt, nämlich im Begriff eines Verstandes, der auch anschauend ist, eines anschauenden Verstandes. In der Transzendentalen Deduktion (B145) spricht Kant von einem "Verstand ... , der selbst anschauete" und fügt dann in Klammem hinzu: "wie etwa einen göttlichen, der nicht gegebene Gegenstände sich vorstellte, sondern durch dessen Vorstellung die Gegenstände selbst zugleich gegeben oder hervorgebracht würden". Diese Erklärung zum Beispiel des göttlichen Verstandes macht deutlich, daß in dieser Konjunktion von Anschauung und Verstand das Probl~m im wesentlichen dasselbe ist wie bei der Betrachtung der ursprünglichen Anschauung. Jedoch erscheint es nun in der der Transzendentalen Analytik angemessenen Form: Während Kant in der Transzendentalen Ästhetik die göttliche Erkenntnis als eine Anschauung betrachtet, die so autark ist, daß sie keines weiteren Beitrags seitens des Denkens bedarf, beschreibt er sie in der Analytik als einen Verstand - damit also ein Denken (vgL A69/B94) - der so autark ist, daß er Vgl. Kants Entwicklung der Unterscheidung zwischen dem realen und dem logischen Gebrauch des Intellekts (ebd., 393f. (§ 5)). 8 In einem Brief an Schultz von 1788 gibt Kant seiner Sorge Ausdruck, ihm nicht wohlwollende Kritiker könnten sich auf diesen anscheinenden Widerspruch stürzen: "Bey dieser Gelegenheit nehme mir die Freyheit zu bemerken, daß, da die Anticritiker an jedem Ausdrucke nagen, die Stelle Seite 27, Zeile 4, 5, 6. wo ein sinnlicher Verstand genannt wird, imgleichen den göttlichen Verstande ein Denken zugeschrieben zu werden scheint, eine kleine Abänderung rathsam seyn würde" (Brief 340 anJohann Schultz, 25. Nov. 1788; X,557. - Die genannte Stelle findet sich in der ersten Auflage der Kritik der 7
reinen Vernunft).
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sich selbst seinen Gegenstand gibt, als einen Verstand also, der keines getrennten Anschauungsvermögens bedarf, wie es sonst erforderlich wäre, um dem Verstand seinen Gegenstand zu geben. In beiden Fällen geht es nicht darum, daß ein Vermögen das andere ausschließt, sondern vielmehr um die Einheit beider 9 _ Es geht darum, diese Einheit aus zwei verschiedenen Perspektiven zu denken: In der Transzendentalen Ästhetik wird die Einheit von Anschauung und Denken aus der Perspektive der Anschauung betrachtet; in der Transzendentalen Analytik wird dieselbe Einheit aus der Perspektive des Denkens, bzw. des Verstandes betrachtet. Kant bietet für die im Begriff des anschauenden Verstandes zum Ausdruck gebrachte Konjunktion eine noch weiter verfeinerte Formulierung. Er schreibt: "Ein Verstand, in welchem durch das Selbstbewußtsein zugleich alles Mannigfaltige gegeben würde, würde anschauen"; und dann fügt er die Gegenbestimmung hinzu: unser Verstand "kann nur denken und muß in den Sinnen die Anschauung suchen" (B135; vgL Bl38-9). Diese Formulierung gibt dem Hauptterm der Konjunktion eine radikalere Form: Die transzendentale Apperzeption, das Selbstbewußtsein, ist der Grundakt des Verstandes, und ein autarker Verstand wäre so beschaffen, daß er sich durch diesen Grundakt selbst seinen Gegenstand gäbe. Für einen solchen Verstand würde alles auf etwas anderes als sich selbst bezogene Setzen in das Setzen seiner selbst aufgelöst. Besonders in dieser Formulierung ist die dem göttlichen Denken eigene Vollkommenheit, Ganzheit, Einheit offenbar; es ist eine Einheit, die in Autarkie besteht, in der Freiheit von jeglicher Abhängigkeit von einer wesentlich abgetrennten vermittelnden Anschauung. Diese Einheit des Denkens macht die dritte der vom Begriff der göttlichen Erkenntnis vorgeschriebenen Formen der Einheit aus. Kants Formulierung der beiden wichtigsten Begriffe der göttlichen Erkenntnis scheint in sich widersprüchlich zu sein: Dem in der Transzendentalen Ästhetik formulierten Begriff zufolge wäre die göttliche Erkenntnis primär eine Anschauung, während sie dem in der Transzendentalen Analytik gegebenen Begriff zufolge primär ein Denken bzw. Verstand wäre. Dieser scheinbare Widerspruch zwischen dem Begriff der ursprünglichen Anschauung und demjenigen des anschauenden Verstandes löst sich jedoch völlig, weil es sich zeigt, daß es in beiden Begriffen um dieselbe Sache geht, nur jeweils aus einer anderen Perspektive betrachtet, nämlich um das Problem der Einheit von Anschauung und Denken. Aber ist die Sache wirklich in beiden Fällen dieselbe? Läßt sich diese Selbigkeit angesichts des Wesens der ursprünglichen Anschauung aufrecht erhalten? Schließt nicht die ursprüngliche Anschauung aufgrund ihrer Beschaffenheit eben jegliches Hinzukommen von Denken aus? Betont Kant nicht gerade das Ausgeschlossensein des Denkens aus der ursprünglichen Anschauung? Wenn Gott nicht denkt -wie 9 Vgl. A249, wo Kant von einer "nicht sinnlichen Anschauung, d.i. (einer Anschauung) des Verstandes" spricht.
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kann dann in der göttlichen Erkenntnis eine Einheit von Denken und Anschauung bestehen? Wie läßt es sich dann behaupten, daß der Begriff der ursprünglichen Anschauung und der des anschauenden Verstandes dieselbe Sache bezeichnen? Es bedarf einer genaueren Betrachtung dessen, was Kant mit dem Ausschluß des Denkens aus der ursprünglichen Anschauung wirklich ausschließen will. Das einzige, worum es bei dem Ausschluß geht- was also dadurch erhalten werden soll -, ist die Einheit, die Vollkommenheit der göttlichen Anschauung; und damit wäre das, was Kant ausschließen möchte, alles Denken, das in einer Wechselbeziehung zu einer Beschränktheit in der Anschauung steht. Was für ein Denken wäre das? Es wäre ein auf eine Unbestimmtheit seitens der Anschauung bezogenes Denken, ein Denken, dessen Einsatz als Hilfsmittel im Dienste der Anschauung eine solche Unbestimmtheit "wettmachen" würde. Was Kant ausschließt, istalldas Denken, das die Form eines Bestimmens, eines Fesdegens einer Bestimmtheit in einem mehr oder weniger unbestimmten "Gegebenen" trüge. Wird dadurch alles Denken ausgeschlossen? Nein, keineswegs - was sich bei näherer Betrachtung des Begriffs der ursprünglichen Anschauung zeigen wird. In der ursprünglichen Anschauung wird der Gegenstand nicht nur angeschaut, sondern auch hervorgebracht, geschaffen, in seinem Dasein als Gegenstand gesetzt. Zudem geschieht das Setzen in durchgängiger Einheit mit dem Anschauen: Der Gegenstand wird nicht zuerst gesetzt und dann angeschaut, sondern im Anschauen selbst gesetzt, so wie er auch im Gesetztwerden angeschaut wird. Jedoch ist die Anschauung als solche rezeptiv. Wenn daher in der ursprünglichen Anschauung ein Setzen des Gegenstandes stattfinden soll, ein Setzen in Einheit mit dem anschauenden Empfangen, so muß in diese Anschauung eine Spontaneität eingebaut sein, die trotz des Gegensatzes zwischen Spontaneität und Rezeptivität mit dieser Anschauung vereinigt wird. Eine solche Spontaneität, ein solches Vermögen des Setzens (im Gegensatz zum bloßen Empfangen) ist das Denkvermögen 10 • Daher muß in dieser Hinsicht das Denken mit der ursprünglichen Anschauung eins sein. Jedoch ist - und das setzt .Kants Ausschluß durch - solches Denken kein bestimmendes Denken, kein Denken, das Bestimmungen in etwas festlegt, kein Denken, das bezogen auf ein "Gegebenes" setzt, kein diskursives Denken11. Es ist vielmehr ein Denken, das ursprünglich setzt 12 , das den Gegen10
191.
Vgl. A50/B74f.; A68/B93; Heidemann, Spontaneität und Zeitlichkeit, pp. 187f.,
11 Der Charakter eines solchen Denkens wird vielleicht am deutlichsten herausgearbeitet in der Reihe von Bestimmungen, die sich in § 77 der Kritik der Urteilskraft finden (V,405-410): 1) Der Verstand wird als diskursiv definiert: .,Unser Verstand ist ein Vermögen der Begriffe, d.i. ein discursiver Verstand, ftir den es freilich zufällig sein muß, welcherlei und wie sehr verschieden das Besondere sein mag, das ihm in der Natur gegeben werden und das unter seine Begriffe gebracht werden kann".
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Auslegungshorizonte
stand als solchen setzt, statt nur Bestimmtheit in einem bereits gegebenen Gegenstand zu setzen. Zusammenfassend ließe sich sagen: In der göttlichen Erkenntnis, sei sie nun als ursprüngliche Anschauung oder als anschauender Verstand gekennzeichnet, sind Anschauung und Denken nicht nur aufeinander bezogen, nicht nur zwei "Stämme", sondern vielmehr wesentlich zu einer Einheit verschmolzen. Die göttliche Erkenntnis liegt noch vor dem Punkt, an dem sich die gemeinsame Wurzel teilt 13 , liegt natürlich auch vor Metaphysik und Kritik; in einem anderen Sinne ist die göttliche Erkenntnis genau dieser Punkt, die von der Kritik gesetzte ursprüngliche Einheit. Diese Einheit von Anschauung und Denken macht die vierte der vom Begriff der göttlichen Erkenntnis geforderten Formen der Einheit aus. So entfaltet sich aus dem Begriff der göttlichen Erkenntnis - die genauer als ursprüngliche Anschauung und als anschauender Verstand bestimmt wurde - eine vierfache Einheit: die Einheit von Subjekt und Objekt, die Einheit der Anschauung, die Einheit des Denkens und die Einheit von Anschauung und Denken. Diese vier Formen der Einheit im Begriff der göttlichen Erkenntnis sind die Momente, die das Versammeln des Horizonts für die projektive Interpretation von diesem Term der allgemeinen Unterscheidung zwischen göttlicher und menschlicher Erkenntnis übernehmen soll. Nach dieser Übernahme gilt es dann, diese Darstellung auf die entsprechenden Momente im Begriff der menschlichen Erkenntnis auszudehnen, also die vierfache fehlende Einheit, die vierfache Fragmentierung zu entfalten, die in der menschlichen Erkenntnis der vierfachen Einheit der göttlichen Erkenntnis entspricht. Gehen wir zurück zum Anfang der Transzendentalen Ästhetik: "Diese [die Anschauung] findet aber nur statt, sofern uns der Gegenstand gegeben wird." Das heißt: Die menschliche Erkenntnis entspricht derjenigen Form des Gebens, die vom Objekt ausgeht; in der menschlichen Erkenntnis gibt sich das Objekt dem Subjekt. Die bei solcher Erkenntnis beteiligte An2) Vom Verstand in diesem Sinne wird ein Verstand in einem allgemeineren Sinne unterschieden, eines Sinnes, der auch herangezogen werden könnte zur Bestimmung des göttlichen Erkennens, obwohl letzteres nicht diskursiv ist: "Weil aber zum Erkenntniß doch auch Anschauung gehört, und ein Vermögen einer völligen Spontaneität der Anschauung ein von der Sinnlichkeit unterschiedenes und davon ganz unabhängiges Erkenntnißvermögen, mithin Verstand in der allgemeinsten Bedeutung sein würde: so kann man sich auch einen intuitiven Verstand (negativ, nämlich bloß als nicht discursiven) denken, welcher nicht vom Allgemeinen zum Besonderen und so zum Einzelnen (durch Begriffe) geht ... ". 3) Solch ein intuitiver Verstand geht "vom Ganzen zu den Theilen" und bildet den Gegentypus "unseres discursiven, der Bilder bedürftigen Verstandes und der Zufa.lligkeit einer solchen Beschaffenheit __ .". 12 Deshalb verwendet Kant manchmal den Ausdruck "urspriingliche Apperzeption" (Alll; Bl32). 1 3 Sie liegt ebenso der Aufteilung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit voraus. Sie hat "keine Gegenstände als das Wirkliche" (Kritik der Urteilskraft, § 76. V,401-404).
Das Sammeln
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schauung nennt Kant "abgeleitete Anschauung". Hier ist das erkennende Subjekt davon abhängig, daß ein nicht von ihm selbst geschaffener Gegenstand sich selbst ankündigt, das Subjekt affiziert. Daher fährt Kant fort: " . . . dieses aber ist wiederum uns Menschen wenigstens 14 nur dadurch möglich, daß er das Gemüth auf gewisse Weise afficire." Eine solche Abhängigkeit von der Affektion verweist bereits auf die entsprechende fehlende Einheit zwischen Subjekt und Objekt. Diese fehlende Einheit wird von Kants Begriff der Empfindung und der Rolle der Empfindungen in der menschlichen Erkenntnis genauer bestimmt: "Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, sofern wir von demselben afficirt werden, ist Empfindung." Als bloße Wirkungen, bloße Modifizierungen der Rezeptivität des Subjekts können Empfindungen im Gegenstand selbst keine Entsprechung haben. Was der Gegenstand gibt, was er im Bewußtsein bewirkt, fällt nicht mit dem Gegenstand, wie er an sich selbst ist, zusammen; ja, die Differenz zwischen dem Objekt, wie es dem Subjekt präsent ist, und dem Objekt an sich selbst ist so radikal, daß selbst die Behauptung dieser Differenz problematisch wird. Diese radikale Trennung zwischen dem Objekt (dem Ding an sich) und dem dem Subjekt Gegebenen (der Empfindung) macht die erste der Formen der fehlenden Einheit, der fehlenden Einheit von Subjekt und Objekt aus. Einer so von der Affektion abhängigen und somit vom Objekt getrennten Anschauung wird das innere Wesen dieses Gegenstandes nicht gegeben. Einer solchen Anschauung wird die Substanz des Dinges nicht gegeben, das heißt, das innere Wesen, das es zu dem machen würde, was es als Einzelnes ist. Der menschlichen Anschauung wird kein einzelnes Intelligibles gegeben15. Statt des Dinges in seiner singularenEinheitwerden der menschlichen Anschauung nur Empfindungen gegeben, die nicht nur dem Ding an sich fernstehen, sondern, weil sie "im Gemüthe an sich zerstreut und einzeln angetroffen werden" (A120), ein radikal verstreutes Mannigfaltiges ausmachen. Empfindungen machen nur die "Materie" der Erscheinungen aus; es fehlt ihnen die Form, sie sind ganz und gar bruchstückhaft, ohne Ganzheit und Einheit (vgl. Bl29-30; A99). Diese fehlende Einheit der Anschauung ist die zweite der Formen der fehlenden Einl:eit. Sie zerbricht das vollkommene Beisichsein der göttlichen Anschauung, läßt den Gegenstand zurückgezogen, abwesend, statt seiner nur verstreute Bruchstücke zurück. Hier wird
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Der Einschub "uns Menschen wenigstens" wurde in der Zweiten Auflage hinzugefligt, in der generell die Unterscheidung zwischen menschlicher Erkenntnis und göttlicher Erkenntnis deutlicher expliziert ist. 15 Vgl. A277/B333; B67; und besonders Kants Brief an Reinhold vom 12. Mai 1789, in dem er schreibt: " ... aber das Realwesen (die Natur), d.i. der erste innere Grund alles dessen, was einem gegebenen Dinge notwendig zukommt, kann der Mensch von gar keinem Objekte erkennen" (Brief 359: An Carl Leonhard Reinhold. 12. Mai 1789. XI,36). Vgl. ebenso Heimsoetlt, Studien, 75f., 194f.
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Auslegungshorizonte
überdeutlich, wessen es bedarf: Es bedarf des Sammelns des Objektes in die Anwesenheit. Weil sie bruchstückhaft, radikal zerstreut und unbestimmt ist, braucht die menschliche Anschauung das Denken als Hilfsmittel. Sie braucht das Denken, um in den Besitz jener ihr fehlenden Bestimmtheit zu gelangen, um sich so auf die Ebene eines Erkennens zu erheben; sie bedarf des Denkens, damit das Objekt in die Anwesenheit gesammelt wird. Umgekehrt leitet sich das das menschliche Denken kennzeichnende Wesen davon ab, daß es auf die Anschauung ausgerichtet ist, deren Bedürfniserfüllung dient. Genauer gesagt ist das Denken ein Bestimmen, ein Hineintragen einer Bestimmtheit in etwas ihm bereits Gegebenes, nämlich das unbestimmte Mannigfaltige der abgeleiteten Anschauung. Das menschliche Denken ist ein Setzen im Verhältnis zu einem "Gegebenen" und nicht, wie das göttliche Denken, ein Setzen des Gegenstandes selbst 16 • Auf allen Ebenen ist es einer sinnlichen Bedingung unterworfen. Es ist ein Setzen, das somit abhängig, partiell ist, das eines ihm von anderwärts bereitgestellten Inhalts bedarf und das ohne diesen Inhalt bruchstückhaft bleibt 17 • Diese fehlende Einheit des Denkens ist die dn"tte der Formen der fehlenden Einheit. Da die menschliche Anschauung abgeleitet ist, wird der Gegenstand einer solchen Anschauung nicht einfach durch einen Akt eines mit der Anschauung selbst zur Einheit verschmolzenen setzenden Denkens gesetzt. Im Gegenteil besteht zwischen Rezeptivität und Spontaneität, zwischen dem Angeschauten und der durch das Denken für das Angeschaute gesetzten Bestimmung eine Trennung. In anderen Worten, es gibt zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis. Ihre Teilung in diese beiden Stämme, also die
In einem Brief an Herz schneidet Kant diese Unterscheidung an, speziell in der Beziehung auf die Antinomien: " ... wo denn die Antinomien der r. Vernunft einen guten Probierstein abgeben können, die ihn [Maimon] vielleicht überzeugen werden, daß man den menschlichen Verstand nicht für spezifisch einerlei mit dem göttlichen und nur durch Einschränkung, d.i. dem Grade nach, von diesem unterschieden annehmen können, daß er nicht, wie dieser, als ein Vermögen anzuschauen, sondern nur zu denken, müsse betrachtet werden, welches durchaus ein davon ganz verschiedenes Vermögen (oder Rezeptivität) der Anschauung zur Seite, oder besser zum Stoffe, haben müsse, um Erkenntniß hervorzubringen ... " (Brief 362: An Marcus Herz. 26. Mai 1789. XI,54). Der Punkt der Berührung mit den Antinomien liegt darin, daß die göttliche Erkenntnis, da sie ihrem Wesen nach nicht von ihrem Inhalt getrennt ist, auch nicht mit sich selbst in Konflikt (Antinomien) geraten kann hinsichtlich ihres Inhalts. 17 "Weil nun der Verstand in uns Menschen selbst kein Vermögen der Anschauungen ist, und diese, wenn sie auch in der Sinnlichkeit gegeben wäre, doch nicht in sich aufnehmen kann, um gleichsam das Mannigfaltige seiner eigenen Anschauung zu verbinden ... " (Bl53). Die von Kant kursiv hervorgehobenen Worte sollen die mangelnde Einheit des Denkens hervorheben: Sein Inhalt muß von anderswoher kommen, und selbst wenn es diesen Inhalt in sich aufnimmt, bleibt er flir es ein "von anderswoher" Gebrachtes, wird er nicht zum Eigenen des Denkens. 16
Das Sammeln
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fehlende Einheit von Anschauung und Denken, macht die vierte der Formen
der fehlenden Einheit aus. Zweck dieser Ausarbeitung der Terme der allgemeinen Unterscheidung, dieser Darlegung der vierfachen Einheit der göttlichen Erkenntnis im Gegensatz zur vierfachen fehlenden Einheit der menschlichen Erkenntnis war es, den Bruch zwischen menschlicher und göttlicher Erkenntnis in seiner Grundstruktur zu umreißen. Jedoch geht es dabei nicht um eine bloße statische Lücke zwischen zwei unbeweglichen Ebenen, oder vielmehr gilt das nur, solange es um den abstrakten Rahmen einer Bewegung geht. Die Verwandlung der herausgearbeiteten Unterscheidung zwischen göttlicher und menschlicher Erkenntnis in einen Begriff der Bewegung der menschlichen Erkenntnis macht den entscheidenden letzten Schritt bei dem Versammeln des Horizonts für die (projektive) Interpretation aus. Bei dieser Verwandlung geht es darum, der menschlichen Erkenntnis ihre innere Bewegung zuzugestehen: Die menschliche Erkenntnis ist nicht ein für allemal auf der unteren Seite der Lücke angesiedelt, sondern ist vielmehr die Bewegung über die Lücke hinweg, die Bewegung des Schließens der Lücke. In anderen Worten macht die vierfache fehlende Einheit, die Fragmentierung innerhalb der menschlichen Erkenntnis nur die Anfänge der menschlichen Erkenntnis aus. Solche Erkenntnis ist jedoch nicht einfach diesen Anfängen unterworfen, gänzlich durch sie bestimmt, sondern ist vielmehr eine Bewegung· aus den Anfängen heraus. Sie ist eine Aufwärtsbewegung in Richtung der Ebene der göttlichen Erkenntnis, eine Bewegung der Selbstvervollkommung. Genauer gesagt ist sie eine Bewegung des Sammelns der bruchstückhaften Anfänge in die Einheit, eine Bewegung des Versammelns, wodurch die vierfache fehlende Einheit der Anfänge wettgemacht würde, eine Bewegung, wodurch der in seine Einheit der Anwesenheit gesammelte Gegenstand in die Anwesenheit für das Subjekt gesammelt würde. Es ist eine Bewegung, wodurch das anfangs Verstreute, Nicht-Vereinigte, Bruchstückhafte in eine der göttlichen Erkenntnis eigenen verwandte Einheit versammelt würde. Menschliches Erkennen als Bewegung des Sammelns ist eine Bewegung hin auf die Neuerschaffung einer der göttlichen Erkenntnis eigenen verwandten Einheit aus den bruchstückhaften Anfängen der menschlichen Erkenntnis. Der Horizont für die projektive Interpretation ist somit versammelt: Er wird durch diesen komplexen Begriff des Sammelns konstituiert des Sammelns bruchstückhafter Anfänge in eine derjenigen der göttlichen Erkenntnis vergleichbare Einheit, eines Sammelns des Gegenstandes (und letztlich des Ichs) in die Anwesenheit. Jedoch fällt dieses Sammeln in seinen höchsten Bestrebungen mit der Metaphysik selbst zusammen. Für die Kritik geht es daher darum, sorgfältig auf die Grenze des sammelnden Aufstiegs der menschlichen Erkenntnis zu achten, streng jenen Punkt auszumachen, an dem sich - dramatisch gesprochen - die Bande der menschlichen Erkenntnis mit ihren bruchstückhaften Anfängen wieder geltend machen, dem
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Auslegungshorizonte
kritischen Bestreben ein tragisches Ende androhen und die Philosophie in die Bahnen bloßer Sophisterei ablenken. Die Kritik der reinen Vernunft will diese Grenzen bestimmen und, soweit möglich, Hilfsmittel bereitstellen, mit denen sich die menschliche Erkenntnis im Rahmen dieser Grenzen entfalten ließe.
3. Modi des Sammelns Der so versammelte Horizont soll der projektiven Auslegung emes Textes dienen, der Transzendentalen Dialektik, der seinerseits Teil eines größeren Textes, der Transzendentalen Elementarlehre der Kritik der reinen Vernunft, ist. Es ist somit ein Text, der im stärksten und wörtlichsten Sinne seinen Kontext hat. Vorbereitend für die Auslegung bedarf dieser Kontext daher der Assimilierung an den Horizont - oder anders gesagt: Transzendentale Ästhetik und Transzendentale Analytik bedürfen des Bezogenwerdens auf die Frage des Sammelns. Sie sind (wenngleich nur global, vorbereitend) als verschiedene Modi des Sammelns darstellend wiederzugeben. Das Grundproblem der Transzendentalen Ästhetik ist, wie der Titel besagt, die Sinnlichkeit oder Anschauung in bezug auf ihre apriorischen Elemente betrachtet. Das Problem ist die apriorische Sinnlichkeit, also die reine Anschauung (A21/B35-6). Wie macht die reine Anschauung einen Modus des Sammelns aus? Im Zusammenhang der durch die vierfache Fragmentierung konstituierten Anfänge läßt sich die Empfindung als der äußerste Anfang menschlicher Erkenntnis bezeichnen, und zwar in zweifachem Sinne: einmal ist die Abhängigkeit der menschlichen Erkenntnis von der Empfindung die Wurzel aller ihrer Fragmentierungsformen; und zum andem stellt die Empfindung das Anfangselement, aus dem sich die menschliche Erkenntnis in gewissem Sinne nur entwickelt. Auf der Ebene dieses Anfangselements herrscht äußerste Zusammenhangslosigkeit, äußerstes Zerstreutsein, äußerste Formlosigkeit, bloßer Inhalt (vgl. A99; A120; B129-30). Aber diese Ebene, die Empfindung, ist nur der Anfang; sie ist noch keine Erkenntnis, noch nicht einmal Anschauung im echten Sinne. Vielmehr erfordern die Anschauung und die darauf aufbauende Erkenntnis eine Bewegung von diesem Anfang weg. Anschauung ereignet sich also als ein überwinden dieser Anfangsebene, als ein Beseelen des bloßen Inhalts, ein Unter-eine-Form-Bringen dieses Inhalts. Dieses Beseelen, dieses Bereitstellen einer Form ereignet sich (auf elementarster Ebene) durch die reine Anschauung. Die reine Anschauung dient dem Sammeln des zerstreuten Mannigfaltigen der Empfindungen. Als konstitutives Element in der empirischen Anschauung dient sie dem Sammeln des bloßen "Gegebenen" in die reinen Formen von Raum und Zeit, Formen, die so "wesentlich einig" sind, daß sie im Gegensatz
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zu den Gegenständen der empirischen Anschauung die Mannigfaltigkeit nur durch Einschränkungen zulassen (vgl. insbes. A25/B39; A32/B47-8). Die reine Anschauung ist ein Modus des Sammelns; sie ist der erste Modus des Sammelns, weil sie im Gesamtgefüge des Sammelns allen weiteren Modi als Voraussetzung dient. Auf welche Weise dient dieses Sammeln dazu, die fehlende Einheit der Anfänge der menschlichen Erkenntnis zu beheben? Auf welche Weise dient es dem Sammeln des Bruchstückhaften in die Einheit? Genau welche Formen der Fragmentierung hilft es zu beheben? Offensichtlich spielt bei dem Beheben dieser fehlenden Einheit das Denken keine Rolle, weder für sich genommen noch zusammen mit der Anschauung; denn das Sammeln in der reinen Anschauung ereignet sich auf einer Ebene, wo das Denken noch nicht in Aktion tritt und der Stoff für das Denken zuerst konstituiert wird 18 • Auch wird auf dieser Ebene die fehlende Einheit von Subjekt und Objekt nicht behoben, bestenfalls finden entfernte erste Vorbereitungen dafür statt. Die fehlende Einheit, die durch die reine Anschauung tatsächlich behoben wird, ist die der Anschauung selbst (der zweiten der vier Formen). Die äußerste Fragmentierung, die so radikal ist, daß sogar die Bezeichnung "Anschauung" noch nicht am Platze ist, wird durch das Sammeln in der reinen Anschauung überwunden; was bis dahin nichts als Bruchstücke war, wird in eine Einheit gesammelt; es wird ihm Ganzheit verliehen. Im Falle der ursprünglichen Anschauung wäre natürlich ein solches Sammeln nicht erforderlich, weil es keinerlei Bruchstückhaftigkeit gibt, die zu beheben wäre; in diesem Zusammenhang ist zu sehen, daß Kant darauf besteht, daß in der göttlichen Erkenntnis die reine Anschauung keine Rolle spielt: "[In der natürlichen Theologie] ... ist man sorgfältig darauf bedacht, von aller( ... ) Anschauung die Bedingungen der Zeit und des Raumes wegzuschaffen"
(B 71 ).
Der Begriff der reinen Anschauung hat eine bemerkenswerte Eigenheit. Als Anschauung ist die reine Anschauung so beschaffen, daß ihre etwas gegeben wird. Als reine Anschauung erfordert sie jedoch, daß das ihr Gegebene nicht auf seiten des Gegenstandes, sondern vielmehr aus dem Subjekt selbst entspringt. Somit gibt sich das Subjekt in der reinen Anschauung selbst etwas (eine Form): das Gegebene (das in der reinen AnschauDie besondere Weise, in der das Denken auf diese Ebene bezogen ist, hängt! ab vom Charakter des Denkens, ob es die Form des Verstandes, des Urteilens oder der Vernunft hat, und davon, ob es den Charakter des reinen oder des empirischen Denkens hat. In allen Fällen ist die Beziehung eigentümlich komplex, und jene Momente dieser Beziehung, die für die hier unternommene Interpretation von Bedeutung sind, werden am gegebenen Ort aufgenommen werden. Jedoch verbleiben trotz der Komplexität und unterschiedlichen Modalität, in der diese Relation auftritt, und trotz der daraus folgenden Forderungen nach weitergehenden Qualifizierungen einige unmittelbar deutliche Rücksichten, in denen das Denken in einem unbedingten Sinne nach einer "Materie" verlangt, die ihm durch Anschauung gegeben ist. 18
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ung Angeschaute) wird in eben der Anschauung in Einheit mit ihr gesetzt. In anderen Worten ist die Struktur der reinen Anschauung dieselbe wie die der ursprünglichen Anschauung; in beiden Fällen besteht eine Einheit von Anschauen und Setzen 19 • Der Unterschied ist der, daß die reine Anschauung nur die formalen Elemente des erscheinenden Gegenstandes (also Raum und Zeit als die Formen der Erscheinung) hervorbringt, während die ursprüngliche Anschauung den Gegenstand als ganzen hervorbringt, dessen einzigen Ursprung ausmacht. Somit ist mit der reinen Anschauung der menschlichen Anschauung in ihrem Kern ein Bild der ursprünglichen (göttlichen) Anschauung eingeprägt. Betrachtete man die reine Anschauung in Absehung von ihrer Rolle in der empirischen Anschauung und somit in der Erkenntnis als ganzer, so wären bei ihr alle Formen der Fragmentierung beseitigt und nicht nur behoben; das Sammeln wäre absolut (wenn mir die Beibehaltung dieses Widerspruchs zu strategischen Zwecken gestattet ist). Jedoch wird dieses Bild der ursprünglichen Anschauung immer in die Gesamtstruktur der empirischen Anschauung eingefügt, und sogar so, daß seine Sammelkraft in begrenztem Maße auf das Ganze der empirischen Anschauung übertragen (und der Widerspruch also aufgelöst) wird. Auf der Ebene der Transzendentalen Analytik oder, noch allgemeiner, auf derjenigen des Denkens gibt es verschiedene Modi des Sammelns. Die sie trennenden Unterschiede wurzeln in der dreifachen Unterscheidung, die sich aus Kants anfänglicher Abgrenzung des Begriffs der transzendentalen Logik ergibt (vgl. A50/B74 - A57 /B82): der Unterscheidung zwischen 1) logischem Denken, das - wie bei Vernunftschlüssen -- von allem Inhalt abstrahiert und es nur mit der Form der Erkenntnis zu tun hat; 2) empirischem Denken, das es mit dem empirischen Inhalt zu tun hat - etwa in gewöhnlichen empirischen Urteilen; und 3) reinem Denken mit seinem reinen, d.h. nichtempirischen Inhalt. Die diesen Denkmodi entsprechenden Modi des Sammelns bedürfen der näheren Betrachtung. Kant behauptet, daß "wir des Schließens beständig bedürfen" (A303/ B359). Was erreichen wir mit dem Schließen? Welches Bedürfnis wird damit 1 9 Der eigentümliche Charakter der reinen Anschauung begründet nicht nur die Möglichkeit der Mathematik, sondern verleiht dem mathematischen Denken auch dessen charakteristische Kreativität. Tatsächlich sind es Kants Erörterungen der Mathematik, in denen dieser Charakter der reinen Anschauung am deutlichsten evident wird. So sagt er im Zuge der Erörterung der Geometrie, daß "die Gegenstände durch die Erkenntnis selbst, a priori (der Form nach) in der Anschauung, gegeben werden" (A87/B120f.). In einer ausgedehnteren Erörterung der mathematischen Konstruktion schreibt er: "In Ansehung der (Form der Anschauung] können wir unsere Begriffe in der Anschauung a priori bestimmen, indem wir uns im Raume und in der Zeit die Gegenstände selbst durch gleichförmige Synthesis schaffen, indem wir sie bloß als Quanta betrachten" (A723/B 7 51). In Ober eine Entdeckung (1790) gibt Kant eine weitergehende Erklärung darüber, was eine mathematische Konstruktion involviert, und stellt sie ausdrücklich in eine Relation zur Einbildungskraft (VIII,l91f.).
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gestillt? Das Wissen von den Dingen wird streng genommen nicht erweitert; denn das Schließen (der hier zur Debatte stehenden deduktiven Art) ist rein formal. Nach Kant dient das Schließen vielmehr der Herstellung von Verbindungen zwischen einzelnen, bereits in unserem Besitz befindlichen Erkenntnissen, indem es unserer Erkenntnis formale Einheit verleiht; etwa dadurch, daß es eine Aussage durch einen Vernunftschluß unter weitere Bedingungen bringt- Die Vernunft versucht, "im Schließen die große Mannigfaltigkeit der Erkenntniß des Verstandes auf die kleinste Zahl der Principien (allgemeiner Bedingungen) zu bringen und dadurch die höchste Einheit derselben zu bewirken" (A305/B361). So werden im logischen Denken bereits konstituierte Erkenntnisse, d.h. Urteile, in eine formale Einheit gesammelt. Das logische Denken ist ein Modus des Sammelns. Dieses Bedürfnis, Schlüsse zu ziehen, das Bedürfnis, im logischen Denken zu sammeln, ist in den bruchstückhaften Anfängen verwurzelt, woran die menschliche Erkenntnis gebunden ist- Im menschlichen Denken herrscht ein fundamentaler Mangel an Einheit, an Ganzheit, an Autarkie, in dem Sinne, daß solches Denken seine ihm zugeordnete Anschauung nicht in Einheit mit sich selbst enthält. Vielmehr ist es, was seinen Inhalt angeht, von einem selbständigen, wesentlich getrennten Vermögen der Anschauung abhängig. Solches Denken hat die Form eines Bestimmens dieses Inhalts. Jedoch läßt sich ein Inhalt in verschiedenen Rücksichten bestimmen. So läßt sich etwa dasselbe als rot, lang, schwer, etc. bestimmen; und somit ergeben sich viele Bestimmungen. Anstelle des einen einzigen und einigen Aktes der Setzung des Gegenstandes (wie in der göttlichen Erkenntnis) finden eine Vielfalt partieller Setzungen statt, bei denen der Gegenstand als etwas bestimmt wird, als etwas, dem ein bestimmter Charakter zukommt. Folglich ist das menschliche Denken in eine Vielfalt von Bestimmungen zerstreut. Weil es zerstreut ist, besteht jenes Sammelbedürfnis, das im logischen Denken befriedigt wird. Der Sammelcharakter des empirischen Denkens ist sogar auf der Ebene der bloßen Begriffsbildung offenbar. Im Gegensatz zu Anschauungen werden Begriffe nie einfach gegeben, sondern entspringen vielmehr durch die Spontaneität des Denkens. Was auch die Quelle ihres Stoffs (Inhalts) sein mag, wird die Form, durch die Begriffe als Begriffe konstituiert werden, immer gemacht und nicht gegeben. Kant beschreibt eine solche Form, wenn er einen Begriff als "eine Vorstellung dessen, was mehreren Objecten gemein ist" 20 bestimmt- Entsprechend ist der Grundakt der Begriffsbildung, wodurch die Form entspringt, ein Akt, der vieles unter eins bringt. In seiner Logr:k nennt Kant diesen Grundakt "Reflexion" und deutet an, wie diese zu ihrer vollen Struktur zweier weiterer Akte bedarf, nämlich der untergeordneten Akte der Vergleichung und der Abstraktion 21 • In der Kritik der 20
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Logik, IX,91. Ebd.. 94f.
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reinen Vernunft bezeichnet Kant den Grundakt nicht nur als Reflexion (z.B. A85/Bll7), sondern auch als Funktion: Alle Anschauungen als sinnlich beruhen auf Affectionen, die Begriffe also auf Functionen. Ich verstehe aber unter Function die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen (A68/B93). Dieser Grundakt ist ein Sammeln von vielem unter einem. Die Bedeutsamkeit des Sammelcharakters des empirischen Denkens liegt deutlich zutage in Kants Darstellung, wie Begriffe praktisch beim Erkennen von etwas gebraucht werden, nämlich in empirischen Urteilen der Art, wie sie dem Bedürfnis nach logischem Denken zugrunde liegen, empirischen Urteilen, in denen etwas als im Besitze eines bestimmten Charakters bestimmt wird. Diese Bedeutsamkeit kommt zum Ausdruck, wenn Kant schreibt: Alle Urtheile sind demnach Functionen der Einheit unter unsern Vorstellungen, da nämlich statt einer unmittelbaren Vorstellung eine höhere, die diese und mehrere unter sich begreift, zur Erkenntniß des Gegenstandes gebraucht, und viel mögliche Erkenntnisse dadurch in einer zusammengezogen werden (A69/B94). Warum ist dieser Rekurs auf eine höhere Vorstellung erforderlich? Warum wird bei der Erkenntnis des Gegenstandes eine generische Vorstellung, ein Begriff, verwendet? Weil die unmittelbare Vorstellung für die Erkenntnis des Gegenstandes nicht ausreicht. In anderen Worten müssen wir, weil die Anschauung (die unmittelbare Vorstellung) jenes innere Wesen des Gegenstandes, das ihn uns wahrhaft begreiflich machen würde, nicht vermitteln kann, auf Begriffe (höhere Vorstellungen) Rekurs nehmen, worin der Gegenstand durch die Vereinigung mit anderen unter einem begreiflich gemacht wird. Das Fehlen eines einzelnen einigenden Wesens wird wettgemacht, indem der Gegenstand zusammen mit anderen unter eine generische Einheit gesammelt wird; das Fehlen voller Anwesenheit wird wettgemacht durch ein Sammeln, das durch den Rekurs auf Begriffe mittelbar anwesend macht. Die durch das Sammeln behobene Fragmentierung ist im Falle empirischer Urteile natürlich diejenige der Anschauung. Aber dieses Sammeln hat das Merkwürdige an sich, daß das empirische Denken das betreffende Mannigfaltige nicht einfach in die ihm fehlende Einheit, sondern in eine höhere Einheit sammelt. Warum nimmt das Sammeln diese Form an? Warum sammelt das empirische Denken nicht einfach das Mannigfaltige in die Einheit des einzelnen Wesens des jeweiligen Dinges? Das Denken könnte das Mannigfaltige nur dann so unmittelbar und in das einzelne Wesen sammeln, wenn das Denken zuerst diese Einheit setzte; denn der menschlichen Erkenntnis ist die Einheit ja entschieden nicht gegeben. Das aber ist unmöglich: Das Denken kann nicht einfach das Einzelwesen des Gegenstandes setzen; denn
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der Gegenstand ist dem Subjekt so entzogen, daß es an jeglichem Grund fehlt, welcher einer solchen Setzung objektive Gültigkeit verleihen könnte. Trotzdem muß das empirische Denken aber eine Einheit für sein Sammeln des Mannigfaltigen setzen, da ja keine gegeben ist. Nur ist die von ihm gesetzte Einheit nicht die eines Einzelwesens, sondern eine durch Begrifflichmachung von der Anschauung befreite Bestimmung, ein Begriff22 . Genau wie das logische Denken (Schließen) das vom empirischen Denken bereits Geleistete übernimmt, um es auf eine höhere Ebene der Einheit zu bringen, so setzt das empirische Denken die Leistung des reinen Denkens voraus. Ja, die Transzendentale Logik nimmt das reine Denken zu ihrem Hauptthema (wie der Titel zeigt), und alle das empirische oder logische Denken betreffenden Entwicklungen dienen letztlich der Behandlung des Problems des reinen Denkens. Dennoch ist die Transzendentale Logik in eine Analytik und eine Dialektik unterteilt, und diese Unterteilung entspricht einer Modalisierung des reinen Denkens, seiner Aufteilung in die Modi des Verstandes und der Vernunft. Die meisten von Kants anfänglichen Darstellungen dieser Unterscheidung werden im Hinblick auf die (formal-) logische Verwendung der beiden Vermögen formuliert; aber eine solche Verwendung gibt uns nichts als einen Hinweis für die Entfaltung des Unterschieds zwischen dem reinen Verstand und der reinen Vernunft. Derartige grundlegende Unterscheidungen liegen nie schon fertig vor, so daß man sie eingangs einfach nur ein für allemal zu formulieren hätte. Vielmehr müssen sie durch die Untersuchung selbst von dem jeweils verfügbaren Zugang her erarbeitet werden, als für wie unzureichend sich dieser anfängliche Zugriff letztlich auch erweisen mag. Im Falle der Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft läßt sich die Vertiefung der Unterscheidung durch die Untersuchung selbst besonders deutlich machen, wenn man das Problem auf den entwerfend gewonnenen Auslegungshorizont projiziert; dann läßt sich der Unterschied mit Hilfe einer grundlegenden Unterscheidung zwischen zwei Modi des Sammelns begreifen. Aber ein solcher Zugriff steht uns eingangs nicht zur Verfügung. Derjenige Modus des Sammelns, der in der Transzendentalen Analytik vor allem zur Debatte steht, ist der Modus, der an d(n reinen Verstand geknüpft ist. Kant erörtert diesen Sammelmodus auf immer fundamentaleren Ebenen, denen - grob gesprochen - die drei mittleren Kapitel der Analytik (Transzendentale Deduktion, Schematismus, Grundsätze) entsprechen. In dieser vorbereitenden Skizze möchte ich mich auf die erste dieser drei Ebenen beschränken. 2 2 In Verbindung damit schreibt Kant in den Prolegomena: " ... weil die specifische Natur unseres Verstandes darin besteht, alles discursiv, d.i. durch Begriffe, mithin auch durch lauter Prädicate zu denken, wozu also das absolute Subject jederzeit fehlen muß. Daher sind alle realen Eigenschaften, dadurch wir Körper erkennen, lauter Aceidenzen ... " (IV,333).
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Auslegungshorizonte
Die wichtigsten Elemente des Sammelns, worum es hier geht, legt Kant zum ersten Mal noch vor der Transzendentalen Deduktion an jenem Punkte dar, wo er die Kategorien einführt, indem er einen durch die Urteilstafel gelieferten Hinweis weiterverfolgt (A76/Bl02 - A83/Bl09). Weil der reine Verstand keinen empirischen Inhalt hat, läßt er sich nicht mit Hilfe solchen Inhalts auf Gegenstände beziehen; sein Gegenstandsbezug kann (im Gegensatz zum empirischen Verstand) nicht in der Bestimmung von Gegenständen im Hinblick auf einen bestimmten empirischen Inhalt bestehen. Vielmehr muß dieser Gegenstandsbezug rein und nichtempirisch sein. Im allgemeinen kann sich der Verstand nur mittelbar, nur durch die Anschauung auf Gegenstände beziehen (vgl. Al9/B33). Und daher muß im besonderen der reine Bezug des reinen Verstandes auf Gegenstände durch die Anschauung vermittelt werden. Somit stellt Kant auf der Ebene, auf der die Transzendentale Deduktion einsetzt, den Bezug der reinen Verstandes auf Gegenstände als einfach durch die reine Anschauung vermittelt dar. Weil die Transzendentale Ästhetik an diesem Punkt den Bezug der reinen Anschauung auf Gegenstände herausgearbeitet hat (die reine Anschauung konstituiert die Form der Erscheinungen), wird das zentrale Problem dasjenige des Verhältnisses zwischen reinem Verstand und reiner Anschauung23 . Wie läßt sich der Verstand auf die reine Anschauung beziehen? Er läßt sich nur dadurch auf eine solche Anschauung beziehen, daß er irgendwie seine Spontaneität auf den durch die reine Anschauung bereitgestellten Stoff (Inhalt) wirken läßt, d.h. indem er Begriffe bereitstellt, unter denen sich dieser Stoff vereinigen läßt. So sagt Kant, das Mannigfaltige der reinen Anschauung gebe "zu den reinen Verstandesbegriffen einen Stoff" (A77/ Bl02). Dieses Mannigfaltige müsse, so fährt er fort, "auf gewisse Weise durchgegangen, aufgenommen und verbunden" werden. Und er fügt hinzu: "Diese Handlung nenne ich Synthesis" - nämlich "die Handlung, verscheidene Vorstellungen zu einander hinzuzuthun und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntniß zu begreifen". Der reine Verstand liefert die Begriffe für die Synthesis der reinen Anschauung, die Begriffe, unter denen ihr Mannigfaltiges in eine Einheit gesammelt wird. Diese Begriffe nennt Kant "reine Verstandesbegriffe" oder "Kategorien". 23
Besonders im Blick auf dieses Verhältnis läßt sich beobachten, daß sich viele der Formulierungen, derer sich Kant auf der Ebene der Transzendentalen Deduktion bedient, später als inadäquat erweisen, d.h. als auf den folgenden Ebenen der Argumentation der genaueren Bestimmung, Ausarbeitung und Vertiefung bedürftig. So wird die hier gegebene Formulierung des Verhältnisses in Kants Erörterung der Grundsätze des reinen Verstandes, speziell der Antizipationen der Wahrnehmung und der Analogien der Erfahrung, in eine adäquatere und komplexere Darlegung des Sachverhalts überführt. Dieses Vorgehen ist typisch ftir Kant, dieses Beginnen mit relativ einfachen (aber letztlich inadäquaten) Formulierungen und deren Vertiefung und Umformung im Verlauf des Fortgangs der Untersuchung. Bleibt die daraus folgende Schichtung seiner Texte unbeachtet, so geht dadurch die Stimmigkeit der Deutung verloren.
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Somit ist in dem mit dem reinen Verstande verknüpften Modus des Sammeln das Mannigfaltige dasjenige der reinen Anschauung; und die Form der Einheit, in die dieses Mannigfaltige gesammelt werden soll, ist diejenige, die in den reinen Verstandesbegriffen gedacht wird. Jedoch sammelt der reine Verstand nicht selbst das Mannigfaltige in die Einheit. Nicht der Verstand leistet das Sammeln, sondern die Einbildungskraft: Die Synthesis überhaupt ist . . . die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Function der Seele, ohne die wir überall gar keine Erkenntniß haben würden, der Wir uns aber selten nur einmal bewußt sind (A78/B103). Somit gehören zum Sammeln drei Elemente: die reine Anschauung, der reine Verstand und die Einbildungskraft. Es ist unverkennbar, daß die Einbildungskraft, die das Mannigfaltige der reinen Anschauung unter die Begriffe des reinen Verstandes bringt, das vermittelnde Element ist. In der Transzendentalen Deduktion erfolgt die Ausarbeitung der Struktur dieses Sammelns im Zusammenhang mit der allgemeinen Aufgabe der Deduktion. Diese Aufgabe selbst wird im Laufe der Deduktion auf immer fundamentalerer Ebene erfaßt. Der anfänglich gegebenen Formulierung zufolge ist es die Aufgabe der Deduktion, eine bestimmte Rechtsfrage ("quid iuris") beizulegen, nämlich die Frage, mit welchem Recht gewisse Begriffe auf Gegenstände Anwendung finden. Für was für Begriffe erhebt sich eine solche Frage des Rechts? Sie erhebt sich für diejenigen Begriffe, die nicht aus Dingen der Erfahrung abgeleitet sind, d.h. diejenigen Begriffe, die nichtempirisch sind, die vielmehr (so wird behauptet) auf andere als rein formale Weise auf diese Dinge Anwendung finden. In anderen Worten ist es Aufgabe der Deduktion zu zeigen, wie reine Begriffe objektive Gültigkeit haben können. In Kants Worten ist die Deduktion "die Erklärung der Art, wie sich Begriffe a apn"ori auf Gegenstände beziehen können" (A85/ B117). Implizit die Unterscheidung zwischen menschlicher und göttlicher Erkenntnis ins Spiel bringend, bemerkt Kant, es gebe nur zwei Weisen, wie sich ein Begriff und ein Gegenstand mit Notwendigkeit aufeinander beziehen können: Entweder muß der Gegenstand den Begriff oder es muß der Begriff den Gegenstand möglich machen. Im ersten Falle ist das Verhältnis empirisch, ist der Begriff ein empirischer, kein reiner Begriff. Im Falle der reinen Begriffe gilt dagegen das Umgekehrte: Wenn ein reiner Begriff eine notwendige Beziehung auf einen Gegenstand haben soll, muß er so beschaffen sein, daß er den Gegenstand möglich macht. So gewinnt die Frage eine genauere Form: Wie machen reine Begriffe den Gegenstand der Erfahrung möglich? Kants Antwort erfolgt ohne Umschweife, wie komplex deren Ausführung im einzelnen auch sein mag. Die Antwort lautet: Reine Begriffe machen den Gegenstand der Erfahrung als Gegenstand möglich, das heißt, sie konstituieren die Objektivität überhaupt und machen es somit
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Auslegungshorizonte
allererst überhaupt möglich, daß Gegenstände anwesend sind. Kants Antwort zeichnet sich durch ihre Klarheit aus: Nun frägt es sich, ob nicht auch Begriffe a prion· vorausgehen, als Bedingungen, unter denen allein etwas, wenn gleich nicht angeschauet, dennoch als Gegenstand überhaupt gedacht wird; denn alsdann ist alle empirische Erkenntniß der Gegenstände solchen Begriffen nothwendigerweise gemäß, weil ohne deren Voraussetzung nichts als Object der Erfahrung möglich ist. Nun enthält aber alle Erfahrung außer der Anschauung der Sinne, wodurch etwas gegeben wird, noch einen Begriff von einem Gegenstande, der in der Anschauung gegeben wird oder erscheint (A93/B125-6). Somit ist es der reine Verstand, der den Erscheinungen einen Gegenstand "liefert", d .h. sie als einen erscheinenden Gegenstand konstituiert. In diesem Zusammenhang beschreibt Kant die Kategorien als "Begriffe von einem Gegenstand überhaupt" (B128; vgl. B146). Zwei unterschiedliche Beschreibungen der Kategorien haben sich so ergeben. Auf der einen Seite beschreibt Kant Kategorien als Begriffe der Synthesis, als Begriffe also, die eine einigende Einheit, eine Einheit für ein Sammeln, definieren. Auf der anderen Seite nennt er sie Begriffe von einem Gegenstande überhaupt, d.i. Begriffe, durch die Erscheinungen als erscheinende Gegenstände konstituiert werden. Es bleibt uns abschließend noch die Aufgabe zu zeigen, wie diese beiden Beschreibungen in der Frage des transzendentalen Gegenstandes zusammentreffen. Es ist eine Bedingung für die Möglichkeit eines Erfahrungsgegenstandes, daß das in der Erscheinung gebenene Mannigfaltige der Erscheinungen einen Gegenstand überhaupt "geliefert" bekommt, d.h. daß ein Gegenstand als in der Erscheinung erscheinend gedacht wird. Die Kategorien sind die Begriffe von einem solchen Gegenstand, oder genauer gesagt, sie sind Bestandteile eines solchen Begriffs. Der so vom reinen Verstand durch die Kategorien gedachte Gegenstand, der so gesetzte Gegenstand, heißt bei Kant "transzendentaler Gegenstand". Er ist, so bemerkt Kant, "bei all unsern Erkenntnissen immer einerlei" (A109) 24 • Das eigentliche Problem im Zusammenhang mit dem transzendentalen Gegenstand ist nicht, wie er vom Denken überhaupt gesetzt werden kann, sondern wie er als ein in der angeschauten Erscheinung erscheinender Gegenstand, d.h. als ein besonderer erscheinender Gegenstand, gesetzt werden 24 Diese Gleichsetzung, die innerhalb des Kontextes der Transzendentalen Deduktion
nicht näher qualifiziert wird, hat nur vorläufigen Charakter, wie sich auf einer späteren, tieferen Ebene der Argumentation erweisen wird. Im letzten Kapitel der Transzendentalen Analytik ("Vom Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena") wird die Frage nach dem transzendentalen Objekt im Zusammenhang mit der Frage nach dem Noumenon neu aufgeworfen.
Modi des Sammelns
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kann. Das Problem ist: Wie sind die Erscheinungen (die in der Anschauung gegeben werden) und der transzendentale Gegenstand (der vom reinen Verstand gesetzt wird) zu verbinden, damit sie die Erfahrung von einem erscheinenden Gegenstand konstituieren? Kant formuliert seine Lösung in einem Zusammenhang, in dem er bemerkt, daß der Gegenstand unserer Erkenntnis nur als etwas überhaupt gedacht (d.h. vom Denken gesetzt) werden müsse, weil wir zu nichts außerhalb unseres Erkenntnisbereichs ("jenseits" der Erscheinungen) Liegenden Zugang haben, das wir dann unserer Erkenntnis gegenüberstellen könnten. Und er fährt fort: Wir finden aber, daß unser Gedanke von der Beziehung aller Erkenntniß auf ihren Gegenstand etwas von Nothwendigkeit bei sich führe, da nämlich dieser als dasjenige angesehen wird, was dawider ist, daß unsere Erkenntnisse nicht aufs Geratewohl oder beliebig a priori auf gewisse Weise bestimmt seien, weil, indem sie sich auf einen Gegenstand beziehen sollen, sie auch nothwendigerweise in Beziehung auf diesen unter einander übereinstimmen, d.i. diejenige Einheit haben müssen, welche den Begriff von einem Gegenstande ausmacht (A104 f.). Wenn also Erscheinungen auf einen Gegenstand bezogen werden, so bedeutet das, daß sie die Einheit aufweisen, besitzen, die zum Begriff des Gegenstandes überhaupt gehört. Damit daher Erscheinungen ein Gegenstand "geliefert" wird, müssen sie dazu gebracht werden, daß sie eine solche Einheit aufweisen, d.h. daß sie in Einklang mit der vom Begriff eines Gegenstandes vorgeschriebenen Einheit vereinigt werden. Kant sagt: "Alsdann sagen wir: wir erkennen den Gegenstand, wenn wir in dem Mannigfaltigen der Anschauung synthetische Einheit bewirkt haben" (Al05). Und noch unmittelbarer: "Object aber ist das, in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist" (B137). Das Bereitstellen eines Gegenstandes für Erscheinungen, das Konstituieren einer Erscheinung als eines erscheinenden Gegenstandes, das Hervorbringen des Gegenstandes in die Anwesenheit, ereignet sich als das Sammeln des Mannigfaltigen der Erscheinungen in die durch die Begriffe des reinen Verstandes definierten Formen der Einheit. Aber dieses Sammeln des Mannigfaltigen der Erscheinungen wird, der Transzendentalen Deduktion zufolge, durch jenes Sammeln der reinen Anschauung in diese Formen der Einheit ermöglicht, ja, sogar geleistet. Die ganze Frage der Objektivität wird auf die Frage des fundamentalen Sammelns zurückgeführt. Dieses fundamentale Sammeln, in seiner Erweiterung durch die reine Anschauung auf das empirische Mannigfaltige, dessen Form die reine Anschauung ist, dient dazu, all diejenigen Formen fehlender Einheit zu beheben, welche die Anfänge der menschlichen Erkenntnis ausmachen. Erstens wird durch dieses Sammeln das Angeschaute in die Form eines Gegenstandes gesammelt, als Gegenstand konstituiert. So konstituiert dieses Sammeln statt des Gegenstandes an sich, von dem das endliche Subjekt radikal getrennt ist,
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Auslegungshorizonte
einen auf die endliche Subjektivität bezogenen Gegenstand. Indem es den Gegenstand zum Subjekt sammelt, behebt es die fehlende Einheit von Subjekt und Objekt. Jedoch nur begrenzt; denn das Sammeln bewirkt keine solch absolute, in sich geschlossene Einheit, wie die göttliche Erkenntnis sie aufweist, sondern nur eine Einheit, worin die Gliederung als Spur des Sammelns wesentlich bewahrt bleibt. Zweitens behebt das Sammeln durch dieses Bereitstellen eines Gegenstandes für das Angeschaute auch die fehlende Einheit der Anschauung, d.h. es bringt die angeschauten Erscheinungen unter die Form (Einheit) der Objektivität, bringt den Gegenstand hervor in die Anwesenheit. Drittens gewährt es dem Denken eine Ganzheit. In der Struktur des Sammelns ist das Denken in gewisser Hinsicht von seinem Angewiesensein auf einen empirischen Inhalt befreit, leistet ein echtes Setzen des Gegenstandes, nämlich des transzendentalen Gegenstandes. Insofern ist das reine Denken ein Abbild des göttlichen Denkens (genau wie sich die reine Anschauung als Abbild der ursprungliehen Anschauung erwiesen hat). Allerdings ist es nur ein Abbild des göttlichen Denkens; denn es ist ein Setzen, das einer sinnlichen (wenngleich nicht empirischen) Bedingung unterworfen ist - der im Schematismus oder, allgemeiner gesagt, in seinem Angewiesensein auf das Vermögen der Einbildungskraft zum Ausdruck gebrachten Bedingung, die von ihm selbst vorgeschriebene Synthese auch zu leisten. Schließlich weist diese Tatsache, daß das Denken einer Bedingung unterworfen ist, darauf hin, daß das Sammeln dem Beheben der fehlenden Einheit von Anschauung und Denken dient. Das Denken ist nicht nur auf die Einbildungskraft angewiesen, sondern wird, eben aufgrund dieses Angewiesenseins, als Modus der versammelnden Anschauung nur in der Anschauung gegeben. Die Einbildungskraft, die den Gegenstand in die Anwesenheit für das Subjekt sammelt, Anschauung und Denken zu einer derjenigen der intellektuellen Anschauung verwandten Einheit bindet, errichtet dennoch einen Unterschied zwischen der so konstituierten Einheit der menschlichen Erkenntnis und der Einheit der göttlichen Erkenntnis, indem sie jener die Gliederung (oder, genauer, die Modi der Gliederung überhaupt, die transzendentalen Schemata) aufprägt.
ZWEITES KAPITEL DIE TRANSZENDENT ALE DIALEKTIK
Kommen wir jetzt zurück auf die angekündigte verdoppelnde Auslegung des für uns zentralen Textes, der Transzendentalen Dialektik. Der hermeneutische Freiraum einer solchen Interpretation wird maßgeblich mitbestimmt von dem Problemhorizont, der durch den Text selbst explizit angegeben wird; ich habe das Problem der Metaphysik als das diesen Horizont definierende Problem bereits thematisiert. Darüberhinaus wird einer solchen Interpretation von ihrem hermeneutischen Freiraum her auferlegt, sich in begrifflicher und sogar in stilistischer Hinsicht streng an das tradierte Begriffssystem zu halten, das sich in diesem Horizont und in dem von diesem Horizont umfangenen Text zunächst perpetuiert. Zwar soll der Kommentar, der sich aus der verdoppelnden Interpretation ergibt, dann in die projektive Interpretation aufgehoben werden, sollen die Ergebnisse diese Kommentars im nächsten Schritt auf jenen Horizont projiziert werden, der durch die Rückkehr auf die Thematik des Sammelns der Vernunft versammelt, konstituiert wird. Doch zunächst ist dieser Kommentar zu erstellen, und das Gebot der methodischen Klarheit verlangt danach, diese Erarbeitung des Kommentars der verdoppelnden Interpretation gesondert von der projektiven Interpretation vorzunehmen.
1. Der transzendentale Schein (A293jB349- A299jB355) Die Transzendentale Dialektik gehört zur Transzendentalen Elementarlehre. Genauer gesagt bildet sie jenen Teil der transzendentalen Analyse, welcher der Abgrenzung jener Elemente gewidmet ist, die scheinbar reine Vernunfterkenntnis liefern, ohne es jedoch wirklich zu tun, jene trügerischen Elemente, die auf diese Weise den transzendentalen Schein erzeugen. Kant beginnt jedoch nicht mit dieser Unterteilung der Transzendentalen Elementarlehre, sondern mit jener anderen wichtigen Aufteilung, welche die Gliederung in Transzendentale Ästhetik und Transzendentale Analytik übergreift. Die Transzendentale Dialektik bildet die Zweite Abteilung der Transzendentalen Logik. Zu Beginn der Transzendentalen Logik, wo Kant den Begriff einer solchen Logik im Gegensatz zur allgemeinen Logik entwickelt, zeigt er, daß ihr Anwendungsbereich nicht (wie derjenige der allgemeinen Logik) allen Inhalt, sondern vielmehr nur allen empirischen Inhalt ausschließt. Die Transzendentale Logik befaßt sich also mit den "Regeln des reinen Denkens eines Gegenstandes" (A55/B80). Ihr Erster Teil, die Transzendentale Analytik, behandelt diese Sache auf eine in erster Linie
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Die Transzendentale Dialektik
positive Weise: Er legt die Elemente des reinenDenkenseines Gegenstandes dar und kennzeichnet deren Wesen überhaupt im Hinblick auf die Möglichkeit von Erfahrung. Der Zweite Teil, die Transzendentale Dialektik, ist in erster Linie negativ; Kant kennzeichnet ihn als eine Kritik des dialektischen Scheins. Auch deutet er an, daß sie die Form einer Kritik der Vernunft hinsichtlich der einen solchen Schein hervorrufenden Verwendungsweise gewinnt (vgl. A63/B88). Die Einleitung zur Transzendentalen Dialektik entwickelt diese vorbereitenden Bemerkungen weiter. Im ersten der beiden Teile dieser Einleitung grenzt Kant den Sinn von "dialektischer Schein" oder, wie er jetzt sagt, "transzendentaler Schein" genauer ein. Erst einmal engt er die Bedeutung des Wortes "Schein" ein: Er möchte "Schein" im Sinne von "Illusion" verstanden wissen, schließt daher alle anderen möglichen Bedeutungen aus. Zugleich gibt er der Wortbedeutung jedoch auch eine positive Bestimmung. Kant unterscheidet zwischen "Schein" und "Wahrscheinlichkeit". Wahrscheinlichkeit hat es mit einer ungenügend begründeten Wahrheit zu tun, während der Schein dem Irrtum nahesteht. Im Gegensatz zur Wahrscheinlichkeit geht es beim Schein um eine Täuschung, um etwas, was dazu dient, uns irrezuführen oder im Irrtum zu belassen. Ja, der Oberbegriff von Schein ist das scheinbare Wahrsein. Aber das den Schein genau ausmachende Scheinen ist dadurch gekennzeichnet, daß es von der Wahrheit inhaltlich abweicht, nicht mit der Wahrheit zusammenfällt. Kant unterscheidet den Schein auch von der Erscheinung: Die Erscheinung ist einfach das in der Anschauung Angeschaute, und in der reinen Anschauung gibt es weder Wahrheit noch Irrtum, somit auch keinen Schein 1 • Diese sind vielmehr nur in Urteilen und nicht im Bereich des Nur-Sinnlichen anzutreffen: Daher sind Wahrheit sowohl als Irrthum, mithin auch der Schein als die Verleithung zum letzteren nur im Urtheile, d.i. nur in dem Verhältnisse des Gegenstandes zu unserm Verstande anzutreffen (A293/ B350). Das heißt jedoch nicht, daß Wahrheit, Irrtum und Schein ausschließlich in Verstand und Denken angesiedelt sind. Der Verstand für sich allein genommen ist genausowenig der objektiven Wahrheit oder des objektiven Irrtums fähig, wie die Sinne es sind: Daher würden weder der Verstand für sich allein (ohne Einfluß einer andern Ursache), noch die Sinne für sich irren (A294/B350). Vielmehr liegt der Ort von Wahrheit und Irrtum nur im Urteilen, wo das Angebot der Sinne (die Erscheinungen) unter den Beitrag des Verstandes 1 Vgl. B69-91, wo Kant den Unterschied zwischen Erscheinung und Schein aus dem Blickwinkel des Problems der Erscheinung und nicht dem des Scheins erläutert.
Der transzendentale Schein
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(die Begriffe) gebracht wird. Wahrheit und Irrtum sind nur "Im Verhältnisse des Gegenstandes zu unserm Verstande anzutreffen" - das heißt, in dem Verhältnis zwischen der Sinnlichkeit, wodurch der Gegenstand gegeben, und dem Verstand, wodurch der Gegenstand gedacht wird 2 • Die Hervorbringung des Scheins muß daher in bezug auf diesen Ort und in bezug auf das Verhältnis zwischen Anschauung und Denken betrachtet werden; der Schein entsteht, wenn das richtige Verhältnis zwischen Anschauung und Denken auf bestimmte Weise gestört wird. Kant mutmaßt, daß diese Störung von der Sinnlichkeit ausgeht: Weil 'A-ir nun außer diesen beiden Erkenntnißquellen keine andere haben, so folgt: daß der Irrthum nur durch den unbemerkten Einfluß der Sinnlichkeit auf den Verstand bewirkt werde, wodurch es geschieht, daß die subjectiven Gründe des Urtheils mit den objectiven zusammenfließen und diese von ihrer Bestimmung abweichend machen (A294/B350-l ). Kants Ausführung beschränkt sich auf eine Analogie zwischen seiner Aufgabe und der Analyse einer komplexen Bewegung in die sie hervorbringenden Komponenten. Die transzendentale Reflexion hat die Aufgabe, jene Fehlleitung des Urteilens, aus der Irrtum und Schein entspringen, in ihre der Sinnlichkeit bzw _ dem Verstande zugehörigen Komponenten zu zerlegen. Vermutlich ließe sich der sonst "unbemerkte Einfluß der Sinnlichkeit auf den Verstand" nur durch eine solche transzendentale Analyse wirklich darlegen 3 . Nur so ließe sich zeigen, wie die Sinnlichkeit "der Grund des Irrthums" ist (B351 Anm.). Anschließend wendet sich Kant dem spezifisch transzendentalen Schein zu, den er zwei weiteren Arten des Scheins gegenüberstellt. Einmal soll er 2 Vgl. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, VII,146 (§ 11), zusammen mit XV(I),92. 3 Die Vorstellung eines solchen Einflusses der Sinnlichkeit auf das Denken spielt in der Inauguraldissertation eine wichtige Rolle. Kant schreibt: "Omnis metaphysicae circa sensitiva atque illectualia methodus ad hoc potissimum praeceptum redit: sollicite cavendum esse, ne principi sensitivae cognitionis domestica terminos suos migrent ac intelletualia afficiant" (11,411 ). Im Zusammenhang der Dissertation kommt diesem Einfluß natürlich ungleich mehr Gewicht zu als in Kants kritischen Werken, weil darin dem Denken, im Sinne des "wirklichen Gebrauchs" des Verstandes, ein Zugang zum Intelligiblen zugesprochen, statt daß es in den Dienst der Anschauung gestellt wird. In den Prolegomena betont Kant, daß ein Verwechseln des Subjektiven mit dem Objektiven den Schein ausmacht: "Da aller Schein darin besteht, daß der subjective Grund des Urtheils für objectiv gehalten wird, ... " Diese Verwechslung des Subjektiven mit dem Objektiven wird zwar in (IV,328) der Transzendentalen Dialektik wiederholt dargestellt; aber Kant entwickelt die These nicht, daß die Sinnlichkeit dazu beiträgt, daß diese Verwechslung eintritt, daß es "einen unbemerkten Einfluß der Sinnlichkeit au.f den Verstand" gibt. Ich kehre im Sechsten Kapitel zu dieser Frage zurück.
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Die Transzendentale Dialektik
vom empirischen Schein unterschieden werden, also von dem Schein, den wir üblicherweise als eine bloße Sinnestäuschung (z.B. optische Täuschung) betrachten. Bei einer solchen Täuschung entsteht der Irrtum jedoch nicht aus den Sinnen - weil nämlich "die Sinne nicht irren" (A293fB350) -, sondern vielmehr aus dem empirischen Urteil. Wie Kant später sagt, halten wir oft "etwas für unmittelbar wahrgenommen, was wir doch nur geschlossen haben" (A303fB359). Dagegen ist der transzendentale Schein mit dem reinen Verstande verknüpft, nicht mit dem empirischen Verstande und der Anwendung von dessen Begriffen in empirischen Urteilen. Der transzenden· tale Schein entsteht nicht in empirischen Urteilen, sondern "mit dem Blendwerke einer Erweiterung des reinen Verstandes" (A295/B352). Zur allgemeinen Kennzeichnung dieser Erweiterung führt Kant zwei Unterscheidun· gen ein. Er unterscheidet einmal zwischen immanenten Grundsätzen, deren Anwendung gänzlich auf den Bereich möglicher Erfahrung eingeschränkt ist (entsprechend seiner Darlegung der Grundsätze des reinen Verstandes in der Transzendentalen Analytik), und den transzendenten Grundsätzen, die über die Grenzen möglicher Erfahrung hinauszugehen beanspruchen. Die zweite Unterscheidung erläutert einen Term der ersten: Kant unterscheidet transzendente Grundsätze von dem transzendentalen Gebrauch der Kategorien, d.h. von der bloßen Anwendung der Kategorien auf Dinge überhaupt und an sich. Die Unterscheidung soll zeigen, daß der transzendentale Gebrauch der Kategorien nur ein Irrtum der Urteilskraft hinsichtlich der von der Transzendentalen Analytik dargelegten Grenzen ist; wie im Falle des empirischen Scheins liegt hier nicht ein Irrtum bei der Subsumption von Dingen unter Begriffe vor. Dagegen handelt es sich bei den transzendentalen Grundsätzen nicht bloß um einen Irrtum der Urteilskraft, sondern um eine Auf· forderung zur Grenzüberschreitung: "Ein Grundsatz aber, der diese Schran· ken wegnimmt, ja gar sie zu überschreiten gebietet, heißt transcendent" (A296fB353). Und eben im Zusammenhang mit solchen Grundsätzen entspringt der transzendentale Schein. Die Transzendentale Dialektik hat es also mit Grundsätzen solcher Art zu tun, und nicht mit dem bloßen transzendentalen Gebrauch der Kategorien. Weiterhin arbeitet Kant den Gegensatz zwischen transzendentalem und logischem Schein heraus. Letzterer, den er als den Schein des formalen Trugschlusses kennzeichnet, entsteht bei bloßer Nichtbeachtung der Regeln des formalen Denkens und verschwindet, sobald diese Regeln Anwendung finden. Der logische Schein ist einfach die Folge eines Ubersehens und nichts, was sich uns mit aller Macht aufdrängt. Kant formuliert den Ge· gensatz so: Der transeendentale Schein dagegen hört gleichwohl nicht auf, ob man ihn schon aufgedeckt und seine Nichtigkeit durch die transcendentale Kritik deutlich eingesehen hat (A29 7/B353).
Der transzendentale Schein
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Hier "haben wir es mit einer natürlichen und unvermeidlichen Illusion zu thun", "die der menschlichen Vernunft unhintertreib lieh anhängt" (A298/ B354). Sie läßt sich nicht einfach durch erhöhte Aufmerksamkeit oder durch Entlarvung aus der Welt schaffen; sie läßt sich ebensowenig zum Verschwinden bringen, wie "der Astronom verhindern kann, daß ihm der Mond im Aufgange nicht größer scheine" (A297/B354). Der transzendentale Schein ist nicht etwas, was "irgend ein Sophist ... künstlich ersonnen hat" (A298JB354), sondern ein Trugschluß höherer Rangordnung, ein Trugschluß, der so eng mit der Philosophie verknüpft ist, daß er eine ständige Bedrohung für sie darstellt. Es ist Aufgabe der Transzendentalen Dialektik, diese Bedrohung aufzudecken und alle gegen eine solche Täuschung verfügbaren Vorkehrungen zu treffen. Die Bedrohung je zu beseitigen, können wir jedoch nicht hoffen. Wie entsteht der transzendentale Schein? Kant führt die bereits gegebene knappe Darstellung des Ursprungs des Scheins überhaupt genauer aus. Es gibt bestimmte subjektive Regeln für die Verknüpfung unserer Begriffe auf eine dem Verstand dienliche Weise; jedoch erwecken diese Regeln den Anschein der Objektivität, so als seien sie Bestimmungen von Dingen. Und so geschieht es, "daß die subjective Nothwendigkeit einer gewissen Verknüpfung unserer Begriffe zu Gunsten des Verstandes für eine objective Nothwendigkeit der Bestimmung der Dinge an sich selbst gehalten wird" (A297 /B353). Kant sagt nichts darüber, wie es zu diesem irrtümlichen Eindruck der Objektivität von in Wahrheit nur subjektiven Regeln kommt, oder vielmehr gibt er - wie in diesem Vorstadium einzig angebracht - nur einen Hinweis, indem er nämlich die Vernunft als den Ursprungsort nennt. Der zweite Teil der Einleitung zur Transzendentalen Dialektik trägt daher die Überschrift "Von der reinen Vernunft als dem Sitze des transeendentalen Scheins". Es fällt auf, daß Kant sich erst jetzt, beinahe in der Mitte der Kritik der reinen Vernunft, unmittelbar dem zuwendet, was im Titel des Werks als dessen eigentliches Problem angesprochen wird - nämlich der reinen Vernunft. Man sollte Kants Eröffnungsbehauptung entsprechend aufmerksam lesen: "Alle unsere Erkenntniß hebt von den Sinnen an, geht von da zum Verstande und endigt bei der Vernunft, über welche nichts Höheres in uns angetroffen wird, den Stoff der Anschauung zu bearbeiten und unter die höchste Einheit des Denkens zu bringen" (A298/B355). Diese Behauptung ist für die Doppelauslegung entscheidend: Sie weist der Vernunft in bezug auf Anschauung und Verstand ihren Ort zu, womit gleichzeitig die Transzendentale Dialektik im Hinblick auf die Ästhetik und Analytik eingeordnet wird. Die Behauptung ist sogar noch entscheidender im Hinblick auf die Vorbereitung der entwerfenden Auslegung; denn sie gehört zu denjenigen Behauptungen (deren erste in der Transzendentalen Dialektik), die entschieden über ihren unmittelbaren Zusammenhang hinaus auf jenen Horizont verweisen, der für die projektive Auslegung versammelt wurde, den Horizont, der aus der Konzeption von menschlieber Erkennt-
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nis als einer Bewegung aus der fehlenden Einheit in Richtung auf die Einheit besteht, als einer Bewegung des Sammelns der bruchstückhaften Anfänge in eine Einheit. Beachtenswert ist, wie Kant sich in dieser entscheidenden Behauptung ausdrücklich auf verschiedene Elemente dieser Horizontkonzeption bezieht: auf die Erkenntnis als einer Bewegung, auf die Sinne als den Anfang, woraus die Bewegung hervorgeht, auf den Sammelcharakter der Bewegung (also die Tatsache, daß sie den Stoff unter eine Einheit bringt). Und man sollte auch beachten, wie er hier zum ersten Mal diese Bewegung allgemein in zwei Phasen gliedert, deren eine mit dem Verstand, deren andere mit der Vernunft zusammenhängt. In der Bewegung der menschlichen Erkenntnis als ganzer wird somit die Vernunft mit der letztgenannten Hauptphase in Zusammenhang gebracht.
2. Die Vernunft (A298/B355 - A309/B366) Die Transzendentale Dialektik soll das Problem des transzendentalen Scheins Iössen. Wir wissen bereits, daß der Ort dieses Problems die reine Vernunft ist. Kants unmittelbare Aufgabe besteht nun in einer vorläufigen Kennzeichnung der reinen Vernunft. Weiter oben haben wir bemerkt, daß Kant sich erst jetzt, fast in der Mitte der Kritik der reinen Vernunft, endlich dem eigentlichen Thema seines Werkes zuwendet. In diesem Zusammenhang erscheint die erste Hälfte des Buches als Vorarbeit für die Transzendentale Dialektik; in herkömmlicher Terminologie ausgedrückt, dient die in der Ontologie ("metaphysica generalis") durch die Ästhetik und Analytik herbeigeführte Revolution einer kritischen Auseinandersetzung mit der rationalen Psychologie, rationalen Kosmologie und rationalen Theologie, den Disziplinen der "metaphysica specialis". Andererseits setzt die fehlende Eindeutigkeit in Kants Gebrauch des Wortes "Vernunft" einer solchen Konzentration der kritischen Untersuchung auf die Dialektik gewisse Schranken. Im weiteren Sinne dieses Wortes gehören Ästhetik und Analytik genauso zur Kritik der reinen Vernunft wie die Dialektik. Denn dieser weitere Sinn entspricht Kants Programm, "das Rationale dem Empirischen entgegen" zu setzen, wozu er gelangt, indem er dort anfängt, "wo sich die allgemeine Wurzel unserer Erkenntnißkraft theilt und zwei Stämme auswirft" (A835/B863). Von dieser weiteren Bedeutung ist die engere zu unterscheiden, nach welcher die Vernunft nur eines der höheren Erkenntnisvermögen ist und besonders dem Verstand gegenübergestellt werden soll 4 • In der Transzendentalen Dialek-
In der Anthropologie (§ 40) legt Kant ausdrücklich dem "Verstand" emen zweifachen Sinn bei, der strukturell mit der Doppeldeutigkeit der "Vernunft" in der Kritik der reinen Vernunft (VII,l96f.) identisch ist. 4
Die Vernunft
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tik wird "Vernunft" in diesem engeren Sinn verwendet 5 • Diese allem Anschein nach skandalöse Doppeldeutigkeit im Gebrauch desjenigen Wortes, das immerhin die gesamte Problematik der Kritik der reinen Vernunft bezeichnet, sollte einen ja wohl einerseits in Harnisch bringen. Daß jedoch andererseits die Bewegung der Vernunft (im engeren Sinne) die letzte Phase ist, wodurch die Bewegung der Vernunft (im weiteren Sinne) ihre entscheidende Erfüllung als krönender Mod.us des Sammelns erfahren würde das mag durchaus den Verdacht wecken, daß die Doppeldeutigkeit alles andere als eine bloße Wortverdrehung ist, daß sie vielmehr im Problem der Vernunft selbst ihren Grund hat. Der zweite der beiden Teile der Einteilung zur Transzendentalen Dialektik trägt die Überschrift "Von der reinen Vernunft als dem Sitze des transcendentalen Scheins". Dieser Teil zerfällt in drei Abschnitte. Es wurde bereits darauf hingewiesen, wie Kant gleich zu Beginn seiner Erörterung der Vernunft diese als zur letzten Phase derjenigen Bewegung der Erkenntnis gehörig bezeichnete, in welcher der Stoff der Anschauung unter die Einheit des Denkens gebracht wird. Wie läßt sie sich nun positiv beschreiben? Kant gibt zu, daß ihn diese Aufgabe, die oberste Erkenntniskraft zu erklären, in einige Verlegenheit bringe. Was an dieser Aufgabe gibt zu solcher Verlegenheit Anlaß? Was an der Aufgabe der Erklärung der Vernunft ist so schwierig? Zweifellos besteht angesichts des Problems der Vernunft mannigfacher Grund zur Verlegenheit, was die Dialektik immer wieder bestätigen wird. Aber es besteht auch noch eine Verlegenheit besonderen Ranges, worauf sich Kants Bemerkung mit gewissem Recht beziehen läßt. Es ist eine Verlegenheit der Art, wie sie den Anfang jeder grundlegenden Untersuchung erschwert: Eine anfängliche Kennzeichnung der Vernunft ist etwas, was einen in Verlegenheit bringt, etwas Schwieriges, ja sogar Gefährliches, weil die Untersuchung, die dadurch eingeleitet werden soll, zum Ziel hat, eben diese Vernunft grundlegend in Frage zu stellen. Soll die Frage aus der Sache selbst wirklich entschieden werden, muß die anfängliche Kennzeichnung so beschaffen sein, daß noch Raum für die Entscheidung bleibt. Sie muß hinreichen, die Untersuchung in Gang zu bringen, und darf dennoch die Vernunft nicht einfach im vorhinein so definieren, daß vor Einsetzen der eigentlichen Fragen die Sache abgeschlossen, das Problem bereits gelöst scheint. Die Kritik der reinen Vernunft ist keine positive Wissenschaft: Sie wählt nicht etwas bereits in seiner Grundbestimmung Gesetztes zum Thema, sondern macht die Grundbestimmung der Vernunft zu ihrem Problem. Somit geht es nicht etwa nur darum, eine hinreichend präzise Erklärung einer bereits festgelegten Definition der Vernunft zu liefern.
Vgl. Heinz Heimsoeth, Transzendentale Dialektik: Ein Kommentar zu Kants Kritik derreinen Vernunft, Berlin 1966-71, Bd. I, S. 15. 5
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Trotzdem ist eine anfängliche Kennzeichnung der Vernunft erforderlich, und dieser Aufgabe wendet sich Kant zu. Er geht so vor, daß er zuerst die Vernunft überhaupt kennzeichnet und dann auf ihre Formen im einzelnen eingeht. Seine Kennzeichnung der Vernunft erfolgt in drei Stufen. Erstens umreißt er die beiden spezifischen Formen der Vernunft überhaupt. So unterscheidet er zwischen dem logischen Gebrauch der Vernunft und deren realen Gebrauch, in anderen Worten zwischen der Vernunft als logischem und der Vernunft als transzendentalem Vermögen. Diese Einteilung in zwei spezifische Formen entspricht derjenigen, die im Zusammenhang mit dem Verstand getroffen wurde; ja, sie geht zurück auf den Beginn der Transzendentalen Logik, wo Kant zwischen der allgemeinen und der transzendentalen Logik unterscheidet (vgl. insbes. A55/B78-80). Beim logischen, d.h. nur formalen Gebrauch der Vernunft, wird von allem Inhalt der Erkenntnis abstrahiert; in dieser Funktion ist die Vernunft einfach das Vermögen des mittelbaren Schließens, der Schlußfolgerungen. In ihrem realen Gebrauch kommt ihr auch kein empirischer Inhalt zu, wohl aber ein Inhalt anderer Ordnung, nämlich ein reiner Inhalt. Welche Beziehung besteht zwischen der transzendentalen (d.h. reinen) Vernunft und diesem Inhalt? Kant sagt von ihr, daß "sie selbst den Ursprung gewisser Begriffe und Grundsätze enthält, die sie weder von der Sinnen, noch vom Verstande entlehnt" (A299/B355). Somit bringt die transzendentale Vernunft ihren reinen Inhalt hervor, genauso wie der Verstand den in den Kategorien ausgedrückten reinen Inhalt hervorbringt. Ja, Kant plant so vorzugehen wie bei der Analyse des Verstandes, nämlich das logische Vermögen als Schlüssel für die Entdeckung des transzendentalen Vermögens zu verwenden: " ... indessen wir nach der Analogie mit den Verstandesbegriffen erwarten können, daß der logische Begriff zugleich den Schlüssel zum transeendentalen und die Tafel der Functionen der ersteren zugleich die Stammleiter der Vernunftbegriffe an die Hand geben werde" (A299/B356). Dennoch deutet Kant an, daß das logische Vermögen nur einen Schlüssel liefert; nachdem er die logische Vernunft als das Vermögen mittelbar zu schließen definiert hat, bemerkt er, das andere Vermögen (die transzendentale Vernunft) werde "dadurch noch nicht eingesehen" (A299/B355). Die Erörterung des logischen Gebrauchs der Vernunft liefert nur einen Ausblick auf das Problem der reinen Vernunft. Bereits jetzt läßt sich ein weiterer bestimmender Faktor erahnen, der die reine Vernunft radikal auszeichnet: nämlich ihre Beziehung zum reinen Verstand, jene Beziehung, von der Kant bereits angedeutet hat, daß sie eine entscheidende Rolle bei der Hervorbringung des transzendentalen Scheins spielt (vgl. A297 /B353). Akzeptieren wir die analoge Einteilung in eine logische und eine reine Form, so erhebt sich die Frage, wie sich die Vernunft vom Verstand unterscheiden läßt. Die Formulierung dieser Unterscheidung bildet den zweiten Schritt in Kants Kennzeichnung der Vernunft überhaupt. Er bezieht sich auf die Kennzeichnung des Verstandes als eines Vermögens der Regeln
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und sagt: " ... hier unterscheiden wir die Vernunft von demselben [dem Verstande] dadurch, daß wir sie das Vermögen der Principien nennen wollen" (A299/B356). Was ist ein Prinzip? Kant sagt: "Ich würde daher Erkenntniß aus Principien diejenige nennen, da ich das Besondre im Allgemeinen durch Begriffe erkenne" (A300/B357). Zwei Bedeutungen sind zu unterscheiden. Nach der loseren Bedeutung ist "jeder Vernunftschluß eine Form der Ableitung einer Erkenntniß aus einem Princip" (A300/B35 7); und jede Behauptung, die in einem Schluß als Obersatz dienen kann, darf als Prinzip bezeichnet werden. Diese Bedeutung entspricht dem logischen Gebrauch der Vernunft im Gegensatz zu ihrem realen Gebrauch. Der anderen, strengeren, Bedeutung nach läßt sich eine Behauptung nur dann als Prinzip bezeichnen, wenn sie es nicht nur in einem Schluß, sondern an sich und ihrem wirklichen Ursprung nach ist - d_h. wenn sie selbst eine Erkenntnis rein durch Begriffe, eine allein vom Denken abhängige Erkenntnis ausdrückt. Wichtig ist, daß die in der Analytik formulierten Grundsätze des reinen Verstandes von den Prinzipien in diesem strengen Sinne zu unterscheiden sind: Weil die Grundsätze des reinen Verstandes keine Erkenntnis aus Begriffen ausmachen, weil sie mit der Erfordernis verbunden sind, daß Begriffe unter sinnliche Bedingungen gebracht (unter diese schematisiert) werden, weil sie durch "Bedingungen einer möglichen Erfahrung überhaupt" (A301/B357) gestützt werden müssen, sind sie keine Prinzipien. Wie läßt sich dann die Vernunft vom Verstande unterscheiden? In ihrem realen Gebrauch, auf den hin Kant seine Unterscheidung ausrichtet, sind beide Vermögen der Vernunfterkenntnis in jenem weiten, der empirischen Erkenntnis entgegengesetzten Sinne. Beide sind Vermögen der Erkenntnis aus Begriffen, aber auf grundlegend verschiedene Weise: Die reine Vernunft ist eine Erkenntnis allein aus Begriffen, der reine Verstand ist eine Erkenntnis aus Begriffen, die wesentlich mit der Anschauung verknüpft sind, also unter die im Schematismus formulierte sinnliche Bedingung gebracht worden sind. Der letzte Schritt in Kants Kennzeichnung der Vernunft überhaupt ist eine Darlegung des Unterschieds zwischen Vernunft und Verstand: Der Verstand mag ein Vermögen der Einheit der Erscheinungen vermittelst der Regeln sein, so ist die Vernunft das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Principien. Sie geht also niemals zunächst auf Erfahrung oder auf irgend einen Gegenstand, sondern auf den Verstand, um den mannigfaltigen Erkenntnissen desselben Einheit a priori durch Begriffe zu geben, welche Vernunfteinheit heißen mag und von ganz anderer Art ist, als sie von dem Verstande geleistet werden kann (A302/B359). Diese Erläuterung ist entscheidend; denn hier verweist Kants Behauptung wieder über ihren unmittelbaren Zusammenhang hinaus auf jenen Horizont, der für die entwerfende Auslegung versammelt wurde. In dieser Behauptung
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legt Kant in Wahrheit das Wesen der letzten Phase der Sammelbewegung dar, jener Phase, wo die Vernunft ins Spiel kommt. Die Analogie zum Verstande, die in der anfänglichen Formulierung des Sammelns (vgl. A298/ B355-6) bereits gesetzt wurde, bleibt bestehen: In beiden Fällen ist die ausgeübte Funktion ihrer Struktur nach die gleiche: Es wird ein Mannigfaltiges unter eine Einheit gebracht, es findet ein Sammeln statt. Aber die Terme des Sammelns, die spezifische Einheit und das spezifische Sammeln, sind verschieden. Beim Verstande ist die Einheit eine Einheit von Regeln (d.h. von Kategorien), ist das Mannigfaltige das von Erscheinungen. Bei der Vernunft dagegen ist die Einheit eine Einheit von Prinzipien, ist das Mannigfaltige eines das bleibt, nachdem der Verstand seine Arbeit geleistet, hat, die "mannigfaltige Erkenntnis" des Verstandes. So wie der Verstand das von der Anschauung erbrachte Mannigfaltige übernimmt und es in bestimmte Formen der Einheit sammelt, so übernimmt auch die Vernunft das vom Verstandes erbrachte Mannigfaltige und sammelt es in noch höhere Formen der Einheit. Abschließend spielt Kant noch einmal auf die grundlegende Schwierigkeit einer solchen Kennzeichnung an: "Das ist der allgemeine Begriff von dem Vernunftvermögen, so weit er bei gänzlichem Mangel an Beispielen (als die erst in der Folge gegeben werden sollen) hat begreiflich gemacht werden können" (A302/B359). Die Kennzeichnung ist nur vorläufiger Art. Schon jetzt hat sich Kant mehr einer spezifischen Form, der reinen Vernunft, zugewandt, anstatt auf der Ebene völliger Allgemeinheit zu beharren. Im zweiten Abschnitt, "Vom logischen Gebrauche der Vernunft", macht Kant einiges wett. Hier unterscheidet er zwischen unmittelbaren und mittelbaren Schlüssen und setzt diese Unterscheidung in Beziehung zu derjenigen zwischen Verstand und Vernunft (in ihrem logischen Gebrauch). Er erörtert kurz den mittelbaren Schluß oder Vernunftschluß, wobei er dessen drei Sätze jeweils dem Verstand, der :Urteilskraft und der Vernunft zuordnet und die drei Arten von Vernunftschlüssen - kategorische, hypothetische, disjunktive - voneinander abgrenzt 6 • Er merkt an, daß der Schluß regressiv zu betrachten ist ("Wenn, wie mehrentheils geschieht, die Conclusion als ein Urtheil aufgegeben worden ... " - A304/B361) und daß die Vernunft entsprechend in ihrem logischen Gebrauch das Mannigfaltige der Erkenntnis auf die kleinste Anzahl allgemeiner Prinzipien, also auf die höchstmögliche Einheit, zu bringen bemüht ist 7 • Vgl. Lo!(J·k, IX,ll4ff. Hier berührt Kant jene Funktion des Schließens, auf die ich bei der Darstellung der Modi des Sammelns (Kap. 1,3) verwiesen habe. Heimsoeth vertritt die Ansicht, daß Kants Sicht des logischen Verfahrens stark beeinflußt war von dem Vorbild der klassischen modernen Physik, wo man zu immer allgemeineren Gesetzen fortschreitet, wie etwa bei der Herausarbeitung der Bewegungsgesetze von Galilei und Keppler zu Newton (Transzendentale Dialektik, 1,21 ). 6 7
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Im letzten Abschnitt konzentriert Kant sich ausdrucklieh auf den reinen Gebrauch der Vernunft. Er stellt sich das Problem der reinen Vernunft: Bringt die Vernunft selbst Begriffe hervor, wodurch sie sich auf Gegenstände bezieht? In anderen Worten: Ist sie "objektiv" im Sinne des reinen Verstandes? Oder ist die Vernunft nichts als ein der Erkenntnis logische Form aufprägendes Vermögen? Kant nimmt seine Antwort vorweg, und seine Vorwegnahme deutet eine dritte Möglichkeit neben einer objektiven und einer bloß formallogischen Vernunft an. Nach dieser dritten Möglichkeit würde die Vernunft auf den Verstand angewandt, so wie der Verstand auf das Mannigfaltige der Anschauung angewandt wird, um es unter eine bestimmte Einheit zu bringen. Somit würde die Vernunft den Zweck haben, "den Verstand mit sich selbst in durchgängigen Zusammenhang zu bringen" (A305/B362). Auf der anderen Seite würde die Vernunft dadurch den Gegenständen keinerlei Gesetze vorschreiben, sondern "bloß ein subjectives Gesetz der Haushaltung mit dem Vorrate unseres Verstandes" (A306/B362) bereitstellen. Man sollte sich an Kants frühere Beobachtung erinnern, daß die Hervorbringung des transzendentalen Scheins genau in der unzulässigen Umformung eines solchen "subjectiven Gesetzes in ein objectives Princip, das Dinge bestimmen würde" besteht (vgl. A297 /B353). Kant gibt dem Problem der reinen Vernunft eine Richtung, indem er sich letzten Endes auf zwei Merkmale der logischen Vernunft konzentriert und diese als Schlüssel zur Bestimmung des Wesens der Vernunft gebraucht. Er merkt an, daß die logische Vernunft Gegenstände nicht unmittelbar bestimmt, wie der empirische Verstand es tut; vielmehr nimmt sie die vom Verstande erbrachten Bestimmungen und vereinigt sie durch Schlüsse, verbindet sie durch Vernunftschlüsse. Ebenso bezieht sich die reine Vernunft nicht unmittelbar auf Gegenstände: "Wenn also reine Vernunft auch auf Gegenstände geht, so hat sie doch auf diese und deren Anschauung keine unmittelbare Beziehung, sondern nur auf den Verstand und dessen Urtheile ... " (A306/B363). So ist die Einheit der Vernunft nicht die des Verstandes, nicht die einer möglichen Erfahrung. Und ihre Prinzipien sind somit den Gegenständen möglicher Erfahrung transzendent. Das zweite relevante Merkmal der logischen Vernunft liegt darin, daß sie ein bestimmtes Urteil (die Schlußfolgerung) unter höhere Bedingungen (die Prämissen), daß sie ein Bedingtes unter seine Bedingungen bringt. Dieses Vorgehen läßt sich dann durch die Aufstellung von Prosyllogismen unendlich wiederholen. Entsprechend versucht die reine Vernunft, das Bedingte durch die ganze Reihe seiner Bedingungen zuriickzuverfolgen. Jedoch ist die Analogie begrenzt: Diese logische Maxime kann aber nicht anders ein Principium der der reinen Vernunft werden, als dadurch daß man annimmt: wenn das Bedingte gegeben ist, so sei auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben (d.i. in dem Gegenstande und seiner Verknüpfung enthalten) (A307 /B364).
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In diesem Stadium ist Kants kryptische Vorwegnahme noch voller Fragen für uns: In welchem Sinne kann eine Reihe von Bedingungen bedingt sein? Was meint er damit, daß eine Reihe von Bedingungen gegeben bzw. im Objekt enthalten sei? Welchen Sinn hat das Enthaltensein hier? Wenn auch dieser Abschnitt viele Fragen offenläßt, dient er doch als wichtige Warnung für die, die durch die bloße Erweiterung der Analogie mit der logischen Vernunft vollen Zugang zum Problem der reinen Vernunft zu erlangen hoffen. Denn die Probleme müssen "aus ihren Quellen, die tief in der menschlichen Vernunft verborgen sind" (A309/B366) entwickelt werden.
3. Die Ideen (A310/B366- A320/B377) Die Transzendentale Dialektik hat mit einem Regreß vom Problem des transzendentalen Scheins zu dem der reinen Vernunft begonnen. In der Einleitung ist dieser Regreß nur vorbereitender Art, d.h. Kant verweist nur auf die reine Vernunft als den Sitz des transzendentalen Scheins, um später, wenn er das, was so ins Blickfeld gerückt wurde, genauer untersucht, eine solche Täuschung bei ihrer tatsächlichen Entstehung von ihrem Ursprung her zu beobachten. Die Einleitung liefert auch eine erste Kennzeichnung der Vernunft. Zusammenfassend ließe sich sagen, daß diese Kennzeichnung drei wesentliche Bestimmungen ergibt, die zwar - wie immer bei vorbereitenden Bestimmungen der Fall - allgemein bleiben, dennoch aber die erste Anordnung der Dialektik liefern, die strukturelle Formation der Fragen, von denen die dann folgende Untersuchung ausgehen wird. Die erste Bestimmung entspricht genau Kants Unterscheidung zwischen logischer und reiner Vernunft: Die reine Vernunft ist so beschaffen, daß sie einen reinen Inhalt hervorbn"ngt. Die zweite Bestimmung entspricht dem Gegensatz zwischen der Vernunft als einem Vermögen der Prinzipien und dem Verstand als einem Vermögen der Regeln: Der von der Vernunft hervorgebrachte Inhalt ist rein begrifflicher Art. Die dritte Bestimmung entspringt aus Kants Erläuterung der Analogie zwischen Vernunft und Verstand. Genau wie der Verstand, durch die Kategorien, Formen der Einheit für das Mannigfaltige der Anschauung bereitstellt, so stellt die Vernunft, durch ihren reinen Inhalt, Formen der Einheit für die mannigfaltige Erkenntnis des Verstandes bereit. Daher läßt sich diese Bestimmung auch so formulieren: Der von der Vernunft hervorgebrachte reine Inhalt besteht aus Formen der Einheit für das Sammeln des Mannigfaltigen des Verstandes. Also sind die wesentlichen Bestimmungen der reinen Vernunft Bestim· mungen hinsichtlich jenes reinen Inhalts, worauf sie wesentlich bezogen ist. Umgekehrt wird dieser Inhalt selbst dahingehend bestimmt, daß er von der reinen Vernunft hervorgebracht wird, rein begrifflicher Natur ist und Formen der Einheit für das Sammeln der Mannigfaltigen des Verstandes
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bildet. Die Bestandteile solch reinen Inhalts bezeichnet Kant als Begriffe der reinen Vernunft. Daher leitet sich der Titel des ersten der beiden Bücher ab, in welche die Transzendentale Dialektik als ganze zerfällt: "Von den Begriffen der reinen Vernunft". Darin geht es u.a. um den anderen Namen, der diesen Begriffen der reinen Vernunft beigelegt werden soll - "transzen· dentale Ideen". Im Ersten Buch macht sich Kant an eine präzisere Kennzeichnung und Ableitung der Begriffe der reinen Vernunft, eine "subjektive Ableitung" dieser Begriffe "aus der Natur unserer Vernunft" ~36/B393). Die ersten beiden, zum Ersten Abschnitt überleitenden Absätze widmet er der Herausarbeitung zweier weiterer, aus der Einleitung übernommener Bestimmungen, die das Problem der Vernunft und ihres Inhalts unter dem Gesichtspunkt des für sie kennzeichnenden Sammelns entwickeln. Die erste dieser Bestimmungen setzt den reinen Inhalt, die Begriffe der reinen Vernunft, jenseits von Erfahrungsgegenständen an. Der reinen Vernunft fehlt jeder unmittelbare Bezug zu Gegenständen. Aufgrund dieser Ungebundenheit kann die reine Vernunft einen Regreß von der Ebene durch und durch bedingter Gegenstände über die einschlägigen Bedingungen zu etwas letztlich Unbedingtem vornehmen. Es geht nun darum, die Feme der Vernunft von Erfahrungsgegenständen und ihre Verwicklung in den Regreß vom Bedingten zur Bedingung zu erläutern. Dabei kommt die Korrelativität der beiden Bestimmungen besonders ins Spiel. Beide Bestimmungen treffen in Kants Kennzeichnung der Begriffe der reinen Vernunft als "nicht bloß reflectirte sondern geschlossene Begriffe" zusammen. Die Kennzeichnung soll einen Gegensatz zum Ausdruck bringen: Begriffe des reinen Verstandes sind tatsächlich nur reflektierte Begriffe. Was meint Kant damit, wenn er bestimmte Begriffsarten als reflektiert bezeichnet? Was ist ein reflektierter Begriff? Der richtige Sinn läßt sich nur im Zusammenhang mit Kants Analyse der Begriffsbildung erfassen. Dieser Analyse zufolge entspringt ein Begriff in einem Akt, wobei ein mannigfaltiger Inhalt unter ein Eines gebracht wird, worin die Vielen übereinstimmen; diesen fundamentalen Akt nennt Kant "Reflexion" 8 • So wird also bei der Begriffsbildung der mannigfaltige Inhalt in eben den Begriff reflektiert, der bei jenem Akt entsteht, und in diesem Sinne ist der Begriff ein reflektierter Begriff. Es liegt auf der Hand, daß ein empirischer Begriff immer ein reflektierter Begriff ist: Er entspringt in einem Akt, bei dem ein mannigfaltiger empirischer Inhalt in eine formale Einheit reflektiert wird. Aber Kant betont, daß sogar die Begriffe des reinen Verstandes reflektierte Begriffe sind. Warum? Weil sie - in Kants Worten - "nichts weiter, als die Einheit der Reflexion über die Erscheinungen, in so fern sie nothwendig zu einem möglichen empirischen Bewußtsein gehören sollen" (A310/B367) enthalten. Das heißt, sie sind Einheiten, in welche die Erscheinungenapriori reflektiert 8
Vgl. Logik, IX,94; s. auch Kap. 1,3 oben.
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werden müssen, damit sie die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung und deren Objekten erfüllen. Die Kategorien sind reflektierte Begriffe, weil sie in der apriorischen Synthese, aus der sie entspringen, eben die Einheiten sind, in die ein mannigfaltiger, wenngleich reiner Inhalt reflektiert wird. Dagegen sind Begriffe der reinen Vernunft nicht bloß reflektierte Begriffe, d.h. sie entspringen nicht bei einer bloßen Reflexion eines gegebenen Inhalts in eine Einheit. Vielmehr gehen sie über alles hinaus, was gegeben werden könnte (sei es a priori oder a posteriori); zudem muß der mannigfaltige Inhalt, statt nur in sie reflektiert zu werden, versammelt werden. Diese Kluft zwischen solchen Begriffen und dem mannigfaltigen Inhalt, den erstere sammeln würden - diese Kluft hinsichtlich derer man bereits einen zweifachen, den beiden Termen korrelativen Aspekt entdecken kann bringt Kant durch die Bezeichnung "geschlossen" zum Ausdruck. Ohne auf dieser Stufe weitere Unterscheidungen zu erörtern, sagt Kant einfach. ein Vernunftbegriff sei "etwas, worauf die Vernunft in ihren Schlüssen aus der Erfahrung führt" (A311/B367). Eine Folge liegt bereits offen zutage: Eine wirklich grundlegende Untersuchung der Begriffe der reinen Vernunft muß sich auf die Schlüsse der Vernunft konzentrieren, wodurch diese Begriffe zuerst entspringen. So verschiebt sich die Problematik der Transzendentalen Dialektik in Richtung einer Untersuchung der dialektischen Vemunftschlüsse. Gleich zu Anfang erweist sich das Erste als bloße Vorbereitung auf das Zweite Buch. Der Gegensatz hinsichtlich der Reflexion macht deutlich, daß die Feme der Vernunft, die Mittelbarkeit ihrer Beziehung zu den Gegenständen der Erfahrung, von grundlegend anderer Art ist als diejenige der Begriffe des Verstandes (dank der Vermittlung der Anschauung). Die Vernunftbegriffe "betreffen ... etwas, worunter alle Erfahrung gehört, welches selbst aber niemals ein Gegenstand der Erfahrung ist" (A311/B367). Innerhalb der Erfahrung ließe sich prinzipiell kein solchen Begriffen entsprechender Gegenstand antreffen: Weil sie Begriffe der Vernunft sind, "haben sie keine Beziehung auf irgend ein Object, was ihnen congruent gegeben- werden könnte" (A336/B393). Nichts in der Erfahrung Gegebenes könnte je dem in Vernunftbegriffen Vorgestellten entsprechen. An diesem Punkt legt Kant den Begriffen der reinen Vernunft ihren anderen Namen bei: "transcendentale Ideen". Die Benennung bringt eine Betrachtung über Ideen überhaupt (Erster Abschnitt) in Gang, scheinbar dem Wort "Idee", dessen Verwendung bei Platon und dessen Angemessenheit als Bezeichnung für Vernunftbegriffe gewidmet. Jedoch leistet Kant mit diesen allgemeinen überlegungen etwas viel Bedeutsameres und weniger Augenfälliges als eine bloße Erklärung der historischen Angemessenheit seiner Verwendung des Wortes "Idee": Er rückt nämlich das Problem der Vernunft, wie es sich in der Transzendentalen Dialektik darstellt, in einen weiteren Zusammenhang. Insbesondere ordnet er die Aufgabe der Dialektik einem weiteren Ziel unter. Aufgabe der Dialektik sei es, den "Boden" ...
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zu ebnen, "m welchem sich allerlei Maulwurfsgänge einer vergeblich, aber mit guter Zuversicht auf Schätze grabenden Vernunft vorfinden, und die jenes Bauwerk unsicher machen" (A319/B376-7). Um in Kants Bild zu bleiben: Es geht darum, den Boden dadurch zu ebnen, daß man das Werk der Vernunft zum Zusammenbrechen bringt. Die Ironie ist erstaunlich: Eine ausdrucklieh auf Platons Staat ausgerichtete Erörterung schließt damit, daß die dialektische Vernunft in eine Art Maulwurfsgang, also eine unterirdische Höhle ohne echte Sichtmöglichkeit, verbannt wird . .Jedenfalls soll der Boden geebnet, baufest gemacht werden, für etwas anderes. Was soll gebaut werden? Das, was nach Kant der Philosophie die ihr eigene Würde verleiht. Indem er sich zuerst auf die Aufgabe der Dialektik bezieht, schreibt er, wir müßten uns "jetzt mit einer nicht so glänzenden, aber doch auch nicht verdienstlosen Arbeit [befassen,] nämlich: den Boden zu jenen majestätischen sittlichen Gebäuden ebnen und baufest machen" (A319/ B375-6). Was auf dem geebneten Boden errichtet werden soll, sind Prinzi· pien der Sittlichkeit. In anderen Worten verfolgt die Kritik der dialektischen Vernunft das Ziel, diese für ihre praktische Verwendung zu befreien. Man sollte sich an Kants Vorrede zur zweiten Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft erinnern: Ich mußte daher das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen, und der Dogmatism der Metaphysik, d.i. das Vorurtheil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft fortzukommen, ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens, der jeder· zeitgar sehr dogmatisch ist (Bxxx ).
4. Die Ableitung der Ideen (A321/B377- A338/B396) Nach der einleitenden Erörterung der Ideen überhaupt wendet Kant seine Aufmerksamkeit im verbleibenden Teil des Ersten Buches der Ableitung der Ideen zu. Diese Ableitung gliedert sich in drei Hauptschritte; zwischen dem zweiten und dritten Schritt liegt zudem eine wichtige weitere Betrach· tung der Beziehung zwischen Vernunft und Verstand. Noch vor dem ersten Schritt formuliert Kant das allgemeine Verfahrensprinzip, das er bei der Ableitung anzuwenden beabsichtigt: Die Form der Urtheile (in einen Begriff von der Synthesis der An· schauungen verwandelt) brachte Kategorien hervor, welche allen Verstandesgebrauch in der Erfahrung leiten. Eben so können· wir erwarten, daß die Form der Vernunftschlüsse, wenn man sie auf die synthetische Einheit der Anschauungen nach Maßgebung der Katego· rien anwendet, den Ursprung besonderer Begriffe a priori enthalten werde, welche wir reine Vernunftbegriffe oder transeendentale Ideen nennen können (A321/B378).
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Hier entwickelt Kant eine Analogie, d.h. er setzt eine strukturelle Identität zwischen der Entsprechung von logischer und reiner Vernunft einerseits und logischem und reinem Verstand andererseits voraus: So wie sich die Kategorien aus den Urteilsformen ableiten, so leiten sich die transzendentalen Ideen aus den Formen des Schließens ab. Jedoch deutet Kant auch die Grenzen einer solchen Entsprechung an: So wie die Ableitung der Kategorien des Bezugs auf das zu synthetisierende Mannigfaltige der Anschauung bedarf, so bedarf die Ableitung der Ideen des Bezugs der Formen des Schließens auf das relevante Mannigfaltige, nämlich das des Verstandes. Somit wird die Ableitung der Ideen zweierlei Faktoren einbeziehen. Einerseits wird sie logische Faktoren einbeziehen; insbesondere wird Kant sowohl von dem allgemeinen Wesen des Schließens als auch von der Einteilung des Schließens in verschiedene Arten ausgehen. Andererseits wird die Ableitung das, was man kategoriale Faktoren nennen könnte, einbeziehen, nämlich die Faktoren, die zum Mannigfaltigen des Verstandes gehören, das unter die Idee gebracht werden soll. Insbesondere wird Kant die logischen Formen auf das Mannigfaltige überhaupt anwenden und dem Leitfaden der Kategorien folgen, insofern diese eine wesentliche Differenzierung innerhalb des Mannigfaltigen zum Ausdruck bringen. (1) Zu seinem Ausgangspunkt wählt Kant die logische Vernunft. In ihrem logischen Gebrauch ist die Vernunft das Vermögen des mittelbaren Schließens, des Vernunftschlusses; was die logische Vernunft hervorbringt, sind Vernunftschlüsse. Der erste Schritt in der Ableitung besteht einfach in der Herausarbeitung der einschlägigen Entsprechung: So wie die logische Vernunft Vernunftschlüsse hervorbringt, so bringt die reine Vernunft transzendentale Ideen hervor. In anderen Worten kommt es darauf an zu bestimmen, was überhaupt die Vernunft beim Aufstellen von Vernunftschlüssen leistet, um dann dieses Ergebnis auf den Fall der reinen Vernunft und ihrer Ideen anzuwenden. Was leistet die logische Vernunft beim Aufstellen von Vernunftschlüssen? Worin besteht in dieser Hinsicht ihre Funktion? Kant antwortet: Die transeendentale Function der Vernunft in ihren Schlüssen bestand in der Allgemeinheit der Erkenntniß nach Begriffen, und der Vernunftschluß selbst ist ein Urtheil, welches a priori in dem ganzen Umfange seiner Bedingung bestimmt wird (A321-2/B3 78). Hier wird auf zwei Funktionen hingewiesen. Erstens dient ein Vernunftschluß dazu, ein Urteil (die Schlußfolgerung) unter seine/(ihre) Bedingungen zu bringen {nämlich die Prämissen, woraus es (sie) folgt). Wenn Kant den Vernunftschluß als "ein Urtheil, welches a prion· in dem ganzen Umfange seiner Bestimmung bestimmt wird" beschreibt, so bezieht er sich dabei auf diese Funktion, dieses Herausstellen eines Urteils (der Schlußfolgerung) als durch seine (ihre) Bedingungen (Prämissen) bestimmt; er verwischt nicht einfach den Unterschied zwischen Vernunftschluß und Urteil, sondern arbei-
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tet, ganz im Gegenteil, diesen Unterschied speziell heraus. Kants Erklärung verweist auf noch eine zweite Funktion: die Allgemeinheit der Erkenntnis. Diese Funktion läßt sich erklären, indem man auf Kants Beispiel verweist: Alle Menschen sind sterblich. Cajus ist ein Mensch. Cajus ist sterblich. Entscheidend ist, daß bei der Aufstellung des Vernunftschlusses das Prädikat der Schlußfolgerung (der Außenbegriff des Obersatzes: "sterblich") in einer allgemeinen Bedingung gedacht, auf eine allgemeine Bedingung, worin es enthalten ist (den Obersatz: "Alle Menschen sind sterblich"), zuriickbezogen wird. In Kants Terminologie ausgedruckt: Es geht darum, einen Begriff (den Mittelbegriff: "Mensch") zu suchen, "der die Bedingung enthält, unter welcher das Prädicat ... gegeben wird" (A322/B3 78); ihn zu suchen, um die Bedingung auf eine allgemeine Bedingung zuriickzubeziehen 9 • Die Aufstellung eines Vernunftschlusses ist eine Bewegung in Richtung größerer Allgemeinheit, und somit erfüllt die logische Vernunft bei einer solchen Aufstellung zwei miteinander verbundene Funktionen: Etwas wird auf seine Bedingungen und auf etwas Allgemeineres bezogen. Kurz, die Aufstellung des Syllogismus seitens der Vernunft leistet einen Rückbezug von etwas auf seine allgemeinen Bedingungen; sie bringt etwas unter allgemeine Bedingungen. Kant wendet dieses Ergebnis auf das Mannigfaltige überhaupt an, worauf reine Vernunft einwirkt: "Dieser [der Allgemeinheit] entspricht in der Synthesis der Anschauungen die Allheit (Universitas) oder Totalität der Bedingungen" (A322/B379). Kant sagt: So wie die logische Vernunft beim Aufstellen von Vernunftschlüssen etwas unter allgemeine Bedingungen bringt, würde die reine Vernunft etwas (nämlich das vom Verstande hervorgebrachte Mannigfaltige) unter die Totalität der Bedingungen bringen. In anderen Worten erfordert der Übergang von der logischen zur reinen Vernunft nur die Umformung des Begriffs der Allgemeinheit in einen entsprechenden, dem der Vernunft vorliegenden Mannigfaltigen angemessenen Begriff. Die logische Vernunft, welche die Syllogismen hervorbringt, bringt 9 Kant erläutert in einem Brief an Schultz: " ... daß nämlich, da der Obersatz eine allgemeine Regel sagt, der Untersatz aber vom Besondern zur allgemeinen Bedingung der Regel hinaufsteigt, der Schlußsatz vom Allgemeinen zum besondern hinabgehe, nämlich daß, was unter einer Bedingung in maiori allgemein gesagt wurde, von dem auch gesagt werde, was nach der minore unter jener Bedingung enthalten ist ... " (Brief 221: An Johann Schultz, 17. Febr. 1784, X,367). Weil sich diese Konzeption jedoch auf den disjunktiven, und insbesondere auf den hypothetischen Syllogismus, nicht anwenden läßt -es sei denn mit einschneidenden Qualifizierungen-, definiert Kant in seiner Logik den Syllogismus nicht mit Bezug auf die Bewegung hin zu größerer Allgemeinheit, sondern vielmehr mit Bezug auf die Subsumption unter Regeln: "Das allgemeine Princip, worauf die Gültigkeit alles Schließens durch die Vernunft beruht, läßt sich in folgender Formel bestimmt ausdrücken: Was unter der Bedingung einer Regel steht, das steht auch unter der Regel selbst" (IX,120).
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die Dinge unter allgemeine Bedingungen, während die reine Vernunft, die transzendentale Ideen hervorbringt, einschlägiges Mannigfaltiges unter die Totalität der Bedingungen bringt: "Also ist der transeendentale Begriff der Vernunft kein anderer, als der von der Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten" (A322/B379). Diesen Begriff der Totalität der Bedingungen selbst begrenzt Kant eingangs durch den Bezug auf die logische Vernunft. Für jeden Syllogismus lassen sich einerseits Prosyllogismen aufstellen, in denen eine Prämisse des betreffenden Syllogismus als Schlußfolgerung erscheint, d.h. in dem eine Bedingung auf noch entferntere Bedingungen zuruckbezogen wird; andererseits lassen sich auch Episyllogismen aufstellen, in denen die Schlußfolgerung des betreffenden Syllogismus als Prämisse erscheint, d.h. in denen etwas Bedingtes vorausbezogen wird auf etwas anderes, dessen Bedingung es ist. Somit läßt sich von einer Kette miteinander verknüpfter Syllogismen sprechen, sowie von zwei einer solchen Kette entsprechenden Bewegungsrichtungen, entweder vom Syllogismus nach oben zum Prosyllogismus oder vom Syllogismus nach unten zum Episyllogismus. In anderen Worten gibt es vom jeweiligen Bedingten sowohl aufsteigende, zu immer entfernteren Bedingungen hinaufführende als auch absteigende, von dem betreffenden Bedingten zu seiner Bedingung hinführende Reihen 10 • Das für die reine Vernunft Entscheidende ist, daß die transzendentalen Ideen nur im Sinne der aufsteigenden Reihen Begriffe der Totalität der Bedingungen sind. Daher wenn eine Erkenntniß als bedingt angesehen wird, so ist die Vernunft genöthigt, die Reihe der Bedingungen in aufsteigender Linie als vollendet und ihrer Totalität nach als gegeben anzusehen. Wenn aber eben dieselbe Erkenntniß zugleich als Bedingung anderer Erkenntnisse angesehen wird, die unter einander eine Reihe von Folgerungen in absteigender Linie ausmachen, so kann die Vernunft ganz gleichgültig sein, wie weit dieser Fortgang sich a parte posten"ori erstrecke, und ob gar überall Totalität dieser Reihe möglich sei (A332/B388-9). Schließlich bezieht sich Kant auf den Zusammenhang zwischen der Totalität der Bedingungen und dem Unbedingten, "als dem gemeinschaftlichen Titel aller Vernunftbegriffe" (A324/B380). Auf dieser Stufe läßt sich ein derartiger Zusammenhang nur formal betrachten: Weil die Totalität der Bedingungen alle Bedingungen enthält, kann es keine weitere Bedingung geben, welche diese Totalität bedingte (also deren Bedingung wäre), so daß diese unbedingt sein muß. Dieser Zusammenhang schreibt also vor, daß sich eine transzendentale Idee auch als Begriff des Unbedingten ansehen läßt. (2) Beim zweiten Schritt der Ableitung geht Kant an die Bestimmung der verschiedenen Arten von transzendentalen Ideen. Bei dieser Bestimmung sind beide Faktorenarten unmittelbar betroffen: Die Unterscheidung zwi10
Vgl. Loggik, IX,l34.
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sehen den Ideen wird sowohl aus der Unterscheidung zwischen Syllogismusarten als auch aus einer bestimmten kategorialen Unterscheidung (einer dem Mannigfaltigen zukommenden Unterscheidung) abgeleitet. Der kategoriale Faktor wird zuerst behandelt: "So viel Arten des Verhältnisses es nun giebt, die der Verstand vermittelst der Kategorien sich vorstellt, so vielerlei reine Vernunftbegriffe wird es auch geben" (A323/B3 79)- Damit will Kant sagen: Für jede der Grundweisen des Bedingens wird es eine entsprechende transzendentale Idee geben, eine Idee also, die jeder der Grundarten des möglichen Verhältnisses zwischen Bedingung und Bedingtem in dem einschlägigen Mannigfaltigen entspricht. Somit wird es für jede der Relationskategorien eine entsprechende transzendentale Idee geben, also je eine für Substanz, Kausalität, Gemeinschaft. Dann fügt Kant den zweiten Faktor hinzu: "Es giebt nämlich eben so viel Arten von Vernunftschlüssen, deren jede durch Prosyllogismen zum Unbedingten fortschreitet" (A323/B379). Die drei transzendentalen Ideen entsprechen den drei Arten von Vernunftschlüssen: kategorischen, hypothetischen und disjunktiven. Kant verbindet die beiden Faktoren miteinander und formuliert das Wesen der transzendentalen Ideen nun so: ... es wird also erstlieh ein Unbedingtes der kategorischen Synthesis in einem Subject, zweitens der hypothetischen Synthesis der Glieder einer Reihe, drittens der disjunctiuen Synthesis der Theile in einem System zu suchen sein (A323/B379). Zwischen dem zweiten und dritten Schritt der Ableitung schiebt Kant eine wichtige weitere Betrachtung des Verhältnisses zwischen Vernunft und Verstand ein, wobei er die Abgrenzung der transzendentalen Ideen auf die Entfaltung dieses Problems anwendet. Schon in der Einleitung zur Transzendentalen Dialektik deutete er an, daß die Vernunft mit einer höheren Form der Einheit als der Verstand zu tun hat. Jetzt macht er diesen Unterschied deutlicher: In den Ideen wird die Einheit des Verstandes bis zum Unbedingten hin erweitert, bis hin zum absolut (d.h. in allen Verhältnissen) Unbedingten, bis hin zur Ebene der absoluten Einheit. Die Vernunft erweitert die relative, bedingte Einheit, die auf der Ebene des Verstandes erreicht wird, bis hin zur Ebene der absoluten Einheit. Es ist besonders bedeutsam, daß diese Erweiterung zwei recht unterschiedliche Seiten hat. Einerseits behält sich [die reine Vernunft] allein die absolute Totalität im Gebrauche der Verstandesbegriffe vor und sucht die synthetische Einheit, welche in der Kategorie gedacht wird, bis zum SchlechthinUnbedingten hinauszuführen (A326/B383). Das besagt: Die Vernunft übernimmt die synthetische Einheit des Denkens in den Kategorien und erweitert diese Einheit bis hin zum Unbedingten. Die Vernunft erweitert die Kategorie zu einer unbedingten Einheit und
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gibt ihr dadurch die Form einer transzendentalen Idee. Hier gibt uns Kant einen ersten Hinweis darauf, wie die Ideen entspringen, d.h. eine erste Vorstellung von der "Schlußfolgerung", durch die sie entstehen. Jedoch hat die Erweiterung bis hin zum Unbedingten auch noch eine andere Seite. Kant sagt, die Vernunft befasse sich mit dem Verstande, "um ihm die Richtung auf eine gewisse Einheit vorzuschreiben, von der der Verstand keinen Begriff hat, und die darauf hinaus geht, alle Verstandeshandlungen in Ansehung eines jeden Gegenstandes in ein absolutes Ganzes zusammen zu fassen" (A326-7 /B383). Nicht nur erweitert also die Vernunft die formalen Einheiten des Verstandes (indem sie sie zu Ideen umformt), sondern sie versucht auch, den vom Verstand erbrachten Inhalt, seine Erkenntnis, seine Bestimmungen und seine Urteile, unter diese Ideen zu sammeln. Auf ihre kürzeste Form gebracht hat die Zweiseitigkeit folgende Form: Die Vernunft setzt die unbedingten Einheiten und versucht zugleich, das Mannigfaltige des Verstandes unter diese Einheiten zu sammeln. Kant skizziert zwei mögliche Verwendungsweisen der Ideen der Vernunft, deren eine negativ (dialektisch) und deren andere positiv ist. Auf der negativen Seite haben wir den objektiven Gebrauch der Ideen, das heißt, ihren Gebrauch, so als wären sie Begriffe von Gegenständen. Das kritische Denken entlarvt sie jedoch als transzendent: "Sie sind ... transcendent und übersteigen die Grenze aller Erfahrung, in welcher also niemals ein Gegenstand vorkommen kann, der der transeendentalen Idee adäquat wäre" (A327 / B384). Auf der positiven Seite beobachtet Kant, daß Ideen auch als richtungsweisende Einheiten dienen, d.h. dazu dienen, "den Verstand in die Richtung zu bringen", in der er "mit sich selbst durchgehends einstimmig gemacht wird" (A323/B380; vgl. A305/B362). Das bedeutet: Ohne ein Ausgerichtetsein auf weitere Vereinigung bestände innerhalb des Verstandes eine Unstimmigkeit zwischen seinem Einheit stiftenden (sammelnden) Wesen einerseits und der mangelnden Einheit, der Bruchstückhaftigkeit, die in der vom Verstand allein gelieferten Erkenntnis bestehen bleibt, andererseits. Somit kommt der Vernunft im Hinblick auf den Verstand eine positive Funktion zu: Sie liefert dem Verstand richtungweisende Einheiten, welche letzterer sich selbst nicht zu geben vermag, d~ren er aber um des Einklangs mit sich selbst willen bedarf. Diese Funktion der Vernunft nennt Kant ihre "regulative" Funktion. Dieser, wie auch der praktischen Funktion der Vernunft verdanken es die transzendentalen Ideen, daß sie letzten Endes nicht "überflüssig und nichtig" (A329/B385) sind. Schließlich betont Kant, daß die Ideen "nicht willkürlich erdichtet", "sondern durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben" (A327 /B384) sind. Sie sind nicht einfach fiktive Begriffe, die zufällig zusammengebraut wurden, aber ebenso auch nie hätten erfunden zu werden brauchen. Ebensowenig sind sie entbehrlich, sobald das kritische Denken ihr Verhältnis zum dialektischen Schein bloßgestellt hat. Im Gegenteil entstehen sie mit Notwendigkeit aus der Vernunft selbst und werden im Dienste der Vernunft ge-
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genüber dem Verstand mit ebensolcher Notwendigkeit auferlegt. Hier tut Kant einen ersten Schritt in Richtung auf eine Antwort auf eine der zu Beginn der Kritik der reinen Vernunft gestellten Fragen: "Wie ist Metaphysik als Naturanlage möglich?" (B22). (3) Während der zweite Schritt der Kantischen Ableitung der Ideen jede von ihnen als einen Begriff eines in bestimmter Hinsicht zu suchenden Unbedingten kennzeichnete (entsprechend den Relationskategorien sowie den Syllogismusarten), bestimmt der letzte Schritt, welche spezifische Form das Unbedingte in den drei Fällen jeweils annimmt. Diese Bestimmung bringt einen anderen Faktor ins Spiel, der jedoch nicht ohne bestimmten inneren Zusammenhang mit den anderen beiden Arten ist. Kant klassifiziert die in unseren Vorstellungen vorhandenen Verhältnisse: 1) Beziehung zum Subjekt 2) Beziehung zu Objekten a) als Erscheinungen b) als Gegenständen des Denkens überhaupt. Er formuliert diese Klassifizierung zu einem simplen dreifachen Schema um: 1) Beziehung zum Subjekt 2) Beziehung zum Mannigfaltigen des Objekts in der Erscheinung 3) Verhältnis zu allen Dingen überhaupt. Nachdem bereits gezeigt worden ist, daß eine Idee ein Begriff einer Totalität der Bedingungen, der unbedingten Totalität der unbedingten Einheit, der absoluten Einheit ist, braucht Kant zum Zwecke der Ableitung der Ideen nur jede der drei in unseren Vorstellungen vorgefundenen Verhältnisarten auf die Ebene der absoluten Einheit auszuweiten: 1) absolute Einheit des Subjektes: Seele 2) absolute Einheit der Reihe der Bedingungen von Erscheinungen: Welt 3) absolute Einheit der Bedingung aller Gegenstände des Denkens überhaupt: das Wesen aller Wesen, Gott. Somit stellen die transzendentalen Ideen die Themen der rationalen Psychologie, rationalen Kosmologie und rationalen Theologie dar, die Themen also der Metaphysica specialis. Jedoch bleibt die Bestimmung der Ideen nur vorläufiger Natur, solange nicht gezeigt worden ist, wie sie sich (in den Vernunftschlüssen) wirklich entfalten; daher kann es sein, besonders im Hinblick auf die dritte und höchste Form der Einheit, daß uns der Gedanke daran "beim ersten Anblick paradox" erscheint (A336/B393). Gegen Ende des Ersten Buches schreibt Kant: Zuletzt wird man auch gewahr: daß unter den transeendentalen Ideen selbst ein gewisser Zusammenhang und Einheit hervorleuchte, und daß die reine Vernunft vermittelst ihrer alle ihre Erkenntnisse in ein System bringe (A337 /B394). Weiter spricht er davon, wie wir fortschreiten von der Erkenntnis der Seele zur Erkenntnis der Welt und letztlich zur Erkenntnis Gottes. Diese Be-
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merkungen verweisen auf jenen zum Zwecke der projektiven Auslegung versammelten Horizont und veranlassen abschließend eine Verschiebung auf die Ebene einer solchen Auslegung, eine erste, kühne Transponierung in jenen hermeneutischen Raum_ Darin wird die menschliche Erkenntnis gesetzt als eine Bewegung des Sammelos der bruchstückhaften Anfänge in eine derjenigen der göttlichen Erkenntnis verwandte Einheit. Die Vernunft kommt in der Endphase dieser Bewegung ins Spiel und würde somit die Bewegung vollenden. Genauer gesagt setzt die Vernunft transzendentale Ideen als absolute Einheiten, in die das Mannigfaltige des Verstandes gesammelt würde. In der gerade zitierten Textstelle bemerkt Kant jedoch, daß das von der Vernunft Gesetzte trotz des Dranges zur Einheit nicht eine Einheit ist, sondern vielmehr drei Einheiten (Seele, Welt, Gott), so daß ein Auseinanderfallen in drei Teile auch dann noch bestände, wenn dieses Setzen, ja, sogar wenn dieses korrelative Sammeln, stattfände. Der Sinn der menschlichen Erkenntnis schreibt somit vor, daß die Vernunft die Ideen selbst sammeln, die Dreiheit in die Einheit hineintragen muß; allerdings nicht in eine noch höhere Idee (Einheit), sondern vielmehr in die höchste der drei. Um nicht noch eine weitere Idee ins Spiel zu bringen, muß dieses Sammeln durch diese höchste der drei Ideen bereits vorgeschrieben sein, das heißt, muß das Sammeln des Mannigfaltigen in die Idee Gottes zugleich ein Sammeln der anderen beiden Ideen in diese eine sein. In diesem Sinne muß es ein letztes Fortschreiten durch sie hindurch bis zur höchsten Einheit (Gott) geben. Diese Aufwärtsbewegung der menschlichen Erkenntnis von ihren bruchstückhaften Anfängen zu dem einigen Ziel, worin die Einheit, wie sie der göttlichen Erkenntnis zukommt, wesentlich neugeschaffen wird - diese Aufwärtsbewegung wäre letztlich eine Erkenntnis Gottes. Die Neuerschaffung der Einheit der göttlichen Erkenntnis würde genau in der Erkenntnis des Göttlichen Vollendung finden. Die Frage ist, ob die menschliche Erkenntnis diese Ebene zu erreichen vermag, ob sie sich der göttlichen Selbsterkenntnis angesichts ihrer bruchstückhaften Anfänge, ihrer radikalen Endlichkeit, auch nur anzunähern vermag.
DRITTES KAPITEL DAS SAMMELN DER VERNUNFT IN DEN PARALOGISMEN
Kants eigentliche Kritik der dialektischen Vernunft ist gänzlich in dem zweiten der beiden Bücher der Transzendentalen Dialektik enthalten. Alles andere dient zur Vorbereitung der im Laufe dieses Buchs durchgeführten Kritik der rationalen Psychologie, der rationalen Kosmologie und der rationalen Theologie. Die eigentliche Problematik, den Ort, an dem die Probleme der Transzendentalen Dialektik gelöst werden sollen, benennt der Titel dieses Buches: "Von den dialektischen Schlüssen der reinen Vernunft". Dementsprechend beginnt Kant dieses Buch mit einer nochmaligen Formulierung der beiden Bestimmungen der Vernunft, aufgrund derer das Problem der Vernunft seinen Ort in dem Bereich der dialektischen Schlüsse hat, nämlich die Ferne der Vernunft von allen Erfahrungsgegenständen und ihre dementsprechende Rolle in Schlüssen. Kant hat bereits betont, daß die transzendentalen Ideen keinen Gegenständen der Erfahrung entsprechen, daß, anders ausgedrückt, nichts in der Erfahrung Gegebenes dem in solchen Ideen Vorgestellten entsprechen kann. Diese Ferne der Vernunft formuliert Kant nun auf andere Weise. Der Gegenstand einer transzendentalen Idee sei "etwas, wovon man keinen Begriff hat" (A338/B396). Diese Formulierung muß man in ihrer spezifischen Absicht verstehen, denn natürlich gibt es einen Sinn, in dem man doch einen Begriff von dem Gegenstand einer transzendentalen Idee hat: Man hat die transzendentale Idee selbst, und sie ist ein Begriff dieses Gegenstandes. Die spezifische Absicht der Kautischen Formulierung ist: Von einem solchen Gegenstand hat man nicht die Art Begriff, der sich in der Erfahrung aufzeigen ließe, "welcher in einer möglichen Erfahrung gezeigt und anschaulich gemacht werden kann". (A338/B396). In anderen Worten haben wir keinen Verstandesbegriff, der einem solchen Gegenstand entspräche, sondern nur einen Vernunftbegriff. Eine weitere Formulierung macht diese Absicht noch deutlicher: "daß wir vom Object, welches einer Idee correspondirt, keine Kenntniß, obzwar einen problematischen Begriff haben können" (A339/B397). Zweitens bezeichnet Kant noch einmal die Rolle des Schließens bei der Hervorbringung von Ideen: "Nun beruht wenigstens die transeendentale (subjective) Realität der reinen Vernunftbegriffe darauf, daß wir durch einen nothwendigen Vernunftschluß auf solche Ideen gebracht werden" (A339/B397). Da solche Syllogismen das Werk der Vernunft seien, hätten sie keine empirische Prämissen; dennoch werden sie mit "etwas, das wir kennen" beginnen - vermutlich also mit etwas a priori und nicht etwas empirische Bekanntem - und fortschreiten zu etwas anderem, wovon man
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keinen Begriff hat, d.h. wovon man nur vermittels des Schlusses einen problematischen Begriff gewinnt. Bei solchem Schließen ist ein unvermeidlicher Schein am Werke, ein Schein, durch den man dem durch das Schließen Erreichten objektive Realität zuschreibt. Wieder hebt Kant hervor, diese Schlüsse seien nicht bloße Erfindungen, sondern entsprängen aus dem Wesen der Vernunft selbst. Sie sind "Sophisticationen ... der reinen Vernunft". Kant nennt die drei Arten von dialektischen Vernunftschlüssen im Ersten Buch, die den drei abgeleiteten Arten von transzendentalen Ideen entsprechen. Die Idee der Seele entspringt aus dem transzendentalen Paralogismus, die der Welt aus der Antinomie der reinen Vernunft, die von Gott aus dem Ideal der reinen Vernunft. Die Aufgabe besteht darin, diese hier nur aufgeführten Formen von Vernunftschlüssen in ihrer eigentlichen Entfaltung zu zeigen und sie als dialektisch zu entlarven.
1. Der Paralogismus überhaupt (A341/B399- A348/B406; A381--405; B406-432) a) Die Probleme des Paralogismus (A341/B399- A343/B401) Kant bietet eine einführende Beschreibung des transzendentalen Paralogismus: Bei dieser Schlußart "schliesse ich von dem transeendentalen Begriffe des Subjects, der nichts Mannigfaltiges enthält, auf die absolute Einheit dieses Subjects selber ... " (A340/B397-8). Sofort erheben sich eine Reihe Fragen. Was heißt "Paralogismus", und was bedeutet es, daß Kant diesen Ausdruck im vorliegenden Zusammenhang verwendet? Was genau ist dieser "transeendentale Begriff des Subjects", von dem der dialektische Schluß seinen Ausgang nimmt? Was genau ist die "absolute Einheit" des Subjektes, und wie führt der dialektische Schluß zu ihr hin? Worin liegt die grundlegende Täuschung, die den Schluß dialektisch macht? Diese vier Fragen umreißen die Hauptprobleme und erlauben einen ersten Zugang zu den Schwierigkeiten von Kants eigener Exposition. Als Hinweis darauf, daß hier besondere Schwierigkeiten vorliegen, kann die Tatsache dienen, daß das Paralogismuskapitel der einzige Teil der gesamten Transzendentalen Dialektik ist, den Kant für die zweite Auflage einer Neubearbeitung für bedürftig hielt; die Neubearbeitung belief sich auf eine vollständige Neufassung und Umstrukturierung eines Großteils dieses Textes. Das Wort "Paralogismus" stammt aus der formalen Logik, wo es zur Bezeichnung eines spezifischen Typs von formal falschen Syllogismen verwendet wird: "Ein solcher Vernunftschluß ist ein Paralogismus, insofern man sich selbst durch ihn täuscht" 1• Kant unterscheidet einen so definierten Paralogimus von dem, was er einen "Sophismus" nennt; letzterer ist ein formal falscher Syllogismus, mit dem man "absichtlich andere zu täuschen ver1
Logik, IX,l34f.
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sucht". Somit ist der Paralogismus sogar in seinem bloßen logischen Sinne radikaler als jener bloße Sophismus, der andere Zllm Irrtum verführt, für sich selbst aber immer noch die Wahrheit reserviert. Er ist vielmehr Selbsttäu· schung, unvermeidlicher Schein, ohne Wahrheitsreserve. Dieser Charakter wird in Kants Definition des transzendentalen Paralogismus noch deutlicher: "Ein transeendentaler Paralogismus aber hat einen transeendentalen Grund, der Form nach falsch zu schließen" (A341/B399). Beim transzendentalen Paralogismus liegt eine transzendental motivierte Selbsttäuschung vor, die "in der Natur der Menschenvemunft" ihren Grund hat. Ein solcher Pralogismus gehöhrt nicht zu einer sophistischen Kunst, sondern zur sophistischen Natur der Vernunft selbst. Die Vernunft verwickelt sich in demjenigen Bereich in Paralogismen, wo die Selbsttäuschung ihre radikalste Form annehmen kann, im Bereich der rationalen Psychologie; die Vernunft verwickelt sich selbst in Selbsttäuschung in bezug auf sich selbst. Die zweite Frage betrifft die Prämissen, auf denen solche auf Selbsttäuschung zurückzuführende falsche Syllogismen beruhen. Was ist dieser "transzendentale Begriff des Subjekts" genau, von dem die dialektischen Schlüsse der rationalen Psychologie ihren Ausgang nehmen? Kants Antwort auf diese Frage lautet: der Satz "ich denke". Dieser Satz ist "der alleinige Text der rationalen Psychologie". Diese "bloße Apperception: Ich denke", diese "allgemeine Vorstellung des Selbstbewußtseins", aus der alle "empirische Bestimmung" ausgeschlossen ist, liefert den Grund, auf dem die gesamte Metaphysik der Seele aufbaut (A343/B401). Die kritische Aufgabe besteht darin, die Metaphysik auf diesen Grund zurückzubeziehen und die Beschränkungen inkraft zu setzen, welche die Bindung an einen solchen Grund vorschreibt. Was ist die bloße Apperzeption "Ich denke"? Sie ist ein transzendentaler Begriff und gehört zu der vorher bestimmten Tafel solcher Begriffe, nicht weil sie eine Kategorie ist, sondern weil sie von allen Begriffen, einschließlich der Kategorien, vorausgesetzt wird, weil sie "das Vehikel aller Begriffe" ist. Sie ist derjenige transzendentale Begriff, der "nur dazu dient, alles Denken, als zum Bewußtsein gehörig, aufzuführen" (A341/B399-400). Trotz der Kürze und anscheinenden Unkompliziertheit, mit der Kant das Problem der Apperzeption hier einführt, gehört es zu den komplexesten in der Kn"tik der reinen Vernunft - ist berüchtigt wegen seiner Komplexität. Dieses Problem steht im Mittelpunkt der Transzendentalen Analytik, und die durch seine Komplexität aufgeworfenen Probleme beschäftigten Kant ohne Zweifel sehr, als er den Großteil der Transzendentalen Deduktion für die zweite Auflage umschrieb. Jedoch darf man wohl vermuten, daß die Komplexität dieses Problems nicht an Kant liegt, sondern an der Sache selbst, die unter dem Titel "Apperzeption" zur Debatte gestellt würde. Dann wäre man vielleicht auch bereit hervorzuheben, daß Kants Einsicht in dieser Sache von großer Tiefe, die Form seiner Darlegung von erstaunlicher Klarheit ist; jedoch gibt Kant keine Helligkeit vor, wo die Dinge ihrem Wesen
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nach dunkel sind, und die Komplexität des Problems ist ein Maßstab dafür, welch reiche Ernte die Beschäftigung mit ihm trägt. Für den Reichtum zeugt die Skala der deutenden übernahmen, die dieses Problem seit Kant erfahren hat, von Fichtes Entwicklung des Begriffs des absoluten Ich, über die Neukantianische Deutung des Ich als eines logischen Subjekts bis zu Heideggers Verwurzdung des Ich in der transzendentalen Einbildungskraft bzw. der ursprünglichen Zeitlichkeit. Ich möchte nun versuchen, ohne diesen Reichtum zu verleugnen, und dennoch nur vorbereitend und in engem Rahmen das Problem der Apperzeption in Umrissen zu skizzieren. b) Die transzendentale Apperzeption Bei der Schilderung der Modi des Sammelns auf der Ebene des reinen Ver· standes (Kap. I, 3} wurde gezeigt; wie die Möglichkeit der Erfahrung erfordert, daß Erscheinungen ein Gegenstand bereitgestellt wird. Zudem wurde gezeigt, daß eine solche Bereitstellung ihrerseits erfordert, daß Erscheinungen die dem Begriff des Gegenstandes überhaupt zukommende Einheit aufweisen. Und es wurde gezeigt, daß diese Einheit im Mannigfaltigen der Anschau· ung durch die apriorische Synthesis geleistet wird. Nun wäre folgende Frage zu stellen: Welches ist der transzendentale Grund dieser Einheit und der Erfordernis der Einheit im Mannigfaltigen? Kants Antwort lautet: "Diese ursprüngliche und transeendentale Bedingung ist nun keine andere als die transeendentale Appereeption" (A106-07). Das Problem der Apperzeption wird somit im Zusammenhang mit dem Sammeln des Mannigfaltigen der Anschauung in die Einheit des Denkens eingeführt. Die Einführung in diesem Zusammenhang ist von großer BedeutsamkeiL Welcher Art ist diese Bedingung, worauf sich sowohl die Erfordernis der Einheit als auch die für Erscheinungen erforderliche Einheit gründen? Kant schreibt: Nun können keine Erkenntnisse in uns statt finden, keine Verknüpfung und Einheit derselben unter einander, ohne diejenige Einheit des Bewußtseins, welche vor allen Datis der Anschauungen vorhergeht, und worauf in Beziehung alle Vorstellung von Gegenständen allein möglich ist. Dieses reine, ursprüngliche, unwandelbare Bewußtsein will ich nun die transeendentale Appereeption nennen (A107). Somit ist die transzendentale Apperzeption die Einheit des Bewußtseins Einheit nicht in Sinne einer vom Bewußtsein unterschiedenen Eigenschaft, sondern vielmehr Einheit als eigentliches Wesen des Bewußtseins. Die transzendentale Apperzeption ist jenes einige Bewußtsein, jenes "eine Bewußtsein" (A116}, dem alle meine Vorstellungen angehören müssen. Sie ist "die durchgängige Identität unserer selbst in Ansehung aller Vorstellungen" (A116}, das mit sich selbst identische Ich, welches das Subjekt aller Vor-
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Stellungen (von Gegenständen) ist - das Subjekt der Erfahrung. Sie ist rein: Sie geht allem Empirischen voraus, betrifft primär die reine Synthesis. Sie ist ursprünglich: Sie ist nicht von der Sinnlichkeit, der Rezeptivität, abhängig, und geht somit (wiederum) der empirischen Ordnung der Anschauung und Zeit voraus und ist diejenige Einheit, auf die sogar das zeitliche Mannigfaltige zurückbezogen wird. Die transzendentale Apperzeption ist "das stehende und bleibende Ich" und "macht das Correlatum aller unserer Vorstellungen aus" (Al23). Sie ist das, worauf sich Kant bezieht, wenn er von dem Ich-denke schreibt: "Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können" (B 131 ). Jedoch ist die transzendentale Apperzeption nicht nur ein beharrliches Ich, das hinter seinen mannigfaltigen Vorstellungen steht. Das Ich besitzt seine Vorstellungen nicht in derselben Weise, wie eine Substanz ihre Eigenschaften besitzt, und ebensowenig sind diese Vorstellungen an das Ich nur so gebunden, wie Erscheinungen an den transzendentalen Gegenstand gebunden sind. Kraft seines Ich-Seins ist ein beharrliches Ich mehr als ein bloßes beharrliches Substrat. Es ist ein Subjekt (subiectum, V1TOKEi1/EVOV} in einem ausgezeichneten Sinne; denn das Ich besitzt nicht nur seine Vorstellungen, sondern ist auch in der Lage, sie auf sich selbst zu beziehen. Es muß für das Ich-denke möglich sein, alle meine Vorstellungen zu begleiten; das heißt, es muß möglich sein, alle Vorstellungen auf ein Ich zurückzubeziehen, dem die Vorstellungen angehören; aber der Rückbezug selbst wird von dem Ich geleistet, das sich somit selbst als bestimmte Vorstellungen besitzend vorstellt. Aus diesem Grunde sagt Kant, die ursprüngliche Apperzeption könne von keiner weiteren Vorstellung begleitet werden (B132): Der Rückbezug der Vorstellungen auf das Ich des Ich-denke (auf die transzendentale Apperzeption) wird nicht von einem weiteren Ich geleistet, auf das dann ein weiterer Rückbezug (in Form eines unendlichen Regresses) erforderlich wäre; vielmehr bezieht das Ich selbst die Vorstellungen auf sich. Aus diesem Grund kann Kant auch die transzendentale Apperzeption sowohl als das Ich des Ich-denke als auch als das die Vorstellung "Ich denke" Hervorbringende kennzeichnen (B132). Die Apperzeption ist sowohl das als Subjekt der Vorstellungen vorgestellte Ich als auch das Ich, dem diese Vorstellung zukommt - und dieses Ich ist ein und dasselbe. Die Apperzeption ist das sich selbst vorstellende Ich. Die ursprüngliche Apperzeption ist ihrem Wesen nach auch das Bewußtsein seiner selbst als transzendentaler Apperzeption (A117 Anm.), und dieser Zusammenhang bringt den grundlegenden Sinn der Ursprünglichkeit der Apperzeption zum Ausdruck. Die Identität des Ich ist kein bloß passives Beharren eines Substrats für Vorstellungen, sondern ist ihrem Wesen nach auch "Bewußtsein der Identität seiner selbst" (A108); indem sich die Apperzeption von aller Passivität, Rezeptivität, Anschauung absetzt, ist sie "ein Actus der Spontaneität" (Bl32). Bewußtsein ist seinem Wesen nach auch Selbstbewußtsein, und die Einheit des Bewußtseins ist keineswegs ein bloß statisches, passives Einssein, sondern die spontane Vereinigung
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des Selbstbewußtseins. Die transzendentale Apperzeption ist (wie das Wort bereits nahelegt 2 ) transzendentales "Selbst-Bewußtsein" (Al11, 113; B132, 134-5) - oder, genauer gesagt, sie ist die Möglichkeit des Selbstbewußtseins, da es nicht erforderlich ist, daß das Ich-denke tatsächlich alle meine Vorstellungen begleitet, sondern vielmehr nur die Möglichkeit dazu bestehen muß 3 • Wir stellten fest, daß das Problem der transzendentalen Apperzeption als Antwort auf eine Frage nach dem Grunde eingeführt wird: Die transzendentale Apperzeption wird als Grund für die Bedingung einer Einheit und der für Erscheinungen erforderlichen Einheit gesetzt. Setzen wir ihren Charakter als eines mit sich selbst identischen Bewußtseins voraus, so fragt es sich, wie sie sich als Grund der Einheit und auch der Bedingung von Einheit dient. Wie läßt sich ihre begründende Funktion aus ihrem eigenen Charakter erklären? Dieses Problem greift Kant am unmittelbarsten in der zweiten Auflage auf. Hier konzentriert er sich auf die Art und Weise, wie meine Vorstellungen die meinen sind. Damit sie die meinen sind, müssen sie alle einem mit sich selbst identischen Bewußtsein angehören; oder in Kants Worten: "Denn die mannigfaltigen Vorstellungen, die in einer gewissen Anschauung gegeben werden, würden nicht insgesammt meine Vorstellungen sein, wenn sie nicht insgesammt zu einem Selbstbewußtsein gehörten" (B132). Nur so kann das Ich-denke alle meine Vorstellungen begleiten das heißt, der selbstbewußte Rückbezug meiner Vorstellungen auf mich selbst ist nur möglich, wenn meine Vorstellungen bereits unabhängig von jedem Rückbezug die meinen sind, wenn sie immer schon einem mit sich selbst identischen Bewußtsein angehören. Umgekehrt gilt: Wenn es bestimmte Bedingungen gibt, die Vorstellungen erfüllen müssen, um einem mit sich selbst identischen Bewußtsein anzugehören, dann werden alle Vorstellungen dieser Forderung unterliegen. Daher fährt Kant fort: " ... als meine Vorstellungen (ob ich mich ihrer gleich nicht als solcher bewußt bin) müssen sie doch der Bedingung nothwendig gemäß sein, unter der sie allein in einem allgemeinen Selbstbewußtsein zusammenstehen können, weil sie sonst nicht durchgängig mir angehören würden" (B132-3). Vorstellungen können nur dann "in einem allgemeinen Selbstbewußtsein zuLeibniz verwendete das Wort "Apperzeption" zuerst in dem entsprechenden Zu· sammenhang in den Nouveaux Essais, wo es Bewußtsein, im Unterschied zur Wahrnehmung, die nicht unbedingt Bewußtsein enthält, bezeichnet (Die philosophischen Schnften, hrsg. v. C.I. Gerhardt, Bildesheim 1965, Bd. V, S. 148). Später begann er, es als spezielle Bezeichnung für das Selbstbewußtsein oder die reflexive Erkenntnis des inneren Zustandes zu verwenden (vgL "Principes de Ia nature et de Ia grace, fondes en raison", ebd., Bd. VI, S. 600). 3 So sagt Kant über die Vorstellung "Ich": "Diese Vorstellung mag nun klar (empirisches Bewußtsein) oder dunkel sein, daran liegt hier nichts, ja nicht einmal an der Wirklichkeit desselben" (A117 Anm.). In dieser Hinsicht ist Fichtes Deutung die treffendste (vgL Zweite Einleitung in die Wissenschafts/ehre, Werke, hrsg. v. LH. Fichte, Berlin 1971, Bd. L S. 459). 2
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sammenstehen", wenn sie in die Einheit des Selbstbewußtseins gesammelt werden, wenn sie die Bedingung dieser Einheit erfüllen: "Also ist das ursprüngliche und nothwendige Bewußtsein der Identität seiner selbst zugleich ein Bewußtsein einer eben so nothwendigen Einheit der Synthesis aller Erscheinungen nach Begriffen, d.i. nach Regeln, die - .. ihrer Anschauung einen Gegenstand bestimmen, d.i. den Begriff von Etwas, darin sie nothwendig zusammenhängen" (A108). Vorstellungen können nur dann mir angehören, können nur dann in einem Selbstbewußtsein zusammenstehen, wenn sie auf eine Einheit gebracht werden - eine Einheit, die auf der Seite der Vorstellungen mit dem zusammenfällt, was "von unten" beginnend, an früherer Stelle als das transzendentale Objekt thematisiert wurde. Vorstellungen können nur dann mir angehören, wenn ihnen die der Apperzeption selbst entsprechenden Formen der Einheit gegeben werden. Die transzendentale Apperzeption begründet dadurch als das, mit dem Übereinstimmung erforderlich ist, sowohl die Bedingung der Einheit als auch die erforderliche Form der Einheit. Für Kant ist der Grundsatz der Apperzeption "der oberste im ganzen menschlichen Erkenntniß". Dennoch ist dieser Grundsatz, der die Bedingung nach Übereinstimmung und somit die Begründungsfunktion der Apperzeption formuliert, "identisch, mithin ein analytischer Satz" (B 135 ). Warum ist dieser oberste Grundsatz analytisch? Kants Erklärung lautet: "denn er sagt nichts weiter, als, daß alle meine Vorstellungen in irgend einer gegebenen Anschauung unter der Bedingung stehen müssen, unter der ich sie allein als meine Vorstellungen zu dem identischen Selbst rechnen und also, als in einer Apperception synthetisch verbunden durch den allgemeinen Ausdruck: Ich denke, zusammenfassen kann" (B138). Dieser Grundsatz besagt einfach: Meine Vorstellungen müssen die Bedingungen erfüllen, die es ihnen ermöglichen, meine Vorstellungen zu sein (und somit im Selbstbewußtsein auf das Ich des Ich-denke bezogen zu werden). Nun ist dieser Grundsatz zwar an sich nur analytisch, aber - und das ist entscheidend - er ist auch mit der von der Einbildungskraft in bezug auf das reine Mannigfaltige geleisteten grundlegenden Synthesis verknüpft; die Einbildungskraft ist der Grund der Möglichkeit aller synthetischen Urteile, und somit unterscheidet Kant zwischen der analytischen Einheit (der Einheit der bloßen Apperzeption) und der synthetischen Einheit (der im Mannigfaltigen geleisteten Einheit). Die Frage ist: Welches Verhältnis herrscht zwischen diesen beiden Einheiten? Es wurde bereits gezeigt, daß die Apperzeption (analytische Einheit) der transzendentale Grund der Synthesis der Einbildungskraft (synthetische Einheit) ist. Was jetzt behauptet wird, ist, daß die Apperzeption auch der Synthesis der Einbildungskraft bedarf, von dieser abhängig ist. Diese grundlegende Synthesis ist sogar for die Möglichkeit des Selbstbewußtseins selbst erforderlich. Der analytische Grundsatz "erklärt _ . _ eine Synthesis des in einer Anschauung gegebenen Mannigfaltigen als nothwendig, ohne welche jene durchgängige Identität des Selbstbewußt-
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sems nicht gedacht werden kann" (B 135 ). Kant erläutert und formuliert diese Abhängigkeit des Selbstbewußtseins von eben der Synthesis, deren Notwendigkeit es begründet und deren Form es vorschreibt, an mehreren Stellen. Eine solche Stelle ist die folgende: ,,Also nur dadurch, daß ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein verbinden kann, ist es möglich, daß ich mir die Identität des Bewußtseins in diesen Vorstellungen selbst vorstelle, d.i. die analytische Einheit der Apperception ist nur unter der Voraussetzung irgend einer synthetischen möglich" (B 133 ). Und noch entschiedener: "Synthetische Einheit des Mannigfaltigen der Anschauungen, als a priori gegeben, ist also der Grund der Identität der Ap· perception selbst, die a priori allem meinem bestimmten Denken vorhergeht" (B134) 4 • Somit ist die transzendentale Apperzeption in einem Sinne der Grund der Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung, während es, wie jetzt deutlich wird, in einem anderen Sinne, die Synthesis des Mannigfaltigen ist, welche die Apperzeption begründet. Genauer gesagt begründet die transzendentale Apperzeption die Erfordernis der Einheit im Mannigfaltigen und die so erforderliche Form der Einheit; aber die Apperzeption leistet nicht selbst die Synthesis, wodurch das Mannigfaltige auf eine solche Einheit gebracht wird, und begründet somit nicht im vollen Sinne die tatsächlich geleistete Einheit des Mannigfaltigen. Im Gegenteil ist diese Einheit die Leistung der transzendentalen Einbildungskraft; und somit ist die Apperzeption, insofern sie von der tatsächlichen synthetischen Vereinigung des Mannigfaltigen abhängig ist, von der Einbildungskraft abhängig; in diesem Sinne ist die "Synthesis der Einbildungskraft vor der Apperception" (All8). Das ist jedoch nur die eine Seite: Die transzendentale Apperzeption ist auch vor der Synthesis der Einbildungskraft; und sie ist ursprünglich in einem Sinne, in dem die Synthesis es nicht ist, weil sie sowohl die Erfordernis der Einheit als auch die Form der in dieser Synthesis tatsächlich realisierten Einheit begründet. Von Anfang an stellt Kant die transzendentale Apperzeption der empirischen Apperzeption bzw. dem inneren Sinn gegenüber. Ein solches bloß empirisches Bewußtsein des Ich, wie es sich selbst durch die Anschauung in der inneren Wahrnehmung gegeben wird, verweist auf "kein stehendes oder bleibendes Selbst", sondern nur einen "Fluß innrer Erscheinungen" (A107). Noch entscheidender ist, daß das Selbst, wie es im inneren Sinne vorgestellt wird, wie alles in der Anschauung Gegebene bloß eine Erscheinung ist; denn wir können uns auf diese Weise nur selbst anschauen, "wie wir innerlich afficiert werden": Der innere Sinn stellt sogar "uns selbst, nur wie wir uns erscheinen, nicht wie wir an uns selbst sind, dem Bewußtsein dar" (B152-3) (vgl. 67-8). Der Gegensatz zwischen der transzenden4 Diese Abhängigkeit kommt am ausdrücklichsten, wenn auch nicht ausschließlich in der zweiten Auflage zum Ausdruck (vgl. Al08). - Vgl. H.J. Paton, Kant's Metaphysic of Experience, London 1936, S. 512:_515.
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talen Apperzeption und dem inneren Sinn läßt sich am deutlichsten dadurch erhellen, daß man sich fragt, was für eine Art Vorstellung die transzendentale Apperzeption eigentlich genau ist. Das heißt, daß man sich fragt: Wie bin ich mir in der transzendentalen Apperzeption meiner selbst bewußt? Was für eine Art von Vorstellung ist solch ein Selbstbewußtein, und unter welchem Aspekt stellt es demnach das Ich dar? Kant antwortet: Dagegen bin ich mir meiner selbst in der transeendentalen Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen überhaupt, mithin in der synthetischen ursprünglichen Einheit der Apperception bewußt, nicht wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur daß ich bin. Diese Vorstellung ist ein Denken, nicht ein Anschauen (B157). Diese entscheidende Erklärung bedarf aus mehreren Gründen der Beachtung. Erstens formuliert Kant hier das Wesen der transzendentalen Apperzeption im vollständigen Zusammenhang des Problems des Selbstbewußtseins- d.h. er erörtert sie in ihrer Beziehung auf die Synthesis des Mannigfaltigen, von der sie auf so eigenartige Weise abhängig ist, und nennt sie die synthetische ursprüngliche Einheit der Apperzeption. Zweitens erklärt Kant, ich sei mir in der transzendentalen Apperzeption meiner selbst nicht bewußt, wie ich an mir selbst bin. Man wird plötzlich an die Unterscheidung zwischen der menschlichen und der göttlichen Erkenntnis erinnert und entsprechend an die Notwendigkeit, zwischen der transzendentalen Apperzeption und demjenigen "Verstand, durch dessen Selbstbewußtsein zugleich das Mannigfaltige der Anschauung gegeben würde" (B 138-9), der sich selbst hervorbringen und dadurch in Einheit mit seiner Selbstsetzung erkennen würde, wie er an sich ist. Drittens erklärt Kant, ich sei mir in der transzendentalen Apperzeption meiner selbst nicht so bewußt, wie ich mir selbst erscheine; im transzendentalen Selbstbewußtsein gebe es nichts, was mir erscheint (so wie mir im inneren Sinne etwas erscheint), und entsprechend sei diese Vorstellung keine Anschauung. Somit kennzeichnet Kant schließlich diese Vorstellung als ein Denken, in dem ich mir nur der Tatsache meiner Existenz bewußt bin. Wie läßt sich diese Kennzeichnung deuten? Was für ein Denken ist das transzendentale Selbstbewußtsein? Es ist ein Denken, bei dem das Ich-denke mit meinen Vorstellungen verknüpft wird, d.h. bei dem meine Vorstellungen ausdrücklich auf mich rückbezogen werden, auf das Ich des Ich-denke, dem sie immer bereits angehören. Jedoch ist die Abhängigkeit der transzendentalen Apperzeption von der Synthesis des Mannigfaltigen so beschaffen, das sich der tatsächliche Rückbezug, d.h. das SelbstSetzen des Ich, nur auf der Grundlage der bereits von der Einbildungskraft durchgeführten Synthesis leisten läßt, der Synthesis, die stattfindet als das von der Apperzeption vorgeschriebene Auf-die-Einheit-Bringen des Mannigfaltigen. Worin besteht dann die Funktion dieses Denkens, das Kant mit dem transzendentalen Selbstbewußtsein gleichsetzt? Seine Funktion kann nur darin bestehen, das Ich zu setzen, mit dem das Mannigfaltige der Vor-
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stellungen durch die Einbildungskraft vermittels der Synthesis bereits verknüpft worden ist. Was für ein Denken ist die transzendentale Apperzeption? Sie ist ein Sich-selbst-Setzen. Deshalb sagt Kant, ich sei mir in der transzendentalen Apperzeption nur bewußt, daß ich sei. Eine spätere Formulierung bringt das auf elegantere Weise zum Ausdruck: "Das Bewußtsein meiner selbst in der Vorstellung Ich ist gar keine Anschauung, sondern eine bloß intellectuelle Vorstellung der Selbstthätigkeit eines denkenden Subjects" (B27 8). Abschließend bedürfen zwei Zusammenhänge der Herausarbeitung; beide dienen dazu, den nun abgeschlossenen Kommentar zur transzendentalen Apperzeption dem Horizont der projektiven Auslegung anzupassen. Erstens muß die transzendentale Apperzeption mit dem allgemeinen Problem des Sammelns in Zusammenhang gebracht werden. Das erfordert, daß die Apperzeption in ihrem Strukturzusammenhang mit der Synthesis, von der sie abhängt, gesehen wird. Einerseits setzt sich das Ich, das eines ist, selbst und setzt damit die Einheit; in anderen Worten haben wir ein Setzen der Einheit, in die das einschlägige Mannigfaltige gesammelt werden soll, das heißt, ein Setzen der Einheit für das Sammeln. Andererseits haben wir die Vereinigung des Mannigfaltigen der Vorstellung, das tatsächliche Sammeln dieser Vorstellungen in diese Einheit durch die von der Einbildungskraft geleistete Synthesis. Somit exemplifiziert die transzendentale Apperzeption in ihrer vollen Struktur genommen die Zweiseitigkeit des Sammelns überhaupt; und vorausgesetzt, die transzendentale Apperzeption ist "der oberste Grundsatz im ganzen menschlichen Erkenntniß", dann läßt sich wohl annehmen, daß es nicht nur eine Frage des Exemplifizierens, sondern auch des Begründens ist, wenn auch vielleicht nur in einem bestimmten Maße oder Hinblick. Jedenfalls wird es, wenn die Apperzeption einmal in ihrer vollen Struktur als ein Sammeln erkannt worden ist, deutlich, wie die Entwicklung dieser Frage dem bereits umrissenen apriorischen Wesen der Erkenntnis größere Tiefe verleiht: Apriorische Erkenntnis ist nicht nur ein Sammeln von Erscheinungen in die Einheit der Objektivität, in das transzendentale Objekt, sondern ist, als ein Sammeln dieser Erscheinungen in die korrleative und dennoch ursprüngliche Einheit der transzendentalen Apperzeption, in noch grundlegenderem Sinne das vom Subjekt geleistete Sammeln von Erscheinungen zu sich selbst. Der andere Zusammenhang ist das positive Gegenstück zu dem bereits erläuterten Gegensatz zwischen menschlichem und göttlichem Selbstbewußtsein. Die transzendentale Apperzeption ist ein Denken, ein Sich-selbstSetzen, wobei jedoch das Ich sich nur als existierend, nicht als im Besitze bestimmter Eigenschaften setzen kann. Das genügt aber nicht, um die transzendentale Apperzeption zum Abbild jener göttlichen Selbsterkenntnis zu machen, die auch ihrem Wesen nach ein absolutes Sich-selbst-Setzen ist jener göttlichen Selbsterkenntnis, in der sich Gott, als causa sui, in eben diesem Akt der Selbsterkenntnis selbst hervorbringen würde.
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c) Der transzendentale Paralogismus (A343-4/B401-2; A396-A405) Zwei der vier von mir hinsichtlich des transzendentalen Paralogismus gestellten Leitfragen haben wir nun behandelt. Erstens haben wir festgestellt, daß sich "Paralogismus" in seinem transzendentalen Sinne auf einen transzendental motivierten, formal irrigen Vernunftschluß bezieht, bei dem insbesondere eine Selbsttäuschung in bezug auf das Ich vorliegt. Zweitens haben wir den transzendenten Begriff des Subjekts, von dem der dialektische Vernunftschluß ausgeht, als die transzendentale Apperzeption erkannt. Die verbleibenden Fragen zielen unmittelbar auf den Kern des Problems des Paralogismus. Die dritte untersucht die Schlußfolgerung sowie die Mittel, durch die sie erreicht wird. Die vierte untersucht den Grundirrtum, der den Schluß dialektisch macht. Kant macht sich nicht unmittelbar an die Herausarbeitung einer endgültigen Antwort auf diese beiden verbleibenden Fragen. Statt dessen beginnt er, indem er einleitend die in diesen Fragen thematisierten Probleme anordnet, das heißt, indem er ihre geplante Ausarbeitung erst einmal umreißt. Dieser Abschnitt ist der einzige wichtige Abschnitt der Paralogismuskritik, den Kant in die zweite Auflage übernommen hat. Zwar dient er nur der Einführung, schneidet aber alle wesentlichen Fragen an. Kant wendet sich zuerst der Schlußfolgerung des transzendentalen Paralogismus zu, sowie der Frage, wie die rationale Psychologie zu dieser Schlußfolgerung gelangt. Wie bereits erwähnt, baut die rationale Psychologie einzig und allein auf dem Ich-denke der transzendentalen Apperzeption auf. Von dieser Basis schreitet sie fort zur Bestimmung des Ich des Ich-denke, das heißt, zur Herausarbeitung und Erschließung der dem Ich zukommenden Bestimmungen. Bei diesem Bestimmen haben empirische Bestimmungen keinen Platz, weil sie gegen den rein rationalen Charakter einer solchen Psychologie verstoßen würden. Folglich kann die rationale Psychologie das Ich nur vermittels "transcendentaler Prädicate" (A343/B401) bestimmen das heißt, durch Kategorien. Um die Bestimmungen, welche die Grundlage der rationalen Psychologie bilden, zu erlangen, ist es somit erforderlich, "dem Leitfaden der Kategorien zu folgen" (A344/B402) 5 • So besteht dieser einführenden Darstellung zufolge der Schluß selbst in nichts anderem als der Bestimmung des Ich durch die Kategorien. Die so erlangten Schlußfolgerungen sind einfach Urteile, in denen dieses Bestimmen seinen Ausdruck findet. Jeder der Hauptkategorien entspricht ein solches bestimmendes Urteil: Kant erklärt die (im Vergleich zur Kategorientafel) veränderte Reihenfolge durch den Zusatz: " ... nur da hier zuerst ein Ding, Ich, als denkend Wesen gegeben worden, so werden wir zwar die obige Ordnung der Kategorien unter einander, wie sie in ihrer Tafel vorgestellt ist, nicht verändern, aber doch hier von der Kategorie der Substanz anfangen, dadurch ein Ding an sich selbst vorgestellt wird, und so ihrer Reihe rückwärts nachgehen". 5
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1) Relation: Die Seele ist Substanz. 2) Qualität: Die Seele ist einfach. 3) Quantität: Die Seele ist Einheit (d.h. zu den verschiedenen Zeiten, zu denen sie da ist, numerisch identisch). 4) Modalität: Die Seele ist im Verhältnis zu möglichen Gegenständen im Raum. Nach Kant lassen sich von hier aus alle anderen Bestimmungen ableiten, die den Begriffsinhalt der rationalen Psychologie ausmachen - Bestimmungen wie Immaterialität, Inkorruptibilität, Spiritualität, Immortalität. So würde die gesamte rationale Psychologie aus der kategorialen Bestimmung des Ich hervorgebracht. Man sollte jedoch beachten, daß dieser einleitende Entwurf verschiedene Einzelfragen noch ungeklärt läßt. Welcher Art ist die Beziehung zwischen dem Ich der transzendentalen Apperzeption und der Seele, deren verschiedene Bestimmungen in den Urteilen der rationalen Psychologie prädiziert werden? Und was schreibt vor, welche spezifische Kategorie von jeder Gruppe als Bestimmung auf das Ich angewendet werden soll? In seinem einleitenden Entwurf greift Kant eine weitere Frage auf, nämlich die des Grundirrtums, der die Schlüsse der rationalen Psychologie paralogistisch macht. Er tut das primär, indem er die Theorie der transzendentalen Apperzeption noch einmal vorträgt, jedoch so, daß die Annahme nahegelegt wird, daß sie für eine Erkenntnis, wie die rationale Psychologie sie daraus ableiten will, nicht hinreicht. Die Vorstellung ,Ich' ist "für sich selbst an Inhalt gänzlich leer". Streng genommen ist sie noch nicht einmal ein Begriff - das heißt, sie ist keine Vorstellung einer realen Bestimmung, die einer Sache zukommen könnte, sondern ist nichts als "ein bloßes Bewußtsein, das alle Begriffe begleitet". Obzwar es in der Tat ein Denken ist, ist es doch kein bestimmendes, sondern ein setzendes Denken, in diesem Falle ein Denken, das sich selbst auf leere Weise setzt. Durch das Ich "wird nun nichts weiter, als ein transeendentales Subject der Gedanken vorgestellt = x". Es ist das "unbekannte Subject" 6 , dem meine Gedanken als Prädikate angehören; das heißt, es ist "bekannt" nur in dem Sinne, daß es das ist, worauf meine Vorstellungen im Selbstbewußtsein bezogen sind: es ist "bekannt" nur als das, was meine Gedanken denkt. Abgesehen von diesen Gedanken können wir streng genommen von ihm überhaupt keinen Begriff haben, sondern können uns, wie Kant erklärt, nur "in einem beständigen Cirkel herumdrehen, indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um irgend etwas von ihm zu urtheilen" (A346/B404). Worin besteht also der Grundirrtum? Es leitet sich ab von der dem Ich der transzendentalen Apperzeption eigenen Leere oder, anders gesagt, davon, daß das Schließen der rationalen Psychologie letztlich eine ewige Bewegung im
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Prolegomena, IV,334.
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Kreise ist. Aber keine dieser Formulierungen geht über den Rahmen einer Einführung hinaus. Anschließend an seinen einführenden Entwurf widmet Kant (in der ersten Auflage) jedem der vier Paralogismen eine ausführliche Erörterung. Nur ganz am Ende des Kapitels kehrt er zu der Aufgabe einer allgemeinen Darstellung des Paralogismus zurück. An dem Punkt, an dem er sich dieser Aufgabe wieder zuwendet, bemerkt er, sie hätte sich zu Anfang, d.h. vor der Betrachtung der einzelnen Paralogismen, nicht ohne die Gefahr der Dunkelheit und plumpen Vorwegnahme des Beweisganges in Angriff nehmen lassen. Jedoch ist ein solches Aufschieben der allgemeinen Darstellung doch wohl unnötig und schafft wohlmöglich noch mehr Dunkelheit und plumpe Vorwegnahme, als es bei einer umgekehrten Reihenfolge der Fall gewesen wäre. Man bedenke nur, daß die Betrachtung der einzelnen Paralogismen in der zweiten Auflage so kurz ist, daß Kant fast unmittelbar zur allgemeinen Darstellung übergeht. Da zudem die allgemeine Darstellung so treffend ist, möchte ich hier die Kautische Reihenfolge umkehren und mich zuerst der allgemeinen Darstellung zuwenden, wobei sich mein Kommentar auf die ausführlichere Darstellung der ersten Auflage stützt (wenngleich hie und da Stellen aus der zweiten Auflage mitherangezogen werden). Kant beginnt auf der Ebene des allgemeinen Problems der Transzendentalen Dialektik - das heißt, er beginnt erneut mit dem allgemeinen Wesen des transzendentalen Scheins und der transzendentalen Ideen, bei deren Hervorbringung ein solcher Schein entsteht. Dann zeigt er, wie der transzendentale Paralogismus als eine spezifische Form entsteht. Der transzendentale Schein, so erinnert er uns, besteht darin, daß subjektive Bedingungen so behandelt werden, als seien sie Bedingungen von Gegenständen (A396; vgl. A297 /B353, sowie Kap. I, 2). Ein solcher Schein entsteht im Zusammenhang mit transzendentalen Ideen, die, wie Kant im Einklang mit seiner früheren Darstellung sagt, Begriffe "der Totalität der Synthesis der Bedingungen, zu einem gegebenen Bedingten" sind (A396; vgl. A322/B379, sowie Kap. 11,2). Kant erläutert genauer, es gebe, vorausgesetzt es gehe um den transzendentalen und nicht den empirischen Schein, nur drei Arten der Synthesis, im Hinblick auf die einen transzendentalen Schein beiVorrufende Begriffe der Totalität entstehen können: 1) die Synthesis der Bedingungen des Denkens überhaupt, 2) die Synthesis der Bedingungen des empirischen Denkens, 3) die Synthesis der Bedingungen des reinen Denkens. Er lohnt der Hinweis, daß diese drei Arten der Synthesis den drei Arten der Relation in unseren Vorstellungen entsprechen, auf denen der letzte Schritt bei der Ableitung der Ideen im ersten Buch fußte (vgl. A333-4/ B390-1, sowie Kap. 11,4). In der rationalen Psychologie befaßt sich die reine Vernunft mit der absoluten Totalität der ersten dieser Synthesen, das heißt mit der unbedingten Bedingung des Denkens überhaupt. Aber "Denken überhaupt"
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ist (im Gegensatz zu den beiden anderen Formen) ein Denken, bei dessen Betrachtung von allen Bezügen zu einem Gegenstand abgesehen wird. Und somit ist die einschlägige Synthesis die des Denkens mit seinem Subjekt. Eben diese subjektive Bedingung, d.h. die Synthesis des Denkens mit seinem Subjekt, wird so behandelt, als wäre sie eine objektive Bedingung, mit dem Ergebnis, daß der transzendentale Schein, genauer gesagt, der transzendentale Paralogismus, entsteht. Im Lichte dieses Rückverweises des Paralogismus auf die allgemeinen Probleme der Transzendentalen Dialektik formuliert Kant erneut die Antworten auf die ersten beiden Leitfragen. Er zeigt, wie sie sich aus dem Wesen der rationalen Psychologie ableiten, wo es um das Unbedingte in der Synthesis der Bedingungen eines Denkens überhaupt geht. Bei dem Schließen in einer solchen Psychologie sind inhaltliche Irrtümer von vomherein ausgeschlossen, weil sie von allem Inhalt und allen Gegenständen abstrahiert. Irrtümer können nur die Form des Schlusses betreffen. Und da er einen formalen Irrtum enthält, heißt ein solcher Schluß angemessenerweise "Paralogismus". Weil außerdem die einschlägige Synthesis diejenige des Denkens mit seinem Subjekt ist, befaßt sich die rationale Psychologie mit dem Ich, insofern es unbedingt ist. Aber wie ist das Ich eine unbedingte Bedingung? In welchem Sinne? Es ist eine Bedingung in dem Sinne, daß es für das Ich-denke möglich sein muß, alle meine Vorstellungen zu begleiten. Es ist unbedingt in dem Sinne, daß es selbst nicht von einer weiteren Vorstellung begleitet werden kann. Im transzendentalen Paralogismus wird jedoch der Sinn, dem zufolge das Ich der Apperzeption eine unbedingte Bedingung ist, mit einem anderen Sinn verwechselt, Dadurch tritt an die Stelle der Unbedingtheit des leeren Sich-selbst-Setzens eine nur Gegenständen angemessene Bestimmungsfülle. Das Ich "wird gleichwohl als ein Gegenstand, den ich denke, ... vorgestellt" (A398), statt als ein Subjekt, das sich selbst denkt. Genau dieser Obergang erklärt die Unterscheidung zwischen dem Ich der Apperzeption, das die Grundlage für den dialektischen Schluß liefert, und der Seele, die in den Schlußfolgerungen thematisiert wird. Die Seele ist das als Gegenstand ~orgestellte Ich. Weil Gegenstände, wenn sie innere Gegenstände sind, im inneren Sinne gegeben werden, wäre die entsprechende unbedingte Bedingungen der "transzendentale Gegenstand des inneren Sinnes". Und so identifiziert Kant letzteren als eben das, was mit dem Wort "Seele" bezeichnet wird (A361-2). An dem Schluß, der den transzendentalen Paralogismus ausmacht, der Bewegung des Schließens selbst, lassen sich somit zwei unterschiedliche Aspekte ausmachen, die jedoch in dem wirklichen Schluß vereinigt sind. Auf der einen Seite ist da die Bewegung von bestimmten Bestimmungen des Ich der Apperzeption zu den entsprechenden Bestimmungen der Seele. Auf der anderen Seite ist da - mit dieser Bewegung vereinigt - die Erweiterung, oder genauer gesagt, die Umbildung des Begriffs des Ich in den der
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Seele. In anderen Worten ist es nicht, als besäßen wir beide Begriffe, den des Ich und den der Seele, im vorhinein, so daß der paralogistische Schluß nur in der Übertragung der Bestimmungen des ersteren auf den letzteren bestände; im Gegenteil: die transzendentale Idee der Seele entspringt eben innerhalb des Schlusses. Aber was schreibt die der Seele beigelegten Bestimmungen vor? Dies ist die zweite Frage, die bisher unbeantwortet blieb. Nun bietet Kant eine Erklärung: Die Seele wird bestimmt "durch reine Kategorien, und zwar diejenigen, welche die absolute Einheit unter jedem Titel derselben ausdrücken" (A401). Daß gerade solche Bestimmungen angebracht sind, wird aus dem allgemeinen Charakter des dialektischen Schließens als einer Bewegung zur unbedingten Bedingung oder Totalität der Synthesis deutlich, d.h. der Bewegung zur absoluten Einheit in einem Sinne, der das gesamte einschlägige Mannigfaltige nicht aus-, sondern einschließen würde. Kant fügt hinzu, daß die spezifischen Kategorien, die der Seele im transzendentalen Paralogismus als Bestimmungen beigelegt werden, diejenigen sind, welche "in jeder derselben [der Klassen der Kategorien nämlich] den übrigen zum Grunde der Einheit in einer möglichen Wahrnehmung" dienen (A403). In beider Hinsicht ist der Zusammenhang zwischen Substanz und Einheit sowie zwischen kategorialer und transzendentaler Einheit zumindest in gewissem Maße deutlich. Aber im Falle der Kategorien, die unter den Titel der Qualität fallen, ist weder der Zusammenhang zwischen Realität und Einheit noch, wie Kant zugesteht (A404 Anm.), der zwischen Einfachheit und Realität unmittelbar einsichtig. Im Falle der Modalkategorien ist es auf den ersten Blick noch nicht einmal deutlich, um welche Kategorie es sich eigentlich genau handelt, weil Kant das bestimmende Urteil sowohl vermittels der Relation der Seele auf mögliche Gegenstände im Raum als auch vermittels ihres Sich-nur-ihrer-Existenz-Bewußtseins formuliert (A404). Aber hier steht der Kommentar an der Grenze der allgemeinen Darstellung des Schließens. Kant hat bereits auf zweierlei Weise die Grundlage der Täuschung beschrieben, welche die Schlüsse der rationalen Psychologie dialektisch macht: einmal als die dem Ich der transzendentalen Apperzeption eigentümliche Leere, zum andern als die Zirkelform eines solchen Schließens. Jetzt erläutert er diese beiden Formulierungen näher. Urteile wie die, zu denen die rationale Psychologie gelangt, Urteile also, die Bestimmungen der Seele ausdrücken, müssen eindeutig synthetisch sein. Aber für synthetische Urteile reicht das bloße Denken nie hin; vielmehr wird immer ,,Anschauung erfordert" (A398). Somit würden die Urteile, zu denen die rationale Psychologie gelangt, zu ihrer Legitimierung eine Grundlage in der Anschauung erfordern. Jedoch fehlt der transzendentalen Apperzeption jeglich~s derartiges anschauliches Element, obwohl gerade sie die einzige Grundlage für alle Schlußfolgerungen bereitstellt, zu denen die rationale Psychologie gelangt: ln der transzendentalen Apperzeption bin ich mir meiner selbst nicht bewußt, wie ich mir erscheine; das heißt, ich werde mir nicht selbst in der
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Anschauung gegeben. Jedoch besteht die Leere der transzendentalen Apperzeption nicht nur darin, daß ihr das Element der empirischen Anschauung abgeht, ebensowenig wie dieser Mangel allein die Schlußfolgerungen der rationalen Psychologie untergräbt. In gewissem Sinne ist dieser Mangel sogar für die rationale Psychologie notwendig, der es im Gegensatz zur empirischen Psychologie versagt ist, auf einer mit empirischen Elementen durchsetzten Grundlage aufzubauen. Als eine rationale Lehre von der Seele sind ihre Urteile nie empirisch (a posteriori), sondern vielmehr immer synthetisch a priori. Worin besteht dann dieser entscheidende Mangel? Welches Element ist für die Grundlage solcher Urteile erforderlich und geht der transzendentalen Apperzeption ab? Es ist eben das Element, dessen Struktur und Funktion das Hauptthema der Transzendentalen Analytik bilden: Synthetische Urteile a priori bedürfen, um legitim zu sein, der Grundlage einer Verknüpfung des reinen Denkens, nicht unmittelbar mit der empirischen Anschauung, sondern mit der reinen Anschauung. Nur insofern das reine Denken die Regeln der Formung der reinen Anschauung bereitstellt, nur insofern es zu transzendentalen Bestimmungen der Zeit, d.h. den transzendentalen Schemata, führt, gewinnt es die für wahrhaft synthetische Urteile erforderliche Objektivität. Kurz, die Begriffe des reinen Denkens müssen schematisiert werde. Und eben dieser Schematismus, diese Verknüpfung mit der reinen Anschauung, fehlt der bloßen transzendentalen Apperzeption und folglich dem Denken, vermittels dessen die rationale Psychologie die Attribute der Seele zu erkennen sucht: Sie [diese Attribute] sind nichts mehr als reine Kategorien, wodurch ich niemals einen bestimmten Gegenstand, sondern nur die Einheit der Vorstellungen, um einen Gegenstand derselben zu bestimmen, denke. Ohne eine zum Grunde liegende Anschauung kann die Kategorie allein mir keinen Begriff von einem Gegenstande verschaffen; denn nur durch Anschauung wird der Gegenstand gegeben, der hernach der Kategorie gemäß gedacht wird (A399). Die Kategorien, wie sie im transzendentalen Paralogismus auf das Ich angewendet werden, sind bloß reine, d.h. unschematisierte, Kategorien - also bloß die Formen der Einheit im Denken irg~ndeines Gegenstandes (vgl. A254/B309), im Unterschied zu den Kategorien als Regeln für eine Synthesis a priori, wodurch Gegenstände bestimmt werden. Nach der in der zweiten Auflage von Kant eingeführten Unterscheidung ist die Anwendung der Kategorien auf das Ich der transzendentalen Apperzeption eine Sache des bloßen Denkens statt des Erkennens (B406; vgl. BXXVI). Die transzendentale Apperzeption ist sich-selbst-setzendes Denken, ein Denken, worin sich das Ich bloß leer setzt. Es ist kein bestimmtes Denken; und jede Bestimmung, der sie als Grundlage dient, ist letztlich leer. Aber wie verfällt man in eine solche Fehlanwendung der Kategorien auf das Ich der transzendentalen Apperzeption? Wie verfällt man einem
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solchen dialektischen Schein? Welcher Art ist die im transzendentalen Paralogismus wirkende transzendentale Motivation? Kants zweite Formulierung des Grundirrtums legt diese Motivation bloß. In der rationalen Psychologie besteht ein entscheidender Obergang vom Ich der transzendentalen Apperzeption zur Seele, ein übergang, in dem die Idee der Seele selbst ihren Ursprung hat. Dieser Obergang beläuft sich auf einen Obergang vom Subjekt als bloß von ihm selbst Gedachten (leer Gesetzten) zum Subjekt als objektiv von ihm selbst Erkannten. Und im Einklang mit diesem Obergang tritt dann die Fehlanwendung der Kategorien ein. D.h. die Kategorien werden so auf das Ich angewendet, daß sie nicht mehr als bloße Formen der Einheit des Denkens, sondern als objektive Bestimmungen des Ich, wie es an sich ist, also der Seele, verstanden werden. Genauer gesagt ist das, was zur Fehlanwendung der Kategorien anregt, eine Verkehrung des Begriffs des Subjekts als Subjekts zum Begriff des Subjekts als Objekts, also eine Verkehrung des Begriffs des bestimmenden Ich in den des bestimmbaren Ich (B407). Aber diese Verkehrung kommt einer Kreisbewegung gleich, wie Kant sie der rationalen Psychologie bereits zugeordnet hat: Man kann daher von dem denkenden Ich ... sagen: daß es nicht sowohl sich selbst durch die Kategorien, sondern die Kategorien und durch sie alle Gegenstände in der absoluten Einheit der Apperception, mithin durch sich selbst erkennt. Nun ist zwar sehr einleuchtend, daß ich dasjenige, was ich voraussetzen muß, um überhaupt ein Object zu erkennen, nicht selbst als Object erkennen könne, und daß das bestimmende Selbst (das Denken) von dem bestimmbaren Selbst (dem denkenden Subject), wie Erkenntniß vom Gegenstande unterschieden sei. Gleichwohl ist nichts natürlicher und verführerischer als der Schein, die Einheit in der Synthesis der Gedanken für eine wahrgenommene Einheit im Subjecte dieser Gedanken zu halten (A401-2). In der zweiten Auflage bringt Kant diese Kreisbewegung, sowie ihren Zusammenhang mit der Fehlanwendung der Kategorien, noch emphatischer zum Ausdruck; auch den merkwürdigen Zusammenhang des Problems der Zeit mit dieser Kreisbewegung macht er hier deutlich: Das Subject der Kategorien kann also dadurch, daß es diese denkt, nicht von sich selbst als einem Objecte der Kategorien einen Begriff bekommen; denn, um diese zu denken, muß es sein reines Selbstbewußtsein, welches doch hat erklärt werden sollen, zum Grunde legen. Eben so kann das Subject, in welchem die Vorstellung der Zeit ursprünglich ihren Grund hat, sein eigen Dasein in der Zeit dadurch. nicht bestimmen (B422). Somit liegt die allgemeine Struktur transzendentaler Paralogismen klar zutage. Sie weist zwei einander zugeordnete Aspekte auf. Auf der einen Seite haben wir die Verkehrung des Begriffs des Ich in den der Seele, die Wendung
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im Kreise. Auf der anderen Seite steht die Bewegung des Bestimmens des Ich zu dem der Seele, das heißt, die merkwürdig ambivalente Anwendung der Kategorien auf das Selbst. Die Verkehrung motiviert das merkwürdige Bestimmen des Selbst, und umgekehrt, erfüllt das Bestimmen die Verkehrung, indem es die Idee \'Oll zutage treten läßt. Aber die Verkehrung, so natürlich sie auch sei, verkörpert eine Verwechslung einer subjektiven Bedingung mit objektiven Bedingungen, d.h. sie trägt den Charakter des transzendentalen Scheins.
2. Die vier Paralogismen (A348-A396) a) Substantialität (A348-351) Kant unterbreitet den ersten Paralogismus, den der Substantialität, in der Form eines Syllogismus. Der Obersatz heißt: ,,Dasjenige, dessen Vorstellung das absolute Subject unserer Urtheile ist und daher nicht als Bestimmung eines andern Dinges gebraucht' werden kann, ist Substanz." Diese Prämisse kennzeichnet das Wesen der transzendentalen Apperzeption: Das Ich wird vorgestellt (und denkt sich) als absolutes Subjekt, dem alle Urteile und damit alle Vorstellungen so angehören, daß das Ich-denke alle meine Vorstellungen muß begleiten können. Aber als Selbstbewußtsein wird das Subjekt von sich selbst gedacht, so daß es von keiner weiteren Vorstellung begleitet werden kann. Alle Vorstellungen gehören dem Ich an, sind "Akzidenzien" des Ich. Dagegen ist das Ich kein etwas anderem zugehöriges Ak>ddenz. Das Ich ist Substanz. Der Untersatz lautet: "Ich, als ein denkend Wesen, bin das absolute Subject aller meiner möglichen Urtheile, und diese Vorstellung von mir selbst kann nicht zum Prädicat irgend eines andern Dinges gebraucht werden." Diese Prämisse identifiziert das Subjekt mit der Cartesischen "res cogitans" 7 • Im Schlußsatz wird die "res cogitans", die als die Seele erkannt worden ist, als Substanz deklariert: ,,Also bin ich, als denkend Wesen (Seele), Substanz." Im Umriß lautet der Syllogismus: Absolutes Subjekt ist Substanz. Denkendes Wesen (Seele) ist absolutes Subjekt. Denkendes Wesen (Seele) ist Substanz. Der allgemeinen Struktur des transzendentalen Paralogismus folgend formuliert der Obersatz die Grundlage (transzendentale Apperzeption), der Untersatz die Verkehrung des Ich der Apperzeption (des absoluten Subjekts) in
Vgl. Descartes' Zweite Meditation (Oeuvres, hrsg. v. Adam & Tannery, Paris 1904, Bd. VII, bes. S. 28). 7
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die Seele und der Schlußsatz die entsprechende Fehlanwendung der Kategorie auf die Bestimmung der Seele. Gegen den Obersatz, der nur die transzendentale Apperzeption ausdrückt, kann es keinerlei Einwände geben. Im Hinblick auf den Syllogismus als ganzen ist das Entscheidende an dieser Prämisse, daß sie den Sinn festlegt, den "Substanz" im Schlußsatz haben müßte, damit dieser wirklich folgt. In dieser Prämisse bezeichnet "Substanz" einen reinen, d.h. nicht schematisierten, Begriff. Ihm kommt hier nur ein logischer und kein objektiver Sinn zu, weil die Kategorien nur durch die Verbindung mit dem Element der Anschauung objektive Gültigkeit gewinnen können, das aber bei der transzendentalen Apperzeption völlig fehlt. Ja, es läßt sich ganz legitim sagen, daß das Ich eine Substanz ist. Aber das beläuft sich einfach auf die formale Unterscheidung zwischen Bestimmungen und dem, dem sie als Bestimmungen zukommen - eine Unterscheidung, die sich in bezug auf alles und jedes treffen läßt: "Von jedem Ding überhaupt kann ich sagen, es sei Substanz, so fern ich es von bloßen Prädicaten und Bestimmungen der Dinge unterscheide" (A 349). Daher bedeutet die Behauptung, das Ich sei Substanz, praktisch nichts. Kant fragt: Welcher Gebrauch läßt sich von diesem Begriff einer Substanz machen? Auf keinen Fall, so lautet die Antwort, läßt er sich dazu gebrauchen, die Beharrlichkeit des Ich zu beweisen, d.h. zu beweisen, daß das Ich weder entsteht noch vergeht, sondern unsterblich ist. Jedoch entspricht genau das dem Gebrauch des Begriffs der Substanz in der rationalen Psychologie, ja, dem gesamten Paralogismus der Substantialität. Der Untersatz formuliert die Verkehrung des Ich in die Seele, und eben diese Verkehrung macht den Schluß dialektisch. Anders ausgedrückt ist die von der Prämisse vorgenommene Identifizierung von Seele und Subjekt nur möglich, wenn das Ich (das absolute Subjekt) bereits in die Seele verkehrt worden ist. Aber dann ist der Sinn von "absolutes Subjekt" in den beiden Prämissen des Syllogismus nicht derselbe. Kant bezeichnet diesen Mittelbegriff des Syllogismus als die Bedingung und formuliert sowohl den formalen Irrtum als auch die korrelative Ambiguität, die im Term "Substanz" erforderlich wäre, um den beabsichtigten Schlußsatz des Syllogismus zu rechtfertigen: So spricht er von dem Syllogismus, "in welchem der Obersatz von der Kategorie, in Ansehung ihrer Bedingungen, einen blos transcendentalen Gebrauch, der Untersatz aber und der Schlußsatz in Ansehung der Seele, die unter der Bedingung subsumiert worden, von eben der Kategorie einen empirischen Gebrauch macht" (A402). Hier wird deutlich, wie sich ein transzendentaler Paralogismus, wenn er syllogistisch formuliert wird, als formal irrig herausstellt: wenn nämlich der Mittelbegriff in zweierlei Bedeutung verwendet wird. Der Paralogismus ist eine "sophisma figurae dictionis " 8 • 8
Vgl. Logik, IX,l35.
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b) Simplizität (A351- A361) Die Struktur des zweiten Paralogismus deckt sich im Grunde mit der des ersten. Anstelle der Relationskategorie der Substanz wird hier dem Ich die qualitative Einheit, d.h. die Einfachheit oder Simplizität, als Bestimmung beigelegt 9 • Und an die Stelle des Ich als eines absoluten Subjekts tritt hier dessen Einheit. Der zweite Paralogismus läßt sich folgendermaßen umreißen: Das, was eines ist(= Ich), ist einfach. Denkendes Wesen (Seele) ist eines. Denkendes Wesen (Seele) ist einfach. Auch hier formuliert der Obersatz die Grundlage: "Der Satz: Ich bin einfach, muß als ein unmittelbarer Ausdruck der Apperception angesehen werden" (A354-5); der Untersatz formuliert die Verkehrung der Apperzeption in die Seele; und der Schlußsatz formuliert die entsprechende Fehlanwendung der Kategorie auf die Bestimmung der Seele. Auch hier legt der Obersatz fest, welche Bedeutung "einfach" im Schlußsatz hat - oder vielmehr, gegen welche Bedeutung verstoßen werden muß, um zur beabsichtigten Schlußfolgerung zu gelangen. Der Verstoß wird durch die im Untersatz formulierte Verkehrung bewirkt. Welche Bedeutung hat "einfach" im Obersatz? Kant erläutert:
Ich bin einfach, bedeutet aber nichts mehr, als daß diese Vorstellung Ich, nicht die mindeste Mannigfaltigkeit in sich fasse, und daß sie absolute (obzwar blos logische) Einheit sei ... Es ist aber offenbar: daß das Subject der Inhärenz durch das dem Gedanken angehängte Ich nur transeendental bezeichnet werde, ohne die mindeste Eigenschaft desselben zu bemerken, oder überhaupt etwas von ihm zu kennen oder zu wissen. Es bedeutet ein Etwas überhaupt (transcendentales Subject), dessen Vorstellung allerdings einfach sein muß, eben darum, weil man gar nichts an ihm bestimmt ... Die Einfachheit aber der Vorstellung von einem Subject ist darum nicht eine Erkenntniß von der Einfachheit des Subjects selbst (A355 ). Das Ich der transzendentalen Apperzeption ist nur deshalb einfach, "weil diese Vorstellung keinen Inhalt ... hat" (A381). In anderen Worten ist ihre Einfachheit rein formaler, rein begrifflicher Art und nicht identisch mit jener objektiven Einfachheit, die im Schlußsatz dem Subjekt als Objekt (Seele) zugeschrieben wird, in welches das Subjekt durch den Untersatz verkehrt wird. Im richtigen, durch den Obersatz bestimmten Sinne, läßt sich durchaus von dem Ich sagen, es sei einfach. Aber das besagt noch gar nichts und Vgl. H. Heimsoeth, Transzendentale Dialektik, 1,105. Am Ende des Kapitels bemerkt Kant, er könne noch nicht zeigen, wie das Einfache der Kategorie der Realität entspreche (A405 ). 9
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dient der wirklichen Absicht hinter dem Paralogismus, nämlich dem versuchten Nachweis der Unzerstörbarkeit der Seele, noch in keiner Weise 10 • Die Einfachheit des Ich ist bloße Leere und trägt zur Lösung des in Wahrheit zur Debatte stehenden Problems, nämlich dem der Unsterblichkeit, nichts bei. Ja, Kant geht sogar noch weiter und zeigt, daß schon der Versuch, dem Problem der Unsterblichkeit der Seele auf dem Wege über deren Einfachheit beizukommen, im Grunde auf einem Irrtum beruht. Selbst wenn sich die Einfachheit der Seele nachweisen ließe, würde dieser Nachweis nicht genügen, die Seele von der Materie und damit von allem Vergänglichen zu unterscheiden. Denn von der Materie, wie sie an sich ist, wissen wir nichts: "Demnach ist selbst durch die eingeräumte Einfachheit der Natur die menschliche Seele von der Materie, wenn man sie (wie man soll) blos als Erscheinung betrachtet, in Ansehung des Substrati derselben gar nocht hinreichend unterschieden" (A359). Dieser Ansatz wird durch Kants bereits als richtig nachgewiesenen transzendentalen Idealismus völlig untergraben. c) Personalität (A361- 366) Der dritte Paralogismus weist die gleiche Struktur auf wie die ersten beiden. Anstelle der Kategorie der Substanz oder es qualitativen Begriffs der Einfachheit schreibt dieser Paralogismus dem Ich quantitative oder ausdehnungsmäßige Einheit, also Personalität, zu. Und an die Stelle des Ich als absoluten Subjekts tritt hier das Ich als "sich der numerischen Identität seiner Selbst in verschiedenen Zeiten bewußt" (A361). Der Paralogismus läßt sich folgendermaßen umreißen: Das, was sich seiner Identität bewußt ist(= Ich), ist Person. Seele ist sich ihrer Identität bewußt. Seele ist Person. Auch hier formuliert der Obersatz die Apperzeptionsgrundlage, in diesem Fall insbesondere im Hinblick auf die transzendentale Apperzeption als Selbstbewußtsein. Auch der Obersatz formuliert wiederum die Verkehrung, wodurch gegen die im Obersatz bestimmte Bedeutung von "Person" verstoßen wird. Und schließlich formuliert der Schlußsatz ebenfalls wie bei den ersten beiden Paralogismen die entsprechende Fehlanwendung des kategorialen Begriffs auf die Bestimmung der Seele. Vgl. Descartes' Sechste Meditation, wo der Unterschied zwischen Geist und Körper ausdrücklich als ein Unterschied zwischen etwas völlig Unteilbarem und etwas von Natur Teilbarem formuliert wird (Oeuvres, VII, 85f.); und insbesondere Leibnizens Behauptung in der "Monadologie", daß es "völlig unbegreiflich" sei, "wie eine einfache Substanz auf natürlichem Wege vergehen könnte" (Die philosophischen Schriften, VI, 607). 10
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Was bedeutet "Person" oder "personale Identität" im Obersatz? Im Bereich des inneren Sinnes gibt es etwas, was derjenigen Erfahrung äußerer Gegenstände entspricht, bei der wir uns auf das Beharrliche konzentrieren, das bei aller Veränderung der Bestimmungen bleibt: "Folglich beziehe ich alle und jede meiner successiven Bestimmungen auf das numerisch identische Selbst, in aller Zeit, d.i. in der Form der inneren Anschauung meiner selbst" (A362). Aber neben der Entsprechung besteht auch ein Gegensatz: Bei den äußeren Gegenständen dienen die auf das Beharrliche bezogenen Bestimmungen wirklich der Bestimmung des Gegenstandes, so daß es durch Anschauung erfüllte Erfahrung (d.h. Erkenntnis) beharrlicher Gegenstände gibt, obzwar die erfahrene Beharrlichkeit nur die dem Bereich der Erscheinungen zukommende ist. Dagegen dienen die auf das numerisch identische Ich bezogenen Bestimmungen (z.B. Vorstellungen) streng genommen nicht dessen Bestimmung, d.h. sie gehören ihm nicht als Akzidenzien an, sondern in der dem Subjekt als Subjekt gemäßen Weise, der Weise, die in dem Ichdenke ihren Ausdruck findet. Somit erkennt sich das Ich nicht als numeriscJ:i identisch, sondern denkt sich nur als solches, das heißt, das Ich setzt sich als der numerisch identische, aber unbestimmte Begriff, auf den das Mannigfaltige des inneren Sinnes bezogen wird. Daher erklärt Kant: "Es ist also die Identität des Bewußtseins meiner selbst als in verschiedeneneo Zeiten nur eine formale Bedingung meiner Gedanken und ihres Zusammenhanges, beweiset aber gar nicht die numerische Identität meines Subjects" (A363) 11 • Die rationale Psychologie kann von ersterer nur deshalb annehmen, daß sie letztere beweist, weil sie im Untersatz des Paralogismus das Ich der Apperzeption zur Seele macht. Kant macht diese Verkehrung offenbar, indem er den Gegensatz zwischen meiner personalen Identität für mich selbst und meiner personalen Identität (Beharrlichkeit) für einen Beobachter außerhalb meiner selbst herausarbeitet. Dieser Gegensatz macht einfach noch anschaulicher, was zwischen dem Subjekt als Subjekt und dem Subjekt als Objekt gilt. Gleichgültig, wie die genaue Formulierung lautet, ist das, worum es geht, jene Verkehrung, wobei subjektive Bedingungen mit objektiven verwechselt werden, jene Verkehrung, wobei aller dialektische Schein in bezug auf das Ich entspringt. Der im Obersatz verwendete transzendentale Begriff der Personalität ist völlig akzeptabel, wenn man von seiner Erweiterung im Paralogismus absieht - genauso akzeptabel wie die entsprechenden Begriffe von Substanz und Simplizität im Obersatz der beiden vorhergehenden Paralogismen. Der Begriff der Personalität trägt ganz eindeutig nichts zur Lösung In der Anthropologie stellt Kant eingangs seinen transzendentalen Begriff der Person aus einer positiven Perspektive dar: "Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andere auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person und vermöge der Einheit des Bewußtseins bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person, d.i. ein von Sachen ... durch Rang und Würde ganz unterschiedenes Wesen ... " (VII,127). 11
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des Problems bei, das die rationale Psychologie mit Hilfe dieses Paralogismus in Angriff nehmen möchte, also dem Begriff der Unsterblichkeit. Jedoch betont Kant, ohne das schon weiter zu erläutern, daß er so verwendet "atich zum praktischen Gebrauche nöthig und hinreichend" (A365) sei. d) Idealität Die Gliederung des vierten Paralogismus ist komplexer als die der anderen drei. Das liegt primär an dem besonderen Charakter der Modalkategorien, "die den Begriff, dem sie als Prädicate beigefügt werden, als Bestimmung des Objects nicht im mindesten vermehren, sondern nur das Verhältniß zum Erkenntnißvermögen ausdrücken". Bei den Modalkategorien "werden keine Bestimmungen mehr im Objecte selbst gedacht" (A219), weshalb der transzendentale Paralogismus im Hinblick auf eine Modalkategorie zu keinem Anspruch auf eine wirkliche Bestimmung der Seele Anlaß geben kann. Der transzendentale Paralogismus läßt sich in diesem Falle nicht einfach durch eine Verkehrung der transzendentalen Apperzeption in die Seele konstituieren. Wegen des besonderen Wesens der Modalkategorien muß vielmehr der Anspruch das Verhältnis zum Erkenntnisvermögen, zum Erkennenden betreffen. Im allgemeinen gibt es zweierlei Beziehungen dieser Art: diejenige äußerer Gegenstände zum Erkennenden und diejenige des Erkennenden zu sich selbst. Somit hat der vierte Paralogismus, der es mit beiderlei Beziehungen zu tun hat, zwei Seiten, eine "äußere" und eine "innere". Jedoch ist es keine Verdoppelung - das heißt, die beiden Seiten sind nicht einfach parallel. Wie verhalten sie sich dann zueinander, und wie werden sie für den Paralogismus relevant? Die Kategorie, um die es im vierten Paralogismus geht, ist das Dasein. Welche Rolle spielt das Dasein, da es doch nicht darum gehen kann, transzendentale in reale Bestimmungen zu verkehren? Der vierte Paralogismus behandelt das Ich als "ein Correlatum des Daseins, aus welchem alles andere Dasein geschlossen werden muß" (A402). In anderen Worten erklärt dieser Paralogismus die Erkenntnis des Ich in bezug auf sein eigenes Dasein zum Maßstab und spricht dann, unter Hinweis auf diesen Maßstab, der Erkenntnis des Ich von anderen Dingen den Status einer nur abgeleiteten Erkenntnis zu. Die äußere Seite des Paralogismus bringt dieses Zusprechen zum Ausdruck, die innere den Maßstab. Kants erste Formulierung nennt nur die äußere Seite; abgekürzt könnte sie lauten: Das, dessen Dasein nur erschlossen wird, hat zweifelhaftes Dasein. Äußere Erscheinungen sind so beschaffen, daß ihr Dasein nur erschlossen wird. Äußere Erscheinungen haben zweifelhaftes Dasein. Kant bezieht dann allerdings diese Prämissen unmittelbar zurück auf die innere Seite des Paralogismus.
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Der Bezug hat die Form eines Regresses vom Untersatz - das heißt, der Maßstab, der die innere Seite des Paralogismus ausmacht, fungiert als das, woraus der Untersatz folgt. Kant sagt: "Wir können mit Recht behaupten, daß nur dasjenige, was in uns selbst ist, unmittelbar wahrgenommen werden könne, und daß meine eigene Existenz allein der Gegenstand einer bloßen Wahrnehmung sein könne" (A367). Wie läßt sich diese Behauptung rechtfertigen? Das geht folgendermaßen: Wenn dieser Maßstab rein transzendental verstanden wird, dann drückt er das Wesen der transzendentalen Apperzeption aus einer bestimmten Perspektive aus. Daß ich nur das, was in mir selbst ist, unmittelbar wahrnehme, bringt die Forderung zum Ausdruck, daß das Ich-denke alle meine Vorstellungen muß begleiten können; das heißt, daß alle Erfahrung auf das Ich zurückbezogen, in den Bereich dieses Ich gesammelt werden muß. Daß ich mir nur meines eigenen Daseins unmittelbar bewußt sein kann, bedeutet, daß sich das Ich als daseiend setzt, daß die transzendentale Apperzeption der Gedanke ist, daß ich bin. In diesem Zusammenhang wird deutlich, warum das Dasein diejenige Modalkategorie ist, die im Paralogismus eine Rolle spielt. Sie ist diejenige Modalkategorie, die bei der absoluten Einheit, in diesem Falle der Einheit des Ich mit sich selbst, eine Rolle spielt. Die Kategorie des Daseins gehört zur Selbstsetzung des Ich: Im Selbstbewußtsein setzt sich das Ich weder als nur möglich noch als nur notwendig, sondern einfach als daseiend. Kant wendet sich der äußeren Seite zu: "Also ist das Dasein eines wirklichen Gegenstandes außer mir (wenn dieses Wort in intellectueller Bedeutung genommen wird) niemals gerade zu in der Wahrnehmung gegeben" (A367). Was über den Bereich meines Selbstbewußtseins hinausgeht, das heißt, über das, was in die Einheit des Ich gesammelt wird, wird nicht unmittelbar als existierend wahrgenommen, das heißt, sein Dasein wird erschlossen: "Ich kann also äußere Dinge eigentlich nicht wahrnehmen, sondern nur aus meiner inneren Wahrnehmung auf ihr Dasein schließen, indem ich diese als die Wirkung ansehe, wozu etwas Äußeres die nächste Ursache ist" (A368). In diesem Zusammenhang erwähnt Kant Descartes. Aber er erwähnt noch nicht ausdrücklich, daß in der Wendung "außer mir" und somit auch in dem Begriff der "äußeren Erscheinung", eine grundlegende Zweideutigkeit liegt, aus der Kants radikale Abweichung von Descartes hervorgehen soll, eine Zweideutigkeit, die der vierten Antinomie zugrunde liegt. Kant fährt fort: "Nun ist aber der Schluß von einer gegebenen Wirkung auf eine bestimmte Ursache jederzeit unsicher, weil die Wirkung aus mehr als einer Ursache entsprungen sein kann." Aus dieser Beobachtung ergibt sich der von ihm formulierte Obersatz des Paralogismus: Daß das Dasein dessen, was erschlossen wird, zweifelhaft ist. Die Position, die aus diesen Voraussetzungen folgert, daß äußere Erscheinungen ein zweifelhaftes Dasein haben, nennt Kant "Idealismus". Jedoch gibt es zwei Arten von Idealismus, und die Herausarbeitung des Gegensatzes zwischen ihnen erlaubt es Kant, die dem vierten Paralogismus zugrunde liegende Zweideutigkeit ans Licht
Die vier Paralogismen
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zu bringen. Der eine Idealismustyp ist der, den Kant selbst in der Transzendentalen Ästhetik vertritt, nämlich der transzendentale Idealismus; der andere Typ ist der empirische Idealismus, die in diesem Paralogismus der Idealität formulierte Position Descartes'. Kant beschreibt den transzendentalen Idealismus als "den Lehrbegriff, nach welchem wir sie (die Erscheinungen] insgesamt als bloße Vorstellungen und nicht als Dinge an sich selbst ansehen, und demgemäß Zeit und Raum nur sinnliche Formen unserer Anschauung" sind. Dann stellt er diesem transzendentalen Idealismus den transzendentalen Realismus gegenüber, "der Zeit und Raum als etwas an sich (unabhängig von unserer Sinnlichkeit) Gegebenes ansieht" und der sich folglich "äußere Erscheinungen ... als Dinge an sich selbst" vorstellt, "die unabhängig von uns und unserer Sinnlichkeit existieren, also auch nach reinen Verstandesbegriffen außer uns wären" (A369). Entscheidend ist, daß der transzendentale Realist, wenn er das Problem der äußeren Erscheinungen zu bewältigen versucht, sich in jene andere Art Idealisten verwandelt, den empirischen Idealisten: Da er angenommen hat, daß äußere Erscheinungen Dinge an sich selbst sind, die unabhängig von unseren Sinnen existieren, gelangt er zurecht zu dem Schluß, daß deren bloße Wirkung auf uns nicht zum Beweis ihres Daseins hinreicht. Die Täuschung liegt jedoch in der Annahme, daß äußere Erscheinungen Dinge an sich sind. Eben diese Täuschung wird vom transzendentalen Idealismus entlarvt, bei Kant in der Transzendentalen Ästhetik. Mit Bezug auf den transzendentalen Idealisten bemerkt er: " ... so ist sie [die Materie] bei ihm nur eine Art Vorstellungen (Anschauung), welche äußerlich heißen, nicht als ob sie sich auf an sich selbst äußere Gegenstände bezögen, sondern weil sie Wahrnehmungen auf den Raum beziehen, in welchem alles außer einander, er selbst, der Raum, aber in uns ist" (A3 70). Somit erweisen sich für den transzendentalen Idealisten die äußeren Gegenstände als nicht weniger gewiß als innere Erscheinungen:" ... denn sie [die äußeren Gegenstände] sind beiderseitig nichts als Vorstellungen, deren unmittelbare Wahrnehmung (Bewußtsein) zugleich ein genugsamerBeweis ihrer Wirklichkeit ist" (A371). Ein transzendentaler Idealist erweist sich als empirischer Realist. Worin liegt die grundlegende Täuschung im vierten Paralogismus, und worin besteht die dialektische Bewegung, mit der sie verknüpft ist? Eine Art der Diagnose dieses Paralogismus bestände in der bloßen Behauptung, der Untersatz sei falsch: Wie der transzendentale Idealismus zeigt, sind äußere Erscheinungen nicht so beschaffen, daß ihr Dasein nur erschlossen wird. Jedoch offenbart dieser Ansatz nicht die Affinität zwischen diesem Paralogismus und den drei anderen; ja, er zeigt noch nicht einmal an, warum sich dieser Schluß als Paralogismus bezeichnen läßt, weil ein Paralogismus seiner Definition nach einen formalen Irrtum in sich schließt. Das Problem ist klar, wenn wir unser Augenmerk auf die grundlegende Ambiguität richten, die in diesem Paralogismus am Werke ist. Diese Ambiguität, die für den gesamten Paralogismus entscheidend ist, liegt in dem Wort "äußere", das sich
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Das Sammeln der Vernunft in den Paralogismen
entweder auf Gegenstände des äußeren Sinnes beziehen kann oder aber auf Gegenstände, die völlig außerhalb des Bereichs des Selbstbewußtseins liegen, d.h. Dinge an sich. Damit der Paralogismus in seinem Descartes'schen Sinne verbindlich ist, muß der Ausdruck "äußere Erscheinungen" im Schlußsatz so verstanden werden, daß er sich auf Gegenstände des äußeren Sinnes bezieht. Dagegen müßte er im Untersatz die Bedeutung von Dingen an sich haben (damit diese Prämisse wahr ist). So begeht der Syllogismus, formal betrachtet, den Irrtum, daß er ein- und denselben Ausdruck in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet; und der im vierten Paralogismus enthaltene Irrtum unterscheidet sich von dem in den anderen drei Paralogismen nur dadurch, daß die Ambiguität primär im Außenbegriff und nicht im Mittelbegriff des Untersatzes liegt. Aus einem anderen Blickwinkel gesehen läßt sich der Untersatz so verstehen, daß er die Kehre zwischen den Polen dieser Ambiguität zum Ausdruck bringt. Diese Kehre macht die grundlegende dialektische Bewegung des Paralogismus aus, die Verkehrung von Gegenständen des äußeren Sinnes (von äußeren Erscheinungen im strengen, d.h. transzendentalen Sinne) in Dinge an sich. Nach Kant gibt es drei dialektische Fragen, die das eigentliche Ziel der rationalen Psychologie ausmachen: die Frage der Möglichkeit der Gemeinschaft zwischen Seele und Körper, die des Beginns dieser Gemeinschaft (d.h. der Seele bei und vor der Geburt) und die des Aufhörens dieser Gemeinschaft (d.h. der Seele beim und nach dem Tode). Der vierte Paralogismus soll die Frage von Geburt und Tod beilegen, d.h. die Frage der Unsterblichkeit im weiteren Sinne, indem er die These verteidigt, daß der Seele eine Art absolute Existenz zukommt, die unabhängig von der bloß möglichen Existenz äußerer Dinge ist. Der Paralogismus soll die Frage bejahen, ,,ob dieses Bewußtsein meiner selbst ohne Dinge außer mir ... gar möglich sei, und ich also bloß als denkend Wesen (ohne Mensch zu sein) existiren könne" (B409). Die Kritik der Paralogismen dient jedoch dazu, die Beiträge zur Lösung dieser Fragen als Täuschung zu entlarven; andererseits erweist es sich, daß der transzendentale Idealismus demselben negativen Zweck dient, dem auch die rationale Psychologie in dieser Hinsicht untersteht, nämlich "unser denkendes Selbst wider die Gefahr des Materialismus zu sichern". Denn er zeigt, "daß, wenn ich das denkende Subject wegnehme, die ganze Körperwelt wegfallen muß", daß die Materie "nichts ist, als die Erscheinung in der Sinnlichkeit unseres Subjects und eine Art Vorstellungen desselben" (A383). Außerdem zeigt die transzendentale Kritik, daß die Grundverkehrung, die den Paralogismus hervorbringt, das ist, was bestimmt, wie das Problem der Gemeinschaft zwischen Seele und Leib, zwischen Geist und Materie, gestellt wird -zumindest, wie dieses Problem von Descartes gestellt und von seinen Anhängern entwickelt wurde. Das berüchtigte Descartes'sche Problem sollte erklären, wie ausgedehnte Dinge auf denkende Wesen einwirken können (und umgekehrt). Wegen der Schwierigkeit einer Erklärung einer solcher Gemeinschaft zwischen diesen grundlegend verschiedenartigen
Die projektive Auslegung
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Bereichen durch körperliche Einwirkung, entstanden andere Erklärungsarten, wie etwa die Theorie von einer prästabilierten Harmonie (Leibniz) oder auch einer göttlichen Intervention (Okkasionalismus) (vgl. A390). Jedoch war dieses Problem von Anfang an falsch gestellt; es konnte nur entstehen, weil äußere (ausgedehnte) Dinge als Dinge an sich betrachtet wurden. Kants transzendentaler Idealismus zeigt, daß es keinen derartigen Bruch gibt wie den, aus welchem das Problem der Gemeinschaft allererst entsteht: Ausge· dehnte Gegenstände sind nichts als Erscheinungen in der Form des äußeren Sinnes und existieren als solche nur im Subjekt. Kant sagt, alle Schwierigkeiten, die entstehen, wenn die rationale Psychologie ihre Kernfragen aufgreift, beruhen "auf einem bloßen Blendwerke, nach welchem man das, was blos in Gedanken existirt, hypostasirt und in eben derselben Qualität, als einen wirklichen Gegenstand außerhalb dem denkenden Subjecte annimmt" (A384). Diese Hypostasierung ist die für den vierten Paralogismus entscheidende Verkehrung. Allgemeiner gesagt liegt allen Paralogismen eine derartige Hypostasierung zugrunde. Immer geht es darum, daß "man seine Gedanken zu Sachen macht und sie hypostasirt" (A395). Aber dieses Hypostasieren, dieses Objektivieren, kann in zweierlei Zusammenhängen auftreten. Es kann im Hinblick auf das Subjekt auftreten, wie in den ersten drei Paralogismen: Dann trägt es die Form einer Verkehrung des Subjektes als Subjekt (transzendentale Apperzeption) in das Subjekt als Objekt (Seele). Oder aber, es kann, wie im vierten Paralogismus, im Hinblick auf das Objekt auftreten, und dann wird es ein Verkehren des subjektiven Objektes in das objektive Objekt, genauer gesagt, ein Verkehren äußerer Erscheinungen in Dinge an sich. Ein solches Verkehren vom Subjektiven zum Objektiven ist die Bewegung des dialektischen Scheins.
3. Die projektive Auslegung Auf der Ebene der projektiven Auslegung besteht unsere Aufgabe darin, die in dem jetzt abgeschlossenen Kommentar thematisierten Probleme des transzendentalen Paralogismus auf den für eine solche Auslegung versammelten Horizont zu projizieren - so zu projizieren, daß sie von diesem Horizont aus verstanden, von ihm widergespiegelt, reflektiert werden. Den Horizont konstituiert die Konzeption der menschlichen Erkenntnis als einer Bewegung des Sammelns, einer Bewegung, bei der die bruchstückhaften Anfänge in eine der Einheit der göttlichen Erkenntnis verwandte Einheit gesammelt werden, und zwar so, daß die Bruchstückhaftigkeit der Anfänge wettgemacht, überwunden wird. Die Vernunft kommt als die Endphase dieser Bewegung, als der höchste Modus des Sammelns ins Spiel. Durch die Vernunft würde sogar diejenige Fragmentierung, die nach der Synthesis des reinen Verstandes (in Verbindung mit der reinen Einbildungskraft) noch bestehen bleibt, überwunden. Die Vernunft würde das Mannigfaltige übernehmen und
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Das Sammeln der Vernunft in den Paralogismen
es unter eine höhere Einheit bringen, genauer gesagt, jene Einheiten, die Kant transzendentale Ideen nennt. Das Sammeln der Vernunft geschieht in drei Modi, deren erster der transzendentale Paralogismus ist. Die Probleme des transzendentalen Paralogismus auf diesen Horizont projizieren heißt also, die paralogistische Bewegung als eine Bewegung des Sammelns verstehen. Es ist zu zeigen, wie die verschiedenen Momente innerhalb des Paralogismus spezifische Formen derjenigen allgemeinen Momente sind, die bereits als der Bewegung, welche die menschliche Erkenntnis ist, zugehörig erkannt wurden. Kant faßt die Grundfrage der Paralogismen folgendermaßen zusammen: "So ist denn also aller Streit über die Natur unseres denkenden Wesens und der Verknüpfung desselben mit der Körperwelt lediglich eine Folge davon, daß man in Aufhebung dessen, wovon man nichts weiß, die Lücke durch Paralogismen der Vernunft ausfüllt, daß man seine Gedanken zu Sachen macht und sie hypostasirt" (A395). So besteht denn das Grundproblem darin, eine Lücke in unse~er Erkenntnis mit einer Ersatzerkenntnis auszufüllen. In anderen Worten ist die zentrale Bewegung des Paralogismus, jenes Hypostasieren, welches die Gestalt einer Verkehrung des Subjekts ins Objekt annimmt, an die Bereitstellung eines Surrogats gebunden. Die entwerfende Auslegung hat sich auf diesen Surrogatcharakter des transzendentalen Paralogismus zu konzentrieren. Der Paralogismus würde eine Lücke füllen. Er würde einen bestimmten Zustand der Spaltung, der Bruchstückhaftigkeit, überwinden. Welches ist die Lücke, die der Ausfüllung, die Bruchstückhaftigkeit, die der Oberwindung bedarf? Es ist die Lücke in unserer Selbsterkenntnis, die Lücke der Unwissenheit in bezug auf unser Ich. Es ist die Fragmentierung, die darauf beruht, daß der Mensch dazu verdammt ist, sich selbst nur als Erscheinung und nicht an sich selbst zu kennen; daß der Mensch nicht eins mit sich selbst, sondern von sich selbst durch Unwissenheit getrennt ist. Genauer gesagt beruht die Bruchstückhaftigkeit, um die es hier geht, auf der Spaltung zwischen dem Ich als dem Subjekt und dem Ich als dem Objekt der Erkenntnis. Die Lücke ist einfach eine mangelnde Einheit von Subjekt und Objekt im Bereich der Selbsterkenntnis; sie ist einfach eine Spezifizierung der ersten der vier allgemeinen, den Anfängen der menschlichen Erkenntnis zugehörigen Formen der Fragmentierung. Der transzendentale Paralogismus möchte diese Lücke füllen, möchte diese Fragmentierung im Menschen, die Fragmentierung der fehlenden Selbsterkenntnis, überwinden. Jedoch zeigt Kants Kritik des Paralogismus, daß er die Lücke nicht auszufüllen vermag, daß das angeblich von der Vernunft geleistete Sammeln des Menschen in die Einheit mit sich selbst scheitert. Sie zeigt, daß der dialektische Schluß selbst, der die fehlende Selbsterkenntnis überwinden möchte, eine trügerische Verkehrung des Subjektiven ins Objektive, ein Sich-Abkehren vom Ich, eine Ich-Vergessenheit, das Ergebnis einer tiefen und nahezu selbstverbergenden fehlenden Selbsterkenntnis des Ich ist.
Die projektive Auslegung.
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Die Kritik des Paralogismus dient somit dazu, den Menschen wissend in die Grenzen seiner fehlenden Selbsterkenntnis zurückzuverweisen. Sie resultiert in einer Selbsterinnerung, die - strukturell von der durch die paralogistische Metaphysik angestrebten Selbsterkenntnis unterschieden die Fragmentierung der fehlenden Selbsterkenntnis zugesteht und einschließt. Vielleicht liegt hierin die stärkste Berührung zwischen Kant und Sokrates. Die Fragmentierung, um die es hier geht, ist somit eine spezifische Form der Fragmentierung zwischen Subjekt und Objekt. Jedoch ist diese spezifische Fragmentierung - und daher die Lücke, die der Paralogismus ausfüllen soll - ihrerseits in der Fragmentierung der Anschauung begründet, d.h. in der zweiten Hauptform der Fragmentierung, die im Bereich der Selbsterkenntnis Gestalt gewinnt. In anderen Worten ist die Lücke, der Mangel in der Selbsterkenntnis darin begründet, daß die Anschauung des Ich nicht ursprünglich ist; das heißt, dadurch, daß ich mir selbst nur so gegeben bin, wie ich von mir selbst affiziert werde, nur durch Selbstaffektion. Indem ich mir selbst in dieser grundlegend bruchstückhaften Weise gegeben werde, erkenne ich mich nur als Erscheinung. Der transzendentale Paralogismus würde ein Surrogat für diese verarmte Icherkenntnis, diese durch die Bruchstückhaftigkeit der Selbstanschauung verarmte Erkenntnis bereitstellen. Jedoch soll die Surrogaterkenntnis nicht auf Anschauung gründen. Vielmehr würde der Paralogismus die verarmte, auf Anschauung gegründete Selbsterkenntnis durch eine reine Vernunfterkenntnis des Ich, eine nur auf das Denken gegründete Erkenntnis ersetzen. In anderen Worten würde die Lücke durch eine rationale Selbsterkenntnis ausgefüllt, eine nur auf das Denken gestützte Bestimmung des Ich. Diese Bereitstellung von rationaler Selbsterkenntnis geschieht in Form eines Sammelns der Vernunft. Allgemein gesprochen hat die Struktur des Sammelns zwei Seiten: auf der einen Seite das Setzen der Idee als Einheit für das Sammeln, ein Setzen in Form einer Erweiterung einer kategorialen Einheit bis zur absoluten Einheit; auf der anderen Seite das eigentliche Sammeln des einschlägigen Mannigfaltigen in diese Einheit. Diese allgemeine Zweiseitigkeit wird durch die Bewegung des Paralogismus exemplifiziert, die, wie der Kommentar gezeigt hat, zwei Aspekte aufweist. Auf der einen Seite geht es beim Paralogismus um eine Verwandlung des Begriffs des Ich (der transzendentalen Apperzeption) in den der Seele, eine Verkehrung des Ich in die Seele; allgemein gesagt beläuft sich diese Verkehrung genau auf ein Setzen der transzendentalen Idee (Seele) vermittels einer Erweiterung einer kategorialen Einheit, nämlich der fundamentalen kategorialen Einheit, der transzendentalen Apperzeption. Somit macht die Verkehrung eine Seite des Sammelns aus: Sie ist das Setzen der Einheit für das Sammeln. Auf der anderen Seite geht es beim Paralogismus um ein Bestimmen des Begriffs der Seele, genauer gesagt eine Bewegung von den transzendentalen Bestim-
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Das Sammeln der Vernunft in den Paralogismen
mungen des Ich der Apperzeption zu entsprechenden realen Bestimmungen der Seele. Aber wie exemplifiziert dieser zweite Aspekt des Paralogismus das eigent· liehe Sammeln in die gesetzte Einheit? Wie erreicht man ein Sammeln in die Einheit des Ich, indem der Seele gewisse Bestimmungen beigelegt werden? Das geschieht auf zwei Ebenen. Insofern ein solches Beilegen einem Erlangen von Selbsterkenntnis gleichkommt, ist es ein überwinden jener Unwissenheit in bezug auf das eigene Ich, wozu der Mensch auf der Ebene der auf Anschauung gegründeten Erkenntnis verdammt ist; also ein überwinden der Trennung des Menschen von sich selbst in der Unwissenheit, der Trennung zwischen dem Ich als Subjekt der Erkenntnis und dem Ich als Objekt der Erkenntnis. Insofern der Paralogismus ein Erlangen von Erkenntnis über das eigene Ich darstellt, ist er ein Sammeln dieses Mannigfaltigen, d.h. dieses Zweifaltigen, in die Einheit. Es ist besonders bedeutsam, daß der zweite Aspekt in dieser Hinsicht in einem spezifischen Abhängigkeitsverhältnis zu der vorherigen Verkehrung steht: Nur auf der Grundlage, die durch die Verkehrung des Subjekts als Subjekt in das Subjekt als Objekt geschaffen wurde, kann das Bestimmen der Seele als eines Sammelns des Ich als Erkenntnisobjekts in die Einheit des Ich als Erkenntnissubjekts sein. Zur Überwindung der Unwissenheit durch die Tat kommt eine andere Sammelebene, die darin besteht, daß der Seele Bestimmungen beigelegt werden. Diese Ebene wird deutlich sichtbar, wenn wir genau beachten, wie das Ich sich bei dieser angeblichen Selbsterkenntnis bestimmt. Es bestimmt sich als einfache, einige, absolut existierende Substanz; das heißt, es bestimmt sich als qualitative Differenzierung, als Verstreuung in der Zeit, als eine wesenhafte Verknüpfung mit dem Leib ausschließend. In anderen Worten bestimmt es sich als verschiedene Grundarten der Fragmentierung (die qualitative, zeitliche und körperliche) ausschließend Arten der Fragmentierung, die nicht so sehr für die Grenzen der objektiven Erkenntnis als für das Schicksal der Seele von Gewicht sind. In den Paralogismen wird die Seele als in diesen verschiedenen Hinsichten mit sich selbst in Einheit gehalten bestimmL Zudem steht hinter all diesen Selbstbestimmungen die wirkliche Aufgabe, um die es geht, nämlich der Nachweis der Unsterblichkeit der Seele; es soll die Seele als unsterblich bestimmt werden, damit sie auf diese Weise der radikalsten der Fragmentierungsformen entgeht, nämlich der äußersten Trennung vom Ich, die sich im Tode ereignen würde, wäre die Seele nicht unsterblich. Daher ist der transzendentale Paralogismus ein Sammeln der Vernunft. Und Kants syllogistische Darstellungen der einzelnen Paralogismen sind Skizzen der vier Modi dieses spezifischen Sammelns der Vernunft. Besonders bemerkenswert ist, daß in jeder dieser Skizzen die wichtigsten Elemente des Sammelns deutlich umrissen sind: Der Obersatz drückt die kategoriale Einheit aus, die durch die Vernunft erweitert wird; der Untersatz drückt die Verkehrung des Ich in die Seele aus, also das Setzen der Einheit für das
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Sammeln; und der Schlußsatz drückt aus, daß der Seele eine Bestimmung beigelegt wird, das ist das eigentliche Sammeln in die Einheit. Jedoch ist der transzendentale Paralogismus dialektisch: Das Sammeln scheitert. Das Sammeln, das eine spezifische Fragmentierung zwischen Subjekt und Objekt überwinden sollte, die ihrerseits in einer Fragmentierung der Anschauung begründet ist, scheitert an den anderen Grundformen der Fragmentierung, nämlich denen, die dem Denken zukommen. Wie zeigt sich dieses Scheitern in der Kritik des Paralogismus? Wie offenbart es sich? Es offenbart sich auf drei Ebenen, die den drei konstituierenden Urteilen eines transzendental paralogistischen Syllogismus entsprechen. Auf der Ebene, wo der Seele Bestimmungen beigelegt werden, der durch den Schlußsatz formulierten Ebene, offenbart sich das Scheitern darin, daß die angeblichen Bestimmungen sich als bloß reine, als unschematisierte Kategorien erweisen; sie sind bloße Formen der Einheit, die beim Denken von etwas überhaupt Verwendung finden, nicht aber als objektive Bestimmungen. Genauer gesagt zeigt die Kritik der Paralogismen, daß sich die angeblichen Bestimmungen nur dann zurecht der Seele beilegen lassen, wenn sie als leere Formen des Denkens und nicht als wirkliche Bestimmungen betrachtet werden. In anderen Worten verweist die Kritik das Beilegen von Bestimmungen in bezug auf die Seele zurück auf die Grundlage, wo die Grenzen festgelegt werden, innerhalb derer allein Bestimmungen beigelegt werden dürfen. Der Paralogismus aber baut auf der Grundlage der transzendentalen Apperzeption auf, die in der syllogistischen Darstellung im Obersatz formuliert ist. Wie offenbart sich das Scheitern des Sammelns auf der Ebene der Apperzeption? Anders gesagt: Wie ist die Leere der angeblichen Bestimmungen der Seele im Charakter der Apperzeption begründet, die der Beilegung von Bestimmungen als Grundlage dienen soll? In dieser Hinsicht dient die Apperzeption einfach in dem Sinne als Grundlage, daß ein gewisses Bestimmen des Ich der Apperzeption auf die Ebene der Seele übertragen, zu einem Bestimmen der Seele erweitert wird. Somit gründet die Leere der angeblichen Bestimmungen der Seele in der Leere des Bestimmens des Ich in der Apperzeption. Die Leere der Apperzeption wiederum besteht darin, daß sich das Ich in der Apperzeption einfach als existierend setzt; es setzt sich nicht als irgendwie bestimmt, setzt sich nicht in seiner Bestimmtheit. Als von sich selbst in der Apperzeption Gesetztes ist das Ich völlig unbestimmt, das bloße X, worauf sich alle Vorstellungen beziehen lassen. Und die angeblichen Bestimmungen - Substantialität, Einheit, Einfachheit - bringen nur die formale Struktur des Selbstsetzens zum Ausdruck. Warum denkt sich das Ich im reinen Denken der Menschen nur auf leere Weise? Warum setzt es sich nicht in seiner Bestimmtheit? Wegen der Fragmentierung des menschlichen Denkens, weil das menschliche Denken nur im Verhältnis auf etwas Gegebenes Bestimmtheit schaffen kann, weil es seinen Inhalt von anderswoher beziehen muß: Ohne diesen Inhalt bleibt es leer. Noch anders
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Das Sammeln der Vernunft in den Paralogismen
ausgedrückt: Es fehlt dem menschlichen Denken an der Fähigkeit zu jener absoluten Einheit mit der Anschauung, die es als Denken dazu befähigen würde, sich selbst mit anschaulicher Fülle und Bestimmtheit hervorzubringen. Im Gegenteil ist die menschliche Selbsterkenntnis zur Bruchstückhaftigkeit, zur Uneinheit zwischen Denken und Anschauung verdammt. Es gibt noch eine dritte Ebene, auf der sich das Scheitern des Paralogismus offenbart: die Ebene, die im Untersatz jedes paralogistischen Syllogismus zum Ausdruck kommt. Es ist dies die Ebene, auf der sich das Subjekt als Subjekt in das Subjekt als Objekt verkehrt, wobei diese Verkehrung der wichtigste Bestandteil in der Bewegung des Paralogismus ist, weil sie nach Kant (A401-2) den ersten Anstoß zur Erweiterung des leeren Selbstsetzens des Ich zu einer Bestimmung der Seele gibt. Aber diese Verkehrung, woraus die gesamte Sammelbewegung des Paralogismus entspringt, muß ihrerseits auf das Ich rückbezogen werden, auf ein sich selbst setzendes Ich. Wie ist nun diese Verkehrung beschaffen, die auf das sie ausführende Ich rückbezogen wird, das Ich, das dann Paralogismen konstruiert? Die Verkehrung ist eine grundlegende Modifizierung der Selbstsetzung des Ich: Anstatt sich selbst als Subjekt zu setzen, setzt sich das Ich als Objekt. Und aus dieser ursprünglichen Selbstvergegenständlichung entspringt der Paralogismus. Hier, in dieser Verwechslung von Subjektivem und Objektivem, bereitet sich auch das Scheitern des paralogistischen Sammelns vor. Kant sagt, die rationale Psychologie existiere legitim nicht "als Doctrin, die uns einen Zusatz zu unserer Selbsterkenntniß verschaffte, sondern nur als Disciplin" (B421). Die projektive Auslegung gestattet es uns, sie als die Disziplin zu betrachten, die den Menschen zwingt, in den Grenzen des Zustandes der Fragmentierung zu bleiben, an den seine Selbsterkenntnis gekettet ist, die ihn zwingt, in den Grenzen der ihm eigenen Selbstunwissenheit zu bleiben. Und das erfordert vor allem, daß sie den Menschen von der ursprünglichen Modifizierung seiner Selbstsetzung, zu einer Selbstvergegenständlichung abhält, aus welcher dann der Paralogismus entspringt. Kant seinerseits legt den Gedanken nahe, daß. ein solcher Einschränkungszwang letztlich dazu dienen sollte, die Vernunft auf eine ihr angemessenere Tätigkeit vorzubereiten: Die rationale PsychologiP- als Disziplin erinnere uns daran, "diese Weigerung unserer Vernunft, den neugierigen, über dieses Leben hinausreichenden Fragen befriedigende Antwort zu geben, als einen Wink derselben anzusehen, unsere Selbsterkenntniß von der fruchtlosen überschwenglichen Speculation zum fruchtbaren praktischen Gebrauche anzuwenden" (B421).
VIERTES KAPITEL DAS SAMMELN DER VERNUNFT IN DEN ANTINOMIEN
Die Antinomie der reinen Vernunft, die den zweiten Typ des dialektischen Schließens darstellt, ist genetisch gesehen die bedeutsamste. Ja, es gibt gute Gründe dafür, in dem Problem der Antinomien "die Wiege der kritischen Philosophie" 1 zu sehen. Und Kant selbst bezeugt in einem Brief an Garve, daß es dieses Problem war, was ihn aus seinem dogmatischen Schlummer erweckt und zur Kritik der Vernunft getrieben habe 2 • Die Antinomie der reinen Vernunft ist das Thema des zweiten Kapitels der kritischen Untersuchung der dialektischen Schlüsse der reinen Vernunft. In einer kurzen Einleitung, die dann zum ersten Abschnitt dieses Kapitels weiterführt, umreißt Kant das allgemeine Wesen solcher Schlüsse. Die Kennzeichnung enthält drei Punkte. Erstens entspreche, so Kant, dieser Typ des dialektischen Schließens - im Rahmen der allgemeinen Analogie zwischen reiner (dialektischer) Vernunft und logischer Vernunft ausgedrückt - dem hypothetischen Syllogismus. Die Entsprechung besagt einfach: Genau wie bei dem hypothetischen Vernunftschluß eine Regression bzw. Progression in einer einfachen linearen Reihe von Bedingungen vorliegt (insbesondere, wenn diese durch Prosyllogismen oder Episyllogismen erweitert wird), ist in der Antinomie der reinen Vernunft der Begriff einer linearen Reihe von Bedingungen von zentraler Bedeutung. Zweitens beobachtet Kant, der Inhalt solcher dialektischer Schlüsse sei "die unbedingte Einheit der objectiven Bedingungen in der Erscheinung" (A406/B433), das heißt, "die absolute Totalität in der Synthesis der Erscheinungen" (A407 /B434). Ein solcher Inhalt, in verschiedener Hinsicht betrachtet, konstituiert transzendentale Ideen besonderer Art. Kant nennt sie "kosmologische Ideen" oder "Weltbegriffe". Es sind die der rationalen Kosmologie zugehörigen Begriffe. Besonders beachtenswert ist, daß solche Hennan-J. de Vleeschauwer, The Development of Kantian Thought, übers. v. A.R.C. Duncan, London 1962, S. 49f., 82f. 2 "Nicht die Untersuchung vom Dasein Gottes, der Unsterblichkeit etc. ist der Punkt gewesen, von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der r.V. . . diese war es, welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Kritik der Vernunft selbst hintrieb, um das Skandal des scheinbaren Widerspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben" (Brief 820: An Christian Garve, 21. Sept. 1798. XII,257f.). Ein ähnliches Zeugnis, allerdings ohne autobiographisches Element, findet sich in den Prolegomena: "Dieses Product der reinen Vernunft [die kosmologischen Ideen] in ihrem transcendenten Gebrauch ist das merkwürdigste Phänomen derselben, welches auch unter allen am kräftigsten wirkt, die Philosophie aus ihrem dogmatischen Schlummer zu erwecken und sie zu dem schweren Geschäfte der Kritik der Vernunft selbst zu bewegen" (IV,338). 1
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Das Sammeln der Vernunft in den Antinomien
Begriffe wie auch deshalb die Schlüsse, in denen diese vorkommen, nur auf Erscheinungen bezogen sind. In den Antinomien überschreitet die Vernunft die Grenzen der möglichen Erfahrung, nicht durch einen Sprung von Erscheinungen zu Dingen an sich, sondern vielmehr durch das übergehen von der Synthesis der Erscheinungen in der Erfahrung zur absoluten Totalität dieser Synthesis. Schließlich hebt Kant einen speziellen Gegensatz zwischen Antinomien und Paralogismen hervor. Im Falle der Paralogismen ist der hervorgebrachte Schein bloß einseitig: Es wird nicht auch ein Schein zur Stützung der Gegenbehauptung bewirkt. Dagegen finden im Falle der Antinomien sowohl eine Behauptung als auch deren Gegenteil Unterstützung, und das heißt, daß sich die Vernunft in Widersprüche verwickelt. Wie es bei allen Ergebnissen dialektischen Schließens der Fall ist, sind auch diese Widersprüche keine Produkte bloß künstlicher Spitzfindigkeit, die sich durch logische Kritik richtigstellen ließe. Vielmehr sind sie unvermeidlich; sie machen "eine ganz natürliche Antithetik" aus, "in welche die Vernunft von selbst und zwar unvermeidlich geräth" (A407 /B433-4) - eine Antithetik, die der Spitzfindigkeit der reinen Vernunft selbst zukommt. Wie Kant weiter unten darlegt, handelt es sich um "einen natürlichen und unvermeidlichen Schein ... , der selbst, obschon nicht trügt, und also zwar unschädlich gemacht, aber niemals vertilgt werden kann" (A422/B449-50).
1. Die kosmologischen Ideen (A408/B435- A425/B453) Kants erste wichtige Aufgabe ist die Ableitung der kosmologischen Ideen und der mit ihnen verknüpften Antinomien. Als Grundlage dienen ihm seine früheren überlegungen zum Verhältnis von Vernunft und Verstand. Dort (A326-7 /B383-4, mit Kap. II, 4) hatte Kant die Parallele zwischen Verstand und Vernunft hervorgehoben: So wie der Verstand die in der Anschauung gegebene Einheit des Mannigfaltigen auf eine Einheit bringt, so bringt die Vernunft die vom Verstand gelieferte mannigfaltige Etkenntnis auf eine Einheit. Somit sind die Begriffe der Vernunft, das heißt die transzendentalen Ideen, Einheiten für die Vereinigung dessen, was auf der Ebene des Verstandes mannigfaltig bleibt. In gewisser Weise lassen sich solche Ideen als aus der Vernunft entspringend betrachten. Sie bilden den reinen, von der Vernunft hervorgebrachten Inhalt und entsprechen den vom Verstande hervorgebrachten Kategorien. Dennoch herrscht zwischen beiden Fällen keine vollständige Entsprechung: Die Ideen werden selbst so aus den Kategorien abgeleitet, daß sie nicht einfach als von der Vernunft hervorgebracht betrachtet werden können. In der genaueren Darstellung, die Kant nun bietet, findet dieses Abgeleitetsein unzweideutigen Ausdruck:
Die kosmologischen Ideen
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Um nun diese Ideen nach einem Princip mit systematischer Präcision aufzählen zu können, müssen wir Erstlieh bemerken, daß nun der Verstand es sei, aus welchem reine und transeendentale Begriffe entspringen können, daß die Vernunft eigentlich gar keinen Begriff er-zeuge, sondern allenfalls nur den Verstandesbegriff von den unvermeidlichen Einschränkungen einer möglichen Erfahrung frei mache und ihn also über die Grenzen des Empirischen, doch aber in Verknüpfung mit demselben zu erweitern suche. Dieses geschieht dadurch, daß sie zu einem gegebenen Bedingten auf der Seite der Bedingungen (unter denen der Verstand alle Erscheinungen der synthetischen Einheit unterwirft) absolute Totalität fordert und dadurch die Kategorie zur transeendentalen Idee macht (A408-9/B435-6). So erzeugt also die Vernunft keine Begriffe einfach aus sich selbst; insbesondere erzeugt sie nicht einfach die transzendentalen Ideen, wenngleich sie natürlich an deren Hervorbringung beteiligt ist. Das Entscheidende ist, daß Ideen nicht einfach aus dem Nichts erzeugt werden, sondern vielmehr aus den Kategorien entspringen. Die Vernunft befreit eine Kategorie von ihrer Beschränkung auf die mögliche Erfahrung und erweitert sie über das Empirische, über den Bereich möglicher Erfahrung hinaus: "Also werden erstlieh die transeendentalen Ideen eigentlich nichts, als die bis zum Unbedingten erweiterte Kategorie sein". Jedoch stellt diese Erweiterung über das Empirische hinaus nicht einfach einen Sprung von Erscheinungen zu Dingen an sich dar. Im Falle der transzendentalen Ideen, die kosmologisch sind, hat die Erweiterung überhaupt nichts mit Dingen an sich zu tun. Selbst dort, wo, wie bei den Paralogismen, eine Erweiterung zu Dingen an sich vorliegt, hat diese Erweiterung immer noch einen wesentlichen Zusammenhang mit dem Bereich des Empirischen oder, genauer gesagt, mit dem Bereich des Verstandes. So erwies sich die die Paralogismen begründende fundamentale Verkehrung als eine Modifizierung desjenigen Selbstsetzens, das als transzendentale Apperzeption die Grundbedingung des Verstandes ist. Die kosmologischen Ideen entspringen durch eine Erweiterung gewisser Kategorien bis zur absoluten Totalität in der Synthesis der Erscheinungen oder, genauer gesagt, in der regressiven Synthesis der Erscheinungen (A411/ B438). Dabei werden gewisse Kategorien in Begriffe der absoluten Totalität der Reihe der Bedingungen von Erscheinungen verwandelt. Welche Kategorien lassen sich auf diese Weise erweitern? Nur diejenigen, in denen die vorgeschriebene Synthesis Reihencharakter hat. In Kants Worten: " ... werden doch auch nicht alle Kategorien dazu taugen, sondern nur diejenige, in welchen die Synthesis eine Reihe ausmacht und zwar der einander untergeordnete (nicht beigeordneten) Bedingungen zu einem Bedingten" (A409/B436). Die Kategorien, die eine Umformung durch die Vernunft zu kosmologischen Begriffen erlauben, sind genau die, bei denen eine regressive Reihe möglich ist, diejenigen, welche die Erzeugung einer Reihe durch die Regression
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Das Sammeln der Vernunft in den Antinomien
vom Bedingten zur Bedingung erlauben. Die Ableitung der kosmologischen Ideen beläuft sich auf die Bestimmung, welche Kategorien diese Bedingung erfüllen, und sodann die Darstellung der entsprechenden Erweiterung zu transzendentalen Ideen. Kant erörtert der Reihe nach jede der vier allgemeinen Arten von Kategorien und zeigt dabei für jede, wie eine spezifische Erweiterung bis zur Ebene der absoluten Totalität in der Synthesis der Erscheinung möglich ist. Im Falle der Quantität läßt sich das Wesen und Ergebnis der betreffenden Erweiterung am deutlichsten mit Bezug auf den dieser Kategorie zugeordneten Grundsatz sehen, nämlich den Grundsatz: "Alle Anschauungen sind extensive Größen", oder genauer gesagt: "Alle Erscheinungen sind ihrer Anschauung nach extensive Größen" (A162/B202). Erscheinungen können in zweierlei Hinsicht extensive Größen sein: in bezug auf die Zeit und in bezug auf den Raum. So läßt sich die in Erscheinungen als extensive Größe verkörperte Quantität in derselben zweifachen Hinsicht bis auf die Ebene der absoluten Totalität erweitern. Im Falle der Zeit ist die Erweiterung problemlos: Die Zeit ist eine Reihe (sogar die formale Bedingung aller Reihen), und die regressive Erweiterung bewegt sich einfach von der gegenwärtig gegebenen Erscheinung zurück durch die Reihe. Die absolute Totalität ist einfach die Reihe der Erscheinungen durch die gesamte vergangene Zeit, und die entsprechende transzendentale Idee ist einfach der Begriff einer solchen absoluten Totalität. Der Fall des Raumes liegt schwieriger; denn der Raum ist an sich keine Reihe. Außerdem fehlt im Raum die Unterscheidung zwischen Progression und Regression. An sich betrachtet ist der Raum so beschaffen, daß seine Teile nebeneinander existieren; er ist ein Aggregat, keine Reihe. Jedoch ist der Raum nicht etwas an sich selbst, sondern vielmehr eine Form der Anschauung. Und, was noch wichtiger ist: Der bestimmte Raum ("quantitas" im Gegensatz zum bloßen "quantum") setzt die Synthesis voraus (vgl. Al62/B202 - Al66/B207). So befaßt sich Kant mit dem Wesen des Raumes nicht, insofern er an sich ist oder auch nur als bloße Anschauung, sondern im Hinblick auf die seiner Konstituiening zugehörige Synthesis: "Allein die Synthesis der mannigfaltigen Theile des Raumes, wodurch wir ihn apprehendiren, ist doch successiv, geschieht also in der Zeit und enthält eine Reihe" (A412/B439). Die Aktivität der Synthesis, durch die wir den Raum apprehendieren, ereignet sich in der Zeit, so daß der Reihencharakter der Zeit sich auf diese Weise auf den Raum überträgt. Aber welchen Sinn hat dieser Reihencharakter im Hinblick auf den Raum? Kant fährt fort: Und da in dieser Reihe der aggregirten Räume ( ... ) von einem gegebenen an die weiter hinzugedachten immer die Bedingung von der Grenze der vorigen sind, so ist das Messen eines Raumes auch als eine Synthesis einer Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten anzusehen; nur daß die Seite der Bedingungen von der Seite,
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nach welcher das Bedingte hinliegt, an sich selbst nicht unterschieden ist, folglich regressus und progressus im Raume einerlei zu sein scheint (A412-3/B439-40). So nimmt der von der Zeit übernommene Reihencharakter die Form einer Reihe von Grenzen an in dem Sinne, daß ein gegebener Raum durch einen anderen Raum begrenzt wird, dieser wieder durch einen anderen, etc. So sagt Kant: "In Ansehung der Begrenzung ist also der Fortgang im Raume auch ein Regressus, und die transeendentale Idee der absoluten Totalität der Synthesis in der Reihe der Bedingungen trifft auch den Raum" (A413/ B440). Daher liefert die Kategorie der Quantität der Vernunft die Grundlage für die Bildung der transzendentalen Ideen der Totalität der Erscheinungen sowohl in der gesamten vergangenen Zeit als auch im Raume. Es sind dies die beiden Formen der ersten der vier kosmologischen Ideen. In ihrer allgemeinen Formulierung ist sie der Begriff der "absoluten Vollständigkeit der Zusammensetzung des gegebenen Ganzen aller Erscheinungen" (A 415/B443). Die Ableitung der zweiten kosmologischen Idee ist sehr kurz: Kant nennt einfach die einschlägige Kategorie, gibt uns einen Hinweis auf die Art des dabei relevanten Bedingens und verweist dann auf die Erweiterung dieses Bedingens bis hin zur Ebene der absoluten Totalität. Der Kategorientitel ist die Qualität, die spezifische Kategorie die der Realität. Im Einklang mit dem kosmologischen Kontext wird diese Kategorie primär hinsichtlich äußerer Erscheinungen erörtert. Und so konzentriert Kant sich auf die Wirklichkeit im Raume. Jedoch ist die Wirklichkeit im Raume einfach das stoffliche (nichtformale) Element in äußeren Erscheinungen - das heißt (transzendental verstandene) Materie. Daher lautet die Frage: Um was für ein Bedingen handelt es sich bei der Materie? Kant antwortet: Es ist das Bedingtsein eines Ganzen durch seine Teile: [Die Materie ist] ein Bedingtes, dessen innere Bedingungen seine Theile, und die Theile der Theile die entfernten Bedingungen sind, so daß hier eine regressive Synthesis stattfindet, deren absolute Totalität die Vernunft fordert, welche nicht anders als durch eine vollendete Theilung, dadurch die Realität der Materie entweder in Nichts oder doch in das, was nicht mehr Materie ist, nämlich das Einfache, verschwindet, stattfinden kann (A413/B440). Die sich ergebende kosmologische Idee ist die der "absoluten Vollständigkeit der Theilung eines gegebenen Ganzen in der Erscheinung" (A415/ B443). Hinsichtlich der Relationskategorien betont Kant, die Kategorie der Substanz eigne sich zu keiner Erweiterung zu einer kosmologischen Idee: " ... die Vernunft hat keinen Grund, in Ansehung ihrer regressiv auf Bedingungen zu gehen" (A414/B441). Entscheidend ist, daß im Falle der
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Substanz der notwendige Reihencharakter fehlt, daß die Akzidenzien einer Substanz weder in ihrem Verhältnis zueinander noch im Verhältnis zur Substanz selbst eine Reihe bilden. Unter den Relationskategorien findet sich der erforderliche Reihencharakter nur bei der Kausalität. In diesem Zusammenhang bewegt sich die Erweiterung regressiv durch die gesamte Reihe der Ursachen und Wirkungen, und die sich ergebende kosmologische Idee ist die der "absoluten Vollständigkeit der Entstehung der Erscheinung" (A415/B443). Die letzte Ableitung ist die kürzeste von allen: Viertens, die Begriffe des Möglichen, Wirklichen und Nothwendigen führen auf keine Reihe, außer nur so fern das Zufällige im Dasein jederzeit als bedingt angesehen werden muß und nach der Regel des Verstandes auf eine Bedingung weiset, darunter es nothwendig ist, diese auf eine höhere Bedingung zu weisen, bis die Vernunft nur in der Totalität dieser Reihe die unbedingte Nothwendigkeit antrifft (A415/ B442). Die sich ergebende kosmologische Idee ist die der "absoluten Vollständigkeit der Abhängigkeit des Daseins des Veränderlichen in der Erscheinung" (A415/B443). Innerhalb der Gesamtstruktur der den kosmologischen Ideen zugehörigen Bewegung des Schließens sind zwei Momente zu unterscheiden. Das erste ist die eben nachvollzogene Bewegung, wodurch sich die kosmologischen Ideen selbst hervorbringen: die Erweiterung der einschlägigen Kategorie bis hinauf zur Ebene der absoluten Vollständigkeit der Reihe der Bedingungen. Das zweite Moment ist das, wodurch das erste seine echte Vollendung erreicht; es ist die Bewegung, bei der die Antinomien erzeugt werden. Kant bemerkt, was bei der Erweiterung bis zur Ebene der absoluten Vollständigkeit wirklich gesucht werde, sei das Unbedingte: " ... ist es eigentlich nur das Unbedingte, was die Vernunft in dieser reihenweise und zwar regressiv fortgesetzten Synthesis der Bedingungen sucht" (A416/ B443-4). So bewegt sich die Vernunft zur absoluten Vollständigkeit der Bedingungen, um dadurch beim Unbedingten anzukommen. Das erfordert, daß das Unbedingte irgendwie in der absoluten Vollständigkeit der Bedingungen enthalten ist: "Dieses Unbedingte ist nun jederzeit in der absoluten Totalität der Reihe, wenn man sie sich in der Einbildung vorstellt, enthalten" (A416/B444), das heißt: Die absolute Totalität der Bedingungen muß das Unbedingte enthalten, weil es sonst über diese Totalität hinaus eine weitere Bedingung geben müßte, wodurch sie weniger als absolut vollständig würde. Das zweite Moment innerhalb der Gesamtstruktur der Bewegung des Schließens ist einfach die Art, wie die Vernunft, indem sie die absolute Totalität der Bedingungen erreicht, zum Unbedingten gelangt. Entscheidend ist, daß das Unbedingte in der absoluten Totalität auf zwei grundverschiedene Weisen enthalten sein kann:
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Dieses Unbedingte kann man sich nun gedanken: entweder als bloß in der ganzen Reihe bestehend, in der also alle Glieder ohne Ausnahme bedingt und nur das Ganze derselben schlechthin unbedingt wäre, und dann heißt der Regressus unendlich; oder das absolut Unbedingte ist nur ein Theil der Reihe, dem die übrigen Glieder derselben untergeordnet sind, der selbst aber unter keiner anderen Bedingung steht (A417 /B445). So kann die Vernunft, indem sie sich in Richtung der absoluten Vollständigkeit der Reihe bewegt, auf zweierlei Weise beim Unbedingten ankommen; das heißt, sie kann bei zweierlei Formen des Unbedingten ankommen: dem Unbedingten als der gesamten unendlichen Reihe (deren Glieder allesamt bedingt sind) oder dem Unbedingten als einem ersten Glied in der Reihe, dem alle anderen Glieder untergeordnet sind. Die Verwicklung der Vernunft in Antinomien ist die Folge dieser Dualität, nämlich der Tatsache, daß es zwei einander grundlegend entgegengesetzte (kontradiktorische) Formen des Unbedingten gibt. So gibt es für jede der allgemeinen kosmologischen Ideen zwei einander entgegengesetzte Formen, zu denen die Bewegung des Schließens führen kann. Und so gibt es zu jeder der vier Ideen eine Antinomie: Die Thesis resultiert aus dem Schluß, in dem das Unbedingte die Form eines ersten Gliedes der Reihe hat; die Antithesis resultiert, wo das Unbedingte die Form der gesamten unendlichen Reihe hat. Der drohende Konflikt, den die kosmologischen Ideen auslösen werden, deutet sich bereits in der Struktur des ersten Moments der Bewegung des Schließens an, dem Moment, worin die Ideen ihren Ursprung haben. In seiner einfachsten Form liegt der Konflikt in der Tatsache, daß die Erweiterung der Kategorien über die Grenzen der Erfahrung hinaus zugleich in Verbindung mit dem Empirischen geschieht. Kant beschreibt ihn als einen Konflikt zwischen Vernunft und Verstand: Eine solche dialektische Lehre wird sich nicht auf die Verstandeseinheit in Erfahrungsbegriffen, sondern auf die Vernunfteinheit in bloßen Ideen beziehen, deren Bedingungen, da sie erstlieh als Synthesis nach Regeln dem Verstande und doch zugleich als absolute Einheit derselben der Vernunft congruiren soll, wenn sie der Vernunfteinheit adäquat ist, für den Verstand zu groß und, wenn sie dem Verstande angemessen, für die Vernunft zu klein sein werden; woraus denn ein Widerstreit entspringen muß, der nicht vermieden werden kann, man mag es anfangen, wie man will (A422/B450). Einerseits wird die Erweiterung im Sinne der von der Kategorie in ihrem Verhältnis zur Erfahrung vorgeschriebenen Synthesis ausgeführt, das heißt als eine Verstandeskategorie, und muß sich folglich nach dem Verstande richten; andererseits ist sie eine Erweiterung über die Erfahrung, über den
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Bereich des Verstandes hinaus, bis hin zur Ebene der von der Vernunft geforderten absoluten Einheit und muß daher mit der Vernunft in Einklang stehen. Die Erweiterung, die Bewegung des Schließens, worin die kosmologischen Ideen ihren Ursprung haben, enthält bereits aufgrund ihres Wesens den Widerstreit zwischen Vernunft und Verstand. Die Aufgabe der Kritik liegt darin, diesen Widerstreit zu lösen, das heißt, "ein dauerhaft ruhiges Regiment der Vernunft über Verstand und Sinne" (A465/B493) einzuführen. Die Aufgabe ist ganz entschieden nicht die, die Vernunft und ihre Forderung nach Einheit auszuschalten, sondern vielmehr die, die Forderung so umzubilden, daß der Vernunft die ihr zukommende Herrschaft über den Verstand gegeben wird. Die Aufgabe besteht nicht darin, die Metaphysica specialis auszuschalten, sondern diese zu reformieren, sie mit der Endlichkeit der menschlichen Erkenntnis in Einklang zu bringen.
2. Die vier Antinomien (A426/B454 - A461/B489) Bevor Kant sich an die eigentliche kritische Aufgabe der Auflösung macht, läßt er den Widerstreit sich voll entfalten. Für jede der kosmologischen Ideen stellt er eine Antithesis einer Thesis gegenüber. Dann verstärkt er die Gegenüberstellung, indem er Beweise für beide einander widerstreitenden Behauptungen konstruiert. Akzeptiert man die Aufstellung der kosmologischen Ideen, so sind die Gegensätze in allen Fällen unauflösbar, und das, was eingangs die Gestalt eines Widerstreits zwischen Vernunft und Verstand trug, wird nun zu einem Widerstreit zwischen der Vernunft mit sich selbst. Auf der Ebene der Antinomien ist die Vernunft, die absoluteEinheit gefordert hat, noch nicht einmal eins mit sich selbst. Ich werde mich meistensteils auf eine bloße Darstellung der einander widersprechenden Behauptungen, welche die Antinomien ausmachen, beschränken und diese in ihrem Verhältnis zu den entsprechenden Ideen betrachten 3 • Die kosmologische Idee, im Verhältnis ·zu der die erste Antinomie entspringt, ist diejenige der absoluten Vollständigkeit hinsichtlich der Zusammensetzung. In anderen Worten ist die Idee diejenige von der Welt als ganzer in bezug auf die Zeit, das heißt, der Welt in ihrer zeitlichen Totalität, in ihrer vollständigen zeitlichen Ausdehnung; und von der Welt als ganzer in bezug auf den Raum, das heißt, der Welt in ihrer räumlichen Totalität, in ihrer vollständigen räumlichen Ausdehung. In der Antinomie geht es darum,
Zum historischen Hintergrund der verschiedenen Positionen und Argumente in den Antinomien vgl. insbes. G. Martin, lmmanuel Kant. Ontologie und Wissenschaftstheorie, Köln 1951, Kap. 2, § 7. Eine ausführliche Darstellung der Beweise der einzelnen Thesen und Antithesen findet sich bei H. Heimsoeth, Transzendentale Diillektik, 11,215-259. 3
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ob die Welt in diesen beiden Hinsichten begrenzt oder unbegrenzt ist 4 , das heißt, ob das Unbedingte die Form eines ersten (Grenz-) Gliedes oder der gesamten unbegrenzten Reihe hat. Daher Kants Behauptungen:
Thesis:
Die Welt hat einen Anfang in der Zeit, und ist dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen. Antithesis: Die Welt hat keinen Anfang und keine Grenzen im Raume, sondern ist sowohl in Ansehung der Zeit als des Raums unendlich. Die kosmologische Idee, im Verhältnis zu der die zweite Antinomie entspringt, ist die der absoluten Vollständigkeit der Teilung. Sie ist die Idee der vollständigen Teilung eines Ganzen, einer Erscheinung, in seine Teile. Genauer gesagt ist sie die Idee der vollständigen Reihe der Teilungen eines Ganzen, der Vollständigkeit der Reihe, die beginnt: Ganzes, Teile, Teile von Teilen, ... In der entsprechenden Antinomie geht es darum, ob der Regressus durch diese Reihe bei einem letzten Glied, bei absolut einfachen Teilen anlangt, die keine weitere Teilung zulassen und die somit hinsichtlich der Teilung unbedingt sind. Das wiederum entspricht einfach der Frage, ob das Unbedingte die Gestalt eines letzten Gliedes der Reihe oder der gesamten (unendlichen) Reihe annimmt. Kanterklärt dazu:
Thesis:
Eine jede zusammengesetzte Substanz in der Welt besteht aus einfachen Theilen, und es existirt überall nichts als das Einfache, oder das, was aus diesem zusammengesetzt ist. Antithesis: Kein zusammengesetztes Ding in der Welt besteht aus einfachen Theilen, und es existirt überall nichts Einfaches in derselben. Man sollte beachten, daß sich diese Antinomie nicht nur auf die Frage der unendlichen Teilbarkeit der Materie 5 , sondern auch auf eine andere Frage 6 bezieht. Diese andere Frage zeigt sich im Zusammenhang mit der Antithesis, die - was bemerkenswert ist - nicht nur die unendliche Teilbarkeit des Zusammengesetzten behauptet, sondern auch, daß "es überall nichts Einfaches in derselben [der Welt)" gibt. Kant erläutert, im Rahmen der von der Antithesis vertretenen Position bedeute diese Behauptung: "Es könne das Dasein des schlechthin Einfachen aus keiner Erfahrung oder Wahrnehmung, weder äußeren noch inneren, dargethan werden" (A437/ B465). Entscheidend ist, daß sich die Antithesis mit ihrer Leugnung der Existenz einfacher Teile (und somit die Antinomie als ganze) nicht nur auf einfache Teile der Erscheinungen des äußeren Sinnes (materielle Atome), Vgl. den Briefwechsel zwischen Leibniz und Clarke, Die philosophischen Schriften, VII,364. 5 Vgl. ebd, 377f. 6 Vgl. G. Martin, Immanuel Kant. Ontologie und Wissenschaftstheorie, 46f. .4
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sondern auch auf einfache Teile der Erscheinungen des inneren Sinnes bezieht. In diesem letztgenannten Sinne geht es darum, ob die Seele eine einfache denkende Substanz ist. Es geht also um Leiboizens Monadologie. Es geht um den transzendentalen Paralogismus. In der zweiten Antinomie berühren sich somit rationale Kosmologie und rationale Psychologie. Die kosmologische Idee, im Verhältnis zu der die dritte Antinomie entspringt, ist die der absoluten Vollständigkeit der Entstehung von Erscheinungen. Sie ist die Idee der vollständigen regressiven Reihe der Ursachen einer Erscheinung, die Idee der Vollständigkeit der Reihe, die von einer bestimmten Erscheinung zu ihren Ursachen zurückgeht, zur Ursache der Ursache, etc. In der entsprechenden Antinomie geht es darum, ob diese Reihe begrenzt oder unbegrenzt ist, das heißt, ob sie ein erstes (unbedingtes) Glied hat oder ob, im Gegenteil, die gesamte Reihe der Ursachen das einzige Unbedingte ist. Ein erstes Glied, eine Kausalität, die selbst ohne Ursache wäre, eine absolut spontane Handlung, aus der eine ganze Reihe folgen würde, wäre ein Akt der Freiheit. Daher erklärt Kant:
Thesis:
Die Causalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesammt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Causalität durch Freiheit zu Erklärung derselben anzunehmen nothwendig. Antithesis: Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur. Man sollte erwähnen, daß Kant im Zusammenhang mit der Thesis darauf hinweist, die Philosophen des Altertums hätten außerhalb der Natur einen Ersten Beweger angenommen, eine frei handelnde Ursache, die eine Kausalreihe ingang zu setzen vermag; jedoch "aus bloßer Natur unterfingen sie sich nicht, einen ersten Anfang begreiflich zu machen" (A450/B478). Kants Hinweis zeigt an, daß die Leugnung der Freiheit in der Antithesis derjenigen gleicht, die mit der Entwicklung der modernen Naturwissenschaft verknüpft war, nämlich der Leugtiung der Freiheit, um zu verhindern, daß eine der Wissenschaft feindliche Gesetzlosigkeit in die Natur hineingetragen würde. Die kosmologische Idee, im Verhältnis zu der die vierte Antinomie entspringt, ist die der absoluten Vollständigkeit der Abhängigkeit des Daseins. Sie ist die Idee der vollständigen regressiven Reihe in der Rangordnung der existenziellen Abhängigkeit, das heißt, der Vollständigkeit der Reihe, die von einem zufällig existierenden Wesen zu einem Wesen führt, von dem sein Dasein abhängt, dann von dem zweiten Wesen, das seinerseits zufällig existiert- zu dem weiteren Wesen, von dem das Dasein dieses zweiten Wesens abhängt, etc. In der entsprechenden Antinomie geht es darum, ob diese Reihe begrenzt oder unbegrenzt ist, das heißt, ob sie ein erstes (unbedingtes) Glied hat oder ob, im Gegenteil, die gesamte Reihe zufällig existierender
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Wesen das einzig Unbedingte ist. Ein erstes Glied wäre ein Wesen, dessen Dasein nicht zufällig (abhängig) ist, also ein Wesen, das mit Notwendigkeit existiert. Daher erklärt Kant:
Thesis:
Zu der Welt gehört etwas, das entweder als ihr Theil, oder ihre Ursache ein schlechthin nothwendiges Wesen ist. Antithesis: Es existirt überall kein schlechthin nothwendiges Wesen weder in der Welt, noch außer der Welt als ihre Ursache. Das absolut notwendige_ Wesen, dessen Existenz hier erörtert wird, ist natürlich Gott: Ja, Kant identifiziert das zur Stützung der Thesis angeführte Argument mit dem hergebrachten kosmologischen Argument (vgl. A456/B484). Somit bildet die vierte Antinomie den wichtigsten Berührungspunkt zwischen der rationalen Kosmologie einerseits und der rationalen Theologie, die im letzten Hauptteil der Dialektik aufgegriffen wird, andererseits. Man sollte jedoch beachten, daß die Kosmologie die Gottesidee nur behandeln kann, indem sie diese Idee ihrer eigenen Perspektive anpaßt, das heißt, indem sie Gott als ein Wesen betrachtet, das der Welt entweder als ihr Teil oder als ihre Ursache zugehört, das heißt, indem sie keine radikale Unterscheidung zwischen Gott und Welt zuläßt.
3. Das Interesse der Vernunft (A462/B490- A476/B504} Die Fragen, um die es in den Antinomien geht, sind letzte Fragen. Sie betreffen die "höchsten und angelegensten Zwecke der Menschheit" (A4634/B491-2). Die Frage, ob die Seele eine unteilbare Einheit ist, ob es Freiheit gibt, ob eine höchste Ursache der Welt existiert - das sind Fragen über die letzten Belange der Menschen. So kann es uns nie gleichgültig sein, wie diese Fragen beantwortet werden. Es steht für uns etwas auf dem Spiel, und verschiedenen menschlichen Interessen ist durch verschiedene Antworten auf diese Fragen unterschiedlich gedient. Um die volle Bedeutung der Antinomien für uns Menschen deutlich zu machen, erörtert Kant eingehend, wie wir uns verhalten würden, wenn wir "nicht den logischen Probirstein der Wahrheit, sondern bloß unser Interesse befragen" (A465/B493). Anders gesagt, er versucht zu zeigen, wie sich die beiden einander in den Antinomien widerstreitenden Positionen zu verschiedenen Interessen verhalten. Zuerst nennt er die beiden Positionen. Die in jeder Antinomie von der Antithesis vertretene Position ist der reine Empinsmus. Die Thesis dagegen vertritt den Dogmatismus. Letzterer zeichnet sich dadurch aus, daß er zusätzlich zu der empirischen Erklärungsweise noch intelligible Anfänge voraussetzt. Dann betrachtet Kautjede Position im Verhältnis zu unterschiedlichen Interessen.
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Er erörtert den Dogmatismus zuerst. Er betont dessen "gewisses praktisches Interesse, woran jeder Wohlgesinnte, wenn er sich auf seinen wahren Vortheil versteht, herzlich theilnimmt" (A466/B494). Ausschlaggebend ist, daß die Behauptungen auf Seiten der Thesis - Behauptungen wie die der Unzerstörbarkeit und Freiheit der Seele, der Existenz eines höchsten Wesen - die "Grundsteine der Moral und Religion" sind. Der Dogmatismus diene einem spekulativen Interesse: " ... wenn man die transeendentale Ideen auf solche Art annimmt und gebraucht, so kann man völlig a prion· die ganze Kette der Bedingungen fassen und die Ableitung des Bedingten begreifen" (A466-7 /B494-5 ). Wichtig ist, daß die Behauptungen auf Seiten der Thesis, die zu einem Unbedingten in Gestalt eines ersten, unbedingten Gliedes, zu einem intelligiblen Anfang gelangen, den Regreß (vom Bedingten zur Bedingung) zu einem echten Abschluß bringen, so daß man wirklich die gesamte Reihe in den Griff bekommt. Der Dogmatismus hat auch den Vorteil der Beliebtheit. Der gemeine Verstand findet nichts Rätselhaftes an dem Begriff eines ersten Gliedes oder intelligiblen Anfangs; er findet sogar Trost und Richtung in solchen Begriffen. Dagegen kann der gemeine Verstand "an dem ratlosen Aufsteigen vom Bedingten zur Bedingung, jederzeit mit einem Fuße in der Luft, gar keinen Wohlgefallen finden" (A467 /B495). Auf der anderen Seite steht der Empirismus. Er hat nicht den Vorzug, dem praktischen Interesse zu dienen. Im Gegensatz zum Dogmatismus scheint er alle Unterstützung für Moral und Religion sowie alle Kraft derselben zu zerstören. Dafür dient der Empirismus dem spekulativen Interesse weit wirksamer als der Dogmatismus. Der Empirismus zwingt den Verstand, in seinem ihm zukommenden Bereich zu bleiben, nämlich dem der möglichen Erfahrung, und beharrt darauf, daß keinerlei Notwendigkeit besteht, diesen Bereich zu verlassen und Zuflucht zu Ideen zu nehmen. Der Empirismus hindert den Verstand daran, in die Sphäre der transzendenten Begriffe hinüberzugreifen, wo er der Bindung an jegliche Beweise enthoben wäre. Somit dient der Empirismus der Dämpfung von "Vorwitz und Vermessenheit". Und bliebe der Empirist auf dieser Ebene, "so würde sein Grundsatz eine Maxime der Mäßigung in Ansprüchen, der Bescheidenheit in Behauptungen und zugleich der größtmöglichen Erweiterung unseres Verstandes durch den eigentlich uns vorgesetzten Lehrer, nämlich die Erfahrung, sein" (A470fB498). Jedoch liegt das Problem darin, daß der Empirismus selbst zum Dogmatischen neigt. Er wird zur dogmatischen Leugnung des vom Dogmatismus Behaupteten, einer Leugnung von allem, was jenseits der empirischen Erkenntnis liegen würde. Damit "fällt er selbst in den Fehler der Unbescheidenheit, der hier um desto tadelbarer ist, weil dadurch dem praktischen Interesse der Vernunft ein unersetzlicher Nachtheil verursacht wird" (A471/B499). So wird deutlich, wie in der Gegenüberstellung von Dogmatismus und Empirismus der Widerstreit zwischen Vernunft und Verstand seine Verkörperung findet. Schließlich ist der Empirismus allgemein
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unbeliebt, da "Gemächlichkeit und Eitelkeit" (A4 73/BSOl) den Dogmatismus unterstützen. Kant fügt noch eine Erörterung eines weiteren Interesses hinzu, des architektonischen Interesses der Vernunft. Insbesondere in diesem Interesse läßt sich ein Hinweis auf das Wesen der Vernunft als eines Sammelns erkennen. "Die menschliche Vernunft ist ihrer Natur nach architektonisch," sagt Kant, das heißt, "sie betrachtet alle Erkenntnisse als gehörig zu einem möglichen System" (A4 74/B502). Wenn die Erkenntnis zu einem System gehört, so ist das gleichbedeutend damit, daß die verschiedenen Erkenntnisse zusammen eine Einheit bilden. So verknüpft Kant das architektonische Interesse der Vernunft damit, daß diese "nicht empirische, sondern reine Vernunfteinheit a prion· fordert" (A475fB503). In ihren Anfängen mangelt es der Erkenntnis an Einheit. Noch auf der Ebene, wo sie schon völlig als Erkenntnis ausgewiesen ist, auf der Ebene des Verstandes, weist sie Bruchstückhaftigkeit auf. Die Vernunft verlangt die Beseitigung dieser Bruchstückhaftigkeit und strebt danach, die Erkenntnis in eine letzte Einheit zu sammeln. Diesem architektonischen Interesse dienen die Thesen der verschiedenen Antinomien, dient der Dogmatismus. Im Kontext des Begriffs des Sammelns ausgedrückt bedeutet das: Die These stellt in jedem Falle den Vorstoß nach oben dar, der das Sammeln bruchstückhafter Erkenntnis in eine Einheit vollenden würde, wenn ihm nichts in den Weg träte. Die empiristische Position dagegen ist in den Antithesen der Antinomien vertreten und behindert dieses Interesse. Sie bewirkt, daß "die Vollendung eines Gebäudes von Erkenntnissen gänzlich unmöglich" gemacht wird (A474/B502). Das bedeutet, daß die Antithesis in jedem Falle die Kraft nach unten verkörpert, welche die menschliche Erkenntnis an die Ebene des Verstandes mit der daraus folgenden Fragmentierung ketten würde, wenn ihr nichts in den Weg träte. Daher wird in dem Widerstreit zwischen Thesis und Antithesis der Widerstreit zwischen dem nach oben strebenden Sammeln der Vernunft und der nach unten drängenden Kraft des Verstandes dargestellt jene Befürwortung des bloßen Verstandes, welche die Einheit des Sammelns der Vernunft zerschlagen würde. Es läßt sich vermuten, daß eine Auflösung der Antinomien, eine Beilegung des Widerstreits zwischen Vernunft und Verstand, die menschliche Erkenntnis in einem Zustand des Gleichgewichts zwischen dem aufwärtsgerichteten Drang der Vernunft und der nach unten drängenden Kraft des Verstandes halten würde. 4. Die kritische Lösung der Antinomien (A4 76/B504- A507 /B535) Kant hat gezeigt, wie die kosmologischen Ideen entspringen. Er hat die Struktur der Bewegung des Schließens verfolgt, wodurch die Reihenkategorien in kosmologische Ideen umgebildet werden; und er hat angedeutet, wie der dieser Bewegung eigene Widerstreit zwischen Vernunft und Ver-
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stand, bzw. der Widerstreit zwischen den beiden Formen, die das Unbedingte annehmen kann, dazu dient, die Vernunft bei ihrer Suche nach Einheit in die Uneinigkeit mit sich selbst zu zwingen. Diese Uneinigkeit hat Kant in seiner Darstellung der vier Antinomien dargelegt. Sein Hinweis darauf, wie die Fragen der Antinomien in verschiedene menschliche Interessen hineinspielen, hat schließlich sowohl die Dringlichkeit als auch die Schwierigkeit einer kritischen Auflösung der Antinomien verdeutlicht. Um eine solche Auflösung vorzubereiten, zeigt Kant sodann, daß sich die Fragen, um die es in den Antinomien geht, völlig und endgültig beantworten lassen. In anderen Worten sucht er zu beweisen, daß die rationale Kosmologie eine jener Wissenschaften ist, bei denen "die Antwort aus denselben Quellen entspringen muß, daraus die Frage entspringt" (A4 76/ B504), so daß man sich bei den in diesen Fragen zur Debatte stehenden Angelegenheiten nicht auf unvermeidliche Unwissenheit berufen kann. Wie aber müssen diese Angelegenheiten beschaffen sein, damit dem so ist? Wie müssen sie beschaffen sein, damit es keine letztlich unbeantwortbaren Fragen gibt, damit die Mittel, die zum Stellen der Frage erforderlich sind, auch für deren Beantwortung ausreichen? Die Streitfragen in den Antinomien verwenden die allgemeine kosmologische Idee der Welt. Es sind Fragen über die Idee - oder genauer, über den Gegenstand dieser Idee, den ihr entsprechenden Gegenstand, die Welt selbst. Unter Verwendung dieser Idee wird gefragt, ob die Welt selbst einen Anfang in der Zeit, Grenzen im Raum, etc. hat. Wie könnte man gewöhnlicherweise bei der Beantwortung solcher Fragen vorgehen? Man würde über den bloßen Begriff, wie er in der Frage vorkommt, hinausgehen und den Gegenstand dieses Begriffs untersuchen. Eine solche Untersuchung könnte vielleicht ausreichen, um die Frage beizulegen; aber sie könnte auch bei der Beantwortung scheitern, wenn der Gegenstand so beschaffen wäre, daß er in bestimmter Hinsicht verborgen bliebe. Dann wäre man gezwungen, die Frage unbeantwortet zu lassen; und man könnte sozusagen dem unbekannten Gegenstand die Schuld an der eigenen Unwissenheit geben. Nun möchte Kant zeigen, daß diese Art Situation im Falle der Antinomien nicht vorliegt. Hier kann man die Frage nicht einfach offenlassen und dem unbekannten Gegenstand die Schuld an der eigenen Unwissenheit geben. Denn im Falle der kosmologischen Ideen gibt es keinen entsprechenden Gegenstand außerhalb der Idee, und es kann ihn auch nicht geben. Daher gäbe es über die Frage und die darin enthaltene Idee hinaus nichts, worauf man sich zu berufen hätte, um die Frage zu beantworten. Es gäbe nichts, was durch sein Verborgenbleiben die Frage unbeantwortbar machte. Es gilt also zu zeigen, daß "eben derselbe Begriff, der uns in den Stand setzt zu fragen, durchaus uns auch tüchtig machen muß, auf diese Frage zu antworten, indem der Gegenstand außer dem Begriffe gar nicht angetroffen wird" (A477/B505). Kants Beweis dafür, daß es keinen der kosmologischen Idee entsprechenden Gegenstand geben kann, erfolgt in zwei Schritten. Erstens gilt es zu be-
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achten, daß die kosmologische Idee kein Ding an sich als ihren Gegenstand haben kann, der seinem Wesen nach verborgen wäre und somit die Fragen unbeantwortbar machen würde. Daß die Idee keinen solchen Gegenstand haben kann, ergibt sich aus dem Wesen der Bewegung des Schließens, worin diese Idee ihren Ursprung hat: Die Bewegung ist kein Sprung von Erscheinungen zu Dingen an sich, sondern bleibt vielmehr innerhalb der Ordnung der Erscheinungen. Die kosmologischen Ideen (das heißt, die grundlegende Idee, die Idee von Welt, in den verschiedenen kategorialen Hinsichten betrachtet) sind Ideen der Vollständigkeit in der Synthesis der Erscheinungen. Das unterscheidet sie von allen anderen transzendentalen Ideen und ist letztlich dafür verantwortlich, daß sie allein so beschaffen sind, daß keine Frage unbeantwortbar bleiben kann. Der zweite Teil des Beweises bringt den Nachweis, daß es in der Ordnung der Erscheinungen keinen der kosmologischen Idee entsprechenden Gegenstand geben kann. In gewissem Maße folgt das aus eben ihrem Wesen als Idee: Es gibt keine der Idee von Welt entsprechenden Gegenstände. Jedoch ist nicht nur zu zeigen, daß es keinen solchen Gegenstand gibt, sondern auch, daß es keinen solchen Gegenstand geben kann, daß ein solcher Gegenstand unmöglich ist. In diesem Zusammenhang ist die Möglichkeit im Sinnes des ersten Postulats des empirischen Denkens zu verstehen. Sie bedeutet die Obereinstimmung mit den formalen Bedingungen der Erfahrung. So zeigt Kant weiterhin, daß dem, was in den kosmologischen Ideen gedacht wird, diese Obereinstimmung fehlt, insbesondere, .daß ihm die Obereinstimmung mit den Bedingungen des Verstandes fehlt: Wenn ich demnach von einer kosmologischen Idee zum voraus einsehen könnte, daß, auf welche Seite des Unbedingten der regressiven Synthesis der Erscheinungen sie sich auch schlüge, so würde sie doch für einen jeden Verstandesbegrzff entweder zu groß oder zu klein sein: so würde ich begreifen, daß, da jene doch es nur mit einem Gegenstande der Erfahrung zu thun hat, welcher einem möglichen Verstandesbegriffe angemessen sein soll, sie ganz leer und ohne Bedeutung sein müsse, weil ihr der Gegenstand nicht anpaßt (A486fB514). So macht zum Beispiel im Falle der ersten Antinomie die in der Antithesis formulierte Sicht des Unbedingten, daß die Welt keinen Anfang hat, diese zu groß. Denn der Verstand hat es mit einem sukzessiven Regreß zu tun, der die ganze Ewigkeit, die verstrichen wäre, nie erreichen kann. Dagegen macht die in der Thesis formulierte Sicht, daß die Welt einen Anfang hat, diese zu klein. Denn der Verstand fordert immer weiteren Regreß von jedem derartigen angeblichen Anfang. Kant zeigt, daß diese Lage bei allen Antinomien vorliegt, so daß in keinem Falle eine der Idee entsprechende Erscheinung auch nur möglich wäre. Kant gelangt zu dem Schluß, daß die kosmologische Idee keinen Bezug auf ein Objekt hat. Daher schreibt er:
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Wenn wir darüber aus unseren eigenen Begriffen nichts Gewisses sagen und ausmachen können, so dürfen wir nicht die Schuld auf die Sache schieben, die sich uns verbirgt; denn es kann dergleichen Sache (weil sie außer unserer Idee nirgends angetroffen wird) gar nicht gegeben werden, sondern wir müssen die Ursache in unserer Idee selbst suchen (A481-2/ B509-10). Kant ist nun dazu bereit, diese Suche aufzunehmen. Eigentlich verlangt die kritische Lösung wenig mehr als die einfache Anwendung des eben erarbeiteten Resultats. Die Idee der Welt als ganzer hat keinen Gegenstand. In anderen Worten existiert die Welt als ganze nicht, und alles, was als Gegenstand außer dem Begriff existiert, ist bedingt, ist weniger als die Welt als ganze, ist partiell, bruchstückhaft. Somit läßt sich zum Beispiel im Hinblick auf die erste Antinomie sagen: Die Welt ist weder ein unendliches Ganzes noch ein endliches Ganzes, weil sie überhaupt kein Ganzes ist. In Kants Worten: "Daher, wenn diese [die ReihederErscheinungen]jederzeit bedingt ist, so ist sie niemals ganz gegeben, und die Welt ist also kein unbedingtes Ganzes, existirt also auch nicht als ein solches, weder mit unendlicher, noch endlicher Größe" (A505JB533). Dasselbe gilt im Falle der übrigen Antinomien: Die einschlägigen Reihen existieren nicht als ganze, sondern sind immer bedingt, partiell, bruchstückhaft, und in jedem Falle hat die den Charakter des Ganzen betreffende Behauptung keinerlei Bezug auf einen Gegenstand. Die Lösung wirft eine weitere Frage auf: Wie ist es möglich, daß die Welt (im Sinne einer bedingten Reihe von Erscheinungen) als Teil existieren kann, ohne auch als Ganzes zu existieren? Setzt ein Teil nicht auch immer das Ganze voraus, in bezug auf das er ein Teil ist? Das wäre an dem, wenn die Erscheinungen Dinge an sich wären: Der Teil, den man in Form einer regressiven Reihe sammeln könnte, müßte Teil eines bereits existierenden Ganzen sein. Aber Erscheinungen sind nicht Dinge an sich, und der partielle, bedingte Charakter der Reihe wird nicht von dem Bezug auf ein bereits existierendes objektives Ganzen bestimmt, sondern durch den Bezug auf das Subjekt, auf den spezifischen Charakter der der endlichen Erkenntnis zugehörigen Synthesis. Daher ist der transzendentale Idealismus, wie die Überschrift eines Abschnittes ausdrückt, der "Schlüssel zur Auflösung der kosmologischen Dialektik". Eine andere Formulierung der kritischen Lösung, eine Formulierung, die auf Grundlegenderes verweist, läßt sich wiedergeben, indem man dem Schluß, in dem die kosmologischen Ideen ihren Ursprung haben, die Form eines Syllogismus gibt. Der Syllogismus lautet (A497 /B525): Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Reihe aller seiner Bedingungen gegeben. Gegenstände der Sinne sind uns als bedingt gegeben. Die ganze Reihe der Bedingungen der Gegenstände der Sinne ist uns gegeben.
Die kritische Lösung der Antinomien
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Dieser Syllogismus formuliert die Erweiterung der Reihenkategorien bis hin zur absoluten Vollständigkeit, das heißt, dem Schluß, wodurch diese Kategorien zu kosmologischen Ideen verwandelt werden_ Wäre der Syllogismus richtig (d.h. wären die Prämissen wahr, und wäre die Schlußfolgerung gültig), so wäre die Hervorbringung der kosmologischen Ideen objektiv gerechtfertigt und wären die Antinomien unvermeidlich. Der Widerstreit der Vernunft mit sich selbst ließe sich nicht auflösen. Jedoch ist die Schlußfolgerung nicht gültig: Hieraus erhellt, daß der Obersatz des kosmologischen Vernunftschlusses das Bedingte in transeendentaler Bedeutung einer reinen Kategorie, der Untersatz aber in empirischer Bedeutung eines bloß auf Erscheinungen angewandten Verstandesbegriffs nehmen, folglich derjenige dialektische Betrug darin angetroffen werde, den man Sophisma figurae dictionis nennt (A499/B527-8). So liegt die Täuschung darin, daß der Ausdruck "bedingt" in den beiden Prämissen in zweierlei Bedeutung verwendet wird. Im Obersatz wird er "in transcendentaler Bedeutung einer reinen Kategorie" verwendet. Hier bedeutet er das, was dem reinen Denken entspricht, eine Bedeutung, in der die Art, wie das objektive Denken an die Anschauung und deren Formen gebunden sein muß, keine Beachtung findet. Von diesem Gesichtspunkt aus läßt sich tatsächlich sagen, daß mit einem Bedingten auch alle seine Bedingungen gegeben sind, weil für das reine Denken "gegeben" einfach "vorausgesetzt" bedeutet, in dem Sinne, in dem eine Schlußfolgerung ihre Prämissen voraussetzt. In anderen Worten läßt sich sagen, daß für das reine Denken die Vollständigkeit der Bedingungen gegeben ist, eben weil das reine Denken dank seines reinen, unschematisierten Wesens keinerlei Verbindung mit dem Gegebensein hat, wie das Denken es für ein endliches Subjekt hat (mit seiner sinnlichen Anschauung und der entsprechenden Auflage, daß das Denken nur objektiv sein kann, weil es an die Anschauung gebunden ist). Dagegen wird "bedingt" in dem Untersatz in dem der endlichen Subjektivität angemessenen Sinne verwendet, "in empirischer Bedeutung eines auf bloße Erscheinungen angewand ten Verstandesbegriffs". Danach läßt sich nicht sagen, die Totalität der Bedingungen sei gegeben. Im ersten Falle, dem des Obersatzes, ist der Regreß vom Bedingten zur Bedingung ein Regreß im reinen Denken und daher seinem Wesen nach von Zeitbedingungen unabhängig: " ... da ist in der Verknüpfung des Bedingten mit seiner Bedingung keine Zeitordnung anzutreffen: sie werden an sich als zugleich gegeben vorausgesetzt" (A500/B528). In anderen Worten kann die Totalität der Bedingungen zugleich gedacht werden, das heißt, als Totalität, weil diese nicht in der Zeit "verteilt" sind, weil sich das Denken dieser Bedingungen keiner objektiven Zeitordnung unterzuordnen braucht. Jedoch liegt die Sache im Falle des empirischen Denkens, des an die Anschauung und an in ihr gegebene Gegenstände geknüpften Denkens, völlig anders. Kant macht
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diesen Gegensatz sehr deutlich: Er sagt, die Synthesis im Obersatz führe "gar nichts von Einschränkung durch die Zeit und keinen Begriff der Suczession bei sich". Und er fährt fort: "Dagegen ist die empirische Synthesis und die Reihe der Bedingungen in der Erscheinung (die im Untersatze sublimirt wird) nothwendig suczessiv und nur in der Zeit nach einander gegeben; folglich konnte ich die absolute Totalität der Synthesis und der dadurch vorgestellten Reihe hier nicht ... voraussetzen" (A500/B528-9). Das bedeutet, daß das Denken, insofern es seine Bande mit der Anschauung behält, sich der den Erscheinungen zugehörigen objektiven Zeitordnung unterzuordnen hat. Und das hindert es daran, die Totalität der Bedingungen zugleich, das heißt, als eine gegebene Totalität, zu denken. Im Kontext der kritischen Auflösung der Antinomien sind drei Schlüsse zu isolieren, die auf die Ebene unserer projektiven Auslegung verweisen. Den Ergebnissen der Transzendentalen Analytik zufolge kann das Denken nur aufgrund seiner Bindung an die Anschauung Objektivität beanspruchen, nur insofern es die Regeln für die Beherrschung des Mannigfaltigen der Anschauung bereitstellt. Es folgt daraus, daß dem reinen Denken, für das die Totalität der Bedingungen gegeben werden kann, die Objektivität fehlt. Die Behauptung aber, daß eine nichtobjektive Totalität der Bedingungen dem reinen Denken gegeben wird, ist gleichbedeutend mit der Behauptung, daß das reine Denken die Totalität setzt, weil diese Totalität über das Denken hinaus nichts ist und in keinem empirischen Sinne gegeben werden kann. Wir folgern daher: Das im Obersatz formulierte reine Denken setzt die kosmologischen Ideen. Kants syllogistische Darstellung macht deutlich, daß der den Antinomien zugrunde liegende Widerstreit der Widerstreit zwischen dem reinen Denken und einem an die Anschauung (und damit an die Erscheinungen und ihre zeitliche Ordnung) gebundenen Denken ist. Es ist ein Widerstreit hinsichtlich der Bindung des Denkensan die Zeit. Wir folgern daher: Der Widerstreit der Vernunft mit sich selbst ist ein Widerstreit über die Bindung der Vernunft an die Zeit. Weiterblickend läßt sich sagen: Der Grundwiderstreit ist derjenige zwischen dem reinen Denken, das die Einheit (die Idee), in welche die Reihe gesammelt würde, setzt, und dem Denken, das an die von der Zeit bewirkte Fragmentierung gebunden ist, an das "Verteilen" der Erscheinungen in der Zeit, dem Denken, das die Einheit nicht setzt, sondern sie aus der Fragmentierung aufbauen, das Mannigfaltige der Erscheinungen in die Einheit sammeln möchte. Diese beiden Funktionen des Denkens, diese beiden Seiten des Sammelns, fallen auseinander - letzten Endes in die einander entgegengesetzten Positionen der Antinomien. Das Sammeln des Mannigfaltigen kann sich mit der Einheit, in die das Mannigfaltige gesammelt würde, nicht messen; und die Sammelbewegung gipfelt in einem radikalen Bruch.
Der regulative Gebrauch der Vernunft
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5. Der regulative Gebrauch der Vernunft (A508/B536- A515/B543) Bis hierher hat Kant in seinen ausführlichen Erörterungen der Vernunft fast ausschließlich die Fähigkeit der Vernunft, den dialektischen Schein zu erzeugen, behandelt. Nun macht er sich daran, im Zusammenhang seiner ausführlichen Erörterungen den anderen Gebrauch der Vernunft zu entwickeln, den er bereits vor Beginn dieser Erörterungen eingeführt hatte, nämlich deren regulativen Gebrauch. Wird die Vernunft regulativ gebracht, so heißt das nicht, daß die scheinbeladenen kosmologischen Ideen ausgeschaltet werden. Im Gegenteilliegt die Forderung der Einheit, das Setzen der Ideen, im Wesen der Vernunft begründet; und deshalb ist die Illusion, zu der diese Ideen führen können. eine ,·,natürliche Illusion". Diese Ideen sind immer schon zugestanden, und das Problem liegt darin, ihren Gebrauch zu bestimmen. In den in den Antinomien gipfelnden Schlüssen werden die Ideen "konstitutiv" verwendet. Die absolute Totalität der Bedingungen, die in der Idee gedacht wird, wird als tatsächlich als Objekt gegenwärtig betrachtet. Die Idee wird betrachtet, als entspräche ihr außerhalb ihrer selbst ein Gegenstand, so daß die mit Hilfe dieser Idee aufgestellten Schlüsse, die logisch gültigen Schlüsse, mit denen sich die Thesen und Antithesen der Antinomien beweisen lassen, eine alle Grenzen möglicher Erfahrung transzendierende Erkenntnis erlauben würden. Jedoch gerät die Vernunft dabei in Widerstreit mit sich selbst. In seiner Untersuchung dieses Widerstreits hat Kant gezeigt, daß kein konstitutiver Gebrauch der kosmologischen Ideen zulässig ist, weil ihnen kein Gegenstand entsprechen kann. Der konstitutive Gebrauch verwechselt das Subjektive mit dem Objektiven, verwandelt Ideen in Gegenstände und hat somit den Charakter des dialektischen Scheins (vgl. A297 /B353; auch Kap. II, 1 ). Aber selbst wenn die Vernunft sich dieser Verkehrung enthält, bleiben die Ideen; und es bedarf des Aufzeigens, wie sie sich als bloße Ideen richtig gebrauchen lassen. Ihr richtiger Gebrauch ist regulativer Art. Das heißt, sie sollen den Regreß des empirischen Denkens zur Bedingung regulieren, in die richtige Bahn weisen: Der Grundsatz der Vernunft ist also eigentlich nur eine Regel, welche in der Reihe der Bedingungen gegebener Erscheinungen einen Regressus gebietet, dem es niemals erlaubt ist, bei dem Schlechthin=Unbedingten stehen zu bleiben. Er ist also ... ein Grundsatz der größtmöglichen Fortsetzung und Erweiterung der Erfahrung, nach welchem keine empirische Grenze für absolute Grenze gelten muß, also ein Principium der Vernunft, welches als Regel postulirt, was von uns im Regressus geschehen soll, und nicht anticipirt, was im Objecte vor allem Regressus an sich gegeben ist (A508-9/B536-7). In ihrem regulativen Gebrauch wird die Idee also als Regel und nicht als Idee von einem Gegenstande verwendet. Als Regel gibt sie die größtmögliche
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Erweiterung des Regresses vom Bedingten zur Bedingung auf, ohne jedoch diesen Regreß als durch das objektive Denken vollendet oder als auf Seiten des Gegenstandes verwirklicht zu setzen. Als Regel verwendet kann uns die Idee nicht sagen, "was das Object sei, sondern wie der empirische Regressus anzustellen sei, um zu dem vollständigen Begriffe des Objects zu gelangen" (A510/B538).
6. Freiheit und Notwendigkeit (A515/B544- A567/B595) Nachdem Kant so die allgemeine kritische Auflösung der Antinomien erarbeitet hat, wendet er sich endlich der Anwendung dieser Lösung auf die besonderen Umstände der einzelnen Antinomien zu. Für die ersten beiden Antinomien fügt er dem in der allgemeinen Lösung Gesagten wenig hinzu. Bei diesen Antinomien ist sowohl die These als auch die Antithese für falsch zu erklären. So ist zum Beispiel die Welt weder ein endliches räumliches Ganzes noch ein unendliches räumliches Ganzes, weil sie überhaupt kein Ganzes ist. Jedoch erhebt sich mit der dritten Antinomie ein neues Problem. Kant führt es ein, indem er den Unterschied zwischen mathematischen und dynamischen Ideen herausarbeitet, der dem in der Analytik entwickelten Unterschied zwischen mathematischen und dynamischen Kategorien entspricht. Das Ergebnis ist letztlich, daß es im Falle der dritten und vierten Antinomie nicht nötig ist, sowohl die These als auch die Antithese für falsch zu erklären. Im Gegenteil ergibt sich die Möglichkeit, beide zugleich für wahr zu halten. Die ausführlichen Überlegungen, die zu diesem Ergebnis führen, fordern besondere Aufmerksamkeit. Kant verweist zurück auf die Unterscheidung zwischen mathematischen und dynamischen Kategorien, um die analoge Unterscheidung für die kosmologischen Ideen einzuführen. Das in diesem Zusammenhang Wesentliche an der früheren Unterscheidung ist, daß die mathematischen Kategorien (der Quantität und Qualität) eine Synthesis des Gleichartigen vorschreiben, während die dynamischen Kategorien (der Relation und Modalität) eine Synthesis des Ungleichartigen gebieten. So sind etwa eine Ursache und ihre Wirkung nicht notwendigerweise so von derselben Art, wie zwei Räume von derselben Art sein müssen. Wenden wir diese Unterscheidung nun auf die kosmologischen Ideen in bezug auf den dialektischen Schluß, worin sie entstehen, an, so bedeutet das, daß beim Regreß vom Bedingten zur Bedingung, der nach der einschlägigen Reihenkategorie ausgeführt wird, die Bedingung rni t dem Bedingten gleichartig oder ungleichartig sein wird, je nachdem, ob die erweiterte Kategorie mathematisch oder dynamisch ist. Insbesondere läßt sich im Falle der kosmologischen Ideen, um die es in der dritten und vierten Antinomie geht, die von der Vernunft geforderte unbedingte Bedingung als in entscheidender Weise mit dem Bedingten ungleichartig denken, nämlich als außer der gesamten Reihe der Erscheinungen liegend, als bloß intelligibel:
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" ... , da hingegen die dynamische Reihe sinnlicher Bedingungen doch noch eine ungleichartige Bedingung zuläßt. die nicht ein Theil der Reihe ist, sondern als bloß intelligibel außer der Reihe liegt" (A530/B558). Eine entscheidende Konsequenz der Zulassung einer solchen bloß intelligiblen Bedingung ist, daß sowohl die Vernunft als auch der Verstand ihre Forderungen erfüllt bekommen: Die Forderung der Vernunft nach dem Unbedingten wird durch diese intelligible Bedingung erfüllt, ohne daß dem Wesen des Verstandes Gewalt angetan würde, das heißt, dessen Bindung an die objektive Zeitordnung und dessen Bestehen darauf, daß keine Erscheinung eine unbedingte Bedingung sein kann. Wenn sowohl der Vernunft als auch dem Verstand Genüge getan wird, heißt das, daß deren jeweilige Forderungen einander nicht mehr widerstreiten - daß der Widerstreit zwischen Vernunft und Verstand beigelegt ist. Kant wendet sich der dritten Antinomie zu, um zu zeigen, wie sich die eben umrissene allgemeine Lösung auf diesen speziellen Widerstreit anwendet läßt. In dieser Antinomie herrscht der Widerstreit zwischen zweierlei Kausalität, der Kausalität nach der Natur und der Kausalität aus Freiheit. Um den Widerstreit zu erläutern, bietet Kant eine nähere Bestimmung der Bedeutung von Freiheit: "Dagegen verstehe ich unter Freiheit im kosmologischen Verstande das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen" (A533/B561). Dieser transzendentalen Idee der Freiheit zufolge ist die Kausalität aus Freiheit dadurch gekennzeichnet, daß die Ursache ihrerseits nicht die Wirkung einer anderen Ursache ist. Kant bemerkt, daß die Freiheit im praktischen Verstande, "die Unabhängigkeit der Willkür von der Nöthigung durch Antriebe der Sinnlichkeit", auf der transzendentalen Idee der Freiheit gründe, so daß "die Aufhebung der transeendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit vertilgen" würde (A534/B562). Wie läßt sich dann die allgemeine Lösung auf den Widerstreit in dieser speziellen Antinomie anwenden? Die Lösung liegt in diesem Falle einfach in der Möglichkeit, daß sich Freiheit nach der Natur wie auch aus Freiheit in ein und demselben Ereignis in verschiedener Hinsicht finden, insbesondere dort, wo die Kausalität aus Freiheit auf eine intelligible Bedingung außer der gesamten Reihe der Erscheinungen bezogen wird: Sie [die intelligible Ursache] ist also sammt ihrer Causalität außer der Reihe, dagegen ihre Wirkungen in der Reihe der empirischen Bedingungen angetroffen werden. Die Wirkung kann also in Ansehung der Erscheinungen als Erfolg derselben nach der Nothwendigkeit der Natur angesehen werden (A537 /B565 ). In solchem Falle läßt sich sowohl die These als auch die Antithese der dritten Antinomie aufrecht erhalten. Kant führt eine weitere Entwicklung ein: Nicht nur läßt sich eine einzelne Wirkung auf die Kausalität nach der Natur wie auch die Kausalität aus Freiheit beziehen, sondern es läßt sich auch ein einzelnes Subjekt als zugleich
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beide Arten der Kausalität verkörpernd betrachten. Das ist möglich, weil die intelligible Bedingung, die außer der gesamten Reihe der Erscheinungen gesetzt wird, einem Subjekt gehören kann, das auch eine Erscheinung ist. In anderen Worten kann ein Subjekt sowohl einen intelligiblen Charakter besitzen, dank dessen es Kausalität aus Freiheit ausübt, als auch einen empirischen Charakter, dank dessen es Kausalität nach der Natur ausübt. Letztlich beruht diese Dualität auf der Dualität von Noumenon und Phänomenon: Ein und dasselbe Subjekt kann sowohl Noumenon (intelligibel) als auch Phänomenon (Erscheinung) sein. Man sollte besonders beachten, wie Kant diesen intelligiblen Charakter im Menschen identifiziert. Im Zusammenhang mir der transzendentalen Apperzeption sagt er vom Menschen: ... [er] ist sich selbst freilich eines Theils Phänomen, anderen Theils aber, nämlich in Ansehung gewisser Vermögen, ein bloß intelligibeler Gegenstand, weil die Handlung desselben gar nicht zur Receptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann. Wir nennen dieses Vermögen Verstand und Vernunft (A546-7/B574-5). Kants These lautet, daß der intelligible Charakter im Menschen sein Charakter als transzendentales Ich ist, als eine bloß spontane, Einheit fordernde und vorschreibende Kraft, als Vernunft und Verstand, als denkendes Subjekt. Damit möchte er andeuten, daß es die Rationalität des Menschen ist, die ihm einen intelligiblen Charakter, das Vermögen der intelligiblen Kausalität, der Kausalität aus Freiheit verleiht. Jedoch verweist er nur auf diesen intelligiblen Charakter und diese Kausalität aus Freiheit, weist sie aber noch nicht nach, zeigt noch nicht, daß und wie sie ist. Ja, er kann sie im Rahmen der Kritik der reinen Vernunft auch nicht nachweisen. Denn das, was sie bezeugt, ist das "Sollen", sind die praktischen Imperative: "Daß diese Vernunft nun Causalität habe, wenigstens wir uns eine dergleichen an ihr vorstellen, ist aus den Imperativen klar, welche wir in allem Praktischen den ausübenden Kräften als Regeln aufgeben" (A54 7/B5 75 ). Hier bereitet Kant den Weg für seine Erörterung der Freiheit im Verhältnis zum Sittengesetz in der Kritik der praktischen Vernunft. Noch etwas sollte hinsichtlich des intelligiblen Charakters beachtet werden. Da er außer der gesamten Reihe der Erscheinungen liegt, ist er der Form der Erscheinungen, also der Zeit, nicht unterworfen. Ja, er könnte der Zeit nicht unterworfen sein, ohne gegen sein eigenes Wesen als intelligble Kausalität zu verstoßen. Denn wäre er der Zeit unterworfen, so wäre er dem unterworfen, was für die Zeitbestimmung erforderlich ist, nämlich den Kategorien und damit insbesondere der Kategorie der Kausalität der Natur. So schreibt Kant: Die reine Vernunft, als ein bloß intelligibeles Vermögen, ist der Zeitform und mithin auch den Bedingungen der Zeitfolge nicht unterworfen. Die Causalität der Vernunft im intelligibelen Charakter entsteht
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nicht, oder hebt nicht etwas zu einer gewissen Zeit an, um eine Wirkung hervorzubringen (A551-2/B579-80). Kant beschließt seine Erörterung der dritten Antinomie mit der sehr präzisen Unterscheidung zwischen dem, was er gezeigt hat, und dem, was er zu zeigen nicht beabsichtigte. Was hat er nicht bewiesen? Er hat nicht die Wirklichkeit der Freiheit bewiesen, nicht bewiesen, daß Freiheit wirklich existiert. Er hat nicht einmal die Möglichkeit von Freiheit bewiesen, jedenfalls nicht in dem in den Postulaten des empirischen Denkens bestimmten ma teriellen Sinn von Möglichkeit. So betont er abschließend: "Daß nun diese Antinomie auf einem bloßen Scheine beruhe, und daß Natur der Causalität aus Freiheit wenigstens nicht widerstreite, das war das einzige, was wir leisten konnten, und woran es uns auch einzig und allein gelegen war" (A558/ B586). Kant hat gezeigt, daß zwischen Thesis und Antithesis dieser Antinomie kein notwendiger Widerspruch besteht, daß es logisch möglich ist, daß beide wahr sind, daß beide zugleich gedacht werden können. Die Anwendung der allgemeinen Lösung der vierten Antinomie verläuft grundsätzlich wie die der dritten. Ein absolut notwendiges Wesen läßt sich als außer der gesamten Reihe zufälliger Erscheinungen denken. Somit ist es logisch möglich, daß es in der intelligiblen Ordnung ein solches Wesen gibt (und daß also die Thesis erfüllt und die Vernunft zufriedengestellt ist), daß aber in der Ordnung der Erscheinungen nur Zufälligkeit herrscht (und daß also die Antithesis erfüllt und der Verstand zufriedengestellt ist). Kant erläutert: Also bleibt uns bei der vor uns liegenden scheinbaren Antinomie noch ein Ausweg offen, da nämlich alle beide einander widerstreitende Sätze in verschiedener Beziehung zugleich wahr sein können, so daß alle Dinge der Sinnenwelt durchaus zufällig sind, mithin auch immer nur empirisch bedingte Existenz haben, gleichwohl von der ganzen Reihe auch eine nichtempirische Bedingung, d.i. ein unbedingt nothwendiges Wesen, stattfinde. Denn dieses würde, als intelligibele Bedingung, gar nicht zur Reihe als ein Glied derselben ... gehören ... (A560/B588). Zwischen der Auflösung der dritten und der vierten Antinomie besteht nur ein grundlegender Unterschied. Im Falle der Kausalität wurde nur die Kausalität des handelnden Subjekts als intelligibel gedacht, und somit konnte das Subjekt auch als Erscheinung betrachtet werden. Kant formuliert den Gegensatz: " ... hier aber [müßte] das nothwendige Wesen ganz außer der Reihe der Sinnenwelt (als ens extramundanum) und bloß intelligibel gedacht werden" (A561/B589). Das vollkommen notwendige Wesen müßte als in jeder Hinsicht außer allen Erscheinungen und nicht als selbst auch eine Erscheinung gedacht werden. Welche Folgen hat die Kritik der Antinomie der reinen Vernunft für die rationale Kosmologie?
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Wir haben gesehen, daß die Antinomien die gesamte Skala der transzendentalen Ideen umfassen, nicht nur die Idee der Welt, sondern auch die der Seele (in der zweiten Antinomie) und die Gottes (in der vierten Antinomie). Die Kosmologie neigt also dazu, ihren Bereich so auszudehnen, daß sie sich praktisch mit der Metaphysica specialis als ganzer deckt. Die Auflösung der dritten und vierten Antinomie dient dazu, diese kosmologische Ausweitung in Schach zu halten, die kosmologische Vernunft zu zügeln, das heißt, die anderen Disziplinen der Metaphysik vor übergriffen der rationalen Kosmoloc gie zu schützen. Was zumindest die logische Möglichkeit betrifft, wird die Kausalität aus Freiheit außer der Reihe der Erscheinungen gesetzt. Das heißt, das Problem der Freiheit wird der Kosmologie entzogen, und es werden Vorbereitungen dazu getroffen, dieses Problem der Sphäre der Kritik der praktischen Vernunft zuzuweisen. Man könnte weiter annehmen, daß das Problem der Freiheit nichts ist als das Problem des Ich in seiner echtesten Form, das die Psychologie bestimmende Problem. Diese Annahme findet darin Unterstützung, wie Kant die Freiheit der Apperzeption und der Vernunft zuordnet, das heißt, dem Begriff des Ich, nachdem dieser durch die Kritik des Paralogismus gereinigt worden ist. Ähnlich wird in der vierten Antinomie ein vollkommen notwendiges Wesen außer den Erscheinungen gesetzt und somit das Gottesproblem der Kosmologie entzogen. So zerschlägt die kritische Lösung die Vorherrschaft der kosmologischen Vernunft. Oder anders gesagt: Es wird die Einheit zerstört, welche die kosmologische Vernunft zwischen allen transzendentalen Ideen errichten wollte, indem sie diese alle auf Erscheinungen (auf die Welt) bezog. Die kritische Lösung bestätigt erneut die Bruchstückhaftigkeit, welche diese höchsten Einheiten trennt. Sie bezeugt somit, daß sich die Einheiten der Vernunft, die Ideen, worin die Vernunft alle Mannigfaltigkeit sammeln möchte, ihrerseits nicht auf eine Einheit bringen lassen, sondern eine Dreifaltigkeit bleiben.
7. Projektive Auslegung der Antinomien Welcher Art ist das Sammeln in den Antinomien? Es ist bereits im Zusammenhang mit Kants syllogistischer Darstellung der einschlägigen Bewegung des Schließens thematisiert worden. Ober- und Untersatz drücken je eine Seite des Sammelns aus. Auf der einen Seite setzt das reine Denken die kosmologische Idee als die Einheit für das Sammeln. Auf der anderen Seite möchte das empirische (zeitgebundene) Denken das Mannigfaltige (das heißt die Reihe der Bedingungen) in die Einheit sammeln. Welche Rolle spielt das Problem der Fragmentierung für dieses Sammeln und für dessen Ergebnis? Wie in jedem Falle ist das Sammeln darauf gerichtet, eine gewisse Fragmentierung zu überwinden. Es möchte ein gewisses bruchstückhaftes Mannigfaltiges in eine Einheit und Vollständigkeit sammeln. Welcher Art ist nun die Fragmentierung, die in den Antinomien über-
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wunden würde? Ganz allgemein gesprochen ist es die Fragmentierung von Welt, d.h. die Fragmentierung, die darin liegt, daß die Welt immer partiell ist, partiell in jeder der vier möglichen Hinsichten, in der sie sich betrachten läßt (raumzeitlicher Ausdehnung, Teilung, Kausalität und Abhängigkeit des Daseins). Die Fragmentierung ist das Ergebnis der Unvollständigkeit der verschiedenen, der Welt zukommenden Kategorienreihen. Das sollte man der Fragmentierung gegenüberstellen, um die es in den Paralogismen ging und wo der Grund in der fehlenden Selbsterkenntnis des Menschen, dessen Trennung von sich selbst durch Unwissenheit lag. In den Paralogismen war es eine Fragmentierung im Menschen selbst; in den Antinomien ist es eine Fragmentierung in den Erscheinungen. Die Fragmentierung, die in den Antinomien überwunden würde, gehört der Ebene des Verstandes an. Es ist ein Unvollständigkeit, die nach dem vom reinen Verstand geleiteten Sammeln zurückbleibt. Worauf beruht sie? Warum bleibt die Fragmentierung noch nach- dem Sammeln des reinen Verstandes zurück? Warum herrscht noch nach der Synthesis a priori eine derartige Fragmentierung? Allgemein gesagt beruht diese Fragmentierung auf der Fragmentierung des Denkens. Genauer gesagt bleibt die Fragmentierung zurück, weil der Verstand seinen Gegenstand für Erscheinungen setzt, Objektivität setzt, das transzendentale Objekt setzt. Folglich bleibt das Erkennen von dem Gegebensein der Erscheinungen abhängig und somit der Form deren Gegebenseins, der Zeit, unterworfen. Und die Zeit fragmentiert die Erscheinungen, verteilt sie so, daß sie nie mehr als partiell gegeben sind. Die Grundlage der Fragmentierung ist die Tatsache, daß der Verstand der im Schematismus ausgedrückten sinnlichen Bedingung unterworfen ist, daß die von ihm gesetzten Einheiten (Kategorien) Einheiten sind, in welche die Erscheinungen durch die Vermittlung der Zeit, und damit partiell, gesammelt werden. Was in der Bewegung des Schließens geschieht, ist, daß das Denken (die Vernunft) diese Einheiten auf einer Ebene setzt, auf der sie von einem derartigen Bezug auf Zeit und Erscheinungen frei wären. Die Vernunft setzt sie als reine und nicht als schematisierte Einheiten, nicht als Einheiten, die Zeitbestimmung vorschreiben können und damit für das Sammeln von Erscheinungen geeignet sind. Und so gelingt es dem zeitgebundenen Denken, wenn das Sammeln der Vernunft wirklich einsetzt, nicht die Reihe der Erscheinungen in diese Einheiten zu sammeln. Die Einheiten sind nicht für Erscheinungen geeignet, und gleichgültig in welcher Form sie gesetzt sind, ob als erstes Glied oder als ganze Reihe, herrscht mit den durch zeitgebundenes Denken gesammelten Erscheinungen Uneinigkeit. Das Sammeln scheitert, und anstelle der Einheit, welche die Vernunft errichten würde (wenn das Sammeln erfolgreich wäre), wird die Vernunft in Widersprüche verwickelt, in die äußerste Uneinigkeit zwischen einander widersprechenden Behauptungen, der Thesis und Antithesis. Die Vernunft wird in Widersprüche geworfen, und fundamentale Uneinigkeit mit sich selbst.
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Das Sammeln der Vernunft in den Antinomien
Als Folge dieses Scheiteros und des sich daraus ergebenden Widerstreits der Vernunft mit sich selbst stehen ihr zwei Alternativen offen, zwei mögliche Richtungen, in die das Sammeln umgeleitet werden kann, um den Widerstreit der Vernunft mit sich selbst aufzulösen. Das Sammeln läßt sich in Richtung des regulativen Gebrauchs umleiten. Wir haben schon gesehen, daß die Vernunft in ihrem regulativen Gebrauch zurück in eine wesentliche Beziehung zum Verstand gebracht wird, im Gegensatz zum konstitutiven Gebrauch, bei dem sie über den Bereich der Erfahrung und des Verstandes hinausgeht. Insbesondere stellt die Vernunft in ihrem regulativen Gebrauch für den empirischen Gebrauch des Verstandes richtungweisende Einheiten bereit und wird somit in den Dienst des Verstandes gestellt. Jedoch besteht ihr Dienst dem Verstande gegenüber in ihrem Beherrschen des Verstandes, in dem Sinne, daß sie dem Verstande die Regeln für seinen empirischen Regreß liefert. Indem die Funktion der Vernunft auf diese Weise auf das Regulative beschränkt wird, wird das errichtet, was Kant "eine dauernde und friedliche Herrschaft der Vernunft über den Verstand und die Sinne" nennt. Was jedoch im gegenwärtigen Zusammenhang wichtig ist, ist, daß die Einschränkung der Vernunft auf ihren regulativen Gebrauch nicht nur die Vernunft in ihrem wahren Dienst dem Verstande gegenüber etabliert, sondern das auch in einer Weise tut, daß dadurch der (in den Antinomien dargelegte) Widerstreit der Vernunft mit sich selbst beigelegt wird. Bei diesem Widerstreit besteht das Grundproblem in der Ungleichheit der vom reinen Denken gesetzten Einheit und dem Sammeln der Erscheinungen durch das empirisch gebundene Denken. Ein wirklich konstitutiver Gebrauch der Vernunft würde eine Oberwindung dieser Ungleichheit erfordern. Der Widerstreit, an dem die Vernunft scheitert, ergibt sich daraus, daß er sich nicht überwinden läßt,. Dagegen werden beim regulativen Gebrauch die Ungleichheit und deren Unvermeidlichkeit vorausgesetzt: Verlangt wird nicht, daß das Sammeln der Erscheinungen sich mit der vom reinen Denken gesetzten Einheit messen kann, sondern nur, daß das Sammeln auf eine solche Einheit hin gerichtet ist, daß die Idee regulativ, richtungweisend für das Sammeln ist. So wird statt des Widerstreits der aus der Forderung nach der Oberwindung dieser Ungleichheit entspringt, ein Verhältnis zwischen den beiden Seiten (dem reinen und dem empirischen Denken) geschaffen, das die Ungleichheit (und deren Unvermeidlichkeit) mit der Forderungnach deren Oberwindung in Einklang bringt. Einerseits bleibt die Ungleichheit bestehen: Der empirische Regreß leistet nie die absolute Totalität, entspricht nie der vom reinen Denken gesetzten Idee. Andererseits bleibt die Forderung nach der Oberwindung der Ungleichheit in Kraft als die Herrschaft der Vernunft über den Verstand, als die Forderung, daß der Verstand in Richtung auf die absolute Totalität fortschreitet, nach ihr strebt. Indem die Vernunft so in ihren regulativen Gebrauch umgeleitet wird, wird sie mit sich selbst in Einklang gebracht, vom Widerstreit, von der Uneinigkeit mit sich selbst befreit.
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Die Vernunft läßt sich noch in eine andere Richtung umleiten, nämlich in die der praktischen Vernunft. Auf diese Richtung wird besonders in der Lösung der dritten Antinomie verwiesen. Die Vernunft setzt ein erstes Glied außer der Kausalreihe, "außer" im Sinne des Noumenalseins. Dieses Setzen dient der Auflösung des in der Antinomie formulierten Widerstreits. Jedoch hat dieses Setzen etwas Merkwürdiges an sich. Welches ist das erste von der Vernunft außer der Kausalreihe gesetzte Glied? Es ist einfach sie selbst. Zudem kann sie wirklich ein erstes Glied sein, weil sie noumenal und ihre Kausalität somit intelligibel, das heißt, nicht zeitgebunden, ist. Und als echtes erstes Glied gelingt es ihr tatsächlich, ein Sammeln der Reihe herbeizuführen. Indem sich also die Vernunft selbst als Freiheit, das heißt, als praktisch, setzt, kann sie das Sammeln leisten, das sie als kosmologische (spekulative) Vernunft nicht zu leisten vermag. An diesem Punkt beginnt sich das Primat der praktischen Vernunft anzukündigen. Jedoch hat Kant nur gezeigt, daß sich die Vernunft als frei setzen kann, das heißt, daß sie bei diesem Setzen nicht wiederum in einen Widerspruch, in die Uneinigkeit mit sich selbst verfällt. Die nächste Frage ist: Wie läßt sich ein Grund für dieses Setzen aufweisen, etwas, was von der Vernunft fordert, daß sie sich selbst setzt? Ein Kernstück der praktischen Vernunft Kants soll das Sittengesetz als einen solchen Grund erweisen.
FüNFTES KAPITEL DAS SAMMELN DER VERNUNFT IM IDEAL
Der dritte der drei dialektischen Schlüsse heißt das Ideal der reinen Vernunft. Dies ist das Thema des dritten Kapitels von Kants kritischer Untersuchung der dialektischen Schlüsse der reinen Vernunft. Der kurze Einführungsabschnitt erklärt vor allem ganz allgemein die Be· deutung des Wortes "Ideal". Entscheidend hierin ist die Behauptung: " ... dasjenige ... , was ich das Ideal nenne, und worunter ich die Idee nicht bloß in concreto, sondern in individuo, d.i. als einzelnes, durch die Idee allein bestimmbares oder gar bestimmtes Ding, verstehe" (A568/B596). Das heißt: Ein Ideal ist eine Idee in einem einzelnen, oder, noch genauer, das Ideal ist ein einzelnes, worin die Idee anwest. Jedoch muß dies ein Anwesen besonderer Art sein. Es geht nicht nur darum, daß die Idee durch das einzelne exemplifiziert wird; das einzelne ist nicht nur ein Anwendungsfall dessen, was allgemein in der Idee vorgestellt wird. Vielmehr soll Kants Erklärung besagen, daß die Idee so anwest, daß sie das einzelne durchgängig bestimmt. Ein Ideal ist ein durch die Idee völlig bestimmtes einzelnes, ein einzelnes, dessen Bestimmung durchgängig durch die Idee vorgeschrieben ist. Ein Ideal ist eine Idee in der Form eines einzelnen, wenn auch noch immer im Bereich der Begriffe, nicht etwa im Bereich existierender Dinge. Streng genommen ist ein Ideal ein Begriff eines einzelnen, das völlig bestimmt ist durch einen allgemeinen Begriff, der den besonderen Charakter einer Idee hat. Kant merkt an, ein Ideal habe den Charakter eines "Richtmaßes" oder "Urbildes". Weil ein Ideal ein durch die Idee durchgängig bestimmtes einzelnes (bzw. der Begriff eines solchen) ist, kann es als Maßstab dienen, an dem sich messen läßt, in welchem Grade andere Dinge dem in der Idee ausgedrückten Bestimmungskomplex entsprechen. Kant erwähnt das Beispiel des Stoischen Ideals des Weisen. Zwar existiert dieses Ideal, das mit der Idee der Weisheit zusammenfällt, nur in Gedanken; aber es kann seinen Zweck als Urbild oder Maßstab erfüllen, woran sich die Weisheit einzelner Menschen messen läßt. Kant besteht darauf, daß die menschliche Vernunft Ideale enthält. Wie die Ideen sind auch die Ideale nicht willkürlich erfunden, sondern entspringen vielmehr dem Wesen der Vernunft selbst; und indem sie uns Maßstäbe an die Hand geben, leisten sie der Vernunft einen unentbehrlichen Dienst. Dennoch sind sie eindeutig jenseits der Grenzen möglicher Erfahrung angesiedelt und entbehren deshalb jeglicher objektiver Realität. Sie lassen sich in keinem Beispiel realisieren. Ja, der Versuch einer solchen Realisierung wirkt ihrer eigentlichen praktischen Funktion entgegen.
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Das Sammeln der Vernunft im Ideal
1. Das transzendentale Ideal (A571/B599- A583/B611) Kant wendet sich dann einem besonderen Ideal, dem transzendentalen Ideal, zu. Dieses transzendentale Ideal ist jedoch nicht einfach eines unter anderen; es wird sich als das einzige wahre Ideal der Vernunft erweisen. Kants Darstellung dieses exzeptionellen Ideals ist sehr konzentriert, weshalb ich (wenngleich im Rahmen der doppelten Auslegung) versuchen werde, den Kontext auszufüllen, woraus sich Kants Entwicklung dieser Frage speist. Das allgemeine Wesen der Vernunft ist der Art, daß die Vernunft die Einheit setzt, wodurch die Mannigfaltigkeit überwunden würde, die auf der Ebene der Gegenstände der Erfahrung, der Ebene des Verstandes, verbleibt. Ein solches Setzen - in seinem vollen Ausmaß und seiner vollen Struktur genommen - ist das dialektische Schließen. In jeder Art des dialektischen Schließens wird die Einheit im Verhältnis zu Gegenständen gesetzt, die in einer bestimmten Hinsicht betrachtet werden. So werden in den Antinomien Gegenstände hinsichtlich ihres speziellen Charakters als Erscheinungen, hinsichtlich ihres Reihencharakters als Erscheinungen, betrachtet; und die gesetzte Einheit ist eine Einheit der Gegenstände als Erscheinungen, eine absolute Totalität einer Erscheinungsreihe. Im Zusammenhang mit dem transzendentalen Ideal werden Gegenstände hinsichtlich ihres Charakters als Gegenstände des Denkens überhaupt betrachtet (vgl. A334/B391, zus. mit Kap. 11,4). Das bedeutet, daß sie als der Bestimmung oder Prädizierung im empirischen Denken unterworfen betrachtet werden, also hinsichtlich ihrer Bestimmungen oder Prädikate. Welcher Art ist dann die in dieser Hinsicht von der Vernunft gesetzte Totalität oder Einheit? Auf der einfachsten Ebene ist das von der Vernunft Gesetzte die totale durchgängige Bestimmung des Gegenstandes, also seine Bestimmung hinsichtlich jedes möglichen Prädikats. In Kants Worten setzt die Vernunft, daß jedes Ding "unter dem Grundsatze der durchgängigen Bestimmung" steht. Es muß also jedem Ding "von allen möglichen Prädicaten der Dinge, so fern sie mit ihren Gegentheilen verglichen werden, eines zukommen" (A571-2/B599-600). Anders gesagt: Indem die Vernunft die durchgängige Bestimmung der Dinge setzt, setzt sie deren Bestimmung hinsichtlich der Totalität möglicher Prädikate. Daher muß die Vernunft, indem sie die durchgängige Bestimmung der Dinge setzt, auch jene Idee der Totalität setzen, im Verhältnis zu der die Durchgängigkeit der Bestimmung definiert wird. Folglich setzt die Vernunft die Idee der Totalität aller möglichen Prädikate. Dies ist die Idee, die in der dritten Hauptart dialektischen Schließens entspringt; und diese Idee bringt das transzendentale Ideal hervor. Kant geht nun etwas ausführlicher auf den genauen Charakter dieser Totalität aller möglichen Prädikate ein. Auf der einfachsten Ebene läßt sie sich als eine Totalität von Paaren betrachten, deren jedes aus einander ausschließenden Gegensätzen besteht. Bei jedem Paar ist jeweils ein Glied bejahend und das andere verneinend. Auf transzendentaler Ebene, wo sich im Gegensatz
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zur bloß logischen der Unterschied zwischen Bejahendem und Verneinendem nicht relativieren läßt, drückt ein Glied jedes Paares (die transzendentale Bejahung) "an sich selbst schon ein Sein" aus, während das andere (die transzendentale Verneinung) "das Nichtsein an sich selbst" bedeutet (A5 74/ B602). Ausschließlich transzendental-kritisch ausgedrückt ist ein Glied eine Realität, das andere eine Negation. In diesem Zusammenhang -wie schon bei der Betrachtung der Kategorien - bedeutet "Realität" nicht "Wirklichkeit" oder "Dasein", sondern vielmehr das, was zu dem gehört, was etwas ist, seiner Washeit, seinem Wesen, seinem "materiellen" Gehalt 1 • So verstanden hat die Realität den Vorrang. Die Negation ist abgeleitet, ist bloßer Mangel an Sein, bloßer Mangel an entsprechender Realität: "Es sind also auch alle Begriffe der Negationen abgeleitet, und die Realitäten enthalten die Data und so zu sagen die Materie oder den transeendentalen Inhalt zu der Möglichkeit und durchgängigen Bestimmung aller Dinge" (A5 7 5/B603 ). Daraus folgt, daß die Idee, die bei dem Setzen der durchgängigen Bestimmung der Dinge seitens der Vernunft gesetzt werden muß, die Idee der Totalität der möglichen Prädikate, einfach die Idee der Totalität der Realitäten ist; sie ist die Idee .,von einem All der Realität (omnitudo realitatis)" (A575-6/B603-4)2. Wie verhält sich diese Idee zu einem Ideal? Wie verhält sich' allgemein ein Begriff zu einem einzelnen? Welchen Charakter hat die Unterscheidung? Sie könnte darin bestehen, daß ein Ding bestimmt ist, während ein Begriff in verschiedenen Graden, je nach seinem Allgemeinheitsniveau, unbestimmt ist. So ist der Begriff Haus hinsichtlich der Farbe unbestimmt; ein Haus kann weiß oder braun oder gelb etc. sein. Aber ein einzelnes Haus ist in bezug auf seine Farbe bestimmt; es muß eine bestimmte Farbe haben. Damit ist klar, was erforderlich wäre, damit es ein einer Idee entsprechendes Ideal gäbe, damit ein einzelnes durch den Begriff allein bestimmt würde. Es bedürfte einer Ausnahme zu dieser Unterscheidung, eines nicht unbestimmten Begriffs, eines durchgängig bestimmten Begriffs. Die Idee der Totalität der Realitäten ist ein solcher Begriff: Sie ist selbst hinsichtlich keines Paares einander entgegengesetzter Prädikate unbestimmt. Vielmehr kommt ihr hinsichtlich jeden solchen Paares ein Glied zu, nämlich "das, was zum Sein schlechthin gehört", die Realität (A576/B604). Daher ist diese Idee ein BeKants Sprachgebrauch entspricht hier demjenigen Baumgartens und Wolffs: realitas bezieht sich auf das, was eine res ist, nicht darauf, ob sie ist; und somit ist realitas gleichbedeutend mit quidditas. Vgl. A.G. Baumgarten, Metaphysica, Hildesheim 1963, S. 1lf. (§ 36); und Christian Wolff, Gesammelte Werke, hrsg. v. Ecole und Arndt, II. Abteilung. "Lateinische Schriften", Bd. 3, S. 196 (§ 243). 2 Kant bemerkt, das Setzen dieser Totalität sei allumfassend, da der Inbegriff aller Möglichkeiten "so fern er als Bedingung der durchgängigen Bestimmung eines jeden Dinges zum Grunde liegt, in Ansehung der Prädicate, die denselben ausmachen mögen, selbst noch unbestimmt ist, und wir dadurch nichts weiter als einen Inbegriff aller möglichen Prädicate überhaupt denken ... " (A5 73/B601 ). 1
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griff eines einzelnen Dinges, in dem starken Sinne, wodurch das einzelne seine durchgängige Bestimmung von der Idee empfängt. Der Idee der Totalität der Realitäten entspricht ein Ideal. Dieses Ideal, das transzendentale Ideal, ist das einzige wahre Ideal der menschlichen Vernunft: Also ist ein transeendentales Ideal, welches der durchgängigen Bestimmung ... zum Grunde liegt und die oberste und vollständige materiale Bedingung seiner Möglichkeit ausmacht, auf welcher alles Denken der Gegenstände überhaupt ihrem Inhalt nach zurückgeführt werden muß. Es ist aber auch das einzige eigentliche Ideal, dessen die menschliche Vernunft fähig ist; weil nur in diesem einzigen Falle ein an sich allgemeiner Begriff von einem Dinge durch sich selbst durchgängig bestimmt und als die Vorstellung von einem Individuum erkannt wird (A576/B 604). Dann geht Kant genauer ein auf den Charakter dieser als Ideal, als ein durch die Idee allein bestimmtes Einzelwesen verstandenen Totalität der Realitäten. Weil sie keine Negation, sondern nur Realitäten enthält und weil sie weiterhin alle Realitäten enthält, können wir sie als das wirkliebste Wesen, das "ens realissimum" bezeichnen. Indem die Vernunft die entsprechende transzendentale Idee setzt, nimmt sie nicht an, daß dieses Ideal, dieses "ens realissimum", wirklich existiert; sondern sie setzt es nur als Urbild für die durchgängige Bestimmung aller anderen Wesen. Genauer gesagt sind alle anderen Wesen, als Gegenstände des Denkens überhaupt, d.h. hinsichtlich ihrer Bestimmungen, bloß das Ergebnis der Einschränkungdes Ideals (vermittels der Negation): "Alle Mannigfaltigkeit der Dinge ist nur eine eben so vielfältige Art, den Begriff der höchsten Realität, der ihr gemeinschaftliches Substratum ist, einzuschränken" (A578/B606). Während also im Ideal jede Bestimmung eine Realität ist, sind in jedem anderen Ding nur einige Bestimmungen Realitäten, während andere Negationen, Mängel der entsprechenden Realitäten sind. Daher sind alle anderen Dinge durch Negation (Limitation) vom Ideal abgeleitet, das demnach angemessen als das Urwesen, das "ens originarium" bezeichnet werden kann. Dazu läßt es sich, weil es nichts über sich hat und ganz und gar wirklich ist, auch als das höchste Wesen, Ens summum, bezeichnen. Und da alles andere ihm unterworfen ist, iäßt es sich als das Wesen aller Wesen, Ens entium, im Sinne eines Grundes, nicht der Summe (wovon die Wesen durch Teilung sich ableiteten) bezeichnen. Dieses Wesen ist Gott im transzendentalen Sinne, und somit ist das Ideal der reinen Vernunft der Gegenstand der transzendentalen Theologie, der dritten der Disziplinen der Metaphysica specialis.
Die Existenz Gottes
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2. Die Existenz Gottes (A583/B611 - A642/B670) Die Vernunft setzt zwar das transzendentale Ideal als Richtschnur für die durchgängige Bestimmung der Dinge, aber sie setzt dieses nur als Ideal. Bloß aufgrund des Setzens würde man nie annehmen, daß ein solches Wesen wirklich existiert. Man würde seine Existenz nie annehmen, wäre man nicht durch einen weiteren Faktor dazu gezwungen. Welches ist dieser weitere Faktor? Es ist der Faktor, der in der vierten Antinomie dargestellt wurde, nämlich die Forderung der Vernunft nach der Vollendung des Regresses vom Bedingten zum Unbedingten, genauer gesagt, das dialektische Schließen der Vernunft vom zufälligen Dasein auf das Dasein eines notwendigen Wesens. Dieser Schluß ist es, der den Schritt über die Erfahrung hinaus zu einem existierenden ursprünglichen Wesen bewirkt. Genauer gesagt geschieht folgendes: Nachdem die Vernunft durch den Beweis der vierten Antinomie zum Dasein eines notwendigen Wesens geführt worden ist, sucht sie nach einem Begriff dieses Wesens, der seinem Charakter als absolut notwendigem, unbedingt existierendem Wesen angemessen wäre. Der Begriff. den die Vernunft findet, ist der des Ideals, des Ens realissimum, das, weil es die Bedingungen (Realitäten) aller Wesen in sich enthält, unbedingt und im Einklang mit dem Begriff eines mit Notwendigkeit existierenden Wesens ist. Kant faßt dieses natürliche Verfahren der Vernunft so zusammen: So ist also der natürliche Gang der menschlichen Vernunft beschaffen. Zuerst überzeugt sie sich vom Dasein irgend eines nothwendigen Wesens. In diesem erkennt sie eine unbedingte Existenz. Nun sucht sie den Begriff des Unabhängigen von aller Bedingung und findet ihn in dem, was selbst die zureichende Bedingung zu allem andern ist, d.i. in demjenigen, was alle Realität enthält (A586-7/B614-5). Sofort verweist Kant jedoch auf die Mängel dieses Verfahrens_ Der ernsthafteste dieser Mängel liegt in dem Argument, daß das mit Notwendigkeit existierende Wesen als Ens realissimum vorzustellen sei. Das Argument ist einfach nicht gültig: " ... so kann daraus doch gar nicht geschlossen werden, daß der Begriff eines eingeschränkten Wesens, das nicht die höchste Realität hat, darum der absoluten Nothwendigkeit widerspreche" (A588/B616). In anderen Worten liegt nichts Widersprüchliches in dem Begriff eines notwendigen Wesens, das in anderer Hinsicht als der der Existenz eingeschränkt und somit nicht die höchste Realität ist. Läßt sich dann mit anderen Mitteln die Existenz eines Ens realissimum beweisen, eine Existenz, die man sogar ohne hinreichende Gründe, durch die bloße Betrachtung der zufälligen Existenz anzunehmen geneigt ist? Im allgemeinen, so sagt Kant, läßt sich ein solcher Beweis auf dreierlei Weise führen. Einmal ist da der physikotheologische Beweis, der von der bestimmten Erfahrung und der spezifischen Verfassung der Sinnenwelt ausgeht. Dann gibt
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es den kosmologischen Beweis, der von der unbestimmten Erfahrung ausgeht, von der Erfahrung des Daseins überhaupt. Und schließlich ist da der ontologische Beweis, der apriorisch von bloßen Begriffen ausgeht. Kant möchte zeigen daß alle drei Beweisversuche fehlschlagen. Zuerst betrachtet Kant den ontologischen Beweis, den er ausdrücklich Descartes zuschreibt. Er nennt in diesem Zusammenhang auch Leibniz und bezieht sich speziell auf dessen Versuch, "eines so erhabenen idealischen Wesens Möglichkeit a prion: einsehen zu wollen" (A602/B630). So ist Kants Kritik als allgemein gegen die Form des ontologischen Beweises in Descartes' Fünfter Meditation gerichtet zu verstehen. Jedoch müssen wir von der Cartesischen Form des Beweises die verfeinerte Form bei Leibniz unterscheiden und Kants anspruchsvollere Kritik auf die Leibnizsche Version beziehen 3 • Die Cartesische Form des Beweises argumentiert einfach, daß sich das Dasein Gottes nicht vom Wesen Gottes trennen lasse. In anderen Worten sei der Begriff von Gott als einem höchsten vollkommenen Wesen der von einem Wesen, zu dessen Merkmalen das Dasein gehöre. So müsse Gott existieren, weil es widersprüchlich wäre, sich einen Gott vorzustellen, dem das Dasein fehle 4 . Leibniz verfeinerte den Beweis durch seine Forderung, man müsse zeigen, daß der Begriff von Gott der Begriff eines möglichen Wesens sei, daß der Begriff selbst keinen Widerspruch in sich enthalte 5 • So hat der Beweis bei Leibniz die Form des folgenden Schlusses: Wenn Gott möglich ist, existiert er. Gott ist möglich. Gott existiert. Kants Kritik erfolgt in zwei Hauptstufen, entsprechend diesen beiden Beweisformen. 3
Descartes und Leibniz haben allgemein gesprochen einfach die im Mittelalter von Anselm bzw. Duns Scotus vorgelegten Fassungen des Beweises wiederaufleben lassen. vgl. Efrem Bettoni, Duns Scotus: The Basic Principles of His Philosophy, ins Eng!. übers. v. Bemardine Bonansea, Washington, D.C. 1961, S. 133ff. 4 Oevres, VII,65-67. 5 In seinen .,Meditationes de cogitatione, veritate et ideis" schreibt Leibniz: .,Zu einer genaueren Untersuchung dieses Umstands hat mich dereinst das berühmte scholastische Argument für das Dasein Gottes veranlaßt, das von Descartes wieder erneuert worden ist. Was aus der Idee oder der Definition einer Sache folgt, - so heißt es hier - das läßt sich der Sache selbst zusprechen. Nun folgt das Dasein aus der Idee Gottes, als des vollkommensten oder größtmöglichen Wesens. Das vollkommenste Wesen nämlich schließt alle Vollkommenheiten in sich, unter die auch das Dasein gehört. Also kann man Gott das Dasein zusprechen. In Wahrheit läßt sich jedoch hieraus nur schließen, daß Gottes Dasein folgt, sobald seine Möglichkeit bewiesen ist. Denn wir können keine Definition zu einem Schlusse benutzen, ohne zuvor versichert zu sein, daß sie real ist, oder daß sie keinen Widerspruch einschließt. Aus Begriffen nämlich, die einen Widerspruch enthal· ten, kann man ja gleichzeitig Entgegengesetztes schließen, was widersinnig ist" (Die Philo· · sophischen Schriften, IV, 424).
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Kant formuliert eingangs seine kritische Position, zu der alle weiteren kritischen Äußerungen nur nähere Erklärungen und Anwendungsweisen darstellen. Die Position ist, daß sich von der Ordnung von Begriffen nicht auf die Ordnung existierender Wesen, vom bloßen Begriff von Gott nicht auf sein Dasein schließen läßt. Kant gesteht zu, daß wir natürlich eine bloße Namenserklärung von Gott geben können, als von dem, dessen Ni~:htsein unmöglich ist. Jedoch betont er: aber man wird hiedurch um nichts klüger in Ansehung der Bedingungen, die es unmöglich machen, das Nichtsein eines Dinges als schlechterdings undenklich anzusehen, und die eigentlich dasjenige sind, was man wissen will, nämlich ob wir uns durch diesen Begriff überall etwas denken, oder nicht (A592-3/B620-l ). In einem solchen Falle haben wir einfach unseren Begriff in bestimmter Weise gebildet, was uns keinerlei Schluß auf die Ordnung existierender Dinge erlaubt. Kant entwickelt seine Position durch eine Kritik an der Art, wie bestimmte Beispiele benutzt worden sind, um die Falschheit des Schlusses zu verbergen. So argumentiere Descartes in seiner Fünften Meditation, der Satz "Gott existiert" habe denselben Status wie der Satz "Ein Dreieck hat drei Winkel": Keiner dieser Sätze ließe sich leugnen, ohne daß sich daraus ein Widerspruch ergebe 6 • Jedoch seien die beiden Sätze keineswegs analog. Während der Satz "Gott existiert" eine Behauptung über ein Wesen sei, behaupte der Satz "Ein Dreieck hat drei Winkel" nicht, daß etwas existiere, sondern nur, daß ein Dreieck, wenn es existiere, wenn es gegeben sei, drei Winkel haben müsse. Im Falle eines solchen Satzes ergebe sich nur dann ein Widerspruch, wenn das Subjekt akzeptiert, das Prädikat hingegen verworfen werde; dagegen ergebe sich kein Widerspruch, wenn das Subjekt auch verworfen werde: Wenn ich das Prädicat in einem identischen Urtheile aufhebe und behalte das Subject, so entspringt ein Widerspruch, und daher sage ich: jenes kommt diesem nothwendiger Weise zu. Hebe ich aber das Subject zusammt dem Prädicate auf, so entspringt kein Widerspruch; denn es ist nichts mehr, welchem widersprochen werden könnte. Einen Triangel setzen und doch die drei Winkel desselben aufheben, ist widersprechend; aber den Triangel sammt seinen drei Winkeln aufheben, ist kein Widerspruch (A594/B622). Entscheidend ist, daß es im Falle des Satzes, "Gott existiert", unmöglich ist, das Prädikat aufzuheben und das Subjekt beizubehalten; das heißt, das Aufheben des Prädikats ist bereits ein Aufheben des Subjekts. In diesem Falle ist ein Widerspruch unmöglich: "Wenn ihr das Dasein desselben aufhebt, so hebt 6
Oeuvres, VII, 66.
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ihr das Ding selbst mit allen seinen Prädicaten auf" {A595/B623 ). Somit ergibt sich aus der Leugnung des Daseins Gottes kein Widerspruch, wodurch der ontologische Beweis zusammenbräche. Die zweite Stufe der Kantischen Kritik beginnt mit der Einführung des ontologischen Beweises in seiner Leibnizschen Form und in ausdrücklichem Zusammenhang mit dem transzendentalen Ideal als eines allerrealsten Wesens: Es hat, sagt ihr, alle Realität, und ihr seid berechtigt, ein solches Wesen als möglich anzunehmen ... Nun ist unter aller Realität auch das Da· sein mit begriffen: also liegt das Dasein in dem Begriffe von einem Möglichen. Wird dieses Ding nun aufgehoben, so wird die innere Möglichkeit des Dinges aufgehoben, welches widersprechend ist (A596-7 / B624- 5 ). Diese Erklärung dient der Rekonstruktion des (oben dargelegten) Schlusses vermittels des Begriffs von Gott als dem transzendentalen Ideal, als der Totalität der Realitäten. Der Untersatz wird zuerst rekonstruiert. Es wird implizit argumentiert, daß Gott, als allerrealstes Wesen, nur Realitäten enthält, keine Negationen, und folglich keine einander kontradiktorisch entgegengesetzten Prädikate, keine Widersprüche; daraus wird dann geschlossen, daß der Begriff von Gott keine inneren Widersprüche enthält, die den Begriff aufheben können: Also ist Gott möglich. Der Obersatz wird ähnlich rekonstruiert. Als allerrealstes Wesen besitzt Gott alle Realitäten; zu diesen Realitäten gehört auch das Dasein; somit ist das Dasein im Begriff von Gott enthalten. Und wenn sich dieser Begriff nicht selbst aufhebt, d.h. in sich widersprüchlich ist, muß geschlossen werden, daß Gott existiert. In anderen Worten: Wenn Gott möglich ist, so existiert er. Kant unterwirft jede Prämisse der Kritik. Seine Kritik an dem Obersatz setzt ein mit dem Vorwurf, diese Prämisse, die auf dem Grundsatz der Nichtwidersprüchlichkeit beruhe, sei selbst in einen Widerspruch verwickelt: Ich antworte: Ihr habt schon einen Widerspruch begangen, wenn ihr in den Begriff eines Dinges, welches ihr lediglich seiner Möglichkeit nach denken wolltet, es sei unter welchem versteckten Namen, schon den Begriff seiner Existenz hinein brachtet {A597 /B625 ). Das heißt, daß wir uns in einen Widerspruch verwickeln, wenn wir etwas als nur möglich denken und dennoch den Begriff des Daseins in es hineintragen. Warum? Weil zwischen der Möglichkeit {insbesondere als bloßem fehlenden Widerspruch) und dem Dasein ein grundlegender Unterschied besteht. Dieser Unterschied liegt darin, daß das Dasein durch einen Faktor bestimmt wird, der jenseits des Bereichs des bloßen Denkens liegt. Etwas läßt sich nur dann echt als existierend denken, wenn man dabei über das bloße Denken hinausgeht, durch den Bezug auf die Sinnlichkeit, auf die materialen Bedingungen der Erfahrung, durch den Bezug auf etwas, was jenseits des Bereichs der bloß formalen Möglichkeit liegt. Kant formuliert das vermittels der Unter-
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scheidung zwischen analytischen Urteilen, die im Bereich des bloßen Denkens, der bloß formalen Möglichkeit bleiben, und synthetischen Urteilen, die des Bezugs auf etwas über das bloß Formale Hinausgehendes bedürfen. Er fragt: Ist der Satz, daß etwas existiert, analytisch oder synthetisch? Ist der Satz analytisch, so fügt das Prädikat definitionsgemäß dem Subjekt nichts hinzu; d.h. die Behauptung der Existenz fügt dem bloßen Denken nichts hinzu. Aber dann folgt daraus eins von zweien: Entweder ist die behauptete Existenz nur die des Denkens selbst, in welchem Falle die Unterscheidung zwischen Denken und Sache hinfällig ist; oder die im Prädikat behauptete Existenz ist in dem Subjekt einfach vorausgesetzt, in welchem Falle der angebliche Beweis nichts ist als eine "bloße Tautologie". Das Ergebnis ist nach Kant also, daß jeder Existenzialsatz synthetisch ist. Ist das der Fall, dann kann er nicht auf dem Grundsatz des Nichtwiderspruchs beruhen. Gottes Dasein läßt sich nicht aus dem bloßen Begriff Gottes beweisen. Kants Kritik kommt dem Kern der Sache noch näher, wenn er zeigt, warum dem Begriff Gottes das Dasein nicht zukommt. Er unterscheidet zwischen zwei Arten von Prädikaten: Während alles und jedes als logisches Prädikat dienen kann, weil die Logik von allem Inhalt absieht, ist ein reales Prädikat ein solches, das etwas bestimmt, ein bestimmendes Prädikat, "welches über den Begriff des Subjects hinzukommt und ihn vergrößert" (A598/ B626). Ein reales Prädikat drückt eine Realität aus, deren Totalität das transzendentale Ideal ausmacht. Der springende Punkt in Kants Kritik ist seine These, daß die Existenz kein reales Prädikat ist. Er führt diese These über die umfassendere These zum Sein überhaupt ein:
Sein ist offenbar kein reales Prädicat, d.i. ein Begriff von irgend etwas, was zu dem Begriffe eines Dinges hinzukommen könne. Es ist bloß die Position eines Dinges oder gewisser Bestimmungen an sich selbst (A 598/B626). Das Sein ist keine Realität, gehört nicht zur Totalität der Realitäten, kommt somit nicht dem Begriffe Gottes als dem allerrealsten Wesen zu. Kant führt dieses Problem näher aus, indem er die Bedeutungen des Wortes "ist" erörtert. Einerseits dient es als Kopula, z.B. in dem Satz "Gott ist allmächtig". Hier fügt "ist" kein reales Prädikat hinzu, drückt auch keines aus, sondern setzt vielmehr das Prädikat in Beziehung zum Subjekt. Das "ist" drückt ein Setzen und keine Realität aus. Andererseits läßt sich "ist" benutzen, ohne daß darauf ein Prädikat folgt, etwa in dem Satz "Gott ist" oder "Es ist ein Gott". In diesem Falle hat das Sein die Form der Modalität "Dasein". Entscheidend ist, daß "ist" auch hier ein Setzen und keine Realität ausdrückt: Nehme ich nun das Subject (Gott) mit allen seinen Prädicaten (worunter auch die Allmacht gehört) zusammen und sage: Gott ist, oder es ist ein Gott, so setze ich kein neues Prädicat zum Begriffe von Gott, son-
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dem nur das Subject an sich selbst mit allen seinen Prädicaten und zwar den Gegenstand in Beziehung auf meinen Begrtff (A599/B627). So ist also das Dasein keine Realität, und wenn jemand sagt, etwas existiere, so fügt er dem Begriff keine Bestimmung hinzu. Ja, würde durch das existenzielle "ist" etwas hinzugefügt, so würde daraus etwas sehr Merkwürdiges folgen: Was existiert, wäre nicht dasselbe, was in dem Begriffe gedacht würde, sondern mehr, nämlich etwas, dem eine zusätzliche Bestimmung zukäme. Die Existenz ist keine Realität. Daher gehört sie nicht zum Begriffe Gottes. Also läßt sich die Existenz Gottes nicht aus dem Begriff Gottes schließen. Der Obersatz des ontologischen Beweises bricht zusammen. Und indem Kant ihn zum Zusammenbrechen bringt, hat er zugleich den Begriff des Seins mit seltener Schärfe thematisiert. Das Sein ist "bloß die Position eines Dinges". Sein bedeutet: durch und für ein Subjekt als Objekt gesetzt werden. Dieser Begriff läßt sich auf die Modalitäten des Seins erweitern. Ja, er ist in den Postulaten des empirischen Denkens bereits in dieser Weise erweitert worden. Ein Objekt kann in verschiedenen Grundbeziehungen zum Subjekt gesetzt werden: als in Einklang mit den formalen Bedingungen der Erfahrung befindlich oder als an die materialen Bedingungen der Erfahrung gebunden oder als mit dem Wirklichen durch bestimmte allgemeine Bedingungen verknüpft. Diesen drei Arten des Gesetztwerdens entsprechen die drei Modalitäten des Seins: Möglichsein, Wirklichsein, Notwendigsein (vgl. A218/B265
-6).
Kant fügt eine kurze Kritik des Untersatzes ("Gott ist möglich") hinzu. In dieser Prämisse wird "Möglichkeit" als bloßer fehlender Widerspruch verstanden, und nur unter dieser Voraussetzung läßt sich die Möglichkeit Gottes aus dem Begriffe Gottes als allerrealsten Wesens ableiten. Aber das ist nur eine logische Möglichkeit, nicht die Möglichkeit eines Seienden, keine reale Möglichkeit. Letztere läßt sich nur in Beziehung auf die formalen Bedingungen der Erfahrung bestimmen. Leibnizens Versuch, die Möglichkeit Gottes zu beweisen, läßt diese Bedingung außer acht. Als nächstes wendet sich Kant der Erörterung des kosmologischen Beweises zu. Dieser Beweis erfolgt in zwei klar voneinander abgegrenzten Teilen. Der erste läßt sich in folgenden Syllogismus kleiden: Wenn überhaupt etwas existiert, muß auch ein absolut notwendiges Wesen existieren. Ich zumindest existiere. Ein absolut notwendiges Wesen existiert.
Dieser Syllogismus entspricht der These der vierten Antinomie. Der zweite Teil des Beweises besteht dann in der Identifizierung des Begriffs des allerrealsten Wesens als des einzigen Begriffs, der dem notwendigen Wesen angemessen ist, dessen Existenz in dem ersten Teil bewiesen wurde. Bei dieser
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Identifizierung lautet die Schlußfolgerung, daß das absolut notwendige Wesen das allerrealste ist. Kant sagt in seinem Beweis, "daß in diesem kosmologischen Argument sich ein ganzes Nest von dialektischen Anmaßungen verborgen halte" (A609 /B637). Jedoch konzentriert er sich primär auf nur eine zentrale Täuschung und zählt die meisten übrigen durch diesen Beweis aufgeworfenen Fragen nur auf. Der Beweis beanspruche zwar, im Gegensatz zum ontologischen Beweis, von der Erfahrung auszugehen, bediene sich jedoch dieser Erfahrungsgrundlage nur für den ersten Schritt, durch den auf die Existenz eines absolut notwendigen Wesens geschlossen werde. Seine empirische Grundlage gibt keinerlei Mittel zur Bestimmung des Begriffs dieses Wesens an die Hand, und somit wird der zweite Teil des Beweises notwendig. Jedoch gibt dieser zweite Teil die empirische Grundlage völlig auf und stützt sich schließlich gänzlich auf Begriffe. Zudem folgt aus dem zweiten Teillogisch die Schlußfolgerung, die den ontologischen Beweis ausmacht. Sie behauptet: Jedes absolut notwendige Wesen ist ein vollkommen reales Wesen, was durch Anwendung von Konversion durch Limitation ergibt: Einige vollkommen reale Wesen sind absolut notwendige Wesen. Jedoch ist kein vollkommen reales Wesen anders als andere Uedes vollkommen reale Wesen ist einfach die Totalität der Realitäten), und somit muß alles, was für einige gilt, auch für alle gelten. Daher bekommen wir: Alle vollkommenen realen Wesen sind absolut notwendige Wesen. Das ist jedoch einfach der Schluß von dem transzendentalen Begriff Gottes auf seine Existenz, oder in anderen Worten: Es ist der ontologische Beweis. Kant schließt, daß sich der kosmologische Beweis auf den ontologischen Beweis stützt und daß die Widerlegung des letzteren bereits die Widerlegung des ersteren ausmacht. Schließlich erörtert Kant den physikotheologischen Beweis, der von der bestimmten Erfahrung (also der Ordnung, Gesetzmäßigkeit, Zweckmäßigkeit, Schönheit in rler Natur) auf ein höchstes Wesen als Ursache solcher Ordnung, Gesetzmäßigkeit etc. schließt. Kants Lob für diesen Beweis ist unüberhörbar: Dieser Beweis verdient jederzeit mit Achtung genannt zu werden. Er ist der älteste, klarste und der gemeinen Menschenvernunft am meisten angemessene. Er belebt das Studium der Natur, so wie er selbst von diesem sein Dasein hat und dadurch immer neue Kraft bekommt. Er bringt Zwecke und Absichten dahin, wo sie unsere Beobachtung nicht von selbst entdeckt hätte, und erweitert unsere Naturerkenntnisse durch den Leitfaden einer besonderen Einheit, deren Princip außer der Natur ist (A623/B651). Jedoch akzeptiert Kant diesen Beweis trotzdem nicht als gültig. Er bediene sich einer Analogie zwischen Naturprodukten und Kunstprodukten, einergelinde gesagt - fragwürdigen Beweisführung. Aber selbst wenn man diese Analogie akzeptiere, könne der Beweis noch immer nur die Existenz eines
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Weltbaumeisters erbringen, der dem Stoff der Welt Zweck und Ordnung aufpräge, aber durch diesen Stoff eingeschränkt werde; er könne nicht die Existenz eines Weltschöpfers oder einer letzten Ursache der Welt beweisen. Um über den Nachweis der Existenz eines bloßen Baumeisters hinauszugehen müsse man von der Zufälligkeit der Materie (welcher der bloße Architekt unterworfen wäre} auf die Existenz eines notwendigen Wesens schließen. In anderen Worten müsse man seine Zuflucht zum kosmologischen Beweis und damit letztlich zum ontologischen Beweis nehmen. Letzten Endes stützten sich alle Beweise auf den ontologischen Beweis, dessen Widerlegung deshalb eine Widerlegung aller Versuche seitens der Vernunft, das Dasein Gottes zu beweisen, ausmache. Trotz seines vernichtenden Angriffs auf die rationale Theologie beschließt Kant seine Erörterungen damit, daß er ihr zwei recht wichtige Funktionen zuweist. Diese Funktionen weist er der transzendentalen Theologie zu, die zusammen mit dem ontologischen und kosmologischen Beweis, Gott als allerrealstes Wesen vorstellt, bzw. der natürlichen Theologie, die, zusammen mit dem physikotheologischen Beweis, Gott durch aus der Natur genommene Begriffe vorstellt. Hinsichtlich der ersteren schreibt er: Denn wenn einmal in anderweitiger, vielleicht praktischer Beziehung die Voraussetzung eines höchsten und allgenugsamen Wesens als oberster Intelligenz ihre Gültigkeit ohne Widerrede behauptete: so wäre es von der größten Wichtigkeit, diesen Begriff auf seiner transeendentalen Seite als den Begriff eines nothwendigen und allerrealsten Wesens genau zu bestimmen (A640/B668). Kant erklärt auch, in einem solchen Falle fiele es auch der transzendentalen Theologie zu, den Begriff Gottes von allem Anthropomorphismus zu befreien und "zugleich alle entgegengesetzte Behauptungen, sie mögen nun atheistisch oder deistisch oder anthropomorphisti'sch sein, aus dem Wege zu räumen'·. So erklärt Kant, wenn auch noch immer rein hypothetisch, daß der transzendentalen Theologie eine echte Funktion zufallen könnte, wenn sie der Moraltheorie untergeordnet, in den Dienst der Entwicklung des Problems der Beziehung von Gott zum Sittengesetz im Bereich der praktischen Vernunft gestellt würde. Zur zweiten Funktion äußert er sich ausführlicher. Er behauptet (wenngleich als etwas, was noch des Beweises bedarf), daß nur eine Moraltheologie im vollen Sinne möglich sei - daß, genauer gesagt, das Sittengesetz dasjenige sei, was uns berechtige, das Dasein Gottes zu postulieren (wenngleich nur aus praktischer Sicht}. In diesem Zusammenhang deutet er die Funktion der natürlichen Theologie an: Der physischtheologische Beweis könnte also vielleicht wohl anderen Beweisen (wenn solche zu haben sind} Nachdruck geben, indem er Speculation mit Anschauung verknüpft: für sich selbst aber bereitet er mehr den Verstand zur theologischen Erkenntniß vor und gibt ihm dazu eine
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gerade und natürliche Richtung, als daß er allein das Geschäft vollenden könnte (A63 7/B665 ). Die natürliche Theologie bereitet den Weg für die Moraltheologie. Wir erinnern uns an Kants berühmte Erklärung gegen Ende der Kritik der praktischen Vernunft: Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir 7 .
3. Die projektive Auslegung des Ideals Die Beweise für die Existenz Gottes und das Setzen des transzendentalen Ideals machen zusammen den dritten der dialektischen Schlüsse der Vernunft in seiner ganzen Struktur aus. Dies ist die letzte jener Sammelbewegungen der Vernunft, vermittels derer sie die auf der Ebene des Verstandes bleibende Fragmentierung auf eine Einheit zu bringen versucht. Jede dieser Bewegungen hat sich als auf eine besondere Art der Fragmentierung bezogen erwiesen. Bei den Paralogismen ist es die Fragmentierung, die aus der Unwissenheit des Menschen über sich selbst, seiner Trennung von sich selbst entsteht. Es ist eine Fragmentierung im Menschen selbst. Bei den Antinomien ist es eine Fragmentierung der Welt, d.h. eine Unvollständigkeit der verschiedenen kategorialen Reihen in der Ordnung der Erscheinungen. Bei dem Ideal der reinen Vernunft schließlich betrifft die Fragmentierung die Bestimmung der Dinge durch die menschliche Erkenntnis. Diese Fragmentierung liegt in der Unvollständigkeit einer solchen Erkenntnis, einer solchen Bestimmung auf empirischer Ebene. Die Fragmentierung ist eine Trennung zwischen Mensch und Dingen. So ist die Einheit, welche die Vernunft in ihrer letzten Sammelbewegung sucht, die größte von allen. Es ist eine Einheit nicht nur auf Seiten des Menschen, wie in den Paralogismen, und auch nicht nur auf Seiten der Erscheinungen, wie in den Antinomien; vielmehr ist es eine Einheit, welche die Bestimmung aller Dinge enthalten würde, und da alle Dinge, einschließlich der Seele, der Erscheinungen und der Welt in dieser Einheit (Gott) gründen würden, würde sie zur Errichtung der Einheit aller Dinge dienen. In Kants Worten würde sie "eine Affinität alles Möglichen durch die Identität des Grundes der durchgängigen Bestimmung desselben beweisen" (A572/B600 Anm.). Wie ist dieses Sammeln im Ideal der reinen Vernunft beschaffen? Wie in jedem Falle hat das Sammeln zwei Seiten, das Setzen der Einheit und das
7
V,l61.
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Das Sammeln der Vernunft im Ideal
eigentliche Sammeln des einschlägigen Mannigfaltigen in diese Einheit. Welche spezifische Form hat jede dieser Seiten im Falle des Ideals der reinen Vernunft? Die von der Vernunft gesetzte Einheit ist das transzendentale Ideal, also der Begriff von Gott im transzendentalen Sinne, Gott als dem allerrealsten Wesen, als der Totalität der Realitäten. Was beinhaltet dieses Setzen? Wie wird es von der Vernunft geleistet? Wir haben wiederholt beobachtet, daß die Vernunft nicht einfach irgendwelche Begriffe hervorbringt, vielmehr die Verstandesbegriffe, die Kategorien, erweitert über die Grenzen möglicher Erfahrung hinaus, wodurch sie sie in transzendentale Ideen verwandelt. So ist für das Setzen des Ideals durch die Vernunft zu fragen: Welche Kategorie wird hier erweitert? Und wie ist diese Erweiterung beschaffen? Kants Art, die Idee zu bezeichnen, seine Bezeichnung der Idee als die der Totalität der Realitäten, zeigt deutlich genug, um welche Kategorie es geht: die Kategorie, die in das transzendentale Ideal verwandelt wird, ist die der Realität. Aber wie ist die Erweiterung beschaffen? Eines der Ergebnisse der Transzendentalen Analytik ist es, daß alles empirische Denken, jede Bestimmung von Objekten, das Wirken jenes reinen (wenngleich schematisierten} Denkens voraussetzt, vermittels dessen die zu bestimmenden Gegenstände erst als solche konstituiert werden. Dieses Wirken des reinen Denkens, die apriorische Synthesis, findet vollsten Ausdruck in den Grundsätzen des reinen Verstandes. In diesem Sinne läßt sich dann sagen, daß alles empirische Denken, jede Bestimmung von Gegenständen, auf der von den Prinzipien bereitgestellten Grundlage stattfindet. Was die Vernunft beim Setzen des transzendentalen Ideals tut, ist, diese Grundlage in einer bestimmten entscheidenden Weise zu transponieren. In welcher Weise? Der Grundsatz, der den Kategorien der Qualität entspricht, ist derjenige der Antizipationen der Wahrnehmung (vgl. Al66/B207-Al76/B218). In der Tat antizipieren das Wirken, die Entscheidung, die in diesem Grundsatz zum Ausdruck kommen, alle Realitäten. Insbesondere werden alle Realitäten hinsichtlich ihres Grad-Charakters antizipiert, also hinsichtlich der Tatsache, daß sie alle eine intensive Größe haben, daß sie alle in gewissem Grade Zeit ausfüllen. So liegt in der Antizipationsstruktur eine Bestimmung der Zeit: Realitäten werden als zeiterfüllend antizipiert, als Bestimmungen der Zeit hinsichtlich des Inhalts. Die Vernunft befreit die Kategorie (daher ihr im Grundsatz ausgedrücktes Wirken} von der Bindung an die Zeitbestimmung. Somit erfolgt die Erweiterung von der Kategorie, durch deren Wirken alle Realitäten antizipiert werden, zu einem Ideal, worin alle Realitäten ßnthalten sind (und somit gedacht werden). Einmal angenommen, dieses Setzen der Einheit komme dem Sammeln zu, so wäre zu fragen, welche Form des Sammelns dann von der anderen Seite her angenommen werden muß. Wie würde das Mannigfaltige, d.h. wie würden alle Dinge überhaupt, in diese Einheit gesammelt werden? Welche Form hat das tatsächliche Sammeln? In gewissem Sinne läßt sich sagen, daß die Ein-
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heit selbst die Mannigfaltigkeit in sich versammelt; sie ist der Grund aller Dinge, und als dieser Grund, auf den sie alle bezogen sind, vereinigt sie die Dinge, sammelt sie die Dinge von sich her zu sich. Jedoch wird dieses Sammeln nur dann wirklich geleistet, wenn die Einheit, in die und durch welche das Mannigfaltige versammelt würde, ein existierender Grund und nicht nur ein vom Denken Gesetztes ist. Somit gilt: Während das Setzen des Ideals die Möglichkeit des Sammelos des Mannigfaltigen setzt, erfordert die Wirklichkeit dieses Sammelos (d.h. wird die Wirklichkeit geleistet durch) den Beweis, daß das Ideal existiert, also durch die Beweise für das Dasein Gottes. Dieser wirkliche Sammelcharakter der Beweise ist am augenfälligsten im dem kosmologischen und dem physikotheologischen Beweis: In beiden Fällen werden die Dinge (seien es bestimmte Dinge oder Dinge überhaupt) in dem Sinne gesammelt, daß sie zu ihrem Grund (Gott) zurückgebracht werden. Jedoch ist Gott nur als transzendentales Ideal eine passende Einheit für das Sammeln; weder als absolut notwendiges Wesen noch als Baumeister der Welt ist Gott dem Sammeln angemessen. Was also zu beweisen ist, ist das Dasein Gottes als transzendentalen Ideals. Folglich ist die entscheidende Phase des wirklichen Sammelos in die Einheit, d.h. das für diese Seite des Sammelos als solchen konstitutive Grundelement, einfach der ontologische Beweis. Welche Rolle spielt die Frage der Fragmentierung bei diesem Sammeln und dessen Ergebnis? Wie in jedem Falle ist das Sammeln ausgerichtet auf die Oberwindung einer gewissen Fragmentierung. Wir haben bereits das allgemeine Wesen dieser Fragmentierung umrissen: Es ist eine der Bestimmung der Dinge durch die menschliche Erkenntnis zugehörige Fragmentierung. Es ist diese Unvollständigkeit, die zu solcher Bestimmung gehört. Es ist die Fragmentierung, die sich daraus ergibt, daß beim Bestimmen der Dinge (im empirischen Denken) immer auch eine Unbestimmtheit herrscht, daß das Bestimmen nie vollendet wird. Worin hat die Fragmentierung ihren Grund? Der Grund liegt eindeutig in der Fragmentierung des menschlichen Denkens, die darin besteht, daß das menschliche - im Gegenteil zum göttlichen - Denken nicht einfach seinen Gegenstand setzen kann, sondern immer ein auf ein "Gegebenes" bezogenes Setzen ist, ein Setzen, das davon abhängig ist, was durch die Anschauung gegeben wird, ein Setzen einer Bestimmung (eines Bestimmens) in bezugauf Gegebenes. Um nun zu sehen, wie ein solches Fragmentieren des Denkens den Grund der Fragmentierung, worum es bei dem Ideal geht, bildet, bedarf es der näheren Betrachtung der merkwürdigen Abhängigkeit von dem Gegebenen, die den Kern der Fragmentierung des Denkens ausmacht. Diese Abhängigkeit, diese Beziehung auf das Gegebene, enthält zwei klar unterschiedene Momente. Das erste Moment läßt sich grob so formulieren: Das menschliche Denken muß auf Gegebenes Anwendung finden, muß ein Bestimmen des Gegebenen sein. Jedoch erfordert diese Behauptung eine zweifache Präzisierung. Erstens ist zu fragen: Unter welcher Bedingung ist es erforderlich, daß das menschliche Denken auf Gegebenes Anwendung fin-
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det? Die Antwort lautet: Dann, wenn es irgendwelche Objektivität haben soll, also wenn es ein Denken von etwas und nicht ein bloßes Spiel von Begriffen sein soll; kurz, wenn es ein Denken von Sein sein soll. Die zweite Präzisierung ist, daß das Denken nicht unmittelbar auf Gegebenes angewendet werden muß, daß das vielmehr auch mittelbar geschehen kann. So wird das Denken, wenn es etwas nur Mögliches denkt, auf etwas angewendet, was gegeben sein könnte, was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung in Einklang steht. So könnte man also, indem man diese Präzisierungen in die Formulierung aufnimmt, das erste Moment der Abhängigkeit so ausdrücken: Um Denken von Sein zu sein, muß das menschliche Denken ein auf das in der Anschauung Gegebene bezogenes Bestimmen sein. Es liegt auf der Hand, was aus diesem Moment der Abhängigkeit folgt: Das menschliche Denken ist nicht unmittelbar ein Denken von Sein. Daher ist der Kern der Fragmentierung desDenkenseine Fragmentierung, eine Spaltung, zwischen Denken und Sein. Es gibt ein zweites Moment der Abhängigkeit. Das menschliche Denken bestimmt ein Ding immer mit Hilfe von etwas, das heißt, das Denken bestimmt das Ding, indem es seine Bestimmung setzt, indem es ihm bestimmte Bestimmungen beilegt. Diese Bestimmungen haben die Form von Begriffen. Das Denken, so könnte man sagen, bestimmt ein Ding, indem es dieses Ding unter verschiedene Begriffe bringt. Aber wo haben diese Begriffe, diese Bestimmungen, ihren Ursprung? Sie sind aus der Erfahrung, aus dem Gegebenen (durch abstrahierende Reflexion) abgeleitet. Somit läßt sich das zweite Moment der Abhängigkeit folgendermaßen formulieren: Das menschliche Denken muß seine Bestimmungen aus dem Gegebenen beziehen 8 • Aufgrund dieser Abhängigkeit von dem Gegebenen, das seinerseits fragmentarisch ist, hat das menschliche Denken nicht alle Bestimmungen zu seiner Verfügung. Es besteht eine radikale Unvollständigkeit, Fragmentierung hinsichtlich der dem menschlichen Denken für das Bestimmen der Dinge zur Verfügung stehenden Bestimmungen. Indem die Vernunft das transzendentale Ideal setzt, setzt sie die Einheit (Totalität), wodurch dieses zweite Moment in der Fragmentierung des Denkens überwunden würde, nämlich die absolute Totalität aller Bestimmungen. Weiterhin würde das Sammeln der Dinge in diese Einheit, das heißt das Gründen der Dinge auf diesen Grund, bedeuten, daß diese vorrätigen Bestimmungen als Bestimmungen von Dingen wirksam werden dürfen. In anderen Worten würde das Gründen der Dinge auf diese Totalität von Bestimmungen bedeuten. daß die Dinge (objektiv) durch diese Bestimmungen bestimmt würden.
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Hier, wie in der gesamten Erörterung des Ideals, geht es um das Denken überhaupt, das Denken bereits konstituierter Dinge. Dagegen gilt auf der Ebene des apriorischen Denkens (des reinen Verstandes) dieses zweite Moment der Abhängigkeit nicht.
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Was für ein Bestimmen wäre dieses jedoch, angenommen es wäre möglich? Es wäre ein objektives Bestimmen der Dinge durch bloßes Denken. Es wäre ein Denken von Sein, das nicht auf Gegebenes bezogen wäre. Daher wäre es ein Bestimmen, das gegen die Fragmentierung (Spaltung) zwischen Sein und Denken verstieße. Und somit bricht eben diese Fragmentierung im Mittelpunkt des versuchten Sammelns aus. Eben an dieser Fragmentierung scheitert der ontologische Beweis. Der Beweis scheitert, weil er die Kluft zwischen Denken und Sein (genauer gesagt, Wirklichsein, Dasein) nicht zu überbrücken vermag. Das Sammeln scheitert. Nach diesem Scheitern hat die Vernunft, wie in den anderen Fällen, zwei Alternativen, zwei Richtungen, in denen sie sich legitim verwenden läßt. Einrrial im praktischen Bereich, worauf Kant sich in seiner Erörterung der positiven Funktionen der Theologie bezieht. Zum andem gibt es die regulative Verwendung, wobei das Setzen der Einheit seitens der Vernunft in den positiven Dienst des Verstandes gebracht wird, wobei das Setzen der Einheit seitens der Vernunft ein Setzen eines systematischen Zusammenhangs wird, der dem Verstand als Direktive dienen kann, was dann die äußerste Erweiterung der empirischen Verwendung des Verstandes fördern kann. Bei der regulativen Verwendung tritt an die Stelle des Widerstreits wegen der zwischen den beiden Seiten des Sammelns herrschenden Ungleichheit eine Gerichtetheit des Mannigfaltigen auf die Einheit. Der Widerstreit wird gelöst, indem er in ein Streben verwandelt wird.
SECHSTES KAPITEL VERNUNFT, EINBILDUNGSKRAFT, WAHNSINN
1. Die Umkehrung In diesem Kapitel geht es darum, einen weiteren hermeneutischen Freiraum für den Fortgang der Interpretation zu erschließen: den Raum der Umkehrung, der inversiven Interpretation. Am Ende werde ich versuchen, innerhalb dieses Freiraums ein Spiel des umkehrenden Abbildens zu entfesseln, ein Spiel, durch das sich eine noch verborgene Schicht der Transzendentalen Dialektik bloßlegen läßt. Aber zunächst ist es erforderlich, die Ergebnisse der einzelnen Teilschritte der projektiven Interpretation auf eine solche Weise zu konsolidieren, daß die Strukturen der Thematik klar hervortreten, deren Problematik in das Zentrum unserer Interpretation gerückt sein wird, sobald das Spiel der Umkehrung entfesselt ist. In der projektiven Auslegung habe ich versucht, die Thematik des Sammelos im Text der Transzendentalen Dialektik wiederaufzudecken, indem ich Hinweise des Textes, die auf seine Ausrichtung auf den Horziont des Sammelos hindeuten, aufnahm und so diesen Horizont versammelte, und indem ich insbesondere die Ergebnisse der zuvor angestellten verdoppelnden, kommentierenden Interpretation auf diesen Horizont projizierte. Der Gegenstand der Transzendentalen Dialektik ist das Sammeln der Vernunft, die Bewegung, durch die die Vernunft die Mannigfaltigkeit, die auf der Ebene des Verstandes nicht überwunden werden kann, in eine Einheit versammeln soll. Dieses Sammeln der Vernunft bildet die letzte Phase jener Bewegung des Sammelris, die die innere Dynamik aller Erkenntnis des Menschen ausmacht, der Bewegung, durch die die fragmentarischen Ansätze, mit denen alle Erkenntnis begann, in eine Einheit versammelt werden sollen, die derjenigen der göttlichen Erkenntnis verwandt wäre. Aber die Transzendentale Dialektik greift die Thematik des Sammelos nicht einfach auf, sondern sie erhebt sie zum Problem: Sie unternimmt eine kritische Neuinszenierung dieses Sammelns 1 , das heißt, sie entfaltet die Strukturen dieses Sammelns, um dessen Möglichkeit überhaupt kritisch zu überprüfen. Oder vielmehr: Da das Faktum (d.h. die Geschichte der Metaphysik) hier die Möglichkeit erweist, daß sich ein solches Sammeln zumin1 Insbesondere von diesem Punkt an werden Konstruktionen, in denen Formen von "sein" vorkommen, horizontal zu verstehen sein, d.h. so, daß darin stillschweigend auf einen bestimmten Deutungshorizont verwiesen wird. So würde im vorliegenden Falle "ist" erweitert zu: "innerhalb des Horizonts, der durch das Sammeln konstituiert wird, ist gegeben als ... ".
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Vernunft, Einbildungskraft, Wahnsinn
dest in gewissem Sinne ausführen läßt, überprüft die Kritik, ob diese Ausführung erreicht, was die Metaphysik intendiert; kurz, sie überprüft, ob das Sammeln der Vernunft in der Metaphysik sein Ziel erreicht oder scheitert_ Das Ergebnis der Überprüfung besagt, daß das Sammeln der Vernunft scheitert, sein Ziel nicht erreicht. Der fragmentarische Charakter der Erkenntnisansätze, den die Metaphysik beheben wollte, erweist sich als unaufhebbar. Man betrachte die Paralogismen. Wie in allen Fällen setzt die Vernunft eine unbedingte Einheit: Indem die Vernunft den Begriff des Ich der Apperzeption bis auf die Ebene des Unbedingten erhöht, setzt sie die Idee der Seele. Das andere Moment in der Struktur des paralogistischen Sammelns ist ·dann die Bestimmung der Seele (als Substanz, als einfach, etc.), oder genauer gesagt, die Transposition dieser Bestimmungen von ihrer Grundlage, also von der transzendentalen Apperzeption, zur Idee der Seele. Mit diesem zweiten Moment würde das wirkliche Sammeln geleistet, wäre das Sammeln erfüllt_ Die Fragmentierung im Menschen, die in der Unkenntnis seiner selbst, im Nichtbeisichsein bestehende Trennung von sich selbst würde behoben nicht durch die Stiftung eines unmöglichen Beisichseins (der ursprünglichen Selbstanschauung), sondern durch die Bereitstellung eines Surrogats: rationale Selbsterkenntnis, begrifflich vermitteltes, durch die Vernunft rekonstruiertes Beisichsein. Jedoch scheitert das Sammeln: Aufgrund der Leere der Grundlage, wovon sie losgelöst sind, bleiben die Bestimmungen leer und erfüllen somit nicht jene für das Sammeln gesetzte Einheit. Die Sammelstruktur der Antinomien liegt fast an der Oberfläche des Kantischen Textes; und wenig mehr als eine Anspielung auf den versammelten Horizont war erforderlich, um sie an die Oberfläche zu ziehen. Wieder setzt die Vernunft die Einheit für das Sammeln: Indem die Vernunft die angemessenen Kategorien bis zur Ebene der absoluten Totalität der Reihen der Bedingungen für ein gegebenes Bedingtes erweitert, setzt sie die kosmologische Idee. Das andere Moment in der Struktur des kosmologischen Sammelns ist also das wirkliche Sammeln des Mannigfaltigen, der Reihe der Bedingungen, in diese Einheit- ein durch zeitgebundenes Denken ausgeführtes Sammeln durch ein Denken, das, an die Erscheinungen und ihre Art des Gegebenseins gebunden, aus den bruchstückhaften Erscheinungen die von der Vernunft bloß gesetzte Einheit aufbauen würde und sie somit in diese Einheit sammeln würde. Im Gegensatz zu den anderen Sammeltätigkeiten der Vernunft bewegt sich das kosmologische Sammeln im Bereich der Erscheinungen, des in der Anschauung Anwesenden, und würde daher mehr als ein bloßes Surrogat für die fehlende Anwesenheit liefern. Es würde die unter den Erscheinungen herrschende Fragmentierung beheben, sie beheben durch Vernunft, ohne jedoch den Bereich der Erscheinungen völlig zu überschreiten. Eben diese Ambivalenz macht den Widerstreit, die Antinomie unvermeidlich. Das Denken, das die Reihen der Erscheinungen in die von der Vernunft gesetzte Idee sammeln würde, ist seinem Wesen nach an die von der Zeit
Die Umkehrung
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gewirkte Fragmentierung gebunden, an das Sich-Verteilen der Erscheinungen in der Zeit, an die Artikulierung in einem fundamentalen Sinne, an die artikulierte Anwesenheit. Das Sammeln des artikulierten Mannigfaltigen vermag der von der Vernunft gesetzten Einheit nicht zu entsprechen; zwischen den beiden Seiten des Sammelos erfolgt ein radikaler Bruch, der, indem er die Vernunft in äußersten Widerstreit mit sich selbst versetzt, letztlich die Antinomien hervorbringt, an denen die rationale Kosmologie scheitert. Das transzendentale Ideal ist die höchste von der Vernunft gesetzte Einheit. Dieses Ideal, als Grund, sammelt wesentlich das Mannigfaltige aller Dinge zu sich; und somit ist die einzige Erfordernis für das wirkliche Sammeln, daß das Ideal als existierender Grund nachgewiesen wird. Das zweite Moment in der Struktur des Sammelns liegt in dem Beweis, daß das Ideal existiert - vor allem im ontologischen Beweis. Dieses Sammeln der Vernunft im Ideal würde die Fragmentierung beheben, die aller Bestimmung der Dinge in der menschlichen Erkenntnis anhängt, die Fragmentierung zwischen Mensch und Dingen. Aber der Beweis scheitert, und alles wirkliche Bestimmen der Dinge behält seine Bindung an das in der Anschauung Gegebene; es bleibt diesseits jener durchgängigen Bestimmtheit, die durch das transzendentale Ideal begründet würde. Somit legt die Kritik bei jeder der Sammeltätigkeiten der Vernunft eine radikale Nichtentsprechung zwischen den beiden Momenten bloß, die zur Struktur des Sammelns gehören: zwischen der von der Vernunft gesetzten Einheit und dem wirklichen Sammeln des Mannigfaltigen in diese Einheit. Sie zeigt, daß in jedem Fall das wirkliche Sammeln des Mannigfaltigen die Einheit, in welche die Vernunft jenes Mannigfaltige sammeln würde, nicht erreicht. Auf diese Weise wird eine Umkehrung vorbereitet: Hinsichtlich seines Resultats ist das Sammeln der Vernunft genau das Umgekehrte jenes in der Transzendentalen Analytik gemessenen Sammelns des reinen Verstandes. Während das Sammeln der Vernunft in der Errichtung einer radikalen Differenz zwischen dessen Momenten gipfelt, führt das Sammeln des Verstandes zu Identität, Einheit, Erfüllung. In die vom Verstand gesetzten Einheiten (die Kategorien) wird das Mannigfaltige der Anschauung gesammelt. Nachdem die Erscheinungen so in die Einheit der Objektivität gesammelt worden sind, werden sie weiterhin vom Subjekt zu sich gesammelt, zu seinem Setzen seiner selbst als jener transzendentalen Apperzeption, der die Einheit der Objektivität, das transzendentale Objekt, zugeordnet ist. Dieses Sammeln ist beschränkt, und die Transzendentale Analytik zieht diese Grenzen in unnachgiebiger Weise; jedoch wird innerhalb dieser Grenzen das Sammeln. ohne Einschränkung erfüllt. Wer leistet die Umkehrung? Die Einbildungskraft. Beim Sammeln des reinen Verstandes ist es die transzendentale Einbildungskraft, die das Mannigfaltige so sammelt, daß das Sammeln erfüllt wird, daß die Einheit von Einheit und Verschiedenheit gestiftet wird. Die Einbildungskraft sammelt das Mannigfaltige der Anschauung in die Einheit der Kategorien, und dieses
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Sammeln ist dementsprechend ein Sammeln in die Einheit der Objektivität, ein Sammeln des Objekts in die Anwesenheit; in anderen Worten ist das Sammeln durch die Einbildungskraft sowohl ein Sammeln in die Einheit als auch ein Sammeln in die Anwesenheit. Letzteres ist es, dessen Fehlen beim Sammeln der Vernunft besonders ins Auge fällt. In den Paralogismen wird das Ich nicht in das Beisichsein gesammelt; im Gegenteil, die Vernunft würde nur ein Surrogat liefern, die nur gesetzten, nur der Vernunft entstammenden Bestimmungen der Idee des (substanziellen) Ich. In noch höherem Grade bleibt die rationale Theologie allem Sammeln in die Anwesenheit fern, wenn sie den Versuch unternimmt, das Dasein Gottes aus dem bloßen Begriff Gottes herzuleiten. Nur im Falle der kosmologischen Ideen, die innerhalb des Bereichs der Erscheinungen bleiben, ist das Sammeln der Vernunft verknüpft mit einem Sammeln in die Anwesenheit. Und man könnte die Vermutung wagen, daß hier der Grund dafür zu suchen ist, daß der einzige Hinweis auf die Einbildungskraft in der gesamten Transzendentalen Dialektik (abgesehen von einigen Rückverweisen auf die Analytik) in der Kritik der rationalen Kosmologie vorkommt, genauer gesagt, bei dem Aufspüren der Bewegung des Schließens von der absoluten Totalität der Reihen der Bedingungen auf das Unbedingte: "Dieses Unbedingte ist nun jederzeit in der absoluten Totalität der Reihe, wenn man sie sich in der Einbildung vorstellt, enthalten" (A416/ B444). Aber eben seine Bindung an ein Sammeln in die Anwesenheit durch ein an das zeitliche Sich-Verteilen der Erscheinungen, an die artikulierte Anwesenheit gebundenes Denken, ist das, was das Sammeln der kosmologischen Vernunft zum Scheitern verurteilt. Die Umkehrung dient dazu, mehrere Fragen anzugehen. Ist die Umkehrung zwischen den beiden Weisen des Sammelns nur auf die Einbeziehung bzw. Nichteinbeziehung der Einbildungskraft zurückzuführen? Und wenn dem so ist, wie läßt sich der eben aus der Kritik der kosmologischen Vernunft zitierte Hinweis auf die Einbildungskraft erklären? Und was ist dieses Vermögen der Einbildungskraft, das nicht nur in eine Einheit, sondern auch in die Anwesenheit zu sammeln vermag? Die Umkehrung, das umgekehrte Bilden, rückt das Problem der Einbildungskraft in den Vordergrund.
2. Die Einbildungskraft In den wichtigsten Kantischen Texten wird das Problem der Einbildungskraft nicht oft direkt und um seiner selbst willen aufgegriffen, sondern gewöhnlich im Zusammenhang mit anderen Problemen und ohne ausdrückliche genauere Darlegung eingeführt. Die einzige Ausnahme bildet der Text, der auf einer populären Vorlesungsreihe beruht, die Kant rund dreißig Jahre hindurch anbot und schließlich (als er aus Altersgründen den Vortrag aufgeben mußte) unter dem Titel Anthropologie in pragmatischer Hinsicht veröffentlichte. Dem Stil dieses einer allgemeinen Zuhörerschaft angepaßten Textes mangelt
Die Einbildungskraft
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es an der Schärfe und Präzision, die für die meisten der von Kant nur für den Druck bearbeiteten Texte so kennzeichnend sind. Jedoch wird das, was dem Text in dieser Hinsicht fehlt, mehr als wettgemacht durch die kühnere, freiere, gelegentlich fast exotische Exposition, ganz zu schweigen davon, daß dies der einzige Text ist, worin bestimmte Themen, darunter das der Einbildungskraft, ausdrücklich zur Sprache kommen. Die Einbildungskraft wird zuerst in einem Abschnitt mit der Überschrift "Von den fünf Sinnen" eingeführt(§ 15f, das heißt, im Rahmen einer Erörterung der Sinnlichkeit. Kant beginnt: "Die Sinnlichkeit im Erkenntnißvermögen (das Vermögen der Vorstellungen in der Anschauung) enthält zwei Stücke: den Sinn und die Einbildungskraft". So wird die Einbildungskraft nicht nur im Rahmen der Sinnlichkeit, sondern als eine der beiden von der Sinnlichkeit angenommenen Erscheinungsformen eingeführt. Unmittelbar darauf unterscheidet Kant zwischen den beiden Formen, indem er den Gegensatz zwischen Anwesenheit und Abwesenheit herausarbeitet: "Das erstere [der Sinn] ist das Vermögen der Anschauung in der Gegenwart des Gegenstandes, das zweite auch ohne die Gegenwart desselben." Die Unterscheidung ist deshalb besonders merkwürdig, weil sogar der Begriff der Sinnlichkeit, der Anschauung, an den der Gegenwart geknüpft wird. Die Anschauung wird verstanden als das In-unmittelbarer-Beziehung-zum-Gegenstand-Sein, das Ihn-für-das-Sehen -bzw. -für-das Empfindungsvermögen-Gegenwärtighaben. Folglich geht es bei der Einbildungskraft als dem Vermögen der Anschauung des Gegenstandes ohne dessen Gegenwart, der Anschauung also eines abwesenden Gegenstandes, darum, etwas anwesend zu machen, was in anderer Hinsicht abwesend ist und bleibt. Selbst auf dieser elementaren Ebene bringt die Einbildungskraft ein gewisses Spiel von Anwesenheit und Abwesenheit, ein Sammeln in die Anwesenheit herein. Und weil sie etwas anwesend macht, kann die Einbildungskraft nicht nur passiv sein (wie der Sinn es ist). Sie ist vielmehr ein aktiver Stamm innerhalb der Sinnlichkeit, innerhalb der Passivität überhaupt. Indem die Einbildungskraft ein Spiel von Anwesenheit und Abwesenheit hereinbringt, übernimmt sie ihre Rolle als ein Spiel von Aktivität und Passivität, als die Aktivität innerhalb der Passivität. Ausführlicher dargestellt wird das Problem der Einbildungskraft in § 28 mit der Überschrift "Von der Einbildungskraft. " 3 Kant beginnt: Die Einbildungskraft (jacultas imaginandi) als ein Vermögen der Anschauung auch ohne Gegenwart des Gegenstandes, ist entweder productiv, d.i. ein Vermögen der ursprünglichen Darstellung des letzteren (exhibitio originaria), welche also vor der Erfahrung vorhergeht; oder reproductiv, der abgeleiteten (exhibitio derivativa ), welche eine vorher gehabte empirische Anschauung ins Gemüth zurückbringt. 2
3
VII,l53f. VII,l67ff.
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Indem Kant also die Einbildungskraft in zwei Arten einteilt, stellt er eine Wechselbeziehung zwischen den beiden Gegensatzpaaren - produktiv/reproduktiv und ursprünglich/abgeleitet - her. Wenige Sätze später fügt er einen weiteren Gegensatz hinzu: "Die Einbildungskraft ist (mit andern Worten) entweder dichtend (productiv) oder zurückrufend (reproductiv)." So ist also die Einbildungskraft entweder produktiv-ursprünglich-dichtend oder reproduktiv-abgeleitet-zurückrufend. Richtet man das Augenmerk insbesondere auf den Gegensatz ursprünglich/abgeleitet und bezieht man diesen auf die Entgegensetzung von ursprünglicher und abgeleiteter Anschauung in der Kritik der reinen Vernunft, so zeigt sich das Entscheidende an diesem Unterschied: Die produktive Einbildungskraft ist so beschaffen, daß sie sich selbst ihren Gegenstand gibt und nicht eine vorher gehabte empirische Anschauung nur variiert. Aus diesem Grunde fügt Kant klärend hinzu: In der produktiven Einbildungskraft ist eine Darstellung, "welche also der Erfahrung vorhergeht". Dann liegt das Problem aber darin, wie sich eine solche produktive Einbildungskraft (die einem endlichen, auf Affektion angewiesenen Subjekt zukommt) von der ursprünglichen Anschauung (die nur ein unendliches Subjekt haben könnte) unterscheiden läßt. Die Behandlung dieses Problems erfordert eine engere Eingrenzung des Wesens jenes Gegenstandes, den die produktive Einbildungskraft sich selbst gibt. Was für ein Gegenstand ist es, den die produktive Einbildungskraft bei einer solchen ursprünglichen Darstellung darstellt (anschaut)? Da die menschliche Erkenntnis rezeptiv, auf die Affektion angewiesen ist, könnte dieser Gegenstand kein empirischer sein; letzterer läßt sich nur dann anschauen, wenn er das Subjekt affiziert, mithin nicht auf ursprüngliche Weise. Die einzige Art Gegenstand, die sich die produktive Einbildungskraft geben könnte, wäre diejenige, die sich unabhängig von Affektion, also a priori, anschauen ließe. Aber nur Raum und Zeit, die bloßen Formen angeschauter Gegenstände, erfüllen diese Bedingung: "Reine Raumes- und Zeitanschauungen gehören zur ersteren [der ursprünglichen] Darstellung; alle übrigen setzen empirische Anschauung voraus ... ". So bringt die produktive Einbildungskraft die Formen von Raum und Zeit, also die räumliche und zeitliche Form, auf ursprüngliche Weise hervor. Kant bezieht sich dabei auf die Unterscheidung zwischen endlicher produktiver und unendlicher ursprünglicher Einbildungskraft, indem er zwischen "produktiv" und "schöpferisch" unterscheidet: "Die productive aber ist dennoch darum eben nicht schöpfen"sch, nämlich nicht vermögend, eine Sinnenvorstellung, die vorher unserem Sinnesvermögen nie gegeben war, hervorzubringen, sondern man kann den Stoff zu derselben immer nachweisen." Und er fügt hinzu: "Wenn also gleich die Einbildungskraft eine noch so große Künstlerin, ja Zauberin, ist, so ist sie doch nicht schöpferisch, sondern muß den Stoff zu ihren Bildungen von den Sinnen hernehmen." Entscheidend ist: Die produktive Einbildungskraft gibt sich selbst, schafft sich, nur die Form ihres Gegenstandes (die raumzeitliche Form); den Stoff, den sinnlichen
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Gehalt, muß sie dadurch bekommen, daß sie einen einmal dem Sinn gegebenen Inhalt reproduziert. Folglich baut die produktive auf der reproduktiven Einbildungskraft auf und schließt letztere immer ein, als denjenigen Bestandteil nämlich, der den Inhalt bereitstellt. Was die produktive von der bloß reproduktiven Einbildungskraft unterscheidet, ist, daß sie die Form des Gegenstandes hervorbringt, erdichtet, statt nur eine frühere Form zu reproduzieren4. Die produktive Einbildungskraft formt Bilder, bringt Sinnesinhalte in die raumzeitliche Form eines Bildes zusammen. Weiter oben wurde der Zusammenhang zwischen den beiden Gegensatzpaaren Anwesenheit/Abwesenheit und passiv/aktiv einerseits und dem Begriff der Einbildungskraft andererseits dargelegt. Dieser Zusammenhang läßt sich nun thematisieren. Das Moment der Abwesenheit konstituiert sich dadurch, daß der Inhalt des Bildes nicht gegeben wird: Er wurde vorher einmal gegeben (war anwesend), ist jetzt aber nicht gegeben (ist abwesend). Somit steht die Abwesenheit ihrem Wesen nach im Gegensatz zu einer vergangenen Anwesenheit; sie ist auf eine vergangene Anwesenheit bezogene gegenwärtige Abwesenheit. Auf diese Weise tritt das Spiel von Anwesenheit und Abwesenheit in der Einbildungskraft in Zusammenhang mit dem zeitlichen Gegensatz zwischen Gegenwärtigem und V ergangenem. In der Gegenüberstellung von passiv und aktiv, wie sie bei der Einbildungskraft im Spiele ist, konstituiert sich das Moment der Passivität dadurch, daß der Inhalt durch die Sinne gegeben (passiv empfangen) werden muß. Das Moment der Aktivität liegt in der Reproduktion des Inhalts und, im Falle der produktiven Einbildungskraft, in dessen Formung. Auch hier fällt ein Zusammenhang mit dem zeitlichen Gegensatz ins Auge: Die Passivität der Einbildungskraft ist nicht unmittelbar, sondern ist eine vermittelte Passivität, vermittelt durch den Gegensatz zwischen Gegenwärtigem und Vergangenem. Die Kritik der reinen Vernunft weicht von dem in der Anthropologie erarbeiteten Begriff der Einbildungskraft nicht ab. Zwar reproduziert sie diese Ausarbeitung keineswegs, aber sie übernimmt die Bestimmung der Einbildungskraft, bei der diese Ausarbeitung ansetzt, übernimmt sie sogar explizit: ,,Einbildungskraft ist das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen" (B151). Aber indem die Kritik der reinen Vernunft das Problem der Einbildungskraft mit dem der Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung, damit letztlich mit dem Problem der Synthesis in Zusammenhang bringt, rückt sie eine neue Unterscheidung in den Mittelpunkt: Entsprechend der Unterscheidung zwischen der Synthesis des reinen Mannigfaltigen und derjenigen des empirischen Mannigfaltigen In § 31 (VII,174-77), der den Titel "Von dem sinnlichen Dichtungsvermögen nach seinen verschiedenen Arten" trägt, identifiziert und erörtert Kant drei Weisen, wie diese Formgebung stattfinden kann: 1) durch das bildende Dichtungsvermögen der Anschauung im Raum, 2) durch das Vermögen der Assoziation und 3) durch das Vermögen der Verknüpfung aufgrundvon Verwandtschaft. 4
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unterscheidet Kant zwischen zwei Funktionen der Einbildungskraft (als des Vermögens der Synthesis), also zwischen empirischer und transzendentaler Einbildungskraft. Diese Unterscheidung hat ihren Ort außerhalb des Rahmens der Anthropologie: Sie entspricht nicht der Unterscheidung zwischen produktiver und reproduktiver Einbildungskraft; denn sowohl empirische als auch transzendentale Einbildungskraft gehören auf die Seite der produktiven Einbildungskraft, weil sie dem Mannigfaltigen Form geben. Genauer gesagt entspricht die empirische Einbildungskraft, die im empirischen Mannigfaltigen die Synthesis stiftet und den sinnlichen Gehalt zu einem Bilde formt, der in der Anthropologie herausgearbeiteten produktiven Einbildungskraft: Sie enthält sowohl ein reproduktives Moment, wodurch sie ihren Inhalt bezieht, als auch ein produktives Moment, wodurch sie diesen Inhalt zu einem Bilde formt. Ihre Verschiedenheit von der produktiven Einbildungskraft ist hauptsächlich eine Funktion der Verschiedenheit ihres Kontextes: Die empirische Einbildungskraft ist "ein nothwendiges Ingredienz der Wahrnehmung selbst" (A120 Anm.), während die produktive Einbildungskraft, zumindest wie sie in der Anthropologie thematisiert wird, zufällig und der Wahrnehmungserfahrung zusätzlich beigegeben ist, also nicht zu den Bedingungen ihrer Möglichkeit gehört. Dagegen stiftet die transzendentale Einbildungskraft im reinen (apriorischen) Mannigfaltigen eine Synthesis. In dieser Hinsicht ist Kant emphatisch: "Es kann aber nur die productive Synthesis der Einbildungskraft a priori stattfinden; denn die reproductive beruht auf Bedingungen der Erfahrung" (A118). Folglich kann bei der transzendentalen Einbildungskraft kein reproduktives 1\-loment im Spiele sein, sondern sie ist rein produktiv (im Gegensatz zu der in der Anthropologie abgegrenzten produktiven Einbildungskraft, bei der im wesentlichen ein reproduktives Moment im Spiele ist). Aber selbst ohne Kants emphatische Erklärung könnte man zu demselben Schluß kommen: Während die transzendentale Einbildungskraft durch den transzendentalen Schematismus das Mannigfaltige der reinen Anschauung formt und somit die Zeit bildet, setzt die reproduktive Einbildungskraft die geformte Zeit (mit ihrem geordneten Reihencharakter) voraus und ist so nur auf der von der Funktion der transzendentalen Einbildungskraft bereitgestellten Grundlage möglich. Nichts in der Anthropologie entspricht auch nur strukturell der transzendentalen Einbildungskraft. Und dennoch bleibt ein Zusammenhang durch die beiden Texten gemeinsame allgemeine Konzeption, daß die Einbildungskraft das Vermögen ist, das etwas (in anderer Hinsicht) Abwesendes anwesend macht, daß die Einbildungskraft ein Spiel von Anwesenheit und Abwesenheit einleitet. Die transzendentale Einbildungskraft macht zwar kein abwesendes Objekt anwesend, ermöglicht aber die Objektivität als solche und ist somit die Bedingung eben der Möglichkeit von Anwesenheit und Abwesenheit.
Einbildungskraft und dialektische Täuschung
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3. Einbildungskraft und dialektische Täuschung In gewissem Sinne läßt sich das Scheitern des Sammelns der Vernunft in jedem Falle dem zweiten der Gesamtstruktur des Sammelns zugehörigen Moment zuschreiben. Dieses Moment, das eigentliche Sammeln in die gesetzte Einheit, entspricht nicht der Einheit der Idee, und das Sammeln scheitert durch den so zwischen ihren Momenten herbeigeführten Bruch. Selbst in dem einen Falle, in dem das zweite Moment des Sammelns eine Verbindung mit Erscheinungen, Zeit, artikulierter Anwesenheit behält, dem Falle also, wo das Sammelvermögen der Einbildungskraft, das durch das Sammeln des Verstandes bezeugt wird, ins Spiel kommen könnte - selbst hier (und hier ganz besonders) entspricht das wirkliche Sammeln der von der Vernunft gesetzten Idee am allerwenigsten 5 • Andererseits gibt es keinen Grund, weshalb man seine Perspektive nicht so verschieben sollte, daß das Scheitern dem ersten Moment beim Sammeln der Vernunft zugeschrieben würde; das Scheitern läßt sich mit gleichem Recht damit begründen, daß die Vernunft die Einheit für das Sammeln völlig jenseits der Reichweite jeden wirklichen Sammelns setzt. Ja, im Hinblick auf zwei der drei Arten des Sammelns neigt Kant dazu, das Scheitern dem ersten Moment zuzuschreiben, das Setzen der Idee als das darzustellen, was den Schluß dialektisch macht. Im Falle der Paralogismen wird dieses Setzen als eine unzulässige Verkehrung des bestimmenden in das bestimmbare Ich entlarvt, eine Verkehrung des Subjekts als Subjekts (der transzendentalen Apperzeption) in das Subjekt als Objekt (res cogitans), ein Umlenken ihres Setzens ihrer selbst als Subjekts zu einem Setzen ihrer selbst als Objekts, eine ursprüngliche Selbstobjektivierung, eine Selbstvergessenheit. Allgemeiner gesagt geht es darum, daß man "seine Gedanken zu Sachen macht und sie hypostasirt" (A395 ), eine subjektive Bedingung mit etwas Objektivem verwechselt - sich vom Subjektiven ab- und dem Objektiven zukehrt. Eine solche Abkehr wurde, wie man sich erinnern wird, gleich zu Anfang der Transzendentalen Dialektik als Ursprung der dialektischen Täuschung erkannt (vgl. A297 /B353 sowie Kap. ll,l ). Und sie liegt dem kosmologischen Sammeln nicht weniger zugrunde. Insbesondere bei der kritischen Lösung der Antinomien wird deutlich, daß die grundlegende Täuschung, die den in den Antinomien formulierten Widerstreit entstehen läßt, darin liegt, daß der Idee der Welt (in ihren verschiedenen kategorialen Hinsichten) fälschlich ein ihr entsprechender Gegenstand außer ihrer selbst zugeschrieben wird; das heißt, Diese Rolle der Einbildungskraft im Moment des wirklichen Sammelns, eine Rolle, die anscheinend auf die kosmologische Phase beschränkt ist, wird in der Kritik der Urteilskraft identifiziert(§ 57), wo sie als Grundlage für eine ausdrücklich formulierte Umkehrung dient: "So wie an einer Vernunftidee die Einbildungskraft mit ihren Anschauungen den gegebenen Begriff nicht erreicht: so erreicht bei einer ästhetischen Idee der Verstand durch seine Begriffe nie die ganze innere Anschauung der Einbildungskraft, welche sie mit einer gegebenen Vorstellung verbindet" (V,343). 5
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Vernunft, Einbildungskraft, Wahnsinn
man verwechselt das Subjektive (die Idee der Welt) mit dem Objektiven (der Welt selbst), kehrt sich vom Subjektiven ab und dem Objektiven zu. Nur im Falle des Sammelns der Vernunft im Ideal fehlt die Verschiebung zum ersten Moment hin -jedoch nicht, weil die dialektische Täuschung in diesem Falle auf andere Art als durch die Wendung vom Subjektiven zum Objektiven entspringt. Im Gegenteil, dieses letzte und am reinsten der Vernunft zugehörige Sammeln ist von Anfang an jeglicher artikulierter Anwesenheit so fern, daß es praktisch aus nichts als einer solchen Verkehrung besteht und in dem gipfelt, was man wohl als das Urbild einer solchen Verkehrung betrachten könnte, nämlich den Schluß im ontologischen Beweis von der Idee Gottes auf die Existenz Gottes. Sobald diese Verschiebung zum ersten Sammelmoment hin vollzogen ist, oder, was noch wichtiger ist, sobald die Hervorbringung der dialektischen Täuschung auf das Setzen der Idee zurückgeführt worden ist, insbesondere auf das Wesen des Setzens als einer Abkehr vom Subjektiven zum Objektiven, wird ein archaisches Neulesen gewisser Texte erforderlich. Was würde dieses Neulesen erbringen? Eine Anzahl von Texthinweisen auf die Mittäterschaft der Einbildungskraft bei der Heroorbringung des dialektischen Scheins. Stellen wir einige dieser Textstellen zusammen: ( 1) In der Einleitung zu den Prolegomena 6 verweist Kant auf die entscheidende Bedeutung des Rumeschen Angriffs auf die Metaphysik: Seit Lockes und Leibnizens Versuchen, oder vielmehr seit dem Entstehen der Metaphysik, so weit die Geschichte derselben reicht, hat sich keine Begebenheit zugetragen, die in Ansehung des Schicksals dieser Wissenschaft hätte entscheidender werden können, als der Angriff, den David Hume auf dieselbe machte. Nachdem er den Kontext dieses Angriffs auf die traditionelle Metaphysik umrissen hat, faßt Kant Humes Angriff auf den Begriff der Kausalität zusammen und gelangt zu folgendem Schluß: Hieraus schloß er, daß die Vernunft sich mit diesem Begriffe ganz und gar betrüge, daß sie ihn fälschlich für ihr eigen Kind halte, da er doch nichts anders als ein Bestand der Einbildungskraft sei, die, durch Erfahrung beschwängert, gewisse Vorstellungen unter das Gesetz der Association gebracht hat und eine daraus entspringende subjective Nothwendigkeit, d.i. Gewohnheit, für eine objective, aus Einsicht, unterschiebt (Hervorhebungen d. Verf.). Dieser Text ergibt folgendes Schema (das sich, was Kant selbst in der Transzendentalen Analytik tut, leicht von dem Begriff der Kausalität ablösen läßt): Eine (unzulässige) Abkehr vom Subjektiven zum Objektiven hat ihren Ursprung in der Einbildungskraft, wenngleich es (sogar für die Vernunft) den 6
IV,257f.
Einbildungskraft und dialektische Täuschung
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Anschein haben mag, als läge ihr Ursprung in der Vernunft. Und das Ganze geschieht nicht auf rechtmäßige, sondern auf unrechtmäßige Weise. (2) In einem bemerkenswerten Abschnitt (§ 32) in der Anthropologie bemerkt Kant, indem er in verschiedenen Beispielen auf das der produktiven Einbildungskraft innewohnende reproduktive Moment verwiesen hat: "Die Einbildungskraft ist indessen nicht so schöpferisch, als man wohl vorgiebt." Wie um ihre Schwäche in dieser Hinsicht dadurch wettzumachen, daß er auf ihre exzeptionelle Stärke auf anderem Gebiet verweist, fährt er fort: "Die Täuschung durch die Stärke der Einbildungskraft des Menschen geht oft so weit, daß er dasjenige, was er nur im Kopf hat, außer sich zu sehen und zu fühlen glaubt." Kant erwähnt den Schwindel, den "einige Gemüthskranke" erleben und schließt dann mit einem exotischen Beispiel: Der Anblick des Genusses ekeler Sachen an anderen (z.B. wenn die Tungusen den Rotz aus den Nasen ihrer Kinder mit einem Tempo heraussaugen und verschlucken) bewegt den Zuschauer eben so zum Erbrechen, als wenn ihm selbst ein solcher Genuß aufgedrungen würde. Dasselbe Schema wie vorher - in diesem Falle ergänzt durch einen Hinweis auf die Gesetzlosigkeit der Einbildungskraft, auf Stärke, Wahnsinn, exotische Anblicke. (3) Die eine (bereits angeführte) Stelle, wo Kant die Einbildungskraft im Rahmen der Problematik der Transzendentalen Dialektik beschreibt, läßt sich jetzt neu lesen: "Dieses Unbedingte ist nun jederzeit in der absoluten Totalität der Reihe, wenn man sie sich in der Einbildung vorstellt, enthalten" (A416/B444). Diese Stelle stört die Einfachheit des Ursprungs, wie sie bisher der dialektischen Täuschung beigelegt wurde - beigelegt etwa in jenem vorläufigen Titel, den Kant in der Einleitung zur Transzendentalen Dialektik verwendet: "Von der reinen Vernunft als dem Sitze des transzendentalen Scheins". Die Idee entspringt nicht nur durch ein Setzen der Vernunft, sondern bedarf für ihre Entstehung auch der Einbildungskraft. Insbesondere für die Idee als eines unbedingten ersten Gliedes der Totalität ist der Ursprung gemischt: er setzt Vernunft und Einbildungskraft voraus. ( 4) Es ist an der Zeit, auch jene Stelle im ersten Absatz der Transzendentalen Dialektik neu zu lesen, wo Kant ausdrücklich die metaphysische Abkehr vom Subjektiven zum Objektiven mit dem Einfluß der Sinnlichkeit in Verbindung bringt: Weil wir nun außer diesen beiden Erkenntnißquellen keine andere haben, so folgt: daß der Irrthum nur durch den unbemerkten Einfluß der Sinnlichkeit auf den Verstand bewirkt werde, wodurch es geschieht, daß die subjectiven Gründe des Urtheils mit den objectiven zusammenfließen und diese von ihrer Bestimmung7 abweichend machen; so wie 7
Vll,l78.
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Vernunft, Einbildungskraft, Wahnsinn
ein bewegter Körper zwar für sich jederzeit die gerade Linie in derselben Richtung halten würde, die aber, wenn eine andere Kraft nach einer andern Richtung zugleich auf ihn einfließt, in krummlinige Bewegung ausschlägt (A294/B350f.) 8 • Man braucht nur daran zu erinnern, daß (z.B. in der Anthropologie) die Einbildungskraft zur Sinnlichkeit gerechnet wird, daß sie eine der beiden von der Sinnlichkeit angenommenen Formen ist. Sie ist der aktive Stamm der Sinnlichkeit und eben nach dieser Darstellung dasjenige Element der Sinnlichkeit, das befähigt ist, einen "unbemerkten Einfluß" auszuüben, die Rolle einer "anderen Kraft" zu übernehmen, die "nach einer andern Richtung" wirkt. Diese Schicht der Transzendentalen Dialektik ist es, die ich vermittels der Strategie der Umkehrung bloßlegen wollte. Die dialektische Täuschung, die in einer Abkehr vom Subjektiven und Hinkehr zum Objektiven besteht, hat als ihren Ursprung nicht nur das Vernunftvermögen des Setzens, sondern auch das Vermögen der Einbildungskraft, etwas (anschaulich) vorzustellen. Ja, man könnte die Annahme wagen, daß sogar die transzendentale Einbildungskraft dazugehört, vielleicht sogar vorrangig, weil die Einbildungskraft gerade in dieser Funktion zur Bedingung eben der Möglichkeit von Objektivität, von artikulierter Anwesenheit wird. Und man darf sich wohl fragen, ob das Eingehen der Einbildungskraft in den Ursprung des Sammelns der Vernunft nicht erforderlich ist, wenn jener Übergang vom bloßen Denken zum Setzen von Seele, Welt und Gott als (mutmaßlich) objektiv Anwesenden je stattfinden soll. Man darf sich wohl fragen, ob es nicht in erster Linie die Einbildungskraft ist, die den Menschen - indem sie ihn über sich selbst hinaustreibt - zu einer solchen unvermeidlichen Täuschung anstiftet und diese zu etwas auf immer von bloßen Irrtümern der Urteilskraft Unterschiedenem macht. Aber die Einbildungskraft, welche die Metaphysik gebiert, tut dies auf unrechtmäßige, gesetzlose Weise, außerhalb des Gesetzes. Die von ihr am Ursprung der Metaphysik vollzogene Kehre ist gewissen schwindelerregenden Kehren von Wahnsinnigen verwandt, wie auch dem Ekel, den der Besucher aus zivilisierten Breiten beim Anblick exotischer, wilder Schauspiele empfindet. Lassen sich dann jene ausgedehnten Passagen in der Anthropologie 9 8 Eine verwandte Stelle aus der Vorrede zur zweiten Auflage verknüpft dieses Eindringen von Sinnlichkeit und Einbildungskraft in die Vernunft mit der Gefahr einer damit verbundenen Zersetzung der Vernunft in ihrer praktischen Anwendung:" ... , daß die Grundsätze, mit denen sich speculative Vernunft über ihre Grenze hinauswagt, in der That nicht Erweiterung, sondern, wenn man sie näher betrachtet, Verengung unseres Vernunftgebrauchs zum unausbleiblichen Erfolg haben, indem sie wirklich die Grenzen der Sinnlichkeit, zu der sie eigentlich gehören, über alles zu erweitern und so den reinen (praktischen) Vernunftgebrauch gar zu verdrängen drohen" (BXX!Vf.). 9
VII,212-220.
Einbildungskraft und dialektische Täuschung
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einfach als Kuriositäten vergangener Zeiten übergehen, wo Kant Geistesgestörtheit, also Wahnsinn, mit der Einbildungskraft und deren kennzeichnendem Vermögen der Verkehrung von Subjektivem in Objektives verbindet? So etwa wenn er den Wahnsinn beschreibt als diejenige Störung des Gemüts, "da durch falsch dichtende Einbildungskraft selbstgemachte Vorstelluno gen für Wahrnehmungen gehalten werden"? Läßt sich solcher Wahnsinn mit theoretischen Mitteln eingrenzen, isolieren? Kann sich der vernunftbegabte Bewohner zivilisierter Breiten von der Bedrohung durch dessen Stärke, vom Widerwillen angesichts dessen Wildheit wirkungsvoll abschirmen? Oder hat der Wahnsinn, die Ekstase der Einbildungskraft schon immer teil am Entstehen der Vernunft und ihres Sammelns, am Entstehen der Metaphysik? Fließt er schon immer und unaufhaltsam in diese "Naturanlage" des Menschen ein? Hat er sich, in einer absolut unwiederbringlichen Vergangenheit, bereits eingenistet an dem Punkt, "wo sich die allgemeine Wurzel unserer Erkenntnißkraft theilt und zwei Stämme auswirft, deren einer Vernunft ist"? 0
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SIEBTES KAPITEL DIE SICHERHEIT DER METAPHYSIK UND DAS SPIEL DER EINBILDUNGSKRAFT
1. Das Spiel der Abwesenheit Die Annahme, Metaphysik lasse sich auf sicherem Boden begründen, läßt sich nicht halten. Im Gegenteil, bereits die archaische Reflexion brachte, wenn auch erst in einem begrenzten Sinne, die Thematik der Krisis unabweisbar in den Blick, führte heran an die Krisis der Metaphysik, die Krisis ihrer Grundlegung. Denn diese Grundlegung erfolgte an dem Punkt, an dem "sich die allgemeine Wurzel unserer Erkenntnißkraft theilt und zwei Stämme auswirft, deren einer Vernunft ist". Die Metaphysik setzt damit ein, diese Teilung ausdrücklich zu vollziehen, jene Wende auszuführen, die in einem Akt der Abwendung von dem unmittelbar Gegenwärtigen den Rekurs auf die Vernunft begründet. Das Schema, das durch diese Einsetzung der Metaphysik definiert ist, die Struktur, worauf die Metaphysik sich gründet, kann den Angriff auf die Autarkie der Vernunft nicht einfach neutralisieren, den ich dadurch auszulösen suchte, daß ich die Mannigfaltigkeit, die Unsicherheit und die Offenheit des Neubeginns ins Spiel brachte, der von Kant vollzogen und in seinen Texten dargelegt wird. Zwei schwerwiegende Erschütterungen hat diese Struktur erfahren, als einschneidende Attacken auf die Sicherheit ihrer Fundamente hinnehmen müssen. Die erste Erschütterung ergab sich aus der projektiven Interpretation: Hier zielte die Interpretation darauf, auch im Kautischen Ansatz das Fortwirken jenes Moments wiederzuentdecken, das in den Begriff der Vernunft, dem die tradierte Struktur im starken Maße ihre begriffliche Bestimmtheit verdankt, nur unterschwellig eingegangen war, hob die Inpretation also darauf ab, die Vernunft als das Sammeln (in die Anwesenheit) zu interpretieren, und lief darum im Effekt darauf hinaus, innerhalb des Kautischen Textes selbst die Differenz zwischen der tradierten Struktur und ihrem griechischen Ursprung aufzudecken, die tradierte Struktur durch die Gegenüberstellung mit ihrem vergessenen Ursprung, durch die Rückkehr in die Phase ihrer anfänglichen Einsetzung zu erschüttern. Dem damit bereits erschütterten Begriff der Vernunft fügt die inversive Interpretation (oder genauer der Teilschritt dieser Interpretation, der sich auf die Erfassung der immanenten Kohärenz der Kritik konzentriert) eine noch schwerwiegendere Erschütterung zu, indem sie das Wirken der Einbildungskraft zu jenem ursprünglichen Geschehen erhebt, aus dem die Vernunft und deren Sammeln entspringen. Damit ist die Autonomie der theoretischen Vernunft untergraben, sogar ihre Autonomie als eines dialektischen Vermögens, als der Urheberin des Scheins; die tradierte Auffassung, nach der die autonome Vernunft
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Das Spiel der Einbildungskraft
in rigoroser Abgekehrtheit vom konkret und anschaulich Gegenwärtigen das Absolute zu denken vermöge, fällt dem Befund der inversiven Interpretation zum Opfer; an ihre Stelle tritt das Postulat der dyadischen Zweiheit von Vernunft und Einbildungskraft, eine Zweiheit, die im Spiegel der Verkehrung, des Wahnsinns, die Zweiheit abbildet, welche die Erfüllung des Sammelns des Verstandes sicherte. Sowohl die traditionelle Struktur als auch Kants Versuch, diese zurückzuverfolgen, sowohl die Metaphysik als auch die Kritik, werden durch den übergriff der Einbildungskraft auf die Vernunft aus den Fugen gebracht. Denn die Einbildungskraft ist ihrem Wesen nach eng verknüpft mit der Abwesenheit, mit einem Spiel von Anwesenheit und Abwesenheit, einem Spiel, zu dessen wichtigsten Bedingungen die Nichtrückführbarkeit des Unterschieds zwischen Anwesenheit und Abwesenheit gehört. Die Einbildungskraft macht etwas anwesend, was in anderer Hinsicht abwesend ist und was in dieser anderen Hinsicht ebenso notwendig abwesend ist, wie die Zeit notwendig vergeht. Diese Abwesenheit ist nicht der Art, daß man sie durch ein Sich-Abkehren, durch den Rekurs auf eine ursprünglichere Anwesenheit letztlich ungültig machen, überwinden würde. Vielmehr ist sie der Art, daß sie bei allem Anwesendmachen aufrecht erhalten bleibt, aufrecht erhalten als eine Bedingung der Möglichkeit des Anwesendmachens. Selbst jenes in der Transzendentalen Analytik nachvollzogene Sammeln-in-die-Anwesenheit ist unauslöschlich in den Bogen solcher Abwesenheit eingezeichnet. Kants Text durchläuft -auf nahezu widersprüchliche Weise- eine Reihe von Positionen in diesem Bogen. Am einen Ende die Eröffnungsgeste der Transzendentalen Ästhetik: Wenngleich wir Gegenstände nur dann erfahren können, wenn wir von ihnen affiziert werden, wenngleich auch dann noch Denken zur Ergänzung der Anschauung erforderlich ist, haben wir immerhin -- sind diese Bedingungen einmal erfüllt - Erfahrung von diesen Gegenständen. Sie sind dem Erkennen tatsächlich gegenwärtig, sei es auch nur partiell, aus begrenzter Perspektive, nur wie sie erscheinen. Ohne diese Geste gänzlich zu unterdrücken, fügt die Transzendentale Analytik eine weitere hinzu: Da Erkenntnis gänzlich aus bloßen Empfindungen des sie beseelenden Subjekts aufgebaut ist, bleibt keine Identität, keine Kontinuität zwischen dem - vorkritisch gesprochen - das Subjekt affizierenden Gegenstand und dem durch Rekonstruktion aus bloßen Bruchstücken tatsächlich erfahrenen Gegenstand. Diese Geste verweist auf die nichtrückführbare Abwesenheit des Gegenstandes; und es ist von äußerster Bedeutsamkeit, daß sich der diese Gesten verbindende Bogen, das Kreisen zwischen ihnen, als ununterdrückbar erweist es sei denn, man beabsichtigte, den gesamten Kantischen Entwurf zu zerstören1. Jacobis bekannte Erklärung verfolgt diesen Kreis zurück: Ohne das In einem Brief aus dem Jahre 1 791 benannte J .S. Beck dieses Problem mit kaum zu überbietender Deutlichkeit: "Die Kritik nennt Anschauung eine Vorstellung, die sich unmittelbar auf ein Objekt bezieht. Eigentlich aber wird doch eine Vorstellung allererst 1
Das Spiel der kritischen Metaphysik
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Ding an sich kommt man nicht in die Kritik der reinen Vernunft hinein, aber mit dem Ding an sich kann man nicht darin bleiben 2 • Selbst Fichtes Strategie, der den Bogen noch weiter spannt, um auch die Affektion noch mit in das konstruktive Vermögen des Subjekts hineinzunehmen, löschte den Kreis nicht, sondern diente vielmehr dazu, ihn und seinen Zusammenhang mit der Einbildungskraft nur noch tiefer einzugraben 3 • Der Zusammenhang mit der nichtrückführbaren Abwesenheit macht die Einbildungskraft ekstatisch: Die Einbildungskraft bewirkt, daß wir über uns selbst hinausgehen, öffnet uns für das, was als wesentlicher Anlaß dieses Offnens selbst verdeckt bleibt. Die Einbildungskraft ist Enteignung des Beisichseins, Verdrängung nicht nur aus dem Beisichsein der inneren Anschauung, sondern auch aus jenem Beisichsein, das dessen Surrogat sein würde der rationalen Selbsterkenntnis, dem rationalen Beisichsein, dem Beisichsein der Vernunft. Und besonders auf dieser Ebene wird der kritische Entwurf erschüttert, gerät er auf irreparable Weise aus den Fugen: Der übergriff der Einbildungskraft auf die Vernunft, die Installierung des radikalen Nicht-Beisiebseins genau im Augenblick des Aufwalleus der Vernunft, beraubt die Vernunft - ohne jegliche Möglichkeit eines Einspruchs - ihres Anspruchs, fraglos als ihr eigener Richter aufzutreten. Die Bedingungen eben der kritischen Selbstgewißheit werden entschieden zurückgezogen, und der Raum wird somit bereitet für den Rückfall, die Rückwendung der Metaphysik in die Krise, für das Untergraben sowohl der kritischen als auch der metaphysischen Sicherheit.
2. Das Spiel der kritischen Metaphysik Diese Rückwendung (in die Krise) ist nichts rein Äußerliches, was den kritischen Entwurf einschränken oder gar abbrechen würde, sondern ist in diesem durch Subsumption unter die Kategorien objektiv. Und da auch die Anschauung diesen, gleichsam objektiven Charakter, auch nur durch Anwendung der Kategorien auf dieselbe erhält, so wollte ich gern jene Bestimmung der Anschauung, wonach sie eine auf Objekte sich beziehende Vorstellung ist, weglassen" (Brief 499: Von Jacob Sigismund Beck. 11. Nov. 1791. Xl,311 ). Kants Antwort im Auszug: "Vielleicht können Sie es vermeiden, gleich anfänglich Sinnlichkeit durch Rezeptivität, d.i. die Art der Vorstellungen, wie sie im Subjekte sind, sofern es von Gegenständen affiziert wird, zu definieren und es in dem setzen, was in einem Erkenntnisse bloß die Beziehung der Vorstellung aufs Subjekt ausmacht, so, daß die Form derselben in dieser Beziehung aufs Objekt der Anschauung nichts mehr als die Erscheinung desselben erkennen läßt" (Brief 500: An Jacob Sigismund Beck. 20.Jan.1792. XI,315). 2 Vgl. F.H.Jacobi, Werke (Leipzig 1812-1825), 11,304. 3 Vgl. J.G. Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschafts/ehre, Werke (Hrsg. v. I.H. Fichte, Neudruck Berlin 1971 ), 1,48 7ff.; ebenso Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, Werke, 1,215, 280f.; ebenso J. Sallis, "Fichte and the Problem of System", in: Man and World, IX Og. 1976).
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Das Spiel der Einbildungskraft
Entwurf bereits angelegt, ist bereits angelegt in der Kantischen Revolution, der Wende, der Umkehrung der traditionellen Metaphysik, ist so darin angelegt, daß daraus letztlich ein Kehraus der Metaphysik, ein Sich-Abkehren von ihr folgt, eine Wende also, wodurch die Intention eben der Revolution, worin sie geboren wird, widerrufen wird. Um bei dieser Geburt behilflich zu sein, bedarf es der Inszenierung des Spiels der kritischen Metaphysik, der Entfaltung jener Szenen, worin die Kantische Revolution die etablierte Unterscheidung erschüttert, die gerade der Metaphysik zu ihrem Amt verholfen hatte, die Unterscheidung nämlich zwischen Intelligiblem und Sensiblem. Dabei werden wir die Bewegung gewisser vertrauter Texte auf anderer Ebene wieder aufnehmen und die Textgrundlage so erweitern müssen, daß alle drei Kritiken miterfaßt werden. Jedoch soll diese Erweiterung nur so weit ausgeführt werden, wie es für die Wiedereinsetzung der kritischen Texte im Rahmen der Geschichte der Metaphysik erforderlich ist. Insbesondere beim Berühren der Kn"tik der Urteilskraft werden wir eine neue Dimension der umkehrenden Auslegung angehen: Wir wollen in der schöpferischen Einbildungskraft jene verkehrte Mischung von Vernunft und Einbildungskraft umkehren, an der die Transzendentale Dialektik scheitert. Vor allem jedoch wollen wir dieses Spiel der kritischen Metaphysik inszenieren als Vorbereitung auf den Neueintritt - von innerhalb des kritischen Gesamtentwurfs in jenen Raum der subversiven Auslegung, den zu erschließen diese Verkehrung bereits gedient hat. Die drei Szenen, die hier inszeniert werden sollen, lassen sich zeitlich folgendermaßen ansetzen: Die erste spielt gegen Ende der sogenannten vorkritischen Periode Kants, der Zeit seiner Inauguraldissertation; in dieser Szene läßt sich kurz umreißen, in welcher Form Kant die metaphysische Unterscheidung zwischen Intelligiblem und Sensiblem übernahm. Die zweite Szene spielt während des Übergangs zur kritischen Philosophie; hier läßt sich beobachten, wie Kant die Unterscheidung okkludierte. Die dritte Szene stellt das Entfalten des kritischen Systems als ein Wiedereinsetzen der Unterscheidung in neuer Form dar. Erste Szene. Elf Jahre des öffentlichen Schweigens trennen Kants vorkritisches Werk, die Inauguraldissertation von 1770, von der Kn"tik der reinen Vernunft. An den Maßstäben der kritischen Schriften gemessen ist die Dissertation in entscheidendem Sinne ein traditionelles Werk, wenn sich auch aus diesem Text ganz leicht gewisse Grundkonzeptionen herauslösen lassen, die einen offenen Bruch mit der Tradition anzeigen und später unverändert in die Kritik der reinen Vernunft übernommen werden. Das gilt vor allem für die in der Dissertation entwickelte Auffassung von der Sinnlichkeit. Danach wird den Gegenständen, wie sie die Sinne affizieren, vom Bewußtsein eine Form verliehen, und zwar eine Form, wofür Kant bereits die Bezeichnung "reine Anschauung" verwendet und die er mit Raum und Zeit identifiziert. Mit dieser Konzeption hat Kant eindeutig den Bruch eingeleitet, den er in der Transzendentalen Ästhetik erneut ankündigen wird. Und dennoch unter-
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drückt er zugleich dasjenige, was an dieser Konzeption der Sinnlichkeit radikal und beunruhigend ist, indem er sie in einen völlig der Tradition verhafteten Rahmen einzeichnet. nämlich den Rahmen der hergebrachten Unterscheidung zwischen Intelligiblem und Sensiblem. Ja, diese Unterscheidung ist es, die dem Werk seinen Namen gibt: De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis 4 • Wenn jedoch die traditionelle Unterscheidung dazu dient, die beunruhigende Konzeption der Sinnlichkeit zu unterdrücken, so wird doch zugleich diese Unterscheidung selbst von innen her bedroht. Trotz dieser Bedrohung bleibt die traditionelle Unterscheidung in der Dissertation intakt. Und gerade an diesem Text läßt sich am deutlichsten erkennen, wie Kant die Unterscheidung aus der Tradition übernahm. Welcher Tradition? Am unmittelbarsten der metaphysischen Tradition, wie sie von Leibniz umgestaltet und im achtzehntenJahrhundertvon Wolffund Baumgarten zum System ausgearbeitet wurde_ So entspricht die Kantische Unterscheidung im allgemeinen derjenigen Leibnizens zwischen dem Reich der Gnade und dem Reich der Natur: Die intelligible Welt umfaßt die Dinge, wie sie an sich sind, im Unterschied zur sensiblen Welt der Dinge, wie sie unsere Sinne affizieren_ Dieser Unterscheidung auf Seiten der Dinge entspricht eine Unterscheidung auf Seiten des Subjekts: Genauso wie das Sinnliche der Sinnlichkeit gegeben wird, wird das Intelligible dem Verstande gegeben. Und wenn auch dem Menschen die anschauende Erkenntnis des Intelligiblen, also die intellektuelle Anschauung, versagt ist, so bleibt dem Verstande doch ein "wirklicher Gebrauch" vorbehalten, wodurch Begriffe von Dingen, wie sie an sich sind, völlig unabhängig von der Sinnlichkeit gegeben werden. So wird dem Menschen durch den wirklichen Gebrauch des Verstandes eine Erkenntnis des Intelligiblen gewährt. Hier wird ein sehr altes Schema beibehalten, ein Schema, das sich ohne weiteres im Fünften Buch von Platos Staat nachweisen läßt: Das, was wahrhaft ist, erkennen wir vermittels des reinen Verstandes; das, was erscheint, erkennen wir vermittels der sinnlichen Erfahrung. Zweite Szene. Diese Szene spielt während der langen Periode des öffentlichen Schweigens, die mit dem Erscheinen der Kn"tik der reinen Vernunft endete. Das Hauptdokument dieser Zeit ist der bekannte Brief Kants an Marcus Herz vom 21. Februar 1772, der Brief, worin Kant sich selbst den Vorwurf macht, in der Dissertation eine gewisse Frage "mit Stillschweigen" übergangen zu haben 5 • Welche Frage? Die Frage der im wirklichen Gebrauch des Verstandes gegebenen Begriffe, der Begriffe also, durch die wir das Intelligible erkennen würden, der Begriffe, die Kantjetzt in seinem Briefan Herz "Begriffe der gänzlich reinen Vernunft" nennt. Wie lassen sich diese Begriffe m Frage stellen? Wie würde eine solche Frage lauten? Welche Frage meint 4 De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, insbesondere die §§ 3-6, 10, 12-15 (II,392-406). 5 Brief 70: An Marcus Herz. 21. Febr. 17 72 (X,129-135 ).
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Das Spiel der Einbildungskraft
Kant, wenn er davon spricht, sie "mit Stillschweigen" übergangen zu haben? Die Frage lautet: "auf welchem Grunde beruhet die Beziehung desjenigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand? " Die Struktur, innerhalb derer diese Frage gestellt wird, ist völlig symmetrisch: Wird eine Vorstellung im Subjekt vom Objekt verursacht, so ist als Grund für die Beziehung diese Kausalität ausreichend; wird dagegen der Gegenstand vom Subjekt der Vorstellung verursacht, bringt das Subjekt den Gegenstand durch den Akt der Vorstellung selbst hervor, so stellt diese Kausalität ebenfalls einen hinreichenden Grund der Beziehung dar. Die Aporie liegt darin, daß keine der beiden Begründungsarten für die reinen Verstandesbegriffe hinreicht: Sie werden weder vom Gegenstand verursacht (weil jede derartige Verursachung der Sinnlichkeit bedürfte, wovon der wirkliche Verstandesgebrauch völlig unabhängig ist), noch werden sie bei der Schaffung des Gegenstandes hervorgebracht (weil sie Vorstellungen "in uns", also in einem endlichen Subjekt, sind). Kants Brief an Herz bezeugt, daß diese Aporie in der Dissertation unberührt blieb, mit Stillschweigen übergangen wurde. Das heißt, die Beziehung reiner Begriffe zu Gegenständen blieb einfach unbegründet, eine reine Setzung. In der langen Zwischenzeit, während der Kant sich aller öffentlichen Erklärungen enthielt, wird die Leerung dieser Beziehung durchgespielt. Zum Zeitpunkt des Erscheinens der Kritik der reinen Vernunft ist Kant bereit, dem Menschen jegliche Erkenntnis des Intelligiblen abzusprechen. Und jene reinen Begriffe, von denen er vorher behauptet hatte, sie lieferten uns eine derartige Erkenntnis, dienen jetzt nur der Erkenntnis von Gegenständen der Erfahrung. Der Intellekt, der Verstand wird in den Dienst der Sinnlichkeit gestellt; er wird zum Moment innerhalb der Gesamtstruktur der Sinneserfahrung, der Erkenntnis von Erscheinungen. Dadurch wird das metaphysische Schema, das in der Dissertation noch intakt war, auf entscheidende Weise gestört. Durch die von ihm etablierte Wechselbeziehung hatte dieses Schema die Unterscheidung zwischen Intelligiblem und Sensiblem praktisch zu einer Unterscheidung gemacht zwischen Gegenständen, die vermittels des Verstandes, und Gegenständen, die vermittels der Sinnlichkeit erkannt werden. Der Übergang zur Kritik der reinen Vernunft schafft damit praktisch eine Seite der Unterscheidung ab oder schlägt, genauer gesagt, eine Seite der anderen zu. Die reine Verstandeserkenntnis wird von der sinnlichen Erkenntnis aufgesogen. Folglich bricht die Unterscheidung als eine Unterscheidung zwischen zwei Bereichen erkennbarer Gegenstände zusammen, wird aufgehoben, geschlossen. Die Zusammenhänge nehmen allmählich Gestalt an: Beim Übergang von der Dissertation zur Kn.tik der reinen Vernunft wird das Intelligible vom Sensiblen aufgesogen und folglich die Unterscheidung selbst geschlossen. Die zweite Szene zeichnet somit die Umrisse der Kantischen Okklusion der Unterscheidung nach. Dritte Szene. Diese Szene beginnt unter Trümmern. Die metaphysische Unterscheidung und alles, was darauf beruht, ja, die Metaphysik selbst, sind
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zusammengebrochen. Von der Unterscheidung bleibt nichts als ein leerer Grenzbegriff: Vom Ding, wie es der sinnlichen Erfahrung erscheint, vom Phänomenon also, wird unterschieden das Ding an sich, das Noumenon; letzteres wird - der menschlichen Erkenntnis absolut unzugänglich- durch die Kritik der reinen Vernunft gesetzt, um die Grenzen der Erkenntnis abzustecken. Indem der Begriff des Noumenon die Grenzen deutlich macht, dient er der Angleichung des reinen Denkensan die sinnliche Erfahrung. Schon die Beibehaltung der hergebrachten Unterscheidung, sei es auch nur als eines leeren Grenzbegriffs, würde als Hinweis darauf genügen, daß die Kantische Okklusion nicht total ist, daß das durch den Zusammenbruch aufgehäufte Hindernis nicht völlig unüberwindlich ist. Aber selbst wenn sie total sein könnte, könnte nicht einfach die völlige Okklusion zugegeben werden - zumindest nicht, solange keine Bereitschaft besteht, das Fragen überhaupt ein für allemal aufzugeben. Die Aporie - als eine die Okklusion der Metaphysik begleitende Aporie - formuliert Kant gleich zu Beginn der Kritik der reinen Vernunft. Seine Eröffnungsworte in der Vorrede zur ersten Auflage sind bekannt: Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft ( A V 111). Es besteht keine andere Wahl, als die metaphysische Unterscheidung auf neuem, solideren Boden neu zu eröffnen, die Frage .,Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?" in positiver Weise aufzugreifen. Ein neues Gebäude ist neben den Trümmern zu errichten. Diese Aufbauarbeit macht die positive Aufgabe der drei Kritiken Kants aus. Es sei mir (mit den gebührenden Vorbehalten) erlaubt, die Umrisse des durch Kants kritische Bemühungen errichteten Gebäudes in drei Vignetten nachzuzeichnen. Die Kn"tik der reinen Vernunft erstellt eine neue Konzeption des Sinnlichen, bzw., genauer gesagt, sie verfestigt und erweitert jenen Bruch mit der hergebrachten Konzeption der Sinnlichkeit, der sich bereits in der Dissertation abzeichnete. Kants berühmter Vergleich der kritischen mit der Kopernikanischen Revolution wird aufgrund dieser neuen Konzeption angestellt und dient somit deren Ankündigung: Es läßt sich von nun an vermuten, daß Gegenstände, wie die Bewegung eines Planeten, als Resultanten zu betrachten sind, die durch die Einbeziehung eines subjektiven Faktors berechnet werden können; es läßt sich von nun an vermuten, daß sich die Form der Gegenstände nach unserer Erkenntnis zu richten hat, eben weil sie ihre Form dem erkennenden Subjekt verdanken. Der Bruch ist unübersehbar: Die in die Gegenstände eingehende Form gründet nicht in einem reinen Intelligiblen jenseits der sinnlichen Erfahrung, sondern im Subjekt einer solchen Erfah-
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rung. Bei der Verfestigung und Ausweitung dieses Bruchs bezeichnet "Form" nicht mehr nur die Form der Anschauung, sondern wird auch auf die kategoriale Form ausgedehnt, die im reinen Verstande gründet. Daraus folgt, daß "Form" den Sinn von Gegenständlichkeit überhaupt annimmt. Kants "Kopernikanische Wende" kehrt sich ab vom intelligiblen Grund im hergebrachten Sinne und hin zum Subjekt als dem Grund der Gegenständlichkeit, des Gegenstandes. Hier wird dem Sinnlichen nicht das Intelligible (im herkömmlichen Sinne), sondern das gründende Subjekt gegenübergestellt. Dennoch hat die Abkehr von der herkömmlichen Unterscheidung zwischen Intelligiblem und Sensiblem den Charakter einer Aufhebung; denn die Unterscheidung ist nicht zu unterdrücken, wird in der Sprache, die sie bannen soll, bereits neu beschworen. Es geht darum, diese Unterscheidung im Rahmen der neuen Konzeption des Sinnlichen neu zu treffen, oder besser gesagt, ihr einen festen Platz anzuweisen; denn bei der Angleichung des reinen Denkens an die sinnliche Erfahrung ist die Unterscheidung bereits innerhalb dieser neuen Dimension ins Spiel gebracht worden. Und eben innerhalb dieser Dimension erteilt Kant letztlich der in der Dissertation mit Stillschweigen übergangenen Frage ihren Platz: Sie erscheint neu formuliert als das Problem der transzendentalen Deduktion der Kategorien, als das Problem der Rechtfertigung der apriorischen Anwendbarkeit reiner Begriffe auf Erfahrungsgegenstände. Die Umrisse der Kautischen Lösung sind bekannt: Reine Begriffe können keine objektive Gültigkeit haben, eben weil sie zu den Bedingungen der Möglichkeit von Gegenständen der Erfahrung gehören. Um zu zeigen, daß und wie solche Begriffe als Bedingungen fungieren, konzentriert sich Kant darauf, daß sie Begriffe der synthetischen Einheit sind, und kann so zeigen, daß sie auf konstitutive Weise mit der Anschauung und daher mit Gegenständen, wie sie in der Anschauung erscheinen, verknüpft sind. Genauer gesagt: Die Kategorien werden dadurch gerechtfertigt, daß ihre Verknüpfung mit einer Synthese dargelegt wird. Sie sind Begriffe, in denen diejenigen Formen der Einheit gedacht werden, die durch die Synthesis im Mannigfaltigen der Anschauung errichtet werden. Dennoch wird die Synthesis selbst weder vom Denken noch von der Anschauung geleistet. Kant drückt sich deutlich aus: "Die Synthesis ... ist ... die bloße Wirkung der Einbildungskraft" (A 7 8). Die erste Vignette ist vollendet: In der Kn'tik der reinen Vernunft eine neue Konzeption des Sinnlichen, dessen Rückverweis als Gegenstand auf ein gründendes Subjekt; innerhalb des so konzipierten Sinnlichen die Unterscheidung zwischen Intelligiblem und Sensiblem neu eröffnet und fest etabliert. Was garantiert den Fortbestand der Unterscheidung, was hält sie offen? Was erlaubt es ihren Gliedern, unterschieden und dennoch verknüpft zu sein? Was stellt innerhalb der neuen Dimension die okkludierte Unterscheidung wieder her? Kants Antwort: die Einbildungskraft. Die Kritik der praktischen Vernunft legt eine neue Konzeption des Intelligiblen fest. Diese Konzeption übertrifft die innerhalb der Sinnlichkeit fest-
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gelegte relative Form; und indem die praktische Konzeption genau das Schema verwendet, das durch jene im Begriff des Noumenon nur angedeutete Form des Intelligiblen bereitgestellt wurde, übertrifft sie diese Form so, daß sie ihr einen Inhalt zurückgibt. Die Ausrichtung auf die neue Konzeption läßt sich bereits aus der ersten Kritik erahnen, nämlich ~us jener Wendung zum gründenden Subjekt, die sich schließlich auf die transzendentale Konzeption konzentriert, das leere Sich-Selbst-Setzen als Subjekt aller Vorstellungen. Die zweite Kritik vollendet dann die Wendung, indem sie das Subjekt als selbstbestimmend, als frei, als intelligibel darstellt. Der Verlauf dieser Darstellung ist bekannt: Eine Tatsache der Vernunft, ein einzigartiges Bewußtsein des moralischen Gesetzes, ein in Kants Analyse der Achtung rigoros zerlegtes reines Gefühl - diese Tatsache dargestellt als die praktische Vernunft, die Fähigkeit der Vernunft zur Willensbestimmung, die Fähigkeit des Subjekts zur Selbstbestimmung unwiderleglich bezeugend - das heißt, als Zeugnis der Freiheit. Kant formuliert die durch das Primat der praktischen Vernunft festgelegte neue Konzeption des Intelligiblen völlig unumwunden: "Wenn uns Freiheit beigelegt wird, dann versetzt sie uns in eine intelligibele Ordnung der Dinge" 6 • Nun also die zweite Vignette: In der Kritik der praktischen Vernunft eine neue Konzeption des Intelligiblen als selbstbestimmenden, primär praktischen Subjekts, als Freiheit. Die Kritik der Urteilskraft vollendet das kritische Gebäude, indem sie die Verbindung herstellt zwischen der neuen Konzeption des Sensiblen (der ersten Kritik) und der neuen Konzeption des Intelligiblen (der zweiten Kritik). Es gilt nun, zwischen Natur und Freiheit zu vermitteln, und diese Vermittlung ist nur durch den Begriff der Zweckmäßigkeit möglich. Insbesondere in der "Kritik des ästhetischen Urtheils" lassen sich drei Hauptstufen der Entwicklung dieser Vermittlung unterscheiden, wobei diese Stufen Kants Theorie des Schönen, des Erhabenen und der schönen Kunst entsprechen. Das Schöne, als formale Zweckmäßigkeit bestimmt, entspricht einer gewissen Harmonie zwischen der Einbildungskraft, in ihrem Erfassen der Anschauungsform, und dem Verstand, durch den sich eine solche Form unter Begriffe bringen ließe. Welcher Harmonie? Einer, auf die man nicht abzielt, die unbeabsichtigt ist - einer freien Harmonie. Eine solche Harmonie zwischen Einbildungskraft und Verstand sollte mit der Verknüpfung kontrastiert werden, die auf der Ebene der theoretischen Erkenntnis herrscht: Im ästhetischen Urteil fungieren die Verstandesbegriffe nicht als Regeln, welche die Einbildungskraft beherrschen und den Verlauf ihrer Synthese streng bestimmen; deshalb darf man hier, wie Kant es tut, vom Spiel sprechen. Die dem Schönen entsprechende Ebene der Vermittlung ereignet sich somit durch ein Befreien der Einbildungskraft, deren Freisetzung ins freie Spiel.
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V,42.
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Die zweite Ebene der Vermittlung zwischen Natur und Freiheit wird durch die der Einbildungskraft durch das Erhabene in der Natur angetane Gewalt angegangen. Die Einbildungskraft wird übertroffen, aber eben so, daß sie sich über den Verstand und dessen Reich, die Natur, hinaus auf die Vernunft und deren Reich, die Freiheit, ausgerichtet findet. Das Entfalten der Vermittlung vollendet sich in der schönen Kunst, in der Kunst des Genies, in jenen Werken des Genies, die Kant "ästhetische Ideen" nennt. Auf dieser Ebene besteht keinerlei Konformität zwischen Einbildungskraft und Verstand: Ästhetische Ideen sind Vorstellungen der Einbildungskraft, die Denken provozieren, denen aber kein Begriff des Verstandes angemessen ist. Nun ist die Einbildungskraft so von der Herrschaft des Ver· standes befreit, daß sie umgekehrt den Verstand beherrschen kann, wenn auch in der ihr eigenen spielerischen Weise, indem sie Denken provoziert. Die dritte Vignette - um damit das gesamte Kantische Spiel zum Abschluß zu bringen - zeichnet die Befreiung der Einbildungskraft nach. Die Einbildungskraft wird zu ihrem freien Spiel freigesetzt; die Einbildungskraft wird schöpferisch, in dem Augenblick, wo die Vermittlung wirklich geleistet ist. Der Schlußstein, der den Bogen krönt, welcher den kritisch rekonstruierten Unterschied zwischen Intelligiblem und Sensiblem zur Einheit verknüpft, ist das Spiel der Einbildungskraft.
3. Das Spiel der Einbildungskraft Ich möchte nun die subversive Auslegung auf der umfassenderen Ebene wiederaufgreifen. auf der sich das Spiel der kritischen Metaphysik bewegt hat, um dieses Spiel schließlich im Raum des Nihilismus anzusiedeln. Indem ich das Spiel innerhalb dieses Raumes wiederhole, möchte ich vor allem das Ergebnis des Spiels entfalten, was darin besonders offenbar wird, was zu offenbaren in gewissem Sinne der Zweck der ganzen archaischen Reflexion war: das Spiel der Einbildungskraft. Dies ist die noch nicht entwickelte Möglichkeit, die ich aus dem Kantischen Beginn retten und für das Problem der äußersten Okklusion, der Krise der Metaphysik, fruchtbar machen möchte. Um das Kantische Spiel in den Raum der äußersten Okklusion zu transpo-. nieren, möchte ich eine bestimmte Entwicklung umreißen, die der Beziehung zwischen Einbildungskraft und Subjektivität überhaupt zugehört. Die Entwicklung nimmt ihren Ausgang von einer merkwürdigen Spannung zwischen beiden Termen, einer auf mehreren Ebenen des Kantischen Werkes wirksamen Spannung. Im umfassendsten Sinne ist es die Spannung zwischen (einerseits) jener das gesamte kritische System bestimmenden Hinwendung zur Subjektivität, insbesondere der Rekonstruktion der metaphysischen Unterscheidung, und (andererseits) jenem ekstatischen Wesen der Einbildungskraft, wodurch diese, obwohl sie als Schlußstein der Rekonstruktion dient,
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zugleich auch eine Abkehr des Subjekts von sich selbst ist, die es dem ungestümen Spiel von Bildern aussetzt und mit dem Verlust seiner selbst bedroht. Dieselbe Spannung läßt sich auf einfacherer Ebene und in expliziterer Form in Fichtes Neuformulierung verfolgen. In dem der theoretischen Erkenntnis gewidmeten Abschnitt seiner Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre greift Fichte das Kantische Problem der Synthesis in einer radikalen Form auf, die bei Kant zwar erkennbar ist, aber doch weitgehend in einem traditionelleren Rahmen unterdrückt wird. Fichte zeigt noch unzweideutiger als Kant, daß die grundlegende Synthesis das Werk der Einbildungskraft ist, daß es die Einbildungskraft ist, die jene Entgegengesetzten, deren Sythesis gefordert wird, in ihre Entgegensetzung herausstellt: Denken und Anschauung, Phänomenon und Noumenon, Subjekt und Objekt. Was Fichtes Formulierung jedoch radikaler macht, ist, daß er darauf verzichtet, die Einbildungskraft und ihre Synthesis einfach in einem bereits konstituierten Subjekt anzusiedeln; im Gegenteil wird bei ihm die Synthesis eben zur Bedingung der Möglichkeit endlicher Subjektivität. Andererseits ist die Einbildungskraft um zu Kant zurückzukehren- "ein Grundvermögen der menschlichen Seele" (A124). Die Spannung liegt auf der Hand: auf der einen Seite ist die Einbildungskraft dasjenige, wodurch die Subjektivität erst als solche konstituiert wird; auf der anderen Seite wird die Einbildungskraft weiterhin auf ein bloßes dem Subjekt zukommendes Vermögen reduziert. Die Einbildungskraft wird mit der einen Hand befreit, um mit der anderen unterdrückt, gebunden zu werden. Hier soll nun der Knoten zerschnitten, die Einbildungskraft ein für allemal befreit werden. Indem die Einbildungskraft von der Subjektivität befreit, indem sie so radikalisiert wird, daß sie überhaupt aufhört, subjektiv zu sein, läßt sich das Problem der Einbildungskraft in eine der primären Dimensionen transponieren, die sich bei jenem zur äußersten Okklusion der Metaphysik führenden Angriff auf das rein Intelligible auftaten. Welche Dimension? Diejenige der Auflösung des Subjekts, des Zerlegens der Subjektivität. Diese Dimension ist zu unterscheiden von derjenigen, in der Kant die Antinomie von Freiheit und Naturkausalität aufgriff: Es geht nicht um eine fremde Kausalität, die in ein bereits konstituiertes Subjekt eindringen würde, sondern um eine Kraft, eine Struktur, ein Offensein, die das Subjekt "von innen her" konstituieren würden - eine "Kraft" wie den Willen zur Macht, eine Struktur, wie sie von der strukturellen Anthropologie ans Licht gebracht worden ist, die Offenheit des existierenden Daseins. In dem Augenblick jedoch, wo man die Subjektivität zerbricht, gibt man das Kantische Gebäude auf und setzt dessen Zusammenbruch ingang, indem man einen Angriff gegen dessen Konzeption der Intelligibilität als des sich selbst bestimmenden Subjekts startet. Das Problem der Einbildungskraft läßt sich nicht in eine neue Dimension transponieren, ohne daß letzten Endes eine radikale Neubestimmung der Einbildungskraft überhaupt erforderlich wird.
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Um eine solche Neubestimmung vorzubereiten -und hier kann es sich nur um ein Vorbereiten handeln, mit all den daraus folgenden Sprüngen und Vorbehalten-, möchte ich das Problem noch radikaler über die Subjektivität hinausheben, oder vielmehr einfach sprunghaft von der Einbildungskraft zu jenem Spiel der Bilder überwechseln, dem die Einbildungskraft, wie immer sie bestimmt wird, immer in gewissem Grade gewidmet ist. Ich möchte das Kantische Spiel in Raume des Nihilismus wiederholen, indem ich Kants Hinwendung zur Subjektivität durch eine Hinwendung zum Spiel der Bilder ersetze. Jedoch werden Bilder in ihrem Spiel auch immer zu etwas in ihnen Gebildetem hingekehrt, und es hat den Anschein, daß man beim Sich-Hinwenden zu Bildern unausweichlich so durch sie hindurchgeht, daß man letztlich von ihnen abgekehrt wird. So hat es den Anschein, als widerriefe sich das Hinwenden zu den Bildern selbst. Wie aber ist das beschaffen, dem man durch die Bilder zugekehrt würde? Was wird im Spiel der Bilder gebildet? Kants Antwort ist sichergestellt, zumindest auf der Ebene, wo die Einbildungskraft echt zu ihrem Spiel befreit wird: Im Spiel der Bilder wird das Intelligible, d.h. die praktische Freiheit, gebildet. Diese Sicherung findet Ausdruck in der Überschrift der letzten wichtigen Abschnitte der "Kritik der ästhetischen Urtheilskraft": "Von der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit". Fehlteinem jedoch diese Sicherung, stellt man sich der äußersten und wiederkehrenden Okklusion der Metaphysik offen entgegen, dann kann es nicht darum gehen, einfach ein neues Intelligibles zu etablieren. Andererseits ist ein Bild seiner Definition nach an eine dyadische Struktur gebunden; d.h. es ist ein Bild von etwas, selbst wenn sich das, dessen Bild es ist, nicht zu einem höchsten Intelligiblen, einem ursprünglichenJenseits allen Bildens, einer letzten allem Spiel fernen Sicherheit erklären läßt. Es geht nicht um eine Domäne von Urbildern, die -- abseits vom Spiel der Bilder - ihrerseits diesem Spiel nicht beizutreten, die Rolle des Bildes nicht zu spielen vermöchten. Nichts entgeht dem Spiel; man findet überall nur das Spiel des Bildens, das Spiel unbestimmter Dyaden. Indem man sich Bildern zukehrt, wird man letztlich dem Spiel des Bildens zugekehrt. hervorgerufen durch eine Rückwendung auf die Entstehung Diese der Tradition des metaphysischen Denkens, bedeutet in gar keinem Sinne eine Rückkehr zur Metaphysik, denn sie führt nicht zu einer neuen Bestimmung des Intelligiblen. Im Gegenteil, die metaphysische Unterscheidung zwischen dem Intelligblen und dem Sensiblen wird durch die Kehre zum Spiel der Einbildung in einem radikalen Sinne ihres Bodens beraubt, und sie wird mit Entschiedenheit erschüttert, da in diesem Spiel ein unaufhöliches Offnen und Verdecken der Ferne zwischen dem waltet, was in der Tradition, seit ihrem Beginn mit den platonischen Dialogen, zum einen als das Intelligble zum anderen als das Sensible thematisiert wurde. Das Spiel des Einbildens ist nichts anderes als das Spiel der Okklusion selbst, der absoluten Okklusion.
Kehre,
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Damit eröffnet sich die Möglichkeit einer Neubestimmung des Begriffs der Einbildungskraft: Die Einbildungskraft ist Ausdruck der unvordenklichen Ekstase; sie ist ein Hinausstehen in das Spiel der Einbildungskraft, ein Außersich-Sein des Selbst von so radikaler Art, daß das Selbst allererst im Vollzug eines Rückzugs aus der Ekstatik der Einbildungskraft konstituiert wird. Ich möchte abschließend an einen Platonischen "Ao"{oc; erinnern, aufgezeichnet in den Nomoi und dort ausgesprochen von dem Athener, möchte durch diese Erinnerung zumindest einen Hinweis geben: Der Mensch ist zu einem Spielzeug Gottes geschaffen, und das ist in Wahrheit das beste an ihm; man muß sein Leben mit gewissen Spielen hinbringen, mit Opfern, Gesängen und Tänzen, damit man imstande sei, sich der Götter Huld zu erlangen, gegen die Feinde aber sich zu verteidigen und im Kampfe zu obsiegen 7 .
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803c-e.