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German Pages 349 [360] Year 1969
MÖLLER • D I E K L E I N B Ü R G E R L I C H E IM 18. J A H R H U N D E R T
FAMILIE
D I E K L E I N B Ü R G E R L I C H E FAMILIE IM 18. J A H R H U N D E R T Verhalten und Gruppenkultur
VON
H E L M U T MÖLLER
B E R L I N 1969
W A L T E R D E G R U Y T E R & CO. V O R M A L S G. J. G Ö S C H E N ' S C H E VE R L A G S H AN D LU N G • J . G U T T E N T A G , VERLAGSBUCHHANDLUNG • GEORG REIMER • KARL J . T R Ü B N E R • VEIT & COMP.
Schriften zur Volksforschung herausgegeben von
Gerhard Heilfurth • Kurt Ranke • Matthias Zender
Band 3
Als H a b i l i t a t i o n s s c h r i f t auf E m p f e h l u n g der P h i l o s o p h i s c h e n F a k u l t ä t der Universität g e d r u c k t m i t Unterstützung d e r D e u t s c h e n
Göttingen
Forschungsgemeinschaft
© P r i n t e d in G e r m a n y Alle R e c h t e , e i n s c h l i e ß l i c h d e r Übersetzung, d e r H e r s t e l l u n g v o n P h o t o k o p i e n und M i k r o f i l m e n , auch auszugsweise, A r c h i v - N r . 4 6 27 6 9 1
vorbehalten.
Für Will-Erich Peuckert
Inhaltsübersicht EINLEITUNG
1
Kleinbürger
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I. FORMEN DER KLEINBÜRGERLICHEN FAMILIE 1. Familien typen 2. Kernfamilie und Haushaltsgröße
9 9 29
II. ZUM SOZIALISIERUNGSPROZESS DES KLEINBÜRGERS
36
III. FAMILIE UND SOZIALE UMWELT
67
1. Kirche
67
2. Obrigkeit
75
3. Zunft
89
IV. LEBENSSTANDARD
101
1. Einkommensniveau
101
2. Wohnung
116
3. Essen und Trinken
125
4. Kleidung
138
V. LEBENS-FORMEN
147
1. Sozialterminologisches
147
2. Tageslauf
152
3. Feier-Tage
156
4. Hochzeit, Geburt und Tod
170
5. Altdeuts dies
196
VI. ORIENTIERUNGSSYSTEME 1. Ehrbarkeit
203 203
2. Glaube
214
3. Aber-Glaube
230
4. Wissen
248
VII. STABILITÄTSPROBLEME DER KLEINBÜRGERFAMILIE 1. Desintegratives 2. Integratives
279 279 305
LITERATUR
322
BILDNACHWEIS
334
REGISTER
335
ABBILDUNGEN 1—17
343
Einleitung Das Kleinbürgertum war bisher nicht nur in der Volkskunde ein Stiefkind der Forschung. Zwar existiert eine umfangreiche Literatur über Handwerker, aber sie beschäftigt sich vorzugsweise mit dem Zunftwesen, dessen Spätphase gegenüber der „Blütezeit" als Verfall erscheinen mußte; die Bildungsunterschiede zwischen oberen und unteren Schichten des Bürgertums im Zeitalter eines Goethe und Kant schienen diesem Urteil zumindest nicht zu widersprechen, und die gefühlsmäßige Ablehnung des Kleinlich-Bürgerlichen und Spießigen dürfte der wissenschaftlichen Behandlung nicht weniger hinderlich gewesen sein als die Sentimentalisierung dieser Züge, die immer wieder versucht worden ist. Schon hier stellt sich aber die Frage, wie die Enge und Steifheit des Kleinbürgerlebens, die „Erstarrung" des zünftisch organisierten Handwerks, nicht nur mit dem Anteil der Kleinbürgersöhne am geistigen Geschehen jenes Zeitraums vereinbar sei, sondern auch mit dem kleinbürgerlichen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung im 19. Jahrhundert. Auch ohne solche Bedenken muß der Kleinbürger für eine Volkskunde, die sich als regionale Ethnologie versteht, schon vom Ansatz her zum Problem werden. Sie kann dabei an Überlegungen anknüpfen, die bereits im Untersuchungszeitraum angestellt wurden, und wenn sie auch erst in der neueren Feldforschung Bedeutung erlangt haben, so besitzen sie doch die gleiche Gültigkeit für die Erforschimg gegenwärtigen wie vergangenen Verhaltens. Wölfling, der 1796 als angeblicher Franzose „nicht Deutschland, sondern die Deutschen selbst; nicht die Sachen, sondern die Menschen" untersuchen wollte, forderte deshalb, die „Einwohner eines Landes in ihren verschiedenen Lagen und Verhältnissen bey ihren alltäglichsten Beschäftigungen, . . . unter allen möglichen Gesichtspunkten (zu) beobachten"1. Wenige Jahre vorher hatte der Statistiker Mader, der bereits 1787 von Volkskunde gesprochen hatte2, eine solche „Menschen- und Völkerkunde" seiner Wissenschaft als Teildisziplin zugeordnet, da deren eigentliches Gebiet, die politische Verfassung, „mit der Denkungs- und Lebensart, mit der Religion, mit den Gewerben, Sitten, Gebräudien . . . innigst verbunden" sei; man könne „diese Gegenstände nicht 1 (Wölfling), Briefe eines reisenden Franzosen über die Deutschen, ihre Verfassung, Sitten und Gebräuche. Nebst Berichtigungen und Bemerkungen von einem Deutschen. Frankfürth und Leipzig 1796, S. 14,9. 2 „Verzeichniß einiger gedruckten Hilfsmittel zu einer pragmatischen Landes-, Volksund Staatskunde Böhmens". Materialien zur alten und neuen Statistik von Böhmen. Hsg. v. J . A. v. Riegger. I Prag 1787, S. 23.
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Möller, Kleinbürgeclidie Familie
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trennen, da sie ineinander sich gründen, man mithin beständig einen aus den andern erklären, und beurtheilen" müsse3. Das bedingt eine möglichst weit ausgreifende Bestandsaufnahme der kleinbürgerlichen Gruppenkultur. Ein solches Unternehmen wird heute eine Reihe von Lücken in Kauf nehmen müssen, einmal, weil das bisher, meist unter anderen Gesichtspunkten, zusammengetragene Material die Phänomene oft nur unvollständig beschreibt, zum anderen, weil manche Themen des Untersuchungsbereichs überhaupt noch nicht behandelt wurden, und bei dem Vorläufigen der Theoriebildung in den Verhaltenswissenschaften zudem allen Versuchen, jenes Verhalten auch theoretisch durchsichtig zu machen, enge Grenzen gesetzt sind. Dennoch scheint mir eine zusammenfassende Untersuchung gerechtfertigt, auch dort, wo sie nur die Aufgaben der künftigen Forschung umreißen kann.
Kleinbürger Seit wir von Bürgern sprechen können, hat es stets auch „kleine" Bürger gegeben. Der Kleinbürger dagegen ist nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit vorgegeben: Die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Aspekte seines Daseins lassen sich nicht ohne weiteres zur Deckung bringen, das unterschiedliche Bildungsniveau der ihm zugerechneten Gruppen schafft neue Komplikationen, und mit diesen Stichworten sind die Haltungen und „Führungsideen" noch gar nicht berührt, die ebenso in eine Definition eingehen müßten wie die nur teilweise Vereinbarkeit dieser Momente, die man einer handlichen Formel zuliebe nicht ignorieren darf. Der Terminus Kleinbürger ist im 18. Jahrhundert nicht sonderlich geläufig. Nach Hennigs Preußischem Wörterbuch von 1785 wurden in Ostpreußen „Kleinbürger . . . sämmtliche Handwerker genannt zum Unterscheide der Großbürger", eine Unterscheidung, die man „nur sehr selten in andern Ländern" fand 1 . Bei der Durchmusterung der zeitgenössischen Reise- und Stadtbeschreibungen bin ich auf keine weiteren Belege gestoßen, doch mahnt eine Stelle in Nicolais Reisebuch zur Vorsicht, wo er, Lavater folgend, von den „kleinbürgerlichen Physiognomien" in Nürnberg und Regensburg spricht und offenbar damit rechnen konnte, verstanden zu werden2. Für die geringe Verbreitung des Wortes mag vielleicht die juristische Bedeutung von Bürger verantwortlich gewesen sein. Die Grenzziehung zwischen Voll- und Schutzbürgern verlief quer durch die sozialen Schichten, was im Mader, J., Ueber Begriff und Lehrart der Statistik. Prag und Leipzig 1793, S. 6, 51. Hennig, G. E. S., Preußisches Wörterbuch. Königsberg 1785, S. 124,40. Vergl. auch Bode, F. S., Versuch einer wirthsdiaftlichen Naturgeschichte von dem Königreich Ost- und Westpreußen. I Dessau 1782, S. 169, wonach dort „die städtischen Einwohner nach verschiedenen Klassen in Eximirte und Bürger, und diese wieder in Groß- und Kleinbürger eingetheilt (wurden), auf welche der gemeine Mann von Arbeitsleuten, Dienstboten u. d. g. (folgte)". 2 Nicolai, F., Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781. Berlin und Stettin 1783/96, II S. 464. 3
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augenblicklichen Zusammenhang noch dadurch kompliziert wird, daß die Kleinbürger die Masse der Vollbürger stellten. Zum andern gab der Bedeutungswandel des Wortes Spießbürger einen Ausdruck an die Hand, der kleinbürgerliche Beschränkung und kleinstädtische Beschränktheit bezeichnen konnte3. Vor allem aber existierten Bezeichnungen, die sich durch Anschaulichkeit auszeichneten und den an feineren Standesunterschieden geschulten Zeitgenossen eher gemäß waren. Ein Großteil des Kleinbürgertums interpretierte sich selbst als „ehrbares Handwerk", eine Formel mit dem Gewicht einer großen Tradition, die es, ideologisch wie politisch, in die Gegenwart zu retten suchte. Es wird später zu zeigen sein, wie diese Ansprüche gegen jede Schmälerung verteidigt wurden und das zugrundeliegende Verhaltensmuster zwar für das Handeln jener Gruppe das ganze Jahrhundert als verbindlich angesehen wurde, daß sie aber angesichts der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung die handwerkenden Kleinbürger kaum noch ausreichend charakterisieren können. Wir besitzen jedoch etwa in den obrigkeitlichen Kleider-4 und Feierordnungen, die, stellenweise bis ins ausgehende Jahrhundert, die sozialen Unterschiede zu fixieren suchten, eine Möglichkeit, hier etwas weiterzukommen. Die letzte Frankfurter Ordnung von 1731 teilte die Einwohnerschaft in 5 Klassen ein. Die uns vor allem interessierende 4. umfaßte die Handwerker und ordnete ihnen die „gemeinen, schlechten Krämer", Budeninhaber, Straßenhändler und Ladendiener zu; ihre untere Begrenzung bildete die Klasse der Arbeiter, Kutscher, Diener etc., die obere die der Notare und Advokaten, „Künstler", Ladeninhaber und „andere von ungefähr dem gleichen Stand"5. Es ist der Klassifizierungsversuch eines reichsstädtischen Patriziats, das sich selbst die 1., zugezogenen Adligen die 2. Klasse zuwies, aber dieses Bedenken trifft doch in sehr viel geringerem Maße die Einteilung der folgenden Klassen. Die in den Untersuchungszeitraum hineinreichende Heilbronner Ordnung von 1696 legte ebenfalls 5 Klassen zugrunde. Ähnlich wie in Frankfurt umfaßte die 4. Klasse die „Schiltbürger", „diejenigen Krämer, deren Handel sich nicht auf 500 Gulden erstreckt", „wenige Gewerbsleute" und Handwerker. Die vornehmeren Wagenmacher, Barbiere und Goldschmiede wurden der 3. Klasse zugeteilt6. Eine hessische Verordnung aus dem Jahre 1772 verbot Krämern, Handwerksleuten und allen ge3 (Nicolai, F.), Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Berlin und Stettin 1773/76, I S. 180; (Pezzl, J.), Beise durch den Baierschen Kreis. Salzburg und Leipzig 1784, S. 115: „Fleisdihacker und andere gemeine Spießbürger"; Rabiosus d. J., Wanderungen und Kreuzzüge durch einen Theil Deutschlands. 2. A. Altona 1796, II S. 73; Jean Paul, Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs. (1796). Sämtl. Werke I. Abt. 6. Bd. Weimar 1928, S. 333 Anm., 433; (Wölfling), Reise durch Thüringen, den Ober- und Niederrheinischen Kreis. Dresden und Leipzig 1795/96, I S. 148, III S. 494, 527: „kleinstädtische Spießbürger"; Seume, J. G., Mein Leben. Leipzig 1813. S. 56; vergl. auch (Wagner, H. L.), Die Kindermörderinn. Leipzig 1776, S. 5: „sey doch nicht so kleinstädtisch". 4 Vergl. Katalog der Lipperheideschen Kostümbibliothek. 2. A. Berlin 1965, S. 852 ff.; Eisenbart, L. C., Kleiderordnungen der deutschen Städte zwischen 1350 und 1700. Göttingen—Berlin—Frankfurt 1962; Hampl-Kallbrunner, G., Beiträge zur Geschichte der Kleiderordnungen mit besonderer Berücksichtigung Österreichs. Wien 1962. 6 Die Stadt Goethes. Hsg. v. Voelcker. Frankfurt 1932, S. 89 f.; ähnlich Augsburg 1735: Herre, F., Das Augsburger Bürgertum im Zeitalter der Aufklärung. Augsburg— Basel (1951), S. 20 f. 6 Hussong, W., Das Schneiderhandwerk in Frankfurt am Main und das Sdmeiderhandwerk in Heilbronn. Diss. Heidelberg 1936, S. 127 ff.
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meinen Bürgern, Soldatenfrauen und Dienstboten ausländische Kleidung, während Subalternbeamten, Kaufleuten, „Künstlern" und „Fabrikanten" Ausnahmen zugebilligt wurden7, ähnlich entschied auch die letzte Münchner Kleiderordnung von 17528, und die Churbraunsdiweigisdie Verordnung für das Herzogthum Lauenburg wider den unmäßigen Aufwand von 1774 zählte bei Stadthochzeiten „unter die zwote Classe die Brauer, Höcker und Krämer und sämtliche in Gilden stehende Handwerker und Profeßionsverwandte, und zur dritten Classe die Taglöhner und Einlieger, Handwerksgesellen, Schiffsknechte und übrige Handarbeiter"9. Eine gute Kontrollmöglichkeit bieten die Stadtbeschreibungen des endenden Jahrhunderts. Als der angehende Theologe Minder die Lebensstile der verschiedenen Hamburger Bevölkerungsschichten voneinander abzuheben suchte, behandelte er an dritter und letzter Stelle die „sehr respectable Classe des Mittelstandes, nehmlich die wohlhabendsten Künstler, Handwerker und mehrere andere"10. Daß er hier nicht nur etwas für Hamburg Typisches notiert, sondern mit seinen Bemerkungen eine Gruppe gleicher Lebenshaltung getroffen ist, bestätigt der Verfasser der Charakteristik von Berlin, der unter der Überschrift „Niedere Classe des Volks" die „Bürger, Künstler und Handwerker" zusammenfaßt11. Wenn es, vor allem in den größeren Städten, auch nicht leicht war, „eine Linie zu ziehen zwischen dem gemeinen und nicht gemeinen Pöbel . . . auch zwischen Mittelmann und dem ganz gemeinen Stand"12, wird man doch jenen umschriebenen Personenkreis als den Kern der gesuchten sozialen Gruppe festhalten dürfen. Kleinstädtische Verhältnisse mochten vielleicht die „Künstler" — die Kunsthandwerker und Mechaniker — näher an die Honoratiorenschicht heranrücken, ohne daß das in der Großstadt gewonnene Bild deshalb wesentlich korrigiert werden müßte. Die Verfasser der zitierten Schriften gehören alle den gebildeten Schichten an, und das trifft auch fast durchgängig für die übrigen Autoren der in diesem Zusammenhang interessierenden Literatur zu, für Riesbeck, den „reisenden Franzosen" 13 , die Verfasser der Neuen Wirtembergischen Briefe 14 , der Bemerkungen eines Akademikers über Halle 15 oder jener zahlreichen anderen Bemerkungen, Briefe u. ä. Schriften. Wenn diese bürgerlichen Autoren aber vom „gemeinen Mann" 16 oder den „unteren Ständen" sprechen, zielt diese Ausdrucksweise nicht nur auf die — an sich gar nicht so erhebliche — soziale Distanz, sondern betont vor allem die neue Dimension, die den eigenen Anspruch legitimiert. 7 Demme, L., Nachrichten und Urkunden zur Chronik von Hersfeld. II/III Hersfeld 1893/1900, III S. 53. 8 Grassl, I., Münchner Brauchtum und Leben im 18. Jahrhundert. Diss. München 1940, S. 36. 9 Bergius, J. H. L., Sammlung auserlesener teutschen Landesgesetze. Frankfurt 1781/ 93, VII. Alphabet S. 143 ff. 10 (Minder, J. A.), Briefe über Hamburg. Leipzig 1794, S. 97. 11 (Knüppeln, J. F.), Charakteristik von Berlin. Stimme eines Kosmopoliten in der Wüsten. Philadelphia 1784, S. 208. 12 (Grimm, J. F. C.), Bemerkungen eines Reisenden durch die königlichen preußischen Staaten in Briefen. Altenburg 1779/81,1 S. 557. 13 (Riesbeck, J. K.), Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland an seinen Bruder zu Paris. 2. A. o. O. 1784. Vergl. Schäfer, R., Johann Kaspar Riesbeck, der „reisende Franzose" aus Höchst. Frankfurt 1962. 14 (Bernritter, F.), Neue Wirtembergische Briefe, o. O. 1799. 15 Bemerkungen eines Akademikers über Halle. Germania 1795. 18 De Politsche Kannengehter. Die niederdeutsche Übersetzung von Ludwig Holbergs Politischem Kannengießer. Hsg. v. Borchling. Norden-Leipzig 1924, S. 27, 28.
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Freilich gab es seit langem eine bürgerliche Intelligenz. Es ist bekannt, weldie Stellung die Juristen im Deutschland des 17. Jahrhunderts einnahmen und in Frankreich auch im folgenden behaupteten. Gewiß trennten im endenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert die „großen" und die „kleinen" Bürger nicht nur materielle Möglichkeiten, sondern auch Bildungsziele, zumindest Bildungschancen, aber diese Bildung mochte zwar die Minderwertigkeitsgefühle des Großbürgers gegenüber dem sozial über ihm stehenden „Krautjunker" kompensieren, ohne doch zum Ansatzpunkt neuer gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen zu werden. Das geschah erst im Laufe der nächsten Jahrzehnte, eine Entwicklung, die das Kleinbürgertum in mehrfacher Hinsicht berührt. Wenn wir uns z. B. die von Schöffler herausgearbeitete Bedeutung des Pfarrerstandes jener Zeit für die Entstehung des neuen Lesepublikums17 vergegenwärtigen, stoßen wir ineins damit auf die Tatsache, daß sich ein nicht unbeträchtlicher Teil aus unteren Schichten — oder zumindest solchen, die der zeitgenössischen Bildung fern standen — rekrutierte18. Das Bild, das Kortums Jobsiade entwirft19, ist deshalb nicht so überzeichnet, wie es auf den ersten Blick scheinen mag; Schwagers Martin Didcius20 oder Kindlebens Buch über den Küster zu Kummersdorf21 schildern durchaus Ähnliches, und ihre Parodie wird von zeitgenössischen Quellen gestützt, die übereinstimmend von der Dürftigkeit der großen Masse der Theologiestudenten und ihrem geringen Herkommen berichten22. Das ist nicht weiter überraschend, wenn man bedenkt, daß das Theologiestudium das billigste war, bei dem der Student nicht nur auf Stipendien und Unterstützung rechnen konnte, sondern das auch ein Unterkommen versprach, wenn solche Hilfen mit etwas Fleiß verbunden wurden. Es war die Chance für den gemeinen Mann, und man darf wohl unterstellen, daß es oft soziale und ökonomische Gründe waren, die dieses Studium attraktiv machten: der Erwerb von gelehrtem Wissen war für ihn fast der einzige „anständige" Weg zu arrivieren und der von theologischem noch der leichteste. Mochten manche Gruppen des Bürgertums offen oder heimlich mit dem GeSchöffler, H., Protestantismus und Literatur. 2. A. Göttingen 1952. Vergl. etwa das Urteil des Berliner Hofpredigers Jablonski: Thadden, R. v., Die Brandenburgisch-Preussischen Hofprediger im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 1959, S. 89; auch das von Sintenis: Schlingensiepen, A., Das Sozialethos der lutherischen Aufklärungstheologie am Vorabend der Industriellen Revolution. Diss. Göttingen 1959, S. 201. Weniger ausgeprägt in Württemberg: Hasselhorn, M., Der altwürttembergische Pfarrstand im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1958, „Der Aufstieg vom Kleinbürgertum in den Pfarrstand", S. 34 ff. 1 9 (Kortum, K. A.), Leben, Meynungen und Thaten von Hieronimus Jobs dem Kandidaten. Münster und Hamm 1784. 2 0 (Schwager, J. M.), Leben und Schicksale des Martin Didcius. Bremen 1775. 2 1 (Kindleben, Chr. W.), Leben und Abentheuer des Küsters zu Kummersdorf Wilibald Schluterius. Halle 1779. 2 3 Vergl. Rabiosus, Kreuzzüge II S. 38; Bemerkungen eines Akademikers über Halle, S. 104; auch Laukhard, F. Chr., Leben und Schicksale. I Halle 1792, S. 279, 296, 386. Zur Situation: Bruford, W . H., Die gesellschaftlichen Grundlagen der Goethezeit. Weimar 1936, S. 49; Gerth, H., Die sozialgeschichtliche Lage der bürgerlichen Intelligenz um die Wende des 18. Jahrhunderts. Diss. Frankfurt 1935. 17
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danken spielen, es dem Adel gleichzutun23, so war doch von vornherein diese Absicht bestenfalls nur von einigen wenigen zu realisieren. Wissen und Bildung dagegen boten dem Stand als ganzem die Möglichkeit, seine Position aufzuwerten. Natürlich konnte nur ein Teil den damit verbundenen Anforderungen gerecht werden, unter ihnen bemerken wir aber wieder — und keineswegs nur im Kreis der Theologen — nicht wenige, die aus dem Kleinbürgertum stammten. Es überrascht nicht sonderlich, daß sich diese Arrivierten dann von ihrer Herkunftsschicht zu distanzieren suchten; denn die neue „Bildung" unterschied sie in ihren Augen nun qualitativ vom „gemeinen Mann". Jetzt konnte eben der Perückenmachersohn Basedow über die „natürliche Weisheit im Privatstande der gesitteten Bürger"21 handeln, jenen „glücklichen Mittelstand"25, „gesitteten Mittelstand", der, wie Resewitz urteilte, „in den Augen der Vernunft der Kern der Nation" sei26. Man kann die Bedeutung des Faktums, daß sich die neue Schicht als „gesitteter Mittelstand" konstituierte, geistesgeschichtlich und soziologisch schwerlich überbetonen. Soweit die neue Position als Verpflichtung begriffen wurde, führte das zu Versuchen, „Einfluß auf den großen Haufen"27 zu nehmen, wobei hier nur interessiert, wie der „große Haufen" umschrieben wird. Miller verfaßte seinen Gottfried Walther als „ein Buch für Handwerker und Leute aus dem Mittelstand"28, Salzmann beschrieb Constants curiose Lebensgeschichte „fürs Volk besonders für Handwerksburschen"29, Lossius wollte mit seinem Meister Liebreich „ein nützliches Lesebuch für Volksschulen und bürgerliche Familien" schaffen30, 1792 publizierte ein „erfahrner Bürger- und Bauernfreund" den Anmuthigen und nützlichen Zeitvertreib für den Bürger- und Bauernstand31, 1803 erschienen Kurze und faßliche Predigten für Bürger und Landleute32, um einige Beispiele herauszugreifen, und Steinbeck schrieb seinen Aufrichtigen Kalendermann33 für die „Jugend und den gemeinen Bürger und 23 Vergl. Jenisch, D., Geist und Charakter des achtzehnten Jahrhunderts. I Berlin 1800, S. 345; Roggendorf, C. Graf v., Versuch über das Verhältniß der Stände. Wien 1764, S. 29; Riesbedc, I S. 46. 24 Basedow, J. B., Die ganze natürliche Weisheit im Privatstande der gesitteten Bürger. Halle 1768. 25 Campe, J. A., Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1789, S. VII. 26 Resewitz, F. G., Die Erziehung des Bürgers zum Gebrauch des gesunden Verstandes und zur gemeinnützigen Geschäftigkeit. Kopenhagen 1773, S. 166. 27 Resewitz, S. 166. 28 Miller, J. M., Die Geschichte Gottfried W-althers, eines Tischlers, und des Städtchens Erlenburg. Ein Buch für Handwerker und Leute aus dem Mittelstand. Ulm 1786. 29 Salzmann, C. G., Constants curiose Lebensgeschichte und sonderbare Fatalitäten. Ein Buch fürs Volk besonders für Handwerksburschen. Leipzig 1791. 30 Lossius, R. Chr., Meister Liebreich. Ein nützliches Lesebuch für Volksschulen und bürgerliche Familien. Erfurt und Gotha 1801/2. 31 Anmuthiger und nützlicher Zeitvertreib für den Bürger- und Bauemstand. Leipzig 1792. 32 Kurze und faßliche Predigten für Bürger und Landleute zur Beförderung guter Gesinnungen von W. Göttingen 1803. 33 Steinbedc, Chr. G., Der aufrichtige Kalendermann. Ein gar kurioses und nützliches Buch für die Jugend und den gemeinen Bürger und Bauersmann verfertigt von . Langenberg (1792).
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Bauersmann". Schon diese wenigen Titel zeigen, daß sich aus dieser Sicht die Grenzen nach unten hin verwischen. Das wird noch deutlicher in Fällen, wo diese Frage thematisiert wurde. „Selbst Freunde der sozialen Revolution wie Campe und Georg Forster zogen die Grenze zwischen ,Nation' und ,Pöbel' dort, wo der gebildete Teil des Bürgertums aufhörte"34, und v. Archenholz behauptete in den 90er Jahren, daß „die niedere Klasse, das heißt: der Handwerker, der Landmann, im Ganzen genommen, allenthalben nur Halbmenschen" seien35. Aber auch dort, wo solche extremen Ansichten nicht geteilt wurden, modifizierte sich aus der Perspektive des gebildeten Bürgertums die soziale Klassifizierung, indem die eigenen Kriterien in die unteren Schichten projiziert wurden. So unterschied Schuler Anfang der 90er Jahre den „Mittelstand", „den geringem Kaufmann, . . . den Künstler in kleinen Orten, den bemittelten Handwerker und den angesehenen Bürger in größeren Städten mit ihren Familien und Professionsgehülfen", von der „niederen Classe", zu der er den „Landmann, Dienstboten und Tagelöhner, den ganz gemeinen Handwerker in Städten und die meisten Einwohner kleiner Flecken" zählte, indem er ersterem „mehr richtige Begriffe und Einsicht" zubilligte36. Vom Kleinbürger aus gesehen markierte solche Bildung37 die obere Grenze seines Standes, die er nur als Einzelner überschreiten konnte. Gegenüber der Abwertung des bildungsstolzen Bürgertums berief sich aber auch das Kleinbürgertum auf eine mittlere Position und setzte sich seinerseits gegen „untere" Schichten ab, in Übereinstimmung mit dem Webersohn Riesbeck, dem der „Mittelstand . . . . . . . den großen Haufen, oder im wahren Verstände des Wortes das Volk (ausmachte)", während „die ganz untere Klasse des Pöbels . . . kaum zur Gesellschaft" gehöre38. Hierher werden wir die Fuhrleute, Handbediensteten, Stadtknechte, Dienstboten39 und schließlich das eigentliche „Lumpenproletariat" zu rechnen haben. Die Beschränkungen, die sich der zünftisch organisierte Handwerker — und nicht nur er — im Verkehr mit einem Teil dieser Gruppen auferlegte, sind so bekannt, daß ich hierauf im Augenblick nicht weiter einzugehen brauche. Aber auch den anderen erwähnten Gruppen gegenüber wurde auf Distanz geachtet. Worin diese untere Grenze besteht, ist freilich nicht mit einem Wort anzugeben, sie läßt sich weder allein von ökono34 Stadelmann, R.-Fisdier, W., Die Bildungswelt des deutschen Handwerkers um 1800. Berlin 1955, S. 43. 35 Minerva. Ein Journal historischen und politischen Inhalts. Hsg. v. J. W. v. Archenholz, V Hamburg 1793, S. 379. 36 Schuler, Ph. H., Geschichte der Veränderungen des Geschmacks im Predigen. III Halle 1794, S. 243, 230. — Vergl. hierzu auch Goethes Umschreibung des „Mittelstandes": „Vornehmlich die Bewohner kleiner Städte, deren Deutschland so viele wohlgelegene, wohlbestellte zählt, alle Beamten und Unterbeamten, Handwerksleute, Fabrikanten, vorzüglich Frauen und Töchter solcher Familien, auch Landgeistliche, insofern sie Erzieher sind. Diese Personen sämtlich, die sich zwar in beschränkten aber doch wohlhäbigen, auch ein sittliches Betragen fördernden Verhältnissen befinden", nach Marbach, Fr., Theorie des Mittelstandes. Bern 1942, S. 115. 37 Vergl. Weil, H., Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips. Bonn 1930. 38 Riesbeck, I S. 207; vergl. auch Zschokke, H., Stunden der Andacht. 10. A. Aarau 1825, Kap. XXXI „Der Handwerker und Künstler", S. 188: „glückselige Mitte". 39 Vergl. Grimm, I S. 556.
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mischen Faktoren noch Bildungsgesiditspunkten her bestimmen. Vielleicht hilft der Begriff des Respektablen weiter, mit dem Minder die Hamburger Kleinbürger charakterisierte, ein Begriff, in dem Bürgerrecht und „anständiges Auskommen", Tradition und „ehrbare" Lebensführung zusammentreffen. Solche Grenzziehungen treffen das tatsächliche Verhalten freilich nur in erster Näherung. Sie wollen auch keinen festen Rahmen postulieren, der Grenzfälle ausschlösse, die sich hier schon aus der Tatsache ergeben, daß, vor allem in den Klein- und Mittelstädten, ein großer Teil der Handwerker Ackerbau trieb, daß aber auch die Zahl der Landhandwerker, die nicht überall vom zünftischen Handwerk abgelehnt wurden40, sehr beträchtlich war und Orte und Flecken an Rhein und Main kaum von Kleinstädten zu unterscheiden waren41. Schwierigkeiten ergeben sich weiter aus der Zusammensetzung der Lehrerschaft, die von recht zweifelhaften Gestalten über Handwerker, gescheiterte Studenten bis zu akademisch vorgebildeten Rektoren reichte, deren Einkünfte aber oft unter dem Durchschnitt der Handwerker lagen; problematisch wird die Einordnung bei Bedienten, auf deren Situation ich noch gesondert eingehen werde. Endlich verweise ich auf Fälle, in denen der Trennungsstrich durch die Familie lief, wie bei Bronner, dessen Vater seinen Unterhalt als Ziegler verdiente, dessen Mutter aber aus einer Handwerkerfamilie stammte, und wo trotz sehr ärmlichen Verhältnissen die kleinbürgerliche Welt über die Großeltern prägend wirkte42. Auch die verschiedene Entwicklung in Klein- und Großstädten, auf die Schuler hinwies, muß jeweils berücksichtigt werden. Wenn, wie in jenen Beispielen, ökonomische Basis43 und Lebensstil nicht zur Deckung kommen, ergeben sich ja schon kombinatorisch vier Möglichkeiten, die als Grenzfälle den Raum, in dem sich die Untersuchung halten wird, noch einmal markieren können. Der erste Fall betrifft etwa den verarmten Handwerker, der noch den Ansprüchen des zünftischen Ethos nachzuleben sucht, der nächste den reichgewordenen „Fabrikanten", der aber doch der kleinbürgerlichen Vorstellungswelt und Lebensführung verhaftet bleibt; in den beiden nächsten dagegen können bzw. müssen die Angehörigen bestimmter Berufe ihren finanziellen Möglichkeiten nach ein kleinbürgerliches Leben führen. Während aber die Verhaltensnormen der einen nicht das Niveau handwerklicher Ehrbarkeit erreichen, orientieren sich die anderen an einem gehobenen Lebensstil oder überschreiten im Bereich der Bildung die Grenzen des Kleinbürgertums. 40
Vergl. Johanni, O., Zünfte und Zunftrecht in der Grafschaft Saarbrücken 1413 bis 1798. Diss. Saarbrücken 1959, S. 26, 29. 41 Kramer, K.-S., Bauern und Bürger im nachmittelalterlichen Unterfranken. Würzburg 1957; Riehl, W. H„ Wanderbuch. 3. A. Stuttgart 1892, Kap. IV. 42 Bronner, Fr. X., Leben, von ihm selbst beschrieben. I Zürich 1795. 43 Vergl. Eberhardt, H., Goethes Umwelt. Weimar 1951, dessen Untersuchungen über die „gesellschaftliche Gliederung der Einwohnerschaft von Weimar nach den Einkommensverhältnissen" von 1820 den Andeutungen etwas mehr Relief geben können. Wenn auch die Aufstellung nicht mehr in den Untersuchungszeitraum fällt, besitzt sie doch für das ausgehende Jahrhundert eine gewisse Aussagekraft, da sich die Verhältnisse nicht grundlegend geändert hatten. Danach entfielen auf die Einkommensklassen, die rund drei Viertel der Handwerksmeister umfaßten, ein Gutteil der Kaufleute und Händler, ein Drittel der Pensionsempfänger, Lehrer, Chirurgen, der Hofkirchner, Stadtkantor, ein Teil des Hofpersonals, die Subaltembeamten, auch ein Teil der Sekretäre, schließlich einzelne Bediente; Tabelle nach S. 24.
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I. Formen der kleinbürgerlichen Familie 1. Familientypen Unversehens drängt sich bei dem Versuch, die einzelnen Spielarten der kleinbürgerlichen Familie zu beschreiben — begünstigt durch unseren Sprachgebrauch — die Frage nach der (normalen) Kleinbürgerfamilie auf. Normal kann allerdings hierbei recht Verschiedenes bedeuten: Die statistische Norm orientiert sidi an der durchschnittlichen Häufigkeit einer Erscheinung; die ideale umschreibt ein „richtiges" Verhalten, dais als zumindest teilweise realisierbar angesehen und dessen Sollanspruch von der Häufigkeit der Nonnerfüllung nicht berührt wird; eine dritte definiert ein normales Verhalten nur im Hinblick auf bestimmte Bezugssysteme. Diese drei Auffassungen berühren sich an verschiedenen Punkten, etwa derart, daß Häufigkeit und Grad der Abweichung von einer idealen Form in einem Verhältnis zu ihrer gruppenspezifischen Bedeutung zu stehen pflegen. Andererseits können solche Abweichungen jedoch durchaus „normal" sein, insofern ein gewisses Maß anomischen Verhaltens zu jeder intakten Gesellschaft gehört, wie Dürkheim einsichtig gemacht hat1. Gerade wegen dieser Berührungen und Überschneidungen ist aber eine saubere Scheidung im Theoretischen unerläßlich. Bei der heutigen Quellenlage läßt sich im kleinbürgerlichen Bereich keine statistische Norm im strengen Sinne gewinnen. Das muß keinen Verzicht auf die Statistik bedeuten, sondern nur das Eingeständnis, daß es sich bei ihrer Anwendung allein um Aussagen über Teilbereiche oder Illustrationen in mathematischer Sprache handeln kann. Es wird sich deshalb empfehlen, von der idealen Norm auszugehen und sie mit der Wirklichkeit zu konfrontieren. Solche Muster einer idealen Ordnung des Familienlebens boten die „Haustafeln" des Neuen Testaments, deren Forderungen im Untersuchungszeitraum die „Predigten über den christlichen Hausstand" 2 stets von neuem als verbindlich vorstellten. 1
Zum Ganzen jetzt Dreitzel, H. P., Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft. Vorstudien zu einer Pathologie des Rollenverhaltens.'Stuttgart 1968. 2 Hoffmann, J., Die „Hausväterliteratur" und die „Predigten über den christlichen Hausstand". Weinheim-Berlin 1959. Zur theologischen Problematik Begemann, H., Strukturwandel der Familie. Eine sozialtheologische Untersuchung über die Wandlung von der patriarchalischen zur partnerschaftlichen Familie. Hamburg 1960. 3 Brunner, O., „Das .ganze Haus' und die alteuropäische ,Ökonomik'". Neue Wege der Sozialgeschichte. Göttingen 1956, S. 33—61; Adeliges Landleben und europäischer Geist. Salzburg 1949.
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Die in ihnen formulierte Ordnung ist freilich keine spezifisch christliche, sondern steht in einer Tradition, die in neuerer Zeit durch die Arbeiten Brunners 3 wieder vor den Blick gebracht wurde. Sie wird in der antiken „Ökonomik" literarisch greifbar und führte, nachdem Colers Oeconomia ruralis et domestica (1593) die Verbindung von „Ökonomik" und Agrarlehre vollzogen hatte, zu jener umfangreichen „Hausväterliteratur", deren Produktion in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts auslief 4 . Doch erschienen noch in der zweiten Jahrhunderthälfte Werke, die zumindest im Titel an diese Literatur anknüpften, wie v. Münchhausens Hausvater®, ein landwirtschaftliches Lehrbuch, oder Die Hausmutter in allen ihren Geschafften des Pfarrers Germershausen 6 , der u. a. auch die zwischenmenschlichen Beziehungen der Hausgenossen behandelt, wenn auch in einer Weise, die schon den beginnenden Zerfall des „Hauses" erkennen läßt. „Haus" meint hier ein Sozialgebilde, das in erster Näherung durch die Tendenz wirtschaftlicher Selbstgenügsamkeit und den Anspruch einer umfassenden Verhaltensformierung aller in seinem Rahmen Lebenden und Arbeitenden zu charakterisieren ist, wovon im Augenblick nur das Statussystem interessiert, das wie die Haustafeln, die Position des Hausvaters akzentuiert und die Beziehungen der Hausgenossen dem patriarchalen Modell entsprechend interpretiert. In Wolfis „Politik" hat es seine weitestgehende Systematisierung gefunden 7 . Weder die dickleibigen und teuren „Hausväterbücher", noch die mehrbändigen Werke Germershausens wird man als Literatur des Kleinbürgers ansprechen dürfen, doch spiegeln sie die gleiche Auffassung des rechten Familienlebens, die ihm in der Predigt vorgetragen wurde; ebenso bekräftigten Schriftsteller, die auf den gemeinen Mann einzuwirken suchten, wie Miller, „Gott will, daß der Mann des Weibes Haupt sey"8, und um die Wende zum 19. Jahrhundert hat der Zerbster Oberkonsistorialrat Sintenis diese Ordnung des „Hauses" noch einmal als eine standesunabhängige beschrieben9. Er entwirft das Bild eines „musterhaften Hauses" 10 in Formulierungen, die den Kernsatz variieren: „ H e r r bist du als Mann" 11 , woran auch die jeweiligen Erläuterungen nichts ändern, welche die Schroffheit im Sinne der zeitcharakteristischen „Weichmüthigkeit" (Jenisch) zu mildem suchen. „Wacker, der Mann und Hausvater, stellt das wirklich vor, was er von Natur ist — das Haupt seiner Familie, den Herrn in seinem Hause" (93). „Er theilt die sämtlichen häuslichen Geschäfte ein, gibt Acht, ob Jeder sein Pensum verrichte, und hält mit Emst darauf, daß es geschehe. Er ist deshalb, so viel seine Welt- und Berufslage ihm verstattet, gern zu Hause, um das häusliche Ganze immer vollkommen zu übersehen und zu leiten, oder auch da, wo es fehlt, nachhelfen zu können" (94). Alle Hausgenossen übertrifft er an „Pflichteifer" und „unzuermüdender Geschäftigkeit". Er besitzt 4 Aber noch 1750 erschien eine Neuauflage von Florinus, F. Ph., Oeconomus prudens et legalis oder Allgemeiner klug- und Rechts-verständiger Haus-Vatter. Nürnberg, Franckfurt und Leipzig 1702. 5 Münchhausen, O. Frh. v., Der Hausvater. Hannover 1764 ff. 6 Germershausen, Chr. F., Die Hausmutter in allen ihren Geschafften. Leipzig 1778 ff. — Der Hausvater in systematischer Ordnung. Leipzig 1783 ff., suchte v. Münchhausens Werk zu straffen und in eine ungelehrte Sprache zu übersetzen. 7 Wolff, Chr. Frh. v., Vernünfftige Gedancken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen. 6. A. Franckfurt und Leipzig 1747, 5. Kap.: „Von dem Haus", S. 135—155 (§ 192—209). Riehl, W. H., Die Familie. 11. A. Stuttgart 1897, S. 150—172: „Das ganze Haus". 8 MÜler, Gottfried Walther, S. 284, 490. 9 Sintenis, Chr. F., Der Mensch im Umkreis seiner Pflichten. Leipzig 1804/07, Bd. II: Das grössere Buch für Familien. 1/2 1805/07. 10 Vergl. vor allem die „Gruppenzeichnung" gleichen Titels, Familie 2, S. 93—114. Uber ihn und die Problematik des „ganzen Hauses" mein Aufsatz „Christian Friedrich Sintenis. Ein vergessener Autor am Ausgang der ,Hausväter-Zeit". Z. f. dtsch. Philologie. 78 1959, S. 164—180. 11 Sintenis, Familie 2, S. 123.
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alle „nöthigen Kenntnisse", und so kann er „Sicherheitsanstalten gegen vermeidliche Gefaren, Wehranstalten gegen unvermeidliche" treffen. Dieser Hausvater „ist im würdigsten Verstände der Erste von der ganzen häuslichen Gesellschaft — d. h. der Weiseste und Beste", ein „Muster jeder männlichen Tugend . . . , auf das alle männliche Hausgenossen nur blidcen dürfen, um sich auf das männlichedelste nachzubilden" (94). Neben den Hausvater tritt die Hausmutter, der als „Hausherrin" die Leitung der innerhäuslichen Geschäfte übertragen ist. Wie der Hausvater für die männlichen Hausgenossen vorbildlich ist, „so zeigt sie sich als Muster jeder weiblichen Tugend, auf das alle weiblichen Hausgenossen nur blicken dürfen, um sich auf das weiblichedelste nachzubilden" (95). Diese Parallelisierung kann aber nicht den Abstand bagatellisieren, der zwischen beiden Positionen besteht. Der Mann „erklärt sie für die Herrin", er „substituirt sie im Innern des Hauswesens ganz für sich" (94). „Der innere Haushalt ist die Sphäre ihres eigentlichen Lebens", innerhalb deren sie mit ihrem Mann „in Erfüllung ihres natürlichen Berufes" wetteifert. „Das ganze Schema davon schwebt ihr stets vor Augen, und alle Geschäfte dabei gehen vom Morgen bis zum Abend wie nach der Schnur" (95). Sie liebt „die Entfernung von geräuschvollen Gesellschaften, wie von allem grosweltlichen Verkehr" (96), sie vermeidet jeden unnützen Aufwand, „sie mag über Stand weder wohnen, noch sich kleiden" und findet die Modesucht „so verächtlich, wie lächerlich" (96). Sie ist „immerwährend stillthätig" (95), „vieles besorgt sie selbst, und über Alles, was sie besorgen lässt, hat sie die sorgfältigste Aufsicht, so, wie ihr Mann die Oberaufsicht über das Ganze" (96). „Ihr Haupterwerb aber besteht darin, daß sie das, was erworben wird, auf das beste zu Rathe hält, weise eintheilt, und wirthschaftlich anlegt" (95). Die Position der Kinder ist weniger eindeutig, insofern die im Laufe des Sozialisierungsprozesses innerhalb der Kernfamilie aufgebauten emotionalen Bindungen mit den Ansprüchen des „Hauses" konkurrieren; denn vom „Haus" her gesehen ist ihre Stellung die von Subordinierten und von der Frage der Nachfolge und der — natürlich beschränkten — Arbeitskraft mitbestimmt. Die Kinder von Sintenis' Musterfamilie sind jedoch „auf allen Seiten mit dem, was die Eltern an ihnen thun können, zufriden, und möchten gar zu gern aus der Schuld bei ihnen deshalb kommen. Auf das thätigste gehen die Töchter der Mutter, die Söhne dem Vater, zur Hand, und erlauschen recht in den Blidcen der Eltern die ihnen zu leistenden Dienste" (102). Die größeren Kinder „theilen mit den Eltern die Aufsicht über (die kleineren), bewahren sie vor Gefaren, weisen sie zurecht (und) geben ihnen die tiefeindringendsten Beispiele des Gehorsams gegen Vater und Mutter" (103). „Die völlig Herangewachsenen unter ihnen erkennen freiwillig noch die elterliche Gewalt über sich an" und fragen sie bei der Berufs- und Gattenwahl um Rat (102). Hier freilich werden Sintenis' Schwierigkeiten offenkundig, insofern er die faktische hausherrliche „Gewalt" durch die „Freiwilligkeit" entschärfen und das Verhältnis zu den Eltern durch gehäufte Schilderungen kindlicher Liebesäußerungen sentimentalisieren muß (101 f.). Zum Haus gehören sorgfältig ausgesuchte, „wackere Dienstboten". „Allgemeiner Respekt gegen die Herrschaft ist der herrschende Ton unter ihnen, und sie gehorchen ihr aufs Wort" (107 f.). Haben sie aber einen begründeten Einwand, wird er mit „grossester Bescheidenheit" vorgetragen (108). Jeder von ihnen tut „seine Schuldigkeit, ohne sich erst dazu antreiben zu lassen" (107). „Sie sind fromm und sittsam, lassen keinen Fluch, keine Zote, kein Schimpfwort von sich hören, und üben weder Bosheit, noch Muthwillen, noch Leichtsinn, aus" (108). Wenn aber hier und da gegen den „guten Ton im Hause" verstoßen wird, nimmt die Herrschaft „Rüdesicht auf den Mangel an feinerer Bildung in den untersten Ständen" (105). Sie verhehlen ihrer Herrschaft „nichts, was sie erfaren mus, lassen sich um Dinge im Hause, die sie nichts angehen, unbekümmert . . . Sie sind ehrlich und treu, bringen nicht nur selbst die Herrschaft um nichts, sondern lassen sie auch mit ihrem Wissen um nichts bringen" (108). „Das Wadcersche Haus hat auch viel Anverwandte, und Einige davon leben sogar darin. Diese werden zu den wirklichen Mitgliedern gerechnet, und als solche behandelt" (109). „Sie schicken sich in diejenigen, welche die Ersten im Hause sind,
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meinen's mit den Kindern gut, leisten gern Beistand bei häuslichen Arbeiten, sind aufrichtigtheilnehmend, werden in aller Stille Friedensstifter, und gewähren durch ihren Umgang gute Unterhaltung" (110). Auch den übrigen „Befreundeten" gegenüber herrscht der „wahre Verwandtengeist" (110). Schließlich erwähne ich noch die „Hausarmen" (113), die zwar zum Haus gehören, aber außerhalb lebend natürlich nur periphere Bedeutung gewinnen. Damit sind in etwa die verschiedenen sozialen Positionen des Hauses umschrieben, deren Mit- und Gegeneinander aber erst das Bild des „häuslichen Ganzen" ausmacht. Das Verhältnis von Hausvater und Hausmutter ist durch völlige Abhängigkeit bestimmt, die auch in Sintenis' verniedlichender Darstellung noch deutlich sichtbar wird. Er liebt sie zwar „wie sein zweites Ich" (94), sie liebt ihn aber „noch mehr, als sich, und mit zärtlicher Ehrfurcht" (96); denn, so wird an einer späteren Stelle die Frau belehrt, „von deinem Mann kannst du nur verlangen, daß e r d i c h h o c h s c h ä t z e ; er aber darf mit Recht von dir verlangen, daß d u i h n v e r e h r e s t . Er ist das Haupt der Familie, und gründet sie, du bist blos das Werkzeug, durch das er sie gründet" (143). Macht der Mann die Frau „zu seiner Rathgeberin, so fühlt sie die Ehre, welche ihr dadurch widerfährt, tief, und wirds mit reitzender Bescheidenheit" (96). Er soll zwar auf ihren Rat hören und nachgeben, falls sie im Recht ist, aber sonst „weis (er) sie nach und nach mit männlicher Güte seines Sinnes zu machen, so, daß am Ende doch geschehen mus, was E r will" (95). „Schonend misst er ihr ihre Kraftanstrengungen zu; . . . sanft sucht er sie bei ihren Schwachheiten umzubilden, die sie als Weib an sich hat" (95). Der Frau fällt eine weithin passive Rolle zu, die nicht zuletzt darin besteht, „ihn unaufhörlich in froher Laune zu stärken" (97). „Was sie von ihm erlangen will, das sucht sie nur unter holdem Anschmeicheln zu erlangen" (96). „Von guten Einfällen, die sie hat, lässt sie ihm die Ehre der Erfindung; für Wohlthaten, die sie austheilt, lässt sie ihn den Dank einemdten" (96). „Als die Erste nach ihm im Hause ist sie auch die erste Person, welche seine Befehle befolgt, und trägt überall das Ihrige eifrig dazu bei, daß er als Familienhaupt durchgängig respektirt werde" (96). Wenn er ihr aber etwas „männlich versagt, zieht sie sich in die Grenzen der Herrin zurück, und s c h i c k t s i c h i n d e n H e r r n " (96, vergl. 147f.). Daß sich diese „Herrschaft" auch auf die Kinder •— die von den Eltern so weit wie möglich im Haus unterrichtet und in der Religion unterwiesen werden (97/99) — erstredet, wurde schon sichtbar. „Von ihrer Gewalt über sie überzeugen sie sie bald", doch fügt Sintenis, der die Erziehungspraxis des 18. Jahrhunderts vor Augen hatte, einschränkend hinzu: „jedoch auf eine vernünftige Weise" (99). „Vater- und Mutterwort geht ihnen über Alles, ist in ihren Augen untrüglich und unverbrüchlich. Je verständiger sie werden, desto mehr bilden sie sich auf ihren Gehorsam ein" (102). „Ohne Widerrede" gehorchen auch die Dienstboten (108). Alle suchen sich das Wohlgefallen ihrer „Herrschaft, gegen die sie hohe Ehrfurcht haben, . . . zu erwerben und zu erhalten" (109). Freilich erhalten sie auch pünktlich ihren Lohn. Nie fordern Hausvater und -mutter „mehr von ihnen, als sie leisten können, und pladcen sie nicht". Sie geben „den Leuten geniesbare und nahrhafte Kost, bequemes Lager, gesunden Aufenthalt, und (halten) sie überhaupt menschlich" (106). „Wird ein Dienstbote krank, so verpflegt man ihn i m H a u s e auf das beste, . . . hält er . . . im Hause aus, und wird ein Greis darin, so kann er auf ein sogenanntes Gnadenbrodt mit Zuverlässigkeit rechnen" (107). Dieses Gesinde zeichnet sich dann aber auch durch die früher mitgeteilten Eigenschaften vorteilhaft aus. „Nicht selten nimmt . . . (es) an Familienfesten Theil" (106). Aber wenn sich auch die Herrschaft „leutselig" und „freundlich" gibt, so „doch ohne sich wegzuwerfen, oder auf einem zu vertraulichen Fusse mit ihm zu leben" (106 f.). In diesem glücklichen Haus gibt es keinen „Zank und Streit"; „gelitten wird wenig darin, und, was ja gelitten wird, nur halb und sanft", vielmehr wird „gemeinschaftlich gearbeitet, gesorgt, genossen, gesegnet" (114). Versucht m a n das von Sintenis entworfene Bild der Familie mit der Wirklichkeit zur Deckung zu bringen, ergeben sich zwischen ihm u n d der zeitgenössischen Durchschnittsfamilie in vielen Punkten Entsprechungen:
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Die Vormachtstellung des Hausvaters ist jener Zeit eine Selbstverständlichkeit. Er hat sein Haus zu „gubernieren", es ist ihm erlaubt, „in seinem Haus nach eigenem Gefallen anzuordnen, was denen göttlichen Rechten, denen Gesetzen seiner vorgesetzten Obrigkeit, denen Gebräuchen des Orts, an welchen er sich aufhält, der Billigkeit, Erbarkeit und dem Wohlstande nicht zuwider. Daher auch das gemeine Sprüch-Wort: Ein jeder ist König in seinem Hause, in diesem Verstände gar wohl zu admittiren ist"12. Er ist befugt, „die Actiones seiner Frauen zu dirigiren, indem so wohl die göttlichen als menschlichen Gesetze hierinnen klare Maas geben" 13 — notfalls durch eine Züchtigung14 — und im endenden Jahrhundert summiert v. Knigge die gängige Meinung: „Der Mann muß Herr seyn in seinem Hause; so wollen es Natur und Vernunft! . . . Er soll sich auf keine Weise diese Herrschaft rauben lassen, und auch dann, wenn die weisere Frau seiner offenbaren Macht die heimliche Gewalt über sein Herz entgegenstellt, muß doch das äussere Ansehen der Herrschaft nie wegfallen" 15 . Der Mann ist nach dem Gesetz „das Haupt der ehelichen Gesellschaft" und er ist „der Beschützer, Ernährer und Versorger"16. Die diesen sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten entsprechende untergeordnete Stellung der Frau fand nicht nur bei Sintenis17 ihre ideologische Verbrämung in der Rede vom „schwachen" Geschlecht. Auch der Verfasser der Charakteristik von Berlin kam 1784 mit der „Vorzeit und jezzigen lustri" überein, „daß die Frauenzimmer schwache, ohnmächtige Geschöpfe (seien), die ohne Mitwürkung und Unterstüzzung des männlichen Geschlechts, eine blosse Null in der Schöpfung sein würden", ihr „Name (sei) Gebrechlichkeit"18; Rudolphi verglich einige Jahre später die Frauen mit Kindern, da in beiden der Instinkt das Ubergewicht habe19, und es ist eher eine Frage der Galanterie als ein sachlicher Unterschied, ob man daraus mit Knüppeln im Sinne der Haustafeln folgert, die Frau solle dem Mann „unterthan" sein, oder, wie Basedow, zwar den Rath der „Ehefreundin" anhört, aber doch empfiehlt, daß „in wichtigen Geschäften der Familie . . . die Frau nicht herrschen" dürfe 20 . Die Konsequenzen solcher Einstellungen lassen sich das ganze Jahrhundert hindurch vielfältig belegen. So lobt etwa Abraham a St. Clara die weibliche „Sanftmut" und doziert: „Euch aber meine Weiber ist sehr nothwendig die Geduld"21. „Demuth, die das weibliche Ge12 (Zedier), Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschafften und Künste. Halle und Leipzig 1732/50, „Haus-Wirth", Sp. 912. 13 Zedlers Universal Lexicon, „Haus-Wirth", Sp. 913. 14 Zedlers Universal Lexicon, „Haus-Wirth", Sp. 915. Allerdings dürfe er die Züchtigung nicht „excediren", „wohin man rechnet, wenn er sie bey den Haaren raufft, braun und blau oder Blut-rünstig schlägt". Vergl. Die vorzüglichsten Rechte der deutschen Weibsbilder. Wien 1791 (Neudruck Frankfurt—Berlin 1966), S. 56, (17). Auch der Kamenzer Prediger Lessing meinte, eine „mäßige Züchtigung" der Frau gehöre zur männlichen Herrschaft, freilich nicht eine „henkermäßige Leibesstrafe", Oehlke, W., Lessing und seine Zeit. I München 1919, S. 9. 15 Knigge, A. Fhr. v., Über den Umgang mit Menschen. Hannover 1788, I S. 157. „Ich bin Herr im Hause und nach mir müssen die Leute fragen!" polterte um die Mitte des Jahrhunderts der Buchbindermeister Kühn, wenn sich die Kunden direkt an seinen geschickten Sohn wandten, Fraenger, W., „Materialien zur Frühgeschichte des Neuruppiner Bilderbogens". Jb. f. hist. Volkskunde. I Berlin 1925, S. 232—306, 237. 16 Rumpf, J. D. F., Der Haus-, Brot- und Lehrherr in seinen ehelichen, väterlichen und übrigen hausherrlichen Verhältnissen gegen Gesinde, Gesellen und Lehrlinge. Nach allgemeinen und insbesondere nach Preußischen Gesetzen. Berlin 1823, S. 121,23. 17 Sintenis, Familie 1, S. 95. 18 Knüppeln, S. 155, 207; vergl. (Abraham a S. Clara), Der Ur-Merkur von 1701. Hsg. v. Bertsche. Augsburg 1928, S. 17. 19 (Rudolphi, L. E. G.), Ueber die häusliche Erziehung. Berlin 1789, S. 73. 20 Basedow, Weisheit S. 78. 21 Abraham a St. Clara, Judas der Erzschelm. Passau 1835, I S. 95, 92.
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schlecht so sehr ziert", fordert Millers Gottfried Walther22; „dienen lerne beizeiten das Weib nach ihrer Bestimmung", Goethes Hermann und Dorothea, und Campe, der seiner Tochter die Lage ihres Geschlechts nach der „dermaligen Weltverfassung" — den „eingeschränktem Wirkungskreis", die „dürftige Ausbildung", „Schwäche", den „Mangel an Selbständigkeit" — klarzumachen suchte, nannte die „Gewöhnung an Abhängigkeit" eine „Tugend, die, wo nicht zu den ersten, doch zu den unentbehrlichsten" des weiblichen Geschlechts gehöre: „Dazu bist du nun einmal gebohren; dazu bist du nun einmal von der Natur sowol als auch von der menschlichen Gesellschaft bestimmt . . . Thue Verzicht auf einen unabhängigen Willen, vornehmlich auf eigene Launen und auf jede Art von Widersetzlichkeit. Lerne, dich als das zweite Glied in der Kette deines künftigen Hauswesens denken"23. Dem entspricht, wenn in dem anonymen Roman Meister Klas von der Handwerkerfrau gesagt wird, daß sie „alle Worte nach des Mannes Sinn" sprach und „ohne alles Bedenken" tat, was er wollte24. Wir finden die gleichen Sätze auch in den zeitgenössischen Biographien. Der Schneidersohn Harnisch berichtet aus dem letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts: „Meine Mutter vollzog als eine gehorsame Hausfrau den Willen ihres Mannes, wenn auch wohl zu Zeiten mit Seufzen" 25 , und wenn Kemer, der Sohn eines Beamten, seiner Mutter „Demuth und Gehorsam gegen ihren Eheherm, ja selbst Furcht vor ihm" nachsagt und weiter bemerkt, daß es ihr Bestreben gewesen sei, „ihn bei gutem Muthe zu erhalten"20, wenn v. Strombeck berichtet, daß „die ganze Hausgenossenschaft, die Mutter mit eingeschlossen, in dem Zustande der größten Unterwürfigkeit" gegenüber dem Vater gelebt habe 27 , dann wird noch einmal deutlich, daß es sich um eine Einstellung'handelt, die durch das ganze Bürgertum und darüber hinaus verbreitet war. Daß die Frau innerhalb des „inneren" Hauswesens „immerwährend stillthätig" sein sollte, beschreibt ihre Situation unter einem anderen Aspekt; denn die Anforderungen der zur Autarkie tendierenden Haus-Wirtschaft formulierte Callenbach dahingehend, daß diejenige eine „veritable Hauß-Mutter seye / die sich auffs Kochen / Spinnen / Waschen / Gärtlen / Viehe-Zucht und dergleichen Künckel-mässige functiones verstehe / deren die Christliche Kinder-Zucht angelegen / die ihren Mann helffe / wo nicht erwerben / wenigstens das erworbene zu conserviren / die auff ein gute Menage acht gebe", Erwartungen, denen das ganze Jahrhundert hindurch im weitesten Maße entsprochen wurde28. Nachrichten über Hausschlachtungen z. B. begegnen in den biographischen Mitteilungen von Harnisch, Zelter oder J. Grimm29, und der Abbé Baston äußerte sich am Jahrhundertende positiv über das auf Gegenseitigkeit beruhende Zusenden von Miller, Gottfried Walther, S. 33. Campe, Vaeterlicher Rath, S. 167, 247 f. 24 Meister Klas und sein Sohn Traugott Schester. Leipzig 1780, I S. 134, 21. 2 5 Harnisch, W., Mein Lebensmorgen. Berlin 1865, S. 27. 28 Keiner, J., Das Bilderbuch aus meiner Knabenzeit. Braunschweig 1849, S. 34. 27 Strombeck, F. K. v., Darstellungen aus meinem Leben und aus meiner Zeit. I Braunschweig 1833, S. 8. 28 (Callenbach, Fr.), Allmanach Welt-Sitten-Statt-Marter Calender. o. O. o. J., S. 89. — „Spinnen und nähen und kochen und stricken sollen sie lernen, wie unßre Großmütter, und das ist genugl", (Seybold, D. Chr.), Predigten des Herrn Magister Sebaldus Nothanker aus seinen Papieren gezogen. Leipzig 1774/76,1 S. XXVIII. Vergl. auch Wölfling, Briefe S. 122. — Als „Hauß-Mutter" trug sie in manchen Städten, teils noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Messer oder Schlüsselhaken am Gürtel, Riesbeck, I S. 101; Hefner-Alteneck, J. H. v., Trachten, Kunstwerke und Geräthschaften vom frühen Mittelalter bis Ende des 18. Jahrhunderts nach gleichzeitigen Quellen. X 2. A. Frankfurt 1889, Abb. 709, 710; Bähr, O., Eine deutsche Stadt vor sechzig Jahren. 2. A. Leipzig 1886, S. 50; vergl. Wölfling, Briefe, S. 333. 29 Harnisch, S. 23: „wahre Jugendfeste"; Zelter, C. F., Darstellungen seines Lebens. Hsg. v. Schottländer. Weimar 1931, S. 11; Praesent, W., Märchenhaus des deutschen Volkes. Kassel 1957, S. 31; vergl. auch Wölfling, Briefe, S. 84. 22 23
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„Schweinssachen" unter Freunden und Verwandten in Coesfeld30; Klödens Mutter kam in Preußisch-Friedland, wo jeder „selber einschladitete, Brot backte, wusdi, webte und Gemüse zog", in nicht geringe Schwierigkeiten, da sie als Berlinerin „nicht einmal Brot backen" konnte, was nach Gennershausens Hausmutter „in vielen Häusern in den Städten" gebräuchlich war31. Ebenso war das Spinnen selbst in Großstädten wie Hamburg üblich, und nach Bähr „lebte" das Spinnrad noch in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts in Kasseler bürgerlichen Haushaltungen32. „Wo nichts andres zu thun war, nahm die Frau das Strickzeug zur Hand. Denn eine o r d e n t l i c h e Frau war niemals müßig"33, wozu Klödens Biographie eine sehr illustrative Bestätigung beisteuert: „Bis zur greisen Großmutter hinauf . . . wurde streng darauf gehalten, sich zu beschäftigen, Müßiggang sei aller Laster Anfang. Als einst meine Mutter, noch als kleines Mädchen, nur einige Minuten still saß, rief ihr sofort ihre Großmutter zu: „Aber Mädchen, Du thust ja nichts!" Auf ihre Antwort: „Ich habe nichts zu thun," antwortete die Großmutter ärgerlich: „Ach was! Wenn ein Mädchen nicht weiß, was sie thun soll, schneidet sie sich ein Loch in die Schürze, und flidct es wieder zu." — Meine Mutter merkte sich die Lehre und führte sie bei der nächsten Gelegenheit buchstäblich aus."34 Wenn man Sintenis' Sdiilderung von den Übertreibungen befreit, trifft sie noch in weiteren Punkten die tatsächlichen Verhältnisse, ob es sich um Verwandte, Gesellen oder Gesinde, welche den Haushalt des Kleinbürgers vergrößerten35, die Fürsorgeverpflichtung ihnen gegenüber — die ihrerseits schon „in der Schule die sogenannte Haustafel von den Pflichten der Dienstleute hundert mal hergeplappert" hatten36 — oder die Verantwortlichkeit des Hausvaters hinsichtlich des Betragens seiner Hausgenossen, ihres Kirchenbesuchs, um Tischgebet 37 und Hausandacht38 oder häusliche Unterweisung handelt, Hinweise, die doch schon die wesentlichsten Konturen der faktischen Kleinbürgerfamilie hervortreten lassen. Diesem skizzierten „Normalverhalten" wird man eine gewisse Variationsbreite zugestehen müssen, bevor von Abweichungen im eigentlichen Sinne gesprochen werden kann, deren Hauptrichtungen39 im Folgenden behandelt werden sollen. Unter dem Gesichtspunkt von Aktivität/Passivität begegnen bald Fälle, in denen die männliche Herrschaftsrolle zum H a u s t y r a n n e n überspitzt, in 30 Weber, H., Coesfeld um 1800 — Erinnerungen des Abbé Baston. Coesfeld o. J., S. 52 f. 31 Klöden, K. F. v., Jugenderinnerungen. Hsg. v. Jahns. Leipzig 1874, S. 49; Germershausen, Hausmutter, III S. 479. 32 Finder, E., Hamburgisches Bürgertum in der Vergangenheit. Hamburg 1930, S. 343; Bähr, S. 51. Vergl. zur bürgerlichen Hauswirtschaft noch Kiesselbach, W., „Drei Generationen". Deutsche Vierteljahrs-Schrift 1860, 3 S. 1—57; Freudenthal, M., Gestaltwandel der städtischen bürgerlichen und proletarischen Hauswirtschaft I (1760 bis 1910). Diss. Frankfurt 1934. 33 Bähr, S. 50; von mir gesperrt. Vergl. Koenig, H., Auch eine Jugend. Leipzig 1852,
S. 60. 31
Klöden, S. 14 f. Vergl. S. 32. 36 Afsprung, J. M., An meine Mitbürger, o. O. 1782, S. 83. 37 Germershausen, Hausmutter, I S. 39. — Vergl. S. 154. 33 Germershausen, Hausmutter, V S. 75. 39 Vergl. Parsons, T.-Bales, R. F., Family. Socialization and Interaction Process. London 1956, S. 144 ff. 35
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geringerem Maß solche, in denen sie von einem „ P a n t o f f e l h e l d e n " nicht übernommen wurde. Es leuchtet ohne weiteres ein, daß der Schritt von jenem zeitgenössischen Haus-Herrn zum Haus-Tyrannen, auch wenn man sich von modernen Wertungen frei macht, kein sehr großer war, und seine recht häufige Spiegelung in der Literatur ist schon mehrfach bemerkt und dargestellt worden40. Meister Klas, der Titelheld des vorhin zitierten Romans, ist ein solcher Tyrann. Er war „bey der geringsten Gelegenheit aufbrausend, anfahrend, lieblos, unversöhnlich und, nach dem gewöhnlichen Ausdruck seiner Frau, ein Menschenquäler"41. Einmal hörte der eintretende Pfarrer „Klasen Donnerwetter Millionen Schockweise aus dem Halse fahren und von verfluchten Bestien und Kanaillen mit einer so teuflischen Fertigkeit reden, als er noch nie gehört hatte"; das Töchterchen „lag auf der Erde und krümmte sich wie ein Wurm und Traugott hatte ein Loch im Kopfe", weil Klas die Kinder wegen geringer Vergehen „in der Hitze" mit dem Stiefelknecht verprügelt hatte und „die Mutter, die dazwischen treten und dem Wütridi Einhalt thun (wollte)", von ihm gegen die Brust gestoßen wurde, „daß sie sich erst nicht wieder besinnen (konnte)"42, eine Behandlung, die ihr noch mehrmals im Laufe des Romans zuteil wird. Die Drastik, die ein zeitgenössischer Autor aufbieten muß, um einen Haustyrannen zu schildern, ist bemerkenswert und doch auch wieder nicht allzusehr aus dem Rahmen fallend, wenn man andere Nachrichten danebenhält. Klemm sprach noch in der Rückschau vom Beginn des 19. Jahrhunderts als einer „wüsten Zeit" mit „unerfreulichsten Auftritten gemeiner Rohheit, öffentlicher Zänkereien und Prügeleien"43, und diese Szenen spielten sich nicht nur im „Straßenleben" ab. Abraham a S. Clara bemerkte, daß „etliche Phantasten" der Meinung seien, „wann ein Weib nur ein wenig etwas sagt, daß sie gleich müssen zu dieser Musik mit dem Prügel den Takt geben" 44 , und aus Leipziger Akten lernen wir Schulmeister kennen, die ihre Frauen derart traktierten45. Andere Quellen berichten vom Jähzorn der Hausväter. So illustriert Frank das „Rauhe" in dem „sonst gutmüthigen Karakter" seines Vaters: „Die Anfälle seines Aufbrausens waren für seine Kinder oft schreckend. In einem derselben befahl er meiner Mutter, die mich als ein neun Monate altes Kind an ihre Brust legen, und damit mein lautes Geschrey stillen wollte, sie sollte das Zimmer mit mir alsogleich verlassen I Sie hoffte, mich zum Schweigen zu bringen. Der Befehl ward zum zweyten Maler wiederholet, und als dieses nichts nutzte, griff mich der Erzürnte bey der Brust, und warf mich hastig zu der offenen Thüre, auf eine weite Strecke, hinaus"46. Auch Harnisch bezeichnet den Jähzorn seines „braven Vaters" als den „Krebsschaden", der am „Frieden des Hauses" nagte: „Leider empfanden meine Mutter und ich gewöhnlich viel tiefer die Ausbrüche seines leidenschaftlichen Zorns, als die Segnungen seines feurigen Gebets; obgleich ich bekennen muß, daß auch im größten Zorne mein Vater doch nie, w i e d a s im B ü r g e r s t a n d e o f t g e s c h i e h t , die Würde meiner 4U Bruford, S. 226; vergl. auch Stockmeyer, C., Soziale Probleme im Drama des Sturmes und Dranges. Frankfurt 1922, „Die elterliche Gewalt", S. 17 ff. 41 Meister Klas, I S . 35. 42 Meister Klas, I S . 135 f. 43 Klemm, G., Vor fünfzig Jahren. Culturgeschichtliche Briefe. Stuttgart 1865,1 S. 71. 44 (Abraham a S. Clara), Der Geflügelte Merkurius. Hsg. v. Bertsche. Saarlouis (1919), S. 67. — Vergl. auch die „Neunte Tortur" in Callenbachs Almanach Welt-Sitten-StattMarter-Calender: „Margareth und Dorothe / zwey Bürgers-Weiber klagen einander ihre Noth wegen ihrer unartigen Männer". Callenbach rät, die „Marter" zu tragen, bis Gott es ändere; S. 155; Hoedl, F. J., Das Kulturbild Altbayerns in den Predigten des P. Jordan von Wasserburg O. M. Cap. (1670—1739). München 1939, S. 165. 45 Mangner, C. F. E., Geschichte der Leipziger Winkelschulen. Leipzig 1906, S. 61. 48 Frank, J. P., Biographie. Wien 1802, S. 9 f. „Auf der Stelle sah er und bereute in Verzweiflung seinen Gähezom".
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Mutter verletzte47. Einen besonders krassen Fall schildert Probst, dessen Lehrmeister vor den Augen der Taufgesellschaft die Wöchnerin mit einer „fürchterlichen Karbatsche" prügelte, „daß die Arme wie ein Wurm sich krümmte"48. Diese „Haustyrannis" wird am deutlichsten bei der Kinderzucht sichtbar. Der Politische Philosoph (1724) behauptete, daß sich die Kinder vor dem Vater „wie ein Sklave vor seinem Tyrannen, ja wie vor dem Teufel fürchteten"49. Da ich diese Probleme noch im Zusammenhang behandeln werde, verweise ich hier nur auf Basedow, der seinem Vater, einem Perückenmacher, entlief, auf Bronner, der sich als Seminarist vor dem zornigen Vater verstecken mußte50, oder Händler, der noch als Geselle von seinem Vater zu Boden gestoßen wurde, als er mit der Einwilligung in die von ihm arrangierte Heirat zögerte51. Es entstände aber ein falsches Bild, wenn man die Skizze des haustyrannischen Verhaltens allein an jenen Beispielen des „Faustrechts" (Abraham a S. Clara) orientieren wollte. Solche Fälle werden zwar in der Regel fleißiger notiert, aber sie lassen leicht jene anderen übersehen, in denen der Mann ohne Handgreiflichkeiten seinen Willen unnachsichtlich durchsetzte und die Frau aus den früher referierten Thesen die Konsequenzen zog und sich in allem „in den Herrn schickte", wenn auch vielleicht „mit Seufzen". So wird etwa von Schillers Vater berichtet, daß er von Frau und Kindern „ehrfurchtsvollen Gehorsam" forderte52, auch Köpkes Schilderung von Tiecks Vater, einem Mann „vom alten Schlage, von ganzem Schrot und Korn" 53 , deutet auf diese mildere Form der „Haustyrannis" hin. Daß ihre Verbreitung nicht gering gewesen sein dürfte, ist schon deshalb anzunehmen, weil sie ja nur einer relativ kleinen Akzentverschiebung in dem früher beschriebenen Verhältnis von Mann und Frau bedurfte. Da andererseits jene Hausherrschaft das „Haus" zur Voraussetzung hatte, konnte sie auch dort in „Tyrannis" umschlagen, wo es im Sinne eines zu „gubernierenden" Sozialgebildes nicht mehr existierte und seine Ansprüche auf ein anders organisiertes Familienleben übertragen wurden, womit die bisherige Fragestellung in die nach der funktionalen Norm übergeht, die aber erst eine weitere Klärung der psychologischen und soziologischen Situation des Kleinbürgers erforderlich macht. Eine Umkehrung des Subordinationsverhältnisses von Mann und Frau sollte man in einer so auf den Hausvater ausgerichteten Welt nur als eine äußerste Möglichkeit erwarten. Immerhin kann aber zu denken geben, daß Abraham a S. Clara 1702 in der Fortsetzung seiner Ehe-Briefe 54 in drei von elf die herrschsüchtige Frau behandelt oder die verschiedensten magischen Praktiken erwähnt werden, mit denen die Frauen die Herrschaft über ihre Männer zu gewinnen hofften. Die Chemnitzer Rockenphilosophie notiert etwa: „Wenn eine Braut ins künftige die Herrschaft über ihren Mann behaupten will, soll sie sich am Tage ihrer Hochzeit in einem Backtroge anziehen, und an die Kirchthüre klopfen... Wenn eine Braut Beliebung Harnisch, S. 18, 21; von mir gesperrt. (Probst, J. G. A.), Handwerksbarbarei, oder Geschichte meiner Lehrjahre. Ein Beytrag zur Erziehungsmethode deutscher Handwerker. (Halle und Leipzig 1790). Leipzig 1923, S. 16 f. Vergl. auch Ott, G. M., Das Bürgertum der geistlichen Residenzstadt Passau in der Zeit des Barock und der Aufklärung. Passau 1961, S. 67, 69; Kannengehter, S. 76 u. ö.; Bechstedt, Chr. W., Meine Handwerksburschenzeit 1805—1810. Köln 1925, S. 185. 4 0 Biedermann, K., Deutschland im achtzehnten Jahrhundert. Leipzig 1854/80, 11,1 S. 542. 5 0 Bronner, I S . 195f. 5 1 (Händler, J. C.), Biographie eines noch lebenden Schneiders von ihm selbst geschrieben. (Nürnberg) 1798, I S. 69. 52 Boas, E., Schillers Jugendjahre. Hannover 1856, I S. 45. 6 3 Köpke, R., Ludwig Tiedc. Leipzig 1855, I S. 19. — Vergl. auch S. 300. 64 Abraham a S. Clara, Continuation, Nr. 1, 3, 7. 47
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2 Möller, Kleinbürgerlidie Familie
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trägt, die Herrschaft über den Mann zu behalten, so verziehet sie lange zu Hause, und lässet den Bräutigam lange vor ihr hin nach der Kirchen zur Trauung gehen." Sie erreicht dies auch, „wenn sie nach der Trauung ihren Gürtel in die Thürschwelle des Hochzeithauses legen lässet, daß der Bräutigam darüber hinschreiten muß" 55 . Dazu verweise ich auf die Nachrichten im Journal von und für Deutschland, von denen sich mindestens die folgende aus Gemsbach für den kleinbürgerlichen Bereich beanspruchen läßt: „Welcher Teil des Brautpaars bey der Trauung die Hand oben hat, bekommt in der Folge die Meisterschaft in der Ehe 56 ." Literarisch begegnet dieser Familien typ in Millers Gottfried Walther: Während der Wanderschaft des Titelhelden stirbt seine Mutter. Der Vater wird von einer Witwe umstridct, verliebt sich nodi einmal — was ihn zum Gelächter des Städtchens macht — und heiratet sie: „Er that alles, was sie haben wollte, und vergab so Ein- für allemal sein Recht, das ihm als Mann zukam57." So duldet er, daß seine Frau Gottfrieds Braut aus dem Haus drängt, daß im Haus Kaffee getrunken wird — in diesem Buch eines der Symptome der verderbten Welt — und muß erleben, daß auch der. zurückgekehrte Sohn sein Vaterhaus verläßt. Als Gottfried sein Erbteil verlangt, zeigt sich, daß die Stiefmutter sogar den Schlüssel zum Geld und den Kapitalbriefen verwaltet. Nur heimlich kann der Vater seinen Sohn besuchen und ihm sein Leid klagen, bis ihn schließlich senile Geistesschwäche seiner Misere entrückt. Daß Miller das Verhalten des alten Walther mit Hilfe der Psychopathologie zu motivieren sucht (Johannistrieb, geistige Umnachtung), während bei Abraham die Frau ihrem Mann die „Feige" unter die Nase stößt, „daß ihm das Gesicht vergangen"58, zeigt nicht nur den Unterschied beider „Volkslehrer", sondern deutet Möglichkeiten an, mit denen im konkreten Fall gerechnet werden muß. Da lernen wir den sonst recht resoluten Meister Dietz kennen, der gesteht: „Hatte im Hause auch nicht viel zu befehlen" und sich mit der „Lehr der Katholiken" tröstet, „welche glauben: wer hier auf der Welt eine böse Frau hat, der komme nicht ins Fegefeuer" 59 , oder den „guten Gamisonküster", der Anton Reiser wegen der Behandlung durch seine Frau „innig bedauerte, aber das Regiment nicht im Hause führte" 60 ; Koenig erinnerte sich aus seiner Jugendzeit an einen pensionierten Kammerdiener, der von seiner Frau geprügelt wurde und dann ans Fenster zu fliehen pflegte61, und der vorhin erwähnte Schneider Händler mußte es sich gefallen lassen, daß manchmal in der Woche nur einmal gekocht wurde und sich in die Nähstube zurückziehen, wo er und sein Geselle „oft einander in (ihrer) Einsamkeit trösteten"62. Für Miller ist das Schicksal des alten Meister Walther nur ein Aspekt der allgemeinen gesellschaftlich-sittlichen Perversion im Städtchen Erlenburg, die zu dessen Untergang führt. Ein Mann, der sein „Recht" vergibt, verstößt gegen die „natürliche", und d. h. für den kirchlich gebundenen Menschen jener Jahre, 55 (Schmidt, J. G.), Die gestriegelte Rockenphilosophie, oder Aufrichtige Untersuchung derer von vielen superklugen Weibern hochgehaltenen Aberglauben. 5. A. Chemnitz 1759, III Kap. 17 S. 356, VI Kap. 60 S. 786, Kap. 61 S. 787. 56 Journal von und für Deutschland. 1787, I S. 454. 57 Miller, Gottfried Walther, S. 186. 58 Abraham a S. Clara, Continuation, S. 8. 59 Meister Johann Dietz erzählt sein Leben. Hsg. v. Consentius. Ebenhausen 1915, S. 235, 242. 60 (Moritz, K. Ph.), Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Berlin 1785/90, II S. 70. 61 Koenig, S. 18. — Vergl. auch die 1785 von der Vossischen Zeitung mitgeteilte Anekdote von einem unter dem Pantoffel stehenden Weber aus Radkersburg/Steiermark, Buchner, E., Liebe. Kulturhistorisch interessante Dokumente aus alten deutschen Zeitungen. München o. J., S. 123. Zu den sog. „Simandl-Bruderschaften" Gugitz, G., Das Jahr und seine Feste im Volksbrauch Österreichs. Wien 1949/50, II S. 141 f. 62 Händler, I S. 72.
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göttlidie Ordnung63, und direkt oder indirekt laufen die Stellungnahmen der Umwelt auf eine Bestätigung der früher beschriebenen hausherrlichen Position hinaus. Es modite vielleicht noch hingehen, solange gegenüber den Ambitionen einer herrschsüchtigen Frau das Regiment des Mannes aufrechterhalten wurde lind das atypische Verhalten als eine zwar unerfreuliche, aber doch innerfamiliäre Angelegenheit angesehen werden konnte. Sofern aber der Mann seine Stellung nach außen hin nicht behauptete, verfielen sowohl das „böse Weib" wie der Pantoffelheld der Verachtung oder der im sozialen Leben nicht minder effektiven Lächerlichkeit. Brauchtümliche Sanktionen, wie das Dachabdedcen, dürften im städtischen Milieu des 18. Jahrhunderts keine Rolle mehr gespielt haben 64 ; nach Walch wären aber zu seiner Zeit noch die Statuten von Rudolstadt (1594) und Teichel (1611) „in Observanz" gewesen, die eine Frau, die ihren Mann schlug, mit Geld- und Gefängnisstrafen bzw. Prangerstehen und öffentlicher Abbitte bedrohten, während der geprügelte Mann in Teichel den Ratsdiener neu kleiden mußte 65 . Fälle, in denen solche Strafen im Untersuchungszeitraum vollzogen wurden, sind mir allerdings nicht bekannt geworden. Das Schwinden jener handgreiflichen Justiz im Umkreis städtischer „Polizey" und der Wandel in den Rechtsanschauungen66 bedeuteten jedoch noch keine prinzipielle Änderung der herrschenden Auffassungen; denn auch nach Kants galanter Formulierung aus den 80er Jahren sollte die Frau herrschen, aber der Mann regieren67. Auf zwei Aspekte der augenblicklichen Fragestellung möchte ich nur noch kurz hinweisen. Da für den Kleinbürger, wie die Zeit überhaupt, die Gesdilediterrollen so einseitig und eindeutig festgelegt waren, daß kein Raum für ein abweichendes Verhalten blieb — im Gegensatz zu vielen primitiven Gesellschaften, die Ausweichmöglichkeiten kennen — mußte mancher durch jene Verhaltensmuster überfordert werden, und wenn es sich andererseits später bestätigen sollte, daß die gesellschaftliche Entwicklung dahin tendierte, die Stellung des Mannes zu schwächen, während die der Frau im ganzen unverändert blieb und hier und da eher gestärkt wurde, konnten sich hieraus ebenfalls Spannungen ergeben, die zu innerfamiliären Zerwürfnissen führten, die aber als solche eben nur unzulänglich interpretiert wären.
Die Abweichungen in Richtung auf Uberkonformität oder Unter-Norm-Verhalten führen nicht zur Ausbildung besonderer Familientypen, bringen aber charakteristische Züge in das bisher entworfene Bild. Die Uberkonformität begegnete bereits in der „Haustyrannen"-Familie als Überspitzung der „Herren"Rolle und der Unterwürfigkeit der Frau. Sie scheint auf in der durch alle Lebensbereiche verbreiteten Pedanterie, die sich im Kirchlichen wie HandwerkVergl. S. 10. Bei der Nachricht der Vossischen Zeitimg über ein Dachabdecken „zu Fuld" (Buchner, Liebe, S. 122) handelt es sich offensichdich um einen gekürzten Nachdruck einer Meldung des Journals von und für Deutschland. 1784,1 S. 136 f., über eine solche Exekution „im Fuldischen". 6 5 Walch, C. F., Vermischte Beyträge zu dem deutschen Recht. V Jena 1775, S. 4 2 , 1 7 6 . 6 6 Die Zuchtordnung der Reichsstadt Memmingen drohte Tit. V § 3 „den s c h u l d i g gefundenen Ehegatten" abzustrafen, „daß der selbige solches spühren und ein anderer sich daran spieglen soll", Walch, II S. 295. 67 Kant, I., Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Ges. Schriften VII. Berlin 1907, S. 309. Wie Pope ist er der Ansicht, daß die Frau herrschen w i l l , S. 306. 63
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liehen bis zum Äußersten an die Überlieferung klammert, hier, wie im Umgang, das Formale überbetont, Erscheinungen, die noch im einzelnen zu beschreiben sein werden. Ähnliche Züge sind auch im Familienleben anzutreffen. Auch dort begegnet die starke Betonimg der sozialen Distanz als solcher oder eine „unverbrüchliche Ordnung", die Anton Reiser von seinen Wirtsleuten berichtet: „Es herrschte bei diesen Leuten, die keine Kinder hatten, die größte Ordnung in der Einrichtung ihrer Lebensart, welche vielleicht nur irgendwo statt finden kann. Da war nichts, keine Bürste und keine Schere, was nicht seit Jahren seinen bestimmten angewiesenen Platz gehabt hätte." Genauso war seit zwanzig Jahren der Tageslauf reglementiert, „und sie waren gewiß dabei sehr glücklich, aber sie durften auch schlechterdings durch nichts darin gestört werden, wenn nicht zugleich ihre innere Zufriedenheit, die größtentheils auf diese unverbrüchliche Ordnung gebaut war, mit darunter leiden sollte"88. Vor allem aber ist hier auf die unnadisichtliche Auslegung der Heiratsbestimmungen des zünftisch organisierten Handwerkers und das Verhalten gegenüber „gefallenen" Mädchen hinzuweisen. Das andere Extrem, das Unter-Norm-Verhalten des Kleinbürgers, das über den 'Zunhforderungen gar zu oft übersehen wird69, möchte ich, um Wiederholungen zu vermeiden, im Rahmen der nächsten Frage behandeln, ob und wie nachdrücklich das kleinbürgerliche Familienleben an „Werten" orientiert war bzw. von weniger anspruchsvollen Leitbildern her gesteuert wurde70. Den ersten Typ repräsentiert im Bereich des Kleinbürgertums die „fromme Familie", den zweiten die Familien der „sozialen Pendler". „ S o z i a l e P e n d l e r " soll in erster Linie jene Kleinbürger bezeichnen, die beruflich mit dem häuslichen Leben der höheren Stände in Kontakt kamen und sich in vielen Fällen dann auch in Lebenshaltung wie Lebensauffassung merklich vom Gros abhoben. Knigge umschreibt diese Gruppe, wenn er warnt, „sich vor Geschwätzigkeit und Vertraulichkeit in dem Umgange mit Friseurs, Barbiers und Putzmacherinnen zu hüten. Dies Volk — doch gibt es auch Ausnahmen — ist sehr geneigt, aus einem Haus in das andere zu tragen, Intriguen, Ränke, Klatschereien anzuspinnen, und sich zu allerley unedlen Diensten brauchen zu lassen"71. Diese „unedlen Dienste" bestimmt der anonyme Verfasser der Briefe über die Galanterien von Berlin deutlicher, wenn er als Kuppler neben Lehnlakaien und Läufern die „Friseurs, und Leute von dergleichem Schlage" anführt72. Die Charakteristik von Berlin stellt noch die „Peruquenmacher" dazu73, und auch ein Teil der Schneider in größeren Städten und Residenzen wäre wohl hierher zu rechnen. Es handelt sich also um Berufsgruppen, die von den Domestiken fast nur die fehlende Livree und Bindung an eine Herrschaft unterscheidet. Die dauernde Berührung mit Höhergestellten zwang aber nicht nur zu einer Moritz, Anton Reiser, II S. 21 f. Vergl. Kap. VII, 1. 70 Hierzu Parsons, Family, S. 185. 71 Knigge, Umgang, I S. 218 f. 72 Briefe über die Galanterien von Berlin, auf einer Reise gesammlet von einem österreichischen Offizier, o. O. 1782, S. 226. Eine Hamburger Flugschrift von 1796 verteidigt die Friseure gegen den Vorwurf der Kuppelei, Schönfeldt, G., Beiträge zur Geschichte des Pauperismus und der Prostitution in Hamburg. Weimar 1897, S. 233. 73 Knüppeln, S. 36. 68 69
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Angleichung in Umgangsform und Äußerem, sondern mußte ebenso auf das Wertsystem rückwirken, sowohl in Richtung einer gesteigerten Servilität, wie vor allem desorientierend auf die Sexualmoral; denn der relativ enge Kontakt audi mit der Privatsphäre jener Schichten machte mit einer teils recht großzügigen Auffassung des Liebeslebens bekannt und konnte sich gegebenenfalls zu einem leiblichen mit den Kundinnen entwickeln, wie es die Briefe über die Galanterien von Berlin den Friseuren nachsagen74. Das alles blieb nicht ohne Auswirkungen auf das eigene Familienleben. Wir besitzen zwar keine direkte Schilderung dieses FamilientypsT5, dafür aber mehrere romanhafte, die in den hier interessierenden Stücken so übereinstimmen, daß mit gutem Grund die Spiegelung tatsächlicher Verhältnisse angenommen werden kann: „Madame Blunt, . . . die zärtliche Ehegenossin eines Perückenmachers in einer Residenz oder großen und volkreichen Stadt"76, war früher Kammermädchen in einem reichen Haus, in dem auch Blunt frisierte. Er glaubte, eine gute Partie zu machen, die Herrschaft war einverstanden, steuerte zur Mitgift bei, und die Heirat kam zustande. In der äußeren Lebensführung „kopierte" Madame Blunt „ganz ihre ehemalige Gebietherin" (S. 21), und wenn ihr das schon ein Prestigeübergewicht gegenüber ihrem Mann verschaffte, so wußte sie diese Stellung auch durch handgreifliche Auseinandersetzungen zu festigen. Weit mehr aber erreichte sie durch geschickte Diplomatie, welche die Spielleidenschaft ihres Mannes ausnutzte, der auch nach seiner Heirat regelmäßig die nächtlichen Spielgelage besuchte, meist, um dabei zu verlieren. Seine Frau erklärte dann rigoros, daß sie ihn ohne Geld nicht verköstigen werde, und so mußte Blunt übersehen, woher die Nebeneinnahmen kamen, die dem Haushalt, und nicht zuletzt seiner Spielleidenschaft, zugutekamen. Näheres über den Nebenerwerb der Madame Blunt erfahren wir durch die boshafte Bemerkung einer ihrer „Freundinnen", die mit einem Blick auf ihre vornehme Kleidung stichelt, daß sie sich „nie des Nachts in der Portechaise an gewisse Orte bringen lasse, wenn (ihr) Mann die Nächte in den Spielhäusern" zubringe (S. 7). Dieses Nebeneinander der Interessen bleibt für das Leben der Eheleute Blunt bestimmend; da aber die außerehelichen Vergnügungen der Frau der Umwelt gegenüber mit einer gewissen Dezenz kaschiert werden, ist keine Rede von Scheidung, obwohl der einzige Sohn Ehrenreich sein Dasein einem Baron verdankt (S. 28) und ihm später die Besuche vornehmer Herren bei der Mutter — während geschäftlicher Abwesenheit des Vaters — nicht verborgen bleiben. Ein ähnliches Verhalten des Mannes gegenüber der Untreue seiner Frau schildert Jean Paul im Siebenkäs. Dort besucht der Patrizier Venner die Frau eines Perückenmachers, während der Ehemann mit der Bürgerschaft zum Vogelschießen ausgerückt ist. Als er unerwartet zurückkommt und beide überrascht, läßt er Venner „gegen geringes Geld" frei und stolziert mit dessen Hut zum Schießplatz, wodurch diese Episode seines Ehelebens bekannt wird77, und wenn 1724 der Verfasser der Madame Robunse beabsichtigt, „die Thorheit derer Bürgerlichen, auch öffters nur von Handwercks-Stande etwas bemittelten Eltern vorzustellen, so aus ihren Kindern... diß oder jenes machen wollen", wählt er sich als Heldin die Frau eines „vornehmen Hof-Paruquierers"78, die wie Madame Blunt .fremdgeht' — freilich von ihrem Mann dafür verprügelt wird — ihre Tochter für einen Rosenobel deflorieren läßt und sie
Briefe über die Galanterien von Berlin, S. 251. Die Barbier-Chirurgen vom Schlage eines Meister Dietz dürfen mit dieser Gruppe nicht verwechselt werden. 76 (Seidel, C. A.), Ehrenreich Blunt oder Abentheuer eines Friseurs. Eine Kopie nach dem Leben. Weißenfels und Leipzig 1795,1 S. 10 ff. 77 Jean Paul, Siebenkäs, S. 6. 78 Madame Robunse mit ihrer Tochter, Jungfer Robinsgen. (Leipzig 1724), S. 3 f., 10. 74 73
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damit auf die Bahn bringt, die für Mutter und Tochter knapp an Kindsmord und Galgen vorbeiführt79. Wenn es 1795 einem Akademiker aus Halle „fast unglaublich (schien) . . . daß eine hiesige Schneidersfrau sieh ihren Cicisbeo hält, mit welchem sie zuweilen in einem Postzuge spazieren fährt" 80 , oder die Charakteristik von Berlin von einem „Peruquenmacherweib" und ihrem „Cicisbee", einem Gesellen, berichtet81, wird deutlich, daß nicht nur Romane besprochen wurden. Man kann diese Dinge nicht einfach mit Prostitution und Ehebruch abtun. Es handelt sich offensichtlich um eine Eheauffassung, die sich unter dem Einfluß oberschichtiger Maximen und einer spezifischen sozialen Lagerung ausgebildet hat. Wenn man sich auch bei der Interdependenz alles sozialen Geschehens vor monokausalen Erklärungsversuchen hüten wird, herrscht doch hinsichtlich eines sozialen Leitbildes in diesen Schilderungen eine so starke Ubereinstimmung, daß man es als motivierend ansprechen darf. Ich zitiere den vollen Titel jenes zuletzt behandelten Büchleins: Madame Robunse mit ihrer Tochter, Jungfer Robinsgen, oder Die politische Standesjungfer. Das ist: Allerhand neue seltzame und wunderliche Grieffgen, so von einigen Frauenzimmer, welche sich über ihren Stand in die Höhe zu bringen gedendcen, ersonnen und practiciret werden. Was hier im ersten Viertel des Jahrhunderts am Beispiel der „Paruquiererstochter" exemplifiziert wird, ist auch der Inhalt von Seidels Ehrenreich Blunt oder Abentheuer eines Friseurs, wie des 1778 anonym erschienenen Romans Der glücklich gewordne Friseur, welcher durch besondere Begebenheiten auf Reisen zu Wasser und zu Lande zu einem ansehnlichen Vermögen gelanget83. Hier interessiert zunächst nur die Mobilität der in diesen Romanen in phantastischer Verzeichnung entworfenen Gesellschaftsordnung. Im Ehrenreich Blunt kommt dieses Moment ganz besonders deutlich zum Ausdruck: „Ein bürgerliches Kind", bemerkt dort Ehrenreich, „muß sich die Ehre selbst erwerben", und sie sei ja auch „immer mehr werth", als eine, die man „geerbt" habe 83 . Indem der Held der Geschichte den Leistungsaspekt betont, plädiert er für eine Statusdefinition, die in entschiedenem Gegensatz zur Auffassung eines Großteils der damaligen Gesellschaft stand. In dieser Ablehnung des „zugeschriebenen Status" wird man aber weniger einen individualistischen Neuansatz sehen dürfen als eine Konsequenz, die sich aus der Übergangsund Zwischenstellung dieses Personenkreises ergab und durch die an sich schon höhere Mobilität der Großstadt noch gefördert wurde. Und daß dieses dynamische Leitbild nicht bloß Theorie blieb, zeigt die Klage des Journals des Luxus und der Moden von 1787, daß sich Perückenmacher und Schneider in gestickten und betreßten Kleidern unter Leute von Stand mischten84. Der erhöhten Mobilität entsprach eine gesteigerte Wertunsicherheit: Da die Normen der kleinbürgerlichen Welt ihre Verbindlichkeit verloren, ohne daß eigene neue Verhaltensmuster institutionalisiert und auf Dauer gestellt wurden, sah sich die Ehe, die aus der kleinbürgerlichen Gebundenheit heraustrat, auf das oberschichtige Vorbild verwiesen, ohne es doch verwirklichen zu können85. So verliert die Galanterie hier 70 Vergl. hier auch noch „Ankunft, Erziehung, Flucht, Reisen, Lebens-Wandel, Aufstellungen, Fata und endlich erlangte Ehe" der Tochter eines zum Akzise-Schreiber avancierten Handwerkers, Jungfer Robinsone, oder Die verschmitzte Junge-Magd, worinne . . . dieses Völckgens Untugend, lose Händel, und schlimme Streiche abgehobelt . . . werden . . . von Celibilicribrifacio. Hall (1724). 80 Bemerkungen eines Akademikers, S. 41. 81 Knüppeln, S. 36. 82 Von ihm selbst beschrieben. Frankfurt und Leipzig 1778. 83 Seidel, Ehrenreich Blunt, I S. 39. 84 Journal des Luxus und der Moden. II Weimar 1787, S. 411. 8d Vergl. hierzu auch die Feststellung von Kinsey, daß Personen, die aufsteigen wollen, schon vorher das Sexualverhalten ihrer „Bezugsgruppe" übernehmen, Kinsey, A. C., Das sexuelle Verhalten des Mannes. Berlin—Frankfurt 1964, S. 387. Zur Frage der „anticipatory socialization" Merton, R. K., Social Theory and Social Structure. Glencoe, III. 1957, S. 265.
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gänzlich ihren Spielcharakter und wird zu dem Grad von laxer Sexualmoral travestiert, der sich u. U. von Mann und Frau als Kuppelei und Gelegenheitsprostitution pekuniär ausschlachten ließ, ohne die Grenze des nach außen Ehrbaren ein für allemal zu überschreiten. Die Chance, über die Auflodcerung des Hausvaterideals einer Individualisierung der ehelichen Beziehungen näherzukommen, wurde hier jedenfalls nicht ergriffen. Dieser, an der Grenze der Desorganisation angesiedelte, erheblich desintegrierte Familientyp der „sozialen Pendler" ist aus der Sicht der meisten Kleinbürger ein Fremdkörper in ihrer Welt, er zeigt aber andererseits, gegen welche latente Gefährdung die „normale" kleinbürgerliche Familie abgeschirmt werden mußte. Die Orientierung an christlichen Normen gehörte zu den Selbstverständlichkeiten des kleinbürgerlichen Lebens. Die „ f r o m m e F a m i l i e " im Sinne dieser Typologie radikalisierte die hierin angelegte Problematik zur Antithese Welt—Uberwelt, die sie doch mit einem bürgerlichen Dasein verbinden mußte. Wenn ich also nach den Folgen für die Lebensführung frage, habe ich nicht Beispiele außerordentlicher Frömmigkeit im Auge, sondern Verhaltensweisen, die sich aus solch einem postulierten oder erstrebten Fromm-sein-wollen ergeben konnten. Die fromme „Praxis" spielt in solchen Familien eine große Rolle. Einen guten Einblick vermitteln die Aufzeichnungen des Schauspielers Brandes, der als Kind von seiner Tante aufgenommen worden war, die als „Haushälterin in Diensten stand" und sich einer „frommen Gesellschaft" angeschlossen hatte, zu deren „Betbrüdern" auch ein Schuhmacher gehörte. Bei dieser „rechtschaffenen und besonders frommen Frau" stellte sich der Tagesablauf des Jungen so dar: „Frühmorgens, nachdem ich m i c h . . . angekleidet hatte, . . . erfolgte ein halbstündiges Morgengebet". Nach Schulsdiluß wurde gegessen, „versteht sich, unter Vorbereitung von einem halben Dutzend Tischgebeten, die nach Tisch auf eine andre Manier erfolgten". Den Nachmittag füllte Schulunterricht „bis zur Abendtischzeit, wo die gewöhnlichen Gebete, ohne Ausnahme, wiederholt wurden. Nach geendigter Mahlzeit mußten noch ein Psalm oder erbaulicher Kirchengesang auswendig gelernt und . . . hergesagt werden; darauf machten denn die gewöhnlichen Abendgebete, und einige Gesänge: Nun ruhen alle Wälder — Nun sich der Tag geendet hat u. dgl. den Beschluß. An Sonn- und Festtagen füllte das Lesen der Bibel und einiger Postillen die Zeit zwischen dem öffentlichen dreimaligen Gottesdienste in der Kirche und den Mahlzeiten aus. An Werkeltagen wurde das liebe Vater Unser, im Geleit von etwa fünf andern Gebeten, gewöhnlich nur sechsmal gemißbraucht; aber an Sonnund Feiertagen stieg diese Zahl, wegen des Gottesdienstes, wo man jedesmal, ohne ein dreimaliges Vater-Unser zu beten, nicht wegkam, auf ein ganzes Dutzend und drüber" 89 . Dieser Rückblick ist gewiß von einer aufklärerischen Einstellung gefärbt, aber es besteht kein Grund, an den mitgeteilten Fakten zu zweifeln, da er von anderen Berichten bestätigt wird. Dieses Frommsein bestimmte die Einstellung zu jeder Art von „weltlichem" Vergnügen. Es betrifft freilich nicht nur die „Frommen", wenn Dinter berichtet, daß es um 1760 dem „Superintendenten Richter für etwas Kühnes, vor dem Volk zu Verbergendes angerechnet" wurde, „daß er zuweilen ein Kartenspiel mitmachte"87; die Markgröninger Pietisten verließen am 24. August die Stadt, um dem weltlichen Volksfest 86 87
Brandes, J. Chr., Meine Lebensgeschichte. I Berlin 1799, S. 18 f. Dinter, G. F., Leben, von ihm selbst beschrieben. 2. A. Neustadt 1830, S. 19.
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— dem Sdiäfertanz — zu entgehen88; der Musiker Moritz89, der in Verbindung mit dem sektiererischen Kreis um den Herrn v. Fischbein stand, lehnte es ab, zum Tanz aufzuspielen (wozu er verpflichtet gewesen wäre), besuchte kein Schauspiel, las keinen Roman und benutzte keinen Haarpuder90; ich erinnere weiter an die Aversion der Herrnhuter gegen farbige Kleidung, und der junge Anton Reiser, der wie seine Umgebung „fromm" sein wollte, rechnete es sich als Verfehlung an, „daß er mehr als zwanzigmal auf der Straße gelaufen, gesprungen und muthwillig gelacht hatte" 91 . Die gleiche Einstellung prägte auch das Alltagsverhalten in seiner Gesamtheit 92 bis zu der von Nicolai glossierten Forderung, „im Namen Jesu auf den Abtritt zu gehen" 93 . Zumindest glaubte Anton Reiser, man dürfe „keinen Augenblick lang vergessen, daß man fromm seyn wolle. Nun vergaß er es aber natürlicherweise sehr oft: seine Miene blieb nicht emsthaft, sein Gang nicht ehrbar, und seine Gedanken schweiften in irdischen weltlichen Dingen aus" 94 . Daß das nicht nur Betrachtungen eines exaltierten Knaben waren, bestätigt J. F. C. Grimm, der 1779 außer dem „gräslichen Geheul" der Tisch-, Morgen- und Abendlieder der Hallenser Pietisten ihre „Kopfhängerey" notierte95. Diese Ausrichtung an einer Uberwelt, die im Grenzfall zu einer Imitatio Christi führen mochte98, mußte konsequenterweise auf eine „Fleischesabtötung" hinauslaufen. Der junge Anton Reiser „saß daher halbe Stunden lang mit verschloßnen Augen, um sidi von der Sinnlichkeit abzuziehen. Sein Vater that dieses zum größten Leidwesen seiner Mutter ebenfalls"97. Diese Abtötung zielte natürlich auch auf d i e Form der Sinnlichkeit, welche die stärkste Verstrickung an die Welt darstellte, die sexuelle. Dem kamen Kirchenlehren entgegen, die nur den Geschlechtsverkehr legitimierten, der die Zeugung zum Ziel hatte. Ich werde später auf Sektierer einzugehen haben, die noch weiter gingen und jeden ehelichen Umgang ablehnten oder doch die „Lust zum Weibe" zu überwinden suchten98. Wenn es sich dabei auch immer nur um Einzelfälle handelte, ist doch generell als Ziel der „frommen Familie" festzuhalten, daß die Religion das Übergewicht über jede Art von „Sinnlichkeit" erlangen solle99. Das darf nun freilich nicht so verstanden werden, als handele es sich bei der „frommen" Kleinbürgerfamilie als Typus um Menschen, die über dem Beten den Bezug zum Irdischen verloren hätten. Es zeigt sich im Gegenteil, daß die überweltlich orientierte, asketische Einstellung in vielen Fällen mit weltlicher Betriebsamkeit und relativem Wohlstand gekoppelt war. Anton Reiser lobte „den ordentlichen Gang der Geschäfte" im Hause des Hutmachers s s Hornberger, Th., Der Schäfer. Stuttgart 1955, S. 168. Im pietistischen Stargard wurde 1704 das Schützenfest verboten, Wotschke, Th., „Der hallische Pietismus und das niedere Volk". Theologische Studien und Kritiken. 105 1933, S. 346—362, 354. 8 9 Eine biographische Skizze bei Stadelmann-Fischer, S. 128—133. 9 0 Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Hsg. v. Moritz. Berlin 1783—93, VIII, 1 S. 114. 9 1 Moritz, Anton Reiser, I S. 76. 9 2 Moritz, Anton Reiser, II S. 44; I S. 2. 9 3 Nicolai, Sebaldus Nothanker, II S. 8. 9 4 Moritz, Anton Reiser, I S. 73. 8 5 Grimm, I S. 182. 98 Vergl. (Jung-Stilling, J. H.), Henrich Stillings Wanderschaft. Berlin und Leipzig 1778, S. 59. 9 7 Moritz, Anton Reiser, I S. 27. 98 Maurer, W., Aufklärung, Idealismus und Restauration I: Der Ausgang der Aufklärung. Gießen 1930, S. 130. — Vergl. S. 220. 9 9 Vergl. auch Jung-Stillings Reflexionen: Henrich Stillings häusliches Leben. Berlin und Leipzig 1789, S. 28.
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Lohenstein100, und seine Schilderung läßt einen gutsituierten Handwerksmeister erkennen; „man verbindet überall Industrie mit Religion, rege Tätigkeit und Kaufmannsgeist bezeichnet an allen Orten den Herrnhuter", bemerkte ein anderer zeitgenössischer Schriftsteller101. Die eigentliche Problematik der „frommen Familie" liegt auch nicht hier, sondern darin, daß die im Verhältnis Welt—Uberwelt angelegten Spannungen im täglichen Umgang nun einmal nicht ohne Rest aufzulösen waren. Moritz' „psychologischer Roman" enthält in dieser Hinsicht aufschlußreiches Material. Anton Reiser entwirft zunächst das Bild seines Lehrherrn Lohenstein, des „strengen Herrn und Meisters" und religiösen Eiferers: „Ein Mann von mittlem Jahren . . . mit einem noch ziemlich jugendlichen aber dabei blassen und melancholischen Gesichte, das sich selten in ein andres, als eine Art von bittersüßen Lächeln verzog . . . ein ziemlich schwärmerisches Auge . . . und eine reine, aber äußerst langsame, träge und schleppende Sprache, die die Worte, wer weiß wie lang zog, besonders wenn das Gespräch auf andächtige Materien fiel: auch hatte er einen unerträglich intoleranten Blick, wenn sich seine schwarzen Augenbrauen über die Ruchlosigkeit und Bosheit der Menschenkinder, und insbesondre seiner Nachbaren, oder seiner eignen Leute zusammenzogen"102. Bogatzkys Forderung, „ein wahrer Hausvater (solle) ja den Seinigen zu ihrem wahren Seelenheil... behülflich seyn"103, nahm sich bei ihm so aus, daß er viel von „Ertödtung und Vernichtung schwatzte", so daß „fast alle Hausgenossen mehr oder weniger von den religiösen Schwärmereien . . . angesteckt" waren. Oft ließ er sich mit Anton „in Unterredungen ein, fragte ihn, wie er in seinem Herzen mit Gott stehe, und lehrte ihn, daß er sich Gott nur ganz hingeben solle . . . und so weiter. Des Abends mußte Anton, ehe er zu Bett ging, für sich stehend, leise beten, und das Gebet durfte auch nicht allzu kurz seyn —, sonst fragte L(ohenstein) wohl, ob er denn schon fertig sey und Gott nichts mehr zu sagen habe?" Dabei verzichtete er aber nicht darauf, seine hausherrliche Gewalt auszuspielen: „Seine Intoleranz erstreckte sich bis auf jedes Lächeln, und jeden unschuldigen Ausbruch des Vergnügens, der sich in Antons Mienen oder Bewegungen zeigte: denn hier konnte er sie einmal recht nach Gefallen auslassen, weil er wußte, daß ihm nicht widersprochen werden durfte". Andererseits konnte er auch „zuweilen stundenlange Strafpredigten gegen das ganze menschliche Geschlecht halten. Mit einer sanften Bewegung der rechten Hand theilte er dann Segen und Verdammniß aus. Seine Miene sollte dabei mitleidsvoll seyn, aber die Intoleranz und der Menschenhaß hatten sich zwischen seinen schwarzen Augenbraunen gelagert. —• Die Nutzanwendung lief denn immer, politisch genug, darauf hinaus, daß er seine Leute zum Eifer und zur Treue — in seinem Dienste ermahnte, wenn sie nicht ewig im höllischen Feuer brennen wollten. — Seine Leute konnten ihm nie genug arbeiten — und er machte ein Kreuz über das Brod und die Butter, wenn er ausging" 104 . Moritz beschreibt an mehreren Stellen, wie ihn diese und ähnliche Situationen dazu verleiteten, Andacht zu heucheln oder mit psychologischem Raffinement eine angebliche religiöse „Leere" auszuspielen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Auch Krug berichtet, daß seine Großmutter „äußeren Andachtsübungen" sehr ergeben war, die sie auch von andern forderte, so daß die Frömmigkeit des Kindes „halb bewußtlos erheuchelt" war 105 , und ich zitiere noch einmal Brandes, der bei der strengen Erziehung seiner Tante dahin kam, ein „Heuchler und Dummkopf"108 zu werden. Mir scheint, daß Moritz, Anton Reiser, I S. 85. (Schmidt, C. G.), Briefe über Herrnhut, und andere Orte der Oberlausitz. Winterthur 1787, S. 102. — Vergl. auch S. 195 f. 102 Moritz, Anton Reiser, I S. 82. 103 Bogatzky, C. H. v., Der christliche Haus und Ehestand. Halle 1756, S. 14. 104 Moritz, Anton Reiser, I S. 91, 94, 93, 91 f. 105 Krug, W. T., Lebensreise. Neue Ausgabe Leipzig 1842, S. 18. 106 Brandes, Lebensgesdiidite, I S.-17. 100
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diese Wertungen, die in einer sich bereits wandelnden Zeit und von der Position des „gebildeten Bürgertums" aus formuliert wurden, die Situation ebensowenig ausdefinieren wie ein tiefenpsychologischer Versuch, der in Lohenstein nur den „schizothymen Fanatiker", „den festen (Pfahler) Rechthaber und Moralisten, den kalten und lieblosen Pedanten"107 sehen will. Beide Richtungen verlagern das Problem ins Subjektive und lassen die Handlungsproblematik als solche zu kurz kommen, die sich Moritz so darstellte: „Anton glaubte, wenn man einmal fromm und gottselig leben wolle, so müsse man es auch beständig, i n j e d e m A u g e n b l i c k e , in allen seinen Mienen und Bewegungen, ja sogar in seinen Gedanken seyn"108. Anton Reiser gestand freilich, daß er nicht dauernd fromm sein konnte, aber jener Satz umschreibt die Bedingungen, unter denen ein „Frommsein" als Grappenverhalten auf Dauer gestellt werden kann, nämlich durch eine entsprechende Stilisierung des „äußeren" Verhaltens und dadurch, daß man die Normen dauernd präsent hält, „im Munde" führt. Ein solches Verhalten trifft leicht der Vorwurf der Frömmelei und Heuchelei, aufs Ganze gesehen sicher zu Unrecht. Angemessener wäre die Frage, wieweit diese Verhaltensformierung eine gewisse Geschlossenheit erreicht. In jedem Handeln treten Diskrepanzen auf, hier um so eher, als ja seine Normen einerseits eine konzessionslose Befolgung fordern, zum andern weitgehend im Gegensatz zur „weltlichen" Realität definiert sind, was neben jener Strenge die Verkrampfungen zeitigt, die in diesem Umkreis immer wieder begegnen. Wenn solche Einstellungen, wie im Falle des Musikers Moritz109 oder der Kaufmannsfrau, von der Jung-Stilling berichtet110, auf einen heterogenen Partner treffen, muß das zu Konflikten führen. Sofern aber Mann und Frau dem frommen Leitbild nachleben, sind Fragen wie die, ob solche Ehen glücklich waren, von vornherein unangemessen, und es bleibt unter „weltlichem" Aspekt nur ihre hohe Festigkeit zu konstatieren. Die Liste der Familienformen, die anhand eines sehr allgemeinen Abweichungs-Schemas skizziert wurden, muß noch um einen weiteren Typ ergänzt werden, der sidi nidit aus bestimmten Verhaltensweisen ergibt, sondern deren ökonomische Voraussetzungen betrifft. Nicht selten begegnen nämlich im Kleinbürgertum E h e n z w i s c h e n a l t e r s u n g l e i c h e n P a r t n e r n , vor allem Ehen mit einer, teils erheblich, älteren Frau. Der umgekehrte Fall, daß Witwer recht junge Mädchen heiraten, kommt zwar ebenfalls nicht selten vor, gewinnt aber keine gruppenspezifische Bedeutung. Roller, der die Einwohnerschaft der Stadt Durlach im 18. Jahrhundert statistisch aufgearbeitet hat, errechnete für die Zeit von 1701—1720 28,88 % Heiraten, in denen die Braut älter als der Bräutigam war; der Anteil sank 1721—1750 auf 22,56 %, stieg 1751—1780 auf 30,38 %, um bis zum Jahrhundertende wieder „etwas" herunterzugehen. Die Ehen zwischen Witwen und ledigen Männern machten 6,12 % aus 111 . In Tondern waren 1769 28 %, 1803 knapp 34 % der Ehefrauen älter als ihre Männer, ca. ein Viertel davon 10 Jahre und mehr 112 . In diesen Zahlen zeichnet sich also eine Sonderform ab, die eine eigene Behandlung rechtfertigt. 107 Neumann, J., „Karl Philipp Moritz: ,Anton Reiser, ein psychologischer Roman' 1785—1789. Studien zur tiefenpsychologischen Typenlehre". Psyche. 11947, S. 222—257, 358—381, 239. 108 Moritz, Anton Reiser, I S. 73; von mir gesperrt. 109 Magazin zur Erfahrungseelenkunde. 1791, VIII,1 S. 115. 110 Jung-Stilling, Wanderschaft, S. 61 f. 111 Roller, O., Die Einwohnerschaft der Stadt Durlach im 18. Jahrhundert in ihren wirtschaftlichen und kulturgeschichtlichen Verhältnissen dargestellt aus ihren Stammtafeln. Karlsruhe 1907, S. 170, 172.
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Beide Möglichkeiten der ungleichen Partnerschaft schildert der 1770 erschienene Roman Bewundernswürdige Begebenheiten eines Uhrmachers113. Der Lehrmeister des Titelhelden hatte eine 14 Jahre ältere Witwe geheiratet, die aber ein „halbes" Haus und Möbel mit in die Ehe brachte. Nach ihrem Tod heiratete er im Alter von 55 Jahren eine 15jährige Waise, die noch etwas jünger als seine Stieftochter war, jedoch 6000 Taler besaß. Daß sich hier tatsächliche Verhältnisse spiegeln, zeigt die Autobiographie des Barbiers Dietz. Nachdem er den Widerstand der Hallenser Barbiere gegen den neuen Hofbarbier überwunden hatte, notiert er: „Weil die Leute sahen, daß ich Ruhe hatte und meine Barbierstube gut forttriebe, . . . da hatte ich Not mit freien. . . . Insonderheit lag mir die Frau Bäckermeister Ließkau, als meine Pathe, sehr an: Ich sollte Frau Watzlauen heiraten. Ob sie wohl drei Kinder, hätte sie doch das schöne Haus, ihre Barbierstube, und wann ihr Vater stürbe, kriegte sie noch wohl zweitausend Thaler." Er hörte sich das, wie er schreibt, „mit kalten Ohren an und dachte weit höher hinaus": „Denn ich wohl Rathsherm-Töchter bekommen konnte." Schließlich „bestrickten" ihn aber die beiden Frauen doch bei einem Glas Wein und er heiratete die zehn Jahre ältere Witwe114. Wenn Dietz auch wahrhaben will, daß er übertölpelt worden sei, spricht doch alles dafür, daß die Argumente seiner Patin, die verbreiteten Anschauungen entsprachen, motivierend waren, Argumente, die schließlich im Reichstagsgutachten von 1731 als „Mißbräuche" angeprangert wurden. Zu den „Vortheilen", die „denen Jungen, so Meisters-Wittiben oder Töchter heyrathen" zugestanden wurden, gehörte ja nicht nur der erleichterte Einkauf in die Zunft, sondern solche Heiraten stellten in geschlossenen Zünften für jemanden, der kein Meistersohn war, fast den einzigen regulären Weg dar, das Meisterrecht zu erwerben 115 . Man darf auch nicht übersehen, daß das „Recht" etwa auf eine Barbierstube in einer Zeit, die nur Ansätze zu Versicherungen kannte und für eine Schicht, deren ökonomische Lage keine Renten erlaubte, die einfachste Altersversorgung der Frau war. Daß man freilich in diese Verhältnisse keine modernen Vorstellungen von Liebe hineintragen darf, wurde schon bei der Behandlung der übrigen Familientypen deutlich. 113 Andresen, L., Bürger- und Einwohnerbuch der Stadt Tondem bis 1869. Kiel 1937, S. 192. In diesen Ehen waren ca. 2,5 % der Frauen 20 Jahre älter. In etwa 50 % der Fälle hatten Handwerker die ältliche Tochter eines Meisters, Kaufmanns oder Wirtes geheiratet, in „fast allen übrigen Ehen" eine Witwe einen Junggesellen. Vergl. Nolde, A. F., Medicinisch-anthropologische Bemerkungen über Rostode und seine Bewohner. Erfurt 1807, S. 83: „Unter den Handwerkern heirathen die Wittwen nicht sogar selten, wenn sie schon über gewisse Jahre hinaus sind, ihre weit jüngeren Gesellen, die denn das Handwerk fortsetzen und sogleich festen Fuß haben, sich aber in Rücksicht des Alters ihrer Frauen wohl zu entschädigen wissen"; andererseits Rambachs Hinweis auf die „späte Verheirathung des weiblichen Geschlechts (der) niedern Stände" in Hamburg. Während die Männer heirateten, sobald sie im Stande waren einen Haushalt zu führen, suchten sich die Mädchen „erst während ihrer Dienstjahre etwas an Geld und Kleidungsstücken zu sammeln . . . Daher ist es etwas sehr gewöhnliches, daß die Männer in unsem niedern Ständen jünger sind, als ihre Frauen"; Rambach, J. J., Versuch einer physisch-medizinischen Beschreibung von Hamburg. Hamburg 1801, S. 257. 113 Bewundernswürdige Begebenheiten eines Uhrmachers, wie auch dessen Reisen, Glück und Unglücksfälle auf dem Meere und unbewohnten Insuln, ingleichen seine glückliche Zurückkunft in Deutschland. Regensburg 1770, S. 229 f. 114 Dietz, S. 229 f. Der 30jährige Buchbinder J. Chr. Kühn sollte eine 60jährige Buchbinderwitwe heiraten, Fraenger, S. 238. 115 Vergl. Kap. III, 3.
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Ähnliche Motive begegnen bei den Schneidern Händler und Harnisch. Händlers Vater, ein Nürnberger Schneidermeister, hatte, wie wir hörten, für den Sohn eine Heirat mit einer einige Jahre älteren Frau arrangiert, die von einer 77jährigen „Baas" als Universalerbin eingesetzt werden sollte. Die Erbschaft entpuppte sich allerdings später als ein baufälliges Haus, und diese Fehlspekulation bezahlte der Sohn mit einer 14jährigen unerquicklichen Ehe. Harnisch berichtet von seinen Eltern, daß der von der Wanderschaft zurückkehrende Geselle eine zehn Jahre ältere Witwe heiratete und in ihrem Haus sein Handwerk betrieb 116 . Aus Harnischs Biographie erfahren wir aber auch, daß „das elterliche Haus kein Friedenssitz" war117, was er mit Unterschieden der Temperamente von Vater und Mutter zu erklären sucht. Händlers „Wahlspruch": „Glücklich ist der vergißt, das was nicht zu ändern ist" 118 , ist ein nur zu deutlicher Kommentar seiner Ehe, auch ohne sein Geständnis, daß er „weder Neigung noch Affection" zu seiner Frau gehabt habe 119 . Ausführlicher spricht sich Dietz über seine Ehe aus. Am Beginn steht der Stoßseufzer des Vaters: „Die beste Hoffnung ist zu Gott, vielleicht wird's besser, oder sie stirbt bald." Da sich aber keiner der beiden Wünsche erfüllte, führt ein fortwährender Streit mit Frau und Verwandtschaft um das Erbe über häuslichen Zank — „da war . . . keine Liebe und Dank. Und mußte doch bei solcher schlafen" — schließlich zu Tätlichkeiten, bis das Konsistorium eine Trennung von Tisch und Bett ausspricht. Beide halten das aber nur 18 Wochen aus — um das alte Leben mit Zank und Prügelei fortzusetzen. Er hofft auf den Tod der älteren Frau, muß sich aber doch noch eine Reihe von Jahren gedulden, bis sie ihn sterbend um Verzeihung bittet und die Schuld an ihrem Verhalten „bösen Leuten" zuschiebt. Er läßt sie „ehrlich mit Kutschen begraben" und zieht das Resümee: „Ich mag wohl sagen, so sehr übele Zeit ich bei ihr hatte, so nahe ging mir doch ihr Absterben, daß ich viel Thränen über sie vergoß. Und wäre zu wünschen gewesen, wenn ich auch nun ein alter Mann: sie wäre in Friede und Ruhe, wie sie wohl haben konnte, bei mir geblieben. Denn sie war sonst eine geschickte, kluge Frau und vortreffliche Köchin120." Für die Beurteilung dieser Ehe wird man sich vor Augen zu halten haben, daß es sich um eine einseitige Darstellung handelt, deren apologetische Nebenabsicht nicht übersehen werden darf, auch werden manche grobianischen Züge milder beurteilt werden müssen, wenn man ähnliche Schilderungen aus höheren Ständen danebenhält. Aber trotz dieser Abstriche gewinnt man doch aus Dietzens Schilderung von solchen Versorgungsehen ein recht unerfreuliches Bild, das allgemeinere Überlegungen ja auch erwarten lassen; denn einmal fehlt die Synchronisation der Lebensphasen beider Partner in psychischer Hinsicht und zum andern wird die Lage der alternden Frau bei Nachlassen des sexuellen Interesses einseitig belastet. Wenn nun noch, wie bei Dietz, persönliche Faktoren komplizierend hinzutreten und keine gemeinsamen Kinder — die einzige Tochter starb mit drei Jahren — ausgleichend wirken können, ist jenes Ergebnis nicht verwunderlich. Der Verfasser der Bewundernswürdigen Reisen eines Uhrmachers läßt den Meister —• wie es die Schwankliteratur der Welt prophezeit — sexuelle Freuden außerhalb des Hauses suchen121, und es ist immerhin auffallend, daß Dietz, der aus seiner Jugend manches amouröse Abenteuer zu berichten weiß, auch im Alter keinen abgelebten Eindruck macht und noch mit 71 Jahren taufen läßt, dreißig Jahre bei einer Frau ausgehalten haben will, mit der er, nach eigenem Eingeständnis, nur widerwillig schlief. Auf jeden Fall mußte die Tatsache, daß im Kleinbürgertum keine sexuellen Ventile mehr oder weniger institutionalisiert waren — wie in Hofkreisen das Maitressenwesen oder auch im bäuerlichen Bereich, wo die 116 117 118 119 120 121
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Harnisch, S. 17. Harnisch, S. 5. Händler, I S. 70. Händler, I S. 70. Dietz, S. 231, 235, 304 f. Vergl. Noldes Bemerkung, zit. S. 27.
abgearbeitete Frau schon einmal übersah, wenn der Bauer zur Magd ging — diese Problematik erheblich verschärfen. Und dennoch wurden die Ehen dieser drei protestantischen Kleinbürger nicht geschieden.
Wie dieser Familientypus aus den gesellschaftlichen Verhältnissen erwuchs, so wird man sie auch für das Miteinanderauskommen der Partner verantwortlich machen dürfen 122 . Es wäre freilich eine außenbestimmte Lösung des Problems, und eine solche pflegt immer auf Kosten des „Innern" zu gehen. Für den Einzelnen bleibt dann nur die Chance, Haltungen aufzubauen, die das Funktionieren der Familie als Gruppe gewährleisten. Diese Grenzfälle bestätigen aber gerade den früher umschriebenen Charakter jener Familie als „Institution" (Burgess/Locke), sei es auch um den Preis eines schlechten Gewissens der Beteiligten auf dem Sterbebett. Ich glaube, daß hiermit die wichtigsten Spielarten der kleinbürgerlichen Familie skizziert sind. Dabei wurde mehrfach auf die gesellschaftliche Situation Bezug genommen, womit sich die Diskussion in Richtung auf einen „funktionalen" Normalitätsbegriff verschiebt und die Frage der Abweichungen von hier aus neu überdacht werden muß. Merton machte ja deutlich, daß manche Sozialstrukturen dann einen Druck auf gewisse Personen ausüben, sich eher für nonkonformistisches als konformistisches Verhalten zu entscheiden, falls in einer Gesellschaft den als legitim geltenden Normen und Zielen nicht in ausreichendem Maße Möglichkeiten parallelgehen, ihnen zu entsprechen123. Wenn kleinbürgerliche Gruppen den Erwerb der Meisterschaft prämiieren und gleichzeitig die Wege dorthin stellenweise weitgehend blockieren, wird die „anormale" Heirat mit einer weit älteren Frau ein durchaus „normales" Mittel, jenes Ziel zu erreichen. Das Verhalten der „sozialen Pendler" läßt sich vom kleinbürgerlichen Führungssystem her schwerlich rechtfertigen; im Rahmen des aufstrebenden Bürgertums stellt es sich aber als eine Weise des Arrivierens für solche Kleinbürger dar, denen andere Möglichkeiten — wie der Weg über den Bildungserwerb — verschlossen waren. Und es wäre ferner zu fragen, wie weit der „Haustyrann" als ein verkrampfter Versuch anzusehen ist, einem kulturell definierten Ziel ohne zureichende soziale Basis zu entsprechen. Solche Überlegungen wollen diese und andere Erscheinungen weder bagatellisieren noch „verstehend" relativieren, sondern zielen auf eine Betrachtungsweise, die das Familienverhalten der subjektiven Bewertung enthebt, wobei unterstellt wird, daß die angeschnittenen Probleme noch diesseits der weltanschaulichen Frage nach der „richtigen" Ehe bearbeitet werden können.
2. Kernfamilie und Haushaltsgröße Das im letzten Abschnitt entworfene Bild der Familie verlangt eine Ergänzung in quantitativer Hinsicht. Das bis heute aufgearbeitete Quellenmaterial gestattet zwar nur begrenzte Aussagen, reicht aber aus, die Haushaltsgröße zu
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Vergl. Kap. VII, 2.
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Merton, S. 125 f., 133.
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bestimmen und dabei die gängige These vom Kinderreichtum der älteren Zeit im kleinbürgerlichen Bereich zu prüfen. Die biographischen Nachrichten bieten durchaus Beispiele kinderreidier Familien. Wenn auch etwa die Familie des Armeelieferanten, späteren „Viehdoktors" und Pächter» Sachse mit 12 Kindern aus zwei Ehen dem kleinbürgerlichen Bereich nur sehr bedingt zugerechnet werden kann1 — und noch weniger die des Korporals Köhmann, der am Lebensende die Zahl seiner aus mehreren Ehen stammenden Kinder nicht mehr übersehen konnte2 — wäre doch auf Bernds Bemerkung über den Breslauer Fleischerältesten hinzuweisen, der aus „herzlicher Liebe" ein Kind nach dem anderen zeugte3, auf den Flaschnermeister Grübel, der 9 4 , den Sattlermeister Kant, der 8 Kinder hatte, auf Händler, dessen Frau „nie aus der Litanei" kam und in 14 Jahren 10 Kinder zur Welt brachte5 oder Harnisch, der von 12 Kindern berichtet, die den beiden Ehen der Mutter entstammten und ebenso von einem Onkel, der 18 Kinder hatte6. Die Biographien von Händler und Harnisch machen aber auch die Kehrseite sichtbar. Beim Tode der Frau lebten von Händlers Kindern nur noch 2, Hämisch war das einzige überlebende Kind aus zweiter Ehe und seine Mutter starb schließlich, „nachdem sie 12 Kinder geboren und 11 davon begraben hatte" 7 . Diesen Beispielen könnten andere entgegengehalten werden, in denen die Kinderzahl kaum von modernen Verhältnissen abweidit, die aber natürlich ebensowenig wie jene anderen Angaben auch nur annähernd repräsentativ sind. Uber soldie zufälligen Nachrichten hinaus besitzen wir freilich auch eine nicht geringe Zahl demographischer Daten für einzelne Städte oder Territorien, ich erinnere nur an den Versuch des Probstes Süßmilch, „die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben" zu erweisen. Nach seinen Berechnungen schwankte die Zahl der Getauften, die durchschnitdich auf 10 Eheschließungen kamen, zwischen 30 und 39 8 . Das ist freilich keine Antwort auf die im Augenblick interessierende Frage nach der Kinderzahl pro Familie, und auch als Maß der Fruchtbarkeit ist diese Verhältniszahl, die ebenso andere zeitgenössische Autoren, der Anlage der Küchenbücher entsprechend, benutzen, wenig geeignet, da sie recht erheblich von den wechselnden Heüats- und Unehelichkeitsziffem beeinflußt wird. Brauchbarer, wenn auch statistisch ebenfalls unbefriedigend, ist die Geburtenziffer (Zahl der Geborenen in Promille der mittleren Bevölkerung)9, die um die Jahrhundertmitte in Berlin 34,6 °/00, in 20 kleinen Städten und Marktflecken der Sachse, J. Chr., Der deutsche Gilblas. Stuttgart und Tübingen 1822. Köhmann, C., Fünfzigjährige Erfahrungen bei den Soldaten und in der Ehe. 2. A. Hamburg 1819. 3 Bernd, A., Eigene Lebensbeschreibung. Leipzig 1738, S. 96. 4 Grübel's Sämmtliche Werke. Hsg. v. Frommann. Nürnberg 1857, I S. VII. 5 Händler, I S. 76. 6 Harnisch, S. 16, 27. 7 Harnisch, S. 27. 8 Süßmilch, J. P., Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben erwiesen. I/II 3. A. Berlin 1765, III (Anmerkungen und Zusätze von Chr. J. Baumann) 2. A. Berlin 1787, I S. 233/234. Süßmilch rechnete mit „gemeiniglich 36, 38 oder 39 Geburten", I S. 174. Angaben über deutsche Städte, die weiter streuen als die von ihm mitgeteilten bei Mols, R., Introduction à la démographie historique des villes d'Europe du XIV" au XVIII e siècle. Louvain 1954/56, III S. 216 f. 9 Vergl. Witt, C. D., Über das Wesen der Fruchtbarkeitsstatistik. Diss. Zürich 1954; Flaskaemper, P., Bevölkerungsstatistik. Hamburg (1962). 1
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Kurmark 40,2°/oo10> in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts in Calw und Wildberg 40,1 °/00 bzw. 39,6 Vc11, in Basel nur 22,1 % 0 12 betragen haben soll. Die Berechnung der Kinderzahl pro Familie für eine ganze Stadt ist, soweit ich sehe, nur in Rollers Untersuchung von Durlach durchgeführt worden 13 . In dieser Stadt, die mit einer Geburtenziffer von 41,4 °/0014 zu den geburtenreicheren Orten gehörte, betrug die Durchschnittszahl der Kinder pro Familie 15 1701—1725 4,11 1726—1750 5,00 1751—1775 4,38 1776—1800 5,82 1701—1800 4,89. Diese hohe Geburtenquote 16 muß allerdings vor dem Hintergrund der großen Säuglings- und Kindersterblichkeit jener Zeit gesehen werden. Da ich später noch auf diesen Punkt eingehen werde, merke ich hier nur an, daß in Durlach 3 3 % der Lebendgeborenen innerhalb des ersten Jahres starben und 5 2 % nicht älter als 5 Jahre wurden 17 . Neben der Kernfamilie haben wir im augenblicklichen Zusammenhang noch Verwandte — in erster Linie Großeltern — zu berücksichtigen, die im Haushalt lebten, was vor allem dann der Fall war, wenn das Handwerk mit dem Haus übernommen wurde. So wird von Tiedcs Großmutter berichtet, daß sie ihre letzten Jahre in einem Hinterzimmer „still" dahinlebte. Auch die Schwiegermutter von Klödens Onkel, des 10 Süßmilch, I Anhang S. 6, 21. — Zum Vergleich 1845: 37,3°/«o. 1900: 35,6 %„, 1960: 17,7 °/oo. Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1964, S. 55, 57. 11 Troeltsch, W., Die Calwer Zeughandlungskompagnie und ihre Arbeiter. Jena 1897, S. 416. 12 Mols, III S. 209; vergl. II S. 280 ff. 13 Hinz, U., Die Bevölkerung der Stadt Lüneburg im 18. Jahrhundert (1701—1800) unter besonderer Berücksichtigung der natürlichen und sozialen Bevölkerungsbewegung. Diss. Hamburg 1952, geht von den vorhin genannten Quellen aus und ist deshalb für uns wenig ergiebig. 14 Roller, Durlach, Anhang S. 54. Wenn man mit Prinzing (Z. f. sociale Medizin. IV 1909, S. 266) die ersten beiden Jahrzehnte wegen der Auswirkungen der starken Bevölkerungsbewegung ausklammert, ergibt sich für die Jahre 1721—1800 immer noch eine Geburtenziffer von 38,9 % 0 . 10 Roller, Durladi, S. 216. Die Höchstzahl der gleichzeitig vorhandenen Kinder betrug im Jahrhundertdurchschnitt 3,43. In 101 erfaßten von 130 „Hausständen", Nachkommen der Basler Familie Burckhardt aus dem 16. Jahrhundert, die verschiedenen wirtschaftlichen und sozialen Schichten angehörten, betrug die Kinderzahl in den gleichen Zeitabschnitten des 18. Jahrhunderts 5,1; 4,4; 4,4; 5,0; Burdchardt, A., „Über Kinderzahl und jugendliche Sterblichkeit in früheren Zeiten". Z. f. schweizerische Statistik. 43. Jg. II 1907, S. 395—405, 396. 16 1793 wurde dagegen geklagt, daß „die schon länger verbreitete Sitte der Landleute, in zween Kindern ihre Nachkommenschaft . . . zu erhalten", auch in Erfurt einzudringen beginne, nach Wähler, M. Die Bevölkerungsbewegung in Erfurt während der letzten Jahrhunderte. Erfurt 1940, S. 25; von Wähler überprüft, aber keine genaueren Angaben. Um die Jahrhundertwende polemisierte auch der Pfarrer W. Butté gegen das „Zweikindersystem" (sie), Statistisch-Politisch- und Kosmopolitische Blikke in die Hessen-Darmstädtischen Lande. Giesen und Darmstadt 1804, S. 320, Beilage S. 245, 288. 17 Roller, Durlach, Anhang S. 78/79. — Vergl. S. 184, 189.
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Goldschmieds Willmanns, lebte in dessen Haushalt. Das junge Ehepaar Bronner wohnte mit den Eltern der Frau zusammen, Händler mit der Erbtante seiner Frau. Ebenso wurden verwitwete Geschwister in den Haushalt aufgenommen, wie König berichtet, der nach dem Tode seines Vaters zu den Großeltern zog, die mit einem Onkel zusammenlebten. Solche Nachrichten passen zwar zu dem früher entworfenen Idealbild des Hauses, aber diese Fälle dürften weitaus weniger zahlreich gewesen sein, als es jenes Bild nahelegt. Roller stellte für 1766 in Durlach 607 Ehepaare, 41 Witwer, 183 Witwen und 7 Desertae fest. In diesen rund 800 Haushaltungen lebten aber nach der Haustabelle von 1766 nur 19 Eltemteile mit den Kindern zusammen 18 , wovon etwa ein Fünftel nicht in den kleinbürgerlichen Bereich fällt. Diese sehr niedrige Zahl darf man wohl der überdurchschnittlichen Mobilität der Durlacher Bevölkerung, die aus dem forcierten Aufbau der zerstörten Residenz und der späteren Konkurrenz von Karlsruhe resultiert, zuschreiben. Die weit höheren Zahlen, die Rüling aus Northeim mitteilt, zeigen aber auch kein prinzipiell anderes Bild: Dort entfielen auf 345 männliche und 404 weibliche „Haußwirthe" 74 „Anverwandte" über und 30 unter 14 Jahren. Bei den 127 männlichen und 198 weiblichen „Häußlingen" wohnten keine Verwandten 19 . U m die tatsächliche Größe der kleinbürgerlichen Familie abschätzen zu können, benötigen wir f e m e r Angaben über die Zahl der Gesellen, Lehrlinge u n d Mägde, die ja ebenfalls zum Haus gehörten. „Der wohlhabende Handwerkermeister in seiner Werkstatt, umgeben von drei oder vier Gesellen und einem Lehrlinge...; den Tisch, wie die Werkstätte, den Genuss, wie die Arbeit mit seinen jüngern Gehülfen teilend . . . : das ist das schöne Bild gewerblicher Thätigkeit mit anständiger Häuslichkeit verbunden, welches vorschwebt, wenn wir das Handwerk golden, den mittlem Bürgerstand glücklich preisen", schrieb J. G. Hoffmann 1829, aber dieses schöne Bild entspreche nur in Ausnahmefällen der Wirklichkeit20, und das galt ebenso für das 18. Jahrhundert, wie die folgende Zusammenstellung deutlich macht21:
Durlach (1766) Darmstadt (1783) Städte d. Herzogt. Magdeburg u. Grafsch. Mansfeld (1780), abgerundet in Tsd. Kurmärkische Städte (1769/70) ohne Berlin Berlin (1769/70)
M
F
Sö
611 1183
754 1433
777 1282
945 1364
51 483
19,4
22,7
17,2
18,6 2,5
1,7
Tö Ges. Lj. Knechte Mgd. Sa. Diener
1,8
26 561
3164 6310
5,2
89,1
10,4 10,6
151,5 104,5
•
31,4 20,5
39,2 25,0
28,2 17,6
31,2 4,8 20,6 4,3
6,4 5,9
18 Die Zahl der Ehepaare und verwitweten Personen nadi Rollers Auszählung, Anhang S. 113. 19 Rüling, J. Ph., Physikalisch-Medicinisch-Oekonomische Beschreibung der zum Fürstentum Göttingen gehörigen Stadt Northeim. Göttingen 1779, S. 58, ohne Soldatenfamilien. 20 Hoffmann, J. G., Nachlaß kleiner Schriften staatswirthschaftlichen Inhalts. Berlin 1847, S. 395. 21 Roller, Durlach, Anhang S. 239; nur fremde Gesellen und Knechte. Da sich unter den 219 Personen, die von Roller nicht sicher nachgewiesen werden konnten bezw. erst nach Fertigstellung der Haushaltstabelle einwanderten, sicher Gesellen befanden, deren Zahl für 1769—1771: 89, 62, 84; Fabricius, C. A., „Die Bevölkerungs-Aufnahme in der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt und in dem Grossherzogthum Hessen bis zum Jahre 1853". Beiträge zur Statistik des Grossherzogthums Hessen. III Darmstadt 1864, S. 1—55, 10, ohne 285 Ledige mit eigenem Haushalt, deren Geschlecht nicht angegeben ist; Oesfeld, C. L., Topographische Beschreibung des Herzogthums Magdeburg und der Grafschaft Mansfeld. Berlin 1780, S. 82; Behre, O., Geschichte der
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Wenn sidi auch aus einer solchen Aufschlüsselung weder die Gesellenzahl noch die Haushaltsgröße ohne weiteres ablesen lassen 22 , ergibt doch schon eine Uberschlagsrechnung, daß eine Kopfzahl von 5 Personen pro Haushalt, mit der zeitgenössische Autoren operierten 23 , und die noch in neuerer Zeit in der Fachliteratur begegnet 24 , indiskutabel ist. Süßmilch setzte dagegen „die Zahl der Personen, so zu einer Familie nach einem Mittel zu rechnen", mit 4,5 an, ohne allerdings diesen Wert für Deutschland belegen zu können 25 . Für eine Uberprüfung bieten sich zunächst wieder Rollers Erhebungen in Durlach an. Die in der von ihm ergänzten Haushaltungstabelle von 1766 nachgewiesenen 3045 Personen verteilten sich auf 802 Miet- und Hausparteien, was einer Haushaltsgröße von 3,7 entspricht. Selbst wenn alle 119 alleinstehenden Ledigen, deren Wohnung nicht ermittelt werden konnte, diesen Haushaltungen angehört hätten, läge die Zahl noch immer unter 426. Nach dem Hantierungsanschlag und der Spezialbeschreibung von Waldkappel (1743/44) ist für dieses Städtchen ein Wert unter 4,5 anzusetzen27. Für Darmstadt liegen zwei innerhalb weniger Jahre nach verschiedenen Gesichtspunkten durchgeführte Zählungen vor. Die 1777 publizierte ergibt eine Haushaltsziffer von 4,3, die nach der Generaltabelle von 1783—86 aber zu hoch erscheint28. Nach der ersten offiziellen Volkszählung in Basel (1779) betrug die Kopfzahl pro Haushalt 4,129, 1766 in Hannover 3,930, während nach Westenrieders Angaben in den 80er Jahren in München auf eine „Herdstätte" 4,3 Personen gekommen wären31. Für Statistik in Brandenburg-Preussen bis zur Gründung des Königlichen Statistischen Bureaus. Berlin 1905, S. 191. 22 Die einheimischen Gesellen werden — wie in Rollers Aufstellung — teils unter den Söhnen aufgeführt, während in den preußischen Erhebungen die unverheirateten Söhne, die beruflich selbständig waren, aber im elterlichen Haushalt lebten, als „Hausväter" gezählt wurden; Mädchen mit unehelichen Kindern sollten den „Frauen" zugeschlagen werden, vergl. Behre, I.e., S. 185. 23 Fischer, J. B., Statistische und topographische Beschreibung des Burggraftums Nürnberg . . . ; oder des Fürstentums Brandenburg-Anspach. Anspach 1787, I Beilage Nr. 4; Roller, Chr. N., Versuch einer Geschichte der Kaiserlichen und Reichsfreyen Stadt Bremen. Bremen 1799, I S. 73. Vergl. auch Unger, J. F., Von der Ordnung der Fruchtpreise, und deren Einflüsse in die wichtigsten Angelegenheiten des menschlichen Lebens. Göttingen 1752,1 S. 220 f., wo eine Normalfamilie von 5 Personen zugrundegelegt wird. 24 Keyser, E., Bevölkerungsgeschichte Deutschlands. 2. A. Leipzig 1941, S. 383. Erst in der 3. Auflage ist diese unbewiesene Behauptung fallengelassen worden. 25 Süßmilch, I S. 233 f. 26 Roller, Durlach, Anhang S. 238 f. 27 Waldkappel 1744 (Hessische Ortsbeschreibungen 7). Hsg. v. Albrecht. MarburgWitzenhausen 1965, S. 29—48, 19. 28 Fabricius, 1. c., S. 39, 10. Die zweite Zählung ergibt eine recht niedrige Kopfzahl, was damit zusammenhängen dürfte, daß, wie Fabricius vermutet (S. 49), nicht zwischen Verwitweten, die ihren Haushalt weiterführten und solchen, die bei Verwandten wohnten, unterschieden wurde. Falls das jeweils für die Hälfte der Fälle gegolten hätte, ergäbe sich eine Haushaltsziffer von 4,1. 29 Mauersberg, H., Wirtschafts- und Sozialgeschichte zentraleuropäischer Städte in neuerer Zeit. Göttingen 1960, S. 25. Die Auswertung des Proviantregisters für die Zunftmitglieder von 1739, das recht beträchtliche Schwankungen der Haushaltsgrößen je nach Zunft und Vermögen sichtbar werden läßt, macht nach Mauersbergs Referat so viele Unterstellungen notwendig, daß es mir als Gegenprobe jener späteren Zahlen ungeeignet erscheint. 30 Mauersberg, S. 63. 3 1 Westenrieder, Beschreibung der Haupt- und Residenzstadt München. München 1782, S. 219; nach einem Verzeichnis aus den Jahren 1794/95, das anscheinend die 3 Möller, Kleinbürgerliche Familie
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Tondem wurde nach der Zählung von 1769 allerdings eine Kopfzahl von 4,9 errechnet 32 ; in Itzehoe kamen im gleichen Jahr auf eine Vollfamilie 4,6 Personen, so daß die Haushaltsgröße bei Berücksichtigung der Verwitweten und alleinlebenden Ledigen unter 4,5 angesetzt werden darF 3 . Wenn diese Beispiele, die Städte jeder Größenordnung umfassen, auch nicht in einem strengeren Sinn beweisend sein können und die vorwiegend auf außerdeutsche Vergleichsdaten gestützte Behauptung von Mols, daß im 18. Jahrhundert „le coefficient 4 donnera le chiffre le plus admissible" 34 , noch erhärtet werden müßte, läßt sich ihnen doch so viel entnehmen, daß die Durchschnittsgröße der städtischen Haushalte im Untersuchungszeitraum unter der Schätzung von Süßmilch lag. Die kleinbürgerliche Familie war größer als heute, aber sie unterschied sich, soziologisch betrachtet, doch nicht grundlegend von modernen Verhältnissen35. Im Hinblick auf den Sozialisierungsprozeß wären aber genauere Angaben über die natürlich höhere Kopfzahl während der Jahre der Kinderaufzucht erwünscht. Leider erlaubt auch hier wieder nur Rollers Durlacher Haushaltungstabelle eine Antwort. In 180 ausgezählten kleinbürgerlichen Familien mit Kindern unter 15 Jahren betrug die Haushaltsgröße 5,5. In Homberg/Efze dürfen wir wahrscheinlich die gleiche Größenordnung unterstellen86. Das ist insofern alleinlebenden Personen nicht gesondert anführt, kamen 34 277 Personen auf 7638 „Familien", Mauersberg, S. 71. — Von vornherein sind in den Großstädten bei dem höheren Anteil von Gesellen und Dienstboten auch höhere Kopfzahlen zu erwarten. Es müßten aber nicht nur die nicht im Familienverband lebenden Gruppen ausgeklammert, sondern auch die Dunkelziffer der „Pfuscher"-Haushalte und unangemeldeten Personen aufgeklärt werden. Ferner ist zu berücksichtigen, daß sich in den größeren Städten die Praxis auszubilden begann, daß die Gesellen nicht mehr im Meisterhaushalt lebten — in manchen Berufen ja sowieso nicht dort arbeiteten — und es fraglich scheint, ob sie als „alleinlebende Ledige" im Sinne der Darmstädter Zählung geführt wurden. 3 2 Andresen, 1. c., S. 246, 237 f. Im Jahre 1803 betrug die Kopfzahl 4,6. Andresen weist auf die schon den Zeitgenossen aufgefallene große Zahl weiblicher Dienstboten hin (S. 249, 193), welche z. B. die Angaben aus hessischen Städten beträchtlich übersteigt, vergl. die Hessischen Ortsbeschreibungen; Martin, J. Chr., Topographisch Statistische Nachrichten von Niedersachsen. I—III Göttingen bzw. Helmstedt bzw. Cassel 1789/96. 3 3 Das deutsche Städtebuch. Hsg. v. Keyser. I Stuttgart-Berlin (1939), S. 408. In Stettin soll die Kopfzahl 4,6 betragen haben, Keyser, Bevölkerungsgeschichte3, S. 420, ohne Quellenangabe. 3 4 Mols, II S. 129. 3 5 Vergleichszahlen für 1961: 2,82 in Ein- und Mehrpersonenhaushalten, ohne die Einpersonenhaushalte 3,31, Statistisches Jahrbuch 1964, S. 49. Zur Definition von „Haushaltung" Kellerer, H., Statistik im modernen Wirtschafts- und Sozialleben, Hamburg 1960, S. 22 f. — Zur soziologischen Problematik der Familiengröße Bossard, J. H. S. - Boll, E. St., The Large Family System. Philadelphia 1956, S. 76 ff. und die dort angeführte Literatur. 3 6 Homberg 1748. Die Einwohner und ihre Gewerbe. Bearbeitet von Meers. Homberger Hefte 1 1965. Hsg. v. Zweigverein Homberg an der Efze des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde. Nach diesen Aufstellungen betrug die Kopfzahl in 350 Kleinbürgerfamilien (mit Gesellen und Lehrjungen, aber ohne Knechte und Mägde) 3,9. In 90 Familien mit Kindern, deren Haushaltungsvorstand nicht älter als 40 Jahre war, 4,5. Wenn man das Gesinde anteilmäßig auf diese Familien verteüt und über die sporadischen Hinweise des Hantierungsanschlags hinaus im gleichen Haushalt
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für spätere Überlegungen im Auge zu behalten, als die Kinder nidit nur in größerem Umfang als heute zusammen mit Fremden aufwuchsen, sondern bei einer Haushaltsgröße von 5, auf jeden Fall aber bei 6 und 7 Personen, die ja während dieses Zeitraums, wenn man die kinderlosen Familien bezw. die mit wenigen Kindern abzieht, in zahlreichen Fällen erreicht wurde, ein kritischer Punkt überschritten wird, an dem nach Bossards „law of family interaction" die zwischenmenschlichen Beziehungsmöglichkeiten derart zunehmen, daß ihnen nicht mehr, wie in der modernen Kernfamilie, emotional ausreichend entsprochen werden kann37. Diesen quantitativen Befunden dürfte hinsiditlich des Familien-Leitbildes des „ganzen Hauses" eine nicht geringe Bedeutung zukommen.
wohnende Großeltern ansetzt, dürften die Ergebnisse mit denen von Durladi übereinkommen. Vergl. auch Mauersberg, S. 62. 3 7 Mögliche Zweier-Beziehungen in Gruppen von 2—7 Mitgliedern: 1, 3, 6, 10, 15, 21; mögliche Beziehungen überhaupt: 1, 6, 25, 90, 301, 966, Kephart, W. M., „A Quantitative Analysis of Intragroup Relationships". Am. Journ. of Sociology. LV 1949/ 50, S. 544—549; Bossard, J. H. S., The Sociology of Child Development. New York 1948, S. 146; vergl. auch Ciaessens, D., Familie und Wertsystem. Berlin 1962, S. 49 f.
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II. Zum Sozialisierungsprozeß des Kleinbürgers Der Prozeß der Modellierung, der das aufwachsende Individuum in seine Gruppe und deren kulturellen und sozialen Rahmen einfügt, ist eines der zentralen Themen für jede Wissenschaft, die sich mit menschlichem Verhalten befaßt. Es ist deshalb um so bedauerlicher, daß die zuständigen Spezialwissenschaften nur wenige Aussagen machen können, die allgemeinere Anerkennung gefunden haben 1 , und jede Beschäftigung mit diesen Fragen muß auch heute noch mit Hofstätters Eingeständnis beginnen, daß wir einstweilen „nur sehr vereinzelte" Daten des Sozialisierungsprozesses kennen 2 . Die interdisziplinäre Problematik von „socialization and interaction process" hat Parsons in Zusammenhang mit Bales und Olds eingehend behandelt 3 . In freier Anlehnung an Freud unterscheidet er vier Entwicklungsstufen. Wenn man diese im Hinblick auf die fünf „Verhaltenssysteme", mit denen Whiting und Child arbeiten — nämlich das orale, anale, sexuelle, Aggression und Abhängigkeit — befragen wollte, ergäbe sich ein umfangreicher Fragebogen, der hier aber allenfalls den Umfang der gestellten Aufgabe verdeutlichen kann; denn das Material des Untersuchungszeitraums erlaubt nur in den wenigsten Fällen eine Antwort, so daß sich im folgenden die Diskussion notgedrungen im Allgemeinen halten muß 4 . Während der ersten, durch „orale Abhängigkeit" des Kindes charakterisierten Entwicklungsstufe stiftete das im kleinbürgerlichen Bereich übliche Stillen der Mutter zwischen beiden einen engen körperlichen Kontakt. 1 Bekanntlich stand dieses Thema von Anfang an im Mittelpunkt der psychoanalytischen Diskussion und hat, nachdem Malinowski vorangegangen war, zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit von Kulturanthropologie und Tiefenpsychologie geführt. Vergl. etwa Kardiner, A., The Individual and his Society. New York 1939; The Psydiological Frontiers of Society. New York 1945; Erikson, E . H., Kindheit und Gesellschaft. Zürich-Stuttgart 1957; Linton, R., The Cultural Badtground of Personality. 3. A. London 1952. Linton charakterisiert diese Richtung, wenn er feststellt: „The .normal' members of different societies owe their varying personality configuration much less to their genes than to their nurseries", S. 93. 2 Hofstätter, P. R„ Sozialpsychologie. 2. A. Berlin 1964, S. 155. Die vergleichende Untersuchung von Whiting, J. W . M.-Child, I. L., Child Training and Personality. 2. A. New Häven 1958, hat einige statistisch abgesicherte Feststellungen beigesteuert, die freilich die wesentlicheren Fragen aussparen. Vergl. auch den neueren Ansatz von Toman, W., Familienkonstellationen. Ihr Einfluß auf den Menschen und seine Handlungen. München 1965. 3 Parsons, Family; hierzu jetzt auch Ciaessens. 4 Deshalb mußte auch darauf verzichtet werden, auf die differenzierteren Entwidclungsschemata der verschiedenen kinderpsychologischen Richtungen einzugehen; vergl. etwa Remplein, H., Die seelische Entwicklung des Menschen im Kindes- und Jugendalter. 14. A. München 1966.
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Zwar beklagt 1724 der Verfasser der Madame Robunse, daß „Huren-Milch im Überfluß" vorhanden und „fast jede Handwercks-Frau viel zu zarte (sei), und ihre Milch-Fläschgen viel zu delicat (halte), als daß sie so zeitlich solten abgezerret und ausgesogen werden"5, doch dürfte das allenfalls auf jene „sozialen Pendler" zutreffen, die unter dem Einfluß vermögender und vornehmer Schichten standen, deren Ammenhalten das ganze Jahrhundert hindurch von Ärzten, Theologen und reformerischen Pädagogen heftig kritisiert wurde6. Jener enge Mutter-Kind-Kontakt blieb auch ziemlich lange bestehen: „Bey uns ist es fast allgemein, die Kinder zu entwöhnen, sobald sie ein Jahr alt sind", schreibt Zückert und gibt als „Regel" an, „daß man die Kinder vor dem zwölften oder achten Monat, ohne die dringendste Nothwendigkeit nicht entwöhnen" solle7. Germershausen hat diesen Passus in seine Hausmutter übernommen, und auch seine Angabe, „ein schwächliches Kind (könne) machen, daß es bis in den fünfzehnten, höchst selten bis zum vier und zwanzigsten Monat gesäuget" werden müsse8, stimmt ziemlich mit Zückert überein. Nach Rambach stillten aber am Jahrhundertende die Hamburgerinnen der „ärmern" Stände „nach ihrer gewöhnlichen Art sehr lange, zuweilen bis ins dritte Jahr" 8 , und auch Züdcert kannte Frauen, die ihre Kinder drei Jahre — oder, wie sie sagten, „drey Michaelis Tage" — an der Brust ließen10. Daß dabei das Tagwählen nach dem „Volksspruch, die Kinder nicht zu entwöhnen, wenn die Erde und die Bäume weiß sind", den eine Nachricht aus Osterode auch für den städtischen Bereich belegt, dabei keine geringe Rolle spielte, bestätigen alle genannten medizinischen Autoren11. Allgemein verbreitet in Deutschland war das Wickeln der Neugeborenen. In seinem Erziehungskatechismus für Eltern, vorzüglich Bürger und Landleute berichtet Paul: „Das Einwindeln des kleinen Kindes wird gemeiniglich auf folgende Weise gehandhabt. Erstlich wickeln sie ihre beide Ärmchen ein und stecken die Enden der Ärmelwindel unter den Rücken des Kindes, dann wickeln sie das Kind in eine große Windel, und viele umwickeln es auch nodi mit einer großen Windelschnur, während das Kind und vorzüglich dessen Beinchen recht gepreßt werden, oder binden es in Federbettchen mit zwei oder drei Binden fest ein12." Afsprung, der in erster Linie für den Augsburger Kleinbürger schreibt, wendet sich 1782 dagegen, ein neugeborenes Kind „so einzupaken, daß es noch steifer aussieht als eine Puppe" 13 . Miller, Wening oder Madame Robunse, S. 26. Vergl. Stephan, G., Die häusliche Erziehung in Deutschland während des 18. Jahrhunderts. Wiesbaden 1891, S. 19; ferner etwa Börner, N., Kinder-Arzt. Franckfurth und Leipzig 1752, S. 130—134; Rudolphi, S. 15, oder Braun, K., Kleinkinderpädagogik bei J. H. Campe. Langensalza 1921, S. 18. 7 Zückert, Joh. F., Von der diätetischen Erziehung der entwöhnten und erwachsenen Kinder bis in ihr mannbares Alter. 3. A. Berlin 1781, S. 5 f.; Nolde, S. 103: „nach Verlauf eines Jahres". 8 Germershausen, V S. 398 f. 9 Rambach, S. 266. 10 Zückert, S. 4. — Vergl. Crusius, S. G., Von den Mitteln Kinder zu gesunden Menschen zu erziehen. Leipzig 1796, S. 100: „bis ins dritte Jahr"; Fischer, Nürnberg, II S. 10: „bis zwei Jahre und mehr"; Gruner teilt als Volksmeinung mit: „Das Stillen der Kinder bis ins dritte Jahr gibt Verstand", Almanach für Aerzte und Nichtaerzte 1782, S. 164. — Das Allgemeine Landrecht für die Preussischen Staaten bestimmte: „Wie lange (die Mütter) den Kindern die Brust reichen sollen, hängt von der Bestimmung des Vaters ab", II Tit. 2 § 68. 1 1 Crusius, S. 105; Journal von und für Deutschland. 1788, II S. 428; Börner, S. 151; Finder, S. 12; Zückert, S. 11, auch gegen Entwöhnung an Geburts- und Namenstag; Die vernünfftigen Tadlerinnen. I 1725, S. 326; Bräuner, zit. S. 246. 1 2 Nach Stephan, Häusliche Erziehung. S. 18. 13 Afsprung, S. 33. 5
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Lossius polemisieren ebenso dagegen 14 wie die Ärzte Börner15, Crusius18 oder Rambadi, der um die Jahrhundertwende das Wickeln unter den „Vorurtheilen" des gemeinen Mannes in Hamburg anführt 17 . Bekanntlich findet sich diese Praxis bei den verschiedensten Völkern mit mannigfachen Motivierungen 18 . Soldie Begründungen kannte natürlich auch das 18. Jahrhundert. So schreibt Hahnemann, nachdem er die oben von Paul beschriebene Wickeltechnik noch dadurch ergänzt hat, daß auch der Kopf mit einem Häubchen festgebunden wurde: „Alles das thut man, damit, wie es heißt, das Kind nicht gebrechlich werde" 19 . Nach Crusius glaubte man, „daß man durch das Wickeln und Schnüren die Gestalt der Kinder verbessern" könne: „Oft hört man auch noch von der Bademutter . . . den Befehl, daß nun ja das Kind hübsch derb gewindelt werden soll, damit es recht gleich werde". Ein anderes Argument lautete, „daß man durch das Windeln eben die Brüche, welche von dem Schreien der Kinder entstehn, verhüten" wolle20, eine Meinung, die auch die besorgten Nachbarinnen in Millers Gottfried Walther vorbrachten 21 , und Campe kritisierte die Ansicht der Eltern, das Wickeln hindere, daß sich die Kinder „verrenkten, lahm, hinkend oder buckelig würden" 22 . Als Arzt urteilte Crusius über diese „Gewohnheit" der Hebammen und besorgten Mütter: „Frau Base hat es gar nie anders gemacht, und die Kindermuhme kann kein ungewickeltes Kind angreifen, und also wird das Kind gewickelt", denn „einen wahren und hinlänglichen Grund weiß Niemand anzugeben" 23 . Das brauchte im Rahmen dieser Untersuchung nicht als Negativum gewertet zu werden, da aus solchen „Theorien" Rückschlüsse auf das zugrundeliegende Sozialisierungsmodell möglich sein dürften. Aber noch in einer ganz anderen Weise mögen solche Praktiken und Begründungen für den Sozialisierungsprozeß wichtig werden. „Um die Dinge auf die Spitze zu treiben", schreibt Hofstätter, „kann man . . . das scheinbare Paradox wagen, daß die Beobachtung der Bandagierung eines jüngeren Geschwisters das Kind nachhaltiger beeinflußt als der Umstand, daß es selbst bis zum neunten Monat . . . dem „swaddling" ausgesetzt war. Zu dieser Beobachtung dürften sich nämlich elterliche Kommentare gesellen, und nunmehr „weiß" das ältere Kind, wie es zu sein hat und wie es unentrinnbar sein muß, weil es ja selbst auch durch diese Prozedur gegangen ist" 24 . Das vorliegende, dürftige Material erlaubt aber keine Stellungnahme zu diesen Überlegungen, noch zu der folgenden, an sich plausiblen, daß „ein Gutteil der Aufzucht-Bräuche in erster Linie auf die Eltern, d. h. auf deren Entlastung von Unsicherheitserlebnissen abzielt"25, wozu etwa der Hinweis von Crusius recht gut passen würde.
14 Miller, Gottfried Waither, S. 321 ff.; (Wening, J. A.), Leben, Reisen und Schicksale Georg Schweigharts eines Schloßers. Salzburg 1791/92, I S. 2; Lossius, Meister Liebreich, II S. 57. 15 „Solch Wickeln und Einbinden (geschieht) immer in einem Lande anders als in einem andern. (In Deutschland) ist an einigen Orten die Gewohnheit, daß man sie etwa 4. oder 6. Wochen wickelt, und ihnen doch darbey die Hände und Armen ünmer frey lasset, an andern aber wickelt man sie ein gantzes Jahr, und auch wohl darüber, sonderlich des Nachts", Börner, S. 114 f., 282. 18 Crusius, S. 140 ff. 17 Rambach, S. 270. 18 Vergl. Hofstätter, Sozialpsychologie, S. 147. 19 Nach Stephan, Häusliche Erziehung, S. 18. 20 Crusius, S. 145, 141,144. 21 Vergl. S. 39. 22 Nach Braun, Campes Kleinkinderpädagogik, S. 13. 23 Crusius, S. 144, 146. Vergl. auch Riesbeck, II S. 309 f.: „Dieser Zwang hat gewiß auch auf die Seele Einfluß". 24 Hofstätter, Sozialpsychologie, S. 149. 25 Hofstätter, Sozialpsychologie, S. 150.
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„Zugeschnürt, als ob man es auf hundert Meilen verschicken wollte"2® und fest zugedeckt, lag das Kind dann in der ebenfalls allgemein verbreiteten Wiege. Die zeitgenössische Beurteilung geht auseinander, kommt aber zumindest darin überein, daß sie sich mit Lossius gegen „allzuheftiges Schaukeln" wendet27, auch Miller lehnte im Gottfried Walther das Wiegen mit der Begründung ab, daß das Kind dadurch ein „Dummkopf" werde28. Seine Kritik der falschen Kleinkinderwartung ist in mehrfacher Hinsicht für die kleinbürgerlichen Verhältnisse aufschlußreich und mag den Mangel an direkten Nachrichten aus diesem Bereich wenigstens teilweise ersetzen: „Gottfried ließ . . . augenblicklich den kleinen Jakob von den Windeln, in die er bisher eingepanzert gewesen war, losmachen, nahm die Läufel von der Wiege weg, und befahl, man soll dem Knaben künftig keinen Mehlbrey mehr kochen, sondern leichte Süppchen. Aber nun hatte er einen harten Strauß auszustehen. Die Kinderwärterinn sagte, sie habe nun schon mehr als fünfzig Kinder gewartet, und es noch nie anders gemacht, als bey seinem Jakob. Das seyen lauter Grillen, was der Doktor da geschwatzt habe. Die Alten seyen doch auch kluge Leute gewesen, und haben sich nie dergleichen Possen einfallen lassen. Der Brey sey die einzige und beste Nahrung für ein Kind; Bey seinen Brodsüppdien werde der kleine Jakob die Auszehrung bekommen. Auch werde Meister Gottfried bald sehen, wie das Kind ohne Windeln mit Händen und Füssen ausschlagen, und sich selbst verletzen und Schaden thun werde. Wenn man es nicht wiege, so könns kein Mensch zum Schweigen bringen, und man müsse ganze Nächte durch seinetwegen auf sitzen und d g l . . . . Nun kamen ein paar Nachbarinnen dazu, und schlugen die Hände über dem Kopf zusammen, da sie hörten, was Gottfried für unerhörte neue Sachen anfangen wolle, und den kleinen Jakob uneingewickelt da liegen, und die Läufel von der Wiege weggenommen sahen. Das sey himmelschreyend, sagten sie, wie man jetzt mit den armen Kindern umgehe; Rosine könn es in Zeit und Ewigkeit, vor Gott und Menschen nicht verantworten, wenn sie das zugebe und ihrem Mann nicht durch den Sinn fahre. Sie sagten ihr tausend Dinge von dem Nutzen des Mehlbreys, der Windeln und des Wiegenschauckelns vor, und zählten tausend Arten von Uebeln an den Fingern her, die dem Kind zustossen würden, wenn mans nach der neuen Art behandle. Sie wollten auch schon halb und halb wahrnehmen, daß das Kind ganz entstellt aussehe, seit es losgewickelt sey; Und weil es eben gerade schrie, und mit den Händen etwas zappelte, so sagten sie, es werde augenblicklich einen Bruch bekommen, wenn man es nicht gleich wieder einbinde29." Unter den „schlaferregenden Mitteln" war die Wiege „das erste in Deutschland, und fast in ganz Europa angenommen" 30 . Wenn aber die Kinder durch „die Wiege und das Singen" noch nicht genügend „betäubt" wurden, standen andere Mittel zur Verfügung. „So wissen die Leute g e m e i n i g l i c h die Würkung von Mohnköpfen und Blättern", schreibt Crusius, „die werden gekochet und dem Kinde gegeben, und diese 26 Abhandlung von der gehörigen physischen Erziehung der Kinder. Augsburg 1784, nach Stephan, Häusliche Erziehung, S. 19. Dagegen wurde in dem Bericht über die „Körperliche Erziehung der Thusnelda Gertrud Lenzinn zu Schnepfenthal" (1792), der Enkelin Salzmanns, aus reformerischer Sicht ausdrücklich betont, daß sie „nie . . . in eine Wiege gekommen, noch weniger jemals gewickelt worden", Stephan, Häusliche Erziehung, S. 57. 27 Lossius, Meister Liebreith, II S. 57. Vergl. etwa Afsprung, S. 42, auch die Auswahl zeitgenössischer Stellungnahmen bei Stephan, Häusliche Erziehung, S. 44. 28 Miller, Gottfried Walther, S. 322. 29 Miller, Gottfried Walther, S. 323 ff. so Crusius, S. 169 f.
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machen denn Schlaf"31. Theriadc und Mithridat seien „meistentheils . . . aus der Mode gekommen", dafür könne man aber „an allen Orten" Pulver bekommen, die aus Opium und Zucker bereitet seien32. Andere sagten den Ammen nach, sie wüßten „die Tugenden der Lilien in den Kinderstuben, des himmlichen Theriadcs, der Requies Nicolai, der Lachen-Knoblauch-Lattwerge, der weißen Mohnsaat und des Opiums" zu schätzen33. Ebenso fehlte es nicht an „äusserlichen Mitteln . . . den Kindern Schlaf und Ruhe dadurch zu wege zubringen", außer dem erwähnten Theriak etwa „gestossener Saffran, in Mutter-Milch zerrühret" zum Einreiben der Schläfe, „Alabaster- und Poppel-Sälbgen, mit ausgepreßtem Muscaten-Oel", Pappelknospen oder Bilsenkrautwurzel für Fußwaschungen und „Kopf-Nässen"31. Da ein Gutteil solcher Pharmazeutica leicht zu beschaffen war, darf man ihre Anwendung auch im kleinbürgerlichen Bereich erwarten, in höherem Maße noch die folgende Praxis: „Es giebt sogar Mütter, die die Würkung des Branntweins auf das Kind wissen, und wenn sie wollen, daß ihr Kind einmal recht lange schlafen soll: so trinken sie anderthalb Stunden zuvor, ehe sie dem Kind die Brust geben, ein Glas Branntwein35." Nach Crusius fuhren „sanftere und verzärtelte" Kinderwärterinnen „ganz sanft auf dem Bauche und Steise des Kindes herum", um es zum Einschlafen zu bringen38 und Salzmann behauptete, daß manche Eltern den Kleinkindern das Masturbieren beibrächten, „um das Weinen zu stillen und den Schlaf herbey zu locken"37. Genauere Aussagen über die Verbreitung solcher Praktiken lassen die Quellen freilich nicht zu. Der größte Teil dieser Wartungstechniken reicht in die nächste Entwicklungsphase des Kindes hinein, die „love-dependency" im Sinne Parsons'. Es beginnt jetzt, sich selbst und die Mutter als soziale Objekte zu unterscheiden, beide bilden ein Handlungssystem, in dem das Kind die emotional getönte mütterliche Fürsorge seinerseits emotional beantwortet. Dieses Erstarken der Autonomie-Komponente bringt es dann auch mit sich, daß nun an das Kind Forderungen eines, in welchem Ausmaß auch immer, verantwortlichen Verhaltens herangetragen werden 38 . Das betrifft auf dieser Stufe vor allem das Reinlichkeitstraining, über das mir jedoch weder hinsichtlich der Techniken noch der mütterlichen Strenge aus dem Kleinbürgertum Nachrichten bekanntgeworden sind. Eine beiden Entwicklungsphasen zugehörige Wartungstechnik, die hier Interesse beanspruchen darf, wird dagegen recht häufig erwähnt, nämlich der 3 1 Crusius, S. 175. Börner berichtet nach den „Breßlauer Sammlungen" von einer „gewissen Frau", der von ihrer Mutter geraten wurde, sie solle „ein Mohn-Haupt in Milch kochen und dem Kinde davon zu trincken geben, um selbigem Ruhe dadurch zu verschaffen und Schlaf zu machen", S. 436. 3 2 Crusius, S. 175. Über solchen „Schlafzucker" Börner, S. 433. 3 3 Der Arzt. Eine medicinische Wochenschrift von D. Johann August Unzer. Verb, und verra. A. Hamburg 1769, IV S. 488. 34 Börner, S.430f. 3 5 Crusius, S. 91. „Bey uns thun solches einige gewissenlose Weiber", bemerkte Zückert; das „arme Volk in Stodcholm und mehrern Orten Schwedens" verwende in Branntwein getunktes Brot, S. 41. 3 6 Crusius, S. 172. Vergl. Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens. Hsg. v. Campe. VIII Wien und Wolfenbüttel 1787, S. 310 f.; Wening, Georg Schweighart, I S. 5. 37 Salzmann, C. G., Uber die heimlichen Sünden der Jugend. 4. A. Leipzig 1819 (zuerst 1785), S. 63,117. Vergl. Almanach für Aerzte und Nichtaerzte 1785, S. 241. 38 Vergl. Parsons, Family, S. 68 ff.
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Gebrauch des Lutschbeutels, oder wie immer er je nach Landschaft genannt wurde 39 . Nach dem Frauenzimmer-Lexikon des Amaranthes wurde der Zulp am Anfang des Jahrhunderts „an denjenigen Orten gebraucht, wo es nicht Mode ist, die kleinen Kinder zu säugen und zu stillen; dergleichen man in Augspurg und andern Orten ersiehet"40. In den 80er Jahren bestätigt Afsprung für Ulm, daß er „noch so im Ansehen" stand. Wenn er aber seinen Mitbürgern vorhielt, daß er die Schlozer oder Noller auf seinen Wanderungen „fast nirgends gesehen" habe41, läßt sich diese Behauptung nicht mit anderen zeitgenössischen Nachrichten vereinbaren. Nicht ohne Grund mahnte Germershausen, „der sogenannte Nutschbeutel (solle) in den Händen des Mittelstandes gar nicht gefunden werden"42; ganz allgemein kritisierte Crusius den „Zulp, in hiesiger Gegend das Nutsdiel genannt, welches bald nach der Geburt den Kindern in den Hals gestopft wird, damit sie die Unbequemlichkeiten des Pressens von den Windeln nicht zu sehr durch Schreien anzeigen"43, und am Ausgang des Jahrhunderts polemisieren Autoren, die für den gemeinen Mann schreiben, gegen die „üble Gewohnheit, die kleinen Kinder . . . mit einem solchen Dinge schweigen zu machen"44. Bronner berichtet, daß er „den häßlichen Saugzapfen . . . im dritten Jahr kaum ablegen" wollte, und allen Entwöhnungsversudien der Mutter zum Trotz weiß er sich immer wieder neue zu verschaffen. „Wenn du in deinem Leben so lange Kind bleibst, als du den Zapfen trägst", warnte sein Vater, „so wirst du früher alt als klug", was den Sohn zu dem Geständnis veranlaßt, tatsächlich folge er als Erwachsener „blindlings (seinem) Herzen und Kopfe, nicht viel besser als ein Kind" 45 . Wenn die väterliche Reaktion auch zeigt, daß es sich hier, was die Dauer betrifft, um einen Ausnahmefall handelt, wird man sich doch andererseits an die langen Stillzeiten zu erinnern haben46. Welche speziellen Auswirkungen solcher „oralen" Momente bei der Persönlichkeitsformierung zu erwarten sind, müßte der Psychologe entscheiden. Child spricht von „important effects", um freilich hinzuzufügen, daß der Stand der Forschung noch keine endgültigen Aussagen hinsichtlich der Dauerauswirkungen erlaube47. Wenn man aber einmal die Tatsache als solche mit den früher erörterten Erscheinungen — der relativ langen Stillzeit mit ihrem engen MutterKind-Kontakt, den verschiedenen pharmazeutischen und taktilen Beruhigungsmitteln — zusammennimmt, deutet das alles darauf hin, daß die frühe Kindheit des Kleinbürgers durch jene „Beschwichtigungs"-Strategie vor allzuviel Frustration bewahrt blieb. Das Wickeln muß kein Einwand sein. „Wir wissen z. B. gar nicht", bemerkt Hofstätter, „ob sechsmonatige Kinder die Bandagierung wirklich als unangenehm empfinden. Es ist eher anzunehmen, daß es dazu 39 Amaranthes, Nutzbares, galantes und curiöses Frauenzimmer-Lexikon. Leipzig 1715, Art. „Zolp, Zulp, Zulper"; Dietz, S. 100: Zuckerbüschel; Wening, Georg Schweighart, I S. 3: Schnuller; Lossius, Meister Liebreich, II S. 209: Lappensuckel. 40 Amaranthes, Art „Zolp, Zulp, Zulper". 41 Afsprung, S. 41. 42 Germershausen, Hausmutter, V S. 318. 43 Crusius, S. 73 f. 44 Becker, R. Z., Das Noth- und Hülfs-Büchlein. Neue verb. A. Gotha 1825, S. 226; Anmuthiger und nützlicher Zeitvertreib, S. 379; Wening, Georg Schweighart, I S. 3; Lossius, Meister Liebreich, II S. 209. Vergl. auch noch Bock, F., Zur Volkskunde der Reichsstadt Nürnberg. Würzburg 1959, S. 39; Weyden, E., Köln am Rhein vor fünfzig Jahren. Köln 1862. S. 58. 45 Bronner, I S. 21 f. 46 Vergl. S. 37. 47 Child, I. L., „Socialization". Handbook of Social Psychology. Hsg. v. Lindzey. Cambridge, Mass. 1954, II S. 655—692, 665 f.
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eines Alters von mehr als 12 Monaten bedürfte; dann aber ist das „swaddling" längst vorüber. Nicht vor dem Ende des zweiten Lebensjahres kann das Erlebnis der Ohnmacht in der eigenen Auflehnung für möglich gehalten werden" 4 8 . Ich möchte demnach an jenem Satz festhalten, wenn ich auch betonen muß, daß das meiste affirmative Material dem oralen Verhaltenssystem entstammt. Die Nachrichten für das sexuelle sind so spärlich und allgemein gehalten, daß sich keine Verbindung zu der noch zu besprechenden Sexualbetätigung des Jugendalters rechtfertigen läßt; hinsichtlich der übrigen liegen mir keine jener Deutung widersprechenden Angaben vor. E s wäre nun wichtig zu wissen, wieweit diese Entwicklungsphase durch die Entwöhnung beeinflußt wurde. Auch hier fehlt es an direkten Nachrichten, und die Stellungnahmen der Mediziner differieren. Nach Crusius fordert die „Gesundheit des Kindes und der Mutter . . . , daß das Entwöhnen ganz langsam und unvermerket geschehe"49; Börner plädierte deshalb dafür, „daß Kinder zugleich in Zeiten an andere Nahrung gewöhnet würden, damit sie nicht gantz alleine ihren Unterhalt in der Mutter-Milch suchen dürften, weil eben dieses sodann beym Entwöhnen zu vielen Sdiwürigkeiten Anlaß giebet" 50 . Wir erfahren aus den Klagen der Reformschriftsteller, daß die Übung, den Kindern vorgekaute Speisen zu geben, verbreitet war51, weiter, daß sie mit Mehlbrei überfüttert wurden52, ohne daß der Zusammenhang solcher Nachrichten mit der angeschnittenen Frage deutlich würde. Entgegen der Meinung von Börner und Crusius spricht sich Zückert für eine weniger angenehme Methode aus: „Wenn... eine Mutter aus großer Liebe für ihr Kind . . . die Pflege desselben selbst will übernehmen, so suchet sie ihm die Milch zu verekeln, durch allerley übelschmeckende Sachen, welche sie auf die Warzen der Brüste thut, als Wermuthsaft, Galle, Knoblauch, alter Käse, und dergleichen, wodurch ein Absdieu wider die Milch erwecket wird. Solche Mütter . . . müssen alles Erbarmen bey Seite setzen, und sich nicht durch ihr Wehklagen bewegen lassen, sie an die Brust zu legen 53 ." Diese Sätze zielen auf nicht kleinbürgerliche Verhältnisse, aber auch Rambach tadelt am „gemeinen Mann" in Hamburg, daß er „den Übergang von der Mutter-Milch zu den festen Speisen zu schnell" mache54, wobei man nach Richey den Kindern „die Brust durch ein wenig angestrichenen Senff zuwiedem (machte)"55. Freilich erlauben diese Hinweise keine weiterreichenden Folgerungen, wie sie etwa hinsichtlich des Zusammenhangs von Entwöhnungsstrenge und späterer Sozialisierungsangst diskutiert werden56. Bis zu diesem Zeitpunkt ist der Vater als solcher noch nicht bestimmend ins Gesichtsfeld des Kindes getreten 57 . Das ändert sich jedoch in der Ödipus-Phase: Hofstätter, Sozialpsychologie, S. 148. Crusius, S. 100 ff.; Börner, S. 153, rät ebenso „solch Entwöhnen nicht mit einem male oder auf den Plötz, sondern nur allgemach vorzunehmen". 5 0 Börner, S. 152. 6 1 Crusius, S. 74, 76; Miller, Gottfried Walther, S. 315; Anmuthiger und nützlicher Zeitvertreib, S. 378; Finder, S. 11. 6 2 Vergl. noch Lossius, Meister Liebreich, II S. 57. 5 3 Züdcert, S. 13. 54 Rambach, S. 170. 5 5 Richey, M., Idioticon Hamburgense. Jetzt vielfach vermehret. Hamburg 1754, S. 253, daher die Redensart „Eenem Semp up den Titt smeren: einem etwas verleiden". — Vergl. noch Gruner: „Einem entwöhnten Kinde muß man, wenn es aus der Kirche zurück gebracht wird, ein warmes Ei in die Hand geben. Je eher dasselbe weggeworfen wird, desto eher ist die Mutterbrust vergessen", Almanach für Aerzte und Nichtaerzte 1783, S. 58. 6 6 Vergl. Whiting-Child, S. 281—284; Child, 1. c., S. 664. 57 Parsons, Family, S. 82 f. 48
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Während bisher die Mutter die Macht verkörperte, differenziert sich das Familiensystem jetzt in vier Rollen, wobei der Vater in die Führungsposition aufrückt. Von ihm gehen, zumindest symbolisch, von nun an die Verhaltensfordeningen aus, er erzwingt, als letzte Instanz, audi die Befolgung der von der Mutter ausgehenden. Das ist auch der Zeitpunkt, wo das Geschlecht des Kindes im Sozialisierungsprozeß Bedeutung erlangt, insofern nun die Forderungen damit begründet werden, sich, wie ein Junge resp. wie ein Mädchen zu verhalten58, wobei sich diese Rollen wieder an denen des Vaters resp. der Mutter orientieren. Bekanntlich war diese Umorganisation ein bevorzugtes Interessengebiet der tiefenpsychologischen Forschung. Sie ist für den Knaben schwieriger, da er sich in doppelter Weise emanzipieren muß, einmal, indem er, wie seine Schwester, zwischen der Erwachsenen- und der Kind-Rolle zu unterscheiden hat, im Unterschied zu ihr aber „a new identification with an unfamiliar and in a very important sense threathening object, the father, at the expense of his previous solidarity with his mother" herstellen und sich von seiner früheren Abhängigkeit in einem radikaleren Sinne freimachen muß59. Die neue Identifikation ist natürlich in weitem Maße von der inhaltlichen Erfüllung der Vater-Rolle abhängig; denn es leuchtet ein, daß sie um so schwieriger sein wird, je mehr das neue vom alten Leitbild differiert.
Hier scheint nun in der Tat ein kritischer Punkt des kleinbürgerlichen Sozialisierungsprozesses berührt zu werden. In einem früheren Abschnitt habe ich die kulturelle Ausformung jener Vater-Rolle, den Hausvater, skizziert. Seine beherrschende Stellung innerhalb der Familie bestimmt das Verhältnis zwischen Vater und Kindern derart, daß die Unterschiede der „ödipus"- und „Elektra"Problematik im Rahmen dieser Untersuchung vernachlässigt werden können. Der Beschwichtigungsstrategie, die — wenn ich recht gesehen habe — die frühe Kindheit charakterisiert, tritt nun eine häusliche Pädagogik gegenüber, die darauf abzielt, den „Eigenwillen" des Kindes zu „brechen" — oft auf eine so handgreifliche Weise, daß sie zeitgenössische Kritik hervorrief. Ich habe früher bereits eine Romanpassage zitiert, die zeigte, wie weit man in der Schilderung eines tyrannischen Vaters gehen konnte. Die bestätigenden Nachrichten aus den Kreisen der Reformer darf man, wie sich noch zeigen wird, nicht nur eben diesem Reformstreben zurechnen. Der Volksschulrektor Lorenz klagt 1787: „Gott! mit welcher Furie laufen so manche Aeltem auf ihre schwachen Kinder loß, stoßen sie unbarmherzig aus einem Winkel in den andern, ziehen sie bei den Haaren in die Höhe, schlagen sie mit Prügeln braun und blau, treten und stoßen sie mit Füßen, schlagen in den Kopf, stauchen sie!" 60 , und Salzmann läßt Constant, den Sohn eines Leinewebers berichten, daß sein Vater „von der Kinderzucht . . . sehr wenig verstund, wie es bey Leuten von niedrigem Stande sehr oft der Fall zu seyn pflegt": Er nahm „die Elle von der Wand und prügelte uns durch"61. Die Biographien bestätigen diese Klagen durchaus. Bronner berichtet etwa, sein Vater habe ihm so derbe Ohrfeigen versetzt, daß er zeitweise das Gehör verlor, eine Behandlungsweise, die es verständlich macht, daß der Parsons, Family, S. 80. Parsons, Family, S. 98. 8 0 Lorenz, J. G., Verbesserte häusliche Bürgererziehung, als Beitrag zur Bildung des gemeinen Mannes. Berlin 1787, S. 22. 6 1 Salzmann, Constant, I S. 2. 58
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Seminarist später vor seinen Wutausbrüchen bei Verwandten Zuflucht suchte und das Versteck erst verließ, als die öffentliche Meinung und eine Intervention des Bürgermeisters den Vater zum Nachgeben zwangen. Aber auch seine Mutter prügelte ihn einmal bis die Rute zerbrach, und daß es sich dabei in ihren Augen um etwas Normales handelte, zeigt die spätere Aufforderung an einen Lehrer des Seminars, er möge „Vaterstelle" bei ihrem Sohn vertreten, und ihn, wenn er „ein böser Bube wäre, wadcer peitschen lassen"62. Sachse bemerkt, daß sein Vater „unmenschlich" prügelte63; ich erwähnte bereits, daß Basedow vor der harten Zucht seines Vaters davonlief; auch Händler spricht von „gewaltigen Exekutionen": Sein Vater prügelte ihn einmal mit Fischbeinstangen, bis er müde war — und ließ dann den Gesellen fortfahren64. Kerners Präzeptor in Knittlingen gebärdete sich gegen seine drei Söhne „so strenge und tirannisch, daß er sie bei den kleinsten Vergehen barbarisch schlug, ja sie oft noch dabei auf den Boden warf und mit den Füssen auf ihnen herumtrappte"65, und Köpke schreibt, daß Tiedc sehr überrascht war, als ihm nach einer doch auch recht harten Erziehung sein Vater gestand, er sei sein Liebling gewesen66. Klödens Großvater, der Kompaniechirurg Willmanns, haßte zwar den Soldatenstand, dagegen blieb „die militärische Zucht sein Ideal der Erziehung und nichts ging ihm darüber. Natürlich machte er sie in seinem Hause in höchster Strenge geltend, und alle seine Kinder wurden bei der geringsten Kleinigkeit unbarmherzig gezüchtigt, wobei er mit mannigfachen Strafinstrumenten abwechselte und den Grundsatz aussprach: Kinder könnten nie genug Schläge bekommen. Dies war in jener Zeit nichts Ungewöhnliches", kommentiert Klöden und berichtet weiter, daß er nur durch Fürbitte seiner Mutter einer „exemplarischen Züchtigung" durch den Großvater, der ihn als „eigensinnigen Schlingel" ansah, „dessen Starrsinn gebrochen werden müsse", entging. In seiner Umgebung wurde er als Kind ebenfalls oft Zeuge von Prügelszenen: „Wo es Kinder und Soldaten gab, da gab es damals auch Prügel, und meistens ganz barbarische"67. Diesen Befund bestätigt Jenisch in seiner Zeitdiagnose, wenn er feststellt: „Wie wenige unter unsern vierzig- und fünfzigjährigen der Mittel- oder auch der niedern Classe wurden ohne Schläge im Hause und in der Schule gezogen!" In Anbetracht jener Beispiele vom Jahrhundertende gehört aber eine gehörige Portion Optimismus dazu, wenn er fortfährt: „Wer unter uns haßt und verachtet nicht den häuslichen, wie den scholastischen Orbiiismus681" Die Variationsbreite der Nachrichten zeigt jedoch, auch wenn es nicht von Jenisch bestätigt würde, daß es sich in den zitierten Beispielen um keine pathologischen Einzelfälle handelt. Im Gegenteil darf man bei der überwiegenden Zahl der Eltern unterstellen, daß sie mit jener Erziehungsmethode das Beste für ihre Kinder bezwecken wollten69, wobei die Motivierung eines solchen Verhaltens in zwei Richtungen zu suchen sein wird. Bronner, I S. 38, 195 f., 29, 114, vergl. 137. Sachse, S. 12, vergl. 51. 6 4 Händler, I S. 6, 11. 6 5 Kemer, S. 196. 6 6 Köpke, S. 20. 6 7 Klöden, S. 14, 31, 43, 44. 6 8 Jenisch, I S. 335. Vergl. auch noch Jung-Stilling, dessen Vater, ein Dorfschneider, „sehr scharf" war: „Die mindeste Uebertretung seiner Befehle bestrafte er aufs schärfeste mit der Ruthe"; Henrich Stillings Jugend. Berlin und Leipzig 1777, S. 101. Man sollte dazu frische Ruten und keine „aus einem schon gebrauchten Besen" benutzen, die Kinder „verdorrten" sonst, Graner, S. 67 (Nr. 69). 6 9 Illustrativ ist der freilich nicht in den kleinbürgerlichen Bereich gehörende Fall der Witwe Weitzel aus dem Rheingau, die ihre Kinder „streng bis zur Härte behandelte" — denn „die Buben . . . müssen Schläge haben, wenn etwas aus ihnen werden soll" — und hungerte, um sie durchzubringen, Weitzel, J., Das Merkwürdigste aus meinem Leben. I Leipzig 1821, S. 12, 25. 62
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Für den Beginn des Jahrhunderts möchte ich Abraham a S. Clara zitieren, der die Eltern mahnt: „Wenn man . . . die Ruthe spart, so kommt Schand' und Schad' über die Kinder"70. Daß es sich dabei in den Augen der Zeitgenossen um eine christliche Pädagogik handelte, illustriert die Antwort, die der Verfasser des Meister Klas dem Titelhelden auf die Frage „Ist er Vater?" in den Mund legt: „Ja! das denk i c h , . . . darum straf ich meine Kinder. Ich will ihnen lieber um ihre Boßheiten den Hals brechen, als daß ich ihn zur Strafe für meine Nachsicht, wie Eli, brechen will"71, das zeigt auch Campes Bemerkung, daß „Eltern die kleinsten Kinder auf das entsetzlichste mißhandelten und sich noch wohl obendrein mit Sirachs Worten: wer sein Kind lieb hat u.s.w. ein unverschämtes Kompliment machten"72, und in den Sprüchen Salomos konnte dieses bibelfeste Jahrhundert noch weitere Bestätigungen jener Maxime finden. Wenn andererseits bei der Bedeutung, welche die Haustafeln für das christliche Familienleben besaßen, die Mahnung, Kinder nicht zu „erbittern", „auf daß sie nicht scheu werden", allzuoft ungehört blieb, deutet das schon darauf hin, daß es sich bei dieser Art der Rechtfertigung wohl zum guten Teil um die ideologische Legitimierung eines anders motivierten Verhaltens handelte73. Diesem Rechtfertigungsversuch muß ein zweiter an die Seite gestellt werden, den Lorenz unter den „Ursachen der schlechten häuslichen Erziehung" anführt, die Entschuldigung nämlich: „Wir sind auch nicht anders erzogen worden"74. Diese Rüdewendung orientiert sich inhaltlich am „altdeutschen" Verhalten, über das ich später noch im einzelnen zu sprechen haben werde75. Hier möchte ich es nur an Tiecks Vater, jenem „Mann vom alten Schlage, von ganzem Schrot und Korn", illustrieren, der entsprechend im Umgang mit den Kindern „kurz, streng und abweisend" war76. Es ist ohne weiteres einsichtig, daß sich solche Geradheit gar zu leicht in Grobheit transformieren konnte, und wie man jeder Art von „Unzucht" die altdeutsche Zucht entgegensetzte, so verwandelt sich unter der Hand diese pädagogische Einstellung in eine habituelle Strenge, ja Härte, Griesgrämigkeit und einen eifersüchtig aufrechterhaltenen Distanzanspruch. Im letzten kamen also beide Leitbilder darin überein, auch in der Familie das Maß von Subordination durchzusetzen, das dem Hausvater täglich von der Obrigkeit auferlegt wurde77. Die Klage über schlechte häusliche Erziehung ist ein immer wiederkehrender Topos der zeitgenössischen Kritik. Audi wenn man hiervon ein Gutteil Selbstlegitimierung des Schulmeisters und Verdammung des Alten von den neuen theoretischen Positionen aus abzieht, spricht doch noch genug für ihre Berechtigung. Abraham a St. Clara, Judas, I S. 273, vergl. 279. Meister Klas, I S. 135. Vergl. auch Langenohl, H., Die Anfänge der deutschen Volksbildungsbewegung im Spiegel der moralischen Wochenschriften. Düsseldorf 1964, S. 91. 73 Nach Stephan, Häusliche Erziehung, S. 134. 73 Vergl. jedoch A. H. Franckes pietistische Pädagogik, nach welcher „der Mensch . . . von der Wiege an immer w i l l e n l o s gehalten werden (müsse), um sich nachher in alle Schicksale seines Lebens finden zu können". Hierher gehört Jung-Stillings Mitteilung: „Bloß aus dem mystischen Grundsatz der Abtötung des Fleisches wurde ich fast täglich mit der Rute gehauen . . . Ja, ich weiß ganz gewiß, daß mich mein Vater manchmal bloß deswegen gezüchtigt hat, um seine Liebe zu mir zu kreuzigen und zu verbergen", Günther, H. R. G., Jung-Stilling. Ein Beitrag zur Psychologie des Pietismus. 2. A. München 1948, S. 15. 74 Lorenz, Bürgererziehung, S. X. 75 Vergl. Kap. V, 5. 70 Köpke, S. 19. 77 Zu „social class and severity of socialization" jetzt die neueren Erhebungen von D. G. McKinley, Social Class and Family Life. Glencoe, III. 1964, S. 80 ff., 146, 243. 70
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Neben dem Prügeln war die Drohung mit Schreckgestalten sehr verbreitet. So mißbilligte Börner „die albeme Gewohnheit den Kindern vom Mummel und Popantz vorzuschwatzen, um sie dadurch zum Gehorsam zu bringen"78. Campe wandte sich entschieden gegen solche Schreckgestalten79, ebenso polemisierten Basedow, Lorenz Rudolphi oder Wening gegen den „schwarzen Mann" und die Furcht vor dem Schornsteinfeger80. Einigen Nachbarinnen, die den Scheibenziehersohn Erhard „durch den Mann draußen und den großen Hund besänftigen wollten", wurde dagegen vom Vater „gleich die Thüre gewiesen"81, und im Anmuthigen und nützlichen Zeitvertreib für den Bürger- und Bauernstand litt der vorbildliche Friedbert durchaus nicht, daß man seinen Kindern „mit einem schwarzen Mann, mit dem Juden oder sonst mit etwas drohte, weil dadurch der erste Saame zur Furcht in ihre Seele geworfen würde" 82 . Von der behaupteten psychischen Wirkung einmal ganz abgesehen, wurde doch auch hier wieder die kindliche Vorstellungswelt zumindest mit Gestalten besetzt, die eine fraglose Subordination forderten. Die früheren Beispiele zeigten auch sdion, daß der beabsichtigten Kinderzucht nicht immer die nötige Selbstzucht der Eltern korrespondierte. „Man tadelt, droht und straft eilfertig und in der Hitze des Affects", bemerkt Geliert bei der Behandlung der „allgemeinen Erziehungsfehler"83. Die Moralischen Wochenschriften beschäftigen sich ebenfalls mit diesem Thema. „Es ist unsinnig und grausam, alle Augenblicke über das Geringste mit den Kindern zu zürnen, sie zu schelten, zu verfluchen und unmäßig zu schlagen. Der Esel, der zu viel Schläge bekommt, weicht zuletzt nicht mehr von der Stelle", heißt es in dem Zellischen vernünftigen Tadler84 und Der Greis verurteilt „Eltern (und Lehrer), die den Fehler eines Kindes strafen, wenn sie nicht aufgeräumt, nicht bei guter Laune sind, wenn ein Verdruß sie eingenommen, und zu einer andern Zeit, bei einem aufgeräumteren Gemüt, ebendenselben Fehler eines Kindes nicht strafen. Oder sie strafen im Affekt, mit zornig glühendem Gesichte, mit funkelnden Augen und zitternden Gliedern, oder sie kennen gemeiniglich nur eine Art von Strafen, die Schläge, oder sie strafen einen geringen Fehler wie einen großen"85. Es leuchtet ein, wie desorientierend ein solch un-verständliches Verhalten auf die Kinder wirken mußte. Auch was wir sonst gelegentlich über die Erziehungspraxis erfahren, liegt auf der gleichen Linie. So berichtet Bronner, daß er einmal fälschlich beschuldigt wurde und die Mutter ihm einen Kreuzer versprach, um ihn zu einem Geständnis zu bewegen. „Sie wollte ja durchaus eine Lüge von mir. Dabey gewann ich Geld und blieb ohne Strafe . . . Also log ich aus Interesse zum erstenmal." Aber „statt des Kreuzers gab sie mir nur einen tüchtigen Schilling (die Ruthe)". Und etwas später: „Der Vater hatte mir eine irdene Sparbüchse geschenkt . . . Ich sollte mir, wenn die Summe erst hinreichend wäre, etwas Schönes darum kaufen dürfen. Aber als ich einst das ersparte Geld wirklich verlangte, hatte man die Sparbüchse geleert, und ich erhielt noch dazu einen Verweis, daß ich allzuhitzig mein Eigenthum forderte88." Auch die „scharfe" Erziehung eines Wilhelm Jung führte nur dazu, daß sein Sohn „aus Furcht für den Züchtigungen . . . seine Fehler zu verhelen und zu verdecken (suchte), so daß er sich nach und Börner, S. 177. Vergl. Braun, Campes Kleinkinderpädagogik, S. 69, 82. 80 (Basedow, J. B.), Das Elementarwerk. Dessau 1774, Tab. XXV; Lorenz, Bürgererziehung, S. 92; Rudolphi, S. 114. Wening, Georg Schweighart, I S. 7. 81 Erhard, J. B., Denkwürdigkeiten des Philosophen und Arztes . Stuttgart und Tübingen 1830, S. 4. 82 Anmuthiger und nützlicher Zeitvertreib, S. 380. 83 Geliert, Chr. F., Moralische Vorlesungen. Hsg. v. Schlegel und Heyer. Leipzig 1770, S. 492. 8 1 Nach Stephan, Häusliche Erziehung, S. 134. 85 Nach Stephan, Häusliche Erziehung, S. 9. w Bronner, I S. 29, 37. 78
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nach zum Lügen verleiten ließ", und wenn der Vater seine Strenge verdoppelte, so „richtete (er) dadurch weiter nichts aus, als daß Henrich alle erdenkliche Kunstgriffe anwendete, seine Lügen wahrscheinlicher zu machen"87. Solche Beispiele sprechen freilich, ebenso wie die früher mitgeteilten eines erzwungenen Frommseins, für Salzmanns Vorwurf gegen die Erziehung in den niederen Ständen, aber man darf darüber nicht vergessen, daß auch in den „gesitteten" eine beträchtliche Lücke zwischen Theorie und Praxis klaffte — wofür ich allein auf Basedows private Erziehungspraxis zu verweisen brauche88 — und sich beide hierin doch nur gradweise unterscheiden. Hier wäre nun zu fragen, wieweit diese Verhaltensweisen den Erwartungen entsprechen, die sich aus dem Sozialisierungsmodell folgern lassen. Danach ist zu vermuten, daß das engere Kind-Mutter-Verhältnis der früheren Phasen auch in der dritten bestehen blieb und die hausväterliche Strenge Mutter und Kind gegenüber diese Bindung nodi festigte. Man könnte hierfür auf Moralische Wochenschriften hinweisen, die „Affenliebe" und „allzugroße Gelindigkeit" der Mütter geißeln oder auf Campe, der „Schande über die schwachen Mütter!" ruft89. Die Klagen dürften sich allerdings in erster Linie gegen die Mütter der Leserschicht — des gehobenen Bürgertums — richten, weniger gegen die des Kleinbürgertums, in dessen Biographien mir keine Beispiele einer ausgesprochenen Affenliebe begegnet sind, doch dieses Bedenken träfe allenfalls den Grad jener Übertreibungen, die im ersten Fall freilich von der ehelichen Situation begünstigt werden konnten; denn in beiden Schichten wurden zwar die gleichen hausherrlichen Ansprüche geltend gemacht, aber die Frau der höheren Stände war insofern in einer schwierigeren Lage, als sie ein ungleich größerer Bildungsunterschied von ihrem Mann trennte als die Kleinbürgerin, und sofern die häusliche Konstellation im „gesitteten Bürgertum" nicht durch Liebe überformt wurde, lag es für eine Mutter nahe, ihre Zärtlichkeit auf die Kinder zu übertragen, vielleicht in einem höheren Maße als pädagogisch vertretbar war. Schwerer wiegt der Einwand, daß in den früheren Beispielen mehrmals Mütter als Prügelnde auftraten. Das mochte daraus resultieren, daß in den „niederen Ständen" die „Hauptsorge für die Erziehung auf der Mutter" lag90, die sich dabei natürlich ebenfalls jenes „damals allgemein beliebten Universalmittels, (der) Schläge" (Klöden), bediente. Wenn man Extremfälle ausklammert, dürften jedoch die Prügel der Mutter im allgemeinen immer noch von denen der Väter übertroffen worden sein, so daß auch in solchen Fällen, der früheren Annahme entsprechend, die Mutter liebevoller erschien. Eine interessante Notiz entnehme ich wieder Bronners Biographie. Er war in Gegenwart eines Kapuziners ungerechtfertigt bestraft worden und bemerkt dazu: „Ich vermuthe, meine Mutter wollte hier nur ein Beyspiel ihrer strengen Kinderzucht geben; denn sie behandelte midi sonst sehr liebreich und nachsichtig91." Diese Feststellung ist um so bedeutsamer, als früher gerade von Bronners Mutter Beispiele einer harten und unpädagogischen Erziehung mitgeteilt wurden. Moritz war bei den häufigen elterlichen Streitigkeiten in der Zwangslage, dem Vater, „den er bloß fürchtete", eher Recht geben zu müssen als der Mutter, „die er liebte". Wie bei Bronner ist auch hier anzumerken, daß Anton Reiser berichtet, seine Mutter habe ihn einmal wegen einer vermeintlichen Trotzhandlung „hart" gezüchtigt92. Harnisch, der ausdrücklich betont, daß er von seinem Vater nicht „ungebührlich" gezüchtigt worden sei, schreibt: „Meine Stellung zu meinem Vater und zu meiner Mutter
Jung-Stilling, Jugend, S. 102. Vergl. Stephan, Häusliche Erziehung, S. 130. 89 Zit. nach Stephan, Häusliche Erziehung, S. 135. 90 Rudolphi, S. 47. 9 1 Bronner, I S. 30. 9 2 Moritz, Anton Reiser, I S. 11, 51. Vergl. sein späteres Bekenntnis: „Es war ihm, als ob er in seiner Mutter sich selbst absterben würde, so innig war sein Dasein mit dem ihrigen verwebt", I S. 165, auch II S. 106. 87
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war die gewöhnliche, welche Kinder zu ihren Eltern haben, nur vielleicht stärker und entschiedener ausgeprägt, als bei den meisten Kindern. Ich liebte meine Mutter innig; sie trat mir oft verkannt vom Vater, wenn er in Zorn entbrannte, entgegen. Ich stand auf ihrer Seite, und war gern, wo sie war" 93 . Daß die Kinder des Meister Klas nach der früher geschilderten Behandlung an der Mutter „hingen", ist nur zu verständlich94; der Bürstenmachersohn Voigt brachte durch seine „tollen Streiche . . . den Vater oft in Harnisch, den ihm aber die Mutter, deren Liebling (er) war, immer wieder auszog"95, und Klöden nennt seine Mutter die „einzige Herzensvertraute"96. Wenn diese Nachrichten auch wieder statistisch nicht signifikant sind, wüßte ich andererseits doch kein Gegenbeispiel anzuführen. Neben die Charakterformierung tritt nun in stärkerem Maße die Wissensvermittlung, die bei den damaligen Schulverhältnissen in weiterem Umfang als heute in der Familie begann und zum Teil dort neben dem Schulunterricht herlief. Der Gerbersohn Chr. Wolff ("1679) erhielt zum Hl. Christ ein „ABC" und ließ nicht nach, „einen ieden, den (er) bekommen konnte, zu fragen, wie die Buchstaben hießen und so weiter bis (er) darinnen lesen konnte, ehe (er) in die Schule kam"97. Bronner lernte das Schreiben bei seinem Vater, der „ganz artige Buchstaben zeichnen, aber, was er geschrieben hatte, nimmer lesen (konnte)", das Lesen bei den Klosterfrauen98. Tieck mußte mit vier Jahren bei seiner Mutter buchstabieren üben99, und Klödens Mutter suchte ihrem Sohn im Alter von 5 Jahren „die erste Buchstabenkenntniß beizubringen" 100 . Anton Reisers Vater, der sich erst ums Lesenlernen des Sohnes kümmerte, als er schon acht Jahre alt war, „kaufte ihm zu dem Ende zwei kleine Bücher, wovon das eine eine Anweisung zum Buchstabiren und das andre eine Abhandlung gegen das Buchstabiren enthielt"101. Der in der Stadt Krotoschin (Posen) geborene Schustersohn Riedel berichtet, daß dort „der Schulunterricht einem alten Posamentierer anvertraut (war), von dem die Kinder nichts Rechtes lernen konnten. An dieses Mannes Unterricht ließ mich mein Vater deshalb nicht teilnehmen, sondern er brachte mir selbst das Lesen, Schreiben und Rechnen bei" 102 . Hämisch wurde ebenfalls vom Vater im Buchstabieren unterrichtet, der ihm so „einen bedeutenden Vorsprung in (seinem) ersten Schulleben" verschaffte103, während Koenig als Vorbereitung für den Besuch der Fuldaer Stadtschule das ABC bei seiner (verwitweten) Mutter lernte104. Man wird sich aber vor allzu schnellen Verallgemeinerungen zu hüten haben. Stephan behauptete, „daß die Hälfte aller deutschen Kinder des Jahrhunderts die Kunst des Lesens den Bemühungen der Eltern" verdankte105. Das scheint zu hoch gegriffen, eine Täuschung, die wohl daraus resultiert, daß Stephan vor allem Biographien im Auge hatte, die aber zum größten Teil aus den Kreisen des zahlenmäßig geringeren Teils des mittleren und höheren Bürgertums stammten, während andererseits die kleinbürgerlichen zumeist von Arrivierten verfaßt sind, bei denen es naheliegt, für das Elternhaus eine über dem Durchschnitt liegende geistige Beweglichkeit Harnisch, S. 26. Meister Klas, I S. 141. 95 Voigt, J. F., Leben, Abenteuer und Reisen. Hsg. v. Pfeifer. Altenburg 1897, S. 4. 98 Klöden, S. 208. 97 Wolff, Chr., Eigene Lebensbeschreibung. Hsg. v. Wuttke. Leipzig 1841, S. 111. 98 Bronner, I S. 48, 41. 99 Köpke, S. 11. 100 Klöden, S. 37. 101 Moritz, Anton Reiser, I S. 13. 102 Riedel, B., Gut Gesell', du mußt wandern. Aus dem Reisetagebuch des wandernden Leinewebergesellen , 1803—1816. Hsg. v. Zollhoefer. Goslar 1938, S. 11. 103 Harnisch, S. 41. 104 Koenig, S. 49. 105 Stephan, Häusliche Erziehung, S. 67. 93
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anzunehmen. Auch bei gutem Willen der Eltern standen solchem Unterricht im kleinbürgerlichen Bereich erheblichfe Schwierigkeiten im Wege. Tiecks Biograph notierte: „Die tägliche Arbeit ließ den Aeltem keine Muße ihn hinreichend zu beschäftigen, oder auch nur ihn stets zu beaufsichtigen"106; Klödens Unterricht bei der Mutter fand nur „in sehr unterbrochenen Zeiträumen statt" 107 , und Riedel bemerkte einschränkend: „Allein (des Vaters) vorgerücktes Alter machte ihn oft zu verdrießlich, mich in die übrigen Fächer der Wissenschaften hineinzuführen, auch fehlte es ihm zu einem weiteren Unterrichte an Zeit, da seine Glücksumstände nicht die günstigsten waren 108 ." Das Ergebnis des Unterrichts sollte ebenfalls nicht überschätzt werden. Obwohl Klödens Buchstabierübungen mit fünf Jahren begannen, konnte er doch als Siebenjähriger noch nicht lesen109. Zum Teil halfen sich die Eltern so, daß sie die Kinder frühzeitig in private „ABC-Sciiulen" schickten. Tiecks Eltern brachten den „kaum fünfjährigen Knaben zu einem alten gutmütigen Ehepaar, das in der nahegelegenen Fischerstraße eine A-b-c-Schule für Knaben und Mädchen im ersten Kindesalter hielt" 110 . Der siebenjährige Klöden besuchte in Berlin kurze Zeit — zudem unregelmäßig — die „sehr zahlreich besetzte Armenschule", und nach der Versetzung des Vaters nach Preußisch-Friedland, da er immer noch nicht lesen konnte, die „Vorschule", die von einer alten Frau gehalten wurde und Knaben und Mädchen aufnahm, „bis sie nothdürftig lesen konnten" 111 . Ebenso buchstabierten die „sehr jungen Knaben", die mit Bronner die Unterweisung der Klosterfrauen teilten, „beynahe alle in Namenbüchlein. Wenn sie größer wurden, schickte man sie zu den Schulmeistern"112. Hamann wurde „früh von (seinen) Eltern zur Schule gehalten" 113 , Erhard besuchte die „gewöhnliche Schule"11* mit drei Jahren, Voigt115 und Henß „frühzeitig"116. Mangner stellte in seiner Untersuchung der Leipziger Winkelschulen ebenfalls fest, daß die Kinder „sehr frühzeitig" zur Schule geschickt wurden: „Auffällig erscheint die überaus große Anzahl der drei- bis sechsjährigen Kinder, deren fast 22 Prozent verzeichnet sind". Solche Winkelschulen waren eben nicht nur „Abc-Schulen", sondern dienten auch als Kinderbewahranstalten, in denen Dreijährige „stille seyn" lernen sollten117. Ebenso berichtete v. Griesheim aus Hamburg von „Winkelschulen . . . , wo Kinder von dem dritten Jahre bis etwa in das achte zum Stillsitzen, leichten Arbeiten, und Gedächtnißsachen angehalten" wurden118, während Rambach am Jahrhundertende sogar kritisierte, der „gemeine Mann" schicke „die anderthalbjährigen Kinder in die Schule, damit sie stille sind" 119 . Dagegen ließ Moritz seinen Sohn erst, als er schon „in sein zwölftes Jahr" trat, „auf Zureden einiger Bekannten in der öffentlichen Stadtschule eine lateinische Privatstunde besuchen, damit er wenigKöpke, S. 14 f. Klöden, S. 32. 1 0 8 Riedel, S. 12. 109 Klöden, S. 45. 110 Köpke, S. 14 f. 1 1 1 Klöden, S. 52. 112 Bronner, I S. 41. 113 Hamann, J. G., Gedanken über meinen Lebenslauf. Schriften 1. Theil. Berlin 1821, S. 153. 114 Erhard, S. 5. 115 Voigt, S. 4. 116 Henß, A., Wanderungen und Lebensansichten des Buchbinder-Meisters . Jena 1845, S. 2. 117 Mangner, S. 78. 118 Griesheim, Chr. L. v., Verbesserte und vermehrte Auflage des Tractats: die Stadt Hamburg in ihrem politischen, öconomischen und sittlichen Zustande. Hamburg 1760, S. 57. 119 Rambach, S. 270. 100
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stens auf alle Fälle, wie es hieß, einen Kasum sollte setzen lernen. In die übrigen Stunden der öffentlichen Schule aber, worin Religionsunterricht die Hauptsache war, wollte ihn sein Vater, zum größten Leidwesen seiner Mutter und Anverwandten, schlechterdings nicht schicken"120. Schon dieses Beispiel genügt, um das Ungeordnete, fast Zufällige der zeitgenössischen Schulerziehung der unteren Schichten zu illustrieren. So verschieden das Einschulungsalter war, so verschieden waren auch die Motive der Eltern. Sie reichten von dem Wunsch, die Kinder etwas Rechtes lernen zu lassen121, ihnen eine bessere Ausbildung zu ermöglichen, als sie selbst erhalten hatten 122 , denen von Hamanns Eltern, die „beide Feinde des Müssigganges und Freunde göttlicher und menschlicher Ordnung" waren 123 , über die Dressur des „Stillsitzens" bis zur Absicht, „das Gassenleben zu beschränken" 124 . Uberhaupt waren viele kleinbürgerliche Eltern noch weit entfernt, in der Schulerziehung ein selbstverständliches Erfordernis zu sehen. Die Klagen der Schulhalter sind aufschlußreich genug, etwa daß die Eltern mit dem Schulgeld knauserten, bei Feiertagen die Kinder die ganze Woche über nicht in die Schule schickten, um das Schulgeld zu sparen 125 , oder sie unter allerlei Vorwänden der Schule fernhielten, wenn sie den Eltern an die Hand gehen sollten, und daß all das als statthaft angesehen wurde, zeigt die Bemerkung von Lorenz, man denke gar nicht daran, das Fernbleiben schriftlich oder durch die Kinder entschuldigen zu lassen. In Köpenick bildete nur ein Vater die rühmliche Ausnahme 126 . Daß dadurch das Ansehen der Lehrer in den Augen der Schüler nicht gehoben wurde, wird man Lorenz gern zugestehen, vor allem, wenn man solche Erscheinungen im Rahmen der unerfreulichen, durch die schlechte Besoldung mitbedingten Lage der Lehrer sieht. Klöden illustriert diese Situation hinlänglich, wenn er berichtet, daß die Bezahlung in Märkisch-Friedland so gering war, daß einige einsichtige Honoratioren den unverheirateten Rektor reihum zum Essen einluden; denn „nur so konnte er, ohne zu hungern, existiren"127. Ebenso mißlich war die Lage der Winkelschulhalter, die ganz auf das private Schulgeld angewiesen waren, und für die eine längere Krankheit den wirtschaftlichen Ruin bedeuten konnte128. Weit ärger als das geringe Einkommen, welches den Lehrern nicht erlaubte, im bürgerlichen Leben eine Respektsrolle zu spielen, war jedoch die Art, wie das Geld oft persönlich, teils gegen kleinliche Schikanen der selbstbewußten Handwerksmeister eingetrieben werden mußte 129 . Sehr scharf wandte sich Lorenz gegen dieses „Rekordiren"130, was nach Klödens Moritz, Anton Reiser, I S. 57. Wolfis Vater, der den Sohn früh zum Studium bestimmte, hat „nach seinem Vermögen nichts gesparet, was diesen Vorsatz zu befördern von nöthen wäre", Lebensbeschreibung, S. 112. Klödens Vater „knauserte" nicht, wenn es auf das „Lernen" des Sohnes ankam, S. 107. Koenigs Mutter „ängstigte sich nur, daß etwas aus ihm werden sollte", S. 59. Vergl. auch S. 251. 123 Voigt, S. 4. 123 Hamann, S. 153. 124 Henß, S. 3. 125 Mangner, S. 50. 126 Lorenz, Bürgererziehung, S. 102, 110. 1 2 7 Klöden, S. 109 f. 128 Mangner, S. 99 ff. Manche Lehrer hielten den Unterricht vom Bett aus, um die Schüler nicht zu verlieren. Zur wirtschaftlichen Lage vergl. Kap. IV, 1. 1 2 9 Vergl. Stephan, Häusliche Erziehung, S. 159. 130 Lorenz, Bürgererziehung, S. 176. 120
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Beschreibung des „Quartalsingens" nur zu verständlich ist: In Märkisch-Friedland war es üblidi, „daß der Rektor wenigstens mit einem Dutzend Schülern vor jedes Bürgerhaus zog, dort einige Verse eines geistlichen Liedes mit ihnen sang und dann ins Haus trat, wo ihm eine kleine Gabe gereicht wurde. Dies war dem Rektor natürlich sehr zuwider . . . Und wie roh benahmen sich die spendenden Hörerl Ein Färber riß jedesmal . . . die Fenster weit auf, stellte sich in Hemdsärmeln, die Arme in die Seite gestemmt, breitbeinig auf, ließ uns ein ganzes Lied singen und reichte dann dem Rektor sechs Pfennige heraus. Gegen meinen Vater behauptete der Mann, mehr gebühre dem Rektor nicht" 131 . Der Volksschulunterricht als solcher war auch wenig geeignet, bei den Kindern dieses außerschulisch bedingte Bild des Lehrers aufzuwerten. Die etwa vorhandenen theologischen Kenntnisse der „studierten" Lehrer lagen außerhalb ihres Horizontes, und der eigentliche Unterricht gab, wie die Berichte übereinstimmend zeigen, kaum Gelegenheit zu imponieren. Ich möchte an dieser Stelle noch nicht auf Einzelheiten eingehen, sondern ihn nur der Grundtendenz nach charakterisieren. Einen Fingerzeig gab schon das letzte Zitat aus Anton Reiser, nach dem der Religionsunterricht die „Hauptsache" war. Klödens Aufzeichnungen bestätigen das durchaus. Der Lehrplan der Stadtschule zu PreußischFriedland bestand zum überwiegenden Teil aus Religionsunterricht: mechanischem Durchlesen der Bibel 132 , Auswendiglernen von Frage und Antwort aus dem Kompendium Die christliche Lehre im Zusammenhang, Hübners Biblischen Historien, Gesangbuchversen und dem Aufschlagen von Bibelstellen. Zwei Wochenstunden waren für Schreiben angesetzt, in denen aber nur die Hausaufgaben vorgezeigt wurden, zwei Stunden für das Aufsagen des Einmaleins, zu denen noch zwei weitere Rechenstunden kamen. Auch in der Privatschule des Diakonus Meerkatz in Märkisch-Friedland änderte sich nichts: „Bibellesen, Katedüsmus, Schreiben und Rechnen, etwas biblische Geschichte, Auswendiglernen von Gesangbuchversen und Sprüchen, darin bestand der ganze Lehrplan" 133 . Diesem allgemein üblichen Schema ging die geistliche Schulaufsicht parallel, und es gilt nicht nur für das märkische Provinzstädtchen, wenn Klöden bemerkt, „daß die Schule mit der Kirche förmlich verwachsen war, ja daß sie eigentlich nur der letzteren wegen da war . . . Der gesammte Unterricht bezog sich auf Religion und Kirche und gewann dadurch allerdings eine seltene Einheit. Sogar der einzige Gebrauch, den wir von der Schreibkunst machten, war der, daß wir die Kirchenlieder anschrieben. Nur das Rechnen war eine fremdartige Lection" 134 . Das scheint mir in doppelter Weise bedeutsam. Negativ formuliert ergab die Skizze, daß dem Kind in der Schule kaum Neues geboten wurde. Lesen und Schreiben waren ihm aus dem Elternhaus genauso vertraut — wenn nicht dort schon der erste Unterricht stattgefunden hatte — wie Gebet und biblische Unterweisung, und das Rechnen hielt sich in derart engen Grenzen, daß auch hierin kein allzugroßer Unterschied sichtbar wird. Andererseits dominierte der religiöse Unterricht auf Kosten nicht nur naturkundlicher Themen, sondern auch von Geographie und Geschichte, also derjenigen „Realien", die vielleicht — wie bescheiden auch immer — auf die soziale Vorstellungswelt der Kinder modifizierend hätten einwirken können. 131 Klöden, S. 121 f. — Hämisch schildert einen Neujahrs-Singumgang mit Rektor und Kantor, der mit der Bewirtung in einem nahe der Stadt gelegenen Gutshof endete. „Darauf gingen noch einige Schüler auf eigne Hand auf benachbarte Dörfer zum Singen . . . Mein seliger Vater wollte aber nie zugeben, daß ich diese Bettelei, wie er sagte, mitmachte, während er mich mit einem gewissen Wohlgefallen für die Lehrer singen sah", S. 36. 132 „Es wurde darin etwas geleistet; denn in etwa acht Monaten waren wir durch", Klöden, S. 63. 1 3 3 Klöden, S. 99. 1 8 4 Klöden, S. 70 f.
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Dem Schulmeister, der sich nicht auf soziales Prestige stützen und diesen Mangel im Unterricht kompensieren konnte, blieb kaum ein anderer Weg, als die von seiner Rolle erforderte Autorität zu erzwingen, wobei sich die Methoden in nichts von denen des Elternhauses unterschieden, sie allenfalls noch übertrafen. Der erste Eindruck Bronners vom Unterricht des Cantors zu Höchstädt waren „gräuliche Executionen. Da bekam einer mit der Ochsensehne einen mörderischen Spanniol auf die gespannten Beinkleider; dort wickelte der Lehrer einem anderen einen Mantel um den Kopf, damit er nicht schreyen könnte, und führte ihn in das sogenannte Speckkämmerlein, wo ihm entweder mit der Ruthe oder gar mit der Ochsensehne das nackte Sitzfleisch fürchterlich durchgegärbt ward. Wenn so ein Bube wieder heraus kam, wälzte er sich gewöhnlich vor Schmerzen auf dem Boden, und der Cantor stieß ihn wild lachend mit den Füßen . . . O wie machte mich da die Furcht so ruhig!"135 Ein andermal „schüttelte (er einen Schüler) so heftig bei den Ohren, daß ihm die Haut hinter denselben zerriß, und das Blut herabströmte". Bronner selbst „ward mit Füßen gestoßen, und bekam einen entsetzlich heftigen Nassen mit des Lehrers Mantel um den Kopf. Dennoch hörte die Frau Cantorin mein mörderliches Geschrey, und kam mit dem Spinnrocken mir zu Hülfe . . . Wie unsinnig lief ich nach Haus"136. Die Mutter und „sogar (sein) Vater zürnten über die unmenschliche Behandlung, und beyde wollten mich nicht mehr in die Schule gehen lassen". Aber nachdem auf beiden Seiten die „Hitze" verraucht war, blieb alles beim Alten, und als er mit elf Jahren das Seminar bezog, sah er „schon am ersten Tag . . . ebendieselben Executionen, wie beym Cantor in Höchstädt an (seines) Gleichen vornehmen"137. Auch Brandes berichtet von einer solchen „fürchterlichen Geisselung" durch den Rektor138, und Klödens Biographie enthält zu diesem Punkt ebenfalls weitere aufschlußreiche Informationen139. Freilich fanden sich nidrt überall solche Verhältnisse. Klöden rühmt dem Rektor in Märkisch-Friedland, einem Theologen, pädagogisches Geschick nach, und auch Anton Reiser erwähnt den Konrektor der Stadtschule, der auf einem „ziemlich freundschaftlichen Fuß mit seinen Schülern" umging140, aber es handelte sich dabei doch um Ausnahmen. In der Regel galt „in den Schulen . . . das Prügeln als die Hauptsache der Erziehung, und je mehr Geschrei aus der Schule erschallte, um so besser that der Schulmeister seine Pflicht, um so besser war die Schule"141. Ich erinnere nur an die oft zitierte Prügelbuchführung des Schulmeisters Häberle142 und begnüge mich mit zwei 135 Bronner, I S. 47; vergl. I S. 81. Weitere Schulstrafen: „abscheuliche Brille mit großen Gläsern" aufsetzen, mitten im Raum knien, I S. 42. 136 Bronner, I S. 100, 101. 137 Bronner, I S. 117. 138 Brandes, Lebensgeschichte, I S. 27. 139 Er berichtet aus einer Berliner Armenschule: „Die beiden Pädagogen saßen im schleditesten Anzüge, mit baumwollenen weißen Nachtmützen auf den Köpfen, einen Stecken in der Hand da, und das Einzige was ich verstand, waren die Prügel, die es häufig regnete". Aus der Vorschule in Preußisdx-Friedland, die von einer 70jährigen Frau geleitet wurde: „Machte ein Kind Fehler, so schob sie ihr Spinnrad zur Seite, . . . ergriff die Kelle oder Ruthe und bearbeitete nach Gutdünken das Sitzfleisch" — bis ihr die Behörde das Handwerk legen mußte, „weil sie ein Mädchen zwölf Stunden lang in den heißen Backofen gesperrt, und ihrer Gesundheit geschadet hatte". Aus der dortigen Stadtschule: In der Mitte des Schulzimmers stand ein „Tisch für den Lehrer, auf welchem der Kantschu, eine Ruthe, mehrere Stöcke und ein Lineal lagen, . . . wie es denn auch an Schlägen jeder Art nicht fehlte". Diese Mitteilungen beziehen sich immerhin auf die Zeit um 1795, Klöden, S. 46, 52, 53, 61, 68. 140 Moritz, Anton Reiser, I S. 58. 141 Klöden, S. 14. 142 Rochholz, E. L., Alemannisches Kinderlied und Kinderspiel aus der Sdiweiz. Leipzig 1857, S. 539.
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Nachrichten über die Leipziger Winkelschulen. 1723 wurde den Schulhaltem befohlen, „sie sollten im Straffen nicht so hart und grausam seyn, . . . nicht so dicke Stecken brauchen und die Kinder nicht auf die Finger und Nägel schlagen, daß sie blau und bluticht werden: sonderlich aber die Kinder nicht zur Straffe knieen lassen". Aber noch 1799 berichtet Professor Leonhardi von diesen Schulen, daß „in den meisten die Kinder gewöhnlich sklavisch und niederträchtig behandelt, und mit barbarischen, die Menschheit entehrenden Strafen belegt" wurden 143 . Die Änderung, auf die Jenisch hinwies144, war eben nur eine partielle und die Freude eines Büsch, daß es die Kinder der 90er Jahre „unendlich besser" hätten als er in seiner Jugend, läßt sich von der Praxis der für das Kleinbürgertum bestimmten Schulen her kaum rechtfertigen. Die hier interessierende Übereinstimmung zwischen häuslichen und schulischen Erziehungsmethoden blieb zeitgenössischen Beobachtern, wie Büsch, nicht verborgen. „Die ersten Werkzeuge zur Erziehung in den Händen der Aeltem, der öffentlichen und der Privatlehrer waren die der körperlichen Züchtigung, die man an den Wänden aufgehangen oder vor die Fenster allenthalben wie ein Zeichen hingestellt sah, dem nur die Ueberschrift fehlte: hier erziehet man . . . Man leitete nicht durch Winke und Vorschriften, wie ein Kind dieß oder jenes recht machen solle, sondern durch Tadel und Vorwürfe, daß es nichts recht mache. Brach die Empfindlichkeit des Kindes in Weinen aus, so erfolgten harte körperliche Strafen; und wenn die Aeltern sanft handeln wollten, so sezten sie das Kind zur Tühre hinaus und überliessen es ganz dem Kampf mit seinen Leidenschaften. Auch das gehörte dazu, daß man ein Kind ungern lobte, und es merken ließ, daß man wirklich mit ihm zufrieden sei . . . Man schien keinem Kinde etwas gutes zuzutrauen, blos deswegen, weil es ein Kind war. Man dachte nicht daran, den Keim des Guten in ihnen zu entwickeln, sondern nur immer zu hadern und zu züchtigen"145. Selbst dem Reformer Lorenz schwebte offensichtlich als etwas Erstrebenswertes vor, „was man im Preussischen Subordination" nannte146. Ähnelt dieses Bild des damaligen Erziehers aber nicht in fataler Weise jenem strengen, herzlosen und meist geistig beschränkten „Popanz-Vater" (Hofstätter), der den Untersuchungen über die „autoritäre Persönlichkeit" als Modell gedient hat? Auch wenn man sich von Übertreibungen freihält, läßt sich jene Härte und Strenge jedenfalls nicht bagatellisieren (womit freilich noch nichts über Herzlosigkeit und schon gar nichts über die geistigen Qualitäten der Väter und Lehrer ausgesagt ist), und für den Effekt ist es unerheblich, ob man sie damit zu legitimieren suchte, das Beste der Kinder im Auge zu haben. Die Frage nach den Dauerauswirkungen dieses Verhaltens ist heute allerdings nur ganz allgemein zu beantworten, obgleich die Untersuchungen in primitiven Gesellschaften einen Stand erreicht haben, der bei aller Vorläufigkeit doch gewisse Korrelationen erkennen läßt: „In societies in which the 143 Mangner, S. 65; Leonhardi, F. G., Geschichte und Beschreibung der Kreis- und Handelsstadt Leipzig. Leipzig 1799, S. 586. 144 Vergl. S. 44. 145 Büsch, J. G., „Ueber den Gang meines Geistes und meiner Tähtigkeit". Erfahrungen. IV Hamburg 1794, S. 4, 14. Es ist nicht nur der besonderen häuslichen Konstellation zuzuschreiben, daß Anton Reiser das Gefühl bekam, „als müsse es beständig gescholten sein" und „mit Wahrheit sagen" konnte, „daß er von der Wiege an unterdrückt ward", Moritz, Anton Reiser, I S. 12, 9. Nach Lossius hatten Kinder „eigentlich gar kein Recht nach denen Ursachen zu fragen, warum ihnen einsichtsvollere Eltern dieses oder jenes thun oder nicht", Meister Liebreich, I S. 160. M. Rosenbergs These, daß extreme elterliche Indifferenz noch nachteiligere Auswirkungen auf das Selbstbild des Jugendlichen habe als Strafen, läßt sich anhand des mir vorliegenden Materials nicht diskutieren, Society and the Adolescent Self-Image. Princeton, N. J. 1965, S. 146. 148 Lorenz, Bürgererziehung, S. 108.
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culture pattem prescribes absolute oboedience from the child to the parent as a prerequisite for rewards of any sort, the normal adult will tend to be a submissive individual, dependent and ladang in initiative. Even though he has largely forgotten the childhood experience which led to the establishment of these attitudes, his first reaction to any new Situation will be to look to someone in authority for support and diiection"147. Ähnlich argumentierte bereits Riesbedc, der zwar die Wiener Schulen als die einzigen im katholischen Bereich lobte, in denen man die Kinder „mehr zu guten Bürgern als zu Mönchen zu bilden sucht", dann aber bemerkte: „Unterdessen herrschen schon in diesen Kinderschulen die zwo mächtigen Triebfedern des hiesigen Staates: Blinde Subordination und Mönchsglauben"148. Es spricht vieles dafür, daß Riesbedcs Feststellung über diesen Zusammenhang hinaus allgemeinere Bedeutung zukommt. Selbstverständlich fanden sich, die Kinder außerhalb von Elternhaus und Schule zum Spielen in Gruppen zusammen; denn Beschränkungen, wie sie aus anderen Schichten berichtet werden 119 , waren im kleinbürgerlichen Bereich sowieso kaum möglich. Klöden spielte „viel" mit einem Schulkameraden und dessen Schwestern: „Unsere Spiele waren höchst mannigfaltig und oft ziemlich wild. In körperlichen Übungen war ich jedoch kein Held . . . Von Prügeleien hielt ich midi daher, wenn es sein konnte, fem. Auch im Klettern leistete ich wenig . . . Dagegen war ich ein guter Ballspieler geworden; es versagte mir selten ein Schlag; ich brachte den Ball dahin, wohin ich ihn haben wollte, und ließ deshalb keinen meiner Mitspieler im Felde sitzen. Im Winter wurde viel geschlittert; Schlittschuhe kannte man in Friedland nicht . . . Im Sommer waren uns die Fichten der angenehmste Tummelplatz"150. Auch Rosenkranz verbrachte die Zeit, die ihm „außer den Schulstunden übrig blieb . . . mit sehr wilden Spielen": „Ich war überhaupt ein heftiges und unruhiges Kind, das in dummen Streichen und Schlägereien sehr ergiebig war und deshalb auch vom Großvater wie vom Vater öfters derb gezüchtigt wurde. Wir Kinder bildeten gewissermaßen für die Erwachsenen eine anarchische Räuberschaar, gegen die man immer auf der Hut sein mußte. Die großen Häuser unserer Verwandten und Bekannten . . . boten auf den Kornspeichern, in den Holzlagern, in den Brauhäusern, in den Stallungen, Höfen und Gärten einen ungeheuren Spielraum dar. Die ganze Jugend der Vorstadt war sich ungefähr bekannt, und der Platz um die Kirche herum, wo die Spritzenhäuser standen und welcher der „Thie" . . . hieß, war ihr Sammelplatz zu gemeinschaftlichen Spielen und Kämpfen. In lichten Haufen zogen wir nicht selten nach der Elbseite zu in die Felder, thaten uns hier in den jungen Erbsen, in den Mohrrüben, in den Mohnköpfen und dergleichen gütlich und kamen dabei auch gelegentlich mit dem „Pannemann" (dem auspfändenden Flurschützen) in Conflict" lsl . Von solchen Kämpfen zwischen Knaben verschiedener Viertel, die z. B. in Göttingen sonntags nach der Kirche ausgefochten wurden152, berichten auch Janssen158 und Weyden154. Henß, der durch die Volksbücher „im Kreise ritterlicher Ideen . . . lebte und webte", schnallte dann seinen „Brustharnisch von Pappdeckel um, nahm (seinen) Schild und (seine) Streitaxt von Holz zur Hand, sprang auf die Gasse und schlug (sich) im Knabenkrieg auf die Seite der Schwächeren"155. Linton, S. 91 f. Riesbeck, I S. 246 (im Original Fettdruck). 149 Vergl. etwa Jacobs, F., Personalien. Vermischte Schriften VII. Gotha 1840, S. 9. 150 Klöden, S. 115. 151 Rosenkranz, K., Von Magdeburg nach Königsberg. Berlin 1873, S. 8. 152 (List, G. Chr. H.), Beyträge zur Statistik von Göttingen. Berlin 1785, S. 163. 153 „Die historischen Notizen des Bürgermeisterei-Dieners Johann Janssen". Fürth, H. A. Frh. v., Beiträge und Material zur Geschichte der Aachener Patrizier-Familien. III Aachen 1890, S. 3—390, 252. 154 Weyden, S. 42 f. 135 Henß, S. 3. 147
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Jacob Grimms Notizen über weniger wilde Spiele und Spielzeug in Steinau dürften weithin repräsentativ sein: „Springen auf den Treppenstufen vor der Haustüre. Sammeln der Eidielhülsen, woraus Armeen reguliert wurden . . . Unreife abgefallene Äpfel wurden an spitze Hölzer gesteckt und in die Luft geschwungen. Steinwurfmaschinen. Backofen von Sand, indem man einen Sdlüh hinstellte, darauf baute und ihn dann wegzog. Knallbüchsen aus Leimen, die beim Werfen auf die hohle Seite oben ein Loch bekommen. Wassermühlen. Sammlung von Steinern und Heuchern . . . Flechten von Katzenstühlen. Zichorenstengel, oben aufgeschnitten und ins Wasser gelegt, rollten sich oben hyazinthenmäßig kraus. Wagen aus Kastanienschalen mit Zwirnsfäden . . . Fliegenlassen der Maikäfer" 158 . Auch unter den Geräuschen, die Lichtenberg von seinem Göttinger Gartenhaus aus registrierte, war „ein sehr helles und emsiges Sdireyen von Kindern, vermuthlich auf der Maykäfer-Jagd auf dem Walle" 167 . „Unsere Kinderspiele", berichtete Westenrieder in den 80er Jahren aus München, „sind der Baal, und die Arten desselben sind das Kreisstehen, das Raketschlagen, das Einkindeln; und, ein prächtiges Spiel, das Ballonschlagen. Kleinere Spiele sind das Ringlspiel, das Steintappeln, das Einrückein, das Plateln, das Kapuzinerspiel, das Handwerkerspiel, und andere, welchen fast immer, ausser der körperlichen Bewegung, eine nützliche Uebung zum Grund liegt" 158 . Aus Rostode hören wir, daß die Jugend der unteren Schichten „die Künste der durchreisenden Luftspringer und Seiltänzer" nachzuahmen suchte, femer von Spielen, „die man bey den Kindern der höhern Stände nur selten findet", wie „das sogenannte Schüsselspiel" (mit Kupfermünzen), Reiftreiben, Ballspiel und Drachensteigen159. „Murmel, Ball, Drachenspiel" erwähnt auch Klöden, „je nachdem die Jahreszeit und die Witterung es mit sich brachten und gestatteten, denn darauf wurde strenger gehalten, als auf geschriebene Gesetze. Man weiß, daß Kühler nur im ersten Frühlinge, Ball nur um die Osterzeit, Drachenziehen nur im Herbste gespielt werden, Zeck aber zu allen Zeiten" 160 ; im Winter kam natürlich Schlittenfahren hinzu, das z. B. nach Kerners Bericht eine abschüssige Straße vor dem Ludwigsburger Schloßgarten zu einem „Tummelplatz von hunderten von Knaben auf Bergschlitten" machte161. Während das Baden im Freien in manchen Orten sogar unter Strafe gestellt war 182 — in Höchstädt wurde Kindern eine Züchtigung auf dem Marktplatz angedroht163 — 156 Praesent, Märchenhaus, S. 26 f. — Bronners Vater schnitzte seinen Kindern das Spielzeug selbst, z. B. „allerley Maschinchen", Bronner, I S. 51. 167 Lichtenberg, G. Chr., Aphorismen. Hsg. v. Leitzmann. Deutsche Literaturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts 140. Berlin 1908, S. 166. — Weyden, S. 73: „Wir Knaben hatten keine Vorstellung von Thierquälerei, steckten wir die armen Käfer zum Herumfliegen an einen Kartenstreifen, der mit einer Nadel auf ein Stöckchen befestigt wurde, machten wir ein so genanntes „Mühlchen", oder banden wir einen oder zwei, oder mehrere an einen Faden, sie zum Fliegen auffordernd, mit dem Liede: ,Maikefer fleg . . W ä h r e n d der Maikäferzeit kannten die Knaben keine andere Unterhaltung." 1 5 8 Westenrieder, S. 291 f. 1 5 8 Nolde, S. 122. — Das Drachenziehen wurde 1738 in Straßburg verboten, Boesch, H., Kinderleben in der deutschen Vergangenheit. Leipzig 1900, S. 62. 1 6 0 Klöden, S. 24 f.; Züdcert, S. 143—145: Spiele bis zum 5. bezw. 12. Lebensjahr; „Von den freien Spielen", Campe, Revision, VIII S. 355—376; Frank, J. P., System einer vollständigen medicinischen Polizey. II Mannheim 1780, S. 634 ff.; Finder, S. 31. Diese Nachrichten zeigen, daß Weydens ausführliche Schilderung der Jugendspiele in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts (S. 63 f., 70—86) auch für das 18. herangezogen werden kann. Vergl. noch Intorp, L., Westfälische Barodcpredigten in volkskundlicher Sicht. Münster 1964, S. 137; Hoedl, S. 181; Bähr, S. 119. 1 6 1 Kemer, S. 295; Krämer, K.-S., Volksleben im Fürstentum Ansbach und seinen Nachbargebieten (1500—1800). Würzburg 1967, S. 278. 162 Fischer, A., Geschichte des deutschen Gesundheitswesens. Berlin 1933, II S. 210. Commenda, H., Volkskunde der Stadt Linz an der Donau. II Linz 1959, S. 277. 1 6 3 Bronner, I S. 68.
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zeigen Augsburger und Hamburger Stiche Knaben und Jünglinge, die sich im Wasser tummeln164; in Rostode suchte die Jugend „einzeln oder in Gruppen" den Fluß oder die Teiche auf, und der Arzt Nolde bemängelte um die Jahrhundertwende nur, daß das ohne Aufsicht geschah165. Wenn man nach der Auswirkung solcher Kinderspiele auf den Sozialisierungsprozeß fragt, kann man mit Wölfling, dem diese Fragestellung nicht fremd war 166 , im Spielen mit Puppen und Küchengeschirr, Trommeln und Gewehren — mit denen man „bey Knaben den Geschmack an Waffen . . . erzeugt und unterhält" — eine Vorbereitung auf die Erwachsenenrolle sehen 167 , oder daran erinnern, daß jene Zeit das Kinderspiel ja auch bewußt in den Rechtsbrauch einbaute 168 . Wichtiger sind hier jedoch die Gruppenspiele und Spielgruppen 169 als solche, wozu man noch die brauchtümlidien Umgänge stellen könnte (wie etwa den vom Journal von und für Deutschland beschriebenen HochzeitsHeischegang in Ingelfingen 170 oder die winterlichen Singumgänge 171 ), die von den jugendlichen Teilnehmern selbst organisiert wurden. Aber wenn man dies alles und auch die Tatsache, daß die Kinder des gemeinen Mannes dieser Jahre „mehrentheils den ganzen Tag auf der Straße" zubrachten 172 und die Erziehung des allerdings vaterlosen Adam Henß „zum größten Theil der Straße überlassen" blieb 173 , daß ferner immer wieder Klagen über die unbändige und freche Jugend laut wurden 171 , nicht unterschätzen darf, scheint es doch, daß eigentliche „peergroups" 175 bei der kleinbürgerlichen Jugend — trotz jener Altersreflexionen eines Rosenkranz — keine größere emanzipierende Wirkung erlangt haben 1 7 6 . Sofern dieser negative Befund nicht nur der Quellenlage zuzuschreiben ist, würde er noch einmal indirekt den Sozialisierungsprozeß als einen einheitlichen und — unter dem Gesichtspunkt der Vorbereitung auf die Erwachsenenrolle — einseitigen ausweisen.
1 6 4 Reicke, E., Lehrer und Unterrichtswesen in der deutschen Vergangenheit. Leipzig 1901, Abb. 98; Finder, S. 196; vergl. Voeldcer, S. 138. 165 Nolde, S. 123; Frank, Medicinische Polizey, II S. 640. 1 6 6 Wölfling, Briefe, S. 176. 167 Wölfling, Briefe, S. 123. 1 6 8 Künßberg, E. Frh. v., Rechtsbrauch und Kinderspiel. 2. A. Heidelberg 1952; Borken 1777 (Hessische Ortsbeschreibungen 4). Hsg. v. Albrecht, Marburg—Witzenhausen 1962, S. 38 f. (Grenzbegehung). 169 Vergl. auch Hoedl, S. 181. 1 7 0 Journal von und für Deutschland. 1787, II S. 202. 171 Wetter, H., Heischebrauch und Dreikönigsumzug im deutschen Raum. Diss. Greifswald 1933. 172 Nolde, S. 110, 122. 1 7 3 Henß, S. 2. 174 Fürth-Janssen, S. 165, 224, 252, 276 (Aachen 1748, 1755, 1757, 1759); Mangner, S. 67 (Leipzig, Jahrhundertmitte); Knüppeln, S.29 (1784); Roller, Durlach, S. 420 (Jahrhundertende); vergl. auch Weyden, S. 42. 175 Vergl. Eisenstadt, S. N., From Generation to Generation. Age Groups and Social Structure. London 1956; dtsch. München 1966. 176 Vielleicht traf das für die Ferienvereinigungen der Höchstädter Gymnasiasten zu, die aber als solche nicht mehr dem kleinbürgerlichen Bereich angehören, Bronner, I S. 156.
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Man muß in diesem Zusammenhang einmal die Beanspruchung der Kinder durch häusliche Arbeiten und berufliche Mitarbeit bedenken177, in höherem Maße aber wohl die Tatsache, daß der nächste Schritt in der Sozialisierung, der Ubergang ins Berufsleben, oft schon recht früh vollzogen wurde und hier nun ausgebildete Vergemeinschaftungsformen vorfand. Henß begann seine Lehrzeit als Buchbinder bereits mit 12y2 Jahren; Anton Reiser war ungefähr gleichaltrig, als er zum Hutmacher Lohenstein geschickt wurde178; in Millers Gottfried Walther wurde der Titelheld mit 11 Jahren ins Handwerk eingeschrieben, während die Lehrzeit mit 13 Jahren begann179. Klöden trat die Lehre als Goldschmied erst mit 15 Jahren an, wobei wohl äußere Gründe maßgebend waren. „Gewöhnlich kommt doch heut zu Tage ein Knabe von 13 bis 14, oder höchstens 15 Jahren in die Lehre, und selten später", schrieb Firnhaber zu Beginn der 80er Jahre 180 ; Mangner stellte an Hand der Leipziger Schulakten fest, daß „die zwölf- und dreizehnjährigen Kinder . . . 10,7 Prozent, die vierzehnjährigen nur 2V4 Prozent (ausmachten)"181, und auch die Bemerkung des Rektors Lorenz aus dem endenden Jahrhundert, daß „im 15. Jahre . . . die meisten Bürgerkinder schon aus dem Hause ihrer Aeltem entlassen" wurden182, kommt mit Firnhabers Feststellung überein. Leider ist unser Wissen über die psycho-physische, besonders die psychosexuelle Entwicklung in diesem vom Eintritt der Pubertät bestimmten Lebensabschnitt — die entweder mit dem Übergang ins Handwerk zusammenfiel oder doch bald darauf folgte183 — sehr gering. Wenn wir uns deshalb mit einer Be177 G. F. Schuhmacher, aus der ärmeren Schicht Kölns, mußte mit seinen Geschwistern oft den ganzen Haushalt führen, nach Bacherler, M., Deutsche Familienerziehung in der Zeit der Aufklärung und Romantik. Diss. Erlangen 1914, S. 149. 178 Nach den Chursächsischen General-Innungsartikeln von 1780 sollte ein Lehrjunge „wenigstens das 12te Jahr seines Alters erreicht haben", Ortloff, J. A., Corpus Juris Opificiarii oder Sammlung von allgemeinen Innungsgesetzen und Verordnungen für Handwerker. Erlangen 1804. S. 155 f. 179 Miller, Gottfried Walther, S. 26, 28. 180 F(irnhaber), J. H., Historisch-politische Betrachtung der Innungen und deren zweckmäßige Einrichtung. Hannover 1782, S. 199. L. Hoffmann bemerkte in seiner Untersuchung des württembergischen Zunftwesens, daß die Ordnungen meist nichts über das Eintrittsalter enthielten, „einige wenige ausgenommen, so z. B. die Flascherordnung vom 31. Oktober 1782. Sie verlangte, daß der Lehrling das 14. Jahr zurückgelegt habe". Auch durch die Synodalreskripte vom 11. Dezember 1722 und 29. November 1771 war das Alter auf „wenigstens 14 Jahre" festgesetzt, Das württembergische Zunftwesen und die Politik der herzoglichen Regierung gegenüber den Zünften des 18. Jahrhunderts. Diss. Tübingen 1909, S. 11. Abgeschlossenen Schulbesuch und Kenntnisse im „Christenthum" sahen die Badischen Zunftartikel von 1760, die Fuldische Polizeyverordnung für die Handwerker von 1781, das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten oder der Gildebrief der Bäcker in Lübbecke von 1800 vor. In den beiden letzten Fällen waren Ausnahmen erlaubt, sofern sich der Meister verpflichtete, den Jungen zur Schule anzuhalten, Ortloff, Corpus, S. 230, 318, 125, 561. 181 Mangner, S. 78. 182 Lorenz, Bürgererziehung, S. 95; vergl. auch seine Schrift Die Idealische Bürgerschule. Berlin 1788, S. 21. •— In Tondem waren 1769 von 44 Lehrlingen zwischen 11 und 25 (!) Jahren 13,5 % 11 Jahre alt, 45,5 % 11—15 Jahre, Andresen, 1. c„ S. 192. 183 Diese vermeintlich selbstverständliche Aussage steht nicht nur im Gegensatz zu den Behauptungen des Pädagogen H. H. Muchow (Jugend und Zeitgeist. Reinbek 1962, S. 83—86), sondern auch zu den Untersuchungen des Mediziners G. Backman („Die beschleunigte Entwicklung der Jugend". Acta Anatomica. IV 1947/48, S. 421 bis 480), die beide für das ausgehende 18. Jahrhundert einen sehr späten Reifebeginn nachweisen wollen. Während Muchow nur einige wenige „Belege" präsentiert, die
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Schreibung der äußeren Aspekte dieses Übergangs begnügen müssen, läßt sich vorweg sagen, daß er bei aller damit verbundenen Veränderung keinen Bruch bedeutete: Der Knabe vertauscht^ das elterliche Haus mit dem des Meisters, wo ihn die gleichen Forderungen und Erziehungspraktiken erwarteten. Der eigentliche Eintritt ins Handwerk vollzog sidi in brauchtümlichen Formen, die sich teils bis in die neuere Zeit gehalten haben 184 . Das Aufdingen vor offener Lade, das Einschreiben im Kreise der Meister, das feierliche Versprechen, die Lehrjahre redlich auszustehen und sich den Handwerksregeln gemäß zu verhalten, stellten dem Neuling die Bedeutung dieses Ereignisses eindrucksvoll vor Augen. Mir geht es jedoch hier weniger um soldie Einzelheiten dieser und späterer „rites de passage", als um die zeremonielle Überformung der einzelnen Abschnitte des Handwerkerlebens als solche und die Auswirkungen auf den Sozialisierungsprozeß im ganzen 185 . Im Gegensatz zu der oft beklagten Statusunsicherheit des modernen Jugendlichen, der nicht mehr Kind und noch nicht Erwachsener ist, kennt der inkorporierte Lehrjunge seinen Platz in der Gesellschaft — die schwarze Schürze der Hutmacherlehrburschen brachte ihn, wie Anton Reiser bekannte, „gleichsam in Reihe und Glied mit andern seinesgleichen" — er konnte sich an positiven Verhaltensmustern orientieren und „sich nun als einen Menschen (betrachten), der schon anfing, einen gewissen Stand zu bekleiden"18®. Dieses Wissen, zwar auf der untersten Stufe der Hierarchie zu stehen, aber mit der Aussicht, nach einer gewissen Zeit aufzusteigen, sich z. T. gar nicht auf den Eintritt der Pubertät, sondern auf die Erlebnisse der Adoleszenz beziehen, möchte Badanan die Gültigkeit des sich in Erhebungen des 19. Jahrhunderts über das Menardiealter abzeichnenden Trends für den vorangegangenen Zeitraum erhärten, wobei er sich auf eine Befragung des Göttinger Gynäkologen F. B. Osiander stützt (Denkwürdigkeiten für die Heilkunde und Geburtshülfe. II Göttingen 1795, S. 380—388). Abgesehen von der von W. Lenz—H. Kellner bezweifelten Repräsentativität jener Erhebungen des vorigen Jahrhunderts (Die körperliche Akzeleration. München 1965, S. 86), kommt er im Falle von Osiander schon rechnerisch zu einem um ein Jahr zu späten Reifetermin, indem er statt dessen Angabe „im n. Jahr" jeweils „n Jahre" unterstellt, was weder in jener Arbeit, noch im Sprachgebrauch der Zeit eine Stütze findet. Femer berücksichtigt er nicht, daß es sich bei den Frauen mit außerordentlich spätem Menarchealter nach einer Bemerkimg jenes Gynäkologen (1. c., S. 381) offenbar um pathologische Fälle handelt, und die Aussagekraft dieser einzigen mir bekanntgewordenen Erhebung des Untersuchungszeitraums wird weiter dadurch beeinträchtigt, daß der größte Teil derjenigen, die in das Göttinger Accouchierhaus aufgenommen wurden, aus den untersten Schichten stammte, deren verspätete Reife gegenüber besser situierten als gesichert gelten darf. Zur Problematik der Altersangaben seiner Patientinnen hat sich Osiander übrigens selbst in anderem Zusammenhang skeptisch geäußert (1. c., S. 393). Eine ausgedehnte Durchmusterung der zeitgenössischen gynäkologischen und sexualpädagogischen Literatur sowie der „medizinischen Ortsbeschreibungen" und Enzyklopädien scheint mir, bei aller gebotenen Vorsicht gegenüber der Verläßlichkeit solcher Angaben aus älterer Zeit, nur den Schluß zuzulassen, daß der Zentralwert des Pubertätseintritts der städtischen Jugend im 18. Jahrhundert im endenden 14. und / oder 15. Lebensjahr zu suchen ist. 1 8 1 Vergl. Krebs, W., Alte Handwerksbräuche mit besonderer Berücksichtigung der Schweiz. Basel 1933, S. 14 ff. 185 Hierzu auch das Vorwort von S. T. Kimball zur amerikanischen Ausgabe von van Genneps bekannter Studie, The Rites of Passage. Chicago 1960, S. V—XVIII. 186 Moritz, Anton Reiser, I S. 97.
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mochte ihn dann auch gegebenenfalls über die bittere Erkenntnis hinwegtrösten, daß Lehrjahre Leidejahre waren 187 . Nach dem Modell des Hauses sollte das Verhältnis Meister-Lehrling dem von Vater und Sohn entsprechen. Die bisherige Erörterung der Familie hat aber hinlänglich deutlich gemacht, daß Kind damals zu allererst Unterordnung bedeutete. Auch der Meister verlangt vom Lehrjungen „unbedingten Gehorsam" 1 8 8 , er „kann ihm despotisch vorschreiben, ob er zu Hause bleiben, oder ausgehen, was er tun und lassen soll" 189 . „Eine strenge Subordination ist seine beständige Aufseherin", bestätigt Stock190, der die Verhältnisse wohl noch aus eigener Anschauung kannte, und diese Subordination wurde auch mit den gleichen Mitteln wie in der Familie erzwungen. Dietz berichtet von seinem Lehrherm, daß „der Ochsenziemer . . . nicht feste an der Handquehle (hielt) . . . Ich verkettelte selbigen immer auf eine Vorsorge, daß ich entfliehen konnte, ehe er solchen losbekam"191, und ein Jahrhundert später hat sich an dem Züchtigungsrecht des Meisters kaum etwas geändert, wie Rumpf in seinem Handbuch192 „nach allgemeinen und insbesondere preußischen Gesetzen" feststellt: Er durfte nur „die einem Vater vorgeschriebenen Gränzen nicht überschreiten", wobei man sich freilich erinnern muß, welche Grenzen sich die Väter selbst setzten. Fuhse, der die Braunschweiger Polizeiakten durchgesehen hat, kam zu dem Ergebnis, daß es „recht viele jähzornige und rohe Leute" unter den Meistern gab, die ihre Lehrburschen „über Gebühr" prügelten und in ihren Ausdrücken „nicht wählerisch" waren, auch die Meisterfrauen beteiligten sich an den Tätlichkeiten193, und noch 1795 wurden die Kieler Meister durch eine Polizeibekanntmachung ermahnt, „ihre Lehrburschen mit Nachsicht und Schonung zu behandeln, und emstlich gewarnet, sich gegen selbige keiner übertriebenen Strenge und harte Begegnung zu Schulden kommen zu lassen"194. Wenn andererseits die Braunschweiger Lehrjungen in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts bei Prügeln gleich ein Attest des Wundarztes über den Körperbefund beibrachten195, ist das ebenso ein Zeichen einer sich wandelnden Zeit, wie die Handlungsweise von Klöden, der auf eine Ohrfeige hin in den Hungerstreik trat und damit eine bessere Behandlung erreichte190. Der Lehrjunge hatte zwar das Recht, bei Mißhandlungen den Meister zu wechseln187, aber man wird mit gutem Grund annehmen dürfen, daß wirklich sehr triftige Gründe vorgelegen haben müssen, wenn ein solcher Fall von der Zunft anerkannt werden sollte. Trotz der Mißhandlungen, die Probst zu Probst, S. 14. Stock, Chr. L., Grundzüge der Verfassung des Gesellenwesens der deutschen Handwerker in alter und neuer Zeit. Magdeburg 1844, S. 18. 189 Firnhaber, S. 202. 190 Stock, S. 19. 1 9 1 Dietz, S. 24. Vergl. Hähnsen, F., Geschichte der Kieler Handwerksämter. Kiel 1920, S. 407 f. 192 Rumpf, Lehrherr, S. 254. 193 Fuhse, F., „Die Tischlergesellen-Bruderschaft im 18. Jahrhundert und ihr Ende. Nach den herzogl. Polizeiakten". Jb. d. Geschichtsvereins f. d. Herzogtum Braunschweig. 10 1911, S. 3. Vergl. Bruns, A., Die Arbeitsverhältnisse der Lehrlinge und Gesellen im städtischen Handwerk in Westdeutschland bis 1800. Diss. Köln 1938, S. 42; (Sintenis, Chr. F.), Briefe über die wichtigsten Gegenstände der Menschheit. IV Leipzig 1798. S. 114. 194 Hähnsen, S. 177; vergl. auch Hellwag, Fr., Die Geschichte des Deutschen Tischlerhandwerks. Berlin 1924, S. 153. 195 Fuhse, Tischlergesellen-Bruderschaft, S. 2. 198 Klöden, S. 193 ff. 197 Ortloff, J. A., Das Recht der Handwerker. Erlangen 1803, S. 172, 174 f.; Corpus, S. 371. 187
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einem Selbstmordversuch trieben, mußte er die Lehre bei seinem Meister fortsetzen198. Ein Ausbrechen aus dieser Zucht war nicht leicht möglich; denn die Zunftgesetze sahen strenge Strafen für das Entlaufen vor199. Aber nicht nur Zwedcmäßigkeitsüberlegungen standen dieser letzten Konsequenz entgegen. Klöden verdanken wir die aufschlußreiche Feststellung, daß „auf dem entlaufenen Lehrling . . . ein schimpflicher Makel (haftete), der (auch ihm) sehr empfindlich war" 200 , die umso schwerer wiegt, als nach ihr solche Überlegungen sogar noch in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts motivierend waren201. Auf der anderen Seite war es die bereits früher erwähnte Einstellung: „Bin auch nicht anders gezogen worden"202, die über die Schattenseiten des Lehrjungendaseins hinwegsehen ließ. „Am frühen Morgen muß er der Erste in der Werkstatt seyn, und darf sie am späten Abend erst dann verlassen, wenn alle Geräthe und Instrumente an ihren Ort gebracht sind . . . Jeder Fehler wird gerügt; selbst außer dem Hause des Meisters war noch am Ende des letzten Jahrhunderts sein Wille in Bezug auf Aufwand und Sitte beschränkt; nicht sowohl durch buchstäbliche Vorschriften, als durch alte in christlicher Moral begründete Gewohnheiten. Ueberall wo die Lehrburschen mit einem Meister oder Gesellen ihres Handwerks zusammentrafen, mußten sie denselben Ehrerbietung bezeigen", und der Gehorsam galt natürlich auch gegenüber der Meisterin203. In der Praxis führte diese Abhängigkeit oft zu Nebenbeschäftigungen, die in keinem Zusammenhang mit der Ausbildung standen. Anton Reiser „wurde zu den niedrigsten Beschäftigungen gebraucht; er mußte Holz spalten, Wasser tragen, und die Werkstatt auskehren"204; der Buchhändlerlehrling Perthes blieb zwar von „ehrenrühriger Arbeit" verschont, bemerkte aber, daß andere Sdinallen putzen und den Tisch decken mußten205. Aus dem endenden Jahrhundert berichtet Klöden: „Wurde irgend etwas gebraucht, so ward ich dazu beordert. War das Feuer ausgegangen, so hatte ich es wieder anzuzünden . . . Ich hatte zu allen Zeiten alles Nöthige für die Tante und ihre Mutter einzuholen . . . Ich hatte des Mittags Messer und Gabeln zu putzen, sowie das Essen für die Mutter . . . in einem Menagenkorbe von einem Koch zu holen . . . Abends hatte ich die Großmama . . . abzuholen und nach Hause zu führen; dann aber mußte ich mich noch hinstellen und das Schuhwerk für die ganze Familie putzen, die Kleider reinigen etc. Von Zeit zu Zeit hatte ich auch die Tante mit einem großen Korbe auf den Markt zu begleiten" 208 . Daß das keine Ausnahmen waren, zeigt eine Nachricht aus Hamburg, wonach die Meister den Jungen etwas Tüchtiges lernen und „selbigen keine ungebührliche Haus-Arbeit zu198 Probst, S. 44, 46, 52; auch Anton Reiser unternahm einen Selbstmordversuch, Moritz, I S. 159. 199 Ortloff, Recht, S. 177—181; Demme, II S. 291. Die Württembergische Tuchscherer-Ordnung von 1721 erkannte bei böswilligem Entlaufen auf „Thurnstrafe", Hoffmann, Württ. Zunftwesen, S. 14. Eine Kieler Polizeibekanntmachung von 1795 drohte bei eigenmächtigem Austreten aus der Lehre Gefängnisstrafen an, Hähnsen, S. 177; Bruns, S. 47. 2 0 0 Klöden, S. 194. 2 0 1 In Kiel, wo das Lehrverhältnis nach beiden Seiten durch „Schadenbürgen" resp. „Bürgen im Ampt" abgesichert war, hatte auch „ein Lehrling, der auf gütlichem Wege von dem Meister geschieden w a r , . . . ebenso wenig Aussicht in der Stadt weiterzulernen als ein Junge, der ohne Schlichtung des Streits aber aus hinreichenden Gründen von den Bürgen weggenommen war", Hähnsen, S. 177. 2 0 2 Wening, Georg Schweighart, I S. 207; vergl. auch Probst, S. 11. 203 Stock, S. 18 f. Vergl. Hähnsen, S. 180; Keferstein, G. Chr., Unterricht eines Papiermachers an seine Söhne, diese Kunst betreffend (1766). Stolberg 1936, S. 26. 2 0 4 Moritz, Anton Reiser, I S. 83; vergl. auch Bohlens Autobiographie. Hsg. v. Voigt. 2. A. Königsberg 1842, S. 12: „niedrigster Sklave der Hausfrau". 205 Perthes, Fr., Leben. 6. A. Gotha 1872, S. 10. 2 0 6 Klöden, S. 174.
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mutilen" sollten207, zeigen Braunschweiger Polizeiakten, die darüber klagen, daß die Ausbildung im Handwerk vernachlässigt wurde, dafür aber der Junge um so eifriger für Meister und Gesellen einholen, „Küchenarbeit treiben und Kinder wiegen mußte" 208 , oder Afsprungs Polemik gegen „Magdes-Verrichtungen" der Lehrjungen209. Aber nichts illustriert solche Verhältnisse besser als jenes groteske Bild, das die Schilderung des Goldschmiedelehrlings Klöden entwirft, der mittags abwechselnd Schmelze und Essen betreuen muß210, und dessen Reflexionen über seinen damaligen Zustand noch einmal die hier vordringlich interessierenden Punkte vor den Blick bringen: Beide Onkel „hatten in ihren Lehrjahren sehr vieles von dem eben Gesagten thun müssen, das wußte ich aus den Erzählungen meiner Mutter. Was durfte man nun einem Lehrburschen anmuthen und was nicht? Ob darüber irgend eine Vorschrift bestände, wußte ich nicht, und wer sollte sich meiner annehmen? G a b es Vorschriften, so mußten die Grenzen sehr weit gesteckt sein; denn überall, besonders in den kleineren Werkstätten, wurden die Lehrburschen zu allem Möglichen gebraucht, und ich wußte, daß sie eigentlich nur die europäischen Sklaven waren" 211 . Neben der Subordination lassen die Biographien auch recht harte Lebensbedingungen erkennen. Trotz der „wohlfeilen Zeit" (1681) war Dietzens Verköstigung „schmal gnug, alle morgen mit ein Stücklein eitel Brot abgespeiset,undKofent oder Wasser trinken mußte; so ich zu Hause nicht gewohnet war" 212 . Nimmt man die Strafen und Nebenarbeiten dazu, dann erscheint seine Klage, daß sie mit ihm „als einem Vetter, der siebenzig Thaler und ein Bett Lehrgeld gab, so hart umbgingen"213, durchaus berechtigt. Ein Jahrhundert später haben sich die Verhältnisse in dieser Hinsicht nicht geändert. Klöden beschreibt recht eingehend seine Schlafplätze, die entweder aus einem „Holzverschlag auf dem Hausflure" bestanden oder einem Bodenplatz, wo er „nicht viel besser als im Freien" schlief. „Wenn es schneite, mußte ich den Schnee von Kopfkissen und Dedcbette abschütteln; bei starker Kälte fror das Bette vor meinem Munde steif. Das Schlimmste aber waren die Zeiten, wo der ganze Boden voll nasser Wäsche hing". Dieser „empörenden Behandlung" möchte er verschiedene Krankheiten zuschreiben. Außerdem mußte er beim Vergolden „giftige Quecksilberdämpfe einschlucken, weil nicht die geringste Veranstaltung getroffen war, mich dagegen zu sichern", und dabei die vergoldeten Sachen „in kalte Bierneigen bringen und sie dann, ohne sie vollständig trocknen zu können, der kalten Luft und darauf wieder dem Feuer aussetzen". Bald hatte er fast alle Finger erfroren, sie „brachen auf und fingen unter heftigen Schmerzen an zu eitern. Zwar band ich Lappen um, allein täglich mußte ich sie wieder lösen, weil ich ebenso arbeiten mußte, als hätte ich die gesundesten Finger von der Welt. Auch nicht eine Spur des Mitleidens oder Mitgefühls äußerte sich, wohl aber Unwillen über meinen Zustand und Aeußerungen des Ekels" 214 . Ähnliches berichten Probst, der die Schilderung seiner Jugend nicht ohne Grund Handwerksbarbarei überschrieb, oder Anton Reiser, der im Gegensatz zu Klöden bei einem wohlsituierten Meister in die Lehre ging: Er wurde zu den „schwersten und niedrigsten Arbeiten" herangezogen, die „seine Jahre und Kräfte weit überstiegen . . . Er mußte fast alle Woche ein paar207 Griesheim, Chr. L. v., Anmerkungen und Zugaben über den Tractat: die Stadt Hamburg. Hamburg 1759, S. 21. Vergl. Ortloff, Corpus, S. 318; Wening, Georg Schweighart, I S. 185; die württembergische Färber-Ordnung von 1706 verlangte allerdings vom Lehrjungen, „alles dasjenige in Feld und Haus, so dem Handwerk nicht zuwider und nachtheilig ist", zu verrichten, Stahl, W., Das deutsche Handwerk. I Gießen 1874, S. 213. 208 Fuhse, Tischlergesellen-Bruderschaft, S. 3. 2 0 9 Afsprung, S. 78. Vergl. auch Ortloff, Recht, S. 174; Rumpf, Lehrherr, S. 253. 210 Klöden, S. 182. 2 1 1 Klöden, S. 175. 212 Dietz, S. 24, vergl. 28. 213 Dietz, S. 25. 214 Klöden, S. 190 f.
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mal des Nachts mit dem andern Lehrbursdien aufbleiben, um die geschwärzten Hüte aus dem siedenden Färbekessel herauszuholen, und sie dann unmittelbar darauf in der vorbeifliessenden Oker zu waschen, wo zu dem Ende erst eine Oeffnung in das Eis mußte gehauen werden. Dieser oft wiederholte Uebergang von der Hitze zum Frost, machte, daß Anton beide Hände aufsprangen, und das Blut ihm heraussprützte"215. Die Überanstrengung führte dazu, daß er „gefährlich" krank wurde, aber „seine Pflege war nicht die beste. Er phantasirte im Fieber, und lag oft ganze Tage lang allein, ohne daß sich jemand um ihn bekümmerte"216. Daß hier keine Unterschiede der ökonomischen Lage sichtbar werden, zeigt ebenso die Nachricht von Perthes, dem im ungeheizten Kontor seines Prinzipals die Füße erfroren217. Schließlich möchte ich auch nodi kurz auf die herkömmlich nicht eben sanfte Behandlung durch die Gesellen hinweisen, die in dem von Stock erwähnten Gehorsam und der Ehrerbietung des Lehrbursdien auch ihnen gegenüber eine Stütze fand. Weiß, der schriftstellemde Speyerer Fleischer und Ratsherr klagt am Ausgang des Jahrhunderts: „Nicht minder verderblich ist die Behandlung welche Lehrjungen von den meisten plumpstolzen Gesellen erdulden müssen. Dergleichen rohe Menschen fällts immer wieder ein, daß sie als Jungen den Gesellen ihre Schuhe an e i n e m Morgen dreymal hintereinander putzen, und überdieß täglich nach Belieben Ohrfeigen aushalten mußten. Sie schließen also nach ihrer Gesellen-Logik: der Junge muß tüchtig geprügelt werden, der Junge ist mein Schuhputzer, der Junge muß es recht fühlen, welch ein Unterschied zwischen ihm und mir, einem freyen Gesellen ist. Viele dieser elenden Geschöpfe machen sich ein eigentliches Geschäft daraus, den braven Jungen in Abwesenheit des nicht minder braven Meisters teuflich zu quälen218." Ähnliche Einstellungen spiegeln auch ein Teil der Initiationsriten beim Gesellenmachen mit ihren rauhen und rohen Praktiken219. Wie verschieden diese Verhaltensweisen auch motiviert sein mochten, vom Lehrjungen aus gesehen kamen sie alle im Effekt überein und „die süße Hoffnung an die Vollendung der Lehrjahre, an das Gesellenwerden" 220 , die Anton Reiser über seine Misere hinweghalf, ist nur zu verständlich. Hinsichtlich des Sozialisierungsprozesses bleibt festzuhalten, daß auch in dieser Phase das Verhältnis des Jugendlichen zur Autoritätsperson das gleiche blieb — mit all den Moritz, Anton Reiser, I S. 107. Moritz, Anton Reiser, I S. 131 f. 217 Perthes, S. 12. 218 Weiß, J. A., Ueber das Zunftwesen und die Frage: sind die Zünfte beyzubehalten oder abzuschaffen? Frankfurt 1798, S. 313. Meister, die dagegen einschreiten wollten, riskierten „geschimpft" zu werden. — Ein Neuruppiner Buchbindergeselle pflegte einen Lehrjungen, den „dummen Johannes", gegen ein Schmerzensgeld zu prügeln, womit der seine arme Mutter unterstützte, Fraenger, S. 241. 219 Die Bräuche beim Gesellenmachen sind so oft beschrieben worden, daß ich mich hier mit einigen Hinweisen begnügen kann. Eine eingehende Schilderung bei Chr. Gerber, Unerkannte Sünden der Welt. I 5. A. Dreßden 1708, Kap. CI: „Von denen unchristlichen Gebräuchen und Gewohnheiten, die bey den meisten Handwerdcen gefunden werden", S. 1314—1328. Vergl. ferner Gutachten des Reichs-Tags, wegen der Handwercker-Mißbräuche von 1731, IX = Proesler, H., Das gesamtdeutsche Handwerk im Spiegel der Reichsgesetzgebung von 1530 bis 1806. Berlin 1954, S. 63"; Wissell, R„ Des alten Handwerks Recht und Gewohnheit. Berlin 1929, II S. 8 ff.; Krebs, S. 53; Commenda, I S. 247; Klapper, H., Das Zunftwesen der Stadt Guhrau. Diss. Breslau 1936, S. 70; Probst, S. 70—74. 220 Moritz, Anton Reiser, I S. 88. 215
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früher skizzierten Konsequenzen — und am Ende der Lehrzeit mit einer Persönlichkeitsstruktur zu rechnen ist, die jene Momente weitgehend fixiert hat. Diese Lehre vollzog sich in traditionell festgelegten Bahnen. Die Akkumulation langer Erfahrung erlaubte in den meisten Fällen ein bloßes Weiterreichen perfektionierter Praktiken, die weder eine Erweiterung des Horizontes erforderten noch möglich machten. Perthes, der die Geschäftsführung seines Prinzipals kritisieren wollte, urteilte, er treibe alles „handwerksmäßig", nämlich ohne „Gründe" zu berücksichtigen221, wozu Klöden den direkten Beweis liefert: „Obgleich mein Oheim mir noch als einer der am meisten denkenden Arbeiter seines Faches erschien, so war doch über den Grund so vieler Vorschriften von ihm nichts zu erfahren. Was die Pottasche beim Schmelzen, der Borax beim Hartlöten, Kolophonium beim Weichlöten, . . . Glühwachs beim Vergolden etc. wirkten, das war ihm ganz imbekannt. ,Es geht sonst nicht', war die einzige Erklärung, und ist es noch jetzt bei den Meisten."222 Wenn der spätere Direktor der ersten preußischen Gewerbeschule damit die schlechte Ausbildung illustrieren möchte — denn „wo soll aber die Geschicklichkeit herkommen, wenn Alles abgesehen werden muß, wenn nichts gelehrt wird, und der größte Theil der Zeit zu Küchengeschäften, Kinderwarten und Hausknechtdiensten verwandt werden muß" 223 ? — so interessiert hier daran, daß die Lehrzeitunterweisung die Struktur der schulischen durchhielt224 und ein solches Training natürlich bestimmten Sozialmodellen, wie dem des „zugeschriebenen" Status, entgegenkommen mußte. Aber auch in einem näheren Sinne bedeutet die Lehrzeit keine wesentliche Ausweitung des Blickfeldes. Botengänge mochten den Lehrjungen mancher Gewerbe zwar mit der großen Welt in Berührung bringen, aber er überschritt dabei doch kaum die Grenzen, die gemeinhin dem neugierig zuschauenden Kleinbürger gesetzt waren, und im ZunfÜeben spielte er noch keine selbständige Rolle. Sein Lebensraum war, ganz wörtlich, das Meisterhaus, wenn nicht gar nur die Werkstatt. Wenn Riedel schrieb, „die Herren Handwerksgesellen stecken . . . die ganze Woche im Futteral wie die Gesangbücher, und gucken nur an Sonntagen heraus" 2 2 5 , so galt das erst recht für die Lehrjungen; Moritz hat „diese zuletzt ermüdende Einförmigkeit im Leben" und „die Hoffnung auf den Sonntag . . . wo man einen ganzen Tag von der Arbeit feiern, und einmal aus der dunklen Werkstatt vors Thor hinaus in das freie Feld gehen" konnte, geschildert 226 . Andererseits verlieh die Besdiränkung auf die eigene kleine Welt, die vorher weder von der Schule noch später von einer anderen Institution in Frage gestellt wurde, dem Jugendleben — im positiven wie negativen Sinne — eine beträchtliche Stabilität. Wie sie nur zur Ausbildung einer relativ geringen Zahl kaum Perthes, S. 19. Klöden, S. 199 f. 223 Klöden, S. 200. — Auch Henß blieb „selten eine Stunde anhaltend bey der Arbeit, und war den beliebigen Anweisungen der öfters wechselnden Gesellen überlassen": „Ich sah ein, daß ich nichts lernen konnte. Aber wer sollte mir helfen?", Henß, S. 34. 224 Vergl. auch G. F. Schumachers Bericht über seine Schulerfahrungen: „Wir beteten unsere kleinen Verse, aber ein Unterricht über das Warum? und zu Wem? war nicht vorangegangen", Bacherler, S. 150. 2 2 5 Riedel, S. 148. Eine badische Handwerksordnung von 1715 bestimmte, der Lehrling habe sofort nach dem Bad in die Werkstatt zurückzukommen, Schmelzeisen, G. K., Polizeiordnungen und Privatrecht. Münster-Köln 1955, S. 349. 228 Moritz, Anton Reiser, I S. 87. 227 Vergl. Moritz, Anton Reiser, I S. 92; Germershausen, Hausvater, II S. A 4. 221
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konkurrierender Rollen nötigte, so beließ sie den Lehrling im Verband einer Familie, und wenn auch die Behandlung oft nicht den Vorstellungen entsprach, die wir heute hierbei assoziieren, so waren es doch personale Beziehungen, die das Zusammenleben im Haus bestimmten, und, bei aller Berechnung auf Seiten des Meisters 227 , noch nicht ein sachliches Verhältnis mit der Gefahr der Vereinzelung und ihren Begleiterscheinungen 228 , so daß Garve urteilen konnte, der Lehrjunge werde „eben durch seine Häuslichkeit" vor „Ausschweifungen seines Alters . . . bewahrt" 2 2 9 . Damit ist freilich noch nichts über die Sexualbetätigung dieser Jahre entschieden. Wir wüßten sehr wenig über sie, wenn nicht in der zweiten Jahrhunderthälfte Reformer wie Tissot230 auf medizinischer, Salzmann231 auf pädagogischer Seite — um nur die bekanntesten zu nennen — gerade gegen die „heimlichen Sünden der Jugend" anzugehen versucht hätten, die nach letzterem in den 80er Jahren „fast allgemein" waren. Selbstverständlich ist solchen Behauptungen gegenüber, denen fast apokalyptisch anmutende Schilderungen ihrer Folgen parallelgingen, Vorsicht angebracht. Immerhin teilt Salzmann, der bekannte, es würde ihn „sehr niederschlagen, wenn (er sich) überzeugen könnte, daß die Natur dazu verleite", das Ergebnis der Befragung eines nicht näher charakterisierten „Schullehrers" mit, wonach in 6 Jahren von 94 Schülern 49 ein Geständnis ablegten (6 weitere, die von ihren Kameraden beschuldigt worden waren, konnten nicht befragt werden), und er bezweifelte, daß die übrigen alle unschuldig gewesen wären232. Manche Autoren wollten eine Zunahme der Onanie in den letzten Jahrzehnten bemerkt haben, wobei sich Sintenis auf das Zeugnis „vieler wackerer Alter" berieP33, doch ist in allen Fällen der kulturkritische Unterton nicht zu überhören. Mir ist nichts bekanntgeworden, was diese These stützen könnte. Wie Gerber in seiner Jugend, als er sich „unter gemeinen Leuten aufgehalten, offt von Handwercks-Gesellen gehöret (hatte), wie sie mit ihren Händen gebuhlet"234, so berichtet hundert Jahre später ein von Salzmann zitierter „Handwerksmann" als Meinung von Gesellen, daß „das Laster gesund sey, daß dadurch die bösen Feuchtigkeiten weggingen"235. Gerade wenn man jene „Häuslichkeit" des Lehrlings und Gesellen ins Auge faßt, wird man von vornherein — selbst wenn es nicht von gelegentlichen autobiographischen Bekenntnissen bestätigt würde238 — vermuten dürfen, daß solche Ansätze im Untersuchungszeitraum: S. 281, 303 f. Garve, Chr., Vermischte Aufsätze. I Breslau 1796, S. 50. 230 Tissot, S. A. D., Die Onanie, oder Abhandlung über die Krankheiten die von der Selbstbefleckung herrühren. Ubersetzung der 6. A. in Sämmtliche zur Artzneykunst gehörige Schriften. II Leipzig 1780. 231 Salzmann, C. G., Ueber die heimlichen Sünden der Jugend. 1785 u. ö. — Vergl. etwa noch Faust, B. Chr., Wie der Geschlechtstrieb der Menschen in Ordnung zu bringen und wie die Menschen besser und glücklicher zu machen. Braunschweig 1791; Vogel, S. G., Unterricht für Eltern, Erzieher und Kinderaufseher: wie das unglaublich gemeine Laster der zerstörenden Selbstbefleckung am sichersten zu entdecken, zu verhüten und zu heilen. Stendal 1786; (Sintenis, Chr. F.), „Uber die sicherste Methode, deutsche Knaben vor der Epidemie des Zeitalters, Negeriungengreuel genannt, zu bewahren". Briefe, I S. 64—122. Weitere Literatur bei Thalhofer, F. X., Die sexuelle Pädagogik bei den Philantropen. Diss. Jena 1907. 2 3 2 Salzmann, Heimliche Sünden, S. 61, 13: Alter der Knaben 9—15 Jahre, die „meisten 10—13". Onanie vor Pubertät: Zückert, S. 201; Salzmann, Heimliche Sünden, S. 227. 233 Sintenis, Briefe I, S. 78: seit der Zeit des Siebenjährigen Kriegs. 234 Gerber, Unerkannte Sünden, II, 2 S. 187. 235 Salzmann, Heimliche Sünden, S. 228. 236 Hamann, S. 165. 228
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Praktiken auch in dieser Phase als Notlösung beibehalten wurden, was ebenso angesichts der „eingezogenen" Lebensweise der Mädchen unterstellt werden kann237. Daß allerdings trotzdem selbst bei Lehrlingen nicht nur mit autoerotischer Betätigung zu rechnen ist, machen Probsts Erlebnisse deutlich238; mit dem Sexualverhalten der Gesellen, vor allem derjenigen, die auf ihrer Wanderschaft in die Großstädte kamen und dort nicht mehr allzu starker hausväterlicher und nachbarschaftlicher Kontrolle unterworfen waren, werden wir uns noch zu beschäftigen haben. Der Übergang in den Gesellenstand brachte ja überhaupt, nach den Worten von Moritz, „eine neue große Epoche ins Leben" 2 3 9 , deren Ungebundenheit nicht nur in den Augen des jungen Handwerkers in merklichem Kontrast zu allem Vorherigen stand. Unter der hier interessierenden Perspektive läßt sich indessen wenig Allgemeingültiges aussagen und ich möchte nur insoweit auf sie eingehen, als ihre Züge nicht in das bisher entworfene Bild zu passen scheinen. Je nach Eintrittsalter und der nach dem Gewerbe wechselnden Lehrzeit variierte das Datum jenes Ubergangs, fiel aber in jedem Fall in ein Alter, in dem der Sozialisierungsprozeß noch nicht abgeschlossen war. Der Gesellenstand umfaßte jedoch auch jene Erwachsenen, denen der Erwerb der Meisterschaft nicht oder noch nicht gelungen war. Selbst wenn man die „ewigen" Gesellen abzieht 240 , ist also mit beträchtlichen Altersunterschieden zu rechnen. Natürlich interessieren hier nur die jüngeren Jahrgänge, und es wäre in jedem Fall zu fragen, welche Gruppe man für bestimmte Erscheinungen des Gesellenlebens verantwortlich machen darf. In ihm lassen sich nun leicht zwei Schwerpunkte erkennen, einmal das Herbergsleben und der „gute" oder „blaue Montag" 241 mit Trinkgelagen, jugendlicher Zoterei und Kraftprotzentum 242 , das sich auch in der Öffentlichkeit breitmachte 243 — Erscheinungen, die ebenso zum Bild des Gesellen gehören wie die vielbeschriebenen formenhaften Reglementierungen seiner Zusammenkünfte 244 — und zum andern die Ausstände und Aufstände, die das ganze Jahrhundert 2 3 7 Almanach für Aerzte und Nichtaerzte 1785, „Onanie", S. 239—250, S. 240: „ansehnliche Handelsorte, wo es sich fast bis zur unbezweifelten Gewisheit bringen läßt, daß drei Theile der erwachsenen Mädgens diesem stummen Laster huldigen". Vergl. Schäffer, J. Chr. G., Versuch einer medicinischen Ortbeschreibung der Stadt Regensburg. Regensburg 1787, S. 45: „Jünglinge treiben es mehr als die Mädchen", in Regensburg „nicht so allgemein . . . als an manchem anderen Ort". 2 3 8 Probst, S. 54 f. 2 3 8 Moritz, Anton Reiser, I S. 88. 2 4 0 Riedel, S. 43; Rupprecht, J. F., Ludwig Roberts Wanderungen als Handwerksbursdi im nördlichen Teutschlande. Halle 1805, S. 48; Bruns, S. 214; Fürth-Janssen, S. 327: Gesellen, die 50 Jahre in der Bruderschaft. 2 1 1 Vergl. S. 167. 242 Henß, S. 144. 2 4 3 Adelmann, G., Uber die Krankheiten der Künstler und Handwerker. Würzburg 1803, S. 51; vergl. auch die Reibereien und Schlägereien zwischen Gesellen und Studenten: Voigt, Chr., Unterhaltungsstoffe aus dem Geschichts- und Sagenkreis der Stadt Göttingen. Güttingen 1882, S. 70 f.; Weitzel, S. 127, dazu Schmitt, F., Das Mainzer Zunftwesen und die französische Herrschaft. Diss. Frankfurt 1929, S. 43 ff.; Ott, Passau, S. 284; Hess. Bl. f. Vk. 64 1965, S.72; Beer, J., Sein Leben, von ihm selbst erzählt. Hsg. v. Schmiededce. Göttingen 1965, S. 93: Leipziger Student ersticht 1700 „einen Tratt-Zieher, darum, daß ihm derselbe nachgejuchzet". 2 4 4 Vergl. etwa Seiler-Gesellen Handwerks-Gewohnheit. Budissin 1735, in Fischer, G., Volk und Geschichte. Kulmbach 1962, S. 321—360.
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Möller, Kleinbürgerliche Familie
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durchziehen und von denen später noch zu sprechen sein wird. Jenes laute und rauhe Gehabe zeigt so deutliche Parallelen zu Burschenschaftlichem245, daß ich mich mit dem Hinweis begnügen kann. Auch bei den Gesellenaufständen sind solche Züge nicht zu übersehen. Die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Motive wird man bei den unzufriedenen älteren Gesellen zu suchen haben, deren im Laufe des Jahrhunderts immer mehr schwindende Aufstiegschancen sie in Gegensatz zu den Meistern und die deren Privilegien schützende Obrigkeit brachten246. Wenn bestimmte Erscheinungen des Gesellenlebens mit alterstypischen Verhaltensweisen in Zusammenhang gebracht wurden, soll damit keineswegs das Spezifische des Gesellenlebens verkannt werden. Über die Wanderschaft etwa wird noch zu handeln sein. Aber so unumgänglich all das für das äußere Bild des Handwerkertums auch ist, ergeben sich daraus doch keine wesentlichen Abwandlungen der am Ende der Lehrlingszeit aufgebauten Persönlichkeitsstruktur: Sobald der Geselle nach einer Reihe von Jahren Meister geworden war, ist von dem jugendlichen Überschwang und Protest dieser Übergangszeit nichts mehr zu spüren. Er traktiert seine Lehrburschen, wie es ihm sein Lehrherr vorexerziert hat und zeigt ein Gesamtverhalten, das dem früher entwickelten Sozialisierungsmodell entspricht. Wenn Geliert am Beginn des Jahrhunderts als „vornehmste" Tugenden „Ehrfurcht und Liebe gegen Gott; Mäßigung und Beherrschung der Begierden; Gerechtigkeit und Liebe gegen die Menschen, unsre Brüder; Fleiß und Arbeitsamkeit in seinem Berufe; Gelassenheit und Geduld im Unglücke; Demuth, Vertrauen auf die göttliche Vorsehung und Ergebung in ihre Schicksale"241 herausstellt, so dominiert die Passivität genau wie bei Lorenz, wenn er als Ziel der „Bildung des gemeinen Mannes" „brauchbare Bürger, dienstfertige Menschen, fromme Hausväter und Hausmütter, arbeitsame, mäßige und getreue Unterthanen, friedliebende Nachbaren"248 nennt, und dem entspricht auch die geschichtliche Verwirklichung im Untersuchungszeitraum: der Kleinbürger als der brauchbare Untertan.
2 4 5 Organisierte städtische Burschenschaften, die eine emanzipierende Rolle hätten spielen können, sind mir nur aus der Schweiz bekanntgeworden: Manz, W., Volksbrauch und Volksglaube des Sarganserlandes. Basel-Straßburg 1916, S. 6; Lutz, A., Jünglings- und Gesellenverbände im alten Zürich und im alten Winterthur. Diss. Zürich 1957; vergl. Hoffmann-Krayer, E., „Knabenschaften und Volksjustiz in der Schweiz". Kleine Schriften zur Volkskunde. Basel 1946, S. 124—159. 2 4 8 Vergl. S. 302. 2 4 7 Geliert, Moralische Vorlesungen, S. 20. 2 4 8 Lorenz, Bürgererziehung, S. 5.
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III. Familie und soziale Umwelt Wir haben den Lebensweg eines Kleinbürgers bis zu dem Punkt verfolgt, wo er nicht nur in der Lage war, sondern aucii von ihm erwartet wurde, eine Hausvater-Rolle zu übernehmen. Waren es im letzten Kapitel Anforderungen seitens der Eltern-Familie bzw. parallellaufende der Meister-Familie, die ihn in die Umwelt einzupassen suchten, so sah er sich nun sehr weitgehenden Ansprüchen dieser Umwelt gegenüber, die seine künftige Familie betrafen.
1. Kirche Die Kleinbürger des 18. Jahrhunderts waren daran gewöhnt, die Eheschließung als eine kirchliche Angelegenheit anzusehen. Daran änderte auch die Reformgesetzgebung aufgeklärter Fürsten in der zweiten Jahrhunderthälfte nichts wesentliches, schon deswegen nicht, weil sie es, was die Form betraf, beim Alten beließ, und dieses Herkommen beim gemeinen Mann in die kirchliche Formung des Lebens im ganzen eingebettet war. Auf die religiösen Aspekte werde ich erst später eingehen. Im Augenblick mag der Hinweis genügen, daß der äußere Zuschnitt des Alltagsverhaltens in hohem Maße von den Modellen, welche die kirchliche Interpretation des „Wortes Gottes" vorgab, bestimmt war, und auch die Minoritäten — die den einen oder anderen Lehrsatz der Kirche oder sogar sie als Institution in Frage stellten, wie manche Sektierer mit der Forderung einer „inneren Kirche" oder die Aufgeklärten des Jahrhundertendes — blieben in ihrem Wirkungsbereich, erkannten die Bibel, wie Meister Tiedc, als „Grundbuch des Hauses und Lebens" 1 an und ließen ihre Kinder christlich erziehen. Innerhalb dieses christlichen Umkreises erhielt aber die Ehe darüberhinaus durch die zeremonielle und institutionelle Verankerung in Aufgebot, Einsegnung, Kirchenbucheintrag, und nicht zuletzt durch die „Ehepolizei", jene fraglose Verbindlichkeit, die kulturellen Selbstverständlichkeiten eignet. Die Normativität dieses Faktischen diesseits aller theologischen Unterschiede wird man vor jeder Frage nach der dogmatischen Begründung stets zu bedenken haben, denn die Kenntnis, daß die Kirche diesen Einfluß erst in relativ junger Zeit gewonnen hatte, kann bei dem durchschnittlichen Kleinbürger nicht vorausgesetzt werden. Die Einstellung der katholischen Kirdie zur Ehe ist bekanntlich entscheidend von Eph. 5, 32 bestimmt, wo die Vulgata „mysterion" mit „sacramentum" übersetzt und das „ein Fleisch sein" des vorangegangenen Verses die Einheit von Christus und Kirche illu1
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Köpke, S. 7. 67
striert. Daneben steht bei Paulus das Ideal ehelosen Lebens: Das Geschlechtliche verfällt der Abwertung des „Fleisches", die Ehe wird zu einer Präventivanstalt. Der Apostel gibt hier zwar nur missionarische Kasuistik, aber diese in eschatologischer Erwartung geschriebenen Sätze wirkten auch weiter, als der Fortgang der Geschichte die Christen zwang, sich in der Welt einzurichten. Die einschlägigen Versuche der folgenden Jahrhunderte brauchen hier nicht im einzelnen aufgeführt zu werden 2 . Sie bewegen sich zwischen der platonisch-manichäischen Tradition mit ihrer Verurteilung von Sinnlichkeit und Sexualität als Erbsünde auf der einen Seite und der Betonung des Sakramentscharakters der Ehe auf der anderen, der im Tridentinum schließlich dogmatisch fixiert wurde. Dieser doppelte Aspekt — und die hierin angelegte Spannung — bleibt auch für die kleinbürgerliche Ehe des 18. Jahrhunderts konstitutiv, nicht nur für die katholische. Luther verneinte zwar den Sakramentscharakter der Ehe, gewann aber durch die „Weltheiligung" und den damit verbundenen Gedanken der Bewährung in dieser Welt eine neue Grundlage für ihre Einschätzung: Sie wird zum christlichen „Beruf" und in der Folge zur „Keimzelle aller protestantischen Kultur und . . . Schule alles soziologischen Verhaltens in Fürsorge und Dienstverpflichtung wie in Gehorsam und Pietät" 3 . Ehe ist in dieser Sicht, wie alle „weltliche Hantierung", eine Aufgabe des Christen — sofern sie wie jene im Glauben vollzogen wird — und unterliegt damit freilich auch einer „weltlichen" Beurteilung, so sehr, daß Luther den ehelichen Stand auch deswegen preisen kann, daß er dem Einzelnen größere Pflichten auferlege und ihn zwinge, an seine Nebenmenschen zu denken 4 . Damit sind allerdings nur einige Momente der nicht einheitlichen Eheauffassung Luthers angedeutet, die sich als Nebeneinander von theologisch- und sozial-reformerischen Ansätzen darstellt 5 . So kann er nicht nur die Ehe als ein bürgerliches „Geschäft" auffassen, sondern auch die Sexualität in ihrer Eigengesetzlichkeit anerkennen. Als Theologe steht er jedoch noch durchaus unter dem Eindruck der augustinischen Auffassung des Geschlechtlichen, sieht unter Berufung auf Psalm 51, 7 auch im ehelichen Verkehr ein Zeichen der Erbsünde, und so bleibt ihm „die E h e . . . im Grunde doch nur frenum et medicina peccati, eine Konzession an die Sünde, bei der Gott durch die Finger schaut"6. Die entscheidende Differenz zwischen Ehe und Hurerei, die „einander so gleich" sind „was das Werk anbelangt", besteht jedoch darin, „daß in der Ehe ist Gottes Wort und Einsetzung und Ordnung" 7 . Das spätere Luthertum hat die Ableitung der „Lust" aus der Erbsünde nicht aufgegeben, aber seine Bedenken weniger geteilt und demgegenüber die göttliche Einsetzung betont 8 . Diese Einsetzung vor dem Sündenfall band aber die Ehe an die Kirche und warf ähnliche Probleme auf wie die, denen sich die katholische Tradition gegenübersah. Seit dem 12. Jahrhundert unterstand die Ehe der geistlichen Gerichtsbarkeit. Die kirchliche Reglementierung trat noch stärker in den Vordergrund, als das Tridentinum im Eherecht den neuen Weg „der Umkleidung des Konsenses der Ehepartner mit 2
Vergl. für den für die Ausbildung des kirchlichen Eherechts wichtigen Zeitraum Ziegler, J. G., Die Ehelehre der Pönitentialsummen von 1200—1350. Regensburg 1956. 3 Troeltsch, E., Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie. Gesammelte Schriften IV. Tübingen 1925, S. 199. 4 Vergl. Holl, K., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte I: Luther. 6. A. Tübingen 1932, S. 259. 5 Seeberg, R., „Luthers Anschauung von dem Geschlechtsleben und der Ehe und ihre geschichtliche Stellung". Luther-Jahrbuch. VII 1925, S. 77—122; Eiert, W., Morphologie des Luthertums. II München 1932. 6 Troeltsch, E., Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Tübingen 1912, S. 558. 7 Nach Weber, M., Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung. Tübingen 1907, S. 284. 8 Troeltsch, Soziallehren, S. 558.
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zwingenden Rechtsförmlichkeiten" beschritt9. Wenn andererseits die Reformation die Ehe zu einer „weltlichen" Angelegenheit gemacht hatte, war das nicht gleichbedeutend mit einer Säkularisation. Sie blieb im kirchlichen Bereich, nur war durch die Verwerfung des kanonischen Rechts eine Leerstelle entstanden, die ausgefüllt werden mußte. Das führte dazu, eherechtliche Artikel in die Kirchenordnungen aufzunehmen und weiter zur Einrichtung von Konsistorien, deren Befugnisse in Ehesachen denen der geistlichen Gerichte entsprachen. Man scheute sich zwar, von Sakrament zu sprechen, doch in der Sache war man davon nicht weit entfernt: „Nach dem kanonischen Recht wurde die Ehejurisdiction von der Kirche vindicirt, weil die Ehe ein Sacrament war, bei den Protestanten wurde sie beinahe zum Sacrament, weil die Kirche die Ehegerichtsbarkeit ausübte10." Auf die Frage nach dem „Zweck" der Ehe hat die katholische Kirche, nachdem Augustin das bonum prolis an die erste Stelle der Ehegüter gesetzt hatte, eine klare Antwort. Die biblische Grundlage bot Gen. 1,28. Diese Auffassung wurde vor allem durch Thomas von Aquin mit Hilfe der aristotelischen Philosophie systematisiert und blieb die herrschende Lehre: „Der Ehe erster Zweck ist die Erzeugung und Erziehung der Nachkommenschaft" (CIC 1013 § l) 1 1 . Die früher skizzierten Positionen führten aber auch im Protestantismus zu ähnlichen Aussagen, besonders in seinen asketischen Richtungen. Auch hier hat das Geschlechtsleben keinen Zweck in sich selbst, sondern dient der Fortpflanzung von Gesellschaft und Kirche12. Durch das Drängen auf „innerweltliche Askese" wird einerseits, wie Schelsky betont, „der Laienstand in sexuellen Fragen stärker asketisiert als im Katholizismus, und es entwickelt sich eine spezifisch protestantische Prüderie, auf der anderen Seite wird gerade der materialistisch entwertete Geschlechtsakt zur sozialen Pflicht erhoben, wie es in der kalten Zweckrationalität des Ausspruches Franklins: ,Never use venery except for health and offspring!' zum Ausdruck kommt"13. Wo man sich auf protestantischer Seite um eine systematische Behandlung dieser Fragen bemühte, zeigt sich ebenfalls kein prinzipieller Bruch gegenüber der Vergangenheit. So wie Gerhard im beginnenden 17. Jahrhundert in den Loci theologici weithin der scholastischen Tradition folgt, in seinen Ausführungen „de caussa finali conjugii" dementsprechend nach „Dei gloria" die „sobolis procreatio" der „familiaris societas" voranstellt und „amoris et conjunctionis inter Christum et ecclesiam praefiguratio" und „scortationis evitatio" folgen läßt 14 , so begegnet im Untersuchungszeitraum auch bei MosheimMiller die Kinderzeugung als „vornehmster Endzweck" vor der „gemeinschaftlichen Hilfeleistung beyder Gatten" 15 . Diese Hinweise machen deutlich, daß hüben wie drüben im wesentlichen die gleichen Leitbilder vorgegeben waren, deren Differenzen sich auf der Ebene der Handlungsanweisungen für den gemeinen Mann noch weiter verringern. 9 Conrad, H., „Das tridentinische Konzil und die Entwicklung des kirchlichen und weltlichen Eherechts". Das Weltkonzil von Trient. Hsg. v. Schreiber. I Freiburg 1951, S. 297—324, 306. 1 0 Friedberg, E., Das Recht der Eheschliessung. Leipzig 1865, S. 192. 1 1 Vergl. Schmaus, M., Katholische Dogmatik. IV, 1 6. A. München 1964, S. 797. Es ist mehr nur von geistesgeschichtlichem Interesse, wenn F. Arnold darauf hinweist, daß daneben, besonders in der franziskanischen Tradition, auch die Gattengemeinschaft betont wird, „Das eheliche Geheimnis in Theologie und Seelsorge". Universitas. 2 1947, S. 1153—1165, 1162; „Sinnlichkeit und Sexualität im Lichte von Theologie und Seelsorge". Beiträge zur Sexualforschung. 1952, S. 1—12. 1 2 Troeltsch, Soziallehren, S. 951. 1 3 Schelsky, H., Soziologie der Sexualität. Hamburg 1955, S. 103. 1 4 Gerhard, J., Loci theologici. Hsg. v. Cotta. Tübingen 1762—1789, De coniugio. XV S. 401 ff. 1 5 Mosheim, J. L. v., Sittenlehre der Heiligen Schrift. Achter Theil verfasset von D. Johann Peter Miller. Göttingen und Leipzig 1767, S. 63, 66, 221.
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E h r e G o t t e s . Das Trachten und Handeln des wahren Christen soll in majorem gloriam Dei ausgerichtet sein. Wenn das vom 1. Korintherbrief schon für Essen und Trinken gefordert wird, so gilt diese Forderung in noch weit höherem Maße für das familiale Zusammenleben, „soll doch eines ieden Christen Haus- und Ehestand so geführet werden, daß Gottes Haus gebauet werde"1®. Zunächst garantiert die Familie als Zeugungsgruppe die conservatio ecclesiae in einem äußerlichen Sinne. Darüberhinaus ist sie aber „der Keim und das Vorspiel der Kirche, insofern die religiöse Hausgemeinschaft der eigentliche Zusammenhalt der Familie ist und in der Hausandacht und der Katechismusunterweisung durch den Hausvater das kirchliche Leben zunächst gepflanzt wird" 17 ; denn „ein wahrer Hausvater soll den Seinigen zu ihrem wahren Seelenheil... behülflich seyn" 18 . Die nächste Konsequenz aus dieser Verantwortung und Aufgabe ist natürlich, daß der Hausvater selbst ein christliches Leben führt: „Niemand kann eine GOtt gefällige Haushaltung führen, als der selbst auch für seine Person GOtt wohl gefällt"19, und die weitere, daß das Eheleben die rechte Ordnimg habe. Ich beschrieb früher diese Ordnung als die des Hauses und habe in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der „Haustafeln" hingewiesen, deren Forderungen durch die Predigten über den christlichen Hausstand immer wieder vor den Blick gebracht wurden. Hier interessiert nicht so sehr die Tatsache, daß das Haus als die im christlichen Bereich übliche und normale Form des familialen Zusammenlebens galt, sondern daß ihre Ordnung als eine von Gott gebotene vorgestellt wurde, und wenn Tit. 2,5 von den Frauen gefordert wird, „sittig, . . . keusch, häuslich, gütig, ihren Männern Untertan" zu sein (eine Forderung, die etwa Zschokkes Stunden der Andacht wiederholen20), „auf daß nicht das Wort Gottes verlästert werde", so umschreibt diese Warnung eben nur die Tatsache, daß jede Abweichung von jener Ordnimg Sünde war, was die Auffassung der Ehe als Bild der Liebe Christi zur Kirche unter anderer Perspektive noch einmal vor Augen stellte. K i n d e r z e u g u n g . Die Erzeugung von Kindern ist für die katholische Tradition wie für den protestantischen Systematiker der erste „Zweck" der Ehe. Zur Erfüllung dieser Aufgabe sind die Gatten, wie Seeberg Luthers Auffassung interpretiert, dann aber auch „sittlich verbunden" 21 . Ehelicher Verkehr und Zeugung werden also zu einer Verpflichtung, oder, in die Alltäglichkeit übertragen, zu dem, was man „die eheliche Pflicht zu nennen (pflegt)" 22 . Luthers lapidarer Satz über die Frauen: „Ob sie sich aber auch müde und tzu todt tragen, das schadt nicht, laß sie nur tod tragen, sie sind drumb da" 2 S , ist, aller apologetischen Verharmlosung oder Heroisierung zum Trotz 24 , nichts weiter als eine auf die Spitze getriebene Konsequenz, die sich selbst ad absurdum führt. Bogatzky, S. A 4. Troeltsch, Soziallehren, S. 556. 1 8 Bogatzky, S. 14. 1 9 Bogatzky, S.3. 2 0 Zschokke, Stunden der Andacht, S. 60. 2 1 Seeberg, 1. c., S. 105. — Für Mosheim-Miller war das, „was man insgemein eheliche Pflicht nennt,... in der That wahre Pflicht", 1. c., S. 224. Einige Jahrzehnte später polemisierte Sintenis gegen sie als „Handwerksgebrauch der Eheleute", Familie 1, S.41. 2 2 Zedlers Universal Lexicon, „Ehestand", Sp. 369. 2 3 Weimarer Ausgabe. 10, 2 S. 301. 24 Rade, M., Die Stellung des Christentums zum Geschlechtsleben. Tübingen 1910, S. 56; Seeberg, 1. c., S. 106. 16
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Dieser Ansatz gab aber der Kirche, die sich in der Welt eingerichtet hatte, nicht nur die Möglichkeit, die Ehe gegen jede Spielart asketischer Spiritualität zu decken, sondern auch die, der „an sich" bösen Sexualität einen Ort anzuweisen. Indem sie sie nur als Mittel anerkannte, wurde ihre Problematik theoretisch weitgehend neutralisiert. Im Banne der Zweck-Mittel-Relation ist diese Lösung auch „vernünftig", wie die Ausführungen in Zedlers Universal-Lexikon illustrieren, die sich auf Wolfis Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen stützen. Danach darf man „die Lust, welche nur ein Mittel ist, wohin die Lust des Beyschlaffes gleichfalls gehöret", logischerweise nicht „wider die Natur zu einem Endzweck machen", und daraus folgt, „daß da der Beyschlaff nur ein Mittel sey zur Erzeugung derer Kinder, . . . daß das Mittel nicht weiter als zur Erreichung des End-Zwecks müsse angewendet werden" 25 . Das Sexuelle wird also einfach weggeschickt, wenn es seine Pflicht, die eheliche Pflicht, getan hat, und während Franklin doch immerhin noch die Gesundheit als Argument zuließ, beantwortet jener Artikel den Hinweis auf den „Samenüberfluß" des Mannes allen Ernstes mit der Gegenfrage, ob denn der nicht durch übermäßiges Essen und Trinken und „verderbte Begierde des Willens" hervorgerufen werde. So sehr jene Sätze auch an der Sache vorbeiphilosophieren, so gewichtig bleiben sie als Ansprüche, denen sich der Einzelne gegenübersah. Die Diskrepanz zwischen Sollen und Alltagsverhalten verdeutlicht jede Geburtenstatistik. Auch wenn man die längeren Stillzeiten in Rechnung stellt, herrscht im kleinbürgerlichen Bereich keineswegs die permanente Schwangerschaft vor, die eine Konsequenz der kirchlichen Forderung gewesen wäre., Das Tabu, das auf dem Sexuellen lastete, ließ jedoch Fragen der Empfängnisverhütung nicht zur Sprache kommen, und so sah sich der Einzelne einem Dilemma gegenüber, dessen Auflösung man vom gemeinen Mann um so weniger erwarten darf, wenn es z. B. auch in Basedows Practischer Philosophie für alle Stände ungelöst bleibt, wo einerseits betont wird, daß „das Gesetz der Natur" eine Umarmung verbiete, „wenn die Absicht dabey ist, die Zeugung zu verhindern", und der Autor dreißig Seiten später mit einer „Absprache" über die Kinderzahl liebäugelt 26 . G a t t e n g e m e i n s c h a f t . D i e Begründung der Verbindung von Mann und Frau lieferte Gen. 2,18. Die Bibel beschreibt sie als „ein Fleisch sein". Diese Formel läßt sich differenzieren in „communicatio animi, corporum et externorum" (Gerhard). Ich brauche hier auf Einzelheiten nicht weiter einzugehen und begnüge mich mit dem Hinweis, daß diese „Gemeinschaft" unter der Perspektive des früher beschriebenen patriarchalen Familienmodells gesehen werden muß. Damit ist schon die Warnimg ausgesprochen, in dieses Verhältnis ohne weiteres „Liebe" zu projizieren. Sie besteht vielmehr in „mutuum auxilium in rebus tarn divinis quam humanis" (Gerhard), und die communio animi zielt auf die geistig-geistliche Gemeinschaft, von der Paulus spricht. Diese Sätze bilden zusammen mit den Beispielen christlichen Ehelebens Bestandteile der christlichen „Hintergrundserfüllung" (Gehlen) des kleinbürgerlichen Lebens. Zu dieser dauernden Einwirkung traten direktere, sobald Spannungen das „wohl Begehen" (Lossius) der Eheleute in Frage stellten. Die Einflußmöglichkeiten der Kirche waren im 18. Jahrhundert nicht gering. Sie reichten von der seelsorgerischen Ermahnung über die Kirchenstrafe bis zur Entscheidungsgewalt in Scheidungsangelegenheiten. Als der protestantische Akzise-Einnehmer Klöden mehr und mehr dem Trunk verfiel und das „häusliche Leben immer trüber 25
Zediere Universal Lexicon, „Ehestand", Sp. 366; Wolff, Gesellschaftliches Leben,
§23. 28
Basedow, J. B., Practische Philosophie für alle Stände. 2. verb. A. Dessau 1779, II S. 5, 37. 71
wurde", verwarnte ihn nicht nur sein Vorgesetzter, sondern auch „der Inspektor, als sein Beichtvater", und hielt ihm „vom religiösen Standpunkte aus seinen Fehler vor" 27 . Über dem in diesem Falle gebrochenen Besserungsversprechen darf man aber nicht übersehen, daß es sich hier nicht um die Einmischung eines Pfarrers in die privaten Angelegenheiten einem Gemeinde-Mitgliedes handelt, sondern daß ein Beichtvater zu seinem Pfarr-Kind spricht, ein „Pastor", der noch dazu als „Geistlicher" wie als „Gelehrter" zu dem kleinen Kreis der Honoratioren jener Kleinstadt gehörte, welche die Obrigkeit repräsentierten oder doch von ihrem Prestige profitierten, und man wird dann einigermaßen ermessen können, was eine solche pastorale Ermahnung in der Regel auch im protestantischen Bereich bedeutete, vor allem natürlich in Orten wie Preußisch-Friedland, das, wie Klöden bemerkt, noch 1795 das „Gepräge des siebzehnten Jahrhunderts trug" und im Zuschnitt des Lebens und den Anschauungen „der Reformationszeit nahe stand" 28 . Einen biographischen Beleg aus dem katholischen Bereich bietet Bronners Biographie 29 . Ernstere Fälle behandelten die Konsistorien, vor die „nach Vorschrift des canonischen Rechts, welches hierinne auch in den protestantischen Kirchen, nach der Denkungsart der damaligen Rechtsgelehrten, . . . beybehalten worden ist, . . . alle Ehesachen, das heißt, alle diejenigen Sachen, welche eine zu vollziehende oder zu trennende Ehe betreffen, (gehören), und es können daher Ehegelöbnisse oder bereits vollzogene Ehen nicht anders als vom Consistorio getrennt werden" 30 . Wenn der Autor 1794 weiter bemerkt, daß die Ehe doch ein „bürgerlicher Contract" sei, „dessen Rechte und Verbindlichkeiten von weltlicher Obrigkeit untersucht und beurtheilt werden sollten"31, so war schon früher daraus etwa in Hamburg, Preußen, auch im josephinischen Österreich die Konsequenz gezogen worden 32 . Von Grenzfällen, wie Impotenz, abgesehen, in denen auch die katholische Kirche eine Annullierung zuließ, blieb den Katholiken allerdings nur die Trennung von Tisch und Bett, falls die Ehe scheiterte. Im protestantischen Bereich war zwar die Scheidung freigegeben, aber bis ins letzte Drittel des Jahrhunderts doch nur als allerletzter Ausweg, und so behielt man, durchaus im Einklang mit Luther, die Trennung von Tisch und Bett bei, um die Partner vor übereilten Schritten zu bewahren, und übte, auch etwa durch die diskriminierende Behandlung Geschiedener bei einer Wiederverheiratung, einen gewissen mäßigenden Druck auf die Scheidungskandidaten aus33. Diese Maßnahmen waren natürlich in den unteren Ständen am effektivsten, die einmal noch stärker in der christlichen Sphäre verankert waren und zum anderen auch nicht die ökonomisch-sozialen Möglichkeiten besaßen, sich ihrem Einfluß zu entziehen. In Dietzens Lebensbeschreibung liegt eine detaillierte Beschreibung eines kleinbürgerlichen Ehescheidungsprozesses aus dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts vor. Das Bild dieser unglücklichen Ehe wurde bereits früher in einigen Punkten skizziert. Die Spannungen nahmen schließlich so zu, daß ein mißverstandener Scherz die Frau zu Handgreiflichkeiten verleitete, die ihr von Dietz reichlich zurückgezahlt wurden: „Lief gleich zu ihren Freunden. Nahm einen Advokaten an und verklagte mich bei dem Consistorio und wollte geschieden sein und alimenta, fein viel, haben. Aber es wurde nichts draus". In der Folgezeit wird Dietz auf ihre Klage hin mehrmals vor 27
Klöden, S. 140. Klöden, S. 71; vergl. Allgemeine deutsche Bibliothek. 90 1789, S. 159: Zittau „ein halbes Jahrhundert" zurüdk, wie „so viele Reichsstädte". 29 Bronner, I S. 9. 30 (Göbel, J. S.), Ursprung, Geschichte und Verfaßung der Consistorien in den Chursächsischen Landen. Ein Beytrag zur Statistik von Chursachsen. Freyberg 1794, S. 37 f. 31 Göbel, 1. c., S. 38. 32 In anderen Gebieten hielt sich der kirchliche Einfluß bis zur Französischen Revolution und darüber hinaus. Vergl. Conrad, H., „Die Grundlegung der modernen Zivilehe durch die französische Revolution". Z. d. Savigny-Stiftung f. Rechtsgesch. Germ. Abt. 67 1950, S. 336—372. 33 Vergl. Hofmann, J. A., Handbuch des teutschen Eherechts. Jena 1789, S. 185. 28
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das Konsistorium zitiert, das aber nur erklärt: „Es sollte die Frau . . . ferner nichts wider des Manns Willen vornehmen . . . und in allem sich, als einer tugendsamen, christlichen Ehefrau gebühret, bezeigen; der Mann aber, als mit dem schwachen Werkzeuge, Geduld haben, und nicht gleich mit Schlägen dreinschlagen", und beide mit der Mahnung „friedlich zusammenzuleben" nach Hause schickt. „Dergleichen Abschied haben wir wohl dreimal miteinander bekommen". Erst auf erneute Streitereien — und wohl unterstützt von irgendeiner illegalen Einflußnahme im Konsistorium — wird die Trennung von Tisch und Bett für ein Jahr ausgesprochen. Beide halten diese Trennung aber nur 18 Wochen aus, und als ein zurückgekehrter Konsistorialrat beim Aktenstudium keine „rationes" findet, ergeht schließlich ein Reskript: „Es hätte das Konsistorium die Ehescheidung des Johann Dietz und seiner Frau nochmals in Erwägung gebracht und die Versöhnung unter ihnen beiden zu intentieren gemeinet", was nach einem weiteren Verschleppungsversuch auch geschieht34. Wenn man von den für die damalige Zeit nicht ungewöhnlichen Unregelmäßigkeiten obrigkeitlicher Personen absieht, wird doch das Bestreben deutlich, selbst im Falle körperlicher Mißhandlung durch christliche Ermahnung ausgleichend zu wirken und Eheschwierigkeiten den Partnern eher als göttliche Prüfung zuzumuten35, als die Ehen auf Dauer zu trennen. Die niedrigen Scheidungsziffern88 sprechen dafür, daß die Kirche diese Anschauung — zumindest in den Klein- und Mittelstädten — bis zum Ende des Jahrhunderts durchsetzen konnte. V e r m e i d u n g d e r U n z u c h t . Die früher erwähnte Kirchenzucht richtete sich in der Praxis des Untersuchungszeitraums zu allererst gegen die Unzucht, die voreheliche wie eheliche, und die Kirchenbuße, die ursprünglich ein Versöhnungsakt sein sollte, hatte sicli in einen Strafakt verwandelt. Freilich wachten audi andere Institutionen, wie in diesem Kapitel noch darzustellen sein wird, über die Sittlichkeit in sexueller Hinsicht, aber während Obrigkeit und Zunft Verfehlungen nur als Vergehen anprangern und verfolgen konnten, transformierten sie sich in kirchlicher Sicht in Sünden, und wenn man weiter bedenkt, daß die Kirchgemeinde damals weithin mit der Öffentlichkeit zusammenfiel, wird man das Gewicht solcher Kirchenstrafen ermessen können. Die GretciienAffären der Zeit wurden erst in ihrem Umkreis zu Tragödien. Die Kirche verfügte über mannigfache Zuchtmittel. So wurde eine nicht mehr jungfräuliche Braut ohne Titulierung aufgeboten, ebenso der Bräutigam, sofern er nicht den höheren Ständen angehörte, aber selbst dann in Hamburg „höchstens noch als wohlachtbar" tituliert37, wobei man sich vergegenwärtigen muß, was ein Titel in der damaligen Zeit bedeutete38. Zu den gelinderen Strafen gehörte noch, daß es dem Stuprator und der Geschwächten verboten war, Kränze zu tragen: „dann der Krantz ist ein Zeichen der unbefleckten Jungferschaft"39. Empfindlicher war die „an vielen Orten" geübte Praxis, daß solche Brautleute zur Trauung mit Strohkränzen zu erscheinen hatten. Sofern sie nicht, wie im Hohenlohischen, überhaupt im Gefängnis Dietz, S. 249, 255 f., 277, 281. Vergl. das Gespräch der beiden Bürgerfrauen über ihre „unartigen" Männer in Callenbachs Allmanach: „Wir müssen . . . Gedult tragen / biß es Gott ändert / unsere Gedult zu crönen . . . Last uns unsere Marter leiden / so lang es dem Herren wird gefällig seyn", S. 155. 38 Vergl. S. 301. 37 Finder, S. 54. 38 Vergl. Kap. V, 1. 39 Beck, J. J., Tractatus de eo, quod justum est circa stuprum. Von Schwäch- und Schwängerung der Jungfern und ehrlichen Wittwen. Nürnberg 1743, S. 242; Gerber, Chr., Historie der Kirchen-Ceremonien in Sachsen. Dresden und Leiptzig 1732, S. 582. In Hamburg durfte sie sich nicht mit „fliegenden Haaren" trauen lassen, Finder, S. 70. 34
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getraut wurden40, mußten sie doch der „Ehre (des öffentlichen Kirchgangs) entbehren, und gantz allein in der Stille sich in die Kirche begeben, woselbst sie ohne vorhergehende Ceremonien . . . mit ernstlicher Vorhaltung ihrer getriebenen Unzucht und begangenen Falles von dem Pfarrer copulirt und zusammengegeben wurden" 41 , u. U. „vor einem gantz besonderen Altar" 42 , was noch 1785 aus Schwabach berichtet wird43. Diese Strafen wurden noch durch die eigentliche Kirchenbuße übertroffen, die je nach Ort im Laufe des Jahrhunderts verschiedene Formen annahm44. Wie Gerber berichtet, mußte „ein Sünder, der die Gemeine öffentlich geärgert, in öffentlicher Versammlung neben den Altar, oder unter die Cantzel, oder sonst an einen Ort der Kirche, wo er von denen meisten kan gesehen werden, so lange niederknien . . . , bis der Prediger von der Cantzel dem Volck zu wissen gethan, daß diese gegenwärtig büssende Person ihre bisher getriebene Boßheit erkennet und hertzlich bereuet habe" 45 . „Boot Sitten" nannte man in Hamburg diesen Vorgang, der Brautleute erwartete, die sich Ehrenbezeichnungen beim Aufgebot erschlichen hatten 48 . Nach einem Bericht aus Berlin wurde 1716 „eine Zeit her das neue Edict wegen der Kirchenbuße stardc gehalten, so daß (sich) öffters 2 oder 3 alhier an einem Sonntage, wiewohl bürgerlichen Standes nur, demselben in öffentlicher Gemeinde unterwerfen müßen" 47 . Während die niederrheinisdie reformierte Kirche schon 1700 die Kirchenbuße auf ein „bloßes Aufstehen in dem gewöhnlichen Sitze und Bezeugung des Leidwesens" einschränkte und auch diese Form bald durch die Namensnennung von der Kanzel herab abgelöst wurde, bis man sich schließlich mit einer Buße vor dem Presbyterium begnügte48, wurde die öffentliche Kirchenbuße in Kurhessen offiziell erst 1786 abgeschafft48, und noch am Ende des Jahrhunderts mußten in Rottenburg a. N. Gefallene an drei Sonntagen links und rechts der Kirchtür stehen, die Frau mit Strohzöpfen und -kränz, der Mann mit einem Strohmantel; in Konstanz standen sie unter Aufsicht des Amtsknechts in der Kirche50. Wie die Beispiele zeigen, traf die Kirchenbuße beide Geschlechter und nahm auch auf den Stand nur bedingt Rüdcsicht51. Immer mehr wandelte sie sich aber in eine Polizeistrafe, die nach Vermögen und Stand zu manipulieren war. In jedem Fall tangierte sie jedoch die Frau härter als den Mann. Auch wenn man von den Fällen absieht, in denen der Vater unbekannt war oder die Mutter im Stich ließ, mußte sie ja vor aller Augen ihre Schande austragen, was natürlich Verzweiflungshandlungen provozieren konnte. Diese Konsequenz wird von der zeitgenössischen Polemik gegen die Kirchenstrafe stark herausgestellt. Es komme vor, bemerkt Beck, „daß diese Kirchenbuß viele traurige und betrübte Würdcungen nach sich ziehet, und die Leuthe, die annoch auf ihre Ehre sehen, und solche zu erhalten suchen, zur desparation treibet, und aus Furcht vor der Kirchen-Buß, sie hemachmalen zu den grösten Verbrechen, zu Kinder-Mord, Abtreib- und Vertuschung der Leibes-Frucht, Hinweglegung der Kinder, ingleichen zu Meineid, Aenderung der Religion, zur Flucht aus ihrem Vaterland, Verlassung ihres Beck, S. 245, 244. Gerber, Kirchen-Ceremonien, S. 583. Vergl. Hofmann, Eherecht, S. 184. 4 2 Beck, S. 244. 4 3 Journal von und für Deutschland. 1785,1 S. 149. 4 4 Vergl. Ramecicers, J. M., Der Kindsmord in der Literatur der Sturm- und DrangPeriode. Diss. Amsterdam 1927, Kap. III „Die öffentliche Kirchenbusse". 4 5 Gerber, Kirchen-Ceremonien, S. 755. — Vergl. Amaranthes, Art. „Kirchenbuße". 4 6 Finder, S. 54. 4 7 Buchner, E., Religion und Küche. München 1925, S. 138. 4 8 Goebel, M., Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westfälischen evangelischen Kirche. III Coblenz 1860, S. 40. 4 9 Bachmann, K., Geschichte der Kirchenzucht in Kurhessen von der Reformation bis zum Ausgange des XVIII. Jahrhunderts. Diss. Marburg 1910, S. 67. 5 0 Birlinger, A., Volkstümliches aus Schwaben. II Freiburg 1862, S. 216, 215. 5 1 Vergl. Losch, Ph., Zwei Kasseler Chroniken des 18. Jahrhunderts. Kassel 1904, S. 11; Buchner, E., Das Neueste von gestern. II München 1912, Nr. 127. 40
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Amts und Dienstes, und anders dergleichen mehr, veranlasset"62. Audi dort, wo — wie in Preußen — die öffentliche Kirchenbuße „derjenigen Personen, so contra sextum sich vergangen", in der ersten Jahrhunderthälfte abgeschafft worden war, blieben die weniger drastischen Formen bestehen, und wenn 1765 der Clevischen Synode bedeutet wurde, es sei den Pfarrern „unbenommen, ihrer Schuldigkeit gemäß die Unveränderlidikeit des sittlichen Verbots der Hurerei ihren Hörern zu predigen"53, wird man bei den überschaubaren Verhältnissen kleiner Städte auch bei solchen Predigten eine gerichtete Wirkung annehmen dürfen. Jedenfalls ist bis weit in die zweite Hälfte des Jahrhunderts mit den von Bede kritisierten Folgen zu rechnen, und es wirft ein bezeichnendes Licht auf die damalige Situation, wenn 1786 eine Zuschrift des Journals von und für Deutschland die sinkende Zahl der Kindsmorde damit zusammenbringt, daß die Pfarrer nun nicht mehr von der Kanzel „ausschändieren", noch „schwer in Geld strafen" durften".
Hier, wie in anderen Fällen, muß man sich eben stets vor Augen halten, daß sich Indifferentsten oder Aufgeklärte zwar innerlich bis zu einem gewissen Grad von der kirchlichen Tradition lösen mochten, aber als Kleinbürger nicht deren Institutionalisierungen durchbrechen konnten, in denen ihr Leben eingebettet war, um so weniger, als sie in vielfältiger Weise mit anderen Bereichen der sozialen Umwelt verzahnt waren. Diese Mehrfunktionalität der alten Institutionen und ihr Ineinandergreifen werden bald noch deutlicher hervortreten und die Zähigkeit, mit der im Kleinbürgertum an dem skizzierten Eheleitbild festgehalten wurde, verständlicher erscheinen lassen.
2. Obrigkeit Unbeschadet des theologisch-kirchlichen Anspruchs war natürlich die Ehe auch dort Gegenstand obrigkeitlichen Interesses, wo sie nicht, wie in der LutherNachfolge, ausdrücklich als ein bürgerliches Geschäft bezeichnet worden war, insofern ja sexuelle oder eheliche Vergehen nicht nur eine private Un-Zucht, sondern einen Angriff auf die Ordnung schlechthin darstellten bzw. so betrachtet werden konnten. In einer Zeit, in der der Staat daranging, alle Lebensbereiche zu reglementieren und dirigieren, gesellten sich hierzu bevölkerungspolitisch-ökonomische Überlegungen neben sozialpädagogischen und humanitären Reformabsichten, in welche die Familie in ihrem Doppelaspekt von „Haus" und Zeugungsgruppe einging. Noch am Ende des Untersuchungszeitraums fragt Sintenis in seinem Familienbuch: „Ist denn nicht auch sogar der Staat noch auf den heutigen Tag blos ein Zusammenflus von vielen häuslichen Geselschaften?"1 Wenn dieser Satz, soziologisch gesehen, auch falsch ist, so traf er doch in erster Näherung die Außenseite der damaligen Verhältnisse. Das „Haus" war in Theorie und Praxis noch immer ein wichtiges Element des Staatsaufbaus, und mochte der 5 2 Bede, S. 460. — Vergl. Roggendorf, „Lehrsätze der Polizeywissensdiaft" Nr. 27; dagegen Moser, J., Sämtliche Werke IX. Oldenburg—Hamburg 1958, „Also ist die Kirchenbuße so ganz nicht abzuschaffen", S. 232—237. 5 3 Goebel, 1. c., S. 40. 5 4 Journal von und für Deutschland. 1786, II S. 56. 1 Sintenis, Familie 1, S. 19.
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absolutistische Staat seine Befugnisse auch einschränken, so stellte er es doch als solches bis ins ausgehende Jahrhundert nicht prinzipiell in Frage. Es folgt aus dem Modell des „ganzen Hauses", daß der Hausvater nicht nur das „selbstverständliche" Regiment über seine Familie im engeren Sinne ausübte, sondern auch bis zu einem gewissen Grade für das Wohlverhalten aller Mitglieder seines Hauses verantwortlich war 2 . Dementsprechend erstreckte sich das schon erwähnte Züchtigungsrecht nicht nur auf die Lehrlinge, sondern auf alle Hausangehörigen: „Was das Recht eines HausVaters in Restraffung und Züchtigung seiner Bedienten betrifft, so . . . (ist er) befugt, dieselben, so wohl in Worten als in der That zu züchtigen, indem das Hauswesen ohne solche Erinnerungen und Bestraffungen nicht wohl fort gesetzt werden kann" 3 . Jene Verantwortlichkeit war aber nicht allein eine rechtliche, sondern vor allem eine moralische, die allenfalls mit Grenzfällen in den Rereich juristischer Kodifizierung langte, doch gerade diese in der Sitte fundierte Ordnung stellte einen wesentlichen Faktor obrigkeitlicher „Polizey" dar, und ein Augsburger Mandat gegen „schädliche Rücher" von 1785 wandte sich mit gutem Grund an „alle Rürger, H a u s v ä t e r und Gutgesinnte"4. Pflichten und Gerechtsame waren im Untersuchungszeitraum noch weitgehend an Haus und Familie gebunden. In Hamburg blieb z. R. „von der Stellung eines bewaffneten Bürgers . . . kein Haus frey" 5 . „Zu den mehresten Häusern" vor allem kleinerer Städte gehörten Brau- und Schankgerechtsame6, wie ja schon am Beispiel des Barbiers Dietz' sichtbar wurde, daß die Ausübung mancher Gewerbe an Häuser gebunden war8 und die Gerechtigkeiten demzufolge auch käuflich erworben werden konnten9. Wo im 18. Jahrhundert die Nachbarschaften noch obrigkeitliche Funktionen ausübten, wie in den Brunnengemeinden, handelte es sich in der Regel um den Zu2 Vergl. Schmelzeisen, Polizeiordnungen, S. 72; Freyberg, M. Frh. v., Pragmatische Geschichte der bayerischen Gesetzgebung und Staatsverwaltung in polizeilichen und staatswirthschaftlichen Gegenständen seit den Zeiten Maximilian I. II Leipzig 1836, S. 153; „Verzeidiniß der kleineren Policeystrafen zu Gernsheim" von 1776, Rergius, Landesgesetze, VII. Alphabet S. 347. 3 Zedlers Universal Lexicon, „Haus-Wirth", Sp. 921. 4 Valjavec, F., Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770 bis 1815. München 1951, S. 315; von mir gesperrt. B Griesheim, S. 36. 6 Vergl. Wölfling, Rriefe, S. 134; Garve, S. 408; Eisenhart, E. L. A., Versuch einer Anleitung zum Teutschen Stadt- und Rürgerrechte. Braunschweig 1791, § 218 ff.; Eschwege 1769 (Hessische Ortsbeschreibungen 1). Hsg. v. Eckhardt. Marburg—Witzenhausen 1959, S. 33; Moldenhauer, G., Das Göttinger Rraurecht in seiner geschichtlichen Entwicklung. Diss. Göttingen 1958, Literatur. Ausschank: Wölfling, Rriefe, S. 134; Roller, Durlach, S. 350, 273 f.; Wetter 1783, S. 33. 7 Vergl. S. 27. 8 Vergl. Nicolai, Reise, IV S. 483; Ott, S. 36; Jesse, W., Das Braunschweiger Bäckerhandwerk. Braunschweig 1940, S. 32; Dalmer, P., Das Innungswesen der Stadt Zerbst bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Diss. Halle 1910, S. 60. 9 „Der Werth sämmtlicher Handwerker-Gerechtigkeiten in den preußischen Staaten allein, beträgt nach Abzug der Grundstücke und Mensilien, welche zuweilen mit den Gerechtigkeiten verbunden sind, gewiß viele Millionen. Es giebt Städte, worin eine Häckergerechtigkeit drittehalbtausend Thaler, eine Schuhmachergerechtigkeit zwölfhundert Thaler gilt", Hoffmann, Zunftverfassung, S. 168 f. Weitere Angaben über die Preise solcher Gerechtigkeiten bei Nicolai, Reise IV, S. 483; Ziekursch, J., Reiträge zur Charakteristik der preußischen Verwaltungsbeamten in Schlesien bis zum Untergang des friderizianischen Staates. Breslau 1907, S. 24.
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sammensdiluß von Hausbesitzern, mindestens aber Haushaltsvorständen. Recht aufschlußreich ist ein Artikel eines Kreuznacher Brunnenbuches aus dem 18. Jahrhundert: „Das Brunnenmeisteramt soll der Ordnung nach von Haus zu Haus fortgefahren werden, sollten etwa zwey oder drey in einem Haus sich als Lehner (Mieter) befinden, so sollen die zwey oder drey in dem Haus wohnenden anstatt einem Brunnenmeister angesehen werden" 10 . In Heidelberg wurden die Brunnen, soweit sie nicht im Besitz der Stadt waren, „von kleineren Gemeinschaften, den ,Brunnengemeinden' unterhalten . . . Sie umfaßten jeden, der im Umkreis der Brunnengemeinde ein Haus besaß" 11 . Die Meisenheimer Brunnenordnung spricht von Brunnengenossen oder „Häusern" 12 . Für Essen wurde festgestellt: „Vollgültige, stimmberechtigte Mitglieder waren . . . nur die Hausbesitzer. Die Nachbarschaft haftete nicht an der einzelnen Person, sondern am Hause. Daher in (einer) Notnachbarschaft . . . der Name: Das güldene Kreutz, und ebenso in einer andern jener Notnachbarschaften: die Vette Henne und Geilinghausens Haus. So verstehen wir, daß auch die Stadt für ihre Häuser einen gewissen Beitrag an die betreffenden Nachbarschaften zahlen mußte. Dasselbe geschah auch anderswo, z. B. in Coesfeld . . . Nur in seltenen Fällen trat, wenn der Hauseigentümer nicht in seinem Hause wohnte, der betreffende Mieter an seine Stelle. Im allgemeinen aber sah man solche ,Mußnachbarn' nicht für voll an" 13 . Neben der Wasserversorgung war die gegenseitige Hilfe bei Feuersgefahr ein naheliegendes Interesse dieser Hausbesitzer. In Coesfeld bildeten die Nachbarschaften „für ihren Bezirk die Feuerwehr und hatten ihre eignen Brandgeräte" 14 ; in Essen kümmerten sich die Nachbarschaften ebenfalls um das Feuerlöschwesen15. Wenn der Erwerb des Bürgerrechts auch nicht unbedingt Hausbesitz voraussetzte16, so war die Vollbürgerschaft doch noch teils mit dem Verheiratetsein mehr oder weniger gekoppelt. Bächtold, der Schweizer Verhältnisse im Auge hatte, bemerkt, „daß der junge Mann, welches Alter er auch hatte, erst durch die Heirat mündig, zur Besetzung eines öffentlichen Amtes wählbar und auch aller genossenschaftlichen und politischen Rechte teilhaftig wurde" 17 . Auch ohne durchweg rechtlich fixiert zu sein, begegnet 10
Christmann, E., „Brunnennachbarschaften und Quellenverehrung". Oberdtsch. Z. f. Vk. 17 1943, S. 86—105, 87. 11 Christmann, 1. c., S. 90. Vergl. Blesch, E., „Die Ueberlinger Nachbarschaften". Sehr. d. V. f. Gesch. d. Bodensees. 38. Heft 1909, S. 106—126, 107; Voelcker, S. 37 f.; Lenhardt, H., Feste und Feiern des Frankfurter Handwerks. Frankfurt 1950, S. 101 f. 12 Zink, A., „Über Brunnengenossenschaften". Oberdtsch. Z. f. Vk. 8 1934, S. 135. 13 Imme, Th., „Die Nachbarschaften im Bereich des ehemaligen Stifts Essen", Z. d. V. f. rhein. u. westfäl. Vk. 15 1918, S. 33—74, 42; Coesfeld: Sommer, J., „Westfälisches Gildenwesen". Arch. f. Kulturgeschichte. VII 1909, S. 393—476, 449, 450, 452. Zum Unterschied von Erbnachbam und Heuerlingen in Bocholt, Krins, F., Nachbarschaften im westlichen Münsterland. Münster 1952, S. 83. — Uber „die Nachbarschaften der Stadt Andernach" Ruland, J., Nachbarschaft und Gemeinschaft in Dorf und Stadt. Düsseldorf 1963, S. 90 iL, Erteilung von Zuzugsgenehmigung, S. 134. 14 Sommer, 1. c., S. 458. 15 Imme, 1. c., S. 46; Vergl. Becker, A., „Eine Heidelberger Sondergemeinde". Oberdtsch. Z. f. Vk. 10 1936, S. 156 f., die aus einer Brunnengemeinde zu Beginn des 18. Jahrhunderts auch zu einer „Spritzengemeinde" wurde; Lappe, J., Die Bauerschaften und Huden der Stadt Salzkotten. Deutschrechtliche Beiträge. VII 1912, S. 365—446, Feuerpolizei S. 440, städtische Verwaltungsbezirke S. 442. —• Alsfeld hatte vier Nachbarschaften, die den Viehtrieb regelten, Jäkel, H., Ackerbürger und Ausmärker in Alsfeld/Oberhessen. Frankfurt 1953, S. 37 f. 16 Uber Hausbesitz der Kleinbürger S. 116. •—-In Berlin verpflichtete Hausbesitz zum Erwerb des Bürgerrechts. Eine Reihe von Innungen hielt streng darauf, niemanden ohne Bürgerrecht als Meister aufzunehmen, Kaeber, E., Die Bürgerbücher und die Bürgerprotokollbücher Berlins von 1701—1750. Berlin 1934, S. 148", 152®. 17 Bächtold, H., Die Gebräuche bei Verlobung und Hochzeit. Basel—Straßburg 1914, S. 261.
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diese Koppelung in Durlach: „Das Bürgerrecht, mit dem die Erwerbimg des Meistertitels verbunden wurde, konnte ordentlicherweise nicht vor dem 25. Jahre erworben und angetreten werden. Ein Meister mußte aber, wenigstens bis zum Jahre 1761, in welchem die Beschränkung aufgehoben wurde, verheiratet sein. Daher war für die Durlacher Bürgersöhne diese Altersstufe das gewöhnliche Heiratsalter, in dem sie die Hochzeit und die Übernahme des Bürgerrechts möglichst nahe, oft auf den gleichen Tag zusammenrückten, so daß in den Bürgerbüchern der Stadt der Ausdruck ,hat Hochzeit gehalten' an vielen Stellen völlig gleich bedeutend mit dem Antritt des Bürgerrechts gebraucht, ja sogar, wenn auch selten, für letzteres allein gesetzt wurde, selbst wenn die Ehe laut Kirchenbuch an einem anderen, als dem im Bürgerbuch angegebenen Tage geschlossen wurde18." Die Familie stellte jedoch nicht nur faktisch ein Organisationselement des Staates dar, sondern gab auch das ideologische Schema für das Verhältnis von Obrigkeit und Untertanen ab. Im Vertrauen auf die bessere Einsicht des Land e s v a t e r s sollte das L a n d e s k i n d die Weisungen der Obrigkeit entgegennehmen 19 , und umgekehrt konnte dann auch die landesväterliche Fürsorge die Eingriffe in Eheschließung und Familienleben motivieren. Das Verbot, bzw. die Erschwerung der Armenehe im Gefolge der Reichspolizeiordnung von 1530, die in vielen deutschen Ländern auch noch im 18. Jahrhundert bestand oder sogar neu eingeführt wurde 20 , berührte direkt allenfalls die ärmsten Schichten des Kleinbürgertums. Da andererseits aber beim Tode des Ernährers die Familie „der Stadt zur Last (fiel), welche sich bei Bürgerfamilien der Unterhaltspflicht nicht entziehen durfte", war z. B. Durlach bestrebt, „daß nur solche Neubürger angenommen wurden, die durch ihr Vermögen eine Gewähr dafür boten, daß sie nicht schon selbst die Unterstützung der Stadt würden in Anspruch nehmen müssen" 21 . Die hieraus resultierende Forderung eines Mindestvermögens hielt sich das ganze Jahrhundert hindurch. In einem Mandat des Fuldaer Bischofs, „das nöthige Vermögen und die Ertheilung der Vermögensscheine bey den Verehelichungen der Unterthanen betreffend", heißt es: „So ändern Wir die in dem älteren Gesetz vom löten Junius 1715 auf dem Lande auf 200 fl. und in den Städten auf 300 fl. festgesetzte Vermögenssumme dahin ab, daß für die Zukunft in unserer Residenzstadt . . . 350 fl., so1 8 Roller, Durlach, S. 150 f. Verbindung von Meisterschaft und Bürgerrecht auch in Hersfelder Ordnungen: Demme, II S. 266, 294. 1 9 Der Augsburger Rat „intendierte väterlich", wie man sich nach Stand ehrbar verhalten solle, Herre, S.20; vergl. Wolff, Gesellschaftliches Leben, §435, S.463. Der Anzeiger. Ein Tagblatt zum Behuf der Justiz, der Polizey und aller bürgerlichen Gewerbe, lobte 1792 ein Braunschweig-Lüneburgisches Edikt: „So spricht ein guter Hausvater mit seinen Kindern, wenn er ihnen Nachricht giebt, daß es ihm gelungen ist, eine Verbesserung des Haushaltes zu bewirken", S. 730. 20 Vergl. Nicolai, Reise, VI S. 566; Roller, Durlach, S. 149. — Zum Armenwesen im 18. Jahrhundert Winkelmann, A., Litteratm- der öffentlichen Armen- und Krankenpflege in Teutschland. Braunschweig 1802; Weber, F. B., Staatswirthschaftlicher Versuch über das Armenwesen und die Armenpolicey mit vorzüglicher Hinsicht auf die dahin einschlagende Literatur. Göttingen 1807; Koch, Ch., Wandlungen der Wohlfahrtspflege im Zeitalter der Aufklärung. Diss. Erlangen 1933; Fischer, Gesundheitswesen, II S. 99 ff.; zahlreiche Untersuchungen über die Armenpflege einzelner Städte, etwa in den Arbeiten aus dem Forschungsinstitut für Fürsorgewesen in Frankfurt, 1927 ff.; Kraus, A., Die Unterschichten Hamburgs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1965. 2 1 Roller, Durlach, S. 327. Vergl. auch Mauersberg, S. 149.
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denn in den beyden Vorstädten . . . so wie auch in allen Unseren Munizipalstädten 300 fl., und am Dorfe 250 fl. veranschlagt werden sollen"22. 1740 bestimmte eine Handwerker-Verordnung in Ansbach: „Jeder neue Meister in der Residenz soll, ohne Einrechnung der Mobilien, 4-3-2 und wenigstens, 150 fl inclusive seiner Braut-HeyrathGuth besitzen: Dagegen in denen Land-Städten das baare Vermögen, nach Beschaffenheit seines treibenden Handwercks, und dazu erforderlichen Verlags, auf resp. 3-2 bis 100 fl gesetzet . . . wird"23. Die Freiburger Granatschleifer mußten ein „eigen Feur und Rauch" besitzen, ehe sie heiraten und sich selbständig machen durften24. Als der Diener Sachse seine „weder mehr junge, noch vermögende" Geliebte heiraten mußte, da die Liebschaft nicht ohne Folgen geblieben war, verlangte man von ihm den Nachweis von 300 Talern, wenn er sich in der Residenz Weimar niederlassen wolle25, und im ausgehenden Jahrhundert sprach Weiß von einem „Bürgerschilling von 500 Gulden, . . . eine Summe, die viele nur auf dem Papier (hatten)"26. Die obrigkeitliche Fürsorge und Vorsorge beschränkte sich aber keineswegs auf den Vermögensnachweis. In zahlreichen Schweizer Städten hatten sich die Pfarrer im Auftrag der Obrigkeit nicht nur zu erkundigen, ob der zukünftige Hausvater eine Bibel, sondern auch, ob er Ober- und Untergewehr besaß 27 . In Konstanz und Rottweil mußte sich der Bräutigam in entsprechender Bewaffnung den Behörden vorstellen und in Konstanz noch ein Examen in Lesen, Schreiben und Rechnen über sich ergehen lassen28. Handelt es sich hierbei um teils recht spezielle Beispiele aus dem süddeutschen Sprachgebiet, so spricht das folgende dafür, daß bis weit in die zweite Jahrhunderthälfte hinein die Heirat als ein Vorgang angesehen wurde, der obrigkeitlicher Regelung unterworfen sein sollte. 1773 wiesen die „Städte des Fuldastroms" ihre Vertreter für den Landkommunikationstag an, diese Frage zur Sprache zu bringen; denn diejenigen jungen Männer, „so dem Felsen des Soldatenstandes ausweichen" wollten, fielen „in den Strudel, wenn sie, ohne Verstand und ehe sie reif zur Heirath, auch verständig zum Haushalt und geschidct, Kinder zur Ehre Gottes zu zeugen, dem Staat zu Nutzen und zu ihrer eigenen Wohlfahrt aufzuziehen, sich ein Weib nehmen". Es seien so „viele heilsame, ökonomische Verordnungen" erlassen worden, allein die, „wie die Menschen vernünftig heirathen sollen", fehle noch20. Dieses Kunststück ist zwar offensichtlich jener Ständeversammlung nicht gelungen, doch ein Landesvater wie Karl Friedrich von Baden hielt es für die Pflicht seiner Hofkammer, als „natürliche Vormünderin" der Untertanen diese Journal von und für Deutschland. 1789, II S. 268, 270, 271. Ortloff, Corpus, S. 417. In Heilbronn hatten die Meister 200 fl nachzuweisen, Hussong, S. 95; Meersburg verlangte 1730 150 fl, 1791 300 fl, Widemann, B., Die Verfassung und Verwaltung der Stadt Meersburg in der Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Diss. Freiburg 1956, S. 66; 300 fl machte auch Alsfeld zur Bedingung, Fröhlich, G., Das Zunftwesen in Alsfeld bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Diss. Frankfurt 1935, S. 8; 1723 wurden in dem Städtchen Königsee nur 50 fl gefordert, Walch, V S. 199. 24 Fischer, W., Handwerksrecht und Handwerkswirtschaft um 1800. Berlin 1955, S. 45. Der Lehrling mußte ein Vermögen von 300 Gulden nachweisen. 2 5 Sachse, S. 137. Freilich nahm man es mit der Durchführung nicht mehr so genau: „Ganz offenherzig gestand ich, daß ich so viel nicht besaß'; man entließ mich, und bis jetzt hat mir der hochedle Stadtrath in der Art nichts weiter abgefordert." 2 8 Weiß, S. XII. — Vergl. zur Größenordnung die Vermögensübersicht im folgenden Kapitel. 27 Bächtold, S. 255 f., 259. 2 8 Birlinger, A., Aus Schwaben. II Wiesbaden 1874, S. 283 f.; Laufs, A., Die Verfassung und Verwaltung der Stadt Rottweil 1650—1806. Stuttgart 1963, S. 24, hier außerdem Auflage, drei Obstbäume zu pflanzen und Nachweis eines Feuerkübels; letzteres ebenfalls in Meersburg, Widemann, 1. c., S. 67. 29 Demme, III S. 58. 22
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selbst „gegen ihren Willen zu belehren, wie sie ihre eigene Haushaltungen einrichten sollten"30. Die einzelnen Phasen der Eheschließung boten diesen Reglementierungstendenzen ebenfalls reichlich Ansatzmöglichkeiten, die ausgiebig genutzt wurden. Die „Churbraunschweigische Verordnung für das Herzogthum Lauenburg wider den unmäßigen Aufwand bey Verlöbnissen, Hochzeiten, Kindtaufen und Begräbnissen, vom 4ten Febr. 1774" 31 , um eine herauszugreifen, regelt in § 1 die „Anzahl der Personen und Gerichte" bei „Verlöbnissen in Städten", in § 2 die „Braut- und Bräutigams Geschenke"; § 4 wird „bey Hochzeiten in den Städten, nach drey Classen die Anzahl der Gäste bestimmt"; § 5 begrenzt die Hochzeiten auf einen Tag; § 6 handelt von „gewissen Gerichten. Wie lange die Mahlzeiten dauren, und die Gesellschaft beysammen bleiben soll"; § 7 von „der Hochzeitsmusic in der Stadt"; § 8 verbietet „das Verschleppen der Eßwaaren und Getränkes"; ebenso den „Zulauf der Kinder und Gesindes"; § 9 beschränkt „am Kirchgangstag die Anzahl der Personen und Gerichte ohne Music"; § 17 schließlich betrifft die Hochzeitsgeschenke. Wie weit solche Verordnungen befolgt wurden, läßt sich nur von Fall zu Fall entscheiden, in Frankfurt z. B. sollen sie wenig beachtet worden sein und mehr und mehr nur für die unteren Stände gegolten haben32, die sich aber in Hamburg auch durch die Schnüffeleien des „Köstenkiekers" nicht von Übertretungen abhalten ließen33. Zu solchen weitgehenden Eingriffen in den äußeren Ablauf des Heiratens gesellten sich schwerwiegendere, welche die Regelung der Eheschließung selbst im Laufe des Jahrhunderts mehr und mehr in die Hände der Obrigkeit übergehen ließen. In den protestantischen Territorien hatte die landeskirchliche Ordnung hierzu den Grundstein gelegt. Waren schon die Superintendenten als solche eigentlich Staatsbeamte, so galt das in noch stärkerem Maße für die in Ehefragen zuständigen Konsistorialräte, was den Obrigkeiten zumindest indirekten Einfluß verschaffte34. Dazu kam, daß in der Diskussion über das Verhältnis von Verlobung und Trauung die Mehrzahl der protestantischen Theoretiker unseres Zeitraums zwar an der Notwendigkeit der kirchlichen Trauung festhielt, aber ebenso sich dagegen aussprach, sie gehöre zum Wesen der Ehe 35 . Wenn dann am Ausgang des 18. Jahrhunderts die Anschauung, daß die kirchliche Trauung die Ehe begründe, in verschiedenen Gesetzgebungen — wie im Allgemeinen Landrecht für die Preussischen Staaten38 — obrigkeitliche Anerkennung fand, scheint das nur auf den ersten Blick jener Feststellung zu widersprechen; denn hinter dieser Entwicklung verbirgt sich, daß den Konsistorien die Ehegerichtsbarkeit genommen und die kirchliche Trauung eben nicht auf Grund theologischer Argumente, sondern im „Interesse der Rechtssicherheit und der Sittlichkeit" (Friedberg) eingeführt wurde. So kann man zwar vom 18. Jahrhundert an von einer kirchlichen Eheschließung sprechen, aber sie ist eine Handlung von Gnaden des Staates. Während Bayern im 18. Jahrhundert und darüber hinaus in diesen Fragen am Tridentinum festhielt und der Codex Maximilianeus von bindenden Eheschließungsvorschriften absah, weil sie in den Bereich der Kirche gehörten (aber doch auch Ehen ohne Erlaubnis der Obrigkeit verbot, zuwiderhandelnde Pfarrer mit Strafe bedrohte und die heimlichen Verlöbnisse annullierte37), brach das Ehepatent Josefs II. von 1783 in radiNach Bruford, S. 17. Bergius, Landesgesetze, VII. Alphabet, S. 143—151. Vergl. S. 152—160 die entsprechende Lübecker Verordnung von 1748. 3 2 Voelcker, S. 346. 3 3 Finder, S. 51 f. 3 4 Galli, G., Die lutherische und calvinische Kirchenstrafe. Breslau 1879, S. 70, 73. 3 5 Friedberg, Recht, S. 265. — Vergl. auch Erle, M., Die Ehe im Naturrecht des 17. Jahrhunderts. Diss. Göttingen 1952. 3 6 II Tit. I § 136. 37 Friedberg, Recht, S. 149 f. 30 31
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kaier Weise mit der Tradition, indem es die „Ehe an sich selbst" als einen „bürgerlichen Vertrag" ansah und Streitfälle an die „landesherrlichen Gerichtsstellen" verwies38. Demgegenüber besagt es — ähnlich wie in Preußen — wenig, wenn es die Form der tridentinischen Trauung beibehielt und die Geistlichen nach staatlichen Vorschriften die Trauregister führen ließ 39 . Vor allem war es natürlich Sache der Obrigkeit, die Ehe als gesellschaftliche Institution gegen alle Handlungen, die sie als einzigen Ort legitimen Geschlechtsverkehrs in Frage stellten, abzuschirmen, und dementsprechend bedrohte die Gesetzgebung ganz allgemein jeden vor- oder außerehelichen Verkehr mit Strafe 40 . Sie variierte nach Territorium und Zeitraum recht erheblich. Das Hohenlohische Gemeinsame Land-Recht sah eine Kopulation in aller Stille vor; „ausser deme aber, und wann die Gefallene einander nicht ehelichen", die öffentliche Kirchenbuße; beide sollten femer „entweder mit einer Geld-Straffe, nach Beschaffenheit des Vermögens, oder mit Gefängnis, öffentlicher Arbeit, zeitlicher Landes-Verweisung oder andern Straffen belegt, jedoch diejenige Persohn, so die andere zu ehelichen begehrt, gelinder, die aber, so die Ehelichung halsstarriger Weise verweigert, sdiärffer angesehen werden"41. In Bayern war 1737 ein „Straf-Tarif" 42 in Kraft, der z. B. beim zweiten Ehebruch auf die Hinrichtung durch das Schwert erkannte, und schon den „Verdacht, wenn er groß ist . . . arbitrarie . . . mit Sdianzcondemnation oder Vorstellung in öffentlichen Säulen, Gefängnissen, oder um Geld; secundum conditionem personarum" strafte. Ähnlich drakonische, freilich erfolglose Strafen sah die Salzburger Pönalordnung für fleischliche Verbrechen von 1772 vor, die bis 1799 galt43. Auch die Geldstrafen waren 1783 in Würtemberg „äußerst hart. Der ärmste frühe Beyschläfer (wurde) um 15 fl. gestraft" 44 ; ein Jahr später verurteilte der Weimarer Rat Sachse zu „8 Rthr. 18 Gr. 6 Pf. für eingestandene zu frühzeitige Bekanntschaft und unerlaubte Vergehung; überdieß 14 Tage Gefängnis"45. In Rottweil und Rottenburg scheint in solchen Fällen die „Schellenberge" sehr oft angewandt worden zu sein; ein Generalrescript von 1740 führte „den ehedessen mit gutem Effeckt gebrauchten Huren-Karren" wieder ein, der in Rottweil auch noch in der zweiten Jahrhunderthälfte in Gebrauch war40, und in Hersfeld sollten 1792 die Betreffenden beim dritten Mal, zusätzlich zu den Geld- und Leibesstrafen, zwei Stunden lang mit einem Schild, auf dem ihre Verfehlungen verzeichnet waren, an den Strafpfahl gestellt werden47. Einen Sonderfall stellte der Geschlechtsverkehr unter Verlobten dar, insofern Friedberg, Recht, S. 142. Friedberg, Recht, S. 143. 4 0 Beck, S. 432 ff. 4 1 Beck, S. 435. — Vergl. Ortloff, Recht, S. 148. Nach der Mündenschen Brau-Ordnung von 1716 verloren die Eltern solcher Brautleute das Recht, den „Brautbreyhan" zu brauen, Bodemeyer, H., Hannoversche Rechtsalterthümer. Göttingen 1857, S. 58. 4 2 Freyberg, 1. c„ II S. 179—182. 4 3 Made, J., Die Reform- und Aufklärungsbestrebungen im Erzstift Salzburg. Diss. München 1912, S. 8. Vergl. noch Felber, A., Unzucht und Kindsmord in der Rechtsprechung der freien Reichsstadt Nördlingen vom 15. bis 19. Jahrhundert. Diss. Bonn 1961, S. 46: Gefängnis und Straßenfegen, S. 57: „auspauken", im ausgehenden Jahrhundert abgelöst durch hohe Geldbußen und Strafarbeit; Walch, II S. 306 ff.; Widemann, 1. c., S. 153; Fischer, W., Das Fürstentum Hohenlohe im Zeitalter der Aufklärung. Tübingen 1958, S. 91. 4 4 Nicolai, Reise, X Beilagen S. 79; vergl. VIII Beilagen S. 90 (Augsburg). 4 5 Sachse, S. 136. 4 6 Birlinger, Volkstümliches, II S. 216 ff. Vergl. Fischer, Gesundheitswesen, II S. 231. 4 7 Demme, III S. 90 f. Vergl. Schuhmann, H., Der Scharfrichter. Kempten 1964, S. 100. 38
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Möller, Kleinbürgerliche Familie
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bei seiner Beurteilung ältere und neuere Auffassungen über das Verhältnis von Verlobung und Trauung aufeinanderprallten. Ihre Geschichte ist in den Arbeiten von Friedberg und Sohm eingehend behandelt worden48, so daß ich midi kurz fassen kann. Nidit nur das Tridentinum betrachtete die Verlobung, die Konsenserklärung der Brautleute, als Eheschließung, es war auch „der Fundamentalsatz des evangelischen Eheschließungsrechts im 16. und 17., ja noch im 18. Jahrhundert..., daß die Ehe durch die Verlobung geschlossen (wurde)"49. Andererseits war aber in der evangelischen Kirche die Trauimg im Laufe des Untersudiungszeitraums zu dem „einzig relevanten Act, zu einer Eheschließung im modernen Sinne, erhoben (worden)"50, daß, wie Beck 1743 schrieb, „heutiges Tages die priesterliche Copulation dergestalten nöthig, daß ohne solche das matrimonium nicht bestehen kann, sondern an und für sich null und ungültig"51. Trotz dieser apodiktischen Behauptung liefen aber beide Entwicklungen noch längere Zeit nebeneinander her und führten in foro et praxi zu widersprechenden Stellungnahmen. Die ältere Tradition war noch so stark, daß in den 80er Jahren in Württemberg „zwey Verlobte, die einander mit beiderseitigem guten Willen wieder aufgeben (wollten), . . . dieses bey Strafe nicht thun (durften), sondern . . . es dem Beamten anzeigen (mußten), . . . (der) die Sache mit Zuziehung des Specials untersuchen, und sodann erst noch zum Ehegericht berichten (mußte)" 52 . Das Badische Landrecht enthielt den Passus, daß es einer verlassenen Braut gestattet sei, sich nach Ablauf eines Jahres und vorausgegangener Zitation „von ihrem abwesenden Hochzeiter ledig zu sprechen"53; auch das erst 1757 erlassene Rostocker Stadtrecht stand in den einschlägigen Artikeln auf dem Boden jener Tradition, so daß noch 1794 der Rat „die Einrede der mutuo dissensu schon aufgehobenen Sponsalien als unzulässig (verwarf)"54. Die Verlobung kam schließlich dem Eheschluß gleich, wenn Verkehr stattgehabt hatte55. In diesen Fällen konnte die Zwangstrauung angeordnet werden, die in Sachsen nach einem besonderen Ritual vollzogen wurde56, und noch 1778 mußte der Herzog von Mecklenburg der Schweriner Justizkanzlei seine „generale höchste Gesinnung" wissen lassen, „Niemanden bey beharrlicher Weigerung zu der ihm sonst den gemeinen Rechten nach obliegenden Vollziehung seines Eheversprechens gerichtlich (zu) zwingen"57. Es nimmt nach diesen Beispielen nicht wunder, daß das alte Rechtssprichwort „Brautleute sind vor Gott Eheleute" von den Betroffenen teils auch recht weltlich ausgelegt wurde. So wandte sich eine hessische Verordnung 1723 dagegen, „dass insonderheit das junge Volck in Städten und Dörffern, sothanen Winckel-Verlöbnissen annoch allzusehr ergeben, darbneben, um selbigen einige Verbindlichkeit beyzulegen, sich darauf zusammen thun und fleischlich vermischen"58, und wie in Hessen suchten 4 8 Friedberg, E., Das Recht der Eheschließung in seiner geschichtlichen Entwicklung. Leipzig 1865; Sohm, R., Das Recht der Ehesdiließung aus dem deutschen und canonischen Recht geschichtlich entwickelt. Weimar 1875; Friedberg, E., Verlobung und Trauung. Leipzig 1876; Sohm, R., Trauung und Verlobung. Weimar 1876; vergl. jetzt Kirstein, R., Die Entwicklung der Sponsalienlehre und der Lehre vom Eheschluß in den deutschen protestantischen Eherechtslehren bis zu J. H. Böhmer. Diss. Bonn 1966. 4 9 Sohm, Recht, S. 197. 50 Sohm, Trauung, S. 116; Recht, S. 278, 281. 5 1 Bede, S. 14. 5 2 Nicolai, Reise, X Beilagen S. 79. Vergl. Bächtold, S. 184 über die Verhältnisse in der Schweiz; auch Dietz, S. 231. 5 3 Tit. 10 § 3, nach Roller, Durlach, S. 148. 54 Sohm, Recht, S. 278. 55 Beck, S. 251, 254; Sohm, Redit, S. 275. 5 8 Bächtold, S. 185. Vergl. Friedberg, Recht, S. 300. 57 Sohm, Recht, S. 279. 5 8 Friedberg, Recht, S. 302.
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auch anderwärts Kirdie und Obrigkeit dagegen einzuschreiten59. Weil Verlobte, die selbst „aus ehelicher Affection einander beygewohnt,... gleichwoln wider den W o 1 s t a n d gehandelt, so (pflegte) dieser frühzeitige Beyschlaff arbitrarie, entweder mit Geld oder Gefängnus bestrafft zu werden"60, wozu noch die früher erwähnten Kirchenbußen kamen. Das Badische Landrecht bestimmte, daß ein Paar, das sidi vergangen hatte, erst nach Verbüßung der weltlichen Strafen „zum Kirchgang verstattet werden" solle, der ohne „Gepränge" stattfinden mußte81. Aber man war doch geneigt, nicht zuletzt „in faveur der Kinder", mildere Maßstäbe anzulegen. So sollte nach der Rechtsprechung des beginnenden Jahrhunderts solche Brautleute keine Infamie treffen82; Brautkinder wurden juristisch als legitime behandelt, auch wenn die Copulation „wegen ein und deß andern Todt, oder Abwesenheit, gar nicht erfolgt war" 63 , was vor allem bei der Lehrlingsaufnahme wichtig werden konnte04. Dabei führte die „vielfach übliche" Anerkennung der Brautkinder die Richter „häufig" zu Deduktionen, wonach „die priesterliche Trauung kein wesentliches Stück des Ehestandes, sondern besserer Ordnung wegen eingeführt" sei, wie sich die Wittenberger Fakultät 1721 äußerte65, und es wird bei dieser durch das Widereinander weltlicher und kirchlicher Auffassungen verworrenen Situation verständlich, daß Josef II., für den sich die Problematik durch die katholische Lehre von der Unauflöslichkeit der Ehe noch verschärfte, schließlich den gordischen Knoten durchschlug, indem er 1782 die Rechtsverbindlichkeit der Verlöbnisse mit der Begründung, daß sie „weder für den Staat noch für den Privaten nüzlich, sondern vielmehr für beide in Rücksicht auf die gezwungenen Ehen schädlich" seien, aufhob68. Auch nach dem preußischen Allgemeinen Landrecht des endenden Jahrhunderts löste selbst der unmotivierte Rücktritt eines Partners das Verlöbnis auf 87 . Der voreheliche Verkehr konnte zwar unter gewissen Umständen auf Nachsicht und müdere Bestrafung hoffen, aber nicht der außereheliche. Nach dem erwähnten bayrischen „Straf-Tarif" wurde der erste Ehebruch zweier verheirateter Personen mit 4 Wochen Gefängnis bei Wasser und Brot, „Vorstellung in Eisen oder in dem Precher vor der Kirche", sowie einer empfindlichen Geldbuße bestraft, wobei angedroht wurde, „daß wenn sich ein Verheiratheter das zweitemal mit einer Verheiratheten vergehen würde, es ihm unfehlbar das Leben koste"68. Auch das Badische Landrecht erkannte für den schuldigen Mann auf eine vierwöchige Gefängnisstrafe; auf wiederholtem Ehebruch standen Landesverweisung oder Todes59 Vergl. Bächtold, S. 230. — Diese Strafen wurden 1766 in Elberfeld in konfessionelle Auseinandersetzungen hineingezogen, Goebel, 1. c., S. 41. 60 Beck, S. 10; von mir gesperrt. 6 1 Roller, Durlach, S. 148. 62 Beck, S. 10, vergl. S. 28 f. Die Altdorfer Juristenfakultät bemerkte 1740, daß heutigen Tages ein „stuprum nicht gar so rigoreus angesehen werde", Beck, S. 33. 83 Bede, S. 14. 64 Vergl. Beck, S. 17: Entscheidung der Altdorfer Fakultät von 1731 gegen eine Perückenmacherzunft, die einen Lehrjungen, dessen Eltern nur „weinkäuflich copulirt gewesen", abgelehnt hatte. 8 5 Friedberg, Recht, S. 300; Bede, S. 19. Weitere ähnliche Entscheidungen von Juristenfakultäten aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts bei Friedberg, Recht, S. 298 f. 68 Sdimelzeisen, Polizeiordnungen, S. 34. Vergl. Maaß, F., Der Josephinismus. III Wien—München 1956, „Die Unauflöslichkeit der Ehe", S. 102—119. 87 Sohm, Recht, S. 277; allerdings blieb der Rüdetritt strafbar. Vergl. Hauser, H., Die geistigen Grundlagen des Eherechts an der Wende des 18. und 19. Jahrhunderts. Diss. Heidelberg 1940, S. 29 ff. 88 Freyberg, 1. c., II S. 181 f. War einer der Schuldigen unverheiratet, sollte erst beim dritten Ehebruch auf Todesstrafe erkannt werden. 1721 stand auch in Preußen auf zweimaligem Ehebruch die Todesstrafe, Ramedcers, S. 30. Vergl. Lucht, 1. c., S. 33, 43 f.
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strafe69. Mir ist allerdings kein Fall bekanntgeworden, in dem im 18. Jahrhundert die Todesstrafe deswegen an einem Bürger vollstreckt worden wäre. Nadi dem Badischen Landrecht verlor der Ehebrecher femer alle Ehrenstellen und durfte sich bis zu seiner Begnadigung weder in Wirtshäusern nodi ehrlichen Gesellschaften zeigen, audi konnte er keine Patenstelle übernehmen; wer sich während dieser Zeit wissentlich mit ihm einließ, wurde mit einer Geldstrafe belegt70. Die Rottweiler Verordnung von 1762 sah „öffentliche Arbeit" von 4 Wochen für einen Ledigen und 6 Wochen für einen Verheirateten vor, der außerdem „sowohl in zünften als gemeinden aller Ehrenämter auf alle Zeit entsetzt" werden sollte71. Die eheliche Treue wurde auch noch eine Zeitlang nach dem Tode des Gatten verlangt. Das Badische Landrecht gestattete die Wiederverheiratung nach Ablauf einer Trauerzeit von 6 Monaten, die durch Dispens verkürzt werden konnte72. Verbreiteter war aber das Trauer-Jahr für Witwen73. Verkehr während dieses Zeitraums stand unter Strafe, die „nach Beschaffenheit der Zeit, die von der Zeit des Manns Todt biß auf den erfolgten Beyschlaff verflossen, erhöhet und vergrössert" wurde; entsprechend verurteilte 1735 der Schöpfen-Stuhl zu Wittenberg ein Paar, das sich nach einem halben Jahr vergangen hatte, zu 3 Wochen, ein anderes, bei dem seit dem Tod des Mannes 9 Monate verstrichen waren, zu 2 Wochen Gefängnis. Eine Witwe, die „binnen Jahrs-Frist zur andern Ehe" schritt, wurde infam und machte sich „ihres Mannes und anderer Erbschafften verlustig, . . . welche Straffe theils aus Ehrerbietung, die das Weib dem Mann schuldig ist, theils wegen Ungewißheit des Kindes, theils auch wegen öffentlicher Erbarkeit, die Gesetze nicht unbillich eingeführet (hatten)"'74. 1760 berichtete v. Griesheim aus Hamburg, daß diese Frist auch von der Volksmeinung sanktioniert wurde, „es möchte sonst der selige Mann sein näher Recht in Schattenbildern mit Grausen behaupten; wovon einige fürchterliche Exempel zur Bespieglung der Nachwelt in denen Wochenstuben erzehlet (wurden)"75. Die Obrigkeit verließ sidi bei ihrem Bemühen, die Ehe abzuschirmen, aber nicht nur auf Paragraphen, Kirchenzucht oder Sitte, sondern ihre Kontrolle der Sexualsphäre nahm an einigen Orten inquisitorische Formen an. Am bekanntesten wurde die auf Befehl Maria Theresias in Wien gegründete Keuschheits-Kommission, welche „die so sehr weit getriebenen Ausschweifungen durch eine sehr genaue Aufsicht . . . ganz (ausrotten)" sollte76. Dieser Versuch stand völlig in Einklang mit der zeitgenössischen Polizeiwissenschaft, die damit nur die letzte Konsequenz aus der damaligen Regierungsform zog. Der Sonnenfels-Schüler Graf Roggendorf urteilte 1764, daß eine „Keuschheitscommission . . . unter die billigen und heilsamen Verfügungen der Polizey (gehöre), und ihre Folgen (seien) vervielfältigte Ehen" 77 . Solch eine „Sittenkommission" sollte, nach den Worten seines Lehrers, „über Personen von schändlicher Aufführung, und öffentliche Aergemisse (wachen): nur daß 6 9 Roller, Durlach, S. 150. 1744 wurde ein Kieler Sattlermeister wegen Ehebruchs zu 400 Ji Strafe und 100 J£ Alimentationskosten verurteilt, die vom Geheimen Conseil auf 100 bzw. 50 $ herabgesetzt wurden, Hähnsen, S. 149. Zu den nach dem Stand variierenden Alimenten Beck, S. 172. 70 Roller, Durlach, S. 150. Vergl. Felber, S. 77. 7 1 Birlinger, Volksthümliches, II S. 218. 7 2 Roller, Durlach, S. 150. 73 Gerber, Kirchen-Ceremonien, S. 749 f.; Zedlers Universal Lexicon, „Trauer-Jahr". 74 Bede, S. 754 f. — Strafbar war in all diesen Fällen schon der Versuch, „eine ehrliche Jungfer oder Wittib mit freundlichen Worten und Liebkosungen zum Beischlaff zu verleiten . . . , dann dieses ist eine grosse Injurie", Beck, S. 769. 7 5 Griesheim, S. 294 f. 7 6 Nicolai, Reise, V S. 260. 77 Roggendorf, „Lehrsätze aus der Polizeywissenschaft" Nr. 25.
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ihre Untersuchung b e h u t s a m , ihre Erinnerungen b e s c h e i d e n seyn, und ihr Betragen, so sehr auch immer möglich, von häuslicher Durchsuchung entfernet sey" 78 . Die Praxis zeigt freilich ein unerfreulicheres Bild, als es schon diese Sätze erwarten lassen; denn „die Spionen dießer sonderbaren Kommission (giengen) den jungen Leuten bis in die Häuser auf dem Fuß nach, und man mußte sidis gefallen lassen, daß sie auch mitten in der Nacht in die Schlafzimmer brachen, und die Betten visitirten". „Das Uebel" war zu Riesbecks Zeit „durch die Verwendung des Kaisers in etwas gehoben worden; aber wie eckelhaft ist nicht für einen Menschenfreund der Anbück des Polizeywäditers im Prater, . . . wenn er sieht, wie der Wächter den jungen Leuten in die dicken Gebüsche und unter die Bäume nachgeht, um den möglichen Sünden zuvorzukommen"79. Wenn nach Nicdlai selbst höhergestellte Personen auf die Anschuldigung der Kommission hin die Gnade der Kaiserin unwiederbringlich verlieren konnten80, kann man ungefähr ermessen, wie wehrlos die unteren Stände dem Spitzelsystem ausgeliefert waren81. Diese „Polizeygrundsätze" übernahm auch der Kurfürst von Mainz, der als Gesandter am kaiserlichen Hof gelebt hatte, und als der „eifrigste Verehrer der Keuschheitskommission . . . auch bei seinem Konsistorium die Maxime (einführte), den Schwängerer stehenden Fusses mit dem geschwängerten Mäddien zu verehelichen, um die Hurerey und die schlimmen Wirkungen derselben zu hemmen" 82 . Daß es sich aber nicht allein um eine von klerikalem Eifer inspirierte Maßnahme handelte, lehrt das Beispiel Nürnbergs, wo in solchen Fällen das „Rug-Gericht jährlich viel nützlidie Bürger aus der Stadt durch die Strenge, mit der es auf die Gesetze (hielt)", vertrieb83. Vor allem entrüstete sich Nicolai über die „Unanständigkeiten", die bei den Kontrollen vorkamen, hatte man ihm doch „versichert, daß ein Mädchen, auf den bloßen Verdacht eines unerlaubten Umgangs auf obrigkeitlichen Befehl von Hebammen besichtigt und von denselben in pleno consessu berichtet worden, ob sie Jungfer sey" 84 . Etwas drastischer läßt sich Riesbeck über die „physikalische" Untersuchung der Jungfernschaften dieser Stadt aus und verweist auf einen zeitgenössischen, „karakteristischen Kupferstich", der die Deputierten bei der Visitation zeigte85. Auch die „Berichtigungen" im Journal von und für Deutschland müssen die „scandalöse Anekdote" — „leider!" — bestätigen, und es ist in unserem Zusammenhang unerheblich, daß „dieses Unwesen . . . nur kurze Zeit (dauerte), und . . . von dem Rath gemißbilligt und abgestellt" wurde8®. 78 Sonnenfels, J. v., Sätze aus der Polizey-, Handlungs- und Finanzwissenschaft. I Wien 1765, S. 116 f.; Sperrung im Original. In der 5. Auflage von 1787 (!) schrieb er dagegen, die polizeiliche Aufsicht dürfe sich „nicht bis zur Ausspähung und häuslichen Untersuchung erweitern", I S. 158. 79 Riesbeck, II S. 213 f. Nicolai verwies zustimmend auf diese Ausführungen, Reise, V S. 260, vergl. auch V S. 264, 113. 80 Nicolai, Reise, V S. 262. 81 Zu den Zwangstrauungen Riesbeck, II S. 214 f. 83 Riesbeck, II S . 3 0 0 f . 83 Nicolai, Reise, I S. 241 f. Vergl. Rabiosus, Kreuzzüge, I S. 11. 84 Nicolai, Reise, I S. 241. 85 Riesbeck, II S. 262. 86 Journal von und für Deutschland. 1784, I S. 107. — Das Technische dieser Visitationen, das Nicolai, der hier das moderne Empfinden vertritt, schockierte, war aber der kleinbürgerlichen Welt vorangegangener Jahrhunderte nicht unbekannt, wie ein Prozeß von 1616 um die „Bettbringung" der Bremer Schuster zeigt, bei denen es herkömmlich war, daß „zwei die Jüngste Ambtieute die braut ins bette (setzten), die beeidigten Ambtsmeister aber dieselbe mit ihren eidtlichen Händen zur Anzeig ihrer unbefleckten Jungfrawschaft antasten oder begreiffen (mußten)", Wisseil, I S. 132 f. Die hier aufscheinende Veränderlichkeit der Schamschwelle werden wir für spätere Überlegungen im Auge zu behalten haben.
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Wenn in der bisherigen Erörterung als wichtiges strukturelles Moment die Tatsache sichtbar wurde, daß Obrigkeit und Kirche — und, wie sich noch zeigen wird, die Zünfte — gleichermaßen gegen die Unzucht vorgingen, wobei es zu Überschneidungen kommen mußte, die als Verzahnungen viel zur Stabilität der alten Ordnungen beitrugen, aber auch zu Unzuträglichkeiten führten87, so war die Verfolgung der schwereren Fälle und die Vollziehung der auf ihnen stehenden harten Leibes- und Lebensstrafen naturgemäß Sache der Obrigkeit. Kindsmord, Notzucht, Bigamie oder Blutschande berühren die Sphäre des durchschnittlichen Familienlebens freilich allenfalls am äußersten Rande, aber man darf ihre Bedeutung als Gegenbilder des prämiierten Verhaltens nicht unterschätzen, selbst wenn der Kindsmord im Untersuchungszeitraum nicht eine erhöhte Aktualität gewonnen hätte. Bei diesen Verbrechen richteten sich Strafart und Strafmaß noch immer nach der Peinlichen Hals-Gerichts-Ordnung Karls V., allerdings setzte sich im Laufe des Jahrhunderts unter dem Einfluß der Aufklärung eine mildere Beurteilung und Handhabung durch. Auf Kindsmord stand Ertränken, die sog. Einsadeung, die nach Bede „an den meisten Orten des Heil. Römischen Reiches" vollzogen wurde88. Ein Mandat des Nürnberger Rats von 1723 ließ es aber bei denen von 1702, 1704, 1716 und 1722 „bewenden, daß nemlich der vorsetzlidie Kinder-Mord nicht allein mit dem Schwerdt angesehen, und das abgeschlagene Haupt oder respective Hände auf das Höhe-Gericht gehefftet und genagelt, sondern auch, nach Befindung der Umstände, wider (die Kindsmörderin) mit glüenden Zangen-Riß verfahren, oder ihnen gar lebendig mit dem Pfahl durch den Leib gestossen werden solle"89. Die Enthauptung wurde dann mehr und mehr die gewöhnliche Strafart, die uns z. B. mehrfach in der Chronik der Kasseler Handwerkerfamilie Gunkel begegnet90: Goethe, der als Kind eine solche Hinrichtung erlebt hat, läßt so Gretchen enden, so sterben Wagners Kindermörderin und andere literarische Leidensgenossinnen91. Auch auf Abtreibung stand die Schwertstrafe, sofern die Leibesfrucht als lebendig angesehen wurde, wobei die alte 40-Tage-Frist mit neueren medizinischen Auffassungen konkurrierte92. 87 Der Jurist Bede sprach sich dafür aus, daß „nicht wegen eines einigen Verbrechens die versündigten Persohnen doppelt gestrafft werden; da zumalen die Kirchen-Buß ohne Zweiffei eine sdiwehrere und grössere Straffe, als das Gefängnus oder eine Geld-Buß, mithin also jene, diese als eine geringere absorbire", eine härtere Strafe, „weilen sie die vorhero verborgen gewesene Schand-That und Ubelthat wiederum aufdecket, und durch neue Ceremonien und Solennitäten vermehret, und verursachet, daß man immerfort daran gedendeet" und dadurch, wie das Wittenberger Konsistorium 1732 zu bedenken gab, „eine halbe infamia, oder doch eine levis notae macula und Vorwurff zugezogen (wurde)", Bede, S. 458 f., 461. 88 Bede, S. 837. Diese Strafe droht auch noch die sonst „aus Mitleid" sehr nachsichtige Waldedcische Verordnung zur Verhütung des Kindermordes von 1780 an, Bergius, Landesgesetze, V. Alphabet S. 144. Vergl. Buchner, Liebe, S. 244; Grimm, J., Deutsche Rechtsaltertümer. 4. A. Leipzig 1899, I S. 734; II S. 279. 89 Beck, S. 885. In Schuhmanns Untersuchungsgebiet, dem heutigen Regierungsbezirk Schwaben, schon seit Beginn des 17. Jahrhunderts „fast ausschließlich" Enthauptung, 'l. c„ S. 12. 90 Losch, S. 23, 27, 30, 33, 35, 40, 51; die erteilten Zensuren schwanken zwischen „wohl" und „recht gut gerichtet". — Vergl. Buchner, Liebe, S. 246,251. 91 Vergl. Rameckers, S. 71—101: „Die Bewegung für eine mildere Bestrafung der Kindsmörderinnen". 92 Bede, S. 802; Zedlers Universal Lexicon, „Abortus", Sp. 155; Fischer, Gesundheitswesen, II S. 236. Vergl. die Augsburger Hebammenordnung von 1750 über Ab-
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Bigamie wurde im beginnenden Jahrhundert ebenso „mit der Straffe des Sdiwerds angesehen", Voraussetzung war jedoch, daß sie „mit Vorsatz geschehen, selbige auch durch derer Leiber Vermischung vollbracht" worden war93. Bei den überschaubaren Verhältnissen im Kleinbürgertum dürfte sie kaum eine Rolle gespielt haben, da sich auch Zugezogene, die sich um das Bürger- oder Meisterrecht bewarben, vorher gehörig ausweisen mußten. Seit dem 4. Lateranischen Konzil von 1215 galt Verwandtschaft bis zum 4. Grad als Ehehindemis. Die Gesetzgebung protestantischer Länder orientierte sich gleichfalls an diesen modifizierten Bestimmungen von Lev. 18 und 2094, wenn sie auch z. B. in Preußen um die Jahrhundertmitte — nicht zuletzt „zur Beförderung der Ehe in Se. Königl. Majestät Landen und der Peuplierung derselben" wegen — gelockert wurden95. Nach diesen Verwandtschaftsgraden variierten die Strafen für Blutschande: Die zwischen Eltern und Kindern — bzw. Großeltern und Enkeln — wurde mit Enthaupten bestraft; „Collateral- und Seiten-Freunde . . . und zwar Brüder und Schwestern (wurden) des Landes verwiesen oder gar mit Ruthen ausgehauen"; „Geschwistrig-Kinder, wie auch diejenigen, welche im dritten Grad ungleicher Linie einander verwandt", traf ebenfalls Landesverweisung; „diejenigen aber, so in weiterem Grade stehen, (wurden) entweder mit einer Geld-Buß belegt, oder mit Gefängnis bestraft" 96 . Bei Notzucht erkannte die Carolina auf Schwertstrafe, allerdings mußte sie „per seminis inmissionem vollständig vollbracht" worden sein, sonst wurde der Betreffende nur mit einer „ausserordentlichen Straffe belegt, und zwar gemeiniglich öffentlich mit Ruthen ausgehauen, und auf ewig deß Landes verwiesen"97. Wichtiger als die für diese Untersuchung unerhebliche Strafart dürfte die für modernes Empfinden kaum nachvollziehbare Bewertung eines physiologischen Faktums im Hinblick auf das Strafmaß sein. Es scheint aber, daß sich hierin ein Denken offenbart, das uns besonders in der Handwerkerwelt noch oft begegnen wird. Diejenigen sexuellen Perversionen, welche die Zeit mit dem Namen Sodomiterei belegte, sollten nach der Carolina mit dem Feuertod bestraft werden98, und noch 1754 setzte eine hessische Exekutionsgebühren-Ordnung hierfür einen Betrag fest 99 , doch urteilte Boehmer am Beginn des Untersuchungszeitraums „gladii poena sufficere creditur" 100 , was durch gelegentliche Nachrichten über Fälle von Sodomie101 und Homosexualität102 bestätigt wird. Ein Schwede, der 1755 Pommern und Brandenburg bereiste, bemerkte jedoch, daß man in Preußen zwar die Todesstrafe recht rigoros handhabe, „hingegen (werde) öfters im Fall der widernatürlichen Gemeinschaft mit Thieren treibungen vor dem 5. Monat, Nöth, A., Die Hebammenordnungen des XVIII. Jahrhunderts. Diss. Würzburg 1931, S. 108. 03 Zedlers Universal Lexicon, „Bigamia", Sp. 1812. Vergl. Buchner, Liebe, S. 147. — In Hannover wurde die Todesstrafe bereits 1729 abgeschafft, Bodemeyer, S. 115. 8 1 Vergl. Beck, S. 617; Bächtold, S. 273. 9 5 Hauser, S. 65; zur Frage der Ehehindemisse in der preußischen und österreichischen Gesetzgebung des ausgehenden Jahrhunderts S. 36 ff., 105 ff. 9 6 Beck, S. 624. — Vergl. Bock, Nürnberg, S. 50; Buchner, Liebe, S. 321; Felber, S. 81; Schuhmann, 1. c„ S. 100. 9 7 Bede, S. 516. 9 8 Die peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. Constitutio Criminalis Carolina. Hsg. v. Kohler-Scheel. Halle 1900, Kap. 116. 9 9 Demme, II S. 344. 100 Boehmer, J. S. F., Elemente Jurisprudentiae Criminalis. 4. A. Aalae 1749, S. 436. 101 Schuhmann, 1. c., S. 58 (1760). — 1730 wurde in Breslau ein Delinquent auf dem Scheiterhaufen erdrosselt, Buchner, Liebe, S. 310. 102 Schuhmann, 1. c., S. 58 (1711). Vergl. Roller, Durlach, S. 137 (erste Hälfte des Jahrhunderts). — In Holland mußte um 1730 ein „nachdrückliches Mandat wider das abscheuliche Laster der Sodomiterey, welches, leyder! eine Zeithero in diesen Landen im Schwange gegangen", erlassen werden, Buchner, Liebe, S. 221; vergl. Das Neueste, II Nr. 500. 87
u. a. dergleidies Urtheil gemildert"103, und drei Jahrzehnte später wurde in Nürnberg, das sonst in sexuellen Fragen die Strenge der Tradition aufrechterhielt, ein Zuckerbäckergeselle, der einen Soldaten zu „unnatürlichem Laster" zu verführen suchte, nur zu einer halbjährigen Gefängnisstrafe verurteilt und darauf in der Stille aus der Stadt geschafft, um größeres Ärgernis zu vermeiden104. Uberhaupt scheint man gegen Ende des Jahrhunderts in solchen Fällen durch die Finger gesehen zu haben; denn daß Grund zum Einschreiten vorhanden gewesen wäre, bezeugen nicht nur Schriften vom Stile der Briefe über die Galanterien von Berlin oder Laukhards Memoiren, sondern auch Jenischs Zeitanalyse105. Schließlich stellte selbstverständlich auch die Kontrolle der Prostitution eine vordringliche Aufgabe obrigkeitlicher „Polizey" dar. Die städtisch konzessionierten Frauenhäuser des Spätmittelalters und der beginnenden Neuzeit waren zwar aus dem Bild der Kleinstädte verschwunden, aber in den größeren Städten existierten die Bordelle weiter, neben der Konkurrenz der Straßenmädchen, Gasthausprostitution oder Dilettantinnen vom Schlage der Wiener Stubenmädchen106. Der Status der öffentlichen Häuser variierte zwischen Duldung 107 und obrigkeitlicher Anerkennung108. Man legitimierte ihr Dasein damit, daß sie „für eine volkreiche Stadt ein nothwendiges Uebel" seien und suchte z. B. in Berlin durch Gesundheitskontrollen den Ansteckungsgefahren entgegenzutreten109. „Eine Hur", die — im Gegensatz zur stupra — „mit jedermann, ohne Unterschied, entweder umsonst und aus Wollust, oder um einen gewissen Lohn, unzüchtig (zuhielt)", hatte mit ihrer „jungfräulichen Ehre" zugleich ihre bürgerliche verloren, und dementsprechend konnte ein Mann, der eine „mit Gewalt schändet, für keinen Ehren-Rauber oder Nothzüchtiger" gehalten werden110. Diese Ehrlosigkeit rechtfertigte dann auch in den Augen der Zeitgenossen die üblichen Polizeimaßnahmen: Einweisung ins Spinnhaus111, Haarabschneiden112 und Straßenfegen, Prangerstehen und Staupenschlag oder Stadtverweis mit handgreiflicher Unterstützung seitens des Pöbels und der Jugend 113 . Doch gerade weil der Kleinbürger den Bereich seiner Familie mit Hilfe des Ehrbarkeits-Kodex' so rigoros abzuschirmen suchte, konnte er ebensowenig ohne die Prostitution auskommen, wie die Bürger vorangegangener Jahrhunderte. 103 Bemoulli, J., Sammlung kurzer Reisebeschreibungen. III Berlin und Altenburg 1781, S. 310. 104 Journal von und für Deutschland. 1784,1 S. 86. 105 Jenisch, I S. 367. 106 Nicolai, Reise, III S. 197, V S. 273. — Vergi, etwa noch Briefe über die Galanterien von Berlin; Laukhard; Frankfurt. In den Jahren 1795, 96 und 97. In Briefen an S * * . London o. J.; C(ölln), F. v., Wien und Berlin in Parallele. Amsterdam und Cölln 1808; Giglleithner, K.-Litschauer, G., Der Spittelberg und seine Lieder. Wien 1924; Schönfeldt, G., Beiträge zur Geschichte des Pauperismus und der Prostitution in Hamburg. Weimar 1897; generell Bloch, I., Die Prostitution. I/II, 1 Berlin 1912/25. 107 Minder, S. 33. 108 Knüppeln, Kap. XXXVIII. — 1800 war auch in Stettin die „Aufklärung so weit, daß seit einem Jahr privilegierte Freudenhäuser" bestanden, Seil, J. J., Briefe über Stettin. Berlin 1800, S. 49. 109 Formey, L., Versuch einer medicinischen Topographie von Berlin. Berlin 1796, S. 113, 114. Zur Zahl der Berliner Prostituierten Handwörterbuch der Sexualwissenschaft. Hsg. v. Marcuse. 2. A. Bonn 1926, Art. „Prostitution". 110 Beck, S. 8. 111 Vergi. (Trömer, J. Chr.), Die Aventures von Deutsch-Franzos. 2. A. Nürnberg 1745, S. 241. 112 Noch im 18. Jahrhundert sollen in Hamburg Dirnen gebrandmarkt worden sein, Schönfeldt, S. 183. 113 Vergi, auch S. 294.
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3. Zunft Zunft steht hier als Abkürzung für den ökonomischen Bereich des kleinbürgerlichen Lebens. Daß das nur bis zu einem gewissen Grade vertretbar ist, hat bereits die einleitende Abgrenzung des Kleinbürgertums gezeigt. Eine nächste Einschränkung ergibt sich aus der Tatsache, daß Zunft und Handwerk nicht ohne weiteres identifiziert werden dürfen. Nicht nur die beträchtliche Zahl der Landhandwerker wurde in der Regel von den Zünften nicht akzeptiert1, auch eine Anzahl städtischer Handwerker war nicht zünftisch organisiert2, ganz abgesehen von den „Pfuschern", Hofhandwerkern und handwerkelnden Soldaten. Für die Mehrzahl der Handwerker aber war die zünftische Ordnung die normale, deren umfassendes Normensystem als einziges seiner Art innerhalb dieses sozialen Bereichs auch auf den Rest prägend wirken mußte, ja darüberhinaus für das Kleinbürgertum im ganzen ein Modell abgeben konnte. Es ist sicher nicht nur ein historischer Zufall, daß sich etwa in Ulm 3 , Osnabrück4 oder Durlach5 jeder Bürger zu einer Zunft halten mußte. Weiter ist im Auge zu behalten, daß die Zunft an dieser Stelle nur im Hinblidc auf das „äußere System" (Homans) der Familie behandelt wird und ausschließlich in ihrem normativen Aspekt. Dieses Normative differenziert sich in zwei Hauptrichtungen, die ich mit den alten Termini „Ehrbarkeit" und „Nahrung" umschreiben möchte. „,Die Handwerker müssen so seyn, als ob sie von Tauben gelesen wären' war lange ein Sprichwort, was im strengsten Sinne des Wortes galt", schreibt Ortloff, und zahlreiche Nachrichten aus dem 18. Jahrhundert sprechen dafür, daß zumindest die Forderung das ganze Säkulum hindurch mit einem bemerkenswerten Rigorismus erhoben wurde. Diese „Taubenreinheit" bedeutete aber für die Zeit „ehelich" und „ehrlich". Neben der Zugehörigkeit zu einer der in „Teutschland eingeführten Religionspartheyen" sind das die Bedingungen, unter denen ein Lehrjunge überhaupt das Handwerk erlernen7 und Meister werden konnte. Aus der Unmenge von Handwerksordnungen greife ich die der Landzunft der Strumpfwirker im Fürstentum Hessen von 1727 heraus, die als überörtliche typische Züge aufweist. In Artikel 3 wird von dem 1 Auch wenn ein Teil in Landzünften zusammengefaßt wurde. Zum Landhandwerk Skalweit, A., Das Dorfhandwerk vor Aufhebung des Städtezwanges. Frankfurt o. J.; „Vom Werdegang des Dorfhandwerks". Z. f. Agrargesch. u. Agrarsoz. 2 1954, S. 1—16. 2 Kulischer, J., Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit. 2. A. Darmstadt 1958, II S. 141: „In Wien gehörten 1734 von 7809 Meistern nur 2640, also nur ein Drittel, den Zünften an". Vergl. Eschwege 1769, S. 35: Verzeichnis der Zünftigen und Unzünftigen, unter denen zahlreiche Berufe aufgeführt sind, die an anderen Orten zünftig waren. 3 Nicolai, Reise, I X Beilagen S. 29. 4 Bischof, F., Der Anteil der Gilden am Stadtregiment in den westfälischen Städten. Diss. Münster 1926, S. 30. 5 Roller, Durlach, S. 283. 6 Ortloff, Recht, S. 158. Vergl. Frensdorff, F., „Das Zunftrecht Norddeutschlands und die Handwerksehre", Hansische Geschichtsblätter. XIII 1907, S. 1—89, 44. Eisenhart, J. F., Grundsätze der deutschen Rechte in Sprüchwörtern. Neu hsg. von E . L. A. Eisenhart. Leipzig 1792, S. 61. 7 Ortloff, Recht, S. 155 ff.; Fricke, J. H„ Grundsätze des Rechts der Handwerker. 2. A. Göttingen und Kiel 1778, § 62 ff.
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künftigen Meister der Nachweis gefordert, „Daß E r . . . Von ehelichen Eltern aus einem rechten Ehebett erzeuget seye"8. Die gleichen Anforderungen werden an die Frau des Meisters gestellt. Auch sie muß einem „rechten" Ehebette entstammen und ihre weibliche Ehre bewahrt haben®. „Wer eine Hure" —• das Wort in der weiten Bedeutung der älteren Zeit verstanden — „zur Ehe nimmt, ist des Amtes nicht würdig", hieß es in der Ordnimg der Greifswalder Barbiere von 1493; diesen Grundsatz belegt Beier für das 17. Jahrhundert 10 und Beck kommentiert die Forderung „nach Ehr und Redlichkeit heyrathen" mit dem „alten teutschen Sprichwort": „Es seye ein Schelm, oder wolle noch einer werden, der eine Hure zur Ehe nimmt" 11 , das auch noch 1768 v. Kreittmayr heranzieht 12 . Außer solchen Defekten im sexuellen Bereich bildeten selbstverständlich auch infamierende Vergehen von Mann und Frau für die Zunft Ausschließungsgründe13. In einem späteren Kapitel werde ich zu zeigen haben, daß der zünftische Begriff der Infamie den juristischen an Umfang erheblich übertrifft. Hier merke ich nur noch an, daß bereits die Zugehörigkeit zu bestimmten ethnischen oder beruflichen Gruppen „unehrlich" machte und die Betreffenden damit für eine den zünftischen Normen entsprechende Ehe disqualifizierte. Juden, Wenden, Zigeuner waren nicht zunftfähig, ebenso die „fahrenden Leute". Der Reichstag mußte sich aber auch dafür einsetzen, daß „die Kinder derer Land- Gerichts- und Stadt-Knechte, wie auch derer GerichtsFrohn- Thürm- Holtz- und Feld-Hüter, Todtengräber, Nacht-Wächter, Bettel-Vögten, Gassen-Kehrer, Bach-Feger, Schäfer und dergleichen, in summa keine Profeßion und Handthierung, dann bloß die Schinder allein bis auf deren zweyte Generation, insofeme allenfalls die erstere eine andere ehrliche Lebens-Art erwählet und darinn mit denen Ihren wenigstens dreyßig Jahr lang continuiret hätte, ausgenommen, . . . bey denen Handwerdcen ohne Weigerung zugelassen werden" sollten14. Selbst zünftisch organisierte Handwerker wie die Leineweber, Müller u. a. galten als „unehrlich" und ihre Kinder wurden stellenweise von anderen Zünften nicht aufgenommen 15 . Auf Einzelheiten und die Geschichte dieser Entwiddung brauche ich hier nicht weiter einzugehen 16 . Mindestens seit dem endenden 16. Jahrhundert sind die skizzierten Forderungen Gemeinanschauung der Handwerkerwelt und für das 17. und 18. Jahrhundert Selbstverständlichkeiten. Die Durchführung dieser Bestimmung führte aber zu dauernden Reibereien mit der Obrigkeit, da die Handwerker ihren Purismus so weit trieben, daß sie weder durch spätere Heirat legitimierte Kinder noch solche, die eine landesherrliche Legitimation erhalten hatten 17 , als ehelich im Sinne ihrer Ordnungen anerkannten und so noch die Forderungen des Adels übertrafen: Ein uneheliches Kind konnte „zum Feldmarschall und zum Minister, aber nicht zum Schuhmacher 8
Demme, II S. 282. Vergl. Demme, II S. 283. 10 Beier, A., De Collegüs Opificum. Editio nova Frankfurt und Leipzig 1736, S. 133; Eisenhart, Sprüchwörter, S. 85; Stahl, S. 99. 11 Beck, S. 64 f.; Beier, De Collegüs Opificum, S. 111. 12 Vergl. Frensdorff, S. 28. 13 Ortloff, Recht, S. 158; Hähnsen, S. 141; vergl. auch Reichstagsgutachten XIII, 4, 5 = Proesler, S. 67*. 14 Proesler, S. 59°; Jacobeit, W., Schafhaltung und Schäfer in Zentraleuropa bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Berlin 1961, S. 181; Trompeter: Fischer, Volk und Geschichte, S. 246; in Straßburg wurden dagegen 1750 Söhne von Fahrenden in die Zünfte aufgenommen, Salmen, W., Der fahrende Musiker im europäischen Mittelalter. Kassel 1960, S. 85. 15 Zangen, C. G. v., Abhandlung von der Zunftfähigkeit der Schäfer. Gießen und Marburg 1785, S. 13. 16 Vergl. vor allem Frensdorff. Material bei Wissell, I S. 67 ff. und Proesler. Beachtenswert ist besonders die unterschiedliche Einstellung zur Unehelichkeit in Nord und Süd. 17 So legitimierte etwa Kurfürst Georg I. von Hannover 1711 die Findlinge, Schmelzeisen, Polizeiordnungen, S. 83. Vergl. auch Bede, S. 569. 9
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oder Schneidermeister reifen" 18 . Deshalb wurde 1672 dem Reichstag ein „Project, was in den künfftigen Reichs-Abschied / wegen deren bey den Handwerkern eingerissenen Mißbräuchen zu bringen seyn möchte", vorgelegt, das zu diesen Fragen Stellung nahm und dessen Formulierungen fast unverändert in das „Gutachten des Reichs-Tags, wegen der Handwercker-Mißbräuche" vom 14.8.1731 übernommen winde 19 : „XI. Demnach auch öffters vorgekommen, daß bey denen Handwerdcem, insonderheit denen so genannten geschenckten, zwischen denen unehlich erzeugten, und vor oder nach der Priesterlichen Copulation gebohrnen Kindern ein Unterscheid gemacht werden wolle, wie auch denen, so von Uns als Kayserl. Majestät oder sonst aus Kayserlicher Macht legitimiret worden, also, daß Theils Handwerker auch diejenigen, welche auf solche Weiß legitimirte, oder auch von einem andern noch im ledigen Stand geschwächte Weibs-Personen heyrathen, oder mit denen, mit welchen sie sich verunkeuschet, zur Straffe copuliert worden, nicht paßiren wollen; so soll erst-gemeldter Unterschied aufgehoben seyn, und die auf jetzt-besagt-einen oder andern Weg legitimirte Manns- oder Weibs-Personen wegen Zulassung zu denen Handwerkern einander gleich geachtet und denenselben nichts mehr in den Weg gelegt werden"20. So verlangte zwar z. B. der 1752 vom hessischen Landgrafen erneuerte Zunftbrief der Tuchscherer und Tuchbereiter in den Städten Hersfeld und Vacha von 1731 einen „tüchtigen Geburths-Brief oder legitimationsschein"21, aber die Einstellung der Handwerker in diesen Fragen wurde durch solche erzwungenen Konzessionen recht wenig berührt. Daß diese Einstellung auch das ganze Jahrhundert hindurch weithin das Verhalten bestimmte, mögen einige Beispiele aus Urteilen und Gutachten belegen. 1733 wurde in Hildesheim einem Schneider die Aufnahme in die Gilde verweigert, weil er der Sohn einer Amme sei. Die Legitimierung durch die spätere Heirat der Eltern wurde nicht anerkannt. 1751 erneuerte sich der Streit, als jener Schneider für seinen fünfzehnjährigen Sohn die Einschreibung begehrte. Die Zunft sträubte sich, bis man den Meistern mit militärischer Exekution drohte und der Rat versprach, daß mit der Aufnahme des Jungen kein Vorentscheid wegen der späteren Meisterschaft getroffen sei22. 1743 verlangte das Weberhandwerk zu Lünen von einem Mitmeister, daß er einen angenommenen Lehrling sofort entlasse, weil dieser unehelich geboren sei, und da er nicht legitimiert war, entschied der Magistrat, er müsse das sofort nachholen oder sich des Handwerks enthalten23. So erklärte z. B. 1745 der Kanzler der Universität Erlangen den Bäcker Johann Martin „im Namen Ihro Rom. Kaiserl. Majestät... für eine solche Person, welche alle Rechte und Vorzüge ehelichgebohrener Kinder zustehen und gebühren", zugleich kündigte er denen, die diese Legitimation nicht anerkennen würden, außer der Ungnade des Kaisers harte Strafen an 24 . 1751 wurde einem Bewerber vom Bremer Schusteramt die Aufnahme verweigert, weil er nach dem Geburtsbrief acht Wochen nach der Eheschließung der Eltern geboren worden war25. Josef II. hatte zwar 1783 in den kaiserlichen Erblanden den „Geburtsmakel" aufgehoben, aber die Zünfte hielten an ihren Forderungen fest, Hoffmann, Zunftverfassung, S. 2. In dem bereits zitierten Abschnitt wurde noch der Passus über die Kinder von Schindern hinzugefügt. 3 0 Proesler, S. 65». 2 1 Demme, II S. 339, vergl. III S. 290, 295. 2 2 Gebauer, Joh. H., „Das Hildesheimer Handwerkswesen im 18. Jahrhundert und das Reichsgesetz von 1731 gegen die Handwerksmißbräuche". Hansische Geschichtsblätter. XXIII1917, S. 157—187,167, 169. 2 3 Wissell, I S . 127. 2 4 Wissell, I S. 125. 2 5 Frensdorff, S. 82. 18
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wie v. Zangen noch 1785 feststellte28. 1792 wollte kein Hersfelder Tuchscherer den unehelichen Heinrich B. in die Lehre nehmen. „Die Tuchscherer (beriefen) sich auf ihren Zunftbrief, der für ihre Zunftmitglieder eheliche Geburt (forderte). Immerhin wäre dem Knaben B. die Erlernung eines zünftigen Handwerks zu gönnen (aber nur nicht bei ihnen)"27, und 1798 war ein herzoglicher Befehl nötig, um die Aufnahme eines unehelich geborenen Lehrjungen in die Braunschweiger Tischler-Zunft zu ermöglichen28. Als 1724 ein Schäfersohn in Kassel das Bäckerhandwerk erlernen wollte, mußte der Widerstand von der Obrigkeit mit Gewalt gebrochen werden29, und noch 1780 versuchten die Hildesheimer Tischler, den Sohn eines städtischen Umklöppers von der Zunft auszuschließen, weil der Stand des Vaters unehrlich sei30. Ebenso streng wurden in vielen Fällen die Bestimmungen hinsichtlich der Eheschließung ausgelegt. 1716 befahl der Landesherr, einen Kieler Schneidermeister „gegen alle Zudringlichkeiten des Amtes in honorem matrimonii zu schützen. Das Amt hatte ihn zu den Versammlungen nicht weiter ansagen lassen, weil seine Frau zwei Monate nach der Hochzeit niedergekommen war . . . Ähnliche Beispiele ließen sich noch in großer Zahl aus den Jahren 1713—31 beibringen" 31 ; 1724 sprachen die Merseburger Fleischer einer Meisterswitwe das ihr als solcher zustehende Recht32 ab, das Geschäft weiterzuführen, da sie sich hatte schwängern lassen33. 1725 wandten sich die Tuchmacher zu Neudamm gegen einen Meister, da die Großmutter seiner Frau angeblich eine Schäferstochter gewesen sein sollte, und der beklagte Meister mußte den Gegenbeweis führen34. 1726 wurden in Bremen einem Schustermeister Schwierigkeiten gemacht, weil seine Frau 5 Wochen zu früh ins Kindbett gekommen war35. 1736 mußte der Hildesheimer Rat eingreifen, um die Einschreibung der Frau eines Kleinschmiedemeisters, die eine Müllerstochter war, durchzusetzen36. 1741 wandten sich die Bremer Maurer gegen einen Mitgesellen, der eine Marktvogtstochter geheiratet hatte37. 1742 hatte sich der Zinngießer Flegel, ein eingesessener Hildesheimer Bürger, mit einer Bürgerstochter verlobt. Als er die Einschreibung beantragte, wurde er abgewiesen, da zwar sie, aber nicht ihr Vater, „echt und recht erzielt", sondern erst später legitimiert worden sei, die Satzungen aber vier einwandfreie Ahnen für Mann und Frau forderten38. 1744 schlössen die Goslarer Krämer ein Mitglied aus, das eine unehelich geborene Frau geheiratet hatte39. 1745 wurde ein Hildesheimer Knochenhauer aus dem Amt gestoßen, weil seine Frau, die Tochter eines Försters, einen Müller zum Großvater hatte40. 1754 mußte sich das Reichskammergericht mit dem Fall eines Hamburger Schneiders befassen, der von der Zunft abgelehnt wurde, weil er eine „Amme" Zangen, S. 9. Neuhaus, W., Hersfelder Tuch. Beiträge zur Geschichte des Hersfelder Wollgewerbes. Bad Hersfeld 1950, S. 55. 2 8 Fuhse, Tischlergesellen-Bruderschaft, S. 1. 29 Brauns, C., Kurhessische Gewerbepolitik im 17. und 18. Jahrhundert. Diss. Marburg 1911, S. 50. 30 Gebauer, Handwerkswesen, S. 174. 31 Hähnsen, S. 148 f.; vergl. Herre, S. 19. 32 Vergl. etwa Ortloff, Corpus, S. 517. 33 Bede, S. 39. 34 Schmoller, G., Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte besonders des Preußischen Staates im 17. und 18. Jahrhundert. Leipzig 1898, S. 364. 1762 wurde in Hamburg ehelich Geborenen von den Schustern die Einschreibung verweigert, weil sie nicht den Nachweis führen konnten, daß ihre Mutter mit fliegenden Haaren getraut worden war, Stahl, S. 100. 35 Wisseil, I S. 134. 36 Gebauer, Handwerkswesen, S. 170. 37 Wisseil, I S. 113. 38 Gebauer, Handwerkswesen, S. 170—173. 39 Frensdorff, S. 82. 4 0 Gebauer, Handwerkswesen, S. 173 f. 26
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geheiratet hatte, wie die mangelnde sexuelle Integrität der Braut umschrieben wurde41. 1764 verweigerte die Braunschweiger Posamentiererzunft einem Gesellen die Aufnahme wegen seiner Heirat mit einer vorehelich Geschwängerten42. Noch 1782 heißt es in der Allgemeinen deutschen Bibliothek: „In den Städten leidet der Zunftzwang der Handwerker keine Geschwächte"43, und ein Kenner wie Garve wies im ausgehenden Jahrhundert darauf hin, „wie groß noch in der Classe der Handwerker die Schande eines geschwächten Mädchens (sei)", und daß derjenige, der eine Geschwächte heirate, nicht Meister werden könne44. Es ist deshalb nicht nur schlagfertiger Witz, sondern dieses handwerkliche Normensystem, das eine Tradition hinter sich weiß, das den protestantischen Leinewebergesellen Riedel in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts einem Ordensgeistlichen, der ihn mit „mein Sohn" angeredet hatte, entgegnen läßt: „Wäre ich Ihr Sohn, so wäre ich ein Bastard, ich aber bin von ehrlicher Geburt"45. In all jenen Fällen wurde die stärkste Sanktion der Zunft als Gruppe, die Ausstoßung, angewandt oder angedroht. Daneben konnte die zünftische Sittenkontrolle auf Geldbußen zurückgreifen, welche sie kraft eigener Gerichtsbarkeit, die den Zünften auch nach den Beschränkungen des Reichsabschieds von 1731 belassen worden war 46 , verhängen konnte. Die redit begrenzten Strafgelder sollten zwar in erster Linie Verstöße gegen Innungsartikel und Handwerksgewohnheiten ahnden, jedoch war es „häufig gewöhnlich und auch wegen des Wohlverhaltens der Handwerker ausdrüddich erlaubt, gemeine Verbrechen, wenn solche zuvor von der Obrigkeit untersucht worden (waren), ebenfalls mit einer Strafe zu belegen", wozu Ortloff ein instruktives Beispiel bringt: „So wurde... d. d. Ansbach am 28. Jan. 1740 verordnet: daß, wo den Handwerkern bey Adulteranten, Fornicanten oder andern Verbrechen, die sogenannte Abwaschung erlaubt, so sollen von diesen so viel fünfzehn Kreuzer in die Lade erlegt werden, als wie viel Gulden dieser oder jener gnädigster Herrschaft für Strafe zu entrichten hat". Wurde der Ehebrecher oder Fornikant zu Hofgarten- oder Sprengarbeit auf der Festung Wülzburg verurteilt, mußte er für jeden Monat 1 fl bzw. 1 Rtl. in die Handwerkslade zahlen47. Aus Augsburg wurde über die „ledigen Handwerksleute, die sich gegen das sechste Gebot (vergingen)", berichtet, „daß die meisten, wenn sie einkommen, und das Meisterrecht erlangen wollen, zuvor nach ihren Handwerksartikeln sich mit ihrer Lade vorher abfinden müssen. Die alten Meister sehen hierin den jungen nichts nach"48, und nach Ortloff war „dieses sogenannte Abwaschen 41 Beneke, O., Von unehrlichen Leuten. 2. A. Berlin 1889, S. 99. In Kiel griff die Obrigkeit ein. Nach der um 1740 geänderten Leinweberrolle sollte „ein Meister, der eine Frau, die vorher mit einem andern verkehrt hatte, heiraten würde, ausdrücklich zu den gleichen Bedingungen wie jeder andere aufgenommen werden", Hähnsen, S. 149. 42 Kulischer, 1. c., II S. 142. Die protestierenden Meister wiesen darauf hin, daß diese Bestimmung in anderen Staaten eingehalten werde. 43 Allgemeine deutsche Bibliothek. LH 1782, S. 152. 44 Garve, S. 51. — 1739 wurde ein Guhrauer Meister aus der Zunft gestoßen, weil er eine Frau geheiratet hatte, „die sich im ledigen Stande von einem Unteroffizier habe schwängern lassen", Klapper, S. 57. 4 5 Riedel, S. 102. 46 Proesler, S. 62». 47 Ortloff, Recht, S. 147, 148 f. — „Ich könnte ganz neue Beyspiele anführen, wo wegen . . . Ehebruch . . . von der Zunft gestrafte Meister auf einem abgesonderten Stuhl zu sitzen, verdammt wurden. Diesen Schandstuhl konnten sie durch ihr Hinwegbleiben aus den Zunftversammlungen leer stehen lassen, und doch wohnten sie immer bey", Weiß, S. 353. 1744 konnte sich das Kieler Sattleramt beim Ehebruch eines Meisters über die Höhe der Strafe nicht einigen und griff auf die verbotene „Provokation aus dreier Herren Länder" zurück, wogegen die Obrigkeit einschritt, Hähnsen, S. 149. 48 Nicolai, Reise, VIII Beilagen S. 91.
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an den meisten Orten so gewöhnlich, daß sich auch weder ein Meister noch ein Geselle, den dieses betreffen würde, dagegen aufzulehnen unterstünde"19. Wenn diese Aufweichung der Norm nun schon einem Geschäft mit der Unzucht bedenklich ähnelt, zeigt auch die sonstige Praxis bemerkenswerte Abweichungen. Ein extremes Beispiel wird aus der Schweiz berichtet. Als 1725 eine Landstreicherin und Diebin vom Schwyzer Malefizgericht abgeurteilt werden sollte, rettete ihr ein Gerbergeselle aus Schwaben das Leben, indem er sich bereiterklärte, sie zu heiraten: „Sein Entschluß rühre einzig aus christlichem Mitleiden her; auch habe sein Großvater eine solche Weibsperson dadurch, daß er sie heiratete, beim Leben erhalten, und Glüdc und Segen habe auf ihrer Verbindung geruht"50. Ich erwähnte schon vorhin die Nürnberger Gesellen, welche die Stadt mit ihren Bräuten wegen vorehelichen Verkehrs verließen und in den Nachbarstädten offenbar ihr Handwerk ausüben konnten. Ich erinnere weiter an den Seilermeister Tieck, dessen Frau das uneheliche Kind eines Landhandwerkers war, und der doch im Berliner Zunftleben als gewandter Sprecher eine Rolle spielte. Wollte man hier aber geltend machen, daß das ein Beispiel aus dem endenden Jahrhundert sei und die großstädtischen Verhältnisse berücksichtigt werden müßten, so darf man nicht übersehen, daß noch in eben diesem friderizianischen Berlin die Maurer in Aufruhr gerieten, nachdem ein Geselle einem anderen eine tote — „unehrlich" machende — Katze in den Kalkkasten geworfen hatte 51 . Sehr aufschlußreich ist aber vor allem Rollers Beurteilung der Durlacher Praxis: „Soweit ich sehe, wurden Söhne, die durch nachfolgende Ehe der Eltern tatsächlich legitimiert waren, ohne Einspruch in den Zünften angenommen. Ja, sogar unehelich gebliebene erlangten die Aufnahme. Allerdings wehrten sich die Zünfte oder vielmehr die Bürgerschaft gegen ihre Einführung als Bürger und Meister, aber doch nur dann, wenn dieselben nicht genügende Sicherheit durch Vermögen oder Fähigkeiten gegen Verarmung boten; in solchen Fällen, die nicht ganz selten waren, wurde gerne mit Nachdruck auf den Gebinisdefekt hingewiesen. Andere Fälle jedoch, in denen die übrigen Bedingungen der Aufnahme genügend erfüllt waren, und dieselbe unbeanstandet blieb, beweisen, daß der sonst erhobene Widerspruch in der Illegitimität des Aufzunehmenden nur eine erwünschte Stütze fand" 52 . Auch wenn Rollers Folgerungen zutreffend sein sollten, dürfen sie doch nicht ohne weiteres verallgemeinert werden, dafür wiegt allein Garves Urteil zu schwer53. Andererseits kann man diese Beispiele aber auch nicht als bloße Ausnahmen abtun oder durch den Hinweis auf die Diskrepanz zwischen Ideologie und Wirklichkeit. Beide Momente, die später wieder unter anderer Perspektive begegnen werden, gehören ins Bild der handwerklichkleinbürgerlichen Welt, und die Analyse darf keines auf Kosten des anderen vernachlässigen. Den wirtschaftlichen Aspekt umschreibt das Handwerkerethos mit dem Terminus „Nahrung", den man nur inadäquat mit standesgemäßem Auskommen übersetzt 54 . „Nahrung" steht vielmehr für ein ganzes Programm der Lebensführung, das sich im rein ökonomischen nicht erschöpft, sondern fundiert ist von der Auffassung einer geordneten Welt, die dem handwerkenden Menschen Rechte und Pflichten vorgibt 55 . Ortloff, Recht, S. 149. Nach Bächtold, S. 69. 5 1 Zelter, S. 55. 5 2 Roller, Durladi,S. 287 f. 6 3 Vergl. S. 93. 54 So wird ihr auch etwa Sombarts „Bedarfsdeckungsprinzip" nicht gerecht, Der moderne Kapitalismus. 1,1 München—Leipzig 1928, S. 14; vergl. auch Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert. 8. A. Darmstadt 1954, S. 55. 55 Müller-Armack bemerkt hierzu, „daß entscheidende Züge der Zunftordnimg im kirchlichen System und seiner Dogmatik ihren letzten Halt hatten . . . Nur im Räume 49
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Hinsichtlich der Verpflichtungen gegenüber den Konsumenten und dem Gemeinwesen mag hier der Hinweis genügen. Aber nur, wenn man sie vor Augen hat, lassen sich die Privilegien, welche die Zünfte aus dieser Gegenseitigkeitsbeziehung ableiteten, rechtfertigen. Es sind zünftische Privilegien, an denen der Einzelne nur als Mitglied der Genossenschaft partizipierte, was die Ausschließung der freien Konkurrenz und weitreichende Produktionsbeschränkungen zur Folge hatte. So wurde nach der Forderung der Reformatio Sigismunde: „Es sind Handwerck darum erdacht / daß j e d e r m a n n sein täglich Brodt gewinnen sol damit / und sol niemand dem andern greiffen in sein Handwerck"56 auch dem wirtschaftlich Schwächeren die Mittel zu „wohlanständiger Existenz" (Gierke) garantiert. Diese sozialethische Fundierung des Wirtschaftens erscheint unter volkswirtschaftlicher Perspektive — ebenso wie die des „Hauses" und seiner Ökonomik — nur als Mangel, als niedrigere Gesamtproduktion und Hemmschuh für rührige Mitglieder. Aber „die Fesseln, welche dadurch dem Einzelnen auferlegt wurden, konnten erst bei verändertem Geist und veränderten Verhältnissen als solche erscheinen"57, die sich freilich mit Merkantilismus und Frühkapitalismus im 18. Jahrhundert anmeldeten. Wenn dieser idealtypische Aufriß das Verhalten des Handwerkers nicht nur im 18. Jahrhundert, sondern auch in der „Blütezeit" der Zunft selbstverständlich nur näherungsweise beschreibt, und Tendenzen, die auf die Zunft als „eine rein aufs Wirtschaftliche beschränkte Zweckgemeinschaft" 58 abzielen, im Untersuchungszeitraum nicht zu übersehen sind, so ist doch das Denken in jenen Kategorien noch weithin für die Zeit charakteristisch59, wie jede Durchmusterung der damaligen Zunftordnungen bestätigt. Ein zentrales Moment ist die Wettbewerbsbeschränkimg, die unter verschiedenen Perspektiven immer wieder begegnet. So galt allgemein, daß „kein Meister dem andern die kauffleuth vom Standt und Laden abraffen und Zu sich ziehen" solle, wie es in dem Zunftbrief der Wollentuchmacher zu Hersfeld 1730 hieß60, und ganz in diesem Sinne wandte sich noch um 1800 Lossius im Meister Liebreich gegen den „Nahrungsneid"61. Die Hersfelder Schreiner verboten die Werbung überhaupt: „Soll kein Meister bey einem Bürger umb arbeit nachsuchen, oder sich darzu anerbiethen, noch auch umb diesen Articul listiglich zu wieder zu handeln, ohne erheischende Noth Geldt oder Waare auffzunehmen, umb dadurch den Bürger gleichsamb zu Nöthigen, und zu binden, daß aufgenommene bey ihm ab-Verdienen zu laßen"62. Diese negativen Forderungen sind im Zunftbrief der dortigen Tuchscherer und Tuchbereiter aus dem Jahre 1752 ins Positive gewendet, nämlich gegeneinander „aufrichtig und in allem beförderlich" zu sein63. Im einzelnen wird etwa verlangt, es solle „Keiner dem andern sein gesinde verreitzen, abspannen und verleyten weder heimlich noch einer Ethik, die irdischer Rastlosigkeit ablehnend gegenüberstand, die ihrer kontemplativen Haltung wegen einem sich verzehrenden Arbeitstrieb mißtraute, konnte sich die Idee der Nahrung herausbilden. Wenn auch dieser Gedanke erst mit dem Niedergang der Zunftverfassung bewußt gefaßt wurde, so ist er doch im Hochmittelalter in vielen typischen Zunftregeln sichtbar", Genealogie der Wirtschaftsstile. 3. A. Stuttgart 1944, S. 222, 225. 56 Nach Proesler, S. 30; von mir gesperrt. 57 Gierke, O., Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft. Berlin 1868, S. 391. 58 Proesler, S. 65. 59 Vergl. etwa Fischer, Handwerksrecht, S. 83. 60 Demme, II S. 304. Zunftartikel der Sattler zu Hersfeld 1765: „Es soll auch Keiner aus diesem Handwerdc seinem Mitmeister seine Kunden abspannen", III S. 292. 6 1 Lossius, Meister Liebreich, I S. 27. Eine Episode verurteilt den Versuch, Lieferanten abspenstig zu machen, S. 25. 02 Demme, II S. 289. 63 Demme, II S. 341. Vergl. S. 206.
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öffentlich"®4. Weiter führt das Reichstagsgutachten von 1731 als „Mißbrauch" an, daß „die Handwercker... diese Gewohnheit unter sidi haben, daß, was ein Meister angefangen, der andere nicht ausmachen s o l l . . . ; gleichergestaltt, wann man von einem Meister ausstehet und einen andern gebrauchen will, ob auch jener bereits bezahlet wäre, dieser sich der Arbeit verweigert; sodann, was ein Meister als Schlosser, Schmiedt u. dergleichen verfertiget oder sonsten gemacht, erkauffet wird, andere nicht anschlagen, noch in andere Wege ihre Arbeit daran legen wollen"65. Auch beim Einkauf wurde die Konkurrenz ausgeschaltet. So sollte kein Bäckermeister „den anderen mit der Frucht zu seinem Handwerck dienlich vorsetzlich hinterkaufen, oder in den Kauf fallen" 64 . Produktionsbeschränkungen wurden von den Zünften entweder direkt — „soll auch keiner nicht mehr, als auf einem offenen Fenster, auserhalb der offenen Brodschirn auf dem Marckte bei der Garkuchen, oder auf einem Tisch auf einem Jahrmarckte Brod und Wecke feil haben" 67 — oder indirekt, durch Beschränkung der Zahl der Lehrjungen und Gesellen, angestrebt68. Hierher gehören femer die Lohnund Preisabsprachen, die das Reichstagsgutachten bekämpfte69, und die Abschirmung gegen die Konkurrenz benachbarter Gewerbe70, wie die der Pfuscher und Bönhasen aus den eigenen Reihen, die bis in das 19. Jahrhundert hinein teils mit obrigkeitlicher Duldung von den Zünften „gejagt" wurden71. Jeder neue Bewerber bedeutete in dieser Sicht natürlich eine Schmälerung des Nahrungsspielraums, und so tendierten die Zünfte in einem immer stärkeren Maße auf einen numerus clausus hin, um ein „Übersetzen" zu verhindern 72 . Diese Entwicklung, welche die Obrigkeit mit meist geringem Erfolg durch die Einsetzung von „Freimeistern" zu bekämpfen suchte, bot schließlich nur noch einer relativ kleinen Zahl Privilegierter die Chance, Meister zu werden. An erster Stelle rangierten hier selbstverständlich die Meistersöhne, die das Handwerk des Vaters erlernen wollten. Ihnen wurde nicht nur eine geringere Einschreibgebühr, sondern auch „verschiedenes zum Vortheil in Verkürtzung der Wander-Jahre dann auch bey dem Meister-Stück, zu nicht geringem Schaden des hierdurch mit schlechten Handwercks-Leuten beladenen gemeinen Wesens, zugestanden und nach6 4 Demme, II S. 256, 290 u. ö.; über solche Fälle von Abwerbung Hähnsen, S.218, 153 f. 6 5 Reichsgutachten XIII,2 = Proesler, S. 67". 6 8 Demme, III S. 313. 6 7 Demme, III S. 313. Ein Solinger Messerschmied durfte täglich höchstens zehn Messer herstellen, Stadelmann-Fischer, S. 105. 6 8 Demme, II S. 290, 308, III S. 312. In Aachen waren einem Tuchmacher nach F. Nicolais Geschichte eines dicken Mannes. Berlin und Stettin 1794, S. 17, „nicht mehr als 4 Stühle" 'erlaubt. Noch im Jahre 1816 begannen die Hamburger Grobbäcker einen Prozeß gegen einen Weißbäcker, weil er in zwei Öfen backte, Fischer, Handwerksrecht, S. 55. Vergl. noch Ortloff, Corpus, S. 572; Bruns, S. 26, 86. 6 9 Reichstagsgutachten XIII, 3 = Proesler, S. 67". 70 Vergl. Fricke, 1. c„ S. 177 ff.; Ortloff, Recht, S. 326 f. 7 1 Diese Seite der gewerbepolizeilichen Funktionen der Zünfte, das sog. „Bönhasenjagen", ist oft beschrieben worden. Material bei Wissell, I S. 341 ff. Vergl. Fischer, Handwerksrecht, S. 54; für Kiel Hähnsen, S. 256 f., 325—328; für Hamburg Rüdiger, O., „Bönhasen und Handwerksgesellen". Hamburg vor 200 Jahren. Hsg. v. Schräder. Hamburg 1892, S. 217—259. Nach v. Heß kamen im ausgehenden Jahrhundert dort bei den Schustern auf 120 Meister und 200 Gesellen 2000 Bönhasen; die Angaben für Grobschmiede und Schlosser: 50 Meister, 120 Gesellen, 1000 Bönhasen, Tischler: 130 Meister, 150 Gesellen, 1800 Bönhasen, Hamburg topographisch und politisch beschrieben. II Hamburg 1789, S. 292. — Vergl. auch noch Nicolai, Sebaldus Nothanker, II S. 65 ff. 7 2 Reichstagsgutachten XIII, 7 = Proesler, S. 68*.
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gesehen"73. Die übrigen Gesellen hatten, sofern es ihnen die eigenen Mittel und der Handwerksgebrauch des Ortes gestatteten, allenfalls die Möglichkeit, sich „durch ein gewisses Stück Geld" in die Zunft einzukaufen, „an theils Orten aber ein unverheyratheter Geselle, wenn er zum Meister angenommen ist, das Handwerdc ehender und anders würddidi nicht treiben nodi den Laden eröffnen darff, er thue dann und zwar ins Handwerck heyrathen'"14. Die „Jungen, so Meisters-Wittiben oder Töchter heyrathen", genossen dann ähnliche Vergünstigungen wie die Meistersöhne75. Nach den Beschlüssen der wendischen Städte von 1710, 1719 und 1729 sollte sogar derjenige, der „keine Wittwe oder Meisters Tochter Heuraten wollte", „als ein Verächter des Ambts, er und sein Volk nirgends geehret noch gefordert werden, sondern von unserm Kreis ausgeschlossen und nimmer wieder aufgenommen werden" 76 . Noch 1749 appellierten die Knochenhauer zu Lübeck — freilich vergebens — an das Reichskammergericht wegen eines Ratsdekrets, das unter Umständen einem jungen Meister die Heirat außer Amts zugestehen wollte77. Sowohl das Reichstagsgutachten wie die Beschlüsse der wendischen Städte nennen die Witwen nicht zufällig an erster Stelle. Doch gerade diese, für den modernen Betrachter so schwer nachvollziehbare Konsequenz des Versuches, aus der Zunft einen endogamen Verband zu machen, resultierte nur aus dem Bestreben, das Problem der „Nahrung" (und Lebensversicherung) auch für die weiblichen Mitglieder der eigenen Gruppe zu lösen78, ein Problem, das in jener Zeit ohne ausreichenden Versicherungsschutz ein sehr dringliches sein mußte. Ich habe früher bereits solche Ehen geschildert78 und ihre Problematik skizziert. Welche Mißlichkeiten jedoch im Umkreis einer solchen Einstellung auftreten konnten, mag ein Beispiel deutlich machen: 1729 wollte ein Schmiedegeselle ein Mädchen heiraten, mit dem er sich „fleischlich vermischet". Er wurde aber unter dem Verdacht, „mit deren verstorbenen Mutter, als seiner ehemaligen Braut, gleichfalls Schande getrieben zu haben", verhaftet. Im Verhör ergab sich, daß er mit der Mutter des Mädchens „gantz allein, nicht ein, sondern vielmahl, ja gantze Wochenlang" in einem Bett geschlafen hatte, doch sprach für seine Versicherung, er 73 Reichstagsgutachten XIII, 7 = Proesler, S. 68*. Bei den Hersfelder Bäckern sollte 1788 ein Meistersohn „diese Innung gar haben", bei Einheirat brauchte er sie nur halb zu kaufen, Demme, III S. 311; als Ablösung der Wanderschaft zahlte bei den Schneidern in Heilbronn ein Bürgersohn 30 fl, wer eine Witwe oder Meisterstochter heiratete 15 fl, ein Meistersohn 13 fl, Hussong, S. 75; vergl. Bruns, S. 18, 114. 74 Reichstagsgutachten XIII, 6 = Proesler, S. 68". 75 Reichstagsgutachten XIII, 7 = Proesler, S. 68". Bei der Seilerzunft zu Baden waren 1736 an Meistergebühren zu zahlen von einem Fremden je 7 fl an die Zunft- und fürstliche Kasse bei Einheirat 5 fl von einem Bürgersohn 4 fl bei Einheirat 3 fl von einem Meistersohn 2 fl Ziegler, O., Das Zunftwesen der Markgrafschaft Baden-Baden von 1535 bis 1771. Diss. Frankfurt 1933, S. 28. 76 Warncke, J., Die Zinngießer Lübecks. Lübeck 1922, S. 27; vergl. Ordnung der Braunschweiger Knochenhauer, Fuhse, F., Handwerksaltertümer. Braunschweig 1935, S. 20*. 77 Gierke, Genossenschaft, S. 371. 78 „Noch im Uberlinger Stadtrecht von 1707 ist vorgesehen, daß die Zunftmeister die Vormundschaft über (Witwen und Waisen) führen", Schmelzeisen, G. K., Die Rechtsstellung der Frau in der deutschen Stadtwirtschaft. Stuttgart 1935, S. 43. — Jene Art der Witwen- und Töchterversorgung war nicht auf die Handwerker beschränkt. In Speyer wurde nur der als Bürger aufgenommen, der entweder Vermögen besaß oder eine Witwe bzw. Bürgertochter heiratete, Weiß, S. 135; vergl. auch Wölfling, Reise, I S. 121; Lehrer: Henß, S. 121, Ott, S. 283, 290; Pfarrer: Laukhard, I S. 281; Scharfrichter: Schuhmann, 1. c„ S. 148, 149, 151 f., 154, 166. 78 Vergl. S. 27 f.
7 Möller, Kleinbürgerliche Familie
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habe keine Unzucht mit ihr getrieben, daß „die Mutter eine alte und stets krandce Frau gewesen, also weder selbst zurfleischlichenVermischung Lust gehabt haben, noch dergleichen bey ihm erwecken können", vor allem aber — was in diesem Zusammenhang interessiert —, daß „Inquisit die Mutter nicht aus Liebe, sondern nur deßhalb caressiret, damit er in die Schmiede kommen möchte, und, als er dessen versichert gewesen, sich von der Mutter ab, und zu der Tochter gewandt"80. Andere Fälle, die einer gewissen Tragikomik nicht entbehren, teilt Wamcke aus Lübeck mit81. Diese Nachrichten erhalten aber erst Relief, wenn man bei Hähnsen liest, daß es um 1690 in Kiel „von über 40 Schneidermeistern nur drei oder vier (gab), die niciit ins Amt gefreit und sich deshalb mit dem Amte abgefunden hatten. Erst allmählich verschob sich das Verhältnis der Aufnahmen derart, daß, was bisher als Regel empfunden wurde, jetzt zu einem Vorrecht wurde" 82 . Wenn im einzelnen in dieser Hinsicht auch mit erheblichen Unterschieden zu rechnen ist — Menn konnte etwa für Greifswald zeigen, daß von 17 Budibindermeistern zwischen 1736 und 1815 15 Fremde waren, von denen sich nur für 2 nachweisen ließ, daß sie eine Meisterwitwe geheiratet hatten83 — so gibt doch Schmollers Feststellung für Bayern zu denken, daß man, „wenigstens in den größeren Städten, gegen 1800 nur nodi mit vollen Börsen oder an der Hand einer verwelkten Meisterswitwe in den engen Ring der realberechtigten Meister eintreten" konnte84. Freilich werden wir uns mit den ökonomischen Hintergründen dieser Erscheinung noch eingehender beschäftigen müssen. Das Verhältnis von Zunft und Familie bzw. Haus ist mit „Ehrbarkeit" und „Nahrung" allerdings noch nicht ausdefiniert und verlangt einige Ergänzungen. Dadurch, daß der Lehrjunge in den Meisterhaushalt aufgenommen wurde, erwuchsen für beide Seiten Verpflichtungen, die über das Berufliche hinausgingen, aber gleichfalls von der Zunft normiert wurden. Die Fuldische Polizeyverordnung für die Handwerker von 1784 verlangte ausdrücklich, der Meister solle „Vaterstelle an dem Lehrjungen vertreten"85. Er hatte den Lehrburschen nicht nur „gründlich und mit allem fleiß wohl (zu) unterrichten"86, sondern ihn auch zu „guten Sitten" anzuhalten87. Dementsprechend konnte er auch für das Verhalten des Lehrlings verantwortlich gemacht werden. Als es 1768 in Kiel zu den üblichen Reibereien zwischen Gesellen und Studenten gekommen war und sogar Lehrlinge sich daran beteiligt haben sollten, gebot der Rat den Amtsmeistern, auf ihre Jungen besser achtzugeben, sonst hafteten sie selbst für die Strafe88. In diesem Zusammenhang muß man das erwähnte Züchtigungsrecht des Meisters sehen89 oder die Auflage, „ohne des Meisters Wissen und Bede, S. 621. Warncke, 1. c„ S. 28. 82 Hähnsen, S. 231. 83 Menn, W., „Wandemde Buchbindergesellen in Greifswald zur Schwedenzeit". Pommersche Jahrbücher. 33 1939, S. 37—62, 37. 84 Schmoller, Umrisse, S. 455. 85 Ortloff, Corpus, S. 318. 86 Demme, II S. 340. 87 Ortloff, Corpus, S. 319, 125. 88 Hähnsen, S. 207. Vergl. das „Mandat der Stadt Hannover, das Schwärmen und Lermen der Handwerks-Gesellen und Lehrjungen betreffend" von 1790, das allen dortigen Handwerkern die „emstliche Auflage" machte, „ihre Gesellen und Lehrlinge fleissigst und emstlichst zu ermahnen, sich allen . . . Unfugs innerhalb und ausserhalb der Herberge und Häusern ihrer Meister zu enthalten", Gatterer, Chr. W. J., Technologisches Magazin. II Memmingen 1792, S. 255. In Kiel hatten die „Bürgen im Ambt" den Lebenswandel ihrer Lehrjungen zu beaufsichtigen, Hähnsen, S. 178; Aufsichtsverpfliditung der Hausväter über Kinder und Gesinde: Walch, II S. 293 (Memmingen), Fürth-Janssen, S. 458. 89 Vergl. S. 59. 80
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Willen nicht aus dem H a u s e . . . zu gehen" 90 bzw. nachts auszubleiben91. Diese Forderung galt ebenso für den Gesellen82, wie er ja auch schuldig sein sollte, „den häuslichen Einrichtungen seines Meisters, so lange er bey ihm arbeitet, Folge zu leisten" 93 und ihm gegenüber „in Reden, Gebärden und Kleidung sich der Sittsam- und Ehrbarkeit" zu befleißigen84. Schließlich entsprach auch dem Modell des Hauses, daß die Verpflichtung des Meisters nicht nur die Sittenkontrolle im engeren Sinne, sondern ebenso die „christlichen Tugenden" einbegriff. Deshalb bestimmte der Zunftbrief der Tudischerer und Tuchbereiter zu Hersfeld und Vacha von 1752: „Die Sonn-, Fest- und Bettage sollen Gott zu ehren gefeyert werden, und jeder seine Domestiquen zum Gottes-Dienst fleißig anhalten" 85 . Aus den Biographien wissen wir, daß das auch geschehen ist96. Entsprechendes gilt für den katholischen Bereich, wo sich z. B. in Fulda zu den Messen, die im Auftrage der Schreinerzunft gehalten wurden, die Meister mit ihren Gesellen und sämtlichen Familienmitgliedern einfinden mußten91, oder wo die Artikel der Münchner Bädcerknechte von 1778 bestimmten, „daß bei der allhiesigen Lade und Bruderschaft . . . sowohl die Haupt- als übrigen Gottesdienste an deren hergekommenen Zeiten und Kirchen gehalten werden sollen"98. Schließlich bleibt neben den geselligen Zusammenkünften der Meisterfamilien noch die wichtige Rolle zu erwähnen, die den Zünften und Brüderschaften beim Leichgang zufiel. Um ein standesgemäßes Begräbnis zu garantieren, wurden etwa in Kiel im Laufe des 18. Jahrhunderts Totenkassen eingerichtet89, ebenso in Lübeck 100 ; die Bruderschaft der Münchner Bädcerknechte stellte ein eigenes „Leichtuch" (Bahrtuch) zur Verfügung101; in Lübeck werden — außer des „Ambtes Boldt oder sammetten Lakken" — silberne Sargschilde des Zinngießeramtes erwähnt102. Wenn sich in diesen Nachrichten mehr oder weniger lokale Sonderformen spiegeln, galt doch allgemein die Leichenfolge der Zunftgenossen: „Verstirbt ein Meister, Haußfrau, Kinder oder Haußgenoßen, sollen die Jüngste Meister die Leiche zur Grabstätte tragen, die andern aber sämbtl. oder da sie nicht zur stätte, oder sonsten nöthig zu thun hätten, und durch andere Ehrhafften Verhindert würden, ihre Haußfrauen oder anders aus ihrem Hauße zu gewohnlr. Stunde auf erfordern erscheinen, der Leiche biß zum Grab folgen, und wenn einer alßo nicht er scheinet, noch Jemand von den seinen abschicket, der soll mit 8 albs. gestraffet werden 103 ." Es scheint mir nicht notwendig, für diese oft beschriebenen bruderschaftlichen Aspekte des Zunftlebens weitere Belege zu häufen. Hier handelt es sich nur darum, sichtbar zu machen, daß die Zunft das Leben des Handwerkers im Untersuchungszeitraum von der Wiege bis zur Bahre mit For-
Ortloff, Corpus, S. 205. Ortloff, Corpus, S. 234. 92 Ortloff, Corpus, S. 234, vergl. S. 574, 617; Bruns, S. 76, 78; Stahl, S. 283. 83 Allgemeines Landrecht für die Preussischen Staaten, nach Ortloff, Corpus, S. 136; so wörtlich auch in den Sachsen Coburg-Saalfeldischen allgemeinen Innungsgesetzen, S. 617. 91 Ortloff, Corpus, S. 448. 8 5 Demme, II S. 340 f.; Hähnsen, S. 180; Allgemeines Landrecht für die Preussischen Staaten, nach Ortloff, Corpus, S. 125, Fuldische Polizeyverordnung, S. 319; Verpflichtung für „Bürger und Unterthanen", ihre Dienstboten und Kinder zur Kinderlehre zu schidcen, Fürth-Janssen, S. 499. 96 Vergl. Harnisch, S. 19. 87 Hohmann, J., Das Zunftwesen der Stadt Fulda. Fulda 1909, S. 120. 98 Grassl, S . 4 5 f . 99 Hähnsen, S. 172 ff. 100 Wamcke, 1. c., S. 54. 101 Grassl, S. 46. 102 Wamcke, 1. c., S. 53. 103 Demme, II S. 292 f.; „auch nach geendigter Leichpredigt wiederumb mit denen leidt Tragenden Vor das Haus, daraus die Leiche getragen worden, ordentlich gehen", II S. 305, III S. 314; Ortloff, Corpus, S. 522. Vergl. Lenhardt, Feste, S. 65 ff. 90
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derungen und Verhaltensmustern umgab und ihre Verwirklichung mit mehr oder weniger nachdrücklichen Sanktionen durchzusetzen suchte. Als Ergebnis dieser Durchmusterung der für das kleinbürgerliche Leben bedeutsamen Normensysteme scheint sich mir ein Doppeltes abzuzeichnen. Zunächst einmal, daß ihre wesentlichen Sätze hinsichtlich der Verhaltensformierung — trotz mancher Inkongruenzen, die sich, wie etwa in der Frage handwerklicher und bürgerlicher Ehrbarkeit, teils zum offenen Konflikt ausweiten konnten — letztlich im Modell des Hauses übereinkamen. Zum andern aber hat sich gezeigt, daß die von ihnen fundierten Institutionen sich in vielfältiger Weise überschnitten und verzahnten. Die Familie erschien in der Form des Hauses als kleinste religiöse Zelle, als Verwaltungs- und Ordnungseinheit oder Produktionsgruppe. Umgekehrt aber trafen sich etwa Kirche und Zunft in der Forderung eines christlichen Lebens, bemühten sich Obrigkeit, Kirche und Zunft um eine Abschirmung des Familienlebens gegen sexuelle Verlockungen, wobei ihre Methoden und Sanktionen ineinander übergingen oder doch parallelliefen, und deren Wirksamkeit von zusätzlichen Verzahnungen in anderen Bereichen des sozialen Lebens profitierten: Die Mehrfunktionalität der alten Institutionen bedingte ihr Irrationales und ihre Inkonsequenzen aus der Sicht des modernen Betrachters, aber zugleich ihre Stärke und eine Stabilität, welche die Stetigkeit für eine umfassende Verhaltensformierung gewährleistete.
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IV. Lebensstandard Der Versuch, die materielle Basis des kleinbürgerlichen Lebens zu umschreiben, stößt auf erhebliche Schwierigkeiten. Zwar liegen vom Ende des Jahrhunderts eine ganze Reihe von Erhebungen vor, aber sie begnügen sich im allgemeinen mit leicht auszählbaren Fakten, wie Kopfzahl, Anzahl der Meister und Gesellen usw., und wurden schon von den Statistikern des 19. Jahrhunderts als nutzloser Tabellenkram bewertet. Zudem beschränken sie sich meist auf recht kleine Gebiete, wobei die wirtschaftlichen Konsequenzen der territorialen Zersplitterung, die am sichtbarsten im monetären Bereich hervortreten, Verallgemeinerungen recht enge Grenzen setzen, ganz abgesehen davon, daß sich eine volkskundlich ergiebige Erörterung des Lebensstandards nicht mit quantitativen Befunden — Löhnen, Preisen und ihrem Verhältnis zueinander —• zufrieden geben kann, sondern auch Einstellungen und Ansprüche einkalkulieren muß, die in jene Erhebungen nicht eingegangen sind.
1. Einkommensniveau Die zeitgenössischen Lohnangaben lassen sich nur sehr bedingt vergleichen. Selbst wenn man die problematische Umrechnung der zahlreichen Währungen einmal ausklammern wollte, ist z. B. bei Tagelöhnen nicht immer mit Sicherheit auszumachen, ob noch Kost hinzukam, die wiederum recht verschieden ausgefallen sein muß 1 , und die verschiedenen Arten der Lohnberechnung oder das Verhältnis von Lohn-Taxen und tatsächlich gezahlten Löhnen werfen neue Fragen auf. Aber trotz des aufs ganze gesehen unbefriedigenden Standes der Forschung auf diesem Gebiet dürften doch für unsere Zwecke ausreichende Antworten möglich sein, nachdem durch die minuziösen Untersuchungen von Elsas 2 wenigstens eine gewisse Vergleichsbasis für die verstreuten einschlägigen Nachrichten geschaffen worden ist. Löhne und Preise werden im folgenden, soweit nötig, über die jeweilige Scheidemünze auf Gulden und Reichstaler (3 fl = 2 Rtl.) umgerechnet3, ohne die verschiedenen 1 Nach der Osnabrückischen Löhnungstabelle von 1702 schwankte z. B. der Betrag für Kost bei verschiedenen Meister-Tagelöhnen zwischen 2 ß 12 Pfg. und 4 ß, Winkler, K., Landwirtschaft und Agrarverfassung im Fürstentum Osnabrück nach dem Dreißigjährigen Krieg. Stuttgart 1959, S. 147. 2 Elsas, M. J., Umriß einer Geschichte der Preise und Löhne in Deutschland. I / I I A, B Leiden 1936/49. 3 Vergl. etwa Busse, F. G., Kenntnisse und Betrachtungen des neuem Münzwesens. I/II Leipzig 1795/96; Flörke, H. G., Die Münzkunst und Münzwissenschaft. Berlin 1805; Bohn, G. Chr., Der wohlerfahrne Kaufmann. Hamburg 1719 (Neue Ausgabe 1750; 5. A. 1789); Nelckenbrechers Taschenbuch der Münz- Maaß- und Gewichtskunde
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Münzfüße zu berücksichtigen4, da es hier nur auf die Größenordnung ankommt und zum andern auch den korrigierten Werten angesichts der stärkeren lokalen und zeitlichen Schwankungen der Lebensmittelpreise, die bei der heutigen Quellenlage nur in begrenztem Umfang für einen überregionalen Kaufkraftvergleich zur Verfügung stehen, keine wesentlich größere Aussagekraft zukäme als dem Nominalwert. Dem •—• nicht unwidersprochenen — Vorgehen vieler Wirtschaftswissenschaftler, das Edelmetalläquivalent der Münzsorten zugrundezulegen 5 , das bei wirtschaftlichen Vorgängen von einer gewissen Größe an sicher angebracht ist, steht in unserem Zusammenhang vor allem entgegen, daß der Kleinbürger in vielen Fällen in Kreuzern und Groschen entlohnt wurde und sich auch die Ausgaben für Lebensmittel und Materialien weithin im Bereich der Scheidemünzen hielten 6 . Solche wegen des Schlagschatzes schlechteren Münzen standen zwar in festen Relationen zur Leitwährung, doch schwankte die Höhe des Schlagschatzes von Fall zu Fall. Dies und die Tatsache, daß oft fremde Scheidemünzen neben den inländischen benutzt wurden, brachte schon die Zeitgenossen in Verlegenheit7, selbst wenn nicht Münzmanipulationen die Verhältnisse noch weiter komplizierten. Die Umrechnimg der Scheidemünzen auf den Silbergehalt täuschte deshalb eine Exaktheit vor, die angesichts dieser Fehlermöglichkeiten im Umkreis des kleinbürgerlichen Wirtschaftens im allgemeinen nicht zu erreichen ist. Zur ersten Orientierung über Handwerkerlöhne am Beginn des Untersuchungszeitraums mag die Tagewerkerordnung von München dienen, die 1705 erneuert worden war. Nach ihr sollten Zimmer- und Maurer-Meister 20 kr. Zimmer- und Maurer-Gesellen 18 kr. Zimmer- und Maurer-Lehrjungen 16 kr. Zuträger, gemeine Tagwerker 12 kr. Buben oder Weibspersonen 10 kr. erhalten 8 . Einen um ca. 20 % höheren Tagelohn sah die Stuttgarter Taxordnung von 1713 für Meister und Gesellen beider Handwerke vor®. Die tatsächlich gezahlten Löhne, die Elsas aus Münchner Kammerrechnungen zusammengestellt hat, lagen dagegen bis 1765 noch unter denen der Tagewerkerordnung 10 , während die Zimmer- und Maurergesellen in Augsburg oder Leipzig erheblich besser entlohnt wurden als ihre Berufsgenossen in München11. Bemerkenswert ist an den Befunden von Elsas die Konstanz der Löhne über Jahrzehnte, was wohl auf obrigkeitlichen Lohndruck zurückzuführen ist, aber nicht der allgemeinen Lohnentwiddung im Laufe des Jahrhunderts entspricht. Daß jedoch solche Tagelöhne von 20—25 kr. zumindest für die erste Hälfte als Anhaltspunkte gelten können, legen Nachrichten aus Württemberg nahe, wonach 1700 und noch nach der Kommunordnung von 1758 Ratsverwandte als Entschädigung für Zeitversäumnisse im öffentlichen Interesse pro Tag in Amtsstädten 24 kr., auf dem Lande 20 kr. erhielten 12 . für Kaufleute. 8. A. Berlin 1798, oder Gebrauchsliteratur, wie Curieuser und immerwährender astronomisch-meteorologisch-oeconomischer Frauenzimmer-Reise und Hand-Calender. 6. A. Erffurth 1737. Angaben für 1780—1790 bei Engel, F., Tabellen alter Münzen, Maße und Gewichte für Archivbenutzer. Rinteln 1965, S. 16—18, wobei die Warnung im Vorwort zu berücksichtigen ist. 4 Die wichtigsten Münzfüße variierten ca. ± 15 % um den Mittelwert. 5 Abel, W., Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Hamburg—Berlin 1966, S. 270 ff. 6 Vergl. Henß, S. 34; Klöden, S. 175; Bemoulli, Reisebeschreibungen, I S. 368. 7 Vergl. Flörke, 1. c„ S. 431 f. 8 Platzer, H., Geschichte der ländlichen Arbeitsverhältnisse in Bayern. München 1904, S. 208. 1729, 1733 und 1746 wurden für Meister 22 kr., für Gesellen 20 kr. festgesetzt. " Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins. XIII 1861, S. 146. Schreiner- und Glasermeister sollten 28 kr erhalten, die Gesellen 22—24 kr. 10 Elsas, I S. 712. 11 Elsas, I S. 732, 62. 12 Troeltsch, Calw, S. 224.
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Es handelt sich allerdings bei den Angaben von Elsas, wie der Autor ausdrücklich betont 13 , um keine typischen Zunftlöhne. Wenn auch im Untersuchungszeitraum die verschiedensten Arten der Lohnzahlung begegnen, dürfte doch bei den Gesellen die wöchentliche oder vierzehntägige Entlohnung vorgeherrscht haben 14 , wobei im Auge zu behalten ist, daß in der Regel noch Kost und Unterkunft im Haus des Meisters in Rechnung zu stellen sind. Vergleicht man Lohnangaben verschiedener Handwerke aus der ersten Jahrhunderthälfte mit solchen aus dem endenden Jahrhundert 15 , läßt sich eine teils beträchtliche Zunahme des Nominallohnes feststellen, ein Trend, den ich hier nur anhand einiger Beispiele verdeutlichen möchte: Die Löhne der Stuttgarter Bauhandwerker waren am Jahrhundertende gegenüber 1655 um 100 % gestiegen10. Bei den Hamburger Bäckern betrug die Lohnerhöhung von 1628 bis 1728 „zwischen 60 % und 70 % und nahm mindestens im gleichen Prozentsatz weiterhin zu, wie es die nächstfolgende Erhebung ausweist"17. Aus Nachrichten über in München durchgeführte Badeproben erfahren wir, daß 1731 der Lohn gegenüber 1618 um mehr als ein Drittel zugenommen hatte; die Erhebung von 1763 zeigt wiederum einen Anstieg um ca. 33 %, der aber nach der offiziellen Badeprobe von 1801 nicht mehr den realen Gegebenheiten entsprach 18 . 1804 klagten Braunschweiger Tischlermeister, früher hätten die Gesellen einen Wochenhöchstlohn von %—94 Rtl. erhalten, jetzt sei „das geringste Wochenlohn 1 Tlr. und steige bis U/2 und 2 Tlr." 19 . Wenn im letzten Fall, wie bei den Bäckern in Hamburg und München, nach Können und Leistung entlohnt wurde, mußte allerdings ein junger wandernder Geselle wie Henß notfalls auch mit untertariflicher Bezahlung zufrieden sein20. Von den Manufakturen der zweiten Jahrhunderthälfte, die ja ebenfalls Handwerker beschäftigten 21 , werden teils erheblich höhere Wochenlöhne berichtet, die bis 6 Rtl. betragen konnten 22 , teils eine Bezahlung, die beträchtlich unter dem Niveau der Handwerkerlöhne lag23. Das erklärt sich einmal aus dem Unterschied der Spezia13
Elsas, I S . 57. Daß diese Termine aber häufig nicht eingehalten wurden, mußte Bruns immer wieder in Akten des 17. und 18. Jahrhunderts feststellen, S. 173. Nach einer von ihm erwähnten Bestimmung der Trierer Hutmacher von 1665 sollte der volle Wochenlohn gezahlt werden, wenn 2 Feiertage in die Woche fielen, bei 3 Feiertagen nur der halbe, S. 167; vergl. Beier, A., Boethus . . . Der Handwerdcs-Gesell. Denuo prodiit cum augmento emissus Jena 1717, S. 157. 15 Vergl. z. B. Bruns, S. 164; Helwig, H., Das deutsche Buchbinder-Handwerk. Stuttgart 1962/65, II S. 98; Hellwag, Tischlerhandwerk, S. 357; Mauersberg, S. 554; Hähnsen, S. 219; Bruns, S. 165; Mauersberg, S. 562; Keferstein, S. 41; Wetter 1783, S. 40; Ott, S. 111; Hussong, S. 45; Schönfeldt, S.44f.; Voeldcer, S.396f.; Troeltsch, Calw, S. 246. 16 Troeltsch, Calw, S. 246. 17 Mauersberg, S. 555. 18 Mauersberg, S. 561 f. 19 Fuhse, Tischlergesellen-Bruderschaft, S. 8. 20 Henß, S. 42. 21 Zur Einstellung der Kleinbürger gegenüber Manufakturarbeit Kulischer, 1. c., II S. 156, 160, doch dürfen diese Nachrichten nicht verallgemeinert werden. Zünftisch organisierte Manufakturarbeiter: Hinze, K., Die Arbeiterfrage zu Beginn des modernen Kapitalismus in Brandenburg-Preußen. Berlin 1927, S. 135, 122; Reuter, O., Die Manufaktur im Fränkischen Raum. Stuttgart 1961, S. 200 ff. Vergl. zum Manufakturbetrieb femer Krüger, H., Zur Geschichte der Manufakturen und der Manufakturarbeiter in Preußen. Berlin 1958; Rachel, H., Das Berliner Wirtschaftsleben im Zeitalter des Frühkapitalismus. Berlin 1931; Forberger, R., Die Manufaktur in Sachsen vom Ende des 16. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts. Berlin 1958; Stieda, W., Die keramische Industrie in Bayern während des XVIII. Jahrhunderts. Leipzig 1906. 22 Krüger, S. 313, 327; vergl. Eberhardt, S. 66. 23 Troeltsch, Calw, S. 44. 14
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listen- und Arbeiter-Löhne, zum andern daraus, daß der Manufakturarbeiter sidi in der Regel selbst verköstigen mußte. Die Kost machte aber einen beträchtlichen Anteil der Gesellenentlohnung aus. Der Papiermüller Keferstein veranschlagte 1766 die Wochenverpflegung eines Gesellen mit 1 Rtl., was seinem Lohn entsprach24. Der gleiche Betrag wurde 1783 in Wetter für die dortigen Papiermüllergesellen angesetzt25. Bei den Münchner Backproben von 1708, 1731 und 1763 wurden 5/6, 7/9 bzw. 1V6 Rtl. Kostgeld zugrundegelegt26. Zur Kontrolle bieten sich die seitens der Armenfürsorge angestellten Berechnungen des Existenzminimums an: Nach dem Stuttgarter Kammerrat Benz benötigte ein Erwachsener 1774 0,4 Rtl.; v. Rothow setzte 1789 einen geringfügig höheren Betrag an; Wagemann rechnete vier Jahre später mit 0,45 Rtl. Kostgeld für einen Tagelöhner. Die Hamburger Angaben für 1788 decken sich ungefähr mit diesen Zahlen; 1792 wurden %, 1795 94, 1800 knapp 1 Rtl. geschätzt, wobei diese Steigerung im Rahmen der allgemeinen Erhöhung der Lebenshaltungskosten in jenen Jahren gesehen werden muß. Dazu stimmen auch die Berechnungen des Berliner Mindestbedarfs für Handwerker von Krüger, die abgerundet für 1750 V* Rtl., 1765 2/3 Rtl., 1800 1 Rtl. ergaben27. Der Versuch, das Einkommen von nicht-„handwerkenden" Gruppen des Kleinbürgertums zu ermitteln, trifft auf eine bedeutend ungünstigere Quellenlage. Bei den Subalternbeamten kommt hinzu, daß ein verbindliches Einstufungsschema fehlt, so daß sich die ohnehin schon stark differierenden Angaben nur sehr schwer vergleichen lassen. In Passau verdienten 1735 ein Hofratskanzlist 178 fl, ein Hofgärtner 464 fl zuzüglich Deputaten; 1778 erhöhte sich das Einkommen des Kanzlisten auf 250 fl und Deputate, während sich der Hofgärtner jetzt mit 400 fl und Deputaten begnügen mußte; dagegen wurden die Bezüge eines Leibkammerdieners von 175 fl auf 500 fl und Deputate erhöht. Diese Kanzlisten gehörten aber keineswegs zu der schlechtestbezahlten Gruppe der Subaltembeamten. Ein Polizeischreiber z. B. klagte 1802 mit Recht, er stehe sich mit 10 fl Monatseinkommen „schlechter als ein Tagelöhner"28. Im ausgehenden Jahrhundert verdienten der 5. Kanzlist bei einer preußischen Domänenkammer 140 Rtl., ein Kopist 50 Rtl.; der 1. Kanzlist bei der „Regierung in 170 Rtl., der 2. Kanzlist 120 Rtl.29. In Frankfurt erreichten die Stadttrompeter zwar 300 fl, die Schreiber, Kanzlisten, Substitute der Stadt- und Gerichtskanzlei, die Torschreiber und Zöllner 200 und 150 fl; von den sonstigen Subaltembeamten bezogen aber nur sehr wenige 100 fl, die meisten erheblich geringere Gehälter, die allerdings teils durch freie Wohnung und Anteile an Sportein und Naturalabgaben aufgebessert wurden. Bis zum Ende des Jahrhunderts stiegen die Gehälter der mittleren Beamten stark an, die der unteren dagegen kaum30. Keferstein, S. 41. Wetter 1783, S. 40. 26 Mauersberg, S. 561 f. 27 Troeltsch, Calw, S. 235; Rochow, F. E. v., Versuch über Armen-Anstalten und Abschaffung aller Betteley. Berlin 1789, S. 69; Göttingisches Magazin für Indüstrie und Armenpflege, III S. 385; Schönfeldt, S. 26, 57; Krüger, S. 353. Berliner Schneidergesellen veranschlagten 1800 die Mittel für den „körperlichen Nahrungsunterhalt" mit 1% Rtl. wöchentlich, Wisseil, I S. 493. 28 Ott, S. 186, 185. — Vergl. zu dieser inadäquaten Einstufung von Beamten und Hofbediensteten auch Rabiosus, Kreuzzüge, I S. 194. 29 Krug, L., Betrachtungen über den National-Reichthum des preußischen Stats, und über den Wohlstand seiner Bewohner. II Berlin 1805, S. 401 f. 30 Voelcker, S. 69. — Vergl. noch Schulze, W., „Löhne und Preise 1750 bis 1800 nach den Akten und Rechnungsbelegen des Stadtarchivs Quedlinburg". Jb. f. Wirtschaftsgesch. 1965, IV S. 267; Huschke, W., „Die Beamtenschaft der weimarischen Zentralbehörden beim Eintritt Goethes in den weimarischen Staatsdienst (1776)". Forschungen aus mitteldeutschen Archiven. Berlin 1953, S. 190—218, 210. 24
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Was diese niedrige Besoldung schon vermuten läßt, wird durch die Nadiriditen über die miserablen Lebensverhältnisse dieser Beamtengruppen bestätigt. Klödens Vater konnte auf keinem seiner „Acciseposten . . . ohne Nebeneinkünfte bestehen . . . , wenn er nicht Hungers sterben wollte, und diese Nebeneinkünfte waren fast nie erlaubte. Jeder tröstete sich mit dem Sprichworte „Noth kennt kein Geboth", und machte es wie alle Andern"31. Auch seine sächsischen Kollegen waren nach Nieritz „notorisch gezwungen . . . , das zu ihrem und ihrer Familie Unterhalt Erforderliche aus der ihren Händen anvertrauten Kasse zu entnehmen und meineidig zu werden"32. Wenn aus Berlin von „geringer besoldeten Beamten" berichtet wird, die zum Leidwesen der Handwerker ihren Rode zweimal wenden und die Schuhe viermal besohlen ließen, von Erbsen- und Kartoffelpicknicks der Subalternbeamten33, so charakterisieren solche Nachrichten vielleicht besser den Zuschnitt ihres Lebens als es vollständigere Zahlenangaben vermöchten. Daß die Beamten rechtlich ungesichert und der Willkür des Fürsten ausgeliefert waren, gehört ebenso in dieses Bild wie das ungewisse Schicksal ihrer Familien: „Wenn sie sterben, so kan die Frau mit ihrem Kinderhaufe betteln gehn wo sie will"34. Auf die unerfreuliche wirtschaftliche Situation der Lehrer habe ich bereits hingewiesen. Das Fixum — zuzüglich Schulgeld, Akzidentien bei Geburten35, Hochzeiten und Todesfällen oder Naturalabgaben — war so gering, daß viele nicht ohne Nebenbeschäftigungen auskamen36. Als Beispiel wähle ich die Verhältnisse in Witzenhausen, 1747 eine Stadt von rund 1650 Einwohnern. Dort erhielt der Rektor — dem eine Wohnstube im Schulhaus zustand, der aber ein eigenes Haus bewohnte — „an ständiger Besoldung: a. aus denen ,legatis' und ,donationibus' 81 Kammergulden 1 Albus 4 Heller; b. aus der Kämmerei aber 14 Kammergulden. An Schulgeld von jedem Knaben zu seinem Drittel 2 gute Groschen, beträgt jährlich 9 ä 10 Reichstaler, und an sonstigen Akzidentien ,plus minus' 5 ä 6 Reichstaler. ,Item' Holzgeld aus Geilfußens Donation 1 Reichstaler 2 Albus 8 Heller". Das entsprach einem Jahreseinkommen von 94V3 Rtl. Der Konrektor, der mit ihm ,alternative' die lateinische Schule versah, wohnte zur Miete bei einem Einkommen von 64 Rtl. Der Kollaborator, „so zugleich Schulmeister" der deutschen Schule war und im Schulhaus wohnte, erhielt 59 Rtl. zuzüglich 4—5 Ztr. Korn. Neben den Praeceptoren der Stadtschule gab es noch einen Mädchenschulmeister, der ein eigenes Haus bewohnte und im Jahr auf ganze 18 Rtl. 7 Albus zuzüglich 11—12 Ztr. Korn kam. Die beiden Lateinschullehrer erreichten also ein wöchentliches Einkommen von l4/s bzw. IY4 Rtl., der Volksschullehrer l1/« Rtl., und die Verhältnisse in dieser hessischen Kleinstadt sind keineswegs als besonders ungünstig anzusprechen37, so daß die Klagen eines Lorenz und anderer über die „armen Schullehrer" nur zu berechtigt waren38. Versuche, die Kaufkraft dieser Einkommen durch Inbeziehungsetzen zu den Preisen der Hauptnahrungsmittel numerisch zu fixieren, erscheinen bei der heuKlöden, S. 87, 84. Nieritz, G., Selbstbiographie. Leipzig 1872, S. 43. Vergl. „Johann (der Torschreiber) konnte nicht leben. Eine alltägliche Geschichte", Moser, J., Patriotische Phantasien I. Sämtliche Werke IV. Oldenburg—Berlin o. J., S. 147—150. 33 Berlin im Jahre 1786. Schilderungen der Zeitgenossen. Leipzig 1886, S. 174,146. — Vergl. noch Formey, S. 67; Cölln, S. 138; Finder, S. 52; „Ueber geringe Besoldungen und deren Folgen". Der deutsche Zuschauer. 2. A. o. O. 1786, II S. 129—141. 34 Würtembergische Briefe, oder Schilderung der Sitten und der merkwürdigen Personen dieses Herzogthums, o. O. 1766, S. 15 f. 35 Z. B. bekam in Waldkappel der Schulmeister bei einer „Kindtaufe ehelich 3 Albus 6 Heller, unehelich 16 Albus", Waldkappel 1744, S. 17. 36 Nicolai, Sebaldus Nothanker, II S. 42; Mangner, S. 52 f.; vergl. Klöden, S. 66. 37 Witzenhausen 1745 (Hessische Ortsbeschreibungen 2). Hsg. v. Eckhardt. 2. A. Marburg—Witzenhausen 1965, S. 15 f. (1 Kammergulden = 26 Alb.; 1 Rtl. = 32 Alb.). Weitere Angaben etwa bei Ott, S. 115; Herre, S. 108; Baltische Studien. NF XX 1917, S. 98; Schmidt, K. A., Geschichte der Erziehung. V, 3 Stuttgart—Berlin 1902, S. 102. 38 Lorenz, Bürgererziehung, passim; Bernritter, S. 78 ff. 31
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tigen Quellenlage recht problematisch; verallgemeinerungsfähige Ergebnisse sind mir auch nicht bekanntgeworden. Dagegen reicht das Material aus, den Unterschied der Preis- gegenüber der Lohnbewegung deutlich zu machen. Bereits Biedermann hat auf die schwindende Kaufkraft der Löhne im Laufe des 18. Jahrhunderts hingewiesen38. So ging etwa der Erhöhung der Stuttgarter Bauhandwerkerlöhne um 100 % eine Steigerung der Dinkelpreise um „mindestens 300 %" parallel40. In Leipzig stiegen zwischen 1657 und 1800 die Preise für Weizen, Roggen und Erbsen auf „das 4- bis 5-fadie, Fleisch auf das Dreifache", während die von Elsas herangezogenen Löhne „nur wenig" zunahmen, die der Zimmerleute z. B. um „rund ein Viertel, wobei noch zu bemerken ist, daß die Hauptsteigerung der Löhne in die 90er Jahre des 18. Jahrhunderts fiel. Ähnlich wie in Speyer haben wir auch in Leipzig . . . ein starkes Zurückbleiben der Löhne hinter der Preissteigerung", und das gilt auch für Frankfurt, München, Augsburg oder Würzburg 41 . Diese wachsende Disharmonie zwischen Preisen und Löhnen ist geradezu „ein wirtschaftliches Symptom des 18. Jahrhunderts" 42 und gibt den Hintergrund ab, vor dem die zeitgenössischen Schilderungen der wirtschaftlichen Lage des Kleinbürgers gesehen werden müssen. Zu ihrer Kontrolle wären genauere Angaben über die Höhe der Lebenshaltungskosten erforderlich. Saalfeld hat vor kurzem versucht, diese schwierige Frage zu beantworten, ausgehend von der anhand des Lebensmittelverbrauchs im endenden Jahrhundert errechneten Kalorienmenge, wobei allerdings in die an sich interessanten Überlegungen so viele Annahmen eingehen, daß sein Vorgehen nicht recht befriedigen kann 43 . Auch Krügers Versuch, die Kosten des nach zeitgenössischen Angaben zusammengestellten Mindestverbrauchs über Preistaxen u. ä. zu bestimmen, bleibt unbefriedigend 44 , so daß wir noch immer auf die gewiß groben und im einzelnen nicht ausgewiesenen Berechnungen angewiesen sind, die in der zweiten Jahrhunderthälfte für Zwecke der Armenfürsorge durchgeführt wurden, also jedenfalls an der Praxis orientiert waren. Troeltsch hat aus solchen Angaben für Württemberg das Jahresbudget einer fünfköpfigen Arbeiterfamilie berechnet 45 , dem ich die auf Grund einer „Untersuchung" gewonnenen Werte des Göttinger Pastors Wagemann 46 und die Schätzungen der Hamburger Armenpfleger gegenüberstelle 47 :
Kost Miete/Heizung Kleidung Sonstiges
Württemberg (um 1770) 100 Rtl. 107, „ 16 „ 673 „ 133 V3 Rtl.
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Existenzminimum in Göttingen (um 1790) 797s Rtl. 20 „ 10 „ l3/4 „ 110 V8 Rtl.
Hamburg (1788) 7 4 7 , Rtl. 167, 117, 102 7 j Rtl.
Biedermann, I S. 391. Troeltsch, Calw, S. 246. 41 Elsas, II B S. 70, 45, 37, 26 f., I S. 34, 41, 48. Vergl. etwa noch die Lebensmittelpreise bei Ziekursch, Beiträge, S. 17—26; Schlossar, A., Innerösterreichisches Stadtleben vor hundert Jahren. Wien 1877, Kap. VI; „Preistabelle für Berlin, Luckenwalde und Gera vom 2. Februar 1782", Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte. XXIX 1916, S. 455 f.; die neuere Literatur bei Abel, Agrarkrisen. 42 Troeltsch, Calw, S. 244; Abel, Agrarkrisen, S. 186. 43 Saalfeld, D., „Die Bedeutung des Getreides für die Haushaltsausgaben städtischer Verbraucher in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts". Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft in Geschichte und Gegenwart. Festschrift Wilhelm Abel. Hannover 1964, S. 26—38. 44 Krüger, S. 352 f. Zur Kritik Abel, W., Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert. Stuttgart 1962, S. 310. 40
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Anteilmäßig aufgeschlüsselt ergibt sich folgendes Bild: • Kost
Wohnung
Kleidung
Sonstiges
Württemberg
Göttingen
Hamburg
Berlin (1800, Textilarbeiter)
Wenn man bedenkt, daß es sich überall um das Minimum handelt und ein Passauer Buchhalter 1769 für seine vierköpfige Familie ca. 176Rtl. veranschlagte49, scheint Saalfelds Behauptung, daß mit 133 Rtl. — das entspricht dem durchschnittlichen Anteil einer fünfköpfigen Familie am preußischen Nationaleinkommen von 1800 — die Lebenshaltungskosten der mittleren Einkommensgruppen, zu denen er einen großen Teil der Handwerker rechnet, „voll gedeckt" werden konnten, zu optimistisch50, vor allem, wenn man die Schätzungen des „standesgemäßen Auskommens" bürgerlicher Familien im nördlichen Deutschland von Unger danebenhält: einer Familie bürgerlichen Standes die Geringen Mittelmäßigen Vornehmsten die Geringen Mittelmäßigen Vornehmsten
Jährliche Ausgabe um das Jahr 1 7 0 0 in einer kleinen einer mittelStadt mäßigen Stadt 120 Rtl. 140 Rtl. 150 „ 200 „ 200 „ 350 „ Vom Jahre 1 7 5 0 200 Rtl. 150 Rtl. 400 „ 250 „ 400 „ 700 „
einer großen o. Residenzstadt 200 Rtl. 400 „ 800 „ 400 Rtl. 900 „ 2000 „ 51 .
Leider bieten die biographischen Quellen aus dem kleinbürgerlichen Bereich zu wenig ökonomische Details, um die angeschnittenen Fragen an Einzelfällen im stren43 Troeltsch, Calw, S. 235. Drei Kinder unter 14 Jahren; Beträge abgerundet; „Sonstiges": Schulgeld, Steuern etc. 48 Göttingisches Magazin für Indüstrie und Armenpflege. III 1793, S. 386. Ein Kind unter 3 Jahren; Fehler des Originals korrigiert; die nicht aufgeschlüsselten Beträge für die Kinder wurden der Kost zugeschlagen; „Sonstiges": Schutzgeld. 47 Kraus, I. c., S. 53. In diesen Angaben ist kein Betrag für Fleisch enthalten, Sdiönfeldt, S. 46. — Wesentlich niedrigere Schätzungen der Braunschweiger Armenpflege von 1803: Schmidt, F., Untersuchungen über Bevölkerung, Arbeitslohn und Pauperism in ihrem gegenseitigen Zusammenhang. Leipzig 1836, S. 295. 48 Die Lebenshaltungskosten einer fünfköpfigen Berliner Textilarbeiterfamilie nach Saalfeld, 1. c., S. 35. „Sonstiges" bei Kleidung. 49 Ott, S. 117. 60 Saalfeld, 1. c., S. 36 f. Wenn er auch einen Teuerungszuschlag von 20—30% für Berlin in Rechnung stellt, betrugen damals dodi schon die Lebenshaltungskosten der geringeren Einkommensklassen nach Krüger ca. 210 Rtl., S. 353. — 1801 legte ein Kopist dem schlesischen Provinzialminister eine „Liquidation der äußerste Bedürfnisse dreier erwachsener Personen und zweier ganz unerzogener Kinder" vor, die sich auf 240 Rtl. belief, Ziekursch, Beiträge, S. 25. 51 Unger, S. 220 f. Um lokalen Unterschieden gerecht zu werden, variierte der Autor seine Angaben für die geringen Familien im Jahre 1750: 130/150/170 Rtl.; 180/200/ 250 Rtl.; 300/350/400 Rtl.
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geren Sinne überprüfen zu können. Immerhin ergibt sich aber aus Dietzens Lebensbeschreibung, daß seine Einnahmen nicht unbeträchtlich über Ungers Schätzungen für den Jahrhundertbeginn lagen. Das ist nicht nur gutzahlenden Patienten zuzuschreiben, sondern auch der Tatsache, daß er „Gesellen und Jungen annehmen (mußte)", „immer Jungen bei Jungen" hatte, die ihm „bald konnten vor Gesellen dienen" und noch dazu „viel Lehrgeld" einbrachten", so daß er später seiner Frau während der Trennung von Tisch und Bett wöchentlich 30 Groschen Unterhalt zahlen mußte; denn sie hatte ihn als „erschröddich reich" hingestellt52. Das war zweifellos übertrieben, aber man wird doch zugeben müssen, daß das Handwerk bei Dietz noch etwas von dem sprichwörtlichen „goldenen Boden" 53 besitzt, und daß es selbst für einen Zeugmacher zumindest noch einen silbernen haben konnte, zeigt das Beispiel des Göppinger Meisters Vayhinger (1729—1791), der 1755 mit 130 fl Kapital begann, zeitweise zwei Gesellen beschäftigte und trotz wirtschaftlicher Krisen, Krankheit und einer trunksüchtigen Frau 1782 ein Haus im Werte von 1800 fl und 2325 fl „auf dem Handwerk" besaß54. Ein ganz anderes Bild bietet die Haushaltung von Klödens Berliner Onkel im ausgehenden Jahrhundert, in der „eine genaue Eintheilung und schmale Bissen . . . nothwendig (waren); denn er brachte seine reine Jahreseinnahme selten auf 400 Thaler, von denen 90 Thaler allein für Miethe abgingen". Erst 1804 erreichte er einmal mit Hilfe seines Neffen und begünstigt von einer Modeströmung 650 Taler, die aber bei den gestiegenen Preisen auch nur eine eingeschränkte Lebenshaltung erlaubten, wie Klödens Schilderung zeigt55. Dabei stand sich dieser großstädtische Goldschmied immer noch besser als der allein auf die Mithilfe der Familienangehörigen angewiesene Schuster, dessen Jahresverdienst — „mit Einschluß des Gewinns an denen für sich und die Seinigen verfertigten Schuhen" — am Ende des Jahrhunderts nach der Berechnung von Weiß nur 91 fl betrug56. Diese so unterschiedlichen Illustrationen der Lage der Handwerker kommen allerdings darin überein, daß sie die Gesellenfrage als entscheidenden Faktor der Handwerks Wirtschaft sichtbar werden lassen: „Sobald der Handwerker keinen Gesellen halten kann und mit den Seinigen bloß von seiner eigenen Hände Arbeit leben muß, so ist er ein sehr armer Mann", stellte Weiß fest. „Feuer, Licht, Hausmiete, herrschaftliche Abgaben usw. bleiben bei mehreren Gesellen immer die nämlichen. Denn diese müssen dem Meister seinen Gewinn bringen" 57 . Dietz, S. 200, 204, 163, 223, 263, 277. Eisenhart, Sprüchwörter, S. 65. Vergl. Afsprung, S. 77; Miller, Gottfried Walther, S. 26; Steube, J. C., Wanderschaften und Schicksale. Gotha 1791, S. 336; Jung-Stilling, Wanderschaft, S. 19; Schiller, Kabale und Liebe. II, 6. 54 Troeltsch, W., „Die Göppinger Zeugmacherei im 18. Jahrhundert und das sog. Vayhingerbuch". Schmollers Jahrbuch. NF 20 1896, S. 1255—1277. 55 Klöden, S. 177, 213. 56 Weiß, S. 48. Er legt seiner Berechnung 285 Arbeitstage zugrunde (63 Sonn- und Feiertage, 17 Tage Wachdienst). Anstelle des Wachdienstes sind bei den Gesellen die „blauen Montage" zu berücksichtigen. Selbst wenn die Zahl der Feiertage damals nicht größer gewesen sein sollte, gab es doch um die Jahrhundertmitte in den Städten Österreichs und anderer Territorien vor der Reduzierung ca. 90 offizielle, Mößner, J., Sonn- und Feiertage in Oesterreich, Preußen und Bayern im Zeitalter der Aufklärung. Diss. München 1915, S. 3. Es scheint mir deshalb vertretbar, von einem durchschnittlichen Arbeitsjahr von 285 Tagen auszugehen; so auch Troeltsch, Calw, S.225. Wagemann unterstellte allerdings bei einem Tagelöhner, bei dem freilich Zunftfeste etc. entfielen, 304 Arbeitstage, Göttingisches Magazin für Indüstrie und Armenpflege, III S. 384. 57 Weiß, S. 48, 50. Vergl. Hoffmann, Nachlaß, S. 396; ferner Moser, Patriotische Phantasien, I S. 66. 52
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Die Gesellen waren ja qualifizierte Arbeiter, denen es jedoch nach Handwerkerauffassung nicht zustand, einen eigenen Hausstand zu gründen. Aufs Ganze gesehen scheint die finanzielle Lage der unverheirateten Gesellen nicht ungünstig gewesen zu sein. Die Taxlöhne lagen nicht wesentlich unter denen der Meister58, und Troeltsch urteilte im Hinblick auf die Verhältnisse im Bereich der Calwer Zeughandlungskompagnie, daß der Lohn „die Gesellen . . . wesentlich besser stellte als die mit einer Familie belasteten selbständigen Meister"59. Was für diese am Rande des Kleinbürgertums anzusiedelnde Gruppe galt, bestätigt auch ein Vergleich der zünftischen Gesellenlöhne mit Angaben über den Mindestbedarf alleinstehender Personen. So betrugen die Wochenlöhne der Hamburger Maurer-, Zimmer- und Tischlergesellen 1788 sogar das Vier- bis Fünffache des Existenzminimums, während es der gleiche Betrag bei einer fünfköpfigen Familie nur um 9—57 % überschritt60. Prekär wurde die Situation allerdings für die verheirateten Gesellen. Nicht nur, daß man, jener Einstellung der Zunfthandwerker entsprechend, „etlicher Orte keinen zur Meisterschaft kommen lassen (wollte), wenn er sich allbereits in verheyrathetem Stande (befand)"61, der Betreffende bekam in manchen Handwerken audi keine Arbeit mehr; er wurde aus dem Gesellenverband ausgestoßen, nicht mehr in der Herberge gelitten, erhielt keine Unterstützung aus der Gesellenkasse und riskierte, wenn er auf eigene Rechnung arbeitete, „gejagt" zu werden. Zwar entfielen für ihn als „Pfuscher" die Abgaben der Meister, aber der Konkurrenz wegen mußte er u. U. unter dem üblichen Tarif arbeiten62. Und doch handelte es sich bei solchen „Weiberkerls" nicht nur um Ausnahmen, wie es nach den früher skizzierten zünftischen Forderungen zu erwarten wäre. Auch deren Voraussetzung, daß die Gesellenzeit nur eine Etappe auf dem Weg zur Meisterschaft sei, war angesichts der Abschließungstendenzen der Zünfte für viele illusorisch geworden und damit die Aussicht auf eine standesgemäße Verheiratung. Nach Rollers Auszählung ergibt sich für Durlach ein Jahrhundertdurchschnitt von nicht weniger als 19% verheirateter Gesellen63. In Wirklichkeit war ihr Anteil aber noch höher, da das Baugewerbe nicht berücksichtigt wurde, das aus innerbetrieblichen Gründen auf eine größere Anzahl von Gesellen angewiesen war, deren Chancen hinsichtlich wirtschaftlicher Selbständigkeit dann allerdings noch geringer waren als die ihrer Standesgenossen. Es illustriert die Lage dieser Gruppe wohl hinreichend, wenn es dort „nur wenigen verheirateten Gesellen gelang, sich zu Bürgern und Meistern hinaufzuarbeiten" 64 , und sie sich anderen Erwerbszweigen zuwandten, landwirtschaftliche Tagelöhner, Fabrikarbeiter wurden oder sich als Soldaten anwerben ließen 65 . Aber auch diejenigen, die unter erheblichen finanziellen Aufwendungen für Einkauf, Meisteressen und Meisterstück, das schwer oder vielleicht überhaupt nicht zu verkau58 Die Rechnungen des Leipziger St. Georgs-Hospitals wie die Kieler Schloßrechnungen machten seit 1671 bzw. 1697 keinen Unterschied mehr zwischen Meister- und Gesellenlöhnen, Elsas, II A S. 592; Wisseil, I S. 356. Allerdings ist meist nicht festzustellen, ob ein solcher Tagelohn „voll und ganz dem Gesellen ausgehändigt wurde, oder ob der Meister einen Teil des Lohnes einbehielt und gegebenfalls auch für die Bereitstellung der Geräte etwas abzog", Elsas, I S. 57 f. 59 Troeltsch, Calw, S. 225 f. Ähnlich sprach sich eine Regierungsrelation von 1750 aus. 60 Sdiönfeldt, S. 44 f. Wagemann gab aufgrund seiner Erhebungen in Göttingen in jenen Jahren den Bedarf eines Tagelöhners mit 40 Rtl. 17 Gr. 2 Pfg. an, so daß er bei einem wöchentlichen Einkommen von ca. IV3 Rtl. einen Jahresüberschuß von 27 Rtl. 2 Gr. 6 Pf. erzielen konnte, während ihm selbst bei einem zusätzlichen Verdienst seiner Frau von 19 Rtl. für einen 5-Personen-Haushalt noch 8 Rtl. 11 Gr. 2 Pf. gefehlt hätten, Göttingisches Magazin für Indüstrie und Armenwesen, III S. 386. 61 Reichstagsgutachten von 1731, XIII, 6 = Proesler, S. 68*. 82 Vergl. Wisseil, I S. 39 ff.; Bruns, S. 102; Hähnsen, S. 232. 63 Roller, Durlach, S. 307. 64 Roller, Durlach, S. 327. 65 Roller, Durlach, S. 328.
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fen war 60 , das Meisterrecht erworben hatten, sahen sich, sofern sie nicht eine florierende Werkstatt durch Erbschaft oder Einheirat übernehmen konnten, den von Weiß umschriebenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten gegenüber, die viele ihr Leben lang nicht überwinden konnten. Schon bei der Behandlung der Haushaltsgröße zeigte sich, daß das Bild des von mehreren Gesellen und Lehrjungen umgebenen Meisters revisionsbedürftig war. In Durlach hielt „von den Meistern fast aller Gewerke . . . höchstens der zweite oder dritte, oft nur der vierte oder fünfte einen Gesellen, der in vielen Fällen sein Sohn war" 67 . Ähnlich lagen die Verhältnisse in Homberg (Efze) um die Jahrhundertmitte 68 . Fast das ganze Jahrhundert hindurch beschäftigte nur die Hälfte der Heilbronner Schneidermeister einen Gesellen69, nicht viel besser sah es am Ausgang des Jahrhunderts bei den Berufsgenossen in Speyer aus70. In Osterode kam ebenfalls nur auf jeden zweiten Meister eine Hilfskraft, wenn man die Manufakturgewerbe ausklammert; andernfalls standen immer noch 386 Meister 350 Gesellen und Lehrlingen gegenüber 71 . In Großstädten übertraf zwar die Zahl der Hilfskräfte die der Meister, aber selbst in einer aufstrebenden Stadt wie Berlin im Jahre 1795 nach v. Lamprechts Angaben nur im Verhältnis 169:100 72 . In der Kurmark kamen nach dem gleichen Autor 81 Gesellen und Lehrjungen auf 100 Meister, ohne Berlin auch hier nur 5273, und „da es in jeder Stadt einige Meister gegeben haben mag, die mehrere Gesellen und Lehrlinge beschäftigten, so müssen demnach — immer von Berlin abgesehen — die meisten Werkstätten Einmannbetriebe gewesen sein"74. Dieses Verhältnis von Meistern und Gesellen gab für Weiß den „besten Maßstab" im Hinblick auf „Ubersetzung oder NichtÜbersetzung eines Handwerks" ab. Die „ungeheuer übersetzte Meisterzahl", auf die er die „unläugbare Armuth der Handwerker im Allgemeinen" zurückführen wollte75, war aber, wie Hoffmann zeigte, „im Wesen der handwerklichen Betriebsform begründet": Ein Meister, der 30 Jahre seinen Beruf ausübe, bilde etwa 7 Lehrlinge aus. Das sei nicht zuviel, wenn es nur darauf ankomme, so viel Gesellen heranzuziehen, um beständig 3 halten zu können, jedoch „viel zu viel", wenn alle mit 30 Jahren Meister werden wollten. Um eine Übersetzung zu vermeiden, dürfe es also „nur halb so viel Gehülfen als Meister" geben 76 . In der Tatsache, „daß der Handwerksmeister um gut bestehen zu können, mehr Hilfskräfte (brauche), als dann selbst sich wieder auf gleicher Grundlage selbständig machen 06 Vergl. (Hoffmann, J. G.), Das Interesse des Menschen und Bürgers bei den bestehenden Zunftverfassungen. Königsberg 1803, S. 111. Nürnberger „Amtsgebühren" von 1783 bei Gatterer, Technologisches Magazin, II S. 123—127. 67 Roller, Durlach, S. 304; vergl. die Aufschlüsselung im Anhang S. 116. 68 Meers, Homberg, S. 64 f. Vergl. auch den „Hantierungsanschlag" von Waldkappel, Waldkappel 1744, S. 29 ff. In Buchen entfielen auf 328 Meister, ausschließlich der Meistersöhne, nicht mehr als 10 Lehrlinge und 30 fremde Gesellen, Walter, M., Odenwälder Handwerk um 1800. Buchen 1923, S. 17. 60 Hussong, S. 85. — Ähnlich die Verhältnisse bei den Frankfurter Buchbindern im Jahre 1762, Lenhardt, H., 150 Jahre Gesellenwandern nach Frankfurt a. M. Frankfurt 1938, S. 10. 70 Weiß, S. 27. Die 54 Sdiustermeister beschäftigten immerhin 45 Gesellen, weil sie für fremde Märkte arbeiteten, allerdings oft mit Schaden, „daher sie auch meistens blutarm sind", S. 25. 71 Patje, Chr. L. A., Kurzer Abriß des Fabriken-, Gewerbe- und Handlungs-Zustandes in den Churbraunschweigisch-Lüneburgischen Landen. Göttingen 1796, S. 290 ff. 72 Lamprecht, G. F. v., Von der Kameralverfassung und Verwaltung der Handwerke, Fabriken und Manufacturen in den Preußischen Staaten und insonderheit in der Kurmark Brandenburg. Berlin 1797, S. 59 ff., ohne „Destillateurs". Vergl. Heß, Hamburg, II S. 292; Patje, 229 ff. (Hannover). 73 Vergl. die Auswertung bei Skalweit, Dorfhandwerk, S. 83. 74 Skalweit, Dorfhandwerk, S. 60. 75 Weiß, S. 50, XIX. 76 Hoffmann, J. G., „Ueber das Verhältnis der Anzahl der Meister gegen die Anzahl der Gesellen in den gemeinsten Handwerken". Nachlaß, S. 395—410, 396 f.
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können", liege das Dilemma der handwerklichen Betriebsform, urteilte auch Skalweit und sah in den als Zunftmißbräuchen hingestellten Forderungen, wie Ehrlichkeit des Lehrjungen, Wanderpflicht, Mutjahren und Meisterstück, den Versuch, dieser Ubersetzung Herr zu werden: „Freilich war es ein Versuch am untauglichen Objekt, denn im Wesen des Handwerksbetriebes selbst lag der letzte Grund zur Ubersetzung. Sicherlich gab es bei den Zünften Mißstände, doch lag ihr Ursprung mehr in der Sache selbst als in einem persönlichen Verschulden"77. Was sich in diesem Exkurs abzuzeichnen begann, bestätigen Erhebungen zur Vermögenslage verschiedener Gruppen von Handwerkern. Uber die Vermögen kurpfälzischer Tuchmacher unterrichtet uns eine Untersuchung von 1773, deren Ergebnisse Ziehner — für die sog. „Landtuchmacher" aufgeschlüsselt — mitteilte. Danach besaßen über 500 fl in Otterberg 84%, in Schönau 66 %, in Lambrecht 55%, in Eberbach 24%, in Heidelberg nur 17%; mehr als 1000 fl 75, 18, 38, 17 bzw. 6 % 7 8 . Weit schlechter war die Lage der Frankenthaler Zunft, deren Mitglieder fast alle für die Manufaktur arbeiteten und von denen nur 14 % mehr als 300 fl Vermögen besaßen, 55 % 100 fl und weniger79. Ähnlich sah es bei den Wildberger Zeugmachern aus, bei denen in den Jahren 1725/26,1763/64, 1776/77 und 1792/93 68—78 % nur 200 fl und weniger versteuerten und 13—24% vermögenslos waren80. Nach den
1701
1757
1801
Versteuertes Vermögen der Schneider in Heilbronn und Frankfurt (nach Hussong) Punktiert: kumulierte %
§g
200 fl
ffl
300 fl
77 Skalweit, Dorfhandwerk, S. 59, 66. — In Bonn war 1782 die Zahl der Schuster auf 40 festgesetzt worden, tatsächlich gab es aber an die 100 Werkstätten, Ennen, E., „Grundzüge der Entwiddung einer rheinischen Residenzstadt im 17. und 18. Jahrhundert. Dargestellt am Beispiel Bonns". Aus Geschichte und Landeskunde. Bonn 1960, S. 441—483, 471. 78 Ziehner, L., Zur Geschichte des kurpfälzischen Wollgewerbes im 17. und 18. Jahrhundert. Stuttgart 1931, S. 104. Aus Schönau berichtet eine zeitgenössische Quelle, daß die Meister „aus Abgang der Nahrung so verarmt (waren), daß der vierte Teil ihr Handwerk nicht mehr treiben konnte, die übrigen aber mit Handarbeit ihr Brot gewinnen mußten", S. 105. 79 80
Ziehner, 1. c., S. 186. Troeltsch, Calw, S. 285.
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Steuereinzugsbüchern von Calw betrug das Steuerkapital, das auch den „unabtrennbaren Anschlag der Hantierung" einbegriff, 1799/1800 — allerdings die Jahre der stärksten Krisis der Zeughandlungskompagnie — bei 97 bzw. 91 % der Zeug- und Tuchmacher 300 fl und weniger; auch 84 % der Strumpfwirker, deren Absatz ein, zwei Jahrzehnte vorher sogar „sehr gut" gewesen war, fielen in die gleiche Klasse, der 80 % aller steuerpflichtigen Calwer Bürger angehörten81. Repräsentativer als diese Nachrichten über ohnehin finanzschwache Gewerbe sind die Angaben über die Frankfurter und Heilbronner Schneider, die Hussong aus den Schatzungs- bzw. Beedebüthern zusammengestellt hat82, und von mir in dem Diagramm auf Seite 111 zum Teil wiedergegeben sind. Schon ein erster Vergleich zeigt eine hohe Korrelation zwischen den Hauptvermögensgruppen und der Summe, die Handwerker gemeinhin nachzuweisen hatten, wenn sie ihr Handwerk als Meister ausüben wollten. In Heilbronn waren 200 fl vom Rat festgesetzt83. Aus Frankfurt ist mir zwar eine solche Bestimmung nicht bekanntgeworden, doch stimmt die Summe von 300 fl m mit den früher genannten Beträgen ziemlich überein84. Bei dem um 100 fl höheren Betrag gegenüber Heilbronn wird man die höheren Lebenshaltungskosten der Großstadt in Rech10»/, nung stellen müssen, wobei 300 fl freilich für eine Stadt wie Frankfurt nicht sonderlich hoch erscheinen, erhöhte doch schon der Bischof von Fulda diesen Betrag, der seit 1715 dort galt, 57, 1785 auf 350 fl85. Auch sonst spiegeln die Zahlen den Unterschied von Pro• verarmt vinz- und Großstadt. Mit Ausnahme von 1701 gab es in Heilbronn keinen Schneider, der verarmt war oder unter - 1 0 0 fl Im]] 200 fl versteuert hätte, aber auch keinen, der mehr als 3000 fl besaß. In Frankfurt dagegen machten die ver67. armten oder in dürftigen Verhältnissen lebenden Meister einen nicht gehöchste ringen Prozentsatz aus, aber ebenso Vermögen die mit „höchsten Vermögen" (über 8000 fl)86, und der Gegensatz von arm und reich nahm, wie dieses Dia170t 1728 1767 1767 1787 gramm erkennen läßt, im ausgehenden Jahrhundert beträchtlich zu. Schneiderhandwerk in Frankfurt
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Was bisher für einzelne Berufe gezeigt werden konnte, bestätigt Otts Durchsicht von Passauer Heiratsbriefen. Sie lassen eine „ganz deutlich abgesetzte" Gruppe von Kleinbürgern erkennen, „Bäcker, Schmiede, Schneider, Bildhauer, Müller, Wirte usw., deren Spitze die Lederer mit 300 fl. Eigenkapital halten, von denen aber das Gros stets seine 200 fl. mit zur Heirat aufbrachte, selten weniger. Mitsamt dem weiblichen Heiratsgut . . . kamen . . . solche Ehen auf Gesamtsummen von meist 400 fl., nicht Troeltsch, Calw, S. 280 f. Hussong, S. 87—94. Die Zahl der Heilbronner Meister schwankte zwischen 30 und 53, die der Frankfurter zwischen 135 und 213. 83 Hussong, S. 95. 84 Vergi. S. 79. 85 Vergi. S. 78. 86 „Krasse Gegensätze" in der Höhe der Steuerleistungen auch in Wien, Klose, A., Die wirtschaftliche Lage der bürgerlichen Gewerbe in Wien von 1749 bis 1775. Dargestellt nach den Unbehaustenbüchern. Diss. Wien 1958, S. 400. 81
82
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selten 600 und 800, vereinzelt sogar bei reichen Frauen auf 1000 bis 1200 fl. Kapital ohne Realitäten. Auch noch deutlich erkennbar ist dann eine weitere Gruppe, „deren Männer entweder 100 fl. oder nur das Handwerkszeug samt „Gerechtigkeit" mitbringen: die Fischer, Nadler, Kutscher, ein Bäcker usw., also verarmte oder stets arm gewesene Handwerker. An Zahl in der Gesamtbürgerschaft waren sie aber . . . sehr stark vertreten"87. Kein erfreulicheres Bild bietet der „Hantierungsanschlag" einer kurhessischen Kleinstadt um die Jahrhundertmitte88. Knapp 70 % der Waldkappeler Handwerker entfielen auf die Steuerklassen, die pro Jahr 48 alb. (1 1 I 2 Rtl.) und weniger zu entrichten hatten. Wenn auch keine Angaben über die Höhe des Vermögens verlangt wurden, gewähren die beeideten Aussagen doch einen hinreichenden Einblick in die wirtschaftlichen Verhältnisse dieser Gruppe: „nährete sich armselig" (Bäcker, 24 alb.), „verdiente wegen schlechten Abganges sehr wenig" (Schreiner, 32 alb.), „hätte wenige Nahrung und Abgang", „triebe das Handwerk schlecht" (Sattler, Schuhmacher, beide 48 alb. Kontribution)89. Und immer wieder begegnen wir der Feststellung: „nährete sich übrigens seiner Güter". Dieser Hinweis macht deutlich, daß die bisherige Betrachtung einer Erweiterung und Korrektur bedarf. Sie operierte nämlich mit einer unzulässigen Vereinfachung, wenn sie sich allein am Lohnniveau orientierte. Tatsächlich wurde jedoch im allgemeinen ein weit größerer Teil des Lebensbedarfs der Städter durch außergewerbliche Tätigkeiten gededct, als es selbst die Schilderung des „ganzen Hauses" erwarten ließ. Der von Goethe gepriesene „Bürger des kleinen Städtchens, welcher ländlich Gewerb mit Bürgergewerb (paarte)", war im 18. Jahrhundert eine ebenso vertraute Erscheinung90 wie jene Kleinstädte, hatten doch um 1800 rund 9 0 % der preußischen Städte weniger als 3000 und rund 40 % unter 1000 Einwohner91. Stadtbeschreibungen jener Jahre versäumen es dann auch nicht, auf die Güte der Äcker oder Weidegerechtigkeiten hinzuweisen92. Nicht nur „der größte Theil kleiner Reichsstädtischer Bürger" mußte „würklich größtentheils vom Ackerbau leben" 93 , er ernährte auch z. B. „einen großen Theil" der Einwohner von Ludwigsburg94. Die Viehzucht war eine „Hauptquelle des . . . Erwerbs" in Northeim95 und die „vorzüglichste Nahrung" der Ott, S. 229, vergl. auch 230 f. Waldkappel 1744, S. 29—48. 89 Waldkappel 1744, S. 32, 43, 33, 44. 90 Vergl. etwa Hämisch, S. 17: „Wie in andern kleinen Städten war . . . jeder Besitzer einer Bürgerstelle in Wilsnack Besitzer von Hof, Ställen (wol auch Scheune), Gärten, Acker, Wiesen und Holz." 91 Von den 1016 Städten hatten Berlin über 100 000, Warschau, Breslau und Königsberg über 50 000, 14 weitere Städte über 10 000 Einwohner, dagegen 246 nur 500 bis 1000, 117 300—500 und 33 Städte weniger als 300 Einwohner, Sombart, Volkswirtschaft, S. 36. Vergl. außer dem Deutschen Städtebuch und der Arbeit von Mols noch Arndt, C., Die Einwohnerzahlen niederdeutscher Städte von 1550—1816. Diss. Hamburg 1947. 92 Fromm, J., Beschreibung der Stadt Alt-Brandenburg in der Mittel-Marek. Brandenburg 1727, S. 104,143; Hoferock, H., Kurze Beschreibung der Stadt Eschwege 1736. Hsg. v. Perst. Göttingen 1954, S. 6 f. Vergl. die Hessischen Ortsbeschreibungen, sowie Roller, Durlach, S. 235 f. 93 Weiß, S. 75. — Es ist in diesem Zusammenhang noch nachzutragen, daß die vorhin erwähnten relativ wohlhabenden Tuchmacher in Lambrecht und Otterberg Landwirtschaft trieben, während die armen Schönauer Meister fast kein Ackerland besaßen. 91 Reisen eines Curländems durch Schwaben. Ein Nachtrag zu den Briefen eines reisenden Franzosen, o. 0.1784, S. 123. 95 Rüling, S. 80. 87
88
8 Möller, Kleinbürgerliche Familie
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Tübinger Bürger96. In Halberstadt verursachte die Schweinemästerei einen „pestilenzialischen Gestank" 97 ; in Gotha wurde 1782 den Hirten, die vielerorts „in gemeiner Stadt Diensten" standen 98 , durch eine Polizeiverordnung bedeutet, „das Vieh in der Straße zu erhalten, und solches nicht über die Platten zu treiben" 89 ; wir hören von Auseinandersetzungen um Weideplätze 100 oder städtischen Flurumgängen 101 . Diese städtische Landwirtschaft war keineswegs auf die Ackerbürger- und Provinzstädte beschränkt. Auch in Berlin lebte zu Beginn des Jahrhunderts ein „sehr großer Teil" der Bevölkerung von Ackerbau und Viehhaltung, was sidi zwar seit der Jahrhundertmitte änderte 102 , aber noch 1784 ärgerte sich ein Zeitgenosse über die Misthaufen vor den Häusern 103 . In Hamburg wurde das ganze Jahrhundert hindurch ohne großen Erfolg das Halten von Schweinen, die „zum öfteren ausgelassen und hin und wieder auf den Gassen haufenweise gefunden (wurden)", verboten 104 ; im beginnenden 19. Jahrhundert mußte der Breslauer Magistrat an ein entsprechendes Verbot erinnern105, und die Residenz Kassel hatte damals noch „eine stattliche Kuhherde, welche . . . Zeugnis von dem landwirtschaftlichen Betriebe . . . ablegte" 106 . Leider erlauben die Quellen keine genaueren Aussagen über das Verhältnis von gewerblichem und landwirtschaftlichem Einkommen des Kleinbürgers. Auch der Zeitgenosse Hoffmann urteilte: „In kleinen Städten ist es gemeinhin schwer, bestimmt anzugeben, wie weit das Handwerk seinen Mann nähre. Zu den mehresten Häusern gehört Acker und Braugerechtigkeit. Der Bürger ist Landwirth, Brauer und Handwerker zugleich, und weil er Alles nur gelegentlich ist, gemeinhin in Allem ein Stümper. Es ist eine sehr gemeine Erfahrung, daß diejenigen kleinstädtischen Handwerker, welche Häuser ohne Pertinenzen besitzen, sich durch beßre Arbeit und größre Wohlhabenheit auszeichnen. Ohne Zweifel könnten die fünfzehn Bäcker oder Schmiede in jenem Städtchen nicht leben, wenn nicht der Ertrag ihres Feldes und ihrer Brauereien den mangelnden Erwerb ersetzten" 107 . Für Durlach besitzen wir Belege dafür, daß nicht nur außenstehende Beobachter, sondern auch die Handwerker selbst den Ertrag 96 Nicolai, Reise, XI S. 165; IX Beilagen S. 90, Zahlen für Ulm. Angaben für kurbraunschweig-lüneburgische Städte bei Patje. — Vergl. etwa noch Bernoulli, Reisebeschreibungen, III S. 46; Bemerkungen auf einer Reise von Berlin nach Bromberg in Westpreussen in Briefen an G. Schlicht. Berlin und Leipzig 1784, S. 43. 97 Grimm, I S. 281. Am Jahrhundertende gab es nach Rabiosus d. J. in Wittenberg „einige Studenten und noch mehr Schweine", Kosmopolitische Wanderungen durch einen Theil Deutschlands. Leipzig 1793, S. 59. 98 Vergl. Witzenhausen 1745, S. 22; Wetter 1783, S. 34; Roller, Durlach, S. 243 f. 99 Bergius, Landesgesetze, VI. Alphabet S. 220. Vergl. femer die „kleineren Policeystrafen" von Gernsheim aus dem Jahre 1776, VII. Alphabet S. 344—348. 100 Zur tragikomischen „Kuhtriffts-Bataille" bei Hersfeld (1710) Demme, II S. 104; Freisinger Bürger verhindern Trockenlegung eines als Weide dienenden Moores, Pezzl, Reise, S. 85; Riehl, Wanderbuch, S. 256 f. 101 Vergl. Dünninger, J., „Volkstum und Aufklärung in Franken". Bayer. Jb. f. Vk. 1957, S. 29—42, 39; Landau, G., Sitte und Brauch in Hessen vor hundert Jahren. Hsg. v. Martin. Kassel-Basel 1959, S. 36. — Vergl. zum Ganzen auch die Hinweise in der für Kleinbürger bestimmten Literatur, etwa Ramann, S. J., Stephan, oder der Handwerker, wie er seyn soll. Altenburg und Erfurt 1802, S. 64; Miller, Gottfried Walther, S. 9 oder Lossius im Meister Liebreich über das Städtchen „Bocksried". Zum Verhältnis der städtischen und ländlichen Wirtschaftssphären Skalweit, Dorfhandwerk, S. 70. 102 Wiedfeldt, O., Statistische Studien zur Entwicklung der Berliner Industrie von 1720—1890. Leipzig 1898, S. 55 f.; Consentius, E., Alt-Berlin. Anno 1740. Berlin 1907, S. 48 f.; Rachel, 1. c., S. 54. 103 Knüppeln, S. 12. 104 Finder, S. 166. 105 Ziekursch, J., Das Ergebnis der friderizianisdien Städteverwaltung und die Städteordnung Steins. Am Beispiel der schlesischen Städte dargestellt. Jena 1908, S. 47. 106 Bähr, S. 64; vergl. Händler, II S. 14 f. 107 Hoffmann, Zunftverfassung, S. 119.
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ihrer doppelten Tätigkeit nicht trennen konnten. Als 1743 seitens der Obrigkeit eine Schlachtprobe vorgenommen wurde, ergab sich, daß die Metzger „bei einem Fleischpreis von 6 kr. für das Pfund einen Verlust von 121/3 kr. auf jeden Hammel" erlitten und in Kauf nahmen, und in einem Gutachten aus der Zeit um 1785 schrieb der Bürgermeister, „daß die Bädcer nicht in der Lage seien, die Art der Abhängigkeit zwischen den augenblicklichen Fruchtpreisen und dem Gewicht zu berechnen, sie merkten also, ob sie mit Verlust arbeiteten, erst nach längerer Zeit daran, ,daß der Geldbeutel leer werde* ". Den Meistern fehlte einfach die Übersicht, „da sie keine Geschäftsbücher zu führen pflegten und, wenn sie noch Einnahmen aus Nebenerwerben, wie Gast- oder Landwirtschaft und anderem hatten, nicht unterscheiden konnten, ob sie ihr Handwerk mit Schaden oder mit Nutzen trieben" 108 . Wenn wir nun den Gesamtertrag von „Bürgergewerb und ländlich Gewerb" und die Auswirkung auf die kleinbürgerliche Lebensführung wenigstens abzuschätzen suchen, kommen die zeitgenössischen Urteile und indirekten Nachrichten mit den früher behandelten quantitativen Befunden durchaus überein. Roller konnte in Durlach feststellen, daß sich unter den 76 Wirten des 18. Jahrhunderts nur 6 befanden, die keine Handwerker gewesen waren. Diese Abwanderung spiegelt sich auch darin, daß das Verhältnis der Handwerker zu den in der Urproduktion tätigen Einwohnern 1710 100 :35 betragen hatte, 1800 jedoch 100 : 61. Obwohl das Prestige landwirtschaftlicher Arbeit mit dem des ehrbaren Handwerks nicht zu vergleichen war — was auch in Stellungnahmen des Magistrats deutlich zum Ausdruck kommt — ging trotzdem eine „Handwerkerfamilie nach der anderen zu Landwirtschaft und Taglöhnerdienst" über109. Erhebungen in den Jahren 1769/71 und 1776 über die Vermögenslage der Meister machen diese Entwicklung verständlich: „Weitaus die meisten Urteile lauten: .Erhält sich ziemlich', .bleibt einmal wie das andere', .nimmt nicht ab', .bleibt in seinem esse' und ähnlich, dementsprechend wird auch der Grundbesitz des einzelnen . . . so ziemlich gleich groß angegeben. Von 368 Fällen sind es 300, für deren Vermögen dies gilt. Viel seltener heißt es, ,sein Vermögen ist gut beschaffen', oder .nimmt zu' . . . Solcher günstigen Vermögenslagen stehen aber mehr Fälle entgegen, in denen es heißt: ,nährt sich säuerlich', oder ,nährt sich kümmerlich', oder gar ,nimmt ab", ,ist in (starkem) Zerfall', meist ist dann auch der Grund beigefügt .durch schlechte Nahrung', ,zehrt als alter Mann seinen kleinen Vermögensrest nach und nach auf', oder ,das böse Trinken schwächt sein Vermögen', .die lockere Lebensart causiert den Vermögenszerfall', .hat beständige Krankheiten, welche das Vermögen abnehmen machen', ,sein schlechter Haushalt schwächt das Vermögen' und vieles derart mehr110." Man wird nach diesen Nachrichten Roller zuzustimmen haben, daß die Verhältnisse der Handwerksmeister „recht bescheiden" waren 111 . Es ist das gleiche Bild, das uns schon in Waldkappel begegnete und für Homberg (Efze) entworfen werden könnte112, aber nicht nur für solche Provinzstädtchen und kleinen Residenzen zutraf. „Man lebte beschränkt, aber darum nicht ärmlich oder kümmerlich", urteilte Köpke über die Familie Tieck, die keineswegs zu den ärmeren Berliner Handwerkern gehörte 113 , und der Rektor Lorenz warnte in den 80er Jahren, man solle ja nicht glauben, daß bei handwerklicher Tätigkeit Roller, Durlach, S. 298, 300. Roller, Durlach, S. 373, 252, 265. 110 Roller, Durlach, S. 327. 111 Roller, Durlach, S. 325. 112 Meers, Homberg, S. 12 ff. 113 Köpke, S. 14. — Abel schätzt, daß um 1800 jeder 5. oder 4. Berliner „aus eigenem oder Familieneinkommen nicht mehr den dringendsten Lebensbedarf decken" konnte, Agrarkrisen, S. 228. 108 109
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„großer Reichthum" erworben werden könne; „denn der fleißigste Handwerksmann wird es, wenn er ehrlich handelt, nur immer so weit bringen, daß er sich und seine Familie erhalten kann, ohne viel übrig zu haben" 114 . Es gehörte demnach schon eine genügsame Einstellung dazu, um nicht nur ökonomisch, sondern auch psychologisch mit dieser Situation fertigzuwerden, eine Einstellung, die ein Reisender des ausgehenden Jahrhunderts nach dem Besuch einer ostdeutschen Kleinstadt so umschrieb: „Nur kurze Zeit dort, und man bemerkt so gleich eine gewisse Einförmigkeit der Sitten, genau verwebt mit Liebe und Anhänglichkeit an Gewohnheiten und Gebräuche ihrer Voreltern. Gehn, wie sie sagen nur Nahrung und Gewerbe, erarbeitet der fleissige Bürger nur so viel, daß er bei mäßiger Lebensart unvermerkt von Zeit zu Zeit für seine Familie etwas zurük legen kann, ist ihre Ernte immer gesegnet, . . . so ist man mit der ganzen Welt zufrieden 115 ."
2. Wohnung Dieser Abschnitt und auch die folgenden beabsichtigen keine umfassende Darstellung der Sachkultur des Kleinbürgers, die, selbst wenn sie bei den geringen Vorarbeiten möglich wäre, den Rahmen der Untersuchung sprengen müßte. Es geht lediglich darum, die bisher gewonnenen Ergebnisse an den Sachgütern zu überprüfen und die häusliche Umgebung der kleinbürgerlichen Familie so weit zu beschreiben, wie zum Verständnis ihres Verhaltens notwendig erscheint. Trotz der als Regel angesehenen Koppelung von Hausbesitz mit Handwerksgerechtigkeit und Bürgerrecht und der aufgewiesenen, teils beträchtlichen landwirtschaftlichen Tätigkeit der Bürger, besaß doch ein nicht unerheblicher Teil der Kleinbürger — und auch der Handwerker unter ihnen — kein eigenes Haus. Eine Auswertung der von Roller mitgeteilten Durlacher Gebäude- und Haushaltstabelle von 1766 ergibt, daß nur ca. 2 h der Kleinbürger Hausbesitzer waren. Nach Troeltsch kamen 1769 auf 100 Bürger in Nagold 68 Häuser, in Calw 74, in Wildberg 77, in Böblingen 78 und in Herrenberg 96 Häuser 1 . Diese Zahlen geben insofern recht brauchbare Anhaltspunkte, als in jenen kleinen Städten Bürger weithin Kleinbürger bedeutete. In Quedlinburg waren 1798 von 500 Handwerkern 78 % Hauseigentümer 2 . Nach diesen weitgestreuten Angaben dürfte auch anderswo ein Viertel bis ein Drittel der Kleinbürger zur Miete gewohnt haben 3 . 114
Lorenz, Bürgererziehung, S. 134. Vergl. Hoffmann, Zunftverfassung, S. 133, 131; Wölfling, Reise, III S. 527; Sdiäffer, S. 36. 115 Bemerkungen auf einer Reise von Berlin nach Bromberg, S. 12. Vergl. Wölfling, Briefe, S. 105. 1 Troeltsch, Calw, S. 250 f. Da ein Teil der Bürger Hausanteile besaß, ist die Zahl der Nichthausbesitzer allerdings niedriger anzusetzen, S. 252. Vergl. auch das „halbe Häuschen", das Bronners Eltern und Großeltern bewohnten, I S. 3. 2 Mitgau, H., Alt-Quedlinburger Honoratiorentum. Leipzig 1934, S. 12. 3 Klose konnte bei einzelnen Wiener Handwerken überhaupt keinen Hausbesitz feststellen, 1. c., S. 414.
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Bei den Kleinbürgerhäusern überwog der Fachwerkbau 4 . Noch zu Wölflings Zeit gab es „alte Häuser genug, deren Wände mit Ziegelsteinen gemauert, oder blose Balken mit Brettern vertäfelt" waren 5 . In Hessisdi-Lichtenau waren 1779 die Häuser „durchgehend von Eichen- und Buchenholz erbauet" 6 . Zur gleichen Zeit machten in (der Festung) Frankfurt/Oder die massiven Bauten nur etwas mehr als ein Viertel aus7. Die Stiche von Boener und Delsenbach belegen für das Nürnberg des beginnenden Jahrhunderts ein Nebeneinander von Massiv- und Fachwerkbauweise. In den größeren Städten, wie Frankfurt, ging das Bestreben aber dahin, „daß in allen Gassen wenigstens das erste Stockwerk (d. i. das Untergeschoß), von lauter Steinen erbauet werden solle"8, und in Durlach wollte man um 1700 im Zuge des Neuaufbaus der Stadt am Marktplatz und an der Hauptstraße nur Häuser mit steinerner oder teilweise steinerner Front erlauben 9 . Aber noch am Ende des Jahrhunderts bestanden in Breslau und den wohlhabenderen schlesischen Städten die Häuser zumindest in den Vorstädten aus Fachwerk, in den mittleren hielten sich Ziegel- und Fachwerkbau die Waage, während in den Städten der ärmeren Gegenden der Schrotholzbau vorherrschte10. Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein begegnen Stroh- und Schindeldächer. In Potsdam waren zwar schon 1723 die letzten Strohdächer verschwunden und in Frankfurt/Oder machten sie 1780 nur knapp 6 % aus, in Städtchen wie Wilsnadc oder Zehdenick betrug ihr Anteil dagegen noch um 1800 27 und 51 % n . Auch in schlesischen Städten waren sie selbst in der Altstadt „vielfach", in den Vorstädten „allenthalben" zu finden12. In Weimar wurde 1757 das Patent erneuert, die Schindeldächer abzuschaffen, aber am Ausgang des Jahrhunderts kamen immer wieder Verstöße vor, sogar bei Neubauten 13 , und immerhin hielt es noch die Frankfurter Bauordnung von 1809 für notwendig, entsprechende Verbote auszusprechen14. Nicht allein in Eschwege waren die Häuser „sehr divers und die an denen Hauptstraßen und Markt belegenen nicht (nur) ,quoad superinstructum' als sonstiger Bequemlichkeit an Hofreiden ansehnlich besser als die an denen Stadtmauern und abgelegenen Orten befindlichen sehr kleinen und wegen des wenigen Raums ganz aneinandergebauten Häuser" 15 . In den schlesischen Städten gab es, von Breslau abgesehen, meist nur kleine, einstöckige Häuser, und als Ausnahme wurde hervorgehoben, daß in Oberglogau, Namslau und Bernstadt zweistöckige vorkamen, in
4
Vergl. für hausbaukundliche Einzelheiten die Bände 1, 3—6 der Reihe Das deutsche Bürgerhaus. Hsg. v. Bernt. Tübingen 1959 ff., in der allerdings die Häuser, in denen die Masse der Kleinbürger wohnte, zu kurz kommen. 5 Wölfling, Briefe, S. 76. — Bis zum Beginn der klassischen Zeit herrschte in Weimar der Lehmputz vor, Bach, A., Wohnhausbau von 1755 bis 1845 in Weimar. Diss. Weimar 1960, S. 246. In Göttingen wurden in den 80er Jahren die Fache mit Bewohner diente, Bemoulli, Reisebeschreibungen, X S. 369 ff. Vergl. (Wagner, G. F.) Kalksteinen und Lehm gefüllt, was einem Reisenden als Beweis für die &rmut der Osnabrüdc vor hundert Jahren. Hsg. v. Forst. Osnabrück 1891, S. 5. 9 Hessisch Lichtenau 1779. (Hessische Ortsbeschreibungen 6). Hsg. v. Heyner. Marburg—Witzenhausen 1964, S. 27. 7 Deutsches Städtebuch, I S. 535. 8 Lauffer, O., Der volkstümliche Wohnbau im alten Frankfurt a. M. Frankfurt 1910, S. 74, vergl. S. 102. 8 Roller, Durlach, S. 8. 10 Ziekursch, Städteverwaltung, S. 51 ff. 11 Deutsches Städtebuch, I S. 672, 680. 13 Ziekursch, Städteverwaltung, S. 55. 13 Bach, 1. c., S. 247. Vergl. z. B. auch Demme, III S. 94 f. 14 Lauffer, 1. c., S. 43. Allerdings kam ihnen nach Lauffer für den Wohnbau keine praktische Bedeutung mehr zu. 15 Eschwege 1769, S. 34.
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Greiffenberg am Ringe dreistöckige16. In den meisten Städten, vor allem in den größeren, nötigte schon der Platzmangel innerhalb der alten Mauem zu mehrstöckiger Bauweise, wobei dann freilich die Handwerkerhäuser unter Umständen pro Stockwerk nur ein oder zwei Räume aufwiesen17. Die Durlacher Häusertabelle erlaubt etwas genauere Angaben, die, trotz der obrigkeitlichen Reglementierung beim Wiederaufbau seit 1699, für viele Städte dieser Größenordnung zutreffen dürfte. 1766 „waren etwa zwei Drittel der Häuser zweistöckig, am Marktplatz und zum Teil in der Hauptstraße standen dreistöckige, die auch in den anderen bedeutenderen Straßen nicht fehlten, doch bildeten dieselben nur etwa ein Fünftel derer, die mehr als ein Geschoß hatten. Viel später erst wurden mehrere der Häuser mit zwei Stockwerken um ein drittes erhöht . . . Nicht wenige Häuser, fast ein Viertel aller, hatten nur ein Geschoß, dazu gab es eine ziemliche Zahl von Hofwohnungen und Hinterhäusern, darunter auch zweistöckige"18. Die meisten Häuser in 7 hessischen Landstädten wurden zwischen 1744 und 1783 als „gering", „sehr schlecht", „alt und baufällig" bezeichnet19. In den schlechteren wohnten in Eschwege und Hersfeld „des geringen Zinses wegen die mehresten Mietlinge" 20 . Im Erdgeschoß der Handwerkerhäuser befanden sich die Arbeits- und Verkaufsräume, deren Auslagen teils direkt den Vorübergehenden ansprachen21, und diese Orientierung zum Straßenleben hin wurde noch dadurch unterstrichen, daß sich bei manchen Berufen ein Teil der Arbeit vor dem Haus abspielte. Während hier eine gewisse Regelmäßigkeit sichtbar wird, konnte Fließ, der die Raumaufteilung einiger Nürnberger Handwerkerhäuser des 18. Jahrhunderts zu rekonstruieren suchte, keine verbindliche Raumgefügeordnung feststellen22. Da wir jedoch nicht an hausbaukundlichen Fragen, sondern allein an den Wohnverhältnissen interessiert sind, fällt dieser negative Befund nicht schwer ins Gewicht, er mag aber daran erinnern, daß sich die folgende Beschreibung der Durlacher Häuser nur an statistischen Regelmäßigkeiten orientiert. Nach Roller hatten „die größeren Häuser . . . in der Regel im unteren Stock neben den Betriebsräumen, den Läden, WerkZiekursch, Städteverwaltung, S. 52 f. Vergl. Fließ, U., Das Hauswesen der Nürnberger Handwerker um 1500. Diss. Göttingen 1957, S. 115 f.; Huyskens, A., Aachener Leben im Zeitalter des Barock und Rokoko. Bonn 1929, S. 39; Marx, A., Aus einem Alt-Frankfurter Metzgerhaus. Frankfurt 1939. — Die große Zahl kleiner Einfamilienhäuser in Bremen konnte dagegen „nur diejenigen befremden, welche Bremen nach der Einrichtung anderer Städte beurtheilen", Roller, Bremen, I S. 72; Priester, K., Bremische Wohnhäuser um 1800. Bremen 1912, S. 52. 1 8 Roller, Durlach, S. 10. 1 9 Hessische Ortsbeschreibungen; Schmidt, F. A., „Beschreibung der Stadt Hersfeld 1747". Mein Heimatland. Beilage zur Hersfelder Zeitung. VI 1923/24, VII 1925/26. — Der Verkaufswert der besten Häuser wurde in den einzelnen Städten auf 600—3050 Rtl. veranschlagt, der mittleren auf 300—700 Rtl., der schlechten auf 10—120 Rtl. 2 0 Eschwege 1769, S. 34; Schmidt, Hersfeld, VII S. 69 f. Die Jahresmiete dieser Häuser betrug 5—10 Rtl. Die besten Häuser, die nur selten vermietet werden konnten, erbrachten in Eschwege 45 Rtl., in Hersfeld 30 Rtl., die mittleren 12—18 Rtl. In den übrigen 5 Städten waren dafür schon die besten Häuser zu mieten, während die nächste Gruppe 8—12 Rtl. einbrachte und die schlechten für 2—3 Rtl. zu haben waren. Dagegen setzte Wagemann für eine Göttinger Armenwohnung 12 Rtl. an, Göttingisches Magazin für Indüstrie und Armenpflege, III S. 386; der früher erwähnte Passauer Buchhalter zahlte 20 Rtl. Miete, Ott, S. 118. In Berlin kostete 1736 schon ein „Stübchen" 6 Rtl., Kaeber, 1. c., S. 149°, und Goldschmied Willmanns zahlte für seine gewiß nicht komfortable Wohnung um 1800 in Berlin 90 Rtl., Klöden, S. 177; zu der hohen Miete in Berlin auch Krüger, S. 346. 16
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2 1 Fließ, 1. c., S. 15; Hausladen, E., Das Augsburger Bürgerhaus im 17. und 18. Jahrhundert. Diss. München 1926, S. 51. 2 2 Fließ, 1. c., S. 113—119. — „Die Vertheilung des Raumes in den kleinen Häusern hatte man rein dem Zufall überlassen", Weyden, S. 46.
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Stätten, Wirtschaftszimmem, eine Stube, eine Kammer, die sich von der Stube nicht nur durch die geringere Größe, sondern auch durch das Fehlen eines Ofens unterschied, und eine Küche; den Hauseingang bildete vielfach eine Einfahrt. Stube, Kammer und Küche, diese drei Räume machten gewöhnlich eine Wohnung aus, größere Wohnungen waren weniger häufig. Auf dem beschriebenen Untergeschoß standen öfters zwei solcher Durchschnittswohnungen, und das zweite Stockwerk hatte zwei Küchen. Seltener befand sich in demselben nur eine Wohnung, die eine größere als die angegebene Zahl von Wohnräumen enthielt. Familien, die mehr Räume brauchten, waren meist gezwungen, zwei oder mehrere solcher kleinerer Wohnungen zu mieten. War das Haus etwas kleiner, indem die Betriebsräume nicht viel Raum beanspruchten, oder ganz wegfielen, oder, was durchaus keine Ausnahme bildete, war die untere Wohnung auf eine Stube (bzw. Kammer) und Küthe beschränkt, so hatte das obere Stockwerk ebenfalls entsprechend weniger Räume, statt 6 nur 5 oder 4, die wir aber nicht selten trotzdem in zwei Wohnungen geteilt finden. Die kleineren Häuser bestanden überhaupt nur aus 4 oder 3 Wohnräumen und 2 Küchen, in jedem Stock eine, die einstöckigen und die kleineren Hinterhäuser meist nur aus je einer Stube und Kammer nebst Küche, bisweilen fehlt auch noch die Kammer. Die Häuser waren eben gewöhnlich auf die Stube-Kammer-Küchen-Wohnung gebaut, welche den Bedürfnissen der Bürgerfamilien, auch der besser gestellten, damals genügte"23. Uber die tatsächlichen Wohnverhältnisse in Durlach sind durch die Häusertabelle — die Zahl, Art und Lage der Räume, sowie den Personenstand der Bewohner angibt — und Rollers ergänzende Erhebungen recht genaue Aussagen möglich. 1766 waren in 327 Häusern 781 (heizbare) Stuben, 550 (unheizbare) Kammern und 658 Küchen vorhanden24. Das ergibt einen Durchschnitt von 41 bewohnten Räumen und 20 Küchen pro 10 Häuser, was gut mit jener beschriebenen „Normalwohnung" übereinkommt. Die Verteilung des Wohnraums zeigt das nebenw/, stehende Diagramm25; die Wohndichte lag in den erfaßten Wohnungen — ohne das zeitweilig einquartierte Militär — bei rund 2 Personen pro abed abed b c d (Wohn-)Raum26. Das muß aber C A nicht bedeuten, daß sich der durchschnittliche Kleinbürger a W o h n u n g e n mit 3 und mehr W o h n r ä u m e n b W o h n u n g e n mit 2 W o h n r ä u m e n beengt fühlte. In Durlach c W o h n u n g e n mit 1 W o h n r a u m d W o h n u n g e n mit 1/2 W o h n r a u m (geteilte Kleinstwohnungen) wurde „keine Klage über die A G r ö B . D u r l a c h e r W o h n u n g e n (n = 4 5 7 ) große Beschränkung" laut,
I.
a
B
W o h n u n g e n der Handwerksmeister und K r a m e r (n = 240)
C
Prozentsatz der W o h n u n g e n , d i e In A lewells auf Handwerks-
» k e m spekulativer Kopt kam auf den Gedanken, bei den
melster und K r ä m e r entfielen
Roller, Durlach, S. 11 f. Roller, Durladi, S. 207; nur Häuser in Privatbesitz, doch ist in der Tabelle „vermutlich eine kleine Gruppe von gefreiten Häusern fortgeblieben", S. 206. 25 „Witwen und ihre Familien, die z. T. unter anderen, unregelmäßigen, oft schlechteren Bedingungen lebten, sind . . . ausgelassen", ebenso 33 Haushalte wegen fehlender oder ungenauer Beschreibung, Roller, Durlach, S. 210. 28 Die Wohndichte betrug in den großen Wohnungen (a) 1,3, in den kleinen und „halben" Wohnungen, in denen ein Fünftel der Meister und zwei Drittel der Gesellen lebten, 4,5 bzw. 6,3, Roller, Durlach, S. 212. 23
24
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dodi zweifellos immer höher gehenden Mietspreisen neue Wohnungen und Häuser zu errichten, obwohl dafür Bauplätze genug, sogar noch in der Hauptstraße, dagewesen wären" und der Stadtrat sogar Platz für eine Universität zu haben glaubte 27 . Ähnlich genaue Angaben liegen mir für andere Städte nicht vor. Begrenzte Vergleichsmöglichkeiten bietet jedoch die Behausungsziffer28. Sie betrug in Durlach 8,2 24 Städten der Grafschaft Mark (1787) 4,9 7 hessischen Städten (758—3642 Einwohner) 5,0 7 brandenburgischen Städten (unter 5000 Einwohner) 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts 5,2 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts 7,7 5 Städten des Schwarzwalds (1769) 7,029 In der Durlacher Größenordnung hielt sich nicht nur die Behausungsziffer der Residenz Gotha (8,4), sondern auch die von Magdeburg (8) oder Ulm (9)30, wobei in den beiden letzten Fällen, wie bei den teils erheblich höheren Behausungsziffem, die sonst aus Mittel- und Großstädten mitgeteilt werden, natürlich die dortigen größeren Häuser berücksichtigt werden müssen: Potsdam Augsburg Stettin Berlin Frankfurt Linz Hannover Breslau
1. Hälfte des 18. Jahrhunderts 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts
10,2 13,4 12,3 14,0 14,5 15—16 15,4 16,7 20,031
Formey berichtete aus dem Berlin der 90er Jahre, daß die „Häuser meist 3, 4, 5stöckig" seien, aber auch von „Seiten- und Hintergebäuden, worin allein zuweilen zwölf bis sechzehn Familien" wohnten32. Hier, wie in der Kleinstadt, Roller, Durlach, S. 208, 212 f. Daß hier allerdings größte Vorsicht geboten ist, macht ein Vergleich der Angaben für den Flecken Koengen und das Städtchen Wendlingen deutlich, Troeltsch, Calw, S. 254. 29 Roller, Durlach, Anhang S. 226/227; Z. f. vaterländische Geschichte und Alterthumskunde. 58 1900, S. 140; Hessische Ortsbeschreibungen und Schmidt, Hersfeld; Mols, II S. 158; Troeltsch, Calw, S. 254. 30 Mols, II S. 161; Nicolai, Reise, IX Beilagen S. 56. 31 Mols, II S. 161; Nicolai, Reise, VII Beilagen S. 3; Seil, S. 99; (Nicolai, F.), Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam. Berlin 1786, S. 232 (Mols, II S. 161: 17); Voelcker, S. 20; Nicolai, Reise, VI Beilagen S. 59, vergl. Commenda, I S. 52, 57; Mauersberg, S. 62; Zöllner, J. F., Briefe über Schlesien. I Berlin 1792, S. 78, vergl. Ziekursch, Städteverwaltung, S. 53. — Bei den unterschiedlichen Angaben für verschiedene Zeiträume spielt auch eine Rolle, daß der Hausbau mit der Bevölkerungsvermehrung mancher Städte nicht Schritt hielt. In Hannover z. B. hatte 1751 die Bevölkerung gegenüber 1689 um fast 50% zugenommen, die Zahl der Häuser war dagegen gleichgeblieben, Mauersberg, S. 62; in München betrug die Zuwachsrate der Häuser in der Zeit von 1731 bis 1781 21,5 %, die der Herdstätten aber 75 %, Schorer, H., „Münchens Bevölkerung in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts". Forschungen zur Geschichte Bayerns. XI 1903, S. 145—155, 147. 32 Formey, S. 8 f. Vergl. Nicolai, Residenzstädte, I S. 239. Das Verhältnis der Vorder- und Hinterhäuser war ungefähr 2 :1, Formey, S. 7. Uber Hamburger Hinter27
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scheinen jedoch Besitz und Hausgröße keinen entscheidenden Einfluß auf die' Ansprüche des Kleinbürgers ausgeübt zu haben. Durlacher Handwerker, die zwei Häuser besaßen, begnügten sich doch mit der „Normalwohnung", und der Berliner Seilermeister Tiedc, dem eines der stattlicheren Häuser in der Roßstraße gehörte, bewohnte eine dunkle Erdgeschoßwohnung 33 . Einige autobiographische Nachrichten mögen den Ergebnissen der Statistik etwas Relief geben und die Problematik dieser Wohnverhältnisse anklingen lassen. Günther, der als Schüler in Haida bei einem Schneider untergebracht worden war, mußte an der Ofenbank knieend die Aufgaben machen, da der Meister in der Regel den Tisch zum Zuschneiden benötigte, und, wie Moritz, „in derselben Stube wohnen und auf dem Boden schlafen"34. Formey beklagte die gesundheitsschädlichen „elenden Wohnungen" des gemeinen Mannes und bemerkte, er behelfe sich mit „einem einzigen Zimmer, worinn er nicht allein sein Handwerk treibt; sondern auch mit seiner ganzen Hausgenossensdiaft wohnt und schläft"35. Klöden, der als Lehrling meist in Verschlagen auf dem Flur oder Boden kampieren mußte, hat solche nicht auf Berlin beschränkten39 Wohnverhältnisse eingehend beschrieben. Eine der Mietwohnungen seines Onkels „bestand aus einer Stube vorn heraus, in welcher gearbeitet wurde und welche zugleich Wohnzimmer der Familie war, und einer Stube nach dem Hofe, in der die Großmutter wohnte. Zwischen beiden lag die kleine Küche, welche ihr Licht mittelst eines Zwischenfensters aus dem Zimmer der Großmutter empfing, und daher sehr dunkel war . . . Dicht unter jenem Zwischenfenster stand der große Ambos und an der Seite die Ziehbank. Der Thür gegenüber lag der Feuerheerd . . . Da nun beinahe täglich Gold und Silber geschmolzen . . . werden mußte, . . . brannte meist auf dem Heerde Kohlenfeuer . . . und neben dem Kohlenfeuer Holz und Torf zur Bereitung der Speisen. Bei dem Lichte dieser Feuer mußten die Arbeiten verrichtet werden, was in dem Rauche und der nie weichenden Dämmerung oft kaum möglich war" 37 , und in dieser Wohnung hauste also eine Familie mit drei Kindern, der Großmutter und dem Lehrling. Im Falle des Musikers Filter, bei dem Anton Reiser Unterkunft gefunden hatte, wurde das enge räumliche Beieinander recht bald in anderer Weise zum Problem. Anton schlief in der Wohnstube, „welches ihnen nun alle Morgen, so oft sie herein traten, einen unvermutheten Anblick von Unordnung machte, dessen sie nicht gewohnt waren, und der sie wirklich in ihrer Zufriedenheit störte. — Anton merkte dieß bald, und der Gedanke, lästig zu seyn, war ihm so ängstigend und peinlich, daß er sich kaum zu husten getrauete"38. Gewiß darf man den Mißmut eines kinderlosen häuser Schönfeldt, S. 21; Winkelmann, F., Wohnhaus und Bude in Alt-Hamburg. Die Entwicklung der Wohnverhältnisse von 1250 bis 1830. Diss. Hannover 1937, S. 8 f. Auch in Bonn gab es um 1790 Mietskasernen, in denen bis zu 21 Familien wohnten, Ennen, 1. c., S. 459. 3 3 Köpke, S. 14, Hinweis auf das „dunkle, bürgerlich eingerichtete Zimmer zu ebener Erde, diesen langen, schmalen Hausflur, den kleinen Hof dahinter, auf den nur ein spärlicher Himmel herabblickte". 34 Knoodt, P., Anton Günther. Eine Biographie. I Wien 1881, S.24, 29; Moritz, Anton Reiser, III S. 9, vergl. IV S. 159. 3 5 Formey, S. 86. Vergl. zu den Berliner Handwerkerwohnungen noch Knüppeln, S. 22 f.; Riesbeck, II S. 82 f. 3 6 Vergl. Nolde, S. 49; Weyden, S. 53. Aus Eichstätt wurde 1707 berichtet, daß die „mehriste in ihren kleinen Häusern so eingeschlossen, und eng beysammen wohnen, dass sie kaum vor die ihrige dass erforderliche unterkommen haben", Könnecke, O., Rechtsgeschichte des Gesindes in West- und Süddeutschland. Marburg 1912, S. 709. 37 Klöden, S. 182. — Zur Beleuchtung Finder, S. 276 f. 3 8 Moritz, Anton Reiser, II S. 23.
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und, wie sich früher zeigte, etwas pedantischen, ältlichen Ehepaares und die Gefühle eines überempfindlichen Knaben nicht verallgemeinem, aber auch bei weniger feinfühligen Zeitgenossen mußte sich die Aufnahme Fremder in die kleinen Wohnungen, die z. B. Roller in Durlach feststellte, recht störend auswirken und, wie er umschreibend bemerkt, „der Sittlichkeit und Schamhaftigkeit nicht zum Vorteile" gereichen39, eine Seite des Wohnungsproblems, die nicht allein in solchen Ausnahmefällen Bedenken hervorrief. „Wie oft schlafen Eltern und Kinder in einer Kammer", schrieb Salzmann; „Eltern glauben oft, die Kinder schlafen, da sie vielleicht doch munter sind, und die kleinste Bewegung ihrer Eltern hören. Auch schallt der geringste Laut deutlich in der Nacht durch dünne Wände. Auch in Städten, wo sehr enge Gassen, ist es möglich, daß man das kleinste Geräusch hören kann, das in der gegenüberliegenden Kammer gemacht wird, besonders von jungen Eheleuten, die noch der ersten heftigen, und oft nicht gar zu schamhaften Liebe pflegen" 40 . Daß Salzmann hier nicht übertreibt, bestätigt Klöden durch die Schilderung der Wohnung seiner Eltern in Preußisch-Friedland: „Man mußte . . . im eigenen Zimmer stets so sprechen, als ob alle Welt zuhörte, ein Zwang, von dem man kaum eine Vorstellung hat, besonders bei der Klatscherei der kleinen Stadt. Das Ausziehen hätte uns nichts geholfen; denn es war überall nicht anders 41 ." Diese Enge erzwang nun ein Maß von innerfamiliärem Kontakt, dessen positive wie negative Aspekte die folgenden Nachrichten verdeutlichen. Jacobs beschrieb den positiven im Hinblidc auf den „Mittelstand" und dessen damals „sehr einfaches" Leben: „Meist waren Eltern und Kinder in Einem Zimmer vereinigt; die Kinder arbeiteten und spielten unter den Augen der Eltem; und ein großer Theil der Erziehung bestand in diesem Zusammenleben. Der kindliche Gehorsam, der Anfang und die Grundlage aller häuslichen und bürgerlichen Tugenden, verstand sich dabei von selbst; auch den Eltern nützte der Zwang, den ihnen die Gegenwart der Kinder in Handeln und Reden auferlegte 42 ." Für den aus einer armen Familie stammenden G. F. Schumacher ging dagegen besonders der Winter „traurig hin": „Im kleinen Stübchen zusammengepreßt, mußten wir uns beschäftigen, wie es gehen wollte" 43 , und wenn Koenig, der in äußerst beschränkten Verhältnissen aufwuchs, schreibt: „In solcher niederen Enge, worin aus Mangel an Raum selbst das kaum Entbehrliche nicht vermißt wurde, konnte nur Reinlichkeit und Liebe das Zusammenleben einer Familie erleichtern. Häusliche Sitte, aus frommer Gewohnheit erwachsen, that das Uebrige" 44 , so ist das sicher richtig gesehen, harmonisiert aber das damalige Alltagsleben zu sehr aus der Rückschau des Alters. Sehr viel schwieriger ist es, ein detailliertes Bild der Innenausstattung von Kleinbürgerwohnungen zu gewinnen. So lange etwa die in den Archiven liegenden Nachlaßinventare nicht in größerem U m f a n g systematisch durchgearbeitet sind 45 , müssen wir uns mit recht allgemeinen Aussagen zufriedengeben, die allerdings ausreichen, auch hier den engen Zuschnitt des kleinbürgerlichen Lebens zu verdeutlichen, den das Einkommensniveau vermuten ließ. 39
Roller, Durlach, S. 212. Salzmann, Heimliche Sünden, S. 110. — In Baden-Durlach wurde 1752 und 1766 das Zusammenschlafen von Eltem mit erwachsenen Kindern bzw. erwachsener Geschwister verschiedenen Geschlechts verboten, Fischer, Gesundheitswesen, II S. 204. 41 Klöden, S. 51. 43 Jacobs, S. 7 f. 43 Bacherler, S. 149. 44 „Soviel hölzerne Stühle, als Personen da waren, hätten neben Tisch und Betten nicht untergebracht werden können, daher die Großmutter gewöhnlich auf der Bettlade Platz nahm", Koenig, S. 8,9. 45 Vergl. Schnapper-Arndt, G., Studien zur Geschichte der Lebenshaltung in Frankfurt a. M. Frankfurt 1925; für das 17. Jahrhundert Schmidt, M., Das Wohnungswesen der Stadt Münster im 17. Jahrhundert. Münster 1965. 40
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Die Zimmer waren gemeinhin nur getüncht, was noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts selbst in wohlhabenderen Kasseler oder Münchner Bürgerfamilien zumindest bei den „minder guten Räumen" der Fall war46. „Die Stuben sind in der Regel gedielt", berichtet Wölfling, „in manchen Provinzen pflegten Leute vom Mittel- und gemeinen Stande sie mit feinem Sand zu bestreuen" 47 ; also die gleiche Methode, die v. Griesheim kritisierte, wenn er in seiner Stadtbeschreibung bemerkt, daß „die Reinlichkeit auf der Diehle . . . mit Scheuren und Sandstreuen zu sehr in Hamburg übertrieben" werde und zudem schädlich sei; denn „das stete Sandstreuen in Stubens, wo viele Menschen sich bewegen, erreget einen subtilen Staub, der sich an der Lunge setzet, und die Schwindsucht erzeuget, die Meubeln verschönem sich auch nicht"48. Neben der Stubentür hing das „allgemeine" Handtuch49. Die Möbel der Kleinbürger und anderer „rechtlicher Leute" 50 waren im allgemeinen nach Holzart51 und Ausführung recht schlicht gehalten, wie ja auch noch Bähr für das Bürgertum seiner Berichtszeit bestätigt, daß „die häuslichen Einrichtungen . . . im Durchschnitt sehr einfach" waren52. In München bildete „mit Ölfarbe angestrichener Hausrat . . . die Regel" 53 . Außer den bis heute üblichen Einrichtungsgegenständen der Stube, die durch „thöneme oder eiserne Oefen, . . . bald mehr bald weniger verziert, bald rund bald viereckigt", geheizt wurde54, treffen wir noch Ofenbänke und Kästen an 55 . Kästen und Truhen ersetzten nicht nur zum Teil die Schränke, sondern boten auch Gelegenheit, das Geschirr offen zur Schau zu stellen, und als der kleine Sohn des Hofzimmermeisters Weinbrenner den „Kasten, der in der Wohnstube stand", beim Schaukeln umkippte, stürzten eine „alte porzelänene Weinkanne, Teller und Tassen, welche . . . zur Zierde in Pyramidalform aufgestellt waren", auf ihn herab5®. Das Zinngeschirr wurde im Laufe des Jahrhunderts immer mehr zurückgedrängt57; um 1800 stellte Rambach fest, es sei in Hamburg „beinah ganz ausser Gebrauch gekommen": „Fast jedermann bedient sich des englischen SteinZeuges. Ganz Arme essen von gemeinem TöpferGeschirr"58. Auch in Rostock benutzte man zu dieser Zeit „am häufigsten" irdenes Töpferzeug59. 49 Bähr, S. 28; Grassl, S. 10; vergl. Stengel, W., Alte Wohnkultur in Berlin und in der Mark. Berlin 1958, S. 30. 47 Wölfling, Briefe, S. 77; Bähr, S. 28. In Hamburg hatten um die Jahrhundertmitte etwa ein Drittel aller Stuben Holzfußböden, am Ende des Jahrhunderts beinahe alle; in den Kammern überwog Plattenbelag, Winkelmann, Wohnhaus, S. 38. 48 Griesheim, Anmerkungen, S. 268; Wölfling, Briefe, S. 77. Vergl. Sdilee, E., „Streusand". Volkswerk. 1942, S. 75—103, 78. 49 Hoedl, S. 184; Weyden, S. 54. — Zum niedrigen Standard der Körperpflege etwa Finder, S. 170; Hufeland, Chr. W., Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern. Wien und Prag 1797, II S. 166, 168. 50 In Ulm war ihre „Möblierung sehr einfach, fast schlecht", Nicolai, Reise, IX S. 132. 51 Vergl. Voelcker, S. 338 f., Wohnungseinrichtung eines Bendermeisters; die Möblierung von Schillers Eltern bei der Heirat, S. 381. 5a Bähr, S. 30. 53 Grassl, S. 11. 54 Wölfling, Briefe, S. 78. „Um Holz zu sparen, pflegen minder wohlhabende Personen in diesen Oefen zugleich zu kochen". 55 Knoodt, S. 29; Kramer, K.-S., Volksleben im Hochstift Bamberg und im Fürstentum Coburg (1500—1800). Würzburg 1967, S. 208. — „Stühle und Sessel gehören zu den Seltenheiten, Truhen, in denen Alles aufbewahrt wird, bilden die Sitze", Weyden, S. 53. 58 Wembrenner, F., Denkwürdigkeiten aus seinem Leben, von ihm selbst geschrieben. Heidelberg 1829, S. 7. 57 Vergl. Wamcke, 1. c., S. 114. 58 Rambach, S. 127. Vergl. aber Finder, S. 255. 59 Nolde, S. 156. — In Köln fehlten zu Beginn des 19. Jahrhunderts „in keiner Küche die frechemer irdenen Schüsseln und Kumpen, recht bunt bemalt, mit Sprüchen auf den Rändern in wahrer Runenschrift". Gesprungenes Geschirr „mußte, wo möglich,
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Da in den kleinen Wohnungen keine ausreichenden gesonderten Schlafräume vorhanden waren, boten die Himmelbetten, denen man auch noch am Beginn des 19. Jahrhunderts in Kassel „sehr häufig" begegnete 60 , immerhin eine Möglichkeit, einen letzten Rest von Intimsphäre zu retten. In Bremen kam im 17. und z. T. auch im 18. Jahrhundert das Schlafen in wandfesten Kojen, die in allen nur erdenklichen Winkeln und Nischen des Stadthauses untergebracht waren, fast noch ebenso häufig vor, wie das Schlafen in Kammern mit freistehenden Betten81. Finder belegt solche schrankartig in die Wand eingebauten Bettverschläge auch für Hamburg, wo das Kutzbett, häufig als Alkoven eingerichtet, den ärmeren Klassen vielfach als Schlafgelegenheit diente, ebenso den Dienstboten; Kinder und Mägde benutzten noch die Schlafbank62. „Die Betten der Deutschen", schreibt Wölfling, „sind der Regel nach entweder sehr kurz, oder so mit Federbetten und Pfühlen vollgepfropft, daß sie dadurch sehr kurz werden. Der größere Theil der Nation schläft, in solche Betten eingepackt, und bedient sich noch überdieß großer Kopfkissen, welche ebenfalls mit Federn angefüllt sind . . . Matratzen findet man nur bey wohlhabenden Leuten aus der großen Welt" 63 . Die Sitte, bei Wochenbettbesuchen mit dem Bettzeug zu prunken, veranlaßte in Hamburg noch im 18. Jahrhundert einschränkende obrigkeitliche Verordnungen64. Bährs Beschreibung der Küche spiegelt, wie die zeitgenössischen Abbildungen bestätigen, noch die Verhältnisse des 18. Jahrhunderts: „Der Herd war in den meisten Häusern nichts weiter als ein gemauerter Aufsatz, in welchem als Feuerstelle eine Vertiefung mit Rost sich befand. Die Töpfe umstanden das offen brennende Feuer, welches mit Holzklibbern unterhalten, oft auch noch mit einem hölzernen Blasrohr angeblasen wurde" 65 . Feuerbödce und Dreifüße sorgten für eine bessere Ausnutzung der Hitze68. „Uber dem Herde öffnete sich in weitem Busen der Rauchfang, aus welchem der Schornstein unmittelbar ins Freie führte und mittels des durchkriechenden Schornsteinfegers gereinigt" wurde. „Der unentbehrliche Ausguß für das Spülwasser, der Gossenstein, ging unmittelbar ins Freie hinaus. Die Küchen waren deshalb meist zugig und kalt" 67 . Wasserzuber fehlten in keiner Küche, da „alles zum Hausbedarf notwendige Wasser . . . in Eimern oder Krügen in die Häuser getragen" werden mußte 68 . Nur die wenigsten Bürger besaßen eigene Brunnen69, die überwiegende Zahl war auf gemeinschaftliche Brunnen angewiesen, die von der Stadt oder den Anliegern70 bzw. Brunnennachbarschaften unterhalten wurden 71 . Äußerst unzulänglich waren die sanitären Anlagen, vor allem in den größeren Städten. Dietz hatte immerhin noch ein eigenes „Sekret" im Hinterhof72. In Frankfurt teilten sich dagegen oft mehrere Häuser in die „Profeyen" oder „heimlichen Gemächer"73, und eine 1782 erschienene Spottschrift zählte ein „Notdurftskämmerlein" zu mit Draht zusammengeflickt, ,gebungen' werden", Weyden, S. 51. Vergl. Dexel, W., Das Hausgerät Mitteleuropas. Braunschweig 1962. 60 Bähr, S. 33. Vergl. Stengel, 1. c., S. 130, 132, 161, auch 170. 61 Grohne, E., Das Bauernhaus im Bremer Gebiet. Bremen 1941, S. 65. 82 Finder, S. 259 f. Nolde kritisierte als Arzt das Schlafen in Alkoven in Rostode, S. 45. Ein Berliner Strumpfmacher hatte 1762 eine Schlafbank „in Façon einer Commode" abzugeben, Stengel, 1. c., S. 141. 63 Wölfling, Briefe, S. 87. Keine Matratzen: Finder, S. 258; Bähr, S. 32. 6 1 Finder, S. 260. 65 Bähr, S. 29. 66 Finder, S. 253; Kramer, Unterfranken, S. 139. 67 Bähr, S. 29 f.; Weyden, S. 29; vergl. Voeldcer, S. 38. 63 Bähr, S. 21. — Vergl. Rambach, S. 144 f.; Nicolai, Reise, VII S. 80. 69 Koenig, S. 7. Vergl. Fromm, Alt-Brandenburg, S. 158 f. 70 Vergl. die Angaben der Hessischen Ortsbeschreibungen; Steinhilber, W., Das Gesundheitswesen im alten Heilbronn 1281—1871. Heilbronn 1956, S. 28 ff.; Voelcker, S. 37 f. 71 Vergl. S. 76 f. 73 Dietz, S. 244. 73 Voeldcer, S. 38. 124
den rarsten Dingen in Hamburg74. Wo Raummangel oder Lage keine Abtritte gestattete, mußten Kübel benutzt werden70, die in den Großstädten von Grabenfegern und Kübelweibern in den nächsten Fluß entleert wurden76. Aber es kam audi vor, daß man sie in den Rinnstein ausschüttete77, so daß sich die Hamburger Gassenordnung von 1788 gegen solche und andere „Unflätereien" wenden mußte78, und noch 1796 berichtete Formey aus Berlin, daß alle Abänderungsvorschläge unbeachtet geblieben seien79. In dieser Beziehung waren die kleineren Städte bessergestellt, aber auch dort werden, wie sogar noch in Kassel im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, „die Aborte . . . häufig . . . in die zwischen Häusern liegenden offenen Winkel oder in die schlecht abfließenden Kanäle" abgelaufen sein80. Daß überhaupt die hygienischen Verhältnisse in den Städten viel zu wünschen ließen, bestätigen die zeitgenössischen Autoren immer wieder81. Nimmt man das alles zusammen, dann decken sich Enge und Simplizität durchaus mit dem Rahmen, den das Einkommen vorgab, wobei es im Hinblick auf die kleinbürgerliche Verhaltensorientierung bemerkenswert scheint, daß diese Momente nur als Hintergrundserfüllung begegnen, als Selbstverständlichkeit hingenommen wurden, und auch dort, wo Änderungsmöglichkeiten bestanden, davon kaum Gebrauch gemacht wurde. 3. Essen und Trinken In der Küche des „Mittelmannes" — und natürlich erst recht in der des durchschnittlichen Kleinbürgers — haben wir es, nach Germershausen, „nur allein mit gemeinen Speisen, oder so genannter Hausmannkost, zu thun" 1 . „Dat es Hußmanns-Kost", war die gleichbleibende Antwort des Stralsunder Meisters, wenn der kranke Schustergeselle Steube wegen der ihm unbekömmlichen Landesgerichte um anderes Essen bat 2 ; „bleibt . . . bei eurer gewöhnlichen Hausmannskost", mahnte Lorenz die gemeinen Leute 3 ; der Amtsschreiber Schmid sah darauf, daß seine Kinder nichts zwischen den Mahlzeiten erhielten, sie lernten sonst, „eine gewöhnliche Hausmannskost (zu) verschmähen"4, und in Rostode zog man eine „derbe Hausmannskost allen erkünstelten Gerichten und einer großen Mannichfaltigkeit in der Regel weit vor" 5 . Diese Hausmannskost läßt sich aber nun nicht einfach durch einen bestimmten Speisezettel charakterisieren und ebensowenig die entsprechende Kindernahrung, die Lorenz mit „Grüzze, Brod, Milch und Wasser" umschreibt. Der Terminus Hausmannskost summiert vielmehr Einstellungen, die auf das Nahrhafte und Kräftige zielen, sich von Schleckerei und Verfeinerung distanzieren, ohne das Wohlschmeckende natürlich prinFinder, S. 250. Finder, S. 250; Nolde, S. 43. 76 Griesheim, S. 206. 77 Cölln, S. 74; Nolde, S. 43; vergl. Griesheim, S. 201. 78 Finder, S. 171; vergl. Fischer, Gesundheitswesen, II S. 205 (Dresden 1776). 7 9 Formey, S. 13—17. 80 Bähr, S. 30; vergl. Roller, Durlach, S. 208. 8 1 Klagen über Schmutz und Unrat auf Straßen: Fischer, Gesundheitswesen, II S. 202; Nolde, S. 20; Horsch, Ph. J., Versuch einer Topographie der Stadt Würzburg. Arnstadt und Rudolstadt 1805, S. 19 ff.; Weyden, S. 34 f.; Steinhilber, 1. c., S. 57; Abfluß in Straßenmitte: Wagner, Osnabrück, S. 5. Ungeziefer: Finder, S. 171. 1 Germershausen, Hausmutter, I S. 357. 2 Steube, S. 22. 3 Lorenz, Bürgererziehung, S. 16. 4 Schmid, Chr. v., Erinnerungen aus meinem Leben. I Augsburg 1853, S. 9 f. 5 Nolde, S. 156. 74
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zipiell auszuschließen, Einstellungen, die einer Zeit, in der jene Schichten noch den Hunger kannten und das Sattessen als solches geschätzt wurde, auch angemessen waren. Als „nahrung wie sie ein hausvater gewöhnlich für sich und die seinigen bereiten läszt"8, hält sie sich im Rahmen des Üblichen, und deshalb sind nicht nur erhebliche durch die verschiedene ökonomische Lage bedingte Unterschiede zu erwarten, sondern auch landschaftliche. Sie dürfen hier aber um so eher vernachlässigt werden, als es sich nicht darum handeln kann, ein vollständiges Kochbuch des damaligen Kleinbürgers zu rekonstruieren, sondern die Aufgabe dieses Abschnitts durch die einleitenden Bemerkungen des vorangegangenen vorgezeichnet ist. Beispiele solcher landschaftlichen Speise- resp. Geschmacksdifferenzen teilt der Thüringer Steube aus seiner Stralsunder Gesellenzeit mit: „Eine sehr gewöhnliche Speise bey ihnen ist die sogenannte Mehlgrütt; dieses ist nichts anders als ein von geschrotenem Kornmehl in Wasser und Salz gekochter dicker Brey, welchen sie auf folgende Art aufzutischen pflegen. Sie nehmen einen Löffel voll aus der Mitte der Schüssel heraus, legen ein Stück Butter hinein, welches sehr bald darinn schmilzt, auf jeder Seite des Tisches steht eine Schale, worinne in der einen süße Milch, in der andern aber mit Syrup versüßtes Bier ist. Nun nimmt man einen Löffel voll von dieser Mehlgrütt, und es wird der Willkühr der tafelnden Personen überlassen, ihn in das mit Butter angefüllte Loch, oder in eine der beyden Schüsseln zu taugen, da der Brey sehr heiß, die Milch und das Bier aber kalt aufgetragen wird, so kann man sich den Geschmack leicht denken. Ein anderes, weniger Geschmackloses Essen, welches aber auch als ein Sonntagsgericht angesehen wird, ist diess: Sie kochen Klose, frischen Aal, Rosinen, Kartoffeln, Reis, gelbe Rüben und gewelkte Zwetschgen, auf einmal in einem Topfe, und dieses Essen hat, wenn gleich nicht viel anlockendes, doch das Gute, daß unter so vielen Speisegattungen doch mehrentheils eine ist, die einem behagen kann" 7 . Und wie diese pommerschen Speisen den Mitteldeutschen Uberwindung kosteten, so die bayrischen den Berliner Nicolai: „Die Mehlspeisen, Knödel, Wespennester, Dampfnudeln u. dgl. sind äusserst gemein, und werden von den Bayern für besondere Leckerbissen gehalten. Einige feine Arten sind dies auch wirklich; aber die gemeinen bayrischen Knödel und Mehlspeisen sind nicht für einen niedersächsischen Gaumen" 8 . Einige weitere Beispiele mögen die Variationsbreite jener Hausmannskost verdeutlichen. Klöden berichtet über Preußisch-Friedland am Ausgang des Jahrhunderts: „Man lebte im Orte sehr einfach. Eine Menge von Dingen, an welche wir in unserer doch so überaus bescheiden eingerichteten Wirthschaft zu Berlin gewöhnt gewesen, kannte man nicht. Fleisch war nicht zu kaufen, weil Jeder selbst schlachtete; das Bier war nicht zu genießen. Sehr viele Gemüse waren unbekannt. Graue Erbsen, bunte Bohnen, Saubohnen und wenige Linsen zog Jeder selbst und verkaufte sie nicht. An Obst gab es nur saure Kirschen . . . , sehr schlechte steinige Bimen . . . und einige Sorten von Aepfeln. Von Pflaumen habe ich nur eine Art kennen lernen. Kohlrabi, Borreen, Spargel, Sellerie, weiße Rüben, waren unbekannt, Kohlrüben . . . und Weißkohl . . . dagegen in Fülle vorhanden, und sie mußten für die fehlenden Gemüse entschädigen 9 ." In der fruchtbaren Gegend zwischen Frankfurt und Mainz waren aber „feiner Blumenkohl und vortrefliche Spargeln . . . das Essen des gemeinsten Bürgers, ein Liebhaber von Zugemüsen und Küchenkräutern" befand sich in Deutschland „nirgends besser als hier" 10 , und wenn andererseits die aus dem Kleinbürgertum stammende Mutter des vorhin erwähnten Chr. Schmid „mit den Speisen abzuwechseln" wußte und „die Woche hindurch täglich eine andere Suppe auf den Tisch (kam), zu dem Rindfleische andere Beispeisen — Senf, Kreen, rothe Randich, Radieschen, Rettiche, frische oder eingemachte Gurken und dergleichen; eben so . . . mit Gemüse nebst Bei6
Deutsches Wörterbuch, Art. „Hausmannskost". Steube, S. 22 f. 8 Nicolai, Reise, VI S. 773. Vergl. auch den Hinweis auf regionale Unterschiede bei Lossius, Meister Liebreich, I S. 83. 9 Klöden, S. 50. 10 Riesbeck, II S. 284. 7
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läge gewechselt (wurde)"11, so notiert Bronner, der Sohn eines Zieglers, über das Essen am Tisch seines Großvaters, eines nicht gerade begüterten Zimmermanns: „Ich war herzlich froh, von der geringen Kost der Aeltem in eine etwas bessere zu kommen. Es hatte immer geheißen: Sauerkraut und Brod, Erdäpfel und Brod, und wieder Sauerkraut und Brod etc. Jetzt hieß es doch: Suppe und Nudeln (Gebackenes), allerley Gemüße, und an großen Feststagen wohl gar Fleisch"12. Im Seminar mußte er sich an Fleischnahrung erst gewöhnen13. Einen kleinbürgerlichen Tagesspeisezettel teilt der Goldschmiedelehrling Klöden mit: „Des Morgens erhielt ich zwei Tassen Kaffee, Mittags um 12 Uhr wurde e i n Gericht, meistens mit etwas Fleisch, genossen; doch öfters mußte ich mir, um satt zu werden, noch ein Stück Brod erbitten, das mir sehr unwillig und meist mit spitzen Bemerkungen über meinen guten Appetit gereicht wurde. Um 4 Uhr durfte ich mir zur Vesper ein Stück Brod abschneiden und Salz darauf streuen. Um 8 Uhr wurde zu Abend gegessen, zwei „Stullen" (Schwarzbrot) mit wenig Butter oder „Pellkartoffeln" mit einer Probe von Butter und Salz." Wenn Klöden weiter berichtet, daß er während der Arbeit das Mittagsessen zu besorgen und zu würzen hatte, außer, „wenn es einmal Braten oder sonst etwas Besonderes gab", läßt sich leicht abschätzen, mit wieviel Liebe in diesem Berliner Haushalt das Essen zubereitet wurde14. Zur Kontrolle dieser Schilderung, bei der von vornherein die früher skizzierte ökonomische Situation des Goldschmieds Willmanns zu berücksichtigen ist, stehen mir nur vereinzelte Nachrichten zur Verfügung. Anton Reisers Frühstück bei dem recht knauserigen Hutmacher Lohenstein bestand in „weiter nichts, als dem Bodensatz vom Kaffee, mit etwas Milch, und einem Zweipfennigbrodte"15, das der Braunschweiger Tischlergesellen 1729 aber aus „Brot, Butter, Käse, auch Speck oder Schmalz"18. Als (Gesellen-)Mittagessen — die „Hauptmahlzeit"17 — führen die Braunschweiger Polizeiakten 1766 etwa „Rüben und Schwärchen" an18. Als sich ein Geselle auflehnte, weil er drei Tage Graupen habe essen müssen, entrüstete sich der Meister: „und es war reis" 19 . Händler berichtet aus Leipzig, daß „die Kost die die Meister zum Theil gaben . . . erbärmlich (war)" und daß befohlen wurde, „die Woche zweimal Braten und die übrigen Tage Suppen, Zugemüß und Fleisch, auch Butter und Käse" aufzutischen. „Dies dauerte nicht lange, so kamen Würste, auch Heringe, welche man in Leipzig Schneiderkarpfen" nannte20. Wenn Lossius im Meister Liebreich „Reisbrei mit Zucker, Bratwurst und Kohl, Rindfleisch mit Rosenbrüh, Sauerkraut und Schweinefleisch" aufführt, handelt es sich um Lieblingsspeisen (der Kinder) und kaum um den Wochendurchschnitt eines Handwerkerhaushalts21. Immerhin hatten aber die Regensburger Handwerker „einmal des Tags . . . gewiß Fleisch, viele derselben auch zweymal und Sonntags einen Braten" 22 . Der Gerbergeselle Klenner, der in den 20er Jahren wanSchmid, Erinnerungen, S. 9. Bronner, I S. 62 f. 1S Bronner, I S. 123. 14 Klöden, S. 176, 183. 1 5 Moritz, Anton Reiser, I S. 86. 1