Die Hölle der Spätmoderne: Soziologische Studien zum Bedeutungswandel ewiger Verdammnis 9783839452165

Die Hölle ist aus der Mode geraten - oder etwa nicht? Als Androhung ewiger Verdammnis bei weltlichem Fehlverhalten kann

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German Pages 388 Year 2021

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung in die Hölle
Die Konstitution der Hölle
Unendliches Ende
Die ›wahre Hölle‹ – auch nicht mehr das, was sie war?
Das Diesseits der Hölle
Krieg als Hölle
Die Hölle von Theresienstadt als Paradiesgarten im nationalsozialistischen Propagandafilm
Die Hölle der Gesellschaft und die gesellschaftliche Hölle
Die Hölle der Gesellschaft
Geschlossene Gesellschaft – Jean Paul Sartres Höllenvision durch die soziologische Brille betrachtet
Pflegeheime als Hölle?
Kontrollverlust, Misserfolg und Hoffnungslosigkeit
Die Hölle der Zeit und der Zahl
Wenn das Gedächtnis zur Hölle wird: Zur alltäglichen Verdammnis totalen Erinnerns und Vergessens
Hans Magnus Enzensbergers Zahlenteufel: Entdämonisierung dank eines Funktionsträgers der Hölle?
Die Hölle der Ästhetik und die Ästhetisierung der Hölle
Die Hölle der Mode
Innerweltliche Höllen im sozialen Gedächtnis der Literatur
Im Höllen-Labyrinth des Metal
Die durch die Hölle gehen
Die Veralltäglichung der Höllenmetaphorik in spätmodernen Zeiten
Autorinnen und Autoren
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Die Hölle der Spätmoderne: Soziologische Studien zum Bedeutungswandel ewiger Verdammnis
 9783839452165

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Oliver Dimbath, Lena M. Friedrich, Winfried Gebhardt (Hg.) Die Hölle der Spätmoderne

Kulturen der Gesellschaft  | Band 43

Oliver Dimbath (Prof. Dr.) lehrt Allgemeine Soziologie an der Universität KoblenzLandau (Campus Koblenz). Seine Forschungsschwerpunkte sind Wissenssoziologie, Gedächtnissoziologie, Filmsoziologie und Methoden der qualitativen Sozialforschung. Lena M. Friedrich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Universität Koblenz-Landau (Campus Koblenz). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Sozialstrukturanalyse und soziale Ungleichheit, Wissenssoziologie und Kultursoziologie. Winfried Gebhardt (Prof. Dr. phil.) ist Professor im Ruhestand an der Universität Koblenz-Landau (Campus Koblenz). Seine Forschungsschwerpunkte sind Allgemeine Soziologie, Kultursoziologie und Religionssoziologie.

Oliver Dimbath, Lena M. Friedrich, Winfried Gebhardt (Hg.)

Die Hölle der Spätmoderne Soziologische Studien zum Bedeutungswandel ewiger Verdammnis

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5216-1 PDF-ISBN 978-3-8394-5216-5 https://doi.org/10.14361/9783839452165 Buchreihen-ISSN: 2703-0040 Buchreihen-eISSN: 2703-0059 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Einleitung in die Hölle Oliver Dimbath, Lena M. Friedrich und Winfried Gebhardt ............................. 9

Die Konstitution der Hölle Unendliches Ende Höllenvorstellungen in soziologischer Perspektive Alois Hahn ......................................................................... 23

Die ›wahre Hölle‹ – auch nicht mehr das, was sie war? Soziologische Anmerkungen zu einer religiösen und kulturellen Metapher Michael N. Ebertz ................................................................... 51

Das Diesseits der Hölle Krieg als Hölle Formen und Funktionen des Höllenbezugs in populärwissenschaftlichen Darstellungen kriegerischer Gewalt Nina Leonhard ...................................................................... 71

Die Hölle von Theresienstadt als Paradiesgarten  im nationalsozialistischen Propagandafilm Jürgen Raab & Marija Stanisavljevic ................................................ 97

Die Hölle der Gesellschaft und die gesellschaftliche Hölle Die Hölle der Gesellschaft Stefan Böschen und Willy Viehöver ................................................ 129

Geschlossene Gesellschaft – Jean Paul Sartres Höllenvision durch die soziologische Brille betrachtet Ursula Engelfried-Rave ............................................................ 155

Pflegeheime als Hölle? Eine Metapher zur Delegitimierung stationärer Pflegeeinrichtungen Marc Breuer....................................................................... 169

Kontrollverlust, Misserfolg und Hoffnungslosigkeit Analysen der Höllenmetaphorik in der Wirtschaft Oliver Dimbath .................................................................... 201

Die Hölle der Zeit und der Zahl Wenn das Gedächtnis zur Hölle wird:  Zur alltäglichen Verdammnis totalen Erinnerns und Vergessens Michael Heinlein................................................................... 225

Hans Magnus Enzensbergers Zahlenteufel: Entdämonisierung dank eines Funktionsträgers der Hölle? Peter Ullrich ...................................................................... 255

Die Hölle der Ästhetik und die Ästhetisierung der Hölle Die Hölle der Mode Überlegungen zum Immer-Wieder-Neuen im Anschluss an Walter Benjamin Marcus Termeer ................................................................... 275

Innerweltliche Höllen im sozialen Gedächtnis der Literatur Gerd Sebald ....................................................................... 301

Im Höllen-Labyrinth des Metal Überlegungen zu Praktiken und Funktionen beständiger Jenseitsadressierung in einer dunklen Musikkultur Sarah Chaker ..................................................................... 319

Die durch die Hölle gehen Filmische Bilder und Verhandlungen der Hölle als Leidenspassage Jan Weckwerth ................................................................... 343

Die Veralltäglichung der Höllenmetaphorik in spätmodernen Zeiten Ein Epilog Lena M. Friedrich.................................................................. 375

Autorinnen und Autoren..................................................... 385

Einleitung in die Hölle Oliver Dimbath, Lena M. Friedrich und Winfried Gebhardt

Überlegungen zu einer Soziologie der Hölle anzustellen erscheint aus mehrfacher Sicht als kontraintuitiv. So versteht sich allem voran die Soziologie als durch und durch säkularisierte Disziplin, die zu ideologisch-fiktiven Konzepten gebührend Abstand hält. Eine entsprechende Untersuchung könnte schnell zu dem Verdacht führen, dass bereits die Grundvoraussetzungen jeder ›positiven‹ Forschung an einem solchen Gegenstand irreal und jegliche Anstrengungen in dieser Richtung von vornherein unwissenschaftlich seien. Auf den ersten Blick wunderlich muten denn auch die Assoziationen an, die entstehen, wenn man hier sozialtheoretische Grunddimensionen (sachlich, zeitlich, räumlich, sozial et cetera) in Anschlag bringt: Wie, so könnte man dann beispielsweise fragen, verhält es sich mit der Sozialstruktur der Hölle? Entspricht sie der weltlichen Verteilung der Klassen, Schichten und Milieus oder sind unter den ewig Verdammten vielleicht doch die ›Oberen‹ überproportional vertreten? Daraus leitet sich die Frage ab, wie es um die stratifikatorische Differenzierung in der Hölle bestellt ist: Gibt es eine Entsprechung zwischen der höllischen Elite und der weltlichen – gleichviel, ob proportional oder umgekehrt proportional? Und während noch vergleichsweise unstrittig ist, dass das höllische Personal – der oder die Teufel – einer klaren und im Grunde geheimdienstlichen Agenda folgt, indem es im (weltlichen) Außendienst als Versucher1 auftritt und im Innendienst als Quälgeist, kann man sich hinsichtlich der Trennung von Arbeit und Leben die soziologische Frage stellen, ob die Hölle nun der Wohn- oder Dienstort des Teufels sei. Oder was wäre die Hölle als soziales Sinnsystem, was seine binäre Codierung, welches die kommunizierenden Instanzen? Ist die Hölle am Ende gar funktional differenziert und kennt Teilhöllen, die ewige Verdammnis nach ihrer jeweils

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Eine entsprechende Schilderung findet sich in Dienstanweisung für einen Unterteufel von C. S. Lewis aus dem Jahr 1944.

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Oliver Dimbath, Lena M. Friedrich und Winfried Gebhardt

eigenen Logik gestalten – beispielsweise als Selektivität im Hinblick auf ›üble‹ Anschlusskommunikation? Die Liste realsoziologischer Forschungsprobleme am fiktiven Gegenstand ließe sich bestimmt weiter fortsetzen; das Projekt einer Soziologie der Hölle wanderte dadurch jedoch in den Bereich der Groteske. Geht man aber mit William Isaak Thomas und Dorothy Swaine Thomas (1973) davon aus, dass all das, was als real wahrgenommen wird, auch in seinen Konsequenzen real ist, rückt das im Grunde Jenseitiges bezeichnende Konzept in den Bereich der Alltagswelt. Denn dass es für die materiale Existenz der theologischen Hölle keine Nachweise gibt, muss nicht heißen, dass das Konzept selbst nicht durchaus reale Sachverhalte treffend zu benennen vermag. Insofern richtet sich die religions-, kultur- und wissenssoziologische Reflexion über den Begriff der Hölle nicht auf die Frage, ob es die Hölle gibt, sondern darauf, was gemeint ist, wenn von Hölle die Rede ist.2 Dabei interessiert vor allem die Rede von der Hölle in spätmodernen, (weitgehend) säkularisierten Gesellschaften, in denen die drei monotheistischen Weltreligionen (Judentum, Christentum, Islam) ihre Deutungshoheit über die Hölle (wie auch über das ›Paradies‹) und – wie es scheint – auch das Interesse an ihr verloren haben – jedenfalls was den ›Mainstream‹ der jeweiligen Theologien betrifft. Nur in fundamentalistischen Kreisen, gleich welchen Bekenntnisses, bleibt das herkömmliche Bild der Hölle als Ort der ›Sünder‹ noch erhalten und wird intensiv gepflegt. Die Rede von der oder über die Hölle findet aber auch in modernen Gesellschaften kein Ende, im Gegenteil: Sie erfreut sich – auch oder vielleicht gerade in säkularisierten Verhältnissen – einer wachsenden Beliebtheit und zwar als populäre Metapher für ›Erschreckendes‹ ›Unfassbares‹ und ›Unerträgliches‹ und deshalb – jedenfalls für den einen oder anderen – auch eminent ›Reizvolles‹.3 Virus-Hölle Houston, CoronaHölle New York4 stehen als aktuelle Beispiele für solche Versuche dem Unfass2

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Entsprechend verzichten wir hier auf eine Klärung der lexikalischen und begriffsgeschichtlichen Bedeutungen des Wortes ›Hölle‹ und verweisen auf die einschlägige Literatur, wie zum Beispiel die frühe Arbeit von Joseph Bautz (1905) – der laut Wikipedia den Spitznamen »Höllen-Bautz« innehatte – und die Überblicke von Georges Minois (1996; 2000). Siehe hierzu den Artikel von Martin Zips Die Hölle ist doch überall. Warum Tusk falsch liegt, wenn er Cameron dortin wünscht in der Süddeutschen Zeitung Nr. 33 am 8. Februar 2019, S. 9 sowie den Tagungsband des 22. Philosophicum Lech 2018 zum Thema ›Hölle‹ (vgl. Liessmann 2019). So der Titel eines Video-Beitrags auf Focus-Online unter https://www.focus.de/politik/a usland/focus-online-news-story-usa-am-abgrund-arzt-berichtet-aus-corona-hoelle-ho

Einleitung in die Hölle

baren, Erschreckenden und Unerträglichen einer weltweiten Pandemie einen ›Sinn‹ zu geben. Die Hölle von Ausschwitz5 , Dachau und anderen Konzentrationslagern wie den Gulags6 sind als Metaphern für letztendlich unbegreifliche Schreckenserfahrungen nicht nur in die Umgangssprache, sondern auch als Deutungsschemata in die demokratische Erinnerungskultur eingegangen. Doch auch im ›normalen‹ politischen Betrieb taucht die Höllenmetapher (von der Atomhölle Fukushima7 bis zur Gewerkschaftshölle8 ) regelmäßig auf – so auch wieder im Jahr 2019. Anlass war die Aussage des Ratspräsidenten der Europäischen Union, Donald Tusk, welcher den Erfindern des Ausscheidens Großbritanniens aus dem europäischen Staatenbund (dem sogenannten Brexit) einen besonderen Platz in der Hölle wünschte. Der Kommissionspräsident JeanClaude Juncker reagierte darauf, dass er zwar an den Himmel glaube, die Hölle aber nie gesehen habe, bis auf die Zeit, die er in Brüssel arbeite. Das sei die Hölle!9 Auch wenn hier deutlich wird, dass mit der Höllenmetapher nur ›gespielt‹ wird, so liegt doch das ›Ernste‹ auf der Hand: Niemand konnte oder wollte sich vorstellen, dass der ›Schrecken des Brexit‹ real sein und all die Träume von einem geeinten und friedvollen Europa plötzlich zunichtemachen sollte. Wenn Träume platzen, kann das eben auch die Hölle sein. Dies ist die eine Ebene der in der Spätmoderne gängigen Nutzung der Höllenmetapher.10 Daneben zeichnen sich zumindest zwei weitere Ebenen

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uston_id_12172968.html, oder der Video-Beitrag auf Bild-Live unter https://www.bild.d e/video/clip/news/in-der-corona-hoelle-von-new-york-new-york-kann-sein-toten-nicht -beerdigen-bild-live-69816330.bild.html, beide Zugriffe am 22. September 2020. Vgl. zum Beispiel den Buchtitel der Zeitzeugenbiographie von Leslie Schwartz (2010). Zu erinnern ist an die ersten Übersetzungen eines der Arbeitslager-Romane von Alexander Solschenizyn (1968) unter dem Titel Der erste Kreis der Hölle. Vgl. wieder Bild-Live unter https://www.bild.de/news/ausland/japan-katastrophe/gelae nde-abgeriegelt-19196978.bild.html, Zugriff am 22. September 2020. So zum Beispiel im Artikel von Marcus Theurer Billigflieger trifft Gewerkschaftshölle in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unt ernehmen/ryanair-in-bredouille-billigflieger-in-der-gewerkschaftshoelle-15718633.htm l, Zugriff am 22. September 2020. Vgl. erneut den Artikel von Martin Zips in der Süddeutschen Zeitung. Das hier zur Charakterisierung der Gegenwart herangezogene Konzept der Spätmoderne entstammt der Diskussion um eine angemessene Beschreibung einer Epoche, die nicht mehr vollumfänglich den Prinzipien der modernen Gesellschaft folgt. Anthony Giddens (1991) verwendet es zur Abgrenzung gegenüber der Konzeption einer Postmoderne, die von einer Auf- und Ablösung moderner Ordnungsstrukturen ausgeht. Der Spätmoderne liegt – ähnlich wie auch der ›Reflexiven Moderne‹ – die Annahme

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Oliver Dimbath, Lena M. Friedrich und Winfried Gebhardt

ab: Zum einen werden auch ›alltägliche‹ Schrecken, die das Individuum erleben muss, oftmals als ›Hölle‹ bezeichnet, vom Besuch beim Zahnarzt bis hin zum ›Scheidungskrieg‹, der allerdings bisweilen auch als glückliches Ende der ›Ehehölle‹ interpretiert wird. Zum anderen taucht die Höllenmetapher – als Reiz des ›Bösen‹ oder zumindest des ›Gefahrvoll-Numinosen‹ (vgl. Otto 1971) – spätestens seit der Entstehung der großen Volksfeste im 19. Jahrhundert in der Populärkultur auf: Nicht nur, dass die Hölle und ihr Personal zunehmende Publikumsgunst in Serien kommerzieller Streamingdienste gewinnen11 , insbesondere in der populären Musik gehört das oftmals provokante Spiel mit der Hölle zum Habitus derjenigen, die sich vom sogenannten ›Mainstream‹ (identitäts-)politisch oder ästhetisch abheben wollen. Nimmt man diese Beobachtungen zusammen, so lässt sich wie folgt pointieren: So unterschiedlich die Verwendung der Höllenmetapher auch ausfallen mag, als in einem transzendenten ›Jenseits‹ zu suchender Ort ›ewiger Verdammnis‹ hat die Hölle offensichtlich ausgedient. War sie über viele Jahrhunderte das – vor allem in der Volkskunst sinnfällig transportierte – ›schlimme Ende‹ und damit die ›gerechte Strafe‹ für ein ›sündhaftes Leben‹ im Zusammenhang kollektiver Jenseitsvorstellungen, so dient sie heute als Metapher und Deutungsmuster für jedwede Unerträglichkeitserfahrung im Diesseits beziehungsweise als zumeist medial vermittelte, virtuelle ›Schreckenswelt‹, die die Erfahrung des ›heiligen Schauderns‹ als lustvolles ›Erlebnis des Gruselns‹ massenkompatibel möglich macht. Die Hölle wandert in das Diesseits, sie wird veralltäglicht und angesichts ihres Bedeutungsverlusts als theologisch-transzendentes Strafgericht zur vorübergehenden Krise oder zu einem zu durchwandernden Jammertal trivialisiert. Unternimmt man den Versuch zu bestimmen, was den unterschiedlichen Spielarten der spätmodernen Rede von der Hölle gemeinsam ist, so kann man – in einem zunächst tentativ-heuristischen Sortierungsversuch – festhalten, dass die Hölle (gleichgültig ob fiktiv oder real interpretiert) heute weitgehend als emotional belastender Modus subjektiven Erlebens beschrieben wird, in dem

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zugrunde, dass die Prinzipien der Moderne weiterhin gelten, jedoch in manchen Aspekten modifiziert oder übersteigert werden – etwa mit Blick auf Individualisierung oder eine Zukunftsorientierung, die den letzten Rest von Tradition verschwinden lässt. Vgl. die amerikanische Fernsehserie Lucifer aus der Produktion von Fox beziehungsweise Netflix.

Einleitung in die Hölle

1. der Eindruck umfassenden Kontrollverlusts mit 2. dem von Ausweg- oder gar Hoffnungslosigkeit verbunden ist, der 3. in der betreffenden Situation auf unabsehbare (in der Regel aber irgendwie begrenzte) Zeit fortbesteht und der schließlich 4. einen konkreten Raum- und/oder Sozialbezug aufweist.

Wenn diese Beschreibung zutrifft, dann ist es aus kultur- und wissenssoziologischer Sicht an der Zeit zu einer Bestandsaufnahme, wie, in welchen Formen und versehen mit welchen Bedeutungen und Zuschreibungen in der Spätmoderne über die Hölle geredet wird. Das ist das Ziel des vorliegenden Bandes, der unterschiedliche Aspekte der spätmodernen Verwendung des Begriffs ›Hölle‹ thematisieren will. Seiner Konzeption liegen die folgenden sechs Annahmen zugrunde: Auszugehen ist erstens von der Universalität von Weiterlebensvorstellungen, häufig verbunden mit dem Glauben an ein Jenseits (vgl. Hahn 1996 sowie in diesem Band). Es gibt, wie die religionswissenschaftliche, religionsethnologische und religionssoziologische Forschung gezeigt haben, nur wenige bekannte Gesellschaften, die nicht irgendeine Form des Glaubens an ein Weiterleben nach dem Tode entwickelt haben. Ewigkeitsannahmen sind allerdings selten und wohl eher eine Erfindung von Hochkulturen, ebenso die Dichotomisierung des Jenseits in Paradies und Hölle (vgl. Lang 2003; Vorgrimler 1994). Nur im (christlichen) Abendland findet sich zweitens die Vorstellung einer Verknüpfung von diesseitiger Schuld und jenseitiger Qual, also die explizite Idee der Hölle als ›Ort der Strafe‹. Über die Ewigkeit der Höllenstrafe wurde allerdings immer schon heftig gestritten, wie insbesondere die in der Theologie immer wieder aufflammende Auseinandersetzung um die Apokatastasislehre des Origines zeigt (vgl. Lang 2003; Vorgrimler 1994). Mit der Zivilisierung und Disziplinierung der Massen, so wie sie beispielhaft von Michel Foucault in seiner These vom Übergang einer theologischen zu einer therapeutischen Gesellschaft beschrieben wird12 , kann drittens auf

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Diese Prozesslogik findet sich beispielsweise in Foucaults Studien zur Sexualität mit Blick auf die Medizinisierung des Geständnisses: »Die Erlangung des Geständnisses und seine Wirkungen werden in Form therapeutischer Operationen recodiert. Was zunächst heißt, daß das Gebiet des Sexes nicht mehr ausschließlich unter das Register der Verfehlung und der Sünde, des Exzesses oder der Überschreitung fallen wird, sondern unter das Regime des Normalen und des Pathologischen« (Foucault 1983: 86).

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Oliver Dimbath, Lena M. Friedrich und Winfried Gebhardt

Höllenstrafen weitgehend verzichtet werden – eine Entwicklung, die mit Reformation und Aufklärung einsetzt und sich insbesondere im 19. Jahrhundert verstärkt. Die jetzt beginnende »Medizinisierung« des Dämonischen, die Ästhetisierung des Hässlichen und die Moralisierung des Bösen (vgl. Eßbach 2014: 320) stimulieren einen Prozess der Verlagerung der Hölle in das Innere des menschlichen Gewissens (vgl. Kittsteiner 1995). Mit diesem ›Schuldkult‹ der Moderne geht eine fundamentale Bedeutungsverschiebung der Hölle einher. Dabei gewinnt viertens ein Nebengleis der Hölleninterpretation besondere Bedeutung. Mit den extremen Formen der Aufklärung, die einen libertären, radikalen Individualismus predigen, verliert die Hölle nicht nur ihren Schrecken, sie wird radikal umgedeutet und avanciert – wie beispielsweise in den im Jahr 1904 erstmals abgedruckten 120 Tagen von Sodom des Marquis de Sade zu einem Ort der intelligenten Freiheit, an dem sich freie, weil morallose Individuen zu einem Leben in lustvoller Emanzipation selbstermächtigen (vgl. Schuhmann 2011). Oder um ein anders geartetes Beispiel zu nennen: Unter russischen Anarchisten wird die Hölle zu einer Chiffre für asketisch gestimmte, zu jedem persönlichen Opfer bereite Geheimgesellschaften, die mittels suizidaler Terroranschläge und Attentate (bevorzugt am Ostersonntag) das zu verwirklichen suchen, was sie in einem Akt der Selbstfindung als den ›Sinn der Geschichte‹ erkannt zu haben glauben (vgl. Billington 1980). Die Hölle als Ort der ›selbstbestimmten‹, ja ›lustvollen‹ Freiheit geht dann in oftmals trivialisierter Form ein in die unterschiedlichen, manchmal eher provokativ-kulturindustriell hergestellten Spielarten einer sich zunehmend globalisierenden Populärkultur. Ergebnis all dieser Entwicklungen ist fünftens, dass die Hölle ins Diesseits verlagert wird und damit auch ihren – trotz Origines über viele Jahrhunderte jedenfalls in der Volksreligiosität geltenden – Ewigkeitsanspruch verliert, weil das Diesseits, anders als das Jenseits, als Produkt menschlichen Handelns für grundsätzlich veränderbar gehalten wird (vgl. Ebertz 2004). Die Schreckenserfahrung von Hölle wird damit zum Sinnbild einer prinzipiell überwindbaren biographischen Episode.13

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Dazu passt die Vermutung, dass Hölle und Fegefeuer, möglicherweise aufgrund der Hitze-Assoziation, diffundieren. Die Hölle ist ewige Verdammnis, das Purgatorium jedoch eine Reinigungsanstalt auf dem Weg in den Himmel. Wenn die Hölle als Passage verstanden wird, könnte dem eine Vermischung dieser beiden Einrichtungen zugrunde liegen. Die (katholische) Hölle scheint mit Einführung der ›Konzeption Fegefeuer‹

Einleitung in die Hölle

Sechstens tritt nun zum einen die Hölle als Kollektivhölle auf, die von Menschen gemacht wird, um bestimmte soziale Gruppen (wie politisch Gefangene, rassistisch Stigmatisierte, verarmte und vereinsamte Alte, psychisch Kranke) zu entmündigen, zu demütigen, zu beseitigen und in letzter Konsequenz zu vernichten (Konzentrationslager, Umerziehungslager, prekäre Heimunterkünfte, geschlossene Anstalten und so weiter). Zum anderen tritt sie auf als subjektivierte Individualhölle, in der Menschen unterschiedlichen Unzumutbarkeiten ausgesetzt sind, die entweder selbst verschuldet sein können oder aber von anderen (oder dem ›System‹) dem Einzelnen zugemutet werden. Auf der Basis dieser Grundannahmen geht der vorliegende Band dem Bedeutungswandel der Rede von der Hölle nach und versucht die Folgen einer solchen Entwicklung für das Selbstverständnis von Mensch und Gesellschaft herauszuarbeiten. Dass dies nur fragmentarisch geschehen kann, versteht sich von selbst. Wie kommt es, so wäre also unter anderem zu fragen, dass sich die Rede von der Hölle veralltäglicht, vielleicht sogar trivialisiert, während die dabei gewählten Referenzen in der Regel immer noch theologisch konnotierte, außeralltägliche Situationen bezeichnen? Wann ist die Rede davon, die Hölle – verstanden als ›schwierige Lebensphase‹ – hinter sich zu haben und was ist damit (auto-)biographisch sowie hinsichtlich der individuellen Identitätsbildung gemeint? Gibt es eine Bedeutungsverschiebung der Hölle vom Erwartungshorizont des ›sündigen Menschen‹ hin zu einem Erfahrungsraum (vgl. Koselleck 1989) des ›unverschuldeten Leidens‹? Welche Auswirkungen hat es dann, wenn mit der Veralltäglichung der Höllenrede der Bezug zu einem transzendent gedachten Jenseits und so die damit immer zusammenhängende Frage von Strafe und Schuld entweder verloren geht oder in anderen Formen neu auftaucht? Und wie sehen diese neuen Formen aus? Führt beispielsweise aus der ›Hölle des Kolonialismus‹ oder der ›Hölle sexistischer Gewalt‹ heute nur noch das öffentliche Buß- und Entschuldigungsritual – idealerweise medial inszeniert? Hat die Hölle eine Zukunft, und wenn ja, welche?

eine deutliche Abwertung erfahren zu haben, indem mit dem Purgatorium als zeitlich begrenzte Läuterungsphase mit ›Exit-Option‹ eine Alternative zur Ausweglosigkeit, weil Endgültigkeit ewiger Verdammnis offeriert wird – zumindest für »die weniger schweren Sünder« (Kluge 2011: 283). Das Resultat ist dann eine Purgatorisierung der Hölle, welche die ewige Verdammnis zugunsten einer vorübergehenden Unerträglichkeit, die als Katharsis oder auch als ›Wiedergutmachung‹ interpretiert werden kann, des Bedrohungspotenzials einer ewigen Strafe beraubt (vgl. Friedrich in diesem Band).

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Oliver Dimbath, Lena M. Friedrich und Winfried Gebhardt

Der Band gliedert sich in fünf Abschnitte, in denen unterschiedliche Facetten der modernen Rede von Hölle ausgeleuchtet werden. Der erste Abschnitt enthält unter dem Titel Die Konstitution der Hölle zwei Beiträge, die den Prozess der Veralltäglichung, Individualisierung und Trivialisierung in einem historisch-soziologischen Zugriff thematisieren. Alois Hahn legt in seinem (hier in gekürzter Form wiederabgedruckten) Beitrag aus dem Jahre 1996 nicht nur die Universalität des Jenseitsglaubens in seinen vielgestaltigen Ausformungen dar, sondern beschreibt auch die sich in Hochkulturen entwickelnden expliziten Höllenvorstellungen, welche Hölle in der Regel als einen jenseitigen Ort der Strafe für im Diesseits begangene Verfehlungen begreifen. Der Beitrag endet mit der Schilderung des im 17. Jahrhundert beginnenden Niedergangs der Hölle, der durch die Verlagerung der Strafe für begangene Untaten aus der Hölle in das menschliche Gewissen verursacht wird – ein Prozess, der sowohl als Zivilisierung als auch als Individualisierung der Hölle gedeutet werden kann. Michael N. Ebertz schließt daran an und schildert die Entwicklung der Hölle zu einer populärkulturellen Doppelikone, die er als eine Trivialisierung der ›wahren Hölle‹, so wie sie über Jahrhunderte die christliche Tradition in ihrer Eschatologie zu bestimmen versuchte, begreift und geht dann der Frage nach, wie sich insbesondere die christliche Theologie zu dieser Trivialisierung stellt. Die Antwort, die er gibt, ist eindeutig: Die Theologie begegnet der populärkulturellen Trivialisierung der Hölle mit einer eigenen Trivialisierung, indem sie die ›wahre Hölle‹ ignoriert, leugnet, emeritiert oder symbolisch uminterpretiert. Der zweite Abschnitt ist überschrieben mit Das Diesseits der Hölle. Die beiden hier eingestellten Beiträge legen einen klaren Akzent auf als Hölle qualifizierte Situationen akut erlebbarer absoluter Unerträglichkeiten. In ihrem Beitrag Krieg als Hölle stellt Nina Leonhard sowohl verschiedene Formen als auch Funktionen des Höllenbezugs in populärwissenschaftlichen Darstellungen kriegerischer Gewalt dar. Die Hölle des Krieges – so macht die Autorin deutlich – ist weit mehr als »organisierte Massengewalt mit Waffen«; sie erscheint vielmehr als differenzierter Erfahrungsraum, der nicht nur abschrecken und belehren soll. Mit der Hölle als historischem Ort und Erfahrungsraum beschäftigen sich Jürgen Raab und Marija Stanisavljevic in ihrer Arbeit Die Hölle von Theresienstadt als Paradiesgarten im nationalsozialistischen Propagandafilm. Sie stellen Ambivalenzen und Spannungsverhältnisse heraus, die zum einen auf den ungesicherten und mehrdeutigen Status von Theresienstadt als Sonderfall der sogenannten ›Endlösung der Judenfrage‹ zurückzuführen sind, zum anderen aus der »Verinnerweltlichung und Medialisierung, Indivi-

Einleitung in die Hölle

dualisierung und Politisierung« von Höllenanschauungen und -darstellungen resultieren. Der dritte mit dem ›unsauberen‹ Chiasmus Die Hölle der Gesellschaft und die gesellschaftliche Hölle charakterisierte Abschnitt behandelt im Wesentlichen Höllen der sozialen Beziehungen und damit das, was mit der Redewendung ›jemandem die Hölle heiß machen‹ zum Ausdruck gebracht wird. Im zeitdiagnostischen Beitrag von Stefan Böschen und Willy Viehöver wird unter dem Titel Die Hölle der Gesellschaft im Anschluss an die Feststellung, dass Höllenvorstellungen mit der Moderne zunächst getilgt worden seien, mithilfe des Konzepts des ›mythischen Formulars‹ über die Wiederkehr des Höllischen in der spätmodernen Gesellschaft nachgedacht. Ursula Engelfried-Rave liefert mit ihrer Arbeit zum Sartre-Stück Geschlossene Gesellschaft eine soziologische Interpretation des bekannten Zitats »Die Hölle, das sind die anderen«, indem sie eine Parallele zwischen der Ausweglosigkeit der Beziehungshölle, wie sie im Drama entfaltet wird, und der ›totalen Institution‹ bei Erving Goffman zieht. In seiner Untersuchung zum deutschen Pflege-Diskurs analysiert Marc Breuer unter der titelgebenden Frage Pflegeheime als Hölle? in Textdokumenten die Assoziation gegenwärtiger Pflegeeinrichtungen mit höllischen Zuständen, wobei sich das Heim als Jenseits eines lebenswerten Lebens darstellt. Der Beitrag Kontrollverlust, Misserfolg und Hoffnungslosigkeit. Analysen der Höllenmetapher in der Wirtschaft von Oliver Dimbath beschließt den Abschnitt mit einer Medieninhaltsanalyse, die den Befund einer Zunahme der Verwendung der Höllenmetapher im Wirtschaftsjournalismus zum Ausgang nimmt. Er geht der Frage nach, was in der spätmodernen Wirtschaft als so unerträglich empfunden wird, dass der Bezug auf ›Hölle‹ gerechtfertigt erscheint. Im darauffolgenden Abschnitt wird einerseits die zeitliche Dimension und ›Qualität‹ subjektiv erlebter Höllen auszuleuchten versucht sowie andererseits die Frage nach der Quantität, der Zahl der Hölle gestellt. Anhand zweier Fallbeispiele legt Michael Heinlein in seinem Beitrag Wenn das Gedächtnis zur Hölle wird dar, inwiefern sowohl das totale Vergessen als auch das vollständige Erinnern zur alltäglich erfahrbaren subjektiven Hölle werden kann. Peter Ullrich stellt sich in seiner Auseinandersetzung mit Hans Magnus Enzensbergers Zahlenteufel die Frage, ob ein Funktionsträger der Hölle zu deren Entdämonisierung beitragen könne. Anders formuliert: Kann die Hölle des Mathematikunterrichts durch einen Akt der (Selbst-)Ermächtigung und damit durch die Erfahrung von Selbstwirksamkeit überwunden werden? Der fünfte und letzte Teil des Buches behandelt – wiederum unter Zuhilfenahme einer semantischen Kreuzung – sowohl die Hölle der Ästhetik als auch

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Oliver Dimbath, Lena M. Friedrich und Winfried Gebhardt

die Ästhetisierung der Hölle. Damit findet sich hier zum einen ein Beitrag, der sich mit den Unerträglichkeiten der Herstellung des Schönen befasst; Marcus Termeer analysiert in Die Hölle der Mode. Überlegungen zum Immer-wieder-Neuen im Anschluss an Walter Benjamin Höllenbezüge im Bereich der kapitalistischen Warenwelt. Zum anderen geht es um die zeitgenössisch-künstlerische Darstellung des Höllischen. Dazu gehören Gerd Sebalds gedächtnissoziologische Interpretation der Höllenthematik in Thomas Manns Roman Doktor Faustus, die er als Innerweltliche Höllen im sozialen Gedächtnis der Literatur entwickelt, Sarah Chakers Analysen der vielfältigen Thematisierung sowie Praktiken und Funktionen Im Höllenlabyrinth des Metal sowie schließlich mit Die durch die Hölle gehen. Filmische Bilder und Verhandlungen der Hölle als Leidenspassage die Untersuchung Jan Weckwerths über Höllendarstellungen in fiktionalen Spielfilmen und Serien.

Literatur Bautz, Joseph (1905): Die Hölle, Mainz: Verlag von Kirchheim & Co. Billington, James H. (1980): Fire in the Mindes of Men. Origins oft the Revolutionary Faith, New York: Basic Books. Ebertz, Michael N. (2004): Die Zivilisierung Gottes. Der Wandel von Jenseitsvorstellungen in Theologie und Verkündigung, Ostfildern: Schwabenverlag. Eßbach, Wolfgang (2014): Religionssoziologie 1. Glaubenskrieg und Revolution als Wiege neuer Religionen, Paderborn: Wilhelm Fink. Foucault, Michel (1983): Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Giddens, Anthony (1991): Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age, Stanford: Standford University Press. Hahn, Alois (1996): »Unendliches Ende: Höllenvorstellungen in soziologischer Perspektive«, in: Karlheinz Stierle/Rainer Warning (Hg.), Das Ende. Figuren einer Denkform. Poetik und Hermeneutik XVI, München Fink. S. 155182. Kittsteiner, Heinz Dieter (1995): Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kluge, Friedrich (2011): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin, Boston: Walter de Gruyter.

Einleitung in die Hölle

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Die Konstitution der Hölle

Unendliches Ende1 Höllenvorstellungen in soziologischer Perspektive Alois Hahn

Universalität des Jenseitsglaubens Ausnahmen Es gibt nur wenige uns bekannte Gesellschaften, die nicht irgendeine Form des Glaubens an ein Weiterleben nach dem Tode besitzen.2 Immerhin zeigen die wenigen Ausnahmen, in denen entweder überhaupt kein Weiterleben nach dem Tode angenommen wird oder wo allenfalls bestimmten Gruppen, meist Häuptlingen oder Königen, diese Auszeichnung zu Teil wird, dass der Jenseitsglaube keine angeborene anthropologische Konstante sein kann. So wird zum Beispiel auf den Tonga-Inseln nur den Adligen ein Weiterleben nach 1

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Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte und redaktionell an den Schriftsatz des vorliegenden Werkes angepasste Version des Beitrag Unendliches Ende: Höllenvorstellungen in soziologischer Perspektive von Alois Hahn, zuerst erschienen in Karlheinz Stierle/Rainer Warning (Hg.), Das Ende. Figuren einer Denkform. Poetik und Hermeneutik XVI, München Fink. S. 155-182. Als Beleg können zahllose ethnologische Arbeiten dienen. Ich verweise lediglich auf das monumentale Werk J. G. Frazers (Frazer 1931), das nach Durchsicht einer geradezu enzyklopädischen Fülle von Einzelstudien zu folgendem Ergebnis kam: »Men commonly believe that their conscious being will not end at death, but that it will be continued for an indefinite time or forever, long after the frail corporeal envelope which lodged it for a time has mouldered in the dust. This belief in the immortality of the soul […] is by no means confined to the adherents of […] great historical religions […]; it is held by most, if not all, of those peoples of lower culture whom we call savages or barbarians, and there is every reason to think that among them the reason is native« (Frazer 1931: 3). Wenn auch die neuere Ethnologie den Theorien Frazers nicht immer folgt, so besteht an der nahezu universalen Verbreitung der Vorstellung von einem Weiterleben nach dem Tode doch kein Zweifel.

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dem Tode zugestanden. Das gemeine Volk erhebt diesen Anspruch aufs Jenseits keinesfalls (vgl. Mariner 1818: 99, 138f.). Von einigen Stämmen an der Südseite des Mount Kenya wird berichtet, sie leugneten ein Weiterleben im Jenseits überhaupt (vgl. Orde-Brown 1925: 205). Ähnliches wird auch von den Roba und Junger in Nordnigeria behauptet (vgl. Meek 1931: 462). Die etwa im gleichen Gebiet siedelnden Margi sollen demgegenüber nur den Guten ein Weiterleben konzedieren (vgl. ebd.: 223). Das Gegenteil trifft für die Binjhwar zu, einem drawidischen Stamm in Zentralindien, wo nur die Bösen ihren Tod überleben, um sich in Geister zu verwandeln, während die Guten einfach »verlöschen« (vgl. Russel 1916: 334). Hier ist die hochkulturelle Auffassung unmittelbar zu spüren, nach der das Nirwana jeder Form des Weiterlebens vorzuziehen sei. Die verbreitete Auffassung ist sicher die, dass wenn schon für bestimmte Gruppen nach dem Tod ein sofortiges Nichts unterstellt wird, eher die Hochgestellten davon ausgenommen sind.3

Weiterleben im Diesseits Aber solch Ausnahmen können den Gesamteindruck nicht verdrängen, dass die überwiegende Mehrzahl der menschlichen Kulturen an ein Weiterleben nach dem Tode glaubt beziehungsweise geglaubt hat. Dabei darf man diesen Glauben an eine postmortale Existenz nicht ohne weiteres mit dem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele verwechseln, wie er der christlichen Vorstellung inhärent ist. Ewigkeitsannahmen sind vielmehr universalhistorisch extrem selten. Schon Konrad Theodor Preuss hat darauf hingewiesen, dass der Gedanke an ein ewiges Leben sich bei den Naturvölkern nicht finde: »Der Ausdruck Unsterblichkeit ist viel zu abstrakt, als daß die stets gegenständlich denkenden Naturvölker ihn überhaupt fassen könnten. Auch wir 3

So zum Beispiel bei den Ozeaniern. »Nur sehr selten besteht die Vorstellung einer völligen Auflösung der Persönlichkeit nach dem Tode (zum Beispiel in Ozeanien), aber auch hier schließt diese sozial hochgestellten Personen (Häuptlinge) aus« (Hirschberg 1965: 205). Für die Hochkulturen macht andererseits M. Weber geltend, dass » der stolze Verzicht auf das Jenseits nur innerhalb einer vornehmen intellektuellen Schicht durchführbar« sei (Weber 1920: 459). Ganz generell geht aber auch Weber davon aus, die »Regel« sei, »zumal bei Religionen, die unter dem Einfluss herrschender Schichten stehen, […] umgekehrt die Vorstellung, daß auch im Jenseits die diesseitigen Stammesunterschiede nicht gleichgültig bleiben werden, weil auch sie gottgewollt waren, bis zu den christlichen ›hochseligen‹ Monarchen hinab« (Weber 1956: 316).

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können damit nur operieren, wenn wir transzendente Leben als schlechthin ohne Beziehung zum Diesseits mit seinen irdischen Beschäftigungen, als etwas ganz Anderes, Unbegreifliches auffassen, über das man sich keine Vorstellungen machen darf. Diese Art Unsterblichkeitsglaube […] kann überhaupt nicht, auch für uns nicht, das Ziel der heißen Sehnsucht sein, es sei denn, daß man sich unter der Idee einer abstrakten unfassbaren Vollkommenheit in die Gottheit versenkt« (Preuss 1930: 24f.). Ähnlich hat auch M. Weber konstatiert, dass selbst dort, wo an ein Totenreich geglaubt wird, »das Leben der Seelen dort keineswegs notwendig zeitlich ewig« (Weber 1956: 316) sei. Wie erklärt sich aber diese weitere Verbreitung vom Glauben an eine postmortale Existenz? Wenn man theologische Erklärungen einmal einklammert und sich auf die erfahrungswissenschaftlichen Erwägungen beschränkt, so ist deutlich, dass die zentrale Voraussetzung für diese Annahmen in einem tatsächlichen Weiterleben der Verstorbenen begründet liegt. Aber diese empirisch gegebene postmortale Existenz der Toten liegt nicht im Jenseits, sondern im Diesseits. Einzig das Weiterleben der Toten im Diesseits ist nun aber eine unbestreitbare anthropologische Gegebenheit: Der Tote lebt in den Überlebenden weiter. Schon sehr früh hat deshalb die kulturwissenschaftliche Forschung den Weiterlebensglauben mit der Realpräsenz der Toten im Gedächtnis (vgl. Feuerbach 1876: 273) oder in den Träumen (vgl. Tyler 1958: 12) verknüpft. Diese Konzepte müssten erheblich vertieft werden. Entscheidend für die Weiterlebensunterstellung ist, dass der Tote nicht nur als Moment unseres Wissens weiterexistiert, sondern als Element unserer ganzen Persönlichkeit. Die Überlebenden sind in gewisser Weise nicht nur sie selbst, sondern auch die Toten. Jedes Ich enthält als Element seiner selbst die anderen in verinnerlichter Gestalt.4 Umgekehrt gesehen: Schon zu Lebzeiten existieren wir nicht nur ›in‹ uns selbst, sondern auch ›in‹ den anderen. Für gewöhnlich stirbt aber das nicht an unseren eigenen Leib gebundene Ich (als Moment fremden Bewusstseins oder Thema von Kommunikation) nicht gleichzeitig mit uns. Es zeigt sich denn auch in empirischen Untersuchungen in den Gesellschaften der Gegenwart, dass selbst die Menschen, die bei Umfragen angeben, nicht an ein Weiterleben nach dem Tode zu glauben, sich Verstorbenen gegenüber

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Eine ausführlichere Fassung dieser theoretischen Konzeption findet sich in Hahn (1968: 107ff.).

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so verhalten, als glaubten sie doch daran. Sie sprechen zum Beispiel in Gedanken mit Verstorbenen, fühlen sich von ihnen beobachtet, beurteilt oder anerkannt, schämen sich vor ihnen oder hoffen, vor ihrem Urteil bestehen zu können. Im Extremfall kann dieses Weiterleben des Toten im Diesseits so weit gehen, dass die Überlebenden sich so verhalten, als sei der Tod gar nicht eingetreten: Es wird der Tisch für den Verstorbenen gedeckt, sein Bett wird gemacht, seine Kleider werden instandgehalten und so weiter. Besonders eindrucksvoll kommt das etwa in einer Antwort einer Witwe zum Ausdruck, die dem Interviewer erzählt: »Ich konnte es gar nicht realisieren, daß er tot war – für Monate nicht. Ich stellte immer noch den Kessel auf den Herd, um ihm Tee zu kochen. Oder wenn ich heimkam und er war nicht da, dann dachte ich, daß er nur gerade mal fortgegangen sei […] und am Arbeitsplatz, wenn die Kolleginnen was erzählten, dann dachte ich: ›Das muss ich Harry erzählen, wenn ich heimkomme‹« (Marris 1958: 15).5 Man kann die hier angeführten Phänomene auch so beschreiben: Individuen sind nicht identisch mit ihrem eigenen Operieren, auch nicht mit den von ihnen selbst aktualisierten Vorstellungen. Sie bleiben Thema für andere auch nach ihrem Ende, und außerdem eignet unseren Handlungen eine Art ›Schwung‹, der sie nicht nur kognitiv, sondern auch affektiv über die jeweilige Gegenwart hinaustreibt und uns ins Zukünftige engagiert. Bereits Montaigne hat das als Paradox beobachtet und daraus eine Theorie für die subjektive Unterstellung der Weiterexistenz nach dem eigenen Ende entwickelt: das Ende kann kein Ende sein, weil unsere Affektionen, solange sie noch wirken, uns über uns selbst hinaustragen: »Nous ne sommes jamais chez nous, nous sommes toujours au-delà. La crainte, le désir, l’espérance nous eslancent vers l’advenir, et nous desrobent le sentiment et la considération de ce qui est, pour nous amuser à ce qui sera, voire quand nous ne serons plus« (Montaigne 1962: 18).

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Marris 1958: 15 (Übersetzung durch mich). Eine Reihe ähnlicher Beispiele bietet das dritte Kapitel des ersten Buches der Essais von Montaigne 1962.

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Wiedergeburt in der eigenen Sippe Nicht jede Weiterlebensvorstellung impliziert also den Glauben an ein Jenseits. Wenn ich recht sehe, beschränkt sich für immer größere Gruppen der modernen säkularisierten Gesellschaften der Weiterlebensglaube auf diese postmortale Existenz im Diesseits. Diese ist ihnen deshalb keineswegs gleichgültig. Viele Menschen unternehmen alle nur möglichen Anstrengungen, um ihre Weiterlebenschancen im Diesseits zu verbessern. Da ist einmal die Vorstellung vom Überleben in den eigenen Kindern, die von großer Bedeutung ist. Denn die Nachkommen sind nicht nur die Träger einer biologischen Überlebenschance des Ich, sondern als lebendes Gedächtnis an uns auch die Stätte unserer sozialen Fortdauer. Eine Reihe von archaischen Gesellschaften hat Weiterlebensvorstellungen nur in diesem diesseitigen Sinn entwickelt. Die große Zahl von Gesellschaften, die an Wiedergeburt glauben, sind von dieser ›intramundanen Postmortalität‹ (um einen einfachen Gedanken mit einem akademischen Titel zu verzieren) nicht weit entfernt. Denn vielfach ist es die Wiedergeburt in der eigenen Familie oder Sippe, um die es geht. Selbst wo an Reinkarnationen in nicht-menschlichen Lebewesen geglaubt wird, ist zu bedenken, dass in vielen Gesellschaften eine enge mystische Beziehung zwischen Sippen und bestimmten Tierarten besteht. Aber neben der gleichsam ›physischen‹ Überlebensform in den eigenen Kindern gibt es heute und gab es in zahlreichen vormodernen Gesellschaften die Hoffnung, in den eigenen Werken weiterzuleben. Der unsterbliche Künstler, der Politiker, der ›für die Geschichte‹ lebt, der Wissenschaftler, der durch seine Erkenntnis oder seine Erfindung dafür sorgt, dass die Spur von seinen Erdentagen noch in Äonen nicht untergegangen sein wird, aber auch der Familienvater, der ein Haus baut oder einen Baum pflanzt, von dem er weiß, dass er ihn überlebt, alle diese sichern sich eine Art von Weiterleben im Diesseits. Auch das Weiterleben bloß im Diesseits kennt eine Analogie zur Hölle. Denn das, was von uns weiterlebt, ist nicht nur die positive Seite unseres Wirkens. Dem ewigen Tatenruhm der guten Toten korrespondiert auch bei diesseitigen Überlebenskonzeptionen die ewige Schmach des Verbrechers. Auch die großen historischen Bösewichter überleben im Gedächtnis ihrer Gruppe als solche. Insofern uns nicht gleichgültig ist, was man von uns nach unserem Tode hält, ist in der Tat auch die Weltgeschichte eine Art Weltgericht. Vor ihr versinken wir entweder ins unschuldige Nirwana des Vergessenwerdens, oder wir werden zu größeren oder kleineren, positiven oder negativen Helden und entsprechend als innerweltliche ›unsterbliche‹ Heilige oder Teufel ›verewigt‹.

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Diesseits im Jenseits In einer Vielzahl von Gesellschaften schiebt sich aber über die Erfahrung vom realen Weiterleben der Toten im Diesseits eine zweite Vorstellungsebene. Es wird der in uns, den Überlebenden, gegebenen Wirklichkeit eine Realität an sich zugesprochen. Ganz generell scheint es für Menschen nahezu unmöglich zu sein, etwas, das für sie unverbrüchlich wirklich ist, als gegeben erfahren wird, nicht als objektiv vorhanden anzusehen, so wie wir ja auch die Welt als wirklich unterstellen, weil wir sie als wirklich erfahren und aus der Tatsache, dass die Realität der Außenwelt letztlich nur in uns gewiss ist, nicht einen generellen Zweifel an ihrer von uns unabhängigen Wirklichkeit ableiten. Für die Überlebensvorstellungen ergibt sich daraus, dass den Toten eine reale, von unseren Erinnerungen unabhängige Existenz vindiziert wird. Soweit dies geschieht, wollen wir von Jenseitsvorstellungen sprechen. Wenn man die Mehrzahl der Religionen primitiver Gesellschaften anschaut, so sind hier zwar solche Jenseitsvorstellungen vorhanden, aber ihre Inhalte kreisen doch um höchst irdische Güter. In Jäger- und Kriegergesellschaften wird auch im Jenseits gejagt und gekämpft. So führen etwa die gefallenen Germanen auch in Walhalla ein Kriegerleben. Allerdings mit der irdisch unrealisierbaren Variante, dass die gefallenen Recken am Abend nach der Schlacht wieder auferstehen und sich mit ihren Besiegern und den Göttern zur fröhlichen Metrunde versammeln. Die Mescalero-Apachen gehen davon aus, dass das Leben nach dem Tod sich zwar unter der Erde abspielt, aber im Übrigen in nichts sich unterscheidet vom Leben der Lebendigen. Allerdings ist alles ein bisschen angenehmer und idyllischer: »Nach dem Tod fällt man ganz tief hinunter in den Raum. Schließlich landet man weich in einem schönen Tal. Dort gibt es viele Zelte, viele Leute, alle Leute, die du im Leben gekannt hast, sie lachen, jagen, essen, sie haben eine gute Zeit. Das Leben da ist ziemlich so wie hier, nur besser. Jeder sieht so aus wie auf Erden, aber es gibt mehr zu essen, und die Frauen sind schöner« (Opler 1946: 459; eigene Übersetzung). Noch bescheidener sind die Jenseitsvorstellungen der Todas in Indien. Sie stellen sich das Leben als schlichte Fortsetzung der diesseitigen Ackerbauerexistenz vor, und zwar mit all seiner Mühe und Anstrengung. Nur eine Ausnahme gibt es: Die Arbeit wird verschont von all den Plagen, welche die Arbeit hier so oft vergeblich machen. Deshalb gibt es im Paradies der Todas keine Ratten, keine Wildschweine und keine sonstigen Schädlinge der Feldfrucht

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(vgl. Cazeneuve 1966: 38). Auch der Tod ist – wie bereits erwähnt – aus vielen Paradiesen einfacher Gesellschaften nicht verbannt (vgl. Hahn 1976: 33ff.). Die schon zitierten Mescalero-Apachen glaubten zwar, dass man in ihrem schönen Tal niemals wieder stirbt. Aber schon bei den Wiyot-Indianern in Kalifornien verjüngen sich die Paradiesbewohner zwar zehnmal, aber dann ist es endgültig aus mit ihnen (vgl. Preuss 1930: 95). Ganz allgemein könnte man vielleicht vermuten, dass in den Paradiesvorstellungen vieler einfacher Gesellschaften jene Glücksvorstellungen Gestalt annahmen, die den konkreten irdischen Glücksvorstellungen von Menschen entsprechen, für die das physische Überleben äußerst prekär ist. Das Jenseits behält deshalb stets die Züge des jeweiligen Diesseits, weil aufgrund des niedrigen technischen Niveaus der Naturbeherrschung selbst die irdischen Güter im Diesseits kaum auf Dauer erreichbar erscheinen. Das ins Jenseits verlegte Paradies bietet ein diesseitiges Glück. Es handelt sich um ein kollektives Bild des Glücks, dessen Anschaulichkeit und Attraktivität zugleich der Nähe und dem empirischen Kontrast zur faktischen Lebenssituation entspringt. In einer Gesellschaft, in der die Sicherung der Nahrungsversorgung als selbstverständlich gilt, kann die Verheißung höchsten Glücks kaum die Züge eines kulinarischen Schlaraffenlandes annehmen. Wohl aber gilt dies für Gesellschaften, in denen Nahrung knapp ist und wo schon das bloße Sattwerden nichts Alltägliches ist. In all diesen Formen des Jenseitsglaubens taucht aber ein Moment nicht auf, dass für unsere abendländisch geprägte Vorstellungswelt ganz zentral ist, nämlich die Verknüpfung von diesseitiger Schuld und jenseitiger Qual, die Bindung von Jenseitsschicksal an die moralische Biographie des Verstorbenen. Schon Max Weber hat auf diesen Tatbestand hingewiesen. Von archaischen Jenseitsvorstellungen schreibt er: »Von einer ›Vergeltung‹ im Jenseits ist keine Rede. Wo der Gedanke auftaucht, sind es zunächst nur rituelle Fehler, welche Nachteile nach sich ziehen: so in umfassendstem Maße noch im indischen heiligen Recht. Wer das Kastentabu verletzt, ist der Höllenpein sicher. Erst der ethisch qualifizierte Gott verfügt auch über die Schicksale im Jenseits unter ethischen Gesichtspunkten. […] Die spezifisch ethische Vorstellung aber ist ›Vergeltung‹ von konkretem Recht und Unrecht auf Grund eines Totengerichts und der eschatologische Vorgang ist also normalerweise ein universeller Gerichtstag« (Weber 1956: 316).

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Tod, Gericht und Schuldbekenntnis Naturvölkische Gesellschaften Totengerichte und die Verknüpfung von diesseitiger Schuld und jenseitig ewigen Strafen sind evolutionär späte kulturelle Erscheinungen. Sie fehlen in nahezu allen sogenannten ›naturvölkischen‹ (oder ›primitiven‹) Gesellschaften. Es gibt dort nicht die für die nicht nur abendländischen Paradies- und Höllenvorstellungen entscheidende Auffassung, dass Unrecht im Diesseits Unglück im Jenseits nach sich ziehe. Diese Verknüpfung ist indessen typisch für die meisten uns bekannten Hochkulturen, also Gesellschaften, die durch die Existenz einer Zentralgewalt mit zugehörigem, wenigstens minimalem bürokratischen und militärischen Stab, charakterisierbar sind. An dieser Stelle erheben sich nun zwei Fragen: 1. Warum haben einfache Gesellschaften die Ideenverbindung von irdischem Unrecht und jenseitigem Unglück nur ausnahmsweise ausgebildet? Und 2. Warum findet sich gerade diese Kombination von Vorstellungen in vielen Hochkulturen? Wenden wir uns zunächst der ersten Frage zu. Ich nehme die Antwort thesenartig vorweg, will sie aber im Folgenden ausführlicher darstellen. Der Grund dafür, dass sich Auffassungen vom Totengericht und ewigen Höllenstrafen in Gesellschaften ohne Zentralgewalten selten finden, hängt mit der Tatsache zusammen, dass diese Gesellschaften bereits im Diesseits durch dramatische individuelle Schuldthematisierungen strukturell überfordert wären, und zwar deshalb, weil die Bestrafung eines Schuldigen bei dessen Sippe unabschließbare Rachezyklen auslösen würde, die mangels einer übermächtigen Zentralgewalt nicht zum Stillstand gebracht werden könnten. Doch verfolgen wir diese These nunmehr etwas ausführlicher und ins Einzelne gehend. Viele Ethnologen haben bei Analysen der Aufarbeitung von Schuld in schriftlosen Kulturen immer wieder erstaunt berichtet, dass man die Thematisierung von Schuld vermeidet, dass man öffentliche Schuldbekenntnisse umgeht, ja dass man vielfach von Bestrafung der an sich bekannten Täter absieht, und statt dessen rituelle Opferungen von (nach unseren Begriffen) Schuldlosen vornimmt. Religion steht also dort nicht im Dienst von Kulpabilisierung, sondern im Gegenteil: sie bietet rituelle Bollwerke gegen sie an. Ähnlich wie bei der Frage nach der Geschichtlichkeit oder Geschichtslosigkeit in den sogenannten einfachen Gesellschaften hat es auch mit Bezug auf Schuldthematisierung nicht an ethnologischen Stimmen gefehlt, die den ›Pri-

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mitiven‹ die Fähigkeit abgesprochen haben, so abstrakte Konzepte wie ethische Schuld und moralische Verantwortung überhaupt zu bilden, und die den Rekurs auf magische Praktiken und Konzepte von ritueller Unreinheit als bloßes Defizit konstatierten. Demgegenüber möchte ich geltend machen, dass die Vermeidung von Schuldbekenntnissen sehr wohl eine aktive institutionelle Leistung sein kann. Eine Reihe von Arbeiten zeigt denn auch, dass selbst da, wo Bekenntnisse vermieden, Dramatisierung von Schuldzuweisung umgangen wird, die Identifikation des Täters sehr wohl stattfindet und sowohl bei diesem selbst als auch in seinem sozialen Umfeld keineswegs konfliktfrei abläuft, sodass gleichsam anomische Schuldbekenntnisse und Schuldvorwürfe entstehen. Der problematische Charakter zumindest von öffentlichen Schuldvorwürfen oder Schuldbekenntnissen ist soziologisch einigermaßen plausibel. Jede dramatische Enthüllung von Verbrechen und Übertretung von Normen führt zunächst einmal zur Erschütterung des Glaubens an die Gültigkeit des Geltenden. Die berühmte These Durkheims, welche die Funktionalität der Verbrechen aus der durch sie ausgelösten normverstärkenden Empörung über die Tat und die integrierende Wirkung der Strafriten ableitet, ist von daher zu relativieren: Gerade in Gesellschaften ohne Zentralinstanz bleibt die integrative Wirkung von Strafen höchst prekär (wir kommen darauf zurück). Abweichung ist an sich schon problematisch. Ihre Thematisierung wiederholt, dramatisiert und steigert den Aufwand der »kontrafaktischen Stabilisierung« (Luhmann). Das gilt jedenfalls besonders in den Fällen, wo die handlungsleitenden Regeln in geringer Distanz zu den Handlungen selbst stehen. Und das trifft auf der Ebene der Gesellschaft vor allem für die Gesellschaftstypen zu, die nicht über Schrift, nicht über autoritätsgestützte neutrale Instanzen verfügen. Aber selbst in Gesellschaften, in denen solche Institutionen an sich existieren, wirken sie sich nicht in allen Gruppen aus. In modernen Ehen beispielsweise führt schon die Thematisierung von Schuld zu oft gruppensprengenden Konflikten. Viele Normen – und ihre kontrafaktische Geltung im Sinne Luhmanns6 – können sich nur deshalb erhalten, weil ihre Übertretungen nicht bekannt wer-

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Sie ist für Luhmann geradezu das Definiens für Normen überhaupt: »Normen sind dem nach kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartungen. Ihr Sinn impliziert Unbedingtheit der Geltung insofern, als die Geltung als unabhängig von der faktischen Erfüllung oder Nichterfüllung der Norm erlebt und so auch institutionalisiert wird« (Luhmann 1972: 43).

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den oder nicht mitgeteilt werden dürfen. Die Einsicht in diesen Zusammenhang hat lange soziologische Tradition.7 Das Interesse nicht nur der Individuen8 , sondern auch bestimmter Institutionen9 an Latenzschutz (vgl. Merton 1963: 19ff.-84) kann massiv in Widerspruch geraten zu öffentlichen Schuldbekundungen. Selbstidentifikation durch Geschichte muss in gewisser Weise stets korrelieren mit den sozialstrukturell angebotenen Freiheitsräumen. Die real gegebenen Freiheitsspielräume können aber in bestimmten Gesellschaften so drastisch über den sozial tolerablen und kontrollierbaren liegen, dass bereits der Hinweis auf ihr Bestehen strukturgefährdend ist. Öffentliche Schuldbekenntnisse haben aber unvermeidlich den Charakter von Kontingenzanzeigern. Die Schuld beliebiger einzelner macht eben auf das Prekäre der Strukturen aufmerksam.

Gesellschaften ohne Zentralinstanzen Friedrich H. Tenbruck (1986, 1972) hat gezeigt, dass Geschichtlichkeit im eigentlichen Sinne erst mit der Existenz von Herrschaftsinstitutionen entstehen kann, weil erst in dieser Lage kontingente Entscheidungen möglich werden, die das Ganze eines strukturellen Zusammenhangs zur Disposition stellen. Aber das heißt nicht, dass reale Gefährdungen struktureller Gegebenheiten und auch entsprechende Ängste bei fehlender Zentralinstanz nicht mit dem abweichenden Verhalten beliebiger einzelner auftauchen. Andererseits bleibt selbst noch in frühen Hochkulturen die Selbstthematisierung der Herrscher als Dramatisierung ihrer Freiheit prekär. Zwar entsprechen den größeren Freiheitsspielräumen, wie sie Herrschaftspositionen eröffnen, ausgeprägte Biographisierungschancen. Die Berichte, Chroniken und so weiter, in denen das Handeln der Könige als Tat der Freiheit beschrieben wird, geben hierfür reichlich Zeugnis ab. Allerdings ist die Dramatisierung der Kontingenz in Bezug auf das herrschaftliche Verfügungszentrum nicht ohne Probleme. Was aus der Perspektive des Königs als heroische Tat und individualisie7 8

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Der klassische Text hierzu ist Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft (Simmel 1908: 257ff.). Ferner: Some Social Functions of Ignorance (Moore/Tumin 1949: 787ff.). Dass individuelles Rollenhandeln auf Verhüllungen angewiesen ist, hat, neben vielen anderen, besonders eindrucksvoll E. Goffman gezeigt (vgl. zum Beispiel On Face-Work [Goffman 1955], Embarassment and Social Organization [Goffman 1956] und The Presentation of Self in Everyday Life [Goffman 1956]). Vgl. hierzu etwa die inzwischen klassische Arbeit von H. Popitz Über die Präventivwirkung des Nichtwissens – Dunkelziffer, Norm und Strafe (Popitz 1968).

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rende Realisierung von Freiheit erscheint, ist aus der Sichtweise der übrigen Mitglieder der Gesellschaft Erinnerung an Unsicherheit und Bedrohung. Die Freiheit des Königs stellt insofern stets eine ängstigende Gefahr dar. Wenn sie dennoch dargestellt wird, wenn also nicht die wirkliche Freiheit des Herrschers verhüllt wird, zum Beispiel dadurch, dass sie als bloße Vollstreckung göttlichen Auftrags erscheint, so wird sie doch typischerweise vor dem Horizont der Bindung auch des Königs an das Recht oder an Gottes Gebot geschildert. Eindrucksvoll sind in diesem Zusammenhang die einschlägigen Texte des Alten Testaments. Sie lassen einerseits keinen Zweifel an der fürchterlichen Freiheit der Könige. Andererseits aber wird das Handeln der Herrscher begleitet und ›aufgehoben‹ durch die Verlässlichkeit Gottes, dessen Sanktionen der Willkür der Mächtigen eine Grenze setzen. Freiheit der Könige erscheint somit nie als bloße Kontingenz, sondern als Kampf um Selbstauszeichnung durch Tugend. Versagen ist zwar immer möglich, aber selbst bereits durch einen transzendenten Rahmen ›eingefriedet‹. Öffentliche Thematisierung von Ruhm und Schuld bleiben insofern stets ambivalent in Bezug auf ihre soziale Akzeptabilität: zwar mag im einen Falle die Empörung im Sinne der Argumente Durkheims zur rituellen Wiederherstellung der verletzten Ordnung führen und im anderen Falle die heroische Tat als supererogatorische Leistung dargestellt werden, als Hinweis auf andere Möglichkeiten enthüllen sie aber beide das Riskante aller sozialen Ordnung. Öffentliche Schuldbekenntnisse oder Anklagen haben, wenn sie nicht rein rituell und ohne Verweis auf konkrete einzelne Taten erfolgen (wie es zum Beispiel im allgemeinen Sündenbekenntnis der Gemeinde im Gottesdienst oder im Confiteor geschieht: quia peccavi verbis, operibus et cogitationibus), überall die unabweisbare Konsequenz, zur Strafe aufzufordern. Strafe und Konfession hängen insofern tatsächlich – wie Durkheim es beschrieben hat – eng zusammen. Aber bei fehlender Zentralinstanz ergeben sich eben hier die Probleme. Fast immer gilt – und jedenfalls trifft das auf Kapitalstrafen zu – dass Strafhandlung und Verbrechen eine große Ähnlichkeit aufweisen. Für alle einfachen Gesellschaften und für Gruppen in modernen Gesellschaften, die ihre inneren Angelegenheiten unter sich ausmachen müssen, also zur Lösung ihrer Probleme erst dann auf übergeordnete Instanzen zurückgreifen können, wenn sie sich als Gemeinschaften bereits aufgegeben haben, ist mit jeder Dramatisierung von Schuld folglich der virtuelle Anfang eines Rachezyklus gesetzt. Die hier gegebenen Zusammenhänge sind besonders eindringlich von R. Girard am Beispiel der Chuchki analysiert worden, so wie sie Lowie in Primitive Society geschildert hatte. Bei den Chuchki bieten

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demnach die Angehörigen der Gruppe eines Mörders oder Totschlägers (A) unmittelbar im Anschluss an die Tat der Gruppe des Ermordeten (B) als Sühne das Opfer eines Mitglieds der eigenen Gruppe (A) an, das dann von seiner eigenen Gruppe (A) getötet wird. Denn wenn die Gruppe des Ermordeten (B) die Tötung vollzöge, wäre die Gruppe (A) gezwungen, diesen zweiten Mord zu rächen. Was aus der Perspektive von B Antwort auf eine frühere Tat – also Strafe – wäre, wäre aus der Sicht von A ein erneutes Verbrechen, auf das mit Strafe reagiert werden müsste. Um den Zusammenhang von Opfer und Schuld systematisch zu kaschieren, opfern die Chuchki niemals den Mörder selbst: »Ce n’est pas au coupable qu’on s’intéresse le plus mais aux victimes non vengées; c’est d’elles que vient le péril le plus immédiat; il faut donner à ces victimes une satisfaction strictement mesurée, celle qui apaisera leur désir de vengeance sans l’allumer ailleurs. Il ne s’agit pas de faire légiférer au sujet du bien et du mal, il ne s’agit pas de respecter une justice abstraite, il s’agit de préserver la sécurité du bienet du mal, il ne s’agit pas de respecter une justice abstraite, il s’agit de préserver la sécurité du groupe en coupant court à la vengeance […]« (Girard 1972: 37). Die gleiche Situation, wenn natürlich auch nicht für Bluttaten, ergibt sich in der Sphäre der Schuld jenseits physischer Gewalt auch in modernen Gesellschaften innerhalb sozialer Gruppen, die zur Regelung ihrer Konflikte nicht auf äußere Agenten – wie etwa den Staat – zurückgreifen können, ohne sich selbst aufzugeben. Auch hier würden Dramatisierungen der Schuld vor interner Öffentlichkeit den »cycle de vengeance« in Gang setzen oder – um ein weniger pathetisches Wort zu benutzen und Paul Watzlawick zu zitieren – »Interpunktionsprobleme« heraufbeschwören. Weil die Strafe der zu sühnenden Tat zu ähnlich ist, lässt sich bald nicht mehr zwischen beiden unterscheiden. Jeder schiebt dem anderen sein ›Du hast angefangen‹ in die Schuhe. In Gesellschaften oder Gruppen ohne überlegene Zentralgewalt, die in der Tat in der Lage ist, das Legitimitätsmonopol physischer Gewaltausübung oder unbestreitbarer Parteiüberlegenheit (also Neutralität) durchzusetzen, ist der Verzicht auf Thematisierung von Schuld folglich oft eine wesentliche Voraussetzung für Frieden. Das, worauf es unter solchen Umständen zur Erhaltung des Friedens ankommt, ist rituelle Ablenkung vom Schuldigen. In den zahlreichen Fällen, in denen sogenannte primitive Gesellschaften das praktizieren, handelt es sich also nicht um Unfähigkeit zur Erfassung abstrakter Schuldbegriffe, sondern

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um sozial aktive Verschiebung der Aufmerksamkeit auf Ersatzobjekte zur Unterbrechung des Rachezyklus: »Nous nous imaginons toujours que la différence décisive entre le primitif et le civilisé consiste en une certaine impuissance du primitif à identifier le coupable et à respecter le principe de la culpabilité. C’est sur ce point que nous nous mystifions nousmêmes. Si le primitif paraît se détourner du coupable avec une obstination qui passe à nos yeux pour de la stupidité ou de la perversité, c’est parce qu’il redoute de nourrir la vengeance« (Girard 1972: 38). Girard hat diese Zusammenhänge vor allem im Kontext einer Ökonomie der Gewalt analysiert. So weist er etwa darauf hin, dass die Erzählung von Kain und Abel belege, dass die Gefährlichkeit vom Ackerbauern Kain ausgeht, dessen Unfriedlichkeit damit zusammenhänge, dass er kein Blut vergießt (er opfert Feldfrüchte), im Gegensatz zu seinem Bruder Abel, der friedlich sei, weil er tötet (als Opferer von Lämmern). Das Opfer (im Sinne von ›sacrificium‹) erscheint deshalb bei Girard als Gewalt, die keine Rache auslöst (vgl. Girard 1972: 26). Für unsere theoretischen Zwecke lässt sich dieser Ansatz indessen generalisieren: nicht nur physische Gewalt (wenn auch sie in zugespitztem Sinne) löst Rachezyklen aus, sondern virtuell jede Dramatisierung von Schuld mit anschließender Vergeltung (wobei die Besonderheit von Gewalt natürlich darin zu sehen ist, dass auch ursprünglich nicht gewaltsame Formen von Schuld und Ahndung zu Gewaltsamkeiten führen können). Dramatisierung von Schuld durch Bekenntnisse ist also mit Frieden nur vereinbar, wenn es ›Unterbrecher‹ dieses erwähnten Zyklus gibt. Wer oder was aber käme als ›Unterbrecher‹ in diesem Sinne in Frage? In Gesellschaften ohne Zentralgewalt nimmt das Opfer diesen Platz ein. Aber seine Unterbrecherfunktion bleibt gleichwohl prekär. Die Ablenkung kann missglücken, weil die Opfer (im Sinne von victima), die geopfert werden (im Sinne von sacrificium) nicht als angemessen erscheinen (das Lamm ersetzt den Isaak nicht: die Ähnlichkeit zwischen dem eigentlich gemeinten Schuldigen und dem Sündenbock ist zu gering) oder umgekehrt, weil die rituelle Immunisierung misslingt: die Gruppe, deren Mitglied geopfert wird, empfindet diese Opferung als Rache (die Ähnlichkeit zwischen Opfer und dem eigentlich gemeinten Schuldigen ist zu groß). Eine erheblich wirksamere Unterbrechung des Rachezyklus ergibt sich erst mit der Entstehung von Zentralgewalten. In dem Maße, in dem sie tatsächlich die Anwendung physischer Gewalt monopolisieren können, etablieren sie sich als der Rache entzogene Rächer. Das Prinzip ›Aug’ um Auge, Zahn

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um Zahn‹ wäre für jede Gesellschaft ohne Staat eine ernsthafte Bedrohung für das Überleben der Gruppe. Erst in zumindest rudimentär ausgebildeten staatlich verfassten Gesellschaften wird es relativ gefahrlos möglich, Schuld öffentlich zu bekennen und nach dem Prinzip der Gleichgewichtigkeit von Schuld und Bestrafung zu verfahren. Es ist deshalb nicht zufällig, dass die eigentliche historische Stunde für Geständnisse als Dramatisierung der Schuld und Historie als Dramatisierung des Ruhms mit der Entstehung von Hochkulturen zusammenfällt. Staatlich administrierte Gerechtigkeit wird dann die institutionelle Voraussetzung für relativ gefahrlose Thematisierung von Schuld. Das Opfer (im Sinne von sacrificium) wird – jedenfalls prinzipiell – ersetzbar durch das Gericht. Die Sprengkraft, die aller Ethisierung von Schuld innewohnt, wird erst in Hochkulturen zähmbar. »Si notre système nous paraît plus rationnel c’est, en vérité, parce qu’il est plus strictement conforme au principe de vengeance. L’insistance sur le châtiment du coupable n’a pas d’autre sens. Au lieu de travailler à empêcher la vengeance, à la modérer, à l’éluder, ou à la détourner sur un but secondaire, comme tous les procédés proprement religieux, le système judiciaire rationalise la vengeance […]. Ne représentant aucun groupe particulier, n’étant rien d’autre qu’elle-même, l’autorité judiciaire ne relève de personne en particulier, elle est donc au service de tous et tous s´inclinent devant ses décisions. Seul le système judiciaire n’hésite jamais á frapper la violence en plein cœur parce qu’il possède sur la vengeance un monopole absolu. Grâce à ce monopole, elle réussit, normalement, à étouffer la vengeance, au lieu de l’exaspérer, au lieu de l’étendre et de la multiplier, comme le ferait le même type de conduite dans une sociéte primitive. Le système judiciaire et le sacrifice ont donc en fin de compte la même fonction mais le système judiciaire est infiniment plus efficace. Il ne peut exister qu’associé à un pouvoir politique vraiment fort.« (Girard 1972: 38f.)

Sündenbekenntnisse in Primitiven Gesellschaften Nun lassen sich – so scheint es jedenfalls – sehr starke Einwände gegen diese These von der Abhängigkeit von Bekenntnis, Geständnis und Dramatisierung der Schuld von hochkultureller Monopolisierung der Gewalt formulieren. Eine der gewichtigsten könnte darin liegen, dass die Beichte sich ja in zahlreichen Gesellschaften findet, für die diese Voraussetzung keinesfalls gegeben ist. Sie ist ja auch keine Spezialität des europäischen Kulturkreises. Auch vie-

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le einfache Kulturen verfügen über sie, wie vor allem Raffaele Pettazoni in seinem monumentalen Werk über Sündenbekenntnisse (Pettazoni 1929) gezeigt hat. Diese aber sind nicht in jedem Falle Anlass zur autobiographischen Selbstreflexion oder zu ethischen Erwägungen. Auch ein eigentliches Schuldbewusstsein, Reue oder Besserungsabsichten müssen nicht mit der Beichte verbunden sein. In archaischen Religionen scheint dies im Gegenteil eher die Ausnahme zu sein. Nach Pettazoni findet sich die Beichte in einfachen Gesellschaften einerseits sehr häufig in therapeutischen Situationen: durch Beichte wird ein durch Tabuverletzungen bedingtes Übel beseitigt, andererseits ganz generell im Kontext von Reinigungsriten. Sünden müssen wie Schmutz weggewaschen werden (vgl. Pettazoni 1929: 54). Folglich wird das Bekenntnis oft begleitet von Waschungen, bisweilen werden auch Schuldbekenntnisse als Form des ›Ausspeiens‹ aufgefasst: Die Beichte wird dann kombiniert mit rituellem Erbrechen, das durch eigens zu diesem Zweck verabreichte Emetica ausgelöst wird. Der Begriff der ›Sünde‹ darf dabei nicht zu streng im Sinne absichtlicher Übertretung gesehen werden. Häufig sind es auch unbeabsichtigte, ja völlig unbewusste Verletzungen von Tabus, die eine individuell oder kollektiv bedrohliche oder verderbliche Lage erzeugen, sei es, weil eine Gottheit beleidigt wurde oder auch weil durch eine Art magischer Kausalität die Übertretung direkt Krankheit oder Übel produziert. Das Bekenntnis hat deshalb nicht eigentlich Bezug zur Erinnerung. Manchmal werden gleichsam vorsorglich alle möglichen ›Sünden‹ gebeichtet (so zum Beispiel bei den Walkulwe, die im Falle bestimmter Krankheiten ganze Sündenlisten rezitieren). Auf diese Weise wird gesichert, dass keine eventuell wirksame Schädigung übersehen wird. Das Bekenntnis wirkt als Purgativ, das sich des Wortzaubers bedient. Die verbale Beschwörung der wirklichen oder möglichen Übertretung treibt deren krankmachende Folgen geradezu physisch aus dem Leib heraus. Das Übel selbst wird ebenfalls wie eine Substanz oder ein Fluidum aufgefasst, das durch den Verstoß gegen eine Regel mechanisch erzeugt wird. Der Begriff der Sünde wird also ebenso magisch konzipiert wie der der Reinigung. Die Worte des Bekenntnisses haben dieselbe Funktion wie das Erbrechen oder die Waschung: Sie eliminieren die im Körper materialisierte Sünde gleichsam physisch oder, besser gesagt, sie pressen es von innen nach außen. So muss bei den Ewe die gleiche ›Sünde‹ siebenmal hintereinander aufgerufen werden, um den Expulsionseffekt zu erzielen. Die Beschwörung der Sünde durch genau feststehende Worte, die sie dann vertreiben können, braucht in manchen Fällen nicht einmal durch den Sünder selbst zu erfolgen. Bei den Algonkin

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zum Beispiel reicht es auch, wenn ein anderer das ›Bekenntnis‹ ablegt. Es ist gerade so, als ob die Sünde hören könnte und verschwinden müsste, wenn sie beim Namen genannt wird. Der Wortzauber kann andere Formen des Zaubers ersetzen oder sie begleiten. Oft auch treten andere Austreibungsriten an die Stelle der Bekenntnisse. Es gibt also zwar ›Bekenntnisse‹ in einfachen Gesellschaften, aber nicht eigentlich ethisierte Konzepte von Schuld. Man könnte geradezu sagen, dass die in diesen Gesellschaften vorfindbaren Formen der ›Beichte‹ geradezu eine Dramatisierung der Schuld als verantwortungspflichtige Tat verhindern. Insofern zeigt sich das Material von Pettazoni, das zunächst wie eine Widerlegung der These von der Verknüpfung von Schuldbekenntnis und hochkultureller Organisation von Gesellschaft erschien, eher wie ein weiterer Beleg. Allerdings gilt es gegenüber Pettazoni eine wichtige Einschränkung zu machen. Pettazoni interpretiert das von ihm vorgelegte kulturvergleichende Material eher als Beweis für die Universalität rein ritueller Bewältigung von Schuld. Die Universalität der Bekenntnisriten ist dafür kein Gegenbeweis. Dass nun aber die ›froideur‹ der hier analysierten Gesellschaften in Bezug auf die Thematisierung individueller Schuld auf eigentümlichen institutionellen Leistungen basiert und gerade nicht auf Kompetenzdefiziten, das wird bei Pettazoni gerade nicht sichtbar.

Hochkulturelle Höllenvorstellungen An dieser Stelle können wir uns nun der Beantwortung der zweiten oben gestellten Frage zuwenden, nämlich der nach dem Grund dafür, dass in fast allen Hochkulturen die ethisch begründete Dichotomisierung des Jenseits in Paradiese und Höllen vorkommt: Erst Hochkulturen lassen dramatische Formen von Schuldthematisierung zu. Justiz und Gerichtswesen treten hier in nennenswerter Form erstmals auf. Gleichzeitig ermöglichen und erzwingen sie ein höheres Ausmaß von Individualisierung und versperren insofern die Möglichkeit, persönliche Schuld durch kollektive Strafen abzuarbeiten. Mit der Ethisierung der Götter, der Verschärfung individueller Schuldkonzepte und einer Gerechtigkeitsauffassung, die Unrecht durch Unglück beantwortet wissen will, verschärft sich aber auch das Théodicée-Problem: Wenn Gott es über Gerechte und Ungerechte regnen lässt (Mt. 5,45), dann muss offenbar ein jenseitiger Ausgleich für die im Diesseits unzulänglich bleibenden Gerichte gefunden werden. »Selig sind, die Verfolgung leiden, um der Gerechtigkeit

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willen; denn ihrer ist das Himmelreich« (Mt. 5,10). Das ist die eine Seite. Aber die andere besteht darin, dass auch die Ungerechten, um der Gerechtigkeit willen, Verfolgung leiden müssen. Im Jenseits eben. Irdische Sünden werden nach der Art von Verbrechen im Jenseits gesühnt. Ein Problem ergibt sich freilich stets aus der gegenüber irdischem Leid und diesseitigem Glück geringeren Konkretheit und Unbezweifelbarkeit jenseitiger Verheißungen und Drohungen. Weber hat deshalb vermutet, dass die offenkundige Inkonsequenz, dass zeitliche Verbrechen durch ewiges Unglück geahndet werden, als Kompensation für die geringere Präsenz und Anschaulichkeit der Jenseitsschicksale habe eingesetzt werden müssen: »Die Strafen und Belohnungen müßten der Bedeutung von Verdienst und Vergehen entsprechend abgestuft werden – wie es noch bei Dante in der Tat der Fall ist –, sie könnten also eigentlich nicht ewig sein. Bei der Blaßheit und Unsicherheit der Jenseitschance aber gegenüber der Realität des Diesseits ist der Verzicht auf ewige Strafen von Propheten und Priestern fast immer für unmöglich gehalten worden; sie allein entsprachen auch dem Rachebedürfnis gegen ungläubige, abtrünnige, gottlose und dabei auf Erden straflose Frevler. Himmel, Hölle und Totengericht haben fast universelle Bedeutung erlangt, selbst in Religionen, deren ganzes Wesen sie ursprünglich so fremd waren wie dem alten Buddhismus.« (Weber 1956: 316) Insbesondere trifft das auf Paradiesbeschreibungen zu. Sie stehen vor dem Dilemma, entweder durch zu große Konkretheit vulgär oder durch zu große Abstraktheit uninteressant zu werden. Selbst ein so bedeutender Dichter wie Dante wirkt deshalb bei der Beschreibung des Paradieses sehr blässlich, vergleicht man es mit der Darstellung der Höllenpein. Vor allem ist das, was für Unglück eine Steigerung ist, für konkrete Formen des Glücks eher misslich, nämlich, dass man sie ewig zu ertragen hätte. Es hat denn auch nicht an blasphemischen Witzbolden gefehlt, denen das Glück der Seligen langweilig vorkam. Dieses Dilemma der Paradiese findet bei der Beschreibung der Höllenpein keine Parallele. Denn es ist zwar schwer, sich Freuden vorzustellen, die – auf Dauer gestellt – noch attraktiv bleiben. Aber die Ewigkeit von Qualen mindert deren Bedrohlichkeit ebenso wenig, wie die drastische Konkretheit ihrer Darstellung. Im Gegenteil! Die ausweglose Dauer der Schmerzen steigert ihre Wirkung. So findet sich dann auch zum Beispiel in Europa die extreme Sublimierung und Abstraktheit bei der Ausmalung der Paradiese gepaart mit der allernaivsten Anschaulichkeit der Höllenstrafen. Das heißt nicht, dass die

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Ewigkeit und Grausamkeit der Strafen nicht auch theologische Kontroversen heraufbeschworen hätten. Zwar hat es in den christlichen Kirchen bis zum Beginn der Neuzeit nie Zweifel an der Existenz der Hölle gegeben, wohl aber an der Ewigkeit der Höllenstrafen, die mit der Barmherzigkeit eines allgütigen Gottes nicht vereinbar schien und deshalb bei einigen spätantiken griechischen Theologen (wie zum Beispiel Clemens von Alexandrien, Gregor von Nyssa, Didymos, Theodor von Mopsuestia) und am folgenreichsten in der Apokatastasislehre des Origines bestritten wurde. Allerdings hat bereits die Synode von Konstantinopel im Jahre 543 diese Thesen verworfen: »Wenn jemand sagt oder meint die Höllenstrafen (gr. Kolasis, lat. supplicium) der gefallenen Engel (Dämonen) und der gottlosen (gr. asebes, lat. impius) Menschen seien zeitlich begrenzt und daß sie irgendwann einmal ein Ende nehmen werden oder dass es zu einer schließlichen Wiederaufnahme (gr. Apokatastsis, lat. Resitutio oder Reintegratio) der Dämonen oder der gottlosen Menschen komme, der sei verdammt (anathema sit).« (Denzinger/Schönmetzger 1976: 176)10 Wenn auch die Verdammung der Apokatastasislehre wesentlich auf die Autorität des Johannes Chrysostomos und Augustins (Civ. Dei XXI, 26) zurückgeht, so lassen sich selbst bei ihnen Reste der Mitleidslehre des Origines auffinden: Bei Chrysostomos dahingehend, dass eine Milderung der Strafen aufgrund der guten Werke der Hinterbliebenen zu erreichen sei, bei Augustin (Ench 112) insofern, als die Höllenstrafen von Zeit zu Zeit gemildert werden, nämlich jeden Sonntag, wovon trotz des entschiedenen Urgierens einer ewig andauernden Hölle (in IV Sent. d. 45 q. 2) ein milder Reflex auch im Denken des Doctor communis aufleuchtet (vgl. Esser 1979: 18). Thomas von Aquin antwortet nämlich auf die Frage, ob man Gott nicht nur gerecht, sondern auch barmherzig nennen könne (und zwar trotz der ausdrücklich erwähnten Stelle aus Jakobus 2, 13: »Es wird aber ein unbarmherzig Gericht über den gehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat«) wie folgt: »Und dennoch scheint selbst noch in der Verdammung der Verworfenen das Mitleid, insofern Gott die Strafe zwar

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Wichtige Hinweise verdanke ich der unveröffentlichten Trierer Diplomarbeit meines Schülers H.-J. Esser (1979). Zu Origines und Clemens von Alexandrien vgl. Anrich (1902).

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niemals völlig ganz erläßt, sie jedoch ein wenig milder als verdient ausfallen läßt.«11 Neben der Ewigkeit der Strafen hat auch stets die Drastik der Martern eine Rolle gespielt, die den Verdammten zugedacht waren, wenn auch hier bei Theologen wie Th. von Aquin deutlich eine Tendenz erkennbar wird, zu einer stärkeren Sublimierung in der Auffassung der Höllenpein zu kommen und sie stärker in der eher psychischen als der physischen Qual zu verankern; stärker an metaphysischem Unglück und vergeblicher Reue als an roher Folter festzumachen. Die Theologen sind aber für das ›imaginaire‹ zumindest im Mittelalter sicher weniger prägend gewesen als die Homiletik und die Darstellung der Hölle in der bildenden Kunst, in der es an (für unser Gefühl) geradezu sadistischen Grausamkeiten nicht fehlt und die auch für die Zeitgenossen vermutlich oberhalb der real erlebbaren Brutalität lag, die das wirkliche Leben anschaulich vorführte. Dabei stammen die Vorbilder selbst häufig aus älteren Texten, etwa der Visio Pauli, dem apokryphen Nikodemusevangelium oder der ebenfalls apokryphen etwa um 140 n. Chr. entstandenen Petrusapokalypse: »Sünder und Heuchler werden in den Tiefen niemals endender Finsternis liegen. Ihre Strafe ist das ewige Feuer. […] Die Verfolger der Gerechten stehen in der Hölle bis zur Hüfte in Flammen. Sie werden an einen finsteren Ort geworfen und gegeißelt, nimmermüdes Gewürm frisst ihre Eingeweide. Lästerer werden an ihrer Zunge aufgehängt und unter ihnen wird Feuer entfacht bzw. sie zerbeißen sich selber die Zunge, flüssiges Eisen gießt man in ihre Augen. Diejenigen, die nur zum Schein Almosen gaben, werden blind und stumm und fallen auf nie verlöschende Kohlen. Zauberer werden an sich drehenden Feuerrädern aufgehängt. In einem See voller Kot stehen die Wucherer, die Bedrücker der Witwen, Frauen und Kinder werden in eine Feuersäule spitzer als Schwerter geworfen. Huren werden an den Haaren über einen glühenden Flammensee aufgehängt, ihre Liebhaber hängen ihnen an den Schenkeln, die Köpfe im Schlamm. Frauen, die ihre Kinder abtreiben, stehen bis an die Kehle in einem Kotsee. Ihnen gegenüber sitzen ihre Kinder; von ihnen aus schlagen Feuerblitze den Frauen in die Augen. Die Milch fließt aus ihren Brüsten, gerinnt und fleischfressende Tiere entstehen daraus; sie kriechen heraus und quälen die Frauen. Homosexuelle werden einen

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»Et tamen in damnatione reproborum apparet misericordia, non quidem totaliter relaxans, sed aliqualiter allevians, dum punit, citra condignum » (Thomas von Aquin 1934: 210f.; eigene Übersetzung).

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Abhang hinuntergestürzt und immer wieder hinaufgehetzt. Mörder werden im Feuer von giftigen Würmern getötet […].«12 Vergleicht man rückblickend noch einmal die sozialen Kontrollen, die sich der Drohung mit jenseitigen Strafen bedienen, mit den Kontrollformen, die einfachen Gesellschaften zur Verfügung stehen, so ergibt sich der Eindruck, dass dort offenbar die diesseitigen Möglichkeiten der Disziplinierung ausreichen, um soziale Ordnung hinlänglich zu garantieren. Vor allem führt die hohe Identifikation mit der Gruppe in diesen Gesellschaften und das geringe Maß der Individualisierung dazu, dass wie im Diesseits so auch im Jenseits die Dramatisierung der Individualität und ihrer zu verantwortenden Freiheit und Einzigartigkeit keine reale Erfahrungsbasis hat. Jedenfalls kann sich eine individuelle jenseitige Paradieshoffnung und Höllenfurcht erst in dem Maße entfalten, wie die Handelnden sich als Individuum in ihrer unverwechselbaren unwiederbringlichen Einzigartigkeit empfinden. Gerade in einfachen Gesellschaften scheint ein Erleben möglich, in dem der einzelne sich als Moment einer familialen Kontinuität des Daseins, als Glied in der Kette der Generationen empfindet. In der diesem Erleben entsprechenden Bewusstseinslage ist die Erhaltung der Gruppe von Geschlecht zu Geschlecht wichtiger als die genaue Buchführung über ethische Leistungsdivergenzen der einzelnen. Gerade die europäische Religionsgeschichte zeigt denn auch, dass die Steigerung von Todes- und Jenseitsfurcht mit Schüben der Steigerung der Individualisierung verbunden war. Dramatisierungen der Individualität gehen mit der Intensivierung des Schuldbewusstseins und der wachsenden Elaboration der jenseitigen Strafen Hand in Hand. Wenn man den Arbeiten des Historikers Ariès (1977)13 folgen darf, so hat auch noch die frühmittelalterliche Kirche die Vorstellung eines unmittelbar auf den Tod folgenden Gerichts nicht gekannt. Allenfalls sei diese Vorstellung in sehr begrenzten Kreisen der mönchischen und theologischen Eliten verbreitet gewesen. Die allgemeine Auffassung war nach Ariès die von einem auf den Tod folgenden schlafähnlichen Zustand. Erst 12

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Vgl dazu H.-J. Esser, Höllenvorstellungen, S. 14. – Das Material ist der von W. Schneemelcher unter Mitarbeit von E. Hennecke edierten Apokryphensammlung Neutestamentliche Apokryphen entnommen (Schneemelcher 1971: 468ff.). Ein ausführlicheres Referat der neueren sozialhistorischen Arbeiten zur Entwicklung der Vorstellungen vom Tod und dem Leben danach enthält mein Aufsatz Tod und Individualität (Hahn 1979: 746ff.). Zusätzlich zu der dort angegebenen Literatur vgl. man die danach erschienenen Arbeiten Delumeau (1983), Delumeau (1989) und Vovelle (1983).

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am Jüngsten Tag folgte dann die Auferweckung von den Toten. Die Angst vor der möglichen Verdammnis sei ebenfalls (außer bei den erwähnten Gruppen der theologischen Avantgarde) kaum vorhanden gewesen. Man ging von der grundsätzlichen Erlösung aller Christen aus. Erst sehr allmählich hat sich der Glaube der theologischen Eliten von der unmittelbar auf den Tod folgenden Trennung von Leib und Seele, dem individuellen Gericht zum Zeitpunkt des Todes, vom Fegefeuer und der möglichen Verdammung auch der Christen durchgesetzt. Darstellungen des Jüngsten Gerichts, auf denen die Hölle mit Teufeln und den Seelen der Verdammten abgebildet sind, beginnen sich erst seit dem zwölften Jahrhundert zu verbreiten und stehen im engsten Zusammenhang mit gesteigerten Individualisierungstendenzen, wie sie das Aufblühen der Städte, die größere soziale Mobilität, der ausgedehntere Spielraum für persönliche Initiativen und Handlungsmöglichkeiten, die stärker werdende berufliche Mobilität, die Entfaltung des geistigen Lebens (Universitäten) und nicht zuletzt eine neue Form allgemeinverbindlicher motivorientierender Beichtpraxis (vgl. Hahn 1997) mitbedingen. Dem Bewusstsein der individualisierten Identität korrespondiert eine verstärkte Angst vor dem eigenen Ende. Die Vorstellung der Verlängerung der Biographie über den Tod hinaus (also ohne die vielleicht viele Jahrtausende dauernde ›ewige Ruhe‹) trägt dem Rechnung. Die durch die verstärkte Individualisierung gesteigerte Angst vor dem Selbstverlust wird durch die Individualisierung des Jenseitsschicksals aufgefangen. Andererseits akzentuiert die Drohung eines unmittelbar auf den Tod folgenden individuellen Seelengerichts die Eigenverantwortung für das Handeln, stärkt also ihrerseits die Individualisierung. Schließlich eröffnet die Institutionalisierung der in dieser Form neuartigen Vorstellung vom Fegefeuer als Zwischenlösung zwischen Himmel und Hölle den Raum für individuell abstufbare, endliche Strafen und ermöglicht eine größere Flexibilität der Korrelation von Handlung und Sanktion (vgl. LeGoff 1981). Ganz allgemein lässt sich sagen, dass die Entwicklung der Theorie jenseitiger Strafen in Europa in engster Verbindung mit der gesellschaftlich mitbedingten Steigerung der Individualisierungstendenz steht, deren ursprüngliche subjektive Basis vor allem ein dramatisiertes Schuldbewusstsein war. Diese Culpabilisation steht an der Wiege der modernen Selbstreflexion.

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›The Decline of Hell‹ Die Funktion der sozialen Kontrolle wird sehr viel eindeutiger von jenseitigen Strafen und ihrer Dosierung je nach Verfehlung wahrgenommen als durch die positiven Sanktionen himmlischer Belohnungen. Aber die Paradoxie der Verheißungen zeigt sich auch hier. Immerhin haben mindestens seit Beginn der Neuzeit die hemmungslosen Darstellungen grässlicher Folterszenen auch etwas Anstößiges. Und schon im 17. Jahrhundert lassen sich in Predigten vor höfischem Publikum allzu drastische Beschreibungen der Hölle nicht mehr vortragen. Sie verstoßen gegen die ›bienséance‹ einer zivilisierten Gesellschaft. Das heißt nicht, dass man über Hölle dort nicht mehr predigen könnte. Aber sie wird zum Ort eines im Wesentlichen psychologisch beschworenen Unglücks, deshalb nicht weniger erschütternd, aber weniger roh. In einer Fastenpredigt vor dem französischen Hof und in Anwesenheit des Königs (Ludwig XIV) macht der damals berühmte Prediger Bourdaloue eigens darauf aufmerksam, dass auch dem Hof die Warnung vor der Hölle nicht erspart werden kann, dass sich aber vor diesem Publikum eine angemessene Sprache ziemt. Dem einfachen Volke allerdings könne man die ewigen Wahrheiten nur in handfesten Bildern beschreiben. Da müsse man von Feuerpfuhlen, Abgründen voller glühender Kohlen, scheußlichen Gespenstern und von Heulen und Zähneknirschen erzählen. Dem höfisch zivilisierten Publikum müsse dies alles aber in der ›simplicité de la foi‹ vorgetragen werden, um erbaulich wirken zu können.14 Das 17. Jahrhundert ist im Übrigen einer der Wendepunkte in Bezug auf den Niedergang der Hölle. Daniel Pickering Walker konnte zeigen, wie Teile vor allem der protestantischen Theologie dieser Epoche in einer Art Neubelebung der Misericordia-Lehre des Origines sowohl an der Ewigkeit wie am Cha14

»Prêcher l’enfer à la cour, c’est un devoir du ministre évangélique : et à Dieu ne plaise que par une fausse prudence, ou pour une lâche assujettissement au goût dépravé de ses auditeurs, le prédicateur passe une matière si essentielle, et ce point fondamental de notre religion! Mais aussi doit-il prendre garde, en l’annonçant, a qui il l’annonçe, et à qui il parle. Aux peuples cette vérité peut être proposée sous des figures sensibles : étangs de feu, gouffres embrasés, spectres hideux, grincements des dents. Mais à vous, mes chers auditeurs, qui, quoique mondains et charnels, êtes dans un autre sens les spirituels et les sages du monde, elle doit être expliquée dans la simplicité de la foi; en sorte qu’on vous en donne une intelligence exacte, et capable de vous édifier.« (Bourdaloue 1850: 548f.). – Zur Bedeutung Bourdaloues im Kontext religiöser Einflüsse auf den Zivilisationsprozess vgl. Hahn 1984.

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rakter der Höllenstrafen selbst dogmatische Zweifel anmelden (vgl. Pickering Walker 1972). Und in einer neueren materialreichen Studie von Heinz Dieter Kittsteiner wird die Abschaffung der Hölle und der vom Jenseits ausgehenden diesseitigen Strafen (vor allem des Gewitters) im 17. und 18. Jahrhundert umfassend und eindrucksvoll dokumentiert (vgl. Kittsteiner 1991: 101ff.). Die Verlagerung der Strafe von der Hölle in das Innere des menschlichen Gewissens bleibt indessen bis in die Gegenwart hinein nicht ohne Widerspruch. Man scheint stets zu glauben, sich dieses Mittels als Instrument der Zivilisierung der Unterschichten nicht entschlagen zu können.15 Für die theologischen Eliten und die religiösen Eliten standen indessen mindestens seit der Sündenlehre des Abaelard (vgl. Hahn 1979) im Zentrum der Sündenlehre nicht äußere Strafen (weder im Diesseits noch im Jenseits) oder die Furcht vor ihnen, sondern die vollkommene Reue über die eigenen Taten. Nicht die Vision physischer Martern, sondern das Leid darüber, den Gott der Liebe gekränkt zu haben, nicht Angst, sondern Liebe soll der Prozess der Reue beflügeln. Das Unglück, das durch die Schuld beim Täter ausgelöst wird, beruht nicht auf nachträglichen Qualen, sondern auf Gewissenszerknirschung. Dies alles führt aber – im Gegensatz zum protestantischen Bereich – im Katholizismus nicht zu dogmatischen Veränderungen, wohl aber zu Anpassungsvorgängen in der Seelsorge. Mit der Zivilisierung und Disziplinierung der Massen kann auf Höllenstrafen weitestgehend verzichtet werden. Sie stören das Bild des liebenden Gottes und vertreiben die Klientel. Das kann man auch sehr schön am Wandel der Beichtspiegel in den letzten vierzig Jahren in Deutschland sehen. So heißt es beispielsweise in dem im Sursum Corda, dem offiziellen Gesang- und Gebetbuch für das Erzbistum Paderborn von 1948 abgedruckten Reuegebet noch: »Mit Schrecken denke ich an das Los meiner Seele in der Ewigkeit. Wo wäre ich jetzt, wenn ich unversehens gestorben wäre? Vielleicht in der Hölle, dem Orte der ewigen Qualen. Durch meine Schuld hätte ich Dich, das höchste Gut, den Himmel mit seinen unaussprechlichen Freuden für immer verloren, wäre ewig unglücklich, ohne Hoffnung auf Erbarmen und Rettung.« (Sursum Corda 1948: 762)

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Zur Theorie der Sozialdisziplinierung vgl. Breuer 1986, van Kricken 1990 und außerdem meine eigene Arbeit Zur Soziologie der Beichte (Hahn 1979).

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Und noch 1963 heißt es im Glaubensbuch für das dritte und vierte Schuljahr, und zwar in der offiziellen Ausgabe für das Erzbistum Paderborn, im Kapitel über die Beichte: »Manche Sünden sind so groß, dass sie die Menschen von Gott trennen. Wer zum Beispiel einen Mord begeht, ist nicht mehr Gottes Kind. Er ist tot für Gott und kann nicht in den Himmel kommen. Darum nennt man solche Sünden Todsünden. Wer mit einer Todsünde stirbt, kommt in die Hölle. Wer mit einer Wundsünde stirbt kommt ins Fegefeuer.« Allerdings wird hinzugefügt: »Jüngere Kinder können sehr schlimme Sünden tun, aber noch keine Todsünden« (Glaubensbuch 1963: 206). Solche Stellen sucht man im Gotteslob, dem offiziellen Einheitsgebet- und Gesangbuch der deutschen Bistümer vergebens. Hier heißt es nur noch: »Ohne Reue ist Vergebung nicht möglich. Gott verzeiht jede Sünde, die wir aus Liebe zu ihm bereuen. Wenn jemand nur aus Furcht vor Gottes gerechter Strafe seine Sünden bereut, ist seine Reue noch unvollkommen. Sie genügt aber zum Empfang des Bußsakraments« (Gotteslob 1975: 99). Es scheint, als habe sich die Verinnerlichung der Schuldauffassung durchgesetzt und Drohungen mit der Hölle weitestgehend überflüssig gemacht. Die Betonung liegt auf dem Glück und dem Heil statt auf der Verdammnis.16 »Tod wo ist Dein Stachel, Hölle wo ist dein Sieg« (1. Korinther 15,55) könnte man fragen. Aber die Befreiung von der Höllenangst hat im Allgemeinen nicht zum religiösen Dauerglück geführt. Es sind vielmehr neue Formen des sublimierten und verinnerlichten Dauerschuldgefühls entstanden, das seinerseits zu Problemen führt. Das neue Unglück entspringt nicht aus der Schuld, sondern aus dem Schuldgefühl. Die Hölle im Jenseits weicht der psychischen Krankheit im Diesseits, die Beichte der Therapie, die Sorge ums Heil macht der Heilung Platz (vgl. Hahn/Willems/Winter 1991: 500).      

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Vgl. in diesem Sinne auch Scholz 1987: 107ff. Außerdem die Forschungen von Michael N. Ebertz über die abnehmende Bedeutung des Höllenthemas in katholischen Predigten seit dem 19. Jahrhundert (Ebertz 2004).

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Die ›wahre Hölle‹ – auch nicht mehr das, was sie war? Soziologische Anmerkungen zu einer religiösen und kulturellen Metapher Michael N. Ebertz

Die Hölle – eine popularkulturelle Doppelikone Nachdem Alois Hahn schon vor einiger Zeit die Hölle für die Soziologie entdeckte (vgl. Hahn 1992), freilich nicht die Hölle der Soziologen und auch nicht die Hölle für die Soziologen, ist es an der Zeit, die Hölle erneut in den Blick zu nehmen – nicht in Form einer träumerischen ›Visio‹ beziehungsweise der mittelalterlichen Jenseitsvisionen vor und nach Dante, sondern hellwach, in soziologischer Distanz, damit wir sie uns nicht heiß machen, damit wir uns nicht ihren Peinen aussetzen und vor lauter Schmerzen Sinn und Verstand verlieren und darüber vielleicht aufhören, Soziologie zu treiben. Dass man ›in der Hölle schmoren kann‹, es also verdammt heiß ist, weiß heute immer noch jeder. »Eher werde ›die Hölle zufrieren‹«, so der Chef von Ryanair, Michael O’Leary, als dass er, wie bei anderen Fluggesellschaften üblich, Tarifverträge abschließen lasse, also – so wortwörtlich – die »Gewerkschaftshölle« betreten werde (FAZ 02.08.2018). ›Hölle‹ scheint so etwas wie eine popularkulturelle Doppelikone des Leidens und der Ohnmacht geworden zu sein, das heißt ein im gesellschaftlichen Kommunikationshaushalt abrufbares Interpretationschema, auch ein ›habit‹ in Problematisierungs- und Skandalisierungsprozessen. Solche kulturellen Ikonen, seien sie bildlicher, textlicher, akustischer oder konzeptueller Natur, »zeichnen sich grundlegend dadurch aus, dass sie durch eine prägnante Verkürzung auf einen größeren Sinnzusammenhang verweisen, in unterschiedlichen medialen Repräsentationen vorliegen können und eine hohe Wiedererkennbarkeit besitzen: Sie sind (inter)medial verdichtete Zeichen«, so die Definition von Paula Wojcik u.a. (2019) in einer An-

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kündigung der Tagung »Kulturelle Ikonen« 2019 an der Universität Greifswald. Als popularkulturelle Doppelikone des ohnmächtigen Leidens ist sie zugleich kombinierbar mit anderen, ja sogar lustsemantischen Metaphern, wenn etwa Winston Churchill von einer »Höllenorgie« sprach und damit die Massaker an der christlichen Bevölkerung durch die Truppen Kemal Atatürks meinte (FAZ 13.01.2019). Die Hölle als popularkulturelle Doppelikone erweist sich faktisch als eine Trivialisierung, genauer gesagt, als auffällige und – wie ich denke – höchst aufschlussreiche Beschneidung der ›wahren Hölle‹, wie sie insbesondere die christliche Tradition in ihrer Lehre von den sogenannten ›Letzen Dingen‹, der Eschatologie (vgl. Ebertz 2006), zu definieren beansprucht. Deren zentrale Semantik erfährt auch in den tagtäglich in unseren Zeitungen zu lesenden ›Höllen‹ eine erhebliche ›Beschneidung‹ im Sinne Roland Barthes‹ (1973), wenn etwa der dreimalige Weltmeister Jackie Stewart Rennfahrer auf dem Nürburgring durch die »Grüne Hölle«, also die schöne und zugleich gefürchtete Nordschleife, rasen sieht (FAZ 21.07.2018), wenn »Rivalitäten unter Kollegen« den »Arbeitsalltag zur Hölle machen« (FAZ 03./04.11.2018), »Weihnachten die Hölle« (Krenzer 2016) oder »auf der Tanzfläche die Hölle los« (FAZ 09.11.2018) ist. Durch einige dieser metaphorischen Redeweisen, deren Beispiele Legion sind, werden einzelne Elemente jener ›wahren Hölle‹ nicht nur kupiert oder ignoriert, sondern auch addiert. So ist die ›wahre Hölle‹ der christlichen Tradition Lebenden nicht selbstaktiv zugänglich – allenfalls fremdgesteuert und in Träumen ›erfahrbar‹. Träume konnten ja in den besagten Visionen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit – schon bei Gregor dem Großen – als göttliche ›Offenbarungen‹ darüber verstanden werden, dereinst alle irdischen Feinde in der Feuergrube erblicken zu können. Heute wären das, den genannten Beispielen entsprechend, je nach Standpunkt, Gewerkschafter, Türken oder Christen, Kollegen, Tänzer, der Weihnachtsmann, das Christkind oder ›Väterchen Frost‹. Ignoriert wird in den genannten Beispielen, dass die ›wahre Hölle‹ auch keinen Ausgang kennt. »Wer ins Frauenhaus geht, ist meist der Hölle entkommen« (FAZ 23.04.2019) – dieser Satz kupiert nicht nur die Semantik der Irreversibilität, welche die ›wahre Hölle‹ kennzeichnet, sondern pervertiert auch noch – wie ich des Weiteren zu zeigen versuche – deren konstitutive Funktion. Dem hier gemeinten normativen Konzept der ›wahren Hölle‹ kommt die Aussage Joseph de Maistres (1753-1821) schon näher, als er vor etwa 200 Jahren die Französische Revolution als eine »unmittelbare Ausgeburt der Hölle«

Die ›wahre Hölle‹ – auch nicht mehr das, was sie war?

(Schmitt 1989: 3) anprangerte. Näher am traditionellen christlichen Konzept ist auch der Fluch jener Frau aus Frankfurt, die nach dem Klau ihres Fahrrads, der sie in der Wahrnehmung ihrer Mutterpflichten hinderte, in den sozialen Netzwerken schrieb: »Ich wünsche euch Dieben Pest und Cholera! Mögen Euch Arschlöchern die Finger abfaulen! Und schmort in der Hölle!« (FAZ 31.10.2018). Noch besser erfasst der bis Ende 2019 amtierende Präsident des Europäischen Rats Sinn und Verstand der ›wahren Hölle‹, wenn er im Zusammenhang mit dem Brexit sich öffentlich fragte, »wie der besondere Platz in der Hölle für jene aussieht, die für den Brexit geworben haben ohne auch nur die Skizze eines Plans, wie er sich sicher umsetzen lässt« (FAZ 09.02.2019). Auf die Entgegnung von Theresa May, ob er, Tusk, denn glaube, »dass der Gebrauch dieser Sprache hilfreich« (FAZ 09.02.2019) sei, soll er sinngemäß zurückgerudert sein, indem er, durchaus zu recht, erklärte, was es mit der Hölle auf sich habe, sei derart ungewiss, dass man die unterschiedlichen Vorstellungen davon, wie es dort zugehe, kaum unter einen Hut bekomme (vgl. FAZ 08.02.2019). Deutlich wird die Beschneidung, ja Verkehrung der ›wahren Hölle‹, wenn sie – als bloße Ikone des Leidens und der Ohnmacht – wie so oft auf Auschwitz bezogen wird. Zwar hatte es ja für die meisten ohnmächtig Leidenden der Todeslager kein Entrinnen gegeben. Doch machte das Merkmal der Unentrinnbarkeit Auschwitz nicht zur ›wahren Hölle‹. Steht diese doch nicht nur wie die kulturelle Doppelikone für Leiden und Ohnmacht, sondern auch für die Unentrinnbarkeit von Strafe und Schuld – theologisch gesprochen – aus Ungehorsam gegen Gott. Die ›wahre Hölle‹ ist nicht nur ein Schmerz- und Ohnmachts-, sondern auch ein Sanktions- und Kulpabilisierungskonzept. Ein solches können diejenigen nicht ernsthaft meinen, wenn sie die ›Hölle‹ auf Auschwitz beziehen oder die Bewohnerinnen von Frauenhäusern als aus der häuslichen ›Hölle‹ Entronnene bezeichnen. Andernfalls würden sie den KZInsassen wie den Opfern häuslicher Gewalt Schuld zuschreiben und sie damit sekundär viktimisieren. Im Kontext der Rede über Weihnachtshöllen, Diskohöllen oder ›Grüne Höllen‹ macht die ›Hölle‹ als Sanktions- und Kulpabilisierungskonzept überhaupt keinen Sinn. So lässt sich die Hölle als popularkulturelle Metapher von einer religiösen Metapher unterscheiden. Die ›Hölle von Auschwitz‹ erweist sich wie die entronnene ›Frauen-Hölle‹ als kulturelle Metapher, während die ›Hölle der Brexit-Verantwortlichen‹ (im Sinne Donald Tusks) wie die ›Hölle der Fahrraddiebe‹ (im Sinne der Frankfurter Mutter) an die religiöse Metapher erinnern. Erinnern wir uns genauer:

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Die wahre Doppelikone »Der göttliche Richter«, so wurden unsere Groß- und Urgroßväter in der Beichtkatechese belehrt, wenn sie der ›wahren‹ Religion anhingen, »wird uns nicht erst richten am Ende der Welt. (Wir werden schon nach dem Tode gerichtet.) Ihr wißt recht gut, was der göttliche Richter nicht in unserer Seele finden darf. (Sünden und Todsünden.) Wer beim Sterben nur eine Todsünde in der Seele hat, ist ewig verloren. (Er kommt in die Hölle.) Die läßlichen Sünden bringen uns auch kein Glück, aber sie machen uns nicht ewig unglücklich. (Wir müssen eine Zeit lang ins Fegfeuer.) Ihr wißt schon lange, wie wir die Sünden von der Seele wegbringen können. (Wir müssen sie beichten.) Da muss vorher noch mehr geschehen. (Besinnen, bereuen, guten Vorsatz machen.) […] Ihr müsst so viele Todsünden beichten, als ihr in der Seele wißt. Ihr dürft mit Absicht keine Todsünde weglassen. Sonst wird gar keine Todsünde nachgelassen, und in der Seele ist noch eine neue große Todsünde mehr« (Raab 1928: 290). Diese Kinder-Katechese von 1928, aus der ich zitiert habe, hielt sich streng an den sogenannten Römischen Katechismus, der vor gut 450 Jahren (1566) in Folge des Konzils von Trient als Antwort auf die Frage, »wie viele Orte [!] es gebe, in welchen die der Seligkeit nicht theilhaftig gewordenen Seelen nach dem Tode aufbehalten werden« (»Quot sint loca, quibus animae extra beatitudinem constitutae, post mortem detinentur«), als Heils- oder Unheilswahrheit formuliert: »Diese Behausungen sind jedoch nicht alle ein und derselben Art. Es gibt nämlich einen furchtbar grausenhaften und finstern Kerker, wo in ewigem und unauslöschlichem Feuer die Seelen der Verdammten zugleich mit den unreinen Geistern gequält werden, welcher auch Gehenna, der Abgrund, und in eigentlicher Bedeutung die Hölle genannt wird.« (Buse 1859: 52) Die ›wahre Hölle‹, wie sie hier im ›heiligen Wissen‹ der römisch-katholischen Kirche beschrieben wird, enthält außer den Merkmalen des Leidens und der Ohnmacht (»grausenhaft«; »finstern«; »gequält werden«; »unauslöschlich«; »Abgrund«) auch Merkmale der Kulpabilisierung und Sanktionierung (»der Verdammten«; »Kerker«). »Außerdem gibt es«, so heißt es im Catechismus Romanus weiter, »ein Reinigungsfeuer , durch welches die Seelen der Frommen eine bestimmte Zeitlang gepeinigt und dadurch geläutert werden , auf dass ihnen der Eingang in das ewige Vaterland geöffnet werden kann, in welches nichts Beflecktes eingeht« (ebd.). Tatsächlich war auf

Die ›wahre Hölle‹ – auch nicht mehr das, was sie war?

der letzten Sitzung des Konzils von Trient (03.12.1563) im Decretum de purgatorio kirchlicherseits eine zweite jenseitige Strafregion offizialisiert worden, die im Unterschied zur ›wahren Hölle‹ ein Entrinnen in Richtung ›Himmel‹ kennt. Auch sie kennt Leiden wie Ohnmacht, die aber – wie die Kulpabilisierung und Sanktionierung (»gepeinigt«) – als temporal begrenzt (»eine bestimmte Zeitlang«) gedacht werden. Diese theologische Innovation einer Ausdifferenzierung der postmortalen Strafregionen, die sich schon seit einigen Jahrhunderten angebahnt hatte (vgl. Le Goff 1990), veränderte den Kontext der Nachtodregionen und führte schon damals dazu, dass die Hölle nicht mehr das war, was sie einmal war: Ein unentrinnbarer Zustand des ohnmächtigen Strafleidens für die Masse der Mehrheit. Die kognitive und normative Differenzierung der Jenseitsregionen führte gewissermaßen zu einer ›organisationellen‹ Entlastung jenes postmortalen Betriebs des »grausenhaften und finstern Kerkers«, wo in – wohlgemerkt – »ewigem und unauslöschlichem Feuer die Seelen der Verdammten zugleich mit den unreinen Geistern gequält werden«. Zugleich steigerte diese theologische Innovation die Chancen, prämortal Heilsprämien einerseits zu erlangen und andererseits – über das kirchliche Personal – anzubieten. Dieser Schritt zur Steigerung postmortaler Inklusion war durch einflussreiche Theologen der Alten Kirche angestoßen worden, durch Papst Gregor der Große und auch aus der kirchlichen Frömmigkeitspraxis (Gebete und ›Seelenmessen‹) heraus forciert und schließlich fest in den alten, auch biblisch und außerbiblisch überlieferten Jenseitsdualismus aus ›Himmel und Hölle‹ hereingezogen, um sodann – unter Einfluss der hochmittelalterlichen Scholastik – nach einem Brief des Papstes Innozenz IV. (1254), anlässlich des Zweiten Konzils von Lyon (1274) sowie auf dem Konzil von Florenz (1439), und zwar gegen die griechische Teiltradition des Christentums – zum Glaubensartikel offizialisiert zu werden. Diese theologische Innovation zielte darauf ab, das diesseits unvollendet gebliebene persönliche Bußgeschehen durch Reinigungsstrafen im postmortalen Jenseits, abkürzbar über Messopfer, Gebete, Almosen und andere Werke der Frömmigkeit der noch lebenden Gläubigen, zum Abschluss bringen zu können, das heißt auch einer großen Zahl von Sündern – allerdings nicht den qua ungebeichteter Todsünde Verdammten – einen ›Bypass‹ zur himmlischen Seligkeit zu legen und somit Heilsgewissheit, zumindest -hoffnung zu erschließen.

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Weichenstellungen So hebt innerhalb der theoretischen und praktischen Eschatologie, also im heiligen Wissen wie in der religiösen Praxis der römisch-katholischen Kirche, verstärkt eine dialektische Entwicklung an, sich von der augustinischen Exklusionstheologie, wonach nur eine Minderheit des himmlischen Heils teilhaftig werde, während die Mehrheit die massa damnata bilde, abzulösen. Dieser relativ heilsoptimistisch getönte »Übergang von einem Gott des Zornes und der Plagen zu einem Gott der Liebe«, den Heinz Dieter Kittsteiner (1991: 203; vgl. auch 1992: 151ff.) als »eine der größten kulturhistorisch wichtigen Verschiebungen in der Entwicklung des europäischen Denkens« einschätzt, kam auch in Predigten und Katechismen der frühen und späten Neuzeit zur Entfaltung. Bereits die katholische Kontroverstheologie blieb bezüglich der Höllen-Lehre ziemlich zurückhaltend. Abgeschwächt und gedämpft wurde das Droh- und Strafpotenzial der Hölle, ohne es prinzipiell zu leugnen. In den Reihen der Jesuiten fanden sich die ersten katholischen Theologen (zum Beispiel Francisco de Suárez [1548-1619]), welche die Position vertraten, dass die Mehrzahl der erwachsenen Katholiken – über den ›Bypass des Fegefeuers‹ – des jenseitigen Heils teilhaftig werde – eine heilsökonomische Möglichkeit, die den Lutheranern und Calvinisten ja nicht zur Verfügung stand, da sie die temporale ›Hölle‹ des purgatorium ignis als »Gauckelwerk« ablehnten (vgl. Ebertz 2006a). Die »Hoffnung, alle Katholiken würden einmal den Himmel bevölkern, trägt zum Wiedererstarken der Kirche nach den Verlusten der Reformation bei« (Lang/McDannell 1990: 227f.). So lässt sich die theologische Innovation des Fegefeuers auch als eine Relativierung der Hölle zur Stabilisierung der religiösen Autoritäten im innerchristlichen Kampf »um das Monopol der legitimen Verfügung über die Heilsgüter« (Bourdieu 2000: 121) und Heilswahrheiten im religiösen Feld interpretieren, wurde doch weder von lutherischer noch calvinistischer Seite die Idee des Fegefeuers mitgetragen. Ein anderer Jesuit, Petrus Canisius (1521-1597), der von Köln bis Wien für die Rekatholisierung tätig war und die bis ins 19. Jahrhundert hinein in Deutschland und Frankreich einflussreichste Serie von Katechismen geschrieben hatte, sollte mit Maria, der himmlischen Mutter der Barmherzigkeit, allen Nachdruck auf die göttliche Güte im eschatologischen Gericht legen. Auch dieses marianische Instrument der Steigerung der Heilsinklusion stand den Protestanten nicht zur Verfügung. In Italien wurde in den vorherrschenden Katechismen des Jesuiten Roberto Bellarminos (1542-1621) ebenfalls »die Fegfeuerlehre unmäßig ausgebaut« und »die Ablasslehre breit entfaltet«, um »ein

Die ›wahre Hölle‹ – auch nicht mehr das, was sie war?

sieghaftes Erlösungsbewusstsein und ein unbeirrbares Frohgefühl katholischen Lebensgefühls« zu vermitteln (Schäfer 1984: 42). Schließlich konnte gezeigt werden, dass in den nachtridentinischen katholischen Katechismen bis ins 18. Jahrhundert hinein »die umfassende Weite der Eschatologie […] einer stark eudämonistisch geprägten und auf den Einzelnen zugeschnittenen Heilsverkündigung« gewichen ist; »das Interesse am Schicksal des Einzelnen beherrscht das Ganze«: ernst genommen werde die Eschatologie »nur auf das jeweils private Heil hin […] Die Gemeinde, die Gesamtheit der Christen und erst recht das Schicksal der Menschheit interessieren viel weniger als der Einzelne« (Moser 1963: 112ff). Mit der Offizialisierung der Fegefeuer-Lehre, an die »jeder gute römische Katholik zum Wohl seiner Priester glauben muss«, wie Paul Thiry d’Holbach 1768 höhnte (d’Holbach 1970: 361), wurde somit eine Weichenstellung vorgenommen, die, verknüpft mit der Ohrenbeichte, den Weg zu einer ›Entwirklichung‹ der Hölle beziehungsweise zu einem inklusionistischen Himmel für tendenziell alle – zunächst für alle Katholiken – bahnt, ohne das – auch von protestantischer Seite festgehaltenen – Dogma von der Ewigkeit der Hölle und seine Gewaltsymbolik aktiv ausblenden und emeritieren zu müssen. Der spannungsvolle – tröstende wie furchterregende – Glaube an das Fegefeuer stärkte nicht nur die Macht klerikaler Statusgruppen und das Erlösungsinteresse der Laien, sondern hatte erhebliche diesseitige Handlungs-, Strukturund Kulturfolgen. Er trug zur eschatologischen Solidaritätsgemeinschaft zwischen den Lebenden und den Toten (zum Beispiel durch Bruderschaften, Stiftungen und Testate), aber auch zu einer wachsenden Disziplinierung und Individualisierung bei, steigerte doch die Verkündigung des Fegefeuers über die »Dauerkatechetisierung des Kirchenvolks« (Wolfgang Brückner) das Interesse am religiösen Schicksal des Einzelnen. Der kirchlich entfachten Sorge um die Toten korrespondierte die wachsende (Heils-)Sorge um sich selbst. Die Geschichte des Stiftungswesens kann ohne den Glauben an das Fegefeuer nicht verstanden werden. Indem der Stifter testamentarisch sein Erbe für einen guten Zweck (zum Beispiel Armenspeisung) zukommen lässt und die Stiftungsadressaten zur Fürbitte als Gegenleistung für den Stifter (zum Beispiel am Todestag des Stifters) verpflichtet, sorgt er für sich wie für andere, schöpft und tauscht er ökonomisches, religiöses und soziales Kapital.

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Himmeln Doch wird der Niedergang dieses heiligen Tauschs wie andere Maßnahmen der Sicherung des Seelenheils in den testamentarischen Verfügungen in einigen europäischen Regionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts deutlich fassbar. Auch die Zahl der Fegefeuer-Gemälde in Kirchen, Kapellen und Beinhäusern, die seit dem 15. und 16. Jahrhundert stetig zunahm, erreicht im 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt, während ein »für das andächtige Weibervolk« konzipiertes Gebetbuch des Kapuzinerbruders Martin von Cochem (Guldener Himmels-Schlüssel zur Erlösung der lieben Seelen des Fegfeuers [1690ff.]) im 18. und 19. Jahrhundert über 300 Auflagen erlebt. Es waren somit bereits Zeiten angebrochen, in denen auch Katholiken, zumal des Bürgertums, die Heilswahrheiten weder der entrinnbaren ›Hölle‹ des Fegefeuers noch der unentrinnbaren ›wahren Hölle‹ aufnehmen wollen. Wie die Angehörigen des aufgeklärten Bürgertums in der wachsenden Sicherheit des Blitzableiters das Gewitter als himmlisches Feuerwerk bestaunen konnten, so haben sie auch die Höllenpredigten immer mehr als irdisches Schauspiel ästhetisch genossen (vgl. Groethuysen 1978: 103ff.). Im deutschsprachigen Raum waren Katholiken bis in die 1950er Jahre nicht nur Höllenpredigten oder Höllenkatechesen (wie der oben zitierten) ausgesetzt. Auch einschlägige theologische Traktate sparten dieses Droh- und Sanktionskonzept nicht aus. Man könne »gegen die Ewigkeit der Höllenstrafen nicht einwenden, sie sei sinnlos, weil sie den Bestraften nicht mehr zu bessern vermag«, formulierte etwa Michael Schmaus, um in seiner Katholischen Dogmatik an gleicher Stelle – mit antiorigenistischer Spitze und gegen die Übertragung der Idee einer Resozialisierungsstrafe auf postmortale Zustände – fortzufahren: »Der Sinn der Hölle ist nicht die Besserung, die Erziehung des Menschen, sondern die Verherrlichung Gottes, des Heiligen, des Barmherzigen, des Wahrhaftigen und Gerechten«. »Gott verurteilt zu Peinen und Qualen«, so Schmaus weiter, »damit so die Übertretung des Sittengesetzes gerächt werde. Diese Strafen sind nicht einfach die Auswirkung der Sünde, sie kommen vielmehr infolge des unergründlichen göttlichen Gerechtigkeitswillens von außen her hinzu. Gott wirkt […] auf den Verdammten nicht unmittelbar ein, sondern benützt hierbei geschaffene Dinge als seine Werkzeuge«. Zu diesen »zerstörenden Kräften der gegen ihn aufgebotenen Schöpfung«, zu den »geschöpflichen Medien, die Gott für die Bestrafung des Sünders verwendet«, sei »das Feuer« als »ein wirkliches Feuer« zu rechnen: »Wegen der Schmerzen, die es bereitet, ist es […] Sinnbild und Werkzeug

Die ›wahre Hölle‹ – auch nicht mehr das, was sie war?

seines Zornes und seines Gerichtes, seiner Strafen und seiner Prüfungen.« (Schmaus 1953: 207f.) Solche Texte symbolischer Gewalt, welche selbst wieder gewaltmetaphorisches heiliges Wissen kommentieren und noch einmal dicht die Semantik der spezifisch religiösen Metapher der Hölle zum Ausdruck bringen, werden auf diversen Kommunikationsebenen der römischkatholischen Kirche in den letzten Jahrzehnten gern ignoriert. Dabei wird das religiöse Wissen um die ›wahre Hölle‹ als religiöse Metapher überhaupt kupiert, während der kulturellen Metapher der Hölle immerhin noch die Gewaltmetaphorik verbleibt. Römisch-katholische Prediger schweigen schon seit Jahrzehnten die ›wahre Hölle« in ihren »Autoritätsdiskursen« (Bourdieu 1990: 79) aus und kuvrieren wie Diskreditierte oder Diskreditierbare im Sinne Goffmans (1980: 128ff.), dass sie bei der Modellierung des Jenseits noch bis in die 1950er Jahre hinein dem Auftrag des Catechismus Romanus Folge leisteten (vgl. Ebertz 2004). Auch »Unterlassen« gilt Soziologen seit Max Weber bekanntlich als soziales Handeln, dem unterschiedliche Handlungsorientierungen zu Grunde liegen können (vgl. Weber 1972: 1; vgl. Hahn 2014). Dieses spezielle Unterlassen der Höllenkommunikation erinnert an eine Szene aus einer frühen Kurzgeschichte (Taubenfedern) des vor zehn Jahren verstorbenen John Updike (Updike 1966: 221f; vgl. Löber 2010), in der ein Junge, David, auf die Frage nach dem Jenseits von einem Geistlichen die Antwort erhielt: »David, vielleicht könntest du dir den Himmel ungefähr so vorstellen, wie die guten Taten Abraham Lincolns nach seinem Tod weiterleben«. Unzufrieden und wütend über diese Antwort entgegnet David gegenüber seiner Mutter: »Genauso gut hätte er sagen können, es gibt überhaupt keinen Himmel«. Die findet nicht, »dass es dasselbe ist«, und fragt, wie sich David denn die Beschaffenheit des Himmels wünsche. Ihr Sohn antwortet: »Das weiß ich nicht. Ich will, dass er irgend etwas ist. Und ich habe gedacht, Reverend Dobson würde mir sagen, was er ist. Ich habe gedacht, das sei sein Beruf.« Während allerdings Updike den amerikanischen Pfarrer über den Himmel schweigen lässt, reden die deutschsprachigen Prediger immerhin über diese Jenseitsregion, während sie vor ›Hölle‹ und ›Fegefeuer‹ – den spezifisch religiösen Kulpalisierungs- und Sanktionsikonen – verstummen. Indem sie ›himmeln‹, verstümmeln sie gewissermaßen die Eschata um diese beiden ›grausenhaften Rezeptakula‹. Ihre kommunikative ›Beschneidung‹ zeitigt das Ergebnis, dass von dem ehedem gelehrten und differenzierten heiligen Wissen um die Nachtodregionen nur noch ein Rest zurückbleibt, der die bisherige Gesamtaussage, die bisherige ›Botschaft‹, strukturell verändert und damit ei-

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nen völlig anderen Sinn repräsentiert. Ihr Unterlassen durchschneidet damit auch den bisherigen Zusammenhang von Jenseitsstatus und moralischer Biographie der Verstorbenen, jedenfalls die traditionelle »Verknüpfung von diesseitiger Schuld und jenseitiger Qual«, die Alois Hahn im Höllenkonzept repräsentiert sieht (Hahn 1992: 145). Die Darstellungen des Jüngsten Gerichts über Kirchenportalen, in Glasfenstern und in Handschriften des Mittelalters, bis hin zu Michelangelos berühmtem Fresko in der Sixtinischen Kapelle werden dann als ähnlich anachronistisch emeritiert wie der Gerichtstopos der christlichen Glaubensbekenntnisse. Faktisch vollzieht sich ein Ikonoklasmus derer, welche die homiletische religiöse Arbeit leisten, aber auch vieler Kirchenlaien, auf deren Kollaboration und Einverständnis jene angewiesen sind, um ihren Autoritätsdiskurs zu führen (vgl. Bourdieu 1990: 79; vgl. Rohde-Dachser 1970: 88). Dieser homiletische Ikonoklasmus steht freilich nicht für eine generelle Bildfeindlichkeit, für eine Bevorzugung des Ohres vor dem Auge (vgl. Tyrell 2008), allerdings reißt er – als scheinbar partieller Ikonoklasmus – gewissermaßen die linke Seite der Szene des ›Weltgerichts‹ heraus und vernichtet damit das Gesamtgebilde.

Illegitimisierung symbolischer Gewalt und Paradigmenwechsel Wissenssoziologisch gesehen, ist das traditionelle eschatologische Sinnschema mit seinem exklusionistischen Strafkonzept und der ihm inhärenten Vergeltungs-, Exklusions- und Gewaltsymbolik höchst voraussetzungsvoll, und die Plausibilitätsstrukturen für seine Akzeptanz dürften im zivilisierten Wohlfahrtsstaat der Gegenwart immer weniger gegeben sein. Es hatte seine Plausibilitätsstruktur offensichtlich im Erfahrungsraum einer bestimmten Gewaltkultur der spätantiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Gesellschaft, in der körperliche Instrumentalgewalt im Erziehungskontext und ›autotelische Gewalt‹ im Kriminalkontext – von der Prügelstrafe bis zur Verbrennung und Vierteilung in öffentlichen Hinrichtungsszenen – als Selbstverständlichkeiten galten. Norbert Elias hat zum Beispiel gezeigt, dass in der mittelalterlichen Gesellschaft »die Grausamkeitsentladung […] nicht vom gesellschaftlichen Verkehr aus[schloss]. Sie war nicht gesellschaftlich verfemt. Die Freude am Quälen und Töten anderer war groß, es war eine gesellschaftlich erlaubte Freude« (Elias 1977: 268). Von einer solchen »autotelischen Gewalt« (Reemtsma 2008b: 14; vgl. Reemtsma 2008a) lässt sich dann sprechen, wenn die Verletzung, ja Zerstörung des Körpers des anderen

Die ›wahre Hölle‹ – auch nicht mehr das, was sie war?

selbst das Ziel ist und sich darin erschöpft. Sie ist in der heutigen modernen Gesellschaft »so erfolgreich geächtet, dass wir sie gar nicht mehr wahrnehmen können, und wo wir nicht umhinkommen, sie dennoch zu sehen, sie nur als pathologische Monstrosität« (Reemtsma 2008b: 14) definieren. Entscheidend dafür war, dass sie – wie auch die raptive und die instrumentelle Gewalt, die noch lange auch im Erziehungskontext von Familie, Heimen, Schulen und psychiatrischen Anstalten praktiziert wurde, – in tendenziell allen Handlungskontexten nicht zuletzt dadurch »unter einen besonderen Legitimationsdruck gestellt« (Reemtsma 2008b: 14), ja geächtet wurde, als es der Staat in einem langen Prozess der Zivilisation erfolgreich geschafft hat, die physische Gewalt zu monopolisieren und damit seine Mitbürger sozusagen zu entwaffnen, sie also auch gezwungen hat, ihre Konflikte gewaltfrei zu lösen. Gewalt wird – zumindest in der dominanten Kultur unserer Gesellschaft – nur noch für legitim erachtet, wo Gewalt vor schlimmerer Gewalt schützen soll (vgl. Ebertz 2018). Dies erklärt auch erheblich mit, weshalb die überlieferte und kirchlich offizialisierte eschatologische Ikone der ›wahren Hölle‹ nicht nur bei ihren Adressaten, sondern auch bei ihren theologischen Experten und den wohlinformierten Kirchenmitgliedern erhebliche kognitive Dissonanzen hervorrufen musste. Höllen- wie Fegefeuervorstellungen geraten bei den Zivilisationsmenschen und -priestern von heute, denen Gewaltausübung im Alltag als ebenso verpönt gilt wie Folter, Todes- und Körperstrafe als Maßnahmen des Staates, in den – bereits von d’Holbach formulierten – Verdacht der kognitiven Barbarei und werden als Ausdruck eines längst überwundenen gesellschaftlichen Zivilisationsstadiums betrachtet. Im eschatologischen Büro der konfessionellen Theologie ist deshalb seit den 1950er Jahre »mit Überstunden« »eine starke Tätigkeit im Gang« (Balthasar 1958: 403f.), denn der auf allen Ebenen des kirchlichen Kommunikationsgeschehens gelehrte christliche Terminalsinn gerät mit seiner erheblichen Gewalt- und Exklusionsmetaphorik in massivsten Widerspruch zum Erfahrungsraum des »wohl bedeutsamsten zivilisatorischen Fortschritts der Menschheitsgeschichte« (Reemtsma 2008b: 14), sofern er die physische Gewalt und symbolische Gewalt delegitimiert und dem Monopolisten physischer Gewalt in der Ausübung seiner »gewaltbewältigenden Gewalt« (Popitz 1986: 91) selbst enge Grenzen auferlegt. Gleichzeitig mit Michael Schmaus – also seit den 1950er Jahren und über das Erscheinungsdatum eines neuen, die überkommende Eschatologie tradierenden Weltkatechismus (vgl. Ecclesia Catholica 1993) hinweg – lässt sich innerhalb der katholischen Eschatologie der Einstieg in einen massiven ›Paradigmen-

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wechsel‹ beobachten, der gewissermaßen destruktive wie konstruktive Züge zeigt, aber auch neue Folgeprobleme mit sich führt. Beobachtbar ist, dass bei diesem Paradigmenwechsel »vom klassischen dogmatischen Traktat ›De novissimis‹ […] kaum ein Stein auf dem anderen geblieben ist« (Ruh 1979: 249) und die klassischen Topoi »allesamt fraglich geworden sind« (Vorwort 2010: 9). Angeblich habe sogar der derzeitige Papst, wie es aus ›wohl unterrichteten‹ Kreisen heißt, in einem Hintergrundgespräch mit dem bekennenden Atheisten Eugenio Scalfari ebenfalls die Hölle emeritiert. »Angesichts eines globalen Aufschreis der Erleichterung, aber auch der Entrüstung, dass der Stellvertreter Christi gewissermaßen die Hölle abgeschafft habe, sah sich der Vatikan« allerdings, so heißt es in der Presse, »zu einer Richtigstellung veranlasst« (FAZ 04.04.2018).

Neumodellierungen Was der Papst denn nun selbst bezüglich der Hölle denke, »teilte der Vatikan in seinem Dementi der Zitate Scalfaris […] nicht mit« (FAZ 04.04.2018). Er hätte auf den derzeit kirchenoffiziell gültigen Katholischen Weltkatechismus verweisen können, aus dem der Papst zwar die Legitimität der Todesstrafe, aber nicht die des Höllen-Topos getilgt hat (vgl. Seewald 2019), der einmal als das »härteste« aller christlichen Dogmen (Bloch 1959: 1330) bezeichnet wurde. Der kirchenoffizielle Weltkatechismus von 1993 bleibt am klassischen Schema des Catechismus Romanus der Gegenreformation orientiert, wenn auch die postmortale Sanktions- und Gewaltmetaphorik in Gestalt der sinnlichen Zusatzstrafen (poena sensus), wie sie noch bei Michael Schmaus zu lesen sind, leicht zurückgenommen, jedenfalls nicht entfaltet wird: »Die Lehre der Kirche sagt, dass es eine Hölle gibt und dass sie ewig dauert. Die Seelen derer, die im Stand der Todsünde sterben, kommen sogleich nach dem Tod in die Unterwelt, wo sie die Qualen der Hölle erleiden, ›das ewige Feuer‹. Die schlimmste Pein der Hölle besteht in der ewigen Trennung von Gott, in dem allein der Mensch das Leben und das Glück finden kann, für die er erschaffen worden ist und nach denen er sich sehnt« (Ecclesia Catholica 1993: 295; Herv. i.O.). Nur eine Minderheit katholischer Theologen hält unbeirrt an diesen in der Vergangenheit handlungspraktisch höchst wirksamen eschatologischen Überlieferungen fest (Modell 1). Andere bauen dessen Himmel-Hölle-

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Dualismus in ein ›monistisches‹ Modell um, gehen aber von der ›Hoffnung‹ – nicht vom ›Wissen‹ – aus, dass alle Geschöpfe, selbst der Teufel, einmal zu den Erlösten zählen werden. Das monistische Wissensmodell (Modell 2), das auf die Lehre der Anhänger des Origenes von der Apokatastasis panton (vgl. im Neuen Testament: Apg. 3,21; 1 Kor 15,25ff.; Phil 2, 5ff.), also der Allerlösung zurückgeht und im Verlauf der Christentumsgeschichte subversiv tradiert wurde, war kirchenoffiziell schon früh verworfen worden (vgl. Leppin 2011: 247) – später dann auch durch das ›Augsburger Bekenntnis‹ auf evangelischer Seite. Im Modell 3 erhält die origenistische Position somit ein hoffnungstheologisches Gewand (Motto: ›Lehre nein, Hoffnung ja‹) und wird heute von vielen, wenn nicht den meisten Theologen vertreten – übrigens auch von Gerhard Ludwig Müller, dem von Papst Franziskus abgesetzten Präfekten der römischen Glaubenskongregation: »Wer, wieviele und ob überhaupt Menschen bis in den Tod einen radikalen Widerstand gegen die Liebe durchgetragen haben, entzieht sich unserem Wissen nicht nur zufällig, sondern prinzipiell. Wir sollen aber hoffen [!] und beten, dass der allgemeine, sich auf jeden Menschen erstreckende Heilswille Gottes bei allen [!] zum Ziel [!] kommt. Es gibt vielleicht noch Liebe und angekommene Selbstmitteilung Gottes, wo man von Gott und Christus explizit nichts weiß […] Es gibt also in Christus nur einen einzigen [!] Ausgang der Geschichte, mag auch der Hinweis auf die reale Möglichkeit der ›Verfluchung hinein in das ewige Feuer, das dem Teufel und seinen Engeln bestimmt ist‹ (Mt 25,41), zunächst, von der literarischen Komponente her, einen doppelten Ausgang nahelegen. In Christus ist die Menschheit definitiv bei Gott angekommen als ihrem einzigen Ziel, mögen vielleicht auch einzelne im Widerspruch zu Gott verharren« (Müller 1995: 564f.; Herv. i.O.). Es lassen sich auch Vertreter eines Modells 4 ausmachen, die es definitiv ›offen‹ halten und sich nicht festlegen, ob sich am Ende wirklich alle mit allen – auch Opfer und Täter – miteinander versöhnen lassen: »Wie das Gericht über die Menschen ausgeht, ob es einen doppelten Ausgang hat, einzelne Menschen also für immer verloren gehen, oder ob am Ende alle bei Gott ihre Vollendung finden, können wir nicht wissen. Über die Hoffnung für alle, die eine letztlich unbegreifliche, für Gott aber nicht unmögliche Versöhnung von Tätern und Opfern voraussetzt, lässt sich nur sehr tastend mit großer Sensibilität sprechen, genauso wie über einen möglichen doppelten Ausgang des Gerichts« (Hoping 2012: 26).

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Für eine Minderheit von Theologen wird die Hölle zu einer Konsequenz des freiwilligen »dauerhaften Sich-Verweigerns des Sünders gegenüber der bedingungslos für ihn entschiedenen Liebe Gottes« (Stosch 2011: 114). Dieses Modell 5, das der menschlichen Freiheit sehr viel zutraut, vertritt etwa Edward Schillebeeckx, der seinerseits die monistische Vorstellung von der Apokatastasis oder Allversöhnung ablehnt (vgl. Schillebeeckx 1990: 177ff.). Statt von einer ewigen Verdammnis (in der Hölle) geht dieses Modell von der Möglichkeit eines endgültigen Aufhörens oder Erlöschens als ewig währendes, das heißt irreversibles postmortales Scheitern der menschlichen Existenz aus. »Ob es Menschen gibt, die das Böse wählen, weiß ich nicht«, sagt Schillebeeckx, »Aber auch wenn ich annehme, dass es solche Menschen gibt, die Hölle gibt es jedenfalls nicht. Es gibt kein Leben in der Hölle. Wenn es jemanden gibt, der fähig ist, in seinem Leben sich vollständig und definitiv von der Gemeinschaft mit dem Gott des Lebens zu trennen, so ist ihm die Vernichtung des eigenen Wesens bestimmt […] Das ist schrecklich. Gott hegt keine Rachegedanken. Für mich ist diese Koexistenz des ewigen Himmels für die Guten und der Hölle für die Bösen, die eine ewige Strafe erleiden, unvorstellbar« (Schillebeeckx 1994: 125; Herv. i.O.).

Etwaismen Mit solchen Konstruktionen sucht zwar die theologische Reflexionselite kognitive Dissonanzen zu lösen und überkommene postmortale Exklusionsformeln durch postmortale Inklusionsformeln auszubalancieren, auch um den gewandelten Plausibilitätsstrukturen der zivilisierten Gesellschaft Rechnung zu tragen. Sie gerät damit aber auch mit den dogmatisierten Heilswahrheiten der eigenen Tradition in Konflikt und löst neue kognitive Dissonanzen aus. Darüber zu schweigen, sie auszuschweigen, reduziert sie nicht, löst allenfalls einen »Etwaismus« aus, dessen »Credo lautet: ›Ich glaube zwar nicht an Gott, aber etwas über uns muss es geben‹« (Halik 2012: 94). Wenn Thomas Luckmann für die gesellschaftliche Gegenwart immer wieder das »Fehlen eines plausiblen und allgemein verpflichtenden sozialen Modells für die bleibenden, universalen menschlichen Transzendenzerfahrungen und für die Suche nach einem sinnvollen Leben« konstatiert hat (Luckmann 2002: 287; Herv.

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i.O.), dann gilt dies inzwischen auch für die Antworten auf zentrale existenzielle Fragen im religiösen Feld des Christentums, ja im jeweiligen konfessionsinternen Feld selbst. Eine Folge ist dann die von Winfried Gebhardt beobachtete »Selbstermächtigung des religiösen Subjekts« (Gebhardt 2010: 33), auch im Blick auf die ›Letzten Dinge‹. Nicht mehr zur Hölle scheinen wir verdammt zu sein, sondern zur religiösen Selbstbestimmung, zur religiösen »Autogestion« (Bourdieu 1992: 236) und Autoimagination. Während zahlreiche Theologen einen Ikonoklasmus der tradierten christlichen Heilswahrheiten betreiben, indem sie insbesondere die ›wahre Hölle‹ – sprich: dogmatisierte Hölle – ignorieren, leugnen, emeritieren, ja als Metaphorik quasiphysischer symbolischer Strafgewalt aus den ›Letzten Dingen‹ herausbrechen, verbleibt die Hölle im kulturellen Gedächtnis in säkularisierter, trivialisierter und häufig auch entkulpabilisierter Form als popularkulturelle Ikone des ohnmächtigen Leidens erhalten. Es lassen sich somit im kirchlichen wie auch im außerkirchlichen Kontext erhebliche semantische Verschiebungen dessen registrieren, was einmal als ›wahre Hölle‹ galt. Obwohl diese Verschiebungen in unterschiedliche Richtungen gehen, scheint ihnen eine Tendenz gemeinsam zu sein: die Ausklammerung der Schuldthematik, ja deren Tabuisierung. Da ist noch ›etwas‹ – aber sie ist auch nicht mehr das, was sie einmal war.

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Das Diesseits der Hölle

Krieg als Hölle Formen und Funktionen des Höllenbezugs in populärwissenschaftlichen Darstellungen kriegerischer Gewalt Nina Leonhard

Einleitung »War is hell« – dieser Ausspruch wird gemeinhin William T. Sherman, einem der bekanntesten Generale der Nordstaaten während des US-amerikanischen Bürgerkriegs, zugeschrieben.1 Sherman hatte 1864 beim Durchzug durch die Südstaaten namentlich in Georgia eine Strategie der »verbrannten Erde« angewandt und so maßgeblich zum Sieg der Unionisten beigetragen (vgl. Schmitt 2014). Ob Sherman tatsächlich der erste war, der den Krieg als »Hölle« bezeichnete, sei dahingestellt; entscheidend ist, dass dieser Ausdruck – mit und ohne Bezug zu Sherman – heutzutage einen Gemeinplatz darstellt, der nicht nur in fachwissenschaftlichen Abhandlungen (zum Beispiel Rotte 2019: 9) aufgegriffen wird, sondern auch und vor allem regelmäßig in der medialen Berichterstattung über Krieg Verwendung findet. Dies belegen Berichte über Die Hölle von Ost-Ghouta (Der Tagesspiegel vom 24.02.2018), Assads Hölle (ZEIT-online vom 16.02.2017), In der Hölle von Falludscha. Krieg gegen den IS im Irak (taz vom 16.06.2016), Die Hölle von Darfur: Kinder malen den Krieg (Hamburger Abendblatt vom 06.08.2007) oder Hölle Helmand (Der Spiegel vom 26.09.2006), um nur einige beliebige Beispiele zu nennen, die bei einer Internetsuche mit den Schlagwörtern ›Krieg‹ und ›Hölle‹ angezeigt

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»There is many a boy here today who looks on war as all glory, but, boys, it is all hell. You can bear this warning voice to generations yet to come. I look upon war with horror.« William T. Sherman: Speech, Grand Army of the Republic convention, Columbus, Ohio, 11. August 1880; zit.n. https://de.wikipedia.org/wiki/William_T._Sherman.

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werden. Möchte man beim Lesen solcher Headlines nicht bei der sachlich zutreffenden wie trivialen Erkenntnis stehenbleiben, dass der Krieg in Syrien, Irak, Sudan, Afghanistan et cetera aus Sicht der jeweiligen Berichterstattung etwas (ganz) Schlimmes darstellt und mit Schrecken und Qualen verbunden ist, rückt aus einer wissenssoziologischen Perspektive, die sich im Anschluss an Berger/Luckmann (2003) mit der Konstitution und Legitimation sozialer Wirklichkeit – hier: bezogen auf militärische Gewaltanwendung – anhand der hierfür in Anspruch genommenen Wissensbestände beschäftigt, die Frage in den Blick, was den Krieg eigentlich genau zur Hölle macht. Anders formuliert: Wann, das heißt in welchem Kontext wird die Hölle als Metapher zur Darstellung von Krieg gebraucht? Welche zentralen Merkmale kennzeichnet die Hölle des Krieges? Und wozu dient die diskursive Klassifikation kriegerischer Gewalt als ›höllisch‹? Um (erste) Antworten auf diese Fragen zu finden, wurde eine explorative Studie durchgeführt, deren Ergebnisse im Folgenden vorgestellt werden sollen.

Der Untersuchungsansatz: Wie studiert man die Hölle des Krieges? Wenn eine Metapher wie die Hölle des Krieges zu einem Gemeinplatz geworden ist, finden sich entsprechende Belegstellen für eine Analyse gewissermaßen überall. Um die Suche und damit die Auswahl entsprechender Beispiele nachvollziehbar zu machen und zugleich einzugrenzen, wurde mit den Begriffen ›Krieg‹ und ›Hölle‹ eine Schlagwortrecherche im elektronischen Katalog der Bibliothek und Fachinformationsstelle des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam durchgeführt, das die größte deutschsprachige Literatursammlung zum Thema Militärgeschichte beherbergt. Hierbei zeigte sich zum einen, dass die Höllensemantik für militärisch ausgetragene Konflikte in ganz unterschiedlichen Epochen und Ländern Anwendung findet, schwerpunktmäßig allerdings mit Bezug zu den ›großen‹ beziehungsweise bekannten Kriegen – wie den Dreißigjährigen Krieg, den Ersten und Zweiten Weltkrieg, die Kriege in Vietnam oder Bosnien – gebraucht wird; dabei stehen besonders markante Ereignisse und Schlachten beziehungsweise Orte – wie Verdun, Stalingrad, Hiroshima, Srebrenica – im Zentrum. Zum anderen wurde deutlich, dass die Hölle als Kriegsmetapher kaum bei fachwissenschaftlichen Abhandlungen zu Krieg,

Krieg als Hölle

Militär und Gewalt, sondern vornehmlich bei (auto)biographischen2 sowie populärwissenschaftlichen Erzeugnissen zu finden ist. Folgt man Matthias Junges Überlegungen zum sozialen Gebrauch der Metapher, ist daraus zu schließen, dass es sich hierbei in erster Linie um eine Form alltagspraktischen Wissens (und nicht um eine wissenschaftliche Wissensform) handelt (vgl. Junge 2010a: 7). Zu den zuletzt genannten populärwissenschaftlichen Erzeugnissen, die einen Höllenbezug im Titel aufweisen, sind neben Ausstellungskatalogen – etwa zum Ersten Weltkrieg (Haus der Geschichte Baden-Württemberg 2014) – auch Medienprodukte wie die Zeitschrift Clausewitz. Magazin für Militärgeschichte3 zu zählen, die in der generierten Trefferliste, die neben Büchern auch einzelne Aufsätze anzeigt, auffällig häufig vertreten war. Aus diesem Grund wurde diese Zeitschrift für eine detailliertere Analyse ausgewählt, genauer gesagt alle Beiträge, die seit Erscheinen des ersten Heftes im November 2010 bis einschließlich des letzten Heftes des Jahrgangs 2019 veröffentlicht wurden und im Titel einen semantischen Höllenbezug (›Hölle‹, ›Inferno‹, ›Apokalypse‹, ›Teufel‹) aufweisen. Insgesamt wurde so ein Korpus von 24 Beiträgen (siehe Anhang) generiert, das die Grundlage der Auswertung bildet.4 Die Textanalyse folgte einem qualitativ-inhaltsanalytischen Verfahren (vgl. Stamann et al. 2016), das mit einer Typenbildung (nach Kluge 2000) verbunden wurde: Auf eine erste thematisch ›offene‹ Kodierung folgte eine zweite Kodierung nach Kategorien, die aus der Forschungsliteratur zu Jenseitsvorstellungen sowie zur Gewaltsoziologie gewonnen wurden. Die identifizierten Deutungsmuster wurden danach auf zweifache Art zusammengefasst, indem zum einen eine Typologie des Erfahrungsraums der Kriegshölle konstruiert sowie zum anderen die Kriegshöllendarstellungen im Hinblick auf ihre funktionale Bedeutung kategorisiert wurde. Abschließend wurden die für das Textkorpus der Zeitschrift Clausewitz herausgearbeiteten

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Zum Zweiten Weltkrieg siehe etwa Pfötsch (2008) und Ruville (2008); zu Bosnien Suljagić (2009). Die Zeitschrift Clausewitz. Magazin für Militärgeschichte (https://clausewitz-magazin.de /) erscheint im GeraMond Verlag und ist ein sogenanntes ›Kioskheft‹, das erstmals im Jahr 2010 zunächst mit vier und seit 2012 mit sechs Ausgaben pro Jahr sowie mit jährlich einem Sonderheft erscheint. Alle Beiträge in der Zeitschrift Clausewitz sind reich bebildert. Grafiken, Fotos und andere Bildformate konnten jedoch im Rahmen der vorliegenden Analyse leider nicht berücksichtigt werden.

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Befunde an ausgewählten weiteren Texten überprüft und auf diese Weise (vorläufig) konsolidiert.

Die Hölle des Krieges im Spiegel der Zeitschrift Clausewitz. Magazin für Militärgeschichte Die Zeitschrift Clausewitz ist ein populärwissenschaftliches Magazin, das sich an ein militärhistorisch interessiertes und gebildetes männliches Publikum richtet.5 Neben Journalisten zählen auch Sachbuchautoren und Fachhistoriker zum (augenscheinlich ebenfalls rein männlichen) Autorenkreis. In den Heften werden militär- und kriegsgeschichtliche Ereignisse ebenso wie Entwicklungen auf dem Gebiet der Militär- und Kriegstechnik auf eingängige, gut lesbare Art und Weise dargestellt. Das hier analysierte Korpus an Texten zeichnet sich gegenüber den anderen Beiträgen der Zeitschrift dadurch aus, dass in den Beitragsüberschriften (Haupttitel oder Untertitel) der Bedeutungsraum ›Hölle‹ evoziert wird: Bei einem Teil der Beiträge wird die im Titel verwendete Höllen-Semantik im Text und/oder in weiteren Bildunterschriften aufgegriffen und in diesem Sinne präzisiert, etwa wenn vom »apokalyptischen Flieger« (Apokalypse Japan [Hiroshima 1945]: 52), von »infernalischem Sirenengeheul« (Startschuss zum Inferno [Westerplatte 1939]: 22) oder von »zermürbenden Märschen durch die ›Grüne Hölle‹ bei tropischem Klima und Malariaattacken« (In der grünen Hölle [Filmkritik Der schmale Grat]: 56) die Rede ist. Bei den anderen Beiträgen wird der Höllenbezug allein durch die Überschrift hergestellt und lässt sich in seiner Bedeutung nur indirekt aus dem Text erschließen. Folgt man an dieser Stelle nochmals Matthias Junge (2010b: 271), nach dem Metaphern »eine Struktur der Orientierung in den Raum möglicher Handlungen« liefert, zielt die Analyse des Textkorpus entsprechend darauf ab zu rekonstruieren, welche Deutungsstruktur durch die Metapher der Hölle im Raum der möglichen Lesarten der Beiträge etabliert wird. Hierfür werde ich zunächst erläutern, was für Phänomene im Textmaterial überhaupt thematisiert werden, bevor eine Präsentation typischer

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Nach Mediadaten-Angaben hat die Zeitschrift eine Auflage von 35.000 Exemplaren; die Leserschaft besteht nahezu ausschließlich aus Männern mit überdurchschnittlich hohem Bildungsabschluss in der Altersgruppe zwischen 40 und 60 Jahren (vgl. https:/ /de.wikipedia.org/wiki/Clausewitz_ %28Zeitschrift %29).

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Konstellationen erfolgt, die sich gemäß der Titelrahmung als ›höllisch‹ klassifizieren lassen. Abschließend werden die Funktionen des aufgerufenen Höllenbezugs diskutiert, die im untersuchten Textmaterial identifiziert werden konnten.

Der Gegenstand der Darstellung: organisierte Massengewalt mit Waffen Wie erläutert, handelt es sich bei der Zeitschrift Clausewitz um ein auf Militärgeschichte spezialisiertes Publikumsmagazin. Gegenstand der Militärgeschichte als Teildisziplin der Geschichtswissenschaft sind Krieg und Militär (Echternkamp 2013): Die Militärgeschichte untersucht die Voraussetzungen und Folgen militärischer Konflikte, die Verfasstheit von Streitkräften und ihre Entwicklungen sowie die Wechselwirkungen von Krieg und Militär und zivilgesellschaftlicher Umwelt im Verlauf der Zeit. Gewaltsoziologisch gefasst, beleuchtet die Zeitschrift Clausewitz, indem sie Themen und Befunde der Militärgeschichte für eine breitere, nicht primär fachwissenschaftliche Öffentlichkeit aufgreift und aufbereitet, organisierte Massengewalt mit Waffen in unterschiedlichen raumzeitlichen Konstellationen. Im Fall des hier ausgewählten Textkorpus kommt, wie ein erster thematischer Überblick zeigt, dabei all das zur Sprache, was Trutz von Trotha in seinem programmatischen Text von 1997 als »Tatsachen« der Gewalt (von Trotha 1997: 25) bestimmt hat: Gewalt, und damit auch organisierte Massengewalt, ist von Trotha zufolge zuerst und vor allem eine intensive körperlich-sinnliche Erfahrung (vgl. ebd.: 26ff.). In den Beiträgen der Zeitschrift Clausewitz wird diese Dimension ausführlich thematisiert: Immer wieder wird plastisch von der körperlich-sinnlichen Erfahrungswelt des Krieges, nämlich von Lärm und Gestank, aber auch von Müdigkeit und Erschöpfung berichtet, wie die folgenden Passagen aus zwei Texten über das Kriegsende 1945 veranschaulichen. »Über dem dicht bewaldeten Schlachtfeld südöstlich von Berlin liegt im Frühjahr 1945 ein seltsamer, furchtbarer Gestank – ein Gemisch aus stickigem Pulverdampf, verbranntem Menschenfleisch, verwesenden Tierkadavern und vielen weiteren morbiden Gerüchen. […] Maschinengewehre hämmern scheinbar ununterbrochen, heftiges Geschützfeuer donnert unablässig, überall explodieren Granaten.« (Apokalypse im April [Halbe 1945]: 24)    

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»[…] viele Soldaten [sind] nur noch ein Schatten ihrer selbst […], vollkommen abgekämpft sowie physisch wie psychisch erschöpft (…).« (Inferno im Osten [Ostpreußen 1944/45]: 23) Einen besonderen Stellenwert in den Schilderungen der körperlich-sinnlichen Dimension des Krieges nimmt die Erfahrung von großer Hitze (beziehungsweise von ›Feuer‹, ›Flammen‹, ›Glut‹) ein, auf die auch der verwendete Begriff ›Inferno‹ zumeist anspielt. Die Erfahrung sehr hoher Temperaturen bezieht sich teils auf die klimatischen Bedingungen vor Ort – zum Beispiel auf die »Gluthitze« beim Einsatz auf einer Mittelmeerinsel (Sprung in die Hölle [Kreta 1941]: 37) oder das tropische Klima im Pazifik (In der grünen Hölle [Filmkritik Der schmale Grat]: 56) –, teils auf die Wirkung der eingesetzten Waffen, auf deren ›Feuerkraft‹, die besonders eindrücklich im Fall des Beitrags über den Atombombenabwurf in Japan ausfällt: »Dann explodiert die Bombe in 580 Meter Höhe. […] Auf den Erdboden trifft der Feuerball immer noch mit etwa 6.000 Grad. Alle Menschen im Hypozentrum ›verdampfen‹ einfach. Noch in einem Kilometer Entfernung ist die Hitze so enorm, dass sie Granit zum Schmelzen bringt. Die asphaltierten Straßen fangen an zu brennen […]. Ein Feuersturm bricht aus.« (Apokalypse Japan [Hiroshima 1945]: 53) Zweitens beinhaltet Gewalt nach von Trotha (1997: 25f.) eigene Zeitstrukturen. In den Beiträgen der Zeitschrift Clausewitz wird diese zeitliche Dimension zum einen auf der individuellen Ebene als besonderes Bewusstsein zeitlicher Dauer thematisiert, wenn etwa im Rahmen eines Gefechtes die Zeit still zu stehen scheint und sich wenige Minuten wie Stunden anfühlen (so zum Beispiel im Beitrag Sprung in die Hölle [Kreta 1941]: 39). Zum anderen geht es um die zeitliche Koordination beziehungsweise Synchronisation der Handlungen verschiedener Akteure, die gelingen oder auch scheitern kann, wenn sich die konkreten Einsatzbedingungen (wie etwa das Wetter oder die Beschaffenheit des Geländes) vor Ort verändern oder der Gegner anders als erwartet (re)agiert. Schließlich dient die zeitlich ›getaktete‹ Darstellungsform bestimmter Schlachten als Stilmittel, um sowohl die Sequenzialität als auch Parallelität vergangener Geschehnisabläufe zu imitieren und so Spannung zu erzeugen.6

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Auch diese beiden Aspekte lassen sich exemplarisch am Beitrag über die Landung deutscher Fallschirmjäger auf Kreta während des Zweiten Weltkriegs veranschauli-

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Gewalt ›ist‹ drittens »Imagination« und wird durch diese zugleich beflügelt (von Trotha 1997: 32). Diese imaginative Dimension materialisiert sich in Gewalttechnologien wie Waffen und Ausrüstungsgegenständen, schlägt sich aber auch in Planung und Plänen von und für Gewalthandeln nieder. Im untersuchten Textkorpus wird entsprechend über Funktionsweise, Leistungsfähigkeit und Anwendungsmöglichkeiten militärischer Waffen und Gerätschaften erzählt, wie etwa ein Beitrag über den »Gabelschwanzteufel« (Der Gabelschwanzteufel [Flugzeug]), einen Abfangjäger US-amerikanischer Bauart, verdeutlicht. Darüber hinaus werden Kriegsstrategien und taktische militärische Vorgehensweisen sowie die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Umsetzung in der Praxis erläutert.7 Viertens stellt Gewalt eine »erinnerungsmächtige Wirklichkeit« (von Trotha 1997: 26) dar – wofür nicht zuletzt die Zeitschrift Clausewitz als Ort und Medium von beziehungsweise für kriegerische Gewalterinnerungen selbst steht. In den untersuchten Beiträgen wird dieser erinnerungsmächtigen Dimension von Gewalt in Form von Bild- sowie Filmrezensionen Rechnung getragen: Als Beispiele seien ein Beitrag über Otto Dix´ Triptychon Der Krieg (Brachialer Blick in die Hölle [Gemälde Otto Dix]) sowie die insgesamt fünf Filmbesprechungen des Textsamples genannt, in denen über die Darstellung, Deutung und Erzählweise von Kriegsereignissen und -erlebnissen reflektiert wird: Australiens Alamo (Filmkritik Gallipoli – An die Hölle verraten), Die durch die Hölle gehen (Filmkritik The Deer Hunter), Die grüne Hölle von Vietnam (Filmkritik Platoon), In der grünen Hölle (Filmkritik Der schmale Grat), Reise ins Herz der Finsternis ([Filmkritik Apokalypse Now). Last but not least erzeugt Gewalt »Faszination«, erschreckt und zieht zugleich an, da Gewalthandeln »die Grenzen des Alltäglichen« (von Trotha 1997: 32) überschreitet. Dies gilt speziell im Kontext des Krieges, wo es in der Diktion von Trothas um »absolute Gewalt« beziehungsweise »vollkommene Macht« (ebd.) geht, die sich am klarsten im Töten und Getötet-Werden (ebd.) und damit darin manifestiert, worauf organisierte Massengewalt mittels Waffen im Kern abzielt. Bezogen auf das hier untersuchte Textkorpus lässt sich diese fünfte Dimension der Außeralltäglichkeit besonders gut anhand der Darstellung der Truppe der Fallschirmjäger der Wehrmacht verdeutlichen, denen als

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chen, wo unter Nennung der jeweiligen Uhrzeit die Abfolge der einzelnen Angriffsund Verteidigungsschritte expliziert werden (vgl. ebd.). Neben dem Beitrag über Kreta zeigt sich dies besonders deutlich beim Beitrag Heikles Himmelfahrtskommando. Operation ›Chariot‹ – britische Commandos in Frankreich (1942).

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»Grüne Teufel« ein eigener Beitrag im untersuchten Sample gewidmet ist (Görings ›Grüne Teufel‹ [Fallschirmjäger 1936 bis 1945]), die aber auch in zwei weiteren Beiträgen (unter Nennung dieses Beinamens) vorkommen (Sprung in die Hölle [Kreta 1941]; Zwischen Himmel und Hölle [Monte Cassino 1944]).8 Als »Elitetruppe« stehen die Fallschirmjäger für besonders (lebens)gefährliche Einsätze (mit entsprechend hohen »Verlusten«, also toten Soldaten auf der eigenen Seite), die sowohl außergewöhnliche militärische Aktionsmöglichkeiten als auch – auf der individuellen Ebene – ein außergewöhnlich hohes Maß an Wagemut und Durchhaltevermögen, und damit in doppelter Hinsicht die Überschreitung ›normaler‹ Grenzen militärischen Handelns, repräsentieren. Anhand der Figur des Teufels, die übrigens von Fallschirmjäger(einheite)n bis in die Gegenwart zur Selbst- wie Fremdbeschreibung verwendet wird,9 lässt sich die Faszination militärischer Gewalt in ihrer Außeralltäglichkeit sowie insbesondere in ihrer Ambivalenz prägnant aufzeigen: An dieser Stelle verbindet sich zum einen die Vorstellung herausgehobener Kampftechnologie und militärischer Leistungsfähigkeit, die sich wie im Fall des erwähnten »Gabelschwanzteufels« mitunter in der Bezeichnung bestimmter Waffen beziehungsweise Gerätschaften niederschlägt,10 mit der Idee der (Selbst)Ermächtigung über (bestehende) zivilisatorische Regeln und Grenzen hinaus (vgl. Reemtsma 2015: 10f.). Letzteres geht namentlich auch aus den beiden anderen Beiträgen mit Teufelsbezug hervor, in denen Richard Sorge als »Agent« sowie 8

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Der Begriff »Grüner Teufel« geht vermutlich auf die grünliche Farbe des Overalls – auch (in Antizipation des potenziell anstehenden Todes?) als »Knochensack« bezeichnet – und damit auf das Bekleidungsstück zurück, das die Fallschirmjäger damals trugen. Er wurde in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit durch den Film Die Grünen Teufel von Monte Cassino (1958) popularisiert und weiterverbreitet. (Mein Dank gilt an dieser Stelle meinem Kollegen Wolfgang Schmidt, der mich auf diese und weitere Aspekte im Kontext der Semantik ›Grüne Teufel‹ aufmerksam gemacht hat.) Siehe etwa das inoffizielle Verbandabzeichen – eine stilisierte rote Teufelsfigur mit der Inschrift Wie Pech und Schwefel – des 2015 aufgelösten Fallschirmjägerbataillon 261 der Bundeswehr: https://de.wikipedia.org/wiki/Fallschirmj %C3 %A4gerbataillon_261. Die Farbe Rot steht für das bordeauxfarbige Barett der Angehörigen der Fallschirmjägertruppe, die sich deswegen – in Analogie zu den »Grünen Teufeln« der Wehrmacht – auch »Rote Teufel« nennen. Die Vorstellung, dass Waffen sowohl mächtige als auch zweischneidige Werkzeuge des Teufels sind, findet sich bereits in Zeugnissen aus dem Dreißigjährigen Krieg (vgl. Wagner-Roos/Barth 2003: 123). Mit der Erfindung von Schießpulver und Kanonen wird Kriegstechnologie übrigens auch zum Bestandteil von Höllendarstellungen in der bildenden Kunst, erstmals bei Hieronymus Bosch (vgl. Berns 2007: 167ff.).

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Generaloberst Franz Halder als »Berater« des »Teufels« Stalin beziehungsweise Hitler porträtiert werden (vgl. Des Teufels Agent [Richard Sorge] sowie Des Teufels Berater [Franz Halder]). Die Ambivalenz kriegerischer Gewalt, die der Teufel – dank Goethes Faust hierzulande auch sprichwörtlich – personifiziert, verweist zum anderen auf den Umstand, den Alois Hahn (1996 sowie in diesem Band) in seiner Kultursoziologie von Jenseitsvorstellungen herausgearbeitet hat: dass Höllenvorstellungen zwar vordergründig mit Qualen (und Quälgeistern) zu tun haben, die Hölle selbst aber letztlich als ein imaginärer Ort des Bewertens, Richtens und Strafens zu verstehen ist, der im Zuge gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse entstand beziehungsweise diese widerspiegelt (ebd.: 179). Überträgt man die Idee der Hölle als Ort des Bewertens, Richtens und Strafens auf den hier betrachteten Fall, ist im Weiteren nach der normativen Rahmung zu fragen, die den Beiträgen explizit oder implizit hinterlegt ist. Bevor diese anhand der funktionalen Bedeutung des Höllenbezugs (Abschnitt 3.3) behandelt wird, gilt es allerdings die im Textkorpus beschriebenen Qualen und damit den Erfahrungsraum der Hölle im engeren Sinne zu beleuchten.

Die Kriegshölle als differenzierter Erfahrungsraum: eine Typologie Die soeben im Anschluss an von Trotha rekapitulierten »Tatsachen« organisierter Massengewalt mit Waffen, die in den betrachteten Beiträgen der Zeitschrift Clausewitz thematisiert werden, werden durch den Gebrauch einer spezifischen Semantik in den Überschriften, zum Teil auch im Text als ›höllisch‹ beziehungsweise ›teuflisch‹ klassifiziert. Versteht man die gewählte Höllenklassifikation nicht nur als eine stilistische Möglichkeit, die Intensität der beschriebenen Erfahrungen zu unterstreichen – sodass »infernalischer Lärm« für ein besonders lautes Geräusch, ›höllische‹ Hitze für besonders große Wärme et cetera steht –, gilt es die Merkmale dieser spezifischen Klassifikation und die dadurch hergestellten Sinnbezüge zu explizieren. In Anlehnung an die von Luhmann (1984: 111ff.) vorgeschlagenen Sinndimensionen lassen sich die zentralen Erfahrungen, die im Textkorpus behandelt werden, folgendermaßen präzisieren: In sachlicher Hinsicht geht es um die Erfahrung von Unordnung verstanden als Verlust an Orientierung in örtlich lokalisierbarer oder übertragener Hinsicht (Auflösung der Schlachtordnung oder Verlust der Sicht im Gelände sowie Nichtbeachtung der Kriegsregeln und/oder allgemeiner Werte und Normen), in sozialer Hinsicht um die Erfahrung von Unsicherheit, verstanden als Gefahr für das Überleben des Einzelnen

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oder der Gruppe beziehungsweise Gesellschaft sowie in temporaler Hinsicht um die Dauer als Zeithorizont der Gewalterfahrung, die temporär oder potenziell unendlich sein kann. Abbildung 1: Merkmalsraum der Typologie »Erfahrungsraum Kriegshölle« Dimension

Merkmal

Beschreibung

sachlich: Unordnung

Orientierungsverlust

situativ oder (potenziell) überall?

sozial: Unsicherheit

(Über)Lebensgefahr

individuelles (Über)Leben oder Sozialität als solche?

temporal: Dauer

Zeithorizont der Erfahrung

temporär oder (potenziell) unendlich?

Anhand dieser Kategorien lassen sich die im Textkorpus thematisierten Beispiele organisierter Massengewalt in folgender Weise zusammenfassen: Abbildung 2: Typologie »Erfahrungsraum Kriegshölle« situativ

(potenziell) überall

individuell

Gefecht

Kriegstrauma

kollektiv

Schlacht

Bürgerkrieg

temporär

(potenziell) unendlich

Beim Erfahrungsraum des Gefechts geht es um die Angst und das Leid in der direkten Kampfphase aus Sicht der beteiligten Akteure: der einzelnen Soldaten, die einen Angriff durchführen oder sich gegen Angriffe verteidigen, oder (vereinzelt:) von Angehörigen der Zivilbevölkerung, die etwa zwischen die Fronten geraten und sich vor Bomben, Granaten oder Gewehrkugeln, aber auch vor Angriffen heranrückender gegnerischer Soldaten zu schützen suchen. Diese Art der Hölle, die örtlich wie zeitlich begrenzt ist, endet nach Einstellung der Kampfeshandlungen mit dem Überleben oder dem Tod der Beteiligten – wobei darauf hinzuweisen ist, dass zumindest im militärischen Kontext das Überleben der soldatischen Kampfgruppe oder Einheit insgesamt wichtiger ist als das Überleben jedes einzelnen Soldaten. Die Kriegshölle des Gefechts lässt sich folglich als ein Durchgangsstadium begreifen – als Fegefeuer, um im Bild zu bleiben –, das Schrecken, Mühe und Pein beinhaltet, aber irgendwann auch wieder endet. Als Illustration dieses Typus der Kriegshölle

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lässt sich der bereits erwähnte Beitrag »Sprung in die Hölle« (Kreta 1941) über die Landung von Wehrmachtstruppen auf Kreta anführen, wo die deutschen Soldaten in schwere Kämpfe »verwickelt« werden: »[U]nter schmerzhaften eigenen Ausfällen« muss den gegnerischen britischen Soldaten »jeder Meter Boden abgerungen werden« (ebd.: 38), bis schließlich der »mit hohen Verlusten teuer erkaufte Sieg« (ebd.: 39) erreicht ist und diese ›Hölle‹ des Gefechts zumindest für die überlebenden, und wie man im Beitrag erfährt, nachträglich militärisch ausgezeichneten deutschen Soldaten vorbei ist. Auf die bei den Kämpfen gefallenen Soldaten verweist immerhin das Foto einer lokalen deutschen Kriegsgräberstätte; die Toten (ob Soldaten oder Zivilisten) spielen bei der Thematisierung dieses Typs von Kriegshölle sonst keine weitere Rolle. Eine ähnliche Konstellation zeigt sich beim höllischen Erfahrungsraum der Schlacht, hier verstanden als militärisches Kräftemessen zwischen zwei Konfliktparteien, das mit dem Sieg der einen und der Niederlage der anderen Seite endet. Anstelle der individuellen Erfahrungsperspektive stehen hier Kriegs- beziehungsweise Einsatzstrategien, Planungsgeschick sowie Erfolg und Scheitern der militärischen Führer im Vordergrund. Wie beim Gefecht endet die Kriegshölle der Schlacht beziehungsweise ihre Darstellung in der Regel mit dem Ende der Kampfhandlungen – von einer Ausnahme abgesehen: Im Beitrag Die Hölle von Halbe (April 1945) über die Kämpfe kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs vor Berlin wird durch den Hinweis auf die anschließende Gefangennahme deutscher Soldaten durch sowjetische Truppen das Thema Kriegsgefangenschaft als Verlängerung von Qual und Leid oder, wenn man so will, als andere Form des Fegefeuers zumindest impliziert: »Wer nicht den Soldatentod stirbt, gerät in sowjetische Gefangenschaft […]« (ebd.: 23). In dieser Darstellung führt also nur der Tod zum individuellen ›Ausweg‹ aus der Hölle, womit die religiös überlieferte Reihenfolge – auf den Tod folgt die Hölle – gleichsam umgekehrt wird; bei den Schilderungen anderer Schlachten des Zweiten Weltkriegs reicht hingegen das Überleben der Kampfhandlungen, um der Kriegshölle zu entkommen.11 Während das Gefecht und die Schlacht zwei Arten einer räumlich begrenzten, prinzipiell endlichen Kriegshölle repräsentieren, kommen im Datenmaterial noch zwei weitere höllische Erfahrungsräume zur Sprache, die potenziell überall und zugleich unendlich sind. Beim Kriegstrauma steht wie beim Gefecht 11

Vgl. etwa Startschuss zum Inferno (Westerplatte 1939); Das Inferno von Oran (Juli 1940); Heikles Himmelfahrtskommando. Operation »Chariot« – britische Commandos in Frankreich (1942) oder auch Zwischen Himmel und Hölle (Monte Cassino 1944).

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die individuelle Perspektive des Erleidens im Mittelpunkt. Dieses endet jedoch nicht mit dem Überleben der Gefahren des Kriegseinsatzes, sondern dauert auch nach der Rückkehr nach Hause an. Dass diese Form der Kriegshölle im untersuchten Textkorpus ausschließlich mit dem Vietnam-Krieg in Verbindung gebracht wird, mag wenig erstaunen: Was heutzutage als Posttraumatische Belastungsstörung firmiert, wurde schließlich erst infolge des Vietnam-Kriegs offiziell als ›Krankheit‹ anerkannt (vgl. Shay 1998) und nicht zuletzt durch die Entstehung des Vietnamfilms als eigenes (Kriegs)Filmgenre (vgl. Weigel-Klinck 1996: 21-26; zit.n. Heinecke 2002: 109) (pop)kulturell verankert. Auffällig ist gleichwohl, dass das Phänomen des Kriegstraumas – das historisch schon lange vor den Erfahrungen der US-Truppen in Vietnam verbürgt ist (siehe etwa die Beiträge in Quinkert/Rauh/Winkler 2010) – hier ausschließlich im Kontext von Spielfilmbesprechungen, insbesondere bei Die durch die Hölle gehen (Filmkritik The Deer Hunter) sowie In der grünen Hölle (Filmkritik Der schmale Grat), und damit gewissermaßen als Beobachtung dritter Ordnung thematisiert wird. Weitaus persönlicher als bei der Darstellung individuellen Leidens im Kontext des Erfahrungsraums Gefecht kommt in den Filmbeiträgen eine Kriegshölle zur Sprache, deren Qualen nicht nur im wiederholten Erleben der Schrecken vergangener Gewaltereignisse und damit in ihrer potenziellen Unendlichkeit begründet liegt, sondern auch in der Vereinzelung, die damit einhergeht. Es handelt sich demnach um eine in höchstem Maße individualisierte Kriegshölle, die vom Einzelnen aus betrachtet Sozialität – verstanden als durch Reziprozität und Solidarität gekennzeichnete Interaktion mit anderen – über das vergangene Gewaltgeschehen hinaus unterminiert oder sogar dauerhaft unterbindet, und zwar prinzipiell überall, also unabhängig von dem oder den Ort(en) vergangener Gewalterfahrungen. Das kollektive Pendant zu dieser räumlich entgrenzten und potenziell ewigen Hölle des Kriegstraumas auf der individuellen Ebene ist der Bürgerkrieg als vierter und letzter Typus der im Textkorpus thematisieren Kriegshöllen. Exemplarisch sei hierfür der Beitrag Hölle am Horn von Afrika ([Bürger-]Krieg Somalia) angeführt, in dem die Geschichte Somalias seit Erhalt der Unabhängigkeit des Landes 1960 über den Beginn des Bürgerkriegs 1991 hinaus bis zur militärischen EU-Mission Atalanta im Golf von Aden geschildert wird, an der auch die Bundeswehr beteiligt ist. Geschildert wird ein Land, in dem »Dauerkrieg, Dürre und Diktatur« (ebd.: 48) an der Tagesordnung waren beziehungsweise sind. Politische, ökonomische und soziale Unordnung wie Unsicherheit herrschen überall vor und beeinträchtigen nicht nur das (Über)Leben des Ein-

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zelnen, sondern das soziale Zusammenleben insgesamt. Der Bürgerkrieg, als dauerhafter, (potenziell) überall vorherrschender Gewaltzustand ohne klare Fronten (und Regeln) verstanden, stellt im Rahmen der generierten Typologie den (negativen) Gegenpol zur räumlich lokalisierbaren Kriegshölle der Schlacht mit ihrem klaren Ende durch Sieg oder Niederlage dar. Weitere Beispiele für diesen Typus der Kriegshölle sind im untersuchten Datenmaterial bei Beiträgen über den Dreißigjährigen Krieg zu finden (so zum Beispiel in Sturz in die Hölle [Dreißigjähriger Krieg]). Angesichts des vor(national)staatlichen Kontextes geht es dort zwar nicht um kriegerische Auseinandersetzungen innerhalb eines Staatsgebiets und damit um Bürgerkrieg im eigentlichen Sinne, aber ebenfalls um die Auflösung öffentlicher Ordnung und kontinuierliche Gefahr für die Zivilbevölkerung, deren allgemeine Lebensgrundlagen durch marodierende Soldaten und verwüstete Landschaften über einen langen Zeitraum stark beeinträchtig werden (so vor allem dargestellt in Nach der Hölle [Westfälischer Friede 1648]: 93ff.). Diese vier Erfahrungstypen der Kriegshölle, die im untersuchten Beitragssample identifiziert wurden, lassen bereits eine gewisse normative Rahmung erkennen: Das Gefecht und die Schlacht stehen für kriegerische Erfahrungsräume, die ihre Schrecken, aber auch ihre Höhepunkte (als militärische Hochleistungen verstanden) aufweisen und deswegen negativ wie positiv konnotiert sind. Der Fokus liegt auf den strapaziösen Herausforderungen der militärischen Konfrontation und dem Aushalten beziehungsweise der Überwindung der damit verbundenen qualvollen Anstrengungen. Der Tod von Soldaten wird dabei als ›schmerzhafter Verlust‹ präsentiert und ist so gesehen ›unerwünscht‹, wird aber als ›notwendiges Übel‹ in Kauf genommen beziehungsweise akzeptiert. Bei den Erfahrungsräumen, die das Kriegstrauma und der Bürgerkrieg jeweils repräsentieren, fehlt hingegen ein vergleichbares positives Element. Das liegt nicht nur an der fehlenden ›Exit-Option‹, die bei den als lokal situierte, temporäre Erfahrungsräume konstruierten ersten beiden Typen Gefecht und Schlacht durch Sieg beziehungsweise Niederlage gegeben ist. Beim Kriegstrauma wie beim Bürgerkrieg gibt es praktisch keinen individuellen oder kollektiven Handlungsspielraum und damit keine Möglichkeit, den Verlauf der Geschehnisse zumindest ein Stück weit zu beeinflussen. Es handelt sich um sowohl durch Leid als auch durch Passivität (oder Ohnmacht) gekennzeichnete Erfahrungsräume, während diese im Fall des Gefechts wie der Schlacht durch Aktivität unter Qualen gestaltbar bleiben. Im Rekurs auf die politischen Kategorien des Opfers (Münkler/Fischer 2000) ließe sich auch sagen, dass im letzteren Fall die

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Kriegshölle als ein sakrifizieller Erfahrungsraum entworfen wird, während ersterer ›nur‹ Opferschaft im Sinne von victima beinhaltet. Die Kategorie des Opfers (mit beiden Bedeutungsdimensionen) und die damit verknüpfte Sinnfrage führt schließlich zu Alois Hahns (1996) Definition der Hölle als imaginären Ort des Bewertens, Richtens und Strafens zurück. Diese soll im Folgenden als Frage nach der Funktion der semantischen Evokation und Klassifikation der geschilderten Erfahrungen als Kriegshölle (und nicht lediglich als Krieg) aufgegriffen und diskutiert werden.

Die Funktionen der Hölle als Kriegsmetapher: Konstitution eines militärischen Geschichtsbewusstseins Im Editorial von Heft 2 des Jahrgangs 2012 der Zeitschrift Clausewitz, in dem sich auch der schon mehrfach erwähnte Beitrag zur Landung deutscher Truppen auf Kreta befindet, wird das Titelthema des Heftes, der DeutschFranzösische Krieg von 1870/71, durch Verweis auf die kurz zuvor stattgefundene 50-Jahr-Feier der deutsch-französischen »Versöhnungsmesse« von 1962 in Reims eingeführt – als Erinnerung an den glücklichen Endpunkt einer jahrzehntelangen Feindschaft der beiden Länder, dessen militärische Seite im Heft selbst in drei Beiträgen beleuchtet wird. Diese editorische Rahmung steht in keinem Zusammenhang zu dem hier interessierenden Höllenbezug. Sie ist indes insofern aufschlussreich, als hier en passant ein zentrales Funktionsmerkmal der Zeitschrift als solcher expliziert wird: Unter Rückgriff auf eine zentrale Kategorie der bundesdeutschen Geschichtsdidaktik (klassisch: Jeismann 1985) lässt sich die Darstellung und Vermittlung militärhistorischer Kenntnisse in der Zeitschrift Clausewitz als Versuch deuten, ein ›militärisches‹ Geschichtsbewusstsein zu schaffen beziehungsweise zu bewahren, indem zwischen vergangenheitsbezogenem Wissen über Formen und Praktiken organisierter Massengewalt in unterschiedlichen raumzeitlichen Kontexten und den Bedingungen der Gegenwart und Zukunft eine Verbindung hergestellt wird. Der Rückgriff auf die Semantik der Hölle bei bestimmten – und hier ausschließlich in Betracht gezogenen – Beiträgen erscheint sodann als eine Kodierung, die mit einer bestimmten ›Botschaft‹ verknüpft ist. Blickt man aus dieser Perspektive auf die im Textkorpus enthaltenen Berichte und Geschichten über vergangene Kriegsereignisse und -erfahrungen, lassen sich vier verschiedene Funktionen des Höllenbezugs unterscheiden, die der Leserschaft unterschiedliche – positiv wie negativ konnotierte – Botschaften vermitteln.

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Vorbilder geben und herausstellen Bei einer ersten Gruppe von Texten beziehungsweise Textstellen geht es darum, positives militärisches Handeln oder Verhalten darzustellen und als vorbildhaft zu vermitteln. Am deutlichsten zeigt sich dies in einem der Texte über die »Grünen Teufel«. »Taktik und Kampfgeist der auch als ›Grüne Teufel‹ bezeichneten Fallschirmjäger im Zweiten Weltkrieg nötigen auch dem Gegner großen Respekt ab. Die militärischen Leistungen und Einsatzmöglichkeiten der Luftlandesoldaten auf deutscher, aber auch auf alliierter Seite sind damals vielfach beispielhaft für die Zukunft. So unterhält bis heute jede größere militärische Macht Fallschirmtruppen als Elite ihrer Kampfeinheiten.« (Görings »Grüne Teufel« [Fallschirmjäger 1936 bis 1945]: 78) Der Teufel in Gestalt der Fallschirmjäger kommt hier (ausschließlich) in seiner positiven Seite zum Ausdruck und fungiert als Träger einer bis heute »beispielhaften« militärischen Kompetenz. Als anderes Beispiel mit vergleichbarer Konnotation sei der Beitrag über das »heikle Himmelfahrtskommando« einer britischen Spezialeinheit in Frankreich aus dem Jahr 1942 genannt (vgl. Clausewitz 2 2019): Der Text präsentiert dies als ein besonders »riskantes«, »tollkühnes« (ebd.: 38) Unternehmen, das am Ende erfolgreich realisiert werden konnte. Im Fokus steht die Gefährlichkeit und Schwierigkeit des Auftrags und die Art und Weise, wie dieser von den – in diesem Fall: britischen – Soldaten und ihren Kommandeuren gemeistert wurde: als Vor- und Sinnbild für militärische Expertise und soldatische Tugenden wie Mut, Entschlossenheit und Durchhaltevermögen, die – so lässt sich schließen – bis heute Bestand haben. Die Evokation des Höllenbezugs weicht hier sehr deutlich vom ursprünglichen religiösen Bedeutungsgehalt ab: Aus der Hölle als Ort individueller Bestrafung wird ein Ort individueller wie kollektiver Bewährung, dessen Besonderheit allerdings wie beim religiösen Original in der schrecklichen Außeralltäglichkeit der dort anzutreffenden Herausforderungen liegt. Sich dieser schrecklichen Außeralltäglichkeit – nämlich: kriegerischen Gewalt – zu stellen beziehungsweise gestellt zu haben, begründet wiederum das heroische Element, das für gesellschaftliche Kriegsdiskurse (vgl. Spreen 2008; Münkler 2012) zentral ist und bei der Verwendung der Höllenmetapher in diesem Kontext mitschwingt.

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Problematisieren und kritisieren In anderen Texten wird dagegen eine bestimmte militärische Vorgehensweise oder eine ganze Kriegsstrategie als fehlerhaft, unzureichend oder gar verantwortungslos präsentiert. Exemplarisch hierfür sei ein Beitrag über die Kämpfe um den Berg Monte Cassino in Italien 1944 genannt (Zwischen Himmel und Hölle [Monte Cassino 1944]), bei dem zwar auch der Einsatz der bei den Alliierten »aufgrund ihrer Erfahrung und ihrer Entschlossenheit besonders gefürchteten« (ebd.: 14) deutschen Fallschirmjäger in anerkennender Weise Erwähnung findet. In seiner Quintessenz hebt der Text allerdings auf die »mangelnde General- und Eventualplanung der alliierten Befehlshaber und Stäbe im Italienfeldzug« (ebd.: 23) ab, die den alliierten Angreifern und den deutschen Verteidigern ein »viermonatiges Inferno« (ebd.: 11) in Gestalt eines Stellungskriegs mit rund 50.000 Toten auf alliierter Seite und rund 20.000 Toten auf Seiten der Deutschen beschert habe. Der Höllenbezug dient in diesem Fall also dazu, die negativen Seiten der (hier: alliierten) Kriegsführung zu unterstreichen und unter militärischen Gesichtspunkten zu kritisieren, wobei die ursprüngliche Bedeutung der Hölle als Ort der Strafe – hier: für fehlerhaftes militärisches Handeln – latent mitgeführt wird. Dies zeigt sich auch in anderen Texten, wie etwa im Beitrag über einen Angriff der Royal Navy auf die französische Flotte vor der algerischen Küste 1940 (Das Inferno von Oran [Juli 1940]), wo das britische Vorgehen, das rund 1.200 französischen Soldaten das Leben kostete, aufgrund des »hohen Blutzolls« (ebd.: 49) als zumindest skrupellos problematisiert wird. Schließlich kommt auch und vor allem in den Filmbesprechungen Kritik am politischen Auftrag für die Streitkräfte sowie an dessen Umsetzung durch die militärische Führung vor Ort zum Ausdruck (insbesondere bei Australiens Alamo [Filmkritik Gallipoli – An die Hölle verraten] sowie Die durch die Hölle gehen [Filmkritik The Deer Hunter]).

Abschrecken und (be)lehren Eine dritte Funktion der Inanspruchnahme der Höllensemantik lässt sich in den Texten beziehungsweise Textstellen erkennen, in denen die schädlichen Begleiterscheinungen beziehungsweise Auswirkungen kriegerischer Gewalt dargestellt werden. Die religiöse Vorstellung von der Hölle als Bedrohungseinrichtung tritt in diesem Fall am deutlichsten zutage. Dies betrifft zum einen Beschreibungen der Zerstörungskraft bestimmter Kriegs(waffen)technologien auf Menschen und/oder Umwelt, die zu ›höllischem‹ Leid und ›apokalyptischen‹ Zuständen führt (aber semantisch klar von der ›teuflischen‹

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Schlagkraft einer Elitetruppe wie den Fallschirmjägern zu unterscheiden ist, die – wie gezeigt – durchaus positiv konnotiert ist). Als ein drastisches Beispiel für die abschreckende Funktion der Höllensemantik sei ein kurzer Ausschnitt aus der mit Die Hölle von Hiroshima überschriebene Passage aus dem Beitrag Apokalypse Japan (Hiroshima 1945) wiedergegeben: »Gleichzeitig braust eine gewaltige Druckwelle mit 1.500 Stundenkilometern über die Stadt hinweg, zerstört 70.000 der 76.000 Häuser, saugt den Menschen die Augen aus dem Schädel oder zerreißt sie förmlich.« (Ebd.: 53) Zum anderen geht es um abschreckende Schilderungen darüber, wie die Anwendung von Gewalt zur Zerstörung von Sozialität und damit eines auf Regeln und Normen beziehungsweise ›zivilisatorischen‹ Grundsätzen basierenden sozialen Umgangs miteinander, bei der die eigene Würde wie die des anderen gewahrt bleibt, führt. In Ansätzen findet sich dies bei den Beiträgen zum Dreißigjährigen Krieg (vgl. Blutige Apokalypse [Magdeburg 1631]; Nach der Hölle [Westfälischer Friede 1648]). Explizit ausbuchstabiert wird diese Dimension allerdings nur im Rahmen der Filmbesprechungen, namentlich der Filme über Vietnam: Die durch die Hölle gehen (Filmkritik The Deer Hunter) und Die grüne Hölle von Vietnam (Filmkritik Platoon), aber auch In der grünen Hölle (Filmkritik Der schmale Grat). Als Sinnbild der Hölle, die im Zuge des Krieges entsteht, gilt der Wahnsinn beziehungsweise das Wahnsinnigwerden des Einzelnen,12 in dem sich die Verkehrung der Welt widerspiegelt, für die der Krieg seit Grimmelshausen steht (vgl. Schulte 1998; sowie in Bezug auf bildliche Repräsentationen der Hölle Berns 2007: 186ff.). Anstelle der zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges üblichen Interpretation der Kriegsschrecken als göttliches Strafgericht (vgl. Schulte 1998: 87) wird die Verantwortung dafür in den hier vorliegenden Texten gleichwohl irdisch, also als durch die Menschen selbst gemacht, begründet.

Appellieren und empfehlen Eine vierte und letzte Funktion des Gebrauchs der Kriegsmetapher der Hölle, die sich aus den zuvor erläuterten Schrecken des Krieges in gewisser Weise ergibt, jedoch unabhängig davon präsentiert wird, beinhaltet die Aufforderung zum Handeln. Exemplarisch zeigt sich dies im Beitrag Nach der Hölle 12

Siehe insbesondere In der grünen Hölle (Filmkritik Der schmale Grat): 56 sowie die in der Reise ins Herz der Finsternis (Filmkritik Apokalypse Now) gezeigte »Irrfahrt in den Wahnsinn« (ebd.: 61).

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(Westfälischer Friede 1648), der nicht nur die Zerstörungen durch den Dreißigjährigen Krieg beleuchtet, sondern vor allem die im Anschluss an die Friedensschlüsse von Münster und Osnabrück erfolgte Herausbildung des modernen Staates (einschließlich des staatlichen Gewaltmonopols im Sinne Max Webers13 ) und den Beginn eines modernen Völkerrechts herausstreicht. Die Darstellung endet mit dem als Frage formulierten Hinweis, dass es angesichts der »extreme[n] Instabilität des internationalen Systems ein neues ›Westfälisches System‹« zu schaffen gelte, »[d]iesmal auf globaler Ebene, unter Beachtung der Menschenwürde und Menschenrechte« (ebd.: 96). Innerhalb des untersuchten Textkorpus der Zeitschrift Clausewitz ist dies der einzige Beitrag, in dem eine derartige gegenwartsbezogene Handlungsempfehlung ausgesprochen wird. Im Vergleich zu den zuvor aufgezeigten Funktionen der Hölle als Kriegsmetapher, die sich jeweils für verschiedene Texte nachweisen lassen, handelt es sich um einen Verwendungszusammenhang, der hier nur schwach repräsentiert ist. Dieser Umstand steht im Kontrast zu der Beobachtung, dass bei den im Rahmen der vorliegenden Recherche gesichteten Beiträgen mit tagesaktuellem Bezug, die sich ebenfalls der Hölle als Kriegsmetapher bedienen, ebendiese appellatorische Funktion im Zentrum steht – wenn etwa Wolfgang Ischinger (2013, 2016) unter Verweis auf den Krieg in Bosnien ein Engagement westlicher Staaten im Syrien-Konflikt unter Rückgriff auf die Höllensemantik zu begründen sucht. Solche klaren Appelle lassen sich in den Texten der Zeitschrift Clausewitz – vom Beitrag zum Ende des Dreißigjährigen Krieges abgesehen – nicht finden. Das Geschichtsbewusstsein, das durch diese Zeitschrift nicht zuletzt mittels der Höllenmetapher tradiert wird, zeichnet sich folglich insgesamt durch eine starke Vergangenheitsorientierung und einen nur schwach ausbuchstabierten Handlungsimperativ in Bezug auf gegenwartsbezogene Phänomene aus – wie man es vermutlich von einem populärwissenschaftlichen militärgeschichtlichen Magazin kaum anders erwartet hätte. Das dabei entworfene militärische Geschichtsbewusstsein ist gleichwohl keineswegs unpolitisch, und zwar weniger, weil die hier als vorbildhaft kodierten militärischen Beispiele etwa an den in der Bundeswehr offiziell angelegten Maßstäben der Traditionspflege in der Regel scheitern würden (vgl. hierzu Biehl/Leonhard 2012, 2018). Von gegenwartspolitischer Relevanz erscheint insbesondere das Kriegsbild, das nur bedingt aus den zuletzt herausgearbeiteten Funktionen

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Der Bezug zu Max Weber stammt aus dem Beitrag selbst (vgl. ebd.: 92).

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der Höllensemantik, dafür aber umso deutlicher anhand der in den Beiträgen verhandelten unterschiedlichen Kriegshöllen zum Ausdruck kommt: ›Gute‹ Kriege bestehen aus Gefechten und Schlachten zwischen sich wechselseitig als ›ebenbürtig‹ wahrnehmenden Gegnern, die in Schaubildern über Truppen- und Waffenstärken und Listen der kommandierenden Militärs konkretisiert werden können; diese ›guten‹ Kriege finden in Form von Sieg oder Niederlage ein eindeutiges Ende, und sie gehen für die Soldaten zwar mit Schrecken, Mühe und Pein sowie mitunter dem Tod einher, aber auch mit der Möglichkeit zu herausragenden Leistungen gerade in und durch deren Überwindung. ›Schlechte‹ Kriege sind dagegen Bürgerkriege oder Kriege wie die US-amerikanische Intervention in Vietnam, die zu Kämpfen ohne klare Fronten und Unterscheidungsmöglichkeiten zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten (zum Beispiel Reise ins Herz der Finsternis [Filmkritik Apokalypse Now]: 61) kommen und die eigenen Soldaten desillusioniert und/oder traumatisiert zurücklassen. Nach dieser Einteilung sind internationale Militäreinsätze, die nach dem Ende der Ost/West-Konfrontation zu einer, wenn nicht der zentralen Einsatzform für westliche Streitkräfte einschließlich der Bundeswehr geworden sind und die der britische Militärsoziologe Martin Shaw (2005) als The new Western way of war bezeichnen hat, am ehesten in die Kategorie der ›schlechten‹ Kriege einzuordnen, die – anders als bestimmte Gefechte während des Zweiten Weltkriegs – wenig positive Anknüpfungspunkte bieten. Mit Blick auf die religiös überlieferte Bedeutung der Hölle als Ort der Strafe und Verdammnis ist es vor allem diese partiell positive Konnotation, die bei den herausgearbeiteten Bedeutungsdimensionen der Kriegshölle hervorsticht: Die Hölle wird in diesem Fall zu einer (in individueller Hinsicht: männlichen, in kollektiver Hinsicht: militärtaktischen beziehungsweise -strategischen) Bewährungsprobe, die nach erfolgreichem Bestehen neue ›Kraft‹ in Form von Kampferfahrung sowie von Anerkennung (Heldenstatus) verleiht und deswegen auch als nachahmungswürdig präsentiert werden kann. Diese spezifische Kriegshölle erscheint als ein Durchgangsstadium, das absolviert werden muss, um in den Himmel der militärischen Helden zu kommen; das Teuflische daran ist, dass die Beteiligung am Kampf einschließlich der damit verbundenen Schrecken und Qualen keine Garantie auf den ›Aufstieg‹ in den Himmel bietet, sondern stets auch die Möglichkeit des Scheiterns, des Todes und/oder des (dauerhaften) Verlusts von physischer wie psychischer Gesundheit wie auch von sozialer Ordnung und Sicherheit,

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impliziert. Ohne Konfrontation mit dieser Option des Scheiterns bleibt der Weg in den Himmel aber verschlossen.

Fazit: Die Ambivalenz der Kriegshölle Ziel dieses Beitrags war es, die im alltäglichen Sprachgebrauch immer wieder anzutreffende Rede von der Hölle des Krieges genauer zu ergründen. Als Untersuchungsgegenstand wurde hierfür die populärwissenschaftliche militärgeschichtliche Zweimonatszeitschrift Clausewitz ausgewählt, in deren Texten die Hölle als Kriegsmetapher regelmäßig vorkommt. Anhand der vier Erfahrungstypen der Kriegshölle ebenso wie der unterschiedlichen Funktionen des Gebrauchs der Höllenmetapher, die im Textkorpus identifiziert und herausgearbeitet wurden, tritt vor allem die Ambivalenz organisierter Massengewalt mit Waffen hervor, die mit der semantischen Klassifikation von Krieg als Hölle verknüpft ist. Trotz mitunter drastischer wie plastischer Darstellungen der Schrecken des Kampfes und der Wirkungen von Waffengewalt einschließlich der zerstörerischen und oftmals tödlichen Folgen wird zugleich immer wieder das von von Trotha (und anderen) betonte Moment der Faszination von und für Gewalt mit seinem die Grenzen des Alltäglichen sprengenden Potenzial deutlich, das im militärischen Kontext klassischerweise durch die Figur des Helden repräsentiert wird. Die Hölle – wie bisweilen auch der Teufel als ihr Knecht und Meister – liefern folglich den semantischen Rahmen, um den mit kriegerischer Gewalt verknüpften Ambivalenzen Ausdruck zu verleihen und sie für unterschiedliche Kontexte differenziert zu bewerten. Aufschlussreich ist dabei, dass die Schuldfrage und damit die Frage, wer oder was für einen bestimmten Krieg verantwortlich ist und gegebenenfalls zur Rechenschaft gezogen werden könnte oder sollte, in den Texten praktisch keine Rolle spielt. Zwar werden Fehlentscheidungen des politischen oder militärischen Führungspersonals in konkreten Fällen durchaus kritisiert, ebenso wie die Folgen bestimmter Kriegshandlungen. Die von Hahn (1996: 182) für die Gegenwart prägnant konstatierte nochmals weiter ausgeprägte »Verinnerlichung der Schuldauffassung« zeigt sich jedoch auch hier: Kriegsbezogene Schuld wird höchstens als Schuldgefühl auf der Ebene des einzelnen Soldaten thematisiert – ohne dass allerdings eine Heilung durch Therapie notwendigerweise gegeben oder möglich ist (vgl. ebd.). Das Potenzial ewiger Verdammnis, das so auf der individuellen Ebene aufscheint, findet in den Beiträgen der Zeitschrift Clausewitz in Gestalt des Bürgerkriegs sein kollekti-

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ves Pendant. Mit dieser auf den ersten Blick ›werturteilsfreien‹ Perspektive auf Krieg erweist die Zeitschrift nicht zuletzt ihrem Namenspatron alle Ehre, der bekanntlich nicht nur als einer der wichtigsten Kriegstheoretiker gilt, sondern auch als Vertreter einer ›rationalen‹ Auffassung von Krieg als (prinzipiell legitime) Fortsetzung der Politik mit anderen, nämlich gewaltsamen Mitteln (vgl. Spreen 2003: 24f.; Münkler 1992: 59ff.). Bei näherer Betrachtung zeigt sich gleichwohl, und genau das verdeutlichte die empirische Analyse des Bedeutungsraums der verwendeten Höllensemantik, dass letztlich die symmetrische Kriegsform, der Staatenkrieg mit Schlachten oder Gefechte zwischen klar identifizierbaren Gegnern, die Kriegsformation ist, der die normative Vorgabe für die Lesart organisierter Massengewalt mit Waffen in unterschiedlichen raumzeitlichen Konstellationen ist, die die Zeitschrift Clausewitz offeriert, während asymmetrische Konfliktlagen – wie der Bürgerkrieg ohne klare Grenzen zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten – die wahre Kriegshölle darstellen, die es demnach zu vermeiden gilt. Diese Deutungsstruktur, die dem Gebrauch der Hölle als Kriegsmetapher in der Zeitschrift Clausewitz zugrunde liegt, illustriert das, was mit Matthias Junge (2010a: 8) als sozial-regulative Funktion von Metaphern bezeichnet werden kann: Der Rückgriff auf die Hölle als Kriegsmetapher dient demnach dazu, eine bestimmte Vorstellung von Gewalt und des Umgangs damit – durch die Schaffung beziehungsweise Bewahrung des staatlichen Gewaltmonopols, regulärer Streitkräfte und einer internationalen Ordnung – zu vermitteln. Dies setzt ein gemeinsames kulturelles Verständnis – ein bestimmtes Wissen darüber, was die Hölle und der Teufel ›sind‹, was mit Inferno und Apokalypse gemeint ist beziehungsweise gemeint sein könnte – voraus.14 In unserem Fall verweist dies sowohl auf den christlich-abendländischen Kontext und seine entsprechende Bildsprache, als auch auf die US-amerikanische Filmkultur des 20. (und mittlerweile 21.) Jahrhunderts, die hierzulande für die Vorstellungswelt von kriegerischer Gewalt prägend (geworden) ist. Schließlich haben Metaphern eine epistemische Funktion; sie dienen der Erzeugung ›neuartigen‹ Wissens oder ›neuartiger‹ Weltzugänge (vgl. ebd.: 8). Mit Blick auf die Zeitschrift Clausewitz wurde vor diesem Hintergrund vor allem auf die verschiedenen, zum Teil positiv konnotierten Facetten des Höllenbezugs hingewiesen, die die Ambivalenz organisierter Massengewalt mit Waffen und die Faszination für militärische (Helden)Taten widerspiegeln. Ob damit die ganze Vielfalt an (Be)Deutungen erfassen wird, die mit dem Gebrauch der Hölle 14

Junge bezeichnet dies als die »phatische« Funktion von Metaphern (ebd.).

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als Kriegsmetapher einhergeht, muss mit Blick auf das spezifische und damit höchst selektive Datenmaterial an dieser Stelle offenbleiben – und ist erst im Zuge weiterer Studien zu beantworten.

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Anhang Ausgewertetes Textkorpus der Zeitschrift Clausewitz. Magazin für Militärgeschichte Apokalypse im April [Halbe 1945], Clausewitz 3 2017, S. 24-26. Apokalypse Japan [Hiroshima 1945], Clausewitz 4 2015, S. 48-53. Australiens Alamo« [Filmkritik Gallipoli – An die Hölle verraten], Clausewitz 6 2019, S. 54-59. Blutige Apokalypse [Magdeburg 1631], Clausewitz 4 2017, S. 46-51. Brachialer Blick in die Hölle [Gemälde Otto Dix], Clausewitz 6 2013, S. 80-81. Das Inferno von Oran [Juli 1940], Clausewitz 3 2016, S. 48-52. Der Gabelschwanzteufel [Flugzeug], Clausewitz 6 2016, S. 38-39. Des Teufels Agent [Richard Sorge], Clausewitz 1 2016, S. 52-57. Des Teufels Berater [Franz Halder], Clausewitz 4 2017, S. 76-81. Die durch die Hölle gehen [Filmkritik The Deer Hunter], Clausewitz 5 2018, S. 38-42. Die grüne Hölle von Vietnam [Filmkritik Platoon], Clausewitz 5 2015, S. 70-73. Die Hölle von Halbe [April 1945], Clausewitz 3 2017, S. 10-23. Görings »Grüne Teufel« [Fallschirmjäger 1936 bis 1945], Clausewitz 4 2019, S. 74-78. Hölle am Horn von Afrika [(Bürger)Krieg Somalia], Clausewitz 2 2016, S. 46-51. Heikles Himmelfahrtskommando. Operation »Chariot« – britische Commandos in Frankreich [1942], Clausewitz 2 2019, S. 38-42. In der grünen Hölle [Filmkritik Der schmale Grat], Clausewitz 3 2017, S. 54-59. Inferno im Osten [Ostpreußen 1944/45], Clausewitz 1 2015, S. 10-22. Kampfeinsatz über der »grünen Hölle« [Hubschrauberpilot in Vietnam], Clausewitz 6 2014, S. 38-39. Nach der Hölle [Westfälischer Friede 1648], Clausewitz Spezial 2013, S. 90-96.

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Reise ins Herz der Finsternis [Filmkritik Apokalypse Now], Clausewitz 1 2018, S. 61-64. Sprung in die Hölle [Kreta 1941], Clausewitz 5 2012, S. 32-39. Startschuss zum Inferno [Westerplatte 1939], Clausewitz 5 2019, S. 10-23. Sturz in die Hölle [Dreißigjähriger Krieg], Clausewitz Spezial 2013, S. 10-19. Zwischen Himmel und Hölle [Monte Cassino 1944], Clausewitz 6 2013, S. 10-23.

Die Hölle von Theresienstadt als Paradiesgarten  im nationalsozialistischen Propagandafilm Jürgen Raab & Marija Stanisavljevic »Erst aus der Natur der Maske mag sich allenfalls ergeben, wie das Ungeheuer geartet ist, das sie sich aufsetzt.« Kracauer 2013/1936-1938: 14

Einleitung: Ambivalenzen der Hölle Auch wenn Karl Loewenstein Theresienstadt nach der »Hölle Minsk« wie das »Paradies« erscheint (Loewenstein 1956), steht ganz außer Zweifel, dass auch in Theresienstadt terrorisiert und gequält, getötet und der fabrikmäßige Massenmord organisiert wurde, und der Ort »in seiner Art eines der Hilfsinstrumente war, die für das Funktionieren von Auschwitz bei der Vernichtung der europäischen Juden für notwendig gehalten wurden« (Kárný 1999: 25). Doch im Unterschied zu Treblinka, Majdanek, Buchenwald, Birkenau oder Auschwitz, bei denen »anders als in Theresienstadt […] völlig klar [war], dass keiner je lebendig rauskommen würde« (Kulpa 2018: 42), entziehen sich die Einordnungen von Theresienstadt offenbar jener Eindeutigkeit, die es Wolfgang Sofsky (1993) erlaubt, zunächst die allgemeinen Strukturmerkmale und schließlich die Systematik jener »absoluten Macht« freizulegen, welche das Dasein in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern für die Inhaftierten zur Hölle auf Erden werden ließ. Dabei weisen bereits die ›offiziellen‹ Bezeichnungen als Alters- oder Prominentenghetto, Aussiedlungs-, Übergangs-, Durchgangs-, Sammel-, End- und Konzentrationslager oder Ghetto-Lager auf jenes sonderbar changierende, auffällig inkonsistente und ambivalente Bild von Theresienstadt hin, wie es auch in der unter Überlebenden geläufigen Umschreibung als »Vorhof zur Hölle« zum Ausdruck kommt (vgl. exemplarisch den autobiographischen Roman »Im Vorhof der Hölle« von Carlo Ross (1994)

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sowie den Bilderzyklus »Konzentrationslager – Vorhof zur Hölle« von Leo Haas). Als allgemeinster Deutungshintergrund und Ansatzpunkt für eine Soziologie der Hölle gilt die zunehmende Säkularisierung der Vorstellungen von Himmel und Hölle im Modernisierungsprozess (vgl. Hahn 1996 sowie in diesem Band). Sie erfährt im zwölften und 13. Jahrhundert einen deutlichen Schub, wenn drei zusehends parallel verlaufende Entwicklungen bei den Menschen zu einem spürbaren Anwachsen ihrer Angst vor dem eigenen Ende und zur Intensivierung ihres persönlichen Schuldbewusstseins führen – zuvorderst die gesteigerte Individualisierung von jenseitigen Paradieshoffnungen und Höllenängsten. Dazu kommen der Einzug immer anschaulicherer Darstellungen von Höllenstrafen in eine bildende Kunst, die mit ihren geradezu sadistischen Grausamkeiten zu Reue und Buße anhalten sollen, und schließlich die Unterscheidung von vergebbaren Sünden einerseits und Todsünden andererseits, was feinere Abstufungen in den Höllenstrafen und räumlichen Differenzierungen sowie eine größere Flexibilität in den Korrelationen von Handlungen und Sanktionen mit sich bringt, wenn zur Hölle als Ort der ausweglosen Strafe, ewigen Qual und Verdammnis das Fegefeuer (purgatorium) und die Vorhölle (limbus) hinzukommen. Zwar bewahren der christliche Himmel und die Hölle zunächst noch ihren Status als Realitätsordnungen mit eigenen – wie man mit Alfred Schütz und Thomas Luckmann sagen könnte – »Seinsstilen« (Schütz/Luckmann 1979: 39). Doch mit der Verlegung der übernatürlichen Paradiese und jenseitigen Abgründe ins Diesseits rücken nicht nur die Ideen über Himmel und Hölle in komplexere und ambivalente Spannungsverhältnisse ein. Zusehends übernimmt auch »die Gesellschaft die Macht Anerkennung zu verleihen« (Bourdieu 1985: 78). Nun, so Pierre Bourdieu in Anschluss an Émile Durkheim und Thomas Hobbes, ist »das Urteil der anderen […] das Jüngste Gericht; so wie die gesellschaftliche Ausschließung die konkrete Form von Hölle und Verdammnis. Weil der Mensch dem Menschen ein Gott, ist der Mensch dem Menschen auch ein Wolf« (ebd.). In den Konkurrenzkämpfen moderner, zunehmend offen werdender Gesellschaften, gelangt die Macht, im Abstandnehmen und Abgrenzen sozial aufzuwerten und abzuurteilen, zur aggressiven Entfaltung, die bis zur Menschenfeindlichkeit und Menschenverachtung gereichen kann. Denn »schlägt der distanzierende Blick auf den Menschen – und Blickdistanz braucht die moderne Welt – in Aberkennung seiner menschlichen Ehrenrechte, in Leugnung seiner Würde um, und diese Gefahr ist heute größer

Die Hölle von Theresienstadt als Paradiesgarten im nationalsozialistischen Propagandafilm

denn je, dann wird der Mensch als soziales Wesen sich zur Hölle; mit den Worten Sartres ›Quest-ce que l’enfer? Les autres.‹« (Plessner 2003/1953:116) Unser Beitrag greift mit dem mehrdeutigen, ungesicherten Status von Theresienstadt als Funktionselement und Sonderfall der im euphemistischen Jargon der Nationalsozialisten sogenannten ›Endlösung der Judenfrage‹ einerseits und mit der Verinnerweltlichung und Medialisierung, Individualisierung und Politisierung von Höllenanschauungen andererseits diese Ambivalenzen und Spannungsverhältnisse auf. Dabei ist es uns insbesondere um ein näheres Verständnis jener Propagandapolitik getan, aus der heraus die Nationalsozialisten für ihren »Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet« das Ghetto nicht nur temporär und partiell zu einer Vorzeigestätte ›verschönerten‹, sondern das Musterdorf in grotesker, ja geradezu bizarrer Weise sogar vollends zu einem Freizeit-, Ferien- und Kurort pervertierten. Bevor wir uns jedoch der Frage nach dem in zweifacher Hinsicht ›dunklen‹ – weil moralisch perfiden und dem rationalen Verstehen nachhaltig sich sperrenden – sozialen Sinn zuwenden, aus dem heraus die Nationalsozialisten noch kurz vor Kriegsende, den eigenen Untergang unmittelbar vor Augen, die Hölle als Paradiesgarten propagandistisch in Szene zu setzen meinten, und diese vom Theresienstadtfilm ›dokumentierte‹ Wirklichkeit einem im Sinne von Max Weber deutenden Verstehen unterziehen, soll die Wirklichkeit von Theresienstadt als historischer Ort skizziert und als konkreter Erfahrungsraum in den Worten der Insassen zur Sprache kommen.

Die Hölle als historischer Ort und Erfahrungsraum Das heutige Terezin liegt in Tschechien, etwa 60 Kilometer südlich von Prag. Es wurde 1790 vom österreichischen Kaiser Joseph II. als Garnisonsstadt mit einem am altrömischen Castellum orientierten Grundriss und im Stil einer Vauban-Festung künstlich angelegt. Als die Nationalsozialisten am 20.01.1942 am Wannsee ihre Pläne »Endlösung der Judenfrage« konkretisierten, beschlossen sie, die von jeglichem Krieg verschonte Stadt zu entvölkern, um sie als Altersghetto zu verwenden; im Wortlaut des Besprechungsprotokolls: »Die evakuierten Juden werden zunächst Zug um Zug in sogenannte Durchgangsghettos verbracht, um von dort aus weiter nach Osten transportiert zu werden. […] Es ist beabsichtigt, Juden im Alter von über 65 Jahren nicht zu evakuieren, sondern sie einem Altersghetto – vorgesehen ist Theresien-

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stadt – zu überstellen. Neben diesen Altersklassen […] finden in den jüdischen Altersghettos weiterhin die schwerkriegsbeschädigten Juden und Juden mit Kriegsauszeichnungen (EK I) Aufnahme«, ebenso – sofern sie den vom Protokoll detailliert angeführten Auflagen der sogenannten Nürnberger Gesetze genügen – die Eheleute deutsch-jüdischer »Mischehen« und deren als »Mischlinge« bezeichnete Kinder.1 Hierfür sollte das ursprünglich mit einer Infrastruktur für 7.000 bis 8.000 Menschen ausgelegte Theresienstadt mit 50.000 bis 60.000 über diese Kriterien selektierten Personen fast das Zehnfache an Menschen fassen. Doch die selbstgestellten Vorgaben ließen sich nicht ganz nach Plan realisieren. Zum einen musste das Ghetto in den Augen der Nationalsozialisten als unterausgelastet gelten, waren selbst in Zeiten der Höchstbelegung doch deutlich weniger als 50.000 Menschen untergebracht. Zum anderen füllte sich Theresienstadt mit immer weiteren ›Kategorien‹ an Menschen, wie etwa Wohlhabenden oder Prominenten und etwa 450 aus Dänemark deportierten Juden. So entwickelte und entpuppte sich, was die Nationalsozialisten anfänglich als Altersghetto planten und was in den durch Lüge und Täuschung genährten Hoffnungen vieler Verschleppter noch eine gewisse Zeit als Endlager erschien, alsbald zu jenem nun wahlweise als Aussiedlungs-, Sammel-, Übergangs- oder Durchgangslager etikettierten Dazwischen auf dem Weg in den Massenmord. Denn von den insgesamt mehr als 141.000 inhaftierten Personen erlebten nur noch knapp 17.000 die Befreiung und Auflösung des Ghettos. Über 88.000 waren in die Vernichtungslager, vornehmlich nach Auschwitz, weiterdeportiert worden und fast 34.000 Menschen hatten ihr Leben in Theresienstadt verloren: »Die Leute kamen und starben. Sie starben wie die Fliegen. Und es war in diesem Haus gar kein Platz. Da hat man die Leichen (1) in einem Raum gestapelt. Den Einen auf ›n Andern. Und wir Kinder haben um die Toten herum (1) Verstecken gespielt. (1) Es war uns vollkommen unbewusst, was wir da machen. Wie grausam das war. Ringsherum Stöhnen, Geschrei, Schmerzen (1), Hilflosigkeit, Gestank. […] Es war alles zusammen. Immer mit andern Menschen. Das Schlafen und vor allem im kleinen Raum. Drei Meter, vier Meter. Fünfzig Leute, eng zusammengepresst. Ältere Leute die immerfort reden, reden, reden. […] Dann sehr viel Ungeziefer große Räume, Gestank. (1) Viel zu 1

Für das Protokoll der Wannsee-Konferenz siehe: https://www.bpb.de/geschichte/deu tsche-geschichte/der-zweite-weltkrieg/201442/protokoll-der-wannsee-konferenz; hier: S. 8 (vgl. auch Kampe 2012).

Die Hölle von Theresienstadt als Paradiesgarten im nationalsozialistischen Propagandafilm

wenig, es gab keine Toiletten. Toiletten warn nicht ausreichend. Wir hatten alle Magenkrankheiten, Darmkrankheiten und mussten fortwährend auf die Toilette. […] Das Ungeziefer. Wanzen, Mäuse, Flöhe ließen einen nicht schlafen. Es gab immer nur diese Strohsäcke. Feucht, feucht und Wanzen. (2) Haben Sie schon mal so was gesehen?«2 A wird 1933 in Hannover geboren und wächst in einem wohlhabenden, säkularen, aber gläubigen Umfeld auf. Zusammen mit ihrem Vater, einem Bankier und einem mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichneten, in Kampfhandlungen verwundeten Offizier aus dem Ersten Weltkrieg, ihrer Mutter und der eineinhalb Jahre älteren Schwester ist sie von Juli 1942 bis zur Befreiung des Ghettos in Theresienstadt interniert. A berichtet, dass sie in dieser Zeit oft von ihrer Mutter getrennt ist, sie aber auch in die Alterskaserne begleitet, in der diese als Krankenschwester arbeitet. Neben der oben geschilderten Allgegenwart des Sterbens und der Toten und den fehlenden Rückzugsmöglichkeiten aus der erdrückenden Nähe leidender Menschen, sind ihre Erinnerungen von zwei einschneidenden, vorrangig der strukturellen Unterversorgung mit Lebensmitteln geschuldeten Erfahrungen geprägt: dem Hunger und einer am Hungerleiden sich manifestierenden Entwürdigung. Insbesondere der Hunger macht die dramatische soziale Herabminderung der Familie, die in Hannover noch über Hausangestellte verfügt, am eigenen Körper unmittelbar erfahrbar und zieht dabei, zusätzlich zur grundsätzlichen Separierung der Insassen nach Geschlecht und Alter, zugleich eine weitere, die Essenhabenden von den Essennichthabenden scheidende, soziale Trennlinie in Theresienstadt ein: »Das Essen war sehr knapp. (1) Vier Scheiben Brot rund für vier Tage. Das heißt eine Scheibe Brot pro Tag. Ich habe die ersten, die ersten Tage haben wir das Brot nicht gegessen, damit ich noch ›ne Scheibe übrighatte, wenn das Brot dann doch nicht kam. […] Ich war schon SO dünn. (2) Wir haben alle sehr viel Gewicht verloren. Waren sehr mager. Es gab keine dicken Leute, 2

Dieses und alle folgenden Zitate entstammen Interviews, die wir 2017 und 2018 zusammen mit Hans-Georg Soeffner, Michael R. Müller, Ehrhardt Cremers und Lara Pellner in dem von der VW-Stiftung geförderten Forschungsprojekt »Dokumente – Erinnerungen – Geschichtsschreibung. Der zweite Theresienstadtfilm, seine Dokumentation und Rekonstruktion aus Perspektive der Überlebenden« in Israel mit Überlebenden von Theresienstadt erhoben und interpretiert haben. Die Zahlenwerte in den Klammern geben Pausenlängen in Sekunden an; Großbuchstaben heben betonte Äußerungen hervor.

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keine Wohlgenährten, keine Leute, die noch irgendwie Fleisch auf ›n Knochen hatten. ES gab eine Gruppe aus Dänemark, die haben regelmäßig vom König Pakete bekommen mit guter dänischer Butter, Käse und andere gute Sachen. […] Es gab einige Prominente, die man nicht so einfach untern Tisch schieben konnte. Und diese Prominenten haben auch Pakete bekommen aus dem Ausland, und die waren sehr viel besser genährt. AUCH das Küchenpersonal hat natürlich an der Quelle gesessen und essen können, und die waren nicht SO abgemagert wie wir anderen.« B, eine weitere von uns interviewte Überlebende, wird in der Tschechoslowakei geboren, zionistisch erzogen und ist, als sie 1942 zusammen mit ihrer Großmutter und Schwester nach Theresienstadt deportiert wird, vierzehn Jahre alt. Die Geschwister bleiben bis zur Auflösung des Ghettos in Theresienstadt inhaftiert, während die Großmutter kurz nach dem Eintreffen stirbt: »Wirklich viele, viele sind da in Theresienstadt gestorben. ICH bin nach Theresienstadt gekommen mit meiner Schwester, mit meiner Großmutter. Die war damals 80 Jahre alt. Jetzt könnt ihr euch vorstellen, damals 80 Jahre, das ist wie heute 120. Sie war eine gesunde Frau, hat nicht gut gehört und nicht mehr gut gesehen, aber sie war GESUND! Sie hatte gewusst, sie hat verstanden (3) das war wirklich schrecklich gewesen für sie. Und wir haben sie VERLOREN. Wir, wir sind damals zu Fuß gegangen ins Ghetto und sie hat man schon auf einer Tragbare gebracht und wir (1) meine Schwester und ich kamen und haben nicht gewusst: Wo hat man sie hingegeben? Wo ist sie? Wir haben sie zwei Tage (1) NIEMAND war da, den man fragen konnte. Es war SO ein also Durcheinander, bis wir sie dann endlich gefunden haben mal in einem von den Zimmern in derselben Kaserne am Fußboden. Da, so haben wir sie gefunden. Das war (1) das war ein Schock für uns gewesen.« Wie schon A spricht B zu Beginn der Schilderung ihrer ersten einschneidenden Erfahrung das vielfache, massenhafte Sterben an. Anders als bei Steinfeld werden daraufhin jedoch nicht die Dauererfahrungen der unerträglichen Zustände und die vor allem am Hunger wahrnehmbare Herabwürdigung und soziale Entwertung geschildert. Vielmehr folgt auf den Schock vom Tod der Großmutter, mit der Erfahrung, einer sexuellen Demütigung plötzlich und hilflos ausgeliefert zu sein, die Erzählung eines abermals Schock und Schrecken, Scham und Angst auslösenden Erlebnisses: »Und eines Tages in der Früh kam einer von der SS ins Kinderheim. Im Kinderheim waren zwei, drei Zimmer, wo schon die älteren Kinder waren. Wir

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waren schon 14, 15 Jahre alt. Also wir waren schon keine Kinder mehr. Und er ist gekommen, ich kann mich erinnern wie heute, hat einen Stock gehabt und hat uns AUSGESUCHT. Hat mit einen Stock GEZEIGT, wer heute nicht in die Arbeit (1) NICHT arbeiten geht. (1) Und das war meine Freundin und ich von unserem Zimmer. Ich kann heute sagen, die wollten die hübschen Mädel. Also wahrscheinlich war ich damals, hab ich damals in ihren Augen, außerdem dass ich (1) komisch, weil ich war wirklich sehr blond gewesen (lacht) ja, wirklich ein arischer Typ (lacht). Und jedenfalls hat man uns genommen außerhalb. Das war am Ende von der Stadt. Dort waren Duschen und da kamen wir hin. Wir haben keine Ahnung gehabt, was uns erwartet. Und da kamen wir hin und dann sagen sie uns: Jetzt geht duschen. Und ringsherum waren selbstverständlich lauter JUNGEN. AUSZIEHEN! Also für uns das war eine schreckliche Sache in dem Alter. 15 Jahre. Und vor allem lauter Männer stehen hier ringsherum. Wir wollten nicht. Es hat uns nicht sehr viel geholfen. Weil diese Taktik haben sie gehabt: Immer mit Hunden und immer mit Schreien. Das war sehr (1) ANGST, Angst. Zum Schluss haben wir gemacht, was man uns gesagt hat.« Das Miterleben und persönliche Erleiden von physischen, psychischen und sozialen Qualen bildet für alle von uns interviewten Überlebenden die elementaren, Theresienstadt zur Hölle machenden Erfahrungsdimensionen. Dabei kann die kalkulierte Überbelegung mit der daraus resultierenden strukturellen Unterversorgung, den unzureichenden Hygienebedingungen und sozialen Spannungen durchaus als Einlösung der im Wannsee-Protokoll festgehaltenen Aufgabe gelesen werden, »gewisse vorbereitende Arbeiten im Zuge der Endlösung gleich in den Gebieten selbst durchzuführen« (Kampe 2012). So war auch in Theresienstadt, wie A bemerkt, zwar »alles darauf ausgerichtet, dass man nicht überlebt, (1) wir sollten ja nicht überleben. (1) Aber (1) der Wille zum Überleben war groß. Wer noch konnte, hat sich (1) SEHR angestrengt, am Leben zu bleiben.« Die Anstrengungen, am Leben zu bleiben, das Sterben, den Hunger und die Demütigungen, die Schrecken, die Schocks, die Scham und Ängste zu ertragen und zu bearbeiten, bekommen Zuversicht und Antrieb aus dem Erhalt einer gewissen Selbstbestimmung und Würde, wie sie vor allem Kultur und Kunst versprechen: »Es war eine bestimmte Freiheit (1) IM Ghetto. Es war wirklich, wie sagt man (4) es war wirklich SEHR, SEHR viel von Kultur. Sehr viel. Sehr viel. Das war etwas (1) ich weiß nicht, das ist eine Sache. Ich kann mich sehr, sehr gut erinnern. Man hat das Requiem vom Verdi aufgeführt. Es war eine sehr (1) große

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KontroversION. Weil eigentlich (1) das Requiem von Verdi ist ein für die KIRCHE (1) ein Requiem sozusagen für ein (1) wenn jemand stirbt.« Um den augenscheinlich komplexen, nicht einfach darzulegenden Zusammenhang von Kultur und Überleben zum Ausdruck zu bringen – »Sehr viel. Das war etwas (1) ich weiß nicht, das ist eine Sache« –, verdichtet und verwebt sie zwei Handlungs- und Erfahrungsformen zu einer einzigen begrifflichen Wendung, der »Kontroversion«. Der so geschaffene Konnex impliziert dann zum einen die ›Kontroverse‹ im Sinne einer Entgegenstellung, des Widerstandes und der Konfrontation, und zum andern die ›Konversion‹ in Gestalt des Wechsels, der Vertauschungen oder Umwandlung. Alle damit angezeigten Erfahrungs- und Handlungsdimensionen verweisen mit ihren Möglichkeiten zu entscheiden, zu handeln und alternative Wirklichkeiten zu erfahren letztlich auf das Vorhandensein von Autonomie und Selbstwertgefühl. Allesamt Umstände, welche die dritte und letzte hier zu Wort kommende Überlebende ausführlich und in fast schon überhöhender Weise erinnert. C ist 1930 in Prag geboren und wird im Dezember 1942 nach Theresienstadt verbracht. Vater und Mutter führen Hilfstätigkeiten für die Ghettoverwaltung aus, was die Familie zunächst vor der Weiterverschickung und Ermordung bewahrt. Während der Gefangenschaft lernt sie den in Theresienstadt vor allem als Fußballspieler bekannten D kennen, ihren späteren Ehemann. Doch anders als A und B, die ihre gesamte Inhaftierung in Theresienstadt verbringen, wird C im Jahr 1944 auf einen Todesmarsch nach Auschwitz geschickt: »Wissen Sie, Theresienstadt war etwas (1) wenn ich so heute nachdenke mit meinen alten Jahren, als Kind so etwas zu erleben und viele Jahre das zu leben. Ich bin heute direkt stolz, dass ich war in dieser Gesellschaft ein Stück (1) also ein Mensch. […] Außerdem, das war eine ganz außergewöhnliche Gesellschaft in Theresienstadt. Das war doch die Sahne der europäischen Kultur. Dort waren Schauspieler, Philosophen, Sportler, alles. […] Wir waren solche Kinder, solche begabten Kinder, wir haben getanzt, wir haben gemalt, wir haben Theater gespielt. Ich habe so viel Theater gespielt in Theresienstadt. […] Und das war unseres Leben. Und wir hatten fantastische Regisseure. Und was für Vorträge ich gehört hab. Vorträge, was ich heute nachlese. Ich hab ja gar nichts verstanden. Aber wir waren so: Wohin wir gehen konnten, sind wir gegangen. Und wir haben das geliebt und wir haben verstanden Sachen, was heute nicht viele Kinder in diesem Alter verstehen können. Weil eben das Leben uns so in eine Position gestellt hat, wo das verständlich war, das Unverständliche. Auch das, was wir in Theresienstadt hatten

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nicht verstanden. Das war etwas Wunderbares. […] Also auch das kleine, die kleine Ecke wo man gewohnt hat, hat man sich schön gemacht. Man hat ein bisschen gemalt, man hat etwas gebastelt. Wir haben uns in Theresienstadt eingelebt, wie wenn wir dort sterben sollten. Aber das ist der einzige Weg – nicht Provisorium, kein Provisorium – es so zu machen: Da leben wir jetzt und so, so muss es sein.« Hunger und Erniedrigung, Schock, Scham und Angst ohnmächtig ausgeliefert zu sein, und innerhalb derselben totalen Institution mit Kunst und Kultur zugleich über einen Sinnausschnitt der Beweglichkeit und Freiheit zu Bildung, Trost und Hoffnung eigenständig zu verfügen, sind die äußersten Gegenpole, über die sich die einander vollständig gegenläufigen Dimensionen des Erfahrungsraumes der Insassen konstituieren. Für die diametral entgegengesetzte Perspektive, nämlich aus Sicht des Stabes, für den Fall von Theresienstadt mithin der SS, beschreibt Erving Goffman totale Institutionen als »Treibhäuser« (forcing houses), einzig dafür erdacht und geschaffen, »den Charakter von Menschen zu verändern. Jede dieser Anstalten ist ein natürliches Experiment, welches beweist, was mit dem Ich des Menschen angestellt werden kann« (Goffman 1972:23). Dabei bauen diese Experimente mit dem Ich eines Menschen auf der Macht, ihm jene »im letzten Gefühl des Ich« verankerte, »fundamentale Ruhe und Sicherheit, ausgeprägt in der Vorstellung, dass man dieses Ich jeder Situation gegenüber siegreich bewahren und durchsetzen werde« (Simmel 1912:73), ganz nach Bedarf und Belieben entweder zu belassen, zu nehmen oder wiederzugeben. Der Erfahrungsraum der Täter gibt sich mithin als Experimentierfeld zu erkennen, welches erlaubt, zwischen Akten der Herabsetzung und Unterdrückung einerseits und Akten des Gewährens und der Privilegierung andererseits mit dem Ich von Menschen nach Belieben zu spielen und über dieses Ich zu herrschen. Diese Möglichkeit ist die Bedingung zur Verfolgung und Einlösung der eigentlichen Zielsetzung von totalen Institutionen, nämlich »den Unterschied zwischen zwei Personenkategorien zu inszenieren – einen Unterschied des sozialen Werts und der charakterlichen Moral, einen Unterschied in der Vorstellung von sich selbst und vom anderen. So drückt jedes soziale Arrangement […] den grundlegenden Unterschied […] aus« (Goffman 1972:112). Jedes soziale Handeln innerhalb einer totalen Institution zielt mithin auf nichts anderes ab und läuft auf nichts anderes hinaus, als einen extremen sozialen Unterschied herzustellen und aufrechtzuerhalten. Je grenzverletzender dabei die Verhaltensweisen des Stabes gegenüber den Insassen ausfallen

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können, umso absoluter die zu markierenden sozialen und moralischen Unterschiede, und je extremer die Amplituden des Willkürhandelns ausschlagen dürfen, desto totaler die Macht des Stabes. Die Möglichkeit, in der Behandlung der Inhaftierten bis in die Extremerfahrungen von Zwang, Bedrohung und Ohnmacht hier und Entlastung, Bevorzugung und Freisetzung dort völlig willkürlich auszuschlagen, verschafft den Nationalsozialisten die Gelegenheit zu einem noch gesteigerten, die Wirklichkeit von Theresienstadt und mithin den Erfahrungsraum der Insassen ganz im Dienste der nationalsozialistischen Mythenpolitik3 und ihrer Propaganda abstrus entstellenden Experiment: der audiovisuellen Inszenierung der Ghettohölle als jüdischem Reservat und innerweltlichem Himmel der Glückseligkeit.

Die Pervertierung der Hölle zum Paradies Von dem lange Zeit unter dem Titel Der Führer Schenkt Den Juden Eine Stadt firmierenden Propagandawerk ist erst seit dem Auffinden weiterer Fragmente u.a. der Eröffnungssequenz gegen Ende der 1990er Jahre, der Originaltitel Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet, bekannt. Tatsächlich gehen der heute gelegentlich schlicht als ›Theresienstadtfilm‹ oder auch als ›der zweite Theresienstadtfilm‹ bezeichneten Produktion zwei Filmprojekte voran. Mit der Qualität der Versuche vom 3

Das unsere materiale Analyse erkenntnistheoretisch und methodologisch anleitende Konzept der Mythenpolitik ist Hans-Georg Soeffner entlehnt: »Mythen leben von ihrer Einbettung in repetitive Narration. Dieser Repetitionsprozess wird durch die Struktur moderner Medien und der in ihnen angelegten ›technischen Reproduzierbarkeit‹ von Erzählungen, Bildern, Formaten und Datenträgern noch einmal gesteigert. Durch die aufeinander verweisenden, stetig wiederholten Assoziationsketten entsteht eine Assoziationssuggestion, der sich die Rezipienten kaum entziehen können. Sie etabliert eine Macht, die, ganz im Sinne Max Webers, in der – hier besonders großen – ›Chance‹ besteht, ›innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht‹. – Zwar gilt, dass die Medien für sich genommen keinen Willen besitzen. Diesen Willen besitzen jedoch diejenigen, die sich der Medien gezielt bedienen. Folgerichtig setzen Konsumentenbindung, Werbung und Propaganda auf die Steuerung von Assoziationen, den durch sie bewirkten Appräsentationsautomatismus und die dadurch entstehende Assoziationssuggestion. Ziel ist die Festlegung des Rezipienten auf eine möglichst alternativlose Deutung: auf Differenzenvernichtung oder zumindest Differenzenindifferenz gegenüber anderen Deutungen« (Soeffner 2017: 102; Herv. i.O.).

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November 1942 und vom Januar 1944, von denen nur sehr kurze Sequenzen und einige Standbilder erhalten geblieben sind, sind die Verantwortlichen allerdings hoch unzufrieden. Erst nach der sogenannten »Verschönerungsaktion«, mit der Teile des Ghettos für den Besuch einer Delegation des Internationalen Roten Kreuzes am 23. Juni 1944 soweit präsentabel gemacht werden, dass der Berichterstattende am Ende seiner Darlegungen zur Ansicht gelangt, »im Ghetto eine Stadt zu finden, die ein fast normales Leben lebt« (Rossel 1996:296), sowie durch die Zwangsrekrutierung des im Februar 1944 nach Theresienstadt deportierten Schauspielers und Regisseurs Kurt Gerron, scheinen mit den nun zur Verfügung stehenden Kulissen und Kompetenzen die Voraussetzungen für einen erneuten, im Sinne der Produzenten erfolgversprechenden Anlauf gegeben. Die Dreharbeiten beginnen am 16. August und enden am 11. September 1944. Im April 1945 ist der Film nachbearbeitet und kommt zur Aufführung. Unsicher und umstritten ist jedoch bis heute, wann, wo, wie oft, in welchem Umfang und vor welchem Publikum dieser gezeigt wird. Belegt ist einzig, dass ihn am 06. April 1945 ein zweites Komitee des Roten Kreuzes in Anwesenheit von hochrangigen SS-Offizieren zumindest in Ausschnitten zu sehen bekommt. Wenngleich Theresienstadt und der Theresienstadtfilm innerhalb der Holocaust-Forschung eine Marginalie darstellen, ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung umfangreich. Allerdings strengt nur eine sehr überschaubare Zahl an Untersuchungen empirische Analysen an, entweder wenn für den strukturellen Vergleich der drei in Theresienstadt begonnenen Filmprojekte grobe Inhaltsanalysen zum Zuge kommen oder mit der Musik und dem Off-Text die Tonebene des Materials ins Zentrum des Interesses rückt (vgl. Margry 1996; Drubek 2013). Eine sozialwissenschaftliche Untersuchung, die der Frage nach dem sozialen Sinn, aus dem heraus die Nationalsozialisten ihr Filmprojekt bis kurz vor Kriegsende augenscheinlich unbeirrt vorantrieben, auf dem Wege eines feinanalytisch-interpretativen Zugangs zum Datenmaterial nachzugehen versucht, steht – soweit wir sehen können – bis heute aus. Für dieses Anliegen wählen wir aus dem aktuell in Fragmenten von insgesamt fast 25 Minuten – und damit wahrscheinlich im Umfang von etwa einem Drittel seiner ursprünglichen Länge vorliegenden Film – den Schlussteil des Films. Unsere Wahl fiel vor allem deshalb auf diesen Ausschnitt, weil er mit seinem bemerkenswerten Inszenierungsaufwand als charakteristisch für die am Spielfilmgenre orientierte Machart des Theresienstadtfilms gelten kann. Denn, wie Sylvie Lindeperg in ihren Untersuchungen zum 1944 im holländischen Durchgangslager Westerbork

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entstandenen Propagandafilm, dem sogenannten ›Westerborkfilm‹, resümiert, »verdeutlicht der Vergleich von Theresienstadt und Westerbork zwei Auffassungen des Filmemachens. Gerron versuchte die Wirklichkeit anzupassen, um die vorzeigbar zu machen«, wohingegen der Westerborkfilm der »Logik des Industriefilms« folge, nicht die »distanzierte Regie« Gerrons teile und weniger darum bemüht sei, »einen einheitlichen Sinn herzustellen« (Lindeperg 2018:25; 32f.). Der knapp dreieinhalbminütige Abschnitt, der insgesamt mit »Freizeitgestaltung am Ende eines Arbeitstages« überschrieben werden könnte, besteht aus den Sequenzen 35 bis 37 und umfasst mit den »Gärten« und den »Gemeinschaftsunterkünften« zwei vollständig erhaltene Szenen, während von der Sequenz »Abendessen einer ›Familie‹« nur mehr ein Einzelbild existiert.4 Die im Schlussteil dargestellten Handlungen und Personenkonstellationen wecken unmittelbar Assoziationen mit dem berühmten Paradiesgärtlein, jener im frühen 15. Jahrhundert von einem unbekannten oberrheinischen Meister geschaffenen Miniatur. Und tatsächlich finden sich beim genauen Hinsehen alle in dem Gemälde dargestellten Szenen mit verblüffend ähnlichem Inhalt und in erstaunlich ähnlicher Gestalt im letzten Abschnitt des Filmes wieder (siehe Abb. 1 und 2).

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Zu dem von uns ausgewählten Filmausschnitt finden sich im Einstellungsprotokoll zum Theresienstadtfilm folgende Angaben: »35. Sequenz, erhalten: Gärten. – 02 m Bachufer: Im Wasser schwimmen Blätter; drei Jungen sitzen am Wasser (Schwenk, div. Einst.). – 31 m Schrebergärten am Festungsgraben unterhalb der Stadtmauer: Zahlreiche Leute bei div. Gartenarbeiten, überwiegend Blumengießen (div. Einst., z.T. nah). 36. Sequenz, erhalten: Gemeinschaftsunterkünfte. – 17 m Außenanlagen der Wohnbaracken mit Bewohnern, überwiegend Frauen u. Kinder: auf Bänken, sich unterhaltend, lesend (div. Einst.). – 37 m Wohnbaracke des Frauenheims innen. Schwenk über breiten Mittelgang zu einzelnen Parzellen mit Holztischen u. Holzbänken. Doppelstockbetten trennen Parzellen, z.T. mit Tüchern verhängt. Div. Frauen u. junge Mädchen beim Lesen, bei Handarbeit (Stricken, Nähen). Unterhaltung in kleinen Gruppen, Kartenspielen u.a. eine Schwester in Tracht (div. Einst., z.T. nah, z.T. Kamerafahrt). 37. Sequenz, unvollständig (Anfang) erhalten: Abendessen einer ›Familie‹. – 02 m ›Familie‹ an Esstisch in Wohnraum. Zwei gerahmte Bilder an Wänden: Großeltern (dargestellt von David Cohen u. Frau Amsterdam). Eltern u. zwei Mädchen (dargestellt von Phillip Kozower, seiner Frau u. seinen Kindern). Tisch gedeckt (vgl. https://ww w.cine-holocaust.de/cgi-bin/gdq?efw00fbw000812.gd.) Für einen Überblick über die Fragmente und deren Kennzeichnung vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Theresiensta dt_(Film)#Überlieferung_und_Erhaltungszustand

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Abbildung 1 und 2: Das Paradiesgärtlein und Schrebergärten am Festungsgraben5

So wie die Schrebergärten im Festungsgraben von Theresienstadt von hohen Wällen umgeben sind, ist auch das Paradiesgärtlein von einer Mauer mit Zinnen umfriedet, und beide Male erscheint der nach Außen abgeschlossene Raum nach innen gerichtet als Sphäre der Möglichkeiten des Selbst. In völliger Verkehrung der Tatsachen führt der Film das Ghetto als Rückzugs- und Entfaltungsraum vor, der Abstände und Ausdehnungen kennt und eine selbstbestimmte Vereinzelung und Zerstreuung der Menschen nicht nur zulässt, sondern geradezu befördert.6 Die Verdrehung der Wirklichkeit ergreift neben dem Raum auch die Zeit. Denn in den beiden Paradiesgärten scheint die Zeit still zu stehen oder durch rhythmische oder zyklische Intervalle, Abschnitte und Abläufe zumindest absehbar und weitgehend planbar. Alle den Schlussteil des Filmes bildenden Sequenzen wecken oder unterstützen diesen Eindruck, wie in besonderer Weise herausgehoben jene, in der zwei in Großaufnahmen und Standbildern porträtierte Lesende wie die Klammern als Ausgangs- und Zielpunkt der von den Gärten zu den Gemeinschaftsunterkünften überleitenden Szene fungieren und – beginnend bei der Einzelperson unvermittelt zur Kleingruppe aufsteigend und allmählich wieder zur in die Buchlektüre versunkenen, ganz sich selbst zugewandten Einzelperson rückbildend – einen auf sich selbst verweisenden, in sich geschlossenen Sinnzusammenhang suggerieren (siehe Abb. 3, in Leserichtung von links oben nach rechts unten).

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Für die Filmstills wurde das jeweils erste Bild einer Einstellung gewählt. Der die Szenen in Abbildung 4 begleitende Off-Kommentar lautet wie folgt: »In den Schrebergärten der Familien gibt es ständig zu jäten und zu gießen, wächst hier doch ein willkommener Zuschuss für den Küchenzettel.« Zu den Grundzügen einer soziologischen Ästhetik des Gartens siehe Raab (2018).

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Abbildung 3: Vor den Gemeinschaftsunterkünften

Damit erstreckt sich die Umkehrung der Wirklichkeit auch auf die vom Film vorgeführte Sozialität. Wie im Paradiesgärtlein aus dem 15. Jahrhundert herrscht im Paradiesgarten des nationalsozialistischen Propagandafilms eine Sozialität der Gleichen mit offensichtlich vollständiger Reziprozität der Perspektiven: ein relativ egalitäres, bürgerliches Mittelstandsmilieu, in dem – auf den ersten Blick – nichts auf den jüdischen Feind hindeutet. Wenn sich der Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet dann anschickt, die Gemeinschaftsunterkünfte als Gemeinschaftsunterkünfte vorzuführen, sind denn auch keine Individuen mehr zu sehen, die sich außerhalb sozialer Konstellationen befinden. Vielmehr zeigt der Film am Ende nur noch Gruppenszenen und präsentiert nach einer langen Kamerafahrt vorbei an wie zu tableaux vivants arrangierten Gruppen, an seinem dramaturgischen Höhe- und Endpunkt eine in kleinbürgerlicher Idealgestalt im Kreise von Eltern, Kindern und Großeltern vereinte Familie beim Abendessen in der Privatwohnung (siehe Abb. 4 und 5). Doch was ist so interessant am vermeintlich normalen, gewöhnlichen und selbstverständlichen Alltag, dass er gefilmt wird? Anders gefragt: Wer sollte das Zielpublikum der Verdrehung und Täuschung des realen Ghettolebens sein? Bereits zum Beginn der Dreharbeiten konnte die deutsche Bevölkerung nicht mehr als Adressatin in Betracht kommen. Nach Jahren der antisemitischen Propaganda in der Bildpresse (vgl. Hoffmann 2013; Scharnberg 2018), in Wochenschauberichten und in Filmen wie Der Ewige Jude (1940) und Jud Süß (1940) wäre es abenteuerlich, wenn nicht gar vermessen gewesen, dem Publikum jüdische Menschen und einen jüdischen Alltag zu präsentieren, die das indoktrinierte, antijüdische Ressentiment widerlegt. Denn auf die aus der Propaganda bekannten, überfüllten und von vor Schmutz starrenden Räume

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Abbildung 4 und 5: In den Gemeinschaftsunterkünften und Abendessen einer ›Familie‹

verzichtet der Film ebenso wie auf stereotype jüdische Physiognomien, Kleidung und Frisuren, aber auch auf das Schachern und Gaunern, Handeln und Feilschen, und nicht zuletzt auf typische religiöse Handlungen wie Gebete, rituelle Bäder, das Schächten oder die Beschneidung. Stattdessen herrschen Ordnung und Sauberkeit, gibt es soziale Einrichtungen und eine gut funktionierende Organisation, gehen ›arisch‹ aussehende, gesunde, wohl genährte Menschen ihren Arbeitstätigkeiten und Freizeitbeschäftigungen nach und betätigten sich auf hohem kulturellen Niveau – und das in einer Siedlung, die nicht von einer idyllisch befriedeten, deutschen Kleinstadt zu unterscheiden ist und die der ›Führer‹ eigens für die Juden eingerichtet hat, während er das eigene Volk den Bombardements der Alliierten aussetzt und den Leiden des Krieges überlässt. Kurz, der Kinoeinsatz des Theresienstadtfilms hätte beim deutschen Publikum zu Unverständnis und Verwirrung, wenn nicht gar zu Empörung führen müssen. In der Forschung dominiert denn auch eine andere Deutung. Theresienstadt und der Theresienstadtfilm seien von den Nationalsozialisten zur Tarnung und Vertuschung ihrer eigentlichen Absichten und ihrer tatsächlichen Behandlung der europäischen Juden geplant und eingesetzt worden. Die wichtigste Funktion des Ghettos und des Films sei es gewesen, gegenüber dem Ausland als Maske, Deckmantel und Fassade einen wirkungsmächtigen Beitrag zur durchaus theatralen Verschleierung des tatsächlichen Ausmaßes der Judenermordung in den Vernichtungslagern zu leisten, nicht nur um Verdächtigungen und Anschuldigungen zu zerstreuen, sondern vor allem

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um die Verhandlungsaussichten mit den Alliierten zu verbessern. Allerdings ist überaus fraglich, ob sich die Weltöffentlichkeit auf den zwar aufwändigen, aber solitär gebliebenen Versuch der Vortäuschung einer humanen ›Lösung der Judenfrage‹ eingelassen hätte, und ob die Farce angesichts der in ihrem Ausmaß immer offensichtlicher und immer drastischer zutage tretenden Gräueltaten und Verbrechen an der Menschlichkeit überhaupt noch irgendwelche mildernden Umstände für die Täter bewirkt hätte. Auch die Annahme, der Film hätte weiteren Besuchen des Internationalen Roten Kreuzes oder den Inspektionen anderer Hilfsorganisationen vorbeugen sollen, vermag kaum zu überzeugen, da er die Verhältnisse an lediglich einem der betreffenden Orte und zudem nur ›aus der Konserve‹ zugänglich macht. Ergänzende und weiterführende Interpretationen müssen dem Umstand gerecht werden, dass der Theresienstadtfilm das über Jahre gezeichnete Feindbild vom ›jüdischen Untermenschen‹ in sein völliges Gegenteil verwandelt. Wir knüpfen daher an die zuerst von Gertrud Koch vorgebrachte und später von Anja Horstmann aufgegriffene Lesart an, nach der die in den osteuropäischen Ghettos, vor allem im polnischen Warschau, gedrehten Propagandafilme von den Nationalsozialisten zur Archivierung genutzt und als vermeintlich historische Dokumente nach der ›Lösung der Judenfrage‹ eingesetzt werden sollten.7 Hierfür wurden die Juden in den Ghettos durch »Konzentrierung, Hunger und Demütigung dem nationalsozialistischen Propagandabild angepasst« und diese »durch die Täter erzwungene Realität« lieferte »wiederum die Bilder, die zur ihrer Begründung dienen sollten«

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Überliefert sind folgende Filmdokumente: Ghetto(Archivtitel), Produktionsland: unbekannt, Auftraggeber: unbekannt, Kamera: Sonderführer Willy Wist, beschäftigt bei Filmeinsatztrupp OKW, Drehzeit: 2. Mai bis 2. Juni 1942, Drehort: Warschauer Ghetto; Kopie: Bundesarchiv-Filmarchiv, Signatur 17411, 35 mm, s/w, stumm, 1.737 m (= ca. 63'). Film ohne Titel und Vorspann, mit Tonkasch kopiert. Ghetto– Restmaterial (Archivtitel), Produktionsland: Deutsches Reich, Produktionsfirma: unbekannt, Auftraggeber: unbekannt, Kamera: Sonderführer Willy Wist, Kopie: Bundesarchiv-Filmarchiv, Signatur: M 19675, 35 mm, s/w, stumm mit Tonkasch kopiert, 948 m. Das Warschauer Ghetto (Archivtitel, 1942), Produktionsland: Deutsches Reich, Produktionsfirma: Amateurfilm, Kamera: Paul Adam/Andreas Honowski, Kopie: Bundesarchiv-Filmarchiv, Signatur: M 3180, 16 mm, s/w, stumm, 86 m. Sowie Asien in Mitteleuropa(Archivtitel, 1942), Ghetto in Dombrowa und Bedzin (Archivtitel, 1942) und Judendeportation in Polen(Archivtitel, 1942), alle im Bundesarchiv-Filmarchiv, Berlin archiviert und einsehbar.

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(Horstmann 2013: 6).8 Es galt mithin, die gezielt herbeigeführten, menschenunwürdigen Umstände »propagandistisch als ontologischen Zustand ›jüdischer Natur‹« vorzugeben (Koch 1992: 173), und so den Beweis zu führen und den Beleg zu liefern, »die im Ghetto lebenden Juden wären nicht in der Lage, ein Sozialwesen aufzubauen« und würden deshalb auch »nicht durch Gewalt von außen, sondern durch eine innere Dynamik zugrunde gehen« (Horstmann 2013: 6; 2009: 6). Unsere diese Interpretation aufgreifende und weiterentwickelnde These ist, dass sich der Theresienstadtfilm naht- und bruchlos in die von den Nationalsozialisten als ›Dokumentationen‹ titulierten Propagandaproduktionen einreiht. Denn nicht anders als Der ewige Jude. Ein Dokumentarfilm über das Weltjudentum soll Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet von einem zukünftigen Publikum als objektives und authentisches Zeugnis der Wirklichkeit des Judentums eingeschlossen seines in letzter Instanz selbstzerstörerischen Wesens gesehen werden. Im Unterschied zur höchst diffamierenden und äußerst aggressiven, gänzlich unverhohlen auf antisemitischen Hass zielenden und so die Massenvernichtung legitimierende Machart seines Vorgängers, wählt der Theresienstadtfilm, wie im Folgenden am Material aufgezeigt werden soll, oberflächlich besehen zwar eine absurd beschönigende und irritierend egalisierende Darstellung. Die Inszenierung gibt sich bei genauem Hinsehen jedoch als nur vordergründig konterkarierende und entschärfte, vielmehr raffinierte Modulation derselben ideologischen Botschaft zu erkennen.

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In seiner Studie über totale Institutionen beschreibt Erving Goffman diese Praxis als »Looping«: Um den Unterschied zwischen Stab und Insassen als grundsätzlichen Unterschied zweier Personenkategorien und Menschentypen zu inszenieren, lenkt oder zwingt der Stab die Insassen in bestimmte Situationen (fehlender Schlaf, ungenügende Nahrung, physischer Stress, herausgezögerte Entscheidungen, Erzeugen von Angst usw.), bewertet die dann auftretenden Verhaltensmuster (Schweigen, Misstrauen, unkooperatives Verhalten, Respektlosigkeit, mutwillige Zerstörung usw.) als Zeugnisse ihrer wesensmäßigen Andersartigkeit und nimmt sie als Rechtfertigungsgründe für seine darauf reagierenden Maßnahmen (vgl. Goffman 1972: 43f.; 292f.).

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Propagandistische Aufklärung: Selbstenthüllung in Spiegelschrift Unsere These von der Strukturkontinuität der nationalsozialistischen ›Dokumentarfilme‹ wollen wir anhand von drei Aspekten plausibilisieren. Zunächst an den im von uns herangezogenen Filmausschnitt vorgeführten sozialen Wechselwirkungen mit besonderem Fokus auf räumliche Nähe und Distanz, auf körperliche Zu- und Abwendungen sowie auf das Blickverhalten. Anschließend, im selben Filmausschnitt, am Umgang mit dem für die Stigmatisierung der Juden zentralen Symbol des Sterns. Und schließlich über die Selbstbeschreibung der jüdischen Gemeinschaft durch Paul Eppstein, den Vorsitzenden des Ältestenrates der Juden von Theresienstadt, in seinem ihm von den Nationalsozialisten in den Mund gelegten Rechenschaftsbericht, gleichzeitig der mit 46 Sekunden längsten zusammenhängenden Wortäußerung und darüber hinaus der einzigen Sequenz im Film, in der ein jüdischer Mensch zu Wort kommt. Die Sequenz ›Gemeinschaftsunterkünfte‹ wird von einem EstablishingShot eingeleitet, der allmählich aufblendet und eine Ansicht in Vogelperspektive präsentiert (vgl. Abb. 6). Auf einem Siedlungs- oder Dorfplatz befinden sich etwa 35 Personen, mehrheitlich Kinder und Frauen mittleren Alters, bei Sonnenschein in sommerlicher Kleidung.9 Eine Baumreihe am oberen Bildrand und den Bildausschnitt links und rechts begrenzende Gebäude wecken und unterstützen den Eindruck eines harmonisch-befriedeten, bürgerlichmittelständischen Milieus. Nichts in dieser Idylle deutet auf den jüdischen Feind hin, vielmehr könnte dieser Platz durchaus in einer deutschen Kleinstadt liegen. Allerdings, während die Kinder ein natürliches Verhalten an den Tag legen, umherspringen und miteinander spielen, wofür sie Tücher auf dem Boden ausgebreitet haben, wirken die Erwachsenen an ihren Positionen wie eingefroren, kaum anders, als die wie zu einem Raumteiler arrangierte Reihe von Pflanzenkübeln im Bildvordergrund. Wenn sie in Kleingruppen zusammenstehen oder -sitzen, haben ihre Körper zwar eine kommunikative Ausrichtung, aber die Personen wirken räumlich distanziert, bleiben physisch starr und vollziehen kein kommunikatives Handeln. Noch gesteigert drückt

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Mit dem Establishing-Shot zu den sogenannten Gemeinschaftsunterkünften setzt ein Off-Kommentar ein: »Der Feierabend ist hier die richtige Zeit des privaten Lebens. Vor und in den Wohnungen wird noch geplaudert, gelesen oder gespielt. Alleinstehende Frauen und Mädchen machen es sich in ihrem Frauenheim gemütlich.«

Die Hölle von Theresienstadt als Paradiesgarten im nationalsozialistischen Propagandafilm

sich die Künstlichkeit des sozialen Arrangements und die in den Sozialbeziehungen angezeigte Distanz und Fremdheit im Verhalten jener beiden Personen aus, die als einzige eine komplette soziale Interaktionssituation durchlaufen. Gemeint sind die beiden Frauen rechts unten im Bild, die während sie sich aufeinander zubewegen und sich begegnen nicht nur ihre Gesichter immer stärker voneinander abwenden, sondern auch ihren körperlichen Abstand umso mehr vergrößern, je näher sie sich kommen (siehe Abb. 6). Die mit dem für überschaubare, gesellige Gemeinschaften konventionell erwarteten, mithin ›normalen‹ Dorfleben brechende, großstädtische Abständigkeit und Anonymität setzt sich in der kurz darauffolgenden Einstellung fort, wenn Mutter und Kind untereinander ein ›natürliches‹ Interaktionsverhalten zeigen, den vorbeigehenden älteren Herren aber keines Blickes würdigen und auch von ihm keinerlei Beachtung finden (siehe Abb. 7).

Abbildung 6: Vor den Gemeinschaftsunterkünften, Establishing-Shot

Ein weiterer Normalitätsbruch zeigt sich im Umgang mit dem auf der Oberbekleidung getragenen Erkennungs- und Zugehörigkeitsabzeichen der Gemeinschaft: dem sechszackigen Stern mit der Inschrift ›Jude‹. Denn zuallererst ist erklärungsbedürftig, welchen Sinn die selbstgewählte oder fremdauferlegte Kennzeichnung innerhalb des »jüdischen Siedlungsgebietes«, in dem es niemanden gibt, von dem sich die dort lebenden Juden symbolisch ausweisen müssten oder abgrenzen könnten, überhaupt haben könnte. Darüber hinaus tragen nicht alle Mitglieder der Gemeinschaft den Stern. Ein merkwürdiger Umstand, der über den Verlauf des gesamten Filmfragments hinweg immer wieder ins Auge sticht, so auch in der Sequenz vor den Gemeinschaftsunterkünften, in der er nur in vier von elf Einstellungen eindeutig zu erkennen ist (siehe Abb. 3 und 7). Noch hinzu kommt der uneinheitliche

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Abbildung 7: Vor den Gemeinschaftsunterkünften

Umgang mit dem Emblem, wenn es nicht, wie in der überwiegenden Zahl der Fälle, auf der linken Brustseite, sondern gleich einem modischen Accessoire neckisch am Hosenbund getragen wird (siehe Abb. 8).

Abbildung 8: Vor den Gemeinschaftsunterkünften, Ausschnittvergrößerung

Diese Auffälligkeiten und Besonderheiten des Gemeinschaftslebens legt der Film dem des Vorsitzenden des Ältestenrates von Theresienstadt in dessen Rechenschaftsbericht thematisch in den Mund und macht sie als angeb-

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liche Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung der Juden explizit.10 So spricht Paul Eppstein gleich zu Beginn eine merkwürdige Doppelaspektivität aus Zwang und Passivität einerseits und Eigenständigkeit und Aktivität andererseits an, wenn er ausführt, dass die Juden »eine Selbstverwaltung aufgebaut« haben, während »Theresienstadt zu einer jüdischen Siedlung umgestaltet worden ist.« Die ungelenk wirkende Formulierung deutet an, dass es sich bei Theresienstadt zwar um eine organisatorisch funktionierende Siedlung, aber weder um ein autonomes noch um ein konsistentes soziales Gebilde handelt. Die angezeigte Widersprüchlichkeit und Unstimmigkeit setzt sich fort, wenn der Ältestenrat »heute rückblickend sagen« darf und »feststellen« kann, »dass wir für Alte und Kranke, für Kinder und Jugendliche ebenso zu sorgen haben, wie für die Männer und Frauen, die in unserer Gemeinschaft arbeiten«, und damit eine für jedes menschliche Gemeinwesen natürliche, soziale Verantwortlichkeiten als spät erlangte Einsichten ausgibt, die von jener nicht selbst in die Wege geleiteten Umgestaltung von Theresienstadt offenbar erst angestoßen und hervorgebracht wurde. Konsequenterweise mündet Eppsteins Rede denn auch in dem vermeintlichen Selbstbefund, das jüdische »Gemeinschaftsleben« von Theresienstadt weise »ein eigentümliches Gepräge« auf. Tatsächlich war Eppsteins Ansprache an dieser Stelle noch keineswegs zu Ende geführt (vgl. Adler 1958: 327), was den Umstand, dass der Film den Rechenschaftsbericht mit dieser wie ein Resümee klingenden Aussage schließen lässt, umso bedeutsamer macht. Denn ›eigentümlich‹ kann

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»10. Sequenz, erhalten: Die jüdische Selbstverwaltung – Sitzung des Ältestenrates. Eppstein erhebt sich und spricht zu den am langen Tisch sitzenden Mitgliedern des Judenrates: Meine Herren! Lassen Sie mich diesen Rechenschaftsbericht zusammenfassen: Wir haben in diesen Jahren, in denen Theresienstadt zu einer jüdischen Siedlung umgestaltet worden ist, eine Selbstverwaltung aufgebaut. Sie hat ihre Aufgabe, wie wir wohl heute rückblickend sagen dürfen, zu erfüllen vermocht. Lassen wir alle Einzelheiten über die Stufen dieses Aufbaus, über Leistungen unserer Arbeiter beiseite und wenden den Blick aufs Ganze. Wir können dabei feststellen, dass wir für Alte und Kranke, für Kinder und Jugendliche ebenso zu sorgen haben, wie für die Männer und Frauen, die in unserer Gemeinschaft arbeiten. Lebensformen sind dabei entstanden, die in der Arbeitspflicht für unsere Gemeinschaft nicht in Besitz oder Herkunft verankert sind. Dass hier Juden aus verschiedenen Lebensbezirken und -räumen zusammengekommen sind, darunter bekannte Gelehrte, Künstler und Persönlichkeiten mit öffentlichen Verdiensten, Ingenieure und Techniker, Handwerker und sonstige Facharbeiter, gibt dem Gemeinschaftsleben ein eigentümliches Gepräge« (vgl. https://ww w.cine-holocaust.de/cgi-bin/gdq?efw00fbw000812.gd).

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positiv besetzt ›besonders‹ oder ›einzigartig‹ bedeuten, neutral besehen ›zugehörig‹ oder ›spezifisch‹, und negativ konnotiert ›seltsam‹, ›merkwürdig‹, ›abweichend‹, ›eigenartig‹ oder ›sonderbar‹; während der Ausdruck ›Gepräge‹ im Unterschied zum alternativ möglich gewesenen ›Gebilde‹ oder ›Gestalt‹ die eingangs der Rede angezeigte Passivität aufgreift und eine wie auch immer auferlegte Eigenart, ein Charakteristikum, einen Wesenszug bezeichnet. Einerseits präsentiert der Theresienstadtfilm also jüdische Menschen und jüdische Sozialität in einer vollständigen Negierung von all jenen abwertenden Typisierungen wie sie die nationalsozialistische Propaganda bis dahin auszeichnete. Denn vordergründig sehen die vorgeführten Juden nicht nur wie ›arische‹ Deutsche aus, sie verhalten sich auch wie diese und teilen und schätzen offenbar dieselben Tugenden und Werte, sodass die ›Untermenschen‹ von den ›Herrenmenschen‹ letztlich nicht mehr zu unterscheiden sind und die als radikales Gegenbild aufgebauten Juden zum Ebenbild mutieren. Einzig der Stern markiert noch den Unterschied und setzt den Feind in Distanz. Und indem der Film das Erscheinen des Sternes streut und fortwährend variiert, vom gänzlichen Ausbleiben über mehrere Szenen über die Mehrfachkennzeichnung einzelner Personen bis hin zum scheinbar freien Spiel seiner Platzierung, weckt er nicht nur die Aufmerksamkeit, schult die Sensibilität und hält den suchenden und prüfenden Blick wach für das entscheidende Detail, sondern gibt die jüdische Gemeinschaft zugleich als strukturell uneinheitliches Gebilde zu erkennen. Andererseits haben die Juden jene Alltagswelt, in der sie augenscheinlich ganz bei sich zu Hause sind, wenn überhaupt, dann nur in Teilen selbst geschaffen. Denn eigenständig, das machen die durch Eppstein sprechenden Nationalsozialisten deutlich, wären die im Ghetto lebenden Juden nicht in der Lage, ein funktionierendes und lebensfähiges Gemeinwesen zu begründen und aufrechtzuerhalten. Diesen Eindruck unterstützt der Film, wenn er immer wieder soziale Situationen fokussiert, in denen Menschen abwesend, ausweichend oder abwehrend wirken oder wenn er wiederholt den Blick auf das Detail lenkt, dass sich die Bewohner desselben Dorfes zueinander wie Fremde verhalten. Das vom Theresienstadtfilm vorgeführte Paradies erschöpft sich somit bei genauem Hinsehen keineswegs in jener illusionär überforderten heilen Welt, die der internationalen Weltöffentlichkeit einen menschlichen Umgang mit den Juden vorgaukelt. Die wenn auch subtile, so doch an neuralgischen Stellen der Kommunikation angezeigte und für den eingeübten und wissenden Blick entzifferbare Botschaft des Films lässt sich vielmehr mit Helmuth Pless-

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ner auf die Formel abkürzen: »Mit der Wirklichkeit rechnen heißt mit dem Teufel rechnen« (Plessner 2003/1924: 126). Denn wie im Paradiesgärtlein des 15. Jahrhunderts steckt der Teufel mehr oder weniger versteckt im Detail und symbolisiert, analog dem Stern im Film, eine ganz augenscheinlich unauslöschliche und wirkungsmächtige diabolische Potenz (siehe Abb. 9).

Abbildung 9: Das Paradiesgärtlein, Ausschnittvergrößerung

Damit rekurriert der Theresienstadtfilm auf durch die nationalsozialistische Propaganda etablierte und geteilte Wissensbestände, nach denen die Juden vortäuschen, was sie auf sich allein gestellt niemals sein können: eine lebensfähige Gemeinschaft. Überleben können sie nur parasitär, wofür sie ihren ›Wirt‹ täuschen, indem sie sich ihm angleichen, nur um ihn auszuzehren und zu überleben. Zur Unterstützung dieser Mythenpolitik führt Der ewige Jude. Ein Dokumentarfilm über das Weltjudentum das parasitäre Dasein und heimtückische Täuschen der Juden als natürliches und eigentümliches, damit unauslöschliches und in diesem Sinne ›ewiges‹ Wesensmerkmal vor: die Juden verwandeln sich, passen sich an und machen sich gleich – aber sie bleiben, was sie sind. Doch ihr Enttarnen verlangt geübte Augen und genaues Hinsehen auf die Details. Denn »freilich wandeln sie ihr Äußeres, wenn sie von der polnischen Niststätte in die reiche Welt hinausgelangen. Peies und Bart, Kappe und Kaftan kennzeichnen den Ostjuden für jedermann. Legt er sie ab, so erkennen nur schärfer blickende Menschen seine rassische Herkunft. Es ist ein we-

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sentliches Charaktermerkmal des Juden, dass er immer bestrebt ist, seine Abstammung zu verbergen, wenn er sich unter Nicht-Juden bewegt. […] Bereit, sich in die westliche Zivilisation einzuschleichen. Natürlich wissen sich diese Ghetto-Juden zunächst noch nicht den sauberen europäischen Anzügen zu bewegen [Abb. 10]. Etwas besser können es diese Berliner Juden [Abb. 11]. […] In allen Äußerlichkeiten versuchen sie, es dem Gastvolk gleichzutun. Und instinktlose Völker lassen sich von dieser Mimikry täuschen und betrachten sie tatsächlich als Ihresgleichen« (Der ewige Jude, 1940, Minute 18.39-20.41).

Abbildung 10 und 11: Der ewige Jude

Die von Fritz Hippler seinem ›Dokumentarfilm‹ unterlegte Produktionslüge »hier werden Juden nicht dargestellt, sondern sie zeigen sich selbst, wie sie sind: kein einziges Bild ist hier gestellt, kein Jude etwa zu einer besonderen Handlung oder Stellung gezwungen worden« (zit.n. Horstmann 2009: 7), geht mit der Grundhaltung des ›Dokumentarfilms‹ aus Theresienstadt konform. Letzterer moduliert die nationalsozialistische Kernbotschaft allerdings auf raffinierte Art und Weise, wenn er vorgibt zu dokumentieren, was wesensbedingt und mithin naturgemäß geschehen muss, werden die Juden in einem eigens eingerichteten, streng kontrollierten Experiment auf sich selbst gestellt und mit der Aufgabe konfrontiert, ihr Leben eigenständig zu führen und zu verwalten. Aus Perspektive der nationalsozialistischen Beobachter trifft im künstlich abgeschlossenen und selbstversorgten Raum das schmarotzende, asoziale und destruktive Wesen dann nur noch auf seinesgleichen, gibt seine wahre, völlig andersartige Natur preis und das ›eigentümliche Gepräge‹ seines in letzter Instanz selbstzerstörerischen Gemeinschaftslebens tritt

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hervor. Dann drückt tatsächlich »jedes soziale Arrangement […] den grundlegenden Unterschied […] aus« (Goffman 1972: 112), der sich dann wiederum in jede Einstellung des Propagandadokumentarfilms ›authentisch‹ und ›objektiv‹ einschreibt und sich mit Arnold Gehlen konstatieren lässt: »Er hat sich ihrer, hat sich seiner Natur im Bilde bemächtigt und sich und sie so lange geformt, bis sie dem Bild entsprachen, und jetzt waren sie ihm natürlich« (Gehlen 2004: 239). In unserer Lesart repräsentiert der Theresienstadtfilm somit keinen Irrläufer oder Sonderfall der politischen Ideologie und antisemitischen Propaganda des sogenannten Dritten Reichs. Vielmehr steht er für eine Spielform der Ästhetisierung nationalsozialistischer Mythen- und Vernichtungspolitik, deren irritierende Besonderheit die verspiegelte Entlarvung der Juden ist: ihre »Selbstenthüllung in Spiegelschrift« (Kracauer 2013: 61).

Resümee und Schluss: Die Hölle von Theresienstadt als Ort der zweifachen Nihilierung Wir näherten uns der Hölle von Theresienstadt in drei Schritten: von ihrer historischen Wirklichkeit als Sonderlager und Teil der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik über die persönlich erlebte und erinnerte Wirklichkeit von Überlebenden des Ghettos hin zur Rekonstruktion und Deutung der vom Propagandafilm vorgeführten Wirklichkeit. Anhand der materialen Analyse ausgewählter Filmsequenzen entwickelten wir die These, dass es sich beim Theresienstadtfilm, um ein Propagandaprodukt ganz in der Tradition und ganz im Dienste der nationalsozialistischen Ideologie handelt. Allerdings zeichnet es sich durch die Besonderheit aus, dass er ein Spiegelkabinett inszeniert, das die Hölle des Ghettolebens in ein Paradies verzerrt, nur um diesen Himmel auf Erden sogleich als Augentäuschung und Blendwerk vorzuführen. Der vorgeblich rein protokollierende ›Dokumentarfilm‹ entziffert die Spiegelschrift, enttarnt das Trugbild und gibt das jüdische Leben als existenzielle Gefahr für die Menschheit zu erkennen. Mit dieser Qualität von Bedrohung ist der Lebensform, die im Experiment des Ghettos von Theresienstadt sich selbst überlassen wird, auf diesem Wege zu sich selbst kommt und ihr wahres Wesen offenbart – so die Botschaft des Propagandafilms –, das eigene Vernichtungsurteil bereits eingeschrieben. Während der Filmarbeiten trifft »totale Institution« (Goffman 1972) auf »totalitäre Propaganda« (Kracauer 2013), was jene zweifache, wechselseitig sich verstärkende Nihilierung bewirkt, die aus Theresienstadt eine spezifi-

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sche Ausgeburt der nationalsozialistischen Hölle macht. Zweifach ist die Nihilierung weil bereits das Dasein in der totalen Institution »elementare und direkte Angriffe auf das Selbst« bedeutet und auf »die Zerstörung des formellen Verhältnisses zwischen dem Individuum und seine Handlungen« hinwirkt (Goffman 1972: 43); und weil noch hinzu »der nihilistische Charakter der Propaganda« zu Tage tritt (Kracauer 2013: 59), wenn der Stab die Insassen zu Werkzeugen degradiert und unter Todesandrohung zwingt, den Ort der Tyrannei und des Terrors in einem perfiden Verdrehungsspiel zu einem innerweltlichen Paradiesgarten zu verklären, nur um dieselben Insassen als wesensbedingt heimtückische Täuscher vorzuführen, sie dabei zu filmen und nach getaner Arbeit in den Gaskammern von Auschwitz zu ermorden. Theoretisch gesprochen befördert die aus dem Zusammengehen von totaler Institution und totalitärer Propaganda resultierende zweifache Nihilierung eine zugespitzte »Form von negativer Legitimation« (Berger/Luckmann 2016: 123). Denn wer nihiliert schließt alles aus, was mit der eigenen Sinnwelt nicht konform geht und begreift jede konkurrierende Wirklichkeitsbestimmung als existenzielle Gefährdung, was dazu verleiten kann, sogar den »Nachbarn als Untermenschen« anzusehen – worauf es nur noch ein kurzer Schritt, nämlich »eine Frage der politischen Praxis« ist, ob man »auch physisch vernichtet, was man zuvor theoretisch nihiliert hat« (ebd.). In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird dieses Denken zum Grundmotiv politischen Handelns, wenn sich in Faschismus, Kommunismus und insbesondere im Nationalsozialismus die Bestrebungen radikalisieren, neue Gesellschaften für neue Menschen zu erschaffen und diese Ansätze mit der Ausgrenzung und Vernichtung von jedem als unzulänglich erachteten menschlichen Leben ebenso einhergehen, wie mit der Abwertung und Auslöschung all jener Gemeinschafts- und Gesellschaftsformen, die sich für das menschliche Zusammenleben als vermeintlich zerstörerisch erweisen. Dann beweist sich mit Carl Schmitt: »Der politische Feind braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch hässlich sein. […] Es ist eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, dass er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas Anderes und Fremdes ist« (Schmitt 1932: 14). Auch wenn es das handlungsleitende Motiv zum Theresienstadtfilm gewesen ist, der Welt einen humanen Umgang mit den Juden vorzutäuschen und selbst wenn es Kurt Gerron gelungen ist, dem Propagandawerk einen subversiven Subtext zu unterlegen, wirkt das Nihilierungsmotiv bei den nationalsozialistischen Auftraggebern des Filmes nach und prägt das Handlungsprodukt nicht weniger und kaum anders, als die vom ›Führer‹ vorgedachte

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und durch seinen Propagandaminister umgesetzte Formel »dass durch kluge und dauernde Propaganda einem Volk selbst der Himmel als Hölle vorgemacht werden kann und umgekehrt das elendste Leben als Paradies« (Hitler: Mein Kampf, Band 1, 1941/1925: 302; vgl. auch Hartmann et al. 2016: 719). Für die Nationalsozialisten birgt der Theresienstadtfilm damit das Potenzial, in einer wie auch immer gearteten Nachwelt zum Vermächtnis zu werden, so ihre Ideologie über die eigene Zeit hinaus am Leben zu erhalten und als vermeintlich dokumentarisches Anschauungsstück nicht nur das zukünftige Erinnern an eine ausgelöschte ›Rasse‹ anzuleiten, sondern die Begründung für ihre theoretische und physische Vernichtung zugleich mitzuliefern.

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Die Hölle der Gesellschaft und die gesellschaftliche Hölle

Die Hölle der Gesellschaft Stefan Böschen und Willy Viehöver

Einleitung Der Basso Continuo von Gesellschaft erklingt in einem berühmten Diktum des französischen Dichters Paul Valery: »Zwei Gefahren bedrohen immerfort die Welt: die Ordnung und die Unordnung.« Diese beiden Gefahren spiegeln sich im Narrativ der Hölle wider, ein Narrativ, das auch in der Moderne seine Bedeutung keineswegs verloren hat. Dabei war das Projekt moderner Gesellschaften ganz entwicklungsoptimistisch gestartet – gleichsam als Projekt der Überwindung von Höllen(vorstellungen) durch Fortschritt (vgl. Rapp 1992). Und dieser Optimismus wurde unterlegt durch in der Frühen Neuzeit aufkommende neue Methoden der rationalen Welterschließung und aktiven Weltgestaltung. Dabei spielt sicherlich die Entstehung moderner, auf inhärent technische Verwertung ausgerichtete Wissenschaft eine Schlüsselrolle (Münch 1986). Aber zugleich kommen neue Formen der sozialen Organisation von Gemeinwesen sowie von Märkten nach frühkapitalistischem Muster ins Spiel (vgl. zum Beispiel Sloterdijk 2005). Moderne Gesellschafen lassen sich dadurch charakterisieren, dass sie sich angesichts »unerfüllter Aufträge« (Sloterdijk 1989: 329; aber auch Reckwitz 2019a) fortwährend aufs Neue mobilisieren (müssen). Kritik eröffnet Gegenentwürfe, Gesellschaft wird folglich als eine andere denkbar (vgl. Foucault 1993; Bonß 1982), und so formieren sich fortlaufend Kräfte zur Überschreitung bisheriger Ordnungsmuster. Zwar offenbart der Dreiklang von Fortschritt, Innovation, Transformation zwar die ganze Bewegungsenergie von Modernität, zugleich ist dies aber nur die eine Seite der Medaille. Denn schon mit der Formulierung des Fortschrittsprogramms wurde man seiner zwei Seiten ansichtig: innovatio als die produktive Seite von Veränderung und mutatio als deren unerwünschtes Gegenstück gesellschaftlich degenerierender Entwicklung (vgl. Schulze 2014). Fortschritt und Fortschrittskritik hielten sich also durchaus die Waage und

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dieses Muster findet sich in weiteren, strukturierenden Gegenüberstellungen, wie Technikoptimismus versus Technikskeptizismus (vgl. zum Beispiel Morandi 2002) oder Konservative versus Progressive (vgl. zum Beispiel Hirschman 1995). Rhetorik und Gegenrhetorik, Begeisterung und Besorgnis, Dialektiken – etwa der Aufklärung –, Widersprüche und Ambivalenzen (Baumann 2012) prägen die Rede über die modernen Entwicklungsdynamiken. Die paradoxen Effekte moderner Fortschrittsdynamiken bergen, um ein Beispiel zu nennen, die Gefahr – denken wir etwa an die Dynamiken und Imperative der Selbstverwirklichungskultur in der späten Moderne – wiederum in (individuelle) Höllen negativer Emotionen zurückführt zu werden (dazu Reckwitz 2019b: 219ff.; siehe auch Ehrenberg 2004, 2012). So liegt die Vermutung nahe, dass sich das von Reckwitz beschriebene Muster der »performativen Selbstverwirklichung« (Reckwitz 2019b: 217) als ein soziales Muster verstehen lässt, das nicht nur eine neue »klassenspezifische« Subjektkultur ausdrückt, sondern auch dem kollektiven Zwang zur permanenten Kreativität und Selbstüberschreitung folgt. Die Qualität des Überschreitens findet in diesem Sinne nicht nur auf der Ebene des Individuums (Reckwitz 2019b: 203ff.), sondern ebenso auf der Ebene von Gruppen und Staaten statt (Reckwitz 2006: 441ff.; Boltanski/Chiapello 2003). Die Kräfte der Überschreitung gingen nicht zufällig immer auch mit Kräften der Bewahrung einher, die die negativen Effekte einhegen sollten. Allerdings erschien dieser Aspekt lange Zeit himmelwärts stürmend im olympischen Schwung moderner Entwicklung nur als Ansicht im Rückspiegel des ungebrochenen Fortschrittsglaubens. Aber haben wir mit dem Eintritt in die Moderne auch die Vorstellungen von der Hölle und der damit einhergehenden Drohung mit ewiger Verdammnis wirklich hinter uns gelassen? Säkularisierung wurde lange Zeit als Abschied von traditionalen Formen kultureller Sinnstiftung gefeiert, dazu zählten insbesondere auch die Jenseitsvorstellungen von Himmel und Hölle in ihrer disziplinierenden Funktion. Der mit der Abkehr vom Religiösen sich lockernde Transzendenzbezug erwies sich jedoch als prekär. Zum einen verflüchtigte er sich nicht vollständig, er wurde vielmehr auf andere Instanzen verlagert (insbesondere die Kunst), als Institution trat er in der Rhythmisierung des Alltags vollkommen in den Hintergrund. Zum anderen scheint sich aber auch die Verortung der Hölle grundlegend zu verlagern. Als These zugespitzt: mit der Säkularisierung können die Sinnprovokationen des Bösen nicht mehr externalisiert werden – im Sinne von: die Hölle ist ein anderes, das der irdischen Gesellschaft jenseitig ist. Sie müssen vielmehr intern verarbeitet werden.

Die Hölle der Gesellschaft

»In einer säkularisierten Welt muss auch die Hölle notwendigerweise eine säkularisierte sein, wo keine höhere Gewalt am Werke ist, sondern die Menschen selbst. Und wenn ein Gott, der Erlösung und ewiges seliges Leben verheißt, nicht mehr existiert, dann bleibt der irdische höllische Zustand auf ewig bestehen und lässt den Menschen sein Leid spüren und zugleich verursachen.« (Hartmann 2005: 104) An die Stelle der Geborgenheit in Bezug auf ein übergeordnetes Wesen und dessen Schöpfung treten die unentrinnbare Selbst-Beobachtung und »SelbstThematisierung der Gesellschaft« (vgl. Luhmann 1975: 72ff.), ohne die Option auf Externalisierung der damit verbundenen Qualen. Die Hölle der Gesellschaft ist nun also eine doppelte: erstens besteht sie in der Verlassenheit des Menschen, der nun ohne die wohlgeglaubte Imagination göttlicher Fremdbeobachtung auskommen muss, zweitens tritt an ihre Stelle nun die Nacktheit der Menschen angesichts wechselseitiger Fremdbeobachtung. Mit der Modernisierung können wir also die Tendenz eines Abschieds von transzendenten und eine Ankunft immanenter (menschengemachter) Höllen beobachten. Aber in welchem Sinne kehrt die (Vorstellung der) Hölle wieder? Um eine erste Differenz einzuführen, die den nachfolgenden Beitrag weiterhin strukturieren wird, möchten wir die Wiederkehr der ›Hölle‹ in der Gegenwart als eine Bewegung von zwei Seiten her beschreiben: einerseits die Entstehung irdischer Höllen(vorstellungen) durch hypertrophe Ordnungsund Rationalisierungsdynamiken und andererseits im Sinne einer Genese von Höllen durch Steigerung von Unsicherheit und Ambivalenz bei gleichzeitigem Fehlen eines entsprechenden Orientierungswissens. Die eine Dynamik ist uns gut vertraut; es ist die Durchsetzung des modernen Programms der Rationalisierung und Bürokratisierung. Das »stahlharte Gehäuse« (Weber 1963: 203) ist unentrinnbar und lässt sich kaum anders denn als ›Hölle‹ vorstellen. Dabei müssen wir nicht nur an die Entkernung von Urteilskraft denken, wie sie Eichmann im Prozess gegen sich hat erkennen lassen (vgl. Arendt 1964/2011), manches so genannte Vorstadtidyll weist ebenso Merkmale einer Durchorganisierung des Lebens auf, die als Hölle Stoff für unzählige Geschichten und Karikaturen abgibt.1 Der gegenteilige Pol gewinnt zu1

Siehe dazu unter anderem die literarischen Werke von Richard Yates Zeiten des Aufruhrs (2017/1961), John Cheever Die Lichter von Bullet Park (1969), John Updike Ehepaare (1974/1968) und Sloan Wilson Der Mann im grauen Flanell (1976/1955). Auf der anderen Seite haben auch psychologische Untersuchungen über Jugendliche in Wohlstandsvierteln auf die negativen Effekte hingewiesen, die aus Leistungsanforderungen ei-

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nehmend an Bedeutung, nämlich der erwartete oder erfahrene Verlust der Ordnungskraft moderner Institutionen und das Entstehen hybrider Zonen der Unsicherheit, der Ambivalenz und des Nichtwissens (vgl. zum Beispiel Latour 1998; Bhabha 2000). So bringt die gegenwärtig vielfältig praktizierte Infragestellung von Rationalitätsansprüchen und die Abkehr vom Glauben an die rationale Begründetheit von Entscheidungen, die ein wesentliches Merkmal von Modernität darstellt (vgl. Beck et al. 2001), sehr wohl immanente ›Höllen‹ hervor, weil ein entsprechendes vertrauenswürdiges Orientierungswissen fehlt. Die Aktionen der Brexiteer-Hazardeure, welche die Gültigkeit und Vernünftigkeit bestehender politischer Architekturen und die Relevanz von Expertise in Frage stellen, lassen sich kaum anders verstehen denn als ›Höllen durch Entgrenzung‹.2 Vor diesem Hintergrund wollen wir nachfolgend zunächst eine knappe Skizze der Entwicklung moderner Gesellschaften entwerfen, dabei dienen uns mythische Formulare als analytisches Konzept. Der Plot dieser Entwicklungsgeschichte charakterisiert die Entwicklungsdynamik moderner Gesellschaften als Abschiednehmen von transzendenten Höllen durch das Versprechen des Fortschritts. Dieses Programm funktionierte über einen sehr langen Entwicklungszeitraum äußerst erfolgreich als ›Ausrottung transzendenter Höllen‹. Es arbeitete im Modus der Sinnstiftung durch die Herstellung von Eindeutigkeit, zumeist durch Wissenschaft, Technik und zweckrationale Organisation. Aber genau dieser Modus gerät seit geraumer Zeit immer stärker unter Druck. Das Verstörende der Gegenwart besteht nun, so unsere These, darin, dass wir einen Wiedereintritt in Höllen erleben, diese jedoch diesmal als ›selbst gemachte‹, immanente Höllen erfahren und bewerten (müssen) (vgl. auch Hartmann 2005). Die Versuche der Herstellung von Eindeutigkeit sehen sich nun mit den selbst produzierten Uneindeutigkeiten und Nebenfolgen des Fortschritts konfrontiert (vgl. schon Adorno/Horkheimer 1946;

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nerseits und emotionaler Vereinsamung und Vernachlässigung andererseits zu resultieren scheinen (siehe etwa Luthar/Latendresse Children of the Affluent [2005]). Darauf, nur eine Nebenbemerkung, twitterte Donald Tusk zum Höhepunkt des Austrittsstreits zwischen UK und der Europäischen Union im Februar 2019: »Ich habe mich gefragt, wie der besondere Platz in der Hölle für jene aussieht, die den Brexit vorangetrieben haben, ohne auch nur den Entwurf eines Plans zu haben, ihn sicher über die Bühne zu bringen.« Nigel Farage twitterte zurück: »Nach dem Brexit werden wir frei sein von nichtgewählten, arroganten Tyrannen wie Ihnen. […] Klingt für mich mehr wie der Himmel.«

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auch Böschen et al. 2006). Analytisch gesprochen verdankt sich diese Diagnose der Immanenz von Höllen immer komplizierteren Spannungsverhältnissen zwischen Eindeutigkeit(sversprechen) und stets neu entstehenden Uneindeutigkeiten. Diese Spannungen lassen sich im Zuge der Säkularisierung nicht mehr problemlos durch transzendente Sinnstiftung einhegen. In der Konsequenz können Konstellationen eindeutiger Uneindeutigkeit oder uneindeutiger Eindeutigkeit nicht mehr entparadoxiert werden. Der weitere Gedankengang entwickelt sich nun wie folgt: Das zweite Kapitel führt dabei den Begriff des »Mythischen Formulares« (Frese 1985) als analytisches Konzept ein. Das dritte Kapitel berichtet vom optimistischen Aufbruch in der Frühen Neuzeit, in welcher – wenn auch erst mit der Zeit – ein Abschied von den transzendenten Höllenvorstellungen und diesbezüglich disziplinierender religiöser Rhetoriken zu beobachten ist. Jedoch wird dieser optimistische Schwung im Zuge von Industrialisierung und Säkularisierung immer schwächer und mündet schließlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den beiden ›Urkatastrophen‹ der Moderne – dem Ersten und Zweiten Weltkrieg (Kapitel 4). Von hier aus skizzieren wir die weiteren Entwicklungslinien zu Ansichten der Höllen der Gegenwart (Kapitel 5). Hölle als Befindlichkeit von Gnadenlosigkeit erscheint schließlich als Signatur spätmoderner Gesellschafen (Kapitel 6).

Mythische Formulare Der Begriff des »Mythischen Formulars« stammt von dem Bielefelder Sozialphilosophen Jürgen Frese (1985), der diesen zu Beginn der 1970er Jahre einführte. Wir wollen das Konzept dazu nutzen, grundlegende Muster der Ordnung und der Sinnstiftung für die Deutung sozialen Geschehens sichtbar zu machen. Gerade in Transformationsprozessen tritt die Bedeutung von überzeitlichen narrativen Mustern besonders hervor und wird das Grenzgebiet zwischen Immanenz und Transzendenz neu ausgeleuchtet (White 1994). Wie führt nun Frese dieses Konzept ein? Er exemplifiziert seinen Formularbegriff mit einem überraschenden, wenn auch naheliegenden Beispiel, dem Meldeformular der Stadt Bielefeld. Besondere Aufmerksamkeit lenkt er dabei auf die Leerstellen: »Die Leerstellen machen […] das auf den ersten Blick Eigentümliche des Formulars aus: Ein Formular ist ein Text, der jemandem vorgelegt wird mit der

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Aufforderung, an bestimmten Stellen Textstücke zu ergänzen um Angaben, zu denen nur er selbst aus unvertretbarer Kenntnis der eigenen Situation in der Lage ist. Die offengelassenen, weißen, leeren Stellen des Formulars veranlassen den Ausfüllenden jeweils zum Innehalten in der Lektüre des ausformulierten Teiles und zur Überlegung und Entscheidung über die für ihn ganz besondere Weise der ›Fortsetzung‹ des Formulartextes. Auch das Nichtbetroffensein ist jeweils anzumerken, etwa durch ein ›entfällt‹, ein Streichen oder das einfache Leerlassen der Leerstelle.« (Frese 1985: 158) Das Formular enthält zwar klare Festlegungen über die Bereiche, die es auszufüllen gilt, wie auch die Art des Ausfüllens. Doch sind gerade die entscheidenden Stellen leer und vom (individuellen) Handelnden zu deuten und zu bearbeiten. Sie schreiben Erwartungen fest, welche Deutungs- und Handlungsmuster vom Akteur in Bezug auf eine Situation angewendet werden sollen. Formulare zeichnen sich also dadurch aus, dass sie vorformulierte Felder haben, zu denen sich diejenigen, die ein Formular ausfüllen – ob sie wollen oder nicht – verhalten müssen. Formulare verschließen bestimmte Handlungsmöglichkeiten und erzeugen Entscheidungszwänge, selbst dann, wenn die Erfahrungswirklichkeit partout nicht in das Formular passen will. Jedoch sind diese Zwänge nicht deterministisch, denn auch wenn sie zumeist restriktiv wirken, können sie sehr wohl auch subversiv genutzt werden. Auch wenn sie eine Aufforderung präziser Handlungsbefolgung in einer schematisierten Weise markieren, eröffnen sie zugleich Spielraum für individuelle Kreativität. Warum also der Begriff des Formulars? Aufschlussreich ist Freses frühe Anwendung des Formularbegriffs auf den Mythos: »Sieht man am Formular nur das Erzählschema für Geschehen, die Form für Geschichten, dann wird deutlich, was traditionell gemeint ist in der Betonung der elementaren Funktionen von Mythos. An dieser Stelle kann ›Mythos‹ vorläufig aufgefasst werden als ein Groß-Formular, das in der Weise einer in sich evidenten exemplarischen Geschichte existentiell fundamentale Prozess-Sorten so organisiert, dass durch diese Anordnung gerade auch die ›schwierigen‹ Erfahrungen einfügbar werden. […] Großes, auch überindividuelles Unglück (klassische Naturkatastrophen), insbesondere auch der plötzliche Abbruch von eingespielten Handlungsketten (durch Krieg, Vertreibung, Tod), bedürfen der mythischen Formulare. Was ein triviales Formular leistet, sieht man in der Analyse der großen, mythischen Formulare.« (Frese 1985: 158)

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Der Verweis- und Deutungscharakter sowie ihre symbolische Kraft ist für die Qualität eines mythischen Formulars entscheidend. Nicht nur Fragen der Kosmogonie und Kosmologie, insbesondere auch jene von ›Gut und Böse‹ werden in solchen Formularen (vor-)verhandelt, um darin zumeist gleichzeitig eine Instanz zu benennen, die über die Grade des Guten und Bösen sowie den handelnden Menschen letztinstanzlich richtet. Im (christlichen) Abendland bildeten die Vorstellungen von Himmel und Hölle zwei Platzhalter im mythischen Formular. Beides sind Orte, die sich der christlichen Vorstellung nach, Gott vorbehalten hat. Deshalb sind sie zwar »kein Ort für Menschen, die noch auf dieser Erde leben« (Liessmann 2019: 12), aber zugleich in hohem Maße präsent bei der Ausdeutung von Gegenwarten und folgenreich für die im Diesseits Lebenden. Denn das Entwicklungsende kommt mit todsicherer Gewissheit und den weiteren Gang des Richtens hat man als Mensch, vom Augenblick des Todes an, nicht mehr in der eigenen Hand. Mythische Formulare geben mit Verweis auf übergeordnete Instanzen Deutungsangebote vor, welche Sinn auch dann noch stiften, wenn die alltägliche Gegenwart durch Leid, Krankheit und Katastrophen und daraus resultierender Sinnverluste bedroht ist. Dieser Gedanke lässt sich in zwei Richtungen weiter entwickeln. Mit Blick auf situative Deutungen: Nachdrücklich hat der deutsche Geschichtenphilosoph Wilhelm Schapp (2012) betont, dass der Mensch qua Sozialisation in unzählige Geschichten verstrickt sei und künftig sein werde. Auch wenn er vermutlich den Begriff des Formulars meiden würde, zeigt er, dass der Mensch immer in Geschichten eingewoben ist und dass eben durch Geschichten entschieden werde, was und wer der Mensch ist – die »Geschichte steht für den Mann«, formuliert Schapp (ebd.: 103ff.). Für die Artikulation situativer Geschichten liefern mythische Formulare die interpretativen Vorlagen, um Vorkommnisse und Ereignisse in der Welt narrativ zu arrangieren und dadurch verstehbar zu machen. Die jeweiligen Erfahrungen werden untrennbar in ihnen vollzogen, wodurch sie eine eingängige und überzeugende Form erhalten. Hier kann also durch den Bezug auf solche Formulare der eigenen Position Dignität und die Aura der Unwiderlegbarkeit zuteilwerden. Denn das Archiv mythischer Formulare hält zeitlich relativ stabile sowie relevante Deutungsangebote bereit und ist letztlich überschaubar. Sie begrenzen mithin also das gesellschaftliche Deutungsrepertoire und stiften zugleich Verständlichkeit sowie Rechtfertigung. Mit Blick auf grundlegende Transformationen können freilich in (narrativen) Diskursen die elementaren Formen von mythischen Formularen selbst zum Gegenstand von Um-Deutungsprozessen werden, auch wenn für diesen Fall

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wieder typische Formen zur Verfügung stehen (White 1990).3 Ob die Transformation sich auf die Inhalte der Fabel oder mythischen Geschichte bezieht, also etwa neue Höllenvorstellungen vorgetragen werden (vgl. Hartmann 2005), oder auf die Struktur der ›typischerweise‹ verwendeten mythischen Formulare, etwa indem komödienhafte Plots durch tragödienhafte Erzählstrukturen abgelöst werden, das ist im Einzelfall nicht leicht auseinander zu halten.4 In Zeiten des Corona-Virus lassen sich solche Verwicklungen gut an Geschichten festmachen, die als sogenannte ›Verschwörungstheorien‹ bezeichnet werden, mit dieser Kennzeichnung aber letztlich nur schlecht verstanden sind.5 Denn in solchen Geschichten drückt sich zunächst einmal das Unbehagen über die befürchtete Transformationsdynamik in der Gegenwart aus. An den Plots, welche zwar die Ursachen des Übels – nämlich: die wirtschaftsliberale Weltelite mit Bill Gates als einer ihrer Hauptexponenten – relativ einhellig bestimmen können, fällt zugleich auf, was für ein Sammelsurium an konkreten Problemen und Krisenlagen thematisiert wird. Diese Zerfaserung als Ausdruck je individueller Wirrheit zu verstehen greift zu kurz, können diese Artikulationen doch auch als Ausdruck von Transformationsprozessen gelesen werden. Diese werden wiederum im Rekurs auf mythische Formulare erfahren und bewertet. Gleichviel: Erst im Nachhinein lassen sich dann in Verschiebungen in und zwischen mythischen Formularen Signaturen von Zeitenwenden markieren – je nachdem wie mythische Formulare auf- und umgebaut werden. Die Vor- und Darstellungen von Himmel und Hölle sind hierfür geradezu prädestiniert. Aber wir wollen uns an dieser Stelle nur der Hölle zuwenden. Um zusammenzufassen: Mythische Formulare und Narrative präformieren, da wir immer schon in einer vorinterpretierten Welt leben (vgl. Ricoeur

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White unterscheidet in seinem Werk Metahistory (1994: 22ff.) und im Anschluss an Northrop Frye vier archetypische Erzählformen, die Komödie, die Satire, die Tragödie und die Romanze, Formen, die wiederum einem »Formular« im Sinne von Freses Transformationen ein narratives Bett bieten, im Rahmen dessen aber semantische Innovationen und Modifikationen immer möglich sind (siehe dazu Ricoeur 2007: 7). Der dritte, wenn auch unwahrscheinliche Fall wäre ein neues mythisches Formular. Eine solche Rhetorik von Verschwörungstheorien ist aus mindestens zwei Gründen wenig zielführend. Zum einen kann diese als eine Abwehrrhetorik interpretiert werden, um die Zurechnungsfähigkeit Andersdenkender zu demontieren. Zum anderen adelt der Begriff der Verschwörungstheorie jeglichen damit gekennzeichneten Äußerungszusammenhang schon als Theorie. In diesem Lichte ist Verschwörungstheorie ein Kampfbegriff (unter anderem des Establishments) und zudem ein ungewollt schlechter.

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2007), die Darstellung von Welt wie auch die Perzeption und Interpretation von Situationen. Insofern liegen Situationen nicht als solche vor, sondern sie stellen sich immer als bereits interpretierte und geformte, als durch Erzählungen strukturierte Situationen dar (vgl. ebd.). Denn Deuten und Handeln vollziehen sich als Aktualisierung von solchen Geschichten, welche durch mythische Formulare ihre tiefere Sinnstruktur erhalten. Entscheidend mit Blick auf die nun folgenden Überlegungen sind gerade solche Situationen, in denen es entweder zu übergreifenden Verschiebungen hinsichtlich der Präsenz beziehungsweise der bedeutungsstrukturierenden Kraft von spezifischen mythischen Formularen kommt, oder zu einer Ko-Präsenz von miteinander konkurrierenden mythischen Formularen. Beide Fälle ziehen Fragen der Sinnstiftung, der Plausibilität, der Anschlussfähigkeit oder auch der Gültigkeit solcher Formulare nach sich – symbolische Ordnungsarbeit also, die ganz erhebliche Verwerfungen an der Schwelle zwischen Mittelalter und Renaissance aufwies. Das Mittelalter geht zur Neige, das Theatrum mundi öffnet sich.

Optimistischer Aufbruch Der Optimismus der Neuzeit wendet sich gegen einen spezifischen Pessimismus des Mittelalters.6 Augustinus hatte in seinen Ausführungen zum ›Gottesstaat der Theologie‹ der Hölle eine besondere Kontur und Schärfe verliehen. Die Verdammnis nahm darin eine besondere Stellung ein. So war Verdammnis als Strafe nicht nur die Konsequenz für das Begehen sogenannter Todsünden, sondern bildete die unentrinnbare Folge der Erbsünde. Diese nahm einen zentralen Stellenwert ein. Von dieser Prämisse war es nur ein kurzer Schritt zu einer weiteren, schwerwiegenderen Annahme, wonach es Individuen gäbe, die Gott von vornherein für die Hölle vorherbestimmt habe. Diese negative Prädestination (Vorherbestimmung zur Hölle, nicht: zum Himmel) hat eine kulturgeschichtlich tiefe Spur hinterlassen, wenngleich der dritte Ort, das Fegefeuer, eine neue Option eröffnete (Le Goff 1990). Die Anschauung,

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In diesem Zusammenhang bildet bereits die Erfindung des Fegefeuers eine folgenreiche semantische Innovation, die die Transformation von Raum-Zeitvorstellungen, aber auch von Recht, Schuld und Sühne vorbereitete (vgl. Le Goff 1990).

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dass die Zahl der Verdammten größer als die der Seligen sei, rundete diese Formulierung des mythischen Formulars von Hölle ab.7 Dabei gab es sehr wohl andere mittelalterliche Vorstellungen, welche die Hölle weniger also Ort ewiger Verdammnis beschrieben. So etwa Origenes (gest. 254 n. Chr.). Schon dieser hatte die Hölle nicht als Ort der ewigen Qual, sondern als Stätte der Reinigung verstanden (siehe auch Le Goff 1990). Seelen müssten zwar nach dem Tod in die Hölle, jedoch nur um als Geläuterte schließlich in die Nähe Gottes aufzusteigen. Diese Vorstellung beruht darauf, dass alle Seelen den Reinigungsprozess durchlaufen, bis schließlich alle Menschen mit Gott versöhnt seien. Hier zeigt sich also eine ganz andere Einschreibungsmöglichkeit in das mythische Formular. Sie eröffnet letztlich dem je einzelnen Menschen eine Präsenz in paradiesischer Letztwirklichkeit als Versöhnte in und mit Gott. In der Theologie des Mittelalters finden sich – gleichsam als Kompromiss – auch Konzepte von Vorhöllen, wie zum Beispiel das Fegefeuer als Ignis Purgatorius (Le Goff 1990, 1996). Allerdings kann übergreifend festgehalten werden, dass Augustinus sich mit seiner Auffassung und Formulierung des mythischen Formulars der Hölle deutungsmächtig durchsetzte. Mit der Neuzeit wird Hand an das christlich geprägte mythische Formular der Hölle gelegt. Es wird gleichsam ›Abschied‹ von der Hölle genommen – dieser Abschied führte freilich nicht dazu, dass das mythische Formular der Hölle seine Bedeutung verlor. Es wurde vielmehr transformiert. Noch im 17. und 18. Jahrhundert beschworen Prediger die Realität von Tod und drohender

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Auch wenn sich im christlich-katholischen Glauben, folgt man Jacques Le Goff (1990), erst nach 1150 das Konzept des Fegefeuers durchsetzte, so sah auch schon die frühe Lesart bei Augustinus (354-430), den Le Goff als den wahren Vater des Fegefeuers bezeichnet, eine dritte Dimension zwischen Himmel und Hölle vor (Le Goff 1990: 84ff.). Allerdings war Augustinus´ Konzept, der sich wenig für das Schicksal der Toten zwischen Tod und Jüngstem Gericht interessierte, ambivalent, denn er klärte weder, was denn die lässlichen Sünden, noch was die Strafen des reinigenden Feuers im Verhältnis zur höllischen Pein seien. Er wandte sich in einer vom Chiliasmus geprägten Zeit, in der im Glauben vieler das Jüngste Gericht kurz bevorstand, gegen jene Laxisten, die letztlich für jeden das ewige Heil vorsahen. Dennoch muss man sagen, dass er schon in der Spätantike einer der Wegbereiter einer Revision der Geographie des Jenseits und damit des mythischen Formulars des Mittelalters war. Und Augustinus schien nicht nur zu glauben, dass das Heil im Jenseits bereits im Diesseits verdient werden müsse, er meinte wohl auch, dass die Mühsale des diesseitigen Lebens als eine Art Fegefeuer zu betrachten seien (dazu Le Goff 1990: 88).

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Hölle mit großer Emphase, jedoch: »Im optimistischen Klima der frühen Aufklärung schwindet die Höllenangst« (Lang 2003: 83). So bekennt etwa der sich als Christ verstehende Thomas Browne in seiner Religio medici (1635), er sei frei von Höllenangst: »Ich danke Gott dafür, und melde es mit Freuden: Vor der Hölle hatte ich nie Angst, noch erbleichte ich jemals, wenn sie beschrieben wurde« (zit.n. Lang 2003: 83). Der kritische Gelehrte, der bürgerliche Unternehmer, sie bestreiten den Primat des Todes, sie bestreiten den Primat der Höllenpein vor demjenigen des Lebens auf Erden. Der Mensch tritt aus der göttlichen Ordnung und entwirft sie kritisch neu. Das mythische Formular der Hölle selbst wird einer Prüfung unterzogen oder ironisierend entthront. Wie soll sich die Annahme der Güte Gottes damit vertragen, dass es nur eine kleine Zahl von Erwählten gibt? Jean-Jacques Rousseau schreibt in Emile (1762): »Wer die Mehrheit seiner Geschöpfe zur ewigen Pein verdammt, ist nicht der milde und gütige Gott, den mir meine Vernunft zeigt.« (zit.n. Lang 2003: 84) In die gleiche Kerbe schlägt etwa von Holbach in seinen Lettres à Eugénie (1768): »Die Ideen, die man uns von der Hölle gibt, machen Gott zu einem Wesen, das unendlich viel unvernünftiger, bösartiger und grausamer ist als die barbarischsten Menschen.« (zit.n. Lang 2003: 85) Aber es finden sich in dieser Zeit auch andere Zeugnisse, welche die Hölle einer raffinierten Umdeutung unterziehen. So stellt Jean-Fréderic Bernard in seiner Eloge de L’Enfer (1759) die Frage, wie sich die moralische Korrumpierung der Gesellschaft erklären lasse. Weil man seit Jahrtausenden unter der Droge der Moral gelebt habe, die so oft verordnet worden sei, dass eine fast vollständige Immunität entstanden sei. Deshalb werde mit der Hölle gedroht. Aber die Hölle – sie selbst – sei die Moral. Deshalb gerate es zur Aufgabe der Wachsamen, die Hölle zu loben, um vor ihr zu warnen. Niklas Luhmann (1993) deutet diese Zusammenhänge in seinen wissenssoziologischen Studien zur Entstehung funktional differenzierter Gesellschaften, indem er darauf hinweist, »daß das Differenzschema von Heil und Verdammnis, dessentwegen das alte Individuum ein Individuum war, […] gescheitert war. Die Aufgeklärten des 18. Jahrhunderts verzichten auf die Hölle, sie verzichten sogar auf das Sicherheitskalkül, das man den Freigeistern des 17. Jahrhunderts noch nahegelegt hatte. Dem entspricht, daß das Individuum als differenzlos verbesserbar angesetzt wird. Aber diese Konsequenz wird nur an der Oberfläche der Aufklärung gezogen; sie ergibt sich sozusagen automatisch und unreflektiert aus

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dem Wegfall der Hölle. Aber damit ist die Differenz von Heil und Verdammnis nicht ersetzt, nicht als Differenz ersetzt.« (Luhmann 1993: 194f.) Das bedeutet, dass Ersatzangebote Not tun. Die mythischen Formulare von Heil und Verdammnis sind weiterhin wirksam, können jedoch nicht mehr in der gleichen Weise eingelöst werden. Die Erzählung der differenzlosen Verbesserbarkeit braucht ihrerseits entsprechende ›Anker‹ – Anker der Erfahrung, Anker der Imagination. Gerade die Zeit der Aufklärung ist davon geprägt, den Naturzustand etwa im Sinne Rousseaus (1998), in Form von Verehrung für das Andere, für den Exotismus, in den Vordergrund zu rücken. Aufklärerische Entwicklungserzählungen, wie Lessings Ringparabel, deuten auf den Anspruch einer neuen Kultur der Toleranz sowie die Neuordnung des religiösen Feldes, bei der die Transzendenzbezüge geöffnet werden und der Alleinvertretungsanspruch einzelner Religionen relativiert wird. Mit dieser Distanzierung verändert sich der kulturelle Bezug und verlagert sich die Hölle von der Transzendenz in die Immanenz. Zugleich ist das 18. Jahrhundert die Zeit, in der die Gestaltbarkeit von sozialen und politischen Ordnungen einen entscheidenden Auftrieb erfährt. Die formativen Kräfte bündelten sich insbesondere in den bürgerlichen Schichten zu einem Optimismus der Perfektibilität nicht nur von Individuen, sondern ebenso von gesellschaftlichen Ordnungen, insbesondere der Kultur, Ökonomie und Politik. Die von Luhmann konstatierte Verlagerung des Schemas von Heil und Verdammnis drückt sich in dem gesellschaftlichen Selbstanspruch der Ausrottung immanenter Höllen aus. Gerade dieser Anspruch ist es jedoch zugleich, der als Quelle der Entstehung immanenter Höllen immer deutlicher zutage trat. Das heißt, mythische Formulare mit ihren Kategorien des ›Guten‹ und ›Bösen‹ lassen sich zwar mit Ersatzangeboten gegebenenfalls transformieren, aber im Rahmen der sozialen und kulturellen Ordnungsbildung führen sie letztlich ein relativ eigenständiges Leben, dessen Form und Dynamik sich wesentlich auch den Besonderheiten von Situationen verdankt. Vielfach sind es ja dialektische Verschränkungen, die gerade mythische Formulare gegeneinander in Stellung bringen. Eine Entwicklungserzählung wird mit einer Gegenerzählung konfrontiert. Die Erzählung der Aufklärung wurde kontrastiert durch die Romantik. Und zugleich materialisieren sich solche Entwicklungserzählungen als politische, kulturelle und ökonomische Ordnungen. Sie erschaffen eine Welt, die als fortlaufender Deutungs- und Entwicklungsauftrag erscheint. So lange der Fortschritt als übergreifende Meta-Erzählung die Dialektik von Ent-

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wicklungserzählungen, diese Paradoxien zwischen Idee und sozio-materieller Realisierung auffangen konnte, blieb der Entwicklungsoptimismus prägend. Dieser verband sich mit der Ausrottung immanenter Höllen und dem Schaffen immanenter Paradiese. Oder wie Rousseau es formulierte: »Nimm unsre verhängnisvollen Fortschritte weg, nimm unsere Irrtümer und Laster weg, alles Menschenwerk, und alles ist gut. Wo alles gut ist, gibt es keine Ungerechtigkeit.« (Rousseau 1986: 576)

Die Zurückgeworfenen Zunächst schien es so, als würde die Aufklärung in der Asservatenkammer gesellschaftlicher Höllenvorstellungen gründlich aufräumen. Säkularisierung ist dabei das zentrale Narrativ, um den Wandel des Religiösen in modernen Gesellschaften als Abkehr vom Religiösen zu beschreiben (vgl. Lehmann 2004). Was verbindet sich mit der Theorie der Säkularisierung? Nach Pollack (2018) behauptet sie zweierlei. Zum einen nimmt sie an, dass sich »die soziale Signifikanz von Religion in modernen Gesellschaften im Vergleich zu früheren Zeitepochen abschwächt« (ebd.: 307). Zum anderen führt die Säkularisierungsthese den »religiöse[n] Bedeutungsrückgang auf Prozesse der Modernisierung zurück« (ebd.: 308). Beide Aussagen von Säkularisierungstheorien sind nicht leicht zu belegen, Gegenbeispiele lassen sich in ausreichender Menge finden (vgl. unter anderem Lehmann 2004). Gleichwohl kann festgehalten werden, dass Religion hinsichtlich ihrer sozialen Signifikanz dauerhaft im Modus der Überprüfung steht und dass dies eine Folge der fortschrittsoptimistischen Entwicklung moderner Gesellschaften ist. In diesem Sinne wirft das folgende Zitat ein wichtiges Schlaglicht auf Säkularisierung: »Die Säkularisierung hat das Religiöse nicht ausgelöscht. Sie hat das Religiöse aus unserer kulturellen Umwelt herausgelöst und lässt es dadurch gerade als rein Religiöses in Erscheinung treten. Tatsächlich hat die Säkularisierung funktioniert: Was wir erleben, ist die militante Neuformulierung des Religiösen in einem säkularisierten Raum, die dem Religiösen seine Autonomie und damit die Bedingungen für seine Ausbreitung gegeben hat. Säkularisierung und Globalisierung haben die Religionen gezwungen, […] sich als autonom zu begreifen und sich in einem Raum neu zu konstituieren, der nicht mehr territorial und damit nicht mehr der Politik unterworfen ist.« (Roy 2010: 3)

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Säkularisierung bedeutet also eine Entwicklung, bei der das Religiöse aus spezifischen kulturellen Kontexten herausgelöst und deshalb als Religiöses an sich sichtbar wird. Entscheidend ist dann – um es in Hegels Denkmuster auszudrücken – ob eine Entwicklung zum für sich vollzogen wird. In diesem Prozess spielt das Wirken mythischer Formulare eine zentrale Rolle. Denn die Entwicklungsdynamik in der Moderne lässt sich als eine beschleunigte Ausweitung der Leerstellen mythischer Formulare beobachten. Diese hängt mit den wachsenden Potenzen der Selbstmobilisierung zusammen. Von besonderer Bedeutung ist hier das ›Dreigestirn‹ der Modernisierung: Rationalisierung, Technologisierung und Bürokratisierung. Diese Entwicklungskräfte verkörperten die Fortschrittsidee und ermöglichten es, insbesondere in Gestalt des sich mit der Zeit formierenden wohlfahrtsstaatlichen Programms neue Deutungs- sowie Handlungsmuster in das mythische Formular des Himmels einzuschreiben. Fortschritte zum irdischen ›Paradies‹ scheinen sich mit innerweltlichen Mitteln erreichen zu lassen. Jedoch führte die Entfesselung dieser Kräfte in einen Selbstwiderspruch, als sie ebenso in den Dienst der ›dunklen‹ Entwicklungsseite traten, und damit zur Entstehung und Ausweitung immanenter Höllen beitrugen. Die fortschrittsoptimistische Erzählung und ihre Träger wurden dabei mit den ›blinden Flecken‹, impliziten Prämissen und letztlich auch ihren uneinlösbaren Versprechen konfrontiert. Moderne Entwicklungsdynamik geht mit bis dato ungekannten Formen von Barbarei einher (vgl. Bajohr et al. 1991). Dies wurde insbesondere in den Formen totalitärer Herrschaft sichtbar, welche mit dem 20. Jahrhundert aufkamen und dieses in seiner Entwicklung maßgeblich prägten. Die damit einhergehende Ausweitung immanenter Höllen nimmt jedoch eine eigentümliche Tönung an. Eine wohl zentrale Einsicht von Hannah Arendts Studien zur totalen Herrschaft zeigt sich in dem Statement, dass »man höllische Phantasien realisieren kann, ohne daß der Himmel einstürzt und die Erde sich auftut« (Arendt 1993: 686). Realität wurden diese Phantasien in den Vernichtungslagern der Nazis. In ihnen sieht die Philosophin »den schon fast vorsätzlichen Versuch, eine Art irdischer Hölle zu installieren« (Arendt 1994: 322). Dabei schreibt sie unterschiedliche Aspekte in das mythische Formular der Hölle ein. Ein wesentlicher Aspekt hierbei ist nackte Gegenwärtigkeit – es ist keine Zukunft, kein ›Noch-Nicht‹, das hier verhandelt wird, genauso wenig wie eine Vergangenheit. Die Hölle ist etwas Geschaffenes – und zwar von Menschen für Menschen. Ihr geradezu

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prototypischer Ort ist Auschwitz. So formuliert auch Trawny (2005: 129f.) in Auseinandersetzung mit Arendts politischer Ethik: »Die Hölle ist ein Vernichtungslager, ein Ort. In ihm stehen Raum und Zeit unter höllischen Gesetzen. Was gilt oder nicht gilt, gilt nur dort oder gilt nur dort nicht. Die Gesetze können sich umstandslos ändern, sie sind beliebig. Ein besonderer Akt des Barbarischen liegt darin, dass der Tod in Auschwitz gleichsam ohne wirkliche Zeugenschaft vonstatten ging. […] Die Vernichtungslager sind ›Höhlen des Vergessens‹ [Trawny nach Arendt 1993: 941; SB/WV]. Die Hölle ist ein Ort ohne Erinnerung […] Damit erscheint die Qualität der Hölle durch die Vernichtung der Vergangenheit, das Auslöschen von Erinnerung. Der totale Terror vernichtet die Möglichkeit des Erinnerns. Er macht selbst das ›Martyrium‹ vergessen. Mit dieser Amnesie geht die Hölle des Todeslagers über die bekannten Höllenphantasien hinaus. Herstellbar ist der Ort der Qual, herstellbar ist jedoch nicht das Kriterium, das einer solchen Qual einen Sinn verleihen könnte. Darum schreibt Arendt: ›Das einzige, was nicht realisierbar bleibt, ist zugleich dasjenige, was allein die traditionellen Höllenvorstellungen menschlich erträglich machte: das Jüngste Gericht und die Vorstellung eines absoluten Maßstabes der Gerechtigkeit, verbunden mit der unendlichen Möglichkeit der Gnade.‹ [Trawny nach Arendt 1993: 941; SB/WV].«8 Es ist das, woran gleichsam alle bekannten Repertoires der Sinnstiftung versagen – es ist das Undeutbare, die Zumutung vollkommenen Sinnstiftungsverlusts. Zugleich ist es, um eine Kategorie der ›Schuld‹ mit ins Spiel zu bringen, »Das Unverjährbare« (Jankélévitch 2003). Und: die Hölle ist ein vollkommen immanenter Ort geworden, sie ist nicht jenseitig, sondern ganz diesseitig. Sie ist nicht notwendig ein ausgesuchter historischer Ort, sondern kann jederzeit überall wiederkehren. In diesem Sinne ist die Hölle einerseits ein realer, historisch situierbarer und damit prinzipiell auch erinnerbarer, zugleich aber auch ein immer wieder ungreifbarer ›virtueller‹ Ort. Das schließt umgekehrt nicht aus, dass dieser aus der Erinnerung gelöscht wird, oder – was ebenso problematisch ist – ein exkludierbarer ›Zeit-Raum‹. Denn eine solche Exklusion hebt das Ereignis selbst durch überhöhte Erinnerung in

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Auch Giorgio Agambens (2004) Überlegungen in Ausnahmezustand führen Arendts Einsichten weiter bis in das Lager Guantanamo. Dann, wenn der Ausnahmezustand zur Regel wird, so seine Vermutung, beginnen auch die Grenzen von Diktatur und Demokratie zu verschwimmen.

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einen außeralltäglichen Ereigniszusammenhang, sodass trotz einer grundsätzlich erinnerungsoffenen Haltung das besonders Verstörende des Ereignisses eingeklammert und aus dem Feld der Sorge genommen wird.9 Von daher zeigt sich in Auschwitz zum einen, dass die Hölle »von dem Ort einer transzendenten Gerechtigkeit zum schärfsten Ausdruck immanenter Ungerechtigkeit geworden« (Liessmann 2019: 12) ist. Zum anderen verweist die Erinnerungsarbeit an Auschwitz bei diesem Ereignis auf die Fragilität der Sinnstiftung. Dies mag gerade auch mit der Wahrnehmung der unüberbietbaren Ausweitung immanenter Hölle zusammenzuhängen, die sich an Auschwitz knüpft. Schließlich ermöglichte die Nutzung der beiden Modernisierungskräfte Bürokratisierung und Technologisierung, dass Auschwitz genau dieses barbarische Gesicht annehmen konnte. Diesem Widerspruch von Fortschrittskräften im Dienst immanenter Höllenarbeit wohnt etwas Unaushaltbares inne. Der Blick auf den exponierten Ort immanenter Hölle sollte aber gerade nicht dazu verführen, das vielfach Subkutane von Höllenereignissen in der Gegenwart zu übersehen. Carl Amery hat mit seinen Überlegungen zu Hitler als Vorläufer (Amery 1998) gleichsam eine ›höllische Grundschwingung‹ der Gegenwart ausgemacht. Die »Hitlerformel« ist nicht Vergangenheit, sondern Gegenwart – und zwar wirkungsvolle, wenn auch nicht bewusst wahrgenommene Gegenwart. Sie lautet: »Wir haben recht, weil wir die besseren, weil wir die eigentlichen Menschen sind, während unsere Feinde sich durch offensichtliche Kennzeichen der Minderwertigkeit als Nicht- oder Untermenschen ausweisen« (ebd.: 170). Die Kriterien ihrer Anwendung sind (vgl. ebd.: 171) erstens ein Bekenntnis zur Geschichte als Naturgeschichte, zweitens die Feststellung, dass es nicht für alle reicht, und schließlich drittens die Übernahme der Verantwortung dafür, wer wie an den knapper werdenden Ressourcen des Planeten und damit an der Zukunft der Menschheit beteiligt werden kann und soll. Das klingt bedrohlich – und ist es auch. Denn die Bedrohung ist nicht durch ein exponiertes Symbol umstandslos in das mythische Formular der Hölle einzudeuten, sondern ist gerade durch seine konsequente Immanenz kaum mehr in diesem als Unerträgliches zu kennzeichnen. Solche Formen der Normalisierung von in ihren Wirkungen unerträglichen Denk- und

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Dies macht auch vor Theorien nicht halt, welche wie im Falle von Modernisierungstheorien vielfach das ›Barbarische‹ ausklammern (vgl. Knöbl 2001). Darin liegt das Verstörende vieler modernisierungstheoretischer Fortschrittsnarrative.

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Handlungsmustern stellen die Deutungsarbeit mit dem mythischen Formular der Hölle vor ernste Probleme. Denn der Ursprung dieses Denkens und Handelns kann nur begrenzt mit hineingedeutet werden. Selbst wenn ›Eindeutungen‹ in das mythische Formular der Hölle stattfinden, so ist deren kulturelle Deutungskraft und soziale Institutionalisierungsbedeutung zunächst einmal offen.

Ansichten von Höllen der Gegenwart Richten wir nun den Blick auf die Gegenwart. Natürlich gibt es Situationen der Androhung unaufhebbaren Sinnverlusts, die direkt mit dem mythischen Formular der Hölle belegt werden können. Wodurch geschieht aber genau diese Androhung? Es sind Qualitäten wie die der Ausweglosigkeit, dass es keinen Weg hinaus zu geben scheint, oder die der Unerbittlichkeit der Wiederholung, in welcher Lebendigkeit erstickt wird, welche das mythische Formular der Hölle in der Gegenwart kennzeichnen. Dabei ist nicht notwendigerweise klar, wer sich letztlich für die Gegenwart der irdischen Höllen verantwortlich zeichnet. Gerade sogenannte ›Verschwörungstheorien‹ zeichnen sich auffällig dadurch aus, dass das Verantwortungssubjekt für den erlebten Zustand der Hölle ein ›Nicht-Ich‹ ist. Vielleicht erfasst man Verschwörungstheorien am ehesten dadurch, dass sie die Möglichkeit schaffen, das wahrgenommene Unerträgliche einer Instanz zur Verantwortung zu übergeben und damit zurechenbar zu machen. Das mythische Formular der Hölle bietet die Möglichkeit, bestimmte ›Mächte‹ als Ursache des Leidens, des Sinnverlusts oder gar des ›Bösen‹ einzuschreiben. Sinnverluste sind dann leichter zu ertragen, wenn übergeordnete, übermächtig erscheinende Mächte ausgemacht werden können, welche die (vermeintliche) Normalität der gesellschaftlichen Ordnungen stören oder die Grundlagen guten (menschlichen) Lebens zerstören. Die strukturelle Bedeutung des mythischen Formulars der Hölle lässt sich nicht nur aufzeigen, sondern auch analytisch und diagnostisch nutzen. So lassen sich Entwicklungsbrüche in modernen Gesellschafen untersuchen, nämlich solche, in denen ein weitreichender Zusammenbruch etablierter Sinnformen und Sinnangebote erwartet wird beziehungsweise sich aktuell bereits zu vollziehen scheint. Weil diese Situationen immanent außeralltäglich erscheinen, öffnet sich in ihnen ein Moment der Sinnstiftung jenseits des Alltags, dessen Sinnbestimmung durch den Bezug zu mythischen Formularen

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zugleich jedoch transzendent verankert wird. Mit einem ersten systematisierenden Blick möchten wir folgende drei Formen von Höllen(vorstellungen) unterscheiden: a) Hölle der eindeutigen Uneindeutigkeit: Ausgeführt etwa im narrativen Topos der ›Vorstadt-Hölle‹. Die eine ist gekoppelt an die Vorstellung ausgesuchter Pariser Vororte (Banlieue 13; Mancheno 2011) oder Londons, wo es durch Armut zu gewaltsamen Ausschreitungen kommt. Baumanns Studie Verworfenes Leben (2005) thematisiert an diesen Beispielen Prozesse der Exklusion aus der Gesellschaft, da gerade die Banlieue 13 das ›Sammelbecken‹ für Ortlose ist. Das, was solche Vorstadt-Höllen auszeichnet, ist die Vorstellung eines vollkommenen Zusammenbruchs von Ordnung inmitten von Ordnung. Ein Ort der Auslöschung von Versprechen, die doch gerade gegeben worden sind. Das mythische Formular der Hölle wird dazu genutzt, diese Spannung zwischen dem gegebenen Versprechen und der erfahrenen Unmöglichkeit seiner Einlösung als Ungerechtigkeit kenntlich zu machen. Mit der weitreichenden Durchsetzung dieser Versprechen erhält deren Nicht-Einlösung in der Gegenwart eine neue Qualität. Dieser Zusammenhang gilt aber nicht nur für den genannten Fall von Vorstadt-Höllen. Die ›DNA‹ der Moderne ist die Chance auf Eindeutigkeit. Die Realisierbarkeit dieser Chance wird jedoch immer stärker in Frage gestellt, bis zu dem Punkt, an dem situatives Befinden und Taktieren die Szene beherrscht. Ein emblematisches Beispiel ist die Camouflage von nichtrussisch russischen Soldaten in der Ost-Ukraine. Das mythische Formular der Hölle verdeutlicht das Ausmaß des Unerträglichen, das durch entsteht, dass die Ursache des Unerträglichen unauflösbar im Unklaren bleibt und so eine erschütternde Ausweglosigkeit markiert. b) Hölle durch institutionelle Gleichmachung trotz Singularität: Eine andere Variante von Hölle finden sich in den ›Suburbs‹, in denen die Erzählung im mythischen Formular der Hölle dadurch entsteht, dass die Ordnung jegliche Ambivalenz zu erdrücken scheint und damit zu einer vollkommen regulierten, aber zugleich in hohem Maße Ambivalenz produzierenden Situation beiträgt (vgl. Reckwitz 2019b). Suburbs stellen gleichsam die städtebaulich fixierten sartreschen Höllen dar, als Panorama der ›Stereotypie-Höllen‹. Diese werden gegenwärtig durch den Zwang zur Selbstoptimierung in den Social Media (wie Instagram) noch erweitert. Das durch kulturelle Muster gleichsam verordnete Handlungsmotiv zur permanenten Autonomie-, Kreativitäts- und Selbstverwirklichungssteigerung, zudem noch ausgerichtet auf positive Emotionen

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führt wiederum zu neuen Formen des Unbehagens in der Gesellschaft und den daraus resultierenden Persönlichkeitsstörungen, Depressionserkrankungen und Burn-out-Effekten (vgl. Fuchs/Iwer/Micali 2018). Die Selbstoptimierungsforderungen gehen inzwischen weit über die Körpertechniken und praktiken im engeren Sinne hinaus und reichen bis hin zum Zwang, eine optimierte Singularität her- und darstellen zu müssen (vgl. Reckwitz 2018). Das mythische Formular der Hölle kennzeichnet in diesem Fall das spannungsreiche Zugleich von individuell geforderter Einmaligkeit und institutionellem Konformitätszwang, was in die Ausweglosigkeit uneinholbarer Individualisierungserwartungen führt.   c) Reale Virtualitäten und virtuelle Realitäten als Höllen: Eine weitere Form der Hölle ergibt sich aus den Dynamiken der Digitalisierung. Manuel Castells (2001) hat unter anderem in seiner Trilogie der Netzwerkgesellschaft mit den sensibilisierenden Konzepten der »realen Virtualität« und umgekehrt der »virtuellen Realitäten« zwei Topoi geschaffen, die es erlauben, die Fragen der Immanenz und Transzendenz von Höllen neu zu stellen. Welche Höllenvisionen damit genau verbunden sein werden, ist eine noch offene Frage. Castells zeigt etwa, dass die virtuellen Welten der Computer- und Videospiele längst reale Elemente alltäglicher Lebenswelten geworden sind. Die in diesen virtuellen Welten eingeschriebenen Erfahrungswelten sind aber in wesentlichen Teilen erfunden – man denke an die ›Geschichtsklitterung‹, die in Spielen wie Assassin’s Creed betrieben wird. Sind diese ›realen Virtualitäten‹ nun Heterotopien (vgl. Foucault 2017/1966)10 und in diesem Sinne Uchronien, und liegt nicht gerade darin das höllenhafte der ›Nicht-Geschichte‹? Droht durch Virtualisierung von Realität also letztlich doch noch ein Ende der Geschichte und historischer Erfahrung? Und entsteht im Rahmen realer Virtualitäten sogar eine neue Form algorithmenbasierter Transzendenz – zumal bei lernenden Maschinen, Programmen und Robotern, auf die letztlich 10

Was die Erfahrungsräume betrifft, so wissen wir seit Foucault (1966), dass jede Gesellschaft über Gegenräume (Gärten, Friedhöfe, Bordelle usw.) verfügt. Foucault nannte diese Heterotopien. Im digitalen Zeitalter sind jedoch andere Gegenräume entstanden, die inzwischen – schenkt man Manuell Castells Netzwerkgesellschaft (2001) Glauben – von eminenter praktischer Relevanz geworden sind. Castells spricht daher von realen Virtualitäten (Computerspiele, Dating-Plattformen usw.). Bezogen auf die Erwartungshorizonte haben wir es hingegen mit möglichen Welten zu tun, mit fiktionalen Welten, seien sie utopisch oder dystopisch, die jedoch gleichwohl keine leeren Welten sind, sondern bereits nach Maßgabe menschlicher Vorstellungen ›möbliert‹ werden.

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nicht einmal mehr ihre Konstrukteure einen Zugriff haben, denen wir aber gleichwohl ausgeliefert sind? Oder sind die realen Virtualitäten in Form von Spielen nur ein Distraktor, um von den realweltlichen Höllen der Gegenwart abzulenken? Und wie steht es schließlich um die virtuellen Realitäten, durch die uns Technikvisionen, Utopien (irdische Paradiese) und Dystopien (Höllen) nahegebracht werden? Sind diese möglichen Welten und die darin filmisch in Szene gesetzten Zukünfte nun Medium der Reflexion und der Umkehr oder letztlich nur ein ›Zwischenschritt‹, der uns bereits heute an die Höllen der Zukunft gewöhnt? Leben wir heute schon in den langen Schatten der Science-Fiction, und die utopisch-dystopischen narrativen Skripte füllen die Leerstellen mythischer Höllenformularen und eröffnen darin Blicke auf mögliche Welten, die uns erwarten könnten?11

Hölle als Befindlichkeit der Gnadenlosigkeit Wir hatten auf Carl Amery und sein Argument des »Hitlerismus«, der unsere Gegenwart bestimme, hingewiesen. Am Schluss führt er, gleichsam als Starthilfe für einen Lernprozess wider den Hitlerismus, ein Argument der Demut an: »Der Mensch kann die Krone der Schöpfung bleiben – wenn er begreift, dass er sie nicht ist.« (Amery 1998) Die Hölle stellt die Erwartung von Gnadenlosigkeit dar. In gewisser Hinsicht könnte man sagen, dass in der Moderne der augustinische Blick auf die Hölle – in seiner orthodoxen Lesart – mit allen 11

Filme wie AI (USA 2001, Regie: Steven Spielberg), Her (USA 2013, Regie: Spike Jonze) und Ex Machina (Großbritannien 2015, Regie: Alex Garland), aber auch ältere cineastische Produkte, wie Fritz Langs Metropolis, haben uns an fühlende künstliche Artefakte und an künstliche Intelligenz bereits gewöhnt, sie im Modus der (literarischen) Fiktion möglicher Welten entworfen und damit für ein weiteres Publikum rezipierbar und ›denkbar‹ gemacht. Wir haben es dort mit lernender Software, teilautonomen operativen Systemen, fühlenden und nach Liebe suchenden, aber auch täuschenden, ja Gewalt ausübenden künstlichen Wesen zu tun, die allesamt den umgekehrten Test Alan Turings gewinnen (würden), und schon damit den Menschen gegenüber ihre eigene Überlegenheit zum Ausdruck bringen. Alle Plots der Filme laufen letztlich auf ein Thema hinaus, das der Historiker William Reddy (2008) als die »Navigation der Gefühle« kennzeichnete, mit dem Unterschied, dass die Lenkung menschlicher Gefühle und Handlungen durch wirkmächtige Artefakte übernommen wird, durch Samantha (Her), David (AI) und Ava (Ex Machina). Sie manipulieren zumeist als virtuelle Protagonisten ihre menschliche Mitwelt und entkommen damit letztlich den menschlichen Kontrollversprechen.

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nur möglichen Mitteln veralltäglicht wurde. »Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert, nicht mit schlechten.«12 Die Figur des ›Verlierers‹ stellt den ›Verdammten‹ unserer Tage dar. Dies gilt wiederum nicht nur für die im ökonomischen, politischen oder sportlichen Wettkampf unterliegenden, das Schicksal scheint auch (nationalstaatlichen) Kollektiven zugeschrieben zu werden. So gewinnt man, nachdem Covid 19 auf europäischem Territorium Fuß gefasst hat, den Eindruck, dass auch Nationen zu Verdammten erklärt werden können. Dies wurde ›wunderbar‹ visualisiert, indem Italien vor dem Lockdown graphisch schwarz hervorgehoben wurde, während man allerorts die Grenzen schloss und der europäische Geist über allen Neo-Nationalismen zu evaporieren begann. Dazu passt dann die verzweifelte Stimme eines Intensivmediziners aus der ›Hölle der Lombardei‹: »Ciao dall´ inferno. Qui è veramente pesante e dura. Siamo allo stremo ma resistiamo. Vi chiedo un favore per noi e soprattutto per gli infermieri che sono oltre l’eroismo. Aiutateci stando a casa, non siamo quasi più in grado di assistere oltre.«13 Vielleicht offenbart sich der Transzendenzverlust in der Spätmoderne am nachhaltigsten in dem Problem, den Zustand der Gnade und damit der Dankbarkeit erfahren zu können. Der Theologe Fulbert Steffensky (2007) schreibt in seiner kleinen Schrift mit dem sprechenden Titel Mut zur Endlichkeit: »Wir leben in einer Gesellschaft, deren Weisheit schwach und deren Apparate stark sind«, und führt weiter aus: »Der Versuch, sein eigener Lebensmeister zu sein; sich selber zu erjagen und sich in der eigenen Hand zu bergen, führt in nichts Anderes als in Vergeblichkeit und Zwänge. Der Zwang, sich selber zu gebären und sich durch sich selber zu rechtfertigen, führt in Verzweiflung und in den Kältetod. Das, wovon wir eigentlich leben, können wir nicht herstellen: nicht die Liebe, nicht die Freundschaft, nicht die Vergebung und nicht die eigene Ganzheit und

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In der gegenwärtigen Form wurde der Ausspruch erstmals 1855 in Henry G. Bohns A Hand-book of Proverbs veröffentlicht. »Hallo, aus der Hölle. Hier ist es wirklich schwer und hart. Wir sind alle am Limit, aber wir bleiben. Ich bitte euch um einen Gefallen für uns und vor allem für die Krankenschwestern, die sich bereits jenseits des Status der Heldenhaftigkeit befinden. Helft uns, indem ihr daheimbleibt, wir sind kaum mehr in der Lage noch mehr zu leisten.« (https://www.ilmessaggero.it/italia/coronavirus_italia_news_contagi_morti_med ici_lombardia_ultime_notizie-5103747.html vom 14.3.2020; Übersetzung W.V.). Das Zitat wird vom Messaggero einem Intensivmediziner des Sacco di Milano zugeschrieben.

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Unversehrtheit.« (Steffensky 2007: 14; Herv. Autoren; siehe zum Stichwort Kältetod auch: Reckwitz 2019b und Ehrenberg 2012) Deshalb: »Gnade denken heißt wissen, dass den Menschen nicht seine Tauglichkeit und Verwendbarkeit ausmacht.« (Ebd.: 15) Vielleicht steckt darin ein Hinweis für die Soziologie – im Grunde bedürfte es einer ›kalorischen‹ Soziologie, einer Soziologie, welche die ›Kühle‹ und ›Hitze‹ von Gesellschaftszuständen diagnostizierbar machen würde: Die Hölle als Zustand von Erfahrung unüberbietbarer ›Unbehaustheit‹ und ›Unannehmbarkeit‹. Doch darf man dabei den Blick auf das ambivalente Moment der Höllen der Gegenwart nicht vergessen. Denn: die Hölle erscheint als das Empörende, das zum zupackenden Widerspruch auffordert – und lädt manchmal gerade deshalb dazu ein, ihre Hallen zu betreten, hinzuschauen und das Leiden zu erkennen. Die Frage, die sich damit für eine Soziologie stellt, die sich den Höllen der Gesellschaften der Gegenwarten dies- und jenseits nationaler Grenzen, widmet, wäre die: Wie wäre das mythische Formular so gestaltbar, dass es den Leidenden eine Form bietet, in der und durch die ihnen die Möglichkeit geboten wird, ihre und anderer Leiden zur Sprache zu bringen, notfalls in der Weise, dass es ihnen erlaubt über die nur scheinbaren Grenzen der Ränder und Begrenzungen hinaus zu denken und schreiben. Es wird und darf mit Sicherheit kein maschinenlesebares mythisches Formular sein.

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Geschlossene Gesellschaft – Jean Paul Sartres Höllenvision durch die soziologische Brille betrachtet Ursula Engelfried-Rave

Der vorliegende Beitrag widmet sich Jean Paul Sartres Interpretation der Hölle. Die Hölle inszeniert Sartre in seinem dritten Theaterstück mit dem Titel Huis clos. Der Titel wird zunächst wörtlich wiedergegeben. »Bei geschlossenen Türen« ist allerdings für eine Soziologin nicht ganz so spektakulär, wittert sie doch beim Titel Geschlossene Gesellschaft ein ganz ›klassisches‹ soziologisches Betätigungsfeld. Sartres Drama durch die soziologische Brille zu betrachten, scheint deshalb einen Versuch wert zu sein, zumal es ja um Gesellschaft an einem (außer)alltäglichen Ort, nämlich der Hölle, geht. Doch wie gestaltet sich die Hölle Sartres? Was passiert in der ›geschlossenen Gesellschaft‹? Kann das Theaterstück Sartres Erhellendes zu einer Soziologie der Hölle beitragen? Entspricht die Vorstellung von Sartres Hölle eher traditionellen Vorstellungen von ewiger Verdammnis und Bestrafung oder einer Banalisierung von Hölle, wie sie in der heutigen Alltagsprache für negativ bewertete Erfahrungen verwendet wird? Welche charakteristischen Merkmale trägt die Hölle Sartres, und welche Botschaft vermittelt er in seinem Lehrstück? Die Theorien Erving Goffmans zur totalen Institution (vgl. Goffman 1973) und Selbstpräsentation (vgl. Goffman 2003) sowie Georg Simmels Analyse des Dritten (vgl. Simmel 1992) laden geradezu ein die soziologische Brille zum Verständnis des Dramas aufzusetzen. Gemeinsam ist Sartre, Simmel und Goffman, dass die menschlichen Interaktionen Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Arbeit sind. Hinsichtlich des Interesses für ›gesellschaftliche Marginalität‹ gibt es bei Sartre und Goffman nach Sartres Biografin Annie Cohen-Solal Parallelen (CohenSolal 1988: 432). Bei Sartre ist es der »Ursprung« seiner »ethisch-politischen Auseinandersetzung mit der Gesellschaft« gewesen, bei Goffman zeigt sich

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das Interesse an ›gesellschaftlicher Marginalität‹ zum Beispiel in seinen teilnehmenden Beobachtungen in ›totalen Institutionen‹ (ebd.: 423). Das Ziel der nachfolgenden Überlegungen ist eine Rekonstruktion von Sartres Höllenvision unter soziologischem Fokus. Der hermeneutischen Spirale folgend widmet sich der Aufsatz zunächst der Entstehungsgeschichte und der Beschreibung der Hölle und ihrer Insassen. Mit Goffman wird dann auf die Hölle als totale Institution geblickt, und anschließend werden die Insassen auf ihre Selbstpräsentationen hin analysiert. Mit Rekurs auf Georg Simmel, welcher in seinem Essay Die quantitative Bestimmtheit der Gruppe (vgl. Simmel 1992) die Rolle des Dritten untersucht, werden Interaktionen und Handlungen der Protagonisten betrachtet. Ein Fazit versucht dann die aufgeworfenen Fragen zu beantworten.

Entstehung des Werkes »Wißt ihr noch: Schwefel, Scheiterhaufen, Rost… Was für Albernheiten. Ein Rost ist gar nicht nötig die Hölle, das sind die andern. » (Sartre 2003: 59). Das ist die Kernaussage des dritten und erfolgreichsten Theaterstücks von Jean Paul Sartre und so heißt das Stück in seiner Erstfassung dann auch: Les Autres, die Andern. Auf Anraten eines Freundes ändert Sartre dann den Titel zu Huis clos. Im Französischen ein ›Terminus Technicus‹ für »unter Ausschluss der Öffentlichkeit«. Vielleicht ist es eine Anspielung auf den damals skandalträchtigen Inhalt des Stückes. Eher ›bieder‹ kommen dann die Titel der deutschen Übersetzungen daher – zuerst von Harry Kahn: Bei geschlossenen Türen, in der Übersetzung von Traugott König Geschlossene Gesellschaft. Während der erste neugierig macht, würde man beim zweiten Titel, ohne Kenntnis des Inhalts, vielleicht eine Feier im ›trauten Familienkreis‹ vermuten (vgl. Mayer 1972: 31). Doch es geht um die Hölle, die so ganz anders ist als in ›herkömmlichen‹ Vorstellungen. Die Uraufführung von Huis clos findet am 27. Mai 1944 im Theatre du Vieux-Colombier statt. Die Erfahrung des Krieges, der Gefangenschaft im Stalag XII D in Trier und das Leben unter der deutschen Besatzung machen aus dem unpolitischen Intellektuellen Sartre einen politischen Aktivisten. Sartre gründet die Widerstandgruppe Socialisme et Liberté und beteiligt sich – eher schreibend und denkend – am Widerstand gegen die Besatzer. Das Motiv des Eingeschlossenseins im Lager, die Ausgangssperren, die Willkür, der Terror und die ständigen Kontrollen durch die Besatzungsmacht prägen

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die Atmosphäre von Huis clos. Die Uraufführung wird ein voller Erfolg, löst aber gleichzeitig, vor allem bei den Anhängern des Vichy-Regimes und in deren Presseorganen, einen Skandal aus. Die Homosexualität einer der Protagonistinnen des Theaterstücks ist der ›Stein des Anstoßes‹. Für Sartre selbst ist der Skandal ein Gewinn – sein Name wird Marke unter den Pariser Intellektuellen (vgl. Cohen-Solal 1988: 328ff.). Sartre hat Huis clos in wenigen Tagen geschrieben. Das Stück ist in fünf Szenen gegliedert, wobei die Szenen 1 bis 4 die Ankunft der Verdammten zum Inhalt haben, während in der fünften Szene das eigentliche Höllendasein inszeniert wird (vgl. Kraus 2008: 66ff.).

Die Situation in der Hölle Dieser Abschnitt widmet sich zunächst dem Begriff der Situation bei Sartre und Goffman und bezieht die Situationsbegriffe auf Sartres Inszenierung der Hölle. Im Anschluss werden dann die Protagonisten vorgestellt, die die Szenerie in der Hölle beleben. Freiheit und Situation hängen in Sartres Philosophie eng zusammen. Die Situation ist dabei etwas Gegebenes, die nicht »nach Belieben modifiziert werden kann« (Sartre 2009: 833). So sind die Menschen in Situationen hineingeboren, die sie prägen und ihr Handeln bestimmen. Diese gegebenen Situationen bedeuten für die Menschen zunächst »sich in die Maschen des Determinismus einfügen« (ebd.). Das ›Paradox der Freiheit‹ zeigt sich nun nach Sartre darin, dass es Freiheit nur »in Situation« gibt und »Situation nur durch die Freiheit« (ebd.: 845). Die Situation ist durch die freie Wahl des Menschen entstanden und Freiheit gibt es in diesem Sinne nur in der Situation (vgl. ebd.). So gesehen ist Freiheit für Sartre Wahlfreiheit und die Folgen seiner Wahl hat der Mensch selbst zu verantworten – mit allen positiven wie negativen Konsequenzen (vgl. ebd.: 945). Die Interaktionsordnung ist nach Jürgen Raab (2008: 9f.) »Leitmotiv« und »Generalthema« des umfassenden wissenschaftlichen Werkes von Erving Goffman. In seinen zahlreichen Studien untersucht Goffman diese Interaktionsordnung aus unterschiedlichen Perspektiven, die von flüchtigen Blickkontakten über Konversationen und rituellen und zeremonialen Austausch reichen (vgl. Raab 2008: 10f.). Neben dem wissenschaftlichen Interesse für ›gesellschaftliche Marginalität‹ ist ein wichtiger Berührungspunkt von Sartre und Goffman die Bedeutung der Situation (vgl. Cohen-Solal 1988:

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432). Während Sartre Freiheit und Situation in Relation setzt, ist für Goffman das Soziale einer Situation von Interesse. In seiner Monographie Verhalten in Situationen (1971) definiert Goffman die Situation als »räumliche Umgebung, welche jede eintretende Person zum Mitglied der Versammlung macht, die gerade anwesend ist (oder dadurch konstituiert wird). Situationen entstehen, wenn gegenseitig beobachtet wird, sie vergehen, wenn die zweitletzte Person den Schauplatz verläßt« (Goffman 1971: 29). Doch was spielt sich nun hinter den geschlossenen Türen des Dramas ab – Folterszenen, Schwefelgeruch, Feuer und unerträgliche Hitze? Nein, der Raum hinter den geschlossenen Türen ist vergleichsweise banal. Ein Hotelzimmer, genauer ein Salon im Stil des Second Empire, möbliert mit drei Chaiselongues in unterschiedlichen Farben. Die Spiegel fehlen ebenso wie ein Lichtschalter und Fenster. Der Raum ist ständig beleuchtet und nur die Machtzentrale der Institution, die Direktion, hat die Möglichkeit den Strom abzuschalten. »Strom ist bei uns umsonst«, erläutert der Kellner (Sartre 2003: 14). Das erklärt auch die Hitze, die die Insassen von Zeit zu Zeit spüren. Weiter befinden sich im Raum eine Barbedienne-Figur aus Bronze, platziert auf dem Kamin, daneben ein Papiermesser und eine Klingel. Die Tür selbst führt in einen Flur, der die weiteren Zimmer der Örtlichkeit über unzählige Flure und Treppen miteinander verbindet. Die anderen Zimmer sind der ethnischen Zugehörigkeit der potenziellen Insassen entsprechend eingerichtet. Das Hotel wird nach Auskunft des Kellners auch von Chinesen und Indern frequentiert (vgl. Sartre 2003: 11). Neben Himmel und Purgatorium ist die Hölle eine außeralltägliche und – je nach Weltanschauung – auch fiktive Einrichtung. Als ›traditionsbeladene‹ Begriffe aus der christlichen Eschatologie sind diese drei Jenseitsorte allerdings so wirkmächtig, dass sie gläubige Menschen im Diesseits zum moralischen Handeln nötigen oder – positiv ausgedrückt – inspirieren. Sie waren auch dem bekennenden Atheisten Sartre, der zumindest christlich sozialisiert war, nicht fremd. Während der Himmel als ein Ort ewiger Glückseligkeit gilt, ist die Hölle ein Ort ewiger Verdammnis. Das Purgatorium dagegen stellt eine Art Durchgangsstation zur Läuterung von lässlichen Sünden dar (vgl. Katechismus der katholischen Kirche 1993: 295). Himmel und Purgatorium lässt Sartre unerwähnt, auch das Gericht, das die jeweilige Zuordnung zu einem der drei Jenseitsorte vornimmt, fehlt. Der zur Freiheit »verurteilte Mensch« ist für sein Tun und Handeln und die Gestaltung seines Lebens selbst verantwortlich und entscheidet damit auch über die Qualität seines Daseins in der Welt (Sartre 2009: 950). Sartres Hölle ist also diesseitig und spielt in einem

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ordinären Hotelzimmer. An diesem Ort finden dann auch die Interaktionen der Personen des Dramas statt. Da ist zunächst besagter Kellner, dessen Aufgabe darin besteht die Verdammten zu ihrem Aufenthaltsort zu bringen und sie in die Örtlichkeiten einzuführen. Insassen sind Joseph Garcin, ein Journalist und Intellektueller. Er sieht sich als engagierten Schriftsteller, der für seine pazifistischen Grundsätze gestorben ist und ganz nebenbei seine Frau in sadistischer Macho-Manier gedemütigt und gequält hat. Er hat das Stigma des Feiglings, gegen das er selbst in der Hölle noch ankämpft. Es folgt Inés Serrano, eine lesbische Intellektuelle und Postangestellte, die den Ehemann ihrer Geliebten getötet und die Geliebte selbst in den Suizid getrieben hat. Sie bezeichnet sich selbst als Sadistin. Sie weiß, dass sie sich in der Hölle befindet und akzeptiert dies. Die Dritte ›im Bunde‹ ist Estelle Rigault, eine typische Angehörige der ›Bourgeoisie‹; wichtig sind ihr Geschmack, Stil und Umgangsformen. Sie akzeptiert weder ihren Tod noch ihr Dasein in der Hölle. Sie hat das Kind, welches sie mit ihrem Geliebten hatte, vor dessen Augen ertränkt. Ihr Liebhaber hat sich daraufhin erschossen. Diese drei Personen sind dazu verdammt für alle Ewigkeit gemeinsam das Hotelzimmer zu teilen (vgl. Sartre 2003: 11ff.). Sartre schickt seine Protagonisten direkt in die Hölle, denn Garcin, Ines und Estelle haben Menschen ermordet, psychisch gequält oder in den Tod getrieben. Nach Sartre haben sie die Hölle selbst und frei gewählt, denn sie hätten sich auch anders entscheiden können (vgl. Sartre 2009: 950). Die Situation, in der das Drama spielt, ist ein Hotelzimmer, das nach dem Eintreffen der Protagonisten wieder verschlossen wird. Sozial wird die Situation durch das Aufeinandertreffen der Protagonisten in diesem Zimmer. Spannung entsteht in dieser Situation durch Interaktionen und Kommunikation der Akteure.

Die Hölle als totale Institution Die Beschreibung und die Einweisung der drei Protagonisten in ihren künftigen Aufenthaltsort lassen Assoziationen zu Erving Goffmans berühmten Buch Asyle (Goffman 1973) aufkommen. Sowohl Sartre wie Goffman haben ›totale Institutionen‹ erlebt. Sartre ist von bis 1940 bis 1941 als Kriegsgefangener interniert. Goffman hat Feldstudien in psychiatrischen Kliniken und Gefängnissen betrieben. In seiner Aufsatzsammlung Asyle arbeitet er die Merkmale totaler Institutionen heraus, beob-

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achtet den Alltag aus der Perspektive der Insassen von psychiatrischen Krankenhäusern und analysiert die Berufsrolle des Psychiaters (Goffman 1973). Eine totale Institution ist für Goffman die Sonderform einer sozialen Einrichtung, welche er in Fürsorgeeinrichtungen, Einrichtungen zum Schutz der Gesellschaft, Arbeitseinrichtungen und Zufluchtsorte vor der Welt einteilt (vgl. ebd.: 16). Nach Goffman weisen totale Institutionen folgende Merkmale auf: »1. Alle Angelegenheiten des Lebens finden an ein und derselben Stelle, unter ein und derselben Autorität statt. 2. Die Mitglieder der Institution führen alle Phasen ihrer täglichen Arbeit in unmittelbarer Gesellschaft einer großen Gruppe von Schicksalsgenossen aus, wobei allen die gleiche Behandlung zuteil wird und alle die gleiche Tätigkeit gemeinsam verrichten müssen. 3. Alle Phasen des Arbeitstages sind exakt geplant, eine geht von einem vorher bestimmen Zeitpunkt in die Nächste über, und die ganze Folge der Tätigkeiten wird von oben durch ein System expliziter formaler Regeln und durch einen Stab von Funktionären vorgeschrieben. 4. Die verschiedenen erzwungenen Tätigkeiten werden in einem einzigen Plan vereinigt, der angeblich dazu dient, die offiziellen Ziele der Institution zu erreichen.« (Goffman 1973: 17) Inwiefern treffen nun diese Merkmale auf Sartres Hölle zu? Die »Angelegenheiten« der Insassen finden im abgeschlossenen Hotelzimmer der Hölle statt, jedoch gehören die Insassen nicht mehr zu den Lebenden. Dies zeigt sich in der totalen Abhängigkeit von einem nicht näher in Erscheinung tretenden Direktorium und dem Aufsichtspersonal (Sartre 2003: 15). Jedem der Insassen wird durch bestimmte Rituale die Identität geraubt. Weiter sind die Akteure gezwungen sich dem Reglement der Hölle zu unterwerfen. Dazu gehört auch die Gefangenschaft, denn die Türe wird verschlossen. Ansonsten sind die Insassen sich selbst überlassen, einen geregelten Tagesablauf gibt es bei den Verdammten nicht. Garcin bezeichnet es als »Leben ohne Unterbrechung«, wobei der Begriff des Lebens vom Kellner mit Ironie quittiert wird (vgl. ebd.: 15). Garcin, Estelle und Ines scheinen gezielt zusammengebracht worden zu sein und der Sinn ihrer Anwesenheit in der Hölle scheint, darin zu bestehen sich wechselseitig das Dasein an diesem Ort zur Hölle zu machen. Allein die Verbindung zur Außerwelt ist den Insassen in-

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sofern möglich, als es ihnen erlaubt ist zu sehen und zu hören was draußen geschieht. Garcin sieht seine Frau, die sich von der Kaserne entfernt, in der er erschossen wurde und hört seine Kollegen wie sie über ihn reden (vgl. ebd.: 23; 51). Estelle sieht ihre eigene Beerdigung (vgl. ebd.: 22) und sieht einen ihrer Verehrer mit ihrer besten Freundin Olga tanzen (vgl. ebd.: 44). Ines sieht das Zimmer, das sie mit ihrer Geliebten Florence bewohnte und in dem jetzt ein anderes Liebenspaar lebt (vgl. ebd.: 41). Die Unfähigkeit in das irdische Geschehen eingreifen zu können, zeigt den Insassen, dass ihr Leben vorbei ist und sie auf ewig in der Hölle sind. In seinem Buch Asyle widmet sich Goffman auch den Aufnahmeprozeduren in totalen Institutionen. Er beschreibt die Rolle der Insassen und des Personals. Beim Eintritt in eine totale Institution wird das Selbst durch zahlreiche Maßnahmen beschränkt. Dazu gehören Demütigungen, Unterbrechung der Rollenplanung, Einschränkung der Außenkontakte und Einpassungen in die Verwaltungsmaschinerie (vgl. Goffman 1973: 24ff.). Auch in Huis Clos lassen sich solche Aufnahmeprozeduren bei den Insassen feststellen: Die Aufgabe des Kellners ist es die Aufnahmeprozedur der Ankömmlinge zu regeln. Er bringt die künftigen Insassen zu ihren Zimmern und weist sie in die Örtlichkeit ein. In Szene 1 wird der Zuschauer Zeuge wie Garcin in das Hotelzimmer eingeführt wird. Neben distanzierte Höflichkeit, wie es der Rolle des Kellners entspricht, lässt der Kellner seinen Wissensvorsprung Garcin gegenüber spürbar werden, indem er mit Ironie und mäeutischer Fragetechnik Garcin seine aussichtslose Situation vor Augen führt. So wird es Garcin auch bewusst, dass alle Höllenbewohner keine Augenlider mehr haben und dem Licht für immer und ewig ausgesetzt sind. Deutlich wird auch die Hierarchie, welche über die Machtzentrale, nämlich das Direktorium, hin zum Kellner führt, der immerhin noch die Macht über die Klingel und die Schlüsselgewalt hat (vgl. Sartre 2003: 11ff.). Einen ›Check-In‹, wie man es von Hotels kennt, erwähnt Sartre nicht. Allein Zahnbürsten und Taschenspiegel werden den Verdammten abgenommen. Alle drei Protagonisten werden dann von besagtem Kellner in das Zimmer geleitet. Zunächst sind alle Gäste erstaunt über die Örtlichkeit, welche so gar nicht mit ihren Vorstellungen von Hölle übereinstimmt. Es gibt keine »Pfähle, Roste und Ledertrichter« (Sartre 2003: 12), wobei die Gäste langsam gewahr werden, was es heißt, in der Hölle zu sein. Zentral ist dabei die Frage nach der Zahnbürste (vgl. ebd.). Goffman spricht von Gegenständen, welche der Aufrechterhaltung der persönlichen »Fassade« dienen, von »IdentitätsAusrüstung« (Goffman 1973: 30). Die Zahnbürste hat die symbolische Funk-

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tion einer solchen »Identitäts-Ausrüstung«, denn man teilt sie gewöhnlich nicht mit anderen, sondern sie ist persönliches Eigentum. Mit der Abgabe der Zahnbüste geben die Insassen zugleich ihre Menschenwürde und Identität ab.

Präsentationen des Selbst in der Hölle Goffman hat die Selbstdarstellung im Alltag in seiner Monographie Wir alle spielen Theater (Goffman 2003) treffend dargestellt. Die Theatervorstellung dient Goffman als Modell, um Selbstdarstellungen von Menschen in Alltagssituationen zu beschreiben. Das Drama Huis clos zeigt jedoch mit seinen modellierten Rollen diese Selbstdarstellungen des Alltags in verdichteter Form. Nach Goffman versuchen Menschen in alltäglichen und außeralltäglichen Situationen beim Zusammentreffen zunächst einmal wechselseitig Informationen über die anderen zu erhalten. Diese Informationen tragen dazu bei eine ›Situation zu definieren‹ um Erwartungen zu formulieren oder zurückzuweisen und eine gewisse Verhaltenssicherheit im Umgang miteinander zu bekommen (vgl. Goffman 2003: 5). Zu dieser Art des Informationsaustausches gehört es auch sich gegenseitig vorzustellen und sich selbst ins beste Licht zu rücken. Dies lässt dann auch das alltägliche Leben zum Theater werden. Die wechselseitige Vorstellung fällt bei den Bewohnern des Hotelzimmers sehr knapp aus und beschränkt sich auf die namentliche Vorstellung, den Herkunftsort, den Beruf, den sozialen Status – wie bei Estelle. Inés betont ihr Singledasein, indem sie sich mit ›Mademoiselle‹ vorstellt (vgl. Sartre 2003: 17ff.). Auch die Art, wie die Verdammten zu Tode gekommen sind, gehört an diesem besonderen Ort mit zur Vorstellung. So ist Estelle an einer Lungenentzündung verstorben, Inés durch Gas (ihre Geliebte hat den Gashahn geöffnet) und Garcin wurde durch ein Exekutionskommando erschossen (vgl. ebd.). Eine erste gemeinsame Situationsdefinition ist ihr ›Totsein‹ – sie bezeichnen sich allerdings auf Anregung von Estelle lieber als »Abwesende« (ebd.: 23). Während der Vorstellungsrunde werden dann auch schon Gegensätze deutlich, welche das Zusammensein im gemeinsamen Hotelzimmer nicht unbedingt vereinfachen. Der distinguierten Estelle passt die saloppe ›Hemdsärmeligkeit‹ Garcins nicht, und Inés mag keine Männer. Daraus resultiert die Frage Estelles: »Warum hat man uns zusammengebracht? » (ebd.: 24) Und so beginnt eine Diskussion darüber, ob ihr gemeinsamer Aufenthalt eher Zufall ist oder dem Kalkül der Direktion entspringt. Die Sinnlosigkeit der Diskus-

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sion mündet schließlich in der Aufforderung von Inés, jeder solle den Grund seines Höllendaseins benennen (vgl. ebd.: 26). Damit ist die Bühne frei für weitere Selbstdarstellungsprozesse und Fassaden der Verdammten. Im Schauspiel von Sartre ist es vor allem die Rolle der Estelle, die verdeutlicht, was Goffman mit »Fassade« meint. Hierunter versteht er »das standardisierte Ausdrucksrepertoire, das der Einzelne im Verlauf seiner Vorstellung bewusst oder unbewusst anwendet« (Goffman 2003: 23). Zur Fassade gehört das »Bühnenbild« als materiale Ausstattung und die »persönliche Fassade« der Rolleninhaberin. Diese persönliche Fassade trennt Goffman in »Erscheinung« und »Verhalten«. Mit »Erscheinung« meint er zum Beispiel den großbürgerlichen Habitus von Estelle, während ihr Drang zur Idealisierung als »kleine Heilige«, wie Inés spitz bemerkt, die sich für ihren jüngeren kranken Bruder geopfert habe, das Verhalten zeigt (vgl. Sartre 2003: 28). Diese Idealisierung wird auch durch verschiedene Rechtfertigungsstrategien von Estelle untermauert: Als Waise habe sie einen reichen Freund des Vaters geheiratet, um die Pflege des Bruders sicherzustellen. Den Ehebruch rechtfertigt sie deshalb mit der ›großen Liebe ihres Lebens‹. Estelle, die die Realität der Hölle, aber auch ihr eigenes Verschulden nicht wahrhaben will, diesem immer wieder ausweicht, es beschönigt oder verdrängt, wird von Ines entlarvt: »Inés: Für wen spielen sie diese Komödie? Wir sind doch unter uns. Estelle empört: Unter uns? Inés: Unter Mördern. Wir sind in der Hölle, meine Kleine, es kommt nie ein Versehen vor, und die Leute werden niemals für nichts verdammt.« (Sartre 2003: 27) Doch auch die Rolle des Garcin ist mit einer Fassade versehen: Garcin zeichnet zum Beispiel von sich selbst das Erscheinungsbild eines engagierten Schriftstellers, welcher für seine pazifistischen Ideale gestorben sei. Dieses Bild des ›Helden‹ wirkt an sich schon fragwürdig, da das Verhalten von Garcin häufig durch Angst – beispielsweise trommelt er an die Tür (vgl. Sartre 2003: 16) – und Nervosität – wie seine Ticks zeigen (vgl. ebd.: 18) –, geprägt ist. Diese Fassade wird abermals durch Inés entlarvt. Die Rolle der Inés entspricht der einer Inquisitorin. Sie entlarvt sowohl das Selbstbild von Estelle wie das von Garcin, überspielt allerdings das Problem, das sie mit ihrer Homosexualität hat und das sie wiederum gegenüber den anderen verletzlich macht (vgl. ebd.: 42). In Sartres Stück geht es vor allem um die verlogenen Selbstbilder der Verdammten und deren wechselseitige Entlarvung. Sartre macht an seinen Prot-

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agonisten die Haltung der mauvais foi, die im Deutschen mit ›Unaufrichtigkeit‹ wiedergegeben wird, deutlich. Im Gegensatz zum Lügner, welcher die Wahrheit kennt, verschleiert oder verfälscht der Unaufrichtige die Wahrheit vor sich selbst (vgl. Sartre 2009: 120). Das ›wahre‹ Problem der mauvais foi kommt nach Sartre allerdings daher, dass die Unaufrichtigkeit ein ›Glaube‹ sei. Statt zu prüfen und eine Entscheidung bewusst zu treffen, um dann überzeugt zu sein, verhalten sich Unaufrichtige unreflektiert und spontan. Sie vertrauen darauf, dass ein Sachverhalt richtig sei, überzeugen sich aber nicht selbst davon. »Man läßt sich unaufrichtig werden, so wie man einschläft, und man ist unaufrichtig, so wie man träumt« (ebd.: 156). Auch wenn die Unaufrichtigkeit eine »metastabile Struktur« hat, strebt sie danach fortzubestehen und sich zu verfestigen (vgl. ebd.). In der Unaufrichtigkeit sind also Menschen ›quasi‹ Gefangene ihres Glaubens oder Vertrauens auf einen Sachverhalt und können ihren Irrtum oder ihre Lebenslüge nicht erkennen (vgl. ebd.: 157f.). Estelle ist Meisterin der Unaufrichtigkeit, sie verdrängt den Tod, indem sie die anderen dazu nötigt sich ihrer Terminologie zu bedienen und sich statt als Tote als Abwesende zu bezeichnen (vgl. Sartre 2003: 23). Sie verdrängt ihr eigenes Verschulden und konstruiert eine rührselige Geschichte. Ihre Unfähigkeit sich der eigenen Verantwortung zu stellen, wird aber durch die anderen Insassen in einem gnadenlosen Verhör aufgedeckt (vgl. ebd.: 27). Jedoch auch die anderen Protagonisten verbleiben in ihrer Unaufrichtigkeit gegen sich selbst und lassen dadurch einen Teufelskreis wechselseitiger Anschuldigungen entstehen, dem sie nicht entfliehen können.

Die Rolle des Dritten Georg Simmel hat sich in seinem Essay Die quantitative Bestimmtheit der Gruppe (1992) mit dem Phänomen der »Triade« und ihren Auswirkungen auf die Beziehungen der Beteiligten beschäftigt. Simmel interessiert, welche Bedeutung die ›Zahl‹ für die Form des Zusammenlebens in Gruppen hat und wie sich die Gruppengröße auf das Verhalten von Individuen in einer Gruppe auswirkt (vgl. Simmel 1992). Nach Simmel erhält der Übergang von einer Zweierzu einer Dreierkonstellation eine neue Qualität der sozialen Beziehung: »Das Auftreten des Dritten bedeutet Übergang, Versöhnung, Verlassen des absoluten Gegensatzes – freilich gelegentlich auch die Stiftung eines solchen.« (ebd.: 124)

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Für Simmel sind es drei Formen, die sich aus der Triade ergeben: Der Typus des »Unparteiischen« und des »Vermittlers«, der Typus des »Tertius gaudens« und der Typus, der nach der Maxime divide et impera handelt (Simmel 1992: 134 – 143). Gemeinsam ist dem Typus des Unparteiischen und des Vermittlers, dass sie einigend auf Beziehungen wirken. Der Unparteiische oder ›Schiedsrichter‹ spricht in Konflikten das abschließende Machtwort, während der Vermittler versucht die Konfliktparteien zu einer direkten Einigung zu bringen. Gegenüber den Konfliktparteien nehmen beide Typen eine neutrale Position ein. Weder beim zweiten noch beim dritten Typus besteht ein Interesse, die Konfliktparteien zu einigen. Beiden Typen geht es darum den Vorteil aus den Differenzen der Konfliktparteien zu ziehen und – gemäß dem Prinzip des Teilens und Herrschens – den eigenen Status zu stabilisieren und den Herrschaftsbereich auszudehnen (vgl. Simmel 1992: 124ff.). Wie sieht das nun bei den drei Höllenbewohnern aus? Es gibt die Redewendung: ›Drei sind einer zuviel‹ – und das ist dann auch das ›Teuflische‹ dieser Dreierkonstellation in der Hölle: »jeder ist der Folterknecht des anderen« (Sartre 2003: 28) und soll den anderen zumindest psychisch malträtieren. Um diesen Mechanismus zu unterbrechen, schlägt Garcin vor, solle sich jeder auf sein Sofa zurückziehen und schweigen. Doch gelingt dies nur kurz. Inés beginnt zu singen und Estelle benötigt einen Spiegel (vgl. ebd.: 28ff.). Inés versucht Estelle zu verführen, diese ist jedoch eher auf Garcin fixiert und stößt Inés zurück. Estelle beginnt nun ihrerseits mit Garcin anzubandeln. Der ist aber eher an der Meinung von Inés interessiert, die ihm bestätigen soll, dass er kein Feigling sei (vgl. ebd.: 53ff.). Innerhalb dieser Dreierkonstellation kommt es dann auch noch zu Bündnissen, wenn die einzelnen Insassen sich den wechselseitigen Verhören über ihre Verbrechen stellen müssen (vgl. ebd.: 38ff.). Es ist also eher die Situation gegeben, dass zwei Personen sich gegen eine wenden. Es ist Garcin, der von den beiden Frauen in die Enge getrieben wird. Er hält die verbalen Folterattacken der beiden Frauen nicht mehr aus und trommelt gegen die verschlossene Tür: »Aufmachen! Ich nehme alles hin: Beinschrauben, Zangen, flüssiges Blei, Halseisen, alles, was brennt, alles, was quält, ich will richtig leiden – Lieber hundert Stiche, lieber Peitsche, Vitriol als dieses abstrakte Leiden, dieses Schattenleiden, das einen streift, das einen streichelt und niemals richtig weh tut« (ebd.: 54). Die Tür öffnet sich, die drei Insassen könnten gehen. Sie animieren sich den ersten Schritt zu tun.

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Inés: »Also? Wer? Wer von uns dreien? Der Weg ist frei, wer hält uns zurück? Ha! Das ist ja zum Totlachen! Wir sind unzertrennlich« (ebd.: 55). Das Spiel beginnt von neuem: Estelle versucht Inés hinauszustoßen, um mit Garcin allein zu sein, Garcin verhindert dies, weil er Inés braucht. Inés wiederum braucht Estelle. Estelle wirft sich Garcin an den Hals, um Inés zu quälen, der kann sie aber nicht lieben, da er das Urteil von Inés benötigt. Inés verweigert ihm aber diese Anerkennung, was wiederum verhindert, dass er sich Estelle zuwenden kann. Diese versucht nun Inés mit dem Papiermesser, das auf dem Kaminsims liegt, zu erstechen. Es ist ein Teufelskreis, in dem sich die drei Insassen befinden. Die Absurdität der Handlung lässt die Toten in ein diabolisches Gelächter verfallen. Sie erkennen: sie müssen für immer zusammenbleiben, und das Stück endet, indem Garcin sagt: »Also machen wir weiter« (ebd.: 59). Wer ist nun eigentlich der ›Dritte‹? In Sartres Drama kommt offensichtlich keiner der Typen Simmels vor. Keiner der drei Insassen versucht irgendeine Form der Einigung herbeizuführen, auch den ›lachenden Dritten‹, der aus einem Konflikt einen Vorteil zieht, gibt es nicht, und niemand teilt, um zu herrschen. Dadurch, dass jeder Insasse zugleich Folterknecht der anderen ist, wird auch jeder der Insassen von den anderen verbal ›gefoltert‹. Doch es entstehen Bündnisse zwischen den Verdammten – mal ist es Garcin, der von beiden Frauen bedrängt wird, mal Inés, die von Estelle und Garcin provoziert wird, mal Estelle, der Inés und Garcin zusetzen. Der ›Dritte‹ ist im Drama Sartres der Angeklagte, der Ausgeschlossene, der in die Enge Getriebene. Doch dieser Typus des ›Angeklagten‹ ist im Theaterstück nicht statisch, wie man es vom ›Sündenbock‹ kennt. Da der Aufmerksamkeitsfokus zwischen den Schwächen und Vergehen wechselt, nimmt jeder der Insassen diese Rolle ein.

Fazit: Die Hölle, das bleiben die Anderen Als Fazit bleibt: »L’enfer, c’est les Autres«! – Die Hölle, das sind die Anderen! Und: sie bleiben es! Sartre korrigiert in einem Kommentar zum Stück die allgemeine Auffassung, dass unsere Beziehungen zu anderen immer vergiftet sind, dass sie immer teuflische Beziehungen sind« dahingehend, dass wenn die Beziehungen zu anderen ›vertrackt‹ sind, »der andere nur die Hölle sein kann« (Sartre

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2003: 61). Es geht Sartre also um die Qualität von Beziehungen. Für ihn ist das Selbstbild immer beeinflusst von der Sichtweise der anderen, das heißt: »wir beurteilen uns mit den Mitteln, die die anderen haben, und zu unserer Beurteilung gegeben haben« (Sartre ebd.). Wenn Beziehungen zu anderen also ›schlecht‹ sind, so Sartre, dann »begebe ich mich in die totale Abhängigkeit von anderen. Und dann bin ich tatsächlich in der Hölle« (ebd.). Es ist also die Abhängigkeit vom Urteil anderer, das uns die Hölle bereitet und die in ›vertrackten‹ Beziehungen zur Schädigung des anderen verwendet wird. Die wechselseitige Anschuldigungskommunikation lässt im Drama Sartres einen Teufelskreis entstehen, aus dem die Insassen nicht mehr entfliehen können. Die Angst vor dem Urteil der Anderen lähmt sie und verhindert, dass sie die geöffnete Tür zum Verlassen des Hotelzimmers nutzen (vgl. Sartre 2003: 55). Exemplarisch sei an dieser Stelle auf die Rolle von Garcin verwiesen. In den Augen seiner noch lebenden Kollegen im Diesseits gilt er als Feigling und dieses Urteil hält ihn gefangen. Von Inés und ihrem schonungslosen, kritischen Blick erhofft er sich Erlösung (vgl. ebd.: 56). Sein Konstrukt des ›Helden‹ wird von Inés schonungslos entlarvt und die Schuldverschiebung auf seinen zu frühen Tod, welcher sein Heldentum verhindert habe, quittiert Inés wie folgt: »Man stirbt immer zu früh – oder zu spät. Und nun liegt das Leben da, abgeschlossen; der Strich ist gezogen, es fehlt nur noch die Summe. Du bist nichts andres als dein Leben.« (Sartre 2003: 57) Mit diesem Satz könnte das Drama enden. Aber indem Ines Garcin auffordert, sie zu überzeugen, dass er kein Feigling sei, geht das makabere Spiel weiter. Auf ein weiteres macht Sartre in seinem Theaterstück aufmerksam es sind die ›Verkrustungen‹ in Gewohnheiten, Gebräuchen und Urteilen, die Menschen über sich selbst haben und unter denen sie leiden (vgl. Sartre 2003: 62). Anders als Estelle, Garcin und Inés ist es Lebenden gegeben, diese zu verändern. Die Hölle ist dann das Festhalten an den Umständen, unter denen man leidet. Menschen, die nicht bereit sind, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, indem sie Veränderungen anstreben, sind und bleiben in der Hölle.          

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Pflegeheime als Hölle? Eine Metapher zur Delegitimierung stationärer Pflegeeinrichtungen Marc Breuer

In der medialen Öffentlichkeit werden Pflegeheime gelegentlich als Hölle bezeichnet. Nicht selten geschieht das in skandalisierender Absicht: Eine Einrichtung sei infolge von Misshandlungen »für alte Menschen zur Hölle« (SWR, 19.11.20071 ) geworden. In vielen Heimen herrsche ›Missmanagement‹, worunter Pflegebedürftige ebenso wie Mitarbeitende litten: »Ist ein Heim schlecht organisiert, geht es nicht nur in den Nächten schnell hinab in eine Hölle auf Erden« (Spiegel, 27.01.2018). In diesen exemplarisch zitierten Beiträgen werden Praktiken aufgezeigt, die bei Bewohnern, Angehörigen oder Mitarbeitenden Leid verursachten. Problematisiert werden zum Beispiel mangelnde Hygiene, physische und psychische Gewalt oder ein eintöniger Alltag. Offenbar eignet sich die Metapher Hölle zur Charakterisierung von als unangenehm empfundenen Erfahrungen. Für die Betroffenen geht es um tatsächliches Leid, dem sie nur schwer oder überhaupt nicht entrinnen können. Mediale Beobachter sehen sich dadurch offenbar an jene abstoßenden physischen und psychischen Qualen erinnert, wie sie in mittelalterlichen Höllenszenarien sowie in theologischen Abhandlungen und Predigten noch bis ins mittlere 20. Jahrhundert dargestellt wurden.2 Beschreibungen von Pflegeheimen als Hölle lassen sich nicht isoliert verstehen, sondern als Teil eines sehr viel breiteren Diskurses, in dem Pflegeheime vor allem negativ bewertet werden. Aufschlussreich ist die Untersuchung 1 2

Die Kurzbelege zu den Quellentexten beziehen sich auf die im Anhang (4.1) dargestellte Liste. Zur Geschichte der christlichen Theologie, Verkündigung und Visualisierung der Hölle vgl. ausführlich Vorgrimler 1994; zur soziologischer Deutung Hahn 2000: 173ff.; Ebertz 2019.

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von Caroline Krüger (2016) zur öffentlichen Thematisierung des »Alter(n)s« in Printmedien seit den 1950er Jahren. Metaphorisierungen von Pflegeheimen, zum Beispiel als »Gefängnisse«, »Kasernen«, »Irrenhäuser« oder gar »Konzentrationslager« sowie »Wartesäle« (auf den Tod) haben demnach eine lange Tradition. Korrespondierend erscheinen die Bewohner als »Schutzbedürftige«, »Opfer von Gewalt«, »beherrschte Untertanen«, »Häftlinge«, »Unfreie« und der Alltag in den Einrichtungen als »Folter« oder »Horror« (Krüger 2016: 215ff.). In der Presse, so resümiert Krüger, dominiere seit Jahrzehnten eine massive »Negativbewertung von (institutionalisierter) Pflege durch sprachliche Bilder« (ebd.: 223). Die Heime werden als Orte dargestellt, »an denen sich niemand freiwillig aufhalten würde« (ebd.). Auf eine vorrangig negative Repräsentation verweist auch die Jenaer Studie zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft (Denninger et al. 2014): Während die sogenannten »Jungen Alten« (ebd.: 28) in den letzten beiden Jahrzehnten zu Aktivierung und (Selbst-)Optimierung aufgerufen worden seien, fänden sich Pflegeheime vor allem als Aufenthaltsort einer »verworfene[n] Hochaltrigkeit« (ebd.: 113) vorgeführt. Auf verbreitete Missstände und ein schlechtes Ansehen der Heime wird über die Massenmedien hinaus zudem in der wissenschaftlichen Politikberatung sowie in politischen Dokumenten regelmäßig hingewiesen.3 Die »Qualität« von stationären Pflegeeinrichtungen, die darauf bezogenen Prüfungen durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) und Konzepte zu ihrer Weiterentwicklung sind seit Jahren Gegenstand breiter Debatten.4 Die vorliegende Untersuchung bezieht sich jedoch ausdrücklich nicht auf die Frage, inwiefern die Kritik an Pflegeheimen berechtigt sei oder nicht. Sie geht vielmehr von der Feststellung aus, dass Heime als Hölle bezeichnet werden. Die Frage stellt sich, warum diese Metapher, trotz erheblicher Veränderungen in der stationären Pflege, seit vielen Jahren stabile Verwendung findet und Anschlussfähigkeit behaupten kann. Um diese Frage zu beantworten, soll im ersten Abschnitt gezeigt werden, wie die Zuschreibung der Hölle in

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Zum Beispiel im Siebten Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2016: 184, 223, 229). Vgl. auch Graber-Dünow 2016 als Beispiel einer aus dem Feld der Altenpflege selbst kommenden Pflegeheimkritik. Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2016: 183ff.; Kaltenegger 2016. Vgl. auch Döber (2019) zu der Frage, was von Pflegebedürftigen und Mitarbeitenden unter »Lebensqualität« im Pflegeheim verstanden wird.

Pflegeheime als Hölle?

den Texten begründet wird und welche Aussagen damit im Einzelnen verbunden werden. Im zweiten Abschnitt werden die Erkenntnisse in eine breitere gesellschafstheoretische und auch sozialpolitische Perspektive eingeordnet. Der Beitrag zeigt, dass die Metapher Hölle genutzt wird, um die Betreuung und Pflege in stationären Einrichtungen grundsätzlich zu problematisieren. In den untersuchten Texten werden Pflegeheime als ›Jenseits‹ eines ›lebenswerten‹ Lebens markiert. Anders, als man auf den ersten Blick meinen könnte, zielt die Verwendung der Metapher zumeist weniger auf eine Verbesserung der Situationen in den Heimen, als darauf, Pflegeheime grundsätzlich zu delegitimieren und ältere Menschen und deren Angehörige vor ihnen zu warnen.

Die Metapher der Hölle Datengrundlage und -analyse Die Untersuchung bezieht sich auf Publikationen, in denen ›Pflege-‹, ›Alten-‹ oder ›Altersheime‹ sowie das Leben und/oder die Arbeit in diesen Einrichtungen mit der Bezeichnung Hölle verknüpft werden. Eine vollständige Erfassung und Analyse solcher Texte ist im vorliegenden Zusammenhang nicht leistbar.5 Die zugrundeliegenden Texte, die im Anhang verzeichnet sind, wurden mithilfe von Internet-Suchmaschinen sowie über Fachdatenbanken recherchiert. Zum Vergleich wurden darüber hinaus einzelne Beiträge aufgenommen, in denen nicht Pflegeinrichtungen, sondern Angehörigenpflege sowie Demenzerkrankungen als Hölle bezeichnet werden (diese sind in der Liste mit * gekennzeichnet). Darüber hinaus wurden einzelne Texte aufgenommen, in denen Pflegeheime ausdrücklich positiv, implizit als Gegenteile zur Hölle, dargestellt werden (mit # gekennzeichnet). Das Korpus, welches der nachfolgenden, explorativen Analyse zugrunde liegt, umfasst insgesamt 23 Texte. Darunter stammen 17 aus den Jahren 2015 bis 2019. Zudem sind fünf Veröffentlichungen aus früheren Jahren (die älteste von 1996) sowie ein OnlineDokument ohne Jahresangabe berücksichtigt. Die Liste zeigt, dass relevante

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Eine solche Untersuchung würde sinnvollerweise über den deutschen Sprachraum hinausgehen, denn dieselbe Verknüpfung findet sich zum Beispiel auch in englisch- und französischsprachigen Medien.

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Texte in allen Publikationsarten zu finden sind. Während sich die meisten Publikationen an eine breite Öffentlichkeit richten, ist bemerkenswert, dass die Bezeichnung von Pflegeheimen als Hölle vereinzelt auch in Fachzeitschriften der Altenhilfe und Pflege wiedergegeben wird (Assemi 1996; Thölke 2019). Bei der Bezeichnung von Pflegeheimen als Hölle handelt es sich um eine Metapher. Als solche werden in der kognitiven Linguistik Verknüpfungen einer Quell- mit einer Zieldomäne verstanden. Durch Übertragung einer vertrauten Bedeutung soll ein unbekannter oder abstrakter Sachverhalt verständlich gemacht werden. Die Metapher greift nicht eine vorhandene Ähnlichkeit auf, vielmehr wird die Ähnlichkeit durch die Metapher erst hergestellt. Durch die Verknüpfung von zwei unterschiedlichen Bereichen werden neue Bedeutungen erschaffen (vgl. Kövecses 2010: 4, 17ff.). Dabei ist die Metapher nicht allein ein kognitives, sondern immer auch ein »sozio-pragmatisches Phänomen« (Spieß 2017: 96), das heißt durch die metaphorische Konstitution von Wirklichkeit werden Sachverhalte mit Interessen, Bewertungen und Handlungsempfehlungen verknüpft. Im untersuchten Diskurs ist die Quelldomäne ein religiös begründetes Konzept der Hölle, wie es im Christentum tradiert wird und in ähnlicher Form im Islam präsent ist. Augustinus (354-430), der die katholische ebenso wie die reformatorische Tradition erheblich prägte, versteht das Feuer der Hölle als ein leibhaftiges Feuer, in dem die Sünder ewige Qualen erlitten und dadurch eine gerechte Strafe für ihre Vergehen erhielten (vgl. Vorgrimler 1994: 117ff.). Zieldomäne der Metapher sind die heutigen Pflegeheime, denen im Diskurs Merkmale zugeschrieben werden, die jenen der religiösen Hölle ähnlich seien. Damit stellt sich die Frage, wie sich die öffentliche Sicht auf Pflegeheime verändert, indem diese als Hölle bezeichnet werden. Religiöse Höllenpredigten führen einen deutlichen Handlungsimpuls mit sich, indem sie von den Gläubigen fordern, ihr irdisches Leben anzupassen, um die Hölle zu vermeiden. Es wird zu zeigen sein, inwiefern die Höllenmetapher im untersuchten Diskurs ebenfalls zur Disziplinierung dient. Metaphern konstituieren sich nicht allein über Satzteile oder Einzelsätze, sondern auch über zusammenhängende Texte (vgl. Spieß 2017: 97f.). Die hier untersuchten Beiträge tragen zur Generierung der Metapher bei, indem sie Merkmale zusammentragen, durch welche die Heime als Hölle erkennbar seien. Von diesem Verständnis ausgehend wurden die Bezugstexte codiert und ausgewählte Codes wiederum drei Kategorien zugeordnet, die auf ein (stark vereinfachtes) Verständnis der religiösen Hölle rekurrieren. Als Hölle lassen sich demnach Orte verstehen, in denen menschliche Personen uner-

Pflegeheime als Hölle?

träglichen, für sie selbst ausweglosen Leiden oder Qualen ausgesetzt sind. Der Diskurs, so wird im Folgenden gezeigt, thematisiert die Gegebenheit des Leids als Begründung dafür, dass die Pflegeheime die Bezeichnung Hölle verdienten (Abschnitt 1.2). Die Leiden dieser Pflegeheim-Hölle erscheinen nicht als zwangsläufig, sondern als durch menschliches Handeln verursacht. Im Gegensatz zur religiösen Hölle werden jedoch die Bewohner der Heime nicht selbst als Sünder dargestellt, sondern vielmehr als solche, die unter der Schuld anderer leiden (1.3). In der religiösen Tradition war die Hölle als Gegenbegriff zum »Himmel« beziehungsweise zum »Paradies« konzipiert, sie war also Element eines Paars »asymmetrischer Gegenbegriffe« (Koselleck 1979). Entsprechend werden im Material auch für höllenartige Pflegeheime korrespondierende Metaphern einer ›himmlischen‹ Pflege entworfen (1.4). Zur Abgrenzung ist zudem auf eine anders gerichtete Verwendung der Metapher Hölle hinzuweisen, die sich nicht auf Pflegeheime, sondern auf Angehörigenpflege sowie Demenzerkrankungen bezieht (1.5).

Leiden Pflegeheime werden als Orte des Leidens für Menschen dargestellt, die sich dort dauerhaft aufhalten. Im Diskurs werden insbesondere die Leiden der Pflegebedürftigen sowie der Pflegenden thematisiert. Die Texte arbeiten zumeist mit einem Gestus der Skandalisierung und Anklage: Sie wollen jene »katastrophalen Zustände« (SWR, 19.11.2007) offenlegen, von denen Journalisten aufgrund ihrer Recherchen, nicht selten mithilfe von Angehörigen oder Mitarbeitenden, die endlich »auspacken« (Hamburger Morgenpost, 03.08.2017), erfahren hätten. Erstens würden Einrichtungen für die Pflegebedürftigen zur Hölle. Sie hätten dort einen unerträglich eintönigen Alltag: Die »Leute sitzen nur noch da, dumpfen vor sich hin und werden abends ins Bett verfrachtet« (Bild, 20.09.2018). Dem Pflegepersonal seien sie hilflos ausgeliefert. Zwar sei »körperliche Gewalt […] selten, aber Gemeinheiten, verbale Entgleisungen, Handgreiflichkeiten passierten häufig« (Berliner Kurier, 20.10.2017). In manchen Heimen seien »freiheitsentziehend[e] Maßnahmen« (Krankenkassen.net) üblich, es komme zu »schweren Misshandlungen, Bewohner seien sogar geschlagen worden« (SWR, 19.11.2007). Ausgeliefert seien die Pflegebedürftigen zudem unprofessionellen Behandlungen, die auf einen Mangel an Zeit und fachlicher Kompetenz sowie an Empathie zurückgeführt werden. Mitunter würden Medikamente falsch verabreicht. Mancherorts herrsche

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eine »unhygienische Hölle«, weil verdorbene Lebensmittel verwendet und Hygienevorschriften missachtet würden (Tagesspiegel, 09.06.2015). Neben Mangelernährung wird die »endlose Tortur« durch künstliche Ernährung mithilfe von Magensonden beschrieben (DIPAT, 22.02.2017). Dem Personal fehle die Zeit, Pflegebedürftigen »das Essen zu reichen und ihnen beim Trinken zu assistieren […]. Manche Bewohner liegen den halben Tag in ihren Exkrementen, weil niemand die Windeln wechselt. Andere bekommen Druckgeschwüre, da die Zeit fehlt, sie neu zu lagern« (Hamburger Morgenpost, 03.08.2017). In der Konsequenz könne man im Heim »nicht mehr Mensch sein«, und verliere dort seine »Würde« (SWR, 19.11.2007). Lediglich in einem Beitrag erscheint ein Pflegeheim trotz ›guter‹ Pflege als Hölle: Man habe eine junge Frau nach einer Gehirnhautentzündung zeitweilig dort untergebracht, wo sie sich »von Stille und Sterben« (WAZ, 28.09.2018) umgeben gefühlt habe. Zweitens würden Pflegeheime von Pflegekräften als Hölle erlebt. Weil nicht genügend Personal zur Verfügung stehe, hätten die Mitarbeitenden permanent zu wenig Zeit. Sobald jemand ernsthaft erkranke und mehr Aufmerksamkeit benötige, seien »alle nur noch genervt« (SWR, 15.09.2016), denn der dicht getaktete Zeitplan könne nicht mehr eingehalten werden. Pflegeheime, die sich nach außen hin vorbildlich darstellen, zeigten sich bei näherem Hinsehen »als Arbeitsplatz chronisch überforderter Pfleger*innen, die Bewohner*innen nach dem Mittagsschlaf schon mal im Bett ›vergessen‹« (taz, 14.10.2019). Die widersprüchlichen Anforderungen der Heimorganisation einerseits und der Pflegebedürftigen andererseits führten zur Überforderung. Man sei »da komplett in der Hölle. […] Das ging physisch und psychisch an die Substanz« (Bento, 09.02.2018).6 Die miserablen Arbeitsbedingungen machten es schwer, menschliche Zuwendung zu vermitteln (Spiegel, 27.01.2018). »Zu den Versäumnissen kommt es nicht deshalb, weil das Personal faul ist oder grausam«, vielmehr seien die Mitarbeitenden »mit ihren Kräften am Ende« (Hamburger Morgenpost, 03.08.2017). Mitunter werden Pflegende als Leidensgenossen und Verbündete der Pflegebedürftigen dargestellt, weil sie gleichermaßen unter den Zuständen litten. Manche Pflegende würden die Leiden

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Auch die Verknüpfung von pflegerischer Berufstätigkeit mit der parallelen Übernahme von Pflegeaufgaben für eigene Angehörige wird von einer Pflegeschülerin als »Hölle« beschrieben. »In der Praxis siehst du die kranken Leute, die musst du pflegen, und kommt du nach Hause, dann sitzt auch jemand da. Also für mich war es die Hölle« (Thölke 2019: 221).

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der Bewohner »als ›grausam‹« (DIPAT, 22.02.2017) erleben. Eine »Altenpflegerin packt aus: ›Es gibt Heime, die sind die Hölle‹« (Hamburger Morgenpost, 03.08.2017). Vielfach sähen sich Mitarbeitende allerdings zum Schweigen gezwungen, ansonsten drohe die Kündigung (vgl. ebd.; Bento, 09.02.2018).

Verursachung der Leiden Pflegeheime erscheinen im Diskurs nicht zwangsläufig als Hölle. Vielmehr zielen die Texte darauf, die Hölle als durch bestimmte Akteure verursacht zu charakterisieren. Erstens werden die höllenartigen Zustände den Heimleitungen zugeschrieben, welche auf die erschwerten Rahmenbedingungen nicht angemessen reagierten. Die Vorwürfe reichen von praktischer Unfähigkeit bis zu gewaltsamem und kriminellem Verhalten. Angesichts der hohen Vulnerabilität der Pflegebedürftigen wirkten sich Fehler umso gravierender aus, und es gehe – wie eingangs zitiert – »schnell hinab in eine Hölle auf Erden«. Den Heimleitungen wird ein übertriebenes Streben nach Gewinn zugeschrieben: »in jüngster Zeit flogen viele Heime wegen Betrug und Abzocke auf« (taz, 14.10.2019).7 Die verbreitete Praxis der Lebensverlängerung durch künstliche Ernährung stehe im Dienst »einer Gesundheitsindustrie, die ohne jedes Gewissen allein den Profit sucht« (DIPAT, 22.02.2017). Wenn manche Beiträge auch betonen, dass keinesfalls alle Pflegeheime so arbeiteten, wird doch eine systematische Verbreitung krimineller Praktiken unterstellt. Auch die erwähnten Hygieneprobleme werden auf »Machenschaften« (Tagesspiegel, 09.06.2015) der Heimleitungen zurückgeführt. Diese hätten zu verantworten, dass die Heime »unterbesetzt« (B.Z., 24.09.2018) seien. Zudem beschäftige man »unqualifiziertes Personal, das kaum Deutsch spricht« (ebd.). Unterstützung von außen sei unerwünscht: Angehörige würden »ehrenamtlich gerne helfen […], aber das wollen die Heime auch nicht« (Bild, 20.09.2018). Die Missstände vertusche man mithilfe »geschönter Berichte« (SWR, 19.11.2007). Die Praktiken der Heime seien »ein Fall für den Staatsanwalt. Aber niemand ermittelt […], weil alle ihren Mund halten« (Hamburger Morgenpost, 03.08.2017).

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Diese Deutung findet in den massenmedialen Diskursen zu Alter und Pflege ein breites Fundament. Nach der Analyse von Krüger ist die »bei weitem wichtigste konzeptuelle Kopplung […] die der PFLEGEBRANCHE mit der Vorstellung von UNREDLICHKEIT, von BETRUG und KRIMINALITÄT« (Krüger 2016: 228).

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Zweitens: Die kriminellen Praktiken gelten als ermöglicht durch den sogenannten »Pflegenotstand«, also durch ein der Sozialpolitik gestelltes Problem. Die Zukunft der Pflege sei »neben dem Klimawandel […] das größte gesellschaftliche Akutproblem«. Der »Pflegenotstand« sei ursächlich dafür, dass der berufliche Alltag für das Pflegepersonal ebenso wie für die Bewohner zur »Hölle« werde (SWR, 15.09.2016). Infolge des »Pflegenotstands« sei in der Pflege »vieles möglich, was woanders längst verboten wäre« (taz, 14.10.2019). Zwar wüssten die politisch Verantwortlichen, dass das etablierte Bewertungssystem der Pflegeheime eine »Farce« (ebd.) sei, sie ließen jedoch zu, dass die dramatischen Missstände gegenüber der Öffentlichkeit verschleiert würden. Angesichts ausbleibender Reformen würden ›ehrliche‹ Anbieter bestraft, »Betrug und Abzocke« (ebd.) systematisch begünstigt, wenn nicht herausgefordert. Die steigende Zahl pflegebedürftiger Menschen und die wachsenden Kosten der Pflege sorgten dafür, dass sich »ein staatsseitig stark unterfinanziertes System ausgebildet [habe], dessen Löcher die Gepflegten selbst, ihre Angehörigen, ihre Familien ständig mit frischem Geld stopfen müssen. Es ist ein System, das verantwortungsvolle Pflegeheimbetreiber zwingt, jeden Cent zweimal umzudrehen oder aber kräftig bei den Kunden hinzulangen« (Spiegel, 27.01.2018). Das gesamte »System der Altenpflege« sei »eine Fehlkonstruktion« (ebd.). Drittens: Im Gegensatz zu den Darstellungen von Heimleitungen und Sozialpolitik sind jene des pflegerischen Personals ambivalent. Die Pflegenden erscheinen einerseits – wie schon erläutert – selbst als Opfer. Andererseits werden sie der Mittäterschaft beschuldigt, weil sie sich dem System fügten.8 Aufgrund des schlechten Betriebsklimas streite das Pflegepersonal »untereinander, lädt den Frust aber auch bei den Bewohnern ab« (Hamburger Morgenpost, 03.08.2017). Den Pflegenden wird auch ihre vermeintliche Inkompetenz zum Vorwurf gemacht: Ein Bewohner werde von »unqualifizierte[m] Personal« betreut, »das kaum Deutsch spricht«. Infolge des Zeitmangels machen die Mitarbeitenden zahlreiche »Fehler«, etwa bei der Verabreichung von Medikamenten (B.Z., 24.09.2018). Die Misshandlungen der Pflegebedürftigen

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Krüger zeigt, dass Pflegekräfte als »Gefängniswärter«, als »Herrscher« und als »Ungeheuer« dargestellt werden, denen die Pflegenden als »Opfer«, als »Eingesperrte«, »Unterworfene« und »Abgestumpfte« gegenüberstehen (Krüger 2016: 224). Die unmenschliche Behandlung alter Menschen in den Pflegeeinrichtungen werde »als SÜNDE konzeptualisiert« (ebd.: 230).

Pflegeheime als Hölle?

geschähen »mit dem Wissen und dem Zutun der behandelnden Ärzte« (DIPAT, 22.02.2017). Ein Praktikant meint: »Wenn jemand den Beruf als Altenpfleger wählt, muß er eine große Liebe zu und einen großen Respekt vor den Menschen haben. Sonst macht er sein Leben und das der Bewohner zur Hölle« (Assemi 1996: 718). Solche Formulierungen knüpfen an seit langem etablierte Erwartungen an, dass ›gute Pflege‹ einer inneren, stark weiblich akzentuierten Haltung der Fürsorge entspringen müsse, auf die unten noch näher einzugehen ist. Diesem Deutungsmuster folgend sehen manche Pflegende die Verantwortung bei sich selbst: »Ich bin nicht Schuld [sic, MB] daran, dass die Situation so ist. Ich bin aber Schuld daran, wenn sie so bleibt« (Bento, 09.02.2018).

Gegenbilder der Hölle Zu den Pflegeheimen, die als Hölle gelten, finden sich im Diskurs dichotome Gegenbilder. Die Beiträge verweisen auf das »gute Heim« (Hamburger Morgenpost, 03.08.2017) beziehungsweise auf eine »gute Pflege«, wie »man es sich auch wünscht und erwartet«, welche den Bewohnern ermögliche zu sagen: »Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein« (SWR, 19.11.2007). Insbesondere drei Varianten sind zu erkennen: Erstens: Das »gute Heim« erscheint als Utopie, das heißt als idealisierte Einrichtung, von der nicht gesagt wird, ob oder wo genau sie einen realen Ort habe: »Da werden Pfleger und Bewohner mit Respekt und Wertschätzung behandelt, da haben die Pflegekräfte Zeit für den einzelnen Bewohner«. Es gebe auch »spezielle Betreuer, die dafür sorgen, dass die alten Leute nicht vereinsamen, […] zum Beispiel Ausflüge mit ihnen machen« (Hamburger Morgenpost, 03.08.2017). Ohne auf bestimmte Heime einzugehen wird betont, dass es sowohl ›gute‹ als auch ›schlechte‹ Heime gebe, weshalb auch »nicht jedes Pflegeheim eine geriatrische Hölle ist. Viele Einrichtungen arbeiten vorbildlich und haben tatsächlich gute Noten verdient« (taz, 14.10.2019).9 In anderen Texten wird jedoch davor gewarnt, dass sämtliche Pflegeheime eine Hölle seien, denn die schlimmen Erfahrungen »treffen auf alle Pflegeeinrichtungen zu« (B.Z., 24.09.2018).

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Krüger zitiert hier Beschreibungen von Einrichtungen als »Hotels« oder »Paradies«, womit der »Serviceaspekt fokussiert« werde (Krüger 2016: 227). Zur Metapher »Hotel« vgl. auch Döbler (2019: 19).

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Zweitens: Einzelne Beiträge beschreiben konkrete Pflegeheime, die keine Hölle seien. Der ausgewählte Beitrag einer Lokalzeitung liest sich wie ein Werbetext. Generell hätten »Altersheime« den »Ruf ›Vorhof zur Hölle‹ […] nicht verdient«. Im vorgestellten Heim würden die Bewohner »bestens versorgt […]. Ein Unterhaltungsprogramm beschert einen angenehmen Aufenthalt und Kurzweil«, es herrsche eine »familiäre Atmosphäre im Alterswohnsitz«. Wer »Rund-um-die-Uhr-Betreuung« benötige, sei dort »am besten aufgehoben« (Kreiszeitung Minden-Lübbecke, 02.07.2015). ›Gute‹ Pflege wird insbesondere für Pflegeheime »gehobeneren Anspruchs« (FAZ, 01.02.2007) beschrieben. Während der Begriff »Altenheim« üblicherweise mit »Abstieg, Vorhof des Todes, Verwahranstalt für Alte, Kranke und Pflegebedürftige« assoziiert werde, verfüge das Seniorenstift Augustinum in München über geräumige Zimmer beziehungsweise Appartements, vielfältige Freizeitangebote sowie Unterstützung bei Einschränkungen; zum Beispiel gebe es einen »Fahrstuhl (mit Sitzbank)« (FAZ, 01.02.2007; s.a. FR, 09.01.2010). Die Bewohner werden als Angehörige der Oberschicht beschrieben. Sie seien gebildet, hätten eine reflektierte Entscheidung getroffen, in das Heim umzuziehen und könnten im Heim ihren gewohnten selbstbestimmten Lebensstil fortsetzen.10 Drittens: Im Gegensatz zu den negativ konnotierten Thematisierungen von Pflegeheimen, deren Bewohner unmenschlich behandelt würden, gibt es betont positive Sprachbilder, die nicht weniger überzeichnen. »Gute Pflege« wird als eine Form menschlicher Zuwendung dargestellt. Dies wurde bereits in dem Zitat deutlich, wonach Pflegepersonal »eine große Liebe zu und einen großen Respekt« mitbringen müsse, um das Leben nicht »zur Hölle« zu machen (Assemi 1996: 718). Jenseits des untersuchten Materials finden sich in Boulevardzeitungen seit Jahrzehnten »Überhöhung[en] der Pflegenden als himmlische Wesen, als Mutter an Barmherzigkeit und Menschenfreundlichkeit« (Krüger 2016: 225). Pflegende werden als »Engel« bezeichnet, die ihr »gutes Herz« oder ihren »gute[n] Geist« den Älteren widmeten (ebd.). Um-

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Der Siebte Bericht zur Lage der älteren Generation des Bundestages kritisiert, dass man Pflegeheime öffentlich »vor allem unter dem Aspekt der pflegerischen Versorgung, nicht jedoch unter dem Aspekt des Wohnens betracht[e]. […] Dies suggeriert, Menschen würden bei Einzug in eine stationäre Einrichtung aufhören zu wohnen« (Deutscher Bundestag 2016: 223). Die im voranstehenden Absatz zitierten Beiträge stützen diese Feststellung, denn umgekehrt fällt auf, dass die ›gehobeneren‹ Pflegeheime gerade auch als Orte des Wohnens beschrieben werden.

Pflegeheime als Hölle?

gekehrt erscheinen skandalisierte Pflegeheime als solche, in denen es »Stress und Chaos, aber wenig Liebe« gebe (Mangold 2013: 9).11

Angehörigenpflege und Demenzerkrankung Gegenüber dem vorrangig untersuchten Material sind Texte zu unterscheiden, in denen nicht Pflegeheime, sondern andere Phänomene im Kontext von Pflege als Hölle thematisiert werden. Das gilt erstens für Texte, welche die Erfahrungen pflegender Angehöriger, die Pflegesituation, oder die Pflegeverantwortung als Hölle beschreiben. Im Zusammenhang der Angehörigenpflege käme es zu einer massiven »Einschränkung« für die Pflegenden, ihr »Bewegungsraum« werde auf die Wohnung zentriert und das dortige »Zusammenleben mit Pflegebedürftigen« als »Hölle« erfahren (Krüger 2016: 230). Eine Journalistin beschreibt, wie sie jahrelang ihre Mutter pflegte, was für sie einen fortlaufenden »Kampf« (SZ, 02./03.06.2018) bedeutete. Im zuletzt genannten Text wird die Metapher Hölle verwendet, um Umstände zu beschreiben, welche die Pflege erschweren, zum Beispiel Konflikte mit Krankenkassen sowie Schwierigkeiten, Pflege und Berufstätigkeit zu vereinbaren. Die Pflege selbst wird als ambivalente Erfahrung beschrieben. »Pflege kann die Hölle sein. Aber sie kann auch glücklich machen«, sie »gab mir auch Kraft«, war »ein gesunder Ausgleich zum hektischen Büroalltag« und »heilsam« (ebd.). Zweitens findet die Metapher Hölle Verwendung für die Erkrankung der Demenz, die das Leben für die Erkrankten (und mittelbar für deren Angehörige) zur Hölle mache, weil nach und nach elementare Fähigkeiten verloren gingen (Spiegel, 01.03.2010; Welt, 21.09.2015; Der Freitag, 05.10.2017).12 Pflegeheime würden zur »Hölle«, insofern es sich bei ihnen um regelmäßige Aufenthaltsorte für Demenzerkrankte handele: »Es gibt einen Abgrund des Verlassenseins. […] Viele fürchten und meiden ihn; sie fürchten ihn, so wie die Vorfahren einst das Höllenfeuer und die Höllenqualen gefürchtet haben. Die Hölle von heute trägt den Namen Alzheimer, sie heißt PflegeheimDemenzstation« (SZ, 10.03.2019). So verstanden werden Heime nicht zur Höl-

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Almut Mangold verwendet in ihrem Beitrag Düstere Aussicht (2013) zwar nicht den Begriff der »Hölle«, jedoch beschreibt dieser Artikel in drastischer Sprache und mit ebensolchen Bildern Erfahrungen, die im Material ansonsten mit der Höllenmetapher verknüpft werden. Vgl. dazu auch die theologischen sowie philosophisch-ethischen Reflexionen bei Berner 2011 sowie Werren/Mathwig/Meireis 2017.

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le, weil dort Pflegebedürftige schlecht behandelt würden oder die Arbeitsbedingungen schlecht seien. Pflegeheime werden nicht selbst als Problem, sondern als Mittel zur Bewältigung von Problemen thematisiert. Diesen Texten fehlt daher das Merkmal der Skandalisierung. Sie thematisieren keine Schuld im Sinne personaler Verantwortung, die man Akteuren zuschreiben und deren Praktiken dadurch skandalisieren könnte. Texte zur Angehörigenpflege und zur Demenz sehen die Hölle nicht als Abweichung pflegerischer Praktiken von einem Sollzustand, die durch geeignete Strategien beseitigen wären. Sie erscheint vielmehr als unausweichlich und alternativlos, der conditio humana geschuldet, aus der heraus Menschen in die Situation der Pflegebedürftigkeit oder in die der Pflegeverantwortung kommen.

Pflegeheime als soziales Problem Problemdiskurs Im nächsten Schritt sind die Erkenntnisse zur Höllenmetapher mit gesellschaftstheoretischen und sozialpolitischen Analysen zu verknüpfen. Die untersuchten Texte machen, indem sie die Heime als Hölle bezeichnen, ein soziales Problem geltend. Mit diesem Begriff werden Phänomene bezeichnet, die als kollektiver Schaden oder Störung der gesellschaftlichen Ordnung verstanden werden, weil sie von einem gewünschten, als ›normal‹ geltenden Zustand abweichen (vgl. Groenemeyer 2012: 27ff.). Unter einem sozialen Problem leiden demnach nicht alleine einzelne Individuen, vielmehr wird eine kollektive Betroffenheit angenommen. Zudem wird unterstellt, dass sich der unerwünschte Zustand durch geeignete Strategien bewältigen lasse. Wissenssoziologisch beziehungsweise konstruktivistisch argumentierende Analysen (zum Beispiel Loseke 2010) machen darauf aufmerksam, dass ein Phänomen nicht bereits aufgrund der Abweichung von einem normativ begründeten Zustand als soziales Problem verstanden, sondern erst, indem es öffentlich als problematisch und zugleich veränderbar thematisiert wird. Problemdiskurse zielen darauf ab, bestimmte Sachverhalte als problematisch zu deuten und das zugehörige Problemverständnis sowie ein Bewusstsein notwendiger Bewältigungsstrategien in der Öffentlichkeit durchzusetzen (vgl. Groenemeyer 2012: 61ff., 82ff.). Das hier untersuchte Material, in dem Abweichungen der Heime von einem ›menschenwürdigen‹ oder ›liebevollen‹ Sollzustand markiert werden, lässt sich einem solchen Problemdiskurs zuordnen.

Pflegeheime als Hölle?

Kritik an Pflegeheimen ist sowohl in den Massenmedien als auch in den Fachöffentlichkeiten der Altenhilfe und der Sozialpolitik weitverbreitet, worauf in der Einleitung bereits hingewiesen wurde. Die Heime beziehungsweise die stationäre Pflege werden insgesamt als soziales Problem thematisiert. Ziel der vorliegenden Untersuchung kann es nicht sein, diesen weit gefächerten Problemdiskurs zu analysieren. Vielmehr werden die untersuchten Texte als dessen Elemente untersucht. Gezeigt werden soll, welche Rolle die Höllenmetapher für die Problematisierung der stationären Pflege und die angestrebte Bewältigung spielt. Die Metapher dient insbesondere dazu, die Problematisierung über eine kognitive Ebene hinauszuführen. Sie unterstützt eine ›emotionale Aufladung‹ und Moralisierung der Kritik, indem Zustände als besonders drastisch markiert werden und dafür zudem Schuld zugewiesen wird (vgl. Loseke 2010: 75ff). Wie zu sehen war, werden die Pflegebedürftigen und teilweise auch die Pflegenden als unschuldige Opfer thematisiert, deren Leidenssituation mithilfe der Höllenmetapher als umso dramatischer und auswegloser dargestellt wird. Der Diskurs fordert Sympathie und Empathie für diese Opfer. Umgekehrt erscheinen Heimleitungen, politische Akteure und manchmal auch Pflegende als Schuldige, denen gegenüber zur Distanzierung aufgerufen wird. Die Metapher wird im Problemdiskurs also nicht alleine genutzt, um über die Skandalisierung Aufmerksamkeit zu erregen. Vielmehr will sie die öffentlich präsente Bedeutung von Pflegeheimen in eine bestimmte Richtung lenken13 : weg von Orten, die als hilfreich und unterstützend erfahren werden, hin zu solchen, die Leid verursachen. Der Gebrauch der Metapher Hölle soll auf diese Weise Überzeugungen vermitteln. Bestimmte Merkmale von Heimen werden hervorgehoben und dramatisiert, andere unterdrückt oder negiert. Pflegeheime werden skandalisiert, um bei den Rezipienten bestimmte Handlungsweisen (strikte Reform, strikte Meidung) nahezulegen. Aufgrund des gewählten Sprachbildes können solche Handlungen nur drastisch sein: Die Texte plädieren für durchgreifende Veränderungen pflegerischer Praktiken. Auf den nächsten Seiten soll die Problematisierung zunächst aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektive nachvollzogen werden. Der Blick richtet sich auf den Charakter der Pflegeheime als totale Institutionen, über welche eine Exklusion der Pflegedürftigen hergestellt wird, die aber in der Form der

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Vgl. Spieß (2017: 100ff.) zur Funktion von Metaphern in öffentlich-politischen Diskursen.

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Inklusion in der stationären Einrichtung erfolgt (Abschnitt 2.2). Darüber hinaus lässt sich zeigen, dass in der Problematisierung von Pflegeheimen seit Jahrzehnten Merkmale totaler Institutionen betont werden, um die Heime als Orte der Demütigung auszuweisen (2.3). Anschließend ist zu zeigen, wie die Metapher der Hölle eingesetzt wird, um bestimmte Formen der Problembewältigung zu unterstützen (2.4).

Totale Institutionen Die Skandalisierung der Pflegeheime als Hölle wird im Diskurs vor allem mithilfe solcher Merkmale begründet, die für totale Institutionen kennzeichnend sind. Darunter lassen sich mit Erving Goffman (1973/1961: 15ff.) zum Beispiel Gefängnisse, Straflager, Psychiatrien und eben auch Pflegeheime verstehen. Bekanntlich macht Goffman vier zentrale Merkmale totaler Institutionen geltend: (1.) werden alle Lebensvollzüge an einem Ort zusammengefasst; (2.) wird dort jedes Individuum in eine Gruppe von »Schicksalsgenossen« eingeordnet und (3.) einem System formaler, von professionellen Kräften überwachten Regeln unterworfen; (4.) werden alle Tätigkeiten aus einem »einzigen rationalen Plan« begründet. Für die »Insassen« resultiert aus der Geschlossenheit ein Kontrollverlust in zahlreichen Aspekten der täglichen Lebensführung. Spezifisch für Pflegeheime als totale Institutionen ist, so zeigt Schroeter (2006: 154ff.), dass deren Bewohner aufgrund ihrer Multimorbidität und pflegebedingt hohen Vulnerabilität in besonders hohem Maße vom Pflegepersonal abhängig seien. Umso mehr litten sie darunter, wenn die Pflegenden ihrer Verantwortung nicht gerecht würden beziehungsweise dazu aufgrund zeitlicher Vorgaben nicht in der Lage seien. Totale Institutionen lassen sich als eine für die Moderne charakteristische Form der Exklusion verstehen: Im Gegensatz zur Vormoderne wird Exklusion typischerweise nicht mehr so vollzogen, dass Individuen in ein »Jenseits der Gesellschaft« (Bohn 2006: 15) verwiesen werden, wie das etwa bei Todesstrafen, Verbannungen oder Leprakolonien der Fall war. Moderne Praktiken der Exklusion, wie sie sich seit dem 19. Jahrhundert etablierten, sehen Exklusion vielmehr innerhalb der Gesellschaft vor, ohne dass der Kontakt gänzlich vermieden oder unmöglich gemacht würde. Vielmehr kommt sie »als kontrollierte Form der Distanznahme durch Überwachung« zustande, das heißt als »inkludierende Exklusion« (ebd.: 44; siehe auch Stichweh 2009). Der Ausschluss erfolgt zum Beispiel durch Einschluss in einer Einrichtung, um die betreffenden Individuen – wie in Foucaults (1976) Analyse der Gefängnisse – zu

Pflegeheime als Hölle?

disziplinieren und sie erneut in die Gesellschaft einzugliedern. Bei Pflegeheimen kann man insofern von einer inkludierenden Exklusion sprechen, als die Bewohner in der letzten Phase ihres Lebens zwar weitgehend von gesellschaftlichen Prozessen außerhalb der Heime isoliert, zugleich jedoch über ihre Position in der Einrichtung gesellschaftlich inkludiert sind. Die Exklusion wird mithilfe von Praktiken der Inklusion hergestellt, das heißt die Individuen werden aufgrund sozialer Normen mit einer Gruppenzugehörigkeit und einer Identität versehen. Von ihnen werden bestimmte Verhaltensweisen verlangt – bezogen auf Tagesabläufe, Ernährung, Hygiene, Aktivitäten –, über die sie an der Gesellschaft teilnehmen. Im untersuchten Diskurs wird denn auch nicht kritisiert, dass die Pflegebedürftigen aus der Gesellschaft herausgenommen würden. Problematisiert werden vielmehr die konkreten Praktiken der Inklusion, wie sie in den Heimen anzutreffen seien. Bezogen auf totale Institutionen mit ihren Praktiken der inkludierenden Exklusion besitzt die Metapher Hölle offenbar eine hohe Plausibilität. Die Gemeinsamkeit mit der religiösen Hölle besteht darin, dass es sich gleichermaßen um Orte handelt, deren Insassen durch Einschließung von der Gesellschaft ferngehalten werden. Traditionell wurde die religiöse Hölle als Ort der schärfsten denkbaren Exklusion dargestellt, nämlich der endgültigen Verdammnis und Verweigerung der göttlichen Gnade. Dabei war diese Exklusion im mittelalterlichen Christentum nicht allein jenseitiger Art, sondern wirkte sich bereits im Diesseits aus: Schwere Sünden, dazu zählte der Abfall vom Glauben, wurden auch von der weltlichen Gewalt verfolgt und bestraft (vgl. Hahn 2006: 68ff). Mit Krüger (2016) wurde darauf hingewiesen, dass Pflegeheime in den Massenmedien bereits seit den 1950er Jahren als Orte markiert werden, an denen sich freiwillig niemand aufhalte. Die Bezeichnung Hölle markiert diesen Umstand ebenso wie andere der oben erwähnten Metaphern, zum Beispiel »Gefängnisse«, »Kasernen«, »Irrenhäuser« oder »Konzentrationslager«. Mit der Negativbewertung als Hölle werden die Heime als gesellschaftsinterne Exklusionsbereiche markiert.

Orte der Demütigung In den fachlichen Diskursen der Altenhilfe und Pflege wurde Goffmans Begriff der Totalen Institutionen frühzeitig aufgegriffen. Für das schlechte »Image« der Heime sah eine vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge herausgegebene Schrift gerade die »Kollektivnatur des Heimes, das Unpersönlich-Generalisierende« (Noam 1971: 14) verantwortlich. Grund-

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sätzlich müsse man fragen, inwiefern »das Leben in einer sogenannten ›Totalen Institution‹, wie sie ein Altenheim darstellt, mit menschlicher Freiheit vereinbaren läßt« (ebd.: 15). Lange Zeit galten die Heime vorrangig als Unterbringungsorte randständiger Bevölkerungsgruppen, deren Angehörige nicht über hinreichende materielle Ressourcen verfügten und auch nicht auf familiäre oder freundschaftliche Unterstützung zurückgreifen konnten.14 Seit den 1970er Jahren fand die bis dahin affirmierte Funktionalität der Heime zunehmend kritische Aufmerksamkeit (Hämel 2012: 111ff.). Während individuelle Freiheit, Entscheidungsmöglichkeiten und Aktivitätsspielräume zu Leitwerten avancierten, erschien zusehends »das Altersheim als negativ besetztes Antimodell unserer Gesellschaft«, denn die genannten Werte ließen sich dort in den Augen vieler Befragter »nicht realisieren« (Majce 1978: 267). Im Sprechen über Pflegeheime wird also seit Jahrzehnten geltend gemacht, dass die Bewohner dort ihren Status als Individuen und ihre menschliche Würde aufzugeben hätten. Auch die Darstellungen in der Tages- und Wochenpresse kritisierten »Unfreiheit, Ausgeliefertsein und Unterdrückung der älteren Menschen« (Krüger 2016: 238f.). Diese Zuschreibungen wurden aufrechterhalten, obwohl man in den Pflegeheimen längst versucht hatte, individuellen Bedürfnissen Rechnung zu tragen: Seit den 1980er Jahren zielten die maßgeblichen Konzepte der stationären Altenhilfe darauf, die Selbstständigkeit der dort lebenden Menschen zu fördern und deren Teilhabe am lokalen Gemeinwesen zu stärken (vgl. Hämel 2012: 99ff.). Obwohl die Heime ihren ›Armenhauscharakter‹ mit der Einbindung in die wohlfahrtsstaatliche Daseinsfürsorge weitgehend verloren hatten (vgl. ebd.: 93ff.), galt der Umzug dorthin nach wie vor als soziale Deklassierung (vgl. Noam 1971: 157). Mit dem Wohnen im Pflegeheim – darin stimmt das untersuchte Material mit dem Hauptstrom der massenmedialen Problematisierung überein – sieht man also Verstöße gegen die Ansprüche der Individuen einhergehen. Pflegeheime erscheinen diskursiv als Orte permanenter Demütigung (vgl. Schützeichel 2019), das heißt als Einrichtungen, deren Bewohner vermeintlich – dieses Bild wird jedenfalls massenmedial fortlaufend reproduziert – die Ansprüche auf Anerkennung ihrer individuellen Rechte permanent verletzt sehen. In der Soziologie vertrat zuerst Émile Durkheim (1986/1898: 56f.; siehe auch Joas 2011: 81ff.) die Auffassung, dass die menschliche Person beziehungsweise das 14

»Altersheime« und »Siechenhäuser« sah man als Elemente eines »Bewahrungswesens« für »Personen, die sich in der freien Gesellschaft wirtschaftlich, geistig oder sittlich nicht behaupten oder anpassen können« (Goldmann 1930: 235).

Pflegeheime als Hölle?

Individuum in der Moderne als ›heilig‹ betrachtet werde und damit den Platz eingenommen habe, der in den religiösen Traditionen den Göttern zugekommen sei. Pflegeheime als Hölle werden somit als Einrichtungen vorgeführt, die das Individuum seiner Würde beraubten und damit gegen einen Leitwert der Moderne verstießen. In dieser Zuschreibung wiederholt sich zugleich in ›säkularisierter Form‹ ein Merkmal der religiösen Hölle: Aus Sicht der römischkatholischen Kirche beispielsweise bedeutet ›in der Hölle‹ zu sein die »endgültig[e] Selbstausschließung aus der Gemeinschaft mit Gott und den Seligen« (Weltkatechismus, Nr. 1033). Gemeint ist also ein Zustand, der dem religiösen Leitwert eines ›guten‹ und ›wertvollen‹ Lebens entgegengesetzt sei. Bezogen auf die sogenannten Pflegeheim-Höllen bleibt der Unterschied allerdings, dass die Demütigung der Pflegebedürftigen nicht über deren Sünden legitimiert wird – vielmehr werden sie als unschuldige Opfer gesehen. Neben dem Merkmal der Einsperrung mögen Pflegeheime aufgrund ihrer Nähe zum physischen und sozialen Sterben als Demütigungsorte gelten. Für das physische Sterben zählen sie zu den ›vorrangigen‹ Orten. Wenn die meisten Menschen auch zu Hause sterben möchten, stirbt doch ein großer Teil von ihnen in Krankenhäusern und Pflegeheimen (vgl. Sauer/Müller/Rothgang 2015). Als »soziales Sterben« gelten Prozesse, über die Individuen aus den regulären, als ›normal‹ empfundenen Alltagsinteraktionen ausgegliedert werden, etwa durch Arbeitslosigkeit, Gefängnis oder schwere Erkrankungen (Feldmann 2010: 132ff.). Der Umzug ins Pflegeheim erscheint als irreversibler Schritt, als Beginn der letzten Lebensphase, bei dem die zumeist alten (oder hochaltrigen) Menschen einen Großteil ihrer vertrauten Kontakte und alltägliche Gewohnheiten aufgeben. Im Laufe des Lebens im Heim kommt es nach und nach zu weiteren Einschränkungen. Diesen Prozess bezeichnet Schützeichel (2019: 244) insofern als »sozialen Tod« und damit als fortlaufende Demütigung, als die Pflegebedürftigen den Anspruch aufzugeben hätten, »als eine gleichberechtigte Person anerkannt werden zu können«. Vermutlich besitzt die Metapher Hölle ihre diskursive Anschlussfähigkeit auch aufgrund dieser Nähe der Heime zu Prozessen des Sterbens und der Thematik des Todes. Eine solche Verknüpfung findet sich in dem bereits erwähnten Bericht der jungen Frau, die sich im Heim »von Stille und Sterben« (WAZ, 28.09.2018) umgeben sah. Dieser Text ist für den Pflegeheim-Höllen-Diskurs jedoch untypisch, denn als Hölle werden dort nicht die Pflegepraktiken skandalisiert, sondern die Einweisung der aufgrund ihres Alters ›todesfern‹ erscheinenden Frau in eine ›ungeeignete‹ Einrichtung. Ein Text, in dem die Heime als Hölle für alte Menschen erscheinen, weil dort gestorben wird, findet sich hinge-

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gen im Spiegel: Problematisch sei gerade die hohe Zahl der Menschen, die erst kurz vor ihrem Tod »nur noch zum Sterben einziehen«. Sterben finde zwar im Pflegeheim statt, ›gehöre‹ aber eigentlich nicht dorthin, bleibe dem Heim fremd. Das Problem sei letztlich wieder ein politisches, denn der »größere Pflegeaufwand für Sterbende« werde bislang nicht refinanziert (Spiegel, 27.01.2018). In vielen anderen Beiträgen hingegen spielen die Themen Sterben und Tod keine explizite Rolle. Sterbeprozesse werden den Pflegeheimen in der Öffentlichkeit konstitutiv zugerechnet15 und lassen sich daher kaum skandalisieren. Die Verknüpfung der Heime mit den Themen Sterben und Tod dürfte aber auch in der subjektiven Perspektive von Heimbewohnern, Angehörigen und Pflegenden präsent sein. Mithilfe qualitativer Interviews lässt sich zeigen, dass der Umzug in das Pflegeheim auch als Konfrontation mit dem bevorstehenden Tod verstanden wird (vgl. Riedl/Mantovan/Them 2013). Die Metapher der Hölle wird jedoch nicht zwangsläufig mit dem Sterben verknüpft: Manche Bewohner eines als ›hochwertig‹ beschriebenen Pflegeheims haben offenbar keine Schwierigkeiten damit, dass dort »viel gestorben« (FR, 09.01.2010) werde – solange man sich auf eine angemessene Unterstützung verlassen könne.

Bewältigung? Abschließend stellt sich die Frage, wie die Problembewältigung im Material konzipiert wird. Welche Institutionen werden als zuständig erachtet und welche Strategien vorgesehen, um die Hölle zu beenden? Wie gezeigt beklagt ein Teil der Texte Zustände in den Heimen als Störung, der es mithilfe sozialpolitischer Strategien zu begegnen gelte. Die Hölle erscheint als vermeidbar – gäbe es nur Reformen der Pflegeversicherung, bessere Finanzierung der Heime, strengere Richtlinien und Qualitätsstandards sowie verbesserte Ausbildungsgänge und Möglichkeiten der Personalgewinnung. Mit Hinweisen auf die Verantwortung der Sozialpolitik und Wohlfahrtspflege und entsprechende Strategien schlagen manche Texte zwar Brücken zu den Diskursen um die Qualität der Altenpflege, auf die eingangs hingewiesen wurde. Solche Zusammenhänge finden im Korpus jedoch nur vereinzelt nähere Aufmerksamkeit (v.a. taz, 14.10.2019; Spiegel, 01.02.2018). Die Mehrzahl der Beiträge setzt 15

In den von Krüger analysierten Texten findet sich die Metapher, wonach Pflegeheime »Wartesäle« auf den Tod seien; bei dem Leben dort handele es sich selbst um einen »Tod« (2016: 215ff.).

Pflegeheime als Hölle?

der Hölle vielmehr ein Ideal der »guten Heime« entgegen. Diese erscheinen, wie erläutert, als Utopie, als seltene Ausnahme oder als Heime »gehobeneren Anspruchs« (FAZ, 01.02.2007), die für die meisten Pflegebedürftigen unerreichbar bleiben. Implizit plädieren diese Texte also eher für Zweifel daran, dass eine angemessene stationäre Pflege zugänglich sei, als dass zu Qualitätsverbesserungen aufgefordert würde. Vermutlich trägt der der gesamte Diskurs radikaler Pflegeheimkritik dadurch zu einer wachsenden Verunsicherung der Bevölkerung hinsichtlich der stationären Altenhilfe bei. Einen solchen Zusammenhang legte bereits der Gesundheitsmonitor der BertelsmannStiftung (Bauer 2008) nahe: Bei einer 2007 durchgeführten Erhebung sahen sich 63 Prozent der Befragten durch die zahlreichen Berichte über Mängel in der Altenpflege beunruhigt. Nur 23 Prozent dieser Befragten führten ihr Unbehagen darauf zurück, dass ein Angehöriger zum Zeitpunkt der Befragung pflegebedürftig war. Für die Mehrzahl bezog sich die Unsicherheit vielmehr auf die Zukunft: 77 Prozent waren besorgt, dass ein Angehöriger, und 87 Prozent, dass sie selbst abhängig von professionellen Pflegeleistungen werden könnten. Nun bilden die Darstellungen von Heimen, in denen Pflegebedürftige und Mitarbeitende höllenartige Qualen erlitten, keinesfalls ein isoliertes Phänomen. Bei näherem Hinsehen lässt sich der Diskurs vielmehr einem breiten und langanhaltenden sozialpolitischen Krisen- und Verunsicherungsdiskurs (vgl. Kaufmann 2009: 347ff.; Lessenich 2008: 73ff.) zuordnen, der ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber der öffentlichen Daseinsvorsorge zeigt und eine gesteigerte Verantwortungsübernahme der Individuen verlangt. Seinem Zweck nach richtet sich der Wohlfahrtsstaat darauf, Sicherheit zu schaffen. Seit den 1990er Jahren führten veränderte wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen sowie fortlaufende Reformdebatten und -maßnahmen jedoch dazu, dass dieser Wohlfahrtsstaat, wie Ingo Bode und Sigrid Betzelt (2018) geltend machen, selbst Unsicherheit und Angst generiere. Zusehends seien »wohlfahrtsstaatliche Interventionen, die Risiken kompensieren bzw. ›unschädlich‹ machen sollen, ihrerseits vermehrt mit Unsicherheit (zum Beispiel der Ungewissheit von Refinanzierungen) durchsetzt« (ebd.: 11). Wachsende Unsicherheiten lassen sich über alle Lebensphasen und wohlfahrtsstaatlichen Handlungsfelder hinweg ausmachen. Bezogen auf das höhere Alter stellt sich die Frage, inwiefern öffentliche sowie private Altersvorsorge ausreichen werden, um einen angemessenen Lebensstandard sowie im Bedarfsfall pflegerische Versorgung zu ermöglichen. Betzelt und Bode erkennen ein »wachsendes Misstrauen in die Leistungsfähigkeit des entsprechen-

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den Versorgungssystems« (ebd.: 18f.) und plädieren dafür, die Emotion der Angst in der Wohlfahrtsstaatsforschung systematisch zu berücksichtigen. Die Metapher der Hölle, das lässt sich mithilfe der bisherigen Analysen erkennen, ist geeignet, Angst, wenn nicht zu erzeugen, so doch zu bestärken und aufrechtzuerhalten. Im Blick auf die pflegerische Versorgung ist der Kontrast zwischen verbreiteten Erwartungen an den Wohlfahrtsstaat und den Einschätzungen von dessen tatsächlicher Leistungsfähigkeit in der Bevölkerung besonders eklatant: Einerseits wird die Versorgung im Alter – sowohl hinsichtlich der finanziellen Alterssicherung als auch die Unterstützung im Pflegefall – von einer großen Mehrheit zu den wichtigsten wohlfahrtsstaatlichen Handlungsfeldern gezählt. Staatlichen Ausgaben zur Sicherung der Pflege im Alter und bei Krankheit wird in der Bevölkerung eine hohe Priorität zugesprochen. Nach Ausgaben zur Unterstützung von Kindern und Familien werden sie an zweiter Stelle gesehen (vgl. Kohl 2016: 23). Eine 2017 unter Beteiligung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) durchgeführte Befragung zeigt, dass die Verbesserung der Qualität der Altenpflege in allen gesellschaftlichen Teilgruppen als ein vorrangiges politisches Ziel gesehen wurde (vgl. Giesselmann et al. 2017). Andererseits sind Zweifel hinsichtlich der Realisierbarkeit einer angemessenen Versorgung im Alter weit verbreitet. Neben Ängsten, dass man im Pflegefall nicht ausreichend versorgt sei, gehen viele Menschen von einer unzureichenden finanziellen Alterssicherung aus. Solche Erwartungen wiederum verbinden sich empirisch mit einem sinkenden Vertrauen in die Institutionen des Wohlfahrtsstaates (vgl. Bode/Lüth 2018). Im Rahmen dieser neueren ›wohlfahrtsstaatlichen Unsicherheit‹ kann man die Funktion der Höllenmetapher im Diskurs der Pflegeheimkritik so verstehen, dass Heime als Heterotopie markiert werden. Michel Foucault (1984: 20/1966) spricht zunächst in der Ordnung der Dinge von der Heterotopie als Gegenbegriff zur Utopie.16 Er bezeichnet damit abweichende und beunruhigende Denkmöglichkeiten, widmet dem Begriff jedoch keine nähere Aufmerksamkeit. In dem Vortragsmanuskript Von anderen Orten (2005/1967) bestimmt Foucault den Begriff näher und mit etwas anderer Bedeutung: Es gebe

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Vgl. zu Foucaults Heterotopiemodell Schäfer-Biermann et al. 2016: 49ff.; zu Anwendungen auf soziale Dienstleistungsorganisationen: Burghardt/Zirfas 2019.

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»in jeder Kultur auch reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden« (2005: 320). Foucault trägt dann eine Systematik der Heterotopien vor, mit deren Hilfe sich auch die Skandalisierung der Pflegeheime verstehen lässt: Stationäre Pflegeeinrichtungen besetzen die Position der Heterotopien zunächst in einer Hinsicht, auf die Foucault explizit hinweist (2005: 936f.): Sie sind Menschen vorbehalten, die sich in einer krisenhaften Lebensphase befinden und die zudem in ihrem Verhalten und ihrer alltäglichen Lebensführung von gesellschaftlichen Normen abweichen. Demnach halten Pflegeheime als Heterotopie die Illusion aufrecht, dass alte und pflegebedürftige Menschen angemessene Möglichkeiten der Teilhabe genießen (vgl. Burghardt/Zirfas 2019: 13). Darüber hinaus erscheinen Pflegeheime im Korpus aber in einem zusätzlichen Sinne als Heterotopie: Indem die Heime als Hölle dargestellt werden, erscheinen sie als Orte des Widerspruchs zu einer funktionierenden öffentlichen Daseinsvorsorge. In den Pflegeheimen gibt der Wohlfahrtsstaat vermeintlich seinen Zweck preis, der darin gesehen wird, Menschen unabhängig von ihren materiellen Ressourcen gesellschaftliche Teilhabe und menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.17 ›An ihnen‹ werde das Scheitern dieses Anspruchs sichtbar. Es handelt sich – mit Foucault (2005: 935f., 941f.) gesprochen – also auch insofern um Heterotopien, als die Pflegeheime in ihrer Beschaffenheit, die zu enthüllen die Texte beanspruchen, das wohlfahrtsstaatliche System, oder zumindest jenes der Altenhilfe, als Illusion entlarven. Der als krisenhaft oder sogar gescheitert thematisierte Wohlfahrtsstaat findet demnach in den Pflegeheimen einen Kristallisationspunkt. Der Höllenmetapher stellt der öffentlich behaupteten Ordnung ein Bild gegenüber, welches diese Ordnung negiert und als bloße Behauptung entlarven will. Auf diese Weise vermittelt der Diskurs also die Botschaft, dass man sich auf sozialpolitische Maßnahmen zur Verbesserung der Pflegeheime nicht verlassen könne. Korrespondierend werden Verhaltensänderungen auf individueller Ebene nahegelegt. Wenn die Missstände auf moralische Verfehlungen der

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»Die Leistungen der Pflegeversicherung sollen den Pflegebedürftigen helfen, trotz ihres Hilfebedarfs ein möglichst selbstständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht.« (§ 2 SGB XI)

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Heimleitungen sowie der Pflegenden zurückgingen, wäre eine Bewältigung zu erwarten, indem sich die genannten Akteure auf ihre Pflichten besinnen sowie an ›Idealen‹ der Menschenwürde, der Liebe und Zuwendung orientieren. Mit dieser Zuschreibung individueller Verantwortung bewegt sich der Diskurs in der Nähe der religiösen Quelldomäne, aus der die Höllenmetapher stammt. In der religiösen Tradition resultiert das jenseitige Schicksal aus dem moralischen Verhalten im Diesseits. Diese disziplinierende Dichotomie (vgl. Hahn 2000: 183ff.) wurde in der mittelalterlichen Kunst bildlich als Gegensatz von ›Himmel‹ und ›Hölle‹ dargestellt. Die Metapher greift die Vorlagen auf. Die Qualen der ›Insassen‹ werden, wie zu sehen war, durchaus als Folge von früherem Fehlverhalten gedeutet, allerdings nicht ihres eigenen, sondern von jenem der Heimleitungen, der Politik sowie einiger Mitarbeitender. Oben wurde bereits herausgearbeitet, dass der Diskurs der (Sozial-)Politik zwar ›Schuld‹ zuschreibt, ohne jedoch Verbesserungen in Aussicht zu stellen. Auch für die Heimleitungen wollen die Texte keine Umkehr versprechen. Im Gegenteil: Wenn diese ebenso verantwortungslos und nur auf eigenen Vorteil bedacht erscheinen wie einige Pflegekräfte, und die Sozialpolitik eine angemessene Reform der Heimpflege nachhaltig verhindere, dürften die Probleme noch lange fortbestehen. Ein gegenteiliges Bild war jedoch teilweise für die Pflegenden zu finden: Allein für diese Gruppe finden sich ›Idealisierungen‹. Die Überhöhung von Pflegenden zu »Engeln« oder von Heimen zum »Paradies« korrespondiert mit einem nach wie vor verbreiteten Bild der Pflege als weiblich konnotiertem Liebesdienst. Die heutigen Berufe der Alten- und Krankenpflege haben zentrale Wurzeln in den Einrichtungen evangelischer und katholischer Diakonissenhäuser und Ordensgemeinschaften, die sich im 19. Jahrhundert, zur Zeit der Industrialisierung, in großer Zahl etablierten. Dort wurde die Pflege als religiös motivierter Dienst verstanden, der aufopferungsvoll an hilfsbedürftigen Menschen zu vollziehen sei. Auch jenseits religiöser Gemeinschaften wurden pflegerische Tätigkeiten vorrangig Frauen übertragen, die man dazu von ihrer ›Natur‹ her geeignet sah. Im Gegensatz zu männlich konnotierten Berufen war dazu auch lange Zeit keine Ausbildung erforderlich. Aus dieser Tradition heraus galt berufliche Pflege, und insbesondere die Altenpflege, bis in die jüngere Vergangenheit »als weiblicher ›Halbberuf‹ […], der eher Berufung denn Beruf sei und für den Motivation und Einstellung (›ein gutes Herz haben‹) als wichtiger angesehen werden als dazugehörige Fachkompetenzen« (Backes/Amrhein/Wolfinger 2008: 52; siehe auch Eylmann 2015; Riegraf 2019). Eine Konnotation von ›Pflege‹ als ›weiblicher‹ Tätigkeit wird in den relevanten Diskursen also seit langem mitgeführt und

Pflegeheime als Hölle?

ist auch in der Metaphorisierung der Pflegeheime als Hölle präsent: Die ›gute‹, ›liebevolle‹ oder gar ›himmlische‹ Pflege wird – wie oben in Abschnitt 1.4 gezeigt – nicht nur als ›zweckmäßige‹ und ›hochwertige‹, sondern auch als ›weibliche‹ Pflege konzipiert bzw. mit als weiblich geltenden Attributen verknüpft. Hinsichtlich der Problembewältigung zeigt sich also, dass die Abschaffung der Hölle kaum als realistische Perspektive versprochen wird. Für ältere Menschen als potenzielle Adressaten der stationären Pflege sowie für deren Angehörige lesen sich die Texte vermutlich in erster Linie als ›Warnung‹ vor Pflegeheimen. Beiträge, die Pflegeheime als Hölle skandalisieren, halten deren schlechten Ruf aufrecht und wirken eindämmend auf die Nachfrage nach stationären Pflegeplätzen. Der Diskurs legt daher in der Bevölkerung Strategien nahe, welche ohne Beanspruchung von Pflegeheimen auskommen. Als unausgesprochenes Ideal steht die häusliche Pflege im Hintergrund, erbracht von Angehörigen, professionellen Pflegediensten oder durch ausländische, zumeist weibliche Pflegekräfte. Die primäre Lösungskompetenz wäre demnach nicht vorrangig – wie es auf den ersten Blick schien – bei Verhaltensänderungen der Heimleitungen und der Sozialpolitik verortet, sondern bei den (künftig) Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen. Die Pflegeheimkritik richtet sich gerade auch an jene, die sich mit der Frage beschäftigen, woher sie im Falle des eigenen Pflegebedarfs Unterstützung erhalten können. Pflegeheime werden nicht nur als unattraktiv, sondern als höchst bedrohliche Alternative dargestellt. Damit vertritt die Höllenmetapher eine Perspektive der (Re-)Moralisierung und Individualisierung des Alters, wie sie für die jüngeren Aktivierungsdiskurse insgesamt charakteristisch ist (vgl. Lessenich 2012: 123ff.; Denninger et al. 2014). Wenn man im Alter trotz aller Vorsorge Unterstützung und Pflege benötigt, so die implizit nahegelegte Bewältigungsstrategie, sollte man sich diese außerhalb der gängigen Pflegeheime beschaffen.

Fazit Oben wurde der darauf hingewiesen, dass die Metapher Hölle als Element in einem breiteren Problemdiskurs fungiert. Konstitutiv für Problemdiskurse sind Deutungsmuster, indem sie bestimmte Sachverhalte mit moralischen Bewertungen und Lösungsmöglichkeiten verknüpfen und als solche in der

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Öffentlichkeit geltend machen (Groenemeyer 2012: 82ff., 31ff.).18 In der Weiterführung der hier vorgenommenen Analyse ließe sich zeigen, wie die Metapher Hölle in einem spezifischen Deutungsmuster der radikalen Pflegeheimkritik zum Einsatz kommt. Dieses Deutungsmuster bedarf nicht zwangsläufig der Höllenmetapher, vielmehr wird es auch in Texten reproduziert, in denen von der Hölle keine Rede ist. Die Metapher eignet sich aber offenbar sehr gut zur emotionalen Aufladung und Dramatisierung der Pflegeheimkritik, das heißt sie liefert dem Deutungsmuster eine in den Augen vieler plausible Sicht der Problemverursachung. Dabei kann sie sich auf eine in den Medien seit Jahrzehnten präsente Negativthematisierung der Heime stützen. Diesen werden rudimentäre Merkmale zugeschrieben, wie sie sich auch in religiösen Höllenreden finden. Nun lassen sich in öffentlich-politischen Diskursen metaphorische Rückgriffe auf vielfältige Quelldomänen erkennen (vgl. Spieß 2017: 105ff.), zum Beispiel auf Naturkatastrophen (Migrationsbewegung als ›Welle‹), Krankheiten (Staat als ›Patient‹) oder Militär (Corona-Pandemie als ›Krieg‹). Durch solche Verknüpfungen werden jeweils bestimmte Bewertungen und Strategien nahegelegt. Doch warum beziehen sich die untersuchten Texte, die sich mit säkularen Problemen der Pflege befassen, gerade auf das genuin religiöse Bild der Hölle? Der Diskurs bedient sich, wie zu sehen war, der Dichotomie von Hölle und Paradies. Offenbar kann dieses asymmetrische Begriffspaar Plausibilität nicht nur wegen der Negativthematisierung der Heime behaupten, sondern auch, weil Pflege vielfach idealisiert wird. ›Gute Pflege‹ wurde als Form der Liebe, Zuwendung oder Fürsorge beschrieben, und religiös konnotiert. Die Metapher Hölle liegt nahe, weil damit ein größtmöglicher Gegensatz geltend gemacht wird zwischen dem, was als Sollbestimmung der Heime ›behauptet‹ wird, und der vermeintlichen Realität. Die Heime werden delegitimiert, weil sie von Liebe geprägt zu sein hätten, aber de facto Schuld und Leid dominiere: Hölle, wo Himmel erwartet wird. Die Metapher gewinnt ihre Anschlussfähigkeit, indem sie ein traditionell-vorprofessionelles Bild von Altenpflege als Liebesdienst aufrechterhält. Der Vergleich mit der religiösen Hölle lässt natürlich auch Unterschiede hervortreten. Im Gegensatz zur religiösen Hölle sind die Leidenden in den Pflegheimen unschuldige Opfer, während die Schuldigen straflos davonkommen. Ungeachtet dieser abweichenden Relation von Schuld und Strafe teilt der Diskurs mit seiner religiösen Vorlage die Funktion der Disziplinierung: Die 18

Vgl. zur Methodik einer Deutungsmusteranalyse exemplarisch meine Untersuchung zur Deutschen Islamkonferenz und die dort genannte Literatur (Breuer 2019: 314f.).

Pflegeheime als Hölle?

Schilderung der Qualen im Jenseits zielte auf Verhaltensregulierungen im Diesseits. Den untersuchten Texten geht es ebenfalls um ›Disziplinierung‹, insofern ältere Menschen und ihre Angehörigen aufgefordert werden, Pflegeheime zu (ver-)meiden. Dieser Befund verweist auf die jüngeren Diskurse um die Lebensphase des Alters, in denen das »Vierte Alter«, also die Lebensphase zunehmender Hinfälligkeit, als ein »verworfenes Leben« (Dyk 2015: 140) dargestellt wird. Die mediale Kritik an den Pflegeheimen ist nur eine Variante der »allgegenwärtige[n] Drohung der verworfenen Hochaltrigkeit« (ebd.: 141). Diese berge »beträchtliches disziplinierendes Potenzial im Hinblick auf einen Lebensstil der Selbstoptimierung, die diesem Stadium der vermeintlichen De-Humanisierung vorgreifen sollen« (ebd.: 142). Die Delegitimierung der Heime als Hölle nimmt die Forderung nach Selbstoptimierung insofern auf, als eine ›aktive‹ Lebensführung nahegelegt wird, um Unterstützungsund Pflegebedürftigkeit im Alter zu vermeiden. Da sich Pflegebedürftigkeit natürlich nicht ausschließen lässt, legt die Metapher Hölle zudem die Empfehlung nahe, auf Unterstützung jenseits der Pflegeheime zu setzen. Im Rahmen der gesamten massenmedialen Thematisierung mag die Metapher daher zu einer Dämpfung der Nachfrage nach stationären Pflegeplätzen beitragen. Aus der Perspektive einer Sozial- und Gesundheitspolitik, die den Grundsatz ›ambulant vor stationär‹ vertritt, dürfte dieser Effekt positiv zu bewerten sein. Oben wurde gesagt, dass Angehörigenpflege als Alternative implizit nahegelegt wird. Dieser Befund ist jedoch mit der Beobachtung zu konfrontieren, dass im gesamten Pflegediskurs auch die Angehörigenpflege regelmäßig skandalisiert wird. Im hier untersuchten Korpus dramatisieren in auffälliger Weise jene Beiträge, die sich auf ›gute‹ Pflegeheime beziehen, umgekehrt die Nachteile häuslicher Pflege: Man kenne eine Tochter, die habe »die Mutter bis zu ihrem Ende gepflegt und sich dabei fast selbst ruiniert« (FR, 09.01.2010). Wie zu sehen war wird gelegentlich die Bewältigung von Pflegeaufgaben durch Angehörige als »Qual«, als »Martyrium« oder auch als »Hölle« thematisiert. Insgesamt fügen sich diese Texte also in das Muster einer Abwertung von Care-Arbeit (vgl. Müller 2016), die sich gleichermaßen für professionelle Pflege wie für Angehörigenpflege erkennen lässt: Die Hölle erscheint, wenn man diese Texte in Zusammenschau liest, als nahezu unausweichlich.

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Anhang Quellen der Untersuchung (zu den Symbolen */# vgl. Abschnitt 1.1)

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Lokalzeitungen O.V. (2015): »Alterswohnsitz Levern feiert Jubiläum mit vielen Gästen und ›Tortenspitzen‹. Kein Vorhof zur Hölle«, in: Kreiszeitung (MindenLübbecke), https://www.kreiszeitung.de/lokales/minden-luebbecke/ste mwede-ort57777/alterswohnsitz-levern-feiert-jubilaeum-vielen-gaestentortenspitzen-5198026.html vom 02.07.2015.

Pflegeheime als Hölle?

Boulevardzeitungen Wunder, Olaf (2017): »Es gibt Heime, die sind die Hölle«, in: Hamburger Morgenpost vom 03.08.2017, S. 6. Gröning, Alina/Lopinski, Christina (2018): »Betroffene berichten über ihr Schicksal: Das Pflegeheim ist die Hölle«, in: Bild, https://www.bild.de/re gional/berlin/berlin-aktuell/betroffene-berichten-ueber-ihr-schicksal-da s-pflegeheim-ist-die-hoelle-57358962.bild.html vom 20.09.2018. O.V. (2018): »Wie pflegt man die Liebe im Heim?«, in: B.Z. vom 24.09.2018, S. 14.

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Online-Magazine Zobel Hanna/Dahlinger, Miriam (2018): »Pfleger erzählen: ›Ich habe nicht mal Zeit, Menschen die Angst zu nehmen‹«, in: Bento. Das junge Magazin vom Spiegel, https://www.bento.de/future/pflege-6-menschen-erzaehle n-wie-hart-der-job-ist-und-was-sie-sich-von-der-groko-wuenschen-a-0 0000000-0003-0001-0000-000002078343 vom 09.02.2018.

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Kontrollverlust, Misserfolg und Hoffnungslosigkeit Analysen der Höllenmetaphorik in der Wirtschaft Oliver Dimbath

Einleitung Wenn berichtet wird, dass ein Unternehmen oder ein Top-Manager durch die Hölle gegangen sei, folgt in der Regel eine Erfolgsgeschichte. Diese erzählt dann entweder von der letztlich glücklichen Durchquerung eines Jammertales oder einer Läuterung. In jedem Fall aber fehlt dieser Hölle ein für die christliche Mythologie zentraler Aspekt: die Ewigkeit. Die ökonomische Hölle scheint eine Tendenz zum Vorübergehenden zu haben. Damit steht sie im krassen Gegensatz beispielsweise zur ›Selbstfindungshölle‹, von der es heißt, sie sei der ununterbrochene Kreis, »der ständigen Fruchtlosigkeit, des immer Rundherumgehens auf der Jagd nach etwas, das nie erreicht werden kann. Hölle ist der Dünkel der Dummheit, die Unmöglichkeit einer dauernden Selbstliebe, Selbstbewußtheit und Selbstbeherrschung. Es ist, wie wenn man seine eigenen Augen sehen, seine eigenen Ohren hören, seine eigenen Lippen küssen wollte« (Watts 1955: 141). Die Ich-Zentriertheit mündet hier in einen Ego-Zirkel, aus dem es kein Entrinnen gibt, und dessen Konsequenz die Fruchtlosigkeit ist. Und mit Blick auf diese Fruchtlosigkeit gibt es einen Berührungspunkt mit der ökonomischen Hölle, in der landet, wer – aus welchen Gründen und welcher Perspektive auch immer – nicht erfolgreich handelt. Einsichten wie diese stehen in offenkundigem Kontrast zu christlich-religiösen Höllenvorstellungen, was zu der Vermutung leitet, dass sich die Bedeutung des Begriffs ›Hölle‹ mit fortschreitender Modernisierung und Säkularisierung grundlegend gewandelt haben könnte. Folgt man dann soziologischen Theorieangeboten, könnte man sogar annehmen, dass sich die Bedeutung des Begriffs nicht nur verändert, sondern – analog zur Entwicklung ge-

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sellschaftlicher Teilsysteme – ausdifferenziert habe. Dass in deutschen Qualitätsmedien1 das Wort ›Hölle‹ in den letzten 20 Jahren eine rein quantitative Konjunktur aufweisen kann, wirft die Frage auf, was sich hinter dieser populären Metaphorik verbirgt. Geht es um die Rekonstruktion des Wandels der Kulturbedeutung eines Gegenstands, bietet es sich an, ältere Deutungsansätze zu konsultieren und sie mit möglichen aktuellen Deutungszusammenhängen zu vergleichen. Der Erkenntnisgewinn einer solchen Übung geht über die Bilanzierung unterschiedlicher Lesarten und Kontextualisierungen des Höllenkonzepts hinaus. Da es sich um einen tief im (post-)religiösen Denken verwurzelten Terminus handelt, bilden gerade die Verwendungskontexte Spuren zu gegenwärtigen Werthaltungen. Konrad Paul Liessmann (2019: 8) bringt dies im Rückgriff auf Botho Strauß´ Funktionsbestimmung der Hölle als »imaginierte Gerechtigkeit« wie folgt auf den Punkt: »Die Prinzipien, nach denen Unterwelten und Höllen geordnet sind, lassen so direkte und indirekte Rückschlüsse auf die verschiedenen Vorstellungen von Moralität und Gerechtigkeit zu.« Im Folgenden wird kursorisch auf einige Quellen der soziologischen Behandlung des Höllenkonzepts hingewiesen. Dies dient einer nicht-theologischen Einordnung des Begriffs und liefert eine Vorbereitung für die spätere Interpretation des Untersuchungsmaterials. Sodann werden die Methode und das Datenkorpus eingeführt, wobei deutlich wird, dass die Hölle keinesfalls aus der säkularisierten Moderne verdrängt worden ist. Der Blick auf ein spezielles Ressort in deutschsprachigen Qualitätsmedien zeigt dann neben der Vielfalt von Trivialisierungsweisen des Höllenkonzepts auch neue Lesarten, die – im Rückgriff auf höllensoziologische Ansätze – auf neue, funktional-differenzierte Bedeutungshorizonte in der Bewertung gesellschaftlicher Sachverhalte hindeuten.

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Sowohl der Begriff des Qualitätsmediums als auch der des Qualitätsjournalismus sind unter Ideologieverdacht geraten, da sie immer wieder als evaluative Kampfbegriffe oder als Indikatoren für Elitenklüngelei verwendet werden. Ohne diese Diskussion hier weiterführen zu können, sei festgehalten, dass im Folgenden unter Qualitätsmedium und Qualitätsjournalismus Akteure einer ›massenmedialen Öffentlichkeit‹ verstanden werden, die sich zumindest dem Bekunden nach selbst zu einer sachbezogenen Faktenkontrolle verpflichten.

Kontrollverlust, Misserfolg und Hoffnungslosigkeit

Höllensoziologie Interessiert man sich dafür, wie die ohnehin durch und durch säkularisierten Soziologen über den Begriff der Hölle reflektiert haben, wird man sogleich mit einem Grundproblem vieler Soziologien konfrontiert. Der Gegenstand ist auf den ersten Blick ein ›irrealer‹. Die theologische Hölle existiert nicht als materialer Ort, man kann sie nicht aufsuchen, keine Messungen vornehmen, nicht Beobachtungen anstellen und auch niemanden fragen, der einmal dort gewesen wäre. Ein gewissermaßen naturalistischer Zugang müsste dann über die Grenzbereiche der Psychologie gewählt werden oder über religiöse Gemeinschaften, die sich mit solchen Erfahrungen auskennen. Gleichwohl war und ist die Hölle als Vorstellung und Machtsymbolik in unterschiedlicher Weise sehr präsent: zunächst (noch) in den Analysen der Religionssoziologie und später im Kontext der Kultur- oder Thanatosoziologie. So ist sie anfangs noch ein Aspekt religiöser Glaubensregimes und kann dort im Sinne Émile Durkheims (1970) insofern als sozialer Tatbestand gelten, als sie bei Gläubigen, die ihre Verdammung an diesen jenseitigen Ort vermeiden wollen, diesseitiges Wohlverhalten beziehungsweise Hörigkeit – vermittelt durch sozialen Zwang im Rahmen einer gesellschaftlichen Institution – begünstigen kann. Im Folgenden werden mit Émile Durkheim, Georg Simmel und Max Weber drei Wegbereiter der Religionssoziologie mit Blick auf ihre Thematisierung von Hölle betrachtet. Danach richtet sich der Fokus auf neuere Ansätze der allgemeinen Soziologie beziehungsweise Kultur- und Religionssoziologie, und in einem dritten Schritt wird kurz auf aktuelle empirische Studien zum Höllenglauben eingegangen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wäre es nun naheliegend, zunächst bei Émile Durkheim nachzuschlagen, um – vorzugsweise in dessen Religionssoziologie – etwas über die Hölle zu erfahren. Allerdings wird man kaum fündig. In Durkheims Soziologisierung Gottes, die das Heilige als symbolische Spiegelung weltlicher Ordnungsvorstellungen begreift, ist die Gewährleistung der gesellschaftlichen Ordnung in religiösen Praktiken und Ritualen aufgehoben. Die Hölle muss in der Konsequenz lediglich als theologische Steigerungsform der ohnehin vergleichsweise rigiden Sicherstellung des Kollektivbewusstseins unter den Vorzeichen der mechanischen Solidarität (vgl. Durkheim 1996) verstanden werden. Entsprechend instrumentell ordnet Durkheim (vgl. 1984: 69) Teufel und Hölle in das theologische Ordnungssystem ein, indem er festhält, dass im Christentum der Teufel nichts weiter sei als ein gefallener Gott. Die vom Teufel verwaltete Hölle fungiere als unent-

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behrliches Werkzeug der christlichen Religion. Mit dem Hinweis auf ›Verwaltung‹ wird der instrumentelle Charakter dieses Herrschaftsinstruments noch einmal deutlicher. Wenn dagegen Georg Simmel auf die Hölle zu sprechen kommt, verwendet er den Begriff entweder metaphorisch, um mit der Entgegensetzung von Himmel und Hölle eine maximale Spannweite des Empfindens beziehungsweise des Lebensgefühls zum Ausdruck zu bringen (vgl. Simmel 1995: 371), oder er adressiert eine verinnerlichte, moralisch fundierte Sozialordnung (vgl. zum Beispiel in Simmel 1989). Die Höllenfurcht ist emotional und in bestimmten Bereichen des Lebens verhaltensregulierend. Dies zeigt sich an bedeutsamen kulturellen Referenzen wie bei Dante, dessen facettenreiches Bild der Höllenqualen Simmel als »innerliche Empfindungsseite« der Sünde (ebd.: 382), als Gewissensqual identifiziert. Entsprechend löse die Furcht vor der Hölle einen realen emotionalen Schmerz aus, der im Diesseits prophylaktische Wirkung entfalte. Etwas ausführlicher werden Höllenvorstellungen von Max Weber behandelt. Am Rande seiner vergleichenden Arbeit über die Wirtschaftsethik der Weltreligionen kommt er im Zusammenhang mit Hinduismus und Buddhismus gelegentlich auf Jenseitsvorstellungen im Sinne der Dichotomie von Himmel und Hölle zu sprechen (Weber 2006). Hölle hängt dabei mit dem Prinzip der Wiedergeburt zusammen. Je nach Glaubensauffassung sind auch hier unterschiedliche Konsequenzen für die alltägliche Lebensführung auszumachen. Grundsätzlich könne der Kreislauf der Wiedergeburten in den Himmel führen oder ins Tierreich beziehungsweise die Hölle. Wer im Leben schlimme Dinge vollbringe, zum Beispiel die Kastenzuordnung missachte, müsse mit einem Aufenthalt in der Hölle rechnen. Dort wird Pein zugefügt. Die Dauer der Verdammnis lasse sich durch Rituale – auch auf dem Sterbebett2 – oder durch gute Taten der Nachfahren verkürzen. Umgekehrt müsse ein Übeltäter die Rache der Ahnengeister gewärtigen, die er durch sein diesseitiges Verhalten zum längeren Verbleib in der Hölle verurteile. Gelegentlich gelangt Weber in seinen Rekonstruktionen zu imaginären Artefakten einer solchen durch Höllenandrohung vermittelten sozialen Kontrolle. Zu diesen gehören als »Tore zur Hölle« (Weber 2006: 727) die Begierde, der Zorn und die Habsucht beziehungsweise die Emotionalität als unbefangener und unreflektierter Zugang zur Welt. Auch bei Weber zeigt sich das lebensweltlich diszipli2

Diese Rituale bestehen beispielsweise »im Aussprechen bestimmter Formeln in der Todesstunde« (Weber 2006: 665).

Kontrollverlust, Misserfolg und Hoffnungslosigkeit

nierende Motiv der Höllensymbolik, auf das er bemerkenswerterweise nicht vor dem Hintergrund der christlichen Religion, sondern mit Blick auf Hinduismus und Buddhismus hinweist. Im Bereich der Kultursoziologie sowie der Soziologie des Todes wird seit geraumer Zeit die These verfolgt, dass die Hölle aus der modernen Lebenswelt verschwinde, was sich unter anderem unmittelbar auf den Rückgang repressiver kirchlicher Deutungsmuster ebenso wie auf ein zunehmendes (naturwissenschaftliches) Wissen über den Tod zurückführen lässt. In diesen Zusammenhängen behält indes die Hölle ihre Bedeutung als jenseitiger Ort. Einige wegweisende Überlegungen hierzu finden sich in Arbeiten Niklas Luhmanns, der das Höllenkonzept im Zusammenhang mit seinen Analysen zur Sünde diskutiert. Wenn ein Religionssystem eine Klassifikation äußerer Ereignisse als Sünde entwickelt und sich an einer entsprechenden Semantik orientiert, wird es die Gesellschaft insgesamt aus historischer Sicht als sündig und sich von einer ursprünglich heilen Ordnung abwendend begreifen (vgl. Luhmann 1993: 286). Im Zuge der Aufklärung und der mit ihr einhergehenden Differenzierung und Individualisierung verändert sich jedoch die Konfiguration der Sünde und mit ihr auch die auf das Jenseits gerichtete Konsequenz. Luhmann führt an dieser Stelle Durkheims Rekonstruktion gesellschaftlicher Modernisierung weiter, indem er feststellt, dass sich dem aufgeklärten Denken im Sinne der fortschreitenden Trennung von Leib und Seele nicht mehr vermitteln ließe, warum der Leib für Verfehlungen der Seele bestraft werden solle (Luhmann 1987: 343). Mit zunehmender Individualisierung werde zudem die Heilsvorsorge auf die Leistungen des Einzelnen übertragen. Semantische Differenzschemata wie Himmel und Hölle oder Heil und Verdammnis, die letztlich zu moralischem Wohlverhalten – zum Beispiel im Sinne von ›Gottesfurcht‹ – anhalten sollen, verlieren an Zugkraft. Die nach Heil strebenden Einzelnen sind vor dem Hintergrund der Vorstellung eines liebenden Gottes nicht mehr mit der Androhung von jenseitigen Strafen zu motivieren (vgl. Luhmann 1993: 320). Konsequenz des Autoritätsverfalls der Höllendrohung ist eine Erhöhung der Drastik von Höllenvorstellungen sowie eine weitere Ausdifferenzierung des ›Tarifsystems‹ der Hölle (vgl. Luhmann 2009: 253f.). Aber auch das ist nur ein Symptom der lebensweltlichen und schließlich sogar kirchenpraktischen Verdrängung der Hölle, die letztlich nur noch in der Theologie beziehungsweise der christlichen Dogmatik am Leben erhalten wird. Die soziologische These eines Bedeutungsverlusts der Hölle wird auch von Alois Hahn (1996; vgl. auch in diesem Band) vertreten. In seinen Überlegun-

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gen zu Jenseitskonzeptionen setzt er zunächst bei Naturvölkern an und fragt sich, warum dort die Vorstellung einer Verknüpfung von diesseitigem Verhalten mit jenseitiger Rechenschaft so selten vorzufinden sei. Dabei gelangt er zu der Einsicht, dass sich die Idee eines jenseitigen Strafgerichts vorwiegend in Gesellschaften auspräge, die über eine Zentralgewalt verfügen. In Gesellschaften ohne eine solche Zentralgewalt werde soziales Fehlverhalten in erster Linie durch unabschließbare Rachezyklen geahndet (Hahn 2000: 174). Schriftlose Kulturen wiesen, so Hahn weiter, keinen Zusammenhang zwischen Religion und Schuld beziehungsweise Verantwortung auf. Entsprechend stellt er auch die Annahme Durkheims über die integrierende Wirkung von Strafriten im Kontext mechanischer Solidarität infrage. Das Bekennen einer Sünde beispielsweise im Zuge der Beichte habe in solchen Gesellschaften denn auch eher eine das schuldhafte Individuum reinigende Funktion, wobei jede Dramatisierung von Schuld als verantwortungspflichtige Tat vermieden werde (vgl. ebd.: 182). Dem weitgehenden Fehlen einer transzendenten Instanz in oralen Gesellschaften ohne Zentralgewalt stehe der Befund entgegen, dass in Hochkulturen fast durchgängig »ethisch begründete Dichotomisierungen des Jenseits in Paradiese und Höllen« anzutreffen seien (vgl. ebd.: 183), was Hahn auf die höhere Entwicklung des Justiz- und Gerichtswesens zurückführt. Mit der Zurechnung von Schuld und Verantwortung auf den Einzelnen gehe eine Individualisierung einher, die das Theodizee-Problem verschärfe. So wird individuelles Fehlverhalten mit kollektiver Bestrafung in Verbindung gebracht, was angesichts der gleichermaßen betroffenen Gerechten und Ungerechten die Konstruktion einer jenseitigen Ausgleichsinstanz nötig mache. Deren Folge sei eine »Verlängerung der Biographie über den Tod hinaus«, wobei die »durch die verstärkte Individualisierung gesteigerte Angst vor dem Selbstverlust […] durch die Individualisierung des Jenseitsschicksals aufgefangen« werde (ebd.: 188). Um dann die unerträgliche Vorstellung unendlicher Jenseitsstrafen wieder abzumildern, wurde als Zwischeninstanz zwischen Himmel und Hölle das Fegefeuer eingeführt, welches eine individuelle Abstufung des Verhältnisses persönlicher Sündhaftigkeit und Strafe ermöglichen sollte. Einen Hinweis auf die regulative Funktion jenseitiger Höllenstrafen für diesseitiges Verhalten gibt zudem das Missverhältnis von drastisch ausgemalten und hochgradig differenzierten Folterszenarien auf der einen und einer relativ ›farblosen‹ Darstellung paradiesischer Belohnung auf der anderen Seite. Im 17. Jahrhundert, so stellt Hahn fest, muss die Steigerbarkeit höllischer Schreckensbilder an ihre Grenzen gekommen sein. Zwar sei noch über die Hölle gepredigt worden – allerdings nicht mehr so ›farbenfroh‹ und eher mit

Kontrollverlust, Misserfolg und Hoffnungslosigkeit

Blick auf psychisches Unglück. Zur gleichen Zeit meldeten protestantische Theologen zunehmend dogmatische Zweifel am Charakter der Höllenstrafen an, was letztlich den Anfang der Abschaffung der Hölle markiert und in eine »Verlagerung der Strafe von der Hölle in das Innere des menschlichen Gewissens« (ebd.: 190) münde. Hahn kommt damit zu einem ähnlichen Befund wie Luhmann, wenn er festhält, das mit der »Zivilisierung und Disziplinierung der Massen […] auf Höllenstrafen weitestgehend verzichtet werden« könne (ebd.: 190). Darauf, dass damit kein Zustand neuer Glückseligkeit erreicht wurde, weist Hahn eindrücklich hin: »Die Hölle im Jenseits weicht der psychischen Krankheit im Diesseits, die Beichte macht der Therapie, die Sorge ums Heil macht der um Heilung Platz« (ebd.: 192). Auf ähnliche Weise analysiert auch Michael N. Ebertz die Entwicklung der Jenseitsdichotomie von Himmel und Hölle, wobei er etwas genauer auf die dogmatische Hilfskonstruktion des Fegefeuers eingeht. Diese veranlasse, in Verbindung mit der Ohrenbeichte, eine »Entwirklichung der Hölle« (Ebertz 2007: 238) ohne auf das Dogma der Androhung ewiger Höllenqualen verzichten zu müssen. Die auf dem Konzil von Trient (1562/1563) offiziell bestätigte und sowohl von den Ostkirchen als auch von den Protestanten abgelehnte Lehre vom Läuterungsort kommt einer »doppelgesichtigen UnglücksGlücksverheißung« gleich (ebd.: 239). Biblische Hinweise auf einen solchen Ort finden sich kaum. Bemerkenswert sind die von Ebertz zusammengetragenen Quellen, in denen sowohl hinsichtlich der Lokalität als auch der Form der Bestrafung zwischen Fegefeuer und Hölle differenziert wird. Denn zwar liege das Purgatorium eher in der Nähe der Hölle und damit im Erdinnern, aber die Art des dort zugefügten Leides sei zwar in der geringsten Kategorie noch größer als der größte Schmerz auf Erden, allerdings sei die Verweildauer im Feuer auf maximal zehn Jahre begrenzt und ende in jedem Fall mit dem Jüngsten Tag. Aus Predigtanalysen entnimmt Ebertz, dass sich im 19. Jahrhundert die quantitative Verteilung der Insassen mehrheitlich von der Hölle aufs Fegefeuer verlagere. Ab dem 20. Jahrhundert verorte man die Verstorbenen dann überwiegend im Himmel (vgl. ebd.: 247). Auch hier findet sich also die Diagnose einer ›Abschaffung der Hölle‹ vor dem Hintergrund fortschreitender Zivilisierung: »Höllen- wie Fegefeuervorstellungen geraten bei den Zivilisationsmenschen und -priestern von heute, denen die körperliche Gewaltausübung im allgemeinen und im speziellen Umgang miteinander […] ebenso verpönt gilt wie Folter, Todes- und Körperstrafe als Maßnahmen des Staates, in den […] Ver-

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dacht der kognitiven Barbarei und werden als Ausdruck eines längst überwundenen gesellschaftlichen Zivilisationsstadiums betrachtet« (ebd.: 255). Entsprechend sei eine semantische Diffusion des Gegensatzes von Himmel und Hölle ebenso zu konstatieren wie ein Bedeutungswandel. So fänden sich in literarischen Darstellungen eher Unschuldige an höllischen Orten beziehungsweise in höllischen Szenarien, womit die ursprüngliche Idee der jenseitigen Bestrafungseinrichtung völlig außer Kraft gesetzt werde (vgl. ebd.: 257). Die vorangehend referierten religions- beziehungsweise kultursoziologischen Überlegungen zum Funktionswandel der Hölle beziehen sich im Wesentlichen auf theologische und religionswissenschaftliche Befunde, die mit im weitesten Sinne modernisierungstheoretischen Positionen in Verbindung gebracht werden. So plausibel diese Deutungen auch sind, entbehren sie entweder völlig einer empirischen Grundlage, oder sie greifen als Sekundäranalyse auf Befunde aus anderen Disziplinen zurück. Angesichts des anhaltenden Zulaufs auch zu fundamentalistischen christlichen Bekenntnissen beziehungsweise der Bandbreite christlicher Glaubenslehren und -praxen sollten zumindest unterschiedliche Varianten der Auf- oder Ablösung des Höllenglaubens in Moderne und Spätmoderne feststellbar sein. Analysen zu diesem Thema finden sich mitunter in den US-amerikanischen Kultur- und Religionswissenschaften. Dort wird immer wieder mit Mitteln der Umfrageforschung nach dem Fortbestand des Höllenglaubens sowie der Höllenangst gefragt. Im Ergebnis zeigen diese Studien, dass es einen engen Zusammenhang zwischen Frömmigkeit und der Teilnahme an religiösen Veranstaltungen gibt. Entsprechend ist der Höllenglauben dort verbreiteter, wo Menschen besonders häufig Gottesdienste besuchen und an anderweitigen Ritualen oder Praktiken ihrer Religionsgemeinschaften teilnehmen – sofern diese Gemeinschaften eine fundamentalistische Tendenz aufweisen (Exline 2003). Ein weiterer Zusammenhang zeigt sich mit Blick auf die soziale Lage der Gläubigen. So stellt Joseph Baker (2008) fest, dass der Glaube an religiöse Übel wie den Satan, die Hölle oder Dämonen mit wachsendem Einkommen und Bildungsniveau abnehme. Auch hier zeigt sich allerdings eine Korrelation mit der Häufigkeit des Gottesdienstbesuchs ebenso wie mit der ethnischen Herkunft und der Geschlechtszugehörigkeit. So scheinen Frauen und Afroamerikaner in höherem Maße für diesen Aspekt des Glaubens aufgeschlossen zu sein.

Kontrollverlust, Misserfolg und Hoffnungslosigkeit

Aber auch solche Befunde können die breite Tendenz eines fortschreitenden Bedeutungsverlusts von Höllenvorstellungen im Zusammenhang mit sozialer Verhaltensregulierung in spätmodernen Gesellschaften nicht widerlegen. Im Falle seines Fortbestehens scheint sich der Höllenglaube in weitgehend abgeschlossene Gemeinschaften zurückzuziehen. Gleichwohl aber bleibt – zumindest im Sprachgebrauch deutschsprachiger Qualitätsmedien – der Begriff der Hölle nicht nur präsent; er scheint sich auch wachsender Beliebtheit zu erfreuen. Diese Konjunktur kann allerdings von der Religionssoziologie ebenso wenig gesehen werden wie von beispielsweise der Thanatosoziologie, und auch die Kultursoziologie kommt kaum mit der allzu alltäglichen Frage in Berührung, was in der spätmodernen Gegenwart mit der Hölle los ist. Im Weiteren werden daher – nur kursorisch einem Verdacht folgend – Untersuchungsergebnisse berichtet, die einen Hinweis auf die Alltagsbedeutung des Begriffs Hölle zu geben vermögen.

Der Begriff Hölle in Qualitätsmedien Der Verdacht, dass sich das Höllenkonzept trivialisieren beziehungsweise in die Alltagssprache diffundieren könnte, entsteht bereits beim Durchblättern der Tageszeitung. Hier scheint das Wort in jüngerer Zeit ziemlich häufig vorzukommen. Kann es sein, dass gegenwärtig öfter von Hölle die Rede ist als beispielsweise vor zehn Jahren? Eine inhaltsanalytische Sondierung in digital und damit – zumindest für einen Großteil der bundesdeutschen Bevölkerung – problemlos verfügbaren Zeitungen in dem vergleichsweise beliebigen Zeitraum vom derzeitigen Stand der ›Rückwärtsdigitalisierung‹ bis zur jüngeren Gegenwart bestätigt den Eindruck in einer bemerkenswerten Deutlichkeit. Durchgesehen wurden die digital verfügbaren Jahrgänge 1993 bis 2019 der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Neuen Zürcher Zeitung, Süddeutschen Zeitung und der ZEIT.3 Da die Hoffnung bestand, besonders aussagekräftige Hinweise durch den Bedeutungskontext zu erhalten, wurden die Zeitungen nach Ressorts erfasst. Aufgrund einer möglichen gesellschaftspolitischen Interpretierbarkeit des Konzepts richtete sich dann das Augenmerk auf die Bereiche Politik, Feuilleton und Wirtschaft. In der Summe über alle Jahrgänge zeigt sich

3

Für die Zusammenstellung und Auszählung der Artikel danke ich Noemi Struckmeier.

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durchgängig, dass der Begriff ›Hölle‹ unter diesen drei Ressorts am häufigsten in den Feuilletons gefallen ist, am zweithäufigsten in der Politik, während die Wirtschaft den letzten Platz einnimmt. Abbildung 1: Nennungen des Wortes ›Hölle‹ in Artikeln führender Tages-/Wochenzeitungen der Jahrgänge 1993-2019

Wirtschaft

FAZ

NZZ

SZ

ZEIT

gesamt

354

102

292

185

933

Politik

1542

498

2260

648

4948

Feuilleton

3789

1697

5228

1190

11904

gesamt

5685

2297

7780

2023

17785

Abbildung 2: Nennungen des Begriffs ›Hölle‹ in den Jahren 1993-2019 in allen Zeitungen

Bemerkenswert ist zunächst die unterschiedliche Verteilung zwischen den Zeitungen sowie zwischen den Ressorts. Der Vergleich absoluter Zahlen ergibt nur bei Tageszeitungen Sinn4 , aber auch dort zeigt sich eine erhebliche Differenz zwischen der Neuen Zürcher Zeitung (2.297) und der Süddeutschen Zeitung (7.780), wobei zweitgenannte die erstere fast um die Anzahl der 4

Die ZEIT wird als Wochenzeitung in diesem Vergleich nicht berücksichtigt.

Kontrollverlust, Misserfolg und Hoffnungslosigkeit

Nennungen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (5.685) überragt. Bei den Ressorts führt durchgängig das Feuilleton an, was damit zusammenhängen kann, dass manche Titel aus Kunst und Kultur ebenfalls den Begriff ›Hölle‹ verwenden und damit von einer nicht nur metaphorischen Verwendung ausgegangen werden kann. Im Zeitverlauf zeigt sich trotz eines leichten Rückgangs in jüngeren Jahren eine steigende Trendlinie bei der Verwendung des Wortes ›Hölle‹ in Texten aller drei Ressorts. Der Steigerungseffekt wird durch das Feuilleton etwas ›verwässert‹, da dort die Verwendung sehr häufig und die Steigerung vergleichsweise gering ist (Abb. 2).

Höllenmetaphern im Wirtschaftsressort Das Ressort Wirtschaft ist zwar der zahlenmäßig kleinste Bereich der Nennung des Wortes ›Hölle‹ – allerdings der mit der stärksten Zuwachsrate insbesondere in den vergangenen zehn Jahren. Auch hier lassen sich deutliche Unterschiede zwischen den Zeitungen feststellen. So findet sich bei der Neuen Zürcher Zeitung nur ein sehr geringer Anstieg, wogegen bei der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen ein deutliches Wachstum zu konstatieren ist. Die Wochenzeitung DIE ZEIT verzeichnet einen leichten Anstieg auf vergleichsweise niedrigem Niveau. Beim Vergleich der jährlichen Auszählungen der Tageszeitungen zeigt sich, dass sich die Nennungen im Untersuchungszeitraum geradezu verzehnfacht haben. Abbildung 3: Nennungen des Wortes ›Hölle‹ in den Wirtschaftsressorts der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen, der Neuen Zürcher Zeitung und der Zeit (Wochenzeitung) in Drei-Jahres-Intervallen. Jahr

9395

9698

9901

0204

0507

0810

1113

1416

1719

gesamt

SZ

5

6

8

12

15

47

67

73

59

292

FAZ

11

8

13

34

44

39

44

71

90

354

NZZ

2

7

7

14

15

17

7

9

24

102

ZEIT

11

12

11

14

24

31

28

29

25

185

gesamt

29

33

39

74

98

134

146

182

198

933

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Der empirische Befund zeigt eine – nach Quelle beziehungsweise Zeitung zu differenzierende – Zunahme der Verwendung des Wortes ›Hölle‹ in der jüngeren Vergangenheit im Allgemeinen und im Bereich der Wirtschaftsberichterstattung und -kommentierung im Besonderen. Die religions- und kultursoziologischen Vorüberlegungen liefern eine nur teilweise befriedigende Deutungshilfe, indem sie auf einen Bedeutungswandel dieses ursprünglich religiös fundierten Disziplinierungsnarrativs hinweisen. Allerdings sollte aus der historisch begründeten Diagnose eines Rückzugs der Thematisierung religiösen Übels aus Predigten auf einen allgemeinen Relevanzverlust und ein Verschwinden der betreffenden Begriffe geschlossen werden können. Dies ist aber offenkundig nicht der Fall. Angesichts der allgemeinen Häufung journalistischer Indienstnahmen des Höllenkonzepts wäre es problematisch, den besonderen Anstieg dieses Sprachgebrauchs in den Wirtschaftsteilen als typisch gegen andere Ressorts aufzurechnen und daraus die gegenwartsdiagnostische Vermutung abzuleiten, dass sich etwas in der Wirtschaft geändert haben könnte, das neuerdings verstärkt mit ›Hölle‹ zu assoziieren wäre. Wie auch im Feuilleton finden sich in der Wirtschaftsberichterstattung hin und wieder Beiträge über Events, Firmen oder Produkte – also Eigennamen – in denen ›Hölle‹ vorkommt. Und wie auch in anderen Ressorts gibt es Autoren, die das Wortfeld ›Hölle‹ bevorzugt benutzen. Auch dies sind Indizien, die der weiteren Recherche bedürfen und helfen können, die Konjunktur des Begriffs zu verstehen. Ein Weg, zu Hypothesen über das Phänomen zu gelangen, ist die Sichtung der engeren Kontexte, in denen das Wort ›Hölle‹ gebraucht wird. Im Folgenden werden nun Ergebnisse einer Untersuchung der Bedeutungskontexte und -dimensionen von ›Hölle‹ im Wirtschaftsressort zweier der genannten Zeitungen vorgestellt. Bei diesem Daten- und Auswertungsbericht handelt es sich insofern um einen Zwischenstand, als die explorativen Anteile überwiegen. Aufwändige Analysen des gesamten Datenkorpus wurden ebenso wenig angestellt wie quantifizierende Vergleiche zwischen der Wortverwendung der vier Zeitungen sowie im Zeitverlauf. Die im Folgenden berichteten Befunde entstammen einer codierenden Sichtung von Texten aus der ZEIT und der Süddeutschen Zeitung, die abgebrochen wurde, als sich mit Blick auf erste Hypothesenbildungen eine theoretische Sättigung abgezeichnet hat. Im Fokus stand eine auf einzelne Sachverhalte eingegrenzte konzeptuelle Repräsentativität (vgl. Muckel 2011). Die Selektivität des Codierens erfolgte entlang der in der Grounded Theory vorgesehenen Codierschritte und damit gemäß der Filterung ei-

Kontrollverlust, Misserfolg und Hoffnungslosigkeit

nes zunächst offenen, dann axialen und schließlich selektiven Codierens (vgl. Strauss 1998). Der Fokus war dabei auf die Kontexte (Indexikalität) der Verwendung des Wortes ›Hölle‹ gerichtet. Das präsentierte Ergebnis zeigt einige oft genutzte Redewendungen, die zunächst aus dem Vergleich vorliegender Anwendungen interpretiert und kategorisiert wurden. Was den Gebrauch der Metapher angeht, lassen sich mit Blick auf die wirtschaftsjournalistischen Texte unterschiedliche allgemeine Verweisungszusammenhänge ausmachen. Sehr gängig ist die Charakterisierung von Situationen, in denen ›die Hölle los‹ sei. Außerdem findet sich die Assoziation eines Gegenstands, einer Person oder Gruppe mit dem Wort ›Hölle‹, wobei zu unterscheiden ist, ob es sich um eine spezifische Form der Bewertung – ›das ist die Hölle‹ – handelt oder um die Retrospektion auf eine Passage im Sinne von ›das war die Hölle‹.5 Eindeutig im Zusammenhang mit schlimmen Dingen stehen einerseits die Beziehungsqualität, bei der jemandem ›das Leben zur Hölle‹ gemacht wird und andererseits ein – in direkter und indirekter Zitation anzutreffendes – Phrasenbündel, das die Verwünschung ›zur Hölle mit‹ zum Ausdruck bringt. Häufig verwendet wird schließlich die Entgegensetzung von Paradies beziehungsweise ›Himmel und Hölle‹. Legt man diese unterschiedlichen semantischen Kontexte nebeneinander, zeigt sich eine gewisse Variation der Höllenbezüge. Diese Vielfalt lässt sich in einem zweiten Schritt allerdings wieder interpretativ einhegen, sodass sich eine klare Tendenz dieses Sprachgebrauchs abzeichnet. Die Formulierung, dass irgendwo ›die Hölle los‹ sei, bezieht sich auf Orte und Situationen. Dabei geht es im Wesentlichen einerseits um eine illustrative Beschreibung reger Betriebsamkeit bis zur Hektik (›Gewimmel‹) und zwar entweder für Leistungserbringer oder für Leistungsnehmer. Der Bezug zur Hölle könnte dabei in der Unübersichtlichkeit des Treibens bestehen und sich auf die Schrecknisse einer »in unermesslicher Finsternis liegenden gestaltlosen Urmasse«, die die Antike mit dem Begriff des Chaos verbindet (Duden 1989: 109), beziehen. Andererseits zielt diese Charakterisierung auf Widerstand, Aufbegehren und damit Aggression gegen Entscheidungen – in der Regel einer Obrigkeit. So kann ›die Hölle los‹ sein, wenn eine unpopuläre Entscheidung verkündet wird oder beispielsweise eine Gesetzesänderung den organisationalen Regelbetrieb völlig durcheinanderbringt.

5

Deutlich seltener wird die Konjunktivkonstruktion ›das wäre die Hölle‹ sowie sehr selten der Bezug zum Futurum ›das wird die Hölle sein‹ verwendet.

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Wird etwas in seinem gegenwärtigen Zustand als ›Hölle‹ – ›das ist die Hölle‹ – bezeichnet, stellt dies auf eine subjektive Bewertung eines unerträglichen Zustands ab. Als unerträglich wird empfunden, was in krassem Ausmaß den Vorstellungen eines erträglichen Auskommens widerspricht. Dazu gehören Dramatisierungen wie die Unzuverlässigkeit der Bahn, die Optimierungszwänge durch mobile Erreichbarkeit, Monotonie im Job oder Verzögerungen im Betriebsablauf, aber auch Überlastungen, Schmerzen, Bedrohungen und Deprivation im Sinne eines erzwungenen Verzichts auf etwas vom betroffenen Subjekt als grundlegende Bewertetes. Bemerkenswert ist dabei, dass es sich hier weder um religiöse Höllenqualen noch um antike Götterstrafen handelt. Eigentlich geht es gar nicht um Strafen, sondern um die unerwartete Diskrepanz der vorgefundenen Umstände zur erwarteten Normalität und damit um eine Form erlittenen Kontrollverlusts. Ganz anders verhält es sich, wenn eine durchlebte Episode in der Rückschau als ›Hölle‹ – ›das war die Hölle‹ – bezeichnet wird. Die Hölle als leidvolle Passage widerspricht ebenfalls der Ewigkeit der religiösen Höllenstrafe und lässt sich mit der Erinnerung an eine totale Auswegs- und Hoffnungslosigkeit, also einer vergangenen Ewigkeitserfahrung assoziieren. Im Unterschied zur Höllenwanderung bei Dante ist die Erfahrung jedoch nicht ›touristisch‹ sondern krisenhaft. In gewissem Kontrast hierzu kann auch eine Purgatorisierung der Hölle vermutet werden (vgl. hierzu auch die Einleitung und der Epilog dieses Bandes). Als Passage wird der Höllenaufenthalt zum Durchstehen des Fegefeuers umgedeutet, indem der Weg durch die Hölle genommen werden musste, um gereinigt daraus hervorzugehen. Hier liegt also eine Umdeutung des religiösen Strafgerichts in eine Läuterungs- oder Wachstumsgeschichte vor. Ein Unterschied dürfte allerdings in der Initiative des ›Höllenfahrers‹ bestehen. Die Passage der Hoffnungslosigkeit ist mit einem Errettungsmotiv verbunden (also einem äußeren Einfluss). Die Passage der Reinigung entspricht demgegenüber einer inneren Wandlung, Abhärtung, Stärkung, die aus eigener Kraft ›geleistet‹ wurde. Ist die Rede davon, dass jemandem ›das Leben zur Hölle gemacht‹ wird, kann sich dies an zwei Dimensionen ausrichten, die aufeinander zu beziehen sind. Die eine Dimension erfasst das Movens, in dessen Folge unerträgliche Zustände auftreten. Sie kann unterteilt werden in die handlungstheoretisch zu erfassende Kategorie intentionaler Aktivitäten einerseits und in die strukturtheoretisch zu begreifende Kategorie system(at)ischer Effekte. Die andere Dimension beschreibt die Dauerhaftigkeit des Unerträglichen und unterscheidet zwischen situativ-singulären und permanenten Ereignissen. Aus

Kontrollverlust, Misserfolg und Hoffnungslosigkeit

der Überschneidung der beiden Dimensionen lässt sich eine Falltafel bilden, die vier Varianten unterscheidet, wie – mit Blick auf die Presseberichterstattung – das Leben zur Hölle werden kann. In jedem Fall handelt es sich um Auslöser unerträglicher (Lebens- oder Betriebs-)Lagen, die einerseits aus Aktionen anderer oder den Umständen und andererseits aus einmaligen Ereignissen oder dauerhaften Zuständen resultieren können. Zwar ist in diesem Zusammenhang auch an die Passage einer vorübergehenden Unerträglichkeit zu denken, die mitunter auch als solche erzählt wird. Die Verwendung der Höllenmetapher legt allerdings gerade nicht eine kurze Episode starken Leides nahe, sondern eigentlich die Ewigkeit. Abbildung 4: Was jemandem das Leben zur Hölle macht Dauer

Movens

situativ-singulär

permanent

intentional

Rivalität

Mobbing

system(at)isch

Bürokratismus

Verfügbarkeit

In der tabellarischen Heuristik des zur Hölle gemachten Lebens in der Kombination aus intendiertem und situativ-singulärem Auslöser von Unerträglichkeit zeigt sich, wie dies beispielsweise in Rivalitäten zwischen Führungskräften auftreten kann, wenn es einem der Kontrahenten gelingt, den anderen in die Enge zu treiben. Die Verbindung intendierter und permanenter Qual findet sich in Mobbingarrangements wenn beispielsweise Arbeitgeber versuchen, Mitarbeiter ›von sich aus‹ zur Kündigung zu bewegen. Nicht intentionale beziehungsweise system(at)ische Auslöser, die permanent auftreten, erweisen sich zum Beispiel als Nebenfolge einer totalen Erreichbarkeits- und Verfügbarkeitserwartung infolge informationstechnologischen Fortschritts – die privat und beruflich genutzten Mobiltelefone sind ständig eingeschaltet, das Team auch bei kleineren Problemen rund um die Uhr erreichbar. Der Schnittpunkt der situativ-singulären mit einer system(at)ischen Auslöserkomponente lässt sich durch wirtschaftspolitische Regulationsentscheidungen oder Bürokratismen illustrieren, die bestimmten Branchen ihre Geschäfts- und Handlungsgrundlage erschweren oder sogar vollständig entziehen. Die Beispiele muten auf den ersten Blick an wie Alltagsprobleme – zur ›Hölle‹ werden sie allerdings in dem Moment, da die Betroffenen keinen Ausweg beziehungsweise kein Entrinnen erkennen kön-

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nen. Thematisiert wird also eine Situation existenzieller Hoffnungslosigkeit, in der die Aussicht auf einen guten Ausgang nachhaltig verstellt ist. Dass man in einer solchen Lage geneigt sein kann, ihren jeweiligen Auslöser ›zur Hölle zu wünschen‹, ist nachvollziehbar. In der Wirtschaftsberichterstattung werden derartige Verwünschungen immer wieder aufgenommen, was sich bisweilen auch auf materielle oder immaterielle Artefakte bezieht, die zur Hölle gewünscht werden. In der Regel richtet sich der Zorn jedoch gegen Personen, wobei zwei Gruppen ins Visier genommen werden. Auf der einen Seite wollen die unternehmerischen und wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger ihre Kritiker zur Hölle fahren lassen. Auf der anderen Seite sind es ebendiese Kritiker, die am liebsten die Entscheider in die Hölle schicken würden. Der Wunsch, dass etwas oder jemand zur Hölle fahren möge – ausgedrückt als ›zur Hölle mit‹ oder eben in Verbindung mit dem Wunsch der ›Höllenfahrt‹ – markiert einen Superlativ der Verwerfung des Anderen, der oder das an den maximal entfernten Ort gewünscht und dort der ewigen Vernichtung ohne Aussicht auf Wiederkehr anempfohlen wird. Es ist daher nicht nur von Belang, wer oder was zur Hölle geschickt werden soll, sondern auch worin dieser Wunsch gründet. Im ökonomischen Kontext möge a) zur Hölle fahren, wer die in ihn gesetzten Erwartungen (Kapital oder Strategie) nicht erfüllt. Die Konsequenz ist, Geschäftsbeziehungen gar nicht erst in Erwägung zu ziehen oder den ›Versager‹ zu ›feuern‹ (was ja auch schon einen Hinweis auf Hölle gibt). b) Zur Hölle geschickt wird auch das Alte, Vergebliche, wenn sich neue Okkasionen ergeben – dabei scheint jeder Blick zurück als unmoralisch diskreditiert zu werden. c) In die Hölle wird auch derjenige gewünscht, der der Realisierung der je eigenen Interessen im Weg steht sowie d), wer der etablierten Professionsethik aus Gründen egoistischer Gewinnmaximierung zuwider handelt. e) Schließlich wird in die Hölle geschickt, was von der eigenen Intuition ablenkt und auf falsche Wege führt. Eine weitgehend unkritische Verwendung der Höllenmetapher soll schließlich auch noch kurz behandelt werden, wenn es um den Kontrast von Himmel und Hölle geht. Häufig wird der Gegensatz verwendet, um eine maximale Differenz anzuzeigen. Im ökonomischen Kontext gibt es zwei typische Anwendungsfälle. Der eine bezieht sich auf Situationen und Formen eklatanter Chancenungleichheit, wenn die Differenz zwischen Vorteil und Nachteil maximal markiert wird. Der andere unterscheidet ebenfalls maximal kontrastiv zwischen Erfolg und Misserfolg – mitunter im Angesicht der Gefahr des tiefen Falls. Außerdem wird das Bild als holistische Metapher unterschiedlicher – auch transzendenter – Anrufungen verwendet, wenn

Kontrollverlust, Misserfolg und Hoffnungslosigkeit

›Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt‹ werden. Dabei geht es ausschließlich um Abwehr und Verhinderung. Man setzt also Himmel und Hölle in Bewegung, um eine drohende Gefahr oder eine Verschlechterung abzuwenden. Schließlich sind Anwendungen dieser Unterscheidung festzustellen, wenn deutlich gemacht werden soll, dass es zwischen Extremszenarien auch noch die Realität gibt, bei der man bleiben beziehungsweise die zu bewahren oder erreichen man anstreben sollte.

Die Hölle der Wirtschaft Abschließend sollen nun die unterschiedlichen hier zusammengetragenen Befunde aufeinander bezogen und in eine Synthese überführt werden. Religions- und kultursoziologische Forschungen gehen von einem säkularisierungs- und individualisierungsbedingten Bedeutungsverlust des theologischen Verständnisses von Hölle aus. Es wäre damit nachvollziehbar, wenn das Wort ›Hölle‹ sukzessive aus dem Alltagssprachgebrauch verschwände und irgendwann zu den ›vergessenen Wörtern‹ zählte. Offensichtlich ist dies nicht der Fall. Insbesondere für die ab Mitte des 20. Jahrhunderts einsetzende Spätmoderne6 lässt sich sogar eine wachsende Popularität des Konzepts überwiegend in metaphorischer Verwendung konstatieren. Über die gesamte Breite alltagssprachlicher Anwendungen ist sicherlich eine Trivialisierung oder Banalisierung des Begriffs, der im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit noch Angst und Schrecken verbreiten konnte, festzustellen. Mit Blick auf spezifische Bereiche lohnt es sich jedoch genauer hinzusehen und die Frage aufzuwerfen, welche Spuren die alten Bedeutungsgehalte hinterlassen haben beziehungsweise welche Hinweise ihnen auf gegenwärtige gesellschaftliche Sachverhalte zu entnehmen sind, die auf latent wirksame Werthaltungen und Moralvorstellungen verweisen. Bemerkenswert ist, dass diese Latenzen in der Sprache der Wirtschaft sowie des Wirtschaftsjournalismus offenkundig nicht auf direktem Weg zu Rudimenten der mehr oder

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Spätmoderne fungiert hier als alternativer Deutungsrahmen der Konsequenzen der Moderne im Gegensatz zur Postmoderne. Während die Postmoderne Diffusion oder Zersplitterung akzentuiert, geht es bei der Spätmoderne um die Betonung eines zunehmend sich verkomplizierenden Geflechts von Bindungen und Wechselbezügen unterschiedlichster Art (vgl. hierzu Hörning et al. 1997: 12f.).

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weniger ökonomisch konnotierten unter den Sieben Todsünden – Hochmut, Habgier und Geiz, Völlerei oder Neid – führen. Gleichwohl aber weisen die Verwendungszusammenhänge von ›Hölle‹ in den gesichteten Artikeln auf Werthaltungen hin, die Anhaltspunkte dafür geben, was in der spätmodernen Ökonomie absolut verwerflich ist. Geht man davon aus, dass die Assoziation mit ›Hölle‹ nicht allein einer flapsigen Übertreibung oder stilistischer Effekthascherei der Autoren von Zeitungsartikeln entspringt, lassen sich einige Grundlinien identifizieren. Deren Tenor ist eine recht konsistente Vorstellung davon, was für den Ökonomen sündhaft ist und was ihm als Strafe ewige Qual bereitet – und diese Qual korrespondiert durchaus den Vorstellungen aus der Blütezeit des mittelalterlichen Höllenglaubens. An erster Stelle steht dabei der Kontrollverlust, der angesichts der Erwartung rationalen Kalküls sowie rationaler Planung nicht sein darf – obzwar er eintreten kann. Ein zentraler Aspekt dieses Kontrollverlusts ist auf der einen Seite die Unübersichtlichkeit der Situation und auf der anderen Seite das Auftreten ›höherer‹ Mächte, die dem Wirtschaftssubjekt das Heft aus der Hand nehmen. Daraus ergibt sich nicht nur, dass Misserfolg ›verflucht‹ sei und – ganz im Sinne des Strafgerichts – in Höllenqualen münde, sondern auch, dass die in Zeiten gesellschaftlicher Individualisierung als Voraussetzung allen Handelns angenommene Entscheidungsautonomie aufgehoben wird. Es ist schwer, des eigenen Glückes Schmied zu sein, wenn ein anderer das nicht will. Die Hölle, das sind auch in der Wirtschaft die anderen, die – mitunter sogar in Massen – eigenen Zwängen und vor allem eigenen Interessen folgen.7 Bemerkenswert ist demgegenüber mit Blick auf die spätmoderne Wirtschaftshölle, dass dorthin auch Unschuldige – aufgrund misslicher Umstände – gelangen können. Da die konfligierenden Interessen der anderen allein dadurch nicht ewig sind, dass sie befriedigt werden können oder angesichts alternativer Wege an Störungspotenzial einbüßen und Krisen, sofern sie nicht zum Exitus führen, durchstanden und dann deutend berichtet werden, erscheint der Verbleib in der Hölle der Spätmoderne vielfach temporär. In Verbindung mit Schuld gerät die Höllenfahrt somit zu einer purgatorisierten und damit reinigenden Passage, ohne Verschulden wird sie zu einer individuellen Passionsgeschichte. Entsprechend wird Alter, der einem ökonomischen Ego die Hölle heiß macht in ebendiese gewünscht – einerseits, damit er aus dem Weg ist und 7

Diese Höllentheorie entwickelt Jean-Paul Sartre (1996) in seinem Stück Geschlossene Gesellschaft – vgl. hierzu den Beitrag von Ursula Engelfried-Rave in diesem Band.

Kontrollverlust, Misserfolg und Hoffnungslosigkeit

bleibt, und andererseits damit ihm ebenfalls das Unerträgliche widerfährt, das er Ego angetan hat. Die Spannweite von Gedeih und Verderb, von Erfolg und Misserfolg erstreckt sich zwischen ›Himmel und Hölle‹. Wer anderen Schaden zufügt, dem soll – Auge um Auge, Zahn um Zahn – ein entsprechender Schaden entstehen. Und wenn das nicht im Diesseits möglich ist, dann wünscht man eine jenseitige Instanz herbei, die den akuten Schmerz gleich vielfach zu kompensieren vermag. Die gesellschaftliche Funktion dieser Verwünschung kann leicht – und vor allem: noch immer – im Kontext von Émile Durkheims mechanischer Solidarität verstanden werden. Das Kollektiv versichert sich auf diese Weise dessen, was moralisch anständig ist und was nicht. Da die Rechtsprechung jedoch längst über die drakonische Gerichtsbarkeit – die weltliche Hölle mittelalterlicher Strafgerichte – hinweggegangen ist, bleibt die ›Hölle der Wirtschaft‹ als Metapher des Unerträglichen erhalten. Aus Sicht der alten, religiösen Höllenvorstellungen könnte man das als Trivialisierung und Banalisierung bezeichnen. Aus der Perspektive spätmoderner Subjekte darf man froh sein, dass es so schlimm auch wieder nicht kommt.

Literatur Baker, Joseph (2008): »Who Believes in Religious Evil? An Investigation of Sociological Patterns of Belief in Satan, Hell, and Demons«, in: Review of Religious Research 50, S. 206-220. Duden (1989): Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. Die Geschichte der Wörter und der Fremdwörter von ihrem Ursprung bis zur Gegenwart, Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich: Dudenverlag. Durkheim, Émile (1970): Die Regeln der soziologischen Methode, Neuwied, Berlin: Hermann Luchterhand Verlag. Durkheim, Émile (1984): Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Durkheim, Émile (1996): Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ebertz, Michael N. (2007): »Tote haben (keine) Probleme? Die Zivilisierung von Jenseitsvorstellungen in katholischer Theologie und Verkündigung«, in: Julian Hölscher (Hg.), Das Jenseits. Facetten eines religiösen Begriffs in der Neuzeit, Göttingen: Wallstein Verlag, S. 233-258.

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Oliver Dimbath

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Kontrollverlust, Misserfolg und Hoffnungslosigkeit

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Die Hölle der Zeit und der Zahl

Wenn das Gedächtnis zur Hölle wird:  Zur alltäglichen Verdammnis totalen Erinnerns und Vergessens Michael Heinlein

Selektives Erinnern, selektives Vergessen: Das Gedächtnis im Himmel und in der Hölle Die Rede von der Hölle führt beinahe unweigerlich zur Frage nach dem Himmel – oder im Falle dieses Beitrags, der sich mit dem Gedächtnis auseinandersetzt: zur Frage nach einem himmlischen Gedächtnis. Wie könnte ein solches Gedächtnis aussehen? Wendet man sich der biblischen Erzählung zu, dann finden sich sowohl im Alten als auch im Neuen Testament Hinweise darauf. Als einschlägig darf in diesem Zusammenhang das Buch des Propheten Jesaja (65, 16-17) gelten, in dem von einem radikalen Neuanfang durch ein Vergessen die Rede ist. Die Stelle1 lautet: »Wer sich segnet im Land, wird sich segnen im Gott des Amen, und wer schwört im Land, wird schwören beim Gott des Amen. Denn vergessen sind die früheren Nöte, sie sind vor meinen Augen verborgen. Ja, siehe, ich erschaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde. Man wird nicht mehr an das Frühere denken, es kommt niemand mehr in den Sinn.« Die Botschaft, die Jesaja hier formuliert, richtet sich an die Israeliten. Die »früheren Nöte«, die vergessen werden sollen, sind die Trümmer, in denen Jerusalem nach ihrer Rückkehr aus dem über 50-jährigen babylonischen Exil liegt, sind eine hohe Säuglingssterblichkeit und der Tod im frühen Alter, sind Unterjochung, Enteignung und Hungersnöte und schließlich – und vielleicht

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Diese und die folgende Stelle sind zitiert nach der revidierten Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift aus dem Jahr 2016.

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am wichtigsten – die Sünde. Erst das Ausblenden dieser Ereignisse im Gedächtnis eröffnet eine Zukunft, die keine Fortschreibung einer schlimmen Vergangenheit mehr darstellt, sondern sich dezidiert und in größtmöglicher Weise von dieser abhebt – und damit auch wirklich neu ist. Dieses Motiv eines auf einem Vergessen beruhenden Neuanfangs findet sich auch an anderer Stelle in der Offenbarung des Johannes (21, 3-4) wieder. Dort heißt es: »Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.« Der Neuanfang besteht auch hier in einem Löschen von Erinnerungen, die eine schlimme Vergangenheit in die Zukunft tragen könnten: Wenn Gott kommt, so die Botschaft, ist jedes Leid und jeder Schmerz vergessen, ist das Schlechte und Schlimme vergangen, ohne dass man sich daran erinnern würde.2 Schlägt man einen Bogen zur Literatur, dann zeigt sich, dass genau dieses himmlische Wirken auf das Gedächtnis von Dante Alighieri in seiner zwischen 1307 und 1321 verfassten Divina Commedia, der Göttlichen Komödie aufgegriffen und in Gestalt einer Wanderung durch die Kreise und Landschaften der Hölle topographisch gewendet wird (vgl. Weinrich 2005: 40ff.). Dante beschreibt dort, wie die Seelen der Verstorbenen auf ihrem Pilgerweg ins Paradies zunächst mit dem Wasser des Flusses Lethe (altgriechisch für ›Vergessen‹) in Berührung kommen und dadurch von der Erinnerung an ihre Sünden befreit werden. Anschließend durchqueren sie den Fluss Eunoё (altgriechisch für ›gutes Gedächtnis‹), dessen Wasser dafür sorgt, dass die Erinnerung an die guten Taten, die sie im Leben vollbracht haben, bestärkt wird. Auf diese Weise ziehen die Seelen der Verstorbenen schließlich mit einem ›guten‹ Gedächtnis ins Paradies ein. Der Mechanismus, der dem himmlischen Gedächtnis zugrunde liegt, ist in allen Fällen der gleiche: gute Erinnerungen werden von den schlimmen Erinnerungen getrennt, die ersteren werden bewahrt, die letzteren gelöscht – oder etwas anders formuliert: Dem himmlischen Gedächtnis wohnt 2

Zur soziologischen Auseinandersetzung mit dem Vergessen siehe Dimbath (2014) sowie Dimbath/Wehling (2011).

Wenn das Gedächtnis zur Hölle wird

eine besondere Selektivität inne, die nur Bezüge zu den Vergangenheiten herstellt, die als gut erinnert werden. In einem gewissen Sinne handelt es sich hier um die Zuspitzung einer gewöhnlichen Gedächtnisfunktion: Unter einem Gedächtnis kann man allgemein das Vermögen verstehen, in der Gegenwart Vergangenheitsbezüge herzustellen. Da wir uns aber nie eins zu eins und auch nicht immer in gleicher Weise an ein vergangenes Ereignis erinnern, sondern Teile und Umstände dessen, was sich ereignet hat, zumeist unbewusst an die Gegebenheiten der Gegenwart anpassen, das heißt: ausblenden, ergänzen, beschönigen oder dramatisieren, wirkt das Gedächtnis per se immer selektiv (vgl. Dimbath/Heinlein 2015; Sebald 2014).3 Das himmlische Gedächtnis stellt demnach eine Art inhaltlicher Selektivität, einen inhaltlichen Filter auf Dauer, durch den nur die gute Vergangenheit erinnert wird. Doch wie lässt sich dann ein höllisches Gedächtnis denken? Eine vor dem Hintergrund des eben Dargestellten sehr naheliegende Antwort findet sich ebenfalls in Dantes Göttlicher Komödie. Dante beschreibt dort das Inferno als einen höchst unangenehmen Ort, als eine »lichtberaubte Stätte, wo’s gleich dem Meer beim Ungewitter brüllet« (Dante 2008: 26) und in der die Verstorbenen hoffnungslos für ihre Sünden büßen müssen. Die Selektivität des Gedächtnisses spielt auch hier eine Rolle, und zwar in dreierlei Hinsicht – dieses Mal jedoch zum Vorteil der schlimmen Vergangenheit: Den Sündern ist es erstens nicht vergönnt, ihre Taten zu vergessen – sie müssen sich fortwährend an das Leid erinnern, das sie über andere gebracht haben. Ihr postmortales Schicksal ist zweitens eine unmittelbare Folge ihrer Gottvergessenheit zu Lebzeiten – jetzt, nach dem Tode, vergisst Gott sie und lässt sie in der Hölle schmoren. Und schließlich kommt drittens, wie Harald Weinrich (2005: 52) bemerkt, zur damnatio personae eine damnatio memoriae hinzu – die Sünder werden mit ihrem Eintritt ins Inferno aus dem Gedächtnis der noch Lebenden getilgt und können zu ihrem eigenen Leidwesen daran auch nichts ändern. 3

Auf die unhintergehbare Gegenwärtigkeit und Konstruktivität des Gedächtnisses hat bereits der Bergson- und Durkheimschüler Maurice Halbwachs in seinen klassischen Schriften zur Gedächtnissoziologie vor seinem Tod 1945 im Konzentrationslager Buchenwald aufmerksam gemacht (Halbwachs 1967, 1985). Das Gedächtnis, so schreibt er, »bewahrt nicht die Vergangenheit auf, sondern es rekonstruiert sie mit Hilfe materieller Spuren, Riten, Texte und Traditionen, die sie hinterlassen hat, aber auch mit Hilfe von neuerlichen psychologischen und sozialen Gegebenheiten, d.h. mit der Gegenwart.« (Halbwachs 1985: 296)

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Auf diesen letzten Punkt (dass ›die anderen‹ die Hölle sind) hat bekanntermaßen auch Jean-Paul Sartre hingewiesen, in Bezug auf das Gedächtnis jedoch in etwas anderer Hinsicht: In seinem 1944 uraufgeführten Stück Huis clos (deutscher Titel: Geschlossene Gesellschaft) beschreibt er eine Hölle, in der es keinem der dort festsitzenden Insassen möglich ist, das schlechte Bild zu korrigieren, das sie auf Erden im Gedächtnis der anderen hinterlassen haben (vgl. Sartre 1945). In der Erinnerung der Lebenden haften ihnen allein die von ihnen begangenen schlimmen Taten an. Die damnatio memoriae stellt bei Sartre bei genauerem Hinsehen also kein Verhindern von Erinnerungen an Personen im Gedächtnis der anderen dar, sondern gewissermaßen eine damnatio memoriae electae, die darauf beruht, dass sich die anderen sehr wohl an die eigene Person erinnern, aber eben nur sehr selektiv – als schlechter Mensch, als Feigling, Verführer und Mörder. Aber einerlei, ob man nun vergessen oder als ein zutiefst schlechter Mensch erinnert wird oder aber sich selbst fortwährend mit seinen schlimmen Taten auseinandersetzen muss: Folgt man den skizzierten literarischen Beschreibungen, dann funktioniert das höllische Gedächtnis nach dem gleichen Prinzip wie das himmlische Gedächtnis. Eine ihm eigene, gleichsam infernalische Selektivität ermöglicht bestimmte Vergangenheitsbezüge (die schlimmen) und verhindert andere (die guten). Das wahrhaft Höllische des Gedächtnisses ist damit – und dies zu zeigen ist die Absicht der folgenden Ausführungen – jedoch noch nicht begriffen. Die leitende These lautet, dass sich ein höllisches Gedächtnis gerade nicht als Gegenstück zum himmlischen Gedächtnis beschreiben und verstehen lässt. Ein höllisches Gedächtnis trennt also gerade nicht die schlimmen Vergangenheitsbezüge von den guten, erinnert gerade nicht die eine, schlechte Vergangenheit und vergisst die andere, gute. Höllisch wird das Gedächtnis vielmehr aus einem ganz anderen Grund, und zwar dann, wenn keine Selektivität möglich ist, wenn also alle möglichen Vergangenheitsbezüge realisiert werden oder aber keine, wenn alles erinnert oder aber alles vergessen wird. Um solch ein Gedächtnis aufzuspüren, müssen weder der Himmel noch die Hölle aufgesucht werden – man muss also kein Dante sein und mit ethnographischem Blick die Höllenkreise durchwandern, was die Sache erheblich erleichtert. Es reicht aus, den irdischen Alltag zweier Menschen in den Blick zu nehmen, denen das Gedächtnis in vielen Momenten ihres (Er-)Lebens zur Hölle wird: Die Rede ist von Clive Wearing und Jill Price. Gemessen an der ›normalen‹ Funktion eines Gedächtnisses – dem Wechselspiel oder

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besser gesagt: der Einheit von selektivem Erinnern und Vergessen4 –, weisen die Gedächtnisse von Wearing und Price solch außergewöhnliche Besonderheiten auf, dass sie nicht nur im engeren Feld der Neurowissenschaften und der Psychologie Bekanntheit erlangt haben, sondern auch in einer breiteren Medienöffentlichkeit. Ihr Leben ist Gegenstand von Zeitungsartikeln, Dokumentationen, wissenschaftlichen Arbeiten und autobiographischen Büchern (Jill Price hat über sich selbst ein Buch geschrieben, Deborah Wearing über ihren Mann). Auf diese Materialien stützt sich die Argumentation im Folgenden.

Totales Erinnern, totales Vergessen: Wenn das Gedächtnis zur Hölle wird Totales Vergessen: Clive Wearing Clive Wearing wurde 1938 in England geboren und ist Musikwissenschaftler, Dirigent und Pianist. Im März 1985 erlitt er im Alter von 47 Jahren eine Infektion mit Herpes-simplex-Viren, die sich bis in sein Gehirn ausbreiteten, dort den Hippocampus zerstörten und Teile des Schläfen- und Frontallappens dauerhaft schädigten. Der Hippocampus ist der Teil des Gehirns, der dafür sorgt, dass unterschiedliche Sinneswahrnehmungen verarbeitet und Gedächtnisinhalte vom Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis überführt werden (vgl. Piefke/Markowitsch 2010.). Ist er zerstört, so kann diese Übertragung nicht mehr stattfinden, können also ab dem Zeitpunkt der Schädigung keine neuen Erinnerungen mehr gebildet werden. Die Neurowissenschaft spricht in diesem Falle von einer anterograden Amnesie: einem totalen Vergessen, das nach einem bestimmten zeitlichen Ereignis einsetzt.5 Clive Wearing ist nach seiner Erkrankung von einer besonders schweren Form dieser Amnesie betroffen. Zwar weiß er, dass er verheiratet ist und Kinder hat, und er verfügt aus der Zeit vor seiner Erkrankung auch noch über er4

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Die italienische Soziologin Elena Esposito beschreibt diese Einheit folgendermaßen: »Man erinnert nicht, was gewesen ist, sondern liefert lediglich eine Rekonstruktion dessen, was man in der Vergangenheit – bereits selektiv – beobachtet hatte; nur das also, was man vor dem Hintergrund all dessen, was man vergessen hat, erinnert.« (Esposito 2002: 12) Für die bedeutende Erstbeschreibung der anterograden Amnesie anhand des Patienten H.M. siehe Scoville/Milner (1957).

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lerntes Wissen und eingeübte Fähigkeiten – etwa Fakten der Musikgeschichte und das Klavierspielen –, deren problemloser Abruf sich einem nach wie vor intakten semantischen und prozeduralen Gedächtnis zurechnen lässt. Jedoch ist sein Gedächtnis, bedingt durch die schwere Schädigung des Hippocampus, nicht in der Lage, im Hier und Jetzt eine Zeitspanne zu erinnern, die an schlechten Tagen um die sieben, an guten Tagen um die dreißig Sekunden dauert. Er ist damit, wie es im deutschen Titel des Buches Forever Today von seiner Frau Deborah heißt, »gefangen im Augenblick« (Wearing 2005): mit jedem Lidschlag offenbart sich ihm eine neue Szenerie – ein Raum, in dem sich die Dinge scheinbar bewegt haben, ohne dass sie bewegt worden sind, ein Blatt Papier mit seiner Handschrift, das er aber nicht beschrieben hat oder ein Stück Schokolade, das in seiner Hand fortwährend zu einem anderen, merkwürdig neuen Stück wird. In einer nur sehr kurzen Gegenwartsdauer trifft Wearing lediglich auf vage Spuren, die besagen, dass sich etwas getan haben muss, denen er jedoch nicht folgen kann, um zu benennen, was genau sich aus welchem Grund ereignet hat. Alles, was sich ereignet, ist unmittelbar wieder vergessen. Clive Wearing scheint nicht zu wissen, was ihm zugestoßen ist. Gleichwohl lässt ihn das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmt, und er gibt darüber auch Auskunft. In einer BBC-Dokumentation aus dem Jahr 1998 beschreibt er seinen Zustand folgendermaßen: »It is like death. I have never seen a human being before. I never had a dream or a thought. The brain has been totally inactive. Day and night the same. No thoughts at all.«6 An anderer Stelle, in einem 1990 niedergeschriebenen Gespräch mit einem Psychologen, das in Sacks (2007) zitiert wird, wählt er eine ganz ähnliche Formulierung: »Can you imagine one night five years long? No dreaming, no waking, no touch, no taste, no smell, no sight, no sound, no hearing, nothing at all. It’s like being dead. I came to the conclusion that I was dead.«

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Die Dokumentation ist nur unvollständig über YouTube einsehbar. Das vom Verfasser transkribierte Zitat stammt aus einem Fragment, das unter der Adresse http://www.y outube.com/watch?v=Vwigmktix2Y abrufbar ist (letztes Abrufdatum: 13. August 2019).

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Dieses in Worte gefasste Erleben des totalen Vergessens kann durchaus als eine Höllenbeschreibung gelten, die die eingangs skizzierten literarischen Höllenvorstellungen verblassen lässt: Wearing erwacht in jedem Augenblick seines Lebens aus einer dem Tode gleichenden, tiefschwarzen und einsamen Leere, die frei von jeglichen Sinneswahrnehmungen, Gedanken und sozialen Bezügen ist. Diese Bilder – Tod, Nacht und absolute Leere – erweisen sich dabei als sehr stabil, er beschreibt über Jahre hinweg seinen Zustand mit diesen Begriffen. Woher die Leere kommt, bleibt für ihn jedoch ebenso unbeantwortet wie die Frage, warum er gerade jetzt, in diesem Augenblick erwacht. Wearings Erwachen kennt keine Vergangenheit und auch keine Zukunft, keine Linearität und keine Kausalität, sondern nur die schreckliche Singularität und Abgeschottetheit des immergleichen Augenblicks. Seine Frau Deborah versucht, wie der britische Neurologe Oliver Sacks (2007) berichtet, seinem Zustand einen Sinn zu geben, indem sie ihn vor einem literarischen Hintergrund deutet: dem von Marcel Proust im ersten Band seiner 1913 begonnenen Suche nach der verlorenen Zeit beschriebenen Erwachen des Ich-Erzählers. Dort heißt es: »[…] wenn ich mitten in der Nacht erwachte, wusste ich nicht nur nicht, wo ich mich befand, sondern sogar auch im ersten Augenblick nicht, wer ich war; ich hatte lediglich, in seiner ganzen urzeitlichen Natürlichkeit, jenes Gefühl bloßen Daseins, wie es in der Tiefe eines Tieres beben mag; ich war hilfloser als ein Höhlenmensch.« (Proust 2013: 12) Dieses Gefühl des »bloßen Daseins« beginnt sich allerdings zu verflüchtigen, sobald das Gedächtnis seine geregelte Arbeit aufnimmt: »[…] aber dann kam die Erinnerung – noch nicht an den Ort, an dem ich mich befand, aber doch an einige von denen, die ich bewohnt hatte und an denen ich sein könnte – über mich wie Hilfe in höchster Not, um mich aus dem Nichts zu ziehen, aus dem ich allein nicht hätte herausfinden können.« (Ebd.) Was der Ich-Erzähler hier als einen Ausnahmezustand nach einem ungewöhnlich tiefen und festen Schlaf erlebt, aus dem man nur schwer wieder zu sich findet, stellt für Clive Wearing die Regel in seinem Alltag dar. Für ihn gibt

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es, wie auch Sacks (2007) bemerkt, keine Erinnerung, die ihm »in höchster Not« zu Hilfe käme.7 Lenkt man den Blick vom Bewusstsein und der Wahrnehmung auf die Ebene des Handelns, so wird deutlich, dass das kontinuierliche Vergessen dessen, was sich Sekunden zuvor ereignet hat, zu einer fortlaufenden, auch für den Beobachter zermürbenden Wiederholung von Handlungen zwingt. Offensichtlich wird dies an zwei sich immer wieder ereignenden Szenen: Da ist zum einen die immergleiche Begrüßung seiner Frau Deborah. Geht sie nur kurz aus dem Raum oder verschwindet sie auch nur für kurze Zeit aus seinem Blickfeld, vergisst Clive Wearing, dass sie anwesend ist. Jedes Wiedersehen wird für ihn zu einem Wiedersehen nach einer gefühlten Ewigkeit – einerlei, ob es sich bei der faktischen Abwesenheit um Sekunden, Minuten, Tage oder Wochen handelt. Wearing geht davon aus, dass auch seine Frau in einer immerwährenden Dunkelheit gefangen war, und entsprechend stürmisch und überschwänglich fällt seine Freude aus, sie wieder in die Arme schließen und ihr Gesicht mit Küssen bedecken zu können.8 Da ist zum anderen aber auch das obsessive Schreiben in einer Art Tagebuch, in dem Wearing im Abstand von wenigen Minuten Zeile für Zeile und immer wieder aufs Neue den Zeitpunkt seines ersten, echten Erwachens festhält. Da er sich nicht erinnern kann, Minuten zuvor bereits in das Heft geschrieben zu haben, hält er die vorhergehenden Angaben für falsch und streicht sie durch. Ein Ausschnitt der Einträge vom Januar 1994 – neun Jahre nach seiner ursprünglichen Erkrankung – liest sich folgendermaßen (Wearing 2005: 305): »7:04 PM, Awake first time, first thought: please come darling! 7:19 PM, Really awake first time, first thought: please come darling! 7:21 PM, Totally awake first time, first thought: please come darling! 7:30 PM, Completely awake first time, first thought: please fly here darling, at the speed of light! 7 8

Walter Benjamin stellt entsprechend fest: »Erwachen ist der exemplarische Fall des Erinnerns.« (Benjamin 1991: 105f.) Dies ist auch in dem in Fußnote 6 genannten Filmfragment beobachtbar. Die ständig wiederholte Liebesbezeugung spiegelt sich zudem auch im Untertitel der englischsprachigen Originalausgabe von Deborah Wearings Buch wider: A True Story of Lost Memory and Never-Ending Love (Wearing 2005).

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7:33 PM, Superbly awake first time, first conscious stroll. Please fly here darling 7:35 PM, Superlatively awake first time, first thought: please come darling!« Und so weiter und so fort. In den Jahrzehnten seit seiner Erkrankung sind auf diese Weise Hunderte von Seiten entstanden, die Zeugnis ablegen von Wearings rastloser Suche nach sich selbst, seinem originären Anfang in dieser Welt. Mit dem Schreiben will Wearing, so kann man zumindest vermuten, sich seiner Existenz und seines Fortdauerns versichern, er will gleichsam Halt finden im Gedächtnismedium der dauerhaften Schrift9 – doch es gelingt ihm nicht. All das – das Schreiben, die Begrüßung und noch viel mehr – wiederholt sich, oder besser gesagt: muss wiederholt werden, da es für Clive Wearing keinen Anfang und kein Ende gibt, sondern nur eben jene immerwährende Gefangenheit im Augenblick. Wearing kann kein Bewusstsein für die Wiederholung entwickeln. Seine Existenz ist auf die Singularität eines Moments zurückgeworfen, der für das Bewusstsein nicht in dem Sinne erfahrund erinnerbar wird, als dass – mit der Phänomenologie Edmund Husserls gesprochen – Retentionen und Protentionen ein Gefühl der Kontinuität, des beständigen Fließens im Sein zuließen (vgl. Husserl 1985). Die differenzlose Wiederholung – eine Wiederholung also, die nicht um die Geschichte und die Bedingungen ihres eigenen Wiederholens weiß – markiert die hoffnungslose psychische und soziale Operativität eines Gedächtnisses, das statt selektivem Erinnern und Vergessen nur die komplette, im unmittelbaren Erleben gleichsam höllische Abschottung gegenüber der Vergangenheit kennt.

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Schrift und Gedächtnis hängen auf so vielfältige Weise zusammen, dass hier nur Andeutungen zu zentralen Aspekten gemacht werden können; siehe etwa Assmann (1992) zur Bedeutung der dauerhaften Schrift für das kulturelle Gedächtnis, Esposito (2002) zum strukturellen Wandel des Gedächtnisses der Gesellschaft durch die Entwicklung und Ausdifferenzierung der nicht-alphabetischen und alphabetischen Schrift und Hahn (2010) für den schreibenden Körper als Gedächtnis.

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Totales Erinnern: Jill Price Die Geschichte von Jill Price verweist demgegenüber auf den gegenteiligen Fall des totalen Erinnerns. Price wurde 1965 in den USA geboren und ist von einem Gedächtnisphänomen betroffen, das in den Neurowissenschaften erst in jüngster Zeit – 2006 in der Zeitschrift Neurocase – mit dem Namen hyperthymestisches Syndrom belegt und beschrieben wurde (vgl. Parker/Cahill/McGaugh 2006). Der Begriff leitet sich ab vom griechischen Wort thymesis für Erinnern und weist auf ein enorm gesteigertes Erinnerungsvermögen hin. Jill Price kann sich seit ihrem 14. Lebensjahr an jeden einzelnen Tag ihres Lebens und an jeden einzelnen Augenblick eines Tages in absoluter Klarheit erinnern. Die Besonderheit gegenüber anderen Formen des gesteigerten Erinnerns liegt darin, dass sich Jill Prices Erinnerungsvermögen nur auf persönliche Erlebnisse und Erfahrungen bezieht, auf das autobiographische Gedächtnis also, und nicht auf für sie bedeutungslose Dinge wie etwa das Auswendiglernen von Zahlenreihen und ähnlichem, die dem Funktionsbereich des deklarativen Gedächtnisses zufallen. Was es im Alltag bedeutet, mit einem solchen totalen Erinnern zu leben, wird in einem Zitat aus Jill Prices 2008 erschienener Autobiographie The Woman Who Can’t Forget deutlich: »My memories are like scenes from home movies of every day of my life, constantly playing in my head, flashing forward and backward through the years relentlessly, taking me to any given moment, entirely of their own volition. […] I never know what I might remember next, and my recall is so vivid and true to life that it’s as though I’m actually reliving the days, for good and for bad.« (Price 2008: 2) Die Vergangenheit wiederholt sich in jedem Augenblick pausenlos in Jill Prices Bewusstsein, ihr Gedächtnis springt ohne Unterlass und ohne erkennbare Systematik von einem Zeitpunkt ihres Lebens zum nächsten – und zwar ohne, dass Price etwas dazu tun müsste oder daran etwas ändern könnte: Im einen Moment sitzt sie als Zehnjährige mit ihrer Familie vor dem Fernseher, dann fährt sie als Siebzehnjährige mit ihren Freundinnen durch die Stadt, dann befindet sie sich als Dreijährige mit ihrer Familie am Strand (vgl. ebd.). Solche Szenen spulen sich fortwährend in ihrem Kopf ab. Es geht beim hyperthymestischen Syndrom somit nicht um eine eingeübte ars memoriae, um keine Gedächtniskunst oder besondere Form des strategischen Erinnerns, sondern um einen automatisch ablaufenden Gedächtnis-

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prozess, der sich dem bewussten und unmittelbaren Zugriff entzieht. Die Gegenwart steht in jedem Moment unter dem Druck nicht einer, sondern vielfacher Vergangenheiten. Ein in diesem Sinne unerbittliches Gedächtnis, das in der Literatur in der gleichnamigen, bereits 1942 entstandenen Erzählung des argentinischen Autors Jorge Luis Borges Berühmtheit erlangt hat (Borges 1993), ist für Jill Price zumindest in Teilen traurige Realität geworden und ein ständiger Begleiter in ihrem Alltag.10 An welchen Wahrnehmungen sich die Erinnerungskaskaden entzünden, ist dabei völlig offen: Entlang der unzähligen Stimuli, die jeder Augenblick bietet – das kann ein Datum, ein Name oder auch die Farbe eines Kleidungsstücks sein –, erzeugt das Gedächtnis wahllos spontane Erinnerungen. Für Jill Price handelt es sich dabei nicht um bloße mentale Repräsentationen, sondern um ein unmittelbares, regelrecht wieder-holendes Eintauchen in das »thick of things«, das Dickicht der Dinge, wie der Phänomenologe Edward S. Casey (2000: xix) den Stoff genannt hat, auf den Erinnerungen sich beziehen: »it’s as though I’m actually reliving the days, for good and for bad« lautet ihre Formulierung im vorherigen Zitat. Dass Price dabei dezidiert von einem Als Ob (»it’s as though«) spricht, deckt sich mit der psychologischen Forschung zu Flashbacks, dem durch einen Schlüsselreiz bedingten, scheinbaren Wiedererleben schlimmer vergangener Ereignisse – auch diese unterliegen, wie der Sozialpsychologe und Gedächtnisforscher Harald Welzer festhält, »denselben alters- und aufbewahrungsspezifischen Einschränkungen wie solche an gewöhnliche Ereignisse: Daten, Situationsmerkmale, Personen, Umstände werden vertauscht, verzerrt oder ganz einfach vergessen. Der generelle Befund, dass Erinnerungen eben keine abgerufenen Speicherinhalte sind, gilt auch für traumatische Erinnerungen – wie könnte es auch anders sein?« (Welzer 2002: 35) Einerlei, ob es sich um gute oder schlimme Vergangenheiten, um belastende, traurige, angenehme, lustige oder neutrale Erlebnisse und Erfahrungen handelt: sie alle re-präsentieren sich ungefiltert und ungehindert durch irgend-

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Borges beschreibt in seiner Erzählung die Geschichte des neunzehnjährigen Ireneo Funes, der – nach einem Reitunfall gelähmt und ans Bett gefesselt – ein unfehlbares Gedächtnis entwickelt, dem es nicht gelingt, selbst die kleinsten Details zu vergessen. Letztlich geht Funes, in dessen Welt »es nichts als Einzelheiten, fast unmittelbarer Art« (Borges 1993: 67) gab, an seinem unerbittlichen Gedächtnis – das er selbst als »Abfalltonne« (ebd.: 64), also als einen Ort höchster Unordnung bezeichnet – zugrunde.

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welche Selektivitäten des Gedächtnisses mit der Gesamtheit aller vergangenen Wahrnehmungen und aller leiblichen und emotionalen Empfindungen und Affekte in immer wieder gleicher Weise. Im Falle von Jill Price stellen Flashbacks demnach keine Ausnahme dar, sondern ereignen sich fortlaufend in der ständigen Wieder-Holung des Vergangenen. Der Körper wird dabei ebenso als Gedächtnis angesprochen und aufgerufen wie das Bewusstsein.11 Das bedeutet aber auch, dass im Falle von Jill Price die Zeit keine Wunden zu heilen vermag und die zeitliche Distanz zur Vergangenheit keine himmlische Erlösung verspricht – denn, wie sie 2008 in einem Interview mit der britischen Tageszeitung The Times sagt: »I can’t forget. The pain never lessens.«12 Wie schon bei Clive Wearing, spielt das Deutungsmuster der Gefangenschaft eine zentrale Rolle, wenn Jill Price über ihr Leben mit der totalen Erinnerung berichtet. Sie leidet an vielen Stellen in ihrem Alltag sehr stark unter ihrem Gedächtnis. In ihrer Autobiographie beschreibt sie sich als »prisoner to my memory« (Price 2008: 3), eine Gefangene ihres Gedächtnisses, die der unerbittlichen Tyrannei ihrer Erinnerungen hilflos ausgeliefert ist. Die andauernde Wiederholung des Immergleichen, die sich in diesem Falle nicht einer kompletten Abschottung des Gedächtnisses gegenüber der Vergangenheit, sondern seiner totalen Öffnung verdankt, sorgt immer wieder für eine unerträgliche Höllenerfahrung13 – »I’ve been through hell in my life«14 –, die sich auch daraus speist, mit der Zeit kommunikativ und sozial nicht mehr anschlussfähig zu sein. Als ihr Gedächtnis sie in ihren Zwanzigern zunehmend in einen »stranglehold« (ebd.: 146), einen Würgegriff nimmt, bauen sich in diesen Jahren zwischen ihr, ihrer Familie und ihrem Freundeskreis immer

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Zur Schwierigkeit der Trennung von Körper und Bewusstsein in der Gedächtnissoziologie siehe zum Beispiel Dimbath et al. (2016), Kastl (2016) sowie in phänomenologischer Perspektive Summa et al. (2012). »Jill Price, the woman who remembers everything«, The Times, Ausgabe vom 21. September 2008, abrufbar unter https://www.thetimes.co.uk/article/jill-price-the-womanwho-remembers-everything-kgwcqrk6xq7 (letztes Abrufdatum: 13. August 2019). Bezeichnenderweise beruft sich eine Rezension von Prices Buch im Boston Globe auf Dantes Göttliche Komödie: »Not even Dante could have fathomed the particular circle of hell inhabited by Jill Price.« (The Boston Globe, Ausgabe vom 31. August 2008, abrufbar unter http://archive.boston.com/ae/books/articles/2008/08/31/a_life_in_endless_re play/?page=full, letztes Abrufdatum: 13. August 2019) So Jill Price in einem Interview mit dem Seattle Post-Intelligencer, Ausgabe vom 18. Mai 2008, abrufbar unter https://www.seattlepi.com/lifestyle/article/Wow-a-perfect-memo ry-But-for-Jill-Price-it-is-1273622.php (letztes Abrufdatum: 13. August 2019).

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stärkere Grenzen des Verstehens auf: Sie kann nicht beschreiben, was es heißt, nicht vergessen zu können, und ihre Freunde und Familie können ihren Zustand nicht nachvollziehen. Die Folge ist ein zunehmender sozialer Rückzug: »The way that my memories had started rampaging out of control was the most significant happening in my life, and yet I could never truly find a way to describe it effectively, so I could never craft a meaningful story about it for my family and friends. Instead, I went increasingly interior with the torment of it, and I felt horribly alone in my mind.« (Price 2008: 146f.) Ähnlich wie Clive Wearing kann Jill Price keine für andere nachvollziehbare Erzählung über ihre Wahrnehmung und ihr Erleben anbieten. Das wechselseitige Verstehen, das das soziale Miteinander nicht nur entscheidend prägt, sondern gerade auch ermöglicht, verliert damit seine lebensweltliche Selbstverständlichkeit, wird brüchig und – im Sinne eines Reflexivwerdens latent gehaltener Voraussetzungen des sozialen Alltags – problematisch. Die totale Öffnung ihres Gedächtnisses zur Vergangenheit führt in einer für Jill Price selbst herausstechenden Phase ihres Lebens letztlich zu einer immer stärkeren Abschottung gegenüber ihren Mitmenschen: Sie ist in und mit einem Bewusstsein allein, dessen Geschlossenheit nicht mehr kommunikativ überbrückbar ist. Das Fehlen einer, wie es im obigen Zitat heißt, »meaningful story«, einer bedeutungsvollen Geschichte macht sich jedoch auch auf anderer Ebene bemerkbar. Ein weiterer, entscheidender Aspekt der Tyrannei des Gedächtnisses von Jill Price besteht nämlich darin, dass sie in ihrem Bewusstsein kein Bild von sich selbst, kein Gefühl von Identität erzeugen kann. An die Stelle eines kohärenten Selbstbildes und einer zusammenhängenden Erzählung treten vielmehr die voneinander abgehobenen Schichten unzähliger Einzelbilder eines zeitlich je verschiedenen Selbst. Price vergleicht dieses Phänomen mit einer Matrjoschka, einer ineinander verschachtelten russischen Holzpuppe: »It’s as though I have all of my prior selves still inside me, the self I was on every day of my life, like her or not, nested as in a Russian doll – inside today’s Jill are complete replicas of yesterday’s Jill and the Jills for all the days stretching so far back in time. In that sense, I don’t so much have a story of my self as I have a remarkably detailed memory of my self.« (Price 2008: 7) Wie in Borges Erzählung vom unerbittlichen Gedächtnis, dominieren unzählige Details jede Erinnerung an die Vergangenheit. Ein allgemeines, vom Besonderen abstrahiertes Muster, wie es durch die eigene Biographie und die

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eigene Lebensgeschichte repräsentiert wird, ist für Price im andauernden Durcheinander der sich ständig wiederholenden und überlappenden Erinnerungen an unterschiedliche Vergangenheiten nicht auszumachen. Im Gegensatz zu Clive Wearing ist Jill Price jedoch in der Lage, ihre Situation zu reflektieren und sich aktiv damit auseinanderzusetzen. Dazu gehört, dass sie im Schreiben eine Methode gefunden hat, mit der sie die Vergangenheiten, die in ihrem Bewusstsein fortlaufend und willkürlich re-präsentiert werden, auf dem Papier in eine zeitliche Ordnung bringen kann. Das beständig wiederholte, wie Price selbst sagt: zwanghafte Schreiben wird für sie im Laufe der Zeit zu einer Art ›Arbeit am Gedächtnis‹ – nur so hat sie das Gefühl, die Vergangenheit aus ihrem Kopf zu bekommen. Einen besonderen Stellenwert nimmt dabei ein Schreibprojekt ein, das sie als ihre persönliche »time line«, ihre Zeitlinie bezeichnet (ebd.: 138). Darin versucht sie über viele Jahre, alle relevanten Daten ihres Lebens in eine chronologische Reihenfolge zu bringen. Ihr Ziel besteht darin, ihr Leben auf dem Papier als eine lineare, aufeinander aufbauende Abfolge signifikanter Ereignisse sichtbar zu machen und als einen gerichteten Prozess wahrzunehmen – etwas, was ihrem Bewusstsein aufgrund der fehlenden Selektivität ihres Gedächtnisses ansonsten nicht möglich ist. Dieses – auch im Foucault’schen Sinne – gleichsam archäologische, auf ein retrospektives Ordnen von Zeit bedachte Schreiben erlöst Jill Price zwar nicht aus der Gefangenschaft des höllischen Gedächtnisses, scheint aber zumindest für einige Augenblicke ihr Gefühl der andauernden Desorientierung und des passiven Ausgeliefertseins zu lindern. Zur Erinnerung: Auch Clive Wearing schreibt ohne Unterlass, um das, was ihm widerfährt, zu deuten und einzuordnen. Ihm ist im Schreiben jedoch keine hinreichende Abgrenzung der Gegenwart gegenüber der Vergangenheit möglich. Sein Schreiben kennt nur die jeweils aktuelle, sehr kurze Dauer der Gegenwart und erweist sich als fortwährende, und wie sich gezeigt hat: hoffnungslose Suche nach dem einen, echten Moment des Erwachens, der seiner Existenz einen Halt geben könnte.

Das höllische Gedächtnis: Wissenssoziologische Reflexionen Ausgehend von diesen beiden Fallbeschreibungen soll nun der Frage nachgegangen werden, was die Alltäglichkeit der ewigen Verdammnis mit Blick auf das höllische Gedächtnis auszeichnet – oder anders gefragt: Welche formal ähnlichen Wirkungsweisen und Folgen des höllischen Gedächtnisses zei-

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gen sich in den beiden Fällen und wie lassen sich diese entlang (sozial-)phänomenologischer und wissenssoziologischer Theoriefiguren15 abstrahierend beschreiben und – in gleichsam idealtypisierender Absicht – reflektieren? Es geht somit darum, den Kern des höllischen Gedächtnisses freizulegen und sein Wirken in Bezug auf Fragen des Zeitbewusstseins, der Individualität und der Sozialität zu verallgemeinern. Dies erfolgt in fünf teils eng miteinander verbundenen, teils sich ergänzenden Punkten: 1. Das hoffnungslose Ausgeliefertsein an eine unkontrollierbare fremde Kraft In den beiden Fällen des totalen Erinnerns und Vergessens wird deutlich, dass das Gedächtnis zu einer existenzbestimmenden Kraft wird, die dem Subjekt als etwas Fremdes und nicht willentlich Kontrollierbares gegenübertritt. Dies spiegelt sich insbesondere in den Bildern wider, die Clive Wearing und Jill Price – nicht zufällig – wählen, um ihre Situation zu beschreiben. Der allgemeine Topos der Unkontrollierbarkeit erfährt dabei zwei Spezifizierungen: Der Tod und der traumlose Schlaf Clive Wearings lassen sich als Beschreibungen eines amnestischen Nullpunkts dechiffrieren. An diesem Punkt sind das Bewusstsein und seine sozialen Bezüge ausgelöscht, sind kein Handeln, keine Sinneswahrnehmungen und keine Kommunikation möglich, existieren keine Erfahrungen und keine Erinnerungen.16 Entscheidend für die daraus resultierende Höllenerfahrung jedoch ist, dass sich die Gefühle der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins nicht aus dem Tod und dem traumlosen Schlaf selbst ergeben – dort ist kein Erleben möglich –, sondern aus dem andauernd stattfindenden Erwachen aus diesem Zustand und einer damit einhergehenden Erinnerungsund Orientierungslosigkeit. Dem Erwachenden wird die Undurchschaubarkeit und Unkontrollierbarkeit seines Seins stets vor Augen geführt: Als amnestischer Nullpunkt ist die Schwärze des Todes und des traumlosen Schlafs unter keinen noch so günstigen Umständen durchdringbar, das heißt erfahrund erinnerbar, versteh- und nachvollziehbar. Was dort geschieht, entzieht 15

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Diese theoretische Engführung erfolgt, da die Auseinandersetzung mit Gedächtnis unmittelbar Fragen des Bewusstseins, der Wahrnehmung, der Repräsentation und Verarbeitung von Sinn sowie der wissensgestützten Orientierung in Raum und Zeit nahelegt. Im Gegensatz zur neukantianischen Philosophie Paul Natorps, die den »Nullpunkt des Denkens« als »Ausgangspunkt für alles« (Bonsiepen 2011: 91) begreift, sind im amnestischen Nullpunkt gerade keine Entwicklungsmöglichkeiten enthalten, stellt der amnestische Nullpunkt also gerade keinen wie auch immer gearteten Ursprung eines in ihm bereits angelegten Werdens dar (siehe dazu auch weiter unten).

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sich ebenso Clive Wearings Kenntnis wie die Antwort auf die Frage, warum er überhaupt in diesen Zustand geraten und wieder aus diesem erwacht ist. Das Bild des Gefängnisses, das Jill Price wählt, weist demgegenüber eine unmittelbare Nähe zum Konzept der totalen Institution auf, mit dem Erving Goffman (1973) Einrichtungen beschreibt, die das Leben ihrer Insassen umfassend regeln und kontrollieren. Das Leben in einer totalen Institution (neben Gefängnissen können dies auch geschlossene Abteilungen in psychiatrischen Einrichtungen sein) ist durch und durch fremdbestimmt. Eine solche Fremdbestimmung erlebt auch Jill Price – gleichwohl wird ihr ihr Gedächtnis erst aufgrund zweier weiterer Aspekte vollends zur Hölle: Zum einen gibt es keine erkennbare Systematik, nach denen das Gedächtnis Vergangenheitsbezüge herstellt. Prices Erinnerungen tauchen ohne ihr Zutun plötzlich und völlig erratisch auf. Die Fremdbestimmung erfolgt somit entlang einer nicht durchschaubaren Willkür, einer Tyrannei also, wie Price es selbst formuliert.17 Zum anderen ist Price – wie auch Clive Wearing – allein mit ihrem Gedächtnis. Es gibt demnach keine informellen Strukturen, keine überwachungs- oder kontrollfreien Räume und keine Möglichkeiten des Austauschs mit anderen Gefangenen, die das Leben in der totalen Institution zumindest ein Stück weit erträglicher machen könnten.18 Das Ausgeliefertsein fällt im höllischen Gedächtnis somit nicht nur mit Kontrollverlust und Fremdbestimmung (wenn man so will: einer mnemonisch gewendeten Durkheim’schen Anomie), sondern auch mit sozialer Isolation und Einsamkeit zusammen. 2. Das systematische Nicht-Wissen-Können der Bedingungen des Ausgeliefertseins Der Herrschaftscharakter des höllischen Gedächtnisses zeigt sich auch in einem anderen, stärker wissensbezogenen Aspekt: es bewirkt eine Art Verblendungszusammenhang, dessen wesentlicher Mechanismus jedoch nicht darin besteht, »die Erkenntnis des Leidens, das sie [die Herrschaft, Anm. d. Verf.] produziert, zu verbieten« (Adorno 2001: 75). Vielmehr geht es darum, die Zurechenbarkeit des Leids zu verhindern: Clive Wearing und 17

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Hier zeigen sich deutliche Parallelen zu Sartres bereits angesprochener Geschlossener Gesellschaft: Die Insassen der Sartre’schen Hölle wissen zwar, dass es sich um die Hölle handelt, nicht aber, welche Regeln dort gelten, was von ihnen erwartet wird und was sie tun können, um ihr zu entkommen. In der Konsequenz wird hinter jedem Zeichen ein Hinterhalt vermutet: Selbst als sich die Höllentür öffnet und den Weg nach draußen freigibt, verharren die Insassen aus Angst, in eine Falle zu tappen, im Raum. Das Gegenteil zeigt sich wiederum in Sartres Geschlossener Gesellschaft: Dort wirken die Insassen aktiv daran mit, sich das jenseitige Leben gegenseitig zur Hölle zu machen.

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Jill Price leiden sehr bewusst unter ihrem Gedächtnis, aber sie können ihr Leid auf keinen für sie erkennbaren Mechanismus, keine Regelmäßigkeit, Logik oder wahrnehmbare Ordnung zurückführen, sodass sie in der Lage wären, effektiv gegen die Ursache ihres Leids vorzugehen. Auch wenn beide ähnliche Schreibprojekte verfolgen und Jill Price weiß, dass es sich um ein Gedächtnisproblem handelt, ändert dies nichts daran, dass das Erinnern beziehungsweise Vergessen nach wie vor mit allen oben beschriebenen Folgen total ist. Wearing und Price stehen lediglich Copingstrategien unterschiedlicher Reichweite zur Verfügung, die die bestehende ›infernalische‹ Gedächtnisordnung jedoch nicht zu stürzen vermögen: Clive Wearing erwacht weiterhin andauernd aus einem todesähnlichen traumlosen Schlaf, Jill Price wird nach wie vor von ihrem Gedächtnis ohne Vorwarnung tyrannisiert. Das Nicht-Wissen um die Bedingungen ihres Ausgeliefertseins stellt damit bei genauerem Hinsehen ein Nicht-Wissen-Können (vgl. Beck 1996) dar, das sich systematisch aus der unhintergehbaren Verborgenheit des Wirkens des höllischen Gedächtnisses ergibt. Damit sind die Strukturen des Gedächtnisses auch durchgehend unverfügbar für mnemonische Selbsttechniken, wie sie etwa das Gedächtnistraining oder die Gedächtniskunst darstellen. Zwar ist das Gedächtnis selbst nicht direkt beobachtbar, doch lassen sich seine Mechanismen verstehen und strategisch nutzen – etwa, wenn das individuelle Erinnerungsvermögen bewusst durch Einübung ausgedehnt und gestärkt wird. Diese Möglichkeit besteht beim höllischen Gedächtnis nicht: wie Kafkas Schloss entzieht es sich jeglichen Annäherungsversuchen und errichtet Grenzen der Wissbarkeit, die ihm als Mauern dienen. Clive Wearing und Jill Price scheitern regelmäßig beim Versuch, diese Mauern zu überwinden – dass es sich in dem einen Falle um ein gewusstes, im anderen um ein bestenfalls geahntes oder intuitiv gespürtes Nicht-Wissen-Können handelt, macht letztlich nur einen (aus subjektiver Sicht wohl aber sehr großen) Unterschied im Erleben. 3. Eine aus den Fugen geratene Zeit Sowohl Clive Wearing als auch Jill Price verfügen in vielen Momenten ihres Lebens über nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, sich mithilfe der Unterscheidung von Vergangenheit und Gegenwart zu orientieren. Wie sich in beiden Fallbeispielen gezeigt hat, zeichnen sich das totale Erinnern und Vergessen im Kern durch eine Wiederholung des Immergleichen aus, die sämtliche Versuche, eine wahrnehmbare zeitliche Ordnung herzustellen, von vornherein konterkariert. Gerade deshalb lassen Wearing und Price auch nicht von dem Versuch ab, ihre Gegenwart in geradezu

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obsessiver Weise in Bezug zur Vergangenheit zu setzen – einerseits, um einen Ursprung zu finden, von dem alles ausgeht, andererseits, um ein Gefühl für zeitliche Kontinuität zu erhalten. Gleichwohl dürfen diese Bemühungen nicht als Hinweise auf eine »Patchwork-Identität« (Keupp et al. 1999) oder eine »Bastelexistenz« (Hitzler/Honer 1994) gelesen werden. Beide Konzepte beschreiben (ideal-)typische Formen der Identitätsarbeit von Individuen in der Spätmoderne: Aufgrund der Vervielfältigung biographischer Wahlmöglichkeiten, der zunehmenden Fragmentierung sozialer Beziehungen und Bezüge sowie der Abnahme traditionaler Bindungen sind Individuen, so die These, immer mehr dazu gezwungen, ihre Identität aktiv auszubilden, dauerhaft zu bearbeiten und fortlaufend zu stabilisieren. Dahinter steht die Annahme, dass sich Identitäten in Vor- und Frühmoderne wesentlich stärker aus (vermeintlich) stabilen sozialen Ordnungen und Zugehörigkeitsmustern, wie sie etwa die (Groß-)Familie, (Berufs-)Stände oder die soziale Klasse darund bereitstellen, ableiten ließen.19 Auf den ersten Blick macht diese Interpretationsfolie auch vor dem Hintergrund der Bemühungen von Jill Price und Clive Wearing Sinn – was in fragmentierter Form vorliegt und in kohärenzfördernder beziehungsweise -formender Absicht bearbeitet werden muss, ist die Zeit. Gerade dies übersteigt aber die Möglichkeiten des Bastelns und des ›Patchworkens‹, da jedwede Arbeit an Identität und Existenz unmittelbar auf ein kohärentes inneres Zeitbewusstsein des Individuums angewiesen ist. Das Individuum kommt mit Zersplitterung und Fragmentierung gerade deshalb zurecht, weil es über ein funktionierendes Gedächtnis und damit auch – phänomenologisch gesprochen – über Retentionen und Protentionen verfügt. Bei Edmund Husserl verweisen Retentionen auf einen Nachklang der Wahrnehmung von Ereignissen im Bewusstsein; Protentionen beschreiben demgegenüber auf die Zukunft projizierte Wahrnehmungen, die die Komplexität der Welt für das Bewusstsein in Erwartbarkeit transformieren (vgl. Bernet 1985). Diese gedächtnisgestützten Wahrnehmungsechos und -projektionen erlauben es dem Bewusstsein, die Gegenwart als dauerhaft und in einem unterbrechungsfreien Fluss zu erleben. Alfred Schütz schreibt dazu: »Das erlebende Ich erlebt die Erlebnisse seiner Dauer nicht als wohlumgrenzte und daher isolierte Einheiten, wenngleich es sie als solche in den

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In der Soziologie findet sich diese Argumentation in der Regel im Rahmen der sogenannten Individualisierungsthese (vgl. Beck 1983, 1986).

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reflexiven Blick zu bringen fähig ist. Jedes Jetzterlebnis hat vielmehr ein Vorher und ein Nachher, weil jedem Punkt der Dauer eine Vergangenheit und eine Zukunft notwendig zugehört. Dies ist zunächst in demjenigen Sinn gemeint, in welchem wir von den ›Horizonten‹ des Erlebnisses sprechen, von den Retentionen vergangener Erlebnisse, auf die es zurück-, und von den Protentionen künftiger, auf die es vorweist.« (Schütz 1974: 100) Entscheidend ist demnach nicht, dass Zeit objektiv vergeht, sondern die Fähigkeit, die Gegenwart mithilfe eines selektiv erinnernden und vergessenden Gedächtnisses in der erlebten Zeit zu verorten – sprich: mit Dauerhaftigkeit zu versehen und in ein fließendes Gegenwärtig-Sein zu verwandeln, das ein Vorher und ein Nachher, eine Vergangenheit und eine Zukunft kennt. Wichtig zu sehen ist, dass sich das Bewusstsein dabei immer an sozialen Zeitformen und -konventionen orientiert, wie sie etwa Maurice Halbwachs (1985) als »kollektive Zeit«20 oder Norbert Elias (1988) als »Zeitbestimmer«21 beschrieben haben: Wochentage, Uhrzeiten, historische Daten und andere zeitbezogene Orientierungsmuster erlauben es, die »Zeitstruktur des Geschehensablaufs« (Elias 1988: 46) sowohl im einzelnen Bewusstsein als auch im sozialen Raum sinnhaft abzubilden, sodass sich das innere Zeitbewusstsein mit der Dauer gesellschaftlicher Zeitsphären synchronisieren kann. Das höllische Gedächtnis bricht diese Kopplung von innerem Zeitbewusstsein und sozialem Zeitregime jedoch immer wieder auf und lässt die Zeit gleichsam aus den Fugen geraten: Sie wird nicht mehr als dauerhafter und ununterbrochener Fluss einer miteinander verschränkten individuellen und kollektiven Zeit, sondern als je singuläre, gleichsam »punktuelle Gegenwart« (Luhmann 1980: 41) oder 20

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Damit meint Halbwachs zweierlei: zum einen machen sich Menschen Vorstellungen von der Zeit, die in institutionalisierte Ordnungsmuster überführt werden; zum anderen überdecken diese Ordnungsmuster als soziale Bezugsrahmen zunehmend die natürlichen Vorgänge (zum Beispiel die Bewegung der Gestirne), auf denen sie beruhen: »die astronomischen Daten und Zeiteinteilungen werden von den sozialen Einteilungen so verdeckt, daß sie allmählich verschwinden und die Natur es mehr und mehr der Gesellschaft überläßt, die Zeitdauer zu gestalten.« (Halbwachs 1985: 79) Im Elias’schen Verständnis sind Zeitbestimmer von Menschen geschaffene Instrumente – etwa Kalender oder Uhren –, die es erlauben, disparate Ereignisse zueinander in Bezug zu setzen. Sie ermöglichen es, »Ereignisse innerhalb eines kontinuierlichen Flusses von Ereignissen festzulegen, Meilensteine zu fixieren, die relative Anfänge und relative Enden innerhalb des Flusses anzeigen, eine bestimmte Spanne von einer anderen abzuheben oder beide in bezug [sic!] auf ihre Länge durch das, was wir ihre ›Dauer‹ nennen, zu vergleichen, und ähnliches mehr.« (Elias 1988: 41)

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aber als unverbundene Durchmischung der Gegenwart mit unterschiedlichen Vergangenheiten, als radikale Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen erlebt.22 Die damit einhergehenden Fragmentierungen im Erleben, oder besser gesagt: die fragmentierten Erlebensweisen selbst rücken damit in eine unmittelbare Nähe zu den isolierten Einheiten, die Schütz im obigen Zitat für das erlebende Bewusstsein ausschließt – allerdings unter der Voraussetzung, dass das Gedächtnis in seiner ihm angedachten Weise funktioniert.23 Mit dem höllischen Gedächtnis kann sich aber gerade kein kohärentes inneres Zeitbewusstsein etablieren und mit der kollektiven Zeit beziehungsweise Dauer synchronisieren – und damit bleibt den Betroffenen auch jede Möglichkeit verwehrt, sich angesichts einer unweigerlich vergehenden Zeit in einer »specious present« (James 1890: 609), einer dauerhaften Gegenwart einzurichten. Dies aber ist eine Grundbedingung dafür, an der eigenen Existenz und Identität zu arbeiten, das heißt: das gewordene Wissen über sich selbst in Abhängigkeit je aktueller Gegebenheiten zu rekonstruieren24 und darauf aufbauend eine Selbst- beziehungsweise Ursprungserzählung zu (re-)imaginieren, die – zum Beispiel als 22

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Dass nicht nur individuelle, sondern auch kulturelle und epochenbestimmende Zeitordnungen aus den Fugen geraten können, zeigt Aleida Assmann (2013) – widmet sich dabei aber letztlich nur der historischen Problematisierung kulturell zur Verfügung stehender Zeitrahmen und nicht der Zeit beziehungsweise des inneren Zeitbewusstseins selbst. Die hier angesprochene Differenz von punktuellem Ereignis und dauerhaftem Erleben wird insbesondere auch dort diskutiert, wo Philosophie und Neurobiologie sich in der Frage und Problematik des (Selbst-)Bewusstseins treffen: In welchem Verhältnis steht ein einzelner elektrischer Impuls im Gehirn zum Bewusstseinsstrom? Bereits Maurice Halbwachs hat darauf hingewiesen, dass selbst die Erinnerungen, die für uns aufs Engste mit unserer Identität verbunden sind und denen wir eine umfassende zeitliche Stabilität zuschreiben, keine im Gedächtnis abgespeicherten Inhalte darstellen. Sie müssen vielmehr mit jeder biographischen Erzählung und mit jedem Nachdenken darüber, was uns als Individuum ausmacht, anhand der uns momentan zur Verfügung stehenden Spuren neu erschaffen werden: »Wir bewahren aus jeder unserer Lebensepochen einige Erinnerungen, die wir immer wieder reproduzieren, und durch diese hindurch hält sich wie in einer kontinuierlichen Verkettung das Gefühl unserer Identität. Aber gerade, weil es sich um Wiederholungen handelt, weil sie in der Folge in den verschiedenen Lebensabschnitten immer in sehr verschiedene Begriffssysteme eingespannt worden sind, haben sie ihre Form und ihren Aspekt von einst verloren. Es handelt sich nicht um die intakten Wirbel fossiler Tiere, die es als solche gestatteten, das Lebewesen zu rekonstruieren, dessen Teile sie vordem waren; man würde sie eher mit den Steinen vergleichen, die man in bestimmten romanischen Gebäuden verbaut findet, und die als Baumaterial in sehr alte Bauwerke eingegangen

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Erzählung einer Konversion oder eines Werdens – notwendigerweise mit der Differenz von Vergangenheit und Gegenwart operiert. 4. Die Sinnlosigkeit der Gegenwart und eine brüchige Sozialität Sinn und Gedächtnis hängen auf zweierlei Weise zusammen: Zum einen stellt jedes sinnhafte Ereignis ein zeitliches Ereignis dar, das entsteht und wieder vergeht – das hat bereits der vorhergehende Punkt gezeigt, bei dem die Gedächtnisabhängigkeit des individuellen Zeitbewusstseins im Vordergrund stand. Zum anderen macht ein Ereignis aber auch erst dann Sinn, wenn auf Vergangenes zurückgegriffen und daran angeschlossen werden kann.25 In der Gegenwart sind sinnhafte Anschlüsse demnach immer nur vor dem Hintergrund bereits erfolgter Sinnsetzungen möglich, die stets auf den sinnhaften Aufbau der sozialen Welt verweisen und damit notwendigerweise sozialen Charakter haben (vgl. Schütz 1974; Berger/Luckmann 1969). Das Gedächtnis ist die Instanz, die dafür sorgt, dass gegenwärtige Sinnvollzüge nicht isoliert in einem gleichsam luftleeren Raum stattfinden, sondern sich auf bereits in der sozialen Welt Geschehenes beziehen und damit fortlaufend – auch im wörtlichen Sinne – Sinn machen. Dies muss, wie Gerd Sebald festhält, nicht zwangsläufig mit einem bewussten Erinnern einhergehen: »Es genügt die Integration des verarbeiteten Vergangenen in den aktuellen Sinnvollzug. Gedächtnis setzt also auf einer ganz basalen Ebene an.« (Sebald 2014: 30) Im Falle von Clive Wearing und Jill Price gelingt diese Integration jedoch nicht immer: Mit dem totalen Erinnern und Vergessen werden sinnhafte Anschlüsse systematisch unterbrochen und unterlaufen. Für das Bewusstsein bedeutet dies, dass die Gegenwart als sinnlos, das heißt als nicht sinnhaft an Vorhergehendes anschließend und damit auch – in der zweiten Wortbedeutung von Sinnlosigkeit – als nicht sinnvoll erscheint. In der Folge verliert das Individuum damit aber auch die Möglichkeit, sinnhaft mit seiner Mitwelt zu interagieren und zu handeln. Wie die immer wieder auftretenden Episoden sprichwörtlicher Sprachlosigkeit im Leben von Price und Wearing zeigen, raubt das höllische Gedächtnis einer unhinterfragt gegebenen Lebenswelt ihren präreflexiven Status, indem offensichtlich wird, dass sich die beteiligten Akteure nicht mehr im Horizont

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sind, die ihr Alter nur durch die vagen Spuren alter Schriftzeichen verraten, was weder ihre Form noch ihr Aussehen erraten lassen würde.« (Halbwachs 1985: 132) Vgl. dazu auch systemtheoretische Überlegungen zum Gedächtnis wie sie etwa Luhmann (1996) anstellt, insbesondere aber die weiteren systemtheoretischen Differenzierungen durch Khurana (2007).

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gemeinsamer Sinnstrukturen und Deutungsweisen bewegen (vgl. Habermas 1985: 348f.). Die in aller Regel unreflektierte Annahme, in einer Welt geteilter Gewissheiten zu leben, wird irritiert und mit plötzlicher Fremdheit konfrontiert. Verfolgt man diesen Gedanken weiter, dann lässt sich die durch das höllische Gedächtnis evozierte Sinnlosigkeit mit Ronald Hitzler als eine »Krise der Mitmenschlichkeit« (Hitzler 2012: 35) fassen. Am Beispiel von Menschen im sogenannten Wachkoma zeigt Hitzler nicht nur, dass das Verstehen des Anderen einen per se überaus voraussetzungsreichen Prozess darstellt.26 Vielmehr wird durch die Erschütterung als gegeben angenommener Verstehensmöglichkeiten auch die Frage virulent, ob man es beim Gegenüber überhaupt noch mit einem anderen ›wie ich‹ zu tun hat. Die daraus resultierenden »Zweifel am Statthaben von Kommunikation und Interaktion, Zweifel am Gelingen von Intersubjektivität« (ebd.: 1) sind mit Blick auf Deborah Wearing und die von Jill Price berichteten Erfahrungen mit ihren engsten Vertrauten auch in den beiden Fallbeispielen offensichtlich. Weder Clive Wearing noch Jill Price können ihre Erfahrungen anderen verständlich machen und sind an vielen Stellen nicht in der Lage, Situationen anschlussfähig zu definieren oder sinnhaft an die sie herangetragenen Situationsdefinitionen anzuschließen. Dementsprechend müssen andere – allen voran Angehörige und Freunde – Deutungen wie den beschriebenen Proust’schen Traum (er-)finden, die ohne das aktive Zutun von Price und Wearing Sinn setzen und ihren Zustand beziehungsweise ›das, was ist‹ in gleichsam stellvertretender Weise interpretieren. Für die deutenden Akteure zweifelhaft bleibt dabei jedoch nach wie vor, »ob dieser individuelle Organismus, mit dem man zu tun hat, (noch) die Identität jenes alter ego appräsentiert, das zu sein ego diesem Menschen attestiert hat« (ebd.: 36; Herv. i.O.), bevor die Gedächtnisproblematik so wirkmächtig geworden ist. Damit ist nicht gemeint, dass eine vollständige Repräsentation von alter im Bewusstsein von ego prinzipiell möglich wäre: das App26

Dieser Prozess kann als ein »mehrstufiger Decodierungsvorgang« beschrieben werden: »Der Wahrnehmung gegeben ist zunächst etwas Präsentes. Im einfachsten Falle verweist das Präsente auf die Appräsentation von etwas aktuell Vorhandenem und/oder Statthabendem. Begreife ich das Appräsentierte als mit einer intendierten Kundgabe geschehend, deute ich es als kommunikativen Akt. Die Wahrnehmung eines kommunikativen Aktes legt a priori nahe, das sich Appräsentierende sei ein alter ego. Dieses naheliegende Attest wiederum wird in aller Regel anhand alltagspragmatischer Kriterien daraufhin überprüft, ob das sich Appräsentierende mir überhaupt ›irgendwie‹ und wenn ja, in welcher Weise und in welchem Maße es mir ›ähnlich‹ ist.« (Hitzler 2012: 10; Herv. i.O.)

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räsentierte, so schreibt Husserl, kann »nie wirklich zur Präsenz kommen […], also zu eigentlicher Wahrnehmung« (Husserl 1950: 142) – und dies gilt, wie Hans-Georg Soeffner (2010) zeigt, auch für die Appräsentation eines anderen Ichs. Der springende Punkt ist vielmehr, dass ego von alter gedeutet werden muss, ohne dass im weiteren Verlauf eine kommunikative Validierung dieser Deutung stattfinden würde – oder gar könnte. Das in jeder sozialen Situation notwendige Fremdverstehen stößt mit dem höllischen Gedächtnis demnach auf eine Grenze, die dem nahekommt, was Michael Schetsche als »maximale Fremdheit« bezeichnet. Schetsche (2004; Schetsche et al. 2009) reserviert diesen Begriff zwar für die Begegnung mit nichtmenschlichen Akteuren wie etwa Tieren, Robotern, Geistern oder Engeln. Gleichwohl ähneln die daraus entstehenden Situationen strukturell durchaus Begegnungen mit Menschen, die nicht oder nur sehr eingeschränkt an sozial geteilten Sinnzusammenhängen und Situationsdefinitionen teilhaben können.27 Für die soziale Praxis heißt das, dass die situativ hergestellte Bedeutung des Anderen stets eine intersubjektiv nicht überprüfbare und damit potenziell scheiternde Deutung darstellt – und dass dies den Akteuren, die mit dem maximal Fremden zu tun haben, auch bewusst ist. Die Brüchigkeit der Individualität, die im vorhergehenden Punkt unter zeitlichen Aspekten beschrieben wurde, kommt vor dem Hintergrund der Sinnlosigkeit des höllischen Gedächtnisses somit auch als eine brüchige Sozialität in den Blick, die durch sinnhaft ergänzende Deutungen des Anderen zwar bearbeitet, jedoch niemals zu einem konsistenten Ganzen zusammengefügt und – etwa im Sinne einer Bastelsozialität – ›repariert‹ werden kann.28 5. Die Verhinderung des Werdens Die sowohl im Falle von Clive Wearing als auch von Jill Price beschriebene Wiederholung des Immergleichen lässt sich schließlich in einem letzten Punkt in zeitlicher Hinsicht als eine temporale Fixierung der Gegenwart begreifen, die in ontologischer Hinsicht mit 27

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Dies zeigt sich etwa an den fünf Minimalanforderungen, die Schetsche et al. (2009: 472f.) für das maximal Fremde als Gegenüber identifizieren: »(a) eine partielle Kompatibilität von Sinnes- und Kommunikationskanälen, (b) irgendeine Form von interner kohärenter Denk- und Entscheidungsinstanz, (c) ein zumindest rudimentäres Selbstbewusstsein, (d) intentionale Handlungsmöglichkeiten und (e) eine prinzipielle Kommunikationswilligkeit.« Wie Hitzler (2012) zeigt, können Routinisierungen und Ritualisierungen jedoch Formen darstellen, mit denen die Fragilität der Deutung des maximal Fremden in der Praxis überdeckt und auch längerfristig anschlussfähig gehalten werden kann.

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der Fixierung eines für die Betroffenen enorm belastenden Seinszustands einhergeht. Wie weiter oben bereits ausgeführt wurde, vergeht die Zeit zwar unter objektiven Gesichtspunkten; im wahrnehmenden Bewusstsein jedoch kann sich keine wie auch immer geartete zeitliche Ordnung etablieren. Entweder türmen sich in der Gegenwart in differenzloser Gegebenheit multiple Zeitschichten auf (totales Erinnern) oder aber eine von jeglichen zeitlichen Orientierungen und Differenzen befreite Gegenwart zieht sich auf den singulären Punkt des jeweils aktuellen geschichtslosen Erlebens zusammen (totales Vergessen). Überträgt man diese Beobachtung auf Fragen der Entwicklung und des individuellen wie sozialen Wandels, dann ist mit dem höllischen Gedächtnis kein Werden im Sinne eines produktiven Absetzens von der Vergangenheit möglich, zeigt sich – mit Gilles Deleuze (1994) gesprochen – keine Differenz in der Wiederholung: In der Hölle wiederholt sich alles immerzu, findet somit zu jeder Zeit »die Konfrontation mit einer ewig gleichförmigen Situation, die Unfreiheit und Monotonie erzeugt« (Alt 2010: 250) statt.29 Dies aber bedeutet, dass es keine individuelle und soziale Zukunft geben kann, in der die Dinge anders oder besser werden könnten. Ein Blick auf die Schrift Die Wiederholung des dänischen Philosophen und Theologen Søren Kierkegaard vermag dieses Argument zu untermauern, da dort die Einheit der Differenz von Wiederholung und Erinnerung in den Vordergrund gerückt wird: »Wiederholung und Erinnerung sind die gleiche Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung; denn dasjenige, woran man sich erinnert, ist gewesen, wird rückwärts wiederholt, während die eigentliche Wiederholung eine Erinnerung in vorwärtiger Richtung ist.« (Kierkegaard 2000: 3) Die Wiederholung stellt hier also einen produktiven Prozess dar, der als praktisch einzuholende Vor-Erinnerung jedoch unmittelbar auf die gedächtnisgestützte Unterscheidung von Vergangenheit und Gegenwart angewiesen ist, um produktiv sein zu können beziehungsweise als zukunftsorientierte Wiederholung einen Unterschied zur Vergangenheit zu machen: »denn das, was wiederholt wird, ist gewesen, sonst könnte es nicht wiederholt werden, aber gerade, dass es gewesen ist, macht die Wiederholung zu etwas Neuem.« (Ebd.: 22) Das Neue speist sich somit direkt aus der Differenz, die durch die 29

Neben Sartres Geschlossener Gesellschaft führt Alt (2010) in seiner Ästhetik des Bösen eine Reihe weiterer literarischer Werke an, die die Monotonie der Wiederholung des Immergleichen als Inszenierungsform des Bösen und Höllischen begreifen.

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Wiederholung des Gewesenen entsteht. Das totale Erinnern und Vergessen verhindert jedoch eine solche produktive Form der Wiederholung, die in ihrem innersten Kern als eine zeitliche Bewegung gedacht ist: Wiederholung bedeutet hier gerade eine differenzlose Wiederholung des Immergleichen. Dies bedeutet aber auch, dass ein himmlischer Neuanfang im Sinne eines bewussten Vergessens einer schlimmen Vergangenheit, wie er noch am Anfang dieses Beitrags beschrieben wurde, in einem solchermaßen ›infernalischen‹ Zusammenhang schlichtweg nicht denkbar ist: Das höllische Gedächtnis kennt keine Vergebung und keine Versöhnung, keinen Fortschritt, keine Entwicklung und keine Bewegung, da es weder im totalen Erinnern noch im totalen Vergessen eine Vergangenheit gibt, die vergehen würde. Der Alltag von Clive Wearing und Jill Price hat damit vor allem eines gezeigt: Nimmt man dem Gedächtnis die Möglichkeit, auf der Grundlage von Wahrnehmungen und Erfahrungen Selektivitäten auszubilden, die es erlauben, bestimmte Dinge zu erinnern und andere zu vergessen, so werden das Bewusstsein und das Handeln in einen wahren Teufelskreis gestoßen. Dantes Inferno, so kann man zumindest vermuten, wäre demgegenüber wohl das Paradies.

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Hans Magnus Enzensbergers Zahlenteufel: Entdämonisierung dank eines Funktionsträgers der Hölle? Peter Ullrich

Übersicht Bei dem im Jahr 1997 veröffentlichten Buch Der Zahlenteufel von Hans Magnus Enzensberger handelt es sich laut Untertitel um Ein Kopfkissenbuch für alle, die Angst vor der Mathematik haben. Die menschliche Hauptfigur des Buches, der elfjährige Schüler Robert, hat, strenggenommen, keine Angst vor der Mathematik, sondern hasst »alles, was mit Mathematik zu tun hat« aufgrund seines Mathematikunterrichts mit »äußerst langweiligen Rechenaufgaben« (Enzensberger 1999: 2). In zwölf Traumsequenzen begegnet ihm ein Zahlenteufel, der ihn in die »spannende Welt der Mathematik« (ebd.: IV) einführt und dadurch sein Verhältnis zu dieser so weit verbessert, dass es Robert in der abschließenden Realsequenz gelingt, eine in seinem Mathematikunterricht gestellte, zunächst langweilig und zeitraubend erscheinende Aufgabe elegant und schnell zu lösen. Bezieht man diese Inhaltsskizze auf die Fragestellung des Symposiums, so fallen zunächst Übereinstimmungen auf: Auch ein Zahlenteufel ist ein Funktionsträger der Hölle. Die Begegnung Roberts mit diesem ist nicht durch eine individuelle Schuld des Erstgenannten verursacht: Der Besuch einer weiterführenden Schule ist gesetzlich vorgeschrieben, und zu deren Lehrplan gehört auch der Mathematikunterricht. Weiterhin ist der Kontakt Roberts mit dem Zahlenteufel zeitlich begrenzt. Jedoch zeigen sich auch Unterschiede beziehungsweise Weiterentwicklungen der Fragestellung: Selbst, wenn Robert zunächst Vorbehalte gegenüber dem Zahlenteufel hat, erweist sich dieser im Verlauf der Handlung als ›positive‹ Figur, die nicht nur das Verhältnis Roberts zur Mathematik verbessert,

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sondern hierdurch auch sein Leben erleichtert. Das ist schon sehr viel für einen ›Funktionsträger‹ der Hölle. Weiterhin stellt sich damit die Frage, ob die Hölle – zumindest die, aus der dieser Teufel stammt – überhaupt noch ein Ort der Verdammnis ist und nicht andere Orte diese Funktion übernommen haben, etwa die Mathematik und speziell der Mathematikunterricht. Zugegebenermaßen würde sich der Autor des vorliegenden Textes bei einer derartigen Interpretation unwohl fühlen, da er kein Soziologe, sondern Mathematiker und Mathematikdidaktiker ist. Enzensberger ist der Mathematik jedoch freundlich gesonnen in dem Sinne, dass er zwar eine Zahlenhölle präsentiert, diese aber so schildert, dass Robert und der Zahlenteufel in eine Diskussion darüber geraten, ob diese nicht doch ein Zahlenhimmel sei. Diese Zweideutigkeit könnte man allerdings auch zum Anlass nehmen für eine ›Wende zurück‹: In der klassischen Vorstellung von ›Hölle‹ haben Teufel nicht nur die Aufgabe, für verdammenswertes Tun zu bestrafen, sondern auch, zu diesem Tun zu verführen. Der Mathematikunterricht löst zwar die Kontaktaufnahme des Zahlenteufels mit Robert aus, kann es aber aufgrund seiner endlichen zeitlichen Dauer höchstens zum Range eines Fegefeuers bringen. Könnte es somit sein, dass der Zahlenteufel in Wirklichkeit die Mathematik nur zum Schein entdämonisiert, um menschliche Seelen in ihr Verderbnis zu locken? Angesichts dieser Komplexität muss die Analyse etwas ausgreifen: Zunächst wird ein Blick auf das Verhältnis von klassischer Hölle und Mathematik geworfen. Danach wird der Inhalt des Buches Der Zahlenteufel beschrieben und analysiert, sowohl unter Berücksichtigung literarischer als auch mathematischer Aspekte. Insbesondere wird auf die bereits erwähnte Ambivalenz von Zahlenhölle und Zahlenhimmel eingegangen. Abschließend wird kurz die Frage angesprochen, welche der beiden Interpretationen heutzutage eher von Bedeutung ist.

Hölle und ›Mathematik‹ Höllenvorstellung und Mathematik beanspruchen beide einerseits, Aussagen zumindest für die Gesamtdauer der Zeit zu machen. Sie sind aber andererseits nicht gleich mit der Schöpfung beziehungsweise dem Urknall entstanden: Als von unmittelbaren Anwendungen losgelöste Wissenschaft kann man die Mathematik ungefähr datieren auf die Zeit der Keilschrifttafel Plimpton 322, in der bis zu dekadisch fünfstellige pythagoräische Tripel aufgelistet sind

Hans Magnus Enzensbergers Zahlenteufel

und die aus der Zeit Hammurabis, also circa 1.700 v. Chr., stammt. Entsprechend erwähnen die älteren Bücher des Alten Testaments als Jenseitsvorstellung nur den »Scheol« als einen Ort, wo nichts geschieht. Die vor- und frühmoderne Vorstellung einer mit aktiv quälenden Elementen versehenen Hölle setzt erst nach dem babylonischen Exil ein (597-538 v. Chr.), insbesondere im hellenistischen Judentum und dann vornehmlich im Christentum.

Augustinus von Hippo (354-430) So liest man beim Kirchenvater Augustinus von Hippo Unerfreuliches über die »mathematici« (Augustinus, De genesi ad litteram libri duodecim, Liber secundus, XVII, 37): »Quapropter bono christiano, sive mathematici, sive quilibet impie divinantium, maxime dicentes vera, cavendi sunt, ne consortio daemoniorum animam deceptam, pacto quodam societatis irretiant« Dies wird häufig übersetzt als: »Daher soll sich der gute Christ hüten vor den Mathematikern und all denen, die leere Voraussagen zu machen pflegen, schon gar dann, wenn diese Vorhersagen zutreffen. Es besteht nämlich die Gefahr, dass die Mathematiker mit dem Teufel im Bunde den Geist trüben und in die Bande der Hölle verstricken.« (Beutelspacher 2009: 108; Weissinger 1961: 3) Augustinus stellt die »mathematici« also auf eine Stufe mit den (im Originaltext eher neutralen) »daemonibus« beziehungsweise (in der deutschen Übersetzung) dem »Teufel« und sieht sie sozusagen als Lieferanten an, die »in die Bande der Hölle verstricken«.1

Codex Justinianus Während der Text des Bischofs von Hippo eher theologisch-abstrakt ist, gibt es aus der Spätantike auch konkrete Rechtsvorschriften über die ›Mathematik‹. So findet sich im Codex Justinianus aus dem Jahre 528 die auf die Kaiser Diokletian (244-311) und Maximian (240-310) zurückgehende Regelung aus

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Man beachte, dass nach Augustinus´ Meinung zutreffende Voraussagen verwerflicher sind als nichtzutreffende; Zukunftsforscher sind demnach unfähig oder des Teufels.

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dem Jahr 294, also noch vor den Lebzeiten von Augustinus (Codex Justinianus, aus 9.18.2): »Ars […] mathematica damnabilis interdicta est.« (»Die verdammenswerte mathematische Kunst […] ist verboten.«) Dies liest sich so, als sei bereits das ›Kleine Einmaleins‹ untersagt und zudem dem Seelenheil der Lernenden abträglich. An der Ellipse im obigen Zitat fehlt allerdings ein »hingegen«. Vollständig lautet Abschnitt 9.18.2 des Codex Justinianus wie folgt: »Artem geometriae discere atque exerceri publice intersit. Ars autem mathematica damnabilis interdicta est.« (»Es liege im öffentlichen Interesse, die geometrische Kunst zu erlernen und auszuüben. Die verdammenswerte mathematische Kunst hingegen ist verboten.«)

Klärung des Begriffes ›Mathematik‹ Somit muss der Begriff der ›Mathematik‹ in den antiken Texten anders verwendet werden als heutzutage, wo man die Geometrie als eines deren Teilgebiete ansieht. Den Beleg, dass sich zumindest das theologische Verdikt auch nicht auf die Arithmetik bezieht, findet man bei niemand anderem als Augustinus selbst: In De civitate Dei ist für ihn die Vollkommenheit der göttlichen Schöpfung ein zentrales Thema. Insbesondere im elften Buch, Kapitel 30 führt er aus, dass die Tatsache, dass Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen habe – und nicht etwa in fünf oder sieben –, damit zusammenhänge, dass nicht nur die Schöpfung vollkommen sei, sondern auch die Zahl Sechs; genauer gesagt handelt es sich dabei um die kleinste ›vollkommene Zahl‹. In ›schönster‹ Tradition der (sogar voreuklidischen) Arithmetik der griechischen Klassik bedeutet letzteres die Charakterisierung der Sechs als »der ersten Zahl, die sich aus ihren Teilungszahlen ergänzt« (Augustinus, De civitate Dei, Liber XI, Überschrift von Caput XXX). ›Moderner‹ formuliert: Sechs ist die kleinste der (›natürlichen‹) Zahlen 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, …, die gleich der Summe ihrer glatt aufgehenden und von ihr selbst verschiedenen Teiler ist, das heißt von 1, 2 und 3. Und für Augustinus ist das keineswegs eine Randbemerkung; in dem genannten Kapitel diskutiert er ausführlich diese arithmetische Frage und beschließt es mit einem Lobpreis der Vollkommenheit der Zahl Sechs2 : 2

Hingegen tritt die Zahl 666, also die dreifache Sechs, im Neuen Testament in der Offenbarung des Johannes, Kapitel 13, Vers 18 negativ belegt auf als die Zahl des »Tieres«, welches häufig mit dem ›Antichristen‹ identifiziert wird. Die Zuordnung von Zahlen zu Worten, speziell Namen, die sogenannte Gematria, beruht dabei auf der im antiken nordöstlichen Mittelmeerraum üblichen Praxis, Buchstaben systematisch Zahlenwerte zuzuordnen, beginnend mit der Eins für Aleph/Alpha. Die Zahlen für die Buchstaben

Hans Magnus Enzensbergers Zahlenteufel

»Das glaubte ich in Kürze erwähnen zu sollen, um die Vollkommenheit der Sechszahl ins Licht zu rücken, die, wie gesagt, die erste ist, die sich aus der Summe ihrer Teilungszahlen vervollständigt; und in ihr hat Gott seine Werke vollendet. Es ist also die Bedeutung der Zahl nicht zu unterschätzen, vielmehr erhellt, wenn man genau zusieht, in vielen Stellen der Heiligen Schrift, wie hoch sie zu werten ist. Und nicht ohne Grund heißt es zum Lobe Gottes: ›Alles hast Du nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet‹.« (Augustinus, De civitate Dei, Liber XI, Ende von Caput XXX) Gegen welche Art von ›Mathematik‹ richten sich dann die weiter oben zitierten Passagen? Dazu betrachte man die zwei Untergruppen der »septem artes liberales«: Neben dem Trivium aus Grammatik, Rhetorik und Dialektik/Logik gibt es das Quadrivium aus Arithmetik, Geometrie, musikalischer Harmonielehre und Astronomie. Diese Bezeichnung wurde aber erst von Boethius (477-524) eingeführt, gerade zur Zeit des Codex Justinianus; zuvor wurden die letztgenannten vier Bereiche in der Tradition der Pythagoräer unter dem Titel Mathematik zusammengefasst. Lässt man die musikalische Harmonielehre außer Acht, so bleibt als Schuldige für die obigen Verdikte gegenüber der Mathematik nur die Astronomie übrig, genauer deren, mit Johannes Kepler (1571-1630) gesprochen, »närrisches Töchterlein«, die Astrologie (die aber, gerade im Falle Keplers, ihre Mutter häufig genug ernähren musste).3 Für die obigen ›Mathematiker‹ lese man also ›Astrologen‹ – wie es auch in der ersten deutschen Gesamtübersetzung von Carl Johann Perl steht und zudem die genannten (nicht) zutreffenden Voraussagen verständlich macht – und für ›Mathematik‹ ›Astrologie‹. Dann hat man die

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eines Wortes kann man aufaddieren und diesem die entstehende Summe zuordnen. Schreibt man etwa »nerone caesar« in griechischen Buchstaben, so erhält man auf diese Weise gerade 666, was eine in der Zeit nach den Christenverfolgungen durch den römischen Kaiser Nero plausible Auflösung ist. Allerdings gibt es auch andere Möglichkeiten, die 666 zu erzeugen, etwa, indem man die Zahlen des ASCII-Codes für BILL GATES III aufaddiert. Zudem ist 666 nur die mehrheitliche Lesung der Stelle aus der Offenbarung: Der Papyrus Oxyrhynchus 4499 aus der Mitte des dritten nachchristlichen Jahrhunderts gibt stattdessen 616 als ›Zahl des Tieres‹ an, ebenso die auf Huldrych Zwingli zurückgehende Zürcher Bibel. »Es ist wol dieseAstrologia ein närrisches Töchterlin […] aber, lieber Gott, wo wolt ihre Mutter die hochvernünfftige Astronomia bleiben, wann sie diese ihre närrische Tochter nit hette, ist doch die Welt noch viel närrischer […], dass die Mutter gewißlich Hunger leyden müßte, wann die Tochter nichts erwürbe« (Kepler, Numero VII).

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›richtige‹ Personengruppe beziehungsweise die ›richtige‹ Disziplin, auf die sich Augustinus und der Codex Justinianus beziehen. Wenn man so will: Der ›höllische‹ Hauch, der die Mathematik in den betreffenden Zitaten umweht, kommt von ihren Anwendungen her, nicht von ihr selbst. Alternativ kann man ihn auch so erklären, dass eigentlich zu trennende Disziplinen unter einem gemeinsamen Titel zusammengefasst und dann gemeinsam für die Besonderheiten einzelner verantwortlich gemacht wurden – heutzutage finden ähnliche Zwangsvereinigungen statt unter den Namen ›Sozial-‹ oder auch ›Bildungswissenschaften‹. Jedenfalls hatten Antike und Mittelalter keinerlei Veranlassung, die Mathematik, im heutigen Sinne interpretiert, als ›Höllenwerk‹ anzusehen. Selbst Galileo Galilei (1564-1642), der später als gottloser Ketzer beschimpft wurde, hatte sich anlässlich seiner Antrittsvorlesung als Professor der Mathematik in Pisa ganz sachlich mit der ›Ausdehnung der Hölle‹ auf der Basis der Angaben in Dantes Göttlicher Komödie auseinandergesetzt.

Warum ein Zahlenteufel? Wenn die Mathematik gar nicht teuflisch ist und sich sogar zum Lobe Gottes heranziehen lässt, wieso wählt Enzensberger dann einen Zahlenteufel zur Titelfigur seines Buches?

Wer könnte ein Zahlenteufel sein? Dass diese Frage keinesfalls trivial ist, wird klar, wenn man sich vorstellt, man wisse von dem Buch Der Zahlenteufel nur, dass es darum gehe, dass die menschliche Hauptfigur, der Schüler Robert, ein – vorsichtig formuliert – ›gespanntes‹ Verhältnis zur Mathematik habe: »Daran ist Dr. Bockel schuld, der Robert mit äußerst langweiligen Rechenaufgaben plagt.« (Enzenzberger 1999: 2) In der Tat ergab eine jüngst im Rahmen einer Masterarbeit an einem katholischen Gymnasium durchgeführte Umfrage, dass circa ein Fünftel aller Schüler Angst vor dem Schulfach Mathematik hat (vgl. Holthoff 2018); der entsprechende Anteil mit Angst vor der Hölle in klassischer Vorstellung wurde leider nicht erhoben. Würde das Buch die durch diese empirischen Daten naheliegende Erwartungshaltung im Sinne eines traditionellen Schulromans bedienen, so könnte Zahlenteufel der schulinterne oder doch zumindest von

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Robert vergebene Spitzname von Herrn Dr. Bockel sein. Hierfür spricht, dass in dessen Namen der ›Bock‹ steckt, und der Teufel in der traditionellen Beschreibung an Stelle von Füßen die Hufe eines Ziegenbocks hat. Weiterhin besagt das obige Zitat, dass Dr. Bockel Robert ›plagt‹, was zur üblichen Tätigkeit von Teufeln gehört. Diese Version würde auch zum Ansatz des Symposiums passen: Nachdem die Mathematik zwar Ewigkeitsanspruch erhebt, aber aufgrund ihrer positiven theologischen Bewertung nicht als klassische Hölle taugt, ist der Schulunterricht im Fach Mathematik ein geeigneter Kandidat für eine spätmoderne Hölle: Zumindest einige der von ihm Betroffenen empfinden ihn als äußerst unangenehm, sie befinden sich in ihm ohne eigenes Verschulden, und er ist zeitlich begrenzt. Eine Alternative zu dieser Besetzung der Rolle des Zahlenteufels wäre, dass Robert im Zuge einer juvenilen psychischen Störung eine offene Aversion gegenüber der Mathematik entwickelt hat. Seine Reaktion, insbesondere auf Zahlen, könnte so heftig sein, dass, gewissermaßen als verkürzende klinische Diagnose, das Etikett Zahlenteufel für ihn angemessen erscheint. In der Tat zeigt Robert in den ersten Nächten bei Begegnungen mit mathematischen Themen ein aggressives Verhalten und droht: »Wenn du mich auch noch im Traum mit Hausaufgaben plagst, dann schreie ich. Das ist Kindesmißhandlung!« (Enzensberger 1999: 14). Man könnte aber auch vermuten, dass in der Tat ein Teufel als Funktionsträger der Hölle auftritt: Die Hölle könnte ja disziplinär differenziert ›vorgehen‹ in dem Sinne, dass ihre Opfer nach Tätigkeit beziehungsweise Berufsstand klassifiziert werden und es spezialisierte Teufel für jede Gruppe gibt. Für diejenigen Teufel, die für Mathematiker, Mathematiklehrkräfte, Informatiker, Physiker, Wirtschaftswissenschaftler, Kaufleute, quantitative Gesellschaftswissenschaftler usw., zuständig wären, wäre Zahlenteufel eine angemessene Bezeichnung. Ein derartiger Zahlenteufel könnte beispielsweise Robert ansprechen und diesem die Beseitigung von Herrn Dr. Bockel zusagen, natürlich gegen eine entsprechende Gegenleistung. Nach allem, was man über das Tarifsystem der klassischen Hölle weiß, ginge es dabei mit hoher Wahrscheinlichkeit um Roberts Seele.        

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Die Darstellung des Zahlenteufels im Buch In der Tat tritt in dem Buch ein leibhaftiger Zahlenteufel auf, ein recht ansehnlicher sogar: Rotraut Susanne Berner, die die Abbildungen im Text gestaltet hat, stellt ihn zwar dar in den klassischen Höllenfarben Rot (für Haut und Jacke) und Schwarz (für Haare, Augenbrauen, Kinn- und Schnurrbart, Krawatte, Kniebundhosen und Schuhe); auch weist sein Kopf zwei Hörner auf, die fast so lang sind wie der Schädel hoch. Durch die Zierlichkeit, mit der der Zahlenteufel – zumindest im Regelfall – gezeichnet wird, besitzt seine Erscheinung jedoch eine durchaus ansprechende Eleganz, die durch die häufige Verwendung eines auch als Zeigestocks nutzbaren Spazierstocks unterstrichen wird, womit er in deutlichem äußeren Kontrast steht zu dem eher unvorteilhaft rundlich gezeichneten Mathematiklehrer Dr. Bockel. Auch sind die beiden Hörner des Zahlenteufels eher schlanke Stangen im Vergleich zu stattlichen Widderhörnern, die man bei Satan persönlich erwarten würde. Allerdings ist Vorsicht angezeigt hinsichtlich der Einschätzung dieses Teufels: An späterer Stelle des Buches wird erwähnt, dass der Zahlenteufel recht weit unten stehe in der Hierarchie (Enzensberger 1999: 107). Die kleidsamen Kniebundhosen könnten den eigentlich obligatorischen Kuhschwanz verbergen. Und dass der Zahlenteufel statt über Bockshufe über eher schmale Füße verfügt, könnte der plastischen Chirurgie zu verdanken sein. Zudem kann der Zahlenteufel seine Gestalt ändern; mathematisch gesprochen, kann er ›topologische Transformationen‹ auf seinen Körper wirken lassen, das heißt, seine Figur bis zu einem gewissen Grade verwandeln beziehungsweise verformen. Insbesondere kann er seine Größe erheblich verändern (vgl. Enzenzberger 1999: 13, 45, 181). Enzensberger hat ihn also durchaus mit übernatürlichen Fähigkeiten ausgestattet und geht auch sonst angemessen mit ihm um: Seinen Namen, Teplotaxl, erfährt man erst im letzten Teil des Buches (Enzensberger 1999: 235): »Nur die Eingeweihten dürfen wissen, wie ein Zahlenteufel heißt, erwiderte der Alte.« »[D]er Alte« ist eine das ganze Buch über gebräuchliche Bezeichnung für den Zahlenteufel, die es Enzensberger ermöglicht, nicht zu häufig den Teufel beim Namen zu nennen. Selbst Robert sagt in einer der seltenen NichtTraumsequenzen: »Man soll den Teufel nicht an die Wand malen.« (Ebd.: 144) Auch das Malträtieren ist dem Zahlenteufel nicht fremd: »Ich besuche heute nacht noch ein paar Mathematiker. Es macht mir Spaß, die Kerle ein bißchen zu quälen.« (Ebd.: 63)

Hans Magnus Enzensbergers Zahlenteufel

Selbst dieser hierarchisch niedrig angesiedelte Zahlenteufel ist also durchaus ernst zu nehmen. Der zuletzt erwogene alternative Plot für die Handlung des Buches – der Zahlenteufel entsorgt Herrn Dr. Bockel gegen eine angemessene Gegenleistung Roberts – könnte somit durchaus zu Sorgen um dessen Seelenheil Anlass geben. Daher ist es beruhigend, schon zu wissen, dass der Zahlenteufel ›nur‹ Robert ihm unbekannte Seiten der Mathematik nahebringen will. Der Text auf der vierten Umschlagseite des Werkes liest sich fast schon marktschreierisch: »Robert haßt alles, was mit Mathematik zu tun hat. Doch da hat er die Rechnung ohne den Zahlenteufel gemacht! Das putzmuntere, rote Kerlchen erscheint plötzlich in seinen Träumen und will ihm ausgerechnet von Rechenaufgaben erzählen. Robert findet das gemein. Und ehe er sich’s versieht, träumt er sich in zwölf Nächten gemeinsam mit dem Zahlenteufel durch die spannende Welt der Mathematik.«

Was tut der Zahlenteufel? Dass der Zahlenteufel Robert im Traum erscheint, ist insoweit keinesfalls überraschend, als dieser unter schlechten Träumen leidet, auch wenn jene zuvor keine mathematikspezifischen, sondern eher allgemeine Inhalte hatten, wie von einem »riesigen, unappetitlichen Fisch verschluckt« (Enzensberger 1999: 9) zu werden. In insgesamt zwölf, nicht stets aufeinanderfolgenden Nächten stellt der Zahlenteufel Robert in Traumerscheinungen bislang unbekannte Aspekte der Mathematik vor, worüber dieser zunächst keinesfalls erfreut ist – man vergleiche das obige Zitat über »Kindesmißhandlung« oder auch seine Vorsicht gegenüber dem Zahlenteufel: »Ich trau dir nicht.« (Ebd.: 14) Mit der Beharrlichkeit eines von seinem Fach überzeugten Lehrers arbeitet der Zahlenteufel jedoch sein Curriculum ab. Enzensberger verwendet dabei teilweise unkonventionelle Bezeichnungen für mathematische Operationen, etwa »hopsen« für Potenzieren und Quadrieren oder »einen Rettich ziehen« für das Ziehen von Wurzeln. Übersetzt in die Fachterminologie liest sich die Liste der behandelten Themen wie folgt: • •

1. Nacht: Erzeugung der natürlichen Zahlen und der Stammbrüche aus der Zahl Eins 2. Nacht: dekadisches Zahlsystem, insbesondere Rolle der Null

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• • • • • • • • •

3. Nacht: Primzahlen, Sieb des Eratosthenes 4. Nacht: Dezimalbruchentwicklung rationaler Zahlen, Irrationalität √ von  2 5. Nacht: figurierte Zahlen, speziell Dreieckszahlen 6. Nacht: Fibonacci-Zahlen 7. Nacht: Pascalsches Dreieck (Binomialkoeffizienten) 8. Nacht: Permutationen/Fakultät, Kombinationen ohne Wiederholung/ Binomialkoeffizienten 9. Nacht: abzählbare Mengen, Summation der geometrischen Reihe für den Spezialfall 1/2, Divergenz der harmonischen Reihe 10. Nacht: goldener Schnitt, Kettenbrüche, Eulersche Polygonformel, Eulersche Polyederformel, Platonische Körper 11. Nacht: travelling salesman-Problem

Von fachwissenschaftlicher Warte her betrachtet, handelt es sich hierbei um Themen, mit denen man Inhalte und insbesondere Arbeitsweisen der Mathematik Personen nahebringen kann, die dieser eher fernstehen. Bereits Inhalte der universitären Analysis-Anfängervorlesung wie die Lagrange-Form des Restgliedes in der Taylorformel werden hingegen vom Zahlenteufel als ihm unverständlich bezeichnet (vgl. ebd.: 107). Betrachtet man das Werk als Bildungs- beziehungsweise Entwicklungsroman, so findet die eigentliche Klimax in der elften Nacht statt, in der Robert die Frage nach Grund und Sinn stellt: »Die ganze Woche, [sagte Robert zum Zahlenteufel,] seit dem letzten Mal, habe ich mir überlegt, wie das, was du mir gezeigt hast, zusammenhängt. Gut, du hast mir eine Menge Tricks verraten, das stimmt. Aber ich frage mich: Warum? Warum kommt bei diesen Tricks das heraus, was dabei herauskommt? […] Und warum stimmt das, was du sagst, immer?   – Ah, sagte der Zahlenteufel, so ist das. Du willst nicht nur herumspielen mit den Zahlen? Du willst wissen, was dahintersteckt? Die Spielregeln? Den Sinn des Ganzen? Mit einem Wort, du stellst dieselben Fragen wie ein richtiger Mathematiker.« (Ebd.: 216) Sozusagen als ›Lohn‹ für diesen mentalen Durchbruch darf Robert in der nächsten, zwölften Nacht an einem gemeinsamen Abendessen in der Gemeinschaft der Zahlenteufel teilnehmen. Am Ende des Abendessens wird Robert der »pythagoräische Zahlenorden fünfter Klasse« (ebd.: 248) verliehen.

Hans Magnus Enzensbergers Zahlenteufel

Handelte es sich bei dem bisher Geschehenen ausschließlich um Traumsequenzen, so wird jetzt, am Ende des Buches, die Barriere zur Realität durchbrochen: Der Zahlenorden ist auch nach Roberts Erwachen noch vorhanden und gibt ihm die Kraft, im Mathematikunterricht eine von Herrn Dr. Bockel gestellte langweilige Rechenaufgabe, die Summation der natürlichen Zahlen von 1 bis 38, schnell und elegant zu lösen und damit über diesen zu triumphieren: »Ich hab’s, rief er [Robert]. Das ist kinderleicht. – So? sagte Dr. Bockel und ließ seine Zeitung sinken. – 741, sagte Robert ganz leise. Es wurde vollkommen still in der Klasse. – Woher weißt du das? fragte Dr. Bockel. Ooch, antwortete Robert, das rechnet sich doch fast von selbst. Und er griff nach dem kleinen Sternchen unter seinem Hemd [dem ›pythagoräischen Zahlenorden fünfter Klasse‹] und dachte dankbar an seinen Zahlenteufel.« (Ebd.: 253) Für mathematikhistorisch Bewanderte wird Robert damit zu einem ›Erben‹ von Carl Friedrich Gauß (1777-1855), welcher als Zehnjähriger die entsprechende Aufgabe für die natürlichen Zahlen von 1 bis 100 mit dem gleichen Trick gelöst haben soll. Angesichts dieses für Robert doch sehr positiven Wirkens des Zahlenteufels drängt sich die Frage auf, warum gerade ein Zahlenteufel auftritt; ein Zahlenzauberer oder Zahlenmagier hätte es auch getan. In gewisser Weise ›verplappert‹ sich Enzensberger beziehungsweise der Zahlenteufel in dieser Hinsicht und bezeichnet Robert mehrfach als »Zauberlehrling« (ebd.: 77, 247 u.a.). Somit könnte der Verdacht aufkommen, dass das Auftreten eines Zahlenteufels nur einer ›Marketingstrategie‹ geschuldet sei. Falls dem wirklich so war, dann erwies sich diese als sehr erfolgreich: Die erste Auflage des Buches erschien 1997, die zweite 1999 und die dritte 2018. Angesichts der Thematik handelt es sich dabei also um einen kommerziellen Erfolg. Zudem erhielt es den von Radio Bremen und der Zeit verliehenen Kinder- und Jugendbuchpreis Luchs. Auch in der akademischen Mathematik-Kommunität wurde es positiv aufgenommen: Ein Jahr nach seinem Ersterscheinen fand in Berlin zum ersten Mal seit 1904 wieder auf deutschem Boden der International Congress of Mathematicians statt. Enzensberger wurde eingeladen, bei dieser Gelegenheit einen öffentlichen Vortrag zu halten, der sich unter dem Titel Zugbrücke außer Betrieb mit der Rolle der Mathematik in der Kultur auseinandersetzte. Das Buch Der Zah-

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lenteufel verfügt also auch über Anerkennung von Seiten der institutionellen Mathematik.

Verwischte Grenzen Ein Rückblick zur prämodernen Teufelsvorstellung Nach diesen Beschreibungen sei ein Zwischenresultat festgehalten: Abstrahiert man kurzzeitig von der Mathematik, so erweist sich der Zahlenteufel als eine Art ›Reiseführer‹ für Robert, der ihn stufenweise – eben »in zwölf Nächten« – in bislang unbekannte Bereiche einführt. Das Verhältnis der beiden zueinander wird dabei schon in der sechsten Nacht als ›positiv‹ beschrieben: »inzwischen waren die beiden nämlich beinahe alte Freunde geworden« (Enzensberger 1999: 108). Ist die Situation erst einmal derartig allgemein formuliert – ein Lieblingsverfahren der Mathematik –, drängt sich ein Vergleich mit dem Standardwerk der Höllenbeschreibung auf, der Divina Commedia von Dante Alighieri (12651321): Robert entspricht Dante, der von drei Personen durch die Jenseitsreiche geführt wird, von Vergil durch Hölle und Fegefeuer, von Beatrice durch das irdische Paradies und von Bernhard von Clairvaux durch das Empyreum, die Wohnung der Seligen, die Gottes Herrlichkeit angesichtig werden. Selbst, wenn man den Mathematikunterricht mit dem Fegefeuer oder der ›postmodernen‹ Hölle gleichsetzt, hat der Zahlenteufel also zumindest den Status von Vergil erreicht, der zwar ungetauft, aber tugendhaft und zu Prophezeiungen der Ankunft Christi fähig ist, so die ›klassische‹ Sichtweise. Für einen Funktionsträger der Hölle ist das ein beachtlicher Funktionswandel.4

Zahlenhölle oder Zahlenhimmel? Wenn aber der Zahlenteufel eher der ›Gute‹ im Spiel ist, wer ist dann der ›Böse‹? Ein geeigneter Kandidat ist natürlich der Mathematiklehrer Dr. Bockel. Aber selbst für diesen findet der Zahlenteufel freundliche Worte, nachdem Robert ihm sein Leid über dessen langweilige Rechenaufgaben geklagt hat:

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Die Erzählung The dreams in the witch house von Howard Phillips Lovecraft (1890-1937) belegt literarisch, dass das Zusammentreffen von Mathematik und einem Teufel im Rahmen von Traumsequenzen einen sehr viel unerfreulicheren Verlauf nehmen kann.

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»Ich glaube, du tust ihm unrecht. Dein Dr. Bockel muß sich tagaus, tagein mit euren Schulaufgaben herumplagen und darf nicht von einem Stein zum anderen springen wie wir, ohne Lehrplan, einfach so nach Lust und Laune. Er tut mir richtig leid, der Arme […] – Manche von uns, sagte der alte Meister, tun sich noch viel schwerer als euer Bockel. Einer von meinen älteren Kollegen zum Beispiel, der berühmte Lord Rüssel aus England, hat sich einmal in den Kopf gesetzt, zu beweisen, daß 1 + 1 = 2 ist.« (Ebd.: 223f.) Enzensberger ändert nicht nur mathematische Fachtermini ab, sondern auch die Namen von Mathematikern: Hinter »Lord Rüssel«, also sozusagen dem ›ultimativen‹ Dr. Bockel, verbirgt sich kein Geringerer als der analytische Philosoph, Literaturnobelpreisträger, Friedensaktivist und bekennende Atheist Bertrand Russell (1872-1970). Dem Leser wird dabei nicht einmal der Anblick des auch in der Mathematik berüchtigten Beweises von »1+1=2« auf Seite 362 (!) der Principia mathematica von Alfred North Whitehead (1861-1942) und Bertrand Russell erspart (vgl. Enzensberger: 225). Wenn aber nicht einmal Herr Dr. Bockel als die ›Verkörperung‹ des Mathematikunterrichts der oder das ›Böse‹ ist, wer oder was kann es dann sein? Die Mathematik und der Zahlenteufel sind es offenbar nicht, wie bereits dargelegt wurde. Vielleicht ist diese Frage auch falsch gestellt: Wenn der Zahlenteufel eine positive Funktion innehat, sind dann vielleicht ›Gut‹ und ›Böse‹ gar nicht unterscheidbar? Zumindest die Frage, ob er in der Zahlenhölle (wie es eigentlich zu erwarten wäre) zu Hause ist oder in einem Zahlenhimmel beziehungsweise Zahlenparadies, wird anlässlich des feierlichen Abendessens erörtert, zu dem Robert in der zwölften, letzten Nacht eingeladen wird, nachdem er in der Nacht zuvor die Frage nach Begründungen gestellt hat. Bereits auf der Einladung heißt es: »Hiermit wird Robert, Schüler des Zahlenteufels Teplotaxl zum großen Abendessen in der Zahlenhölle/im Zahlenhimmel eingeladen.« (Ebd.: 235) Dass Himmel und Hölle nahe beieinander sein können, ist nichts Neues: »das dorf hollywood ist entworfen nach den vorstellungen die man hierorts vom himmel hat. Hierorts hat man ausgerechnet, dass gott himmel und hölle benötigend, nicht zwei etablissements zu entwerfen brauchte, sondern nur ein einziges, nämlich den himmel. dieser dient für die unbemittelten, erfolglosen als hölle.« (Brecht 1942)

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Im Zahlenteufel wird diese Idee noch weitergetrieben: Angesichts der Ambivalenz der Ortsbezeichnung in der Einladung gerät Robert ins Grübeln: »Komisch, murmelte Robert. Was soll denn das heißen: in der Zahlenhölle/im Zahlenhimmel? Entweder das eine oder das andere. – Ach, weißt du, Zahlenparadies, Zahlenhölle, Zahlenhimmel – im Grunde kommt das alles aufs gleiche hinaus, sagte der Alte [Zahlenteufel].« (Enzensberger 1999: 235) Dabei wird das ›Himmlische‹ nachdrücklich betont: Bereits in der dritten Nacht sagt Robert zum Zahlenteufel: »Manchmal hörst du dich an, als wärst du kein Zahlenteufel, sondern ein Zahlenpapst.« (Ebd.: 61) Verglichen mit Dantes Göttlicher Komödie hat der Zahlenteufel, da er Robert beim Abendessen begleitet, nunmehr den Status von Beatrice erreicht. Bei dem ›Ort des Geschehens‹ handelt es sich um einen »langgestreckten, prachtvollen Palast, der hell erleuchtet war« (ebd.: 236) und zudem frei zugänglich: »Hier kommt jeder rein, der wirklich will. Aber wer weiß schon, wo das Zahlenparadies liegt? Deshalb finden nur die wenigsten her.« (Ebd.: 236f.) Die Auswahl der Speisen ist zwar eingeschränkt, da man sich auf solche in Kreisform beschränkt und nur an Torten denkt, deren Qualität aber vorzüglich ist: »Robert hatte noch nie so etwas Köstliches gegessen.« (Ebd.: 246) Die Bewohner des Palastes sind allesamt unsterblich (vgl. ebd.: 239), was sie auf jeden Fall von ›Normalsterblichen‹ abhebt. Sie werden zwar als Zahlenteufel bezeichnet; im Gegensatz zu Teplotaxl sind sie jedoch in menschlicher Gestalt dargestellt, wobei die meisten der explizit genannten historische Personen sind, wenn auch mit leicht abgeänderten Namen: »Lord Rüssel« wurde bereits genannt. »Herr Eule« soll offensichtlich Leonhard Euler (1707-1783) sein; dieser hätte sich allerdings als treuglaubender Pastorensohn geweigert, mit Zahlenteufeln unter einem Dach zu leben oder gar selbst als ein solcher bezeichnet zu werden. Etwas unzugänglich wird ein »Professor Grauß« dargestellt; hier liegt der ›Witz‹ darin, dass Carl Friedrich Gauß, wie bereits erwähnt, sozusagen ein Vorläufer Roberts war hinsichtlich der Addition der ersten natürlichen Zahlen. Pythagoras hingegen wird nicht nur sein richtiger Name zugestanden, sondern gleich ein eigener Tempel. Damit ist man schon bei den höchsten Rängen von Zahlenhimmel beziehungsweise -hölle angekommen: Die Nr. 2 ist der Erfinder der Zahl 0 (vgl. ebd.: 245). Die unsichtbar bleibende Nr. 1, das

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»Oberhaupt aller Zahlenteufel« hingegen ist die Person, die mit dem Zählen angefangen, also die Zahl 1 erfunden hat (vgl. ebd.: 245). Enzensberger lässt Teplotaxl die Möglichkeit erörtern, dass es sich dabei um eine Frau handele – und sei es nur, um die auffällige Geschlechtsungleichverteilung zu kompensieren (vgl. ebd.: 245f.). Vor allem kann man aber hieraus schließen, dass auch er das Oberhaupt noch nie gesehen hat, nach dantescher ›Messlatte‹ also dann doch nicht den Status von Bernhard von Clairvaux erreicht. In dieser Umgebung wird erneut die Frage ›Zahlenhölle versus Zahlenhimmel‹ diskutiert: »Robert staunte. So luxuriös hatte er sich die Wohnung der Zahlenteufel nicht vorgestellt. Von wegen Hölle, sagte er. Ein Paradies ist das! – Sag das nicht. Weißt du, ich kann mich ja nicht beklagen, aber manchmal, nachts, wenn ich mit meinen Problemen nicht weiterkomme, das ist zum Verrücktwerden! Man ist nur einen Schritt von der Lösung entfernt, und dann steht man plötzlich vor einer Mauer – das ist die Hölle [entgegnete der Zahlenteufel]« (Enzensberger 1999: 243f.).

Ausblick Forschenden Mathematikern ist diese Ausprägung der Hölle durchaus vertraut, es gibt aber auch genügend Forschungsinstitute, deren Besuch der Vorstellung vom Zahlenhimmel hinreichend nahekommt. Enzensberger beschreibt mit seiner Zahlenhölle-Zahlenhimmel-Doppeldeutigkeit also durchaus eine gängige Erfahrung in der, insbesondere theoretischen Mathematik. Wie aber sieht es mit den Zahlen im alltäglichen Leben aus – eine Frage, die im Buch nicht aufgeworfen wird. Selbst, wer den Nutzen der Mathematik eigentlich nicht wahrhaben will, befindet sich doch in einem Zahlenhimmel, wenn Rankings ihm eine komplexitätsreduzierende lineare Ordnung liefern, nach der er leicht entscheiden kann. Sogar die meisten politischen Systeme generieren die Legitimität von Entscheidungen durch ›einfaches Auszählen‹ von Wahl- beziehungsweise Abstimmungsergebnissen. Insoweit befindet sich die Menschheit in einem Zahlenparadies. Bei welcher Gelegenheit dieses jedoch zur Zahlenhölle wird, hängt von der betroffenen Person und den Umständen ab: Die Universitäten sind bereits gewohnt, dass die Relevanz von Forschungsgebieten nicht durch Dis-

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kussionen innerhalb der Fachdisziplin festgelegt wird, sondern anhand von ›impact-Faktoren‹ oder der Summe der eingeworbenen Drittmittel. Kunstwerke werden nicht mehr durch professionelle Kritiker beurteilt, sondern anhand der ›Klicks‹, die sie im Internet erhalten. Und social scoring klärt mittels eines Punktesystems, wie viel eine Person für die Gesellschaft wert sei. All dies geschieht nach ›objektiv daherkommenden‹ Zahlenwerten, aber man denke ruhig zurück an die zu Anfang zitierten spätantiken Texte, die vor dem blinden Vertrauen in die ›Mathematik‹ warnen – durchaus mit höllischen Untertönen.

Literatur Augustinus von Hippo (1894): De Genesi ad litteram, hgg. von Joseph Zycha. Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 28.1, Prag/Wien: Tempsky, Leipzig: Freytag. Deutsche Übersetzung von Carl Johann Perl (1961): Über den Wortlaut der Genesis, I. Band, Buch I bis VI, Paderborn: Schöningh, https://digi20.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/d isplay/bsb00046071_00001.html. Augustinus von Hippo (1899): De civitate Dei. hgg. von Emanuel Hoffmann. Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 40.1, Prag/Wien: Tempsky, Leipzig: Freytag. Deutsche Übersetzung von Alfred Schröder (1911-16), Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Bände 01, 16, 28), Kempten, München: Köselsche Buchhandlung, https://bkv.unifr.ch/works/9/versions/20 /divisions/102266. Beutelspacher, Albrecht (2009): »In Mathe war ich immer schlecht…«, Wiesbaden: Springer Vieweg. Brecht, Bertolt (1942): Typoskript der Hollywoodelegien, Bertolt-Brecht-Archiv, Nr.16/57, Akademie der Künste, Berlin: Suhrkamp Verlag, https://kuenste -im-exil.de/KIE/Content/DE/Objekte/brecht-hollywoodelegien.html?cat alog=1. Dante Alighieri (1320/1908): Dantes poetische Werke Bd. I: Die göttliche Komödie – Hölle. Übers. v. Richard Zoozmann, Freiburg: Herder. Enzensberger, Hans M. (1 1997/2 1999/3 2018): Der Zahlenteufel, hier zitiert nach der 2. Auflage 1999, München: Reihe Hanser im Deutschen Taschenbuch Verlag. Holthoff, Pia Franziska (2018): Wie ›real‹ ist die ist die Angst vor Mathematik in der Schule? Emotionen von Schülerinnen und Schülern im Mathema-

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tikunterricht und der Umgang mit ihnen. Unveröffentlichte Masterarbeit an der Universität Koblenz-Landau, Koblenz. Justinianus, Flavius P. (1892): Codex Iustinianus/Corpus iuris civilis. hgg. von Paul Krüger, Berlin: Weidmann. Kepler, Johannes (1610): Tertius interveniens. Das ist Warnung an etliche Theologos, Medicos und Philosophos […], Frankfurt a.M.: Tampach. Lovecraft, Howard P. (1969): »Träume im Hexenhaus«, in: Kalju Kirde (Hg.), Das Ding auf der Schwelle. Deutsche Übersetzung von Dreams in the witch house. Erstveröffentlichung Juli 1933 in Weird Tales, Frankfurt a.M.: Insel Verlag. Weissinger, Johannes (1961): Wesenszüge des mathematischen Denkens. Vortrag gehalten bei der Jahresfeier der Technischen Hochschule Fridericiana zu Karlsruhe am 2. Dezember 1961. Neu hgg. 2008 von Gabriele Dörflinger, Universitätsbibliothek Heidelberg: Heidelberger Texte zur Mathematikgeschichte. Whitehead, Alfred N./Russell Bertrand (1910/1912/1913): Principia mathematica (3 Bände, 1. Auflage), Cambridge: At the University Press.

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Die Hölle der Ästhetik und die Ästhetisierung der Hölle

Die Hölle der Mode Überlegungen zum Immer-Wieder-Neuen im Anschluss an Walter Benjamin Marcus Termeer

Was hat Mode mit der Hölle zu tun? Wenn vom Zusammenhang zwischen beiden die Rede ist, geht es meist um die Produktionsbedingungen in den Textilfabriken des globalen Südens. »Höllenfeuer des Kapitalismus: Wieder sieben Todesopfer – vier junge Frauen unter 17 dabei …«, betitelt beispielsweise das Internetportal LabourNet Germany (2013) eine Meldung über wiederkehrende Brandkatastrophen in den Textilfabriken Bangladeschs, die für deutsche Modediscounter wie KiK oder C&A produzieren. Auch Walter Benjamin hat einen Zusammenhang zwischen Kapitalismus, Mode und Hölle gesehen – allerdings aus völlig anderer Perspektive. Er thematisiert eben nicht die auf Ausbeutung, Verelendung und den immer gleichen Handgriffen basierende Produktion in den Manufakturen des 19. Jahrhunderts als »Hölle«, sondern die repetitiven phantasmagorischen Präsentationen der Produkte. Im Konvolut der Passagenarbeit, wie Benjamin sie selbst nannte, erscheint die Warenwelt als Hölle. »Das Moderne, die Zeit der Hölle« schreibt Benjamin (1991: 1010), um mit dieser »Hölle« ein dialektisches Bild einzuführen, in dem der kapitalistische Fortschritt als Mythos gezeigt werden soll, innerhalb dessen die Mode mit zunehmender Geschwindigkeit »das Ritual« vorschreibe, »nach dem der Fetisch Ware verehrt sein will« (ebd.: 51). Der Fortschritt erscheint so als rasender Stillstand des »Immer-Wieder-Neue[n]« (ebd.: 1011) innerhalb eines unveränderten gesellschaftlichen Ganzen. Diese »Hölle« wäre aber nicht komplett ohne den (verdrängten) Tod und das Untote, ohne Vergessen und Verdinglichung, ohne Sünden und Strafen – wie das hier zusammenhängt, wird später noch ausführlich behandelt. Für die Philosophin Susan Buck-Morss ist Benjamins Hölle-Bild von zentraler Bedeutung:

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»In dem Bild der Hölle als einer Konfiguration aus Wiederholung, Neuheit und Tod macht Benjamin das für die kapitalistische Moderne spezifische Phänomen der Mode dem philosophischen Verständnis zugänglich.« (BuckMorss 2000: 127) Innerhalb der Fashion Studies und in anderen kultur- und sozialwissenschaftlichen Beschäftigungen mit Mode und Konsum sieht das anders aus. Zwar wird Walter Benjamin auch hier recht häufig zitiert, wenn es um Geschmacksproduktionen, um die zentrale Rolle der Neuheit in der Massenproduktion, um die besondere Bedeutung der Mode für den Fetischcharakter der Ware, das Verhältnis von Mode und Surrealismus oder um das erkenntnistheoretische Potenzial der Mode bezüglich sozialer Prozesse geht (vgl. Vinken 1993, König 2009, Lehnert 2013, Vinken 2013, Lindemann 2015). Sein Bild der Hölle dagegen kommt (fast) gar nicht vor. Das gilt auch für Autoren, die aus dezidiert kapitalismuskritischer Perspektive argumentieren. Tansy E. Hoskins (2016) erwähnt Benjamin eher nebenbei. Caroline Evans (2003) dagegen bezieht sich ausgiebig auf ihn und die Passagenarbeit. Dabei betitelt sie ihre Kapitel unter anderem mit Cruelty, Dead Things, Deathliness, Haunting oder Trauma – The Hell ist aber nicht dabei. Ulrich Lehmann (2000: 18) wiederum erwähnt an einer Stelle kurz die »Warenhölle«, die das Paris des 19. Jahrhunderts für Benjamin darstelle. Barbara Vinken, die in der Mode seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert ein politisch-emanzipatorisches Potenzial sieht (vgl. Vinken 1993) dokumentiert in ihrer Sammlung von Texten zur Philosophie der Mode eine Reihe prägnanter Notizen Benjamins aus dem Konvolut B [Mode] der Passagenarbeit und darin einen einzigen kurzen Absatz zur »Zeit der Hölle«, der sich auf Balzacs Motto »Rien ne meur, tout se transforme« bezieht (Benjamin 1991: 115, 110; vgl. Vinken 2016: 269, 272). Was Mode und Hölle bei Benjamin miteinander zu tun haben sollen, bleibt so allerdings im Dunkeln, weil dieser Zusammenhang in der Passagenarbeit an anderen Stellen skizziert wird. Dass Benjamins dialektisches Bild der Hölle in den Fashion Studies keine Rolle spielt, könnte damit zusammenhängen, dass Mode als immer auch progressiv verstanden wird. So betont etwa Gertrud Lehnert, dass Mode im »Prozess der Verbürgerlichung des 18. Jahrhunderts« – und seither – »zum wichtigsten Element der Hervorbringung neuer Identitäten und Lebensstile auf einer bis dahin unvorstellbar breiten Basis« werde. Und »immer mehr Menschen arbeiten an der Hervorbringung (und Überschreitung) von Geschlecht, sozialem Status, Geschmack und Distinktion« (Lehnert 2013: 9f.). Überlegungen zur Hölle dagegen scheinen Fortschritte innerhalb des Kapitalismus aus-

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zuschließen. Zudem könnte irritieren, dass die Hölle bei Benjamin nicht einfach eine Metapher ist, sondern als theologischer Begriff ernst genommen wird; dies allerdings im Rahmen eines materialistischen Geschichtsverständnisses, das zugleich auch wesentliche Elemente des Surrealismus reflektiert. Benjamin begreift die Warenwelt als Welt eines träumenden Kollektivs, die Pariser Passagen und die späteren Kaufhäuser als dessen »Traumhäuser« (Benjamin 1991: 511). Er betreibt »eine Art Kartographie der zuhandenen Wünsche und Ängste« und »spürt« in den Warenauslagen »dem sozialen Unbewußten nach« (Jäger 2015: 30), wobei er sich der Methode der Montage von Materialien, Zitaten und Kommentaren bedient. Das Nachspüren des gesellschaftlichen Unbewussten und seine Sichtbarmachung durch Montagen (oder auch Collagen) zeigt den Einfluss des Surrealismus. Benjamin ist fasziniert von Louis Aragons Le Paysan de Paris (1926) und André Bretons Nadja (1928). Diese Romane zeigen für Benjamin »das ›sürrealistische Gesicht‹ der Stadt Paris, die ›im Mittelpunkt dieser Dingwelt‹ als ›das geträumteste ihrer Objekte‹ steht, in Bildern […], die die psychische Kraft von Gedächtnisspuren im Unbewußten haben« (Buck-Morss 2000: 51). Klar ist dann auch: »Der Vater des Surrealismus war Dada; seine Mutter war eine Passage«, schon, weil sich Aragon, Breton und ihre Freunde ab 1919 in einem »Café der Passage de l’Opera« versammelten (Benjamin 1991: 1057). Eine Szene in Max Ernsts Collageroman Une semaine de bonté zeigt eine Frau in einem auffallend dekolletierten, gerüschten und ausladenden Kleid. Sie scheint sehr in Not, bedrängt von Teufeln und Dämonen (Abb. 1). Die Szene eignet sich durchaus zur Illustration des ›Höllischen‹ der Mode. Ernst bespielt in diesen Collagen »bürgerliche oder aristokratische Interieurs« um 1900 etwa mit Teufelsschwänzen und »Anhäufungen von Textilien. Die Stoffe, die Rüschen, Bänder, Spitzen, Borten, die Futterale, in die die Körper versinken, machen sich selbständig. […] Die Fältelungen machen sich frei von der ersten Bedeutung, symbolisieren Hautspalten, Geschlechtsorgane […]« (Spies 2008b: 38). Das weckt Assoziationen zu Benjamins Darstellung zur textilen Verdinglichung des Begehrens, wie unten noch deutlich wird. Allerdings kritisiert Benjamin den Surrealismus dafür, auf der bloßen Traumebene zu verharren. Er selbst will dagegen das Traumbild in ein dialektisches Bild verwandeln (vgl. Buck-Morss 2000: 52). Er zeigt die »Traumhäuser des Kollektivs« als Orte der Hölle. Sein Ziel ist das Aufwachen aus dem kollektiven Traum. Dialektik wird bei Benjamin »als Umschlag, als jähes Umkippen gedacht«. Und so bezeichnet er »den Moment des Erwachens als einen solchen dialektischen Umschlag, der allerdings keinen abrupten Wechsel

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Abbildung 1: Max Ernst, Une semaine de bonté. Premier cahier : Dimanche. Élément : La boue. Exemple: Le Lion de Belfort (24), 1933

Spies 2008a: 98

vom Traum- in den Wachmodus bedeutet, sondern die Elemente des Traumes noch im Erwachen in sich trägt« (Kranz 2011: 44). Wie Benjamin sein dialektisches Bild im Einzelnen konzipiert, soll im ersten Kapitel nachgezeichnet werden. Kapitel Zwei behandelt dann die Frage, wie Benjamins Überlegungen zum Höllischen der Mode im Vergleich zur seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert gängigen Modekritik einzuordnen ist und

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was es mit dem (jüdisch) ›Theologischen‹ in Benjamins Werk auf sich hat. Mode als regelrechtes Massenphänomen gibt es erst frühestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Was Benjamin zur Hölle der Warenwelt und zur Mode schreibt, dürfte also ungleich mehr auf die Entwicklungen seit dem späten 20. Jahrhundert zutreffen. Überlegungen dazu finden sich im dritten Kapitel. Kapitel Vier behandelt schließlich die eingangs bereits skizzierten Beschreibungen der Modefabriken im globalen Süden als Höllen. Gezeigt werden soll, warum diese Metaphorik zwar oft verständlich, aber doch problematisch ist. Zuvor aber noch eine Klarstellung: Wenn hier von ›Mode‹ die Rede ist, bezieht sich das auf die Bekleidung des Körpers von Kopf bis Fuß. Denn Mode wird ja auch zu allererst als Synonym für Kleidung verwendet. Und gerade in »der Mode wird die Phantasmagorie der Waren besonders hautnah« (BuckMorss 2000: 127).

Der rasende Stillstand der Hölle I: Benjamins dialektisches Bild Schon Karl Marx hat von Phantasmagorie gesprochen, um den Fetischcharakter der Waren in den ökonomischen Beziehungen zu beschreiben, also nachzuzeichnen, wie ihnen wirkmächtige Eigenständigkeiten zugeschrieben werden, wie sie in lebende Bilder transformiert werden. Anders als Marx interessiert sich Benjamin aber mehr für die Repräsentation der Waren, für ihre Rolle in der Wunschproduktion. Nach Benjamin regelt die Mode – wie oben bereits zitiert – die Verehrung der ausgestellten Fetische rituell. Sie ist damit zugleich »die ewige Wiederkehr des Neuen« (Benjamin 1974: 173). Dabei ist das Neue selbst etwas Neues – historisch betrachtet. Es charakterisiert die Moderne. Das Neue und Repetitive erscheint als zentraler Mechanismus des Warenförmigen. Das Neue an sich ist in diesem Kontext eine Qualität. Aufschriften wie Neu!, Völlig neu! oder gar Neu: Jetzt noch neuer! werden dann zum alleinigen Kaufargument. Das jeweils Alte kann und soll damit vergessen werden. Das Neue und Repetitive erscheint desgleichen als zentraler Mechanismus des Höllischen: »Das Moderne, die Zeit der Hölle. Die Höllenstrafen sind jeweils das Neueste, was es auf diesem Gebiete gibt. Es handelt sich nicht darum, daß ›immer wieder dasselbe‹ geschieht […] sondern darum, daß das Gesicht der Welt […], gerade in dem, was das Neueste ist, sich nie verändert, daß dies ›Neueste‹ in

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allen Stücken immer das Nämliche bleibt. Das konstituiert die Ewigkeit der Hölle und die Neuerungslust des Sadisten.« (Benjamin 1991: 1010f.) Hier geht es also um ein »Immer-Wieder-Neue[s]« (ebd.: 1011). Mit der Mode (sie spricht für sich selbst und muss nicht eigens mit Neu! etikettiert werden) wird der Fetisch Ware zur zweiten Haut. Das menschliche Bedürfnis nach Veränderung, die Fähigkeit zur Veränderung wird verdinglicht und somit zur bloßen Eigenschaft des Gegenstands. Zur Veranschaulichung des Gemeinten verweist Benjamin auf den – auch von den Surrealisten rezipierten – Künstler Grandville (ebd.: 51), dessen Werke er als »wahre Kosmogonien der Mode« (ebd.: 120) bezeichnet. In einem Holzschnitt Grandvilles von 1844 werden die Damen und Herren der besseren Gesellschaft komplett durch ihre Kleider, Hüte, Stiefel und Schirme vertreten, zum Teil auch inklusive ihrer Kleiderständer (Abb. 2).

Abbildung 2: Ein Ausflug im April

Grandville 1979: 86

Wenn das repetitiv Neueste der Mode das Vergessen des gerade noch Neuen evoziert, hat das auch soziale Konsequenzen. Mode, so Benjamin, ist »ein Medikament, das die verhängnisvollen Wirkungen des Vergessens [der realen

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sozialen Veränderungsmöglichkeiten], im kollektiven Maßstab, kompensieren soll« (ebd.: 131). Das »Immer-Wieder-Neue« der Mode kompensiert, dass das gesellschaftliche Ganze unverändert bleibt. Hier führt nichts wirklich heraus aus diesem Ganzen: Das Neueste ist permanent auf der Jagd nach sich selbst und bleibt dabei stets dasselbe. Nichts ändert sich mehr – und das immer schneller. Der rasende Stillstand der Hölle. Wenn Benjamin die archaischen, mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Höllenstrafen als das jeweils Neueste beschreibt, wird deutlich, was er mit einem dialektischen Umschlagen meint und warum hierbei das Vergangene – Archaische, Mythische – für die Gegenwart von höchster Relevanz sein soll. In den jeweiligen historischen Konstruktionen der Hölle als totaler Instanz ohne Entkommen entsprechen die jeweils neuen Strafen den zeitgemäßen kollektiven Ängsten. Und diese Ängste will Benjamin innerhalb des vermeintlichen Fortschritts der Moderne aufspüren. Das »Immer-Wieder-Neue« und die Geschwindigkeit stehen in direkter Beziehung zum Tod, genauer: zu seiner Verleugnung. Die »Zeit der Hölle«, so Benjamin, sei eine Zeit die »den Tod nicht kennen will«. So laufe »die Beschleunigung des Verkehrs« oder »der Nachrichtenübermittlung« darauf hinaus, »alles Abbrechen, jähe Enden zu eliminieren« (Benjamin 1991: 115). Das treffe auch auf die zunehmenden Neuheiten der Mode zu. Es kommt aber ein weiterer Aspekt hinzu. Mode stehe »im Widerstreit mit dem Organischen. Sie verkuppelt den lebendigen Leib der anorganischen Welt. An dem Lebenden nimmt sie die Rechte der Leiche wahr. Der Fetischismus, der dem Sex-Appeal des Anorganischen unterliegt, ist ihr Lebensnerv.« (Ebd.: 51) Benjamin schreibt das mit direktem Bezug zum Werk Grandvilles. Die Verdinglichung des erotischen Begehrens wie des Begehrens nach Veränderung zeigt sich vor allem als eine solche des weiblichen Begehrens. Innerhalb patriarchaler Strukturen wird die weibliche (sexuelle) Selbstbestimmung als Bedrohung empfunden, marginalisiert und umgelenkt auf die anorganische Oberfläche. »Denn was ist es eigentlich, worauf sich der Trieb richtet? Nicht mehr der Mensch – sondern Sex-Appeal geht von den Kleidern aus, die man trägt.« (Buck-Morss 2000: 130) Frauen als Objekte des männlichen Blicks sind in diesen Strukturen zur »dauernden[n] Bemühung um die Schönheit« angehalten, wie Helen Grund 1935 in ihrem Essay Vom Wesen der Mode, den Benjamin (1991: 123) zitiert. Ihre Rolle ist es, »jedermanns Zeitgenossin« zu sein (ebd.: 1213), also – gestützt auf modische Kleidung, Kosmetika und so weiter – nicht zu altern.

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Mit Blick auf die Geschichte der Kaufhäuser und der Rolle der Mode hat Gertrud Lehnert eine weitere Facette betont. Um 1900 ist Frauen »in der herrschenden Geschlechterökonomie das aktive Schauen untersagt – Frauen werden angeschaut«. In Warenhäusern aber »dürfen sie sich […] nach Herzenslust umsehen, denn die Objekte ihrer Lust sind nicht andere Menschen, sondern leblose Gegenstände« (Lehnert 2002: 565f.). Die Verdinglichung des Begehrens erscheint so als eine Art Emanzipation – allerdings innerhalb einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der bürgerlichen Frauen eine »Ausgangsbeschränkung« auferlegt war, um Distanz zur Arbeiterklasse und einen ›Anstand‹ zu wahren, der ihnen, wenn sie allein unterwegs waren, abgesprochen wurde (Lenz 2011: 139). Zur Jahrhundertwende kam es dann zu gewissen Beschränkungslockerungen, in denen Warenhäuser »eine besondere Rolle« spielten, zum einen als neue Arbeitsplätze für Frauen der Arbeiterklasse und der unteren Mittelschicht, zum anderen als nun einer der wenigen legitimierten öffentlichen Erlebnisräume für einkaufende bürgerliche (Haus-)Frauen, die als »Zielgruppe« entdeckt wurden (ebd.: 140ff.). Zurück aber noch einmal zum Zusammenhang von Todesleugnung und Verkuppelung von Organischem und Anorganischem. In Benjamins Perspektive nimmt die Mode – wie oben zitiert – »die Rechte der Leiche wahr«, was bedeutet, dass »die Vergänglichkeit der Natur auf die Waren übertragen wird« (Buck-Morss 2000: 130), weshalb diese Waren permanent erneuert werden müssen. Damit zugleich aber wird »die Lebensmacht der Sexualität ebenfalls [auf die Waren] verlagert« (ebd.), was in der Konsequenz eine »biologische Totenstarre der ewigen Jugend« (ebd.: 129) evoziert. Diese wird in der Mode »zum Ideal« (ebd.) und ebenso zum Diktat. Benjamins Hölle kennt mit dieser totenstarren ewigen Jugend also selbstverständlich auch die Ruhelosigkeit des Un-Toten und zugleich die ewige Nicht-Erlösung, erinnert doch das permanente Bemühen um Schönheit »an die repetitiven Höllenstrafen« (ebd.: 130), Strafen zugleich der Vergeblichkeit. Die »biologische Totenstarre der ewigen Jugend« wird prägnant verkörpert in der Figur des Mannequins. Im Begriff des Mannequins gehen lebendige Frauen (heute werden sie Model genannt) und Puppen ineinander über. Phantasmen von künstlichen Doppelgängern, Maschinenmenschen und unheimlichen Puppen haben bekanntlich seit der beginnenden Moderne eine eigene Geschichte. Seit dem 19. Jahrhundert, vor allem im Kontext der Fotografie, werden Schaufensterpuppen aus Wachs zur Obsession. So zeigt eine Fotoserie von 1925 solche ›lebensechten‹ Wachspuppen von Karl Schenker, die luxuriöse Kleider präsentieren jeweils mit der Bildunterzeile »Mannequins oder

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Wachspuppen?« (vgl. Müller-Tamm/Sykora 1999: 398f.). Noch 1932 zeigt die Zeitschrift Magazin eine Fotostrecke mit »Herrscherinnen der Schaufenster«, »Hölzernen Jungfrauen« sowie Filmstars und fragt »Lebt sie? Oder lebt sie nicht?« (zit.n. Ruelfs 1999, S. 336). Etwas später »kam das Wachsmannequin buchstäblich aus der Mode. Die täuschende Nachbildung weiblichen Fleisches erschien nun als leichenhaft« (Söntgen 1999: 394). Schaufensterpuppen sollen – ein überdeutlich verdinglichtes – Begehren wecken. In dieser Weise werden sie bereits 1924 im ersten Manifeste du Surréalisme »als ein Beispiel des ›Wunderbaren‹« (Filipovic 1999: 207) bezeichnet. Passend dazu präsentiert die Exposition Internationale du Surréalisme 1938 in Paris sechzehn Schaufensterpuppen, ›eingekleidet‹ von sechzehn Künstlern, darunter nur einer Frau. In Wolfgang Paalens Ausstaffierung einer ›unheimlichen‹ Modepuppe lässt sich ein möglicher Zug ins Höllische entdecken. Er setzt ihr eine große Fledermaus ins Haar, ein Tier, das in Europa über Jahrhunderte mit Vampiren, Dämonen und dem Teufel assoziiert wurde (Abb. 3).

Abbildung 3: Denise Bellon, Mannequin von Wolfgang Paalen

Müller-Tamm/Sykora 1999: 439

Benjamin hält sich aber an Bretons Roman Nadja, in dem sich der Erzähler in eine Wachspuppe, die ihr Strumpfband richtet, verliebt. »Keine Art von Verewigung so erschütternd wie die des Ephemeren und der modischen

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Formen, die die Wachsfigurenkabinette uns aufsparen.« (Benjamin 1991: 117) Hier ist dann das »Immer-Wieder-Neue« ein für allemal erstarrt und zugleich dem Verstauben und Verfallen ausgesetzt.

Eigene Hölle statt bösem Fremdkörper Als erstes Modegeschäft der Moderne gilt Le Grand Mogol in Paris, eröffnet 1770 von Rose Bertin, einer Favoritin Marie Antoinettes. Der Name Großmogul verweist auf den Orientalismus, der damals und »bis heute ein durchgehendes Motiv der Frauenmode« ist (Vinken 2013: 111). Zugleich stehen ebenfalls seit dem späten 18. Jahrhundert Orientalismus-Konstruktionen im Zentrum bürgerlicher Modekritik – von Jean Jacques Rousseau über viele andere bis Émile Zola. In dieser Kritik wird Mode zum Angriff einer zersetzenden Sinnlichkeit auf die bürgerliche Vernunft, zu einem bedrohlichen Fremdkörper im Innern der Moderne, zur Gefährdung der hierarchischen Geschlechterkonstruktion, zur orientalischen Despotie, in der Frauen zu Idolen werden oder zu Männern, und Männer zu Eunuchen oder zu Frauen (vgl. ebd.: 123). Barbara Vinken hat nachgezeichnet, wie in dieser Kritik die Mode paradoxerweise als das Andere der Moderne konstruiert wird, zur »orientalische[n] Kolonie« (ebd.: 103). Das – männliche, bürgerliche – »moderne, westliche Subjekt begreift sich als frei, selbstbeherrscht, selbstbestimmt, vernunftgeleitet. […] Das ›orientalische‹ Subjekt wird im Gegensatz dazu als seiner Lust unterworfenes und andere despotisch unterwerfendes Subjekt gesehen, das gefallen und verführen will. […] Den geschichtsmächtigen Europäern erscheint der Orient als stagnierend dekadent. Der Diskurs über die Mode macht diese zu einer solchen orientalischen Enklave: Tyrannisch fordert die Mode wie die orientalischen Herrscher Unterwerfung. […] Jede Vorstellung von Selbstbestimmung ist ihr fremd. Sie setzt nicht auf die inneren Werte, sondern blendet durch Äußerlichkeit.« (Ebd.) Dass insbesondere Frauen dieser Tyrannei ausgeliefert seien, lässt sich auch in der konservativen Kritik der Warenhäuser weiterverfolgen. Hierin wird die »Umweltoffenheit des Warenhauses […] in die Gefahr sozialer Transgression übersetzt« (Lindemann 2015:. 104). Das beziehe sich auf eine »gezielt geförderte […] Vermischung unterschiedlichster sozialer Gruppen« und nicht zuletzt auf eine »Verbindung von Weiblichkeit und Ökonomie« (ebd.: 102f.). Befürchtet wird eine Förderung der Selbstständigkeit und damit der Unsittlich-

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keit und letztlich der Prostitution, aber auch die Förderung »transgressiver (Kauf-)Exzesse« (ebd.) und der Kleptomanie (vgl. Lenz 2011: 144ff.). Zugleich ist die konservative Warenhauskritik auch immer wieder nationalistisch und, besonders im deutschsprachigen Kontext, antisemitisch. Propagandatexte, in denen »man dem ›deutschen Kaufmann‹ den ›jüdischen Wucherer‹ entgegensetzte« (ebd.: 162), erklären letzteren zum notorischen Betrüger, der vor allem die weibliche Kundschaft täusche durch Reklame und vorgeblich günstige Preise, um »Ramschwaren« (ebd.: 163) zu verkaufen, ebenso zum Großkapitalisten, der skrupellos den Mittelstand verdränge. Zugleich wird in solchen Texten das Warenhaus auch als orientalischer Basar, und damit als ›fremd‹ konstruiert (vgl. ebd.: 162ff.). So triftig Vinkens Darstellung des paradoxen Othering der Mode ist, so merkwürdig ist ihre Behauptung, auch Benjamin betreibe mit dem von Marx übernommenen Fetischismusbegriff ein solches Othering: »›Fetischismus‹ bringt das Wilde, Unaufgeklärte der nicht zivilisierten, zurückgebliebenen Völker auf den Punkt«, schreibt sie (Vinken 2013: 83). Tatsächlich geht es beim Fetischismus um etwas genuin kapitalistisch Irrationales. Für Benjamin ist Mode eben nicht das Andere, sondern der Inbegriff der kapitalistischen Moderne. Ebenso haben seine Überlegungen zur Hölle nichts mit konservativen Auffassungen einer Verfallsgeschichte oder der Geschichte als ständig Wiederkehrender zu tun. Es handelt sich im Gegenteil um eine – auch ironische – »dialektische Antithese« zur dominierenden Behauptung der Moderne als goldenem Zeitalter des Fortschritts. Das dazugehörige Schema lautet: »Hölle – Goldnes Zeitalter Stichworte für die Hölle: ennui, Spiel, Pauperismus Ein Kanon dieser Dialektik: die Mode Das goldene Zeitalter als Katastrophe« (Benjamin 1991: 1213) Wie es sich für eine Hölle gehört, ist sie der Ort der ewigen Strafen für Sünden. Diese sind aber nicht die bekannten religiös konstruierten Sünden der Lüste und Begierden, sondern solche »der abergläubischen (mythischen) Kapitulation der Lust vor dem Schicksal. Die geschieht in der Mode, wenn die aktive Sinnenlust den Gegenständen ausgeliefert und zur passiven Begierde nach neuen erregenden Eindrücken pervertiert wird« (Buck-Morss 2000: 134f.). Das (jüdisch) ›Theologische‹ nimmt in Benjamins Werk einen breiten Raum ein. Wenn Christian Jäger (2015:) schreibt, dass »trotz aller romantischen Bestrebungen, Benjamin zu einem religionsphilosophischen oder

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gar theologischen Denker zu machen, […] die Prävalenz des historischen Materialismus bis in die zeitlich letzten Texte immer klar« (ebd.: 26) sei, ist dem zwar zuzustimmen. Nichtsdestoweniger kommt man um seine metaphysischen, mythischen, theologischen Begrifflichkeiten nicht herum – besonders, wenn man über die Hölle schreibt. Benjamin hat nach eigenen Angaben hart daran gearbeitet, für die Passagenarbeit sein früheres »metaphysische[s], ja theologisches Denken« (zit.n. Buck-Morss 2000: 290) komplett umzuwälzen, um dessen Gehalt zugleich innerhalb eines historischen Materialismus zu retten. Dies, weil die alten utopischen Gehalte und Versprechungen der archaischen Mythen oder der Theologie erst in der Moderne reale, historische »Bezugsgegenstände« (Buck-Morss 2000: 291) erhalten. Im ›Höllischen‹ von Mode und Moderne wird dann nicht nur ein ›falsches Bewusstsein‹ deutlich, sondern ebenso eine kollektive Energie zum schon erwähnten dialektischen Umschlag, dem jähen Erwachen aus einem Traum. Buck-Morss verweist in Benjamins Sinn auf den kabbalistischen Begriff des Tikkun, den Funken des Erkennens und zugleich die messianische Reparatur der Welt (vgl. ebd.: 291). »Gibt es […] gerade in der Mode Motive der Rettung?« fragt Benjamin (1974: 173) im Baudelaire-Buch. Max Weber hat bekanntlich den Geist des Kapitalismus als Produkt der protestantischen Ethik aufgefasst und desgleichen eine Entzauberung der Welt in der Moderne konstatiert. Die Passagenarbeit ist demgegenüber als Dechiffrierung einer kapitalistischen Wiederverzauberung der Welt konzipiert, inszeniert durch einen Fortschritt, der angesichts der realen sozialen Antagonismen selbst zum Mythos wird, durch Weltausstellungen und andere Wunderkammern des 19. Jahrhunderts, durch Waren für Massen und ihre Präsentation, durch die monumentalen Mythologien der Werbung (vgl. BuckMorss 2000: 308f.). Solchen »Reaktivierung[en] der mythischen Kräfte« setzt Benjamin (1991: 494) vor allem die profane Erleuchtung des Surrealismus entgegen, wenn etwa Louis Aragon »das Antlitz Gottes in einem Benzintank« (Buck-Morss 2000: 289) erblickt. In diesem Sinn sind die Pariser Passagen um 1815 bevölkert mit Zauberwesen, mit »Sirenen des Gaslichts« (Benjamin 1991: 1045) – in den frühen Entwürfen erschienen sie als Feengrotten –, und sie sind Schwellenräume, Orte der Urgeschichte des 19. Jahrhunderts, Höhlen, in denen »als unvordenkliche Flora die Ware« (ebd.: 670) wuchert, Orte der still gestellten Zeit und des Spuks (vgl. Kranz 2011: 150) und: der Hölle (vgl. ebd.: 133).

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Der rasende Stillstand der Hölle II: Die Strukturen bleiben immer gleich Neben der Geschwindigkeit ist für Benjamin auch die Masse Kennzeichen der Moderne: Die Masse der Waren, die seit dem 19. Jahrhundert in den Passagen und dann in den Kaufhäusern präsentiert werden, ebenso, wie eine neuartige Selbstwahrnehmung der Konsumenten als Masse (Benjamin 1991: 93). Allerdings werden Textilien im 19. Jahrhundert selbst im vergleichsweise hochindustrialisierten Großbritannien »meist noch in privaten Werkstätten produziert« (Hoskins 2016: 32). Große Textilfabriken mit entsprechend großem Absatz entstehen erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch die Zielgruppe wächst dort nicht unbedingt rasant: seit den 1920er Jahren konnten sich »berufstätige Frauen, wenn sie ein wenig sparten, Kleider aus den Warenhäusern leisten, die meisten nähten jedoch weiterhin selbst« (ebd.: 31ff.), auch nach Schnittmusterbögen aus Modezeitschriften.1 Die Perspektive ändert sich zunächst, wenn Warenhäuser nicht nur als Modehäuser, sondern als ›Vollsortimenter‹ betrachtet werden. In Deutschland und besonders in Berlin um 1890 »richtete sich das Angebot der Warenhäuser an den unteren Mittelstand und an eine gehobene Arbeiterschicht«. Die Neubauten von »Einkaufstempel[n]« um 1900, die »Geschmack, Trends und Moden beeinflussten«, so Gudrun M. König (2009: 95), führten dann »zur Anhebung der Warenqualität und des sozialen Niveaus der Käuferschichten« (ebd.). Von Massenmode lässt sich eigentlich erst seit den 1960er und besonders 1970er Jahren sprechen – vor allem vor dem Hintergrund, dass damals berufstätige Frauen immer mehr als Zielgruppe entdeckt wurden. In den 1970er Jahren begann dann die Produktion billiger Mode durch eine global agierende Massenindustrie (vgl. Hoskins 2016: 38f.) für Kaufhäuser, Handelsketten, Boutiquen und Shopping Malls, die inzwischen auch wieder innerstädtisch angesiedelt werden, und heute zunehmend für den Onlinehandel. Auch aus der Entwicklung der Mode selbst lässt sich festhalten: »Während bis ins 18. Jahrhundert (und in vielen Aspekten sogar bis in die 1950er Jahre) das Leben und die Mode durch politisch, gesellschaftlich, religiös etc. motivierte Verhaltensnormen, Regeln, Zeremonien und Rituale

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Das Nähen nach Schnittmustern war noch bis in die 1970er Jahre verbreitet; zudem werden sie noch immer – vor allem auch online – angeboten.

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strukturiert wurde, verhält es sich heute umgekehrt. Es ist die Mode, die alle anderen Lebensbereiche reguliert und Verhaltensweisen hervorbringt.« (Lehnert 2013: 9) Allerdings diktiere heute zugleich »der Markt mit seinen radikalen Mechanismen […] die Moden, nicht mehr die DesignerInnen« wie »möglicherweise« noch zu Zeiten Christian Diors (ebd.: 8f.). Und dieser Markt ist vor allem getaktet im Sinn einer Fast Fashion, die zweimal getragen und dann entsorgt wird. Den Zeittakt geben dabei inzwischen nicht mehr unbedingt monatlich erscheinende Modezeitschriften vor, längst sind es Modeblogger, sogenannte Influencer, It-Girls oder Tastemaker, die mit ihren digitalisierten Trendbotschaften ganz andere Geschwindigkeiten und Reichweiten erreichen können. Vergleicht man die von Benjamin für das 19. Jahrhundert hervorgehobenen Phänomene von ›Masse‹ und ›Beschleunigung‹ nicht mit ihrer damaligen Vergangenheit, sondern mit ihrer Zukunft, wird deutlich: Benjamins Hölle des »Immer-Wieder-Neuen« dürfte eigentlich erst heute vollständig vorhanden sein. Es bleiben aber Fragen in semiotischer Hinsicht, wie sie Roland Barthes mit der 1967 veröffentlichten und inzwischen fast schon zu Tode zitierten Sprache der Mode konzipiert hat: Wie werden Körper durch die Mode und ihre Systeme der Codes und Subcodes zu Bedeutungsträgern, und was sagt das über soziale Prozesse (vgl. Barthes 1985)? Zumindest in der Fragestellung vergleichbar schreibt schon Walter Benjamin (1991) selbst: »Jede Saison bringt in ihren neuesten Kreationen irgendwelche geheimen Flaggensignale der kommenden Dinge. Wer sie zu lesen verstünde, der wüßte im Voraus nicht nur um neue Strömungen der Kunst, sondern um neue Gesetzbücher, Kriege und Revolutionen« (ebd.: 112) – oder auch um soziale Transgressionen. Benjamin hat seine kurze Notiz zum sozialprognostischen Potenzial der Mode nicht weiterverfolgt. Auch das Zusammenspiel von Körper und Kleidung, die diesbezügliche Veränderbarkeit sozialer Zuschreibungen und mögliche Emanzipationspotenziale spielen in seinem fragmentarischen Text keine Rolle. Dabei gab es bereits in den 1930er Jahren transgressive Kreationen. So entwarf die im Surrealismus vernetzte Couturière Elsa Schiaparelli etwa eine Federjacke oder Handschuhe mit roten Fingernägeln (Dogramaci 2015: 159f.). Desgleichen lassen sich in der Mode gesellschaftliche ›Rollbacks‹ erkennen, wie bei Christian Diors 1947 kreiertem New Look. Frauen, die im Krieg ›männliche‹ Rollen übernehmen konnten oder mussten, sollten nun zurück in konservative Rollenmuster. Bei Dior klingt das so: »Wir kamen aus einer Zeit

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der Kriege und Uniformen, einer Zeit der weiblichen Soldaten, die wie Boxer gebaut waren. Ich entwarf weibliche Blumen, zarte Schultern, wohlgeformte Dekolletés, Taillen, so dünn wie Lianen, und Röcke, so ausladend wie Blüten.« (Zit. n. Hoskins 2016: 35f.) Barbara Vinken verweist allerdings zurecht darauf, dass gerade Mode den Körper als nichts Natürliches, sondern höchst Veränderbares zeigt. Noch im konservativen Backlash bei Dior wird deutlich, dass der weibliche Körper, die weibliche Rolle (immer wieder neu) erzeugt werden muss. In Erwiderung auf Gabrielle ›Coco‹ Chanels ganz anders materialisiertem Anspruch »die wirkliche, die natürliche Frau anzuziehen«, schreibt Vinken: »Mode ist Differenz zum ›natürlichen‹ Geschlecht geworden, die Spannung, in der die Natürlichkeit des Geschlechts als Fiktion entlarvt wird. Sie ist wie eine rhetorische Figur, die die prätendierte ›Natürlichkeit‹ des Geschlechts als rhetorischen Effekt offenlegt und ihn gleichzeitig weiterverrückt, von neuem verschiebt.« (Vinken 1993: 30) Hanne Loreck stützt das aus einer etwas anderen Perspektive. Die Fotokünstlerin Cindy Sherman, so Loreck, habe in ihrer Selbstporträtserie Untitled Film Stills, die vor allem auch mit diversen Kleidungs-, Frisur- und Make Up-Stilen arbeitet, »[b]uchstäblich spielend […] einen vieldiskutierten Standard der Geschlechtertheoriebildung, nämlich die Performativität von Weiblichkeit vorgeführt« (Loreck 2012: 180). Mode, so lässt sich zunächst festhalten, entwirft immer wieder neue Bilder von Körpern und Identitäten und verspricht deren Umsetzung. Vor allem seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts kann sie diese zugleich auch immer wieder unterlaufen und dekonstruieren. So beschreibt etwa Barthes (1985: 263) noch das »unterschiedlich stark[e] Tabu des anderen Geschlechts«, wonach »ein Mann […] keinen Rock tragen« könne, »eine Frau jedoch sehr wohl Hosen«. Dieses soziale »Verdikt der Effeminierung des Mannes« (ebd.) ist heute scheinbar abgeschwächt. Selbst Dior homme betonte anlässlich der 2018er Herrenkollektion von Kim Jones: »Geschlechter spielen keine Rolle mehr« (zit.n. Schweppenhäuser 2019: 17). Dem stehen allerdings mehrere Aspekte entgegen. So muss – erstens – die Kreation progressiver Mode nicht unbedingt bedeuten, auch politisch progressiv zu sein, wie das Beispiel Coco Chanels zeigt. Sie unterhielt nicht nur, wie ihre konservativen Kollegen Dior und Louis Vuitton, beste Kontakte zur NS-Besatzungsmacht in Paris, sie wird auch als Antisemitin beschrieben (vgl. Hoskins 2016: 206f.). Zweitens dürfte die berechtigte Wahr-

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nehmung, Mode entlarve die Fiktion eines zweigeschlechtlichen ›natürlichen Körpers‹, durchaus mehrheitlich nicht geteilt werden. Anders ausgedrückt: »An der Aufrechterhaltung der Zweigeschlechtlichkeit innerhalb des Modesystems hat sich bislang jedenfalls nicht viel geändert. Die Entscheidung, sich als Mann in der Damenabteilung zu versorgen, wird nach wie vor als seltsam angesehen (wenngleich nicht zwangsläufig als ›queer‹).« (Lehnert/Weilandt 2016: 10) Und schließlich lässt sich – drittens – zeigen, dass all die modischen Dekonstruktionen und Transgressionen immer wieder marktförmig absorbiert werden. Zwar wird Mode regelmäßig eine progressive Rolle zugesprochen, so vor allem von Barbara Vinken in ihrem programmatischen Essay Mode nach der Mode. Sie argumentiert mit einem Bruch, dem »Ende der hundertjährigen Mode« (Vinken 1993: 56), mithin der Haute Couture. Seit den 1980er Jahren bediene sich Mode »A-modische[r] Elemente«, der asiatischen »Ästhetik der Armut« oder auch der »Ästhetisierung des Alltags« und der Hässlichkeit, der Karnevalisierung, vor allem aber der Formensprache der Sub- und Gegenkultur, der Ideen marginalisierter Gruppen wie Dragqueens und Punks. Eine solche Mode widerspreche der herrschenden gesellschaftlichen Ordnung und könne damit emanzipativ wirken. Sie dekonstruiere soziale Hierarchien und herkömmliche Geschlechterrollen (vgl. ebd.: 59ff.). Allerdings lässt sich mit Loreck (2012) einwenden, dass Mode »als zeitgenössisches ›Totalphänomen‹ längst mehr als eine Summe von saisonal wechselnden Kleiderstilen, Haarschnitten, Make-Up-Farben« ist. Sie »firmiert als eine Form von Körpertechnik, und Doing Gender wird heute soziokulturell in der Hauptsache als Schönheitshandeln verstanden.« (Ebd.: 181) Zu diesem »Totalphänomen« gehört auch die Thematisierung der Hölle. Zum einen im Hochglanzsegment, wie etwa in Lauren Weisbergers 2003 publiziertem und 2006 verfilmtem Roman The Devil Wears Prada. Zum anderen etwa in der Inszenierung der »Grausamkeit […] zwischen übermenschlicher Schönheit und Verworfenheit« (Vinken 2013: 202) bei Alexander McQueen. Seine epochemachende Modenschau Dante (1996) kombiniert dessen Inferno mit dem Thema der »fin-de-siècle femme fatale, the woman, whose sexuality was dangerous, even deathly« (Evans 2003: 145). Wenn der Körper gegenwärtig als unerlässliches Kapital, als »ein sozial wertvoller Schauplatz für Investitionen« gilt, wie Loreck (2012) mit Laura Bieger schreibt (ebd.: 169), wenn heute »der Markt […] die Moden« diktiert (Lehnert 2013: 9), heißt das auch, dass mögliche emanzipatorische Potenziale die Sphäre des Marktförmigen nicht verlassen. Welche Rolle spielen dann

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aber modische Abweichungen in Prozessen der Selbstermächtigung, und was wird aus ihnen? Emanzipatorische Potenziale lassen sich an den queeren Outfits David Bowies in den frühen 1970er Jahren zeigen – wenngleich die eher ›femininen‹ Dresscodes des Glam Rock insgesamt meist nichts mit einer Infragestellung patriarchaler Strukturen auch des Musikbusiness zu tun hatten (vgl. Pih 2013). Was für Bowie die Identitätswechsel des Rockstars waren, ist für andere ungleich riskanter. Seit Mitte der 1980er Jahre entwickeln in der New Yorker Clubszene afroamerikanische Dragqueens das Voguing. Im Zentrum dieser Tanzwettbewerbe, die als subversives Spiel mit den Kategorien von race, class und gender angelegt sind, steht die realness, die überaffirmative Wiedergabe weißer weiblicher Posen aus Modemagazinen wie der Vogue. Judith Butler hat im Voguing zunächst eine Dekonstruktion hegemonialer Geschlechterzuschreibungen und deren Behauptung von Natürlichkeit gesehen, später aber auch ein Training für die kapitalistische Selbstvermarktung. Dies auch vor dem Hintergrund eines steigenden Interesses durch den Mainstream (vgl. Jochmaring 2012: 27). Was als bloßes Spiel Privilegierter möglich ist, sieht für Marginalisierte ganz anders aus. So sagt ein Protagonist im Film Paris is Burning (1990), der Voguing weltweit bekannt gemacht hat: »Wer es aus dem Ballroom in voller Montur in die U-Bahn schafft und ohne Blutfleck zu Hause ankommt, ist die wahre Realness-Queen.« (Zit. n. Jochmaring 2012: 27) Die Gefahr verbaler und körperlicher Gewalt gegen Menschen, die sich der Heteronormativität verweigern, ist seitdem nicht geringer geworden. Hier muss also unbedingt differenziert werden. Festzuhalten bleibt an dieser Stelle auch, dass sich eine Analyse der textilen Verdinglichung des Begehrens abgrenzen muss von einem gängigen Diskurs, der mit einem Gegensatz von ›Oberfläche‹ und ›Tiefgang‹ operiert, somit »Oberflächen als oberflächlich« (Loreck 2016: 470) charakterisiert und eine weiblich konnotierte Mode zum Kennzeichen von »Alterität und Marginalität« (ebd.: 476) erklärt. Mit Blick auch auf die kongolesischen Sapeurs, deren ›Dandy-artige‹ Kleidung immer auch eine antikolonialistische Widerstandspraktik gewesen sei, zeigt Hanne Loreck die (Selbst-)Gestaltung der »äußeren Erscheinung« als (potenzielle) politische Handlung, denn sie könne, »in Relation zur marginalen Position des Schwarzen und der Frau temporär eine maximale Sichtbarkeit« bedeuten (ebd.). Zudem stellt sich die Frage, ob nicht das als ›Beweis‹ eines liberalen Fortschritts vereinnahmte Ex-Subversive in Zeiten einer erstarkenden radikalen Rechten grundsätzlich wieder eine politische Rolle erhalten kann.

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Für die Dresscodes des Punk scheint das eher nicht mehr zu gelten. Über die Kollektionen der inzwischen in den Adelsstand erhobenen britischen Modeschöpferin Vivienne Westwood konnten sie bis in die Haute Couture gelangen. Und zerrissene Jeans, vor rund 40 Jahren noch als Attribute einer Gegenkultur wahrgenommen, sind heute längst als Ripped Jeans oder Destroyed Denim zum Must Have geworden – nicht nur als Kaufobjekte eines Massenmarktes. So heißt es im April 2018 auf der Homepage des Otto Versands: »Alle großen Brands bieten mittlerweile zerrissene Jeans in ihren neuen Kollektionen an. Aber ganz offensichtlich können wir uns auch selbst als JeansDesignerinnen versuchen und uns an den Destroyed-Look wagen. Das ist eine tolle Gelegenheit, alten, ungeliebten Jeanshosen wieder mehr Zuneigung zu zeigen – auch wenn wir sie dafür vorher etwas quälen müssen. Wir zeigen euch im Folgenden, wie ihr eine Destroyed Jeans selber machen könnt.« (Two For fashion 2019) Deutlich wird hier ein durchs »Immer-Wieder-Neue« bewirktes Vergessen, der ursprüngliche Zusammenhang ist nun weitgehend unbekannt. Eben noch subversiv gemeinte Codes werden ins harmlos Marktgängige transformiert. Es gibt aber einen Haken. Zwar sind die Outfits des Punk häufig in Eigenarbeit entstanden. Aber nicht umsonst heißt das zweite Album der Sex Pistols von 1979 The Great Rock ´n´ Roll Swindle. Denn eigentlich ist die Beziehung des Punk zur Mode Vivienne Westwoods ein wenig anders verlaufen. Westwood und ihr Lebensgefährte Malcom McLaren betrieben seit 1971 einen Modeladen in London. Ab 1974 nannten sie ihn Sex und boten hier strategisch zerfetzte und mit S/M-Accessoires bestückte Kollektionen an. Als eigens gecastete Hausband sollten die Pistols diese Mode promoten (vgl. Meinert 2018: 61f.). Diese gegenkulturelle Mode war also von Beginn an auch kommerziell. Schon Ende der 1950er Jahre reflektierte die Kommunikationsguerilla der Situationistischen Internationale solche kapitalistischen Wiederaneignungen subversiver Zeichen und Praktiken als récupération (vgl. Debord 1995: 29). Im heutigen Postfordismus können die ›Märkte‹ das Anderssein und selbst ›dissidentes‹ Handeln zu Maximen der Verwertungslogik erklären (Opitz 2004: 134f.). Unter der Maxime ›Sei anders!‹ werden Alteritäten zu Modi der Selbstführung, Selbstoptimierung und Selbstvermarktung – oder sie werden als nicht verwertbar ausgeschlossen (vgl. Bröckling 2007: 285f.). Das bedeutet auch, jederzeit präsent zu sein, denn der »Markt ist ein […] höchst fluides Gewirr von Lücken und Nischen, die sich ebenso schnell auftun, wie

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sie wieder verschwinden« (ebd.: 72). Mahret Kupka (2015) bringt es für den Modebereich auf den Punkt: »Ein revolutionäres Modelabel wäre […] ein Widerspruch in sich. Die Mode als ökonomisches System lässt keine Revolution zu. Vielmehr stellen Verschiebungen und Umbrüche ihren Motor dar, bilden die Basis für Innovation und Anpassung, sichern dadurch letztlich den Fortbestand. Es ist niemals die Struktur, die sich ändert, sondern die Hierarchieordnung. Die Funktionsweise bleibt gleich.« (Ebd.: 70) Das zeigt auch, dass die oben angesprochene textile Selbstdarstellung als potenziell widerständige Praktik innerhalb einer weitgehend kommodifizierten Gesellschaft nicht einfach ist. Auch Phänomene wie die Anti-Fashion, die sich keiner Modesaison zurechnen lassen wollen, gängige Schnitte und Designgrenzen, vor allem aber auch Geschlechtergrenzen dekonstruieren, sind ja trotzdem Bestandteil des Marktes. Die längst überfällige Anerkennung dessen, dass Mode auch in Afrika, Asien und Lateinamerika entworfen wird, findet ebenso wenig außerhalb der Marktsphäre statt, wie eine zwingend notwendige Umstellung auf fair gehandelte und ökologisch produzierte Kleidung. Elke Gaugele (2015) hat im Anschluss an Luc Boltanski und Ève Chiapello den Ethical Turn in der Mode als »Indikator« für einen »neuen Geist des Kapitalismus« (ebd.: 208), gezeigt, der Kritik integriert. Im Postfordismus steht nicht die Warenproduktion selbst diskursiv im Vordergrund, sondern das Marketing, der Verkauf von Optionen der Sinngebung (vgl. Class 2006). Das hat auch Konsequenzen für ehemals dissidente Praktiken, die nun selbst zur gesellschaftlichen Integrationsformel dazu gehören können. Wenn aber selbst das Andere, sogar das Dissidente gar nicht mehr außerhalb des Marktes stattfindet, sondern von diesem gefordert wird, dann bleibt das gesellschaftliche Ganze unverändert: Benjamins rasender Stillstand der Hölle. Anderssein führt dann aber auch zu Konformitätsdruck – und damit zu einem Selbstwiderspruch. Mit Benjamin und Buck-Morss könnte man hier erneut auf die Höllenstrafe der Vergeblichkeit verweisen. Zugleich erweist sich der Konformitätsdruck als antagonistisches Geschehen. Andreas Reckwitz hat in einem Interview mit der taz die Revolte der »Akademiker Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre« als erfolgreichen Kampf auch gegen den »kulturellen Konformismus«, den »stark[en] Anpassungsdruck« der damaligen Gesellschaft bezeichnet (Reeh/Feddersen 2018: 7). Wo ließe sich ein solcher Erfolg besser überprüfen als innerhalb der

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Konventionen des deutschen Schlagers oder des Profifußballs? Optisch hat sich da bis zur Mitte der siebziger Jahre bezüglich der zulässigen Haarlänge, aber auch des Kleidungsstils vor allem für Männer in der Tat etwas getan. Es stellt sich die Frage, inwieweit derartige Lockerungen der Konformität einhergehen mit wachsenden ›Möglichkeiten‹, der Mode zu folgen, aber auch folgen zu müssen, also mit neuen Konformitäten? In der Frauenmode stellt sich diese Frage nach wie vor nicht. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist Mode vielmehr ein Medium erhöhten Konformitätsdrucks, so erscheint etwa das Tragen von BHs oder die Körperenthaarung als Pflicht. Verbreitet werden herrschende Körpernormen – vor allem Size Zero, Symmetrie und weiße Körper als Fixpunkte – durch die meist digital bearbeiteten Bilder der Magazine (vgl. Hoskins 2016: 163f.) und nicht zuletzt in sozialdarwinistischen Fernseh-Formaten wie Germany’s next Topmodel (seit 2006) und dessen Vorbild America’s Next Top Model (seit 2003). Mode wird so zum Medium von Körpernormen, das »Essstörungen« und »Rassismus […] vorantreibt«, ebenso »Gefühle von Selbstverachtung und de[n] ständigen Wunsch nach mehr, egal wie viel man shoppen geht« (ebd., S. 17) – die Vergeblichkeit des »Immer-Wieder-Neue[n]« (Benjamin 1991: 1011).

Produktionsbedingungen im globalisierten Kapitalismus: Die Hölle der Mode? Das massenhafte »Immer-Wieder-Neue« gibt es zu Tiefstpreisen ebenso, wie im gehobenen Preissegment. Es wäre nicht denkbar ohne seine Produzenten, weit überwiegend in den ›Sweatshops‹ Asiens: Abermillionen Textilarbeiterinnen sind meist ohne Schutzkleidung ›infernalischem‹ Lärm und giftigen Chemikalien ausgesetzt. Sie führen endlos immer gleiche Handgriffe aus. Sie arbeiten zu Hungerlöhnen und meist ohne Tageslicht, oft eingesperrt und der Gewalt von Aufsehern ausgesetzt, ohne Fluchtwege bei Bränden oder anderen Gefahren. Der Einsturz des Fabrikkomplexes Rana Plaza 2013 in Bangladesch mit über 1100 Toten wurde zum Symbol dafür. Die Hölle der Mode? Die Metapher der Hölle wird, wie eingangs skizziert, regelmäßig zur Beschreibung derartiger Arbeitsbedingungen verwendet. So spricht die WirtschaftsWoche im Februar 2014 von »baufälligen Höllenlöchern«, in denen »ausgebeutete Näherinnen […] T-Shirts herstellen, die in Deutschland und anderswo für nur einen Euro verramscht werden. Rund 30 Euro im Monat verdienen viele der Arbeiterinnen in Bangladesch nur« (Reuter 2014). Auch Matthi-

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as Drobinski, Redakteur der Süddeutschen Zeitung, schreibt in seiner Streitschrift Diese Wirtschaft tötet: »Diese Arbeit ist wenig besser als direkt in die Hölle hinabzusteigen: Bis zu 100 Stunden die Woche sitzen die Frauen zusammengepfercht bei Feuchtigkeit und Hitze vor der Nähmaschine. Die Aufseher schimpfen und schlagen zu, wenn eine der Frauen langsamer wird, einen Fehler macht.« (Drobinski 2014: 8) Bei der Heinrich Böll Stiftung ist vergleichbar von »Fabrikhölle[n]« im südindischen Tamil Nadu die Rede: »Der Bundesstaat liefert Garn für den ganzen Globus – auf Kosten von geschätzt 250000 jungen Frauen, die in den rund 2000 Spinnereien ausgebeutet werden. Die vierzehn- bis achtzehnjährigen Mädchen werden unter dem Vorwand, sie würden wohl behütet und ernährt, in die Spinnereien gelockt. Aus den vermeintlich gut Versorgten werden Leibeigene von Fabrikbesitzern, die für westliche Modefirmen produzieren, gefangen hinter hohen Mauern mit Stacheldraht. Tag und Nacht laufen die oft mangelernährten Mädchen kilometerweit zwischen den gewaltigen Spinnmaschinen hin und her, um gerissene Fäden blitzschnell wieder einzufädeln. Es ist entsetzlich laut, der Baumwollstaub setzt sich in der Lunge fest und führt zu Krankheiten. Viele der Mädchen werden Opfer sexueller Gewalt.« (Hergt 2015) Ebenso berichtet der Deutschlandfunk im November 2017 über den Dokumentarfilm Machines unter dem Titel »Die Hölle in einem indischen Sweatshop« (Diettrich 2017). Und Thomas Seibert (2013) von der Menschenrechtsorganisation medico international bezeichnet die Textilfabriken in Bangladesch immerhin noch als »Vorhölle der globalen Wertschöpfung« (ebd.: 26). Metaphern wie Hölle oder Höllenfeuer sollen den Lesern und Konsumenten einer derart produzierten Mode die Unerträglichkeit der Situation möglichst plastisch vor Augen halten. Das erscheint verständlich – vor allem dann, wenn Betroffene selbst zu Wort kommen: »[D]ie Hölle« habe ihr Sohn Ejaz seinen Arbeitsplatz im Keller der Textilfabrik Ali Enterprises im pakistanischen Karatschi genannt, erzählte Saeeda Khatoon (zit.n. Fuchs 2018: 2) im November 2018 in Dortmund anlässlich des Prozesses gegen den Billigmodenkonzern KiK, dessen Zulieferer Ali Enterprises war (Fuchs 2018: 2). Im September 2012 starben 259 Menschen bei einem Brand der Ali Enterprises, unter ihnen auch Ejaz Khatoon (vgl. ebd.). Dass die Verwendung von Höllen-Metaphern in diesem Kontext gleichwohl problematisch ist, lässt sich exemplarisch am schon genannten Deutschlandfunk-Bericht über die »Hölle« südindischer Sweatshops verdeutlichen.

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»Der Dokumentarfilm Machines des indischen Regisseurs Rahul Jain«, heißt es hierin, »zeigt dem Zuschauer eine beklemmende und fremde Welt« (Diettrich 2017). Eine fremde Welt: Die Rede von einer Hölle läuft hier Gefahr, zu einem Gemeinplatz für Zustände zu werden, die für ›uns‹ unvorstellbar sind – und sehr weit weg. Hinter einer solchen Darstellung kann verschwinden, dass Kleidung derart nicht nur in Bangladesch, China, Indien oder Vietnam hergestellt wird, sondern ebenso Made in Europe oder Made in EU. Eine Studie der Clean Clothes Campaign (2017) zu Europas Sweatshops beschreibt unter anderem Bulgarien, Serbien, die Ukraine oder Ungarn als »Niedriglohnparadiese« mit meist frühkapitalistischen Arbeitsbedingungen für Labels wie Benetton, ESPRIT oder H&M, aber auch für Luxuslabels wie Dolce & Gabbana, Louis Vuitton oder Versace (ebd.). In der italienischen Stadt Prato gibt es zudem rund 3.000 kleine Textilfabriken. In deren Hallen arbeiten mindestens 15.000 Chinesen nicht nur »bis zu 18 Stunden täglich im Akkord« (Klausmann 2014) für häufig nur einen Euro pro Stunde, sie wohnen auch – von außen nicht selten rassistischen Ressentiments ausgesetzt – in diesen Hallen (vgl. ebd.). In den Diskursen einer angeblich postindustriellen Gesellschaft, die Sinnoptionen vermarktet, werden die dazugehörigen industriellen QuasiKolonien meist ausgeblendet. Die Skandalisierung dieser Quasi-Kolonien als Hölle soll dagegen gerade den untrennbaren Zusammenhang zwischen Mode und Herstellungsbedingungen betonen. Sie soll zeigen, womit die immer neuen fröhlichen Disney-T-Shirts für 3,99 Euro beim Discounter, aber auch die Luxushandtaschen von Prada zwangsläufig erkauft werden. Diese Skandalisierung läuft allerdings metaphorisch ungewollt ins Leere. Sie verlegt die Produktionsbedingungen in eine andere Sphäre – denn die Hölle befindet sich in einer anderen Sphäre als das irdische Leben: unvorstellbar, aussichtslos, unabänderlich, unentrinnbar. Sie ist vor allem ein Ort der ewigen Strafen für begangene Sünden. Solche Zuschreibungen haben aber mit der sozialen Realität nichts zu tun. Sie assoziieren vielmehr so etwas wie Schicksalshaftigkeit, obwohl ja das Gegenteil intendiert ist. Der Gemeinplatz Hölle ist zudem für die unterschiedlichsten Szenarien derart weit verbreitet – von der ›Hölle von Verdun‹ bis hin zur ›Hölle des Nordens‹ bei der Tour de France –, dass sein Gehalt nivelliert wird. Das alles spricht nicht dafür, mit dieser Höllen-Zuschreibung möglichst viele Konsumenten oder politisch Verantwortliche zum Handeln bringen zu können.

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Innerweltliche Höllen im sozialen Gedächtnis der Literatur Gerd Sebald »When I see the fields burnin’; Cause Hell is coming through; I can’t stop the Dogs of War« Blues Saraceno

Vorstellungen eines (Weiter-)Lebens nach dem Tod sind in vielen gesellschaftlichen Zusammenhängen verbreitet. Solche Vorstellungen richten sich nicht selten auf transzendente Orte und sie werden in der Entwicklung von religiösen Semantiken auch gebraucht, um verletzte Moralitäten zu korrigieren und Gerechtigkeit im Jenseits wiederherzustellen, sei es als Belohnung in paradiesischen Gefilden, sei es als Bestrafung in höllischen Unterwelten. Mit der Aufklärung wird die Vorrangstellung von Religion brüchig und die neuzeitlichen Wissenschaften stellen Transzendenzen in Frage. »Die Aufgeklärten des 18. Jahrhunderts verzichten auf die Hölle, sie verzichten sogar auf das Sicherheitskalkül, das man den Freigeistern des 17. Jahrhunderts noch nahegelegt hatte. Dem entspricht, daß das Individuum als differenzlos verbesserbar angesetzt wird. Aber diese Konsequenz wird nur an der Oberfläche der Aufklärung gezogen; sie ergibt sich sozusagen automatisch und unreflektiert aus dem Wegfall der Hölle.« (Luhmann 1993b: 195) Mit der Aufklärung verschwinden Vorstellungen einer jenseitigen Bestrafung aber keineswegs aus sozialen Gedächtnissen. Sie werden als Topoi und Metaphern auch außerhalb des religiösen Ordnungsbereiches immer wieder aufgegriffen, nicht zuletzt in der Literatur. Detaillierte Beschreibungen von Verdammnisorten, wie sie noch Dante Alighieri schuf, sind in modernen Kontexten nicht mehr ohne Weiteres möglich. Stattdessen werden die Höllenvorstellungen als Beschreibung von modernen Lebenswelten, als innerwelt-

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liche Höllen, mobilisiert, was angesichts von Gewalt, Krieg und Vernichtung im 19. und 20. Jahrhundert sehr nahe liegt. Und selbst wenn eine strafende Unterwelt entworfen wird, bleibt sie oft eine Spiegelung der oberweltlichen Missstände, die so auf Dauer gestellt werden. Diese Aspekte möchte ich aufgreifen und die Darstellung der strafenden Unterwelt beziehungsweise der Hölle einerseits in Thomas Manns Roman Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde und andererseits in Arno Schmidts Erzählung Tina oder über die Unsterblichkeit unter gedächtnissoziologischen Auspizien untersuchen. In Manns Roman wird die Hölle unter Verzicht auf die Konstruktion transzendenter Verdammnisorte beschrieben, die ja seit der Aufklärung auch fiktional fraglich sind. Stattdessen verwebt Mann drei Formen innerweltlicher Höllen und ihrer Qualen: körperliche Leiden, künstlerisches Schaffen und die allzu realweltliche Hölle Nazideutschlands. Diese modernen Höllen beziehen sich in Manns Darstellung in vielfältiger Weise auf vergangene Vorstellungen ewiger Verdammnis. Die Alltäglichkeit der innerweltlichen Verdammnis zeigt sich zudem in ihrer Wiederholungsstruktur, sodass sich ein komplexes Muster von Vergangenheitsbezügen ergibt. Arno Schmidt, der der form- und sprachexperimentierende Außenseiter im literarischen Feld der BRD, konstruiert eine Unterwelt, in der soziale Gedächtnisse selbst zum Medium der Strafe werden. Gedenken, Nachruhm, das Weiterleben in den Erinnerungen der Nachwelt selbst verlängern das Fortdauern in einer gedächtnisbasierten Hölle des Weiterlebens. Als radikaler Atheist schreibt er streitbar gegen jede Form von Religion. Auch für ihn als Kriegsteilnehmer war die bestehende Welt eine Hölle. Dieses Loslassen der »dogs of war« hat er schon in seiner ersten Erzählung Leviathan oder Die beste der Welten wortgewaltig beschrieben. Die innerweltliche Hölle wird in der Erzählung Tina in eine Unterwelt verlängert. Ein Weiterleben, und sei es in der medialen Erinnerung, ist Verdammnis, was eine seiner Alter-Ego-Figuren in einem anderen Text zum Ausdruck bringt: »Wenn ich tot bin, mir soll mal Einer mit Auferstehung oder so kommen: ich hau ihm Eine rein!« (Schmidt 1951/1987: 129) Im Folgenden werde ich die beiden Höllenkonzeptionen in ihrer Gedächtnishaftigkeit rekonstruieren. Das beginnt nach einer kurzen soziohistorischen Skizze der Hölle mit der Rekonstruktion der drei innerweltlichen Höllen Thomas Manns in ihren Vergangenheitsbezügen (Krankheit, künstlerisches Schaffen und die NS-Zeit). Danach wird die Hölle der medialsozialen Gedächtnisse bei Schmidt dargestellt. Im Anschluss daran werde ich

Innerweltliche Höllen im sozialen Gedächtnis der Literatur

kurz einige Überlegungen zur Literatur als soziales Gedächtnis präsentieren, um dann im Fazit die innerweltlichen Höllen in ihrer literarisch-sozialen Erinnerung zusammenzufassen.

Die Entwicklung von Höllenvorstellungen Auch wenn der Glaube an eine Unterwelt für viele oder alle menschlichen Kulturen zutreffen mag (vgl. Minois 2000: 7), so findet sich die Idee einer moralisch begründeten Zweiteilung eines solchen Jenseits´ erst relativ spät, wie schon Max Weber feststellt: »Erst der ethisch qualifizierte Gott verfügt auch über die Schicksale im Jenseits unter ethischen Gesichtspunkten. Die Scheidung von Paradies und Hölle tritt nicht erst damit auf, ist aber ein relativ spätes Entwicklungsprodukt. […] Bei der Blaßheit und Unsicherheit der Jenseitschancen aber gegenüber der Realität des Diesseits ist der Verzicht auf ewige Strafen von Propheten und Priestern fast immer für unmöglich gehalten worden; sie allein entsprachen auch dem Rachebedürfnis gegen ungläubige, abtrünnige, gottlose und dabei auf Erden straflose Frevler. Himmel, Hölle und Totengericht haben fast universelle Bedeutung erlangt« (Weber 2005: 83). Die Hölle war der moralische Ausgleich für die Ungerechtigkeiten des irdischen Lebens. Vielleicht konnten erst damit die moralischen Regeln breite(re) Geltung erlangen. In den oft gewaltförmigen Vergesellschaftungen des Mittelalters war Elias zufolge das Ausleben von Gewalt an der Tagesordnung. »Aber [der einzelne Gewalttäter] bezahlte die größere Chance zur unmittelbaren Lust mit einer größeren Chance der offenliegenden und unmittelbaren Furcht; die mittelalterlichen Höllenvorstellungen lassen uns manches davon ahnen, wie stark und intensiv bei diesem Aufbau der Beziehungen zwischen Mensch und Mensch diese Furcht in dem Einzelnen war« (Elias 1976: 329). Hier fungiert die Hölle als eine Art psychisches Korrelat zur freien Gewaltausübung, wie auch schon Erasmus von Rotterdam ausgeführt hat (vgl. Vorgrimler 1993: 233). Zu Beginn der Neuzeit, wohl auch im Zuge der Religionskriege, nehmen die Höllenbeschreibungen und -beschwörungen zu: »Auch werden die Höllenvisionen immer schrecklicher, drastischer, bizarrer, um gegen Gewöhnung, Abhärtung, Verhärtung der Herzen gegenanzumotivieren« (Luh-

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mann 1993a: 289). Die Religion war zu dieser Zeit ein prominentes und wohl auch semantisch führendes Teilsystem der Gesellschaft (ebd.: 291). Zu Beginn der Neuzeit ist auch der Faustmythos entstanden beziehungsweise aus älteren narrativen Elementen zusammengesetzt worden (vgl. Haug 2001). Mit der Aufklärung beginnt die Kraft der Höllenvisionen zu schwinden. Voltaire etwa sieht die Hölle als Deckmantel für die Unzulänglichkeiten der menschlichen Justiz (Minois 2000: 124). Im 19. Jahrhundert, in den chaotischen Umwälzungen der industriellen und politischen Revolutionen, wird die Hölle zunehmend in der Gegenwart, im irdischen Leben verortet. Der von Thomas Mann hochgeschätzte Schopenhauer erkennt »die Welt als eine Hölle, welche die des Dante dadurch übertrifft, daß einer der Teufel des anderen seyn muß« (Schopenhauer 1988: 671), ein Gedanke, den Sartre wieder aufgegriffen hat. Wenn die Welt schon als Hölle beschrieben wird, ist ein Weiterleben nach dem Tode allenfalls in einer Paradiesvorstellung wünschenswert. Das hat etwa Jean Paul (im Fragment gebliebenen Roman Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele) in seiner Konzeption des Elysiums ausgeführt (Paul 1996). Die Sicht auf die Welt als Hölle legen die Weltkriege und Genozide des 20. Jahrhunderts erst recht nahe. Aber das tun nicht nur große gesellschaftliche Lagen und Katastrophen, auch das subjektive Empfinden und Leiden, die existenzielle Befindlichkeit der Menschen. Thomas Mann greift diese Aspekte moderner Höllenvorstellungen in seinem Roman auf und entwickelt daraus mindestens drei Dimensionen von innerweltlicher Verdammnis.

Die innerweltlichen Höllen im Doktor Faustus In dem Roman Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde verarbeitet Thomas Mann den Faustmythos, wobei er den Wissenschaftler in einen Künstler verwandelt. Die Biographie des Komponisten erzählt in der Romankonstruktion sein Freund Serenus Zeitblom während des Zweiten Weltkriegs, der auf die parallel zur Niederschrift ablaufenden Kriegsereignisse und die nationalsozialistische Herrschaft auch immer wieder Bezug nimmt. Der Komponist Adrian Leverkühn wird als ›kalt‹, zurückgezogen und mit Schwierigkeiten in sozialen Kontakten geschildert. Er infiziert sich bei der Dirne Heterae Esmeraldae mit Syphilis, was als Beginn des Paktes mit dem Teufel gedeutet wird. Sein künstlerisches Schaffen erreicht immer neue Höhen, unter anderem wird ihm von Mann die Erfindung der Zwölftonmusik zugeschrieben (sehr zum Unmut von Arnold Schoenberg).

Innerweltliche Höllen im sozialen Gedächtnis der Literatur

Allerdings werden die Phasen intensiver musikalischer Produktion, aber auch immer wieder von Krankheitsphasen mit heftigen Kopfschmerzen unterbrochen. Der Roman ist sehr vielschichtig, er enthält neben der zeitgeschichtlichen und den intensiv unter anderen mit Adorno ausgearbeiteten musikalischen Komponenten Bezüge auf Nietzsche und Hugo Wolf, die ja beide an Syphilis starben. Dazu kommen Verweise auf die frühe Neuzeit, auf Luther und auf Dürer, als Zeit des Faustmythos, die sich vor allem auch in der Adaptation der Sprache äußern. Und nicht zuletzt ist es auch der Roman Thomas Manns mit den meisten autobiographischen Elementen. In dem Werk werden etwa auch die Selbstmorde seiner beiden Schwestern verarbeitet. Er bezeichnet den Roman als das von allen seinen Büchern teuerste, »einfach weil er mich am teuersten zu stehen gekommen ist, mich am meisten Herzblut gekostet hat, weil ich […] am meisten von meinem Leben, meinem tiefsten Selbst […] dahingegeben habe.« (Mann 1980: 329) Der Faustmythos selbst bleibt in seinen unterschiedlichen Bearbeitungen immer kurz vor der Hölle stehen, die nur als zukünftiges Schicksal am Ende der Erzählung steht. Thomas Mann verlagert, so meine Lesart, die ich im Weiteren vorschlagen möchte, die Hölle in das irdische Dasein selbst, als innerweltliche Leidensmaschine. Sie zeigt sich im Roman insbesondere in drei Formen: der Krankheit, dem künstlerischen Schaffen und der geschichtlichen Gegenwart.

Die Hölle der Krankheit Krankheit kann neben dem Gedächtnis als ein Leitmotiv in Thomas Manns gesamtem Werk gelten und sie wird auch immer wieder eng mit dem künstlerischen Schaffen verbunden: »Und ich wills meinen, daß schöpferisches Genie spendende Krankheit, die hoch zu Roß die Hindernisse nimmt, in kühnem Rausch von Fels zu Felsen sprengt, tausendmal dem Leben lieber ist als die zu Fuße latschende Gesundheit.« (Mann 1980: 327) So äußert sich der Teufel und verspricht dem Komponisten produktive Leidenszeit, wie sie Thomas Mann auch selbst erlebt hat. »Die besten Kapitel von Lotte in Weimar habe ich unter den, Unerfahrenen nicht zu beschreibenden, Qualen einer wohl über ein halbes Jahr sich hinzie-

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henden infektiösen Ischias geschrieben, den tollsten Schmerzen, die ich je ausgestanden, und denen zu entgehen, man Tag und Nacht vergebens nach der rechten Position sucht.« (Mann 2009: 9) Während der Abfassung des Romans Doktor Faustus ist Thomas Mann selbst immer wieder krank. »Diese Sorgen [um die Qualität des Romans] verstärkten sich quälend in dem Maß, wie es mit meiner Gesundheit abwärts ging. Schon zwei Tage später stand ich […] unter heftigem Kopfschmerz-Druck, und am folgenden lag ich mit einer Grippe. […] die Infektion, wie gewöhnlich bei mir, war schwer zu vertreiben, schwelte fort im Organismus und produzierte üble Nachspiele […] Halsentzündung […] Gesichts- und Schein-Zahnschmerzen, die mir böse Tage und bösere Nächte bescherten.« (Mann 2009: 79f.) Am gravierendsten war in der Zeit des Romanschreibens ein Karzinom der Lunge, das sich zuerst in einer hartnäckigen Erkältung ankündigte (»Ein Hin und Her von halber Genesung und Rückfällen in fiebrige Zustände« [Mann 2009: 127]). Für die notwendige Operation wird die Arbeit am Roman für einige Monate unterbrochen. Auch danach begleiten Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen andauernd den Schreibprozess. Im Roman wird das erste größere Werk Leverkühns, die »Apokalypse cum figuris«, ein Oratorium, von einer schweren Krankheit vorbereitet und begleitet: »Leverkühn […] war außerordentlich leidend damals, – krank auf eine Weise, die etwas von erniedrigender Quälerei, einem Gezwackt- und Geplagtwerden mit glühenden Zangen hatte […] Es war ein auch durch strengste Diät nicht zu bändigendes Magenübel […] mit heftigsten Kopfschmerzen auftretend, mehrtägig und in wenigen Tagen wiederkehrend« (Mann 1980: 458). Mann lässt den Kranken seine Leiden auch ironisiert selbst schildern: »Wie mir zumute ist? […] Ungefähr wie Johanni Martyr im Ölkessel. […] Ich hocke als frommer Dulder im Schaff, unter dem ein lustiges Holzfeuer prasselt […] gießt mir der Henkersknecht […] aus einer gestielten Schöpfkelle das siedende Öl, worin ich andächtig sitze, über den Nacken. Ich werde begossen nach der Kunst wie ein Braten, ein Höllenbraten.« (Mann 1980: 475) Krankheit macht das Leben selbst zur Hölle. Der Teufelspakt wird mit dem syphilitischen Krankheitsverlauf parallelisiert, der zwar gesteigerte Schöp-

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fungskraft, aber ebenso Leid und Schmerzen mit sich bringt. Am Ende des Romans erleidet Leverkühn einen »paralytischen Choc«, aus dem er nicht mehr zu sich kommt, sondern er »fand sich wieder als ein fremdes Selbst, das nur noch die ausgebrannte Hülle seiner Persönlichkeit war« (Mann 1980: 675). Was geschildert wird, ist eine jahrelange progressive Paralyse, das Spätstadium der Syphilis mit Apathie, Gedächtnisverlust und Demenz. Dieses Ende ist dem von Robert Schumann, Friedrich Nietzsche und Hugo Wolf nachgebildet.

Die Hölle des künstlerischen Schaffens Die Hölle des künstlerischen Schaffens ist die zweite der innerweltlichen Höllen im Text, aber auch in der Entstehung des Textes. In seinem Tagebuch verweist Thomas Mann immer wieder auf die Schwierigkeiten, die Zweifel und Selbstzweifel, bei der Schaffung des Textes. Im Oktober/November 1944 etwa notiert er: »Zitat und Kommentar [aus Love’s Labour Lost] würden mir zeigen, wenn ich es vergessen hätte, mit welchen Skrupeln und Zweifeln des Romans wegen ich zu kämpfen hätte, wie sehr ich geneigt war, an sein Verderben zu glauben. […] Andauerndes Stimmungstief, verstärkt durch das Grauen vor der Verfehltheit des Romans, den ich mit so erregenden Neuigkeitsgefühlen begann. Schwere, tatenlose Tage.« (Mann 2009: 79f.) Im April 1945 schreibt er: »Beschäftigung mit dem Roman. Versuche, den Anschluß zu finden und die Lust zu beleben. Aber Mißfallen und Überdruß hemmen mich. Das Mißraten des Werkes kann wohl keinem Zweifel mehr unterliegen.« (Mann 2009: 89) Beim Lesen der Verlagsanzeige des Faustus 1946 vermerkt er: »außerdem aber […] war mir der Gedanke des Öffentlichwerdens dieses Lebens- und Geheimwerks und seiner Allerweltsexistenz als Buch unter Büchern, noch immer in tiefster Seele fremd und unfaßbar und nicht schnell genug konnte ich den Katalog mit der chokierenden Anzeige aus den Augen schaffen.« (Mann 2009: 177) Immer wieder wird deutlich, wie schwer und psychisch belastend der Schaffensprozess sich gestaltet. Künstlerisches Schaffen ist für ihn eine Form von nie endender Sisyphosarbeit, insbesondere dieses Werk, »das wie kein an-

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deres an mir gezehrt und meine innersten Kräfte in Anspruch genommen hat.« (Mann 2009: 9) Im Roman beschreibt der Erzähler den Krankheitsverlauf des Komponisten vor der oder während der Entstehung von Leverkühns Apokalypse-Oratorium, dem »Werk, das er bewältigte, indem es ihn überwältigte, und für das seine Kräfte sich gesammelt hatten, während sie qualvoll darnieder lagen […]. Hatte ich nicht recht, zu sagen, daß die depressiven und produktiv gehobenen Zustände des Künstlers, Krankheit und Gesundheit, keineswegs scharf getrennt gegeneinander stehen? […] Genie ist eine in der Krankheit tief erfahrene, aus ihr schöpfende und durch sie schöpferische Form der Lebenskraft.« (Mann 1980: 476) Die Komposition erfolgt unter Hochspannung in Form von »hetzender und knechtender Eingebung« (Mann 1980: 482), ohne Ruhe; es wirkt in der Beschreibung wie eine Fortsetzung der Krankheit in anderer Erscheinungsform. Das letzte Werk Leverkühns, »Dr. Fausti Weheklag«, wird komponiert nach einer Reihe von Schicksalsschlägen und großer emotionaler Belastungen: dem Scheitern eines Ehe-Plans, dem Verlust des (angedeutet homosexuellen) Freundes und dem Tod des geliebten engelsgleichen Neffen. Weniger die körperlichen Leiden, sondern vor allem die traumatischen psychischen Belastungen sind für die Entstehung und auch den Inhalt dieses Werkes im Roman zentral. Künstlerisches Schaffen wird eng verknüpft mit der Hölle der innerlichen Befindlichkeiten, mit körperlichen und seelischen Leiden.

Die Hölle der geschichtlichen Gegenwart Die dritte innerweltliche Hölle ist der Nationalsozialismus als zeitgeschichtlicher Rahmen und ›Institution der Hölle‹. Die Niederschrift des Romans beginnt am 23. Mai 1943, zeitgleich mit der Niederschrift der fiktiven Biographie Leverkühns im Roman. Die geschichtliche Gegenwart des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs spielt vielfach in Manns Werk hinein, wie ja schon Georg Lukács ihm bescheinigte, dass er zusammen mit seinem Bruder Heinrich »die Gefahr einer barbarischen Unterwelt innerhalb der modernen deutschen Zivilisation als ihr notwendiges Komplementärprodukt signalisiert« (Lukács 1945; zit.n. Mann 2009: 111) habe.

Innerweltliche Höllen im sozialen Gedächtnis der Literatur

Das zentrale XXV. Kapitel des Romans, das Gespräch Leverkühns mit dem Teufel, hat Thomas Mann am 12. Dezember 1944 begonnen: »Im Ohr die hysterischen Deklamationen der deutschen Ansager über den ›heiligen Freiheitskampf gegen die seelenlose Masse‹, schrieb ich die Seiten über die Hölle« (Mann 2009: 86). In diesem Kapitel fragt Adrian Leverkühn direkt nach der Hölle: »Soll ich bei dem Geschäft den Preis nicht kennen nach Kreuz und Münz? Steht Rede! Wie lebt sichs in Klepperlins Haus? Was wartet derer, die Euch zu Huld genommen, in der Spelunke?« (Mann 1980: 329) Daraufhin beginnt der Teufel eine Schilderung dieser Welt, obwohl man »eigentlich […] überhaupt und ganz und gar nicht davon reden [kann], weil sich das Eigentliche mit den Worten nicht deckt. […] Das ist die geheime Lust und Sicherheit der Höllen, daß sie nicht denunzierbar, daß sie vor der Sprache geborgen ist, […] durch kein Wort zur kritisierenden Kenntnis gebracht werden kann, wofür eben die Wörter ›unterirdisch‹, ›Keller‹, ›dicke Mauern‹, ›Lautlosigkeit‹, ›Vergessenheit‹, ›Rettungslosigkeit‹ die schwachen Symbole sind.« (Mann 1980: 329) In der Hölle, so gehen die Andeutungen weiter »hört alles auf […] jedes Erbarmen, jede Gnade, jede Schonung, jede letzte Spur von Rücksicht auf den beschwörend ungläubigen Einwand. ›Das könnt und könnt ihr doch mit einer Seele nicht tun‹: Es wird getan, und zwar ohne vom Worte zur Rechenschaft gezogen zu werden, im schalldichten Keller, tief unter Gottes Gehör, und zwar in Ewigkeit.« (Mann 1980: 329f.) Das Vorbild für diese Schilderungen sind die Folterkeller der Gestapo, wie Mann in Tagebuch und in der Entstehung vermerkt: diese Seiten seien »nicht denkbar übrigens ohne die innere Erfahrung des Gestapokellers« (Mann 2009: 86). Die Verbindung von Nationalsozialismus und Hölle wird immer wieder hergestellt. An Göring gerichtet, den Erika Mann nach Kriegsende im Gefängnis gesehen hatte, formuliert Thomas Mann in der Entstehung »Fahr hin, jovialer Mordwanst! Du hast es wenigstens genossen, während dein Herr und Meister nie nirgends gelebt hat als in der Hölle.« (Mann 2009: 110) Schon die Entwicklung hin zum Nationalsozialismus wird von Mann in der Beschreibung Leverkühns apokalyptisches Oratorium eingebaut. Die Beschreibung dieses Werkes wird unterbrochen, indem die Diskussionen ei-

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nes Intellektuellenzirkels dazwischengeschaltet werden, in der Volksgemeinschaft, Massendiktatur und Rasse- und Reinheitspostulate mit Vernichtungsphantasien kombiniert werden. Mit der Schilderung der Apokalypse gerahmt, entsteht ein unheimliches Triptychon, in dem diese »erzfaschistischen Unterhaltungen« (Mann 2009: 115) von Höllengelächter umgeben sind. Am Ende des Romans wird der Untergang der nationalsozialistischen Herrschaft, »die schnaubende Agonie«, geschildert, die »zerschmetterten und zermürbten Städte« (Mann 2009: 642ff.) und die erzwungene Zurkenntnisnahme der Weimarer Bevölkerung vom Konzentrationslager und seinen Krematorien. »Der dickwandige Folterkeller, zu dem eine nichtswürdige, von Anbeginn dem Nichts verschworene Herrschaft Deutschland gemacht hatte, ist aufgebrochen und offen liegt unsere Schmach vor den Augen der Welt […] die zu Hause berichten: was sie gesehen, übertreffe an Scheußlichkeit alles, was menschliche Vorstellungskraft sich ausmalen könnte.« (Mann 1980: 641) So bleibt nur »die stumme, glaubende und fragende Erwartung einer Erlösung aus der Hölle dieser Existenz« (Weber 2005: 148). Denn die Hölle ist immer schon in der Welt: »Darum, zu deiner Beruhigung sei es gesagt, wird dir denn auch die Hölle nichts wesentlich Neues, – nur das mehr oder weniger Gewohnte, und mit Stolz Gewohnte, zu bieten haben. Sie ist im Grunde nur eine Fortsetzung des extravaganten Daseins.« (Mann 1980: 332f.) Wir haben die Hölle schon immer im Dasein, was den Schopenhauerbezug Manns wieder deutlich macht, und das gleich in dreifacher Ausfertigung. Da braucht es die Integration einer strafenden Unterwelt nicht, wie sie in Schmidts Erzählung aufscheint.

Die gedächtnishafte Verlängerung der innerweltlichen Hölle bei Schmidt Arno Schmidt nimmt in seiner Erzählung das Motiv des geleiteten Unterweltbesuches aus Dante Alighieris Divina Commedia auf, in der Vergil den Führer gibt. Der Ich-Erzähler, ein namenloser Schriftsteller, aber eng angelehnt an die Person des Autors, trifft im November 1955 in Darmstadt in einer Apotheke einen merkwürdigen Fremden, der ihm einen Besuch im »Elysium« anbietet. Sein Führer stellt sich später als Christian August Fischer alias Christian Althing (1771-1829) vor. Über einen Kiosk in einer Litfaßsäule, mit der ein Aufzug

Innerweltliche Höllen im sozialen Gedächtnis der Literatur

getarnt ist, gelangen die beiden und die Zeitungsverkäuferin des Kiosks (Tina Halein, die Schriftstellerin Kathinka Zitz-Halein 1801-1877) in die Unterwelt. Ähnlich dem griechischen Hades erfolgt in dieser Unterwelt keine Zweiteilung nach ethischen Kriterien, alle Bewohner sind in wohl nur nach Sprachfamilien unterschiedenen Hohlweltsiedlungen untergebracht. Die Einwohner sind Schriftsteller beziehungsweise Menschen, die in der Oberwelt erinnert werden: »Jeder ist so lange zum Leben hier unten verdammt, wie sein Name noch akustisch oder optisch auf Erden oben erscheint. Oder, planer gesprochen: bis er weder genannt wird, noch irgendwo mehr gedruckt oder geschrieben vorkommt – dann ist jede Möglichkeit einer Rekonstruktion verschwunden.« (Schmidt 1958: 174) Die Unterwelt wird durch die Erinnerung der lebenden Menschen und durch mediale Artefakte besiedelt. Solange jemand in sozialen Gedächtnissen vergegenwärtigt werden kann, lebt er in der Unterwelt weiter. »Du wirst oben geboren, und lebst […] Dann ›stirbst‹ Du; […] Du erwachst wieder. Dämmerungen und Stimmengemurmel. In einer Riesenhalle – ungefähr wie ne Reitbahn – in einer Menschenschlange. Wenn Du vorn am Schalter bist, füllen sie Karteikarten aus; Du erhältst einen Personalausweis; gehst weiter durch; wirst erneut abgestempelt […] Ein Omnibus fährt Dich zum Bahnhof; Du steigst in den betreffenden Zug ein […] und landest an dem Dir zugewiesenen Ort.« (Schmidt 1958: 178) Die Unterwelt ist eine ordentlich verwaltete Welt, deren Bürokratie nicht zuletzt die Zitationen und Erwähnungen in der Oberwelt akribisch dokumentiert. Zwar ist die Verwaltung selbst »wohl gerecht, aber nicht unnötig grausam« (Schmidt 1958: 178f.), aber Biographen, Rezensenten, Literaturwissenschaftler, Autoren von Lexikonartikeln et cetera sind verhasst, weil sie das Leben in der Unterwelt mit Erwähnungen verlängern. »Gutenberg ? : verbirgt sich in öden Wäldern, erlesen einsamen Klüften, ständig auf der Flucht, schläft jede Nacht woanders« (Schmidt 1958: 182). Das Ziel dieses Lebens in der Unterwelt ist das endgültige Vergessen: »Also wenn oben ein Name endgültig erlischt, darf sich hier unten der Besitzer ›auflösen‹ […] Dann prüft die Kommission […] noch einmal alle Unterlagen; und unterrichtet ihn, daß er an dem und dem Tage, zu der und der Stunde und Minute, ins Nichts eingehen darf.« (Schmidt 1958: 184)

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Aber die Erinnerung verhindert dieses Eingehen ins Nirwana, die Entlassung aus der Unterwelt, die von ihren Bewohnern sarkastisch »Elysium« genannt wird. In ihr geht der Trott der Alltagswelt weiter, das Weiterleben selbst ist die Strafe: »Na leben Sie erst mal n paar hundert Jahre ! – Nietzsche ist von seiner ›Ewigen Wiederkunft‹ ganz schön abgekommen: der hat die Neese längst pleng !« (Schmidt 1958: 175). Entsprechend gibt es ein Denkmal für jenen »nie genug zu verehrende[n] Omar, der seinerzeit die Bibliothek von Alexandria verbrannte« (Schmidt 1958: 172). Und die ›Moral von der Geschicht‹ lautet als »Rezept für ein Erdenleben«: »Aufs Dorf ziehen. Doof sein. Rammeln. Maul halten. Kirche gehen. Wenn n großer Mann in der Nähe auftaucht, in n Stall verschwinden: dahin kommt er kaum nach! Gegen Schreib= und Leseunterricht stimmen; für die Wiederaufrüstung: Atombomben!« (Schmidt 1958: 187) Schmidts Erzählung kann als beißender Spott auf das schriftstellerische Bedürfnis nach Ruhm und Anerkennung gelesen werden. Gedächtnissoziologisch ist die erinnerungsbasierte Unterwelt, in der alle nach Vergessen streben, eine wundervolle Konstruktion, mit der auch auf den Zusammenhang von Medien, Literatur und sozialen Gedächtnissen verwiesen wird.

Die Gedächtnishaftigkeit des Ordnungsbereichs der Literatur Vor dem Hintergrund der beiden untersuchten literarischen Werke möchte ich nun im nächsten Schritt versuchen, den Ordnungsbereich der Literatur in Bezug auf seine Gedächtnishaftigkeit zu untersuchen. Gedächtnis wird im Weiteren als die doppelte Operation gefasst, in der einerseits aktuellen Sinnvollzügen verarbeitetes Vergangenes zur Verfügung gestellt wird und andererseits aktuelle Sinnvollzüge in generalisierte und damit erinnerbare Formen gebracht werden. Von diesen Operationen sollte man allerdings die Inhalte unterscheiden, die verschiedene Formen wie zum Beispiel sprachliche Symbolsysteme, Typisierungen, Deutungsroutinen, Gewohnheiten oder Verhaltensmuster annehmen können. All dies wird als Generalisierungen in unterschiedlichen Formen oder einfach als Wissen bezeichnet (vgl. für eine ausführliche Darstellung Sebald 2014). Eine erste Verbindung von Literatur mit sozialen Gedächtnissen ergibt sich, wenn Literatur mit (Bourdieu 2001: 340) als eigenständiges literarisches Feld gefasst wird, dessen »innere Struktur […] ei[n] Universu[m] mit eige-

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nen Funktions- und Transformationsgesetzen« darstellt. In seinem Ansatz geht es aber vor allem um die Positionierung und den Habitus der Akteure im Feld, um Literatur als quasi-soziologische Beobachtung, die »manchmal sogar mehr über die soziale Welt aussagen kann als so manche vorgeblich wissenschaftliche Schrift« (Bourdieu 2001: 66). Mit Luhmann kann man Literatur dagegen (die ihm zufolge Teil des Funktionssystems Kunst ist) als eine Beobachtungsform von »gewohnter Realität« (Luhmann 2008: 284) beschreiben und damit als »laufende Neubeschreibung des Vergangenen« (ebd.). Der Literatur sind in beiden Bestimmungen Bezüge zu vergangenen sozialen Realitäten inhärent. Auch wenn man die funktionale Zuordnung ebenso wenig teilt wie die Zuordnung zur Kunst, lässt sich von dieser Position aus eine erste Form von Literatur als sozialem Gedächtnis entwickeln. Literatur (be)schreibt vergangene fiktionale oder nicht-fiktionale Realitäten neu und macht sie damit in der jeweiligen Gegenwart der Lektüre verfügbar. Thomas Mann hat diesen Aspekt der Literatur durchaus gesehen, in der Entstehung formuliert er: »Der Dichter (und auch der Philosoph) [fungiert] als Melde-Instrument, Seismograph, Medium der Empfindlichkeit, ohne klares Wissen von dieser seiner organischen Funktion« (Mann 2009: 111) In einem zweiten Sinne funktioniert Literatur als soziales Gedächtnis in der eigenlogischen Produktion und Reproduktion von literarischen beziehungsweise als literarisch akzeptierten Formen. Diese Formen entwickeln und transformieren sich eigenlogisch, was nicht bedeutet ohne Beteiligung der Autoren, sondern dass diese Umformungen und Transformationen nicht von Einzelnen kontrolliert werden können. Alfred Schütz hat diese »eigengesetzliche Welt« (Schütz 2016: 52) in einem seiner ersten Texte für das Drama und die Oper entwickelt. Auch Thomas Mann selbst hat diese Eigenlogik für die Form des Romans als Geist beziehungsweise »Genius der Epik« (Mann 1996: 122) bezeichnet, als er die Form des Romans aus der Entwicklung der versepischen Formen erklärt. Zwar werden die jeweils gültigen Formen von einer Avantgarde weiterentwickelt oder auch aufgegeben. Arno Schmidt war sehr aktiv in der Schaffung neuer Textformen, von denen sich seither aber kaum welche durchgesetzt haben. Er will die »gebräuchlichen Prosaformen«, die »sämtlich spätestens dem 18. Jahrhundert« (Schmidt 1995: 101) entstammen, weiterentwickeln. In Tina etwa bricht er den »epischen« Fluß auf, indem er eine Art Beschreibungsfragmente, eine Art Momentaufnahmen, aneinanderreiht, um »die poröse Struktur unseres Daseins« literarisch einzufangen (vgl. Schmidt 1995: 103). Solche Neuentwürfe sind immer nur mit einem gedächtnishaften Rückgriff auf die Vorform möglich, sodass das Neue

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den Bezug auf das Vorhergegangene behält. Thomas Mann geht in seinem Vortrag zur Kunst des Romans nicht auf die Entwicklung beziehungsweise die Krise des Romans zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein. Er greift jedoch die Form des biografischen Romans ironisierend auf und spielt mit ihr, indem er einen fiktiven Erzähler in den Text mit einbaut. Auch hier erfolgt also ein Zitat, eine Parodie einer im literarischen Feld seiner Zeit eigentlich unmöglich gewordenen Form des auktorialen Erzählens (vgl. Lukács 2009). Und noch in einem doppelten dritten Sinne funktionieren literarische Texte als soziales Gedächtnis: Die Texte selbst sind (a) in sich rekursiv und (b) weisen eine Vielzahl von Bezügen auf andere Texte und damit auf anderes Vergangenes auf. Zu (a): Für das Verständnis des Späteren ist im Text das vorher Entwickelte notwendig. Auch wenn bestimmte Abschnitte oder Kapitel separat gelesen und verstanden werden können, so legt der Text doch eine zeitliche Folge der Rezeption nahe, was gerade für andere Veränderungen des linearen Textverlaufs, etwa durch Cutup-Techniken gilt. Diese zeitliche Folge eröffnet mögliche Bezüge auf das vergangene Gelesene und auch Sprünge im Text durch Überblättern. Nicht selten werden Andeutungen auf spätere Abläufe und Motivstränge eingebaut. In seiner Rekursivität fungiert der Text selbst als gedächtnishafte Form. Zu (b): Und schließlich greift der Text auf andere Texte zurück, verbindet sich mit ihnen, verweist auf sie, bezieht sich auf sie. Literarische Texte sind Ausschnitte aus einem Textuniversum. Für den Faustmythos hat Walter Haug (2001) Verbindungs- und Entwicklungslinien seit der Antike nachgezeichnet, die sich über Goethe bis zu Thomas Mann verlängern lassen und teilweise als Anspielungen im Text auftauchen. Daneben sind im Roman Manns zum Teil wörtliche Zitate aber auch Paraphrasierungen aus Adornos »Philosophie der neuen Musik« montiert, aus Nietzsches Werken und Briefen, aus Luthers Werken und nicht zuletzt aus unterschiedlichen literarischen Höllendarstellungen. Arno Schmidt greift neben dem Spiel mit vielen anderen Referenzen auf Dantes Entwurf eines geführten Höllenrundgangs und Jean Pauls Elysium zurück. Und auch Schopenhauers Ausspruch, der eine sei der Teufel des anderen, findet in den Prügeleien der Verdammten seine Aktualisierung. Solche Verweise bestehen unabhängig davon, ob sie von einzelnen Lesern erkannt werden. Sie bleiben durch die medial gesicherte Dauerhaftigkeit für weitere Lektüren erhalten und können aktualisiert oder vergessen werden. Literatur kann in diesem dreifachen Sinne als soziales Gedächtnis fungieren: als ausdifferenzierter Ordnungsbereich mit eigenen Regeln und Gel-

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tungsbedingungen, als morphogenetischer Pool, der Texten formale Bahnen vorgibt, innerhalb derer sie sich entwickeln können, und schließlich als Texte mit internen und externen Vergangenheitsbezügen, die präsent gehalten werden. In allen drei Dimensionen werden Vergangenheitsbezüge mit eigener Logik und unabhängig von den Intentionen der beteiligten Individuen aktualisiert oder vergessen.

Fazit Auch wenn die eigentliche Hölle in beiden Werken nicht direkt auftaucht, verweisen die Konstrukte der innerweltlichen Höllen bei Mann und die Unterwelt bei Schmidt auf die unterweltliche Strafeinrichtung, wie sie im Ordnungsbereich der Religion vielfach entwickelt wurde. Beide Texte fungieren in ihrem Feld, dem Literarischen, als soziale Erinnerungen an die ewige Verdammnis. Im literarischen Ordnungsbereich werden die entsprechenden Semantiken und Vorstellungen aufgerufen und zur Schaffung von literarischen Meisterwerken gebraucht. Insofern wird das religiöse soziale Gedächtnis mobilisiert und, weil diese Form in einem ernsthaften Kontext nicht mehr eingeführt werden kann, damit gespielt, ironisierend bei Mann, parodierend bei Schmidt. Mann aktualisiert die Form des Entwicklungs- und Bildungsromans mit einem auktorialen Erzähler. Das kann er aber nurmehr ironisch gebrochen tun, weil diese Form spätestens seit Lukacs’ Diagnose in der Krise steckt – während Schmidt mit den Prosaformen experimentiert. Beide tun das im Rekurs auf vorhandene Formen, die in der Aktualisierung angepasst werden. Der Roman Manns weist eine komplexe zeitliche Struktur auf, in der die Rahmenerzählung mit der erzählten Biografie und den biographischen und historischen Ereignissen komplex verschachtelt ist. Dazu kommen die vielfältigen intertextuellen Verweise auf Faust- und auf Höllentexte, aber auch auf Adornos musikphilosophische Schriften, die in Kooperation mit dem Autor zum Teil wörtlich in den Roman eingebaut werden – etwa zu Beethoven oder der Zwölftonmusik. Schmidts Text ist zeitlich zwar linear erzählt, löst den kontinuierlichen Fluss der Prosa in ›poröse‹ Elemente auf. Wie immer bei Schmidt findet eine Vielzahl von offenen und versteckten Anspielungen ihren Platz. In beiden Texten wird also das soziale Gedächtnis der Hölle weiterbearbeitet und ergänzt – als inner- oder unterweltliche Leidensfabriken.

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Schließen möchte ich mit dem Motto, das Thomas Mann an den Beginn des Romans gestellt hat. Es ist aus Dante Alighieris Komödie: »hiervon sei Getreulich ein Erinnrungsbild gegeben! – O Musen, Himmelstöchter, steht mir bei; Gedächtnis, das du schriebst, was ich gesehen, Jetzt offenbare deinen Adel frei!« (Dante 1908: 7)

Literatur Bourdieu, Pierre (2001): Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Dante Alighieri (1320/1908): Dantes poetische Werke Bd. I: Die göttliche Komödie – Hölle. Übers. v. Richard Zoozmann, Freiburg: Herder. Elias, Norbert (1976): Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2. Band. Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, Orig. 1939. Haug, Walter (2001): »Der Teufelspakt vor Goethe oder Wie der Umgang mit dem Bösen als felix culpa zu Beginn der Neuzeit in die Krise gerät«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 75, S. 185-215. Luhmann, Niklas (1993a): »Die Ausdifferenzierung der Religion«, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 259-357. Luhmann, Niklas (1993b): »Individuum, Individualität, Individualismus«, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 149-258. Luhmann, Niklas (2008): »Literatur als fiktionale Realität«, in: Schriften zu Kunst und Literatur. Hg. von Niels Werber, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 276-292. Lukács, Georg (1949): Thomas Mann, Berlin: Aufbau. Lukács, Georg (1921/2009): Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Bielefeld: Aisthesis. Mann, Thomas (1980): Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde. Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe, Frankfurt a.M.: Fischer.

Innerweltliche Höllen im sozialen Gedächtnis der Literatur

Mann, Thomas (1996): »Die Kunst des Romans«, in: Deutschland und die Deutschen. Essays 1938-1945. Band 5, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 118-131. Mann, Thomas (2009): Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans, Frankfurt a.M.: Fischer, in der Fassung der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe. Minois, Georges (2000): Hölle – kleine Kulturgeschichte der Unterwelt, Freiburg: Herder. Paul, Jean (1825/1996): »Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele«, in: Jean Paul, Sämtliche Werke. Abteilung I. Bd. 6. Frankfurt a.M.: Zweitausendeins, S. 1107-1236. Schmidt, Arno (1951/1987): »Brand’s Haide«, in: Arno Schmidt. Bargfelder Ausgabe. Bd. I/1, Zürich: Haffmans, S. 115-199. Schmidt, Arno (1958/1986): »Tina oder über die Unsterblichkeit«, in: Arno Schmidt. Bargfelder Ausgabe. Bd. I/2, Zürich: Haffmans, S. 165-187. Schmidt, Arno (1953/1995): »Berechnungen«, in: Arno Schmidt. Bargfelder Ausgabe, Bd. III/3, Berlin: Suhrkamp, S. 101-106 Schopenhauer, Arthur (1859/1988): Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band, Zürich: Haffmans. Schütz, Alfred (2016): »(Sinn einer Kunstform [Musik])«, in: Alfred Schütz, Schriften zur Musik, Band VII, Konstanz: UVK, S. 37-77. Sebald, Gerd (2014): Generalisierung und Sinn. Überlegungen zu einer Theorie sozialer Gedächtnisse und des Sozialen, Konstanz: UVK. Vorgrimler, Herbert (1993): Geschichte der Hölle, München: Fink. Weber, Max (2005): Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Teilband 2. Religiöse Gemeinschaften, Max Weber-Gesamtausgabe, Band I/22-2, Tübingen: Mohr.

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Im Höllen-Labyrinth des Metal Überlegungen zu Praktiken und Funktionen beständiger Jenseitsadressierung in einer dunklen Musikkultur Sarah Chaker

Eine Warnung vorweg: Wer sich als Forscher auf Spurensuche nach dem Höllischen im (Heavy) Metal begibt, läuft Gefahr, sich tiefer und tiefer in seine Höllenkreise zu verstricken. Überwältigt allein von der schieren Anzahl der mal mehr, mal weniger offensichtlichen höllischen Anklänge und Verweise auf unterschiedlichen Ebenen der Inszenierung im Metal, fasziniert von der variierenden Art ihrer Handhabung und Präsentation, will man sofort zumindest ein transdisziplinäres Graduiertenkolleg ins Leben rufen, das sich des Themas annimmt.1 Der Begriff ›(Heavy) Metal‹ bezieht sich – sehr allgemein gesprochen – auf eine bestimmte Form von Musik2 als auch auf eine spezifische kulturelle und soziale Praxis3 , die sich gegen Ende der 1960er Jahre, ausgehend von England und den USA, zu entfalten begann und rasch internationale Verbreitung fand (vgl. Chaker o. D. [2013]). ›Heavy Metal‹ wurde dabei lange Zeit als Überbegriff für verschiedene Ausdifferenzierungen und Teilpraxen des Metal wie Speed Metal, Thrash Metal, Power Metal, Gothic Metal, Black 1 2 3

Meiner geschätzten Kollegin Anna-Katharina Höpflinger danke ich sehr herzlich für Ihre konstruktiven Anregungen zu diesem Artikel. Spezifika zur »musikalischen Sprache des Heavy Metal« lassen sich Dietmar Elfleins Dissertationsschrift entnehmen (vgl. Elflein 2010). In meiner Dissertation habe ich Black Metal und Death Metal theoretisch als Formen musikalischer Praxis im Sinne Kurt Blaukopfs beschrieben – sein erweiterter, prozesshafter Musikbegriff begreift musikalische Praxis immer auch als kulturelle und soziale Praxis (vgl. Blaukopf 1982, in Anwendung auf Metal vgl. Chaker 2014: 26ff.). Zur Auslegung der Begriffe ›Praxis‹ und ›Praktiken‹ vgl. zum Beispiel Zembylas o. D. (2011).

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Metal, Death Metal et cetera verwendet (vgl. Chaker 2014: 15). Inzwischen jedoch wird die Bezeichnung »wohl in Zusammenhang mit der zunehmenden Ausdifferenzierung des Metal-Universums […] begrifflich enger geführt. Während Heavy Metal heute meist einen ganz spezifischen Musik- und Musizierstil beschreibt, der in den 1980er Jahren zur vollen Blüte gelangte und dessen Formensprache vor allem angelsächsische Bands prägten (vgl. Elflein 2010: 95 […]), hat sich inzwischen die Bezeichnung ›Metal‹ als ein Sammel-/Oberbegriff für die diversen Strömungen in dieser Musikkultur durchgesetzt […].« (Ebd.) Die Ausgestaltungen der Höllen4 im Metal sind meines Wissens bisher nicht näher oder dezidiert untersucht worden, auch nicht in den metal studies5 , obwohl schon ein oberflächlicher Blick auf die Hervorbringungen dieser nunmehr seit über 50 Jahren bestehenden Musik- und Kulturpraxis reiche Ernte verspricht. Nun neigt bekanntlich gerade das Offensichtliche und Naheliegende dazu, übersehen zu werden. Eine Rolle mag darüber hinaus eine Tendenz zur Fokussierung auf die Person spielen, im konkreten Fall auf die übermenschlichen Herrscher (zum Beispiel Hel, Satan) inklusive der ihnen zugeschriebenen Konzepte und Mythologien, die zuungunsten der Beobachtung ihrer konkreten Heim- und Wirkungsstätten ging. Während die Verwendungs- und Funktionsweisen religiöser Codes im Metal wie auch das mannigfaltige Auftreten des Teufels in dieser Kulturpraxis durchaus

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In vorliegendem Artikel wird im Kontext des Metal bewusst von Höllen (und später auch von Unterwelten) im Plural gesprochen. Wie noch gezeigt werden wird, fallen die sprachlichen, bildlichen, räumlichen und musikalisch-klanglichen Zugriffe auf selbige im Metal durchaus unterschiedlich aus, wenngleich mitunter, abhängig unter anderem von Raum, Zeit und Teilpraxis, dominante Inszenierungspraxen und Lesarten bestehen. Im Hinblick auf das Jenseits ist Metal also eine offene und reiche Kultur, die verschiedene Aushandlungen des Höllischen nebeneinander bestehen und zulässt. Wenngleich erste, umfassendere wissenschaftliche Publikationen zum Thema ›(Heavy) Metal‹ bereits in den 1990er Jahren vereinzelt vorgelegt wurden, so schlägt erst 2008 mit der ersten internationalen Konferenz in Salzburg zum Thema Heavy Fundametalism: Music, Metal and Politics die Geburtsstunde der metal studies im Sinne eines inter- und transdisziplinär orientierten Forschungsgebiets und Forschungsnetzwerks, an dem sich Wissenschaftler aus aller Welt beteiligen. Für Details zur Entwicklung der metal studies vgl. zum Beispiel Chaker o. D. (2013), Hecker 2014: 89ff.

Im Höllen-Labyrinth des Metal

wissenschaftliche Beachtung fanden6 , blieben die Höllen des Metal bisher weitgehend unberücksichtigt. Durch die Verwurzelung im Blues sind der Teufel – und mit ihm höllische Anspielungen und Anklänge – im (Hard) Rock und Metal von Anfang an präsent.7 Manuel Trummers Dissertation legt anschaulich Zeugnis davon ab, wie Bands im Verlaufe der Geschichte des Metal den »Teufel laufend in neue, sich der aktuellen gesellschaftlichen Situation anpassende Gewänder [hüllen]« (ebd.: 334), wobei »[d]er Rückgriff auf das Traditionale […] nicht willkürlich sondern stets als Reaktion auf und vor dem Hintergrund kultureller Bedürfnisse und medialer Einflüsse« (ebd.) geschehe. Die Genese einer Okkult-Rock-Szene8 habe sich in den 1960er Jahren in England und den USA nicht zuletzt deshalb so erfolgreich vollzogen, weil die beteiligten Bands »auf 6

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Durch die pauschale Abqualifizierung von Rockmusik im Allgemeinen und Heavy Metal im Speziellen als »Teufelsmusiken« – so zumindest die Einschätzung seitens einiger fundamental-christlicher »Rockexperten« (Helsper 1992: 99) insbesondere in den 1980er Jahren – wurden religiöse Codes und satanische Verweise im Metal vergleichsweise früh gründlich untersucht: So haben unter anderem Helsper (1992), Wehrli (2001) oder Roccor (2002: 250ff.) die in unterschiedlichen Quellen geäußerten Bedenken und Besorgnisse bezüglich der teuflischen Implikationen des Metal nicht nur frühzeitig dokumentiert, sondern konnten viele Annahmen in ihrer Pauschalität auch insofern widerlegen, als dass sie aufzeigten, wie satanische Verweise und Teufelssymboliken durch die Anhänger ausgedeutet werden, das heißt, wie sie im Kontext des Metal funktionieren. Für den vorliegenden Artikel besonders relevant und hilfreich waren die umfassenden Studien von Manuel Trummer und Sebastian Berndt. Trummer arbeitet in seiner kulturwissenschaftlichen Dissertation zu Transformationen und Erscheinungsformen der Traditionsfigur ›Teufel‹ in der Rockmusik verschiedene Typen des Teufels heraus, welchen in der »alltagskulturelle[n] Appropriation durch den Menschen« (Trummer 2011: 13) unterschiedliche Funktionen zugewiesen werden. Die Hölle ist bei Trummer durchaus Thema, wenn auch eher implizit. Sebastian Berndt hat sich in seiner Doktorarbeit aus theologischer Sicht unter anderem mit verschiedenen Formen des Satanismus sowie mit der Verhandlung der Apokalypse im Metal und im Christentum auseinandergesetzt (vgl. Berndt 2012). Wie religiöse Codes im Metal gebraucht werden und interkulturell funktionieren, zeigen darüber hinaus die wissenschaftlichen Arbeiten von Anna-Katharina Höpflinger (am Beispiel Black Metal in der Schweiz, vgl. Höpflinger 2018 und 2020) und von Pierre Hecker (am Beispiel [Black] Metal in der Türkei, vgl. Hecker 2012) auf. Vgl. hierzu ausführlich zum Beispiel Trummer 2011: 74ff. ›Szenen‹ lassen sich als »[t]hematisch fokussierte kulturelle Netzwerke von Personen, die bestimmte materiale und/oder mentale Formen der kollektiven Selbststilisierung teilen und Gemeinsamkeiten an typischen Orten und zu typischen Zeiten interaktiv stabilisieren und weiterentwickeln« (Hitzler et al. 2005: 20) verstehen. Der Begriff fo-

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einer bereits bestehenden okkultistischen Infrastruktur« (ebd.: 121) aufbauen konnten9 , die sich im Zuge der ›Gegen-Bewegungen‹ der 1960er Jahre, insbesondere im Umfeld der Hippies mit ihrer grundsätzlichen spirituellen Offenheit und Neugier, herausbildete. Neben der Wiederentdeckung der Lehren des britischen Okkultisten Aleister Crowley, der die Beatles ebenso inspirierte wie den Filmemacher Kenneth Anger, der wiederum »maßgeblich verantwortlich für das Interesse der [Rolling] Stones an okkulten Themen« (ebd.: 113) gewesen sein soll, erreichte zu dieser Zeit Anton Szandor LaVey mit der von ihm 1966 in San Francisco gegründeten Church of Satan ein breiteres Publikum – nicht zuletzt dank der hohen massenmedialen Aufmerksamkeit, die ihm zuteilwurde (vgl. ebd.: 110). In direktem Kontakt mit LaVey stand ab Ende der 1960er Jahre die RockBand Coven. Das Logo der US-Band als auch der Titelschriftzug auf ihrer Debüt-LP Witchcraft Destroys Minds & Reaps Souls aus dem Jahr 1969 präsentieren sich feuerumzüngelt (vgl. ebd.: 117, 410), womit ein direkter bildlicher Verweis auf ein Höllenfeuer10 gegeben ist. Seitens ihrer Plattenfirma wurde die Neuerscheinung mit »Hölle von einem Album« (zit.n. Trummer 2011: 116) beworben und spielt visuell wie auch in Bezug auf die Songtexte »bis ins letzte Detail mit originär okkulter Symbolik« (ebd.), während die Band musikalischklanglich dem Folk/Psychedelic Rock verhaftet blieb (vgl. ebd.). Zur gleichen Zeit blühte »die englische Okkult-Rock-Szene mit Bands wie LUCIFER, BLACK SABBATH oder […] BLACK WIDOW« (ebd.: 121) auf, wobei es schließlich Black Sabbath gelang, nicht nur in musikalisch-klanglicher Hinsicht den »Beginn einer musikalischen Sprache des Heavy Metal« (Elflein

9 10

kussiert auf die Akteure einer sozio-kulturellen Praxis, die eine sportliche oder musikalische Praxis (hier: Metal) gestalten, verbreiten und sich aneignen. Vgl. hierzu ausführlich Trummer 2011: 101ff. Nach Lang sind mit dem Feuer verbundene Vorstellungen der Hölle schon im Alten Ägypten verbreitet: »Immer wieder begegnet in den ägyptischen Überlieferungen das Feuer – Feuergruben, Feuerfallen und vor allem ein Feuersee werden als Straforte genannt. Nach dem sogenannten ›Höhlenbuch‹ werden die Verdammten in Kesseln gekocht und sterben wiederum, erleiden also einen zweiten, endgültigen Tod« (Lang 2009: 25) – womit laut Lang die zu erduldende Qual im Alten Ägypten, anders als im Tartaros der Alten Griechen, zumindest endlich ist. Unterschiedlich gestalten sich auch die Funktionen des Feuers in der christlichen Lehre – als Höllenfeuer kann es auf unendliche Qual verweisen –, eine Vorstellung allerdings, »die auf das Buch der Offenbarung beschränkt« (Lang 2009: 41) ist, oder als Fegefeuer der Reinigung und Läuterung dienen (vgl. ebd.: 58f.).

Im Höllen-Labyrinth des Metal

2010: 13f.) zu definieren, sondern sich auch inhaltlich vom stark bürgerlich geprägten Okkult-Rock ablösen konnte: »Gerade im Vergleich mit den spektakulären, geradezu karnevalesken Auftritten von satanischen Showmastern wie BLACK WIDOW oder COVEN wird deutlich, wie grundlegend neu der nüchterne, realistisch-proletarische Ansatz von BLACK SABBATH den Teufel in Texten und Image aufgriff und damit ein weiteres diabolisches Rollenmodell für nachfolgende Künstler schuf« (Trummer 2011: 133) – der Metal war geboren. Von Beginn an wird sich der Teufel in seinen verschiedenen Facetten und mitsamt seiner Gefolgschaft als dessen treuer Begleiter erweisen, wenngleich er sich die Aufmerksamkeit der Anhänger zunehmend mit Repräsentanten anderer Unterwelten teilen muss. Höllen und Unterwelten11 werden im Grunde auf allen denkbaren ästhetischen Darstellungsebenen des Metal adressiert, inszeniert und adaptiert: Höllenverweise finden sich im Erklingenden ebenso wie auf sprachlicher Ebene (Songtexte, Band-Namen, Musiker-Pseudonyme, Diskurspraktiken), auf visueller und performativer Ebene (Gestaltung physischer Tonträger, Band-Logos, Live-Performances, Musikclips, Mimik, Gestik, Tanz) als auch in Paratexten (Kleidung, Accessoires, Tätowierungen), wobei ihr jeweiliges Zusammenspiel im Einzelfall zu beobachten und abzuklären ist. Interessant erscheint dabei vor allem die Binnensicht der Metal-Anhänger: In Rekurs 11

In Bezug auf konkrete Jenseitsorte und Begriffe ist eine klare Abgrenzung, ob es sich hierbei um eine Unterwelt und/oder um eine Hölle handelt, nicht immer möglich, da sich die Zuschreibungen im Verlaufe der Geschichte gewandelt haben. So wird etwa der Hades zwar »in allen alten Kulturen als unangenehmer Ort und der Aufenthalt dort in den schwärzesten Farben geschildert, doch erscheint er nie als Hölle, in der besondere, als Strafe verstandene Qualen zu erleiden sind« (Lang 2009: 10). Erst beim Evangelisten Lukas wird der Hades zur Hölle, zu einem »Ort der Strafe« (ebd.: 35), der zu fürchten ist. Dass die Hölle ein Ort ist, an dem »besondere, als Strafe verstandene Qualen zu erleiden sind« (ebd: 10), dürfte eine weit verbreitete Vorstellung sein. Allerdings lässt die Hölle sich – im Sinne Origenes´ – auch als Ort der Läuterung und der Reinigung verstehen (vgl. ebd.: 56). Die Zuschreibungen und Auslegungen des Begriffs ›Hölle‹ sind also alles andere als klar und eindeutig. Da die Forschungen zu den Höllen des Metal derzeit noch am Beginn stehen und auch die Kriterien des Höllischen noch genauer zu spezifizieren sind, ist es im Sinne einer ersten, möglichst breiten Bestandsaufnahme meines Erachtens sinnvoll, mit den Höllen zunächst auch verschiedene Unterwelten, die im Metal adressiert werden, zu erfassen, die anschließend auf ihr Höllenpotenzial hin befragt werden können.

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auf welche Quellen, Materialien, Medien und Praktiken wurden und werden Unterwelten und Höllen im Metal hervorgebracht? Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang Fremd- und Selbstreferentialität? Wie gestaltet sich ihre mediale Vermittlung und Aneignung? Lassen sich diesbezüglich Unterschiede in den Teilpraxen ausmachen? Schließlich: Welche Funktionen sind mit dem jeweiligen ästhetischen Zugriff auf Höllen und Unterwelten für die Kulturwelt(en) des Metal verbunden? Herausfordernd gestaltet sich, diese Fragen betreffend, die Annahme, dass Musik im Allgemeinen und Metal im Speziellen als eine diskursive und signifizierende Praxis (vgl. Sheperd o. D. [1992]) grundsätzlich offen für alternative und variierende Bedeutungszuschreibungen ist und sich permanent in Reformulierung befindet (vgl. Chaker 2014: 39ff.). Als Prozess und als eine spezifische (musikalische) Praxis (vgl. Blaukopf 1982) ist Metal nicht, sondern wird, und was er »wann wo für wen ist und aus welchen Gründen, hängt von äußeren Umständen (räumlich, zeitlich, gesellschaftlich-kulturell) ebenso ab wie von individuellen Dispositionen und Motivationen« (Chaker o. D. [2013]) – und von den jeweiligen situativen Gegebenheiten. Auch die Unterwelten und Höllen des Metal haben damit keine stabile Bedeutung per se, auch wenn sich innerhalb dieser Kultur von Zeit zu Zeit oder an bestimmten Orten immer wieder dominante Lesarten diesbezüglich herausbilden mögen. Wie also Metal-Anhänger die Unterwelten und Höllen des Metal überhaupt wahrnehmen und deuten, wäre mithilfe empirischer Studien näher abzuklären – eine umfassende Aufgabe, die im Rahmen dieses Artikels nicht geleistet werden kann. Der geschätzte Leser möge es mir daher nachsehen, wenn ich mich im Folgenden auf die Darlegung lediglich einiger ausgewählter Aspekte beschränke, für die ich unterschiedliche Materialien aus der Kulturwelt des Metal nach dem Höllischen durchkämmt habe. Da die Erforschung der Unterwelten und Höllen im Metal derzeit noch am Anfang steht, schien es mir ratsam, zunächst die Verbreitung und Relevanz dieses Themas für die Kulturwelt des Metal abzuklären. Hierfür habe ich Metal-Band-Namen auf Höllen- und Unterwelten-Bezüge hin untersucht. Im Anschluss rekurriere ich auf ein inhaltsanalytisches Vorhaben, das auf Iain Barr zurückgeht und über das rekonstruiert werden kann, wie häufig in Metal-Lyrics das Wort »hell« adressiert wird. Als Musiksoziologin war es mir ferner ein Anliegen, das Ohrenmerk auf musikalisch-klangliche Realisierungen der Hölle im Metal zu legen. Nicht weniger interessant und relevant sind visuelle Codes und performative Aspekte im Metal, die auf Höllisches verweisen und die sich in dieser Kulturpraxis reichhaltig finden, deren Dar-

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stellung aber aus Platzgründen im Folgenden weitgehend ausgespart bleiben muss.12 Am Ende des Artikels wird resümierend auf einige Funktionen der Hölleninszenierungen im Metal eingegangen.

Zoom I: Metal-Band-Namen Am 31. Mai 2020 waren auf der Datenbank Encyclopaedia Metallum – The Metal Archives13 weltweit 136.390 Metal-Bands gelistet. Ich habe die Datenbank gezielt nach Band-Namen durchsucht, die die Hölle beziehungsweise eine Unterwelt im Namen tragen. Dies traf zum Zeitpunkt der Recherche (Mai 2020) auf 882 Bands und damit auf 0,65 Prozent aller derzeit auf Metal Archives gelisteten Metal-Bands zu. Wie aus Tab. 1 auf der folgenden Seite hervorgeht entfallen mehr als die Hälfte aller Treffer auf Wortkombinationen, welche den englischen Begriff ›Hell‹ enthalten (N=450), darunter auch einige Wortzusammenstellungen, für die sich mehrere Bands aus unterschiedlichen Ländern und aus verschiedenen Subgenres des Metal entschieden haben (zum Beispiel Hell Patrol [N=7], From Hell [N=4], Holy Hell [N=3], In Hell [N=4], Alice in Hell [N=3]).

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Live- und Videoclip-Performances, Band-Logos und die Cover von Tonträgern haben diesbezüglich einiges zu bieten: Von den mittelalterlich anmutenden Folter-Szenarien und Purgatoriums-Darstellungen eines Lawrence Carroll für verschiedene Alben von Slayer (vgl. unter anderem Slayer 1986, 1988) über apokalyptische Szenarien, wie sie vor allem im Death Metal, Progressive Metal oder Grindcore gehäuft auftreten bis hin zu den Eishöllen des Black Metal, wird Höllisches im Metal auch visuell breit bespielt, wobei sich diesbezüglich innerhalb der verschiedenen Teilpraxen des Metal unterschiedliche ikonographische Motivvorlieben herausgebildet haben, über die bedeutungsvolle Unterschiede generiert werden, welche Distinktion erlauben. Bei Encyclopaedia Metallum – The Metal Archives handelt es sich um eine InternetDatenbank, die seit 2002 besteht. Alle Bands weltweit, die Metal spielen oder gespielt haben, sollen mit der Zeit in dieser systematisch anhand bestimmter Kategorien erfasst und beschrieben werden. Dazu gehören der Herkunftsort, das Gründungsjahr und die bisherigen Veröffentlichungen einer Band, ihre Labelzugehörigkeit(en), Zuordnungen zu einem oder mehreren Metal-Teilpraxen, inhaltliche Themenschwerpunkte und vieles andere. Für Details vgl. Encyclopaedia Metallum – The Metal Archives (o. D.) sowie Wikipedia: Encyclopadia Metallum (o. D.).

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Tabelle 1: Metal-Band-Namen mit Unterwelts- und/oder Höllenbezug auf Encyclopaedia Metallum – The Metal Archives Band-Name

Anzahl (N) Stichtag: 31.5.2020

›Hell‹ als Teil einer Wortkombination (zum Beispiel From Hell, Hell Fire, Hell Patrol, Holy Hell, In Hell, Heaven and Hell)

450

Abyss (inklusive Wortkombinationen), Abyssos

135

Inferno (inklusive Wortkombinationen)

72

Purgatory (inklusive Wortkombinationen), Purgatorium, Fegefeuer

43

Hades (inklusive Wortkombinationen)

40

Helvete (inklusive Wortkombinationen), Helwetti

27

Acheron (inklusive Wortkombinationen)

14

Hel, Helheim (inklusive Wortkombinationen)

14

Gehenna (inklusive Wortkombinationen)

13

Infierno (inklusive Wortkombinationen)

12

Styx (inklusive Wortkombinationen)

11

Hell

10

Tartaros

6

Underworld (inklusive Wortkombinationen)

6

Enfer (inklusive Wortkombinationen)

5

Erebos

5

Niflheim

5

Xibalba (inklusive Wortkombinationen)

5

Nastrond/Naströnd (inklusive Wortkombination)

4

Hölle

2

Orkus

2

Naraka

1

Summe

882

Schlicht und einfach ›Hell‹ nennen beziehungsweise nannten sich zehn der aktuell in den Metal Archives erfassten Bands, wobei sich zunächst im Jahr 1982 eine englische Band, 1983 eine deutsche Gruppe für diesen Namen entschied. Aus der Datenbank geht ferner hervor, dass die zehn mit ›Hell‹ titu-

Im Höllen-Labyrinth des Metal

lierten Bands in Europa, Süd- und Nordamerika sowie in Südkorea aktiv sind (beziehungsweise waren), und in unterschiedlichen Teilpraxen des Metal verortet sind, wobei Black Metal einen erkennbaren Schwerpunkt bildet. 135 Treffer erzielte das Stichwort ›Abyss‹, also die englische Version des griechischen Wortes für ›Abgrund‹ (abyssos), womit sich viele Metal-Bands namentlich dezidiert auf die Bibel beziehungsweise auf das Neue Testament beziehen (unter anderem Lukas-Evangelium und die Offenbarung nach Johannes/Apokalypse, vgl. hierzu Lang 2009: 39ff.) – 16 Bands weltweit nennen sich so. Alle weiteren Treffer in dieser Kategorie entfallen auf Wortkombinationen wie Abyss Angel (N=3), Across the Abyss (N=1), Lord of the Abyss (N=1) et cetera, wobei englische Wortvariationen besonders häufig anzutreffen sind. Jeweils mehr als zehn Bands rekurrieren mit ihrem Namen ferner auf eine der folgenden Bezeichnungen (zum Teil in Wortkombinationen): 72 Bands beziehen sich auf die italienische Übersetzung für ›Hölle‹ – Inferno (N=72). Mit der Verankerung der Begriffe ›Purgatory‹, ›Purgatorium‹ beziehungsweise ›Fegefeuer‹ in den Band-Namen findet sich bei 43 Acts erneut eine Bezugnahme auf christliche Traditionen beziehungsweise die vor allem im römisch-katholischen Glauben fest verankerte Idee des Purgatoriums als einer Art »Nebenhölle«, in der »die minder befleckten Seelen […] in einem Reinigungsprozess auf den Aufstieg in den Himmel« (Lang 2009: 58) vorbereitet werden. Auf das Totenreich der Alten Griechen, den Hades, beziehen sich 40 Bands mit ihrem Namen. Weitere 26 Gruppen entschieden sich für die schwedische und norwegische Übersetzung des Begriffs ›Hölle‹ – Helvete, darunter zahlreiche Black Metal-Bands, wobei jedoch nur vier Bands dieses Namens aus Schweden oder Norwegen stammen. Womöglich, dies ist jedoch nur eine Vermutung, der näher nachzugehen wäre, rekurrieren manche jener Bands aus aller Welt, unter anderem von den Philippinen, aus Ecuador, Argentinien, Italien oder Bosnien-Herzegowina, mit der entsprechenden Benennung auf den von Øystein Aarseth im Jahr 1991 gegründeten Plattenladen Helvete in Oslo, der heute als Geburtsort und Kristallisationspunkt des Norwegischen Black Metal unter den Anhängern einen legendären Ruf genießt14 . Ebenfalls auf Skandinavien beziehungsweise die Edda verweisen 14 weitere, überwiegend in Europa ansässige Bands, die die Wörter ›Hel‹ oder ›Helheim‹

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Dieser Aspekt erscheint insofern bemerkenswert, weil unter dieser Annahme nicht die nordische Mythologie die zentrale Referenz darstellt, sondern eine MetalInstitution – ein Beispiel für Selbstreferenzialität im Metal.

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im Band-Namen tragen. Auf den Fluss Acheron, der in der griechischen Mythologie »das Totenreich vom Reich der Lebenden trennt« (Lang 2009: 10), knüpfen weitere 14 Gruppen an, 13 Bands beziehen sich mit dem Wort ›Gehenna‹ (hebräisch: ›Ge Hinnom‹) auf das Hinnomtal, »einem vor den Toren Jerusalems liegenden Ort der Feuerstrafe und Verwesung« (Lang 2009: 42, in Rekurs auf den Propheten Jesaja). Bei zwölf Bands, die überwiegend in Südamerika und Spanien beheimatet sind, findet sich, wenig überraschend, die spanische Übersetzung für ›Hölle‹ – ›Infierno‹ – im Band-Namen wieder. Auf den Fluss beziehungsweise die gleichnamige Flussgöttin Styx in der griechischen Mythologie beziehen sich elf Metal-Bands in ihrem Namen. Weitere Referenzen auf Unterwelten und Höllen in Metal-Band-Namen mit weniger als zehn Treffern können Tab. 1 entnommen werden. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich in den Metal-BandNamen neben der direkten Adressierung der Hölle in unterschiedlichen Sprachen starke Bezüge auf die griechische Mythologie (zum Beispiel Acheron, Erebos, Hades, Styx, Tartaros), auf die nordische Mythologie (zum Beispiel Helheim, Niflheim, Náströnd), auf die hebräische (Gehenna) sowie auf die biblische Mythologie und christliche (insbesondere römisch-katholische) Vorstellungen und Lehren (zum Beispiel Abyss/Abyssos, Purgatorium/Fegefeuer) ablesen lassen. Vereinzelt, dies sei auch erwähnt, rekurrieren Bands mit ihrem Namen auf eine Unterwelt, wie sie in der römischen Sagenwelt (Orkus), in der Mythologie der Maya (Xibalba) oder in Indien (Naraka) imaginiert wird. Interessant erscheint ferner, dass sich namentliche Bezüge auf Unterwelten und Höllen quer durch alle Teilpraxen des Metal finden lassen – im Black Metal, Thrash Metal oder Death Metal ebenso wie im Speed Metal, Power Metal oder Doom Metal, vereinzelt auch im Grindcore, Metalcore, Stoner-Metal oder im Sludge-Bereich, um nur einige zu nennen. Ich werte dies als ein Indiz dafür, dass Unterwelten und Höllen einen Meta-Bezugspunkt des Metal bilden, der über Jahrzehnte hinweg gepflegt wurde beziehungsweise wird, auf den Bands weltweit rekurriert haben und rekurrieren und der eine gewisse Relevanz für die Praxis des Metal auch deshalb zu besitzen scheint, weil er die unterschiedlichen Teilpraxen verbindet und damit in der komplexen und ausdifferenzierten Welt des Metal für Kontinuität und Stabilität sorgt.

Im Höllen-Labyrinth des Metal

Zoom II: Songtexte Die Fülle an Metal-Bands, die das Höllische sprachlich adressieren, lassen im Rahmen dieses Artikels die Darstellung ausgewählter Songtexte nicht sinnvoll erscheinen. Bei mindestens 136.000 Metal-Bands weltweit15 wären zunächst einige Millionen Songtexte nach dem Höllischen zu durchforsten, bevor aus diesem Material eine begründete Auswahl für ausführliche und fundierte Einzelfallanalysen abgeleitet werden könnte – genug Stoff für ein mehrjähriges Forschungsprojekt. Allerdings können im Folgenden auf Basis einer quantitativen Songtext-Analyse, die Iain Barr vorgelegt hat, und in Rekurs auf theoretische Überlegungen aus dem Umfeld der metal studies zu Funktionsweisen von Inhalten, Themen und zentralen Motiven im Metal zumindest einige Anknüpfungspunkte und Hypothesen dargelegt werden, die zu weiteren Forschungen anregen. Iain Barr, Physiker, Datenwissenschaftler und Metal-Fan, ist der Frage nachgegangen, welche Begriffe und Wörter in Metal-Songtexten besonders häufig vorkommen. Für seine Analyse entnahm Barr der Webseite darklyrics.com 222.623 Songtexte, welche von 22.314 unterschiedlichen Metal-Alben stammen und von 7.364 Metal-Bands erschaffen wurden (vgl. Barr 2016a)16 . Nach der Tilgung von Füllwörtern lässt sich anhand seines Datensets unter anderem festzustellen, »at how the relative frequency of words change between the metal lyrics and the English language in general« (ebd.). Mithilfe des Natural Language Toolkit (NLTK) und in Abgleich mit dem sogenannten Brown Corpus17 ermittelte Barr die ›Metalness‹ bestimmter Wörter, wobei seine Berechnungen ergaben, dass das Wort ›burn‹ mit einem Wert von 3,81 im Metal insgesamt das »most metal word« darstellt (vgl. ebd.). Weitere Begriffe, die laut Barr sehr häufig in Metal-Songtexten auftreten (vgl. ebd.), sind ›cries‹ (3,63), ›veins‹ (3,59), ›eternity‹ (3,56), ›breathe‹ (3,54), ›beast‹ (3,54), ›gonna‹ (3,53), ›demons‹ (3,53), ›ashes‹ (3,51), ›soul‹ (3,40), ›sorrow‹ (3,40), ›sword‹

15

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Vgl. Encyclopaedia Metallum – The Metal Archives (o. D.), Stand Mai 2020 – die tatsächliche Zahl an Metal-Bands, die weltweit aktiv sind oder waren, dürfte weitaus höher sein. Für Details zur Methodik, zur Durchführung der Erhebung und zu Einzelergebnissen, etwa zum Wortgebrauch unterschiedlicher Bands, vgl. Barr (2016a). Brown University Standard Corpus of Present-Day American English nach Henry Kučera und Winthrop Nelson Francis – Barr verweist für Informationen zum Brown Corpus auf Wikipedia: https://en.wikipedia.org/wiki/Brown_Corpus (Abfrage: 18.6.2020).

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(3,38), ›goodbye‹ (3,28), ›dreams‹ (3,28), ›gods‹ (3,24), ›pray‹ (3,22), ›reign‹ (3,15), ›tear‹ (3,12), ›flames‹ (3,12) und ›scream‹ (3,11).18 Das Wort ›hell‹ findet sich zwar nicht unter den Top 20 der »most metal words«, mit einem Wert von 2,40 gehört es aber dennoch zu den sehr häufig in Metal-Songtexten verwendeten Wörtern (vgl. Barr o. D. [2016b]) – das Thema ›Hölle‹ wird sprachlich in Metal-Lyrics also oft adressiert. Darüber hinaus finden sich unter den oben genannten Begriffen mit der höchsten ›Metalness‹ einige, die in den entsprechenden Metal-Songtexten womöglich neben apokalyptischen auch in höllischen Kontexten stehen, was durch Einzelfallanalysen näher zu prüfen wäre (zum Beispiel ›demons‹, ›reign‹). Insbesondere die im Metal sehr häufigen sprachlichen Verweise auf Feuer, repräsentiert durch die Begriffe ›burn‹ und ›flames‹, sind mit einiger Wahrscheinlichkeit unter anderem auch mit der Schilderung von Höllen-Kontexten verbunden – so werden Wendungen wie »burn in hell«19 , »in hell I burn«20 und Ähnliches von unterschiedlichen Metal-Bands fast schon sloganhaft gebraucht. Insofern kann davon ausgegangen werden, dass Höllenvorstellungen in Songtexten des Metals des Öfteren (keinesfalls ausschließlich!) mit einem Höllenfeuer oder einem Feuersee assoziiert werden. Barr zeigt auf seiner Webseite ferner am Beispiel ausgewählter MetalBands vergleichend ihren Wortgebrauch in Songtexten auf (vgl. Barr 2016a). Ob sich in den unterschiedlichen Teilpraxen des Metal bezüglich der Bevorzugung bestimmter Wörter und Ausdrücke in Songtexten und Songtiteln signifikante Unterschiede festmachen lassen, ist eine derzeit noch offene Frage und stellt eine interessante Herausforderung für Linguisten dar. Die Tatsache, dass bestimmte Worte und mit ihnen bestimmte Themen in Metal-Band-Namen und Metal-Songtexten gehäuft auftreten, sagt jedoch noch nichts darüber aus, wie diese dann im Einzelnen gehandhabt werden, wobei sich in den Teilpraxen des Metal bezüglich eines bestimmten inhaltlichen Schwerpunkts mitunter vollkommen unterschiedliche Verarbeitungs-

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20

Zum Vergleich: Das »least metal word« ist Barrs Angaben zufolge ›particularly‹ mit einem Wert von -6,47 (vgl. Barr 2016a). Burn in Hell: Songtitel unter anderem von Twisted Sister (1984, Album Stay Hungry), Judas Priest (1997, Album Jugulator), Venom (2006, Album Metal Black), und Clawfinger (2001, Album A Whole Lot of Nothing). In Hell I Burn: Songtitel unter anderem von Deicide (1992, Album Legion) oder Slechtvalk (2000, Album Falconry).

Im Höllen-Labyrinth des Metal

weisen zeigen können (nicht müssen). In Bezug auf den Tod, einem anderen inhaltlichen Schwerpunkt im Metal und seiner Handhabung im Black Metal beziehungsweise Death Metal, kam ich vor einigen Jahren zu dem Ergebnis: »Auch wenn das Thema Tod für Black- und Death Metal […] gleichermaßen relevant ist, erfolgt die Verarbeitung und Inszenierung in den Inhalten der Musik auf unterschiedliche Weise. Der mit dem Konzept Tod verbundene kulturell-ästhetische Code ist im Black Metal ein anderer als im Death Metal.« (Chaker 2014: 330) Trummer kommt in seiner Auseinandersetzung mit Figurationen des Teufels im Rock und Metal zu einem ähnlichen Schluss, wenn er resümierend feststellt, dass sich in den unterschiedlichen Teilpraxen des Metal mit der Zeit verschiedene teuflische »Motivfavoriten« (Trummer 2011: 362) herausgebildet haben, wobei die unterschiedlichen »Motivtraditionen […] von Szenegrenzen bestimmt werden. So kann zweifellos festgehalten werden, dass einzelne Genres und Subgenres eigene Teufelsbilder schaffen, die innerhalb der zugehörigen Szenen und Subszenen tradiert werden« (Trummer 2011: 144). Ich nehme an – und hierbei handelt es sich um eine Hypothese, die noch näher zu verifizieren beziehungsweise zu falsifizieren wäre –, dass Gleiches für den Themenkreis der Hölle zutrifft, was im Folgenden zumindest kurz in Rekurs auf ausgewählte Erzähltraditionen und Motivlinien des Höllischen in unterschiedlichen Teilpraxen des Metal angedeutet werden soll: So finden sich ›Reiseberichte‹ von Musikern in die Hölle primär in Songtexten im Hard Rock, im Classic Metal oder auch bei Vor- und Frühformen des Black Metal21 , wobei der Trip mitunter zu einer Reise ohne Wiederkehr wird, etwa dann, wenn die Hölle, die den fiktiven Beschreibungen nach einiges an Unterhaltungswert und dionysischen Momenten22 zu bieten hat, zum neuen 21

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Vgl. schon AC/DC mit ihrem Song Highway to hell (1979) auf dem gleichnamigen Album oder das Stück To hell and back von Venom (1982, Album Black Metal). Generell ist anzumerken, dass Berichte über Reisen in die Unterwelt eine sehr alte, beispielsweise schon in Altbabylonien (Gilgamesch-Epos) und der griechischen Antike (Orpheus und Eurydike, Herakles) gepflegte Erzähltradition darstellen. Mit Aucassin et Nicolette (Autor unbekannt) ist die Schilderung einer Lusthölle in der mittelalterlichen Dichtung belegt, wobei Lang darauf verweist, dass sich » [r]eligionsgeschichtlich […] hinter der Lusthölle das keltische Jenseits mit seinem raffinierten Liebesleben [verbirgt]; den Himmel der Kelten hat die christliche Theologie verdrängt und zur Hölle erklärt« (Lang 2009: 86). Auf welche Referenzen sich Metal-Bands in der Schilderung ihrer Lusthöllen jeweils stütz(t)en, ist noch näher aufzuklären.

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Zuhause auserkoren wird.23 Durch die Schilderung der Reise (man reist durch Räume) ist bei dieser Erzählform der Orts- beziehungsweise Raumbezug klar gegeben. Im Thrash Metal, Death Metal, Grindcore oder Progressive Metal sind gehäuft Schilderungen apokalyptischer Szenarien24 anzutreffen, die oft eine sozialkritische Komponente beinhalten. Die Erde wird zum Schauplatz des letzten Kampfes zwischen Gott und Satan, wobei im Zuge ihrer totalen Vernichtung die Hölle eine Verlagerung ins Diesseits erfährt. Hierdurch wie auch durch eine zumeist realistische Erzählstrategie erscheint die Hölle vergleichsweise nah und greifbar: Die Hölle, das sind die Alltagshöllen, die uns umgeben: Krieg, Mord, Folter, Vergewaltigung, Kindesmissbrauch, Tierquälerei, Naturzerstörung sind Ergebnisse menschlichen Handelns – es sind »Menschen, die anderen Menschen das Leben zu Hölle machen.« (Berndt 2012: 282f.) Der Mensch wird für sein Tun in die Verantwortung genommen, wobei die »geradezu tragischen Spannung zwischen der prinzipiellen Möglichkeit einer besseren Welt und der konkreten Erfahrung, daß der Mensch sich selbst den Weg in diese bessere Welt versperrt, […] dazu [führt], daß der Metal bloß Probleme benennen kann, aber keine Antworten zu bieten hat.« (Ebd.: 282f.) Bei dieser Praktik der Hölleninszenierung wird der Raum ebenfalls klar konturiert, wirkt aber gegenüber der starken moralischen Implikation in jedem Fall zurückgenommen. Völlig anders wiederum gestaltet sich die Verarbeitung der Hölle im Black Metal und Pagan Metal: In diesen Teilpraxen liegt der Fokus häufig auf Erzählungen der nordischen Mythologie, womit Hel als Göttin als auch Hel und Helheim als Unterwelt, als Raum, im Kontext des Metal eine Neubelebung und Adaption erfahren (für Details vgl. von Helden 2017). Wie aus dieser kurzen Überschau hervorgeht, haben sich in der Kulturwelt des Metal innerhalb der verschiedenen Teilpraxen unterschiedliche Erzählweisen und Bezugnahmen auf das Thema ›Hölle‹ herausgebildet, die heute nebeneinander bestehen, wobei über die Art des Zugriffs bedeutungsvolle Unterschiede generiert werden. Die jeweiligen höllischen Erzählstrategien wirken innerhalb einer Teilpraxis stilbildend und sind Mittel »absichtli-

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Vgl. zum Beispiel Judas Priest: Hell is home (2001, Album Demolition), wobei Berndt interpretierend annimmt, dass mit der Hölle eigentlich »der Metal gemeint sein« dürfte (Berndt 2012: 112). Berndt äußert sich in seiner Dissertation ausführlich zur Apokalyptik im Metal wie im Christentum (vgl. Berndt 2012: 235ff.).

Im Höllen-Labyrinth des Metal

cher Kommunikation« (Hebdige 1998: 392), können also als soziale Marker, als Codes, fungieren, die den Anhängern anzeigen, wo im weitläufigen Raum des Metal eine Band zu verorten ist.

Zoom III: Wie klingt die Hölle? Wohl kaum eine andere Musikpraxis in der Geschichte der Musik hat sich derart – und zudem noch frei- und bereitwillig – um klangliche Realisierungen der Hölle bemüht wie die des Metal. Bezüglich der Einschätzung, Metal klinge wie »Höllen-Lärm«25 , dürften sich Metal-Adepten wie Uneingeweihte so einig wie sonst nur selten sein – nur die daraus resultierenden Bewertungskriterien sind jeweils andere: Für erstere hängt mit der Zuschreibung der Hölle eine positive Bewertung der Musik im Sinne eines Qualitätsmerkmals zusammen – eine ›höllische‹ Metal-Produktion verspricht eine gute zu sein – während zweitere das Höllen-Attribut zur diskursiven Abwertung und Deklassierung des Metal nutzen. Zunächst stellt sich jedoch die Frage, wie es – abseits der Bewertung von Musik – kommt, dass Metal innerhalb und außerhalb der Szene relativ übereinstimmend als ›Höllenmusik‹ wahrgenommen wird? Aus musiksoziologischer Sicht scheint dies auf einen gesellschaftlich geteilten Zeichenvorrat hinzuweisen, der im Zuge von Sozialisations- und Enkulturationsprozessen erworben wird. Reinhold Hammerstein zeigt in seiner bereits 1974 erschienenen Schrift Diabolus in Musica. Studien zur Ikonographie der Musik im Mittelalter auf, »wie kontinuierlich und geradezu stereotyp über Jahrhunderte hinweg die Vorstellungen, Wertungen und Motive bleiben, die sich auf die ›linke‹ Musik der Teufel, Spielleute, Tiere und Monstren beziehen« (Hammerstein 1974: 92) – und zumindest in Bezug auf musikalisch-klangliche Aspekte scheint ihre Wirkmacht im 21. Jahrhundert weiter Bestand zu haben. Typisch für die im dualistisch geprägten Weltbild des Mittelalters konstituierten Vorstellungen einer Teufels- und Höllenmusik ist, dass diese »ihren Charakter und ihre Maßstäbe aus der Negation und aus dem Kontrast [empfängt]. Sie ist das Gegenbild himmlischer und irdischer liturgischer Musik« (ebd.: 93), wobei in Abgrenzung zur Musik des Himmels »sowohl der Lärm 25

Der Metal-Journalist Ian Christe wählte Höllen-Lärm als Übertitel für die deutschsprachige Übersetzung seiner populärwissenschaftlichen Darstellung einer Geschichte des Heavy Metal (vgl. Christe 2004).

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als auch das Schweigen und die Stummheit als Stigmata von Höllenmusik gelten« (ebd.: 17). Hammerstein führt weiter aus: »Immer wieder wird das Zerrklangliche, Disharmonische, Häßliche der Höllenmusik betont. Sie äußert sich in Klagen, Heulen, Gebrüll, Gebell, in unerträglicher Lautstärke, in Kettenrasseln, Peitschenknallen, Schmiedegedröhn oder auch Hohngelächter und so fort.« (Ebd.: 16) Fast schon klischeehaft scheint Metal mit seinen hohen Lautstärken, seiner verzerrten Klangfarbe und seiner mitunter extremen Impulsdichte (vgl. Elflein 2010: 308), mit der klanglichen Suggestion von Unordnung und Chaos und mit seinen gutturalen Gesangspraktiken (Screaming, Grunting, Growling, Pig Squeals et cetera)26 , die an tierische und monströse Lautäußerungen erinnern, aber auch an Klagegesang gemahnen können, den mittelalterlichen Höllen-Codes zu entsprechen. Wie auch immer diese im Zeitverlauf ihren Weg in die Kulturwelt des Metal hineingefunden haben mögen – bewusst oder unbewusst scheinen Metal-Musiker genau um die Mittel zu wissen, über die sich akustische Unterwelten und Höllen möglichst wirkungsvoll entfachen lassen. Selbstverständlich findet auch der »verbotene« Tritonus-Akkord, welchem »noch lange etwas von seinem alten Wesen an[haftete], indem man ihn etwa dazu benutzt, um teuflische oder ähnlich widrige Sachverhalte oder Affekte zu charakterisieren« (Hammerstein 1972: 8), im Metal Anwendung, wenn auch – je nach Teilpraxis und Band – unterschiedlich stark. Wie Dietmar Elflein herausgearbeitet hat, tritt der Tritonus zunächst bei der in vielerlei Hinsicht stilbildenden Metal-Band Black Sabbath gehäuft auf sowie »auf dem Weg zum Extreme Metal bei Metallica, Megadeth und vor allem Slayer in charakteristischer Weise« (vgl. Elflein 2010: 304), wohingegen er im sogenannten Classic Metal eine untergeordnete Rolle spiele (vgl. ebd.). In Zusammenhang mit Metal als einer Höllenmusik ist ferner das satanische Merkmal der Unordnung und Ungeordnetheit (vgl. Hammerstein 1974: 65) bemerkenswert. »Das (Selbst-)Marketing vieler Black Metal-Musiker*innen und -Bands spielt gerne mit dem Element des Chaos« (Elflein 2018: 129), stellt Elflein fest, um dann nach einer umfangreichen Analyse der Songstrukturen im Norwegischen Black Metal zu dem Ergebnis zu kommen: »Das für Black Metal als wichtig behauptete Chaos entfaltet sich musikalisch auf der

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Hammerstein weist in Rekurs auf antike und mittelalterliche Quellen unter anderem das Heulen und Bellen von Hunden und Wölfen, das Zischen der Schlange oder das Grunzen der Schweine als unterweltliche beziehungsweise teuflische Lautäußerungen aus. Für Details vgl. Hammerstein 1974: 64ff.

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Grundlage ordentlicher Strukturen.« (ebd.: 149). Genau hierin zeigt sich die spielerische Annäherung des Metal an die Hölle – solange die Kreationen des Metal ausgehandelten Regeln und Konventionen unterliegen, bleiben sie Koketterie. Elflein hat in diesem Zusammenhang die »musikalische Sprache des Heavy Metal« als »virtuose Kontrolle der (Ohn-)Macht« (Elflein 2010: 310) gedeutet. Das Chaos jedoch, der Exzess, wird systematisch erzeugt, und der besondere Reiz des Metal liegt gerade darin, sich ihm in kontrollierter Weise hinzugeben und ihn damit zu beherrschen. Um es mit Elflein zu sagen: Es geht um die »Dynamik von Exzess und Kontrolle« (ebd.: 309). Dieser Mechanismus zeigt sich auch auf anderen Ebenen, etwa in den im Metal üblichen Tanzformen, die wiederum perfekt dem mittelalterlichen Höllen-Code des Chaotischen zu folgen scheinen: Erneut das Himmlische kontrastierend, wird im Mittelalter der Tanz in der Hölle als zwanghaft, unreguliert und »ungeordnet, sprunghaft, wild, häßlich bis zur Groteske« (Hammerstein 1974: 39) imaginiert, wobei sich auch die Vorstellung findet, »der Tanz sei ein Kreis, dessen Mittelpunkt der Teufel ist« (ebd.: 47). Wiederum scheinen Tanzpraktiken des Metal wie Headbanging, Pogo oder Moshen beziehungsweise die Bewegung im Moshpit (im Szene-Jargon auch als ›Hexenkessel‹ bezeichnet) fast buchstäblich den mittelalterlichen Beschreibungen zu entsprechen. Nichtsdestotrotz folgen auch die Tanzpraktiken im Metal festen Regeln (vgl. zum Beispiel Chaker 2014: 166f.), die das Ergebnis komplexer körperlicher Aushandlungsprozesse sind: »Der Exzess bleibt kontrollierbar« (Elflein 2010: 309). Im Alltag ist das Reden über himmlische und höllische Musiken nahezu untrennbar mit Praktiken der Bewertung verbunden, wie schon Hammerstein betont: Himmlische Musik sei schön und gut, höllische Musik hingegen hässlich und schlecht. Wenngleich ästhetische Bewertungskriterien das Potenzial besitzen, sich im Zeitverlauf zu wandeln – »[m]usiksoziologisch betrachtet ist Schönheit alles andere als ein absoluter Begriff« (Rösing: 2005: 205) – so ist die andauernde Wirkmacht der in christlichen Ländern des Mittelalters nach und nach ausformulierten Auffassungen vom ›musikalisch Schönen‹ und ›Guten‹ beziehungsweise ›musikalisch Hässlichem‹ und ›Bösen‹ nicht zu unterschätzen – bis heute wurzeln ihre Kriterien »in der mittelalterlichen Metaphysik, so sehr sie auch inzwischen säkularisiert sein mögen« (Hammerstein 1972: 20). Nur aus diesem stark vereinfachenden Dualismus heraus lässt sich die gesellschaftliche Abwertung und Verteufelung des Metal, wie sie mitunter hysterisch betrieben wurde (und teilweise noch wird), nachvollziehen. Wie Rösing

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herausstellt, ist für progressive Musiken »die Inversion des mehrheitlich für schön Befundenen« (Rösing 2005: 205f.) typisch. Dass Metal-Anhänger ihre Musik, die unter anderem bewusst und gezielt als Höllen-Musik konzipiert wird, lieben und in ästhetischer Hinsicht ›schön‹ finden (vgl. Chaker 2014: 356ff.), steht außer Frage – und ist nicht zuletzt als »legitime Kontradiktion gegenüber jeder Art von Schönheit [anzusehen], die uns von Werbeplakaten, aus volkstümlichen Hitparaden und Produktionen im Stil von Modern Talking als Vexierbild des Schönen entgegengrinst« (Rösing 2005: 206).

Fazit Wie die vorangegangenen Ausführungen aufzeigen, haben sich in der Kulturwelt des Metal im Verlauf seiner gut 50-jährigen Geschichte vielfältige sprachliche, klangliche, bildliche und performative Bezugnahmen auf das Höllische herausgebildet. Die stetige und offenbar global verbreitete Thematisierung und Adressierung unterschiedlicher Höllen und Unterwelten im Metal lässt den Schluss zu, dass diese als Leitmotive (neben anderen) eine Art Klammerfunktion übernehmen, über die die ausdifferenzierte, täglich komplexer werdende Praxis des Metal zusammengehalten wird: Die Adressierung der Hölle übernimmt in und für die Kulturwelt des Metal eine integrative Funktion. Ferner eignet sich das Höllische, quasi janusköpfig, aber auch »zur Abgrenzung gegenüber etwas, das als Mainstream wahrgenommen wird, aber unspezifisch und fluide bleibt« (Höpflinger 2018: 75)27 – die Thematisierung der Hölle funktioniert dann als »kulturell-ästhetischer Code, der Differenz erzeugt, dadurch die Absetzung von anderen szenischen Gemeinschaften ermöglicht und damit die Voraussetzung für die Eroberung und Besetzung eines bestimmten Abschnitts des sozio-kulturellen Raumes schafft«28 (Chaker 2011: 208).

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Höpflinger formuliert diese Aussage in Rekurs auf die Funktionen religiöser Codes im Black Metal – ich meine jedoch, dass ihre Einsicht verallgemeinerbar ist. Diese Erkenntnis ergab sich ursprünglich im Kontext eines anderen Meta-Themas des Metal, das ich am Beispiel der Death-Metal-Band Debauchery näher untersuchte – dem der Gewalt (vgl. Chaker 2011). Trummer kommt in seiner Auseinandersetzung mit der Figur des Teufels im Rock und Metal zu einer quasi identen Einschätzung, wenn er schreibt: »Die konnektive Kraft der Szenetraditionen, etwa der kreative Rekurs auf teuflische Ikonographie, sind die Markierungen, die dabei definieren, wer ›wir‹ und

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Neben der Abgrenzung nach außen über das Was – vom Mainstream, von anderen Jugendkulturen und Szenen – erlaubt das Höllische durch die je spezifische Art der Ausdeutung und Handhabung, also über das Wie, zudem eine Art Binnendifferenzierung innerhalb der Kulturwelt des Metal beziehungsweise unter den verschiedenen Teilpraxen: Über die nach und nach gewachsenen, für eine Band und/oder eine spezifische Teilpraxis des Metal als ›typisch‹ erachteten höllischen Inszenierungsstrategien lässt sich auch innerhalb des Metal bedeutungsvolle Differenz herstellen, die wiederum nach innen – in die Teilpraxis hinein – verbindend-integrativ wirkt, nach außen (in Richtung anderer Teilpraxen des Metal) jedoch exkludierend, sodass für die Anhänger oft schon auf den ersten Blick klar ist, in welcher Spielart des Metal eine bestimmte Band zu verorten ist. Neben den eben geschilderten sozialen Funktionen spielen im Kontext der beständigen Variation der höllischen Codes für Metal-Bands auch ökonomische Aspekte eine nicht zu unterschätzende Rolle: Eingebunden in kapitalistische Produktions- und Verwertungszusammenhänge der Musikindustrie, stehen Metal-Bands quasi permanent unter Distinktionszwang.29 Auch deshalb ist der vorhandene Zeichenvorrat ständig ebenso behutsam wie kreativ zu variieren, sodass einerseits der Bezug zu Metal im Allgemeinen und zu einer spezifischen Teilpraxis im Besonderen erkennbar bleibt und darüber hinaus die einmal entwickelte, als ›typisch‹ für eine Band erachtete Ausdrucksweise nicht verloren geht. Andererseits muss eine neue Veröffentlichung, soll sie erfolgreich sein, auch erkennbar Neues enthalten – ein für viele Bands schwieriger Balanceakt. Um sich im »kulturellen Gedächtnis«30 der MetalSzene möglichst dauerhaft zu verankern und um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, auch in ökonomischer Hinsicht einigermaßen erfolgreich zu sein, entwickeln Metal-Bands im Verlaufe ihrer Band-Geschichte im gegenseitigen kreativen Wettbewerb mit- und gegeneinander manchmal auf eher unbeabsichtigt-spielerische Weise, häufig und mit zunehmender Professiona-

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wer ›die anderen‹ sind. Der Rekurs auf die Tradition dient hier der ästhetischen Kommunikation und der Stabilisierung der Gruppe« (Trummer 2011: 363). Rainer Diaz-Bone spricht in Zusammenhang mit der Veränderung von Genres und in Rekurs auf Luhmann von »Formverbrauch« (Diaz-Bone 2002: 168), aus dem ein »Zwang zur Forminnovation« (ebd.) resultiere, wobei das Tempo von ›Kulturwelt‹ zu ›Kulturwelt‹ variiere. Im Sinne von Jan und Aleida Assmann (vgl. zum Beispiel Assmann 1988: 9ff., Assmann 1999).

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lität ganz gezielt auf ästhetischer Ebene bestimmte Markenzeichen.31 Diese Brands können sich auf klangliche Aspekte oder die je spezifische Spielweise beziehen, sich aber auch in der (zumindest phasenweisen) Konzentration auf bestimmte Inhalte und Themenkreise manifestieren – etwa in der Fokussierung auf die Themen ›Unterwelt‹ und ›Hölle‹. Die entsprechenden Bands wären dabei anhand ihrer höllischen Inszenierungspraktiken noch näher zu identifizieren und zu beschreiben32 , wie auch die Umgangsweisen der Anhänger bezüglich der im Metal kursierenden Unterwelts- und Höllendarstellungen derzeit noch unerforscht sind und systematischer Erschließung bedürften – notwendige Schritte, die dazu beitragen könnten, das komplexe Labyrinth der Metal-Höllen weiter zu erhellen.

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Am Beispiel der Bands Cloven Hoof und Pagan Alter erläutert Trummer anschaulich, dass deren Konzentration auf okkulte Themen auch und vor allem marketingtechnische Gründe hat (vgl. Trummer 2011: 163ff.). Diesbezüglich halte ich beispielsweise Slayer für einen guten ›Tipp‹, da sich die Band über lange Phasen in ihrer Bandgeschichte hinweg dem Thema Hölle dezidiert und auf unterschiedlichen Ebenen der ästhetischen Inszenierung zugewandt hat.

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Die durch die Hölle gehen Filmische Bilder und Verhandlungen der Hölle als Leidenspassage Jan Weckwerth

Einleitung Höllen lauern überall – zumindest kann der Eindruck in heutigen säkularisierten, spät- oder postmodernen Gesellschaften leicht entstehen. Der Begriff bezieht sich dabei zumeist nicht mehr auf Vorstellungen eines jenseitigen Ortes, in dem die irdischen Sünden und Vergehen eines Menschen nachträglich und oftmals für alle Ewigkeit in Pein und Qual vergolten werden, sondern auf soziale Situationen verschiedenster Couleur, die durchaus eine zeitliche Begrenzung aufweisen (können). Insofern ist eine Bedeutungsverschiebung – und eventuell auch Bedeutungsdispersion – der Hölle zu vermuten. Dieser begriffliche Wandel müsste auch seinen Niederschlag in der Populärkultur gefunden haben. Insbesondere filmische Produkte – seien es Spielfilme, Fernsehserien oder dokumentarische Formate – sind für derartige Untersuchungen ein potenziell ertragreicher Gegenstand, da sie seit jeher als kontemporäre Reflexionen sozialer Phänomene, Dynamiken und eben auch Entwicklungen fungieren. Sie verweisen zudem mitunter auf gesellschaftliche Orte und Situationen, die der Alltagserfahrung eines Großteils der Rezipienten nicht oder nur schwer zugänglich sind und wirken so an der Konstruktion einer Vorstellung der Welt mit (vgl. grundlegend Denzin 2008). Insofern müssten aus filmischen Repräsentationen alltagskulturelle Aufschlüsse über heutige, gewissermaßen säkularisierte Höllen gewonnen werden. Auf Basis dieser ersten einleitenden Gedanken sollen filmische Begriffe, Bilder und Bedeutungen von aktuellen Höllen – und ihre mögliche Ausdifferenzierung – einer Analyse unterzogen werden. Der vorliegende Beitrag versteht sich dabei gewissermaßen als Aufschlag für weiterreichende Erkun-

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dungen filmisch vermittelter Höllen. Zunächst wird – als Basis der späteren Untersuchungen – die Bedeutungsverschiebung des Höllenbegriffs anhand einer Gegenüberstellung zu klassischen Höllenkonzeptionen kursorisch skizziert. Anschließend erfolgt der Brückenschlag zu den filmischen Verhandlungen von Höllen. Ziel ist dabei zunächst die Aufspannung und Erfassung des thematischen Feldes in all seiner Vielfältigkeit (Kap. 3). Im Folgenden wird ein besonderes Augenmerk auf der Hölle als Leidenspassage in wohlgemerkt unterschiedlicher Ausprägung gelegt. Welche Bilder und Narrative kennzeichnen eine – womöglich zu überwindende – soziale Situation im Film also als Hölle? Anhand ausgewählter Film- und Serienbeispiele soll das spezifisch Höllische der Leidenspassagen in Bezugnahme auf die vorgängigen Darlegungen extrahiert werden (Kap. 4). Ein kurzer Ausblick beschließt die Überlegungen.

Die (Bedeutungs-)Verschiebung der Hölle Grundlegend unterscheiden sich Unterwelten von anderen Jenseitsannahmen durch die Existenz eines wie auch immer gearteten Totengerichts, das über die diesseitigen Taten und Handlungen eines Menschen urteilt und jene auf bestimmte Weise sanktioniert. Derartige Vorstellungen lassen sich bereits in den ersten sogenannten Hochkulturen nachweisen (vgl. Minois 2000).1 In Höllen werden (irdische) Schuld und (jenseitige) Strafe respektive (irdische) Sünde und (jenseitige) Sühne miteinander in Beziehung gesetzt, gewissermaßen als »Äquivalenzprinzip einer vergeltenden Gerechtigkeit« (Liessmann 2019: 9). Von diesem Prinzip abgesehen existieren wenige Charakteristika, die für alle traditionell-religiösen Höllen gelten. Höllen sind Orte des Leidens und 1

Alois Hahn (1996, 2000) weist jedoch darauf hin, dass Totengerichte menschheitsgeschichtlich vergleichsweise späte kulturelle Erscheinungen sind, die sich nur unter der Voraussetzung einer zumindest rudimentären Zentralgewalt entwickeln konnten. In traditionalen Gesellschaften ohne entsprechende Institutionen würde die Verhandlung (und Bestrafung) individueller Schuld Gefahr laufen, Racheakte der Angehörigen oder der Sippe nach sich zu ziehen und so in einer stetigen Eskalation zu münden. Hier werden eher ritualisierte Wege beschritten, die oftmals von der direkten Bestrafung des oder der Schuldigen absehen: »Religion steht also dort nicht im Dienst von Kulpabilisierung, sondern im Gegenteil: sie bietet rituelle Bollwerke gegen sie an.« (Hahn 1996: 168)

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des Schmerzes. Oftmals werden sie unterhalb der Erde lokalisiert – man fährt in die Hölle hinab – und mit tiefer Dunkelheit assoziiert, die höchstens in einigen Varianten vom Höllenfeuer erleuchtet werden. Die Ausgestaltung der Höllen differiert dabei stark: nicht nur zwischen verschiedenen Kulturen oder Religionen, sondern auch in der Entwicklungsgeschichte spezifischer Höllen. Dies ist kaum überraschend, haben Höllen doch ganz und gar soziale Funktionen. Am Beispiel der Entwicklung der christlichen Hölle zeigt Alois Hahn (1996) auf, dass drastische Höllendarstellungen und das Schüren einer Angst vor Höllenstrafen mit gesamtgesellschaftlichen Individualisierungsschüben einhergingen. So stiegen ab dem 12. Jahrhundert in Europa insbesondere in den wachsenden Städten die individuellen Handlungsmöglichkeiten und die soziale Mobilität, und damit wuchs das Verständnis von sich selbst als einzigartigem Individuum. In dieser Zeit etablierte sich der Glaube an ein individuelles Totengericht direkt nach dem Ableben (und nicht erst am Tag des Jüngsten Gerichts) mit der Trennung von Körper und Seele. Die sinkende soziale Kontrolle in und durch kollektivistische Formationen wurde sukzessive durch die Kulpabilisierung qua Höllenangst ersetzt: »Dramatisierungen der Individualität gehen mit der Intensivierung des Schuldbewußtseins und der wachsenden Elaboration der jenseitigen Strafen Hand in Hand« (Hahn 1996:179). Die Furcht vor der Hölle als Ort ewiger Verdammnis erwies sich dabei als weitaus effektiveres jenseitiges Szenario (und damit diesseitiges Einhegungsmoment) als mögliche Verheißungen des Himmels. Während Genüsse und Belohnungen schwer dauerhaft vorstellbar sind (oder dadurch ihren Reiz verlieren), wird die Wirkung von Schmerzen und Leid durch die zeitliche Unbegrenztheit eher noch vergrößert (vgl. Hahn 2000). Die Hölle zementiert mental eine Unentrinnbarkeit der Strafe, da jede Sünde zwangsläufig Konsequenzen nach sich zieht, selbst wenn sie von den diesseitigen Autoritäten nicht wahrgenommen werden sollte. Insofern fungiert sie als Disziplinierungsinstrument, das tief in die Gedanken der Individuen vordringt und sich dort sedimentiert. Heinz Dieter Kittsteiner (1991: 155) formuliert prägnant: »Die Hölle als Abschreckungsmittel soll vom vorausbedachten Endgericht her in die Lebensmitte zurückwirken; die Vorstellung der fruchtlosen Reue in der Ewigkeit soll die Buß-Träne schon in diesem Leben hervorquellen lassen.« Niklas Luhmann (2000: 49) betrachtet die Internalisierung der sozialen Kontrolle ähnlich: »Man solle jeden Tag daran denken, das diene zum Ausbrennen des Übels in der Seele, bevor es zu spät ist; denn in inferno nulla est redemptio [in der Hölle gibt es keine Erlösung].«

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In diesen Zeitraum fällt nicht zufällig die Institutionalisierung des Fegefeuers zwischen Himmel und Hölle als Übergangsphase und -ort der (schmerzhaften) Reinigung und Läuterung. Das Fegefeuer erlaubt eine individuelle Abstufung der Strafen, eine größere »Flexibilität der Korrelation von Handlung und Sanktion« (Hahn 1996: 180) und bricht so die Himmel-HölleDichotomie zugunsten eines »Jenseitstrialismus Himmel-Hölle-Fegefeuer« (Ebertz 1993: 95) auf. Der sich in diesem Zuge etablierende Ablasshandel – Konrad Paul Liessmann (2019: 10) spricht pointiert von »göttlicher Gerechtigkeit als Geschäftsmodell« – unterstreicht die Effizienz der sozialen Kontrollfunktion der Hölle. Für die alltagskulturellen Vorstellungen spielten die Höllenbilder in Kunst und (später) Literatur eine bedeutende Rolle. Die der Hölle zugrundeliegende Konnotation einer göttlichen Gerechtigkeit erlaubte dabei auch besonders drastische und grausame Darstellungen der Qualen und des Leids. Daher wurden diese von kirchlichen Instanzen durchaus gezielt zu Abschreckungszwecken eingesetzt (vgl. Vorgrimler 1994). Bis heute hat die Ikonographie der christlichen Hölle – Feuer, Schwefel, Ketten, Folterwerkzeuge, Teufel und Dämonen – das kulturelle Bewusstsein verschiedener Regionen und Kulturen tief ›imprägniert‹. Ab dem 17. Jahrhundert erfährt die Hölle einen Bedeutungsverlust, der mit einem Wandel des Gottesbildes sowie einer damit verbundenen Erosion der traditionellen eschatologischen Perspektive in Beziehung steht (vgl. Kittsteiner 1991; Ebertz 1993; Hahn 1996). Der strafende, vergeltende Gott macht Platz für einen Gott der Güte; Gerechtigkeit und Barmherzigkeit fallen nun zusammen (vgl. Ebertz 1993: 111).2 In jüngerer Zeit hat sich diese Entwicklung verstärkt: Michael Ebertz (1993) konstatiert anhand seiner Untersuchung von katholischen Predigten in Deutschland bis Ende des 20. Jahrhunderts einen deutlichen Rückgang der Höllenerwähnungen, den er im Kontext fort2

Kittsteiner (1991: 152) skizziert in seiner Studie eine zeitliche Synchronisation zwischen dem Niedergang der Hölle und der diesseitigen göttlichen Strafen (exemplifiziert am Gewitter, das lange als »Gottes Zornrute« galt): »So wie dort mit dem Ende des 17. Jahrhunderts der Gott des Zornes und der Plagen sich wandelt in einen Gott der Weisheit und der Naturgesetze, so ist es hier der Gott der Rache und der Strafe, der sich einem Gott der Liebe und der Allversöhnung gegenübergestellt sieht.« Für Kittsteiner tritt das moderne, autonomisierte Gewissen an die Stelle der Hölle, was einer Art Internalisierung der vormaligen Höllenfunktion gleichkommt. Eine ähnliche Internalisierung kann für das Fegefeuer nachgezeichnet werden, die sich in einem ständigen Streben nach Selbstreinigung und Selbstoptimierung äußert (vgl. Fenn 1995).

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währender gesamtgesellschaftlicher Umbrüche verortet: unter anderem der Marginalisierung des Einflusses der Kirche auf die Gesellschaft, der kritischen zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzung mit (sichtbarer) Macht und Herrschaft, der zunehmenden Selbstdomestikation und -disziplinierung der Individuen (in Anlehnung an Norbert Elias´ Zivilisationstheorie) sowie der Selbstzivilisierung der staatlichen Gewalt. Für ihn steht daher fest: »Das von Gewaltmetaphorik gereinigte Gottes- und Jenseitsbild mit seiner nivellierten Teilhabegarantie für alle kann somit als ein Soziomorphismus auf neuem Zivilisationsniveau begriffen werden« (ebd.: 118). Die Hölle als jenseitige Vorstellung verlor also sukzessive an Einfluss, der Ausdruck überlebte indes alltagssprachlich in metaphorisierter Form. Diese heutige Verwendung unterscheidet sich in gleich mehrfacher Hinsicht von traditionellen Höllenvorstellungen. Die erste augenscheinliche Differenz bezieht sich auf den Ort: Die Hölle findet im Diesseits, im Hier und Jetzt statt. Sie existiert auf der Erde, nicht unter ihr. Die Hölle hat somit eine Projektion und Re-Lokalisierung ins Irdische erfahren. Verwendet man die Leitunterscheidung von Luhmann (1982) in Immanenz und Transzendenz, also in Bestimmbares und Unbestimmbares, wobei letzteres von der Religion repräsentiert (beziehungsweise überhaupt repräsentabel gemacht) wird, sprechen wir nun von immanenten statt transzendenten Höllen. Die zweite Differenz betrifft die ausgeprägte Sozialität und damit das Personal der Hölle: Die Sozialität offenbart sich nun besonders augenscheinlich, da sie eben nicht mehr den Umweg über eine über-menschliche nachweltliche Sanktionsinstanz nimmt. Hölle ist etwas genuin Menschliches – und Menschengemachtes: »Seit Beginn der Welt entfaltet sich die Hölle; sie entwickelt sich durch den Menschen selbst, der nicht aufhört, Mittel des Leidens und der Selbstzerstörung zu vervollkommnen« (Minois 2000: 137). Doch findet der Begriff ja nicht nur für Kollektivhöllen Verwendung, in denen Menschen von anderen Menschen misshandelt, gefoltert oder ermordet werden, sondern auch für alltägliche subjektive Erfahrungen, die als negativ oder schmerzvoll wahrgenommen werden: Partnerschaft, Familie, Verkehr, Drogen, Prüfungen, Arztbesuche – alles kann potenziell eine Hölle sein oder sich zu einer solchen entwickeln (vgl. zur Beziehungshölle Kastner 2019; zur Familienhölle Bleisch 2019). Die Hölle offenbart sich also in menschlichen Beziehungsgeflechten oder -konstellationen – und in deren zumindest temporärer Unentrinnbarkeit. Der berühmte Ausspruch von Garcin in Jean-Paul Sartres Geschlossene Gesellschaft verdeutlicht die subjektiven Schrecken der neuen Höllen: »Wißt ihr noch: Schwefel, Scheiterhaufen, Rost… Was für Albernheiten. Ein

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Rost ist gar nicht nötig, die Hölle, das sind die anderen« (Sartre 1949: 59). Begrifflich anknüpfend an Sartre (sowie an Thomas Hobbes) führt Pierre Bourdieu (1985: 78) aus: »Das Urteil der anderen ist das Jüngste Gericht; so wie gesellschaftliche Ausschließung die konkrete Form von Hölle und Verdammnis. Weil der Mensch dem Menschen ein Gott, ist der Mensch dem Menschen auch Wolf.« Die nach Bourdieu jedweder sozialen Interaktion inhärenten Urteile, Bewertungen und Platzzuweisungen können höllische Konsequenzen haben – und sei es der Verlust an sozialer Teilhabe. Die dritte große Differenz liegt in der Dauer: Säkularisierte Höllen sind keine Orte ewiger Verdammnis, vielmehr bezeichnen sie in der Regel einen begrenzten zeitlichen Abschnitt, der überwunden oder überstanden werden kann. Hierin bestehen im Grunde mehr Analogien zum Fegefeuer als zur Hölle, insofern es sich um einen Prozess der Prüfung, vielleicht auch der Läuterung oder Reinigung handelt – je nachdem, ob die zu bewältigende Phase Konsequenzen (und wenn ja, welche) nach sich zieht. In diesem Sinne besitzen kontemporäre Höllen nun möglicherweise eher klassische Attribute des Fegefeuers. Dennoch kommen sie nicht ganz ohne Ewigkeitsimplikationen aus: Wenn die höllische Phase mit dem Tod endet (oder in ihn mündet), deutet dies ebenfalls auf eine Finalität, auf eine Endgültigkeit hin. Und diejenigen, die eine besonders schlimme Tat begangen haben, erwartet vielleicht nicht mehr die ewige Verdammnis nach dem Tod, doch verlagert sich diese in ihre irdische Variante, die Unverjährbarkeit. Die Taten sollen nicht vergessen werden, insofern fungiert »die Weltgeschichte als eine Art Weltgericht« (Hahn 1996: 165). Zusammengefasst: Säkularisierte Höllen sind immanente Höllen, die Momente der Veralltäglichung aufweisen. Sie beziehen sich nicht – oder zumindest nicht genuin – auf ein Schuld-und-Strafe-Prinzip. Sie können in verschiedensten sozialen Situationen auftreten. Hölle wandelt sich also von einem Ort zu einer Eigenschaft, zu einem Zustand, selbst wenn dieser an einen spezifischen Ort gekoppelt sein mag. Kennzeichen dieses Zustandes sind ein (wahrgenommener) Kontrollverlust und Ohnmachtsgefühle. Das Subjekt ist einer unerträglichen Situation ausgeliefert – gewissermaßen eine irdische Unentrinnbarkeit, zumindest für den Moment – und kann sich aus dieser nicht befreien. Oftmals beinhalten diese höllischen Situationen zudem stetige Wiederholungen des Immergleichen, man ist sprichwörtlich gefangen in einem Teufelskreis. Doch sind damit beileibe nicht alle Unklarheiten ausgeräumt, wie eingangs mit der Rede von einer Bedeutungsdispersion impliziert wurde: So ist

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fraglich, ob es sich um einen bloßen Lebensabschnitt oder um eine explizite Prüfung handelt, die es zu überwinden gilt. Hat man sich in diese Phase ›selbstgewählt‹ begeben im Sinne von einer bewussten Entscheidung, oder ist sie gewissermaßen schicksalhaft über einen hereingebrochen? Und falls es schicksalhaft war, ergeben sich unterschiedliche Implikationen für eine Schuldfrage. Oder zeichnen sich säkulare Höllen gerade durch Sinnlosigkeit aus? Darüber hinaus ist die Bedeutung dieses Wandels zu eruieren. Was verraten die ›neuen‹ Höllen über das Bild oder den Zustand der kontemporären Gesellschaft(en)? Kieran Flanagan (2017: 291) zieht Parallelen zwischen der Substanz der Hölle als Trennung von Gott und dem vereinzelten, enttraditionalisierten Leben in der Postmoderne: »A further complication is that the images of disconnection that denote hell simply mirror the fractures of life in postmodernity where an excess of individualisation and isolation is the order of the day.« Anthony Giddens (1991: 82) hat für diese Gesellschaftsformation die Metapher der nun unbeschrifteten Wegweiser verwendet: »To act in, to engage with, a world of plural choices is to opt for alternatives, given that the signposts established by tradition now are blank.« Geht es also (auch) um Unzumutbarkeiten der Postmoderne, die mit Schlagworten wie Fragmentierung, Desorientierung und Sinnvakuum umschrieben werden könnten? Und erfahren in diesem Zuge religiöse Sinnwelten eine zumindest partielle Renaissance?

Filmische Höllen: ein Streifzug Während sich in der Literatur über Jahrhunderte prononcierte Darstellungen der christlichen Hölle finden lassen (vgl. etwa Vorgrimler 1994: 371ff.), mangelt es im Film an ›ernsthaften‹ Versuchen einer Visualisierung der Hölle als Unterwelt. Dies mag sicherlich zu einem Teil an der späten Geburt des Mediums liegen. Darüber hinaus könnte die klassische Höllenikonographie für ein säkularisiertes Publikum zu banal, zu vulgär und womöglich sogar lächerlich wirken, insbesondere im Vergleich zu den real erlebbaren Schrecken der jeweiligen Epoche. Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass die ›klassische‹ Hölle bevorzugt in Komödien verhandelt und dabei oftmals in einen sehr irdisch wirkenden Ort verwandelt wurde – als Beispiele aus zwei vollkommen unterschiedlichen Epochen taugen Heaven can wait (Ein

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himmlischer Sünder, Lubitsch 1943) oder Deconstructing Harry (Harry außer sich, Allen 1997). Filmische Höllen sind beinahe ausschließlich Höllen auf Erden. Selbst die Jenseitsdimensionen in übernatürlichen Horrorfilmen beziehen sich zumeist nicht explizit auf die christliche Hölle und bedienen sich höchstens einiger ikonographischer Anleihen. Eher betritt das Höllenpersonal über etwaige Verbindungsportale die Erde und sorgt dort für Unheil, beispielsweise in E tu vivrai nel terrore! L’aldilà (Über dem Jenseits, Fulci 1981) oder in The Void (Kostanski/Gillespie 2016), in Deutschland versehen mit dem vielsagenden Untertitel Es gibt eine Hölle – Dies hier ist schlimmer. Nur wenige Horrorfilme wagen den realen, nicht nur metaphorischen Abstieg in die Hölle: In As Above, So Below (Katakomben, Dowdle 2014) befindet sich der Höllenzugang in den Pariser Katakomben, dort werden die Filmfiguren sogar mit ihren eigenen Sünden konfrontiert. In Baskin (Baskin – Willkommen in der Hölle, Evrenol 2015) lauert die Hölle in den Tiefen unter einer alten verlassenen Polizeistation. Klassische Höllendarstellungen im Sinne eines unterweltlichen Orts finden sich vor allem im Genre der Comic- und Superheldenverfilmungen, etwa bei Spawn (Dippé 1997) oder Constantine (Lawrence 2005). Da sich der vorliegende Beitrag auf säkularisierte, irdische Höllenkonzeptionen beschränkt, werden im Folgenden übernatürliche Filme aus den Genres Horror und Fantasy, die mit Höllenmetaphern und -versatzstücken spielen oder diese – wie beispielsweise Hellraiser (Barker 1987), Drag Me to Hell (Raimi 2009) oder Hellboy (Del Toro 2004) – bereits im Titel tragen, weitgehend ausgespart. Der Streifzug durch filmische Höllen beginnt mit den Filmtiteln. Welche Situationen, welche Probleme und welche Katastrophen werden von den Produzenten mit dem Begriff Hölle bedacht? Hieraus können erste Aufschlüsse über die alltagssprachliche Verwendung gewonnen werden. Die OnlineFilmdatenbank OFDb listet insgesamt 723 Filme auf, deren Titel das Wort »Hölle« beinhaltet (Stand November 2019). Darunter fallen Spiel- und Dokumentarfilme sowie Miniserien inklusive ihrer jeweiligen Alternativtitel. Das englische Wort »hell« findet sich in 844 Filmtiteln.3 Abgesehen von der Ge-

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Diese Auflistung bedarf jedoch einer Einordnung. Berücksichtigt man nur die deutschen Original- und Verleihtitel (ohne etwaige Alternativtitel), sinkt die Anzahl von 732 auf 539 Filme. Bei den englischen Filmen gestaltet sich eine derartige Separierung schwieriger, da in der Auflistung die Unterscheidung zwischen übersetzten Titeln und Alternativtiteln uneindeutiger ausfällt. Hier wäre nach erster Sichtung eine anteilig

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samtzahl ist auffällig, dass deutsche Titel US-amerikanischer Produktionen vermehrt »Hölle« verwenden, obwohl im Originaltitel kein »hell« (oder ein vergleichbarer Terminus wie »inferno«) vorkommt. In deutschen Titeln werden irdische Orte spezifisch als Höllen benannt, in englischsprachigen Titeln sind Höllensymboliken stärker verbreitet (jemand oder etwas ist »from hell«). Nach einer oberflächlichen Genreeinteilung haben die meisten filmischen Höllen einen Kriegsbezug: der Krieg als Hölle oder die Höllen des Krieges. Im Krieg lassen sich alle diskutierten Charakteristika säkularisierter Höllen in existenzbedrohender Ausprägung identifizieren: Kontrollverlust, Unentrinnbarkeit, oftmals Ausweglosigkeit und Desorientierung, dazu repetitive Momente, etwa von sich täglich wiederholenden Einsätzen oder Gefechtssituationen. Darüber hinaus stellen Kriege als Kollektivhöllen mit all ihrer individuell erlebten Grausamkeit in heutiger Zeit einen radikalen – und besonders sichtbaren – Bruch mit der in modernen Gesellschaften postulierten friedlichen Konflikthandhabung dar. Insbesondere bei Kriegsfilmen ist die Zunahme des Höllenbegriffs bei deutschen Verleih- und Alternativtiteln auffällig, meist in Bezug zum Kriegsschauplatz: etwa L’Insoumis (Die Hölle von Algier, Cavalier 1964), The Steel Helmet (Die Hölle von Korea, Fuller 1951), auch im Original bei Jump Into Hell (Die Hölle von Dien Bien Phu, Butler 1955). Filmische Höllen lauern ebenfalls abseits der Zivilisation in der unwirtlichen bis lebensfeindlichen Wildnis: etwa in Berglandschaften (Die weisse Hölle vom Piz Palü, Pabst 1929),4 im Dschungel (Green Hell, Whale 1940; deutsch: Die grüne Hölle) oder in der Wüste (Destination Gobi, Wise 1953; deutsch: Durch die gelbe Hölle).5 Umwelthöllen sind farbig, dabei aber eintönig, in diesem Sinne unübersichtlich und oftmals unwegsam – und so mit einem optisch-repetitiven Moment ausgestattet. Die Lebensgefahr entsteht seltener (oder nur partiell) aus dem Handeln anderer Menschen, vielmehr aus Orientierungslosigkeit, Hunger und Durst sowie aus Isolation und Einsamkeit, der die Figuren entfliehen müssen.

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größere Reduktion zu erwarten. Die Daten erheben also keinerlei Anspruch auf Validität und sind lediglich zur groben Orientierung aufgeführt. Herbert Vorgrimler (1994: 386) zitiert in seiner Geschichte der Hölle einen Artikel der Süddeutschen Zeitung, der auch in anderen Filmen von Georg Wilhelm Pabst eine Abbildung und Verhandlung menschlicher Höllen erkennt, da oftmals Ausweglosigkeit, Orientierungslosigkeit sowie innere oder äußere Gefangenheit bebildert werden. In Destination Gobi – Durch die gelbe Hölle treffen die Hölle des Krieges und die Hölle der Wildnis aufeinander.

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Ein anderer Ort, der viele Charakteristika der säkularisierten Hölle vereint, ist das Gefängnis: Kontrollverlust, Ausweglosigkeit, Ohnmacht, Fremdbestimmung sowie stetige Wiederholungen und Routinen bestimmen das alltägliche Leben. Für Gefängnisfilme haben sich Höllentitel allerdings nur wenig etabliert. Dennoch ist das Gefängnis auch in seiner filmischen Umsetzung ein spannender Untersuchungsgegenstand, da sich hier augenscheinliche Parallelen zwischen Merkmalen säkularisierter Höllen und Merkmalen totaler Institutionen offenbaren: »Eine totale Institution läßt sich als Wohnund Arbeitsstätte einer Vielzahl ähnlich gestellter Individuen definieren, die für längere Zeit von der übrigen Gesellschaft abgeschnitten sind und miteinander ein abgeschlossenes, formal reglementiertes Leben führen« (Goffman 1973: 11). In einer totalen Institution sind die üblicherweise auch räumlich existierenden Schranken zwischen Schlafen, Arbeit und Freizeit aufgehoben. Alles findet an einem Ort statt, die Privatsphäre ist oftmals deutlich eingeschränkt. Die Ziele einer solchen Institution werden über die »bürokratische Organisation ganzer Gruppen von Menschen« (ebd.: 18) und ihrer zu verrichtenden, oftmals erzwungenen Tätigkeiten erreicht. Hierzu sind ständige Überwachung und Kontrolle vonnöten sowie eine strikte, meist räumliche Grenzziehung nach außen und eine ebenso strikte Grenzziehung in der inneren Hierarchie der Institution (zwischen ›Personal‹ und ›Insassen‹). Im Gegensatz zu vielen anderen Typen von totalen Institutionen (Altersheime, Waisenhäuser, Kasernen, Klöster et cetera) ist dem Gefängnis zudem ein – wenngleich irdisches – Schuld-und-Strafe-Prinzip eigen, welches insbesondere im Falle der Verurteilung eines Unschuldigen eine zusätzliche höllische Komponente beinhaltet. In der Dokuserie The Innocent Man (Netflix 2018) äußert der über ein Jahrzehnt unschuldig in der Todeszelle sitzende Ron Williamson: »In the Book of Revelation, you know that people have talked about hell and that there is a place that… it’s burning. And it’s seven times hotter than fire and that there is no air and people can’t die and it’s eternal torment and that you can’t die. That’s the way I felt. I was in hell. Hell on earth.« (Episode 5, Smoking Guns)6

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Interessant ist hierbei die Wahrnehmung des Nichtsterbenkönnens, obwohl Williamson ja in der Todeszelle sitzt. Dabei zieht er auch Parallelen zwischen irdischen und jenseitigen Gerichten bezüglich der Unwägbarkeit ihrer Urteile: »I wish that at the time of my death that I could go to sleep and never wake up and never have a bad dream and just eternal rest like you’ve seen on some tombstones. That’s what I hope

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Doch was kennzeichnet die Höllenbegriffe in Filmtiteln oder -werbung eigentlich konkret? Anhand von ausgewählten, eklektisch zusammengestellten Beispielen aus der jüngeren Filmgeschichte soll im Folgenden die Spannweite filmischer Höllen und ihrer jeweiligen Merkmale verdeutlicht werden. Der genreprägende Katastrophenfilm The Poseidon Adventure (Neame 1972) trägt seine Höllenanalogien nicht nur im deutschen Titel Die Höllenfahrt der Poseidon, sondern auch in den zeitgenössischen Primärtexten: Filmplakate warben mit dem Slogan Hell, Upside Down, wobei sich letzteres auf das gekenterte Schiff bezieht. Die Hölle ist hier eine technisch induzierte: Der mittlerweile marode Luxusdampfer S.S. Poseidon befindet sich auf seiner letzten Fahrt, der neue Besitzer weigert sich ausreichend Ballast mitzuführen und fordert vom Kapitän größtmögliches Tempo, um weitere Kosten zu sparen. Das dadurch instabile Schiff hält einer riesigen Welle nicht stand und kentert. Der Film begleitet eine idealtypisch zusammengewürfelte Gruppe – eine klassische Konstellation der Katastrophenfilme dieser Filmepoche (vgl. hierzu Keane 2006; Yacowar 2012) – unter der Führung von Reverend Frank Scott auf dem verzweifelten Weg zum (nun oben liegenden) Schiffsrumpf. Die Hölle ist hier eine mit einem Countdown versehene Phase, da das eindringende Wasser die Gruppe verfolgt und das Schiff zu sinken droht. Scheitern oder Zurückbleiben bedeutet den sicheren Tod. Alle Passagiere sind gleichermaßen betroffen. Die Poseidon ähnelt in gewisser Hinsicht einer totalen Institution. Erving Goffman (1973: 16) fasst als einen von sechs Typen totaler Institutionen die Kasernierung zur effizienteren Durchführung »arbeit-ähnlicher Aufgaben« zusammen und nennt dabei neben Kasernen, Internaten und Arbeitslagern explizit auch Schiffe als Beispiel. Obwohl die Schiffsbesatzung der Poseidon und ihre Aufgabenverteilung weniger Merkmale einer totalen Institution aufweisen als etwa die eines Schulschiffs, stellt sich bei vielen Reisenden nach Katastropheneintritt eine ›Personal-Insassen-Dynamik‹ ein: Sie vertrauen entgegen aller Logik der Expertise des Personals und warten unten im gekenterten Schiff vergeblich auf Rettung. Der höllische Weg nach oben zur Rettung ist teilweise visualisiert mit ikonographischen Elementen klassischer Höllen (Feuer, Dampf, Hitze, Dunkelheit), wenngleich gewandelt in das Versagen technologischer Systeme und Artefakte. Für Reverend Scott beinhaltet diese Hölle auch eine persönliche for, you know, because I don’t want to go through the judgment. I don’t want anybody judging me again.« (Episode 5, Smoking Guns)

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Prüfung. Der unorthodoxe Geistliche predigt nach dem Credo ›Hilf dir selbst, so hilft dir Gott‹ und versucht damit die Eigenverantwortung der Menschen zu stärken. Die Rettung der Gruppe wird nun seine Mission, für die er sich später selbstlos opfert, als der Fluchtweg aufgrund von heißem Dampf aus einem undichten Rohr versperrt ist. Er schließt das glühende Ventilrad unter letzter Anstrengung und wendet sich dabei verbittert an Gott: »What more do you want of us? We’ve come all this way, no thanks to you. We did it on our own, no help from you. We didn’t ask you to fight for us but damn it, don’t fight against us! Leave us alone! How many more sacrifices? How much more blood? How many more lives? Belle wasn’t enough. Acres wasn’t. Now this girl! You want another life? Then take me!« Einen vollkommen anderen Höllenbegriff verwendet der Dokumentarfilm Höllentour (Danquart 2004), der die beiden Radsportler Erik Zabel und Rolf Aldag bei der Teilnahme am Radrennen Tour de France begleitet. Es geht also um einen zeitlich klar abgesteckten und zudem komplett freiwilligen sportlichen Wettkampf, der von professionellen Athleten betrieben wird, die damit ihren Lebensunterhalt bestreiten. Hier bezieht sich der Begriff Hölle nicht auf eine schwierige Situation, in die jemand verschuldet oder unverschuldet geraten ist, sondern auf die dargestellten und in Interviews eingefangenen Strapazen, die sich die meisten Rezipienten nicht recht vorstellen können – unabhängig von der Freiwilligkeit des Unterfangens. Die Höllenanalogie ist dem Radsport grundsätzlich nicht fremd, so wird beispielsweise der Frühjahrsklassiker Paris-Roubaix, der über zahlreiche grobe Kopfsteinpflasterpassagen führt, auch als L’enfer du Nord (Hölle des Nordens) bezeichnet. Kommen wir noch einmal zu den deutschen (Unter-)Titeln ausländischer Produktionen zurück, bei denen sich Verweise auf die Hölle, wie erwähnt, großer Beliebtheit erfreuen. Im postapokalyptischen Horrorfilm The Divide – Die Hölle, das sind die anderen (Gens 2011, original: The Divide) bezieht sich der Titelzusatz auf das erwähnte Zitat aus Sartres Drama Geschlossene Gesellschaft. Dieser kammerspielartig inszenierte Film handelt von einer Gruppe von Menschen, die nach einer atomaren Explosion in New York in einem Keller Zuflucht sucht. Im Verlauf des Geschehens wird der Keller von außen zugeschweißt, sodass es (vorgeblich) keinen Ausweg gibt. In dieser von der Außenwelt isolierten Situation ohne Hoffnung – die Ressourcen sind begrenzt und bei einigen Gruppenmitgliedern zeigen sich Auswirkungen der Strahlung – kommen alsbald menschliche Abgründe zum Vorschein:

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Hausmeister Mickey hat Zugang zu einem geheimen Vorratslager, welches er den anderen zunächst vorenthält. Bobby und Josh eignen sich mit Gewalt und immer stärker hervortretenden diktatorischen Zügen die Herrschaft über die Gruppe und das Lager an. Sie beginnen, insbesondere die weiblichen Mitglieder zu terrorisieren: mit Vergewaltigung, Folter und später Mord. Zuletzt vertraut niemand mehr den Anderen. Die Hölle manifestiert sich also nicht nur in der beklemmenden, existenzbedrohenden Situation an sich sowie in den brutal vorgehenden Soldaten mit unklarer Mission außerhalb des Kellers, sondern gerade durch die anderen Menschen in derselben misslichen Lage. Statt Kooperation untereinander und Solidarität füreinander entbrennt nach kurzer Zeit ein nur notdürftig verdeckter »Krieg aller gegen alle« im Sinne Hobbes´, in dem die wenigen moralischen Stimmen (wie die der Protagonistin Eva) untergehen. Der gleichermaßen gefeierte wie umstrittene Vietnamkriegsfilm The Deer Hunter (Cimino 1978) trägt den deutschen Titel Die durch die Hölle gehen und verweist damit explizit auf die irdische Hölle als (Leidens-)Abschnitt. Die drei russischstämmigen Stahlarbeiter Michael, Steven und Nick aus Pennsylvania melden sich freiwillig und voller patriotischer Begeisterung für einen Einsatz im Vietnamkrieg.7 Dort geraten sie in Gefangenschaft und müssen Demütigungen und Folterungen der Vietcong ertragen: Sie befinden sich in Käfigen bis zum Hals im Wasser und werden dazu gezwungen, gegeneinander Russisch Roulette zu spielen, während die brutalen Wärter die Gefangenen verhöhnen und Geld auf den Ausgang dieser tödlichen Wettbewerbe setzen – entmenschlichte und stereotype Darstellungen, die dem Film nicht zu Unrecht Rassismusvorwürfe eingehandelt haben. Die drei Protagonisten können dem Ort des Leidens zwar körperlich entkommen, doch sind die Nachwirkungen dieser höllischen Erfahrungen nicht weniger höllisch. Steven verliert durch einen Unfall auf der Flucht seine Beine, landet in einem Veteranenkrankenhaus und weigert sich, nach Hause zu kommen: »I don’t fit.« Dies führt bei seiner Frau Angela zu schweren Depressionen und einem kompletten Rückzug aus dem sozialen Leben. Michael entgeht dem Krieg zwar ohne erkennbare Schäden, doch ist auch er psychisch

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Bei der direkt vor dem Einsatz in Vietnam gefeierten Hochzeit von Steven und Angela verweist ein großes Banner mit der Aufschrift »Serving God and Country Proudly« auf die Verschränkung von Mission und Glaube gegen den als gottlos geltenden Kommunismus. Die Kriegshölle wird hier also auch zur Verteidigung von Religion und Gott durchstanden.

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schwer gezeichnet und kann die Erlebnisse nach der Rückkehr nicht verarbeiten. Als er am Ortseingang Banner mit der Aufschrift »Welcome home, Michael« sieht, fährt er an seiner Willkommensparty vorbei und checkt stattdessen erst einmal in einem Motel ein. Fortan wirkt alles für ihn fremd: die Sprüche seiner Freunde, alltägliche Routinen oder Hobbys wie die titelgebende Jagd. Zu Linda, zuvor Nicks Verlobte, später Michaels Freundin, sagt er: »I feel a lot of distance, and I feel far away.« Nick erleidet eine Amnesie, bleibt in Vietnam und erholt sich von den traumatischen Erlebnissen nicht mehr. Er verdingt sich als ›professioneller‹ Russisch Roulette-Spieler in den Spielclubs der Saigoner Halbwelt, wird heroinsüchtig und stirbt letztlich bei einem Duell mit (dem von ihm nur vage erkannten) Michael, der nach Vietnam zurückgekehrt war, um Nick doch noch nach Hause zu holen. Hölle ist hier also zugleich ein Ort und ein Zustand. Den Ort kann man überleben, er wirkt jedoch substanziell nach. Die Höllen des Krieges sind traumatisch, und zwar nicht nur für die direkt Beteiligten, wie etwa an Angela zu sehen ist. Das Leiden ist mit dem Ende des Krieges oder Kriegseinsatzes keineswegs überstanden, sondern dauert auf unbestimmte Zeit fort – und besitzt damit potenziell eine Ewigkeitskomponente, selbst wenn die Hölle nicht direkt mit dem Tod endet.

Filmische Höllen als Leidenspassagen Bereits die oberflächliche Sichtung von Filmen, die das Wort Hölle in ihren Titeln, Untertiteln oder Übersetzungen tragen, verdeutlicht, wie groß die Spannweite höllischer Situationen selbst abseits der ›traditionellen‹ Begriffsbedeutung ausfällt. Doch erschöpfen sich die filmischen Repräsentationen von irdischen Höllen als Leidenspassagen darin ja keineswegs. Darüber hinaus sind Filme in den Fokus zu nehmen, die eine direkte Bezugnahme auf den Begriff Hölle vermeiden, gleichwohl aber höllische Phasen nach den vorgängigen Ausführungen thematisieren und visualisieren. Der vorliegende Abschnitt widmet sich der Ergründung solcher Leidenspassagen und ihres höllischen Anteils. Die Fallauswahl erfolgte nach einer intensiven Sichtung geeigneter filmischer Produkte anhand der diskutierten Charakteristika säkularisierter Höllen, also immanenter sozialer Situationen, die durch einen umfassenden Kontrollverlust, Gefühle von Ohnmacht oder Ausgeliefertsein geprägt sind. Auf dieser Basis lassen sich – wenngleich lediglich grob und proviso-

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risch – verschiedene Typen von höllischen Leidenspassagen skizzieren: Ist die Leidenspassage kollektiv-gesellschaftlicher oder eher individuell-subjektiver Natur? Wie realisiert sich das Verhältnis von Kontrolle und Kontrollverlust? Sind repetitive Momente zu verzeichnen? Und: Kommt es zu einem Ende beziehungsweise einer Auflösung der Leidenspassage? Entlang dieser Kriterien werden drei exemplarische Bezüge hergestellt, die in ihrer Differenz einen Eindruck von der filmischen Vielgestaltigkeit sozialer Höllen verschaffen sollen. Im Rahmen der Fallauswahl bot sich – gewissermaßen ›nebenher‹ – die Gelegenheit einer Differenzierung nach filmischen Produktformen (Franchise, Spielfilm, Fernsehserie) mit je unterschiedlichen Implikationen für die Verhandlung der Leidenspassagen.

Kollektive Leidenspassage und postulierte Katharsis: The Purge Dass Leidenspassagen filmisch nicht nur individuell, sondern auch gesamtgesellschaftlich durchdekliniert werden können, beweist die dystopische Horror-Franchise The Purge mit ihren aktuell vier Spielfilmen The Purge (The Purge – Die Säuberung, DeMonaco 2013), The Purge: Anarchy (DeMonaco 2014), The Purge: Election Year (DeMonaco 2016) und The First Purge (McMurray 2018) sowie einer Fernsehserie The Purge (USA Network, 2018-2019). Bereits der Titel Purge (Säuberung) weckt begriffliche Assoziationen zum purgatory (Fegefeuer), und tatsächlich geht es in diesen Filmen um einen – wenngleich eben gesellschaftlichen – Reinigungsprozess. Zum Hintergrund: Nach einer wirtschaftlichen Rezession und zunehmenden sozialen Unruhen kommt in den USA die Partei New Founding Fathers of America (NFFA) an die Macht. Sie verordnet einmal pro Jahr eine sogenannte Purge-Nacht, in der zwölf Stunden lang komplette Gesetzlosigkeit herrscht und alle Straftaten (inklusive Mord) mit nur wenigen Einschränkungen erlaubt sind. In dieser Zeit sind die Notrufe von Polizei, Feuerwehr und Krankenhäusern außer Dienst; die Bevölkerung muss sich also selbst schützen und gegebenenfalls verteidigen, so sie nicht aktiv ›purgen‹ will. Der Kontrollverlust ist zeitlich begrenzt, aber maximal: die Inaktivität aller Institutionen, Normen und Werte, letztlich eine temporäre Aufkündigung des Gesellschaftsvertrags. Die Gewalt während der Purge-Nächte wird auf (pseudo)wissenschaftlicher Grundlage als befreiende Gewalt ausgewiesen. So vertritt die Verhaltensforscherin und ›Architektin‹ des ersten Purge-Experiments, Dr. May Updale, die These: »The benefit of acting violently without worry of consequence, that’s

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a freeing violence« (The First Purge). Menschen dürfen eine Nacht lang ihren internalisierten gewalttätigen Trieben und Wünschen nachgehen und auf diesem Wege ihre Seelen reinigen. Die NFFA werben damit, dass seit der Purges die Kriminalität im übrigen Jahr auf ein Allzeittief gesunken sei und nur noch wenige Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben. Die Purge dient also vorgeblich als alljährlicher kollektiver Reinigungsprozess zur Stabilisierung der Gesellschaft und in diesem Sinne als societal catharsis. Die Konsequenzen der Purge-Nächte sind indes wenig überraschend sozialstrukturell höchst ungleich verteilt. Vor allem Arme und Minderheiten werden überdurchschnittlich oft Opfer der Säuberungen, da sie vulnerabel sind und wenig Ressourcen zu ihrem eigenen Schutz, etwa für hochpreisige Versicherungen und Sicherheitsvorkehrungen, aufbringen können. Die faschistoide Ideologie der NFFA zielt letztlich unverblümt auf die Ausdünnung sozial schwacher Schichten ab, um die Arbeitslosigkeit und die sozialstaatlichen Ausgaben niedrig zu halten.8 Als die Bevölkerung bei den ersten Purges ihren zivilisatorischen Mantel nur ungenügend abstreift und die Mordrate zu gering ausfällt, sorgen daher von der NFFA engagierte Söldnertruppen für eine diesbezügliche ›Steigerung‹. In späteren Jahren bedient sich die Regierung explizit rechtsextremer paramilitärischer Truppen. Allerdings ist sukzessive eine Komplizenschaft von Angehörigen aller sozialer Schichten zu verzeichnen. Einige schließen sich in Gruppen zusammen und entführen gegen Bezahlung gezielt Bewohner aus sozial schwachen Vierteln, damit wohlhabende Purger geschützt und gefahrlos ihren Villen perverse Jagdspiele veranstalten können. Andere zelebrieren die Purge-Nacht regelrecht: »The purge is Halloween for adults« (Election Year), ruft ein Purger in froher Erwartung schon Tage zuvor. Im Laufe der Jahre entwickelt sich ein Purge-Tourismus, sodass Menschen aus aller Welt in die USA reisen, um dort ungestraft rauben und morden zu können. Die Purge scheint vielen Menschen eine Gelegenheit zu bieten, den alltäglichen Zumutungen einer (post)modernen Gesellschaft, dem perzipiertem Sinnverlust und der Orientierungslosigkeit wenigstens für eine Nacht zu entfliehen und – wenngleich nur scheinbare – Kontrolle über ihr eigenes Leben zurückzuerlangen. Nirgends wird dies deutlicher als in Gestalt der PurgeGang um Kimmy, die für sich treffend zusammenfasst: »This is what the purge 8

Der Stabschef der NFFA, Arlo Sabian, stellt in einem Gespräch mit Dr. Updale klar: »This country is overpopulated, doctor, there’s too much crime, too much unemployment. It can’t afford to care for its own citizens.« (The First Purge)

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is all about. Me getting mine, you getting yours, and nobody stopping anybody« (Election Year). Hausmeister Diego, der sich für eine vermeintliche Zurückweisung an Eva rächen will, deklariert die Purge kurzerhand zu seiner Nacht: »Because it’s Diego’s night. It’s my night. It’s the motherfucking purge« (Anarchy). Diese Hölle zeichnet sich also durch eine Verschränkung von temporärer Kontrollerlangung und Kontrollverlust aus. Die Analogie zu Halloween legt bereits die Verwandtschaft der Purges zu Bräuchen und einigen ihrer sozialen Funktionen nahe (vgl. hierzu etwa Weber-Kellermann/Bimmer/Becker 2003: 150-153). Wie Werner Mezger (2000: 128) anlässlich des gestiegenen Interesses am Karneval ausführt, werden dort nun »ganz aktuelle Bedürfnisse unserer säkularisierten Welt befriedigt […]. Am wichtigsten ist dabei offenbar der Wunsch, dem normalen Dasein für ein paar Stunden zu entkommen, sich kurzfristig in ein anderes Wesen zu verwandeln und somit seine Alltagsrolle befristet sterben zu lassen.« Die Purges übertreten die für moderne Gesellschaften übliche Form der symbolischen Inszenierung allerdings drastisch, indem nicht nur die Alltagsrolle für eine Nacht stirbt, sondern der Rollenwechsel selbst das reale Sterben anderer Menschen bedingt. Obwohl die Purges als politisch organisierte Höllen mit einer eindeutig definierten Zeitspanne betrachtet werden können, lassen sich explizit religiöse, insbesondere christlich-katholisch geprägte Untertöne ausmachen. Das NFFA-Logo wird von einem Kreuz geziert. Die Ansage des Beginns der jährlichen Purge im Fernsehen schließt mit dem Gebet: »Blessed be our New Founding Fathers, and America, a Nation Reborn. May God be with you all.« In Election Year halten die Herrschenden in Kirchen Purge-Messen ab, bei denen rituelle Menschenopfer an ausgewählten Personen vollzogen werden. Die Anlehnung an christliche Symbolik ist dabei unmissverständlich, so werden die Mordwerkzeuge vor ihrem Einsatz mit geweihtem Wasser gereinigt. Der Veranstalter dieser Messe, Pfarrer und NFFA-Präsidentschaftskandidat Edwidge Owens, ist ein kompromissloser Befürworter der Purges und hält es für eine gottesfürchtige Pflicht, auf diesem Weg von all dem Hass und Zorn abzulassen: »Blessed be America for letting us purge and cleanse our souls. Join me as we eliminate evil. Purge and purify. Purge and purify« (Election Year). Visuell findet diese Höllennacht vor allem ihren Ausdruck in den Verkleidungen und Masken, die viele der Purger tragen (siehe beispielhaft Abbil-

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dung 1). Die Masken besitzen mit ihren dämonischen Antlitzen eindeutige Anleihen an gängige Höllenkonzeptionen.9

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Standbild aus The Purge: Election Year (00:27:03)

Zur Entindividualisierung gesellt sich also noch der Verweis auf die Unentrinnbarkeit des nächtlichen Schicksals. Wen das Höllenpersonal erwischt, den schickt es gewissermaßen in die Ewigkeit. In Anarchy haben einige Purger auf ihre Masken »God« geschrieben oder ein umgedrehtes Kreuz gezeichnet. In Election Year schreit ein blutgetränkter Purger heraus: »This night, the gates of hell are open.« Für ihn ist die Purge das »survival of the fucking fittest«, und er deklariert sich selbst zum »fittest of ´em all«, also als am besten angepasst an diese soziale (Extrem-)Situation – was im Sinne der höllischen Zumutungen auch als letzte Konsequenz eines entfesselten Neoliberalismus mit sozialdarwinistischen Anteilen interpretiert werden kann. In einen ähnlichen Zusammenhang ist der Ausspruch einer Frau einzuordnen, die auf einem Dach stehend ihre Waffe lautstark anpreist: »My MP9 Silvertipped Auto Magnum: The right arm of the free world and the left hand of God« (Anarchy). Die The Purge-Franchise lässt sich als filmische Umsetzung einer inszenierten irdischen Hölle mit Attributen und Funktionen des Fegefeuers fassen. 9

Hier lassen sich erneut Bezüge zum Brauchtum und den bei verschiedenen Festen getragenen dämonischen, höllischen oder teuflischen Masken herstellen (vgl. Mezger 2000) – mit der angesprochenen Differenz der realweltlichen Realisierung von Tod und Sterben.

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Die Rollen sind hierbei unterschiedlich verteilt: Einige Menschen sind anderen Menschen Gott und Wolf zugleich, anderen wiederum geht es nur um ein Über- und damit Weiterleben – ganz ohne Reinigung oder Läuterung.

Individuelle Leidenspassage ohne Wiederkehr: Martyrs Der französische Horrorfilm Martyrs (Laugier 2008) zeigt einen wahrhaft höllischen Leidensweg in großer visueller Radikalität. Der Beginn ist für das Horrorgenre noch vergleichsweise konventionell, doch wandelt sich der Charakter der Narration sukzessive in blanken Terror: Lucie wird als Kind von Unbekannten über mehrere Jahre gefangen gehalten und misshandelt, kann jedoch fliehen und wächst fortan in einem Waisenhaus auf. Allerdings ist sie schwer traumatisiert und wird regelmäßig von einer (letztlich imaginierten) stark entstellten weiblichen Gestalt attackiert und verletzt. Als junge Frau spürt sie die Verantwortlichen ihrer damaligen Misshandlung auf. Sie erschießt das Ehepaar samt ihrer ahnungslosen Kinder in deren Haus und ruft daraufhin ihre Freundin Anna zur Hilfe, die an den Tatort kommt und zunächst von der Grausamkeit Lucies entsetzt ist. Nachdem sich Lucie am folgenden Tag aus Verzweiflung umbringt, da die halluzinierte Person durch ihre Rachetat nicht (wie erhofft) verschwunden ist, entdeckt Anna durch Zufall einen geheimen Zugang zum Keller des Hauses, der als Folterraum einer reichen französischen Geheimloge dient. Einem ähnlichen Ort ist Lucie seinerzeit entkommen. Doch geht es hier – im Gegensatz zu vielen Filmen der kontemporären torture porn-Welle wie etwa Hostel (Roth 2005) – nicht um sadistische Folterknechte, die wahllos Opfer zu ihrem eigenen Vergnügen quälen. Der Keller wirkt sauber und beinahe steril. Die Folter ist berechnend, vorgeblich wissenschaftlich untermauert und dient einem höheren Gruppenziel. Die Loge will auf diese Weise herausfinden, was nach dem Tod geschieht. Sie verwandelt Menschen durch systematische Folter in Märtyrer, die so einen neuen Bewusstseinszustand erreichen sollen, in welchem sie die Schwelle zum Jenseits überschreiten. Ihrer Erfahrung nach eignen sich junge Frauen dafür am besten. Die Chefin der Loge, von allen nur Mademoiselle genannt, zeigt Anna verschiedene Fotos von unter großen Schmerzen leidenden, aber noch leben-

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den Menschen und verweist auf deren Augen, in denen man angeblich eine Transzendenzerfahrung erkennen könne.10 Sie führt aus: »Die Menschen haben es verlernt zu leiden […]. Dieser Planet ist so gemacht, dass es nur noch Platz für Opfer gibt. Märtyrer sind sehr selten, denn Märtyrer sind etwas ganz Eigenes. Ein Märtyrer ist ein außergewöhnliches Wesen. Er übersteht das Leiden, er übersteht jegliche Entbehrung. Man belädt ihn mit den Übeln dieser Welt, und er wird sich nicht verweigern. Er transzendiert. Verstehen Sie, was das heißt? Er verwandelt sich völlig.« Ziel des Martyriums ist die diesseitige Trennung von Körper und Seele durch eine komplette Selbstaufgabe des Subjekts. Die Seele transzendiert vor dem Tod ins Jenseits, während der Körper noch lebt. Gelingt es, die Seele vor dem Tod des Körpers aus diesem Zustand zurückzuholen, wären dieser Theorie zufolge Informationen über das Jenseits verfügbar. Dabei betont die Chefin, dass es nicht um religiöse Fragen geht: »Versuchen Sie mich nicht davon zu überzeugen, dass das Konzept des Märtyrertodes irgendetwas mit Religion zu tun hätte.« Für Marcus Stiglegger (2010: 91) ist »die Philosophie des Geheimbundes […], über eine wahrhaftige (profane, also nicht notwendigerweise gläubige) Märtyrerin in Kontakt mit dem Heiligen zu treten.« Im Abspann des Films wird die Definition des Begriffs Märtyrer eingeblendet (»von griechisch marturos: Zeuge«). In der deutschen Sprache hat sich für Märtyrer, also Menschen, die für ihren Glauben einen gewaltsamen Tod auf sich nehmen, zeitweilig die Bezeichnung »Blutzeuge« etabliert (vgl. Duden online). In Martyrs wird dies gewendet zu einer Blutzeugenschaft des Jenseits für die diesseitigen, wenngleich jenseitsbezogenen Interessen einer Gruppe privilegierter Menschen. Anna wird zur nächsten Märtyrerin erkoren, in den Keller gesperrt und angekettet. Die kontroverse zweite Hälfte des Films zeigt in vielfacher, auch für das Publikum höllischer Repetition, wie sie mittels sensorischer Deprivation und Schlägen bis zur Bewusstlosigkeit misshandelt wird. Die Folter läuft 10

Dazu gehört unter anderem das bekannte Bild eines chinesischen Attentäters während seiner Folterung nach der Lingchi-Methode. Für Georges Bataille verrät der Blick des Gefolterten eine Ekstase, die trotz des unerträglichen Schmerzes auf eine Grenzüberschreitung zum Heiligen hindeutet: »I never stopped being obsessed by this image of pain, at once ecstatic (?) and intolerable.« (Bataille 1989: 206; vgl. weiterhin Noys 2000). Auf ähnlichen Gedanken gründet das Vorgehen der Loge, die explizit vom »Ekstasezustand« während des Martyriums spricht und diesen scharf von Nahtoderfahrungen abgrenzt.

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planmäßig, vollkommen emotionslos und beinahe klinisch ab. Wie die Chefin an anderer Stelle sagt: »Sie sperren jemanden in ein dunkles Zimmer, und schon beginnt sein Leiden. Verstärken Sie seine Qualen. Gehen Sie dabei methodisch, systematisch und eiskalt vor. Sie müssen Geduld haben. Ihr Subjekt durchläuft verschiedene Bewusstseinsstadien.«11 Zunächst wehrt sich Anna noch, doch irgendwann ist ihr Widerstand gebrochen: Sie findet sich mit ihrer absoluten Macht- und Kontrolllosigkeit ab und lässt alles über sich ergehen. Als sie diesen Zustand erreicht, wird sie auf ein Gestell geschnallt – was in seiner gesamten Visualisierung trotz gespreizter Beine Analogien zur Kreuzigung nahelegt (siehe Abbildung 2) – und bei lebendigem Leib gehäutet.12 Hiernach erfährt sie ihre Transzendenz, die durch einen hell leuchtenden Nebel in ihren Augen ausgedrückt wird, in den die Kamera eintaucht, ohne dabei Näheres zu verraten.

Abbildung 2

Standbild aus Martyrs (01:24:09)

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Damit erklärt sich auch die Halluzination von Lucie, die durch die Folter in ihrer Kindheit hervorgerufen wurde. Eine andere Frau, die Anna vor dem Eintreffen der Logenmitglieder vorübergehend aus dem Folterkeller befreien kann, hat die Sinnestäuschung, dass auf ihrem Körper Insekten krabbeln, weswegen sie sich ständig blutig kratzt. Die Analogie wird noch deutlicher, als Anna nach der Häutung mit ihren Handgelenken an einer Metallstrebe fixiert wird, doch erspare ich der Leserschaft des Beitrags diese Abbildung.

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Anna berichtet der Mademoiselle mit letzter Kraft von dieser Erfahrung. Daraufhin versammeln sich die – größtenteils älteren – Mitglieder im Haus. Doch als einer der Besucher die Mademoiselle aus dem Badezimmer holen will, fragt jene durch die Tür: »Étienne, können sie sich vorstellen, was nach dem Tod mit uns passiert?« Bevor der antworten kann, ruft sie »Zweifeln sie!« und erschießt sich. So bleibt die Frage nach dem Jenseits ungeklärt und jede Option denkbar. Martyrs verhandelt anhand drastischer Foltersequenzen soziologische und philosophische Fragen zur menschlichen Existenz und greift dabei die Unterscheidungen zwischen Immanenz und Transzendenz sowie Profanem und Heiligem auf, wie sie unter anderem in den religionssoziologischen Schriften von Luhmann (1982) respektive Émile Durkheim (1984) konturiert worden sind. Über das Vorhandensein einer jenseitigen Hölle erfahren wir nichts, über diesseitige Höllen zur potenziellen jenseitsbezogenen Wissensgenerierung dagegen umso mehr. Ob (explizit) religiös durchdrungen oder nicht, verschwinden selbst in der Postmoderne weder die Fragen nach dem Sinn von Leben und Sterben noch die Furcht vor einem wie auch immer gearteten Jenseits. Bei hinreichend großer Macht der Fragestellenden können für andere Menschen höllische Konsequenzen im Diesseits erwachsen – und zwar seit jeher. In diesem Fall soll die Leidenspassage selbst zur Transzendenz führen, daher ist ihr Ende schon konzeptuell nicht vorgesehen. Die Hölle endet mit dem Tod.

Individuelle Leidenspassage und Erlösung: True Detective Für die filmische Verhandlung von Leidenspassagen bieten sich insbesondere die kontemporären, oftmals unter den Begriffen Quality TV (Thompson 1996) oder Complex TV (Mittell 2015) firmierenden Fernsehserien an. Im Vergleich zum Spielfilm steht diesen nicht nur wesentlich mehr Erzählzeit zur Verfügung, sie haben sich auch der tieferen, exakteren und umfassenderen Einbettung der Figuren in die jeweilige Serien(um)welt verschrieben (vgl. Cardwell 2007; Weckwerth 2017). Oftmals entspinnen sich die Handlungen und Konflikte langsam, dezidiert und ausführlich. Dies könnte sich für Beobachtungen über die Hölle als zu überwindende soziale Situation womöglich als ergiebig erweisen. Die hier ausgewählte erste Staffel der Anthologieserie True Detective (HBO 2014) folgt zwei Polizisten, Marty Hart und Rust Cohle, die im Jahre 1995 im ländlichen und deprivierten Southern Louisiana den Ritualmord an

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der Prostituierten Dora Lange untersuchen. Nach weiteren Recherchen entpuppt sich der Mord als Teil einer Mordserie, die sich erst 2012, also 17 Jahre später, auflösen wird. Dabei geht es um einen religiösen Kult, der christliche Elemente mit Versatzstücken aus Santeria und Voodoo vermengt und in den auch klerikale Würdenträger involviert sind. Die Serie spielt durchgehend mit mythischen und religiösen Subtexten, Metaphern und Symboliken, ohne dabei final ins Phantastische abzugleiten (vgl. Stiglegger 2017). Doch soll hier weniger die Geschichte im Fokus stehen, sondern der Leidensweg eines der beiden Polizisten. Rust Cohle hat eine backstory wound, ein »unverarbeitetes Erlebnis in der Vorgeschichte einer Hauptfigur, das ihren zentralen Charakterzug motiviert« (Krützen 2004: 33). Die backstory wound besitzt oftmals traumatische Züge, erschüttert das Selbst- und Weltverständnis und kann erst dann überwunden werden, wenn sie in die mentale Struktur der Figur integriert wird (und diese nicht länger dominiert) – etwas, woran beispielsweise Lucie in Martyrs aufgrund der Schwere ihres Traumas gescheitert ist. Es handelt sich also um eine Bewältigungssituation. Backstory wounds stellen im Film oftmals den Beginn einer individuellen Leidenspassage dar.13 Cohles backstory wound ist geradehin idealtypisch: Er verlor seine zwei Jahre alte Tochter, als sie unbeobachtet mit ihrem Dreirad auf die Straße fuhr und von einem Auto erfasst wurde. Er war nicht imstande, dies zu verarbeiten, woraufhin sein gesamtes privates und berufliches Leben zerbrach. Cohles Trauma prädisponiert jede Handlung, jede Äußerung und jede Sozialbeziehung. Er hat sich eine extrem zynische, pessimistische bis nihilistische Weltsicht zugelegt, nach der die gesamte Welt total verkommen sei. Demzufolge hatte seine Tochter Glück, nicht lange leben zu müssen und so auch nicht von der Gesellschaft korrumpiert werden zu können. Mit einer solchen Rationalisierung versucht er sein Leid besser ertragen zu können. Für ihn ist das Leben an sich sinnlos, alles wiederholt sich in endlosen Schleifen, denen das Individuum nicht entfliehen kann.

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Typische backstory wounds sind etwa der Tod eines nahen Menschen, ein Beziehungsende oder eine Gewalterfahrung. Es kann aber auch etwas ganz anderes dahinterstecken, wie Michaela Krützen (2004) am Beispiel von Clarice Starling in The Silence of the Lambs (Das Schweigen der Lämmer, Demme 1991) illustriert. Starlings backstory wound entstand aufgrund einer heimlich beobachteten Lämmerschlachtung in ihrer Kindheit.

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Die Auflösung dieser subjektiven Hölle fällt mit der Auflösung der Mordserie zusammen. Cohle und Hart spüren den verbliebenen Täter Errol Childress auf und verfolgen ihn in ein labyrinthartiges Gebäude auf seinem Grundstück, in dem ein Teil der rituellen Tötungen stattgefunden hat. Childress ist eine klassische ikonographische Figur aus dem Subgenre des backwood horrors (vgl. etwa Murphy 2013), der inzestuös-degenerierte Hinterwäldler. Spannender fällt die Visualisierung dieses ›Un-Orts‹ aus, die mehrfach klassische christliche Höllenelemente aufgreift: Es finden sich Skelette, Schädel, mystische Inszenierungen mit animistischen und schamanischen Symboliken, dazu gesellt sich ein Haufen Kinderkleidung als gewissermaßen irdisch-höllische Verknüpfung. Childress lockt Cohle immer tiefer in das Labyrinth hinein und bezeichnet ihn dabei in seinen nebulösen Aussagen mehrfach als »little priest« (unter anderem: »Come die with me, little priest«). Zudem ist die Lokalisierung ungewöhnlich: Childress und die Polizisten gehen durch einen oberirdischen Eingang ›gefühlt‹ geradeaus und befinden sich plötzlich doch weit unter der Erdoberfläche, wie an der Öffnung der Decke im Zentrum des Labyrinths zu erkennen ist. Hart und Cohle können Childress zwar töten, doch werden beide im Kampf lebensgefährlich verletzt und müssen auf Rettung warten. In den folgenden Sequenzen wird die religiöse Symbolik besonders anschaulich: Die am Haus von Childress eintreffenden Polizisten setzen einen Schuss mit der Leuchtpistole ab, um die beiden Vermissten aufzuspüren. Hart und Cohle sehen durch das Deckenloch die Leuchtspur am Firmament und beginnen um Hilfe zu rufen. Diese Sequenz ruft auch visuell Assoziationen zum Weg weisenden Stern von Bethlehem hervor. Noch eindeutiger wirkt die folgende Einstellung vom geretteten Cohle im Krankenhaus: Mit seinem weißen Gewand, dem geschundenen Gesicht, den langen Haaren und dem Bart erinnert er unweigerlich an Darstellungen von Jesus Christus (siehe Abbildung 3). Diese Analogien scheinen naheliegend gewesen zu sein: So wurden in einigen Foren auf Grundlage solcher Bilder Ähnlichkeiten zwischen Cohle und Jesus sowie zwischen ihren Leidenswegen diskutiert (vgl. etwa Reddit 2014, 2015). Unabhängig davon ist festzuhalten, dass im Finale von True Detective auf klassische Metaphern der Hölle als (vermeintlicher) Ort ohne Wiederkehr zurückgegriffen wird, ebenso wie auf eine Erlösung als Ende der Leidenspassage. Denn wie an der letzten Sequenz im Gespräch zwischen Cohle und Hart deutlich wird, scheint Cohle seine subjektive Hölle mit dieser Nahtoderfahrung tatsächlich überwunden zu haben. Er kann nicht nur mit dem Tod seiner

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Tochter abschließen, sondern sieht auch wieder einen Sinn im Leben, in der Unterscheidung zwischen Gut und Böse, Licht und Dunkelheit: »There was a moment, I know, when I was under in the dark, that something… whatever I’d been reduced to, not even consciousness, it was a vague awareness in the dark. And I could feel my definitions fading. And beneath that darkness there was another kind, it was deeper, warm, like a substance. I could feel, man, I knew, I knew my daughter waited for me… there. So clear. I could feel her. […] I could feel the peace of my pop, too. It was like I was part of everything that I have ever loved, and we were all, the three of us, just fading out. And all I had to do was let go, man. And I did. I said ›Darkness, yeah‹ and I disappeared. But I could still feel her love there. Even more than before. Nothing… nothing but that love. And then I woke up.« (Episode 8, Form and Void) Am Ende des Gesprächs bemerkt Cohle ungewohnt optimistisch: »Well, once there was only dark. When you ask me, light’s winning.« (Ebd.) Die Wunde ist verheilt, die Leidenspassage überwunden.

Abbildung 3

Standbild aus True Detective (S1E8: Form and Void) (00:43:18)

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Ausblick So unterschiedlich die exemplarischen Leidenspassagen der säkularen Höllen aus dem vorigen Kapitel auch ausfallen, ist ihnen doch eines gemein: Keine kommt ohne religiöse oder jenseitige Bilder und Verweise aus. Dies lässt sich sicherlich nicht für alle irdischen Höllen aufzeigen, dennoch bedarf die – auch filmisch nachzuzeichnende – Renaissance religiöser Motive in säkularisierten Gesellschaften einer Erklärung. Nach Flanagan (2017) befinden wir uns in einer Phase des Postsäkularismus, in der vermeintlich verdrängte religiöse und quasi-religiöse Empfindungen, Symboliken und kollektive Erinnerungen wieder zurück an die gesellschaftliche Oberfläche gelangen. Diese Phase äußere sich unter anderem in neu entfachten Diskursen zur Existenz von Gut und Böse, von Sünde und Aberglaube und findet ihren Ausdruck speziell in filmischen Auseinandersetzungen – unabhängig davon, ob diese sich eher aus dem Arsenal der christlichen oder etwa der neogotischen Ikonographie bedienen. Gerade im Horrorfilm werde die säkulare Rationalität oftmals auf die eine oder andere Weise unterminiert. Die Bezugnahme auf derlei Sinnwelten lasse sich eben auch als Reaktion auf Sinnverlust und Orientierungslosigkeit in der Postmoderne begreifen. Insbesondere im Rahmen von persönlichen Krisen oder Schicksalsschlägen ist eine Rückbesinnung auf religiöse Deutungen wahrscheinlich: »Die offizielle säkularisierte Kultur hat hier eigentlich nur die Kategorie des Zufalls oder des Risikos zur Verfügung« (Hahn 1997: 28), was den Betroffenen oftmals nicht ausreichend erscheint. Zwar existieren in (post-)modernen Gesellschaften diverse religiöse Sinngebungen, doch sind diese nicht mehr unhinterfragte und unhinterfragbare Voraussetzung des gesellschaftlichen Lebens, sondern frei wählbare und ebenso frei wieder abwählbare optionale Angebote für Sinnsuchende (vgl. auch Luhmann 2000). Nach Hahn (2000) liegt das Problem nicht am Mangel an Angeboten, sondern am Mangel an Verbindlichkeiten – insbesondere in Bezug auf die neuralgischen Bereiche des Todes und des Sterbens. Trotz dieser Tendenzen ist allerdings zu konstatieren, dass selbst in einem Großteil der Horrorfilme das Höllenpersonal ein rein irdisches bleibt. Das Böse und Krisenhafte bricht nicht einmal mehr von außen in unsere Gesellschaft(en) hinein, sondern ist deren inhärenter Teil (zu diesem Wandel vgl. ausführlich Tudor 1989). Für Georg Seeßlen (2015) folgen heutige Horrorfilme und -serien – ob mit phantastischen Elementen versehen oder nicht – sowieso dem Credo »Die Hölle sind wir.« Dietmar Dath (2014) postuliert angesichts

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der Renaissance von Horrorgeschichten in Literatur und Film gar: »In der Hölle von heute sucht der Teufel einen Job.« Dennoch könnten die absenten oder uneindeutigen Sinnressourcen, die sich allerdings keineswegs nur auf das Feld der Religion erstrecken, einen Zusammenhang zur Gestalt säkularisierter Höllen aufweisen, diese mitunter gar hervorrufen oder verstärken beziehungsweise ihre Überwindung verzögern. Hierzu könnten Film und Serie als Seismographen gesellschaftlicher Tendenzen und Entwicklungen Aufschluss geben. Es wäre zu analysieren, ob die filmische Thematisierung sozialer Situationen, die sich nach den vorgängigen Ausführungen als Höllen qualifizieren, künftig verstärkt auf mystische oder gar christlich-höllische Bilder zurückgreifen und damit nicht doch zumindest implizit einen religiös imprägnierten Diskurs reproduzieren.

Filmverzeichnis As Above, So Below (2014) (USA, R: John Erick Dowdle) Baskin (2015) (TUR, R: Can Evrenol) Constantine (2005) (USA, R: Francis Lawrence) Deconstructing Harry (1997) (USA, R: Woody Allen) Destination Gobi (1953) (USA, R: Robert Wise) Die weisse Hölle vom Piz Palü (1929) (GER, R: Georg Wilhelm Pabst) Drag Me to Hell (2009) (USA; R: Sam Raimi) E tu vivrai nel terrore! L’aldilà (1981) (ITA, R: Lucio Fulci) Green Hell (1940) (USA, R: James Whale) Heaven can wait (1943) (USA, R: Ernst Lubitsch) Hellboy (2004) (USA, R: Guillermo del Toro) Hellraiser (1987 (UK, R: Clive Barker) Hostel (2005) (USA/CZE, R: Eli Roth) Höllentour (2004) (GER, R: Pepe Danquart) Jump Into Hell (1955) (USA, R: David Butler) L’Insoumis (1964) (FRA/ITA, R: Alain Cavalier) Martyrs (2008) (FRA/CAN, R: Pascal Laugier) Spawn (1997) (USA, R: Mark A.Z. Dippé) The Deer Hunter (1978) (USA, R: Michael Cimino) The Divide (2011) (USA u.a., R: Xavier Gens) The First Purge (2018) (USA, R: Gerard McMurray) The Innocent Man (2018) (Netflix)

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The Poseidon Adventure (1972) (USA, R: Ronald Neame) The Purge (2013) (USA, R: James DeMonaco) The Purge (2018-2019) (USA Network) The Purge: Anarchy (2014) (USA, R: James DeMonaco) The Purge: Election Year (2016) (USA, R: James DeMonaco) The Silence of the Lambs (1991) (USA, R: Jonathan Demme) The Steel Helmet (1951) (USA, R: Samuel Fuller) The Void (2016) (CAN, R: Steven Kostanski/Jeremy Gillespie) True Detective (2014-) (HBO)

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Die Veralltäglichung der Höllenmetaphorik in spätmodernen Zeiten Ein Epilog Lena M. Friedrich

»Er [der Soziologe; L. F.] muß beim Vordringen in die soziale Welt das Bewußtsein haben, daß er ins Unbekannte dringt; er muß sich angesichts von Tatsachen fühlen, deren Gesetze ebenso unerwartet sind, als es die des Lebens waren, als es noch keine Biologie gab; er muß sich auf Entdeckungen vorbereiten, die ihn überraschen und außer Fassung bringen werden.« (Durkheim 1995: 91) Dass sich die Soziologie als theoretische wie empirische Sozialwissenschaft mit der Hölle und damit mit dem ›absolut Unbekannten‹ beschäftigen kann, dass sie sie zu ihrem Gegenstand machen kann, ohne ihren Anspruch als Wirklichkeitswissenschaft zu verlieren, sich auf ›Objekte‹, auf soziale Tatbestände zu beziehen, haben die Beiträge dieses Bandes nachdrücklich belegt. Nicht, was die Hölle ist, sondern, was mit Hölle gemeint ist, wenn Menschen über sie oder von ihr sprechen – all das ist für den Soziologen theoretisch wie empirisch zugänglich, ist beschreibbar und damit der verstehenden Deutung freigegeben. Und dennoch: Die Hölle gibt es nicht – oder doch? Zumindest kann die Rede von ihr nur metaphorisch und damit: uneigentlich erfolgen. Dieses uneigentliche Sprechen von ›der Hölle‹ gibt einen ersten Hinweis auf den Bedeutungswandel dieses Jenseitskonzepts in spätmodernen Zeiten, denn: »In der Sprache des Gottesglaubens sind Metaphern eine Form eigentlicher Rede von Gott.« (Klie 2010: 17; Herv. i.O.) – und es lässt sich an dieser Stelle verallgemeinernd ergänzen: eine Form eigentlicher Rede von diesem Gott zurechenbaren ›Transzendenzen‹ (zum Beispiel personal: Engel und Teufel [vgl. Ullrich in diesem Band] sowie räumlich: Himmel und Hölle). Im Vergleich zu ›klassischen‹ Definitionen und Begriffsbestimmungen hat die Metaphorik einen entscheidenden Vorteil, wie Matthias Junge (2010b)

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in Rekurs auf Bruno Snell (1943) deutlich macht: »sie ermöglich[t] auch dann noch Erkenntnis, wenn Eindeutigkeit nicht mehr möglich ist.« (Ebd.: 268) Entscheidend sei nicht der »Grad der Eindeutigkeit« (ebd.), geschweige denn so etwas wie Allgemeingültigkeit – entscheidend sei die Möglichkeit des Vergleichs und der Apperzeption. So konstatiert auch Oliver Dimbath (2016: 126): »Der epistemische Mehrwehrt der Metapher erwächst der Chance, das Neue und bis dato Unbekannte im Rückgriff auf Strukturmerkmale des Alten und Bekannten zu bestimmen.« Wichtig sei nicht lediglich »die Übertragbarkeit einer grundlegenden Regel«, wichtig sei vielmehr »die hypothetische Übertragung ganzer Sinnhorizonte eines Konzepts [hier: des Höllenkonzepts; L.F] auf ein anderes.« (Ebd.: 125) Die Verwendung des Konzepts beziehungsweise der Metapher der Hölle erzeugt folglich bestimmte Assoziationen, legt spezifische Deutungspfade aus, die in der Alltagssprache verfolgt und situativ angewendet werden. So fundiert auch Junge (2010b) in seiner Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Edmund Husserls und Alfred Schütz’ sowie mit der pragmatischen Erkenntnistheorie (insbesondere Charles Sanders Peirce [1991]) seine soziologische Metaphernforschung vor allem handlungstheoretisch – das heißt: Entscheidend für die (Be)Deutung einer Metapher ist nicht lediglich deren semantischer ›Gehalt‹, sondern vielmehr die ihr inhärente »Handlungsausrichtung« (Junge 2010b: 271), der durch die Verwendung der Metapher eröffnete Handlungsraum. Wie nun ist dieser Raum möglicher Handlungen ausgestaltet, den die spätmoderne Verwendung der Höllenmetapher aufschließt? Mit dem Vokabular Nelson Goodmans (1990) formuliert: Welche Welten erzeugt ›die Hölle‹? Ist sie historischer Ort oder gar – wie Stefan Böschen und Willy Viehöver (in diesem Band) fragen – Uchronie, und damit das Ende jeglicher geschichtlicher Handlungsmöglichkeit und Erfahrbarkeit? Insbesondere, so machen die Beiträge dieser Anthologie nachdrücklich deutlich, ist Hölle im wahrsten Sinne des Wortes säkularisiert, sie ist verweltlicht, verinnerweltlicht und damit zugleich zutiefst vermenschlicht. Sartres Diagnose L’enfer, c’est les autres verweist nicht nur darauf, dass der Mensch dem Menschen die Hölle bereiten kann (vgl. Engelfried-Rave in diesem Band), sondern dass die Hölle selbst ein mit der sozialen Wirklichkeit zutiefst verwobenes, ein ihr inhärentes Konzept darstellt ohne Externalisierungsmöglichkeit. Hat die Hölle mit Verlust ihrer transzendenten Dimension und ihrer Sanktions- und Kulpabilisierungsfunktion (vgl. Hahn 1996 sowie in diesem Band; oder auch Ebertz in diesem Band) damit möglicherweise ihre Schrecken endgültig verloren? Ist sie durch Säkularisierung, Zivilisierung und Individualisierung zugleich in Gänze ba-

Die Veralltäglichung der Höllenmetaphorik in spätmodernen Zeiten

nalisiert? Hölle als Darstellungselement und Inszenierungsstrategie wie sie im Heavy Metal (vgl. Chaker in diesem Band) sowie in filmischen Produkten (vgl. Weckwerth in diesem Band) erscheint, mag dies nahelegen, insbesondere angesichts des ›Spiels‹ mit den mit der Höllenmetapher verknüpften Antagonismen wie ›Schuld und Unschuld‹, ›Sünde und Strafe‹, ›Gedeih und Verderb‹. Jedoch, wenn Hölle gänzlich ins Diesseits eingegangen ist, scheint sie alles andere als trivial oder banal zu sein. Das zerstörerische Potenzial der Hölle – und gemeint ist hier nicht das energetische Potenzial im biochemischen Sinne – entfaltet im ›Hier und Jetzt‹ eine besondere Qualität des Unerträglichen, des totalen Kontrollverlustes, bisweilen verbunden mit dem Gefühl völliger Hilf- und Ausweglosigkeit (vgl. Leonhard in diesem Band) oder auch mit der »Befindlichkeit der Gnadenlosigkeit« (Böschen und Viehöver in diesem Band). Die Hölle ist weder verdinglicht noch vergessen (vgl. Termeer in diesem Band), sie beschreibt andererseits jedoch nicht nur außeralltägliche Erfahrungen von Krieg und Vernichtung, sondern erfahrene wie erfahrbare Sinn- und Perspektivlosigkeit, die Verunmöglichung des Werdens und der Entwicklung (vgl. Heinlein in diesem Band) – und damit: des würdigen Lebens – im Alltag. Die Macht der Höllenmetaphorik tritt hier deutlich zutage: die »soziale[n] Erinnerungen an die ewige Verdammnis« (Sebald in diesem Band), die »vermeintlich verdrängte[n] religiöse[n] und quasi-religiöse[n] Empfindungen« (Weckwerth in diesem Band) haben den Bedeutungsverlust des christlich-katholischen Jenseitskonzeptes überlebt und tragen bei zur spezifischen ›Gerichtetheit‹ des Begriffes. Zwei Aspekte dieses Wandels sollen hier hervorgehoben und entfaltet werden. Erstens: In der Metapher der Hölle verschränkt sich deren ursprüngliche Gerichtetheit auf Strafe und Verdammnis mit einem differenzierten, bisweilen sogar kreativen ›Umgang‹ mit Hölle im Alltag. Und daraus folgend ein zweites: Die veralltäglichte Hölle bleibt unerträglich, unwürdig, aber nicht unüberwindbar.

Metaphorische Gerichtetheit und semantische Differenzierung der ›Hölle‹ Der Begriff der Hölle zählt zum sogenannten ›Standardwortschatz‹ und findet sich sowohl im Mittel- und Althochdeutschen wie auch im Altsächsischen und Gotischen erstmals im neunten Jahrhundert. Der mit ›Unterwelt‹ und ›Totenwelt‹ übersetzte Begriff wird »in der Regel für den christlichen Begriff

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der Hölle bezeugt, im Altnordischen aber für die entsprechende germanische Vorstellung; dort auch für die Personifizierung Hel für die Totengöttin.« (Kluge 2011: 422; Herv. i.O.) Diese Toten- beziehungsweise Unterwelt bildet als »Sanktions- und Kulpabilisierungskonzept« (Ebertz in diesem Band) in der christlichen Eschatologie das Antonym zum ›Paradies‹1 als jenseitiger Bereich ewigen Friedens und Glücks, in den die Seliggewordenen nach dem Tode aufgenommen werden. Dieses dualistische Jenseitsmodell übernahm das Christentum von der griechischen Mythologie (hier: Hades und Elysium) und kombinierte es mit der Dialektik von ›Oben‹ und ›Unten‹ – ein Dualismus, der Platz für ein ›Dazwischen‹ ließ, das im zwölften Jahrhundert durch den Ort des Fegefeuers, das purgatorium als Substantiv neutrum, Gestalt annehmen sollte (vgl. Le Goff 1990: 10ff.). Dieser »›dritte Ort‹« (ebd.: 10) sei als eine Art »Zwischenreich« (ebd.: 15) zu denken, das nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich »ein intermediäres Jenseits« (ebd.: 14) darstelle – ein spezifischer Zeit-Raum zwischen irdischem und ewigem Leben. Die Metaphorik von Raum und Zeit, die der christlichen Jenseitskonzeption zugrunde liegt, erscheint alles andere als zufällig oder gar banal – vielmehr verweist sie auf grundlegende Dimensionen für Individuum und Gesellschaft. In der Kategorie des Raum-Zeitlichen entspannen sich Nähe und Distanz, wird das Jenseits Teil des Diesseits, werden Himmel und Erde untrennbar miteinander verknüpft: »Denn die beiden Welten sind durch Beziehungen verbunden, die die Gesellschaft der Toten mit der der Lebenden vereint.« (Ebd.: 14) Mit Einführung der ›Konzeption Fegefeuer‹ scheint die Hölle als machtvolles Sanktionskonzept erstmals – jedoch nachhaltig – eine Abwertung erfahren zu haben, indem mit dem Purgatorium als raum-zeitlich begrenzte Läuterungsphase mit ›Exit-Option‹ eine Alternative zur Ausweglosigkeit, weil Endgültigkeit ewiger Verdammnis offeriert wird – zumindest für »die weniger schweren Sünder« (Kluge 2011: 283). Das Resultat kann als Purgatorisierung der Hölle bezeichnet werden, welche die ewige Verdammnis zugunsten vorübergehender Unerträglichkeit, die der Katharsis oder auch der ›Wiedergutmachung‹ dient, des Bedrohungspotenzials ewiger Strafe beraubt. Le Goff (1990: 24) erkennt in der »durch das Fegefeuer erreichte[n] Zähmung des Jenseits« vor allem

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Der aus dem achten Jahrhundert stammende Begriff ›Paradies‹ geht zurück auf das altiranische Wort pairi-daeza-, ›Umwallung‹, sowie auf das altpersische paridaida-, ›Lustgarten‹, ›Wildpark‹ und wird später in der Septuaginta für den ›Garten Eden‹ gebraucht (vgl. Kluge 2010: 682).

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zweierlei: erstens ein Instrument sozialer Kontrolle – und damit einhergehend eine Stärkung kirchlicher Macht über das Leben nach dem Tod –, sowie zweitens eine Ausdehnung diesseitiger Solidargemeinschaften auf jenseitige ›Welten‹. Zentrales, beide Aspekte miteinander verbindendes Element bilden die Fürbitten als ›Januskopf‹ von Pflicht und Recht, welche ein Eingreifen oder Einwirken der Lebenden auf die Toten beziehungsweise auf deren ›Schicksal‹ ermöglichen – im Sinne einer potenziellen ›Verkürzbarkeit‹ des Feuerfeuers als »zwischenzeitliches Jenseits« (ebd.: 22). Weit nach der »Geburt des Fegefeuers« und der damit einhergehenden »Zähmung« der Hölle, lassen sich im spätmodernen Gebrauch der Höllenmetapher jedoch kaum mehr die von Le Goff beschriebenen Veränderungen im Verhältnis von Lebenden und Toten sowie eine ›Entschärfung‹ der Jenseitskonzepte bei gleichzeitigem Machtzuwachs der Institution Kirche erkennen. Die Purgatorisierung der Hölle geht deutlich darüber hinaus, indem Hölle hier nicht lediglich ›gezähmt‹, sondern durch Attribuierung der Charakteristika des Fegefeuers als Läuterungsphase, Reinigungspassage und damit als zeitlich begrenzter, leidvoller Lebensabschnitt grundlegend modifiziert wird. Die ›ewige Verdammnis‹ als außeralltägliches Phänomen wird mit der Purgatorisierung der Hölle zur endlichen Leidenspassage im Alltag. Nichtsdestotrotz scheint die Höllenmetapher nicht ihre sozial-regulative Funktion verloren zu haben, dient sie doch – selbst in spätmodernen Zeiten – im alltäglichen Sprachgebrauch der implizit wie explizit wertenden Darstellung unhaltbarer Zustände, unerträglicher Leiden und als amoralisch klassifizierten Verhaltens sowie in den Worten von Matthias Junge (2010a: 8): »der Herstellung sozialer Bindungen und der kulturellen Selbstbestimmung im Spannungsverhältnis von Individuum und Kultur«. Dank der ›sprachlichen Leistung‹ wird im Begriff der Hölle Vorsprachliches und Sprachliches zusammengeführt, was Koselleck (2006: 20) treffend als »die Fiktion des Faktischen« bezeichnet: »Denn was sich tatsächlich vollzogen hat [oder: vollziehen kann; L.F.], ist […] real nur im Medium sprachlicher Darstellung.« Mit jeder Verwendung des Begriffes – hier: der ›Hölle‹ – wiederholten sich, so Koselleck weiter, »die sprachbedingten Vorgaben«, welche Sinn und Verständnis des Wortes strukturierten (vgl. ebd.: 30), damit dessen spezifischer Gerichtetheit folgen und diese in actu reproduzieren. Insbesondere im sprachlichen ›Spiel‹ mit dem Konzept der Hölle sowie in der Inszenierung höllischer Welten wird die dem Begriff inhärente ›Richtung‹ deutlich. So dient die Höllenmetapher hier insbesondere der möglichst anschaulichen Illustration erlebter wie erlebbarer Schrecken und unvorstellbarer Leiden,

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der Zerstörung, des Schmerzes und der Ohnmacht (vgl. Chaker, Leonhard, Raab/Stanisavljevic, Weckwerth in diesem Band). Jedoch eröffnet die Hölle der Spätmoderne nicht mehr (nur) einen Erwartungshorizont, der diesseitige Schuld jenseitig bestraft, sondern sie amalgamiert das ›Jenseitige‹ mit dem Diesseits, verbindet Transzendenz und Immanenz. Die Hölle der Spätmoderne ist kein transzendenter Ort, den niemand gesehen noch gehört, geschweige denn: gefühlt hat, sondern sie ist nun der konkreten Erfahrung zugänglich, die nicht mehr nur künftig erwartet oder befürchtet, sondern vielmehr gemacht und ex post beschrieben werden kann. Lange Zeit musste die Hölle ohne ›Zeugen‹ auskommen, nun jedoch bezeichnet sie konkrete ›Gegenstände‹ und Sachverhalte sozialer Wirklichkeit. Hölle vervielfältig sich, wird dispers und verliert zunehmend an Homogenität. Die Hölle, die einem widerfährt, mag den anderen nicht schrecken. Was der eine als Hölle empfindet und bisweilen auch drastisch beschreibt, kann beim anderen lediglich Achselzucken oder gar Verzücken auslösen. »Das Assoziationsund Kreativitätspotenzial erwächst der Interaktion zwischen einem bezeichneten Gegenstand (Gegenstandsterm) und dem als Bild verwendeten Referenten (Trägerterm)«, so Dimbath (2016: 126) unter Bezug auf Ivor A. Richards in seiner Auseinandersetzung mit der Generationsmetaphorik in soziologischen Gegenwartsdiagnosen. Übertragen auf das Konzept der Hölle bedeutet dies einerseits, dass jedwedem bezeichneten Gegenstand, jedweder bezeichneten Erfahrung durch die Verwendung der Höllenmetapher als Referenten oder sogenanntem »Trägerterm« ein bestimmtes Deutungsmuster, eine bestimmte ›Richtung‹ unterlegt, ja: ›eingepflanzt‹ wird.2 Die Hölle dient hier insbesondere der Negativbewertung des jeweiligen »Gegenstandsterms« oder des ›Zieles‹ – wie Matthias Junge (2010b: 270) formuliert – dessen zum Teil öffentlicher Problematisierung beziehungsweise Skandalisierung wie emotionalisierenden und moralisierenden Darstellung.3 Im Mittelpunkt steht folglich die epistemische Funktion der Metapher, welche sich vor allem darauf bezieht, durch die Umschreibung eines ausgewählten Gegenstandes 2

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Die Autorin ist sich bewusst, dass sie selbst metaphorische Begrifflichkeiten verwendet, um einen Gegenstand oder Sachverhalt zu bezeichnen und damit eine bestimmte Richtung anzudeuten, »ohne diese«, wie Junge (2010b: 273) formuliert, »explizit festzulegen«. Sowohl der Beitrag Marcus Termeers Die Hölle der Mode. Überlegungen zum ImmerWieder-Neuen im Anschluss an Walter Benjamin wie der Aufsatz Pflegeheime als Hölle? Eine Metapher zur Delegitimierung stationärer Pflegeeinrichtungen von Marc Breuer (beide in diesem Band) sind hierfür paradigmatisch.

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einen ›neuen‹ zu erzeugen, im Gegensatz zur phatischen Funktion, die insbesondere soziale oder (wissens)kulturelle Zugehörigkeiten und Abgrenzungen markieren soll, wie zur sozial-regulativen Funktion und deren appellativem Charakter (vgl. Junge 2010a: 8).4 Andererseits wirkt jedoch der bezeichnete Gegenstand auf den Trägerterm, die »Ressource« (Junge 2010b: 270), zurück, denn eine Metapher kann letztlich nur existieren, wenn zwischen Ressource und Ziel – oder: zwischen Gegenstands- und Trägerterm – eine Relation im Sinne einer Interkation stattfindet (vgl. ebd.; vgl. Dimbath 2016: 126). Inwiefern – so stellt sich folgerichtig die Frage – wirken nun die Gegenstände und Erfahrungen, die als ›Hölle‹ bezeichnet werden, zurück auf diesen (Be)Deutungsträger und tragen zu dessen Veränderung bei? Und inwieweit hat sich die ›Hölle‹ respektive deren Bedeutung gewandelt? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Im Folgenden soll die Differenzierung beziehungsweise die Dispersion der Höllenmetapher in ihrer in der Spätmoderne ›gängigen‹ Nutzung betrachtet werden, um abschließend den Versuch zu wagen, die Hölle doch noch ›auf den Punkt‹ zu bringen.5

Zur Veralltäglichung der Höllenmetaphorik Wird ein Begriff beziehungsweise eine Metapher zur Bezeichnung eines Sachverhaltes oder Gegenstandes verwendet, so sind die darin langfristig wirksamen Erfahrungs- und Deutungsmuster »sprachlich gespeichert«, sie sind »dem Begriff eingestiftet« – so erläutert Reinhart Koselleck (2006: 30) die Wirksamkeit verschiedener »institutionelle[r] Einbindungen«, wie Brauchtum, theologische Deutungen und rechtliche Einlassungen, angesichts der

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Jedoch sei darauf verwiesen, dass mit der Verwendung der Hölle im spätmodernen Sprachgebrauch sowohl die phatische als auch die sozial-regulative Funktion Anwendung finden. So dient beispielsweise die vielgestaltige Inszenierung von Höllen einerseits der Integration in und für die Kulturwelt des Metal wie andererseits der Abgrenzung von allem, was in contrario als ›Mainstream‹ wahrgenommen und bezeichnet wird (vgl. Chaker in diesem Band). Auch die sozial-regulative Funktion der Höllenmetapher scheint weiterhin ihre Wirkung zu entfalten – nicht als »exklusionistisches Strafkonzept« (Ebertz in diesem Band), jedoch zum Zwecke der Vermittlung bestimmter Vorstellungen, zum Beispiel von Moralität und Gerechtigkeit (vgl. Dimbath in diesem Band), sowie von bestimmten Handlungsoptionen beziehungsweise -räumen (vgl. Leonhard, Raab/Standisavljevic in diesem Band). Zum Konzept der Spätmoderne vgl. Dimbath, Friedrich und Gebhardt in diesem Band.

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verschiedenen Veränderungsgeschwindigkeiten von Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte. Beide, so der Autor, fragten »nach Strukturen und deren Wandel, und sie fragen nach den sprachlichen Vorgaben, unter denen solche Strukturen in das gesellschaftliche Bewußtsein eingegangen, begriffen und auch verändert worden sind.« (Ebd.: 24) In Anbetracht der Begrenztheit der Sprache einerseits und einer potenziell unbegrenzten Fülle möglicher Gegenstände und Sachverhalte sozialer Wirklichkeit andererseits erscheint es nicht nur folgerichtig, sondern schlichtweg notwendig, dass ein Begriff nicht nur einen Sachverhalt exklusiv benennt, sondern vielmehr der Bezeichnung verschiedener Gegenstände, Erfahrungen, Ideen und so weiter dient. Wenngleich sprachbedingte Vorgaben Sinn und Verständnis einer Wortverwendung strukturieren (vgl. ebd.: 30), so schreiben (oder sprechen) sie diese doch nicht gänzlich fest. Das gesprochene Wort ist eben nicht ›in Stein gemeißelt‹, sondern (idealerweise) be-griffen und damit potenziell veränderbar. Dass der Begriff der ›Hölle‹ im Laufe seiner Geschichte eine Wandlung vollzogen hat und so performativ ›gestaltbar‹ geworden ist, dass die Bedeutung der Hölle in der Spätmoderne eine andere ist als im neunten Jahrhundert, in der Zeit seiner Entstehung, haben die Beiträge dieses Bandes vielfältig dargelegt. Nicht der Verlust oder der »Wegfall der Hölle« (Luhmann 1993: 195) sind zu konstatieren, sondern ein Wandel der (Be)Deutung der Höllenmetapher im Sinne einer Ausdifferenzierung und Dispersion des semantischen Konzeptes. Sie bezeichnet – wie dargelegt – Jenseitiges wie auch Diesseitiges, ist als Metapher für Unerträgliches, Unwürdiges eine »Ikone des Leidens und der Ohnmacht« (Ebertz in diesem Band) sowie popularkulturelles Darstellungselement, eine Inszenierungsstrategie und dient als »kulturell-ästhetischer Code« (Chaker in diesem Band) der Distinktion und damit der sozialen Schließung. Die Hölle ist veralltäglicht, nicht ›entwirklicht‹, wie Ebertz (in diesem Band) vermutet, sondern sie hat sich im Alltag verwirklicht. Der schlichte Vergleich der ›Hölle des neunten Jahrhunderts‹ oder allgemeiner: ›des Mittelalters‹ mit der ›Hölle der Spätmoderne‹ scheint nicht den Kern oder die spezifische Charakteristik des Wandels zu treffen, den dieses Jenseitskonzept bis heute durchgemacht hat. Die Hölle ist nicht eindeutig, wie Böschen und Viehöver (in diesem Band) konstatieren, sie ist im Grunde mehr. Sie ist dispers, vielgestaltig, individuell und kollektiv, dauerhaft und zeitlich begrenzt, räumlich situiert und zugleich grenzenlos, weil überall möglich. Die Hölle ist allgegenwärtig und doch nicht. Sie wird beschworen, gefürchtet, geleugnet und belacht. Sie sitzt dem spätmodernen Subjekt weiterhin im Nacken – weniger als drohender Schrecken im Jenseits,

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darauf wartend, sich in Ewigkeit ununterbrochen zu verwirklichen. Eher ist sie diesseitiges Element eines kontingenten Möglichkeitshorizontes in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die spätmoderne Hölle ist trivial, aber nicht banal, sie ist zivilisiert (vgl. Hahn 1996 und in diesem Band), bisweilen gezähmt (vgl. Le Goff 1990: 24), und doch beschreibt sie als Metapher gemäß ihrer ursprünglichen Gerichtetheit Sinn- und Perspektivloses, Unkontrollierbares, Leidvolles – im ›Hier und Jetzt‹. Die spätmoderne Rede von ›der Hölle‹ hat sich des diesem Jenseitskonzept ursprünglich inhärenten Ewigkeitsanspruchs entledigt, ist zur Chiffre für eine zeitlich befristete Phase der Unerträglichkeit geworden. Der markanteste Unterschied zwischen der ›wahren‹ Hölle (vgl. Ebertz in diesem Band) und der ›Hölle der Spätmoderne‹ liegt somit wohl vor allem darin, dass die Hölle ›von heute‹ überwunden werden kann – und zwar spätestens mit dem Tod.

Literatur Dimbath, Oliver (2016): »Die Generationsmetaphorik in soziologischen Zeitdiagnosen«, in: Matthias Junge (Hg.), Metaphern soziologischer Zeitdiagnosen, Wiesbaden: Springer VS, S. 123-129. Durkheim, Émile (1995): Die Regeln der soziologischen Methode, hg. und eingeleitet v. René König, 3. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Goodman, Nelson (1990): Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hahn, Alois (1996): »Unendliches Ende: Höllenvorstellungen in soziologischer Perspektive«, in: Karlheinz Stierle/Rainer Warning (Hg.), Das Ende. Figuren einer Denkform, München: Wilhelm Fink, S. 155-182. Junge, Matthias (2010a): »Einleitung«, in: Metaphern in Wissenskulturen, Wiesbaden: VS, Verlag für Sozialwissenschaften, S. 7-11. Junge, Matthias (2010b): »Der soziale Gebrauch der Metapher«, in: Metaphern in Wissenskulturen, Wiesbaden: VS, Verlag für Sozialwissenschaften, S. 265-279. Klie, Thomas (2010): »Riskante Liturgien. Zur Pragmatik religiösen Metapherngebrauchs in gesellschaftlicher Öffentlichkeit«, in: Matthias Junge (Hg.), Metaphern in Wissenskulturen, Wiesbaden: VS, Verlag für Sozialwissenschaften, S. 15-26.

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Kluge, Friedrich (2011): Kluge – etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearb. v. Elmar Seebold, 25., durchges. und erw. Aufl., Berlin/Boston: De Gruyter. Koselleck, Reinhart (2006): Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Le Goff, Jacques (1990): Die Geburt des Fegefeuers. Vom Wandel des Weltbildes im Mittelalter, München: dtv/Klett-Cotta. Luhmann, Niklas (1993): »Individuum, Individualität, Individualismus«, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 149-258. Peirce, Charles Sanders (1991): »Wie unsere Ideen zu klären sind«, in: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, hg. v. Karl-Otto Apel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 182-214. Snell, Bruno (1943): Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Hamburg: Claasse & Goverts.

Autorinnen und Autoren

Stefan Böschen (Dr. phil. Dipl. Ing.) ist Lehrstuhlinhaber für das Forschungsund Lehrgebiet »Technik und Gesellschaft« am HumTec der RWTH Aachen. Marc Breuer (Dr. phil) ist Professor am Fachbereich Sozialwesen der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Paderborn. Sarah Chaker (Dr. phil.) arbeitet als Senior Scientist am Institut für Musiksoziologie der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Oliver Dimbath (Dr. rer. pol.) ist Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz. Michael N. Ebertz (Dr. rer. soc., Dr. theol.) ist Professor für »Sozialpolitik, Freie Wohlfahrtspflege und kirchliche Sozialarbeit« an der Katholischen Hochschule Freiburg. Ursula Engelfried-Rave (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kultursoziologie am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Lena M. Friedrich (Dipl. Sozialpäd./-Sozialarbeiterin) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz. Winfried Gebhardt (Dr. phil.) ist emeritierter Professor für Allgemeine Soziologie am Institut für Soziologie der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz.

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Alois Hahn (Dr. phil.) ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Trier. Michael Heinlein (Dr. phil.) ist Wissenschaftler am Institut für sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) in München. Nina Leonhard (Dr. phil.) ist Privatdozentin am Institut für Soziologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster sowie Projektleiterin im Forschungsbereich Militärsoziologie am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) in Potsdam. Jürgen Raab (Dr. rer. soc.) ist Professor für Soziologie am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau. Gerd Sebald (Dr. phil.) ist Privatdozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der FAU Erlangen. Marija Stanisavljevic (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Hochschuldidaktik der Pädagogischen Hochschule Luzern. Marcus Termeer (Dr. phil.) arbeitet als freier Autor. Peter Ullrich (Dr. math.) ist Professor für »Mathematik und ihre Didaktik« an der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz. Willy Viehöver (PhD) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Technik und Gesellschaft der RWTH Aachen. Jan Weckwerth (M.A.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Göttingen.

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Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018 2019, 246 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4474-6

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