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German Pages 400 Year 2014
Ulrike Traub Theater der Nacktheit
T h e a t e r | Band 24
Für meine Eltern
Ulrike Traub (M.A.) ist im Kulturmanagement tätig.
Ulrike Traub Theater der Nacktheit. Zum Bedeutungswandel entblößter Körper auf der Bühne seit 1900
Die Veröffentlichung ist als Dissertation an der Ruhr-Universität Bochum angenommen worden.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Inhalt
1.
Einleitung | 7
2.
Theoretische Ansätze zur Zivilisation des Körpers | 13
DEUTSCHES KAISERREICH UND WEIMARER REPUBLIK 3.
Wegbereiter für die Nacktheit auf der Bühne | 43
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
Die Lebensreform: Reform statt Revolution | 43 Die Nacktkultur | 50 Die Kleidungsreform | 58 Körper und Seele | 60 Legitimations- und Verteidigungsstrategien der Nacktkultur | 62
4.
Nacktheit auf der Bühne im Kaiserreich und in der Weimarer Republik | 73
4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.1.5 4.1.6 4.1.7 4.2
Die Solistinnen | 73 Motivik: Salomé und Phryne | 82 Die inszenierte Nacktkultur: Schönheitsabende | 86 Celly de Rheydt | 93 Isadora Duncan | 98 Adorée Villany | 113 Ruth St. Denis | 120 Anita Berber | 127 Vom Tingel-Tangel zur prunkvollen Nacktheit: Nacktheit in Varieté und Revue | 138 4.2.1 Varieté | 140 4.2.2 Revue | 144 4.2.3 Sisters und Girls – zwei Frauentypen der Revue | 155 4.3 Zusammenfassung | 168
DIE SECHZIGER UND SIEBZIGER J AHRE 5.
Make Love, Not War – Sexuelle Revolution und Sexwelle | 175
5.1 5.2 5.3
Die politische Dimension: Die sexuelle Revolution | 176 Die kommerzielle Dimension: Die Sexwelle | 187 Die Sexwelle als Reaktion auf den Nationalsozialismus | 194
6.
Nacktheit auf der Bühne
6.1 6.2 6.3 6.4
in den sechziger Jahren | 199
Hair | 199 Oh! Calcutta! | 218 The Living Theatre: Paradise Now | 236 Der Wiener Aktionismus und das Orgien Mysterien Theater | 250 6.4.1 Die Aktionen in den sechziger Jahren | 255 6.4.2 Das o.m.theater | 271 6.5 Zusammenfassung | 292
DIE G EGENWART 7.
Der Kult um den Körper | 299
8.
Nacktheit im Theater der Gegenwart | 317
8.1 8.2 8.3 8.4
Jürgen Gosch: Macbeth | 317 Sasha Waltz: die Körper-Trilogie | 327 Johann Kresnik: Garten der Lüste. BSE | 343 New Burlesque | 348
9.
Schlussbetrachtung | 359
Literaturverzeichnis | 367
1.
Einleitung
Auf der Bühne stehen ein Mann und eine Frau. Sie trägt nur eine Krone, er lediglich eine Feinrippunterhose. Eine Zuschauerin in der ersten Reihe ruft entsetzt: »Die sind ja nackt!«, doch ihr Sitznachbar beruhigt sie: »Die wollen nur spielen!« Dieser Cartoon ziert den Einband einer Gebrauchsanweisung für das Theater, welche der Theaterkritiker Peter Michalzik im Februar 2009 veröffentlichte.1 Auch der Werbetext zum Buch auf der Internet-Seite des Verlages greift das Thema wieder auf: »Wer kennt das nicht: Nackte und Kopulierende auf der Bühne, dazwischen jede Menge roter Farbstoff – man weiß nur nicht: wieso! Schlimmer noch: Hinterher soll man auch noch etwas Kluges darüber sagen.«2 Was geschieht, wenn die Akteure3 die Konvention des bekleideten Körpers durchbrechen und sich entblößt zeigen? Die öffentliche Exposition der Nacktheit ist immer noch ein Tabuthema, welches niemanden unberührt lässt. Jeder Mensch, ob Theaterschaffender, Zuschauer oder Kritiker, kennt den Zustand der Nacktheit seines eigenen Körpers in verschiedenen Situationen und verbindet damit persönliche, positive oder negative, Erfahrungen. Die Exposition nackter Körper in der
1
MICHALZIK, Peter 2009: Die sind ja nackt! Keine Angst, die wollen nur spielen: Gebrauchsanweisung fürs Theater. 1. Auflage. Köln: DuMont.
2
http://www.dumont-buchverlag.de/sixcms/detail.php?template=buch_
3
Aus Gründen der Lesbarkeit wird in dieser Arbeit die männliche Form
detail&id=4377 benutzt, nichtsdestoweniger beziehen sich die Angaben auf beide Geschlechter.
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bildenden Kunst ist seit Jahrhunderten legitimiert4 und wird in Printund TV-Werbung mittlerweile als alltäglich wahrgenommen. Auf der Theaterbühne sorgt sie hingegen noch regelmäßig für Skandale, wie beispielsweise die Berichterstattung der Boulevardpresse zu Jürgen Goschs Düsseldorfer Macbeth-Inszenierung aus dem Jahr 2005 (siehe Kapitel 8.1) eindrucksvoll beweist. Oftmals wird die Nacktheit als theatrales Stilmittel für eine Entwicklung des Regietheaters5 der letzten zwanzig Jahre gehalten. Sie gilt als Inbegriff eines ›Schock- und Schmuddeltheaters‹, dessen Regisseur verdächtigt wird, um des Skandals willen Nacktheit einzusetzen. Ein Blick auf die westliche Theatergeschichte zeigt jedoch, dass der unbekleidete Körper bereits deutlich früher, nämlich seit der Wende zum 20. Jahrhundert zunehmend als theatrales Zeichen benutzt wird. Nach dieser ersten Blütezeit erlebt der Einsatz der Nacktheit einen weiteren Höhepunkt in den späten sechziger Jahren und wird schließlich wieder verstärkt in den letzten Jahren als Stilmittel verwendet. Diese Studie konzentriert sich daher auf drei Phasen der Theatergeschichte: das Kaiserreich und die Weimarer Republik, die sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts sowie die Gegenwart. Der Körper im Allgemeinen sowie der nackte Körper im Besonderen stehen im Spannungsfeld der Zivilisation. Eines der Hauptmerkmale zivilisatorischer Bemühungen ist die korrekte Trennung der privaten und öffentlichen Sphäre. Da der unverhüllte Körper die Individualität und Triebhaftigkeit des Menschen offenbart, darf der nackte Leib in der Regel nur im privaten Bereich, nicht jedoch in der Öffentlichkeit gezeigt werden. Dieses Tabu schließt auch Körperfunktionen wie die Ausscheidung sowie sexuelle Handlungen mit ein. Im Zuge der Zivilisation wandelt sich Fremdkontrolle in Selbstkontrolle. Überdies etabliert sich beim Einzelnen ein ›schlechtes Gewissen‹. Hieraus resultiert ein Gefühl des Unbehagens, welches sich schließlich entlädt, indem öffentlich und für alle sichtbar gezeigt wird, was hinter die
4
Vgl. hierzu das Standardwerk von Kenneth Clark: CLARK, Kenneth 1958: Das Nackte in der Kunst. Köln: Phaidon.
5
Der Begriff Regietheater ist in diesem Zusammenhang auch negativ besetzt, er steht für eine inszenatorische Praxis, in der der (klassische) Dramentext nurmehr als Ausgangsbasis für eine sehr freie Interpretation des Regisseurs dient.
E INLEITUNG | 9
geschlossenen Türen verbannt wurde: Der nackte Körper wird von rebellischen Gruppen in der Öffentlichkeit und schließlich auf der Bühne gezeigt. Diese Arbeit stellt die unterschiedlichen Varianten des Stilmittels der Nacktheit in drei exemplarischen Zeitabschnitten vor. Im Mittelpunkt steht hierbei die Frage, wie die Zivilisation des Körpers auf dessen Nacktheit einwirkt. Die Studie beginnt mit einem zivilisationstheoretischen Überblick, in dem soziologische, psychoanalytische und philosophische Ansätze zu Wort kommen. Diese Überlegungen bilden einen für alle drei Perioden gültigen Bezugspunkt für die Untersuchung der Nacktheit im Alltag und auf der Bühne. Da sich das Theater stets auch mit den gesellschaftlichen Phänomenen und Umwälzungen seiner Zeit auseinandersetzt, lässt sich die Nacktheit auf der Bühne in den untersuchten Phasen jeweils in einen signifikanten gesellschaftlichen Kontext der Körperdiskussion einordnen. Jeder der drei Teile der Arbeit beginnt mit einer Präsentation des gesellschaftlichen Kontextes und dem sich daraus ergebenden Körperverständnis. Im Anschluss an diese allgemeine Einführung wird an ausgewählten Beispielen untersucht, auf welche Weise das Theater das Thema Nacktheit umsetzt. Der erste Teil widmet sich der sogenannten ›Lebensreformbewegung‹, welche gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland entsteht. Ein Bestandteil dieses Reformvorhabens ist die Wiedergewinnung des natürlichen Körpers. Im Zuge einer Selbstreform wird der Einzelne ermutigt, sich selbst um die Gesundheit seines Körpers und sein persönliches Wohlergehen zu kümmern. Ausgehend von der Naturheilkunde, welche Luftbäder des nackten Körpers propagiert, durchläuft die Nacktkultur verschiedene Phasen und wird schließlich in der Weimarer Republik professionalisiert und kommerzialisiert. Zahlreiche Freizeitstätten werden gegründet, in denen die Besucher ihren unbekleideten Körper Licht und Luft aussetzen und sich sportlich oder gymnastisch betätigen können. Auf den Vorwurf der öffentlichen Unmoral reagieren die Naturisten mit verschiedenen Legitimationsstrategien, welche sich auf die Felder Religion, Schönheit, Antike und Natur stützen. Hierauf berufen sich auch nackt auftretende Tänzerinnen, welche zunächst auf den Spitzenschuh und schließlich ganz auf die Bekleidung verzichten. Neben den kommerziell motivierten Darbietungen von Olga Desmond und Celly de Rheydt verstehen sich Isadora Duncan, Ruth St. Denis
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und Adorée Villany als ›Reformtänzerinnen‹ und veröffentlichen Manifeste über den neuen Tanz, dessen integraler Bestandteil für sie die Nacktheit ist. Eine gänzlich unsublimierte Nacktheit zeigt Anita Berber, deren dargestellter Exzess Sinnbild des Tanzes auf dem Vulkan der ausgehenden zwanziger Jahre ist. Die Ausstattungsrevue wiederum entdeckt den unbekleideten Körper als frivoles Accessoire und versetzt das Publikum in Staunen über die maschinengleiche Präzision der Girl-Truppen. Der zweite Teil der Studie untersucht die Hintergründe und Präsentationsformen der Nacktheit in den später sechziger und frühen siebziger Jahren. Die Studentenrevolte richtet sich gegen die durch die Elterngeneration repräsentierte bürgerliche Ordnung und fordert die Liberalisierung der Sexualität, welche nach Ansicht der Aktivisten erforderlich für die Bekämpfung des Faschismus ist. Dieser sexuellen Revolution folgt eine regelrechte ›Sexwelle‹, welche beginnt, alles sexuell Konnotierte kommerziell zu verwerten. Gemäß der neuen Forderung, dass das Private politisch zu sein habe, wird das ehemals Tabuisierte nun öffentlich. In dem amerikanischen Musical Hair, welches weltweit Erfolge feiert, ist die Nacktheit des Ensembles Ausdruck des Lebensgefühls der Hippies, welche gegen die Normen der Obrigkeit rebellieren. Die von dem Theaterkritiker Kenneth Tynan konzipierte Musik-Revue Oh! Calcutta! greift die Diskurse der sexuellen Revolution und der Sexwelle auf und variiert in diversen Sketchen das Thema Sexualität. Das Living Theatre möchte mit der Nacktheit der Darsteller die Zuschauer affizieren und sie mit in das Geschehen einbinden. In der Performance Paradise Now sollen Darsteller und Publikum in eine intime Beziehung zueinander gebracht werden, indem sie gemeinsam nackt auf der Bühne interagieren. Auch die Protagonisten des Wiener Aktionismus, zu denen unter anderem der Begründer des ›Orgien Mysterien Theaters‹, Hermann Nitsch, gehört, sprechen den Zuschauer direkt an. Der nackte Körper steht im Mittelpunkt oftmals schockierender und ekelerregender Aktionen, welche sich gegen das Primat des Schönen in der Kunst richten und bewusst auf Sprache verzichten. Während die Wiener Aktionisten in den sechziger Jahren verhaftet bleiben, verfolgt Hermann Nitsch sein Konzept des ›Orgien Mysterien Theaters‹ bis in die Gegenwart. Nitsch macht den Zuschauer zum Mitspieler, welcher an einer kultischen Handlung teilnehmen und durch die Konfrontation mit Ekelschranken eine ›Abreaktion‹ erfahren soll.
E INLEITUNG | 11
Der dritte Teil der Arbeit untersucht das Phänomen der Nacktheit in der Gegenwart. Das heutige Körperverständnis basiert auf einer Weiterführung der seit den späten sechziger Jahren vorherrschenden sexuellen Liberalität. Durch die Medien und die Werbung hat der nackte Körper seinen festen Platz in der Öffentlichkeit erobert. Die Privatsache ist zum Konsumgut geworden, mit dem sich Waren verkaufen lassen und um das sich verschiedene Industriezweige gebildet haben. An die Stelle moralischer Maßstäbe sind neue, ästhetische getreten, welche die Präsentation des nackten Körpers wiederum reglementieren. Es herrscht ein striktes Schönheitsgebot, das den Körper einem Leistungszwang unterwirft. Die genetische Determination wird nicht akzeptiert, stattdessen werden Körper operiert oder Titelbilder mittels Bildbearbeitungsprogrammen manipuliert, bis als Resultat ein uniformierter, entindividualisierter Körper entsteht. Diesem Primat des makellosen Körpers setzt das Theater der Gegenwart bewusst die Darstellung eines unperfekten Körpers entgegen. Jürgen Goschs Düsseldorfer Macbeth-Inszenierung ist geprägt durch die permanente, ungeschönte Nacktheit der Darsteller, welche sich gänzlich unzivilisiert mit Kunstblut bespritzen und als Hexen auf dem Donnerbalken sitzen. Sasha Waltz’ Körper-Trilogie an der Berliner Schaubühne zeigt den Körper als biologisches System und verweist nachdrücklich auf dessen Einzigartigkeit. Mit Garten der Lüste. BSE variiert Johann Kresnik Aldous Huxleys Dystopie Brave New World. Die Inszenierung arbeitet mit einer Mastvieh-Symbolik, welche als Sinnbild für die Entindividualisierung des Leibes und das mit dem perfekten Körper verbundene Leistungsdenken steht. Bei der New Burlesque schließlich wird der weibliche Körper in einer glamourösen Inszenierung entkleidet. Im Gegensatz zu anderen Formen des Striptease treten hier auch Tänzerinnen auf, deren Körper nicht der idealisierten Norm entsprechen. Die überwiegend subkulturelle Bewegung der New Burlesque fordert Frauen explizit auf, zu ihrem eigenen, individuellen Körper zu stehen und diesen selbstbewusst vor Publikum zu inszenieren. Allen Beispielen gemein ist die Betonung der Individualität des Körpers, welche mithilfe der Nacktheit visualisiert und verdeutlicht wird. In den drei gewählten Zeitabschnitten kommt der Nacktheit eine ideologische Bedeutung zu. Der entblößte Körper steht nicht nur für die textilarme Variante des Kostüms in der realistischen Darstellung. Während der Freikörperkultur steht er für ein Lebensgefühl, in den
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sechziger und siebziger Jahren wird er zum Symbol eines politischen Anliegens und in der jüngsten Zeit avanciert er zu einem Protestinstrument gegen die Bevormundung eines durch die Medien und die Gesellschaft erzeugten Körperideals. Die Arbeit möchte zeigen, dass der nackte Körper auf der Bühne nicht nur ein skandalträchtiges Stilmittel ist, sondern auch stets ein Spiegel des gegenwärtigen Körperverständnisses.
2.
Theoretische Ansätze zur Zivilisation des Körpers
Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht die Frage, inwiefern die Exposition des nackten Körpers auf der Bühne eine Gegenreaktion auf den übermäßig zivilisierten Körper ist, welchen geordnete gesellschaftliche Strukturen zu bestimmten Zeiten einfordern. Im Folgenden sollen verschiedene Theorien über die Zivilisation1 des Körpers vorgestellt werden. Viele Theoretiker haben sich mit dem Phänomen der Zivilisation beschäftigt, die ausführlichste Abhandlung zu diesem Thema wurde 1939 von dem Soziologen Norbert Elias verfasst.2 Elias beschreibt den
1
Freud benutzt für denselben Sachverhalt der Mäßigung der Affekte den Begriff Kultur, er schließt in diesen Begriff aber die Zivilisation mit ein: »Die menschliche Kultur – ich meine all das, worin sich das menschliche Leben über seine animalischen Bedingungen erhoben hat und worin es sich vom Leben der Tiere unterscheidet – und ich verschmähe es, Kultur und Zivilisation zu trennen […]« (FREUD, Sigmund 2007b: Massenpsychologie und Ich-Analyse. Die Zukunft einer Illusion. 8. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, S. 110). Diese Arbeit wurde nach der neuen deutschen Rechtschreibung verfasst, die Originalschreibweise der Zitate wurde beibehalten. Bei Nietzsche findet sich der Terminus Moral. Solange allgemein von der Beherrschung der Natur des Körpers die Rede ist, wird der Begriff Zivilisation benutzt, in den Abschnitten über die verschiedenen Theoretiker wird dann deren spezifische Terminologie übernommen.
2
ELIAS, Norbert 1997a: Über den Prozeß der Zivilisation 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes.
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fortschreitenden Wandel der Persönlichkeitsstrukturen in Europa in einem Zeitraum von etwa 800 bis 1900 nach Christus. Anhand zahlreicher Belege aus historischen Manierenbüchern zeigt Elias den Wandel in Richtung eines für unsere heutigen Begriffe zivilisierten Verhaltens etwa in Bezug auf Nacktheit. Die Gründe für die strenger werdenden Sitten sieht Elias in der Differenzierung der Gesellschaft und dem sich daraus ergebenden Machtkampf zwischen verschiedenen sozialen Schichten. Hieraus resultieren sogenannte Interdependenzketten, welche höhere Affektkontrolle und Selbstdisziplin ihrer Mitglieder erfordern sowie die Fähigkeit, das eigene Verhalten »immer differenzierter, immer gleichmäßiger und stabiler zu regulieren«.3 Aus dieser Selbstdisziplin erwächst ein gestärktes Über-Ich4 des Einzelnen, das ein Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwellen und vor allem eine Erhöhung der Langsicht zur Folge hat. Diese Langsicht dient der Zügelung der Affekte durch vorausschauendes und konsequenzorientiertes Handeln. Die unmittelbaren Folgen dieser zivilisatorischen Veränderung sind unter anderem eine stärkere Tabuisierung der Sexualität und der Ausscheidungsfunktionen. Wenngleich Elias’ Zivilisationstheorie keine dezidierte Körpertheorie ist, zeigt sie doch, dass die
Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 1. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp; ELIAS, Norbert 1997b: Über den Prozeß der Zivilisation 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 1. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Eine umfassende Auseinandersetzung mit diesem Werk liegt in der fünfbändigen Schrift Der Mythos vom Zivilisationsprozeß des Ethnologen Hans Peter Duerr vor, welcher versucht, Elias’ Theorie der Zivilisation zu widerlegen. Duerr liefert mannigfaltige Belege für den Umgang mit Nacktheit in früheren Zeiten, für eine Theorie der Nacktheit auf der Bühne sind diese Belege indes unbrauchbar. DUERR, Hans Peter 1988-2002: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 3
Elias 1997b, S. 327.
4
Elias verwendet hier die psychoanalytische Terminologie. Zu Freuds Kulturkritik siehe unten in diesem Kapitel. Auf Seite 355f. in Elias 1997a geht er ausführlich auf Freud ein und paraphrasiert dessen Idee vom Über-Ich.
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Zivilisierung des Körpers der »sichtbarste Ausdruck der Psychogenese des Zivilisationsprozesses«5 ist. Hieran wird bereits deutlich, welche Folgen die Zivilisation für den Körper haben kann: Natürliche Körperfunktionen werden unterdrückt und hinter verschlossene Türen gedrängt. Wie schädlich diese Verdrängung für den seelischen Apparat des Einzelnen sein kann, erörtert Sigmund Freund in seiner Triebtheorie. Aber auch Elias erkennt die Problematik und spricht von einer »Unruhe und Unbefriedigtheit des Menschen, eben weil ein Teil seiner Neigungen und Triebe nur noch in verwandelter Form, etwa in der Phantasie, im Zusehen oder Zuhören, im Tag- oder Nachttraum Befriedigung finden kann«.6 In Anlehnung an Freud erkennt Elias, dass das zivilisierte Individuum nunmehr einen inneren Kampf austragen muss, und die von der Zivilisation geforderte »Selbstumformung« nicht immer gelingt: »Oft genug kommt es in ihrem Verlauf zu großen und kleinen Störungen, zu Revolten des einen Teils im Menschen gegen den anderen oder zu dauernden Verkümmerungen, die eine Bewältigung der gesellschaftlichen Funktionen nun erst recht erschweren oder verhindern.«7 Die Darstellung der Nacktheit in der Kunst ist ein herausragendes Beispiel für die künstlerische Sublimierung des durch die Zivilisierung im Alltag Tabuisierten, wie auch Elias bemerkt: »Und entsprechend dieser geringen Selbstverständlichkeit des Anblicks im gesellschaftlichen Leben selbst gewinnt die Darstellung des nackten Körpers in der Kunst eine neue Bedeutung: Sie wird in stärkerem Maße als bisher Traumbild und Wunscherfüllung.«8 Diese in Fantasie sublimierte Unbefriedigtheit durch die unterdrückte Sexualität wird in den späten sechziger Jahren zu eruptiven Protesten führen, welche sich dann im Theater niederschlagen. Die Tabuisierung der Körperausscheidungen beispielsweise wird auf Nebenschauplätzen wie dem sehr subkulturell geprägten Wiener Aktionismus verhandelt, doch auch in der jüngsten Gegenwart kehrt dieses
5
GUGUTZER, Robert 2004: Soziologie des Körpers. Bielefeld: transcript,
6
Elias 1997b, S. 342.
S. 54. 7
A.a.O., S. 341f.
8
Elias 1997a, S. 318.
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Thema in Charlottes Roches Romans Feuchtgebiete9 und bei den Hexen in Jürgen Goschs Macbeth-Inszenierung wieder. Die Tabuisierung bestimmter Körperfunktionen führt schließlich zu einer strikten Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit. Alles Naturhaft-Körperliche wird aus der Sphäre des Öffentlichen verbannt. Der Kampf um die Zivilisation des Körpers bringt diesen an die Öffentlichkeit, das Private ist nicht mehr länger privat, bis es schließlich heißt: Das Private ist politisch. Ein zentrales Element aller Zivilisationstheorien ist die Transformation der Fremdkontrolle in die Selbstkontrolle, mit welcher die zivilisatorischen Maßnahmen internalisiert und bei Bedarf abgerufen werden können. Das Individuum gibt für ein abhängiges Leben innerhalb eines befriedeten und zivilisierten Staatssystems seine persönliche Freiheit und Natur auf und muss sich permanent zügeln, um nicht gegen den Vertrag des Systems zu verstoßen. Elias bezeichnet diese Kontrollapparaturen der Zivilisation als Kapsel, welche das Individuum von der Außenwelt trennt, »und das Abgekapselte sind die zurückgehaltenen, am unmittelbaren Zugang zu den motorischen Apparaturen verhinderten Trieb- und Affektimpulse der Menschen.«10 Das Gelingen der Zivilisation hängt somit von der korrekten Trennung der öffentlichen und der privaten Sphäre ab. Eine Gefahr für die psychische Gesundheit des Menschen erwächst aus der übermäßigen Internalisierung von Regeln, wenn ein sinnvolles Gebot in einen Zwang ausartet, wie Elias am Beispiel der Körperpflege verdeutlicht: Zunächst ist es den Menschen ganz selbstverständlich, daß man sich nur im Hinblick auf andere regelmäßig säubert [...], also aus gesellschaftlichen Gründen und bewogen durch mehr oder weniger spürbare Fremdzwänge [...]. Heute wird dem Einzelnen das Waschen und Säubern von klein auf als eine Art von automatischer Gewohnheit angezüchtet [...]; er wäscht sich aufgrund von Selbstzwängen, auch, wenn kein anderer Mensch da ist, der ihn wegen einer Unterlassung tadeln oder bestrafen könnte; wenn er es unterlässt, so ist das
9
ROCHE, Charlotte 2008: Feuchtgebiete. 22. Auflage Köln: DuMont.
10
Elias 1997a, S. 66.
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heute [...] der Ausdruck für eine nicht ganz geglückte Konditionierung auf den bestehenden gesellschaftlichen Standard.11
Eine derart übermäßige Internalisierung haben auch vermeintliche Körpernormen erfahren, so glauben essgestörte Personen, dass sie von ihrer Außenwelt als zu dick empfunden würden, obwohl sie faktisch bereits untergewichtig sind. Gegen diese psychisch und physisch schädlichen Auswüchse der Körperzivilisation wenden sich die im dritten Abschnitt dieser Arbeit beschriebenen Theaterprojekte der Gegenwart. Ziel dieser Untersuchung ist es, zu zeigen, wie das Theater mit dem Stilmittel Nacktheit auf die Problematik des zivilisierten Körpers reagiert. Dies setzt zunächst den Befund der Zivilisation voraus: In den entsprechenden Kapiteln wird gezeigt werden, auf welche Weise gesellschaftliche Gruppierungen wie die Lebensreformer oder die Studenten im Jahr 1968 dagegen protestieren und wie das Theater seinerseits diesen Protest umsetzt. Hier stellt sich nun die Frage, ob der Prozess der Zivilisation, wie ihn Elias beschreibt, an diesen Punkten der Geschichte unterbrochen beziehungsweise gescheitert ist. Elias selbst konstatiert, dass im 20. Jahrhundert neben einem verfeinerten Verhaltenskodex auch eine Lockerung der Sitten zu beobachten ist. Dies ist für ihn jedoch nur möglich, weil ähnlich wie bei den Bade- und Tanzsitten der neueren Zeit […] der Stand der Gewohnheiten, der technisch-institutionell verfestigten Selbstzwänge, das Maß der Zurückhaltung des eigenen Trieblebens und des Verhaltens selbst entsprechend dem vorgerückten Peinlichkeitsgefühl zunächst im großen und ganzen gesichert ist. Es ist eine Lockerung im Rahmen des einmal erreichten Standards.12
Intensiv auseinandergesetzt mit dieser Frage hat sich der Soziologe Cas Wouters, der in Anlehnung an Elias’ Theorie den Begriff der
11
ELIAS, Norbert 1984: Blick auf das Leben eines Ritters. In: ELIAS, Norbert; DUNNING, Eric (Hrsg.) 1984: Sport im Zivilisationsprozeß: Studien zur Figurationssoziologie. Münster: Lit-Verlag, S. 47-78, S. 76.
12
Elias 1997a, S. 281f.
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»Informalisierung« geprägt hat.13 Informalisierung findet in Übergangsperioden statt, wenn sich »Gruppen vormaliger Außenseiter emanzipieren und bis in die gesellschaftlichen Machtzentren vordringen können.«14 Weiterhin bemerkt Wouters, dass die etablierten Gruppen, deren Standards von den Außenseitern angegriffen werden, ihre Fähigkeit zur Affektkontrolle noch einmal verstärkt betonen, um sich von der anderen Gruppe abzusetzen und ihre Vormachtstellung zu verteidigen. Ein herausragendes Beispiel für diesen Informalisierungsprozess ist die Studentenrevolte von 1968, welche im zweiten Teil dieser Arbeit ausführlich behandelt werden soll. Wouters ist der Ansicht, dass die Informalisierung nur innerhalb bestimmter zivilisierter Standards stattfinden kann und ein gewisses Zivilisationsniveau voraussetzt. Weil wir die Normen der Zivilisation internalisiert haben, können wir unzivilisiertes Verhalten tolerieren, wir sind sicher, dass der erreichte Stand der Zivilisation nicht nachhaltig zerstört wird, wenn beispielsweise der nackte Körper in der Öffentlichkeit präsentiert wird. Diese These Wouters’ banalisiert indes die politische Sprengkraft, welche ›unzivilisiertem‹ Verhalten innewohnt: Bevor es zu einer derartigen Duldung kommt, wie sie oben beschrieben wird, müssen die Grundfesten einmal nachhaltig erschüttert werden, wie das Beispiel der sexuellen Revolution zeigt. Wouters stellt die These auf, dass die Informalisierung Selbstkontrollmechanismen verstärkt. In einem restriktiven Wertesystem muss das Individuum Fremdzwängen gehorchen, dies setzt jedoch nicht voraus, dass es die Normen internalisiert, da diese ja von außen permanent vermittelt werden. Bleiben die Fremdzwänge im Zuge der Informalisierung aus, müssen die Mitglieder der Gesellschaft ihre Selbstkontrolle verstärken, damit das kollektive zivilisierte System nicht kollabiert.15
13
WOUTERS, Cas 1982: Informalisierung und der Prozess der Zivilisation. In: GLEICHMANN, Peter; GOUDSBLOM, Johan; KORTE, Hermann (Hrsg.) 1982: Materialien zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie. 2. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 279-298; WOUTERS, Cas 1999: Informalisierung: Norbert Elias’ Zivilisationstheorie und Zivilisationsprozesse im 20. Jahrhundert. Opladen: Westdeutscher Verlag.
14
Wouters 1999, S. 49.
15
HOHL, Joachim 1994: Die zivilisatorische Zähmung des Subjekts. Der Beitrag von Norbert Elias zu einer historischen Sozialpsychologie. In: KEUPP, Heiner (Hrsg.) 1994: Zugänge zum Subjekt: Perspektiven einer
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Der in dieser Arbeit gezeigte Prozess der Körperzivilisation verläuft wellenförmig: Auf einen überaus strengen Umgang mit dem Körper während des Kaiserreiches reagiert als Protest die Nacktkultur, deren Dezivilisationsbestrebungen in den späten zwanziger Jahren ihren Höhepunkt erleben. Nach dem Zweiten Weltkrieg herrscht wiederum eine sehr strenge Privatisierung des Körpers vor, welche durch die sexuelle Revolution nachhaltig in eine Politisierung und Veröffentlichung umgekehrt wird. Die Liberalität dem Körper gegenüber hält bis heute an, mittlerweile lässt sich aber ein Phänomen beobachten, dass Stephen Mennel als »highly controlled decontrolling of bodily and emotional controls«16 bezeichnet. Dies bedeutet konkret, dass es heute zwar geduldet und goutiert wird, den nackten Körper zu präsentieren (decontrolling of controls), dieser aber dafür bestimmten Normen der Körperformung unterworfen ist (highly controlled). Das Komplizierte hieran ist, dass diese Normen nicht mehr wie früher qua Gesetz- oder Benimmbuch fixiert sind, sondern durch die Medien und die Meinung einiger in Körperfragen für besonders kompetent befundener Personen festgelegt werden. Elias zeigt anschaulich, dass der Prozess der Zivilisation eine Konsequenz gesellschaftlicher Interdependenzketten ist, das heißt, dass sie das friedliche und sichere Zusammenleben der Menschen regulieren. Hieraus leitet sich die Frage ab, ob die Errungenschaften der Zivilisation auch als Druckmittel auf weniger zivilisierte Individuen gebraucht werden können. Elias führt das Beispiel des Bürgertums im 18. Jahrhundert an: Dieses möchte sich qua Zivilisation zwar auf der gesellschaftlichen Leiter nach oben orientieren, fürchtet jedoch zugleich, dass auf der anderen Seite die Zivilisation auch den niederen Schichten den Weg nach oben weist und damit ihre Privilegien abgräbt: Der Begriff der »Zivilisation« weist im Gebrauch des 19. Jahrhunderts ganz stark darauf hin, daß der Prozeß der Zivilisation – oder genauer gesagt eine Phase dieses Prozesses – vollzogen und vergessen ist. Man möchte diesen Prozeß nur noch bei anderen Völkern, eine Zeitlang auch nicht bei den unteren Schichten der eigenen Gesellschaft vollziehen. Bei den Ober- und
reflexiven Sozialpsychologie. 2. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 21-53, S. 32. 16
Hohl 1994, S. 32.
20 | THEATER DER N ACKTHEIT Mittelschichten der eigenen Gesellschaft erscheint die »Zivilisation« als ein festes Besitztum. Man wünscht vor allem sie auszubreiten, allenfalls im Rahmen des einmal erreichten Standards fortzuentwickeln.17
Elias konstatiert, dass die Affektregelung in gehobenen Schichten ausgeprägter ist als in niedrigeren, da erstere Angst vor der Minderung ihres Prestiges haben, falls sie ihre Affekte nicht mehr beherrschen. In jener Angst sieht Elias eine der stärksten Motivationen zur Umwandlung von Fremd- in Selbstzwänge.18 Dies erklärt auch, warum die Zivilisation des Körpers stets eine immanent wichtige Rolle gespielt hat: Der unzivilisierte, das heißt ungepflegte, Körper wurde als Indiz für eine niedrigere soziale Stellung angesehen. Die zunehmende Abhängigkeit der Menschen voneinander hat noch eine andere weitreichende Konsequenz: Die Individualität der Menschen nimmt ab, aus Rücksicht auf die anderen gleicht man sich an. Ziel der Zivilisation ist, dass für die Gesellschaft schlechte Eigenschaften abgelegt und nützlichere angenommen werden. Mit dieser Entindividualisierung im Verhalten einher geht die Entindividualisierung der zivilisierten Körper. Der Kampf für die Individualität ist ein zentraler Punkt der Kritik an der Zivilisation, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Wie bereits dargelegt wurde, bezieht sich Elias in seiner Abhandlung über den Zivilisationsprozess explizit auf Sigmund Freuds psychoanalytische Theorie. In Freuds umfangreichem Werk sind es vor allem zwei Schriften, in welchen er sich mit den negativen Aspekten der Kultur19 beschäftigt: Die Zukunft einer Illusion (1927) und Das Unbehagen in der Kultur (1930). Freuds Kulturbegriff deckt sich im Kern mit Elias’ Zivilisationsverständnis: [D]as Wort »Kultur« [bezeichnet] die ganze Summe der Leistungen und Einrichtungen […], in denen sich unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen
17
Elias 1997a, S. 230.
18
Elias 1997b, S. 377.
19
Dies ist Freuds Begriff für das Phänomen der Zivilisation.
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entfernt und die zwei Zwecken dienen: dem Schutz des Menschen gegen die Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander.20
In Das Unbehagen in der Kultur nennt Freud drei Faktoren, die er als Quelle des menschlichen Leids ansieht: »die Übermacht der Natur, die Hinfälligkeit unseres eigenen Körpers und die Unzulänglichkeit der Einrichtungen, welche die Beziehungen der Menschen zueinander in Familie, Staat und Gesellschaft regeln.«21 Der letzte Punkt spricht die Kultur des Menschen an, jene Mechanismen, welche Elias als Zivilisation bezeichnet. Während der Mensch gemäß Freud niemals in der Lage sein wird, die Natur zu beherrschen, erscheint die Kultur durchaus beherrsch- und formbar, da sie vom Menschen selbst geschaffen wurde. Allerdings kritisiert Freud die Form der Kultur, welche ja als Instrument der Natur-Zähmung Leidensverhütung sein sollte und fragt, ob die Kultur nicht doch letztendlich genauso übermächtig und unbesiegbar sei wie die Natur. Er kommt zu dem Schluss, dass die Menschen glücklicher lebten, wenn sie die Kultur aufgäben und zur Primitivität zurückkehrten22: Man fand, daß der Mensch neurotisch wird, weil er das Maß von Versagung nicht ertragen kann, das ihm die Gesellschaft im Dienste ihrer kulturellen Ideale auferlegt, und man schloß daraus, daß es eine Rückkehr zu Glücksmöglichkeiten bedeutete, wenn diese Anforderungen aufgehoben oder sehr herabgesetzt würden.23
Diese provokante These schwächt Freud indes ab, indem er präzisiert, dass man sich mit der Feststellung begnügen solle, die Kultur sei nicht die einzige Quelle menschlichen Glücks.24 Letztendlich hinge das Glück des Menschen davon ab, ob er in der Lage ist, einen Ausgleich
20
FREUD, Sigmund 2007a: Das Unbehagen in der Kultur: Und andere kulturtheoretische Schriften. 10., unveränderte Auflage. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, S. 55f.
21
Freud 2007a, S. 52.
22
Ebd.
23
A.a.O., S. 53.
24
A.a.O., S. 54.
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zwischen seinen individuellen und den kulturellen Massenansprüchen zu finden.25 Die Zukunft einer Illusion ist ein religionskritischer Text, da Freud die Religion aber als Kulturinstrument versteht, mit welchem das Individuum geformt werden soll, ist die Abhandlung auch im nicht-religiösen Kontext interessant. Einige Jahre bevor Elias seine umfangreiche Forschung zum Zivilisationsprozess veröffentlicht, kommt auch Freud zu dem Ergebnis, dass die Kultur ein wertvolles Instrument für das friedliche Zusammenleben einer Gemeinschaft darstellt, welche auf diese Weise ohne äußere Zwangsmittel auskommen kann: »Es ist ja die Hauptaufgabe der Kultur, ihr eigentlicher Daseinsgrund, uns gegen die Natur zu verteidigen.«26 Während Elias anhand zahlreicher Belege zeigt, wie politische und gesellschaftliche Umbrüche in Europa die zivilisatorischen Standards verändert haben, vertritt Freud in Die Zukunft einer Illusion die These, dass die Kulturvorgänge religiöser Art seien: Den Kulturvorschriften selbst wird göttlicher Ursprung zugesprochen, sie werden über die menschliche Gesellschaft hinausgehoben, auf Natur und Weltgeschehen ausgedehnt. So wird ein Schatz von Vorstellungen geschaffen, geboren aus dem Bedürfnis, die menschliche Hilflosigkeit erträglich zu machen, erbaut aus dem Material der Erinnerungen an die Hilflosigkeit der eigenen und der Kindheit des Menschengeschlechts.27
In Die Zukunft einer Illusion konstatiert Freud, dass Kultur und das Streben nach Individualität zwei unvereinbare Gegensätze darstellen, »weil jeder einzelne virtuell ein Feind der Kultur ist, die doch ein allgemeinmenschliches Interesse sein soll.«28 Diese Kulturfeindlichkeit resultiert aus der Tatsache, dass »das Glücksgefühl bei Befriedigung einer wilden, vom Ich ungebändigten Triebregung unvergleichlich intensiver [ist] als das bei Sättigung eines gezähmten Triebes.«29 Die Vereinbarungen, auf denen ein kultiviertes Zusammenleben beruht, sind Kompromisse für eine größere Gemein-
25
Freud 2007a, S. 62.
26
Freud 2007b, S. 119.
27
A.a.O., S. 122.
28
A.a.O., S. 110.
29
Freud 2007a, S. 45.
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schaft, und die Interessen (Triebbefriedigung) des Einzelnen müssen dahinter zurückstecken. Die Triebsublimierung ist ein besonderes Charakteristikum der Kulturentwicklung, ohne sie ist keine Kultur möglich und sie ist auch »die Ursache der Feindseligkeit, gegen die alle Kulturen zu kämpfen haben.«30 Einer der Triebe, welcher von der Kultur am stärksten unterdrückt wird, ist der Sexualtrieb, worin Freud eine große Gefahr für die psychische Gesundheit des Individuums sieht: Die psychoanalytische Arbeit hat uns gelehrt, daß gerade diese Versagungen des Sexuallebens von den sogenannten Neurotikern nicht vertragen werden. Sie schaffen sich in ihren Symptomen Ersatzbefriedigungen, die aber entweder an sich Leiden schaffen oder Leidensquelle werden, indem sie ihnen Schwierigkeiten mit Umwelt und Gesellschaft bereiten.31
Neben der Sexualität ist die Aggression ein weiterer Trieb, der von der Kultur im Sinne des friedlichen gemeinschaftlichen Zusammenlebens unterdrückt werden muss. Wenn es dem Individuum nicht erlaubt ist, seine Aggression auszuleben, bleibt ihm nur die Verinnerlichung, die destruktiven Triebe werden zurückgeschickt, woher sie gekommen sind und wenden sich gegen das eigene Ich. Sie wird zum Über-Ich gewandelt und richtet als ›Gewissen‹ mit derjenigen Aggression gegen das Ich, welche dieses gerne gegen fremde Individuen gerichtet hätte. Die Kultur wandelt die Aggression nach außen in eine internalisierte Aggression um, welche sich als Kontrollinstanz über die Triebe des Einzelnen manifestiert.32 Mit der Internalisierung von Normen manifestiert sich in Form des Über-Ichs ein schlechtes Gewissen, das den Menschen daran hindert, gegen diese Normen zu verstoßen, auch der Unterschied zwischen ›Böses tun‹ und ›Böses wollen‹ ist aufgehoben,
30
Freud 2007a, S. 63.
31
A.a.O., S. 72.
32
A.a.O., S. 86f. Siehe auch FREUD, Sigmund 2004: Abriß der Psychoanalyse: Einführende Darstellungen. 10., unveränderte Auflage. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, S. 46: »Mit der Einsetzung des Über-Ichs werden ansehnliche Beträge des Aggressionstriebes im Innern des Ichs fixiert und wirken dort selbstzerstörend. Es ist eine der hygienischen Gefahren, die der Mensch auf seinem Weg zur Kulturentwicklung auf sich nimmt. Zurückhaltung von Aggression ist überhaupt ungesund, wirkt krankmachend (Kränkung).«
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da das Über-Ich nicht zwischen Normverstoß in Gedanken und Taten unterscheidet.33 Das Individuum lernt, sich mit dem Über-Ich und seinen internalisierten Normen zu arrangieren, weil es die unangenehmen Folgen fürchtet, welche die Übertretung der Normen nach sich ziehen würde. Befolgt der Mensch die Normen und widersteht er der Versuchung, dagegen zu verstoßen, verspürt er Stolz und eine Hebung des Selbstwertgefühls.34 Dieser Belohnungseffekt erklärt, warum Menschen freiwillig ihre Bedürfnisse unterdrücken, um die Normen zu erfüllen. Freud weist indes darauf hin, wie wichtig es ist, dass das Über-Ich »genügend unpersönlich« ist, andernfalls wird es wie der strenge Vater erlebt, der dem ungezogenen Kind gegenübertritt. Ein solcher Fall liegt beim Neurotiker vor, dessen Krankheit ein Mittel der »Selbstbestrafung« ist, sein Schuldgefühl bedarf der Krankheit als Strafe.35 Hieran wird deutlich, welche Gefahr für die psychische Gesundheit droht, wenn die internalisierten Regeln zu einem ›schlechten Gewissen‹ werden, welches das Handeln vollends bestimmt. Der Zivilisationsprozess beinhaltet stets ein Machtgefüge, diejenigen, welche die Normen festgelegt haben, sie internalisiert haben oder sich in der Position befinden, über die Einhaltung der Normen zu wachen, befinden sich grundsätzlich in einer machtvolleren Position als die übrigen. So kommt Freud auch zu dem Eindruck, »daß die Kultur etwas ist, was einer widerstrebenden Mehrheit von einer Minderzahl auferlegt wurde, die es verstanden hat, sich in den Besitz von
33
Freud 2007a, S. 88. Eine wesentliche Quelle dieser internalisierten Normen sind die Eltern, welche das Kind während der Periode der Abhängigkeit prägen. Die Eltern wurden wiederum auch von einer Vielzahl von Instanzen geprägt: »Im Elterneinfluß wirkt natürlich nicht nur das persönliche Wesen der Eltern, sondern auch der durch sie fortgepflanzte Einfluß von Familien-, Rassen- und Volkstradition sowie die von ihnen vertretenen Anforderungen des jeweiligen sozialen Milieus. Ebenso nimmt das Über-Ich im Laufe der individuellen Entwicklung Beiträge von Seiten späterer Fortsetzer und Ersatzpersonen der Eltern auf, wie Erzieher, öffentlicher Vorbilder, in der Gesellschaft verehrter Ideale.« (Freud 2004, S. 43).
34
Freud 2004, S. 102.
35
A.a.O., S. 236f.
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Macht- und Zwangsmitteln zu setzen.«36 Ein derartiges durch die Kultur installiertes Machtgefälle zieht die Unzufriedenheit der zurückgesetzten und bevormundeten Gruppe nach sich. Freud sieht dieses, den inneren Frieden gefährdende, Phänomen in allen Kulturen seiner Zeit und weist darauf hin, dass die benachteiligten Schichten nicht die Normen ihrer Unterdrücker internalisieren werden, sondern vielmehr bestrebt sind, die Kultur zu zerstören: »Es braucht nicht gesagt zu werden, daß eine Kultur, welche eine so große Zahl von Teilnehmern unbefriedigt läßt und zur Auflehnung treibt, weder Aussicht hat, sich dauernd zu erhalten, noch es verdient.«37 Während sowohl Elias als auch Wouters davon ausgehen, dass die Vorteile der Zivilisation beziehungsweise Kultur für den Frieden eines Gesellschaftsgeflechts derartig evident sind, dass alle Mitglieder dieser Gesellschaft früher (Elias) oder später qua Informalisierung (Wouters) bereit sind, sich den Normen zu fügen, bezweifelt Freud diese Vernunft. Für Freuds Einwände spricht der eruptive Protest der 68er: Hier wandte sich die von der Kultur unterdrückte Jugend gegen die mächtige Elterngeneration, welche Regeln konstituierte. Wie in Kapitel 5.1 dargelegt wird, wurde hier ein nachhaltiger Umschwung erzeugt. Freud bezeichnet die Religion als Illusion und stellt die Frage, ob nicht auch »die Voraussetzungen, die unsere staatlichen Einrichtungen regeln, gleichfalls Illusionen genannt werden müssen«.38 Nach Elias’ zivilisationsfreundlichem Verständnis kommt diese Überlegung einem Aufruf zur Anarchie gleich, die 68er indes haben in Freuds Sinne alles dafür getan, die Illusion zu entlarven und zu entmachten. Während eine Kritik am Prozess der Zivilisation bei Elias nur sehr zaghaft anklingt, greift Freud die Kultur scharf an. Er erkennt zwar ihre Verdienste für ein geregeltes Zusammenleben innerhalb einer Gesellschaft, weist aber darauf hin, dass es ihr nicht gelungen ist, die Mehrzahl der Menschen mit ihrem Dasein zufriedenzustellen.39 Ein öffentlicher und politischer Protest, wie er 1968 stattfand, ist nur selten die Reaktion auf die vom Individuum empfundene Gängelung durch die Kultur. Eine unauffälligere und gefahrlosere Kompensation ist die Kunst, welche Freud wie Elias als eine mögliche Ersatz-
36
Freud 2007b, S. 110f.
37
Freud 2007b, S. 116.
38
A.a.O., S. 136.
39
A.a.O., S. 140.
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befriedigung für den Kulturverzicht ansieht.40 Freuds Terminologie ist an dieser Stelle leicht missverständlich, Kultur ist hier nicht im heutigen, umgangssprachlichen Sinn gemeint, sondern als Antonym zum Naturzustand des Menschen. 1927 sieht Freud voraus, dass die Religion als Kulturinstrument ersetzbar ist durch weltliche Phänomene, wobei das Prinzip der kulturellen Machtausübung einer kleinen elitären Gruppe hierdurch nicht beeinträchtigt ist. Diese Arbeit soll zeigen, dass die Kritik an der Zivilisation durch die Nacktheit auf der Bühne unterschiedliche Gestalt annehmen kann und auch im 21. Jahrhundert nicht überholt ist. An die Stelle religiös motivierter Gängelung des Körpers ist ein säkularer Schönheitskult getreten, welcher nur scheinbar ein liberaler ist. Wie Wouters bemerkt, setzt die Informalisierung, wie wir sie jeden Tag beispielsweise in Form von immer mehr gezeigter Haut erleben, ein hohes Maß an Zivilisation voraus, da der Körper neuen Normen unterworfen wird, wie im Einzelnen in Kapitel 7 gezeigt werden wird. Wenngleich Freud, wie oben bereits erwähnt, der Kultur zubilligt, dass sie notwendig ist, um die friedliche Koexistenz größerer Gemeinschaften zu regeln, sieht er in ihr auch zahlreiche unnütz erscheinende Faktoren. Als Beispiele hierfür nennt er Spielplätze und aufwendig angelegte öffentliche Parks. Hieraus zieht er den Schluss, dass dieses – unnütze – Kulturbestreben der Schönheit dient.41 Schönheit ist hier ein klarer Antagonismus zu der urwüchsigen und ungezähmten Natur und über den ästhetischen Aspekt hinaus ein Zeichen der Unterwerfung. Eine Weiterführung des Strebens nach Schönheit ist das Verlangen nach Reinlichkeit und Ordnung.42 Elias zeigt in seiner Abhandlung über den Zivilisationsprozess anhand zahlreicher Beispiele, wie sich die Hygieneanforderungen steigern und dass diese ein Gradmesser der Zivilisation darstellen. Er erwähnt aber auch, dass das nützliche Gebot der Hygiene zu schädlichen Selbstzwängen führen kann. Die von Freud herausgestellte Verbindung von Kultur und dem Streben nach Schönheit ist von entscheidender Bedeutung für den dritten Teil dieser Arbeit, der sich mit dem Körperverständnis der Gegenwart befasst. In einer zivilisierten und bereits auch schon informalisierten Gesellschaft finden die Zivili-
40
A.a.O., S. 118.
41
Freud 2007a, S. 58.
42
A.a.O., S. 59.
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sationsbemühungen stärker denn je auf dem Feld der Schönheit und Körperpflege statt, worauf das Theater mit dem Stilmittel Nacktheit kritisch reagiert. Ein weiterer Aspekt der Zivilisation ist die Moral, wenn man von der Prämisse ausgeht, dass diese nicht per se existiert, sondern auf Vereinbarungen beruht, welche das gesellschaftliche Zusammenleben erleichtern sollen. Diese These vertritt Friedrich Nietzsche in seiner Schrift Zur Genealogie der Moral. Die von Nietzsche als eine »Streitschrift« bezeichnete Genealogie der Moral wurde 1887 veröffentlicht und stellt innerhalb seines Gesamtwerkes eine Ergänzung zu Jenseits von Gut und Böse dar, was wiederum eine Ergänzung zu Also sprach Zarathustra ist.43 Nietzsche geht es in erster Linie darum, das Prinzip der Moral einer kritischen Prüfung zu unterziehen: »[D]er Glaube an die Moral, an alle Moral wankt, – endlich wird eine neue Forderung laut. Sprechen wir sie aus, diese neue Forderung: wir haben eine Kritik der moralischen Werthe nöthig, der Werth dieser Werthe ist selbst erst einmal in Frage zu stellen – .«44 Konkret beanstandet er, dass der Wert der Moral als solcher nicht kritisch hinterfragt wird und stellt die Frage, ob die Welt ohne dieses Konstrukt ›Moral‹ nicht möglicherweise eine bessere wäre: »So dass gerade die Moral daran Schuld wäre, wenn eine an sich mögliche höchste Mächtigkeit und Pracht des Typus Mensch niemals erreicht würde? So dass gerade die Moral die Gefahr der Gefahren wäre? ...«45 Er fragt hier in dieselbe Richtung wie Freud, wenn dieser sinniert, ob die Welt ohne Kultur eine bessere wäre. Bereits in Jenseits von Gut und Böse spricht Nietzsche das problematische Wesen der Moralfestsetzung an und konstatiert, dass jeder Philosoph versuche, die Moral zu definieren. Dabei scheitern sie jedoch alle an diversen Beschränkungen und vor allem an der Frage nach der Moral selbst: Gerade dadurch, dass die Moral-Philosophen die moralischen Facta nur gröblich, in einem willkürlichen Auszuge oder als zufällige Abkürzung kannten, et-
43
RAFFENSØE, Sverre 2007: Nietzsches Genealogie der Moral. Paderborn: Fink, S. 7.
44
NIETZSCHE, Friedrich; COLLI, Giorgio; MONTINARI, Mazzino 2007b: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral. Neuausgabe, 9. Auflage. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, S. 253.
45
Ebd.
28 | THEATER DER N ACKTHEIT wa als Moralität ihrer Umgebung, ihres Standes, ihrer Kirche, ihres Zeitgeistes, ihres Klima’s und Erdstriches, – gerade dadurch, dass sie in Hinsicht auf Völker, Zeiten, Vergangenheiten schlecht unterrichtet und selbst wenig wissbegierig waren, bekamen sie die eigentlichen Probleme der Moral gar nicht zu Gesichte: – als welche alle erst bei einer Vergleichung vieler Moralen auftauchen. In aller bisherigen »Wissenschaft der Moral« fehlte, so wunderlich es klingen mag, noch das Problem der Moral selbst: es fehlte der Argwohn dafür, dass es hier etwas Problematisches gebe.46
Mit seiner kritischen Haltung gegen die unbestrittene Autorität der Moral wendet sich Nietzsche gegen die Versuche zahlreicher Philosophen wie Kant, Schiller, Schelling und Hegel, welche versuchten, die innere Moral als Orientierungspunkt für das Handeln des Subjekts zu definieren.47 Der Nietzsche-Interpret Sverre Raffensøe deutet in diesem Zusammenhang die Moderne als »schmerzliche Erfahrung des Verlustes einer jeden Vorstellung eines übergeschichtlichen Fixpunktes.«48 Nietzsche beginnt seine Vorrede mit der Feststellung, dass der Mensch sich selbst unbekannt ist, obwohl er beständig und emsig wie eine Biene nach der Erkenntnis des Lebens sucht.49 Er weist hiermit schon auf die Orientierungslosigkeit des Menschen hin und auf sein Bestreben, diese zu überwinden. Die Frage, ob die Moral als Orientierung gebender Fixpunkt dienen kann, ist besonders interessant, wenn sie in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs wie in den späten sechziger Jahren gestellt wird. Eines starken ideologischen Fixpunktes beraubt versuchten die Deutschen in der Nachkriegszeit einen neuen Halt zu finden, was sich unter anderem in einer sehr rigiden Sexualmoral niederschlug. Die nächste Generation hingegen stellte diese moralische Orientierung wiederum infrage und entwertete sie nachhaltig sowie mit durchschlagendem Erfolg, wie die Sexwelle demonstrierte. Nietzsche beginnt seine Schrift über die Moral damit, die Genealogie, den ›Stammbaum‹ der Moral zu skizzieren. In der ersten Abhandlung widmet er sich der Dichotomie gut/böse. Nietzsche stellt heraus, dass die Einteilung in gut und böse mitnichten aus dem Grad
46
Nietzsche; Colli; Montinari 2007b, S. 106.
47
Raffensøe 2007, S. 22
48
Ebd.
49
Nietzsche; Colli; Montinari 2007b, S. 247f.
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der Nützlichkeit entspringt, was bedeuten würde, dass das als gut empfunden wird, was der Gesellschaft nützt. Vielmehr attestiert er das sogenannte Pathos der Distanz, gut und böse werden von der herrschenden Klasse definiert, um sich als Gute von dem gewöhnlichen Rest abzusondern: »Das Pathos der Vornehmheit und Distanz, wie gesagt, das dauernde und dominierende Gesammt- und Grundgefühl einer höheren herrschenden Art im Verhältniss zu einer niederen Art, zu einem ›Unten‹ – das ist der Ursprung des Gegensatzes ›gut‹ und ›schlecht‹.«50 Nietzsche weist darauf hin, dass dieses ›schlecht‹ als Antonym zu gut denselben etymologischen Ursprung hat wie ›schlicht‹, woran sich noch einmal deutlich der Unterschied zwischen der herrschenden Schicht und dem Rest der Bevölkerung zeigt. Nietzsche stellt also die Hypothese auf, dass die Moral nicht der Überlegung der Nützlichkeit entspringt, sondern vielmehr ein willkürliches Konstrukt ist. Gemäß Nietzsche beanspruchen zwei Gruppierungen die Definition der Moral für sich: zum einen der ritterlich-aristokratische Stand und zum anderen die Priesterkaste. Zwischen diesen beiden Lagern herrscht eine eifersüchtige Antagonie: Die Kriegerkaste verfügt über eine »mächtige Leiblichkeit, eine blühende, reiche, selbst überschäumende Gesundheit, sammt dem, was deren Erhaltung bedingt, Krieg, Abenteuer, Jagd, Tanz, Kampfspiele und Alles überhaupt, was starkes, freies, frohgemuthes Handeln in sich schliesst.«51 Die Leiblichkeit der Kriegerkaste konnotiert Nietzsche hier derart positiv, dass für die Priesterkaste auf der anderen Seite im Umkehrschluss nur negative Attribute übrig bleiben. Eine derartige Leibfreundlichkeit lässt sich auch bei den 68ern finden, ihre blühende Gesundheit ist der offensive und affirmative Umgang mit Nacktheit und auch sie verleugnen nicht, »was deren Erhaltung bedingt«52 – die Sexualität. Dieser affirmativen Haltung ohnmächtig gegenüber steht die Priesterkaste. Die Macht der Priesterkaste resultiert aus einer radikalen Umdeutung der Werte der Kriegerkaste, welche Nietzsche als Genugtuung durch einen »Akt der geistigen Rache«53 versteht. An diesem Ausdruck zeigt sich abermals Nietzsches scharfe Kritik an der von ihm als
50
Nietzsche; Colli; Montinari 2007b, S. 259.
51
A.a.O., S. 266.
52
Ebd.
53
A.a.O., S. 267.
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Willkür empfundenen Definition der Moral, da das Prinzip der Rache auf emotionalen und weniger rationalen Überlegungen basiert. Die neue Maxime zur Definition der Moral heißt nun: [D]ie Elenden sind allein die Guten, die Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen sind allein die Guten, die Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Hässlichen sind auch die einzig Frommen, die einzig Gottseligen, für sie allein giebt es Seligkeit, – dagegen ihr, ihr Vornehmen und Gewaltigen, ihr seid in alle Ewigkeit die Bösen, die Grausamen, die Lüsternen, die Unersättlichen, die Gottlosen, ihr werdet auch ewig die Unseligen, Verfluchten und Verdammten sein! ...54
Das Volk hat gesiegt und setzt nunmehr die Moralstandards: »Die Moral des gemeinen Mannes hat gesiegt.«55 Durch die Überwindung der Maßstäbe einer kleinen aristokratischen Kaste ist ein revolutionärer Akt gelungen, jedoch zu einem hohen Preis: Während die vornehme Moral aus einem »triumphirenden Ja-sagen zu sich selber«56 entsteht, sagt die neue Sklaven-Moral von vornherein Nein zu allem, was sie nicht selbst ist und repräsentiert. Das Nein wird somit zur schöpferischen Tat, ohne die Außenwelt, welche sie ablehnen kann, ist die Sklavenmoral nicht existenzfähig. Das neue Ideal ist die Passivität, welche sich schließlich bis zur Askese steigert, wie Nietzsche im dritten Teil seiner Abhandlung darlegt. Nietzsche kritisiert die Sklavenmoral, diese ist zwar nach innen hin in ihre Schranken gewiesen und behandelt die Konformisten anständig, nach außen hin gebärden sich ihre Anhänger indes wie Raubtiere, sie werden zur viel zitierten »blonden Bestie«, »sie geniessen da die Freiheit von allem socialen Zwang, sie halten sich in der Wildniss schadlos für die Spannung, welche eine lange Einschliessung und Einfriedigung in den Frieden der Gemeinschaft giebt […].«57 Das Tier muss wieder hinaus, konstatiert Nietzsche. Dieses Tier symbolisiert die mittels des Verstandes unterdrückten Triebe wie auch den Sexualtrieb, der in der aristokratischen Kaste noch frei ausgelebt werden durfte.
54
Nietzsche; Colli; Montinari 2007b, S. 267.
55
A.a.O., S. 269.
56
A.a.O., S. 270.
57
A.a.O., S. 274f.
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Nietzsches Kritik an der neuen strengen Moral, welche sich eruptiv und somit unsteuerbar zeigt – dies deutet auch der Bezug zum Raubtierhaften an – weist wiederum eine Parallele zu den 68ern auf, welche für die Liberalisierung der Sexualität kämpften und mit Wilhelm Reichs Theorie gegen deren Unterdrückung angingen. Teil dieser Unterdrückung war die Tabuisierung der Nacktheit in der Öffentlichkeit, welche schließlich gebrochen werden konnte. Nietzsche bezweifelt, dass es sich in dem restriktiven Bestreben gegen die natürlichen Triebe des Menschen um einen Ausdruck der Kultur handelt. Zwar gibt er zu, dass die blonde Bestie ihre negativen Seiten hat, die es zu fürchten gilt, er gibt diesem Wesen aber gegenüber dem in Schach gehaltenen Menschen den Vorzug. Hier findet sich die auch von Elias und Freud geäußerte Kritik an der Zivilisation in Bezug auf die seelische Gesundheit des Individuums, welches seine persönlichen Bedürfnisse der allgemeinen Ordnung opfern muss. In der zweiten Abhandlung der Genealogie der Moral wendet sich Nietzsche gegen die Leibfeindlichkeit, welche mit der neuen Moral einhergeht. Nietzsche beklagt, dass die menschliche Schmerzfähigkeit immer weiter zurückgehen würde. Zwar würde die Lust an der Grausamkeit nach wie vor bestehen, diese würde aber nunmehr in eine seelische Form sublimiert und substituiert. Der Fokus liegt nun auf dem Akt des Mitleids, nicht mehr auf dem eigenen physischen Schmerz. Mit der Unterdrückung der Instinkte verknüpft ist eine religiöse Auffassung, welche zu der Annahme führt, dass ein nachgebendes Handeln ein Handeln gegen Gott sei. Dieses Denken führt wiederum gemäß Nietzsche zu einer hochgradigen Leibfeindlichkeit des Menschen: [E]r wirft alles Nein, das er zu sich selbst, zur Natur, Natürlichkeit, Thatsächlichkeit seines Wesens sagt, aus sich heraus als ein Ja, als seiend, leibhaft, wirklich, als Gott, als Heiligkeit Gottes, als Richterthum Gottes, als Henkerthum Gottes, als Jenseits, als Ewigkeit, als Marter ohne Ende, als Hölle, als Unausmessbarkeit von Strafe und von Schuld.58
Nietzsche präsentiert die einseitige Dichotomie Natur/Religion, diese erhält jedoch eine Berechtigung, wenn man die ablehnende Haltung
58
Nietzsche; Colli; Montinari 2007b, S. 332.
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der Kirche bezüglich der Themen Sexualität, Nacktheit und Natürlichkeit betrachtet: Auf dem Wege zum »Engel« […] hat sich der Mensch jenen verdorbenen Magen und jene belegte Zunge angezüchtet, durch die ihm nicht nur die Freude und Unschuld des Thiers widerlich, sondern das Leben selbst unschmackhaft geworden ist: – so dass er mitunter vor sich selbst mit zugehaltener Nase dasteht und mit Papst Innocenz dem Dritten missbilligend den Katalog seiner Widerwärtigkeiten macht (»unreine Erzeugung, ekelhafte Ernährung im Mutterleibe, Schlechtigkeit des Stoffs, aus dem der Mensch sich entwickelt, scheusslicher Gestank, Absonderung von Speichel, Urin und Koth«).59
Trotz Nietzsches Bezug auf die katholische Kirche zeigt sich hier doch eine Leibfeindlichkeit und konsequente, angeekelte Negation der natürlichsten Körperfunktionen, wie sie auch das gegenwärtige Körperverständnis propagiert. Alles, was Nietzsche hier beschreibt, ist strengen Zivilisationsmaßnahmen geschuldet. Die zivilisationsbedingte Negation der Instinkte führt im Umkehrschluss zur Ausweitung des schlechten Gewissens, woraufhin der Mensch sich gegen sich selbst wendet.60 Während Nietzsche über den Ursprung des schlechten Gewissens räsoniert, ist dieses im 21. Jahrhundert fest im Bewusstsein des Menschen verankert und von dort nicht mehr wegzudenken. In Hinblick auf den Körper ist das schlechte Gewissen eine Reaktion auf die Unterdrückung des natürlichen Körpers: Zahlreiche Medienberichte, welche den perfekten, makellosen Körper propagieren, erzeugen ein schlechtes Gewissen bei dem Betrachter, der isst, wenn er Hunger hat und keinen Sport treibt, weil er keine Freude daran hat. Die Überwindung dieses schlechten Gewissens kann sich jedoch gegen den Menschen richten und ihm letztendlich schaden, wenn sie zu einer Essstörung oder Sportsucht führt. Nietzsche beklagt vor allem den Verlust der Instinkte: Die Feindschaft, die Grausamkeit, die Lust an der Verfolgung, am Überfall, am Wechsel, an der Zerstörung – Alles das gegen die Inhaber solcher Instinkte sich wendend: das ist der Ursprung des »schlechten Gewissens«. Der Mensch, der sich, aus Mangel an äusseren Feinden und Widerständen, eingezwängt in
59
Nietzsche; Colli; Montinari 2007b, S. 302f.
60
A.a.O., S. 322.
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eine drückende Enge und Regelmässigkeit der Sitte, ungeduldig selbst zerriss, verfolgte, annagte, aufstörte, misshandelte, dies an den Gitterstangen seines Käfigs sich wund stossende Thier, das man »zähmen« will, dieser Entbehrende und vom Heimweh der Wüste Verzehrte, der aus sich selbst ein Abenteuer, eine Folterstätte, eine unsichere und gefährliche Wildniss schaffen musste – dieser Narr, dieser sehnsüchtige und verzweifelte Gefangne wurde der Erfinder des »schlechten Gewissens«.61
Die von Nietzsche entworfene Dichotomie Natur/Religion, welche in den sechziger Jahren ausschließlich wörtlich zu verstehen war, wird in der Gegenwart um eine säkulare Ebene erweitert: Der Körperkult hat nun den Stellenwert einer Religion angenommen, das neue Götzenbild ist das des makellosen Körpers, wie ihn die Medien präsentieren. Es widerspricht dieser Art der Religion, nicht auf sein Gewicht zu achten oder die Körperbehaarung einfach wachsen zu lassen. Derartiges Verhalten kann in Zeiten des Körperkults ein ähnlich schlechtes Gewissen hervorrufen wie der Verstoß gegen tatsächliche religiöse Gesetze. Der Kern von Nietzsches Kritik bleibt jedoch derselbe: die Naturhaftigkeit und die Instinkte des Menschen sind nicht mit dem religiös motivierten (schlechten) Gewissen zu vereinbaren. Unter der Prämisse, dass der Körperkult eine Ersatzreligion in einer säkularisierten Welt darstellt, lässt sich mit Nietzsche auch die Frage nach der Bedeutung des asketischen Ideals für den Menschen beantworten: Der Mensch braucht ein Ziel, eher will er das Nichts als nichts zu wollen.62 Er konstatiert, dass das asketische Ideal […] dem Schutz- und Heil-Instinkte eines degenerirenden Lebens [entspringt], welches sich mit allen Mitteln zu halten sucht und um sein Dasein kämpft; es deutet auf eine partielle physiologische Hemmung und Ermüdung hin, gegen welche die tiefsten, intakt gebliebenen Instinkte des Lebens unausgesetzt mit neuen Mitteln und Erfindungen ankämpfen.63
Nietzsche verleugnet die dem Menschen inhärenten Instinkte nicht, da diese jedoch nicht einfach ausgelebt werden können, bahnen sie sich ihren Weg über das asketische Ideal. Dieses Ideal der Selbstauf-
61
Nietzsche; Colli; Montinari 2007b, S. 323.
62
A.a.O., S. 339.
63
A.a.O., S. 366.
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opferung ist auch noch in der modernen Welt vorhanden, auch heute jagen wir einem niemals vollständig erreichbaren Ziel hinterher.64 Ein Ausdruck dieses Strebens ist die Maßregelung des Körpers, welche angewendet wird, bis dieser den Normen des Körperkultes entspricht. Für Nietzsche ist das asketische Ideal zutiefst lebensfeindlich, weil es durch sein destruktives Wesen das Leben selbst angreift: Denn ein asketisches Leben ist ein Selbstwiderspruch: hier herrscht ein Ressentiment sonder Gleichen, das eines ungesättigten Instinktes und Machtwillens, der Herr werden möchte, nicht über Etwas am Leben, sondern über das Leben selbst, über dessen tiefste, stärkste, unterste Bedingungen; hier wird ein Versuch gemacht, die Kraft zu gebrauchen, um die Quellen der Kraft zu verstopfen; hier richtet sich der Blick grün und hämisch gegen das physiologische Gedeihen selbst, in Sonderheit gegen dessen Ausdruck, die Schönheit, die Freude […].65
Die Verleugnung des Lebens durch das asketische Ideal ist ein Versuch, das Leben zu bewältigen und Ordnung und Halt in einer als degeneriert empfundenen Welt zu erfahren, es handelt sich um internalisierte Normen.66 Dieser Versuch der Ordnung durch das asketische Ideal ist indes nur deswegen nötig, weil der Mensch laut Nietzsche nicht in der Lage ist, dem Leben etwas Positives abzugewinnen, weswegen sich sein Streben und der Lebensinhalt auf die Negation des Lebens umkehren. Auch die mit dem zeitgenössischen asketischen Ideal des Körperkults verbundenen Krankheitsbilder wie Sportsucht und Essstörungen sind oftmals der Versuch, eine zugrunde liegende psychische Problematik zu kompensieren. Bereits 1887 wertete Nietzsche das Verhältnis des Menschen zur Natur als Hybris. Die Natur wird mit Hilfe von modernen Erfindungen und Maschinen ›vergewaltigt‹ und mit ihr in letzter Konsequenz der Mensch selbst: »wir experimentiren mit uns, wie wir es uns mit keinem Thiere erlauben würden, und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf: was liegt uns noch am ›Heil‹ der Seele!«67 Ausdruck dieser Hybris in der Gegenwart sind die in
64
Vgl. Raffensøe 2007, S. 149.
65
Nietzsche; Colli; Montinari 2007b, S. 363.
66
Raffensøe 2007, S. 27.
67
Nietzsche; Colli; Montinari 2007b, S. 357.
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Kapitel 7 beschriebenen Auswüchse von Schönheitschirurgie an gesunden Körpern und das Streben nach Body Enhancement. Wird das asketische Ideal als ein Prinzip der Selbstaufopferung verstanden, lässt diese sich auch in der heutigen Gesellschaft finden. Sverre Raffensøe zeigt dies am Beispiel des Wohlstandsstaates und kommt schließlich zu dem Schluss, dass unsere Gesellschaft sich im Zustand einer »ewigen Um- und Fortbildung« befindet, was zu einer »Juvenilisierung der Gesellschaft«68 führt, der Mensch kann und will nicht erwachsen werden, er steckt in einem Zwischenstadium fest. Dies ist der von Nietzsche beschriebene Zustand des Niemals-Ankommens, dem das asketische Ideal entgegengesetzt wird. In Kapitel 7 wird noch einmal die Infantilisierung der Gesellschaft angesprochen, welche einen starken Einfluss auf das propagierte Körperbild hat.69 Als Beispiel für das asketische Ideal in der heutigen Gesellschaft wählt Raffensøe sodann auch die Magersucht aus. Magersüchtige üben zum einen ständigen Verzicht aus, indem sie sich selbst die Nahrungsaufnahme über ein bestimmtes – lebensbedrohlich niedriges – Maß versagen, zum anderen glauben sie, dieser Verzicht würde von ihnen verlangt: Sie haben die vermeintliche Meinung der Außenwelt über sich verinnerlicht. Der Mensch mit einer krankhaft gestörten Körperwahrnehmung glaubt sich unter einer permanenten Aufsicht, welche ihn sowie seinen Körper überwacht und deren Anforderungen er niemals genügen kann.70 Am Beispiel der Magersucht, welche eine extreme Variante des Körperkults darstellt, zeigt sich, wie lebensfeindlich das asketische Ideal ist. So lässt sich auch der Schluss ziehen, dass die heutige, scheinbar ganz dem Diesseitigen ergebene Gesellschaft […] eine kranke und sogar todkranke Kultur […] [ist]. Sie kann auch als ein Leben des Leidens erscheinen, das – kopflos doch leidenschaftlich – voranprescht, indem es auf der Flucht vor dem eigenen Leiden dieses durch ein anderes ersetzt,
68
Raffensøe 2007, S. 152.
69
Vgl. SCHIRRMACHER, Frank 2006: Das Methusalem-Komplott. München: Karl Blessing Verlag, S. 72f. Schirrmacher wählt in seiner provokanten Abhandlung über das ›Methusalem-Komplott‹ den negativ konnotierten Begriff Infantilisierung, während Raffensøe den harmloseren Terminus Juvenilisierung benutzt, sie meinen indes dasselbe Phänomen.
70
Raffensøe 2007, S. 153.
36 | THEATER DER N ACKTHEIT immer wieder in sublimierender und aufhebender Bewegung: eine Kultur und ein Leben auf besinnungsloser Flucht vor sich selbst und dem eigenen Leiden, auf der Suche nach Selbstvergessen und deswegen unfähig aufzuhalten, ständig am äußersten Rand seiner selbst, unterwegs zu etwas Unbestimmbarem, ein unaufhaltbarer runaway train mit Höchstgeschwindigkeit, außer jeder Kontrolle.71
Dieser rastlosen Jagd setzen die in Kapitel 8 präsentierten Künstler ein Stoppschild entgegen, indem sie dem Rezipienten, der selbst höchstwahrscheinlich mit seinem eigenen Körper hadert und sich in seiner persönlichen Form dem asketischen Ideal unterwirft, bewusst und provokativ den unperfekten Körper präsentieren. Während sich Elias, Freud und Nietzsche nicht dezidiert mit der Zivilisation des Körpers beschäftigen, fokussiert der in Theodor W. Adornos und Max Horkheimers Dialektik der Aufklärung veröffentlichte Aufsatz Das Interesse am Körper genau diesen Aspekt. Die Autoren beginnen direkt mit einer scharfen Kritik an der Zivilisation: »Unter der bekannten Geschichte Europas läuft eine unterirdische. Sie besteht im Schicksal der durch Zivilisation verdrängten und entstellten menschlichen Instinkte und Leidenschaften.«72 Besonders von der Verstümmelung betroffen ist der Körper, welcher im Zuge der Arbeitsteilung mit einem Bann belegt und für niedrig erklärt wurde.73 Es bilden sich eine untere und eine obere Schicht, wobei der Geist das Primat über den Körper erlangen soll: Der ausgebeutete Körper sollte den Unteren als das Schlechte und der Geist, zu dem die anderen Muße hatten, als das Höchste gelten. Durch diesen Hergang ist Europa zu seinen sublimsten kulturellen Leistungen befähigt worden, aber die Ahnung des Betrugs, der von Beginn an ruchbar war, hat mit der Kontrolle
71 72
Raffensøe 2007, S. 155f. HORKHEIMER, Max; ADORNO, Theodor W. 2008: Das Interesse am Körper. In: HORKHEIMER, Max; ADORNO, Theodor W. (Hrsg.) 2008: Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente. 16. Auflage, ungekürzte Ausgabe. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, S. 246-250, S. 246.
73
Ebd.
T HEORETISCHE A NSÄTZE ZUR ZIVILISATION
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über den Körper zugleich die unflätige Bosheit, die Haßliebe gegen den Körper verstärkt […].74
Horkheimer und Adorno konstatieren, dass dieses Verhältnis zum Körper ein zutiefst grausames und leibfeindliches ist. Schon lange, bevor der Körper zum liebsten Ausdrucksmedium der Leistungsgesellschaft geworden ist, der durch kosmetische Operationen und Hungerkuren geknechtet wird, erkennen sie, wie sehr der Körper versklavt und verdinglicht wird: Die Haßliebe gegen den Körper färbt alle neuere Kultur. Der Körper wird als Unterlegenes, Versklavtes noch einmal verhöhnt und gestoßen und zugleich als das Verbotene, Verdinglichte, Entfremdete begehrt. Erst Kultur kennt den Körper als Ding, das man besitzen kann, erst in ihr hat er sich vom Geist, dem Inbegriff der Macht und des Kommandos, als der Gegenstand, das tote Ding, »corpus«, unterschieden.75
Der Körper wird nicht mehr akzeptiert und hingenommen, er wird zum Ausgangsmaterial ewiger Verbesserungsprozesse und zur Bühne der Selbstdarstellung, wie der dritte Teil dieser Arbeit ausführlich zeigen wird. Für Adorno und Horkheimer resultiert die diagnostizierte Leibfeindlichkeit aus dem Misstrauen gegenüber der organischen Natur des Körpers, worin ein klares Zivilisationsproblem besteht. Der ungezähmte, natürliche Körper stellt eine Bedrohung für die zivilisierte Gesellschaft dar, wofür der Körper einerseits bestraft wird und andererseits durch Maßnahmen seinerseits in den Zustand der Zivilisation überführt werden soll. Dieser zivilisierte Körper scheint indes hoffnungslos verloren, weil er endgültig entseelt ist: »Der Körper ist nicht wieder zurückzuverwandeln in den Leib. Er bleibt die Leiche, auch wenn er noch so sehr ertüchtigt wird. Die Transformation ins Tote, die in seinem Namen sich anzeigt, war ein Teil des perennierenden Prozesses, der Natur zu Stoff und Materie machte.«76 Besonders evident wird die Unterdrückung des Körpers durch die Zivilisation im Bereich der Sexualität.77 Die Frage, ob die Sexualität 74
A.a.O., S. 247.
75
Horkheimer; Adorno 2008, S. 247.
76
A.a.O., S. 248.
77
Vgl. Elias 1997a, 312ff.
38 | THEATER DER N ACKTHEIT
bereits wieder von ihrer Unterdrückung befreit ist, verneint Michel Foucault und weist darauf hin, mit welch aufwendigen Legitimationsstrategien und Vorsichtsmaßnahmen der sexuelle Diskurs verbunden ist, um die »Gefahr eines ›Überfließens‹« zu bannen.78 Die größte Gefahr für die Zivilisation ist der unkontrollierte Ausbruch der Triebe, und aus diesem Grund ist die Überschreitung der Gesetze, welche als zivilisatorische Maßnahmen aufgestellt wurden, die einzige Möglichkeit, die Repression zu überwinden.79 Wenn man das Zeitalter der Repression im 17. Jahrhundert beginnen lässt, fällt es zeitlich mit der Entwicklung des Kapitalismus zusammen, woraus Foucault den Schluss zieht, dass die Sexualität so vehement unterdrückt wird, weil sie mit der allgemeinen Arbeitsordnung unvereinbar sei.80 Wie Adorno und Horkheimer vertritt Foucault die These, dass der ungezügelte Körper – hier in Hinblick auf das freie Ausleben der Sexualität – eine Bedrohung für eine erfolgreiche Arbeit darstellt und deswegen gemaßregelt, das heißt zivilisiert werden muss. Körperliche Zivilisierung wird somit zum Machtinstrument einer herrschenden über eine niedrigere Klasse. Foucaults Schrift beinhaltet eine essenzielle Kritik an dem Diskurs über die Unterdrückung der Sexualität. Für ihn liegt darin ein »Gewinn des Sprechers«, der allein durch den Diskurs und die Behauptung einer Unterdrückung bereits eine Überschreitung vornimmt.81 Trotz dieser Kritik leugnet Foucault indes nicht, dass es eine Unterdrückung gibt, weswegen seine Schrift für die Frage nach der Zivilisierung des Körpers von Belang ist. Foucault bemerkt, dass die modernen Gesellschaften die Sexualität nicht ins Dunkel verbannen, sondern vielmehr unablässig von ihr sprechen, sie jedoch als Geheimnis klassifizieren.82 Hierin lässt sich eine Pseudo-Zivilisierung feststellen, der sexuelle Körper als Gegenstand ist nicht per se verpönt, er muss indes diskursiv gemaßregelt werden, damit zivilisatorische Maßnahmen angewandt werden und er nicht mehr wild und deswegen beängstigend ist. Foucault zeigt exem-
78
FOUCAULT, Michel 1983: Der Wille zum Wissen. 1. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 12.
79
Foucault 1983, S. 13.
80
Ebd.
81
A.a.O., S. 14.
82
A.a.O., S. 40.
T HEORETISCHE A NSÄTZE ZUR ZIVILISATION
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plarisch an der Sexualität, wie die Zivilisierung als Machtinstrument funktioniert: Die Instanz der Regel. Die Macht ist wesenhaft das, was dem Sex sein Gesetz diktiert. Das heißt, daß der Sex unter einem binären Regime steht: ziemlich/unziemlich, erlaubt/verboten. Das heißt weiter, daß die Macht dem Sex eine »Ordnung« vorschreibt, die gleichzeitig als Erkenntnisschema funktioniert: der Sex läßt sich von seinem Verhältnis zum Gesetz her entschlüsseln. Und das heißt schließlich, daß die Macht handelt, indem sie die Regel ausspricht […].83
Die Machtausübung vollzieht sich über den Diskurs, sie ist deswegen aber nicht weniger effektiv. In seiner Schrift Überwachen und Strafen benutzt Foucault das Beispiel des Panopticons für die Internalisierung von Normen. Das Panopticon, ein runder Gefängnisbau, ist so konstruiert, dass die Gefangenen über einen Turm in der Mitte überwacht werden, selbst aber nicht sehen, ob gerade ihre Zelle fokussiert wird oder eine andere. Im Kontext der Zivilisationstheorie wird hier deutlich, dass diese Bauart zu einer Internalisierung der Normen führt, da das zu überwachende Subjekt permanent befürchtet überwacht zu werden, dies indes nicht mit Sicherheit weiß: Die Macht bleibt »sichtbar«, zugleich aber »uneinsehbar«.84 Während die anderen Zivilisationstheorien mehr oder weniger deutliche Kritik an der Disziplinierung üben, bewertet Foucault die Mechanismen des Panopticons positiv: Die Form des Panopticons lässt sich nicht nur im Strafvollzug einsetzten, sondern auch als Schule oder Fabrik und ist somit die »Perfektionierung der Machtausübung«, um die »Gesellschaftskräfte zu steigern – die Produktion zu erhöhen, die Wirtschaft zu entwickeln, die Bildung auszudehnen, das Niveau der öffentlichen Moral zu heben; zu Wachstum und Mehrung beizutragen«.85 Solche Mechanismen der Körperdisziplinierung bildeten sich im 18. und 19. Jahrhundert in vielen gesellschaftlichen Bereichen aus, und so konstatiert Foucault
83 84
Foucault 1983, S. 85. FOUCAULT, Michel 2008: Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses. 1. Auflage, 11. Nachdruck. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 258.
85
A.a.O., S. 264f. und 267.
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die »Formierung der Disziplinargesellschaft.«86 Für das Funktionieren der Gesellschaft ist diese Art der Disziplinierung äußerst nützlich: »Die Disziplin steigert die Kräfte des Körpers (um die ökonomische Nützlichkeit zu erhöhen) und schwächt diese selben Kräfte (um sie politisch fügsam zu machen).«87 Diese »›Mikrophysik‹ der Macht«88 zieht sich durch alle Bereiche des täglichen Lebens hindurch und gewährleistet ein erfolgreiches Miteinander im Sinne der Zivilisation. Das Kernstück der Disziplinierung ist die hierarchische Überwachung durch den zwingenden Blick. Dazu sind noch nicht einmal technische Überwachungseinrichtungen nötig, durch den Blick eines jeden Sehenden wird jedes Subjekt permanent überwacht und zivilisiert. Gerade in Bezug auf die Körpernormen ist dieses Mittel ideal, die ständige Konfrontation mit den Blicken der Umwelt, welche die Körpernormen internalisiert hat und repräsentiert, bewegt uns dazu, die Normen einzuhalten. Niemand hofft, dass er aufgrund eines Unfalles ins Krankenhaus eingeliefert werden muss, aber den theoretisch möglichen Blick des Personals dort fürchtend sorgen sich viele um den Zustand ihrer Unterwäsche. Bei allen Unterschieden treffen sich die vorgestellten zivilisationstheoretischen Positionen in mehreren Punkten. Hierzu gehören der Umgang mit der Individualität des Menschen, die Unterdrückung der Triebe, die Trennung der öffentlichen und der privaten Sphäre sowie die Selbstkontrolle. Alle diese Aspekte sind für eine Studie, die sich mit dem Körperverständnis auseinandersetzt, bedeutend. Die in den nächsten Kapiteln folgende Untersuchung der Nacktheit im Alltag auf der Bühne wird immer wieder hierauf Bezug nehmen und zeigen, dass diese vier Punkte für alle drei analysierten Zeitabschnitte signifikant sind.
86
A.a.O., S. 279.
87
Foucault 2008, S. 177.
88
A.a.O., S. 178.
Deutsches Kaiserreich und Weimarer Republik
3.
Wegbereiter für die Nacktheit auf der Bühne
3.1 D IE L EBENSREFORM : R EFORM R EVOLUTION
STATT
In der Mitte der 1890er Jahre entstand das Phänomen der ›Lebensreform‹.1 Ziel dieser Reformbemühungen war der gesellschaftliche Wandel durch die Verbesserung und Stärkung des menschlichen Körpers in einer sozial und körperlich degenerierten Welt.
1
KRABBE, Wolfgang R. 1974: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform: Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 12. Einige Historiker führen die misslungene Revolution von 1848 als Grund für das Engagement der Lebensreformbewegung an, »beförderte dies doch idealistische Philosophien und romantische Rückzugstendenzen und ließ die Lebensreform als dritten Weg neben dem ›undeutschen‹ Kapitalismus und dem ›internationalistischen‹ Kommunismus erscheinen.« (KÖNIG, Oliver 1999: Die Nacktheit beim Baden. In: GRISKO, Michael (Hrsg.) 1999: Freikörperkultur und Lebenswelt: Studien zur Vor- und Frühgeschichte der Freikörperkultur in Deutschland. Kassel: Kassel University Press, S. 43-68, S. 59 sowie FRECOT, Janos; GEIST, Johann Friedrich; KERBS, Diethart 1972: Fidus. 1868-1948. Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen. München: Rogner & Bernhard S. 15. Krabbe hingegen mahnt bei der Verbindung zwischen Revolution und Lebensreformbewegung zur Skepsis. (Krabbe 1974, S. 15.)
44 | THEATER DER N ACKTHEIT Da trat das Gespenst der Degeneration auf! Dieses Gespenst, das sich bei näherer Betrachtung als furchtbare Wahrheit erwies: Es war durch die Statistik zweifellos festgestellt, dass die Menschheit im allgemeinen in ihrer Kraft (der Wehr- und Zeugungsfähigkeit) zurückgeht, während die Krankheiten und Verbrechen in erschreckender Weise zunehmen.2
Es kommt zu einer aktiven Wiederentdeckung des Körpers, in zahlreichen Publikationen des Naturismus wird ein neues Körper- und Schönheitsideal propagiert, welches oftmals den Degenerationsängsten der Jahrhundertwende entwächst und mit rassebiologischen – und zum Teil offen antisemitischen – Überlegungen verbunden ist.3 Einziges Gegenmittel gegen diese Degeneration war nach Ansicht der Lebensreformbewegung die Reform des Körpers, es sollte zu einer Erneuerung des »Einzel- wie des Staatslebens« kommen, die »uns nicht geistige oder technische Fortschritte auf Kosten unserer körperlichen Erfahrungen bringt, sondern uns mit dieser zu immer höherer persönlicher Erfahrung gelangen läßt.«4 Die Programmatik ist auf Gesundheit ausgerichtet. Gemeint ist zum einen die physische
2
KEIDEL, John E. 1909: Nacktes und Allzunacktes. München: Lammers, S. 11. Auch Adolf Koch, der Begründer der proletarischen Freikörperkultur, diagnostiziert die Entfremdung des Individuums in der industrialisierten Zeit: »Menschen verlernten inneres Erleben, eigenes Schöpfen« (KOCH, Adolf 1924: Körperbildung Nacktkultur: Anklagen und Bekenntnisse. Leipzig: Oldenburg, S. 10-12, zitiert nach SPITZER, Giselher 1983: Der deutsche Naturismus: Idee und Entwicklung einer volkserzieherischen Bewegung im Schnittfeld von Lebensreform, Sport und Politik. 1. Auflage. Ahrensburg bei Hamburg: Czwalina, S. 142.
3
LINSE, Ulrich 1989: Zeitbild Jahrhundertwende. In: RAUTENBERG, Thomas; ANDRITZKY, Michael (Hrsg.) 1989: »Wir sind nackt und nennen uns Du«: Von Lichtfreunden und Sonnenkämpfern; eine Geschichte der Freikörperkultur. 1. Auflage. Gießen: Anabas, S. 10-49, S. 19. Exemplarisch: UNGEWITTER, Richard 1907: Die Nacktheit in entwicklungsgeschichtlicher, gesundheitlicher, moralischer und künstlerischer Beleuchtung. Stuttgart: Selbstverlag.
4
Kraft und Schönheit 1 (11. Jahrgang), 1911, zitiert nach WEDEMEYERKOLWE, Bernd 2004: »Der neue Mensch«: Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 263f.
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Binäropposition Gesundheit/Krankheit, zum anderen aber auch die psychische Gesundheit des Volkes. Das Gesunde wurde gleichgesetzt mit dem Reinen, Keuschen sowie dem Kräftigen und Wehrhaften.5 Der Oberbegriff der ›Lebensreform‹ fasst mehrere einzelne Bewegungen zusammen, welche sich in manchen Aspekten (wie zum Beispiel Vegetarismus) überschneiden, sich aber nicht in einer offiziellen Oberorganisation zusammenschließen. Wolfgang Krabbe nennt alphabetisch sortiert folgende Bewegungen: Antialkoholismus, Bodenreform, Gymnastik und Sport, Impfgegnertum, Kleidungsreform, Körperpflege, Nacktkultur, Naturheilkunde, Siedlung, Vegetarismus, Vivisektionsgegnerschaft, Wohnungsreform.6 Innerhalb dieser Gruppierungen lässt sich ein engerer Kreis organisierter Reformbewegungen ausmachen, den Vegetarismus, die Naturheilkunde und die Nacktkultur.7 Die Lebensreform wendet sich an das Individuum, nicht politische Parteien oder soziale Revolutionen werden angestrebt, sondern die Aktivität des Einzelnen: Im Zuge einer »Selbstreform« wird die soziale Frage privatisiert.8 In diesem Anliegen zeigt sich, dass die Reform für eine Erstarkung der Individualität eintritt, dass der Mensch ermutigt werden soll, sich unabhängig von den Strukturen, welche die Regeln für sein Leben vorgeben, um sich selbst zu kümmern. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnende Industrialisierung veränderte die Lebensbedingungen der Menschen gravierend. In den Großstädten wuchs die Bevölkerungsdichte rapide, da sich hier im Zuge der Wirtschaftsentwicklung die Arbeit suchende Landbevölkerung ansiedelte.9 Die Bodenpreise auf städtischem Gebiet
5
PRETZEL, Andreas 2001: Gesundung kraft Wanderung: Zur Resonanz gesundheitsorientierter Lebensreformbestrebungen in der deutschen Wandervogel- und Jugendbewegung. In: WEISSLER, Sabine (Hrsg.) 2001: Fokus Wandervogel: Der Wandervogel in seinen Beziehungen zu den Reformbewegungen vor dem Ersten Weltkrieg. Marburg: Jonas, S. 72-87, S. 72f.
6
Krabbe 1974, S. 13.
7
Ebd.
8
A.a.O., S. 15.
9
Zum Wandel der Verteilung der Bevölkerung auf Stadt und Land vor dem Ersten Weltkrieg siehe BORN, Karl-Erich 1976: Der soziale und wirtschaftliche Strukturwandel am Ende des 19. Jahrhunderts. In:
46 | THEATER DER N ACKTHEIT
stiegen an, als Folge dieser Verteuerung wurden Mietskasernen errichtet, welche nach heutigen Maßstäben überbevölkert waren: Als damaliger Maßstab galt ein Schlüssel von einem beheizbaren Zimmer und sechs oder mehr Bewohnern oder zwei beheizbaren Zimmern und elf oder mehr Bewohnern als überbevölkert.10 Hinzu kamen oftmals weitere Untervermietungen und sogenannte ›Schlafgänger‹, sodass sich die Bewohnerzahl nochmals erhöhte. Einhergehend mit diesen Wohnverhältnissen entstand gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der Medizin die Disziplin der Sozialhygiene. Ulrich Linse bescheinigt dem Kaiserreich eine »Besessenheit von Fragen der Gesundheit und Hygiene«, welche an die Stelle der christlichen Moral und Sittlichkeit getreten sei.11 Gewiss wurde die christliche Moral nicht vollständig ersetzt, allein in Bezug auf die Nacktkultur gibt es genug kirchliche Stimmen, welche diese scharf als unmoralisch verurteilen,12 dennoch ist eine starke Affinität zur Hygiene in der Lebensreform evident. Deren Protagonisten nutzten die Auswirkungen der Wohnverhältnisse auf Gesundheit und Lebensqualität zu der Argumentation ihrer Reformbestrebungen: Der Sonne entgegen. Vergiß die Stadt mit ihrer Arbeit, ihrem Schweiß, ihren Ausdünstungen und Bedrängnissen. Vergiß die hohen Häusermauern, die Steinplatten der Straßen, die Enge der Wohnungen, wo du das Atmen verlerntest und das Schauen dir abgewöhntest, das Schauen in wachsendes Leben, in den Himmelsdom, in die blaue Landschaft, in quellendes Wiesengrün, auf bunte Blumenpracht. Schließe die Augen. Was siehst du? Fühlst du noch immer den Druck der Decke deiner Wohnung, gehst du noch immer in engen Gassen zwischen hohen Häuserwänden, die harten Steine unter den Füßen? Dann wandere weiter […].13
WEHLER, Hans-Ulrich (Hrsg.): Moderne deutsche Sozialgeschichte. 5. Auflage. Köln: Kiepenheuer & Witsch, S. 271-284. 10
Krabbe 1974, S. 21.
11
Linse 1989, S. 10.
12
Siehe KOENIG, Joseph 1929: Das Ethos der Jugendbewegung in Deutschland mit besonderer Berücksichtigung der Freideutschen Jugendbewegung. Düsseldorf: Schwann.
13
PUDOR, Heinrich 1906a: Katechismus der Nacktkultur: Leitfaden für Sonnenbäder und Nacktpflege. Berlin, S .6.
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Neben den objektiven, messbaren Auswirkungen der Industrialisierung auf die Stadtbewohner (Überbevölkerung, Massenepidemien) stiegen auch die subjektiv empfundenen Belastungen und Befürchtungen, die mit den Veränderungen einhergingen: Neben den sich verschlechternden Lebensbedingungen wurden auch der moralische Verfall und die Sittenlosigkeit befürchtet: »das Heim als Hölle, die Kneipe und das Bordell als Himmel.«14 Es kam zu einem grundlegenden Wandel der alten Verhältnisse durch Industrialisierung und Technisierung des Alltags sowie den politischen Wandel (Bildung von Nationalstaaten und der Beginn der Massendemokratie). Neben die traditionelle zyklische Zeitauffassung der Agrargesellschaft trat das moderne Weltbild der Industriegesellschaft. Vor allem bei dem Bildungsbürgertum kam es zum Gefühl der gesellschaftlichen Instabilität und einer unerträglichen Fragmentierung der Welt. Während der gewerbliche Mittelstand Parteien und Interessenverbände gründete, arbeitete das Bürgertum an einer Gegenkultur zur technischen Zivilisation. Ein »dritter Weg« sollte neben Kapitalismus und Sozialismus/Kommunismus entstehen.15 Vor diesem Hintergrund steht die Suche nach dem ›Neuen Menschen‹, mit dessen Schöpfung die Lebensreformer die Welt kurieren wollten. Dieser allein auf den Körper konzentrierte Ansatz ist charakteristisch für die Reformbewegungen. Einigen Strömungen der Lebensreform (Gartenstadtbewegung, Bodenreform-, Siedlungs-16, Wohnungsreform- und Jugendbewegung17) gemein ist die Stadtflucht als Reaktion auf diese Verhältnisse – die Umkehrbewegung einiger weniger zur populären vorangegangenen
14
SOMBART, Werner 1906: Das Proletariat. Bilder und Studien. Frankfurt am Main: Literarische Anstalt Rütten & Loening, S. 30.
15
LINSE, Ulrich 1976: Die Jugendkulturbewegung. In: VONDUNG, Klaus; DILCHER, Gerhard (Hrsg.) 1976: Das wilhelminische Bildungsbürgertum: Zur Sozialgeschichte seiner Ideen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 119-137, S. 121.
16
Ein anschaulicher Bericht dieses Phänomens findet sich in PAUSEWANG, Gudrun 1989: Rosinkawiese: Alternatives Leben in den 20er Jahren. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
17
Krabbe 1974, S. 27.
48 | THEATER DER N ACKTHEIT
Landflucht.18 Ein berühmtes Beispiel der Siedlungsbewegung ist die 1906 von dem Unternehmer Karl Schmitt gegründete Gartenstadt Hellerau bei Dresden, der Wirkungsstätte des Begründers der Rhythmischen Gymnastik, Emile Jaques-Dalcroze19. Eine herausragende Stellung unter den Lebensreform-Siedlungen nimmt die 1900 vornehmlich durch Ida Hofmann und Henri Oedenkoven bei Ascona gegründete Siedlung Monte Verità ein. Hofmann konstatierte, dass »innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Organisationen, die jede individuelle Regung im Menschen ersticken und seine Kraft und natürlichen Anlagen in den Dienst der Machtbesitzenden zwingen, […] eine freie Entwicklung nach Befreiung strebender Menschen undenkbar«20 sei. Auf dem Programm der Siedler stand die Bekämpfung von Kapitalismus und Luxus, größter Wert wurde gelegt auf die Einhaltung der vegetarischen Ernährung; Luftund Sonnenbäder sowie das Arbeiten mit nacktem Körper.21 Ascona und der Monte Verità entwickelten sich zu einem Zentrum des intellektuellen Lebens, zu den Gästen gehörten unter anderem Michail Alexandrowitsch Bakunin, Lenin, Leo Trotzki, Hermann Hesse, Rudolf Steiner, Fidus (Hugo Höppener), Hans Arp, Else LaskerSchüler, Paul Klee, Rudolph von Laban, Mary Wigman, Isadora
18
Krabbe wertet dieses Phänomen als Resultat der kulturpessimistischen Strömung, welche sich in »Agrarromantik« und »Großstadtfeindlichkeit« manifestierte (Krabbe 1974, S. 28).
19
Jaques-Dalcroze und seine Anhänger indes benutzen Nacktheit nicht für ihre Lehre. »Die Dalcroze-Methode unterschätzte […] gewaltig das emotionale und kommunikative Potential von Körperbewegung, während für die Nudisten die Nacktheit des Körpers bereits jegliche emotionale und kommunikative Bedeutung der Bewegung enthielt.« (TOEPFER, Karl 1999: Deutsche Nacktkultur und Erziehungstheorie in den 20er Jahren. In: GRISKO, Michael (Hrsg.) 1999: Freikörperkultur und Lebenswelt: Studien zur Vor- und Frühgeschichte der Freikörperkultur in Deutschland. Kassel: Kassel University Press, S. 179-206, S. 196.
20
Aus den Memoiren Ida Hoffmanns, zitiert nach LANDMANN, Robert; WIESE, Ursula von; DREYFUSS, Martin 2000: Ascona – Monte Verità: Auf der Suche nach dem Paradies. Frauenfeld: Huber, S. 15.
21
A.a.O., S. 59.
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Duncan und Charlotte Bara.22 Wenngleich die Siedlung, die im Laufe der Jahre durch ein Sanatorium und ein Hotel erweitert wurde, aus wirtschaftlichen Gründen Konzessionen an das Konsumverhalten der Gäste gestatten musste, hielt Oedenkoven an den lebensreformerischen Prinzipien fest. So arbeiteten die Siedler im Gemüsegarten vollkommen nackt.23 Diese Nacktheit entwickelte sich zu einem Anziehungspunkt für Besucher, welche den Monte Verità gegen ein Eintrittsgeld besichtigen konnten: Die Hauptattraktion bildeten natürlich die Luftbäder. Denn da waren wirklich nackte Menschen zu sehen – die sagenhaften, schrecklichen, vom Pfarrer mit der Hölle bedrohten nackten Menschen! Die Besucher machten von ihrem Recht, selbst Luftbäder zu nehmen, keinen Gebrauch. Sie beschränkten sich darauf, durch die schönen Luftparkanlagen zu lustwandeln und ihre sonderbaren Mitmenschen bei Garten- oder Schreiberarbeiten zu beobachten.24
In der Nacktheit der Siedler lag sowohl ein wirtschaftliches Potenzial, welches neben der lebensreformerischen Wirkung auf den Körper gerne ausgeschöpft wurde, wie auch eine Gefahr: Eine Siedlerin namens Maria Adler plante nach dem Bruch mit Oedenkoven aus Rache ein Hotel mit Aussichtstürmen, von welchen die Bewohner des Monte Verità beim Luftbad zu beobachten sein sollten. Adlers Projekt scheiterte aus finanziellen Gründen, trotzdem zeigen sich hier sehr deutlich die wirtschaftliche Relevanz der sichtbar gemachten Nacktheit und die Gefahr der Angreifbarkeit, welcher sich der Betreiber eines Luftbades aussetzte.
22
Landmann 2000, S. 62. Aus den letztgenannten Personen wird die Beziehung des Monte Veritàs und des modernen Tanzes ersichtlich. Vgl. SCHÜTZE, Karl-Robert 2000: Charlotte Bara: 1901-1986; Brüssel, Worpswede, Berlin, Ascona. Berlin: Schütze.
23
Landmann 2000, S. 98.
24
A.a.O. S. 101.
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3.2 D IE N ACKTKULTUR Im Gegensatz zu den anderen Bewegungen wurden die Bestrebungen der Nacktkultur25 nicht allein im Kontext der Lebensreformbewegung registriert, sondern aufgrund der skandalisierenden Wirkung der Nacktheit auch in der Öffentlichkeit wahrgenommen und diskutiert.26 Uwe Schneider gliedert die Nacktkultur in zwei Perioden: 1. in einen »programmatische[n] Schub mit anschließender literarischer Vermarktung« und 2. (im Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende) »Ideologisierung der Nacktkultur in Verbindung mit Schönheitskult und Rassenhygiene«.27 Auf der ideologischen Ebene lässt sich die Nacktkultur in die völkische und die undogmatische Schule gliedern.28 Ihre Wurzeln hat die Nacktkultur in der Naturheilkunde, 1854 gründete der Schweizer Naturheiler Arnold Rikli in Veldes/Oberkrain eine Sonnenheilanstalt, in welcher die Besucher ihren nackten Körper der Sonne und Luft aussetzen konnten: Das Luftbad besteht darin, daß man den ganzen Körper von der Hülle der Kleider befreit und in der Luft badet. Besonders heilkräftig wirkt das Bad, wenn man es am Tage nimmt, weil dann der Lichtreiz hinzukommt. Im engeren Sin-
25
Der Begriff ›Nacktkultur‹ wurde von Heinrich Pudor geprägt (SCHNEIDER, Uwe 1999: Nacktkultur im Kaiserreich. In: GRISKO, Michael (Hrsg.) 1999: Freikörperkultur und Lebenswelt: Studien zur Vor- und Frühgeschichte der Freikörperkultur in Deutschland. Kassel: Kassel University Press, S. 69-114, S. 73), um den Naturismus von der Pornografie abzugrenzen. Als die Bezeichnung dann außerhalb der Bewegung überwiegend negativ verwendet wurde, wurde sie durch den verschleiernden und mystischen Begriff Lichtbewegung ersetzt. Der Begriff ›Freikörperkultur‹ (FKK) ist erst seit den zwanziger Jahren gebräuchlich. (KÖHLER, Michael 1986: Lebensreform durch Körperkultur:»Wir sind nackt und nennen uns du«. In: KÖHLER, Michael; BARCHE, Gisela (Hrsg.) 1986: Das Aktfoto: Ansichten vom Körper im fotografischen Zeitalter. Erweiterte und verbesserte Ausgabe. München: Bucher, S. 289-303, S. 302.) Ein Synonym für die Nacktkultur ist Naturismus.
26
Wedemeyer-Kolwe 2004, S. 281.
27
Schneider 1999, S. 69.
28
Spitzer 1983.
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DER
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ne ist daher jedes Luftbad zugleich ein Lichtbad oder ein Lichtluftbad. Wenn die Sonne scheint und man den Körper den Sonnenstrahlen aussetzt, so wird aus dem Luftbad ein Sonnenbad.29
Seit den 1890er Jahren wurde dieses Kur-Verfahren von prominenten Vertretern der Naturheilkunde propagiert, worauf entsprechende Anstalten von Naturheilvereinen errichtet wurden.30 1903 gründete Paul Zimmermann in der Lübecker Bucht das Naturisten-Urlaubsgelände Klingenberg. 1906 gab es über 230, 1912 bereits 380 derartiger Einrichtungen.31 Da der Körper im Mittelpunkt der Nacktkultur stand, ist es nicht verwunderlich, dass einige Protagonisten der Bewegung dem Sport eine herausragende Bedeutung zumaßen32, da dieser der Keuschheit zuträglich sei: »Keuschheit zu üben, ist kein leichtes Ding. […] Körperkultur ist ein gutes Mittel. Vor allem Nacktkultur. […] Gymnastik, Sport, Spiel, all das sind gute Waffen im Kampf gegen die Unkeuschheit.«33 Vergleicht man Nacktkultur und Nacktsport, lässt sich feststellen, dass Erstere kulturpessimistisch und rückwärtsgewandt ist, während der Zweite »die Argumente der Aufklärung, der Rationalität und der modernen Wissenschaft« vertritt.34 Janos Frecot bezeichnet die Lebensreformbewegung als »rückwärtsgewandte Utopie«. Regressiv ist der erklärte Bezug auf die Natur und die Verurteilung des tech-
29
Pudor 1906a, zitiert nach Linse 1989, S. 29.
30
Krabbe 1974, S. 93.
31
Schneider 1999, S .77.
32
Der Sport treibende Körper sollte entsexualisiert wirken und barg die Hoffnung auf kathartische Wirkung bei der Lösung der gesellschaftlichen Probleme. (GRISKO, Michael (Hrsg.) 1999: Freikörperkultur und Lebenswelt: Studien zur Vor- und Frühgeschichte der Freikörperkultur in Deutschland. Kassel: Kassel University Press, S. 17.
33
PUDOR, Heinrich 1906b: Kleidung und Unsittlichkeit. In: Geschlecht und Gesellschaft Bd.1, S. 475, zitiert nach Grisko 1999, S. 17f.
34
WEDEMEYER, Bernd: »Nacktkultur« oder »Nacktsport«? Die Freikörperkultur im Kontext von Sport, Turnen, Gymnastik und Körperkultur im ersten Drittel des 20.Jahrhunderts. In: GRISKO, Michael (Hrsg.) 1999: Freikörperkultur und Lebenswelt: Studien zur Vor- und Frühgeschichte der Freikörperkultur in Deutschland. Kassel: Kassel University Press, S. 115-140, S. 116.
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nischen Fortschritts, progressiv ist das zukunftsbezogene Alternativmodell, welches gegen die gegenwärtige Gesellschaftsordnung ankämpfte.35 So distanzierte sich die Ärztin und Gymnastiklehrerin Bess Mensendieck von der Idee der Neuverbindung mit der Natur, sie bejaht den Fortschritt ausdrücklich, indem ihr Gymnastikprogramm die Verbesserung der Bewegungen der Frau in ihrem modernen häuslichen Umfeld beinhaltet.36 Die von Mensendieck und anderen abgelehnte Lebensreformbewegung trägt mit ihrem Wunsch nach Natürlichkeit antizivilisatorische Züge, während es der anderen Fraktion eher um eine Umwertung der Zivilisation des Körpers geht, dieser soll durchaus nicht wild, sondern zivilisiert sein, jedoch nach den Maßstäben der Nacktkultur. Mit Heinrich Pudors (1865-1943) Aphorismensammlung Nackende Menschen: Jauchzen der Zukunft (London, 1893) erscheint die erste deutsche Monografie zum Thema Nacktkultur. Pudor ist bekennender Antisemit, dieses Thema nimmt in seinem Werk den größten Platz ein. Seine Schriften sind die ersten, in denen sich die Politisierung der Freikörperkultur37 verorten lässt. Im Vergleich zu der Weimarer Republik war die Nacktkultur-Bewegung während des Kaiserreichs noch klein, ihre wichtigste Vertreterin war auf der undogmatischen Seite die Gruppe um die Zeitschrift Die Schönheit, deren Herausgeber Kurt Vanselow ebenfalls hinter den Titeln Sexualreform und Geschlecht und Gesellschaft stand. Diese Vereinigung für ideale Kultur proklamierte es als ihr Ziel »durch Nacktheit zur Schönheit und Heiterkeit (!) zu gelangen.«38 Herausragend unter den völkischen Vereinigungen waren die beiden Logen Nudo-Natio-Loge von Max Ferdinand Sebald und die Aristokratische Nudo-Natio Allianz (A.N.N.A, gegründet 1905), der Bund um den Gärtner und Schriftsteller Richard Ungewitter und der Verein für Körperkultur (VfK). Die vorgenannten Vereinigungen standen in Kontakt, während der Schriftsteller Heinrich Pudor, ebenfalls ein
35
FRECOT, Janos 1976: Die Lebensreformbewegung. In: VONDUNG, Klaus; DILCHER, Gerhard (Hrsg.) 1976: Das wilhelminische Bildungsbürgertum: Zur Sozialgeschichte seiner Ideen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 138-152, S. 139.
36
Toepfer 1999, S. 183.
37
Spitzer 1983, S. 80.
38
Keidel 1909, S. 48.
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DER
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führender Theoretiker der Nacktkultur, als Einzelgänger galt. Den größtenteils in den Städten des protestantischen Nordens des Reiches angesiedelten Gruppierungen war die bevorzugte elitäre Organisationsform der Loge gemeinsam.39 Der Zeitgenosse John E. Keidel unterteilt sie wie Spitzer in undogmatische und völkische Zusammenschlüsse: »solche, welche auf Lüsternheit und Gelderwerb beruhen (Schönheitsabende usw. […]) und dann solche, welche wissenschaftliche Züchtungspolitik betreiben (Anna-Logen).«40 Die Logen operierten unter Ausschluss der Öffentlichkeit und nahmen ihre Mitglieder nur nach bestimmten Kriterien auf: »Aber ehe man auf eine solche Wiese gelangt, muss man eine Exklusiv-Probe bestehen, wenigstens die Erwachsenen vom zehnten Jahre an, ob sie für die Aufnahme auch harmlos genug sind.«41 Das Organisationsprinzip der Loge hatte somit den Vorteil der Exklusivität und bot die Möglichkeit, potenzielle Mitglieder daraufhin zu prüfen, dass sie auch keine Probleme mit Sittenwächtern verursachen würden. Durch Prüfungen erreichten die Mitglieder immer höhere Stufen und erlangten somit weiteres Geheimwissen über die Loge: »Die Nacktloge besitzt gemässigte (!) und radikale (!) Unter-Gruppen in jeder der drei Hauptstufen bei allgemeiner, gleicher und offenbarer Nacktheit.«42 Exemplarisch beschreibt Keidel die drei Stufen einer nicht namentlich genannten Loge: 1. Selekta, deren bindendes Element »die Erkenntnis der nackten Wahrheit war«, Ziel der Stufe war die Verbreitung der Nackt-Literatur. 2. Aristons, »[d]er Kult unserer Stufe ist die Verehrung der geschlechtlichen Dreieinigkeit: Gott-Vater, Gott-Mutter und Gott-Kind.« In Aktkursen sollten die Mitglieder an die Nacktheit gewöhnt werden. Über die 3. Stufe, Thiuda43, vermag der Verfasser keine Aussage zu machen, da Ziel und Inhalt ein Geheimnis waren, welches nur die Auslese der Aristonen erfuhr.44 Auffällig in diesem Programm sind die schrittweise erfolgende Hinführung zur tatsächlichen Nacktheit, die Gleichsetzung von Nacktheit und Wahrheit, der
39
Wedemeyer-Kolwe 2004, S. 199f.
40
Keidel 1909, S. 58.
41
A.a.O., S. 15f.
42
A.a.O., S. 56.
43
Germanisch für ›Volk‹, eine etymologische Parallele zur Nudo-Natio-
44
Keidel 1909, S. 57.
Allianz ist evident.
54 | THEATER DER N ACKTHEIT
starke Bezug zur Religion und die strenge Geheimhaltung der letzten Stufe. Richard Ungewitter (1868-1958) versuchte in seiner 1911 gegründeten Loge des aufsteigenden Lebens den Menschen mittels der Nacktkultur von den zwei großen Übeln der Welt zu befreien: Kapitalismus und Sozialismus.45 Die Ablehnung des Kapitalismus ließe darauf schließen, dass Ungewitter sich im Sinne der im ersten Kapitel dargestellten Theorien gegen den zivilisierten Körper als Instrument zur Produktionssteigerung wehrt. Da er jedoch gleichzeitig den Sozialismus kritisiert, scheint er eher eine neue, unabhängige Ideologie vorantreiben zu wollen: Neben naturheilkundlichen Überlegungen propagierte er das ›Nacktgehen‹ zum Zwecke der Zuchtwahl, Männer und Frauen sollten sich vor der Vereinigung nackt sehen, um gesunde Nachkommen zu zeugen: Nicht allein fortpflanzen sollen wir uns, sondern »höher hinauf«. Beide Ehegatten sollen ihr Bestes geben, um »Höheres, Vollkommeneres« zu schaffen. In der Zeugung liegt somit das Glück oder Unglück vieler Generationen. Heute, wo jedem Lungenkranken, Herzleidenden, jedem Geschlechtskranken, Trinker und Krüppel die Ehe, wie auch die unselige Vermischung mit anderen Rassen in freier Weise gestattet ist, kann freilich nicht entfernt von planmäßiger Züchtung schöner, rassereiner, gesunder Menschen gesprochen werden. Im Gegenteil, eine Ehe, welche dem Volke kranke, häßliche Kinder gibt, muß als unsittlich, ein »uneheliches« Verhältnis aber, dem Vollmenschen entspringen, als durchaus sittlich bezeichnet werden.46
Die Loge des aufsteigenden Lebens war völkisch, rassenhygienisch und antisemitisch.47 Die dem »Großmeister« Ungewitter unterstellte, antidemokratisch geführte Loge wollte »das Rassenbewußtsein und germanisches Stammesgefühl stärken und über den schädlichen Einfluß unter uns lebender Fremdrassen aufklären.«48 Trotz oder wegen der völkischen Ausrichtung und der strikten Einhaltung lebens-
45
Toepfer 1999, S. 185. Zur Programmatik und den Stufen von Ungewitters Loge siehe Spitzer 1983, S. 86.
46
Ungewitter 1907, S. 81.
47
Wedemeyer-Kolwe 2004, S. 209.
48
UNGEWITTER, Richard 1909: Nackt: Eine kritische Studie. Stuttgart, S. 113 und 119, zitiert nach Wedemeyer-Kolwe 2004, S. 208.
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reformerischer Prinzipien wie dem Veganismus war Ungewitters Loge – laut Selbstaussage – die größte und erfolgreichste Gruppierung.49 Die Vereinigungen der Kaiserzeit gründeten Schulen und Siedlungen, in der Öffentlichkeit bekannt wurde die Bewegung durch Werbeveranstaltungen und Publikationen in eigenen Verlagen (besonders durch Ungewitter und Pudor). Nach dem Ersten Weltkrieg nannte sich die Nacktkulturbewegung ›Freikörperkultur‹. Ein herausragender Protagonist dieser Zeit war Hans Surén (1885-1972). Der ehemalige Offizier vertrat ebenfalls die völkische Richtung der Nacktkultur. Surén begründete sein eigenes System, die ›Deutsche Gymnastik‹. Schwerpunkt dieser Körpererziehung sollte die Stärkung von Selbstbewusstsein und -disziplin sein, da sich das deutsche Volk gemäß seiner Ansicht nach dem Ersten Weltkrieg in körperlicher und geistiger Not befand.50 Surén beklagt die Vorherrschaft des Verstandes, welche dem Menschen seine innere Harmonie geraubt habe. Der Weg zur Besserung führt über die Ausbildung des Körpers: »In ganz Europa gibt es kein Kulturvolk mehr, wir sind alle mehr oder weniger Sklaven einer hochentwickelten Zivilisation. Nur auf dem Boden der Harmonie wächst Kultur. Diese Harmonie muß gleichmäßig Körper und Verstand, Seele und Geist umfassen.«51 In der Weimarer Republik kam es sowohl zu einer Professionalisierung und Kommerzialisierung der Freikörperkultur. Während die Nacktheit in der Öffentlichkeit zu Zeiten des Kaiserreichs um Akzeptanz zu kämpfen hatte, war sie nun nahezu normal.52 Mondäne,
49
Wedemeyer-Kolwe 2004, S. 210.
50
PFORTE, Dietger 1989: Hans Surén – eine deutsche FKK-Karriere. In: RAUTENBERG, Thomas; ANDRITZKY, Michael (Hrsg.) 1989: »Wir sind nackt und nennen uns Du«: Von Lichtfreunden und Sonnenkämpfern; eine Geschichte der Freikörperkultur. 1. Auflage. Gießen: Anabas, S. 130-135, S. 131.
51
SURÉN, Hans 1925: Deutsche Gymnastik: vorbereitende Übungen für den Sport, Frottierübungen, Atemgymnastik, Massage, Körperpflege, Verhalten im Licht-, Luft- und Sonnenbad. 31.-40., vollständig. neubearbeitete Auflage. Oldenburg: Stalling, S. 32.
52
Exemplarisch KESSLER, Graf Harry 1961: Tagebücher 1918-1937. Frankfurt am Main: Insel, S. 624f. und 637.
56 | THEATER DER N ACKTHEIT
unideologische FKK-Bünde53 wie der um Charly Strässer wurden gegründet. Vereine, welche die demokratische Ordnung widerspiegeln sollten, lösten die Logen als Organisationsform ab. Aus vielen einzelnen Verbünden und Logen entstanden Anfang der zwanziger Jahre die neuen Dachverbände der Bewegung: Arbeitsgemeinschaft der Lichtfreunde, Josef Michael Seitz’ Bund der Lichtfreunde, Adolf Kochs Bund freier Menschen, der Reichsbund für Freikörperkultur und später der Reichsverband für Freikörperkultur. Während der Weimarer Republik wuchs die Zahl der Mitglieder auf 20.000 an.54 Die Nacktkultur55 florierte bis zur Weltwirtschaftskrise, als der Großteil der Mitglieder zahlungsunfähig wurde, was viele Vereinigungen fast in den Ruin trieb. Mit dem Beginn des Nationalsozialismus veränderte sich das Klima für die Nacktkulturbewegung, am 23. 04.1933 beschloss der Bundesverband FKK die Gleichschaltung. In der Rückschau lässt sich der ambivalente Charakter der Nacktkultur kritisieren: Wie die gesamte Lebensreformbewegung schwankt sie zwischen Regression und Fortschritt.56 Ihre ehrgeizigen gesellschaftspolitischen Ziele konnte die Lebensreform nicht verwirklichen, durch die Kommerzialisierung einzelner Bereiche fand keine Veränderung der Gesellschaft, vielmehr aber der Lebensreform statt. Der angestrebte »Dritte Weg« führte durch die Individualisierung der sozialen Probleme zu einem »Kult der Innerlichkeit«.57 Die Hinwendung zur Natur der Lebensreformbewegung stellte eine Absage an den strengen zivilisatorischen Normen unterworfenen Körper dar. Ihr folgte jedoch eine durch rasseideologisches Denken geprägte Zivilisierung des nackten Körpers, welcher durch Sport modelliert wurde und strenge rassische Normen erfüllen musste, um nicht durch das Raster zu fallen. Eine Schlüsselstellung zwischen der allgemeinen Nacktkultur und dem Nackttanz nimmt die Nacktgymnastik ein. Wenngleich sie nur
53
Der Schriftsteller Frank Thiess beschreibt Nacktveranstaltungen als gesellschaftliches Ereignis im Berliner Wellenbad Lunapark. (THIESS, Frank 1965: Freiheit bis Mitternacht. Wien: Zsolnay, S. 339f.).
54
Spitzer 1983, S. 192.
55
Eine detaillierte Auflistung der Vereinigungen und ihrer Mitgliederzah-
56
Linse 1989, S. 20f.
57
Frecot 1976, S. 152.
len gibt Wedemeyer-Kolwe 2004, S. 219ff.
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eine Variante des Nacktsports unter vielen war,58 erfreute sich diese moderne Form der Körperertüchtigung im Kaiserreich und der Weimarer Republik größter Beliebtheit und war eng verknüpft mit dem Glauben der Lebensreformer an die kräftigende und heilende Wirkung von Licht und Luft auf den nackten Körper. Hauptvertreter der Nacktgymnastik waren Bess Mensendieck, Hedwig Hagemann, Jørgen Peter Müller und Hans Surén. Das Mensendiecken59, ein speziell auf die Bedürfnisse der arbeitenden Frau zugeschnittenes Programm, verband Emanzipation mit Kleidungsreform. Ziel sollte die physische Unabhängigkeit der Frau sein, welche zur geistigen Freiheit führen sollte.60 Mensendieck ging es bei der Nacktheit allein um die bessere Kontrolle der Übungsausführung durch den Übungsleiter. Der Däne Müller bereiste im Jahr 1905 Deutschland, um sein »System«61 vorzustellen, welches Frottierübungen des nackten, nur mit einer Badehose bekleideten Körpers beinhaltet. Das Polizeipräsidium in Breslau beanstandete seine unzureichende Kleidung und verlangte eine von den Schultern bis über die Oberschenkel reichende Bekleidung. Das etwa 3000 Personen zählende Publikum »ging in Erregung auseinander«, wie Ungewitter berichtet.62 Müller indes benutzte die Nacktheit allein aus funktionellen Gründen, nicht aus ideologischen.
58 59
Vgl. Wedemeyer-Kolwe 2004, S. 192. Dieses Verfahren erlangte eine – obschon aufgrund der Rezeption als Lustspiel fragwürdige – derartige Popularität, dass 1926 der plattdeutsche Schwank Hulda geiht mensendiecken auf Hamburgs Volksbühnen aufgeführt wurde. (ULBRICHT, Justus H. 1999: Lichtgebet und Leibvergottung: Annäherungen an die Religiosität der Freikörperkultur. In: GRISKO, Michael [Hrsg.] 1999: Freikörperkultur und Lebenswelt: Studien zur Vor- und Frühgeschichte der Freikörperkultur in Deutschland. Kassel: Kassel University Press, S. 141-178, S. 141).
60
Wedemeyer 1999, S. 122.
61
MÜLLER, Jørgen 1910: Mein System. Leipzig: Tillge.
62
Ungewitter 1907, S. 66.
58 | THEATER DER N ACKTHEIT
3.3 D IE K LEIDUNGSREFORM Dann zwängte man uns in seltsame, steife weiße Leinwandringe, zog uns lange, schwarze Röhren über die Beine und auf das Haupt setzte man uns ein Ding aus Filz […] Plötzlich riß unserem Körper die Geduld. Er hängte Schuh und Strumpf, Hose und Kragen an einen Baum und sprang nackt in den Wald. Dabei flammte etwas von Haß auf gegen die seltsamen Hüllen. Nun aber stand der nackte Körper in der Sonne, und der Wind tastete an ihm herum, als glaube er ihm nicht. Die Arme reckten sich sehnend gen Himmel und da kam ein Gefühl aus der Sonne, und dem Wind geflutet, das so unaussprechlich süß und weihevoll war, daß das Herz zum Gebet rief: O Sonne, o mein Körper, wie habe ich dich gesucht und nicht gekannt! Welche Lebenskraft durch den Körper zieht, wenn er völlig nackt den Wind trinkt.63
Dieses Zitat verdeutlicht das zur damaligen Zeit schmerzhaft empfundene Sehnen des Körpers, den Zwängen der Mode zu entkommen und sich zu befreien. Ferner wird hier das Motiv des Lichtgebets angesprochen, ein Hauptthema des Werkes des Malers Fidus (Hugo Höppener, 1868-1948). Den größten Nutzen der Kleidungsreform hatten die Frauen, denen die Mode bis dato Korsette diktierte, welche nicht selten zu gesundheitsschädlichen Deformierungen des Körpers führten. Die Korsette, die den Oberkörper der Trägerin zurechtschnürten, um Brust und Hüfte zu betonen bei geringer Taillenweite (Sanduhr-Form) oder den Körper in eine ›S-Form‹ brachten (»Brust raus und Bauch rein«), gehörten damals zur gewöhnlichen Kleidung der Frau und wurden von Medizinern durchaus kritisch gesehen, da sie im Verdacht standen, die inneren Organe einzuschnüren. Aufgrund der Betonung der körperlichen Reize der Frau durch das Korsett verdammte Heinrich Pudor die Korsettmode als zutiefst unmoralisch: Nur so sind diese auf das Kostümgebiet übertragenen Fleischerläden alias Korsettläden möglich, welche demonstrieren nach Art der anatomischen Präparate,
63
Zitiert nach RAUTENBERG, Thomas; ANDRITZKY, Michael (Hrsg.) 1989: »Wir sind nackt und nennen uns Du«: Von Lichtfreunden und Sonnenkämpfern; eine Geschichte der Freikörperkultur. 1. Auflage. Gießen: Anabas, S. 5.
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wie die weibliche Brust gewaltsam verkrüppelt wird, um den verbildeten Sinn und die vergiftete Sinnlichkeit zu reizen.64
Pudor forderte die Gründung einer Liga, welche Korsettträgerinnen als Huren und Wäscheläden mit der Bezeichnung »Hurenbedarf« brandmarkte.65 Grundsätzlich beklagt Pudor eine Entfremdung des Körpers durch die Kleidung: »[Es ist] der Fluch unseres Zeitalters, daß es seinen Leib buchstäblich aus den Augen verlor«.66 Die Kleidungsreform ist Bestandteil der Lebensreform und mit der Befreiung des Körpers von den textilen Zwängen eine Vorstufe der Nacktkultur. In vielen Schriften aus diesem Umfeld findet sich die Forderung einer Kleidungsreform. Der Ausdruckstanz reagiert auf die Kleidungsreform, indem er das unnatürliche, artifizielle Tutu verbannt und die Füße der Tänzerin aus den Spitzenschuhen befreit (siehe Kapitel 4.1). Auch die Reform der Alltagskleidung ist ein evidentes Merkmal der Befreiung des zivilisierten Körpers, welcher durch starre Kleidung in eine unnatürliche Form gepresst wird. Anstatt sich seiner Natur gemäß frei entfalten zu können, wird er auf künstliche Weise deformiert. Die eingeschnürten Taillen folgen einem Schönheitsideal, in welchem sich die Bezwingung der Natur durch die vom Menschen geschneiderte Bekleidung widerspiegelt. Auch im 21. Jahrhundert, in dem Schnürkorsagen nicht mehr zur Alltagskleidung gehören, gibt es Frauen wie die Burlesque-Tänzerin Dita von Teese67, welche mit Stolz auf diese Weise die Natur ihres Körpers bezwingen.
64
PUDOR 1906a, zitiert nach Linse 1989, S. 30.
65
Ebd.
66
PUDOR, Heinrich 1893: Nackende Menschen jauchzende Zukunft. In:
67
Siehe hierzu TEESE, Dita von; GARRITY, Bronwyn 2007: Die Kunst der
Dresdner Wochenblätter, S. 23, zitiert nach König 1999, S. 61. Burlesque. Berlin: Schwarzkopf und Schwarzkopf.
60 | THEATER DER N ACKTHEIT
3.4 K ÖRPER
UND
S EELE
Besteht eigentlich eine Dichotomie zwischen Körper und Seele – hier das Greifbare, Physische, naturwissenschaftlich Erklärbare, dort das Transzendente, Unerklärliche – so sehnten sich die Naturisten doch nach der Vereinigung von Körper und Seele: »Der nackte Mensch kann nichts verbergen, und die Sprache seines Körpers ist die Sprache seiner Seele, nur im nackten Körper drückt sich unverfälschtes Menschentum aus.«68 Es kommt zu einer »monistischen Naturerkenntnis, bei de[r] der Körper zu einem harmonischen Zusammenspiel mit Geistigem und Seelischem finden soll.«69 Durch den gesunden Körper soll eine gesunde Seele erreicht werden. Die Naturisten wollen sich befreien von der »Kleiderlüge«70, erst dann könne der Mensch das Wahre verkörpern. Der ehemalige evangelische Pfarrer Magnus Weidemann nennt den Körper »Gefäß der Seele«.71 1920 schreibt die Zeitschrift Kraft und Schönheit, die Körperkultur trage dazu bei, dass sich aus einem tierischen ein höherer Mensch entwickle. »Seine ›Persönlichkeitskultur‹ sei durch eine ›Einheit von Körper, Seele und Geist‹ gekennzeichnet. Dieser ›Neue Mensch‹ fasse seinen ›Neuen Körper‹ als ›Heiligen Tempel‹ auf, dessen Pflege ›Heilige Pflicht‹ zu sein habe.«72 Auch die Nacktgymnastik zielt darauf ab, die Seele qua Körper zu verbessern, was erst dann vollständig gelingt, wenn der Körper nackt ist:
68
Rautenberg; Andritzky 1989, S. 5.
69
Schneider 1999, S. 75. Vgl. auch FICK, Monika 1993: Sinnenwelt und Weltseele: Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende. Tübingen: Niemeyer.
70
Der Begriff ›Kleiderlüge‹ findet sich in Carl Spittelers Epos Olympischer Frühling (1905): »Vor Augen stellen unser wahrhaft Formgefüge/Frei wie es ist, entledigt jeder Kleiderlüge/Dann Heroldruf verkünden, was das Urteil spricht /Wagst du die Prüfung, Hera? Gelt, du wagst sie nicht?« (SPITTELER, Carl 1945: Olympischer Frühling. In: SPITTELER, Carl, BOHNENBLUST, Gottfried (Hrsg.) 1945: Gesammelte Werke, 2. Band. Zürich: Artemis, S. 190).
71
Zitiert nach Rautenberg; Andritzky 1989, S. 7.
72
Körperkultur (4. Jg.) 1909, S. 261, zitiert nach Wedemeyer-Kolwe 2004, S. 13.
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Wenn sich auch die meisten Menschen heute noch nicht ihres Körpers als »Gefäß der Seele« bewußt sind, so schlummert doch wohl instinktmäßig in jedem das Gefühl, daß sein Körper Ausdruck seines Wesens ist, so daß infolgedessen eine Scheu in ihm lebt, durch seinen nackten Körper sein Wesen restlos erkennen zu lassen. Sind wir uns also klar, daß wir mit dem Problem der Nacktgymnastik an letzte seelische Tiefen rühren, so wird uns dadurch bewußt, welche Aufgaben der modernen Gymnastik in Bezug auf die Aktfrage erwachsen. Von außen kommen wir an diese Dinge nicht heran. Wir bringen den Menschen nicht zu einer Befreiung seines Körpers und seiner Seele, indem wir ihn zwingen, sich mit vielen anderen Menschen auszuziehen und sich dann in frischer Luft herumzutummeln.73
Körper und Seele werden gleichwertig, das Zusammenspiel ist das höchste Ziel und wird spirituell überhöht: »Im Zusammenklingen von Geistigkeit und Körperlichkeit, im Eros liegt das ›Empor‹ für unser Leben. Dazu wollen wir unseren Körper erziehen.«74 Im Sehnen nach der Körperseele findet sich ein religiöser Glaube an die Unschuld und Überhöhung von vereinigtem Körper und Seele des Nudisten. Nacktheit wird als Wahrheit aufgefasst.75 Neben religiösen Bezügen wird auch die Schönheit als Tertium Comparationis von Körper und Seele bestimmt: Nur in einem schönen Körper kann eine schöne Seele wohnen, strebt man nach dieser, muss der Körper gepflegt und trainiert werden. Das Konzept der Körperseele versucht als quasi-religiöses Prinzip, dem haltlosen und rastlosen Menschen ein Gefühl des Einklangs zu geben. Dies ist jedoch nur über den schönen, das heißt trainierten, Körper möglich. Der Körper ist somit nicht vollkommen frei, da der Zustand der Schönheit erst einmal durch Arbeit erreicht werden muss. Dennoch strebt er nach einem erreichbaren Ideal, welches Zufriedenheit und Halt verspricht.
73
HAGEMANN, Hedwig 1927: Über Körper und Seele der Frau. Zürich,
74
Köhler 1986, S. 291f.
Leipzig: Grethlein. 75
MOSSE, George L. 1987: Nationalismus und Sexualität: Bürgerliche Moral und sexuelle Normen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 72.
62 | THEATER DER N ACKTHEIT
3.5 L EGITIMATIONS - UND V ERTEIDIGUNGSSTRATEGIEN N ACKTKULTUR
DER
Die strenge zeitgenössische (Sexual-)Moral unterwarf die Darstellung und öffentliche Zurschaustellung des nackten Körpers vielen Einschränkungen. Da die Nacktkultur immer mit dem Vorwurf der Unsittlichkeit konfrontiert wurde, lassen sich in ihr verschiedene Strategien zur Legitimation der Nacktheit wiederfinden. Am häufigsten wurde die Inversionsstrategie angewendet: Der Vorwurf der Unmoral wurde umgekehrt, nicht mehr der nackte Mensch galt als moralisch verwerflich, sondern der angezogene Mensch, der nur durch die edle und unschuldige Nacktheit gerettet werden könne: Andere wieder stellen sich in lebhafter Phantasie durch die Kleider hindurch den nackten Körper vor. Und diesen kommt die heutige Kleidung tatsächlich entgegen, indem sie in gewissem Sinne die Nacktheit nachzutäuschen sucht. Trotz der bis unters Kinn reichenden Kleidung erscheint der Körper des weiblichen Geschlechtes »nackter« und zwar erotisch-nackter als ohne jede Kleidung. Während in letzterem Falle der ganze Körper sich gleichmäßig dem Auge darbietet, sieht man durch die Gewänder hindurch keine ganzen Körper mehr, sondern nur noch einzelne, ganz bestimmt ausgesuchte, geschickt zur Schau gestellte Teile: Hüften und Brüste, Hinterteile und Schenkelpartien.76
Ganz evident wird die Inversionsstrategie, wenn Richard Ungewitter den Gegnern der Nacktheit vorwirft, diese zu verurteilen, da sie auf die Reize der im Zitat beschriebenen Bekleidung nicht verzichten möchten.77 Ungewitter propagiert nachdrücklich die Zurschaustellung des nackten Körpers, »damit auch der prüdeste Mensch sich von deren sittlicher Reinheit überzeugen und in vernünftige Anschauungen hineinleben kann.«78 Nach der Veröffentlichung seines ersten Buches ereilte Ungewitter eine »Denunziation« des »Kölner Männervereins zur Hebung der Sittlichkeit«, welcher Anstoß an einigen Textstellen und Abbildungen genommen hatte. Der Angeklagte argumentierte,
76
Ungewitter 1907, S. 52. Siehe auch a.a.O., S. 62.
77
A.a.O., S. 53.
78
Ungewitter 1907, S. 95.
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dass der unverhüllte menschliche Körper in keuschen Haltungen niemals unsittlich, sondern vollkommen natürlich sei. Gemäß der Inversionsstrategie mutmaßte Ungewitter jedoch: »Freilich kommt es dabei auf den Zuschauer an. Betrachtet man sie mit lüsternen Augen, so wirken sie unzweifelhaft lüstern. Die Abbildungen deshalb aber als unsittlich hinzustellen, heißt mit anderen Worten auch andere Beschauer der Lüsternheit zu beschuldigen.«79 Das Verfahren wurde eingestellt. Zu der Umlenkung der Vorwürfe der Unsittlichkeit auf die Ankläger kam die von der Nacktkultur-Bewegung für sich proklamierte Vorbildfunktion gepaart mit Selbstüberhöhung und Elitedenken.80 René König verortet die Gründe für diese Strategie in der Reaktion auf die »sexuelle Obsession des 19. Jahrhunderts«, welche aus der Verdrängung von Körperlichkeit und Nacktheit resultierte.81 Dieses Schema des Tausches von Angeklagten- und Klägerrolle wird bis heute von der FKK-Bewegung angewandt. Die Angst vor der sexuellen Konnotation der Nacktkulturbewegung bewirkte eine immense Verkrampfung, weswegen diese Bewegung von einigen Zeitgenossen als prüde bezeichnet wurde, obwohl die Prüderie des 19. Jahrhunderts eines der Angriffsziele der Nacktkulturbewegung selbst war.82 So kritisiert Charly Strässer, der einer undogmatisch mondänen, das heißt mehr freizeit- und weniger gesundheitsorientierten Gruppierung vorstand, seine Mitstreiter: Adolf [Koch] in seiner Arbeit im Jammertal der Welt und ich, in meinem Versuch, den Menschen zu kultivierter und beschwingter Freude zu verhelfen, zogen uns den Haß der bürgerlichen FKK-Bewegung zu. Denn die Mitglieder jener Vereine, von denen es in Berlin ein Dutzend gab, waren bei aller Fortschrittlichkeit der Vereinstendenzen eine Ansammlung perfekter Spießer. Sie
79
Ungewitter 1907, S. 98.
80
Wedemeyer-Kolwe 2004, S. 263.
81
König 1999, S. 62. Siehe auch USSEL, Jos van 1979: Sexualunterdrückung: Geschichte der Sexualfeindschaft. 2. Auflage. Gießen: FocusVerlag.
82
König 1999, S. 63f.
64 | THEATER DER N ACKTHEIT vertraten, sobald sie die Grenze ihrer Vereinsideale der Nacktheit und Schönheit überschritten, eine Moral, wie sie nicht muffiger vorstellbar war.83
Strässers sehr kritische Äußerung über die Moral der bürgerlichen FKK-Bewegung deutet an, was die folgenden Legitimationsstrategien verdeutlichen: Der nackte Körper der Freikörperkultur war keineswegs so frei und natürlich, wie es vordergründig scheint. Neben der Defensivhaltung kam es auch zu aktiven Angriffen auf gängige Kulturpraktiken, welche von der Moral und Zensur unbehelligt ausgeübt wurden, von den Naturisten aber als verwerflich kritisiert wurden: Wäre es nicht viel wichtiger, die öffentlichen Tanzvergnügungen als Herde der Unsittlichkeit, und vor allem die Schundliteratur und Hintertreppenromane als Lockmittel der Begierden zu verbieten? Auch eine gewisse Sorte von Witzblättern gehört hierher, so u.a. Das kleine Witzblatt, Kikeriki, Pschütt, Wiener Karikaturen, Das lachende Jahrhundert, Sekt, Satyr, Wespe usw., denn diese sind absichtlich auf niederen Sinnenkitzel angelegt. Diese »Giftpflanzen« sollten ausgerottet werden, denn sie ziehen bewußt Ehe und Liebe in den Kot, verherrlichen den Ehebruch und außerehelichen Geschlechtsverkehr. Von gleichem Schmutz starren die Anzeigen, wie: ff. Pariser Photographien, Intime Lektüre für Herren usw.84
Die anderen Legitimationsstrategien der Nacktkultur entsprechen einem Vertrag zwischen Künstler und Publikum, der »Doktrin der Distanz«: Diese Doktrin – eindrucksvolles Beispiel eines kulturellen Abwehrmechanismus – vertritt den Standpunkt, daß die Darstellung des menschlichen Körpers in der Kunst die Betrachter um so weniger schockiert, je verallgemeinerter und verklärter sie ist, je mehr sie sich in erhebende Assoziationen hüllt. In der Praxis bedeutet das, den Akt der intimen Erfahrungswelt der
83
ANDRITZKY, Michael 1989: Berlin – Urheimat der Nackten: Die FKKBewegung in den 20er Jahren. In: RAUTENBERG, Thomas; ANDRITZKY, Michael (Hrsg.) 1989: »Wir sind nackt und nennen uns Du«: Von Lichtfreunden und Sonnenkämpfern; eine Geschichte der Freikörperkultur. 1. Auflage. Gießen: Anabas, S. 50-105, S. 56.
84
Ungewitter 1907, S. 61.
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Zeitgenossen zu entziehen und ihn mit dem fremden Glanz der Geschichte, der Mythologie, der Religion oder des Exotischen auszustatten.85
Der nackte Körper, der für Natürlichkeit und ungehemmte Triebhaftigkeit des Menschen stehen kann, muss mittels verschiedener Sublimierungsmaßnahmen auf Distanz gehalten werden, um erträglich zu sein. Die Distanz-Strategie arbeitet hauptsächlich mit vier Themenkomplexen: dem Rekurs auf die Antike, der Verklärung der Natur, der Betonung des schönen/gesunden Körpers und der Nähe zur Religion. Den Bezug zur Antike stellten die Darstellerinnen bei den sogenannten ›Schönheitsabenden‹ her. Hier trat die Tänzerin Olga Desmond (siehe Kapitel 4.1.2) – zugleich Gattin des Herausgebers der Zeitschrift die Schönheit86 – als »lebendiges Marmorbild« auf.87 Die Unbeweglichkeit des Tableau vivants gehörte ebenfalls zu den Legitimierungsstrategien, mit denen die künstlerisch gestaltete Nacktheit der Zensur entging.88 John E. Keidel liefert eine Erklärung für die Wirksamkeit dieser Strategie, wenn er zwischen beweglichen nackten Menschen und Marmor-Akten differenziert: Bei jenem [Marmorleib] empfindet man unbewusst, dass zu dessen Gestaltwerden nur Steinstücke fielen – man sieht in ihm nur das Blosse, das einen persönlich nichts angeht. Bei einem Lebe-Leibe dagegen – mag er noch so
85
GAY, Peter 1986: Erziehung der Sinne: Sexualität im bürgerlichen Zeitalter. München: Beck, S. 390.
86
Die Schönheit wurde erstmals 1902 veröffentlicht, sie war unter den zahlreichen Publikationen das langlebigste Organ der Bewegung (Köhler 1986, S. 294f.). Im Umfeld dieser Zeitschrift verfocht die Aktkunst einen eigenen Kampf für die Nacktheit, wobei sie von der Freikörperkultur vehement unterstützt wurde. (Wedemeyer-Kolwe 2004, S. 197f.).
87 88
Linse 1989, S. 25. Dieses Verfahren wird thematisiert in dem Film Mrs. Henderson Presents, welcher das Windmill Theatre in London porträtiert, das somit der Zensur des Lord Chamberlain entgeht. In England bestand das Gesetz, das die kinetische Nacktheit verbot, bis in die vierziger Jahre. (Vgl. JARRETT, Lucinda 1999: Striptease: Die Geschichte der erotischen Entkleidung. Berlin: Rütten & Loening, S. 67.
66 | THEATER DER N ACKTHEIT plötzlich vor einen hintreten – empfindet man als Kulturmensch unbewusst die voraufgegangene Entblössung, man fühlt sich sozusagen mit entblösst. – 89
Entscheidend ist die Empathie mit dem ›Lebeleib‹ (oder dem vitalen, beweglichen Körper), und die Fähigkeit, Fremdscham zu empfinden, durch welche der Anblick des Nackten unsittlich wird, beim reglosen Körper ist diese Gefahr gebannt. Die Unbeweglichkeit ist die Zähmung des sich auf natürliche Weise bewegenden Körpers, der ein Element des Unvorhersehbaren birgt, das es auszuschalten gilt. Richard Ungewitter ist ein Anhänger des Hellenismus, er verklärt die antike Körperschulung und sieht in ihr die Voraussetzung für die Schöpfung griechischer Kunstwerke: »[…] so verdient dennoch dieses Volk hinsichtlich seiner Körperkultur die allergrößte Beachtung, denn kein anderes Volk hat in der Nacktgymnastik ähnliches geleistet. Darum hat auch kein Volk ein so schönes Ebenmaß leiblicher Bildung in dieser Weise verwirklicht und der Nachwelt so viel hervorragende Kunstwerke hinterlassen als die Griechen.«90 Den Bezug zur Schönheit proklamiert vor allem die mit der Nacktkulturbewegung in engem Bezug stehende Körperkulturbewegung, welche den schönen, idealen Körper in den Mittelpunkt stellt, der mit Hilfe von Gymnastik, Yoga und Kraftsport bestmöglich geformt werden sollte.91 Vor allem vonseiten der zahlreichen Gymnastiklehrer(innen) – die bekanntesten sind Bess Mensendieck, Hedwig Hagemann, Jørgen Peter Müller und Hans Surén92 – wird die Schönheit des Körpers als oberstes Ziel der sportlichen Betätigung gefordert und somit die Nacktheit legitimiert: Gerade in der Forderung jenes Sportes, den Körper nicht durch unnötige Bekleidung zu belasten, liegt ja die Möglichkeit, den Körper verschönern zu wollen. Denn der sich dem Auge anderer Menschen bietende schöne Körper wirkt als Ansporn auf jene, nun am eigenen Leibe nach Möglichkeit zu erreichen, was sie hier als Ideal vor sich sehen. Schon aus diesem Grunde ist es bei gymnastischen Vorführungen Pflicht, ausdrucksmäßig und formal schöne Menschen auf das Podium zu stellen, ebenso wie es im Film und bei
89
Keidel 1909, S. 38.
90
Ungewitter 1907, S. 83.
91
Siehe hierzu Wedemeyer-Kolwe 2004, S. 290-388.
92
Siehe Spitzer 1983.
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Photographien oberstes Gebot sein muß, nur Körper zu zeigen, die gymnastisch durchgebildet sind und durchaus sachlich auf den Betrachter wirken. All jene Nacktkulturzeitschriften, die mit Vorliebe ungeschulte nackte Körper mit Blüten im Haar und mit am Meeresstrande wehenden Schleiern präsentieren, haben – mögen sie auch noch so ernsthaft geboten werden – viel dazu beigetragen, daß das Wort Nacktkultur bei den meisten Menschen einen Beigeschmack birgt.93
Sehr dogmatisch und fast schon besessen von der Idee des ›schönen Menschen‹, was angesichts der unverhohlen rassistischen Aussagen anderer Vertreter der Nacktkultur hellhörig werden lässt, verteidigt Hagemann hier die Notwendigkeit des nackten Körpers. Ihre Strategie der Legitimation der Nacktheit durch Verweis auf die Schönheit wird verstärkt durch die Abweisung des Natürlichen, einer Strategie, mit welcher viele andere Vertreter des Naturismus (sic!) die Nacktheit erfolgreich verteidigen konnten. ›Schönheit‹ wird in diesem Zusammenhang verstanden als der Disziplin unterworfene Züchtigung des Körpers, welche keinen Platz lässt für sinnlich-natürliche Wolllust, die in der Vorstellung der Körperkulturbewegung den Gegenpol darstellt. Dass diese Auffassung von Schönheit und Natur in der Gymnastikbewegung durchaus verbreitet war, zeigt die Aussage von Dora Menzler: Hinzufügen will ich nur noch, daß für uns, die wir Vertreterinnen der Körperkultur sind, das Nackte nur Mittel zum Zweck ist. Wir gebrauchen die Nacktheit nur der Körperkultur wegen, treiben aber nicht Körperkultur der Nacktheit wegen. Es ist auch ein großer Unterschied, ob man Körperkultur unbekleidet in der Natur treibt, oder ob ein Körper sich unbekleidet sozusagen in die Natur stellt. Schmachtende Frauen am Meeresstrand, nach Früchten greifende Evastöchter, wie man sie auf sogenannten Schönheitsbildern sieht, haben nichts mit gesunder, ernster, ja herber Körperkultur zu tun.94
Menzler ist bemüht, jeden Ruch von Sinnlichkeit und Erotik von ihrem Gymnastikprogramm im Freien fernzuhalten, die Betonung liegt
93 94
Hagemann 1927, zitiert nach Andritzky 1989, S. 64. MENZLER, Dora 1924: Die Schönheit deines Körpers: das Ziel gesundheitlich-künstlerischer Körperschulung. 5. Auflage. Stuttgart: Dieck & Coin, zitiert nach Andritzky 1989, S. 61.
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eindeutig auf der »herben Körperkultur«, der reinen Ertüchtigung des Körpers. Auch der omnipräsente Rekurs auf die Schönheit ist ein Ausdruck der Zivilisation. Der nackte Mensch darf nicht so sein, wie er ist, sondern muss bestimmten Anforderungen genügen. Erst dann darf der derart geformte Körper gefahrlos nackt präsentiert werden, vor dieser Präsentation steht indes die mühevolle Arbeit am ehemals natürlichen Körper. Mehrfach wird postuliert, dass nur der schöne, trainierte Körper gezeigt werden dürfe und nicht der ungeschulte Körper in einer natürlichen Umgebung wie beispielsweise dem Strand. Der sublimierte Körper wird hier zur Absicherung, weil die Vertreter der Nacktkultur fürchten, dass der natürliche Körper einen unsittlichen ›Beigeschmack‹ haben könne. Hier zeigt sich noch einmal ganz deutlich die Macht der Körper-Zivilisation, die es unmöglich erscheinen lässt, einen durchschnittlichen Körper zu zeigen. Ironischerweise nennen sich die Verfechter dieser Legitimationsstrategie Naturisten, doch von dem Naturzustand des Körpers hat sich ihre Ideologie von der Gestalt des Leibes weit entfernt. Der schöne Körper wird einem Kunstwerk gleichgesetzt, welches nicht dem schönen Menschen allein gehört, sondern vielmehr der ganzen Menschheit.95 Mit der Verleugnung der Individualität wird auch jeglicher unkeuscher Gedanke negiert, das Erringen eines schönen Körpers wird zum obersten Ideal und das Anschauen desselben zum legitimen Akt, dem nichts Voyeuristisches mehr anhaftet. Die Behauptung, dass der schöne Körper nicht dem schönen Menschen allein gehöre, sondern der ganzen Menschheit, ist ein weiteres Indiz für Naturfeindlichkeit. Hier zeigt sich eine Tendenz der Entindividualisierung, wie sie typisch für die Körperzivilisation ist, denn der der Allgemeinheit gehörende Mensch muss gemäß den geltenden Normen den Geschmack der Masse treffen, er kann indes keine eigenen, beziehungsweise keine von der Masse abweichenden Vorstellungen einbringen. Angesichts ihrer Aktivitäten trägt die Körperkultur, welche auch Schönheitswettbewerbe ausrichtete, theatrale Züge, da die Konkurrenzen vor einem Publikum ausgetragen wurden, welches sich an dem auf der Bühne Dargebotenen erfreute. Richard Ungewitter schreibt begeistert über einen Besuch in einem Berliner ›Spezialitäten-Theater‹, in
95
Die Schönheit 1903, S. 557, zitiert nach Mosse 1987, S. 67.
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dem er das wohl erstmalige Auftreten von Nacktringern bewunderte. Die damalige Presse nahm dies entrüstet auf, wiewohl wenige Jahre später »schon in allen größeren zoologischen Gärten fremde Menschenrassen vorgeführt [wurden], die oft nur mit einem Lendengürtel bekleidet sind, so daß man seine helle Freude hat beim Bewundern dieser herrlichen, geschmeidigen, kräftigen Gestalten.«96 Ungewitter bezieht sich auf die zwischen 1870 und 1940 sehr populären Völkerschauen, welche eine frühe Sonderform der theatralen Nacktheit darstellen. Die Berufung auf die Schönheit wurde indes auch entlarvt, wie etwa durch den Schriftsteller John E. Keidel in seiner Abhandlung Nacktes und Allzunacktes (1903), indem er eine sehr subjektive Grenzziehung zwischen notwendiger, keuscher, sowie negativer, lüsterner Nacktheit vornimmt: »Man hat versucht, da Kunst vorzuspiegeln, wo gar keine Kunst in Frage steht, da Schönheit hineinzuschwärzen, wo nur Gesundheit in Betracht kommt, und hat die Schönheit des lebenden menschlichen Körpers dazu gemissbraucht, um der Lüsternheit ein Mäntelchen umzuhängen.«97 Trotzdem war der Verweis auf die Notwendigkeit von Körperschönheit und -Kräftigung ein wirksames Argument, da die Werte und Normen des Naturismus (Kraft, Leistung, Ästhetik, Gesundheit, Selbstfindung, Individualismus) den bürgerlichen Wertekanon widerspiegelten und die Nacktkultur dem bürgerlichen Schönheitsideal entsprach.98 Die Zeitschrift Die Schönheit rief jährlich zu einem Preisausschreiben auf, in welchem die Leser selbst gefertigte Fotografien nackter Menschen einreichen konnten. »Aufnahmen im Atelier oder Zimmer wirken sehr leicht pikant oder unnatürlich, es werden daher Freilichtaufnahmen in schöner Natur die meiste Aussicht haben, bei Prämierung und Ankauf berücksichtigt zu werden […].«99 Die Nacktheit auf diesen Bilder wurde durch das natürliche Setting legitimiert.100 Gerade
96
Ungewitter 1907, S. 63.
97
Keidel 1909, S. 3.
98
Wedemeyer-Kolwe 2004, S. 282.
99
Beiblatt zur Schönheit III 1906, S. 9, zitiert nach Köhler 1996, S. 295.
100 Hinsichtlich der Natürlichkeitsstrategie der Fotografie ist die Frage nach der Wirkung des nackten Körpers auf der Bühne besonders interessant, da die Theatersituation (meist Guckkasten-Bühne mit heller, künstlicher
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die Aktfotografie, welche zur Zeit der Nacktkultur eine Blütezeit erlebte, rekurriert stark auf die Dichotomie der Komplexe Natur/ Paradies/Unschuld und Stadt/Laster. Die Bildsprache protestierte gegen die Entfremdung des Körpers in der Industrialisierung mittels einer naiven und kitschigen Darstellung des nackten Körpers in der unberührten Natur. Durch die Paradiessymbolik und die Betonung der Unschuld sollte jegliche sexuelle Konnotation des Nackten ausgeräumt werden.101 Die Aktfotografen waren bemüht, alles Gekünstelte, an die verkommene moderne Welt erinnernde und somit Anzügliche und Erotische zu vermeiden und nach dem Ideal des Natürlich-Schlichten, Authentischen zu streben, was den Bildern der naturistischen Periodika ein amateurhaftes Aussehen verlieh, wiewohl die Fotografien professionell hergestellt wurden.102 Das Bestreben der Aktfotografen, den natürlichen und unschuldigen Körper zu zeigen, spiegelt am ehesten die ursprünglichen Ideale der Nacktkulturbewegung wieder, welche den Körper von seinem Joch befreien wollte. 1903 unterschied die Zeitschrift Nacktheit und Photographie allerdings in einer ihrer Ausgaben zwischen Nacktheit und dem unbekleideten Körper, »dieser war Gegenstand der Photographie; jene ein ›heiliges Mysterium‹ und die ›Krönung der Schöpfung‹. Nacktheit müsse im Unterschied zu schlichter Abwesenheit von Kleidung als Element der reinen, verehrungsvollen Kontemplation der Natur dargestellt werden.«103 Wenngleich die Termini etwas ungenau sind, wird hier genau im Sinne Kenneth Clarks argumentiert. Hieran zeigt sich, wie schwierig es war, die Natur des Körpers wirklich anzunehmen. Zwar wird hier mit dem Naturbegriff argumentiert, doch diese Natur ist wiederum eine sublimierte.
Beleuchtung) dem genauen Gegenteil der natürlichen Umgebung entspricht. 101 SCHMIDT-LINSENHOFF, Viktoria 1989: »Körperseele«, Freilichtakt und Neue Sinnlichkeit. In: RAUTENBERG, Thomas; ANDRITZKY, Michael (Hrsg.) 1989: »Wir sind nackt und nennen uns Du«: Von Lichtfreunden und Sonnenkämpfern; eine Geschichte der Freikörperkultur. 1. Auflage. Gießen: Anabas, S. 124-129, S. 126ff. 102 Köhler 1996, S. 294. 103 Zitiert nach Mosse 1987, S. 66.
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Der Bund Deutsche Hellas beruft sich auf die Natürlichkeit des nackten Körpers und verweist auf die Nacktheit neugeborener Kinder sowie auf die Schöpfung Gottes (nackte Menschen), welche die Kirche nicht verurteilen kann, somit auch nicht die Nacktheit in der Kunst, da diese lediglich das (nackte) Leben abbildet: »Sind wir Menschen dafür verantwortlich, wenn unser Leib verachtungswürdig ist? Wo bleibt da die Kirche mit ihrer Logik, da sie doch behauptet, alles was Gott geschaffen hat, ist gut, schön und vollkommen? Warum bezieht sich diese Erkenntnis nicht auch auf den Menschen?«104 Ein deutlicher Anhänger der religiös-mystischen Strategie ist der Maler Fidus, dessen bekanntestes Bild Lichtgebet den Rückenakt eines androgynen, die Sonne anbetenden Jünglings zeigt. Magnus Weidemann vergleicht den nackten Tanz in der Sonne mit einem »wortlos bekennende[n] Gebet, für Alle an den Einen über ihnen und in ihnen.«105 Weidemann ist überzeugt von der Harmlosigkeit des nackten Körpers und dessen Fähigkeit, reinen Herzens mit dem entblößten Körper dem Schöpfer zu danken, Körper und Seele sind eins (Körperseele) und beide keusch, weswegen sich der Nackte nicht schämen muss, sondern sich in göttlicher Gnade befindet. In der späten Freikörperkultur kommt es schließlich zu eigenen Religionsentwürfen um die Nacktheit.106 So schlüssig die Legitimationsstrategien auch wirken mögen, sie erfuhren dennoch sogar aus den eigenen Reihen Kritik: Auch in Paris gibt es Nacktdarstellungen. Aber es fällt dem Pariser nicht im Traume ein, etwa behaupten zu wollen, daß er sie aus »künstlerischen« Interessen besuche. Das überläßt er den – ich finde keinen besseren Ausdruck – »ehrpusseligen« Deutschen. Der Franzose hat wenigstens den Mut zu seinen Begierden, und ich muß offen bekennen, daß ich das immer noch anständiger und geschmackvoller finde als die Tartüfferien unserer angeblichen Kunstenthusiasten, die noch schnell erst eine neue Religion gründen müssen, damit sie sich mit ruhigem Gewissen ihrem »Amüsement« hingeben können.107
104 Deutsche Hellas, zitiert nach Linse 1989, S. 39. 105 WEIDEMANN, Magnus 1925: Körper und Tanz. Rudolstadt: Greifenverlag, zitiert nach Andritzky 1989, S. 58. 106 Wedemeyer-Kolwe 2004, S. 281. 107 GROTTHUSS Jeannot Emil Freiherr von 1909: Aus deutscher Dämmerung. Stuttgart: Greiner & Pfeiffer, S. 298, zitiert nach KRÜGER, Arnd
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Jeannot Emil Freiherr von Grotthuß entlarvt die Bemühungen der »ehrpusseligen« Deutschen als Ablenkmanöver für ihr erotisch motiviertes Treiben. Wenngleich die Vordenker der Nacktkultur kraft ihrer Überzeugung über den Verdacht der Lüsternheit erhaben sind, so ist doch anzunehmen, dass die steigende Beliebtheit der Nacktkultur und die hohen Auflagenzahlen der Publikationen durchaus auch erotischvoyeuristischen Interessen geschuldet waren. Die Analyse der Legitimationsstrategien zeigt, wie gespalten das Verhältnis der Nacktkultur zu den Themenkomplexen Nacktheit und Natur war. Im frühen ideologischen Kern durchaus gegen die Unterdrückung des Körpers gerichtet, wurde die Nacktheit indes schnell sublimiert und dadurch wieder zivilisiert. Ungeachtet dessen war die Nacktkultur nötig, um den Weg zu ebnen für die Nacktheit auf der Bühne.
1992: Zwischen Sex und Zuchtwahl: Nudismus und Naturismus in Deutschland und Amerika. In: FINZSCH, Norbert; ANGERMANN, Erich (Hrsg.) 1992: Liberalitas: Festschrift für Erich Angermann zum 65. Geburtstag. Stuttgart: Steiner, S. 343-366, S. 346f.
4.
Nacktheit auf der Bühne im Kaiserreich und in der Weimarer Republik
4.1 D IE S OLISTINNEN Keine Theatergattung hat die Nacktheit auf der Bühne im ausgehenden 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts so bereitwillig genutzt und sogar so benötigt wie der Tanz. Wenngleich auch die Oper Versuche unternahm, Nacktheit zu zeigen, wie im April 1907 in München bei der Hauptprobe von Salomé, so wurden diese Experimente doch von den Behörden auf Antrag der Sittlichkeitsvereine unterbunden. Die Tänzerin Maud Allan, welche bei Max Reinhardt nackt auftreten sollte, bekam die Auflage, ihren Körper mit Perlenschnüren zu verhüllen.1 Auch Gertrud Eysoldt und Tilla Durieux spielten die Salomé, Durieux in einem bauchfreien Haremsgewand mit knappen Leibchen.2 Olga Wojan war in Eugen Roberts Berliner Experimentiertheater Die Tribüne in Frank Wedekinds Franziska nackt zu sehen. Theobald Tiger alias Kurt Tucholsky ließ Trude Hesterberg im Kabarett Schall und Rauch dazu kommentieren: Trag du als Iphigenie Dessous, jedoch recht wenige. Zieh dich aus, Petronella, zieh dich aus!
1 2
LENNARTZ, Ernst 1908: Duncan, She, Desmond. Köln: Benzinger, S. 25. HAUSTEDT, Birgit 1999: Die wilden Jahre in Berlin: Eine Klatsch- und Kulturgeschichte der Frauen. 1. Auflage. Dortmund: Edition Ebersbach, S. 39.
74 | THEATER DER N ACKTHEIT Denn du darfst nicht larmoyant sein, Denn nur so wirst du bekannt sein. Und es jubelt bald das ganze Haus: Zieh dich aus, Petronella, zieh dich aus.3
Die Nacktheit provozierte, sie war indes nicht mehr so überraschend und neu, als dass sich nicht schon das Kabarett ihrer angenommen hätte. Hartnäckiger und erfolgreicher beim Einsatz der Nacktheit war der Tanz, hier emanzipierten sich die Protagonisten des beginnenden Ausdruckstanzes von den überkommenen Formen des klassischen Balletts. Ein Paradigmenwechsel fand statt von der streng reglementierten danse d’école zum Individuellen als Charakteristikum des ›Natürlichen‹ und ›Freien‹ der Tanzreform um 1900.4 Der stilisierte, artistische Bewegungen ausführende Körper wurde von den Zwängen des Spitzenschuhs und Korsetts befreit, barfuß, in kurzen, fließenden Gewändern oder nackt wurde der Körper zum Medium des neuen Ausdrucks. Oftmals gut vertraut mit den Zielen und Gebräuchen der Lebensreformbewegung, nannten sich die neuen Tänzerinnen ›Reformtänzerinnen‹, ein euphemistisches Synonym für Barfußtänzerin, was freilich oftmals ebenfalls ein Pars pro Toto darstellte, wenn die Tänzerinnen weit mehr als nur die Füße entblößten.5 Der Fuß wurde zum entscheidenden Zeichen für die Befreiung des Tanzes, seine Entblößung markierte den Übergang vom alten zum neuen Tanz auf stärkere Weise als die Enthüllung des gesamten Körpers, wie Marie-Luise Becker konstatiert: »Alle übrige Nacktheit konnte diesen Umsturz nicht hervorbringen. Nur der nackte Fuß schuf jenen Unterschied der Tanzkunst, jene farbenreiche Skala der Variatio-
3
PEM (PAUL ERICH MARCUS) 1962: Heimweh nach dem Kurfürstendamm: Aus Berlins glanzvollsten Tagen und Nächten. Berlin: Blanvalet, S. 37f.
4
BRANDSTETTER, Gabriele 1995: Tanz-Lektüren: Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde. Original-Ausgabe. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, S. 59.
5
»Seitdem liess ich jedem Direktor die Wahl zwischen diesen beiden Bezeichnungen, die ›Barfusstänzerin‹ war für die Naiven, die ›Reformtänzerin‹ für die weiter Vorgeschrittenen.« (VILLANY, Adorée-Via 1912: Tanz-Reform und Pseudo-Moral: kritisch-satyrische Gedanken aus meinem Bühnen- und Privatleben. O.O.: Eigenverlag, S. 169).
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nen, die im Abstande zwischen Ballett und einem Duncantanze liegen.«6 Diese Überbetonung des entblößten Fußes, der in Europa zu keiner Zeit besonders erotisch konnotiert war, liegt in der Emanzipation vom Spitzenschuh begründet, welcher wie kein anderes Requisit oder Kostümteil das klassische Ballett symbolisiert. Der Spitzenschuh ist ein Instrument der Zivilisation des Körpers, da er den Fuß wegen der Schönheit der Darstellung in die nötige Form bringt, um die widernatürliche Bewegung auf der Fußspitze zu ermöglichen. Spitzentanz ist die Überwindung natürlicher physischer Grenzen, welche für die meisten Menschen unmöglich ist. Der Tanzkritiker Frank Thiess bemerkt, dass das Kostüm nicht nur den Kunstwert des Tanzes, sondern auch seine Existenz bedingt.7 Thiess erweitert aber auf progressive Weise das Kostüm auf den nackten Körper. Sein Kostümverständnis setzt nicht Kleidung als Konstituens voraus, sondern sieht das Kostüm als Ort der Oberfläche. Diese generiert sich nicht aus Stoff, sondern vielmehr aus Farbe, Form und Bewegung. Derartige Qualitäten spricht er dem nackten Körper zu, womit dieser zum legitimen Kostümersatz wird: Er bringt nämlich etwas mit, was das schönste Kostüm dem Körper niemals geben kann, die Beseelung. So sehr ein Kostüm auf Tanz und Hintergrund abgestimmt sein mag, so souverän es vielleicht die Tänzerin zu tragen weiß, das Spiel der Muskeln unter der Haut, die feinen Nuancen von Schatten und Licht auf dem nackten Körper, die Verbindung aller Gebärden durch die glatte Fläche, die tausendfältigen wechselnden, schimmernden, flüchtigen und durch Licht und Scheinwerfer zu unerhörten Wirkungen zu bringenden Wellungen des lebendigen Fleisches erschaffen ein Kostüm, das sich in einem Maße dem Tanze und der Tänzerin anpaßt wie kein Kleid der Welt.8
6
BECKER, Marie-Luise 1909: Die Sezession in der Tanzkunst. In: Bühne und Welt 12. Jahrgang 1909/10, 1. Halbjahr, S. 29, zitiert nach OCHAIM, Brygida 1998: Varietétänzerinnen um 1900. In: OCHAIM, Brygida Maria; BALK, Claudia 1998: Varieté-Tänzerinnen um 1900: Vom Sinnenrausch zur Tanzmoderne. Frankfurt am Main, Basel: Stroemfeld, S. 69-116, S. 76.
7
THIESS, Frank 1923: Der Tanz als Kunstwerk: Studien zu einer Ästhetik
8
A.a.O, S. 87.
der Tanzkunst. 3., verbesserte Auflage. München: Delphin-Verlag, S. 82.
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Über die Nacktheit als Kostüm spricht auch Isadora Duncan in ihrem Vortrag Der Tanz der Zukunft (siehe Kapitel 4.1.4). Während die Ballerina eine »technisch konstruierte[…] Kunstfrau – körperlich zurechtgebogen nach den Bildern männlicher Choreographen«9 war, sind die neuen Tänzerinnen Vertreterinnen eines veränderten, emanzipierten Frauenbildes. Anders als im Ballett spielten die Ausdruckstänzerinnen ihre Rollen nicht, sie verkörperten sie ganz und gar, das klassische ›Als-ob‹ der Theatersituation hatte sich in das Ausdrucksvermögen der Tänzerinnen aufgelöst.10 Besonders evident wird diese Praxis bei Anita Berber, die ihren eigenen selbstzerstörerischen Lebensstil auf die Bühne brachte und ungeschönt die Härten des Alltags während der Inflationszeit in ihren Choreografien verarbeitete. Mata Hari perfektionierte die Fusion von Bühnenrolle und Lebenswirklichkeit, indem sie sich gemäß ihrer indischen Tempeltänze eine entsprechende Biografie als Bajadere erdichtete. Hari legitimierte ihre Nacktheit mit der Religion: Auf Java […] habe ich von frühester Kindheit an die tiefe Bedeutung dieser Tänze gelernt, die einen Kult, eine Religion darstellen. Nur wer dort geboren und aufgewachsen ist, ist von ihrem religiösen Gehalt durchdrungen und kann ihnen jene ernste Note verleihen, auf die sie Anspruch haben.11
9
MÜLLER, Hedwig 2000: Von der äußeren zur inneren Bewegung. Klassische Ballerina – moderne Tänzerin. In: Möhrmann, Renate (Hrsg.) 2000: Die Schauspielerin: Zur Kulturgeschichte der weiblichen Bühnenkunst. 1. Auflage. Frankfurt am Main u.a: Insel, S. 321-341, S. 325. Hedwig Müller merkt an, dass die Ballerinen in den klassischen Kostümen nach dem Bekleidungsverständnis des 19. Jahrhunderts als nackt galten, da sie Knöchel und Wade enthüllten. Die engen Strumpfhosen und das steife, tellerartige Tutu taten ihr Übriges, die Ballerina als unsittlich abzustempeln. (A.a.O., S. 327).
10
»Der zum ästhetischen und weltanschaulichen Programm erhobene Habitus des Individuellen im freien Tanz – gekoppelt mit einem nahezu bei allen Vertreterinnen ausgeprägten Widerstand gegen Dokumentation, Skizzen oder gar Notation ihrer Tänze – läßt den konventionellen WerkBegriff in diesem Kontext obsolet erscheinen.« (Brandstetter 1995, S. 25).
11
BALK, Claudia 1998: Vom Sinnenrausch der Tanzmoderne. In: OCHAIM, Brygida Maria; BALK, Claudia 1998: Varieté-Tänzerinnen um 1900:
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Die Pionierinnen des freien Tanzes wie Isadora Duncan beeindruckten viele Tanz-Eleven und bestärkten sie in ihrem Wunsch, sich vom klassischen Tanz zu neuen, durch den nackten Körper verstärkten, Ausdrucksformen hinzuwenden: Während das Ballett vom Rücken her linear die Balance bestimmte und strengen Regeln folgte, tanzten wir, von allen Regeln befreit, aus dem Bauch heraus. Unsere Themen waren: der Aufstand, die Leidenschaft, die Liebe, die Gefangenschaft, die Versklavung, der Tanz mit dem Wind, die Eroberung des Raumes, und vieles mehr. […] Befreit von den Vorurteilen unserer Eltern, verstanden wir nicht, warum der Po eines Menschen unanständiger sein sollte als sein Kopf. Und so tanzte ich mit 17 Jahren selig und beschwingt am Strand von Schilksee, splitternackt, wie Gott mich geschaffen hatte.12
Die Themen, die Lotti Huber hier nennt, betreffen nicht nur die Befreiung des Menschen als Person, sondern auch seinen Körper. Statt der Handlung stand nunmehr der Tanz, die Bewegung selbst im Mittelpunkt, wodurch die Bedeutung des Körpers in entscheidender Weise aufgewertet wurde. Der Tanz folgte keinem formalen Bewegungskodex mehr, sondern diente allein dem Ausdruck der inneren Bewegung der Interpretin, er wurde zur vertanzten Körperseele:13 Sie wollen das Körpergefühl wecken, stärken und läutern und dadurch den Menschen befähigen, dem tiefinnersten Triebe der Natur zu folgen und seinen Willensimpulsen durch rhythmische Körperbewegung erlösenden Ausdruck zu geben. Das wunderbare Gefühl der Befreiung und Läuterung, das jede Körperbewegung, soweit sie Gefühlsausdruck ist, begleitet, strömt aus dem mehr oder weniger klaren Bewußtsein, daß hier Hemmungen überwunden, Schranken zerbrochen werden, die widernatürlich und in tiefstem Grunde lebensfeindlich
Vom Sinnenrausch zur Tanzmoderne. Frankfurt am Main, Basel: Stroemfeld, S. 7-68. S. 37; WAAGENAAR, Sam 1964: Sie nannte sich Mata Hari: Der erste wahre Bericht über die legendäre Spionin. Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe, S. 149 und 151. 12
HUBER, Lotti 1991: Diese Zitrone hat noch viel Saft!: Ein Leben. Original-Ausgabe, 7. Auflage. 71.-80. Tsd. St. Gallen, Berlin: Edition. Diá, S. 15. Die Themen, die Huber hier nennt, finden sich bei Isadora Duncan und Anita Berber wieder.
13
Balk 1998, S. 58.
78 | THEATER DER N ACKTHEIT sind. Je mehr der Leib des Kulturmenschen in allen seinen Teilen von angeborener und anerzogener Lähmung erlöst wird, desto unbehinderter kann dieses Gefühl sich auswirken, und es findet höchste Gipfelung im Tanz.14
Die Überwindung der Hemmungen, die der Tanzkritiker John Schikowski hier anspricht, sind paradigmatisch für die Vertreterinnen des Nackttanzes, die Befreiung des Körpers vom Kostüm ist die logische Konsequenz aus dem Drang, die eigenen Gefühle in natürliche Bewegungen umzusetzen. Da der Körper zum zentralen Medium wird, werden seine physikalischen Eigenschaften nicht mehr wie im Ballett negiert, statt des bislang idealisierten Eindrucks der Schwerelosigkeit wird die Masse des Körpers sichtbar und generiert den Bewegungsausdruck. Innerhalb des neuen Tanzes gibt es zwei Hauptrichtungen, welche die Thematik der Choreografien betreffen: das Griechische (wie bei Isadora Duncan) und das Exotische (beispielsweise bei Adorée Villany). Durch die Rückbesinnung auf das Griechische sollen genuine Muster von Natur und Natürlichkeit für den neuen freien Tanz reaktiviert werden.15 Gabriele Brandstetter teilt die Quellen, auf die sich die Antikenrezeption des freien Tanzes stützt, in drei Staffelungen ein: • Zum einen die Kunst der Präraffaeliten mit ihrem Rückgriff auf die
Renaissance und über diese wiederum hinaus auf die Antike; so fand Isadora Duncan einen Zugang zur Renaissance, etwa zu Botticelli und zur griechischen Kunst, über die Bekanntschaft mit den Gemälden der Präraffaeliten; • Zum anderen der Bezug zur Antike über das Griechenland-Bild des 18. Jahrhunderts, insbesondere über die von J. J. Winckelmann geprägte Idee der idealen Schönheit des nackten Körpers, wie sie sich in den Darstellungen griechischer Statuen präsentiert (Isadora Duncan, wiederum als Beispiel, liest während ihres London-Aufenthalts 1898/99 die englisch übersetzten Werke Winckelmanns); • Und schließlich der Wiedergeburts-Gedanke der Renaissance selbst, der die Auffassung von der Kunst und der Kultur der griechischen
14
SCHIKOWSKI, John 1926: Geschichte des Tanzes. Berlin: Büchergilde Gutenberg, S. 131.
15
Brandstetter 1995, S. 45f.
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und der römischen Antike im 15. und 16. Jahrhundert in das Selbstverständnis der Epoche überträgt.16 Das starke Interesse an orientalischen Tänzen, welches bei vielen Interpretinnen mit der Nacktheit einherging, wurde befeuert durch die Eindrücke der Aufführungen javanischer, kambodschanischer und japanischer Tanz- und Schauspielgruppen im Rahmen der Weltausstellung in Paris 1900, wodurch die traditionellen europäischen Tanzformen mit neuen Impulsen und Ideen versetzt wurden.17 Die Hinwendung zu außereuropäischen Bewegungskulturen ist wie die Rückbesinnung auf die Antike als Ausdruck der Zivilisationskritik und Reaktion auf den westlichen entfremdeten Körper zu sehen. Wo sich die Lebensreform der Natur in Form einer renaturalisierten Lebensweise zuwandte, suchten die neuen Tanzformen im Exotismus ihr Heil.18 Die künstlerischen Gefahren und die fadenscheinig verborgene Fluchttendenz dieser Zuwendung zum Exotischen erkannte der Tanzkritiker Werner Suhr: Bleibt nur der Vorbehalt, ob jene Darstellungen denn auch Geist und Stil, das Gefühl des Orientalischen bzw. des Asiatischen tragen, ob sie nicht ein nur uns Europäer entflammender, begeisternder, Milchmarsch sind von ganz westeuropäischen abendländischen Empfindungen mit einigen mysteriös anzüglichen, vielleicht falschen Ornamenten?19
Die exotischen Tänze, welche mit der Weltausstellung nach Europa kamen, waren erotischer als die westliche Tanztradition, die auf den christlichen Moralvorstellungen fußte. Der indische Schlangentanz und der orientalische Bauchtanz beeinflussten sowohl den nackten Kunsttanz als auch den Striptease.20 Nach dem Ersten Weltkrieg fungierte die Nacktheit nunmehr auch als Ventil für die Unterdrückung durch die Prüderie und die Traumata des Krieges, vor allem auf den Berliner Bühnen wurden zunehmend freizügige Shows gezeigt:
16
Brandstetter 1995 S. 148.
17
A.a.O., S. 207.
18
A.a.O., S. 208.
19
SUHR, Werner 1927: Das Gesicht des Tanzes. Hamburg: Laurer, S. 10.
20
Jarrett 1999, S. 7f.
80 | THEATER DER N ACKTHEIT Und da man nicht mehr die Kraft zur Hemmungslosigkeit hatte, so berauschte man sich an den Hemmungslosigkeiten der anderen. Nackttanz wurde die große Mode des Jahres 1922. Hier, in den geheimen Bars und Dielen, hatte man teil an dem Laster der Zeit, fand man sich selbst sehr verrucht und behielt doch das tröstliche Bewußtsein seiner bestrenommierten Bürgerlichkeit.21
Maurus Pacher attestiert der Nachkriegsgesellschaft ein Bedürfnis, aus welchem eine »Runter-mit-den-Klamotten-Welle« resultiert, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg Fress- und Reisewellen gibt.22 Neben den unzähligen, namenlosen Girls der Haller- und Charell-Revuen und unbekannten Varietétänzerinnen, deren Ziel die Unterhaltung der Massen darstellte, reklamierten zahlreiche ernsthafte Tänzerinnen die Nacktheit als ihr Mittel der Wahl. Der nackte Tanz um die Jahrhundertwende erscheint – bis auf die bemerkenswerte Ausnahme Sebastian Droste (siehe Kapitel 4.1.7) – als genuin weibliches Phänomen. Dieses liegt zum einen praktisch wirtschaftlich darin begründet, dass weibliche Tänzerinnen einem überwiegend männlichen Publikum besser zu verkaufen waren und zum anderen in der Ideologie der Lebensreform, welche die Schönheit des Ausdrucks, unter welche der Tanz zu subsumieren ist, als weibliche Domäne ansah, während dem Manne die Schönheit der Kraft gehörte. Letztendlich aber sind beide Erklärungen Ausdruck eines Moralverständnisses, das die nackte Frau viel eher tolerierte als den nackten Mann.23
21
LANIA, Leo 1929: Der Tanz ins Dunkel. Berlin: Schultz, zitiert nach FISCHER, Lothar 1988: Tanz zwischen Rausch und Tod, Anita Berber: 1918-1928 in Berlin. 2., verbesserte Auflage. Berlin: Haude und Spener, S. 27. Zum Verhältnis Nacktheit und Nachkriegszeit siehe auch KOTHES, Franz-Peter 1977: Die theatralische Revue in Berlin und Wien 19001938: Typen, Inhalte, Funktionen. Wilhelmshaven: Heinrichshofen, S. 69.
22
PACHER, Maurus 1987: Sehn Sie, das war Berlin: Weltstadt nach Noten.
23
FISCHER, Hans W. 1928: Körperschönheit und Körperkultur: Sport,
Frankfurt am Main: Ullstein, S. 151. Gymnastik, Tanz. Berlin: Deutsche Buch-Gemeinschaft, S. 8. Dementsprechend teilt Fischer sein Kompendium über die Körperkultur auch in die beiden Teile »Schönheit der Kraft« und »Schönheit des Ausdrucks« ein.
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Neben den Sittlichkeitsvereinen, welche massiven Anstoß an der neuen Blöße der Tänzerinnen nahmen, gab es zahlreiche Tanzkritiker, die dem reformierten Kostüm gegenüber durchaus aufgeschlossen waren. In Paul Nikolaus’ Buch Tänzerinnen sprach sich der Illustrator Ernst E. Stern für die Nacktheit aus, da das Tanzkostüm nur sinnfällige Zutat sei, der tanzende Körper stehe im Vordergrund und dürfe nicht durch das Kostüm verdrängt werden.24 Stern, Gegner des klassischen Balletts und Verfechter des modernen Ausdruckstanzes, sieht in dem nackten Körper die optimale Erscheinung der Tänzerin: »Niemals kann der Tanz reiner und stilvoller verinnerlicht werden als wenn er uns hüllenlos den (gut gewachsenen) Körper zeigt. Auch diese Phase des Tanzes wird wiederkommen.«25 Hans Brandenburg fordert in seinem 1914 erschienenen Der moderne Tanz die Nacktheit der Tänzer: Wir haben zur Nacktheit ein teils unkultiviert-triebhaftes, teils platonischklassizistisches Verhältnis. Nur die vollendete Kunst könnte sie uns in ihrer ganzen sittlichen und schönheitlichen Bedeutung zurückerobern, nicht die forcierten Versuche der Schwärmer und Fanatiker. […] Ich bin mir klar darüber, daß ich mich mit meinem Wunsche nicht auf das öfter als schön vorgeheuchelte Gebiet einer neutralen Geschlechtslosigkeit bewege. Aber keine Frau ist vor Begehrlichkeiten geschützt, und vielleicht am wenigsten, je mehr sie sich in Hüllen versteckt […] Und sollte die Tanzkunst nicht gerade aus unseren mächtigsten Trieben ihre mächtigsten Vorteile ziehen?26
Brandenburgs Überlegungen sind recht vage und vorsichtig formuliert, er sehnt einen idealen Tanz herbei, den er wahrscheinlich so bei keiner der Tänzerinnen gefunden haben dürfte. Dennoch zeigt seine Argumentation im Sinne der Inversionsstrategie, dass nicht nur das den weiblichen Reizen aufgeschlossene Publikum – dessen Bedürfnisse Brandenburg ja gerade nicht durch den nackten Tanz bedient wissen möchte – die neuen Tendenzen im Tanz begrüßte, sondern auch die intellektuelle Seite der Kritik. Die Zeit war reif für den nackten Tanz und die Argumente seiner Befürworter.
24
NIKOLAUS, Paul 1919: Tänzerinnen. München: Delphin-Verlag, S. 87.
25
A.a.O., S. 87.
26
BRANDENBURG, Hans 1913: Der moderne Tanz. München: Müller, S. 139f.
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Viele Tänzerinnen traten um 1900 in den europäischen und nordamerikanischen Varietés mehr oder weniger nackt auf, Maud Allan, La Golue, Mata Hari, Cléo de Mérode, La Belle Otéro, Saharet, Claire Bauruff, Josephine Baker, die Geschwister Wiesenthal und viele andere haben auf ihre Weise die Geschichte des (nackten) Tanzes geprägt.27 Innerhalb dieser Arbeit soll der Schwerpunkt auf Olga Desmond, Celly de Rheydt, Isadora Duncan, Ruth St. Denis, Adorée Villany und Anita Berber liegen. Olga Desmond und Celly de Rheydt sind Stellvertreterinnen des kommerziellen, nur wenig ideologisch legitimierten Nackttanzes. Isadora Duncan, Ruth St. Denis und Adorée Villany begründeten ihre Nacktheit mit dem Bezug auf Antike, Natur und Religion. Anita Berber schließlich steht für eine radikale, physische, nicht sublimierte Nacktheit. 4.1.1 Motivik: Salomé und Phryne Neben ihren ureigenen Choreografie-Motiven haben die Tänzerinnen Motive, welche ständig wiederkehren und variiert werden. Das bekannteste ist das Salomé-Motiv, welches durch die Adaptionen von Oscar Wilde (1891) und Richard Strauß (1905) in der Zeit um die Jahrhundertwende überaus populär war. Bereits 1906 trat die Tänzerin Bianca Frouelich mit dem Dance of the Seven Veils bei Florence Ziegfeld auf, die Folies Bergère zeigten im Jahr darauf in ihrer ersten Follies-Revue eine Salomé-Nummer.28 Die Salomé wurde zu einem gängigen Theatermotiv, 1907 erschien in den Münchner Neuesten Nachrichten ein Spottgedicht über Maud Allan, das wie folgt begann: Neues von Salomé. Wo ich geh und wo ich steh, Stoß ich auf die ›Salomé‹! Anfangs hört’ man sie sich äußern Einzig in den Schauspielhäusern,
27
Vgl. Ochaim; Balk 1998. Loie Fullers Serpentinentänze haben Tanzgeschichte geschrieben, befinden sich aber außerhalb des Gegenstandes dieser Arbeit.
28
KLOOSS, Reinhard; REUTER, Thomas 1980: Körperbilder: Menschenornamente in Revuetheater und Revuefilm. Frankfurt am Main: Syndikat, S. 42.
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Wo, mit Schleiern nur verschanzt, Sie uns etwas vorgetanzt. Aber schon nach kurzer Pause Wurde auch im Opernhause ›Salomé‹ uns vorgeführt, Weil der Strauß sie komponiert. Und nun wurde immer toller Dieser Salomé-sche Koller. Alles, was in Versen winselt Komponiert und Bilder pinselt, Nahm als dankbares Sujet Sich sofort die Salomé. […]29
Adorée Villany, die ihre eigene Salomé-Interpretation 1905 herausbrachte, schreibt in ihren Erinnerungen: »Jedes kleine Café chantant leistete sich eine ›Salome‹ – eine ›Tanz-Poetin‹, eine ›Aegypterin‹ und eine ›Silhouette‹ […].«30 Salomé ist die Stieftochter des Herodes, welche sich in den Propheten Jochanaan verliebt. Als dieser nicht auf ihre Verführungsversuche eingeht, rächt sich Salomé: Sie tanzt für Herodes den ›Tanz der Sieben Schleier‹ und fordert als Lohn den Kopf Jochanaans in einer silbernen Schüssel. Salomé küsst den Mund des Toten, wegen dieser Tat lässt Herodes seine Stieftochter tanzen. Salomés Verführungstanz, der Tanz der sieben Schleier, steht im Fokus der Tänzerinnen, da Salomé immer mehr Schleier ablegt, bis sie schließlich nackt vor Jochanaan steht. Der große Reiz der SaloméDarstellung liegt im Wechselspiel des Verhüllens und Entkleidens, welches die Darbietung eindeutig erotisch konnotiert, eine Wirkung, derer sich die Künstlerinnen durchaus bewusst waren. Salomé ist der Inbegriff der Femme fatale und ist – obschon als literarische Figur von Männern entdeckt – als Symbol für die beginnende Emanzipation der Frau am Anfang des 20. Jahrhunderts zu
29
Münchner Neueste Nachrichten vom 22.04.1907, zitiert nach Ochaim 1998, S. 115.
30
Villany 1912, S. 125. Einen Überblick über »die Salomé-Darstellerinnen auf der modernen Bühne« gibt BECKER, Marie-Luise 1906: Die SaloméDarstellerinnen auf der modernen Bühne. In: Bühne und Welt, 9. Jahrgang, (Oktober 1906-März 1907), Bd. 1, S. 439–447.
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sehen. In Aubrey Beardsleys Illustrationen zu Oscar Wildes Salomé sind hünenhafte Frauen mit Turmfrisuren und riesigen Phalloi zu sehen, welche zarte, effeminierte Männer bedrohen. 1907 präsentierte Maud Allan ihre Salomé im Münchner Schauspielhaus. Die Zensoren, welche die Aufführung vorab sahen, verboten die erotische Darstellung aufgrund von Unzüchtigkeit. Münchner Künstler setzten sich für Allan ein, sodass die Aufführung als geschlossene Veranstaltung zustande kam. In London zeigte sie ihre Inszenierung 18 Monate vor ausverkauftem Haus.31 Allans Darbietung war eine Gratwanderung zwischen dem seriösen Tanz nach biblischen Motiven und der erotischen, lasziven Bewegung, welche bis dato auf der Varieté-Bühne beheimatet war. 1908 tanzte Ida Rubinstein in St. Petersburg die Salomé in einer Choreografie Michel Fokines. Anita Berber übergoss in ihrer Salomé-Darstellung ihren nackten Körper mit Blut, diese radikale Darstellung steht in Kontrast zu den roten Schleiern (!) der Adorée Villany und nimmt die Ästhetik und Methodik des Orgien-Mysterien-Theaters vorweg (siehe Kapitel 6.4.2): She immerses her hands in the pot of Jokhanon’s blood. Slowly the sexobsessed maiden crosses her arms over her stomach, letting the red liquid drip down her genitals and thighs. In ecstatic poses, she staggers forward. But her impure passion is not yet quenched. Salome holds her royal cape high and disappears inside it. Then she drops the cape and presses her crowned head against the top of the holy vessel. Tetrach’s naked daughter triumphantly lies down over Jokhanon's coffin. With her head facing downstage, Salome propels her belly upwards like a slut as she undulates before the prophet’s gory remains.32
Berbers Salomé-Interpretation weist somit eine eindeutige sexuelle Konnotation auf. Verstärkt wird die Provokation durch die Stimulation ihrer Geschlechtsteile durch das Blut Jochanaans. Das Salomé-Motiv wird bis in die Gegenwart von StripteaseKünstlerinnen aufgegriffen:
31
Ochaim 1998, S. 98f.
32
GORDON, Mel 2006: The seven addictions and five professions of Anita Berber: Weimar Berlin's priestess of depravity. Los Angeles: Feral House, S. 159.
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Even today the trade remains touchingly loyal to such old and favoured themes: all over the world kitsch versions of Salome’s dance are commonplace in below-stairs clubs, where John the Baptist’s papier-maché head awaits the call in many a backstage cupboard. Above all, perhaps, the durability of the Salome theme shows how firmly the seven-layer principle remains at the heart of the stripper’s routine – even though her veils may now be transformed into feather boas, and the once-bare feet are firmly booted. 33
Ein weiteres Motiv, welches im nackten Tanz immer wieder aufgegriffen wird, um diesen dramaturgisch zu motivieren, ist die Legende der Phryne. La Belle Otéro und Adorée Villany verarbeiteten diesen Stoff in ihren Choreografien. Phryne war eine griechische Hetäre im 4. Jahrhundert v. Chr. Aufgrund ihrer Schönheit erlangte sie außerordentlichen Reichtum, sie diente Apelles als Modell für seine Anadyomene und Praxiteles für seine Knidische Aphrodite. Phryne wurde der Gottlosigkeit angeklagt wegen ihrer Anmaßung, so schön wie Aphrodite zu sein. Vor Gericht ließ sie ihr Haar herab und zeigte den Anwesenden ihren Körper als Beweismittel. Der Sage nach wurde sie freigesprochen. Die Darstellerin der Phryne legitimiert ihre Nacktheit durch das antike Sujet, sie steht in der Tradition Apelles’ und Praxiteles’, ferner lässt sich Phrynes nackte ›Unschuld‹ auch auf die Tänzerin übertragen: Wenn Phryne freigesprochen wird, ist auch ihre Darstellerin über die Zweifel der Unzüchtigkeit erhaben, der Solotanz hat keine Partner, als Richter werden somit die Zuschauer adressiert, welche in dieser Rolle die Nacktheit zu billigen haben. La Belle Otéro ließ sich in einer Varieté-Aufführung in St. Petersburg nackt auf einem Silbertablett servieren, worauf sich einige Anwesende vor ihr auf die Knie warfen. Ein Zeitungskritiker verglich diese Szene mit Phryne vor ihren Richtern.34 Eric Charell ließ die Tänzerin La Jana derart in einer seiner Revuen für das Große Schauspielhaus in Berlin präsentieren. Die nackte Frau auf dem Tablett ist bis heute ein gängiges Bild, seit Beginn des 21. Jahrhunderts wird es wieder von der Burlesque-Tänzerin Dita von Teese benutzt, welche sich in einem
33
WORTLEY, Richard 1976: A pictorial history of striptease: 100 years of undressing to music. London: Octopus Books, S. 11.
34
OTERO, Carolina 1926: Die Erinnerungen der schönen Otéro. Hamburg: Gebrüder Enoch, S. 239, zitiert nach Ochaim 1998, S. 91f.
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Martini-Glas rekelt. Bei dieser Darstellung wird die Frau zum Objekt, sie wird scheinbar ohne eigenen Willen wie eine Speise im Wortsinne auf dem Silbertablett serviert, bereit, vom Mann verzehrt zu werden. Verfügbarkeit und Unterordnung charakterisieren diese Pose. Wenn sich die Frau indes selbst auf das Tablett legt, konterkariert sie selbstbewusst ihre Verfügbarkeit, diese ist nur Schein. Die Frau wird vom passiven Objekt zur aktiven Femme fatale, nicht mehr der Mann seinen Willen bekommt, sondern die Frau auf dem Tablett. 4.1.2 Die inszenierte Nacktkultur: Schönheitsabende Eng verknüpft mit der Schönheitsbewegung um den Gründer der Zeitschrift Die Schönheit, Kurt Vanselow, sind die von ihm organisierten Schönheitsabende, welche ab dem Jahr 1907 in Berlin und anderen Städten für Furore sorgten. Wenngleich die Schönheitsabende und Vanselow der Nacktkultur zuzuordnen sind, waren nicht alle Vertreter derselben auch Befürworter der Schönheitsabende. Heinrich Pudor verurteilt die Schönheitsabende mehr als die Kleiderkultur.35 Er spricht den Veranstaltungen den Bezug sowohl zur Natur als auch zur Schönheit ab, da die Soireen »nackte männliche und die nackte weibliche Schönheit, aber die Hetärenschönheit, die Dirnenschönheit – nicht die sittliche, sondern die unsittliche Schönheit, nicht die durchgeistigte, sondern die sinnliche Schönheit«36 exhibierten. Pudor kritisiert die Theatralität der Schönheitsabende, wenn wenige Nackte vor den Augen des bekleideten Publikums auf einer Bühne im künstlichen Licht stehen, kann dies nicht den sittlichen Effekt des gemeinsamen Lichtluftbades in der Natur haben. An Pudors Argumentation zeigt sich zum einen der krampfhafte Bezug der Nacktkultur zum Natürlichen (vgl. das geforderte natürliche Foto-Setting der NaturistenPreisausschreiben), zum anderen die liberale Haltung von Vanselows
35
PUDOR, Heinrich 1908: Die Schönheitsabende. In: Sexual-Probleme 4. Jahrgang, Heft 12, S. 828f. In der darauf folgenden Ausgabe, Heft 13, lässt sich eine Replik von Prof. Bruno Meyer finden, der die Schönheitsabende verteidigt. Meyer indes hat keine eigenen Argumente, welche für die Durchführung von Schönheitsabenden sprechen, er versucht lediglich Pudors Ausführungen zu widerlegen mit dem Tenor, dass die Veranstaltungen ja niemandem schadeten.
36
A.a.O., S. 828.
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Gruppierung, die innerhalb der Nacktkultur eine Sonderstellung einnimmt. Pudor befürchtet, dass die Schlagworte Schönheit, Kunst und Nacktkultur dazu missbraucht würden, die auf Erotik spekulierende Jugend anzulocken, wodurch die Nachtkultur diskreditiert würde: Es wird soweit kommen, dass durch dieselben [die Schönheitsabende] den anständigen Freunden der Nacktkultur diese so verleidet wird, dass die ganze Bewegung wieder einmal zurückgeht und niedergehalten wird und wir auf neue fünfzig oder hundert Jahre in Kleiderkultur zurückverfallen.37
In Bezug auf die Sittlichkeitsvereine behält Pudor mit seiner Befürchtung recht, indes bekämpfen diese die gesamte Nacktkultur – Pudors eigene Ideologie eingeschlossen. Der Schriftsteller John E. Keidel erwähnt in seiner Schrift Nacktes und Allzunacktes frühe Vorläufer der Schönheitsabende zwischen 1820 und 1830, welche in eine »Nackt-Kunst-Richtung« eingegliedert waren. Diese Bewegung verfolgte indes keine lebensreformerischen Ziele, im Mittelpunkt stand die Schönheit des nackten menschlichen Körpers. Zu diesem Zwecke wurden sogenannte Exklusives im privaten, oftmals adeligen Kreis gegen hohe Eintrittsgelder abgehalten: In den der Geselligkeit voraufgehenden künstlerischen Darbietungen wechselten ernstgemeinte Bilder mit Parodien ab. Antike Gestalten traten ohne Trikots auf, Tizians Wonnegestalten stellten sich in Modellform vor, Ruben’sches Fleisch stieg aus der Leinwand in all seiner plastischer Natürlichkeit hernieder und wechselte ab mit den drei Grazien (auf der Drehscheibe), die zugleich graziös lächeln konnten, mit lebenden Bildern, wie »Esmeralda mit der Ziege«, »Badende Mädchen« usw.38
Die Reaktionen auf diese Veranstaltungen – wiewohl im Verborgenen abgehalten – waren gemischt, einerseits wurde mit der Keuschheit des künstlerisch dargestellten menschlichen Körpers argumentiert, andere Stimmen kritisierten allgemein die Nacktheit als unsittlich. Der Ber-
37
Pudor 1908, S. 829.
38
Keidel 1909, S. 13.
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liner Polizeipräsident Karl Ludwig Friedrich von Hinckeldey schließlich verbot diese Exklusives.39 Der erste von Vanselow organisierte Schönheitsabend fand am 18.02.1907 im Berliner Mozartsaal unter Beifall der (lebensreformatorischen) Presse statt: Der erste öffentliche Schönheits-Abend im Jahre 1907 wurde eine Sensation in Berlin. Die für den 5. Februar angesetzte Vorführung im Theatersaal der Hochschule für Musik mußte im letzten Augenblick auf Einspruch des Kultusministeriums auf den 18. Februar, diesmal in den weit größeren, 1400 Personen fassenden Mozartsaal am Nollendorfplatz in Berlin verlegt werden. Laut Programm wurden 33 Lichtbilder nach künstlerischen Freilichtaufnahmen menschlicher Körperschönheit – Tanzphantasien (Barfußtänze) von Irene Sanden in neuer Zusammenstellung – und 40 farbige Lichtbilder nach den schönsten Werken von Fidus, Vorführung von Wilhelm Spohr unter der Leitung des »Künstlers« gezeigt. Der Saal war nahezu überfüllt. Die Presse hob einstimmig den beispiellosen Erfolg des Abends hervor. Es war der Kunstabend des Winters. Die besten Kreise unserer Reichshauptstadt, Künstler und Künstlerinnen, Ärzte und Ärztinnen und die sogenan. elegante Welt bildeten die Zuschauer. Agnes Harder im »Leipziger Tageblatt«, um eine Pressestimme für viele zu nennen, kam zu dem Schluß: »Jedenfalls ist dieser erste Versuch, die Schönheit des lebenden Menschen nach Naturaufnahmen einem großen Publikum zugänglich zu machen, vollständig gelungen, und kein Sittenrichter hätte gestern etwas dreinsprechen können«.40
Um der Zensur zu entgehen, waren die Schönheitsabende zunächst als geschlossene Veranstaltungen konzipiert, später waren die Eintrittskarten an öffentlichen Stellen wie dem Kaufhaus Wertheim in Berlin für 10 bis 15 Mark erhältlich.41 Unter den Gästen befanden sich laut Aussage Keidels »zahlreiche bekannte und hervorragende Persönlichkeiten […], darunter auch zur Nacktheit bekehrte, evangelische Geistliche (!), sechs Professoren, ein[…] Hofrat, ein[…] Baron, zwei
39
Keidel 1909, S. 14.
40
Lachendes Leben, Heft 7; 8. Jahrgang, 1932, zitiert nach Andritzky 1989,
41
Lennartz 1908, S. 28; S. 8.
S. 32.
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Bauräte, ein[…] Künstler – Fidus natürlich – und zwei Buchhändler […], die ich hier lieber verschweige!«42 Star des Abends war die Tänzerin Olga Desmond (geborene Olga Sellin, 1891-1964). 1907 schloss sie sich der Artistengruppe Seldoms an, mit welcher sie während eines neunmonatigen Gastspieles im London Pavillon als Venus in »plastischen Darstellungen« auftrat. 1909 sorgte sie im Berliner Wintergarten für einen Skandal, der zu Auseinandersetzungen im preußischen Landtag führte.43 Zusammen mit dem Bodybuilder Adolf Salge stellte sie Aktskulpturen von Stefan Sinding und Reinhold Begas als Tableau vivant nach. Auch Desmond bediente sich des Motivs der Phryne vor den Richtern. Nach Lichtbildern von Akt- und Naturaufnahmen folgte abermals Desmonds Auftritt, in dem sie »mit einigen prächtig gewachsenen jungen Männern lebende Bilder nach dem Gemälden von Stud. Sascha Schneider und anderen Meistern«44 darstellte. Diese Formulierung verdeutlicht, dass es sich bei Olga Desmond um eine Berühmtheit ihres Faches gehandelt haben muss, sie als Frau wurde als Persönlichkeit wahrgenommen, während ihre Kollegen lediglich über ihre physischen Eigenschaften definiert und nicht namentlich genannt wurden. Das Prinzip der lebenden Bilder, welche bereits in Goethes Wahlverwandtschaften beschrieben werden, wurde seit dem 18. Jahrhundert benutzt, um die ausgestellte Nacktheit zu legitimieren. In der astronomie vivante werden nackte Frauen den männlichen Medizinstudenten vorgeführt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erreicht das Verfahren die Theater, in der Londoner Great Windmill Street werden Tableaux antiker Prägung wie Diana the Huntress oder Nymphs Bathing gezeigt. Um 1820 bewertet ein Gremium zu Unterhaltungszwecken den Körperbau der an den lebenden Bildern beteiligten Modellen.45
42
Keidel 1909, S. 16.
43
Ochaim; Balk 1998, S. 126.
44
Sascha Schneider (1870-1927) war mit der Lebensreformbewegung verbunden: Er lebte nach 1914 in Hellerau und gründete dort die die ›KraftKunst‹, ein Institut für Körperausbildung und Erziehung. Die dort trainierenden Modelle zeigte Schneider auf seinen Körperkulturbildern. (Vgl. HERGEMÖLLER, Bernd-Ulrich 2001: Mann für Mann: Biographisches Lexikon. 1. Auflage. Lizenzausgabe. Frankfurt am Main: Suhrkamp.)
45
Klooss; Reuter 1980, S. 44.
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Die Höhepunkte des Abends sieht die Augsburger Abendzeitung in Desmonds Auftritt als Schleiertänzerin (dieses Motiv findet sich bei vielen weiteren Reformtänzerinnen, beispielsweise bei der Darstellung der Salomé, siehe Kapitel 4.1.1) und Schwerttänzerin, in dem sie nur einen Metallgürtel trägt. Der organisierende Kulturverein Schönheit berief sich als »ästhetisch-ethisch-erzieherisches Mäntelchen« selbstverständlich auf die Schönheit: »Der Verein will die Menschen wieder zur Natur zurückführen, sie an den Anblick des nackten Körpers gewöhnen, die Gesundheit, Schönheit und Sittlichkeit fördern (!) …«46 Dr. Ernst Lennartz, Rechtsanwalt und Vorsitzender des ›Verbandes der Männervereine zur Bekämpfung der öffentlichen Unsittlichkeit‹, widmet der in seinen Augen für die nationale Moral äußerst verderbliche Nacktkultur sowie der Zurschaustellung der Nacktheit auf Bühne und im Aktbild ein ganzes Bändchen: Duncan, Desmond, She. Benannt nach drei – in Intention und Rezeption sehr unterschiedlichen – Nackttänzerinnen versucht diese Schrift die Gefahren der Nacktheit aufzuzeigen. Lennartz lässt sich nicht auf die Erklärungsstrategien der Nacktbewegung ein und verortet den Grund für die Zurschaustellung des unbekleideten Körpers allein im Kommerz: Das Weib trat nackt auf die Bühne, in München, in Paris, in Berlin. Aber weshalb die Aufregung? Geschah es denn nicht im Interesse der Schönheit? Der Gesundheit? Geschah es nicht im Interesse der Wahrheit? Geschah es nicht im Interesse der – Sittlichkeit? Haben wir also nicht einen Kulturfortschritt vor uns, den wir freudig begrüßen, fördern und – mitmachen sollen? Ja, so saget ihr, ihr Jünger und namentlich ihr Arrangeure dieses »Fortschritts« im Interesse Eurer – Sinnlichkeit, im Interesse – Eures Geldbeutels.47
Der Vorsitzende der Sittlichkeitsverbände hat die Argumente der Nacktbewegung erkannt und nennt sie beim Namen: Schönheit, Gesundheit, Wahrheit, Sittlichkeit; er subsumiert aber alles diskussionslos unter verwerfliche Sinnlichkeit und Profitgier. Neben den oben genannten positiven Assoziationen, mit denen die Körperkultur die Nacktheit auf der Bühne legitimieren will, wird der Bezug zur Antike hergestellt, man proklamiert »den Anbruch einer
46
Augsburger Abendzeitung, zitiert nach Lennartz 1908, S. 4.
47
A.a.O., S. 7.
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Kulturepoche für die Menschheit, weil nunmehr die Scheu vor der ungeschminkten menschlichen Natürlichkeit überwunden sei, und unser Volk zurückkehre zu dem griechischen Idealismus mit seiner reinen Freude am nackten und am natürlichen Wechselverkehr beider Geschlechter«.48 Doch auch dieser Bezug wird von den Gegnern der Bewegung nicht akzeptiert: Zu keiner Zeit, auch nicht im alten Griechenland, haben ehrbare Frauen oder Mädchen sich irgendwie in der Oeffentlichkeit nackt gezeigt. Die Tänzerinnen, die bei Gastmählern zur Unterhaltung der Gäste herangezogen wurden, waren Sklavinnen und Dirnen […].49
Die Darstellung der lebenden Bilder, welche von den Organisatoren der Schönheitsabende bereits gewählt wurden, um sich dem Verdacht der Unsittlichkeit zu entziehen, wurde von ihren Gegnern kritisiert, es wäre nicht kunstsinnig, Plastiken mit lebendem Material zu stellen. 50 Während die Nachbildung des menschlichen Lebens in der Plastik ein Kunstwerk sei, sei dessen mimische Nachbildung minderwertig, da der Mimus der bildenden Kunst zum einen eh unterlegen sei und zudem eine schlechte Kopie des ursprünglichen Kunstwerkes.51 Neben der Statik der nachgestellten Plastiken bediente man sich zusätzlich einer Art Bodypainting, Desmond und Salge gaben ihren Körpern einen Marmorton, der Körper der Tänzerin She wurde mit Bronze-Farbe bearbeitet, was ihr den Beinamen »Goldene Venus« einbrachte.52 Die Körperfarbe wird von dem Gründer des Crazy Horse in Paris, Alain Bernadin, als Artifizierung des nackten Körpers gesehen, durch welche dieser eine erhöhte Keuschheit und Schönheit einer neuen Qualität erhält: […] meine nackte Frau hat mehr an, als wenn sie angezogen wäre. Sie ist ganz mit einer Spezialschminke überzogen, die stark gefärbt ist und dem Körper
48
Lennartz 1908, S. 9. Vgl. auch Ochaim 1998, S. 104: »Dies [der nackte Tanz] soll eine Wiederherstellung der griechischen Kunst sein und propagiert anschauliche Unverhülltheit«.
49
Kölnische Zeitung, zitiert nach Lennartz 1908, S. 39.
50
Lennartz 1908, S. 8.
51
A.a.O., S. 39.
52
A.a.O., S. 25f. Vgl. auch Keidel 1909, S. 84.
92 | THEATER DER N ACKTHEIT einen Seidenglanz schenkt. Sie trägt einen Halsschmuck, der ihre Grübchen am Schlüsselbein verdeckt […] Sie trägt Handschuhe, die ihre Armlinien verkürzen, und Stiefel oder farbige Strümpfe, die ihr Bein verschönern. Das Sichtbare, das nun noch übrigbleibt, ist die Essenz aller Schönheit des Frauenkörpers: ein Gesicht, der Busen, ein kurviger Leib. Außerdem: dieser verführerisch lockende Körper ist dennoch nicht ganz nackt: Er ist in Licht gekleidet.53
Der »verführerisch lockende Körper« ist dringend erwünscht, er muss aber makellos und entindividualisiert sein. Während die Sittlichkeitsvereine gegen die Schönheitsabende kämpften, sprach sich der Künstler Reinhold Begas, dessen Plastiken von Desmond und ihrem Partner nachgestellt wurden, für die Veranstaltungen aus, die Vorstellungen seien durchaus anständig. Als involvierter Künstler bedient er sich einer Inversionsstrategie, um die Darbietungen zu rechtfertigen: Werden die Menschen nie einsehen, daß gerade durch die Nacktheit die Sittlichkeit gehoben wird? Es ist das teilweise Nackte, das kurze Kleid und die dekolletierte Robe, die die Sinne reizt. Wenn die Leute mit unlauteren Gedanken zu einer solchen Vorstellung gehen, so ist das die Schuld unserer bis jetzt verkehrten Erziehung. Möge jeder, der eine solche Vorstellung besucht hat, seine Gefühle analysieren; er wird überrascht sein, wie wenig Erotik er dabei entdecken wird.54
Wenngleich die Schönheitsabende einen wichtigen Punkt in der Entwicklung der Nacktheit auf der Bühne während des Kaiserreiches darstellen und als Bindeglied zwischen Nacktkultur und Theater fungieren, nehmen sie doch eine periphere Stellung in der Historie des Tanzes ein.55 Diese resultiert aus dem halbprivaten Charakter der Veranstaltungen und der mangelnden künstlerischen Präsenz der Protago-
53
Alain Bernadin, zitiert nach ANNEVILLE, Henri; BUCHWALD, Art; KATZ, Mikael 1971: Girls of the world famous Crazy Horse Saloon, Paris, France: A book about one of the monuments of Paris. Zürich: VerlagsPresse Zürich, S. 13.
54 55
Lennartz 1908, S. 41. Alleine Claudia Balk sieht in Desmond mehr als eine Varieté-Attraktion, sie sieht die Tänzerin vielmehr als verdienstvolle Wegbereiterin der Tanzmoderne (Balk 1998, S. 23).
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nistin Olga Desmond, die Namen ihrer Partner werden bis auf Adolf Salge noch nicht einmal namentlich erwähnt. Desmonds Wirken bleibt im Wesentlichen auf die Schönheitsabende und Engagements mit ähnlichem Inhalt beschränkt und werden nur im Zusammenhang mit der Schönheitsbewegung von den Naturisten auf der einen und den Sittlichkeitsvereinen auf der anderen Seite registriert. Anders als beispielsweise bei Isadora Duncan existieren keine Manifeste, welche die künstlerischen Intentionen über den Augenblick der Aufführung und die subjektiv gefärbte Berichterstattung der Presse hinaus für die nachfolgenden Generationen greifbar machen. Ihre temporäre Berühmtheit verdankt Olga Desmond ihrem Mut zur vollkommen Nacktheit: »Die Duncan ist keine Attraktion mehr. Die Olga Desmond erfüllt nur, was jene – darunter auch die Duncan – noch nicht wagten«, sagt in dankenswerter Offenherzigkeit die Königsberger Allgemeine Zeitung, eine begeisterte Verehrerin der Duncan und der – Desmond.56
4.1.3 Celly de Rheydt Celly de Rheydt (eigentlich Cäcilie Schmidt) war die berühmteste kommerziell orientierte Nackttänzerin der Weimarer Republik. Ihr Ballett Celly de Rheydt umfasste eine Gruppe von circa fünf minderjährigen Mädchen im Alter von 14 bis 20 Jahren. Getanzt wurden kurze, dem Publikumsgeschmack entsprechende Choreografien mit Titeln wie »Vampire«; »Salome«, »Opium-Vergiftung«, »Tanz der Gladiatoren« oder »Czardas«. Orientalische Bauchtänze wurden aufgrund der sexuellen Konnotation der Beckenbewegung von der Zensur verboten.57 In einer Pantomime stellte Celly de Rheydt eine Ordensschwester dar, welche, dem Bruch des Keuschheitsgelübdes fälschlicherweise angeklagt und den Ausschluss aus dem Konvent fürchtend, vor einer Marienstatue auf die Knie fällt und sich auszieht. Die Statue, von einer anderen Tänzerin dargestellt, erwacht zum Leben und schließt die Sünderin in die Arme, welche zum Altar eilt und ein Kruzifix umarmt. Der wohlkalkulierte blasphemische Tabubruch
56
Lennartz 1908, S. 21.
57
JELAVICH, Peter 1996: Berlin cabaret. 3. Auflage. Cambridge, Mass.: Harvard University Press, S. 156.
94 | THEATER DER N ACKTHEIT
wurde von de Rheydts Ehemann Alfred Seveloh als »göttliche Offenbarung der Keuschheit« deklariert.58 Zum Ensemble gehörten für eine kurze Zeitspanne auch Anita Berber und ihr späterer Partner Sebastian Droste. Droste ist der einzige männliche Nackttänzer der Weimarer Republik, dessen Darbietungen bis heute überliefert sind, und scheint auch in Rheydts Ballett eine Ausnahme gewesen zu sein. Mel Gordon beschreibt Droste als Orpheus, der auf seiner Bühne thronend die nackten Schönheiten der Unterwelt wohlwollend betrachtet.59 Es ist wahrscheinlich, dass Drostes Kostüm im Vergleich zu den Tänzerinnen recht vollständig gewesen sein muss, was das damalige Geschlechterverhältnis widerspiegelt: Der angezogene Mann betrachtet nackte Frauen und ergötzt sich an ihrem Anblick, Orpheus auf der Bühne tut dasselbe wie die (männlichen) Zuschauer im Publikum. Rheydts Ehemann Alfred Seveloh, ein ehemaliger Oberleutnant, befand, dass man mit nackten Tänzen in Berlin zu Geld kommen könne und veranstaltete ab 1919 entsprechende Darbietungen in der Wohnung des Verlegers der Zeitschrift Reigen, Wilhelm Borngräber. Von der Organisationsstruktur entsprachen diese Veranstaltungen den Schönheitsabenden, sie waren indes in keinerlei Ideologie eingebunden, sondern dienten ausschließlich den wirtschaftlichen Interessen der Veranstalter und den erotischen Wünschen der Zuschauer. Der Schriftsteller Paul Marcus (PEM) erinnert sich, dass er, nachdem er als vertrauenswürdig eingestuft worden war, von Schleppern auf der Straße angesprochen wurde, ob er Interesse an Nackttänzen hätte, worauf er in die Privatwohnung Sevelohs geführt wurde. Eine Flasche Sekt, welche im Hotel Kempinski 1,50 Mark gekostet hätte, wurde mit 10 Mark berechnet, das Eintrittsgeld betrug 20 Mark. Peter Jelavich nennt Preise bis zu 100 Mark, welche während der Landwirtschaftswoche, zu der de Rheydt und Seveloh noch einmal gesondert annoncierten, bis auf 1000 Mark gestiegen sein sollen.60 Das Publikum zeigte sich zunächst angetan von den nackten Tänzerinnen, später jedoch konnten die Privatveranstaltungen nicht mehr mit den Reizen der Prostitution mithalten: Dort konnte der Kunde ›mehr‹ zu einem
58
Jelavich 1996, S. 157.
59
Gordon 2006, S. 117.
60
Jelavich 1996, S. 156.
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AUF DER
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besseren Preis bekommen.61 Durch die Freundschaft mit Borngräber wurde über das Ballett Celly de Rheydt auf Hochglanzpapier im Reigen berichtet, womit man schließlich auch den Theaterdirektor Rudolf Nelson überzeugen konnte, sein Haus während der Sommerpause an die Truppe zu vermieten. Auf Nelsons Einwand, dass er keine Prostitution in seinem Theater haben wolle, entgegnete Seveloh, dass das Ballett Celly de Rheydt keine »Cochonnerie«, sondern »Schönheit und Kunst« böte62. 1919 fand die Uraufführung des Filmes Carneval – das Bacchanal der Schönheit der Celly de Rheydt-Tanzund Film Co, Berlin statt.63 Rheydt und Seveloh gründeten ihre Tanztruppe aus wirtschaftlichen, nicht aus künstlerischen Überlegungen, worauf die Privatveranstaltungen und das latent kriminelle Umfeld derselben – PEM fürchtet, überfallen zu werden, als er von dem Schlepper in die Wohnung gebracht wird – schließen lassen. Dennoch bemühte auch Seveloh Legitimationsstrategien für die Nacktheit seiner Tänzerinnen: Er behauptete, dass diese von der klassischen Kunst inspiriert seien und ihre Tänze dazu dienen sollten, die durch den Krieg in ihrer Moral erschütterte Nation wieder aufzurichten. In einem Programmheft schrieb er 1919, dass das Ensemble hoffe, Schönheit in seiner reinsten und wahrhaftigsten Form, in der Form von Gottes Schöpfung der Frau, bringen zu können. Er vergleicht die Tänze mit der sublimierten hellenistischen Kunst, welche die Inspirationsquelle Celly de Rheydts sei.64 In seinen Conférencen stellte er ebenso Bezüge zur Tanzkunst Isadora Duncans her.65 Die Konkurrenzunternehmen indes sparten sich die Legitimation: Labeled Nachtlokals, these makeshift and illicit establishments brought nude amateur dancers and free-spending spectators into giggly, warm contact. Fiftyminute »Beauty Nights« were offered here without lectures or philosophical
61
Es sollen aber auch Prostituierte gegen eine Gebühr Eintritt gefunden haben, um, ähnlich wie bei den Folies Bergère in Paris, bei den Veranstaltungen ihre Kunden zu akquirieren. (Jelavich 1996, S. 156).
62
PEM 1962, S. 31.
63
Pacher 1987, S. 150.
64
Jelavich 1996, S. 155f.
65
Gordon 2006, S. 36.
96 | THEATER DER N ACKTHEIT charade. One could even purchase companionship or outright sexual risson with one or more of the panting artistes.66
Sevelohs Legitimationen können so gewertet werden wie jene der Schönheitsabende Olga Desmonds – als Vorwand für tänzerische Darbietungen, die dem Amüsement des Publikums dienen sollten, nicht aber dessen moralischer Erbauung. Dementsprechend wurden die »Hopsereien« von Rheydts amateurhaften Tänzerinnen durch Augenzeugen wie PEM auch als harmlos und nicht-obszön, dafür aber auch als langweilig bewertet. Die Zeitschrift Das Tagebuch druckte unter dem Titel Die nackten Mädchen der Celly de Rheydt einen Artikel von Kurt Pinthus, in welchem er die klaren Motive der Zuschauer noch einmal unverhohlen benennt: Der Tatbestand also ist: einige schöne Mädchen stellen sich allabendlich nackt (oder so gut wie nackt) dem Publikum tänzerisch zur Schau. Welchem Publikum aber? Keineswegs besichtigen Liebhaber hoher geistiger Kunst dies Ballett, nicht Intellektuelle oder Tanzsachverständige, – sondern »Leute aus dem Volk«, Besucher aus der Provinz, Kaufleute, Beamte, Angestellte, sogenannte »Schieber« … direkt herausgesagt: Leute, die eben hingingen, um schöne nackte Mädchen tanzen zu sehen. Der Conférencier hatte also ganz recht, wenn er (was Zeugen und Staatsanwalt als Schuldbeweis auslegten) dem Publikum das Ballett allabendlich ankündigte: »Jetzt kommt das, weshalb sie eigentlich hierher gekommen sind.« Dies Publikum kam nicht, um zu hören, wie der hundertste Komiker zum hundertsten Male seine schmierigen Pointen hinlegte, nicht um dem zweideutigen Chanson einer verschminkten Soubrette zu lauschen, die nicht hätte wagen dürfen, auch nur ihre entstellten Brüste zu entblößen, – sondern dies Publikum kam nur, um schöne Mädchen nackt tanzen zu sehen.67
66
Gordon 2006, S. 35.
67
Nacktsport, Bd. 3. 1922, zitiert nach FISCHER, Lothar 1989: Getanzte Körperbefreiung. In: RAUTENBERG, Thomas; ANDRITZKY, Michael (Hrsg.) 1989: »Wir sind nackt und nennen uns Du«: Von Lichtfreunden und Sonnenkämpfern; eine Geschichte der Freikörperkultur. 1. Auflage. Gießen: Anabas, S. 106-123, S. 117.
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Dem zweimonatigen Sommergastspiel schlossen sich Engagements in weiteren Theatern an. Die überaus erfolgreiche und lukrative Truppe fand bald Nachahmer, wie das Salome-Ballett Theo Oppermanns um dessen Lebensgefährtin Salome: Wenn Celly Morphium gab, zeigte Salome Opium.68 De Rheydts Erfolg – und der vieler anderer Nackttänzerinnen – fiel in die Zeit der Inflation in Deutschland, weswegen sich das nackte Fleisch schnell als preiswerte Attraktion herumsprach. PEM berichtet über »Holländische Arbeitergesangsvereine, schwedische Lehrerklubs, tschechische Handwerkervereine«.69 Berlins Nachtleben war zum Ausflugsziel geworden, in dem jede sexuelle Extravaganz für ein Taschengeld verfügbar war. 1923 wurden de Rheydt und Seveloh wegen unzüchtiger Auftritte angeklagt, worauf die ehemals nackten Tänzerinnen nun Busenschützer tragen mussten und die Betreiber zu einer Geldstrafe verurteilt wurden.70 Kurz darauf löste de Rheydt ihr Ballett auf und zog sich ins Privatleben zurück. In Ödön von Horvaths Volksstück Geschichten aus dem Wiener Wald träumt die Protagonistin Marianne von einer Ausbildung in rhythmischer Gymnastik im Stil der Hellerau-Schule: ALFRED Aber die Mariann hat doch nichts gelernt in puncto Berufsleben. Das einzige, wofür sie Interesse hat, ist die rhythmische Gymnastik. DER HIERLINGER FERDINAND Rhythmische Gymnastik ist immer gut! […] DER HIERLINGER FERDINAND Rhythmische Gymnastik ist zu guter Letzt nur eine Abart der Tanzerei – und da wirkt uns vielleicht ein Stern. Ich kenne nämlich auf dem Gebiete der Tanzerei eine Baronin mit internationalen
68
PEM 1962, S. 37. Eine weitaus bekanntere Morphium-Choreografie in-
69
A.a.O., S. 36.
70
Der Prozess wird sehr ausführlich bei Peter Jelavich beschrieben, Jela-
des stammt von Anita Berber (siehe Kapitel 4.1.7).
vich erweckt allerdings durch seine starke Fokussierung auf die juristischen Auseinandersetzungen den falschen Eindruck, dass der nackte Tanz in der Weimarer Republik aufgrund der Zensur nur eine sehr untergeordnete Rolle in der Theaterlandschaft spielte. (Jelavich, 1996, S. 154165.)
98 | THEATER DER N ACKTHEIT Verbindungen und die stellt so Ballette zusammen für elegante Etablissements – das wären doch eventuell Entfaltungsmöglichkeiten!71
Marianne, vom Vater ihres Kindes verlassen, muss sich ihren Lebensunterhalt in einem Nachtlokal verdienen, wo sie in einer »sensationellen, von ersten Künstlern entworfenen, hochkünstlerischen, lebendigen« Aktplastik auftritt: »Die ›Träumerei‹ von Schumann erklingt und der Vorhang teilt sich zum dritten Male – eine Gruppe nackter Mädchen, die sich gegenseitig niedertreten, versucht einer goldenen Kugel nachzurennen, auf welcher das Glück auf einem Bein steht – das Glück ist ebenfalls unbekleidet und heißt Marianne.«72 Diese Szenenanweisung beschreibt Mariannes Engagement im Ballett der Baronin. Sowohl die Beschreibung der Baronin als auch der Inhalt der tänzerischen Darbietung legen die Vermutung nahe, dass Celly de Rheydt und ihr Ballett Horvath als Vorbild gedient haben können. 4.1.4 Isadora Duncan Isadora Duncan gehört zu den Pionierinnen des Ausdruckstanzes. Sie befreite den Tanz von den Konventionen des klassischen Balletts mit seinen Attributen Spitzenschuhe und Ballettkostüm und etablierte den freien Tanz mit bloßen Füßen und im griechischen Chiton. Gordon MacVay macht in Duncans Werk zwei schöpferische Leitmotive aus: »ein brennendes Verlangen, ihren Sinn für natürliche Bewegung auszudrücken (und zu diesem Ziel eine Tanzschule zu gründen), zusammen mit einer Verachtung traditioneller, ›bourgeoiser‹ Werte.«73 Beide Leitmotive sprechen für ihr Interesse, den Körper im Tanz aus den zivilisatorischen Normen zu befreien.
71
HORVATH, Ödön von 1970: Geschichten aus dem Wiener Wald. In: HORVATH, Ödön von; HILDEBRANDT, Dieter; HUDER, Walter; KRISCHKE, Traugott (Hrsg.) 1970: Gesammelte Werke. Band 1: Volksstücke, Schauspiele. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 158-251, S. 201f.
72 73
A.a.O., S. 228. MACVAY, Gordon 1980: Isadora and Esenin: The story of Isadora Duncan and Sergei Esenin. London: Macmillan, S. 5, zitiert nach GUMPERT, Gregor in DUNCAN, Isadora 1988: Memoiren. Ungekürzte Ausgabe. Frankfurt am Main, Berlin: Ullstein, S. 231.
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Der Bezug ihres Werkes zur Natur manifestiert sich in ihrem Vortrag Der Tanz der Zukunft, den sie 1903 in Berlin hielt, die Verachtung der Bourgeoisie enthüllt ihre Vita: Isadora Duncan wurde 1877 in San Francisco als Tochter einer Musiklehrerin geboren. Bereits als Kind spielte sie mit ihren drei Geschwistern Theater und erteilte nach eigener Aussage den Kindern der Nachbarschaft Tanzunterricht. In ihrer Autobiografie erwähnt Duncan keinen klassischen Tanzunterricht, allerdings nennt die Balletthistorikerin Ann Daly Marie Bonfanti – welche auch Ruth St. Denis unterrichtete – als Lehrerin: »Isadora Duncan … Isadora Donkey! Das ist doch kein Tanz, was immer Enthusiasten sagen mögen. Als ob herumspringen mit nackten Füßen das erste künstlerische Prinzip des Tanzes wäre …«.74 Bonfantis Urteil zeigt den Konflikt zwischen Ausdruckstanz und klassischem Ballett: Die freie Bewegung, das »Herumspringen« opponiert gegen die streng festgelegten Bewegungen des Balletts. Im Selbststudium machte Duncan sich mit Platos Republik sowie den Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides vertraut, diese Werke las sie während der für sie langweiligen Proben einer ›Schmierentournee‹, an der sie als junges Mädchen teilnahm.75 Seit ihrer Jugend von der Antike fasziniert, las sie Winckelmanns Reise nach Athen, deren Tragik sie von der Armut und misslichen Situation der eigenen Familie ablenkte.76 1899 emigrierte die Familie nach Europa, wo sie in verschiedenen Städten lebte. In London besuchte Duncan mit ihrem Bruder das British Museum, Raymond fertige Skizzen der griechischen Vasen und Basreliefs an, Isadora kopierte zu Hause die dargestellten Bewegungen »nach Musikstücken, die mit dem Rhythmus der Beine, der dionysischen Kopfhaltung und dem Werfen des Thyrsusstabes harmonisch übereinstimmten«.77
74
Zitiert nach SCHMIDT, Jochen; DUNCAN, Isadora 2000: Isadora Duncan: »Ich sehe Amerika tanzen«. Original-Ausgabe. München: List-Taschenbuch-Verlag, S. 34.
75
Duncan 1988, S. 30. Gregor Gumpert wertet die posthum erschienenen Memoiren als unzuverlässige Quelle, da sie auf der Grundlage von Duncans Zitaten zusammengestellt wurden, dennoch liefern sie ein hilfreiches Bild, was Duncans Inspirationen und ihre Ansicht über Nacktheit auf dem Theater angeht. (Duncan 1988, S. 221.)
76
A.a.O., S. 40.
77
A.a.O., S. 42.
100 | THEATER DER N ACKTHEIT
Wie viele andere Kritiker bezweifelt Hans Brandenburg die Originalität und den künstlerischen Wert dieses Verfahrens: Und damit treffen wir den Punkt, wo ihr Griechentum seinen allgemeingültigen Wert und seine aktuelle, zukunftsträchtige Bedeutung verlor. Da die Duncan nämlich ihre richtigen Erkenntnisse in der Praxis wegen des erwähnten Mangels durch Vorbilder stützen mußte, entwickelte sie aus den Körpergebärden der antiken Vasenbilder und Plastiken nicht nur das gerechte Beispiel einer ewiggültigen Körperschönheit, sondern ahmte jene im einzelnen nach.78
Im Pariser Louvre tanzte sie für sich im Ausstellungsraum der griechischen Keramik. Ein weiteres Kunstwerk, welches großen Einfluss auf Duncans Schaffen ausübte, ist die Primavera von Botticelli. Nicht nur die Philosophie und Tanzkunst der Antike begeisterte Duncan, sie sah ihre Tanzmeister in Jean Jacques Rousseau, Walt Whitman und Friedrich Nietzsche.79 Die Wahl dieser Vorbilder offenbart, dass sich Duncan, anders als die meisten Tänzer, nicht einem Lehrmeister aus dem Bereich des Tanzes verpflichtet fühlt, sondern Philosophen, die selbst niemals praktischen Tanz ausgeübt haben. Duncan geht es nicht um die Ausübung einer athletischen Disziplin, sondern um die Visualisierung ihrer Empfindungen durch den Tanz. In ihrer Vorlesung Tanz der Zukunft bemerkt sie, dass man sie aus dem Arbeitszimmer geholt habe, um den Vortrag zu halten, nicht etwa von der Bühne oder auch dem Tanzsaal, in dem die Balletttänzer täglich ihre Exercises absolvieren. Duncan lernt mit dem Geist, ihr Körper setzt dieses Wissen dann gänzlich unbeeinflusst von den akademischen Lehren des klassischen Tanzes in der ihr eigenen Form um. Die Begeisterung Isadora Duncans und ihrer Familie kulminierte in der Übersiedlung nach Griechenland, welches die Familie auf selbst gewähltem beschwerlichen Weg – sie versuchen die Reise Odysseus’ nachzuempfinden – 1903 erreichte. Auf gleicher Höhe mit der Akropolis sollte auf dem Berg Kopanos ein Tempel nach dem Vorbild des Agamemnon-Palastes errichtet werden als Heimstätte einer Siedlung in Anlehnung an Platons Staat.80 Duncans Pläne verbinden hier die hellenistische Verehrung mit zeitgenössischen siedlungsreformeri-
78
Brandenburg 1913, S. 16.
79
Duncan 1988, S. 60.
80
A.a.O., S. 91f.
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schen Ansätzen. Das Projekt wurde wegen Geldmangels schließlich abgebrochen. In Griechenland studierte Duncan die Chöre antiker Tragödien mit zehn einheimischen Jungen ein, mit denen sie nach ihrer Rückkehr in Wien auftrat. Am 07. und 09.01.1904 tanzte sie von diesem Chor begleitet im Carl-Theater Auszüge aus den Schutzflehenden von Aischylos und den Bacchanten des Euripides. Ein Zuschauer berichtete, dass das Publikum ohne das »Leitmotiv der nackten Beine« wohl »eingeschläfert« worden wäre.81 Auch die Tänzerin selbst musste den Misserfolg ihrer Antiken-Darstellung erkennen: Mein Erfolg am Wiener Carl-Theater war bedeutend. Das Publikum nahm wohl die griechischen Chöre ziemlich kühl auf, geriet aber schließlich in helle Begeisterung, als ich am Ende der Vorstellung »Die schöne blaue Donau« tanzte. In einer Ansprache suchte ich später begreiflich zu machen, mein Hauptziel sei, den Geist der griechischen Tragödie wieder zu beleben. »Wir müssen die Schönheit des Chores wiedererstehen lassen!« sagte ich, aber das Publikum wollte nichts davon wissen: »Nein, nein!« tobte es, »keine griechischen Chöre! Tanzen! Schöne blaue Donau! Weitertanzen!« Der Applaus wollte kein Ende nehmen.82
Ähnliche Reaktionen erlebte sie auch in Berlin. Duncan trat stets barfuß auf und trug einen Chiton oder ein durchsichtiges Gewand, so auch in Bayreuth, wo sie im Tannhäuser tanzte. Cosima Wagner bat sie, unter den Schleiern ein weißes Hemd zu tragen, doch die Tänzerin blieb standhaft: Entweder sie tanzte in ihrem präferierten Kostüm oder überhaupt nicht. In wenigen Jahren seien alle Bacchantinnen derart gekleidet, behauptete Duncan, was sie mit der Inversionsstrategie begründete: »Ich hob hervor, wie anstößig und undezent diese lachsfarbenen Seidenhosen wirkten und wie edel und keusch der nackte menschliche Körper zur Geltung kommt, wenn ihn erhabene Gedan-
81
OBERZAUCHER-SCHÜLLER, Gunhild 2004a: Vorbilder und Wegbereiter: Über den Einfluß der prime movers des amerikanischen Modern Dance auf das Werden des Freien Tanzes in Mitteleuropa. In: OBERZAUCHERSCHÜLLER, Gunhild (Hrsg.) 2004: Ausdruckstanz: Eine mitteleuropäische Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 2., verbesserte Auflage. Wilhelmshaven: Noetzel, S. 347-366, S. 354 und 363.
82
Duncan 1988, S. 97.
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ken begeistern.«83 Duncan ist sehr von sich selbst überzeugt, da sie von ihren »wunderschönen Beine[n] und [ihrer] seidige[n] Haut« spricht.83 Eine derartige Formulierung in der ohnehin sehr selbstbewusst verfassten Autobiografie Duncans lässt weniger auf keusche Gedanken als auf Eitelkeit schließen, ein durchaus gängiges Motiv der Reformtänzerinnen, welches sich vor allem bei Adorée Villany häufig findet. Das ›Berufsballett‹ in Bayreuth – Vertreter einer von Duncans Reformtänzen ernsthaft bedrohten Tanzgattung – brachte Duncans Barfüßigkeit Ablehnung in Form von auf den Tanzteppich gestreuten Nägeln entgegen.84 Duncans pädagogische Berufung, ihr neuartiges Verständnis vom Tanz zu vermitteln, manifestiert sich in der Gründung einer Tanzschule, welche circa vierzig Mädchen bis zum 17. Lebensjahr in einem Internat aufnahm und über Jahre hinweg nach Duncans Prinzipien ausbildete. Aufgrund finanzieller Schwierigkeiten wurde die Schule mehrfach geschlossen und an anderem Orte wieder eröffnet, Duncan hielt aber trotz der Schwierigkeiten bis zu ihrem Tod 1927 an der Idee fest. Angeregt durch einen Leserbrief, den sie als Replik auf die Kritik an ihrer Tanzkunst verfasste, erhielt Isadora Duncan 1903 vom Berliner Presseverein eine Einladung, einen Vortrag über ihre Tanzkunst zu halten. Im selben Jahr erschien Der Tanz der Zukunft in der Übersetzung des Kritikers Karl Federn in einer englisch-deutschen Ausgabe im Leipziger Verlag Eugen Diederichs.85 Federn leitet Duncans Plädoyer für den neuen Tanz ein, indem er beklagt, dass der Tanz im Vergleich zu dem – von ihm nicht näher spezifizierten – früheren Zeitalter seine Ernsthaftigkeit und seinen ge-
83
Duncan 1988, S. 110. Hans Brandenburg pflichtet ihr hier bei: »Die dumpfen Sinne nahmen die Barfüßigkeit der Tänzerin wahr und verschanzten sich lauernd hinter der Moral. Aber diese Barfüßigkeit hatte nichts Sensationelles wie die Dekollettage und schmutzige, aufreizende Verhülltheit, die auf den Theatern und Varietés den Lebemann entzückt.« (Brandenburg 1913, S. 13.) Auch Richard Ungewitter begrüßt die die Sittlichkeit stärkende Nacktheit der Duncan, was hinsichtlich seiner Position innerhalb der Nacktkultur allerdings auch nicht anders zu erwarten ist. (Ungewitter 1909, S. 63 und 65).
84
Duncan 1988, S. 115.
85
Schmidt; Duncan 2000, S. 90.
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schlossenen Stil, kurz seine Vollkommenheit, eingebüßt habe. Kunst, Leben und Religion waren untrennbar miteinander verknüpft, eine Liaison, welche mit dem Beginn der Reflexion über die Kunst zerstört wurde. In der folgenden Zeit kam es zu einem Widerstreit zwischen Natur und ›Schablone‹, einem Ringen nach dem unmittelbaren Ausdruck des wirklichen Lebens im Gegensatz zu Konvention und Tradition,86 welcher sich in sämtlichen Künsten niederschlägt. Federn beklagt die Degeneration der Tanzkunst in den unsittlichen, unkünstlerischen Gesellschaftstanz, der »aus unnatürlichen Regeln und Konventionen zu lösen und zu einer hohen Kunst spontanen und individuellen Ausdrucks zurückzuführen«87 sei. In Duncans Tanz sieht Federn die Umsetzung von Friedrich Nietzsches Erkenntnis aus Also sprach Zarathustra: »Im Tanze nur weiß ich der höchsten Dinge Gleichnis zu reden«88: Federn war es, der mit Duncan die Schriften Nietzsches – wie den oben erwähnten Zarathustra89 – studierte, Nietzsche bezeichnet sie als ihren »Tanzmeister«. Der Autor des Vorwortes beschreibt wiederholt Duncans durchscheinende Gewänder, in denen sie Figuren wie die Primavera tanzt, und setzt diese in Bezug zur Religion: sie tanze »in einfachen frommen Bewegungen«, er findet »das 14. Jahrhundert mit seiner Einfalt und Frömmigkeit, seiner tiefen Inbrunst und reinen Anbetung in ihren Bewegungen« und setzt schließlich Nacktheit und Religion in einen Bezug, wie er direkter nicht sein kann: »Sie will nicht verhüllen, ihre Glieder schimmern durch die Schleier, und ihr Tanz ist Gottesdienst.«90 Janine Schulze weist auf die Betonung des nicht mehr filigranen, sondern ›weiblichen‹ Körpers durch das lockere, nicht mehr den Körper steif modellierende Kostüm hin, welche Ausdruck eines
86
Karl Federn in DUNCAN, Isadora 1903: Der Tanz der Zukunft. Leipzig: Diedrichs, S. 6.
87
A.a.O., S. 9.
88
Ebd., Vgl. NIETZSCHE, Friedrich; COLLI, Giorgio; MONTINARI, Mazzino 2007a: Also sprach Zarathustra. Neuausgabe, 9. Auflage. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, S. 144.
89
Brandstetter 1995, S. 71. Zum Einfluss Nietzsches auf Duncans Werk siehe LAMOTHE, Kimerer L. 2006: Nietzsche’s dancers: Isadora Duncan, Martha Graham, and the revaluation of Christian values. New York: Palgrave Macmillan.
90
Karl Federn in Duncan 1903, S. 8.
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neuen Selbstbewusstseins der Frau ist.91 Der Körper erfährt hier eine Befreiung aus den strengen Bekleidungsnormen, indem er nicht mehr in eine künstliche Haltung modelliert wird, sondern sich seiner Natur entsprechend entfalten darf. Duncan schafft es mit ihrem ausdrucksstarken Tanz in zarten Gewändern, der die »Rückkehr zur individuellen Inspiration« errungen hat, die von Federn als verloren beklagte Einheit von Kunst, Leben und Religion wieder herzustellen auf eine keusche, heilige Weise. In ihrer Vorlesung behandelt Duncan die Vision des Tanzes der Zukunft, für den sie als Person mit aller Kraft einsteht und den sie in ihrer Schule lehren will. Diese Vision stützt sich vor allem auf ihre Antikenrezeption und ihr Verständnis der Individualität des Menschen, sie wird aber auch von zeitgenössischen Denkern wie Charles Darwin bestimmt. Zum Thema der Barfüßigkeit – neben den freien Bewegungen wohl die evidenteste Innovation ihres Tanzes, wenngleich sie selbst es nie als solche bezeichnet – sagt sie: Eine Dame fragte mich einmal, warum ich bloßfüßig tanzte, und ich erwiderte: »Gnädige Frau, weil ich eine religiöse Empfindung für die Schönheit des menschlichen Fußes habe« und die Dame antwortete, sie hätte keine solche Empfindung. Ich sagte: »Aber das muß man empfinden, gnädige Frau, denn die Form und die Ausdrucksfähigkeit des menschlichen Fußes bedeutet einen großen Triumph in der Entwicklung des Menschen«.92
Duncan ist Anhängerin der Theorien Charles Darwins und stellt hier Religion, Schönheit und Natur in Bezug zueinander. Sie empfindet eine »religiöse« – das heißt spirituelle – Verehrung für die vollendete Schöpfung der Natur, welche sie aber in Sinne Darwins als solche empfindet und nicht als Werk Gottes. Der edle, einzigartige Fuß der Tänzerin muss gezeigt werden und darf nicht durch den Spitzenschuh verhüllt und deformiert werden. Der Bezug auf die um die Jahrhundertwende in den USA und Europa sehr populären Natur- und Evolutionstheorien zeigt Duncans Sehnsucht nach Natur und transzen-
91
SCHULZE, Janine 2004: Den befreiten Körper suchend: Isadora Duncan. In: Soyka, Amelie (Hrsg.) 2004: Tanzen und tanzen und nichts als tanzen: Tänzerinnen der Moderne von Josephine Baker bis Mary Wigman. Berlin, Grambin: AvivA, S. 21-34, S. 26.
92
Duncan 1903, S. 27.
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dentaler Erfüllung, woraus sich ihr religiöser Anspruch erklären lässt. Wie in der Antike – und wie auch von Karl Federn ersehnt – sollen Religion und Natur in der (Tanz-)Kunst ineinander aufgehen. Wenngleich Duncan zu ihrer Zeit ein scheinbar innovatives Ideal vertrat, kann ihr Bestreben doch als rückwärtsgewandte Reaktion auf die Industrialisierung und Technisierung des Alltags gewertet werden.93 Als Urquelle des Tanzes versteht Duncan die Bewegungen der Natur wie jene der Wellen und des Windes. Ihr Grundprinzip des Tanzes der Zukunft sieht natürliche, der individuellen Person des Tänzers angepasste Bewegungen vor: Die Bewegungen des Wilden, der in Freiheit und stetem Zusammenhang mit der Natur lebte, waren ungehemmt, natürlich und schön. Nur die Bewegungen des unbekleideten Körpers können natürlich sein. Und zur Nacktheit des Wilden wird der Mensch, angelangt auf dem Gipfel der Kultur, zurückkehren müssen; nur wird es nicht mehr die unbewußte, ahnungslose Nacktheit des Wilden sein, sondern eine bewußte und gewollte Nacktheit des reifen Menschen, dessen Körper der harmonische Ausdruck seines geistigen Wesens sein wird. Und die Bewegungen dieses Menschen werden schön und natürlich sein, wie die des Wilden, wie die der freien Tiere.94
Die Suche nach der idealen Natürlichkeit des Körpers führt zur Nacktheit, der Körper war nackt und muss es wieder werden, wenn er zur Natürlichkeit zurückfinden soll. Duncan fordert eine Abkehr von der Zivilisation des Körpers und der Bewegungen, wie sie im klassischen Ballett zu finden sind, wenn sie mehrfach auf den »Wilden« und freie Tiere verweist. Unter dem Primat der Natürlichkeit soll der Körper des Tänzers ihm angemessene Bewegungen ausführen, so wie die Erde dem »Willen« der Gravitation folgt, soll auch der Mensch seinem Willen folgen.95 Der Tänzer soll sich auf eine seiner Person angemessenen Weise bewegen, Duncan argumentiert, dass ein Käfer sich nicht wie ein Pferd bewegen könne und vice versa, und so solle auch der Tänzer eine seiner Physis entsprechende Bewegungsform finden. Auch in den griechischen Kunstwerken sieht sie dieses Prinzip
93
Schulze 2004, S. 29f.
94
Duncan 1903, S. 29.
95
A.a.O., S. 29f, Duncan bezieht sich hier auf das Konzept des Willens von Schopenhauer.
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verdeutlicht: Die Darstellung des (klein)kindlichen Eros zeigt seine Schwierigkeiten das Gleichgewicht zu halten, während der Körper des Satyrs der eines starken und gesunden Mannes ist.96 Die Nacktheit als Optimum der Natürlichkeit ist gleichzeitig ein theatrales Zeichen für die Individualität des Tänzers97, da sich in der Nacktheit die größtmögliche Individualität des menschlichen Körpers zeigt, jeder Körper weist andere Merkmale auf und ist somit einmalig. Im Umkehrschluss ergibt sich hier die Notwendigkeit des nackten Körpers, wenn die Individualität des Tänzers das Primat sein soll. Dieses Konzept von Duncans »Kostüm der Nacktheit« steht im Kontrast zum Tutu als Uniform der Balletttänzerin, welches ihre Austauschbarkeit noch verstärkt. Auch die Betonung der Individualität ist ein Zeichen der Abkehr von zivilisatorischen Prinzipien, welche immer eine Anpassung des Individuums an die Normen der Gruppe beinhalten. Gabriele Brandstetter sieht in Duncans Konzept vom Griechischen als Inbegriff des »Natürlichen« eine von Nietzsche und monistischem Gedankengut beeinflusste Verschmelzung von Vitalismus und Klassizismus.98 Duncan war mit Ernst Haeckel, dem Begründer des Monismus, bekannt, sie tanzte vor ihm, er bezeichnete ihren Tanz als ein Produkt der Natur und einen Ausdruck von Monismus.99 Auch in ihrer Tanzschule möchte Isadora Duncan ihre Schülerinnen dazu ermutigen, ihre eigenen Bewegungen zu finden und nicht die Bewegungen der Lehrerin nachzuahmen, sie sollen überhaupt keine Bewegungen nachahmen, sondern nur ihre eigenen finden.100 In der individuellen Bewegung liegt der Schlüssel zum getanzten Ausdruck der individuellen Empfindung, in deren Visualisierung Isadora Duncans großes Verdienst liegt: Isadora wußte, daß sie sich von allen Regeln und Postulaten befreien müsse, um den Mut zu haben, das Leben in seiner ganzen Nacktheit anzufassen und so
96
Duncan 1903, S. 34f.
97
Vgl. SCHRODE, Thomas 2004: Kostüm und Maske im Ausdruckstanz. In: OBERZAUCHER-SCHÜLLER, Gunhild (Hrsg.) 2004: Ausdruckstanz: Eine mitteleuropäische Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 2., verbesserte Auflage. Wilhelmshaven: Noetzel, S. 294-305, S. 297.
98
Brandstetter 1995, S. 71.
99
Duncan 1988, S. 108.
100 Duncan 1903, S. 40.
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ihrer wahren Kräfte bewußt zu sein. Nur unser wahres Ich kann sich den Gewalten widersetzen, die ständig versuchen, unser Dasein und auch unseren Kunstausdruck in konventionelle Bahnen zu zwingen. Dies erkannt und erfolgreich in die Wirklichkeit umgesetzt zu haben war ihr großes Verdienst. Ihr Körper interpretierte das Bewußtwerden eines Gefühlserlebnisses. Ich möchte unterstreichen: Isadora kreierte nicht den Modern Dance, sie machte sein Kommen möglich.101
Obwohl Duncans gegen den klassischen Tanz gerichtetes Prinzip des individuellen Bewegungsrepertoires des Tänzers als eine innovative Chance für den Tanz zu verstehen ist, so zeigen sich auch massive Probleme in der Umsetzung. Duncan präsentierte sich als charismatische Persönlichkeit, welche als Barfußtänzerin im durchscheinenden Gewand für kleinere und größere Skandale sorgte und sich durch derartige Öffentlichkeitsarbeit ihre Engagements sichern konnte. In der Vervielfältigung durch eine ›Duncan-Schule‹ ist das Prinzip aber zum Scheitern verurteilt, da es keine flexiblen und verwandlungsfähigen Bühnentänzer ausbildet, sondern Individualisten. Nach Duncans Auffassung ist das Ballett Ausdruck der Degeneration, weil es unnatürliche Bewegungen erfordert, welche darüber hinaus den Körper schädigen: »Wenn ihr Auge weiter dringen könnte, dann würden sie sehen, daß unter den Röckchen und Trikots sich unnatürlich entstellte Muskeln bewegen, und wenn wir noch weiter schauen, unter den Muskeln unnatürlich entstellte Knochen: ein verunstalteter Leib und ein verkrümmtes Skelett tanzt vor ihnen!«102 Duncan erklärt hiermit die Wahl ihres eigenen Kostüms – barfuß und Chiton – und bewegt sich im Kontext der Kleidungsreform. Sie will, dass die Tänzerin103 der Zukunft durch ihre Kunst alle anderen Künste fordern
101 SORELL, Walter: 2004: Die Frau im modernen Ausdruckstanz. In: OBERZAUCHER-SCHÜLLER,
Gunhild (Hrsg.) 2004: Ausdruckstanz: Eine
mitteleuropäische Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 2., verbesserte Auflage. Wilhelmshaven: Noetzel, S. 187-198, S. 192. 102 Duncan 1903, S. 31. 103 In ihrem Manifest spricht Duncan stets von der Tänzerin in der weiblichen Form: »Es handelt sich um die Entwicklung des weiblichen Geschlechts zu Schönheit und Gesundheit, um die Rückkehr zur ursprünglichen Kraft und zu den natürlichen Bewegungen des weiblichen Körpers. Es handelt sich um die Entwicklung vollkommener Mütter und
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kann. Auf künstlerische Weise soll das überaus Schöne, Gesunde und Sittliche ausgedrückt werden.104 An einem Beispiel verdeutlicht Duncan ihre Praxis, sich von griechischen Statuen für ihre Choreografien inspirieren zu lassen. Sie betrachtet die Plastik eines griechischen Hermes, an der sie ihre Theorie demonstriert, dass jede Bewegung aus einer vorhergehenden resultiert, jede Bewegung also eine logische und vor allem natürliche Motivation besitzt: »Unter den tausenden von Figuren auf Vasen und Reliefs gibt es nicht eine, an der man dieses Prinzip nicht findet. Jede Bewegung resultiert aus einer vorhergehenden.«105 In ihrer naiven Verehrung des Hellenentums setzt Duncan die Bewegungen der Griechen – die sie doch nur im Museum bewundern konnte – mit denen der Natur absolut gleich und sieht darin den unermesslichen Kunstwert antiker Meisterwerke begründet: »Wenn ich daher nackt auf dem Erdboden tanze, so nehme ich naturgemäß griechische Stellungen an, denn griechische Stellungen sind nichts weiter, als die natürlichen Stellungen auf dieser Erde«.106 Den Griechen schreibt sie zu, dass sie den Tanz als Religion verstanden hätten und nicht als Marktware.107 Hier zeigt sich Duncans »Bild der vergänglichen – und in den Ent-
die Geburt schöner und gesunder Kinder. Die Tanzschule der Zukunft soll die ideale weibliche Gestalt entwickeln. Sie muß gleichsam ein Museum der lebendigen Schönheit ihrer Epoche sein.« (Duncan 1903, S. 41f.) Man kann spekulieren, ob Duncan sich als Frauenrechtlerin versteht, die die Tänzerin aus ihrer Rolle als passives Fetischobjekt des männlichen Blicks befreien will oder ob sie die Ballerina von den äußerlichen, physischen Strapazen durch Korsett und Spitzenschuhe, unter denen sie mehr als ihr männlicher Partner zu leiden hat, erlösen möchte. Siehe hierzu Schulze 2004, S. 21-34. 104 Duncan 1903, S. 32. 105 A.a.O., S. 34. 106 A.a.O., S. 36. 107 Duncan 1903, S. 43f. Duncan wies auch das hoch dotierte Angebot eines Berliner Varieté-Direktors zurück: »[…] schließlich wurde er wütend und nannte mich sogar ein ›dummes Mädel‹, bis ich ihm schreiend erwiderte, ich sei nach Europa gekommen, den Triumph der geheiligten Schönheit des menschlichen Körpers zu verbreiten, nicht aber, um gemästeten Bourgeois nach Tisch zu ihrer Verdauung etwas vorzutanzen!« (Duncan 1988, S. 64.)
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wicklungen der modernen Zivilisation verlorenen – Sinnlichkeit: eine Schlüsselvorstellung, die im durchaus antiklassischen, den extremen Affekten des Dionysischen sich zugewendeten Antiken-Verständnis der Jahrhundertwende die Begriffe ›Griechentum‹ und ›Natur‹ zusammenlötet.«108 Zum Abschluss ihres Manifestes beschreibt Duncan noch einmal die Tänzerin der Zukunft: Die Tänzerin der Zukunft wird ein Weib sein müssen, deren Körper und Seele so harmonisch entwickelt sind, daß die Bewegung des Körpers die natürliche Sprache der Seele sein wird. […] Sie wird als das Weib in seiner größten und reinsten Erscheinung tanzen. Sie wird die Mission des weiblichen Körpers und der Heiligkeit all seiner Teile versinnlichen. Sie wird das wechselnde Leben der Natur im Tanze ausdrücken und die Wandlungen aller ihrer Elemente ineinander zeigen […] Sie wird die Freiheit des Weibes in ihrem Tanze ausdrücken. Welch ein Feld erwartet sie da! Fühlt ihr nicht, daß sie nahe ist, daß sie kommen muß, die Tänzerin der Zukunft! Sie wird den Frauen eine neue Erkenntnis der möglichen Kraft und Schönheit ihrer Leiber bringen. Sie wird sie den Zusammenhang ihrer Leiber mit der Erdnatur lehren und sie vorbereiten für die Kinder der Zukunft. Sie wird den Tanz des Leibes tanzen, der aus Jahrhunderten zivilisierter Vergessenheit emportaucht, nicht in der Blöße des Urmenschen, sondern in einer neuen Nacktheit, die mit seiner Geistigkeit nicht länger im Widerspruch stehen wird, sondern sich mit dieser Geistigkeit für immer in einer glorreichen Harmonie verbinden wird. Das ist die Mission der Tänzerin der Zukunft. 109
Duncan bezieht sich hier wiederum explizit auf die weibliche Tänzerin, die die ›Körperseele‹ erfahren und die Vereinigung des Körpers mit der Natur vollführen und die sublimierter Nacktheit möglich machen soll. In ihrer Schrift The Art of the Dance110 (1928) legt Duncan die Bedeutung der Schönheit für ihre Tanz-Philosophie dar. »Schönheit ist die Seele und das Gesetz des Universums, und all das, was sich in Übereinstimmung mit dieser Seele und diesen Gesetzen befindet, ist
108 Brandstetter 1995, S. 73. 109 Duncan 1903, S. 44f. 110 DUNCAN, Isadora 1969: The Art of the Dance. New York: Theatre Art Books.
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Schönheit.«111 Sie ist der Überzeugung, dass es eine universale Ordnung gibt, nach der alles richtig ist und die es zu finden gilt, um die absolute Kunst und die Einheit derselben mit Natur und Religion zu schaffen. Das Schöne wird zum Mittler zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen und soll durch die Kunst ausgedrückt werden.112 Der Körper soll eine Verschmelzung mit dem Göttlichen anstreben: »Wenn die Seele den Körper vollständig in Besitz genommen hat, verwandelt sie ihn in eine luminöse, sich bewegende Wolke, durch die das göttliche Wesen selbst geoffenbart werden kann.«113 Duncan strebt somit ebenfalls die durch den Tanz geschaffene Körperseele an. Im Kontext ihrer Aussagen über die Natur und die Notwenigkeit der Nacktheit, welche sie in Der Tanz der Zukunft ausführt, stellt ihr Bezug zur Schönheit eine weitere Legitimationsstrategie für die Nacktheit der Tänzerin dar. Es bleibt strittig, ob Isadora Duncan eine Epigonin der Antike war, die lediglich die Posen der Plastiken und Vasen nachahmte, welche sie im Museum gesehen hatte. Max Terpis attestiert Duncan Fantasielosigkeit und Dilettantismus als Tänzerin, sieht aber auch die Vorzüge ihrer Kunst, die sich mit den Bestrebungen Labans decken: Ihr Mangel an schöpferischer Phantasie verleitete sie zu Nachahmung und Imitation, zur Übersetzung malerisch-plastischer Kunst in das Tänzerische, und ihre Vorführungen wirkten nach Berichten von Zeitgenossen gouvernantenhaft und dilettantisch. Aber trotz Dilettantismus und Unzulänglichkeit, trotz propagandistischer Vorträge und amerikanischer Reklametrommel bedeutet Isadora Duncan eine tanzhistorisch wichtige Persönlichkeit. Sie drehte das Rad der Konvention und des Üblichen um einige Grade weiter und eröffnete dadurch neue Perspektiven und Möglichkeiten, als da sind: natürlicher befreiter Körper, harmonische Bewegtheit, einwandfreie, wertvolle Musik. Sie strebte
111 Duncan 1969, S. 71f. 112 A.a.O., S. 56. 113 DUNCAN, Isadora 1927: The Dance in Relation to Tragedy. In: Theatre Arts Nr. 10, S. 755-761, S. 757, zitiert nach STÜBER, Werner Jakob 1981: Geschichte des Modern Dance: Zur Selbsterfahrung und Körperaneignung im modernen Tanztheater. Wilhelmshaven: Heinrichshofen, 1984, S. 83.
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weg vom Künstlichen und Gekünstelten, von der Vorherrschaft der Technik und Routine.114
Der Verfasser ihres Vorwortes, Karl Federn, und der Maler Eugène Carrière sehen Duncans Kunst unkritischer: Aber der ihr innewohnende Forschersinn führte sie zurück zur Natur, und während sie wähnte, griechische Tänze nachzuahmen und wiederzubeleben, entdeckte sie eigene Ausdrucksweisen. Ihre Gedanken sind in Griechenland, sie aber folgte nur ihrem eigenen Trieb.115
Jochen Schmidt relativiert die Authentizität von Duncans Aufführungen, ihre Posen hätten nur aufgrund der ›griechischen‹ Requisiten (Sandalen, Tuniken) diese Wirkung erzielt und vermutet eine bewusste Mystifikation ihrerseits.116 Auch Hans Brandenburg fragt sich, ob ihr Tanz jemals Kunst gewesen sei oder ob die hohe Wertschätzung des griechischen Tanzes nur daher rührte, weil er von Malern und Bildhauern in berühmten Kunstwerken festgehalten wurde.117 Ann Daly geht noch weiter und stellt die These auf, dass Duncan sich des Bezugs zur Antike nur bedient habe, da diese gegen Endes des 19. Jahrhunderts starke Popularität in Amerika erfahren habe. Überdies hätte sie somit dem als schlüpfrig und minderwertig geltenden Tanz den Anschein des Seriösen und Erhabenen geben können.118 Daly
114 TERPIS, Max 1946: Tanz und Tänzer. Zürich. Zitiert nach WOLFENSBERGER,
Giorgio J.; PERROTTET, Suzanne 1995: Suzanne Perrottet: Ein
bewegtes Leben. Weinheim, Berlin: Quadriga, S. 54. Auch der zeitgenössische Tanzkritiker Frank Thiess wertet Duncan im Vergleich zu den Geschwistern Wiesenthal und Ruth St. Denis (siehe Kapitel 4.1.6) als »kleine Tänzerin und große Anregerin ab«. (Thiess 1923, S. 65.) Zum Vergleich der Fantasielosigkeit siehe auch Fischer 1928, S. 228. 115 Duncan 1988, S. 61. 116 Schmidt; Duncan 2000, S. 38. 117 Brandenburg 1913, S .9. 118 Schmidt; Duncan 2000, S. 39. Brandenburg vergleicht die Verherrlichung der Antike Isadora Duncans mit der Rezeption des Mittelalters zur Zeit der Romantik: Es handelt sich nicht nur um eine Geisteshaltung der Vergangenheit, sondern auch der Zukunft. (Brandenburg 1913, S. 12.) Claudia Balk verweist auf die Antikenbegeisterung zeitgenössischer
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unterstellt Duncan somit, den Rekurs auf die Antike aus Kalkül als Legitimationsstrategie für die Nacktheit gewählt zu haben. Das von Duncan selbst verfasste Manifest zum Thema lässt weniger auf eine derartige bewusste Umgehung der Zensur schließen. Vielmehr erscheint Duncan als begeisterte Epigonin, was sich in ihrer absoluten Gleichsetzung von Antike und Natur niederschlägt. Auch ihre zahlreichen Referenzen auf antike Werke als Seelentröster in schweren Stunden, die sie als Künstlerin auf den verschiedenen Kontinenten erlebt hat, können als Beleg hierfür gelten. Der Gebrauch der Nacktheit ist ein Zeichen für die Emanzipation der Frau, welche ihren Körper von den Fesseln des Spitzenschuhs und Korsetts befreit. Wenngleich Isadora Duncan nie vollständig unbekleidet auftrat, sind ihre nackten Füße, Arme und Waden als Pionierleistung für den nackten Tanz anzusehen. Die ihren Ideen folgenden Tänzerinnen lassen sich in zwei Fraktionen aufteilen: diejenigen, welche den neuen Tanz als Vorwand nutzen, sich aus Gründen der Sensation und Ökonomie fast nackt zu zeigen, und jene, die die knappe, den Körper nicht einengende Kleidung als Kostüm für ihre aus der Intuition heraus entwickelten Tänze sehen.119
Schriftsteller wie Hugo von Hofmannsthal, deren Standpunkt Duncan teilt. (Balk 1998, S. 59.) 119 BARCHE, Gisela: 1986: Als der siebte Schleier fiel – Tanz und Gymnastik auf dem Weg zu neuem Körperbewußtsein? In: KÖHLER, Michael; BARCHE, Gisela (Hrsg.) 1986: Das Aktfoto: Ansichten vom Körper im fotograf. Zeitalter. Erweiterte und verbesserte Ausgabe. München: Bucher, S. 304-310, S. 308.
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4.1.5 Adorée Villany Ein Charakteristikum aller zu Ruhm gekommenen nackt auftretenden Tänzerinnen ist ihre Selbstvermarktung. Ohne fest an ein Haus gebunden zu sein, wechselten sie ihre Engagements und waren äußerst erfolgreich dabei. Ein herausragendes Beispiel für diesen Erfolg und dieses Selbstbewusstsein ist die Französin Adorée Villany. Sie strebte eine Reform des Tanzes120 an, welche sie durch partiell und vollständig nackte Tänze zu erreichen versuchte. Da sie Duncans Griechentänze als unzureichend für eine vollständige Reform des Tanzes ansah, kreierte sie zu den antikem Vorbild nachempfundenen Tänzen Tanzstücke nach biblischen Motiven. Villany selbst beschreibt ihre Tänze als »stilisiert«, da sie wie Duncan außer der bildenden Kunst auf keine Vorlagen für ihre Choreografien zurückgreifen konnte. Bei Gastspielen in Berlin, Frankfurt am Main, Mannheim, Straßburg, Düsseldorf und anderen Städten zeigte sie ein aus folgenden Tänzen bestehendes Programm: Kulturhistorische Tanzformen aus ältester Zeit: Ägyptisch: 1. Wie die Prinzessin bei einem Gastmahl tanzte. 2. Der Apis-Tanz. Die ägyptische Frau aus dem Volke umtanzt zu Ehren des Sonnengottes Ptah den geheiligten schwarzen Stier. Altjüdisch: 3. Salome: Tanz der sieben Schleier.
120 Villany 1912, S. 25. Von Villany stammt das Synonym Reformtänzerin für die Barfußtänzerin. Das Residenztheater Wiesbaden kündigte sie 1905 als »Reform-Kunsttänzerin« an. (Villany 1912, S. 123.) Mit dieser Terminologie bezieht sie sich auf die zu dieser Zeit evidente Lebensreformbewegung. Die Presse hatte Villanys Reformbestreben zwar registriert, zweifelte aber an der Durchschlagskraft der Reform: »Ob die Reformtänzerin den Bühnentanz reformieren wird, das ist freilich eine Frage für sich – wir möchten sie bezweifeln.« (Wiesbadener Tageblatt vom 26.06.1905, zitiert nach Villany 1912, S. 269.) Auch der Lebensreformer Richard Ungewitter erwähnt Villanys Reformtanz 1907 äußerst lobend. (Vgl. Ungewitter, 1907, S. 65f.)
114 | THEATER DER N ACKTHEIT 4. Bienentanz. Die Tänzerin wird von einer Biene verfolgt, sucht diese einzufangen, weicht ängstlich zurück. Da die Biene in ihr Gewand eingedrungen ist, wirft sie es ab, erfreut und beruhigt gibt sie ihrer Befreiung von der Biene Ausdruck.121 Babylonisch: 5. Händetanz. Begrüssung der siegreichen Krieger. Assyrisch: 6. Sklaventanz. P A U S E. Griechisch: 7. Tanz der Phryne vor ihren Richtern. 8. Tanz der Bacchantin. Römisch: 9. Tanz der Buhlerin bei dem Flora-Fest. 10. Tanz der Verfolgten: Während der Christenverfolgung wurden Jungfrauen entkleidet und nackt in die Arena geschickt, um dort zu tanzen. Phantasietänze aus der Neuzeit: 11. Tanz im modernen Gewand. Eine Anregung zur Reform des Gesellschaftstanzes. Die Linienführung der Tänzerin soll durch das lange, enge Gewand noch mehr betont werden. 12. Personifikation des Schmerzes. Der seelische Schmerz, dargestellt durch die Linienwandlungen des Körpers, als künstlerischer Ausdruck. 13. Tanz-Spiel mit Schleiern. 14. Tanz-Spiel mit Bändern.
121 Lothar Fischer sieht in dem Bienentanz ein Distinktionsmerkmal zwischen Villany und Duncan; mit diesem Tanz zeigt sich Villanys Fokus auf die Erotik, welcher sich bei Duncan nicht findet. (Fischer 1989, S. 109.)
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Jeder Tanz wird in einem dem Stil entsprechenden Kostüm dargestellt; Entwürfe in Farbe und Form nach Originalideen von Mlle. Adoree-Via Villany.122
Bei dem »altägyptischen Tanz« oder »Apistanz«, trug Villany nur einen Kopfschmuck, eine Halskrause und einen knappen Lendenschurz, der Oberkörper war nackt.123 Wie Duncan ließ sie sich von Abbildungen inspirieren und nahm charakteristische Körperhaltungen wie die Armhaltung der Ägypter als Ausgangspunkt für ihre Bewegungsstudien. Mehrfach weist sie in ihrem Buch auf ihren eigenen besonders schlanken Körperbau hin, der sie ihrer Meinung nach für die Darstellung ägyptisch-assyrischer Tanzfiguren prädestiniert.124 Beim Tanz der Salomé trug sie ein Bustier und einen durchscheinenden Chiffon-Rock, ein roter Schleier symbolisierte Blut. In der Handlung der Salomé-Legende sieht Villany die Berechtigung der Nacktheit der Tänzerin: Wenn die Handlung eine Entschleierungsszene fordert, – so tut das nichts zur Sache. Denn, wenn die Künstlerin in alle Schleier eingewickelt erschiene und zum Schluss das geschmackloseste Ballkleid zum Vorschein käme – so wäre das ein enttäuschender Schlusseffekt. – Die selbstverständliche Auffassung, dass die Salome zuerst in alle Schleier gehüllt erscheint und dann einen nach dem anderem ablegt, wird als nicht »dezent« genug, wird noch heute auf jeder »künstlerisch empfindenden« Opernbühne vermieden. Man verzichtet lieber auf jede richtige kostümliche Darstellung […]125
Der Bienentanz war ein sehr populäres Motiv für viele Nackttänzerinnen, da ihm die Notwendigkeit der Nacktheit dramaturgisch eingeschrieben war. Der durch Elemente des orientalischen Bauchtanzes aufgewertete Bienentanz wurde mehrfach von Literaten in ihren Werken beschrieben und bekam mehr und mehr den Anschein einer tänzerisch anspruchsvolleren Art des Striptease.126
122 Villany 1912, S. 245. 123 A.a.O., S. 42 und S. 47. 124 A.a.O., S. 30. 125 A.a.O., S. 57. 126 Brandstetter 1995, S. 211ff.
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Rein ästhetisch und nicht dramaturgisch motiviert war das von Villany selbst kreierte »Tanzspiel mit den Bändern«, dessen Kostüm aus losen Bändern bestand, die von einem Band über der Brust vertikal herabhingen. In ihrem nicht uneitlen Habitus erklärt Villany, dass dieses Kostüm besonders dafür gedacht gewesen sei, ihre Schlankheit zu betonen.127 Villany entlarvt sich hiermit nicht als passionierte TanzReformerin, sondern als geschickte Selbstdarstellerin, die es versteht, aus ihrem Körper und dem Interesse der Zuschauer Kapital zu schlagen. Trotzdem hält sie an ihrem Reformbestreben fest: [Die] Reform des Tanzes, wie ich sie seit einigen Jahren auf meinen Gastspielreisen nicht nur gewollt, sondern nach den einstimmigen Urteilen der Presse auch begründet habe, und die begeisterte Aufnahme meiner Ideen ist der beste Beweis meiner Wirkung als Künstlerin. Die Reform des Tanzes ist sowohl eine Kostümfrage, wie eine Frage der Tanz-Technik – beide streben natürlichen, durch feinen Farben- und Formensinn unterstützen Zielen klassischer Linienführung zu. 128
Villany bemerkt zwar, dass der Nackttanz auf dem Gebiet des Reformtanzes eine »nur untergeordnete Stufe« einnähme, dennoch ist auffällig, dass sie in ihrem Buch nur Nackttänze beschreibt und Abbildungen solcher für die zahlreichen Illustrationen ausgewählt hat. »In erster Linie ist bei jedem darzustellenden Tanz das Tanz-Sujet massgebend und diese Streitfrage ergibt dann ganz von selbst, ob ein Kostüm am Platze ist, ob die historische Überlieferung oder das Gesetz der künstlerisch-ästhetischen Freiheit eine andere realistische Auffassung bedingt.«129 Villany versucht ihre Kostüm-Wahl besonders bei ihrer Antikenrezeption dramaturgisch und historisch zu legitimieren: Eine Tanzkünstlerin, die alten Zeiten entnommene Gestalten verkörpert, hat wenigstens einen Grund künstlerischer Art, sich teilweise entblösst zu zeigen. Bei der noch heute von der fürsorglichen Zensur diktierten Hüftenbekleidung sieht man nicht das Kostüm, das dem Zweck der ursprünglichen Tanzidee entspricht, sondern die Aufmerksamkeit wird absichtlich auf Stellen gelenkt,
127 Villany 1912, S. 71. 128 A.a.O., S. 79. 129 Ebd.
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die bei einem tanzlich motivierten Gewand nicht auffallen würden: so wird dem Tanz sein ursprüngliches Gepräge genommen.130
In Analogie zu Isadora Duncan versucht Villany den nackten Tanz als einzig richtige Präsentationsform zu legitimieren. Wo Duncan sich aber auf die Natur stützen kann, argumentiert Villany weniger überzeugend mit der historischen Aufführungspraxis. Im Umkehrschluss versteht Villany das Kostüm als theatrales Zeichen, welches dem Zuschauer Hinweise auf die Stil-Epoche gibt, und nicht als Bedeckung des Körpers.131 Wie die meisten Fürsprecher des nackten Tanzes benutzt auch Villany die Inversionsstrategie. Sie plädiert für den Körper als Ausdrucksmedium der Tänzerin132, das diese benutzen soll wie die Schauspieler ihr Gesicht: »Ein Schauspieler darf seine mimische Kunst zeigen, eine Tänzerin aber soll auf das unentbehrliche natürliche Hilfsmittel ihres Körpers verzichten, weil einige sinnlich leicht erregbare Schnüffler eine falsche Auffassung des Anstandsgefühls haben.«133 Um diese Ausdrucksfähigkeit zu gewährleisten, darf der Körper nicht durch das klassische Ballettkostüm verhüllt werden, welches den Blick des Zuschauers überdies noch in unkeuscher Weise lenken kann. Diese Argumentation deckt sich mit der Duncans. Die fließenden Gewänder – sofern sie überhaupt welche trägt, Villany behauptete, dass ihre Kostüme in die Aktentasche ihres Impressarios passten134 – versteht
130 Villany 1912, S. 16. Das Buch mit 54 Illustrationen erschien im Eigenverlag, was Villanys Geschäftssinn illustriert. Hierzu passt auch die Tatsache, dass die Tänzerin ihren Körper mit einer Summe von 500.000 Francs versichert hatte, eine Praxis, die eher von heutigen HollywoodStars bekannt ist als von den damaligen Tänzerinnen. (A.a.O., S. 158.) Der Tanzkritiker Oscar Bie bescheinigt Villany 1920 das Talent »auf dem Fleischmarkt hohe Preise zu erzielen«. (Zitiert nach Barche 1986, S. 307.) Barche verortet Villany auch eher auf dem Feld des Striptease denn des Tanzes. (A.a.O., S. 308.) 131 Villany 1912, S. 199. 132 Wie Isadora Duncan spricht die Verfasserin explizit von der ›Tänzerin‹, sie benutzt niemals die männliche Form. Für Villany können diesbezüglich dieselben Überlegungen gelten wie für Duncan. 133 Villany 1912, S. 21. 134 A.a.O., S. 145.
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Villany als Ausdruck der ungeformten physischen Wahrheit, deren Suche sie als Stilforderung an die modernen Künstler stellt.135 Auch die Presse erkennt den Zusammenhang zwischen Kostüm und Ausdruck: […] Dass eine Künstlerin mit solch ernsthaften reformatorischen Absichten auch mit der herkömmlichen Tracht unserer Balletteusen, mit Trikotagen und steifen, weitabstehenden, den Körper deformierenden Gazeröckchen brechen muss, versteht sich von selbst. Soll der menschliche Körper in seinen wesentlichen Teilen dem Ausdruck seelischer Vorgänge dienstbar gemacht werden, so wird dieser Zweck umso besser erreicht, je mehr die Gewandung das freie Spiel der Glieder wahrzunehmen gestattet. Mlle. Villany begnügt sich daher nicht nur mit einer Entblössung der Füsse und Arme, sondern gestattet dem bewundernden Auge gelegentlich auch einen Blick auf das Muskelspiel ihres geschmeidigen Leibes und ihres schönen Rückens. Hinzugefügt sei aber ausdrücklich, dass alles, was Mlle. Villany bietet, sich in solch ästhetisch reiner und dezenter Form vollzieht, dass nur hyperprüde und ordinäre Seelen bei diesen Vorführungen etwas anderes empfinden können, als reine künstlerische Freude am Schönsten, was die Natur geschaffen.136
Villany sieht in dem lebenden Körper der Tänzerin eine größere Möglichkeit, die Keuschheit des nackten Leibes zu erfahren als bei der Statue im Museum: »Im Gegenteil, er [der Zuschauer] wird durch das warme Leben mehr noch als durch ein Gemälde oder eine Skulptur davon überzeugt, wie keusch die Nacktheit in dieser vergeistigten Renaissance der Linienführung als Kunstform wirkt […]«.137 Diese Behauptung kann die Autorin argumentativ nicht halten, sie widerspricht dem Konsens über die sittliche Erhabenheit nackter Statuen und der Argumentationsstrategie für die Tableaux vivants. Im Gegensatz zu Duncan stützt sich Villanys Argumentation auch auf keinerlei philosophische Theorien, ihr Buch enthält allein ihre persönlichen Ideen über die eigenen Nackttänze.
135 Villany 1912, S. 37. 136 Dresdener Nachrichten vom 28.03.1908, zitiert nach Villany 1912, S. 265. Auch der Rezensent bemüht Schönheit und Natur zur Legitimation der Nacktheit Villanys. 137 A.a.O., S. 37.
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Wenngleich Villany sich als Reformtänzerin sieht und auch künstlerische Legitimationsstrategien für ihre Nacktheit bemüht, so sieht sie sich doch klar als wirtschaftliches Unternehmen und ihre Nacktheit als Magnet für das (männliche) Publikum. In ihrer Schrift gibt sie – vermutlich fiktive – Zuschauerstimmen wieder, die dies belegen: »Der Primaner: ›[…] Mich interessieren nur ihre sezessionistischen Beine – sonst kann ich mich bei dem besten Willen nicht in die Person verlieben. Papa sagt, ich könnte bei ihren orientalischen Tänzen die Bibel repetieren. Auf die Bibel pfeife ich.‹«138 Villanys Kunstfertigkeit wird in dieser Aussage auf ihre – nackten – Beine reduziert, die biblischen Sujets ihrer Tänze als Vorwand dafür entlarvt. Einem »Herren aus der äußersten Provinzecke« legt Villany in den Mund, dass der Zuschauer einen veritablen Gegenwert für sein Geld bekäme und die Großstadt Schutz und Diskretion gewähre, zu Hause dürfe niemand von dem Besuch der Nackttanz-Vorstellungen erfahren.139 Hier offenbart sich die Nacktheit als gesellschaftliches und künstlerisches Tabu – und als Wirtschaftsfaktor. Villany erfindet noch eine Reihe weitere Stimmen, die auf überspitzte Weise ein Bild der wilhelminischen Nacktheits-Rezeption zeichnen, die alte Jungfer (sic!) empört sich ob der Unsittlichkeit, sie wagte es ja kaum, sich selbst nackt zu betrachten und der Polizei-Assessor ›opfert‹ sich für das Volk, um das mögliche Verderben aus nächster Nähe in Augenschein zu nehmen und zu prüfen, ob die Tänzerin wirklich kein Trikot trägt.140 Letztendlich entlarvt die ihrerseits nicht prüde Villany die Gesellschaft als solche, wobei sie fälschlicherweise den Eindruck erweckt, es hätte eine klare Trennung der Geschlechter bei der Akzeptanz des nackten Tanzes gegeben, die ablehnenden Frauen auf der einen Seite und die affirmativen Männer auf der anderen. Das Wiesbadener Tageblatt von 26.06.1905 berichtet vom weiblichen Publikum: »An den nackten Füsschen und den Schleiern hat gewiss niemand Anstoss genommen — würden sonst gerade die jugendlichsten Damen in die oft recht stürmischen Beifallsäusserungen der Zuschauer eingestimmt haben?«141 Sich selbst hält Villany für eine bedeutende Tanzreformerin, ihren zahlreichen Nachahmerinnen – hier stellt sich die Frage, ob Villany
138 Villany 1912, S. 172. 139 A.a.O., S. 173. 140 A.a.O., S. 175ff. 141 A.a.O., S. 269.
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nicht selbst die Nachahmerin Duncans ist, auch wenn sie sich mit dieser auf das gleiche Niveau stellt – unterstellt sie nur ein wirtschaftliches Interesse am Nackttanz: »Die scheinbar gewinnbringende Tätigkeit dieser Tänze war in ihren Aussichten zu verlockend – man brauchte sich doch nur sein Hemd auszuziehen und zu hüpfen.«142 Auch den Schönheitsabenden spricht sie die künstlerische Qualität ab und bewertet sie als rufschädigend für den »neuen Tanz.«143 Villany beschreibt eine sehr interessante und aufschlussreiche Variante des Plagiates: Sie berichtet von markierten »Zehentriktots«144 anstelle von nackten Füßen. Man traute sich nicht, die Füße nackt zu zeigen, stattdessen wurden sie in Trikots versteckt, die aber pikanterweise den Anschein der Nacktheit erwecken sollten. Hier zeigen sich die Doppelmoral der Zensur und des Publikums sowie die wirtschaftliche Relevanz der Nacktheit, es geht nicht mehr um die Befreiung des Körpers der Tänzerin, der bloße Anschein reicht, um die Zuschauer mit einer Novität in das Theater zu locken. 4.1.6 Ruth St. Denis Während Isadora Duncan ihre Nacktheit qua Antike legitimiert und Adorée Villany sogar eine Vielzahl von Rechtfertigungen findet, fokussiert sich Ruth St. Denis (eigentlich Ruth Dennis, 1879-1968) auf die (fern)östliche Religion als Legitimation für ihre Auftritte mit nacktem Körper. St. Denis sieht ihren Tanz als »[...] eine von Gott
142 Villany 1912, S. 125. Bezüglich ihrer Konkurrenz zu Isadora Duncan zitiert Villany in ihrem Buch die Berliner National-Zeitung vom 21.02.1909: »[…]Sie übertrifft die Duncan bei weitem, einmal durch ihre Grazie und zierliche Figur, dann aber auch durch ihre Kunst und mimische Begabung, die sie an die erste Stelle der wenigen ihresgleichen stellen […].« (Villany 1912, S. 264.) Siehe auch Kölnische Zeitung vom 26.03.1906: »Gegenüber Isadora Duncan besitzt Villany entschieden den Vorzug, dass sie zierlicher und temperamentvoller ist, weniger plastische Pose als mehr, wenn auch sorglich abgewogene, spielende und schwebende, sich dem Tanze nähernde Bewegungen gibt, und dass ihr Gesicht einer ausserordentlich reichen Mimik fähig ist… .« (Zitiert nach Villany 1912, S. 265f.) 143 A.a.O., S. 201. 144 A.a.O., S. 129.
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inspirierte und kontrollierte Kunst« und ist überzeugt davon, dass der Tanz als religiöse Aussage den Menschen »als solche nicht dienlich werden [kann], wenn die Tänzer nicht Gott ergeben sind […] Ich anerkenne Gott als meinen Diktator.«145 Weiter sagt sie: »Die Tanzkompositionen der Zukunft werden sich auf göttlichen Themen aufbauen, anstatt auf menschliche Belange und Eigendünkel, die viel von der sogenannten weltlichen Kunst hervorgebracht haben.«146 St. Denis offenbart sich als tanzende Fundamentalistin, es bleibt indes unklar, wie sich ihre tiefreligiöse Einstellung mit der unbestrittenen erotischen Wirkung ihres Tanzes vereinbaren lässt. Brygida Ochaim sieht allerdings in genau diesem Zwiespalt von »irdischer Sinneslust und göttlicher Unantastbarkeit« den künstlerischen Wert der Choreografien, welche St. Denis über die Stufe einer danseuse légère hinausheben.147 Wenngleich sie nicht über ihre Nacktheit selbst spricht, so lässt sich doch deutlich die Legitimation für ihre Nacktheit aus ihrer religiösen Überzeugung ableiten: Wenn sie göttliche Themen zu Choreografien verarbeitet und Gott ihr Diktator ist, muss auch die Nacktheit sein Wille sein und kann somit nicht mehr als unkeusch angesehen werden. Der nackte Körper repräsentiert die Schöpfung Gottes in seiner reinsten Form ohne die vom Menschen geschaffene Verhüllung. »... Nur durch eine vollständige Ablehnung des sinnlichen Verhaftetseins kann man den goldenen Lotus der Erleuchtung erfahren.«148 Auf geschickt indirekte Weise wendet sie hier die Inversionsstrategie an, sie negiert sämtliche Erotik ihrer Tänze mit dem Verweis auf die Religion, wer dennoch erotische Elemente in ihren Tänzen entdeckt, muss sich der Frage stellen, ob er die keuschen Absichten der Tänzerin nicht missverstanden hat und Opfer seiner eigenen Lüsternheit und durch andere Sehgewohnheiten konditionierten unkeuschen Gedanken geworden ist.
145 ST. DENIS, Ruth 1940: My Vision. In: Dance Observer Nr. 3, S. 33, zitiert nach Stüber 1981, S. 100. 146 ST. DENIS, Ruth 1920: An Essay on the Future of the Dance. In: SHAWN, Ted 1920: Miss Ruth: Pioneer & Prophet. San Francisco, S. 101, zitiert nach Stüber 1981, S. 101. 147 Ochaim 1998, S. 90. 148 ST. DENIS, Ruth 1939: An unfinished life. An Autobiography. New York, S. 241, zitiert nach Stüber 1981, S. 101.
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Die Basis für St. Denis’ Tanztechnik bildete das Delsarte-System, in welchem sie durch ihre Mutter unterrichtet wurde. Sie begann ihre Laufbahn als Skirt Dancer in New York und trat dann in VaudevilleTheatern auf. 1906 hatte St. Denis ihr ›Erweckungserlebnis‹, als sie die Göttin Isis auf einem Zigaretten-Werbeplakat sah, welches sie zu der Kreation ihrer Choreografie Radha, Dance of the five senses inspirierte, die sie am 28.01.1906 im New York Theatre erstmals präsentierte. Radha ist das Resultat eines Tanzstils, der auf eklektizistische Weise buddhistische, vedische und christliche Lehren zu verbinden sucht.149 Ihr erstes Gastspiel im deutschsprachigen Raum hatte sie 1906 in der Komischen Oper Berlin als Einlage in der Oper Lakmé von Léo Delibes, anschließend trat sie als Solotänzerin einen Monat lang im Wintergarten auf.150 Weitere Arbeiten waren The Yogi und The Nautch (1909) und Egypta (1910). In Egypta versucht St. Denis, sich als Tempelpriesterin durch gleitende und schlangenförmige Bewegungen mit dem Nil als lebensspendender Kraft Ägyptens zu identifizieren. Wo Isadora Duncan ihre Inspiration in den Gesetzen der Natur (Gravitation) findet, sucht St. Denis das Spirituelle in der Natur.151 Zusammen mit ihrem Mann Ted Shawn, einem ehemaligen Theologiestudenten, gründete sie 1915 in Los Angeles die DenishawnTanzschule, wo sie Schüler wie Martha Graham und Doris Humphrey unterrichtete. Über den Abbruch seines Theologie-Studiums berichtet Ted Shawn: »… beim ersten Mal, als ich Ruth St. Denis tanzen sah, bevor ich ihr persönlich begegnete, wußte ich, daß ich die Religion nicht des Tanzens wegen aufgab, sondern ich war dabei, sie im Tanz zu finden.«152 Die zentrale Inspirationsquelle für St. Denis’ Schaffen ist ihre religiöse Einstellung, die sich auf ihr Verständnis des Tanzes niederschlägt: »We are turning our gaze inward, learning to seek there the divine source of the dance, to the end that it may flower into new and
149 HUSCHKA, Sabine 2002: Moderner Tanz: Konzepte – Stile – Utopien. Original-Ausgabe. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, S. 114ff. 150 Balk 1998, S. 65. 151 Stüber 1981, S. 97. 152 A.a.O., S. 103.
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more glorious forms of beauty and worth.«153 Religion und Schönheit sind miteinander verbunden, wenn dem Tanz etwas Spirituelles innewohnt, kann er eine neue Qualität der Schönheit erreichen. Durch den Tanz soll der Mensch wieder ins Paradies zurückkehren, der Tanz wird zu einer religiös-spirituellen Übung.154 Denis zeigt hier dasselbe Verständnis von der idealen Tanzkunst wie Isadora Duncan und Karl Federn. Die unmittelbare Verknüpfung zwischen Tanz und Religion sieht auch der Tanzkritiker Fritz Böhme, der 1926 in seinem Werk Der Tanz der Zukunft schrieb: Nicht willkürlich wird die Bewegung in den Raum geschleudert, sondern nach den Gesetzen des Raums und des Leibs ermessen, nicht gemacht und erdacht, sondern erworben und erwachsen. Wer nach Formen nachklügelt, ist noch kein Tänzer. Tänzerische Formen kann man nicht lernen; man kann aber lernen, sich Gott zu nahen in den Gesetzen des Räumlich-Leiblichen. Alle Vorübung zu diesem Gottesdienst ist die heilige Erschließung dieser Elemente, dieser Stufen, die vom Ich zum Kosmos führen und die zugleich die Buchstaben der tänzerischen Worte sind, in denen der Leib zu den Zuschauenden spricht. Alle äußerlich eingeübte Vorübung ist Anleitung zur Lüge.155
Böhmes Forderung entspricht dem säkularen Ansatz des Ausdruckstanzes, das Erlebte mittels der Körperseele durch den Tanz auszudrücken. Hugo von Hofmannsthal attestiert ihr eine natürliche, das heißt in sich logische Bewegungsweise, welche Auguste Rodin bei den orientalischen Tänzerinnen lobt und bei den europäischen vermisst.
153 Denishawn Magazine 1924/25, S. 22, zitiert nach Huschka 2002, S. 97. 154 Huschka 2002, S. 116. 155 BÖHME, Fritz 1926: Der Tanz der Zukunft. München: Delphin-Verlag, S. 54. Bei den religiös motivierten Tänzen stellt sich jedoch immer die Frage, ob es Gott ist, der als Quelle der Inspiration angebetet wird, oder ob nicht dem Tanz selbst die Rolle der Divinität zufällt (vgl. SCHEIER, Helmut 2004: Ausdruckstanz, Religion und Erotik. In: OBERZAUCHERSCHÜLLER, Gunhild (Hrsg.) 2004: Ausdruckstanz: Eine mitteleuropäische Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 2., verbesserte Auflage. Wilhelmshaven: Noetzel, S. 166-180, S. 170.)
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Dieses Bewegungskonzept findet sich auch in Isadora Duncans Tanz der Zukunft.156 St. Denis besaß eine besondere intellektuelle und künstlerische Strahlkraft, Auguste Rodin zeichnete die Amerikanerin während ihres Paris-Aufenthaltes, Hugo von Hofmannsthal widmete ihr 1906 den Essay Die unvergleichliche Tänzerin. Harry Graf Kessler schrieb am 29.10.1906 an Hofmannsthal: Die St. Denis, von der ich Dir neulich schrieb, mußt du sehen; sie ist ein Wunder. Ich habe sie jetzt wieder in einer ihrer wirklich großen Sachen gesehen und davon den stärksten Eindruck gehabt, den mir der Tanz als Kunst überhaupt je gemacht hat. Ein indischer Tempeltanz, ganz nackt, aber doch in einem märchenhaften Kleid aus schwerem Goldgeschmeide; wie sich hier die Linien des Nackten, mit dem Faltenwurf und seiner schweren Grazie vereinigen, so daß bald das Gewand und bald der Mädchenkörper zu verschwinden scheint, und doch beide immer in ihrer ganzen Fülle von Reichtum und Anmut zusammenwirken, das ist der höchste Anblick von reiner, sinnlicher Schönheit, den ich je gehabt habe; sie ist die Bayadere, in der bloß die beiden Pole: Tierschönheit und Mystik ohne jede Zwischenskala geistiger oder sentimentaler Töne vorhanden sind, geschlechtslose Gottheit und bloß geschlechtliches Weib, der Kontrast in der höchsten Potenz beide Wirkungen auslösen. […] Alles sehen; es wird in dir fruchtbar werden. 157
Kessler beschreibt hier den keuschen Eindruck, den St. Denis’ Nacktheit erweckt, obschon nackt, wirkt die Tänzerin geschlechtslos und doch geschlechtlich, eine Mischung, die eine ausgesprochene Faszination auf ihn ausübt: die Darbietung ist weder langweilig noch obszön, sondern für ihn das Nonplusultra der Tanzkunst. Hofmannsthal notiert dann seinerseits in seinem Essay über die Tänzerin: »[…] Er [ihr Tanz] geht an die Grenzen der Wollust und er ist keusch. Er ist ganz den Sinnen hingegeben und er deutet auf Höheres […] es ist unbeschreiblich schön.«158 Die einhellige Verehrung durch Literaten
156 HOFMANNSTHAL, Hugo von (1979): Die unvergleichliche Tänzerin. In: HOFMANNSTHAL, Hugo von; SCHOELLER, Bernd (Hrsg.) 1979: Reden und Aufsätze I (1891-1913). Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, S. 496-501. 157 Zitiert nach Oberzaucher-Schüller 2004, S. 357f. 158 Hofmannsthal 1979, S. 500.
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wie Hofmannsthal von St. Denis’ Choreografien zeigt die veränderte Rezeptionshaltung gegenüber der sinnlichen Antikendarstellung durch die Tänzerinnen: Diese Repräsentation wird nicht mehr als obszön erfahren und sozial verdammt, St. Denis wird zur »geheiligte[n] Mänade antiker Reliefs […], versehen mit den Weihen erhabener und unbestritten anerkannter Kunst wie die der Antike.«159 Allerdings ist es die Sublimierung durch die antike Kunst, die als Vorbild für die Tänze fungiert und welche die Verehrung erst möglich macht. Ein vorbildloses Benehmen hätte niemals diese Billigung erfahren, die Tänzerin wäre nicht erhabene Epigonin, sondern als triebhaftes, verderbtes Wesen aufgefasst worden, welches sich dem Vorwurf der Nähe zur Prostitution hätte aussetzen müssen. Diese Erfahrung teilt John Martin 1941 bei einer Wiederaufführung von Radha: […] es war […] eines der frühesten Werke, die den Tanz als eine ernstzunehmende, unabhängige, zu spirituellen Werten fähige Kunst behandeln […]. Das Schöpferische von Fräulein St. Denis besteht darin, daß sie vom Tanz des Orients sowohl dessen spirituelle Basis als auch die Sinnlichkeit seines Äußeren nimmt und daraus eine hochgradig wirksame und bewundernswerte theatralische Kunst für ein westliches Publikum macht.160
Wieder wird die geschickte und äußerst wirkungsvolle Kombination von Kunst und Spiritualität hervorgehoben, wobei Letztere die Erste veredelt. Werner Jakob Stüber indes sieht St. Denis’ Tänze kritischer, was bei Kessler, Hofmannsthal und Martin erwähnt wird, verdeutlicht er noch einmal: die unverhohlene erotische Komponente ihrer Tänze. Stüber versteht ihre Choreografien als Mischung von Exotik und Religiosität und nicht als ideale spirituelle Beseelung des Tanzes, sowie als eine »Verlagerung des lüsternen Tanzgewerbes eines zwielichtigen Milieus in die städtischen Theaterhäuser«.161 Die von Hofmannsthal attestierte »Keuschheit« der Tänze entlarvt Stüber als Möglichkeit des
159 Balk 1998, S. 60. 160 John Martin in The New York Times, ohne Datum, zitiert nach Stüber 1981, S. 96. 161 Stüber 1981, S. 97.
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bürgerlichen Publikums, die erotische Dimension einer vermeintlich fremdländischen, primitiven Tanzkultur zu rezipieren.162 Der Tanzkritiker Frank Thiess wiederum sieht in St. Denis’ Tänzen die perfekte Verkörperung seelischen Ausdrucks durch den Körper: »Die Inbrunst, mit der Ruth St.-Denis die ekstatische Versunkenheit eines indischen Tempelhüters in ihren Körper sog und tanzend herausschleuderte, war tiefste seelische Deutung und weit mehr als Worte definieren können.«163 Für Thiess ist es selbstverständlich, dass Religion und Tanz zusammenhängen: »Denn erst wenn wir uns darüber einig sind, daß religiöses Gefühl kein Haus mit nur einer Stube ist, wird uns bewußt werden, wie tief Religion mit Tanz verschwistert sein kann.«164 Wie alle Tänzerinnen, die sich einer Legitimationsstrategie für die Nacktheit bedienen, muss sich St. Denis dem Vorwurf stellen, ob ihre überaus ausgeprägte Religiosität nicht als Flucht vor dem Alltag zu werten ist.165 Hugo von Hofmannsthal zieht Ruth St. Denis Isadora Duncan vor, da diese seiner Meinung nach kalkulierte Tanzkunst ausübt und den Eindruck einer das unendlich Schöne suchenden Archäologin erweckt, während St. Denis für ihn die geborene große Tänzerin ist, die aus dem Relief herabstieg.166 In der Rückschau wird St. Denis’ Überreligiosität durchaus kritisch betrachtet, Horst Koegler bemerkt eine »ideologisch-ästhetisch-pädagogische Verwirrung in den Köpfen vieler vom Glauben an ihre gute Sache durchdrungenen Tänzer«, gepaart mit »verklemmte[r] Erotik, pseudoreligiöse[r] Ekstase und pädagogische[m] Magiertum«.167 Koegler zeigt sich somit vollkommen unbeeindruckt von den Legitimationsstrategien der Tänzerinnen.
162 Stüber 1981, S. 97, vgl. hierzu Villanys Publikumsstimmen und das Interesse an den Völkerschauen. 163 Thiess 1923, S. 76. 164 A.a.O., S. 77. 165 Stüber 1981, S. 102. 166 Hofmannsthal 1979, S. 501. 167 KOEGLER, Horst 1980: Vom Ausdruckstanz zum »Bewegungschor« des deutschen Volkes. Hamburg: Hoffmann und Campe, S. 166, zitiert nach Scheier 2004, S. 173f.
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4.1.7 Anita Berber Unter den Tänzerinnen der Weimarer Republik ist Anita Berber (18991928) die schillernste Persönlichkeit, ihr kurzes Leben fasziniert bis heute Biografen und Filmemacher. In ihren Tänzen des Lasters, des Grauens und der Ekstase tanzte Berber offensiv nackt wie keine Tänzerin vor ihr. Auch in ihrem Privatleben schockierte sie die Öffentlichkeit mit exhibitionistischem Auftreten. Marta Dix beschreibt Berber, wie sie sich in Wiesbaden prostituiert: – Ja, und das Auf-den-Strich-Gehen, das war ja klar. Wir gingen in Wiesbaden spazieren, und sie nahm jede Gelegenheit wahr. Jemand sprach sie an, und sie sagte: »200 Mark«. Ich fand das gar nicht so furchtbar. Irgendwie mußte sie ja Geld verdienen. Die teuren Kostüme waren selbst zu stellen, wenn sie auftrat als Tänzerin. Das konnte ja nicht viel einbringen. Die war eben so charmant, so lieb, einfach ganz natürlich und reizend.168
Berber schafft sich gezielt einen dekadenten Ruf, der von der Außenwelt auch als solcher registriert wird: sie lieferte »absichtlich ein kitschiges Schauspiel moralischer Verderbtheit«169; durch jahrelangen Drogen- und Alkoholmissbrauch geschwächt, stirbt sie mit 29 Jahren an Tuberkulose. Ihren Körper sieht die Tänzerin als Allgemeingut, welches sie freimütig zeigen kann. Selbstbewusst konstatiert sie: »Wenn jeder einen Körper hätte wie ich, würden alle nackt herumlaufen.«170 Leni Riefenstahl lernte Berber auf einem Schülertanzabend kennen und beschreibt deren Körper als so vollkommen, dass ihre Nacktheit nie obszön wirkte.171 Berber, die einige Kinderkurse bei Jaques-Dalcroze in Hellerau absolviert hatte, nahm Tanzunterricht bei Rita Sacchetto und trat ab 1916
168 Zitiert nach Fischer 1988, S. 52. 169 O.V. 1925: Berber-Barberei. In: Das Stachelschwein, Heft 2, zitiert nach Fischer 1988, S. 82. 170 TRIMBORN, Jürgen 2004: Tänze der Erotik und Ekstase: Anita Berber. In: SOYKA, Amelie (Hrsg.) 2004: Tanzen und tanzen und nichts als tanzen: Tänzerinnen der Moderne von Josephine Baker bis Mary Wigman. Berlin, Grambin: AvivA, S. 91-104, S. 97. 171 RIEFENSTAHL, Leni 2000: Memoiren. Köln: Taschen, S. 33.
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in deren Ensemble zusammen mit Valeska Gert auf, welche eine Laufbahn als Grotesktänzerin einschlug.172 Als Solistin trat Berber bei Rudolph Nelson im Wintergarten und in dem Kabarett Weiße Maus173 auf, in welchem die Zuschauer durch diskrete weiße oder schwarze Masken ihre Anonymität wahren konnten. Dieser Umstand lässt Rückschlüsse auf die Qualität von Berbers Darbietung zu und entspricht der bereits bei Villany geäußerten Meinung des männlichen Publikums, man würde sich Derartiges ja gerne ansehen, aber nur, wenn die Gattin nichts erführe. Skandale begleiteten Berbers Auftritte. 1918 entdeckte Richard Oswald sie für den Film, sie wirkte in mehreren Filmen mit, unter anderen 1922 als Tanz-Double in Dr. Mabuse, der Spieler von Fritz Lang. Neben ihrer Filmtätigkeit und den Tanzabenden stand Anita Berber Modell für bildende Künstler: Constantin Holzer-Defanti schuf für die Firma Rosenthal zwei Porzellanfiguren nach ihren Choreografien Koreanischer Tanz und Pierrette, Otto Dix porträtierte sie 1925 in Bildnis der Tänzerin Anita Berber. Berber ist hier in einem äußerst engen blutroten Kleid dargestellt, welches den Körper mehr exponiert als verhüllt, dieser Effekt wird durch die Farbe noch verstärkt. Wenngleich sie auf diesem Bild angezogen ist, lässt sich das Kleid doch als Zeichen ihrer (nackten) Körperlichkeit deuten.174 Zusammen mit ihrem Partner Sebastian Droste (Willy Knobloch), den sie 1920 im Ensemble Celly de Rheydts kennenlernte, trat sie 1922 mit den Tänzen des Lasters, des Grauens und der Ekstase auf, 1926 folgten zusammen mit Henri Châtin-Hofmann die Tänze der Erotik und Ekstase. Die Titel der Choreografien verhüllten die verkaufswirksame Erotik nicht hinter exotischen Namen, sondern gaben offen an, was das Publikum zu erwarten hatte. Die Zeitschrift Die Bühne schrieb 1925: »Wenn Anita Berber mit ihrem Partner tanzt, ist es ein ungeschminkter Akt erotischer Faszination.«175
172 Das Ensemble der Sacchetto stellte auch unbekleidet Tableaux vivants nach. (Fischer 1988, S. 25.) 173 Haustedt 2002, S. 27. 174 Vgl. KARCHER, Eva 1984: Eros und Tod im Werk von Otto Dix: Studien zur Geschichte des Körpers in den zwanziger Jahren. Münster: LitVerlag. 175 Trimborn 2004, S. 94f.
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Nach Olga Desmond, Celly de Rheydt, Isadora Duncan, Adorée Villany und Ruth St. Denis und ihren namenlosen Nachahmerinnen ist Anita Berber nicht die erste Künstlerin, die nackt auf die Bühne tritt. Ihren immensen Ruhm erlangt sie nach dem Ersten Weltkrieg, in einer Zeit, in der sich die Nacktheit einer Neubewertung zu unterziehen hat, da sich die sittlichen Schranken deutlich lockern. Der Chronist Hans Oswald beschreibt die Korrelation zwischen wirtschaftlichen Verhältnissen und gesellschaftlicher Moral in seiner Sittengeschichte der Inflation und kommt zu dem Fazit: »Die rasante Abwertung des Geldes führt zu einer ebenso rasanten Entwertung moralischer Werte«.176 Wie die anderen Tänzerinnen auch hat Berber ein äußerst selbstbewusstes Verhältnis zu ihrem Körper, den sie freimütig und ungeniert zeigt: Zu einer Zeit, da die Frauen noch dick waren und ihren Überschuß an Fett klug und schämig hinter Kleiderhüllen verbargen, sprang sie mit ihrem gertenschlanken splitternackten Körper ins Rampenlicht. Damals war Nacktheit noch eine Sensation, und über ihr Kostüm, das aus einem einzigen Brillanten bestand, sprach die halbe Welt.177
Berbers auf einen einzelnen Edelstein reduziertes Kostüm entspricht der männlichen Vorstellung idealer Weiblichkeit, wie sie von Literaten und bildenden Künstlern im 19. Jahrhundert geschaffen wurde: »nackt und mit Juwelen bedeckt«. »Die Symbolisten kleideten vor allem ihre Vorstellung des Weiblichen, das sie als rätselhafte und gefährliche Macht empfanden, in den Kontrast nackten Fleisches und glitzernder
176 OSTWALD, Hans 1931: Sittengeschichte der Inflation: ein Kulturdokument aus den Jahren des Marksturzes. Berlin: Neufeld & Henius, S. 21, zitiert nach Haustedt 1999, S. 20. Lothar Fischer sieht den verlorenen Krieg und den daraus resultierenden psychischen Druck als Grund für die nicht sublimierte und legitimierte Nacktheit, wie Berber sie auf der Bühne zeigte. (FISCHER, Lothar 2007: Anita Berber: Göttin der Nacht; Collage eines kurzen Lebens. 2. Auflage. Berlin: Edition Ebersbach, S. 50.) 177 Die Journalistin Grete Müller, zitiert nach Fischer 1988, S. 28.
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Substanzen – den Kontrast von äußerster Natürlichkeit und äußerster Künstlichkeit.«178 Thomas Schrode sieht Berbers nicht vorhandenes Kostüm als theatrales Zeichen für »Lasterhaftigkeit, gesellschaftlich Verbotenes und für Natürlichkeit und Reinheit, von der Gesellschaft erwünschte Äußerungen für Lebenswillen und für Unlust am Leben.«179 Somit ist der nackte Körper anders als bei den bereits erwähnten Tänzerinnen nicht sublimiert, die Nacktheit wird nicht durch eine erhabene Größe wie natürliche Schönheit oder Religion legitimiert. Vielmehr wurde sie als sexuell und daher mit dem Laster konnotiert verstanden und als Ausdruck des Elends, welcher durch Berbers Choreografien und Körperschminke noch verstärkt wurde. Verwurzelt in einer Zeit, in dem die Gräuel des überstandenen Kriegs noch präsent sind, zeigten Berbers Filme »die Degeneration in Greifbarkeit«, verkörpert durch Freudenhäuser, Zuhälter, Dirnen, Sadisten, Homosexuelle,180 sie selbst spielte oftmals Prostituierte. Berbers Choreografien kreisten um ähnliche Sujets: »Wir tanzen den Tod, die Krankheit, die Schwangerschaft, die Syphilis, den Wahnsinn, das Sterben, das Siechtum, den Selbstmord, und kein Mensch nimmt uns ernst. Sie glotzen nur auf unsere Schleier, ob sie nicht darunter etwas sehen können, die Schweine.«181 Berbers Einführung des ›Hässlichen‹ in ihre Ästhetik markierte eine Neuerung innerhalb der Ästhetik des Tanzes, der bis zur Jahrhundertwende nur von Schönheit und Grazie geprägt war. Das Hässliche im Tanz wurde bis dahin auf grotesk-komische Weise dargestellt und als Travestie von der für das
178 HOFSTÄTTER, Hans H. 1965: Symbolismus und Kunst der Jahrhundertwende: Voraussetzungen, Erscheinungsformen, Bedeutungen. Köln: DuMont, S. 137, zitiert nach Balk 1998, S. 25. 179 Schrode 2004, S. 303. 180 KALBUS, Oskar 1935: Vom Werden deutscher Filmkunst. Bd. 1. AltonaBahrenfeld: Cigaretten-Bilderdienst, S. 41, zitiert nach Fischer 2007, S. 57. 181 Fischer 1988, S. 66. Der Schauspieler Hermann Vallentin, Bruder von Rosa Valetti, spottete indes: »Was interessiert das Publikum?/Hunger, Elend, Not von Millionen?/Daß Tausende im Zuchthaus verrecken – / interessiert das das Publikum?/ I wo, der nackte Hintern der Anita Berber, der/ interessiert das Publikum!« (Zitiert nach Pacher 1987, S. 154.)
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Ballett paradigmatischen Ästhetik der Schwerelosigkeit abgegrenzt. Erst der Ausdruckstanz integrierte das Hässliche bewusst in seine Ästhetik.182 In ihrem Tanzstück Kokain trat sie vollkommen nackt auf mit kalkweiß geschminktem Gesicht und dunklen Schatten um die Augen. Selbst abhängig, verkörperte sie eine Frau im Rausch, welche nackt auf der Bühne liegt und versucht, ihren Körper wieder unter Kontrolle zu bringen.183 Der Kritiker Joe Jenčik beschreibt ihren Tanz Kokain: […] Mit einigen Schwüngen, die den langsamen Schwingungen des Pendels aus der Erzählung Edgar Allan Poes ähneln, richtet sich der Körper auf. Besser gesagt: Er bildet einen merkwürdigen Knäuel Fleisch mit zwei unbeschreiblichen Schlitzen anstatt der Augen und einer blutigen Wunde als Mund. Das Knäuel entwirrt sich unsagbar träge, auf Anordnung von etwas, was gerade jetzt zwischen dem Verstand und der aufgequollenen Hirnrinde herrscht. Die Tänzerin stellt sich mechanisch auf die Beine. Anscheinend ist sie eine Marionette im grausamen Spiel zwischen dem Gift und der Herztätigkeit. Das vom Willen der Natur durch die Adern getriebene Blut pulsiert im Körper von Ort zu Ort […]184
Berbers doppelter Tabubruch zeigt zum einen die unverhohlene, durch den Titel klar benannte Drogensucht und zum anderen den degenerierten, aus der Kontrolle geratenen Körper. Das Kokain im Organismus der Figur setzt die Zivilisation des Leibes außer Kraft, die Beherrschung löst sich im Rausch auf und muss mühsam wiedererlangt werden. Diese Visualisierung von Drogenerfahrungen ist der Höhepunkt der bewussten Exposition des Hässlichen, welche einem Tabu unterliegt, da diese an das erinnert, was jenseits der mühsam durch die Gesellschaft aufgestellten und eingehaltenen Regeln liegt. 1925 tanzte sie mit Henri Châtin-Hofmann Absinth und thematisiert darin die legendäre Spirituose, von vielen Künstlern konsumiert und im Verdacht stehend, aufgrund seines Thujon-Gehaltes den Alkoholrausch noch zu verstärken.
182 Brandstetter 1995, S. 34. 183 Trimborn 2004, S. 96. 184 JENCIK, Joe: 1930 Anita Berberová. Prag, S. 17ff., zitiert nach Fischer 2007, S. 102f.
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Neben Drogen stellte die offensive und unverhohlene Sexualität ein Hauptthema in Berbers Choreografien dar. Ebenfalls 1925 tanzte sie mit Châtin-Hofmann innerhalb des Programms Klassische/ Moderne Tänze den Tanz Schiffbrüchig: Anita and Henri are desperate castoffs on a deserted island. […] The two pass the time shamelessly dancing by themselves. The woman caresses her breasts, plays with her body. […] Self-consciously, he prances around his indecent partner, parading his body and, like her, voluptiously strokes his own skin.185
Die Stimulation des Körpers wird zum Selbstzweck erhoben, das Ziel ist nicht mehr das Erreichen eines geistig sublimierten Zustandes, sondern reine Selbstbefriedigung, welche, da sie von der Fortpflanzung abgekoppelt ist, eine besondere Art der Sexualität darstellt. Es geht nicht mehr um die Erlangung der Körperseele, es geht um den reinen Körper. Berber und Châtin-Hofmann zeigen hier in ihrer Choreografie öffentlich die Sexualtriebe, welche jedem Menschen innewohnen, im Laufe des Zivilisationsprozesses aber sorgsam in den Bereich des Privaten und Unaussprechlichen verdrängt wurden. Auf derartige Weise verdrängte Triebe können durch Kunst sublimiert werden, wie der Kritiker Werner Suhr in seiner Schrift Der künstlerische Tanz bemerkt. Er sieht den Tanz – wie auch die anderen Künste – unter Berufung auf die Theorien Sigmund Freuds als sublimierte Sexualität. »Und da allein die Seele durch den Körper den künstlerischen Tanz gestaltet, ist auch der Tanz, welcher so unmittelbar gewonnen wird, das impulsivste Ausdrucksmittel der verdrängten und verzauberten Sexualität.« Suhr unterscheidet zwischen zwei Arten von Tänzerinnen: Die eine sublimiert ihre Sexualität in keuscher Form auf »verschlossene« Weise in Trauer, Schmerz, Freude, Andacht, Sehnsucht oder Entsagung. Daneben existiert noch die »offene« Sexualität, welche sich in ekstatischen, geschlechtsbetonten Tänzen manifestierte. Der ekstatischen Tänzerin – Suhr unterscheidet recht diffus zwischen hehrer Ekstase und billigem Tingeltangel – spricht Suhr auch das Erreichen der Körperseele und somit religiöse Erweckung zu: Hingegen ist der künstlerische Tanz einer ekstatischen Tänzerin immer ein seelisches Erlebnis, da die Schöpferin vorher ihre Sinne beseelte und nun ihre
185 Gordon 2006, S. 150.
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Seele versinnlicht und versinnbildlicht in einer höheren Weise. […]In entscheidenden Epochen des Lebens kommt es immer wieder auf die Kunst, auf die Religion oder auf die Liebe an. 186
Bei Anita Berber lässt sich diese Trennlinie nicht ziehen, die Triebfeder ihres Schaffens war stets die Sexualität. Klaus Mann schrieb: »Anita Berber – das Gesicht zur grellen Maske erstarrt unter dem schaurigen Gelock der purpurnen Coiffure – tanzt den Koitus.«187 Lucinda Jarrett konstatiert diesbezüglich, dass Berbers Versuch, ihre Sexualität frei auszuleben und die Grenzen zwischen sexueller Fantasie und Realität zu sprengen, angesichts eines pornografisch interessierten Publikums zum Scheitern verurteilt sein musste.188 Berber tanzte die Extreme, wurde aber nicht nur pornografisch rezipiert. Die ›Ekstase‹, welche Berber in ihren Programmen sucht, ist allein physikalisch evoziert, der Rausch wird durch verschiedene Drogen und Alkohol hervorgerufen, der Orgasmus durch Sexualität. Die Natürlichkeit des Körpers ist nicht mehr positiv besetzt, der Körper ist nicht mehr die Krone der Schöpfung und ein Wunderwerk, sondern vielmehr die vom Verfall bedrohte irdische Fessel des Geistes. In ihrer Choreografie Astarte verkörperte Berber die androgyne (»Sie ist nicht Frau/Sie ist nicht Knabe/Sie ist nicht Tier/Sie ist nicht Gott/Sie ist Mond«189), unberührbare Göttin. Wieder steht die Trias Last – Lust – Qual im Zentrum: »Sie trägt den Mantel der göttlichen Laster/Sie hat den Kopfschmuck der göttlichen Lust/Sie trägt den grünen Smaragd der Qual«190 Astarte ist die sadistische Herrscherin über ihre Sklaven und Geschöpfe, welche sie opfert, während sie lacht und tanzt. Ihre Kritiker stilisieren Berber zur Inkarnation Astartes: In »Astarte« Anita danced her true erotic sphere and sex: she was neuter and belonged to no one. No one could touch her or take her. She belonged only to
186 SUHR, Werner 1922: Der künstlerische Tanz. Leipzig: Linnemann, zitiert nach Fischer 1988, S. 20. 187 MANN, Klaus 1989: Der Wendepunkt: Ein Lebensbericht. München: Edition Spangenberg, S. 143f. 188 Jarrett 1999, S. 97. 189 Astarte-Libretto in BERBER, Anita; DROSTE, Sebastian 1923: Die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase. Wien: Gloriette-Verlag, S. 38. 190 Ebd.
134 | THEATER DER N ACKTHEIT herself and she alone was the subject to the magnetism of her own sexual charge. Anita performed the goddess of the moon in human, female form. If Astarte ever existed, she was surely incarnated in the German dancer.191
Brygida Ochaim sieht Berbers Choreografien als einen bewussten Bruch mit der Ästhetik der Jahrhundertwende, aus dem die Abkehr von Historismus resultiert, wodurch sie das bis dahin vorherrschende Idealbild weiblicher Schönheit demontiert.192 Trotz dieser deutlichen Haltung gab es Versuche, Berbers Nacktheit traditionell zu legitimieren: Der Schriftsteller Varo Andor erdichtet in seinem Roman über die Tänzerin Lya de Putti die Begegnung der beiden Frauen und legt Anita Berber die Legitimation für ihre Nacktheit in den Mund: Die Presse übertreibt und lügt. […] Später werden Sie selbst herausfinden, dass ich eine Künstlerin bin und keine Perverse. Die denken, dass ich verrückt bin, weil ich mein Gesicht weiß schminke, ohne Kleidung tanze und Kokain nehme. Der Grund ist vielleicht, dass ich früh damit angefangen habe, Baudelaire zu lesen und Bücher von Henri Barbusse, die während des Krieges nach Paris geschmuggelt wurden. Mein Partner Sebastian Droste übersetzte für mich griechische und lateinische Texte, die sagen, dass es keine Sünde ist, den nackten Körper zu zeigen; denn der Körper ist ein Geschenk Gottes.193
Hätte Berber dies tatsächlich geäußert, hätte sie die Legitimation im Sinne Duncans für ihre Nacktheit geliefert: den Bezug auf die Antike und den Glauben an den natürlichen, sublimiert schönen Körper. Es ist aber äußerst zweifelhaft, dass Berber so dachte und eher wahrscheinlich, dass Andor die Künstlerin in einem edleren und intellektuelleren Licht darstellen wollte. Noch während Berbers überaus kurzer Karriere wandte sich das Publikum von ihr ab. Ihr Biograf Lothar Fischer sieht Berbers künstlerischen Untergang in der Umwandlung der Gesellschaft, welche sich an der düsteren, zwielichtigen Kunst sattgesehen hatte und nun nach optimistischen und zukunftsweisenden Themen – oftmals Modeerscheinungen – verlangte, unter die Berbers Romanbiograf Leo Lania
191 Jencik 1930, zitiert nach Gordon 2006, S. 85. 192 Balk 1998, S. 105. 193 ANDOR, Varo 1928: Lya. Budapest, zitiert nach Fischer 2007, S. 125f.
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»Tiller-Girls und Rassenhygiene, Kreuzworträtsel und Wege zu Kraft und Schönheit« subsumiert: »[W]as sollten da Tänze des Lasters und der Ekstase? Laster war nicht mehr schick, und Ekstase bezog man nur noch bei Boxkämpfen.«194 1927 kann die Kritik mit Berbers einst gelobten und gefeierten Tänzen nichts mehr anfangen und konstatiert ihr, dass ihre Zeit, die Zeit der »unmotivierte[n], gänzlich sinnlose[n] Bewegungen« überholt sind.195 Als sie 1928 stirbt, erscheint im Filmkurier ein Nachruf: Vor zehn Jahren bedeutete sie unserer Generation noch die Inkarnation des Perversen. Man sprach von ihr mit leichtem Frösteln, mit entschiedener Ablehnung dieser Art der Mentalität. […] Dabei erfüllte sich an ihr nur das Schicksal ihrer Generation. Die heute Dreißigjährigen waren die ersten, die im Vorkriegsberlin, kurz vor Ausbruch des Stahlbades, den notwendigen Kampf der Jungen gegen die Alten aufnahmen. Sie waren die ersten, die den Konflikt Kinder/Eltern durchführten; sie protestierten gegen das unsinnige Prinzip der Autoritätserziehung. Indem die Geschlechter über trennende Schranken zueinander fanden, indem sie – mangels ausreichender Kunstbegabung – im Kunstgewerbe Befreiung suchten. […] Wie dem auch sei, das eine steht fest: die Generation der Anita Berber war die Avantgarde. Sie waren die ersten, die das Recht aufs eigene Leben verfochten, für uns Nachfolgende durchfochten. Daß sie dieses Leben sich später verpfuscht haben, dürfen gerade wir ihnen nicht zum Vorwurf machen, die wir, auf ihren Schultern, den Kampf aufgenommen, und – unter ungleich günstigeren Bedingungen – fortgeführt haben.196
1923 veröffentlichten Anita Berber und Sebastian Droste im Wiener Gloriette-Verlag in einer Luxusausgabe Die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase, darin enthalten waren Porträtzeichnungen der Tänzer, Fotos aus dem Atelier d’Ora, Gedichte von Berber und Droste, Szenarien einiger ihrer Tänze sowie Aufzeichnungen Drostes über die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase. Letztere geben genaueren Aufschluss über die Motivation der Nacktheit in Berbers und Drostes Choreografien.
194 Lania 1929. 195 Der Film Nr. 3 vom 15.02.1927, zitiert nach Fischer 2007, S. 165. 196 Filmkurier vom 13.11.1928, zitiert nach Fischer 1988, S. 90f.
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Droste konstatiert, dass Tanz Ausdruck inneren Erlebens und kein »bewußter überlegendster Schritt vor eitlem Spiegel«, »choreographisch-intellektuellstes spitzestes ausgeklügeltes Zersplittern« sei.197 Der Tänzer benutzt also die bekannte Argumentation des Ausdruckstanzes und die Absage an das klassische Ballett. Droste geht jedoch weiter und erläutert das Spezifische an Berbers198 Tänzen: Berber ›spielt‹ nicht das Laster, das Grauen und die Ekstase, »Anita Berber ist das Laster / So wie sie das Grauen ist / Das Grauen und die Ekstase«.199 Die Tänze sind der Übergang der Empfindung des Elends der Welt in die körperliche, getanzte Form, die dadurch heilig wird: Das Überfließen stärksten Erlebens in körperliche Form Das unbewußte Gehorchen der Glieder nach heiligster Musik der Seele Das Aufhorchen fremder Urkräfte die aufschreiend uns Erschrecken und zerreißen Das heiligste Erschauern tiefster Ekstase Das aufpeitschendste Erzittern wühlendsten Grauens Das lüsterne Sichhingeben verbotenster Laster Und weil dieses Erleben ein geistiges Verströmen Verbluten Und Zerfließen ist So ist es heilig200
Anders als Duncan und Villany suchen Berber und Droste nicht die Sublimierung des Körpers, sie wollen nicht das Schöne darstellen, allein der Akt der authentischen Darstellung des Fühlens – hier des omnipräsenten Entsetzens, hervorgerufen durch den Drogenkonsum der Interpreten sowie des Grauens des Krieges und der bald darauf folgenden Inflation – macht den Tanz heilig. Die Ekstase ist das genaue Gegenteil der Zivilisation, alles, was aufgrund gesellschaftlicher Vereinbarungen verborgen und unterdrückt sein sollte, wird hier in
197 Berber; Droste 1923, S. 16. 198 Es ist bemerkenswert, dass Droste hier Berber hervorhebt, als sei sie es allein, die diese Tänze der Ekstase tanzt. 199 Berber; Droste 1923, S. 15. 200 Ebd.
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einem Ausbruch individueller Empfindungen und Bedürfnisse an die Öffentlichkeit gebracht. In dem Gedicht Legenden zeigt Droste den Gegensatz zwischen der Rezeptionserwartung des Publikums und der Realität außerhalb des Theaters. Das Publikum sieht den Tanz ausschließlich als Synonym für positiv konnotierte Darstellungen, während Menschen an unheilbaren Krankheiten dahinsiechen und die Gefängnisse überfüllt sind.201 Diese Themen waren stets präsent in Berbers Choreografien. Hinsichtlich des Lasters und der Ekstase bezieht sich Droste auf den römischen Kaiser Heliogabal: Der Gott wurde durch Ekstase seines Leibes und Dem man als Gott opferte durch die Reinheit seines Körpers Das Schreiten seiner schmalen Schenkel Das Geben und Nehmen seiner Mädchenarme Das Sichfestkrallen Sichloslösen Zerhauchen Zerschweben seiner Finger Das göttliche Erschauern heiligster Ekstase Und siehe Das Volk fiel in die Knie und bedeckte das Haupt Die Männer schrien und die Weiber heulten Denn es war Lust in ihnen Lust Und sinnliches Begehren Doch er Heliogabalus War Gott Unnahbar Heilig Und wahr Und wie in den Ländern der alten Welten der Tanz höchste heiligste Religion war wie er zum Urbild und Schreckbild des Volkes ward wurde er letzte steilste Brücke von Mensch zu Gott202
201 Berber; Droste 1923, S. 19. 202 A.a.O., S. 20f.
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Die Ekstase ist also untrennbar mit dem Leben verbunden, erst wenn sie sich in einem Medium wie dem Tanz äußern kann, schafft der Mensch den Brückenschlag zur Religion. Auch hier wird evident, dass es nicht um Sublimierung geht, sondern um das dem Menschen immanente Laster, das es nicht zu negieren, sondern zu akzeptieren gilt. Berber und Droste lebten diese Haltung und machten sie zum Gegenstand ihres Tanzes.
4.2 V OM T INGEL -T ANGEL ZUR PRUNKVOLLEN N ACKTHEIT : N ACKTHEIT IN V ARIETÉ UND R EVUE Während die Ausdruckstänzerinnen die Nacktheit nutzen, um ihrer persönlichen künstlerischen Motivation, etwa dem Bezug zur Natur, zur Religion oder den gegenwärtigen sozialen Umständen Nachdruck zu verleihen, setzte das Unterhaltungstheater auf die Nacktheit als frivole Attraktion. Wurden nackte Körper um die Jahrhundertwende noch sparsam gezeigt, avancierten sie schließlich zum Markenzeichen der großen Ausstattungsrevuen der zwanziger Jahre, deren Titel unverhohlen auf die den Zuschauer erwartenden Nuditäten verwiesen. Der Berliner Regisseur James Klein, neben Erik Charell und Hermann Haller der bedeutendste deutsche Revue-Produzent, gab seinen Shows plakative Namen, welche direkt im Titel auf die Attraktionen des Abends hinwiesen: Die Welt ohne Schleier (1924); Berlin ohne Hemd (1926); Die Sünden der Welt (1927); Alles nackt (1927); Zieh dich aus (1928); Donnerwetter, 1000 Frauen (1928); Häuser der Liebe (1928); Paradies der Frauen (1929); Von Bettchen zu Bettchen (1929). 1928 trug seine Jahresrevue in der Berliner Komischen Oper den Titel Zieh dich aus, das Programmheft versprach einen »Abend ohne Moral in 30 Bildern unter Mitwirkung von 60 preisgekrönten Aktmodellen.« Szenen dieser Produktion hießen Es tut sich was zur Frühlingszeit und Im Damenbad203 Siegfried Geyer fasste die Bedeutung der Nacktheit für die Ausstattungsrevue 1928 in der Zeitschrift Die Bühne
203 Klooss; Reuter 1980, S. 10.
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zusammen: »Multipliziert man eine nackte Frau mit fünfzig, so ist die Haupthandlung bereits da.«204 Die großen Ausstattungsrevuen erlebten ihre Blütezeit in den zwanziger Jahren, und so nimmt es nicht wunder, dass sie die allgemein gelockerte Moral der Weimarer Republik widerspiegelten. Was bei Celly de Rheydt und Anita Berber noch im privaten oder künstlerischen Rahmen geschah, eroberte jetzt die größten Unterhaltungsbühnen der Hauptstadt: »Eine Gegenwart, die keine Illusionen hat, nimmt auch den Frauenkörper ohne Verschleierung als öffentliches Schaustück an. So ist es immer gewesen in allen Zeiten der Revolution oder der gesellschaftlichen Umwühlung.« 205 Während es den in Kapitel 4.1 beschriebenen Tänzerinnen um die Befreiung des Körpers aus den ideellen und physischen Schranken des klassischen Tanzes ging, benutzten Varieté und Revue die nackten Körper der bildhübschen Tänzerinnen als erotische Attraktion. Sie mussten nichts mehr befreien und nicht mehr kämpfen, den Weg, den ihnen Tänzerinnen wie Isadora Duncan geebnet haben, beschritten sie selbstbewusst und wurden dabei in den tausende Zuschauer fassenden Theatern bestaunt. In den Revuen der zwanziger Jahre schafft es die Nacktheit erstmalig in der Geschichte des Theaters zum massenkulturellen Phänomen zu werden. Bis zur Verbreitung des Tonfilms, welche das Ende der großen Revuen markiert, ist das Revue-Theater das populärste und avancierteste Medium zur öffentlichen und gesellschaftlich erlaubten Exhibition der Nacktheit. Ein genuines Phänomen der Ausstattungsrevuen waren die GirlTruppen206, Formationstanzgruppen mit bis zu über dreißig optisch nahezu identischen Mitgliedern, deren Tänze sich durch absolute Präzision auszeichneten. Nicht nur in Deutschland erlebten Varieté und Revue ihre Glanzzeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts, auch in England, Frankreich und den USA blühte das Genre auf. Neben Berlin war Wien das deutsch-
204 GEYER, Siegfried 1928: Kleine Bemerkungen zum Thema Revue. In: Die Bühne, 5. Jahrgang, Heft 202, S. 7, zitiert nach Kothes 1977, S. 67. 205 SALTEN, Felix 1924: Wien gib Acht. In: Neue Freie Presse vom 10.02., zitiert nach Fischer 1989, S. 111. 206 ›Girl‹ war in den zwanziger Jahren der feststehende Begriff für die jugendliche, selbstbewusste Gruppentänzerin in der Revue. Siehe Kapitel 4.2.3.
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sprachige Zentrum des Revuetheaters. Opulente Produktionen wurden in Paris in den Folies Bergère und im Moulin Rouge gezeigt, welche bis heute Touristenattraktionen darstellen. Wenngleich Nacktheit auf der Bühne in allen Varianten des Striptease nach dem Krieg auch in der Provinz zu finden war und heute via Internet überall und zu jeder Zeit verfügbar ist, setzen die Pariser Produktionen immer noch Maßstäbe bezüglich der Ausstattung, Inszenierung und des tänzerischen Könnens der Darstellerinnen. Im Rahmen dieser Arbeit ist es nicht möglich, die ausländischen Varietés und Revuen zu untersuchen, alleine die großen Pariser Theater und die amerikanischen Ziegfeld Follies wären für sich Gegenstand einer eigenen Untersuchung. Es bestehen indes deutliche Parallelen zwischen den Berliner und den internationalen Produktionen in Bezug auf Ausstattung – die prachtvollen und teuren Kostüme zirkulierten zwischen den Städten und waren in mehreren Inszenierungen zu sehen – und Dramaturgie. Verdeutlicht werden soll dies in Kapitel 4.2.2 an der Gegenüberstellung zweier Revueszenarien aus Berlin und Paris. Eine Sonderform der Darbietung der Nacktheit auf der Bühne ist die amerikanische Burlesque, die als Grundstein des modernen Striptease angesehen werden kann. Stärker als in allen anderen theatralen Gattungen steht hier die Präsentation der Nacktheit im Vordergrund und damit einhergehend die erotische Stimulation des Rezipienten, es gibt keine Legitimation für die Nacktheit außer der Schaulust des Zuschauers.207 In den neunziger Jahren hat diese Theaterform ausgehend von den USA eine Revitalisierung erfahren, dieses Phänomen der New Burlesque wird in Kapitel 8.4 untersucht. 4.2.1 Varieté Das Varieté zeichnet sich aus durch seine Diversität – die bereits das Wort ›Varieté‹, französisch für Vielfalt, ausdrückt – und lässt sich als die Wiege der modernen Massenunterhaltung ansehen. Bereits 1860 brachte Friedrich Gottlieb Großkopf Programme auf die Bühne, welche als Varietévorstellungen gelten können.208 In den zwanziger
207 Zur Burlesque siehe Jarrett 1999; ALEXANDER, H. M. 1938: Strip tease: the vanished art of burlesque. New York: Knight. 208 JANSEN, Wolfgang 1990: Das Varieté: Die glanzvolle Geschichte einer unterhaltenden Kunst. Berlin: Hentrich, S. 49.
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Jahren erlebte es parallel zu den Revuen seine Blüte, 1922 existierten in Berlin nicht weniger als 170 Varietétheater, von denen 23 mehr als 1000 Plätze anboten. Doch nicht nur in der Hauptstadt florierte das Varieté, auch in vielen weiteren Städten in Deutschland wurden ständig neue Spielstätten eröffnet.209 Die bekanntesten Varietés in Berlin waren die Scala und der Wintergarten. 1920 führte die Scala das Nummerngirl ein, welches vor jeder Darbietung der Varieté-Vorstellung mit einem Nummerschild quer über die Rampe spazierte. Ilse May, das erste deutsche Nummerngirl, welches diese Position bis 1928 an der Scala bekleidete, trat zunächst in einer Hotelpagen-Uniform auf, später wandelte sich das Nummerngirl zum »Typ des langbeinigen, leichtbekleideten kapriziösen Persönchens, das häufig das Kostüm wechselt.«210 Das stumme Nummerngirl ersetzte den Conférencier als eigenständigen Künstler innerhalb des Varietéprogramms, der leichtbekleidete weibliche Körper gewann somit die Vorherrschaft über das Wort. Der Tanz war im Varieté ein künstlerisches Element unter vielen anderen wie den diversen Varianten der Artistik und Zauberkunst, um nur einige zu nennen. Auf der Varietébühne erhielt der Tanz die Möglichkeit, sich vom Hoftanz fortzuentwickeln. Früher als auf der reinen Tanzbühne traten hier Tänzerinnen auf, die in ihrem Tanz die Entkleidung benutzen, um eine erotische Wirkung auf das (männliche) Publikum zu erzielen. Die Fachzeitschrift Der Artist schrieb 1892 über die spanische Tänzerin Pepita: […] Pepita electrisierte. Alles durch ihre Tanzkunst, d.h. richtiger durch ihren schönen Körper und durch die sinnliche Gluth ihres Tanzes, denn als mimische Künstlerin war sie unbedeutend. Aber sie war die erste spanische Tänzerin, die nicht damit kargte, ihr Röckchen möglichst hoch emporzuheben, und darin beruhte am Ende das Geheimnis ihres Erfolges.211
209 Jansen 1990, S. 9. 210 GÜNTHER, Ernst 1978: Geschichte des Varietés. Berlin: Henschel, S. 290. 211 Der Artist Nr. 383 vom 12.6. 1892, zitiert nach Jansen 1990, S. 45. Eine detaillierte Monografie über die Varietétänzerinnen um 1900 liegt in Ochaim; Balk 1998 vor.
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Das erotische Moment, welches im Varieté und seinen Nebengattungen wie Café Chantant und Music Hall immer präsent war, wurde zum Hauptangriffsziel der Gegner, vor allem jener, die versuchten, das artistische Varieté vom sogenannten ›Tingel-Tangel‹ zu unterscheiden: Der Tingel-Tangel unterscheidet sich vom höheren Varieté dadurch, daß durch seine Darbietungen die niederen Instinkte, namentlich die Geschlechtslust, angeregt werden sollen. Ein Maßstab für die Beurteilung des Tingel-Tangels ist auch das Zurschausitzen der auftretenden Mädchen. In den Tingel-Tangel geht man, um sich aufzuregen, in das Varieté, um über die höheren und großartigen Darbietungen zu staunen.212
Das hier beklagte anregende Element des ›Tingel-Tangels‹, der doch nur eine freizügigere und assoziativere Form des Varietés war, waren selbstverständlich die mehr oder weniger nackten Tänzerinnen. Ermöglicht wurde die zunehmende Nacktheit im Varieté durch die Abschaffung der Vorzensur, welche es den Direktoren nun erlaubte, noch unverhohlenere Nuditätenschauen zu präsentieren. Nacktheit wurde nicht mehr nur andeutungsweise sondern explizit gezeigt.213 Der Tanz wurde auch für das Varieté immer wichtiger, nachdem in den zwanziger Jahren alle berühmten Girl-Truppen in der Scala aufgetreten waren, installierte man 1934 schließlich eine eigene Truppe, die bis zum kriegsbedingten Ende des Hauses mit großem Erfolg auftrat.214 Das Varieté näherte sich somit den wirtschaftlich erfolgreichen Strategien der Revue immer weiter an. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich der Vormarsch der Nacktheit unter dem altbekannten Deckmantel des ›Schönheitstanzes‹ im Varieté fort und wurde von Branchenvertretern mit großer Sorge gesehen: Wo man hinsieht, überall knallt einem das Wort »Schönheitstänze« ins Gesicht. O du armes Kabarett, o du armer Herr Direktor, der du dir keinen anderen Rat mehr weißt, als deinen Gästen neben dem Fleisch auf dem Teller nun auch noch Fleisch auf dem Parkett vorzusetzen. […] Armer, bedauernswerter
212 Gerichtsurteil vom 11.04.1907, abgedruckt in Der Artist Nr. 2151 vom 11.03.1927, zitiert nach Jansen 1990, S. 61. 213 Jansen 1990, S. 195. 214 A.a.O., S. 215.
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Gast, armer Direktor, der du dieses gutheißt und als Schönheit durch deinen Portier in die Welt hinausrufen läßt. Aber auch ärmere Schönheitstänzerin, die du durch die Not der Zeit gezwungen wirst, Dich in einer Weise zu zeigen, die geeignet scheint, deinem Beruf den schlechtesten Dienst zu erweisen. Gewiß, die Zeiten sind heute etwas anders geworden, aber müssen es ausgerechnet nur noch Nackttänzerinnen sein? Glauben die Herren Direktor, daß jeder Gast danach verlangt? […] Die Not ist groß in unserem Beruf und viele Tänzerinnen sind dadurch gezwungen, Arbeitsbedingungen anzunehmen, die sie hoffentlich normalerweise nicht annehmen würden, aber muß es immer nackt sein?215
Die Korrelation zwischen Nackttanz und dessen wirtschaftlicher Notwendigkeit für die ausführende Künstlerin wurde bereits 1931 von Ödön von Horvath in Geschichten aus dem Wiener Wald thematisiert. Bei der Betrachtung der in Kapitel 4.1 behandelten Tänzerinnen kommt man indes zu dem Schluss, dass das Gros der Nackttänzerinnen zwischen 1900 und 1925 freiwillig, stolz und mit künstlerischen Motiven ihren nackten Körper präsentierte. Eine derartig liberale Motivation und Rezeption der Nacktheit auf der Bühne ist veränderten Moralvorstellungen geschuldet, welche sich auf das künstlerische Selbstverständnis der Tänzerinnen auswirkte. Während der Weimarer Republik war die Einstellung gegenüber der Nacktheit wesentlich lockerer als nach dem Zweiten Weltkrieg, was das obenstehende Zitat aus dem Jahr 1950 zeigt. Diese Wahrnehmung änderte sich erst wieder in den späten sechziger Jahren.
215 Willi Feldmann in Artisten vom 10.07.1950, zitiert nach Jansen 1990, S. 258.
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4.2.2 Revue Die Gattung Revue216 wurzelt in der französischen satirischen Revue de Fin d’Anée, welche die Ereignisse des ausgehenden Jahres zu Silvester in unterhaltsamer Form auf die Bühne brachte. In den USA waren die Gattungen Extravaganza, Burleske und Vaudeville Vorläufer der Ausstattungsrevue, wobei die spektakulären Ausstattungen der Extravaganza direkt auf die Revue verweisen.217 Die europäischen Jahresrevuen beinhalteten die kritische Auseinandersetzung mit den politischen Ereignissen. Im Laufe der Zeit wandelte sich die Revue indes von dieser chronistischen Funktion zum reinen Unterhaltungstheater. Ein weiteres Merkmal dieses Unterhaltungsgenres war neben der vom Publikum gewünschten Zerstreuungsfunktion die sentimentale Glorifizierung der sogenannten ›guten alten Zeit‹.218 Die Dramaturgie der Revue zeichnet sich durch eine gleichgeordnete Reihung von Sketchen, Conférencen und Gesangs- oder Tanznummern aus, die einem losen Nummernschema folgen oder in eine Rahmenhandlung eingebettet sind. Während die ältere Jahresrevue vorwiegend mit einer Rahmenhandlung operierte, bediente sich die jüngere Ausstattungsrevue daneben auch der unverbundenen Nummernform, wie sie auch im Varieté und Kabarett eingesetzt wurde.219 Die unverbundene Form mit ihren teilweise sehr trivialen Bildern erfuhr jedoch auch Kritik, so war 1924 in der Vossischen Zeitung zu lesen:
216 Es herrscht kein Konsens darüber, ob die Revue eine eigene Gattung ist oder als Untergattung des Varietés zu verstehen ist: Die Revue, die heute von manchen zur selbstständigen Kunstgattung erhoben werden soll, ist – von ihrer ursprünglichen Theaterform abgesehen – nichts anderes als eine spezifische Form des Varietés. (Günther 1978, S. 13.) Im Rahmen dieser Arbeit ist es indes sinnvoll, die Revue als eigenständige Form zu betrachten, da diese die Nacktheit wie keine andere Gattung als zentrales Stilmittel benutzt. 217 Kothes 1977, S. 21. 218 A.a.O., S. 14. 219 A.a.O., S. 51f.
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36726 ½ Bilder lese ich, soll die Revue lang sein … Um zwei Uhr nachmittags beginnen wir mit dem Packen … Um 9 Uhr beginnt es: 1. Bild: Ein Mann (erscheint auf der Bühne und sagt): Pst! (Geht wieder ab). 2. Bild: 63478 unangezogene Damen zeigen mit den Zehen nach links oben … 31. Bild: Eine Frau (kommt ausnahmsweise mit Partner, bekleidet, deklamiert): Pssst! ...220
Die Kritiker Herbert Ihering und Fritz Engel beklagen um 1928 den Luxuscharakter der Revuen, welche alle Themen kurz streiften, sich aber gerade auf die politischen und sozialen Fragen nicht einließen. Die Revue wird mit einem bunten Warenhaus verglichen, in welchem der Kunde durch die Warenvielfalt verführt und auf keinen Fall durch ernste Themen vergrault werden soll.221 Die nackten Darstellerinnen verkörpern somit nicht das soziale Elend, wie es Anita Berber in den Vordergrund stellte, sie sind vielmehr als lebendige Ausstattungsstücke Ausdruck der in den zwanziger Jahren herrschenden Dekadenz. Das Publikum der ›Goldenen Zwanziger‹ wollte nicht mehr die verruchte Halbwelt auf der Bühne sehen, sondern in Luxus eingepackte Nacktheit, wie sie die großen Revuen von Haller oder Charell offerierten.222 Die Ausstattungsrevue war gekennzeichnet sich durch die Dominanz der sinnlichen Effekte und das Primat des Visuellen,223 dem durch opulente Bühnenbilder und Kostüme sowie die personalintensiven Girlreihen Rechnung getragen wurde. Ziel der Ausstattungsrevue war die Befriedigung der Schaulust des Publikums. Dies ist zwar auch integraler Bestandteil jeder theatralen Form, dazu kommt jedoch in den meisten Theatergattungen noch das Bestreben nach der
220 Zitiert nach Pacher 1987, S. 198. 221 GREUL, Heinz 1967: Bretter, die die Zeit bedeuten: die Kulturgeschichte des Kabaretts. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1967, S. 255. 222 MÜLLER, Hedwig; STÖCKEMANN, Patricia 1993: Jeder Mensch ist ein Tänzer: Ausdruckstanz in Deutschland zwischen 1900 und 1945. 1. Auflage. Gießen: Anabas, S. 52. 223 Kothes 1977, S. 15. Kothes nennt die Produktion La Revue der Pariser Folies Bergère, welche bereits 1906 18 Bilder und 600 Kostüme umfasste, 1928/29 beinhalteten die Pariser Revuen 80 Bilder, 50 Mitwirkende und 1200 Kostüme. (Kothes 1977, S. 60.) Dieses Primat der Quantität soll dem Zuschauer die Wertigkeit der Produktion suggerieren.
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Vermittlung einer Idee. In der Revue trat dieser Aspekt vollständig hinter den Selbstzweck des Visuellen zurück.224 Die Handlung der Folies Bergère-Revue Une vraie Folie ist symptomatisch für die wirre und unzusammenhängende Revue-Dramaturgie: In einer Bar verführt eine Pariserin einen Touristen zu einem Bummel durch die Stadt. In Montmartre erleben die beiden den Cancan, sie sehen Schach spielende Kardinäle, leicht bekleidete Mädchen sind die Schachfiguren. Im nächsten Bild sind eine Rennbahn, Porzellanmädchen und ein Liebespaar zu sehen. Prostituierte am Bahnhof stehen im Mittelpunkt des nächsten Bildes. Danach wird ein Adonis im Käfig von barbusigen Mädchen befreit und tanzt Tango, vom Schnürboden wird eine mit Straußenfedern bekleidete Darstellerin heruntergelassen und singt. Der erste Akt schließt mit dem obligatorischen Treppentableau. Der zweite Akt beginnt mit einer Gartenparty am Springbrunnen, welcher Gelegenheit für ein Wasserballett gibt, das nächste Bild trägt den Titel »Das Leben geht weiter« und zeigt militärische Luftangriffe, bis ein weiß gekleidetes Mädchen über den Krieg triumphiert. Es folgt eine rasante Reise um die Welt, die den Zuschauer nach Argentinien, zu den Indianern und nach Brasilien führt. Die Revue endet mit einem Treppentableau.225 Offensichtlich fehlt diesem Stück der rote Faden der Handlung, es lassen sich jedoch zahlreiche erfolgversprechende Sujets und Elemente ausmachen: die Treppe zur effektvollen Präsentation des Ensembles, das Liebespaar, welches das Gefühl vor allem der weiblichen Rezipientin anspricht, exotische Tänze wie Cancan und Tango, zaghafte Gesellschaftskritik an Prostitution und Krieg, der Star, der seinen glanzvollen Auftritt aus dem Schnürboden hat sowie Zeichen des Luxus wie der Springbrunnen auf der Bühne und das Wasserballett. Allgegenwärtig ist das Element der Erotik, welches sich in den leichtbekleideten Mädchen manifestiert. Noch stärker sexualisiert waren die Revuen des Berliner Regisseurs James Klein. Das Programmheft zur Produktion Zieh dich aus enthält eine »Beschreibung aller Scenen nebst Photos der preisgekrönten Act-Modelle«.226 Auf dem Titelblatt des Programms ist eine
224 Kothes 1977, S. 95. 225 Klooss; Reuter 1980, S. 33f. 226 Programmheft, zitiert nach http://www.geo.de/GEO/kultur/geschichte/ 54570.html?t=img&p=1&pageview=#content
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junge Frau in griechischen Sandalen zu sehen, ihre Arme sind nach oben gestreckt, damit die Brüste zur Geltung gebracht werden. Um die Lendengegend rankt sich ein Ornament, welches mit dem Grün des Hintergrundes verschmilzt. Wenngleich die Rahmenhandlung des ›Revuestücks‹ – eine von Klein ersonnene Gattung, um sich vor den zahlreichen Nachahmern abzugrenzen – in der Gegenwart an einem Fantasie-Ort spielt, ist der visuelle Bezug zur Antike nicht zu übersehen, auch Klein bedient sich somit der bekannten Legitimationsstrategien für die Darstellung der Nacktheit in seinen Revuen. Im ersten Bild befindet man sich am Hofe Nebukadnezars dem 83.: Der Fürst erlässt einen Ukas, nachdem derjenige mit einer Prämie belohnt wird, der nach fünf Jahren den größten Kindersegen vorzuweisen hat, da das Land eine zu niedrige Geburtenziffer hat. Eine derartige Ausgangslage für die Handlung ist geschickt, da die thematisierte Fortpflanzung immer mit Sexualität und damit auch Nacktheit verbunden ist. Es lässt sich auch an das Konzept der Naturisten denken, welche das Nacktgehen zur Partnerschaftswahl forderten. Die beiden im zweiten Bild eingeführten Protagonisten der Revue sind die Barone Felix und Viktor sowie ein Geldverleiher, welche den ausgeschriebenen Preis erlangen wollen und deswegen auf Freiersfüßen wandeln. Felix wendet sich an seine Verlobte Maggie, diese ist indes eine moderne Frau und will weder heiraten noch Kinder bekommen, weswegen Felix sich im nächsten Bild der Gräfin Stachelwiß nähert, welche ihn mit einer Peitsche züchtigt. Im vierten Bild hat der Geldverleiher in einem Mädchenpensionat die Gelegenheit, die »hübschen Pensionärinnen bei der verführerischen Situation zu belauschen«, hier bietet sich eine dramaturgische Möglichkeit für eine voyeuristisch motivierte Massenszene. Das fünfte Bild zeigt »[d]as lebende Himmelbett […], eine neuartige Komposition von fesselnder Frauenschönheit und lebender Plastik in bisher nie gesehener Vollendung und Größe«, im darauf folgenden Bild zeigen die Girls, dass sie tanzen können. Diese beiden Szenen bieten Massenszenen der Girls. Die Bilder sieben bis neun zeigen »humorvolle und pikante Szenen« in einem Hotel. Diese Formulierung, welche im Programmheft nicht näher erläutert wird, lässt auf klassische Screwball-Gags und Verwechslungsszenen schließen, aus denen die Pikanterie resultieren konnte. Im zehnten Bild präsentiert Klein eine aus dem Ausland eingekaufte Nummer, das »lebende Blumenbild«, in welchem Frauen mit
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nacktem Oberkörper bis zum Bauch in Blumenattrappen stecken und die Arme bewegen. Die Ausstattung dieses Bildes wurde in Pariser Ateliers angefertigt. Mehrere Nummern dieser Revue wurden zunächst im Ausland gezeigt und von Klein für seine Produktion samt Ausstattung eingekauft, eine für die zwanziger Jahre sehr moderne Praxis, in der das Unterhaltungstheater seinen Erfindungsreichtum zeigt, um seinem Publikum immer neuere, noch fantastischere Nummern bieten zu können. Eine »lustige Kreuzworträtselszene« leitete über zum Zille-Bild,227 in dem die wahren Anwärter auf den ausgeschriebenen Fruchtbarkeitspreis zu finden sind. Das Finale des ersten Aktes präsentierte wieder eine prunkvolle Nummer aus dem Pariser Palace Theater. Der zweite Akt begann mit der Szene »Im Damenbad«, in welchem sechzig junge Damen echtes Badeleben vortäuschten. Die Badeszene bot dramaturgische Legitimation für knapp bekleidete Körper. Nach einer Schlagereinlage im 16. Bild wird die Handlung in der darauf folgenden Szene vorangetrieben, der von Hans Albers gespielte Baron Felix verliebt sich am Strand in die Tochter eines Kommerzienrates, nimmt aber von den Hochzeitsplänen Abstand, als er von dem mangelnden Renommee des Vaters erfährt. Das 18. Bild präsentiert lebende Osterglocken: »Hüllenlose Frauenschönheiten, künstlerisch gruppiert in großen, plastischen Blumen, die Vorboten des Frühlings in den Händen tragend, bilden den Vordergrund dieses herrlichen Revuebildes. Ein Ballett der Osterglocken im Anschluß mit der großen lebenden Osterglocke stellen eine Szene dar von seltener Anmut und Schönheit.« Eine weitere Sensation zwischen frivolen Schlagernummern wie »Mein Johannes, ach der kann es« von Vicky Werkmeister bildet das 22. Bild, in der alle Kostüme mit echten Reihern besetzt waren. Im Schlussbild werden die Sieger des Wettbewerbes gekürt; es sind die Menschen aus dem sozial schwachen ZilleMillieu. Diese beiden Beispiele aus Paris und Berlin sollen einen Eindruck in den Aufbau der Revuestücke hinsichtlich der Legitimation der Nacktheit geben. Maurice Hermité, ein langjähriger Mitarbeiter der
227 Diese Szenen orientierten sich an den Zeichnungen des Berliners Heinrich Zille (1858-1929), welche das Leben der sozialen Unterschicht und der Randgruppen in den Mietskasernen skizzierten. Zille-Bilder waren fester Bestandteil vieler Revuen.
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Folies Bergère, beschreibt acht Grundarten der Nacktheit, wie sie in den Folies gezeigt wurden: [D]ie naive Nacktheit (z.B., eine Schäferin überschreitet einen Bach, hebt die Röcke über Gebühr hoch …), die plumpe Nacktheit, die Heiratsnacktheit. (Szenen einer Hochzeitsnacht sind sehr beliebt), die exotische Nacktheit, die »Nacktheit der Mode« (prunkvolle, bis zu 40 Kilo schwere Roben sparen zum Beispiel die Brüste aus), die »Nacktheit der Lockenpracht« (zur Demonstration oft riesiger Frisurentürme), die sadistische Nacktheit, die laszive Nacktheit.228
Wenngleich Begriffe wie »plumpe Nacktheit« und »laszive Nacktheit« sehr abstrakt und subjektiv erscheinen, lassen die von Hermité genannten Arten doch die bereits bekannten Legitimationsstrategien erkennen: Die »naive Nacktheit« zeigt den Körper in seinem natürlichen Zustand, überdies wird er in einem natürlichen Setting gezeigt, die »exotische Nacktheit«, die »Nacktheit der Mode« sowie die »Nacktheit der Lockenpracht« betonen die Schönheit des Körpers der nackten Tänzerin. Bis heute ist die »Nacktheit der Mode« mit ihrem aufwendigen Kopfschmuck die Versinnbildlichung der Folies Bergère. Während die sogenannten Figurantinnen die aufwendigen Kostüme präsentieren oder nackt auftraten, besorgten die bekleideten Girls die Tanzdarbietungen.229 Bezüge zum Zeitgeschehen traten zugunsten der Ausstattung in den Hintergrund. Das Publikum verlangte nach Unterhaltung, welche durch die Vielfalt der Revue in der Idealform geboten wurde. FranzPeter Kothes bezeichnet die Revue zu Recht als Trivialform, deren Stärkung er als Folge der allgemeinen Kulturkrise um die Jahrhundertwende wertet.230 Aufgrund des Geldwertverfalls kam es zu einer sozialen Umschichtung des Publikums, das bisherige bürgerliche Theaterpublikum wurde abgelöst von neureichen, eher bildungsfernen
228 Zitiert nach Günther 1978, S. 86. 229 Kothes 1977, S. 78. Siehe auch Fischer 1989, S. 111. Fischer berichtet auch, dass James Klein seine Darstellerinnen zum Publikum hinabsteigen ließ, um sich von diesem anfassen zu lassen. Dies erscheint indes unwahrscheinlich, da die makellosen Darstellerinnen der Massenrevue sich hiermit aus ihrem optischen Rahmen begeben hätten und den Rahmen der ›sauberen‹, luxuriösen Erotik überschritten hätten. 230 Kothes 1977, S. 34.
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Schichten. Aus dieser Umstrukturierung resultiert die Verlagerung vom literarischen Stadttheater zum profitorientierten Privattheater, welches die Revue als Publikumsmagnet erkannte. Als Beispiel für diesen Wandel kann das Große Schauspielhaus in Berlin gesehen werden, welches von Max Reinhardt 1919 nach dem Umbau des ehemaligen Zirkus Schumann mit der Orestie eröffnet wurde. 1924 übernahm es Reinhardts ehemaliger Regie-Assistent Erik Charell und brachte dort seine erfolgreichen Ausstattungsrevuen heraus. Diese märchenhaften und luxuriösen Revuen lassen sich als Medium der Realitätsflucht deuten, da durch Quantität und Opulenz alles idealer erschien als in Wirklichkeit. Diese Realitätsflucht wurde von den Verarmten als Ablenkung von ihrem Elend und dem Zusammenbruch ihrer gewohnten Ordnung angenommen. Die Neureichen fanden in der Revue die Erfüllung ihrer oberflächlichen Rezeptionserwartungen.231 Kothes’ Einschätzung, dass die Blüte der Revue als unterhaltendes Nummernstück Ausdruck einer Kulturkrise sei, lässt indes außer Acht, dass es bereits schon vor der Krise Music Halls, Singspielhallen und Varietés gab und seit der Gründung von Ernst von Wolzogens Überbrettl in Berlin das deutsche Kabarett aufblühte, welches als Gegenpol zum trivialen Theater anzusehen ist. Der Grund der Begeisterung für die Form der Revue ist vielmehr in der Urbanisierung und der Industrialisierung zu sehen. In den großen Städten siedelten sich viele Menschen an, welche ein potenzielles Publikum darstellten und in ihrem Arbeitsalltag die technischen Innovationen erlebten. Das Interesse an Technik und die Gewöhnung an den Fortschritt veränderte die Rezeptionserwartung an die Bühnenkunst. Diese Erwartung wurde von der Ausstattungsrevue vortrefflich bedient, was ihren immensen Erfolg erklärt. Hinzu kam der allgemeine Wohlstand, welcher sich auf die Aufwendigkeit der Ausstattung niederschlug, so waren etwa Vorhänge aus echtem Chinchilla-Fell keine Seltenheit. Nicht mehr die dramaturgische Notwendigkeit oder allgemeingültige ästhetische Prinzipien bestimmten die Ausstattung, sondern alleine die luxuriöse Wirkung. Bis in die Gegenwart hat sich die dramaturgisch schlichte Revueform als beliebte Theaterform gehalten und existiert parallel zu gesellschaftskritischem und literarischem Theater, weswegen die Hinwendung zu einem pluralistischen Theaterstil nicht als Symptom einer temporären Kulturkrise gewertet werden kann.
231 Kothes 1977, S. 94.
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Einen visuellen Trumpf spielte die Revue vor allem ab dem Beginn der zwanziger Jahre mit dem großzügigen Einsatz der Nacktheit auf der Bühne aus. An der Produktion Wien gib Acht (1923) unterscheidet Kothes zwei repräsentative Formen der Nacktheit: 1. Statuarische Posen von bis zur Hüfte entkleideten weiblichen Stars und Figurantinnen; 2. Schönheitstänze nach Motiven der klassischen bildenden Kunst oder allegorischen Themen. Diese Auftritte waren auf Solo- bzw. Duotanzszenen beschränkt. Dabei ist zu berücksichtigen, daß Nacktszenen über wenige Mitwirkende hinaus auch in den zwanziger Jahren lediglich als statuarische Posen erlaubt waren.232
Die beiden Aspekte, welche Kothes hier herausarbeitet, sind identisch mit den Darbietungen der in Kapitel 4.1 beschriebenen Tänzerinnen. In der Revue wurden sie jedoch in einem dramaturgischen Kontext eingebettet und waren durch die größeren Spielstätten – das Große Schauspielhaus, in dem Erik Charell seine Produktionen aufführen ließ, fasste ab 1888 nach dem Umbau 5600 Zuschauer – und die längeren Laufzeiten der Revuen einem größeren Publikum zugänglich. Die Revuen James Kleins an der Komischen Oper nutzen die Nacktheit als theatrales Mittel am stärksten. Er profitierte von den sich in den Nachkriegsjahren wandelnden Moralvorstellungen und präsentierte nackte Darstellerinnen als »lebende Figuren auf einem Porzellanteller motiviert oder als Blütenjungfrauen auf einem römischen Reiterwagen.«233 Aufgrund von Kleins theaterpraktischer Vorerfahrung – er kam vom Varieté – sieht Wolfgang Jansen bei ihm eine geringere Befähigung für die Inszenierung dramaturgisch stimmiger Ausstattungsrevuen, wie er sie bei Hermann Haller, der von der Operette kam, und dem ehemaligen Tänzer Erik Charell sieht. Dementsprechend attestiert Jansen dem Regisseur Klein minderwertige Produktionen.234 Aus diesem Umstand lässt sich ableiten, warum Klein einen derart starken Fokus auf die Nacktheit gelegt hat: die Sensation und der Skandal überdeckte inszenatorische Mängel.
232 Kothes 1977, S. 70. 233 Ebd. 234 Jansen 1990, S. 200.
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Kleins Kollege Hermann Haller setzte sich die Integration von Musik, Tanz und Sketchen in seinen Inszenierungen zum Ziel, seine Revuen bestanden aus etwa fünfzig kurzen Darbietungen, welche von einem einzigen erotischen Thema zusammengehalten wurden. Hallers Inszenierungsstil ähnelte dem Florence Ziegfelds.235 Während die Nacktheit der in Kapitel 4.1 erwähnten Solokünstlerinnen von der Kritik überwiegend positiv aufgefasst wurde, wurde die Nacktheit in der Revue nicht selten verurteilt: Die Servierung von Fleischmassen hat mit Kunst nicht das Geringste zu tun, auch wenn X.X eigens nach Paris gefahren ist, um, wie ein guter Kellner, dort das Servieren zu lernen [...] So wie man im Kriege mit Suppenwürfeln handelte, so handelte man im Frieden mit hunderten von Frauenschenkeln, Frauenbrüsten.236
Ironischerweise stammt dieses Zitat aus dem Programmheft der Revue Für Dich!, welche Kleins Konkurrent Erik Charell 1925 am Großen Schauspielhaus in Berlin herausbrachte. Der Verfasser Stefan Großmann ist im Sinne Charells der Meinung, dass »Kunst das feinste erotische Erziehungsmittel und die Lust am Leibe mit allen höchsten Kunstwerken unzertrennlich verbunden«237 sei. Trotz dieser Tatsache darf das Theater aber nicht darauf verfallen, nach Pariser Vorbild plumpe Nacktheit auf die Bühne zu bringen, sondern es muss sie inszenieren. Großmann bringt Beispiele für die Inszenierung der Nacktheit, die auf dem Moment des Unerwarteten beruht.238 Eine weitere Möglichkeit besteht in der Inszenierung des Körpers mittels partieller Nacktheit, wie sie in einem
235 Gordon 2006, S. 44. 236 GROSSMANN, Stefan 1925: Inszenierung der Nacktheit. In: Für Dich! Charell Revue 1925-1926, Magazin und Programm des Großen Schauspielhauses. Berlin. 237 Ebd. 238 Er nennt das Beispiel einer Kopenhagener Revue, in welcher der Zuschauer auf der Bühne aus einem geschlossenen Vorhang 16 nackte Mädchenbeine herausschauen sah, die nicht nur als physisch korrekte Paare erschienen, sondern auch einzeln oder als Dreierformation. Der Komiker, der die Beine sah, erschrak, bis der geöffnete Vorhang die physische Unversehrtheit der Mädchen offenbarte.
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Kostüm Leon Baksts für Nijinski zu sehen war, in dem bestimmte Stellen vom Stoff befreit waren und somit den muskulösen Körper des Tänzers besonders betonten. Eine weitere Möglichkeit der Inszenierung der Nacktheit sieht Großmann in der Bewegung: Die Fleischausstellungen wirken so traurig, weil sie so unbewegt sind, auch das konventionelle Exerzieren wirkt tot oder gar gespenstisch. Es handelt sich um die Exerzition eines geschwundenen, gestorbenen Geistes. Dagegen war der erste Cancan bei Offenbach hinreißend. Nicht wegen der keck hinaufgeschmissenen Beine, sondern weil der freche Schmiß dieser Bewegung ganz dem Übermut, der Musik, dem Geist der Großherzogin von Gerolstein entsprach!239
Großmanns Ausführungen bezüglich der bewegten Nacktheit stehen im Kontrast zu der der Zensur geschuldeten gängigen Theater-Praxis, und daher bleibt anzuzweifeln, ob die Charell-Revuen diese Art von Nacktheit zeigten. Ferner wirken seine Überlegungen bezüglich des Cancans etwas willkürlich, jeder Tanz, und vor allem ein vitaler, schneller Tanz wie der Cancan, lebt von der Bewegung, es steht nicht zur Debatte, einen Tanz unbewegt auszuführen. Darüber hinaus zeigte der Cancan keine vollständige Nacktheit, sondern entblößte lediglich den Unterkörper bis auf die rüschenbesetzte Unterwäsche der Tänzerin. In einem weiteren Programmheft für Charell schreibt Stefan Großmann, dass deutsche Frauen ihre neu entdeckte Freude an der Nacktheit 1926 fanden, indem sie Griechinnen wurden. Im Rahmen einer Aufsatzsammlung, welche das Phänomen Operette aus homosexueller Sicht untersucht, ist es nicht verwunderlich, dass der Autor Kevin Clarke zu dem Schluss kommt, bei dem Bezug auf das ›Griechische‹ handele es sich um den Code für ›schwul‹, ein Synonym, dass damals in Theaterkreisen durchaus gängig gewesen sei. Clarke lässt aber außer Acht, dass Großmann hier von Frauen – und gemeint sind keine Transvestiten – spricht. Somit ist anzunehmen, dass Großmann wie etwa Isadora Duncan den Bezug zur Antike als Legitimierung für die Nacktheit benutzt.240
239 Großmann 1925. 240 CLARKE, Kevin 2007: Im Rausch der Genüsse: Eric Charell und die entfesselte Revueoperette im Berlin der 20er Jahre. In: CLARKE, Kevin
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Der Tanzkritiker Fritz Giese, welcher ein Verehrer der Girlkultur war (siehe Kapitel 4.2.3), vergleicht die nackten deutschen Revuedarstellerinnen mit Exponaten »landwirtschaftlicher Ausstellungen« und »Wandervogeltypen«.241 Der Wandervogel in seiner rustikalen Reformkleidung oder entkleidet im kalten Bach badend stellt das Gegenbild der erotischen Revuetänzerin dar. Giese, Bewunderer der gedrillten, keuschen Girl-Truppen, entdeckt auf den Revuebühnen »ein Gemisch übelster Art von Patriotismus, Sexualität, Religion und Kunstgewerbe [, welches] nur aus der Pathologie der Kriegsnachwirkungen bei den Völkern zu verstehen [ist]«.242 Der widerlichen, in seinen Augen effekthaschenden Zurschaustellung des nackten Fleisches in den lebenden Bildern, deren Sujets er als puren Vorwand für die Exhibition der Nacktheit entlarvt, stellt er den wohltuenden Anblick der Girls gegenüber, welche als Erholungspunkt im Strom des Kitsches nicht nur Schau verkörpern, sondern auch Leistung.243 Der Kritiker Adam Kuckhoff hingegen schreibt 1928 in der Volksbühne, dass die Revuen niemals geschmacklos, sondern auf wunderbare und faszinierende Weise ein Fest für das Auge seien. Schönheit wird zur sublimierten Manifestation der Dekadenz. Dennoch ist die Nacktheit nicht allein sexuell anzusehen, sondern als Mittel, um die Schönheit der Szenen noch zu verstärken.244 Kuckhoff sieht somit die Schönheit als Legitimation für die Nacktheit in der Revue an. Kothes beantwortet die Frage nach der Funktion der Nacktheit in der Revue mit der Wirkung auf den Rezipienten und dessen Erwartungshaltung. Die Motivation der Nacktheit in der Revue kann für
(Hrsg.) 2007: Glitter and be gay: Die authentische Operette und ihre schwulen Verehrer. 1. Auflage. Hamburg: Männerschwarm Verlag, S. 108-139, S. 116. 241 GIESE, Fritz 1925: Girlkultur: Vergleiche zwischen amerikanischem und europäischem Rhythmus und Lebensgefühl. München: Delphin-Verlag. 242 A.a.O., S. 17. 243 Ebd. 244 KUCKHOFF, Adam 1928: Größe und Niedergang der Revue. In: Die Volksbühne, 3. Jahrgang, Nr. 1, April, S. 6, zitiert nach BERGHAUS, Günter 1988: Girlkultur – Feminism, Americanism, and Popular Entertainment in Weimar Germany. In: Journal of Design History, Heft 3-4, S. 193-219, S. 200.
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Kothes zum einen wertfrei sein, zum anderen ist aber auch die bewusste Spekulation möglich, »verkrampft-schwüle« Sinnlichkeit oder »natürlichen Eros« auf die Bühne zu bringen.245 Es ist kaum anzunehmen, dass die Nacktheit in der Revue als wertfreies Mittel eingesetzt wurde, dies würde dem Regisseur jegliche künstlerische Intention bei der Wahl der theatralen Zeichen absprechen. Darüber hinaus lässt sich ein derart polarisierendes Thema wie die Nacktheit wohl kaum wertfrei betrachten, wenn es plakativ auf die Bühne gebracht wird und dort der allgemeinen Betrachtung ausgesetzt wird. Vielmehr muss man davon ausgehen, dass die nackten Tänzerinnen in der Revue ein weiteres verkaufsförderndes Ausstattungselement waren, die entblößten makellosen Körper standen für Luxus, Dekadenz und Lebensfreude der Revue. Der Erfolg der Revue liegt in ihrer absoluten Denaturalisierung der Natur246 begründet, welche notwendig ist, um die gewünschte Perfektion zu visualisieren. Anders als bei Tänzerinnen wie Isadora Duncan oder Anita Berber steht der perfekte Körper im Vordergrund, er wird unter der Prämisse von Schönheit (das heißt Makellosigkeit) und technischer Leistung (Girls) sublimiert und von jeglicher Individualität befreit. Das Primat der Makellosigkeit und die Vermeidung jedes naturhaften Elementes erfordert das sorgfältige Verstecken von Schamhaaren und Brustwarzen hinter unsichtbaren Caches-sexes und sogenannten Pasties (aufklebbare Hütchen oder Sternchen für die Brustwarzen). Diese Denaturalisierung der Natur ist ein Akt der Körperzivilisierung, nichts Natürliches, welches an die Triebhaftigkeit (Sexualität des Menschen) erinnern könnte, darf öffentlich gezeigt werden, statt dessen wird ein Beispiel gegeben, wie man seinen perfekten Körper beherrschen kann, wenn man daran arbeitet. Den Höhepunkt der Körperbeherrschung bildet schließlich die Girlkultur. 4.2.3 Sisters und Girls – zwei Frauentypen der Revue Zu den größten Tanzstars des Varietés und der Revuen gehörten die Tiller-Girls und die Five Sisters Barrison. Beide Gruppen stehen für zwei konträre, aber vielfach nachgeahmte Konzepte der Selbstprä-
245 Kothes 1977, S. 71. 246 Klooss; Reuter 1980, S. 40.
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sentation von Tänzerinnen. Die Barrison-Schwestern verkörperten die sinnlich-naiven kleinen Mädchen mit gehörigem Sex-Appeal, die Tiller-Girls waren sportlich durchtrainierte Tanzautomaten. Die Five Sisters Barrison (bürgerlich: Lona, Olga, Sophia, Inger und Gertrude Bareysen) waren dänische Schwestern, die 1886 mit ihrem Vater nach New York kamen. Nach diversen Soloauftritten debütierten sie als Quintett 1893 bei der Weltausstellung in Chicago. Ein Jahr später traten sie in den Folies Bergère auf, ein achtmonatiges Gastspiel im Berliner Wintergarten folgte. Eine durch die Zeitschrift Der Artist initiierte Hetzkampagne führte 1897 zur Auflösung der Truppe.247 Das Erfolgsgeheimnis der Schwestern beruhte in ihrer kindlichnaiven Erotik, die die Kritik begeistert goutierte und willkürlicherweise als edler und weniger frivol bewertete als die erotischen Darbietungen ›erwachsenerer‹ Tänzerinnen: Als Gegengift gegen die plump-erotische Überfütterung boten sich die eckigmageren, auf exzentrische Koketterie dressierten englischen Tänzerinnen an. Zu ihnen gehörten die fünf Schwestern Barrison, dieses von einem geschickten Manager ausgezeichnet aufgezogene Trüppchen voll süßer, ein wenig nach Verderbnis riechender Naivität. […] Daß es bei allem Rührenden einen Stich ins Verbotene hatte, entsprach dem damaligen Varieté, in dem scharfe Getränke gebraut wurden.248
Die Schwestern kleideten sich als Schulmädchen in rosa Rüschenröcken und Kapotten auf dem Kopf, sie sangen frech-frivole Lieder, zu denen sie sich kindlich ungelenk im Takt bewegten. Reinhard Klooss bezeichnet sie treffend als »Tanzsoubretten«.249 Auch Arthur MoellerBruck, Verfasser einer 1902 erschienenen Monografie über das Varieté, zeigte sich begeistert von den Schwestern: Sie waren entzückend mit ihren kindlich schmiegsamen, schnippisch fahrigen Bewegungen, die in so lustigem eckigem Lingerlongerlootakt aus dem spitzenrauschenden Froufrougewühl hastig herauslugten, mit ihren hellen und oft ein wenig schrilligen Kleinmädchenstimmen, ihrem vertraulich wissenden Lächeln
247 Balk 1998, S. 101f. Zum Skandal siehe Jansen 1990, S. 112f. 248 Fischer 1928, S. 206. 249 Klooss; Reuter 1980, S. 65.
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und dem goldblonden Haar, das einfach gescheitelt und gewellt um die lieben Gesichter lag.250
Moeller-Bruck sieht in ihren unschuldigen Tänzen die intuitive Geistesverwandtschaft mit Poe, Mallarmé und Maeterlinck, er hält ihre Tänze für ein echtes, organisches Produkt des Zeitgeistes. Die hageren Tänzerinnen sind in einer Zeit, in der noch wohlgerundete Frauen das Schönheitsideal bestimmen, Vorbotinnen einer neuen Ästhetik.251 Während ihrer Tänze spreizten sie ihre Beine, zeigten dem Publikum ihre Kehrseite und ließen die Röcke über das Knie rutschen. Lanciert wurde eine erfundene Biografie, nach der die Mädchen womöglich adelige Töchter wohlhabender Abstammung waren, die sich aufgrund von Verarmung nun als Varietétänzerinnen verdingen mussten. Diese Vorstellung machte die Auftritte der Schwestern umso pikanter und lockte zusätzliches Publikum an.252 Moeller-Bruck erkennt in den Darbietungen der Schwestern zwar das frivole Moment, er hält sie anders als der Artistenverband aber nicht für unmoralisch. »Die Barrisons tanzten in der That die Sünde, während es schien, als ob sie die Tugend tanzten, die so keusch ist, dass sie sich sogar in Spitzenhöschen zeigen kann.«253 Was auf der einen Seite als moralisch harmlos und unbedenklich gewertet wird, ist auf der anderen Seite indes auch ein Kritikpunkt: bis auf Lona Barrisons Solonummer, in der sie wie »Eva vor dem Sündenfalle: oben nichts und unten nichts und in der Mitte auch sehr wenig«254 auf Herrenart ritt, was das Verbot der Nummer in New York nach sich zog, waren die Barrisons harmlos, unschuldig und nett anzusehen, aber keine Künstlerinnen mit nachhaltiger Strahlkraft: »[…] [I]hr Stil wirkte auf die Dauer als blosse Tändelei und verflatterte wie die leichten Liedchen, die sie sangen. Er berührte bloss die Oberfläche des Menschheitsempfindens und drang nicht in das heisse innere Leben ein.«255 Die Five Sisters Barrison waren eine äußerst populäre Mode-Erscheinung, die sich aber langfristig künstlerisch nicht durch-
250 MOELLER-BRUCK, Arthur 1902: Das Varieté. Berlin: Bard, S. 171. 251 A.a.O., S. 171f. 252 Jansen 1990, S. 107. 253 Moeller-Bruck 1902, S. 173. 254 Der Artist Nr. 617 vom 04.12.1896, zitiert nach Jansen 1990, S. 112. 255 Moeller-Bruck 1902, S. 178.
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setzen konnte, da die angedeutete Nacktheit des Ensembles allein der Befriedigung der Schaulust diente und kein weiteres künstlerisches Motiv verfolgte. Lona Barrisons Nacktheit war zu obszön, um mehr als einen temporären Überraschungserfolg zu erzielen. Während die Barrison-Schwestern das Kindchen-Schema mit süßlicher Erotik paarten, verkörperten die Girl-Truppen die kühle Erotik selbstbewusster, erwachsener Frauen. Fritz Giese verfasste 1925 eine eigene Abhandlung über die »Girlkultur«.256 Darin vermutet er schon im Vorwort zu Recht, dass es sich bei diesem Phänomen wohl um eine Mode-Erscheinung handele.257 Die strahlenden Tiller-Girls sind der geklonte Gegenentwurf zu Anita Berbers Tänzen des Lasters, des Grauens und der Ekstase: diese Körper hier sind gesund und intakt, statt Morphium scheinen die Girls nur frische Luft zu brauchen. Auch Anita Berbers Biograf Leo Lania versteht die Tiller-Girls als eine Mode, nach der das Publikum verlangte und welche Berber den Rang abliefen.258 In der Tat sind die Girl-Truppen auf den Bühnen der zwanziger Jahre ein Novum und werden später nie wieder derart häufig zu sehen sein. Viele zeitgenössische Kulturtheoretiker und auch Giese gingen davon aus, dass die Tiller-Girls, welche den Prototyp für alle weiteren Girl-Truppen bildeten, aus Amerika stammten. Giese vertritt ein äußerst positives Amerikabild und verherrlicht die Girls als Verkörperung aller amerikanischen Tugenden, die Europa seiner Meinung nach noch fehlten. Der Tanzkritiker erkennt die Verdienste der deutschen Körperkultur und die Gymnastikkonzepte des Dänen Jørgen Peter Müller, kritisiert aber die »jahnhafte, deutsche Mentalität«, welche er in
256 Siehe hierzu auch LETHEN, Helmut 1970: Neue Sachlichkeit 1924-1932: Studien zur Literatur des »weißen Sozialismus«. Stuttgart: Metzler, S. 43f. 257 Giese 1925, S. 8. 258 Vgl. Kapitel 4.2.3, Lania 1929. Fritz Giese hingegen attestiert Anita Berber das Girlhafte: »Ein Bild von Anita Berber zeigt die Richtung der Amerikanisierung, der mittleren Kraft. Es ist Mimikri zum Girltyp hin. Eine solche Erscheinung wird drüben, wenn sie einigermaßen Technik hat, ihren Weg gehen […].« (Giese 1925, S. 140.) Giese widerspricht sich hier, da Berber mit ihrem bewusst erotischen Tänzen den Gegenentwurf zu den steril-harmlosen Girlreihen versuchte.
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Opposition zur Körperkultur des »freien Amerikas« setzt.259 Für ihn sind die Girls Produkte amerikanischer Gesinnung, weshalb sich ihre Tänze signifikant von der russischen Ballettkultur und dem »philosophischen« deutschen Ausdruckstanz unterscheiden.260 Die Girls verkörpern den Puls der Großstadt, welche sich Giese als Heimat der vollendeten Maschinen und des gigantischen Verkehrs vorstellt. Dieses Gefüge bringt einen speziellen Rhythmus hervor, der sich im Tanz der Girltruppen wieder findet und die Quantität ihrer Mitglieder noch verstärkt. Der Rhythmus wird beeinflusst von dem in den zwanziger Jahren für Europäer noch recht neuen Jazz, welcher durch seine afroamerikanischen Wurzeln für den Kritiker das spezifisch Amerikanische darstellt. Während Giese den Girls einen unverkrampften Expressionismus attestiert, mit dem sie die »zeitgemäßen, unklassischen, eher negerhaften Rhythmen« durch eine »virtuose Gelenktechnik« veredelten, hält er die europäische Kultur für verkrampft und asketisch. Zusammenfassend findet Giese für die Tanzkultur der beiden Kontinente Europa/Amerika die Dichotomie philosophisch/ naturwissenschaftlich-technisch.261 Giese gibt sich somit als unreflektierter Verfechter der Industrialisierung zu erkennen, deren Implikationen auf die Kunst er als erstrebenswerten Impuls zur Erneuerung und Verbesserung des Tanzes sieht. Weder ein philosophischer noch ein naturwissenschaftlich-technischer Tanz widmet sich dem natürlichen Körper, aber Letzterer fokussiert noch eindeutiger auf die Beherrschung des organischen Materials. Tatsächlich jedoch wurde die erste Girl-Gruppe 1890 von dem britischen Ex-Sergeanten John Tiller in Manchester gegründet. Dieser erkannte als Erster das optische Potenzial des mit absoluter Präzision ausgeführten Gruppentanzes, die Exaktheit stand im Vordergrund und war wichtiger als der Schwierigkeitsgrad oder die Innovation der Choreografie. Tiller stand schließlich mehr als zwanzig Truppen vor, welche weltweit unter seinem Namen auftraten.262 1896 und 1898 gastierten sie erstmals im Olympia Riesentheater in Berlin, Konkur-
259 Giese 1925, S. 11. 260 A.a.O., S. 15. 261 A.a.O., S. 36. 262 Berghaus 1988, S. 201.
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renz bekamen sie durch die sich bald formierenden Lawrence Girls, Jackson Girls, Hoffmann Girls und anderen Gruppen.263 Wir können bloß in Reih und Glied Und gar nicht anders tanzen. Wir sind fast ohne Unterschied Und tanzen nur im Ganzen.264
Die erste Strophe von Erich Kästners Gedicht Chor der Girls verdeutlicht die Wahrnehmung der Girls durch die Gesellschaft: Sie wurden als ausschließlich als einheitliche Gruppe gesehen. Alfred Polgar bezeichnet die Girl-Truppe als »Plurale Tantum«, ein Girl alleine existiert nicht, erst in der Gruppe von mindestens 12 Tänzerinnen, das heißt 24 Beinen, die das wichtigste Element in ihren Choreografien darstellen, können Girls existieren.265 Giese sieht in dem Ideal des Girls einen neuen Frauentyp, welcher vom Mann als Kamerad geschätzt wird in einer Beziehung, die nicht vom Sexus, sondern vom »Eros der Gleichberechtigung« geprägt wird. Mit dieser Auffassung geht die Idee der Entindividualisierung der Frau einher, Giese konstatiert, dass mancher Mensch – und somit natürlich auch die Frau – mitunter stärker individualisiert sind, als er vertragen kann.266 Individualisierung ist jedoch unabdingbarer Bestandteil des Emanzipationsprozesses. Der scheinbar moderne und frauenfreundliche Autor entlarvt sich durch seine Fantasien von den stereotypen, keuschen Girlreihen als Anhänger der traditionellen Ordnung, in der die Frau dem Mann untergeordnet ist. Das von Giese begrüßte Konzept der Entindividualisierung des Girls steht im Kontrast zu den Bestrebungen des Ausdruckstanzes, die Individualität des Tänzers in den Vordergrund zu rücken. So betonte Isadora Duncan in ihrer Schrift Der Tanz der Zukunft massiv die Bedeutung des Individuums, welche durch den unbekleideten Körper noch verstärkt wird.
263 Berghaus 1988, S. 201. 264 KÄSTNER, Erich; HARTUNG, Harald (Hrsg.) 1998: Zeitgenossen, haufenweise: Gedichte. München: Hanser, S. 105. 265 POLGAR, Alfred 1968: Girls. In: POLGAR, Alfred; RICHTER, Bernt (Hrsg.) 1968: Auswahl: Prosa aus vier Jahrzehnten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 186. 266 Giese 1925, S. 141.
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Ein einzelnes Girl verfügte nicht über das Charisma, alleine zu wirken, seine Schönheit und Kunst funktionierte nur im Kollektiv mit den anderen, identischen Girls. In seinem Essay Das Ornament der Masse nennt sie Siegfried Kracauer »unauflösliche Mädchenkomplexe, deren Bewegungen mathematische Demonstrationen sind.«267 Das Ornament, welches die Masse der Girls erzeugt, wird zum Selbstzweck. Die starke Rhythmik der Gruppentänze erinnerte immer wieder an Maschinen, wie sie jetzt gerade neu in den Fabriken eingesetzt wurden. Der industrielle Fortschritt, der vielfach als beängstigend empfunden wurde und die Lebensreformer zu zum Teil stark regressivem Verhalten und Streben veranlasste, wurde durch den maschinenartigen Tanz glorifiziert. Die Tänzerinnen, strikt nach ihren Körpermaßen ausgesucht,268 ähnelten einander dermaßen, dass sie in Karikaturen dargestellt wurden, wie sie von Henry Fords Fließband glitten und sofort zu tanzen begannen. Eine regelrechte Technik-Terminologie benutzt auch Siegfried Kracauer in seinem Aufsatz Girls und Krise (1931): »[…] jedes Mädchenbein ist der 32. Teil einer Apparatur von wundervoller Präzision. […] Drückt man auf einen Knopf, so wird die Mädchenvorrichtung angekurbelt und leistet die gewaltige Arbeit von 32 PS.«269 Das Kollektiv, als das die Girls auftreten, wird als genuin amerikanisches Phänomen gesehen, da Amerika die Wiege des Taylorismus und Fordismus ist. Diese Produktionsformen zeichnen sich durch große Arbeitsteilung und somit eine hohe Zahl von Arbeitern sowie durch maximalen Maschineneinsatz aus. Das Funktionieren der Girltruppen sieht Giese somit auch nicht dem militärischen Gehorsam geschuldet, sondern der Idee des Technischen und der daraus resultie-
267 KRACAUER, Siegfried 1990a: Das Ornament der Masse. In: KRACAUER, Siegfried; MÜLLER-BACH, Inka (Hrsg.) 1990: Schriften: Band 5.2: Aufsätze 1927-1931. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 57-67, S. 57. 268 Das Verfahren hat sich bis heute nicht geändert: die New Yorker Radio City Music Hall stellt nur Tänzerinnen als Rockettes ein, welche zwischen 1,68 m und 1,79 m groß sind: »measurements will be taken«. (http://www.radiocity.com/global/auditions.html) 269 KRACAUER, Siegfried 1990b: Girls und Krise. In: KRACAUER, Siegfried; Müller-Bach, Inka (Hrsg.) 1990: Schriften: Band 5.2: Aufsätze 19271931. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 320-322, S. 320f.
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renden Kollektivarbeit, in welcher die Spezifika des Individuums unerwünscht sind.270 Wie Foucault in seiner Theorie über das Panopticon als Zivilisationsinstrument zur Steigerung der Arbeitsleistung bringt auch Giese Arbeit und den zivilisierten Körper der Girls zusammen. Die Masse und das Kollektiv wurden bewusst als Stilelemente eingesetzt, in den Charell-Revuen traten bis zu 150 Revue-Girls auf, in der Komischen Oper 35, was gemessen an der Stärke zeitgenössischer Corps de ballet immer noch eine große Menge ist.271 Wenngleich Giese den Bezug zum Militär leugnet, so ist dieser doch evident und wurde auch von Kritikern wie Alfred Polgar gesehen: Noch ein anderer Zauber als der erotische wirkt sich in Erscheinung und Tun der Girls aus: der Zauber des Militärs. Das Einexerzierte, Parallele, Taktmäßige, das Klappen der Griffe und Bewegungen, das Gehorchen einem unsichtbaren, aber unentrinnbaren Kommando, das schöne «Abgerichtet»-sein, das Untertauchen des Individuums in die Vielzahl, das Zusammenfassen der Körper zu einem »Körper« – also da steckt für den Zuschauer der gleiche Reiz, der ihm das Soldatenspiel so schmackhaft macht; natürlich wiederum nur als Zuschauer.272
Dieser Zusammenhang besteht bis heute bei den Gardetanzgruppen der Karnevalskultur, welche militärische Fantasieuniformen tragen und in ihren Formationstänzen paradieren. Die Disziplinierung des Körpers ist ein unerlässliches Instrument des Militärs, um seine Kampfkraft zu generieren, hiermit einher geht auch die Entindividualisierung der Mitglieder, welche ohne Rücksicht auf persönliche Befindlichkeiten nach den eingeübten Mustern zu agieren haben. Uneins sind sich die zeitgenössischen Kritiker darüber, ob die perfekten Girl-Reihen eine erotische Wirkung besaßen oder nicht. Alfred Polgar schreibt in seinem Essay über die Girls:
270 Giese 1925, S. 81f. 271 CARLÉ, Wolfgang; MARTENS Heinrich 1987: Kinder, wie die Zeit vergeht: Eine Historie des Friedrichstadt-Palastes Berlin. 4., stark überarbeitete und neu gestaltete Auflage. Berlin: Henschel, S. 68. 272 Polgar 1968, S. 186f.
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Girls nennt man Gruppen von jüngeren Frauen, die bereit sind, ziemlich entkleidet auf einer Bühne genau vorgeschriebene parallele Bewegungen zu machen. Der Zweck ihres Erscheinens und Tuns ist, Zuschauer sinnlich anzuregen und diese hierdurch über das, was sonst auf der Bühne vorgeht, zu trösten.273
Polgar sieht die Girls also als nackte Tänzerinnen, deren Aufgabe darin besteht, innerhalb des Unterhaltungstheaters den Zuschauer sinnlich zu stimulieren. Gemäß dieser Prämisse versteht der Autor es nicht, dass auch Frauen zu den Besuchern der Revuen zählen, während die Männer sich an halbnackten weiblichen Körpern erfreuen können, gibt es kein Äquivalent für die Frauen. Polgar zählt auf, in welchen Kostümierungen die Girls in den verschwenderischen Ausstattungsrevuen auftreten: als Spielkarten, Edelsteine, Blumen, Zigarrensorten, Schnäpse, Zeitungen, Schmetterlinge, Briefträger, Soldaten, Volkslieder, Gemüse und dergleichen. Männer als Gemüse könnte man sich nicht gut denken. Offenbar ist die Frau besser geeignet, eine Sache vorzustellen, als der Mann.274
Hier tritt abermals eine männliche Sichtweise zutage, welche die Frau und ihren Körper als Objekt und somit in letzter Konsequenz als Besitz des Mannes vorstellt. Das Girl ist hier eindeutig erotisiert. Der Publizist Fritz von Haniel erkannte diese Verdinglichung der Girls bereits 1928: Die Emanzipierung der Frau, die Abhärtung und das bewußte Training des Körpers durch den Sport, die ewige Profanisierung des weiblichen Körpers durch exzentrische Tänze, Revuen und Reklameschauen, überhaupt der ganze
273 Polgar 1968, S. 186. 274 A.a.O., S. 187. Zu der Frage, wie Frauen die leicht bekleideten Girls aufnahmen, schreiben Derek und Julia Parker über die Pariser Folies Bergère: »The ladies of Paris always had a very sensible attitude to the Folies: if they did not wish to be offended by nudity or prostitution, they simply kept away.« (PARKER, Derek; PARKER, Julia 1975: The Natural History of Chorus Girls. Newton Abbott: David & Charles, S. 44).
164 | THEATER DER N ACKTHEIT unglückselige »girl-cult« haben die Frau zu einer Art Fleisch gewordenem Schmuckstück erniedrigt.275
Wenngleich Haniel eine sehr konservative und emanzipationskritische Meinung vertritt, erkennt er doch die negativen Seiten der Entindividualisierung und Verherrlichung des funktionierenden Girls. Das Management der Girltruppen hingegen stellte das Plurale Tantum komplett enterotisiert dar, was durch die gewollte Außendarstellung der Girltruppen noch verstärkt wurde. Giese kolportiert über die Hoffmann-Girls, dass diese von einem Pastor geführt wurden sowie einer Art Oberin unterstellt waren und somit nicht dem frivolen Bild entsprachen, welches er von den deutschen Theaterdamen hatte.276 Oftmals wurden die Girl-Truppen mit den Gymnastik-Bestrebungen der Körperkulturbewegung in Verbindung gebracht. Während letzte aber mithilfe der Nacktheit nach der Verbesserung des Körpers strebten, waren die »trikotierten« Girls nur Elemente funktionsloser, opulenter Körperbilder.277 Darüber hinaus galten die Girl-Truppen aus überaus asexuell, die Schönheit auf der Bühne wurde durch Bewegung, nicht durch Nacktheit erreicht. Viele Kritiker bescheinigten den Girls einen vollkommen unerotischen Tanz.278 Die von den Girls repräsentierte Tugend zeigt sich nunmehr so nackt wie ehemals die ›Sünde‹, wie sie von Anita Berber und Celly de Rheydt repräsentiert wurde. Die Girls zeigen zwar ihren Körper, doch die entindividualisierten
275 In: Der Deutschen-Spiegel: Politische Wochenschrift 6/1 (1921), S. 4247, hier S. 42, zitiert nach SALDERN, Adelheid 1996: Überfremdungsängste. Gegen die Amerikanisierung der deutschen Kultur in den zwanziger Jahren. In: LÜDTKE, Alf (Hrsg.) 1996: Amerikanisierung: Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Stuttgart: Steiner, S. 213-244, S. 226. 276 Giese 1925, S. 115. »Ein amerikanischer Pastor begleitet sie. Sie gehen in Doppelreihen spazieren. Am Abend, gleich nach der Vorstellung, schlüpfen sie in ihre engelreinen Bettchen und falten die Händchen.« ROTH, Joseph 1990: Die Girls. In: ROTH, Joseph; WESTERMANN, Klaus (Hrsg.): Werke. Band 2: Das journalistische Werk 1924-1928. Köln: Kiepenheuer & Witsch, S. 393-394, S. 394. 277 Klooss; Reuter 1980, S. 69. 278 Jelavich, 1996, S. 176ff.
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Gestalten werden durch falsch verstandene Keuschheit zu faden Marionetten.279 Katharina Sykora sieht in den Girlreihen für den männlichen Betrachter den Auslöser für Omnipotenzvorstellungen, an welche die Idee unendlicher Verfügbarkeit der Frauen auf der Bühne gekoppelt war. Dieser möglichen männlichen Sichtweise wurde indes durch den perfekten Drill des weiblichen Massenornaments jegliches erotische Moment entzogen, die individuellen, sinnlichen Körper wurden zu einer einzigen, kalten Maschine.280 Gemäß dem neuen Frauenbild überwanden die Girls die passive und somit für Männer attraktive Frauenrolle und erreichten durch ihre Sportlichkeit und Makellosigkeit eine klinisch asexuelle Aura. Diese Erfahrung macht auch Joseph Roth, der im Tanz der Girls nackt ausgeführte körperliche Ertüchtigung sieht, die mit dem Schaffen der Nackttänzerinnen nichts gemein hat, auch wenn das Kostüm gleich ist. Die Nacktheit der Girls diene nicht der Lust, sondern der Anatomie und Hygiene: »Ihre Nudität ist prüde.« Die jungen Frauen strömen eine Aura von Kernseife aus – eine alles andere als erotische Assoziation – und sind gutbürgerliche Mädchen. Wenngleich sie beim Theater arbeiten und somit eine per se der Sittenwidrigkeit verdächtige Tätigkeit ausüben, meint Roth, dass jeder fromme Stadtrat seine Tochter in den »Turnverein der ›Girls‹« schicken könnte. Die Assoziation Turnverein zeigt einmal mehr die Nähe zur enterotisierten Körperkulturbewegung. Roth äußert sich despektierlich über die prüden Tänzerinnen, wendet aber hier auch die Inversionsstrategie an: »Unsittlich sind nur die Besucher, die mit lüsternen Vorstellungen zu den Girl-Attraktionen wandern […].«281 Roth hält die Girls für perfekte Ehefrauen, als Mitgift bekomme der Mann eine brave, sittliche Hausfrau, die den Morgenkaffee mit gymnastischen Übungen zubereitet, Kinder hygienisch gebiert und zu Soldaten erzieht und noch vor
279 ROTH, Joseph 1991: Die Girls II. In: ROTH, Joseph; WESTERMANN, Klaus (Hrsg.): Werke. Band 3: Das journalistische Werk 1929-1939. Köln: Kiepenheuer & Witsch, S. 201-203, S. 203. 280 SYKORA, Katharina (Hrsg.) 1993: Die neue Frau: Herausforderung für die Bildmedien der Zwanziger Jahre. Marburg: Jonas, S. 20f. 281 Roth 1990, S. 393.
166 | THEATER DER N ACKTHEIT zehn Uhr schlafen geht und eine so strenge Hausordnung führt, daß es dem Mann nicht mehr möglich ist, sich an Girl-Vorstellungen zu ergötzen…282
Hier verweist der Autor noch einmal ausdrücklich auf die Asexualität der Girls, führt deren dramaturgische Funktion innerhalb der Revue aber ad absurdum, da das (ehemalige) Girl als Ehefrau mit ihren Eigenschaften und Fähigkeiten den erotischen Kitzel beim Anblick der Tänzerinnen auf der Bühne unmöglich macht. Intention der Regie beim Einsatz der Girls und Rezeption der Kritiker divergieren also erheblich. Die Girls in den Chorus Lines traten im Wechsel mit den nackten Tänzerinnen auf. Der Schauspieler Paul Morgan mahnt, das OriginalTiller-Girl nicht mit dem deutschen Girl zu verwechseln: Beide sind Bestandteil des 300-köpfigen Ensembles der Revue, aber das eine ist ein Zahnrädchen in der »immer kopierten, nie erreichten« PräzisionsTanz-Maschine, das andere ist nur in der Lage, ihre wohlgeformte Brust zu zeigen.283 Es gab indes auch Girl-Truppen, welche nackt abgebildet wurden: Während die Tiller-Girls stets angezogen blieben, waren die Haller-Girls in den Programmen auch nackt zu sehen.284 Walter Benjamin sieht in den unbekleideten Girls eine Gefahr für die Revue: »Sie [die Revue] wird bald den Vorrat ihrer Einfälle erschöpfen; seitdem sie den Frauenkörper bis zur absoluten Nacktheit entkleidet, hat sie keine andere Variation mehr zur Verfügung als die Qualität, es werden bald mehr Girls als Theaterbesucher sein.«285 In Walter Benjamins Richtung argumentiert auch Stefan Großmann in dem Programm-Heft zu der Charell-Revue, in dem er fordert, dass die Nacktheit inszeniert werden müsse. Die Girls traten in den Revuen im Wechsel mit Nackt-Nummern auf. Unter dieser Prämisse der Gleichzeitigkeit ist es interessant zu sehen, wie Giese die Girls im Vergleich zu den nackt auftretenden Tänzerinnen wertet. Für ihn sind die ›amerikanischen‹ Girls absolut
282 Roth 1990, S. 394. 283 MORGAN, Paul 1928: Kleine Tragödie. In: Querschnitt, Nr. 8, S. 655, zitiert nach Jelavich 1996, S. 179. 284 Jelavich 1996, S. 179. 285 BENJAMIN, Walter; REICH, Bernhard, 1972: Revue oder Theater. In: BENJAMIN, Walter; 1972, Tillman (Hrsg.): Gesammelte Schriften, Band IV.2. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 296-302, S. 302.
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keusch, sie haben keine Zweideutigkeit an sich und bestechen allein durch ihre ausgefeilte tänzerische Technik. Giese sieht in diesem Umstand das typisch Amerikanische.286 Das ›Amerikanische‹ ist für Giese der zivilisierte und entindividualisierte Körper, dem nichts Naturhaftes und Erotisches mehr anhaftet und von dem keine moralische Gefahr für die Gesellschaft ausgeht. 1929 drehte der amerikanische Revue-Regisseur Florence Ziegfeld den Film Gloryfying the American Girl. Der Musical-Film ist im Backstage-Milieu angesiedelt und erzählt die Geschichte einer Verkäuferin, die bei den Ziegfeld Follies auftreten will und am Ende reüssiert. Der Titel ist typisch für die Verherrlichung des Girls: »Die Follies basieren auf einer gefeierten Institution, dem natürlichen jungen Mädchen, und deshalb ist ihr Erfolg bereits vorprogrammiert.«287 Die Girls als Phänomen der modernen Massenkultur fanden ein breites Publikum. Sie waren der Inbegriff der »Neuen Frau«:288 Sie waren berufstätig und schienen selbstbewusst, unabhängig und begehrenswert. In der Weimarer Republik entwickelte sich unter den Folgen des Krieges eine stärkere Berufstätigkeit der Frau, das nun auch weibliche Büroproletariat wurde zur Zielgruppe der modernen Massenkultur. Die hauptsächlich ledigen, unter 30-jährigen Büro-Angestellten waren besonders empfänglich für die Traumwelt, welche die Girlkultur ihnen offenbarte.289 Viele junge Frauen hofften, über die Karriere als Revuetänzerin einen Mann zu finden und so eine wirtschaftlich erfolgreiche Absicherung zu erlangen: In einem Interview mit der Zeitschrift Die Bühne erzählte ein Girl, dass sie Töchter von Pastoren, Offizieren, Richtern und Bankern seien und Prinzen, Grafen und Barone heiraten würden. Die Girls würden sich die bestaussehenden und reichsten Männer aus bestem Hause aussuchen können.290 Die Möglichkeit einer solchen Ehe beflügelte die einfachen
286 Giese, 1925, S. 116. 287 Jarrett 1999, S. 85. 288 Zur Neuen Frau siehe GROSSMANN, Atina 1985: Die »neue Frau« und die Rationalisierung der Sexualität in der Weimarer Republik. In: SNITOW, Ann (Hrsg.) 1985: Die Politik des Begehren: Sexualität, Pornographie und neuer Puritanismus in den USA. Berlin: Rotbuch-Verlag, S. 38-62. 289 Berghaus 1988, S. 193ff. 290 Die Bühne vom 14.01.1926, zitiert nach Berghaus 1988, S. 204.
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Angestellten, welche in den Büros ausgebeutet wurden, und machte sie äußerst empfänglich für die von der Massenkultur propagierte Girlkultur. Wenngleich Girls heute noch auf Pariser Revuebühnen, in der New Yorker Radio City Music Hall oder im Berliner Friedrichstadtpalast fester Bestandteil der Inszenierungen sind, war die Blütezeit der Girls in den zwanziger Jahren sehr kurz. Zum einen überlebte sich die Revue durch die Verbreitung des Filmes, auf der anderen Seite verkörperten sie einen wirtschaftlichen Aufschwung, der zu Beginn der dreißiger Jahre nicht mehr gegeben war.
4.3 Z USAMMENFASSUNG Die Präsentation der Nacktheit im Kaiserreich und in der Weimarer Republik ist geprägt von einer rückwärtsgewandten Realitätsflucht in verschiedene Utopien, welche als heilsbringend propagiert werden. Daneben entwickelt sich jedoch auch eine der Lebensrealität zugewandte Kommerzialisierung und Vermarkung der Nacktheit. Sowohl geschäftstüchtige Vertreter der Lebensreform als auch die in Kapitel 4.1 untersuchten Tänzerinnen erkennen, dass sich die bewusste Verletzung der Sitten gut vermarkten lässt. Grundsätzlich lässt sich mit dem Übergang in die Weimarer Republik eine Verschiebung von der Utopie in den Kommerz beobachten. Ein Nebenschauplatz ist der Missbrauch der Nacktkultur zum Zwecke der Zuchtwahl, wie sie Richard Ungewitter propagiert. Das Ziel der lebensreformerischen Bemühungen ist die Stärkung des menschlichen Körpers und die Eigenverantwortlichkeit in einer als degeneriert empfundenen Welt. Die Pionierinnen des Ausdruckstanzes setzen die neue Linie um, indem sie die Individualität des Menschen zu ihrem Programm erheben. Weibliche Formen ersetzen das Ideal des filigranen Körpers und lassen Rückschlüsse auf die Sexualität einer erwachsenen Frau zu. Hierdurch rühren die Tänzerinnen an einem zivilisatorischen Tabu. Durch die Abkehr von Spitzenschuh und Tutu setzen sie auch die Forderung der Kleidungsreform um. Die Vertreter der Nacktkultur äußern sich vielfach zivilisationskritisch. So beklagen etwa Ida Hofmann und Hans Surén die Unterdrückung der individuellen Regungen des Menschen und dessen Versklavung durch die Machtbesitzenden. Der geäußerten Kritik folgen
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jedoch nur selten ausführbare Lösungen, oftmals tragen die Programme der Reformer zu rückwärtsgewandte Züge, um eine nachhaltige Veränderung zu bewirken. Dies äußert sich vor allem in dem omnipräsenten Bezug zu einer idealisierten Natur und in der erklärten Technikfeindlichkeit. Trotz ihres hehren Zieles das Leben der Menschen zu verbessern ist die Nacktkultur gefangen in den allgemein vorherrschenden Moralvorstellungen. So müssen sowohl die Nudisten als auch die Tänzerinnen permanent den Vorwurf der Unsittlichkeit abwehren. Eine Verbindung von Nacktheit und Sexualität wird offiziell vehement bestritten. Die Vertreter des Nacktsports betonen auf auffällige Weise die Keuschheit, welche vom trainierten, unbekleideten Körper ausgehen und die durch die Nacktheit noch besonders hervorgehoben werden soll. Die Züchtigung des Körpers wird als Kompensation der Sexualität beworben und soll dem lasterhaften Menschen helfen, keusch zu bleiben. Fast alle Vertreter der Nacktkultur und der Nacktheit auf der Bühne stützen sich auf die in Kapitel 3.5 dargestellten Legitimationsstrategien, welche jedoch oftmals eher rhetorisch geschickt unterbreitete Behauptungen enthalten als überzeugende Argumente. Trotz dieser Kritik darf nicht vergessen werden, dass dieser Legitimationszwang einem restriktiven Klima der Unterdrückung der Sexualität geschuldet ist. Die massive Tabuisierung der Triebe, welche ein Merkmal der Zivilisation ist, führt zu einer verkrampften Prüderie der Vertreter der Nacktkultur, welche die proklamierte Befreiungsbestrebung relativiert. Der Körper darf nackt sein, der Träger desselben muss sich jedoch rechtfertigen. Eine der wichtigsten Strategien ist die Inversion des Unsittlichkeitsvorwurfes, welche behauptet, dass nicht der nackte Körper unsittlich sei, sondern der Blick darauf oder, alternativ, der aufreizend bekleidete Körper. Dieses Verfahren wird von den Vertretern der Nacktkultur wie den Tänzerinnen gleichermaßen angewandt. Die unter dem Schlagwort »Doktrin der Distanz« zu subsumierenden Strategien zeigen, wie sehr die in Kapitel 4.1 vorgestellten Tänzerinnen das Gedankengut der Nacktkultur aufgreifen. Alle Felder zeichnen sich durch ihre große Distanz zur Realität des Alltags aus, weswegen sie als Sehnsuchtsort für Schwärmereien fungieren können und sich durch ihren diffusen Charakter einer Nachprüfbarkeit entziehen.
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Richard Ungewitters Verklärung der Antike findet sich bei Olga Desmond und Isadora Duncan sowie ansatzweise auch bei Adorée Villany wieder. Letztere wendet eine weitere Legitimationsstrategie an: Obwohl sie selbst sehr kommerziell orientiert ist und ihr Bezug auf Antike und Schönheit Vorwand für den entblößten Körper ist, beschuldigt sie ihre Nachahmerinnen, die Nacktheit nur aus wirtschaftlichen Gründen auszustellen. Villany erhöht sich hierdurch selbst und gibt den an sie gerichteten Vorwurf einfach weiter. Während es sich bei Desmond und Villany nur um eine einfache Rechtfertigung für die lukrative Zurschaustellung des nackten Körpers handelt, bemüht sich Duncan um eine ausführliche Darlegung ihrer Motive. Der Bezug auf den Hellenismus entpuppt sich indes als Schwärmerei und beruht viel mehr auf Behauptungen als auf historischen Erkenntnissen. Das Argument der Schönheit wird hauptsächlich von den Vertretern des Nacktsports bemüht, welche den trainierten Körper idealisieren. Dieser wirkt entindividualisiert und muss einen mühevollen Weg der Ertüchtigung gehen, bevor er nackt gezeigt werden darf. Die Anhänger der Nacktkultur verwenden einen sublimierten Naturbegriff. Natürlichkeit wird nicht als triebhaft und ungezügelt verstanden, sondern als Ausdruck der Unschuld. Dieses Verständnis ist verwandt mit der religiös argumentierenden Strategie, deren Anhänger die Meinung vertreten, dass der nackte Körper von Gott geschaffen sei und somit nicht anstößig und unkeusch sein könne. Isadora Duncan idealisiert die ihrer Meinung nach freien und instinktiven Bewegungen eines ›Wilden‹, zu denen der zivilisierte Mensch zurückkehren soll. Ihr Befund, dass das Bewegungsrepertoire des Balletts Ausdruck einer körperlichen Degeneration sei, deckt sich mit den Bestrebungen der Lebensreformer, welche den degenerierten Körper entlasten und durch gezielte Gymnastik stärken wollten. Ruth St. Denis bezieht sich auf eine fremde, fernöstliche Religion. Hiermit entziehen sich ihre Argumente der Nachprüfbarkeit für die breite Masse. Überdies bedient auch St. Denis die eskapistische Schwärmerei für das Exotische. Die Beispiele der Schönheitsabende um Olga Desmond und Celly de Rheydt verdeutlichen Versuche, die kommerziell motivierte Präsentation der Nacktheit mithilfe der gängigen Strategien zu legitimieren. Doch gerade de Rheydts Auslegung religiöser Themen zeigt die Fadenscheinigkeit ihrer Argumentation. Gänzlich ohne moralische
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Rechtfertigung arbeitet Anita Berber. Sie wendet sich gegen das Primat der Sublimation und zeigt den Körper in seiner Triebhaftigkeit, indem sie beispielsweise Sexualität und Drogenmissbrauch thematisiert. Beides sind Tabus, welche zur Lebenswirklichkeit gehören, jedoch gegen die Zivilisationsbestrebungen wirken. Auch die Revue trägt rückwärtsgewandte Tendenzen, da sie die ›gute alte Zeit‹ verklärt und mit ihrem luxuriösen Warenhaus-Charakter die Sorgen des Alltags vergessen lässt. Die sehr teuren Produktionen bieten Unterhaltung für die Massen und setzen dabei auf unverhüllte Körper als Verkaufsargument. Durch den Zweiten Weltkrieg und die sehr rigide Sexualmoral in der Nachkriegszeit nimmt die Nacktheit auf der Bühne schlagartig ab und beschränkt sich auf einige wenige, zwielichtige Etablissements. Eine nachhaltige Veränderung des Umgangs mit dem nackten Körper bringt erst die sexuelle Revolution in den späten sechziger Jahren.
Die sechziger und siebziger Jahre
5.
Make Love, Not War – Sexuelle Revolution und Sexwelle
1970 schreibt der französische Nouvel Observateur: »Ganz eindeutig hat Deutschland sich verändert. Rosa ist an die Stelle von braun getreten, das schwere lustvolle Stöhnen beim Orgasmus überdeckt das dumpfe Stampfen der Legionen. Vibratoren statt Kanonen! Das ist recht beruhigend.«1 Nach der Tabuisierung während des Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit tritt die Nacktheit auf der Bühne in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren mit einer bis dahin unerreichten Vehemenz wieder auf. Untrennbar verbunden ist dieses Phänomen mit den gesellschaftlichen Veränderungen und moralischen Neubewertungen der Sexualität, wie vor allem der Enttabuisierung des vor- und außerehelichen Geschlechtsverkehrs, die durch die Studentenbewegung zwischen 1967 und 1969 angestoßen wurden. In der Forderung nach Liberalisierung der Sexualität manifestierte sich die Rebellion der Jugend gegen die Elterngeneration und deren NSVergangenheit. In dieser veränderten Gesellschaft begann die Kommerzialisierung der Sexualität, es kam zu der sogenannten ›Sexwelle‹.2 Ein Relikt
1
Zitiert nach GILLEN, Gabriele 2007: Das Wunder der Liebe: Eine kleine Geschichte der sexuellen Revolution. In: COHN-BENDIT, Daniel; DAMMANN, Rüdiger (Hrsg.) 2007: 1968: Die Revolte. Frankfurt am Main: Fischer, S. 109-137, S. 128.
2
Hermann Schreiber bezeichnet mit diesem Begriff auch die gelockerte Sexualmoral und die daraus resultierenden Darstellungen und Darbietungen in den zwanziger Jahren. (SCHREIBER, Hermann 1970: Die Sexwelle: Lolita, Candy und die Folgen. München: Lichtenberg, S. 11f).
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hiervon sind die zahlreichen deutschen Erotikfilme, die seit 1970 produziert wurden, wie die legendäre 13-teilige Reihe Schulmädchenreport. Als kommerzielles Phänomen beinhaltete die Sexwelle vor allem Filme und diverse Zeitschriftentitel, selbst die gesellschaftskritische ›Zeitschrift für Politik und Kultur‹ konkret brachte 1965 passend bebilderte Titel wie »Schülerliebe – Striptease und Mathematik« oder »Student intim«.3 Doch auch das Theater entdeckte die Nacktheit für sich. Zwei herausragende Produktionen in Hinsicht auf Nacktheit sind das Musical Hair und die Revue Oh! Calcutta!, welche beide in New York ihre Premiere erlebten, bald darauf aber auch in Deutschland für Furore sorgten. Die 68er Bewegung war ein globales Phänomen, in allen westlichen Industriegesellschaften organisierten sich Studenten zum Protest gegen die alte Ordnung.
5.1 D IE POLITISCHE D IMENSION : D IE R EVOLUTION
SEXUELLE
Es ist nicht unproblematisch, über ›die‹ 68er Generation zu sprechen, da die deutsche Studentenbewegung4 kaum über 10.000 Aktivisten umfasste. Es wäre falsch davon auszugehen, dass alle 15- bis 30jährigen im Jahr 1968 politisch engagiert waren und die gleichen Ziele und Ideale teilten. Dennoch waren der Erfolg und der Nachhall der Aktivisten groß genug, um in den folgenden Jahrzehnten Gegenstand eines veritablen Mythos zu werden. Ihr Hauptverdienst besteht in der Erschütterung erstarrter Wertvorstellungen, was ihnen bis heute von ihren Kritikern angelastet wird. Wenngleich sozialdemokratische Zeit-
Im Allgemeinen bezieht sich der Begriff Sexwelle allerdings auf die späten sechziger und frühen siebziger Jahre. 3
Zitiert nach MOHR, Reinhard 2008: Der diskrete Charme der Rebellion: Ein Leben mit den 68ern. 1. Auflage Berlin: WJS, S. 67. Im Rahmen dieser Arbeit ist es nicht möglich, auf sämtliche Ziele, Positionen und Ereignisse der 68er einzugehen. Vielmehr sollen die politischen und gesellschaftlichen Hintergründe aufgezeigt werden, welche die Nacktheit auf der Bühne begünstigten.
4
Zur Problematik dieses Begriffes siehe KRAUSHAAR, Wolfgang 2008: Achtundsechzig: Eine Bilanz. Berlin: Propyläen, S. 56f.
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historiker erklären, dass die 68er nichts als »unfreiwillige Katalysatoren einer umfassenden Modernisierung« gewesen seien, welche ohnehin unabwendbar, aber nicht von den Akteuren intendiert gewesen sei,5 sind die Folgen der Proteste und Aktionen der Studentenbewegung nicht zu unterschätzen. Gängige Vorwürfe zählt die 1954 geborene Journalistin Irmela Hannover auf: »Wir sind verantwortlich für die Tyrannei der Öffentlichkeit, die öffentliche Dauerdebatte über das Intime, insbesondere die Talkshows im Fernsehen.«6 Hieran wird deutlich, wie der Grundsatz der 68er – ›das Private ist politisch‹ – Kunst und Medien bis heute verändert hat. Die gesellschaftliche Brisanz dieses Leitsatzes wird verdeutlicht durch die These des Journalisten Reinhard Mohr, dass das geheime Erfolgsrezept des Wirtschaftswunders in der möglichst strengen Trennung von Politik und Privatem gelegen habe.7 Unter dieser Prämisse wird der krampfhafte Versuch der Kommunarden verständlich, die Privatsphäre zu beschneiden, indem Badezimmertüren ausgehängt und sämtlicher Besitz sowie die Sexualpartner geteilt wurden. Die Kampagnen der 68er waren nicht nur von gesprächstherapeutischer Mitteilsamkeit geprägt, sondern ein gravierender Angriff auf das herrschende System. Dies zeigt sich an der Sprengkraft der Titelgeschichte des Magazins Stern vom 06.06.1971, in welcher 374 deutsche Frauen namentlich bekannten, dass sie abgetrieben hätten. Diese Kampagne war ein wichtiger Schritt zur Veränderung des Paragrafen 218. 1970 konstatierte der konservative Publizist Ludolf Herrmann, dass die Rebellion von 1968 mehr Werte zerstört habe als das Dritte Reich.8
5
Kraushaar 2008, S. 43.
6
HANNOVER, Irmela; SCHNIBBEN, Cordt 2007: I can’t get no: Ein paar 68er treffen sich wieder und rechnen ab. 1. Aufl. Köln: Kiepenheuer & Witsch, S. 15. Zur Selbstdarstellung in Talkshows siehe auch O.V. 1997: Der Tanz um das Goldene Selbst. In: Der Spiegel Nr. 29, S. 92-107. Vermeintliche Vorwürfe an die 68er finden sich in nahezu jeder Abhandlung zu dem Thema, vgl. exemplarisch Cohn-Bendit; Dammann 2007, S. 17 und Kraushaar 2008, S. 42.
7
Mohr 2008, S. 29. Vgl. auch Kraushaar 2008, S. 67.
8
Hannover; Schnibben 2007, S. 17.
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Der Protest der Aktivisten, welcher die Kritik der Konservativen erregte, bestand aus mehreren Sphären:9 Angegriffen wurden die Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft, repräsentiert durch den Staat und die bürgerliche Klasse sowie die Institutionen dieser bürgerlichen Gesellschaft wie Parlamente, Justiz, Banken und Industriekonzerne: »Wir haben uns doch damals eine Gehirnwäsche verordnet, und die hieß ›Entbürgerlichung‹. Wir stellten an uns die Forderung, wir müssen uns entbürgerlichen […].«10 Mit der Kritik an Sozialisationsstätten wie Familie, Kindergärten, Schulen und Universitäten einher ging die Forderung nach antiautoritärer Erziehung und dem Ausleben der Sexualität ohne Zwang zur Fortpflanzung. Verwirklicht wurden diese Ansätze in Kinderläden und Kommunen. Schließlich sollte die psychosoziale Charakterstruktur verändert werden, um anal-sadistische Charakterzüge zu überwinden und dem Individuum zu einer umfassenden Emanzipation zu verhelfen. Hierbei stützte man sich auf die sozialpsychologischen Studien des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, welche als Raubdrucke verbreitet wurden. Alle diese Sphären repräsentieren die ›normative Kraft des Faktischen‹, gegen die die 68er protestierten. Das ›Bürgerliche‹, gegen das sich die 68er auflehnten, waren die Errungenschaften der Zivilisation, welche ein geordnetes gesellschaftliches Zusammenleben im Sinne von Elias’ Theorie ermöglichen sollten. In der Rückschau entlarven ehemalige Aktivisten wie Cord Schnibben diese Haltung gegen alles, was den Staat in seiner Ordnung zusammenhalten sollte, als Resultat einer Gehirnwäsche, damals war indes die Erschütterung der zivilisatorischen Normen das oberste Ziel. Neben den abstrakten Zielen der Gesellschaftsveränderung richtete sich der Protest eines Teils der 68er konkret gegen die eigenen Eltern und deren mangelnde kritische Auseinandersetzung mit ihrer NSVergangenheit. Für den Historiker Gerd Koenen ist dieser Generationenkonflikt konstituierend für die Revolte der 68er: Die politische Enge der Nachkriegsgesellschaft allein kann das radikale Aufbegehren nicht erklären. Hinzu kommt eine psychische Verfassung der 68er Aktivisten, die durch einen Spannungszustand gekennzeichnet war: die Flucht aus einer vergifteten Vergangenheit, die hinter der Wohlstandsfassade von
9
Kraushaar 2008, S. 64.
10
Cord Schnibben in Hannover; Schnibben 2007, S. 34.
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Demokratie und Marktwirtschaft fortzuwesen schien, einerseits und einer elitär überzogenen Vorstellung von der Möglichkeit sich selbst und die Welt neu zu erfinden, andererseits […].11
Während die Auseinandersetzung mit den eigenen Eltern bei manchen Autoren der 68er-Monografien eine sehr große Bedeutung hat, sind andere zurückhaltend. Die Journalistin Tissy Bruns relativiert 2007 in der Rückschau das Thema, indem sie zwischen den konkreten und den abstrakten Eltern unterscheidet, welche erfunden wurden, um sich als »aufmüpfige Generation zu konstituieren«.12 Trotz dieser Relativierung war der Antifaschismus zweifellos neben dem Antikapitalismus und dem Antiimperialismus eines der drei großen Ziele der Bewegung. Der Antifaschismus war die Motivation hinter zahlreichen Institutionen der 68er-Bewegung wie etwa den antiautoritären Kinderläden. Gemäß Theodor Adorno nahmen die Initiatoren der Revolte an, dass antiautoritäre Erziehung am Kleinkind ansetzen müsse, um die Rückkehr zum Faschismus zu verhindern.13 Wolfgang Kraushaar nennt drei konstituierende Mythen, welche die Botschaften der 68er-Bewegung transportierten: Gewalt, Sexualität und Dritte Welt.14 Bezüglich der Frage nach der Bedeutung für die Nacktheit interessiert vor allem der Mythos Sexualität. Dieser wurde im 20. Jahrhundert stets mit Modernität verbunden und war untrennbar mit dem Diskurs der Befreiung verbunden.15 Der Soziologe Horst Schelsky veröffentlichte 1955 die einflussreiche Studie Soziologie der Sexualität, in welcher er konstatiert, dass der Sexualtrieb des Menschen vom Fortpflanzungstrieb unabhängig sei und deswegen »zum eigenständigen Motiv bewußter Handlungen« werden könne.16 Schelsky bringt somit auf den Punkt, was die Sexwelle mithilfe der Pille und der gelockerten Moral verwirklichte.
11
Cohn-Bendit; Dammann 2007, S. 7.
12
Tissy Bruns in Hannover; Schnibben 2007, S. 276.
13
Kraushaar 2008, S. 133.
14
A.a.O., S. 81ff.
15
GRANT, Linda 1996: Versext: die sexuelle Revolution – Geschichte und
16
SCHELSKY, Helmut 1955: Soziologie der Sexualität: über die Bezie-
Utopie. Bergisch-Gladbach: Bastei Lübbe, S. 19f. hungen zwischen Geschlecht, Moral und Gesellschaft. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 13.
180 | THEATER DER N ACKTHEIT
Um die Verbindung zwischen Politik und Sexualität zu verstehen, ist es notwendig, sich vor Augen zu führen, welche Kraft der Sexualität innewohnt, welche Triebfeder sie im wahrsten Sinne des Wortes ist. Um eine grundlegende Veränderung zu erlangen, setzten die Aktivisten am Hebel der Sexualität an. Welch wunden Punkt der Gesellschaft sie getroffen hatten, zeigt die Äußerung eines konservativen Gegners der sexuellen Revolution: Wir spüren, daß das Geschlecht in einer immer straffer und immer starrer durchorganisierten Welt einer der letzten, wenn nicht überhaupt der letzte Zugang zum Elementaren, Ursprünglichen ist, der uns noch blieb. Mag auch alles Übrige um uns herum manipuliert und in Zwecke umgesetzt sein – hier fühlen wir uns frei. Wir haben aber auch erfahren, daß das Geschlecht zu einer zerstörenden Kraft werden kann, die alle Dämme einreißt.17
Mit dem Begriff »Geschlecht« meint der Autor Armin Mohler sublimierte Sexualität, welche er in seiner eigenen Begrifflichkeit vom lüsternen und verderblichen »Sex« absetzt. Mohlers Terminologie offenbart eine Doppelmoral, welche die Sexualität in Kategorien einteilt und nur in sublimierter Form zulässt. Auf den Bereich der Sexualität beschränkt sich auch das Interesse der 68er an der Psychoanalyse, welche die Annahme unbewusster seelischer Vorgänge, die Anerkennung der Lehre vom Widerstand und der Verdrängung sowie die Einschätzung der Sexualität und des Ödipuskomplexes beinhaltet. Hiervon ist für die 68er allein die Sexualität von Belang, das Unbewusste, welches im Zentrum von Freuds Werk steht, wird überhaupt nicht beachtet.18 Mithilfe des von den 68ern vernachlässigten Freud argumentieren konservative Stimmen gegen die sexuelle Revolution: der Mensch kann seine Libido, das heißt nach Freud seine Lebensenergie, nur einmal verwenden, entweder er tut dies in der Sexualität oder er sublimiert sie in kulturelle Leistungen. Implizit wird nun den 68ern unterstellt, ihr auf Ausleben der Sexualität fixiertes Streben könne keine
17
MOHLER, Armin 1972: Sex und Politik. Freiburg: Rombach, S. 15.
18
REICHE, Reimut 1988: Sexuelle Revolution – Erinnerung an einen Mythos. In: BAIER, Lothar (Hrsg.) 1988: Die Früchte der Revolte: Über die Veränderung der politischen Kultur durch die Studentenbewegung. Original-Ausgabe. Berlin: Wagenbach, S. 45-71, S. 50.
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Kulturleistungen erbringen. Auch Armin Mohler vertritt diese Entweder-oder-These zuungunsten der 68er und verweist auf Joseph Daniel Unwin: »Jede Gemeinschaft kann frei wählen zwischen großer kultureller Energie und sexueller Freizügigkeit. Es ist bewiesen, daß man nicht beides gleichzeitig länger als eine Generation haben kann.«19 Hieran zeigt sich, als welche Bedrohung für die Zivilisation die Befreiung der Sexualität angesehen wird. Einer der wichtigsten Theoretiker für die 68er war der 1939 nach New York emigrierte Psychoanalytiker Wilhelm Reich. Seine 1927 verfasste Studie Funktion des Orgasmus wurde von den Studenten wieder entdeckt und avancierte zum Verkaufsschlager unter den Raubdrucken. Im Zentrum von Reichs Theorie steht das Primat des Genitalen beziehungsweise des Orgasmus. Der Mensch sollte dieses gesundende Phänomen so oft wie möglich erfahren können, weswegen Reich für eine uneingeschränkte Sexualität aller Personen- und Altersgruppen eintrat. In den neu gegründeten Kinderläden sollten die Kinder ohne die Restriktionen ihrer Eltern und des Erziehungspersonals ihre frühkindliche Sexualität im Sinne Reichs und Freuds ausleben können. Ein legendärer Ausspruch, der fälschlicherweise dem Kommunarden Dieter Kunzelmann zugesprochen wurde, lautete: »Was geht mich Vietnam an – ich habe Orgasmusschwierigkeiten.«20 Hieran zeigt sich nicht nur die Bedeutung des sexuellen Höhepunktes, sondern auch die von Irmela Hannover erwähnte Offenheit, mit der das Intimste preisgegeben wurde. Neben der Attraktivität des Postulats der uneingeschränkten Sexualität empfahl sich Reich als Ideologe für die 68er durch seine Annahme, dass eine erfüllte Sexualität notwendig für eine erfolgreiche Revolution und die Bekämpfung des Faschismus sei. Der sexuell frustrierte Mensch entwickele Hass, Schuldkomplexe und Angst vor seiner Sinnlichkeit, was er kompensiere, indem er zum Sittenwächter gegenüber anderen werde und seine eigene uneingestan-
19
FISCHLE-CARL, Hildegund 1972: Sexualverhalten und Bewusstseinsreife: Gedanken zur Sexwelle. Stuttgart: Bonz, S. 25; UNWIN, Joseph Daniel 1934: Sex and Culture. London: Oxford University Press, zitiert nach Mohler 1972, S. 80.
20
MATHES, Werner 1999: Hurra, ich lebe noch: Das KunzelmannInterview. In: Der Stern vom 19.05., zitiert nach http://www.trend. infopartisan.net/trd0599/t270599.html.
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dene Triebhaftigkeit auf Fremdgruppen projiziere.21 Hier offenbaren sich zivilisationskritische Ansätze Reichs: Er erkennt die für das Individuum problematische Verdrängung der Triebe und den Prozess gesellschaftlicher Normen, welche zum einen als schlechtes Gewissen introjiziert und schließlich an die Umwelt weitergegeben werden. Der Zusammenhang zwischen sexueller Repression und Faschismus, den Reich bereits vor dem Zweiten Weltkrieg konstatierte, wurde auch nach dem Krieg gesehen: »So wäre es kurzschlüssig zu meinen, alles das, was in Auschwitz geschah, sei typisch deutsch. Es ist typisch für eine Gesellschaft, die die Sexualität unterdrückt.«22 Diese Annahme verschaffte den 68ern die Legitimation für die sexuelle Befreiung als Protest gegen die Elterngeneration, das Gesetz und die Kirche: [M]it 15 war mein Kopf voll von sexuellen Wünschen und Phantasien, und die Pille war ein Symbol gegen Verbote. Das Thema Sexualität war ein fundamentales Thema. Sex war etwas Verbotenes, nur für verheiratete Paare erlaubt, die alle so aussahen, als ob es keinen Spaß macht. Schon kleine Kinder wussten
21
REICH Wilhelm 1969: Die Funktion des Orgasmus: Sexualökonomische Grundprobleme der biologischen Energie. Köln: Kiepenheuer & Witsch, S. 139. Vgl. auch HEIDER, Ulrike 1986: Freie Liebe und Liebesreligion: Zum Sexualitätsbegriff der 60er und 80er Jahre. In: HEIDER, Ulrike (Hrsg.) 1986: Sadomasochisten, Keusche und Romantiker: Vom Mythos neuer Sinnlichkeit. Original-Ausgabe. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 91-136, S. 94. Das konservative Lager übt hingegen Kritik an Reich: »His insistence that sexual ›freedom‹ would inevitably reduce violence and cruelty, has been repeatedly disproved, notably in the case of Charles Manson.« (HEATH, Graham 1978: The illusory freedom: the intellectual origins and social consequences of the sexual revolution. London: Heinemann, S. 17). Reichs These kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden, seine Bedeutung für das Handeln und Denken der 68er ist jedoch unstrittig, wie auch Heath zugeben muss: »But in spite of (or perhaps because of) his inconsistency and evident bias, Reich’s vision of a world without any social controls of sex in which everyone would Make Love, not War, has proved most attractive to numbers of young people, particularly in the United States.« (Ebd.)
22
PLACK, Arno 1969: Die Gesellschaft und das Böse. München: List, S. 309.
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um die Paragraphen für »Homos«, »Kuppelei« und »Abtreibung«, um die rankten sich viele Geschichten, die wir uns erzählten.23
Reich war überdies der Auffassung, dass sich das Proletariat im Gegensatz zum verklemmten Kleinbürgertum eine ›natürliche‹ Sexualität bewahrt habe, sodass das Ausleben der Sexualität als antifaschistische Aktion verstanden werden konnte. Auch in diesem Punkt stimmt Reich mit den Zivilisationstheoretikern überein, welche die Zivilisation als von der Oberschicht ausgehendes Phänomen verstehen. Die sexuelle Revolution war ein internationales Phänomen, besonders liberal jedoch waren die skandinavischen Länder. Bereits 1962 kam Ingmar Bergmanns Spielfilm Das Schweigen in die Kinos, der wegen expliziter Darstellung von Geschlechtsverkehr und Masturbation einen veritablen Skandal auslöste. 1967 und 1968 folgten die Filme Vilgot Sjömans, welche ebenfalls explizit Geschlechtsverkehr zeigten. Am 01.07.1969 wurde in Dänemark die Pornografie legalisiert. Die eruptive Befreiung und Liberalisierung der Sexualmoral erklären einige Forscher mit der bis in die fünfziger Jahre herrschenden Repression der Sexualität in den überwiegend protestantischen Ländern, während die südlichen, katholischen Länder trotz strenger Konventionen und dem hohen Stellenwert der Institution Familie die Sexualität nie verleugnet hätten.24 Wenngleich die sexuelle Revolution also nicht nur in Deutschland stattfand, wurde sie hier mit einer besonderen Vehemenz vorangetrieben. Die Vorstellung, dass der Nationalsozialismus sexuell repressiv gewesen sei, hatte sich zum Konsens etabliert. Der linke und liberale Flügel konnte aufgrund der Annahme, dass es bezüglich der Sexualmoral eine große Übereinstimmung zwischen den National-
23
Christoph Köhler in Hannover; Schnibben 2007, S. 49f. Ähnliche Erfahrungen machte die in Großbritannien aufgewachsene Linda Grant: »Für meine Generation, die Underground-Magazine wie Oz und International Times und Rolling Stone las, war Sex nicht nur ein koitaler Akt. Er war eine politische Geste, ein Molotowcocktail, den man gegen das Establishment schleudern konnte, um die Sittenrichter und Moralapostel hochgehen zu lassen, die komisch gekleideten Spießer, die elenden Heuchler, all die Papiertiger der sexuellen Revolution.« (Grant 1996, S. 33.)
24
Fischle-Carl 1972, S. 7f. Vgl. auch Mohler 1972, S. 17f.
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sozialisten und den christlichen Konservativen gab, Einfluss auf konservative Publizisten nehmen und den Diskurs über Sexualität damit in seinem Sinne beeinflussen. Die Sozialdemokraten, welche 1966 in die Bundesregierung eintraten, beugten sich dem wachsenden Druck und liberalisierten die Gesetze zu Ehebruch und Scheidung, Homosexualität, Pornografie, Prostitution und Abtreibung.25 Vonseiten der Konservativen wird der ›Einbruch der Moral‹ gemäß dem Motto ›denn schuld daran ist nur die SPD‹ der Politik der Sozialdemokraten angelastet, so zieht Armin Mohler in dem Kapitel »TabuBruch und politischer Realitätsverlust« kuriose Parallelen: Einigen Aufschluß gibt der Hinweis, welche politischen Umwandlungen der Sexwelle parallel laufen. Für Deutschland haben wir den eigentlichen Beginn der Sexwelle mit dem Schock des Schwedenfilms »Das Schweigen« Ende 1963/Anfang 1964 gesetzt. Der erste Höhepunkt der Sexwelle, sozusagen ihr Bastillensturm, ist unbestritten die Kopenhagener Sex-Messe vom Oktober 1969; angesichts des Besucher-Zustroms aus Deutschland, den man auf ihr feststellen konnte, kann sie auch als Zeitmarke für uns gelten. Beide Daten wecken in dem mit der Zeitgeschichte Vertrauten die Erinnerungen an zwei entscheidende historische Einschnitte: im Oktober 1963 tritt Adenauer als Bundeskanzler zurück; im Oktober 1969 wird unter Willy Brandt die erste Linksregierung der Bundesrepublik seit ihrer Gründung gebildet.26
Die neue, liberalere Sexualpolitik der Regierung manifestiert sich in dem 1967 von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung produzierten Aufklärungsfilm Helga – vom Werden des menschlichen Lebens, der ein junges Ehepaar von der Empfängnis bis zur Geburt ihres Kindes zeigt. Der Protest einer überschaubaren Gruppe hatte nunmehr durch die Reform der Gesetzgebung höchstamtlich die gesamte Gesellschaft erreicht. Wolfgang Kraushaar sieht in der Überhöhung der (befreiten) Sexualität einen Widerspruch zum durch das politische Engagement ausgedrückten Primat des Objektiven. Während der Klassenkampf
25
HERZOG, Dagmar 2005: Die Politisierung der Lust: Sexualität in der deutschen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. 1. Auflage. München: Siedler, S. 174.
26
Mohler 1972, S. 25.
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eine objektivistische, asketische Lebenseinstellung erforderte, war das Ausleben der eigenen Sexualität rein gefühlsbestimmt.27 Diese gefühlsbetonte Seite wurzelt in einer fundamentalen Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, dem Unverfälschten, was in der Befreiung der Sexualität und der Reform der (autoritären) Erziehung verwirklicht werden sollte. In diesem Streben lässt sich Jean-Jacques Rousseaus Postulat ›zurück zur Natur‹ erkennen.28 Rousseau geht davon aus, dass der Mensch als Naturwesen vor den verderblichen Einflüssen der Kultur – und somit auch dem widernatürlichen Kunstgebilde eines Staates mit seinem Regelapparat – geschützt werden müsse: Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen. […] Er verstümmelt seinen Hund, sein Pferd, seine Sklaven. Alles dreht er um, alles entstellt er. Er liebt die Mißgeburt, die Ungeheuer. Nichts will er haben, wie es die Natur gemacht hat, selbst den Menschen nicht. Man muß ihn, wie ein Schulpferd, für ihn dressieren; man muß ihn nach seiner Absicht stutzen wie einen Baum seines Gartens.29
Diese 1762 erschienene Abhandlung trifft im Kern die Motivation der 68er zur antiautoritären Erziehung in den Kinderläden. Rousseaus Primat der Natur mündet in der sogenannten permissive society, die dem Naturstreben des Menschen keine Restriktionen mehr auferlegt. Armin Mohler, der Rousseaus Naturbegriff als »Gift für die moderne Gesellschaft« auffasst, weist zurecht darauf hin, dass es eine Pendelbewegung zwischen einer permissiven und einer stark restriktiven Gesellschaft gibt, ein Extrem ist die Reaktion auf das andere, woraus er schließt, dass die permissive society nicht erstrebenswert ist, da sie sowieso nicht von Dauer sein kann.30 Die 68er hatten große Pläne, und es stellt sich die Frage, wie viel davon langfristig verwirklicht werden konnte. Kraushaar kommt zu dem Schluss, dass die Bewegung zwar mit ihren politischen Plänen gescheitert sei, soziokulturell aber Erfolge gezeigt habe.31 Ziel der
27
Kraushaar 2008, S. 189.
28
A.a.O., S. 254.
29
ROUSSEAU, Jean-Jacques 1998: Emil oder Über die Erziehung. 13.,
30
Mohler 1972, S. 72f.
31
Kraushaar 2008, S. 286.
unveränderte Auflage, Nachdruck. Paderborn: Schöningh, S. 9.
186 | THEATER DER N ACKTHEIT
Bewegung war die Erneuerung der Gesellschaft durch die Entfesselung des Individuums,32 welche sich vor allem in der Neubewertung und Befreiung der Sexualität manifestiert. Diese Aufwertung der Individualität und Befreiung der Körperlichkeit bereitete auf entscheidende Weise den Boden für die Nacktheit auf der Bühne. Die 68er verfügten über einen ausgeprägten Selbstdarstellungsdrang, welcher sie zu neuen, theatralen Protestformen anregte, die dem Motto ›Fantasie an die Macht‹ der Pariser Studentenunruhen des Monats Mai 1968 folgten. Neben dem Privaten wurde auch die Kunst politisch, Politik wurde mit künstlerischen Mitteln gemacht: Ich glaube, beides gehörte dazu. Die APO-Bewegung lebte davon, dass sie Happenings machte, Go-ins, Sit-ins. Das Anliegen ist ernst, aber wir protestieren mit lustvollen, mit neuen Protestformen. Da waren die Leute verunsichert. Wir sind mit dem Megaphon rein und haben Go-ins gemacht, und der Direktor brach zusammen. Es war einfach eine neue Aktionsform, so etwas war nicht üblich.33
Aktionen wie das von der Kommune I gegen den US-Vizepräsidenten Hubert H. Humphrey geplante Puddingattentat oder das ›Busenattentat‹ auf Theodor Adorno sollten in erster Linie provozieren. Die inszenierte Provokation war eine Reaktion auf die elterlichen Grundwerte der Disziplin, Ordnung und des Gehorsams. In einer sexualfeindlichen Gesellschaft hatte die Nacktheit dabei ein besonders hohes Provokationspotenzial. Am 22.04.1968 stürmten drei Studentinnen in Frankfurt das Podium, auf dem Theodor Adorno eine Vorlesung hielt, und entblößten ihre Brüste. Sie ließen Blüten auf sein Haupt rieseln und versuchten ihn zu umarmen. Für Adorno war die Nacktheit der jungen Frauen der größtmögliche Affront, er verließ den Hörsaal. Wenige Monate nach dem Ereignis erlitt er im Urlaub einen tödlichen Herzinfarkt. Wenngleich dieser der Belastung einer Bergtour und Adornos schwachem Herzen zuzuschreiben ist, entstand der Mythos, dass seine Studenten Adorno das ›Herz gebrochen‹ hätten. Die genauen Gründe für die Aktion und die Wahl der Nacktheit lassen sich nicht mehr rekonstruieren, sie scheinen jedoch im Streben nach einem Happening zu liegen. Hannah Weitemeier, die sich damals entblößte,
32
Kraushaar 2008, S. 290.
33
Joachim Barlowski in Hannover; Schnibben 2007, S. 82.
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war zuvor ein halbes Jahr in New York gewesen und hatte Andy Warhol kennengelernt: Es sollte eine lustige Aktion werden, ein Happening. […] Jetzt wollten Hannah und ihre Freunde ein bisschen Andy Warhol nach Frankfurt bringen. Und außerdem, natürlich, wollten sie sich über Adornos Verhältnis zu den Frauen lustig machen. Adornos viele Liebesaffären waren bekannt […] Es sei ihr Freund Alfred von Meysenburg gewesen, Meyse, der gesagt habe, aus Adornos Schwäche für die Frauen »müssen wir ’n Spaß machen«.34
Diese Episode zeigt die Affinität der 68er zum Happening und das Potenzial der Nacktheit, als genuines Symbol des Privaten in der Öffentlichkeit politisch zu werden. Die Kommune I ist auch nach vierzig Jahren im kollektiven Gedächtnis untrennbar mit ihrem nackten Gruppenfoto verbunden. Doch diese Nacktheit war ebenfalls inszeniert, die Fototermine waren die einzigen Anlässe, bei denen sich alle nackt sahen. Das Leben der Kommune I, wie es von den Medien gezeigt wurde, war nach dem Grundsatz ›Erst blechen, dann sprechen‹ für die Journalisten inszeniert. Dieter Kunzelmann erinnert sich, dass man stets am Morgen wie nach einer Theaterpremiere die Zeitungen nach Artikeln über die Kommune durchsucht habe.35 Inszenierung und Exhibition waren somit integraler Bestandteil des Konzeptes ›Kommune‹ und ihres Protestes gegen das Establishment. Auf der anderen Seite zeigt dieses Beispiel, wie schwierig es ist, traditionelle internalisierte Normen abzustreifen sowie ungezwungen und spontan die postulierten neuen Werte zu leben.
5.2 D IE KOMMERZIELLE D IMENSION : D IE S EXWELLE Untrennbar mit dem politischen Phänomen ›68‹ verbunden ist die versuchte Befreiung der Sexualität und die damit einhergehende Kommerzialisierung durch die ›Sexwelle‹. Die gesellschaftliche Umbe-
34
Stelzer, Tanja 2003: Die Zumutung des Fleisches. In: Der Tagesspiegel
35
Lau, Mariam 2000: Die neuen Sexfronten: Vom Schicksal einer Revolu-
vom 07.12. tion. Berlin: Fest, S. 91f.
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wertung der Sexualität wäre niemals möglich gewesen ohne die Antibabypille, welche 1960 erstmals in den USA und 1961 in Deutschland auf den Markt kam. Die Pille erlaubte nun die vollständige Trennung von Sexualität und Fortpflanzung.36 Auch die nach den Verboten während des Nationalsozialismus wieder erstarkte Sexualwissenschaft trug ihren Teil dazu bei, die moralische Bewertung der Sexualität zu verändern. In Deutschland war es Oswalt Kolle, der mit seinen Büchern und Filmen zu der Popularisierung der sexuellen Aufklärung beitrug. 1967 veröffentlichte er in der Zeitschrift Neue Revue die Reihe Das Wunder der Liebe, welche 1968 als Buch erschien und anschließend verfilmt wurde. In den Spielszenen des Films diskutieren zwei Ehepaare über ihre sexuellen Probleme. Weitere Filme Kolles waren Deine Frau, das unbekannte Wesen (1969), Zum Beispiel: Ehebruch (1969), Dein Mann, das unbekannte Wesen (1970) und Dein Kind, das unbekannte Wesen (1970). Kolles Filme hatten einen, wenngleich nicht wissenschaftlichen, aufklärerischen Anspruch und visualisierten dem Publikum in einer bis dahin unbekannten Weise, worüber niemand offen sprach. Die Vorführungen der genuinen Aufklärungsfilme glichen eher Lehrveranstaltungen als entspanntem Freizeitvergnügen: »Anläßlich eines Aufklärungsfilmes wurde in einem der Kinos von der hinteren Saalwand bis vorne an den Bühnenrand ein Seil längs durch die Raummitte gespannt, links davon saßen die Frauen, rechts davon die Männer, in der Mitte mußten zwei Sitzreihen frei bleiben.«37 Kolle hatte strenge Auflagen zu erfüllen, um dem Vorwurf der erotischen Stimulation zu entgehen. Der Sexual-
36
Zur Bedeutung der Pille und der sexuellen Revolution im Allgemeinen für die Emanzipation der Frau siehe exemplarisch Grant 1996 und EHRENREICH, Barbara; HESS, Elisabeth; JACOBS, Gloria 1988: Gesprengte Fesseln?: 20 Jahre Kampf um eine weibliche Sexualität, und was wir damit gewonnen haben. München: Goldmann. 1970 gehörte die Pille zu den zeithistorischen Objekten, die anlässlich der Expo in einer Zeitkapsel in Osaka vergraben wurden.
37
RADEVAGEN, Til 1984: Die sechziger Jahre – Zehn Jahre im Kino. In: SIEPMANN, Eckhard (Hrsg.) 1984: Che, Schah, Shit: Die sechziger Jahre zwischen Cocktail und Molotow. 2. Auflage. Berlin (West): Elefanten Press, S. 65. Gelegentlich ließen die Zensoren auch das Saallicht während der Vorstellung hochfahren, um unsittliche Handlungen aufzudecken (http://www.oswaltkolle.de/mein-leben.php).
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forscher Hans Giese riet ihm, aufreizende Musik zu vermeiden und den Film in schwarz-weiß zu drehen.38 Die Filme der Schulmädchenreport-Reihe ignorierten diese Vorgaben, die Aufklärung war hier nur noch ein Vorwand für Episoden zwischen Soft-Pornografie und Klamauk. Ein weiterer Protagonist der Sexualforschung war der amerikanische Sexualwissenschaftler Alfred Charles Kinsey, der eine empirische und wertfreie Untersuchung des Sexuallebens der Amerikaner anstrebte. Er befragte über 20.000 Amerikaner zu ihren sexuellen Erfahrungen, Vorlieben und Fantasien. Die Auswertung dieses Datenmaterials veröffentlichte er unter den Titeln Sexual behavior in the human male (1949) und Sexual behavior in the human female (1954), welche als Kinsey-Report Popularität erlangten. Kinseys Verdienst liegt in der statistischen Beweisführung, dass Homosexualität, Masturbation und Praktiken wie Oral- oder Analverkehr keine Perversionen einiger weniger, sondern weit verbreitet waren. Kinseys Veröffentlichungen waren bahnbrechend. Oswalt Kolle, der das Buch damals für seinen Vater, einen Psychiater, übersetzte, erinnert sich an den ›KinseyEffekt‹, welchen die Lektüre bei ihm auslöste: Menschen, die dieses Buch gelesen haben, waren erleichtert, weil man plötzlich merkte, dass man mit seinen Nöten nicht alleine war, dass man mit seinen bisexuellen Vorstellungen nicht alleine ist, dass man nicht alleine ist mit seinen Masturbationsphantasien. Das war der berühmte Kinsey-Effekt. Als dann später hier in Deutschland die ersten Kinsey-Ergebnisse veröffentlicht wurden, gab es immer wieder Schwierigkeiten damit. Denn man sagte: »Oh Gott, das wollen wir nicht!« […] Ja, wir wollen das nicht wissen, denn dann könnten ja mehr Leute diesen Kinsey-Effekt erleben!39
Die rationale Betrachtung der Sexualität durch die Wissenschaft war eine der Voraussetzungen für die sexuelle Revolution und die Sexwelle: Indem Massenmedien, Aufklärungsschriften, Sexualkundeunterricht und Kurse der Erwachsenenbildung solches Wissen mehr oder weniger glücklich
38
Oswalt Kolle im Gespräch mit Jochen Kölsch am 17.07.2007, (http://www.br-online.de/download/pdf/alpha/k/kolle.pdf).
39
Ebd.
190 | THEATER DER N ACKTHEIT popularisieren, wird die Sexualität auf einer rationalen Ebene zur Sprache gebracht und in einer gewissen Öffentlichkeit ins Bewußtsein gehoben. Dadurch ist sie dem Raum des Überschwiegenen und Verdrängten weithin entzogen worden. 40
Unabdingbar für die grundlegende gesellschaftliche Veränderung, welche von den 68ern angestrebt wurde, war die Befreiung des Körpers von den herrschenden moralischen Grundsätzen: »Alles sollte anders werden und zwar sofort. Das aber war nur möglich, wenn die Körper sich aus den Panzern befreiten, in die sie eingesperrt worden waren. […] Wenn sich die körperliche Liebe von Schuldgefühlen befreite.«41 Die Sexwelle ist ein genuines Konsumphänomen und somit in vielerlei Hinsicht mit der wirtschaftlichen Situation in Deutschland in den sechziger Jahren verbunden. Das Wirtschaftswunder in Deutschland führte zu mehren sogenannten ›Wellen‹: Fresswelle, Bekleidungswelle, Möblierungswelle, Reisewelle und schließlich der Sexwelle. Die Verbindung zwischen Sexualität und Konsum manifestiert sich in dem Erfolg der Flensburger Unternehmerin Beate Uhse, welche den ersten Sexshop Deutschlands eröffnete und deren Name heute als Synonym für den Handel mit Sexartikeln gilt. Bezüglich der Verbindung von Konsum und Sexwelle stellt Hermann Schreiber die These auf, dass es verschiedene Formen des gesellschaftlich akzeptablen Voyeurismus gebe wie beim Striptease und wiederum Formen, welche gesellschaftlich erwünscht wären und deshalb gefördert würden. Als Beispiel führt Schreiber Plakatwerbung für Damenwäsche an. Die Nachbarin gegenüber will ihren Körper nicht zur Schau stellen, sie wird um den Anblick ihres Körpers sozusagen betrogen. Die »Tänzerin« im Striptease-Lokal lebt davon, ebenso der Lokalbesitzer, die Kellner usw. Hier tritt der Voyeurismus bereits in eine gesellschaftliche Funktion ein, er wird benutzbar, nützlich. Und bei der auf voyeuristische Instinkte aufgebauten Werbung, da leben ja bereits eine Menge Leute davon, da sind große Firmen und ganze
40
SCHERER, Georg 1970: Anthropologische Aspekte der Sexwelle. Essen:
41
Gillen 2007, S. 109. Die Metapher des Panzers stammt aus der Termino-
Driewer, S. 12f. logie Wilhelm Reichs.
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Industrien am Erfolg dieser Werbung interessiert. Hier sind voyeuristische Instinkte nicht nur nützlich, sondern sogar nötig.42
Der wirtschaftliche Nutzen legitimiert somit die zuvor tabuisierte partielle (in der Werbung) oder vollständige (im Striptease) Nacktheit und die damit verbundene Schaulust. Hier zeigt sich eine eindeutig ökonomische Sicht der Dinge, Voyeurismus kann niemals gesellschaftlich ›erwünscht sein‹, er kann höchstens toleriert oder ignoriert werden. Es stellt sich die Frage, wie viel Sexualität in der Öffentlichkeit überhaupt erwünscht wäre, würde sie nicht durch Waren und Werbung dafür mit Begehrlichkeiten verknüpft und somit geschickt in ihrer Bedeutung und Attraktivität gesteigert. Eine weitere, positive Bewertung der konsuminduzierten Sexwelle gibt Georg Scherer ab, der die Konsumorientierung als »Befreiung der Sinnlichkeit von falscher naturfeindlicher Geistigkeit« versteht.43 Dieses Verständnis wendet sich von dem theoretischen Gedankenkonstrukt der 68er-Bewegung ab, die Befreiung der Sexualität würde der Reformation der Gesellschaft dienen. Unklar bleibt indes, warum die Sexualität nur durch den Konsum befreit werden kann und nicht durch die Rückbesinnung auf die Triebstruktur, welche deutlich näher läge. In diese Richtung geht die Vorstellung Wilhelm Reichs, dass es bezüglich der Sexualität einen Zustand des ›Natürlichen‹ gibt, welcher für ihn eine nicht zu hinterfragende, normative Größe ist.44 Die natürliche sexuelle Befriedigung benötigt keinen Schmutz und Schund, das Bordellwesen und alles, was als unnatürlich gesehen werden muss. Auch Kinsey unterscheidet zwischen natürlichem und unnatürlichem Sexualverhalten: »The human male would be promiscuous in his choice of sexual partners if there were no social restrictions.«45 Wilhelm Reich übt eine berechtigte Kritik an der Konsumorientierung der Sexwelle, welche an den künstlich hervorgerufenen sexuellen Bedürfnissen verdient. In der Praxis indes war es schwierig, den Naturzustand der Sexualität auszuloten und die Grenzen der normativ-künstlichen Moral auszumachen. Dies manifestiert sich
42
Schreiber 1970, S. 167.
43
Scherer, S. 19.
44
A.a.O., S. 82.
45
Heath, S. 19.
192 | THEATER DER N ACKTHEIT
besonders in dem problematischen Konstrukt der Kommune, dem Archetypus der vermeintlich freien Sexualität: In einer Art Kult des Ursprünglichen wurde Sexualität romantisiert, für »von Natur aus gut« erklärt und zum welterlösenden Allheilmittel idealisiert. Man träumte vom Südseeidyll der sexuell »gesunden« Trobriander und ihrem matriarchalischen Paradies, dem Eiland des »guten Wilden«. In den als Ersatzinseln fungierenden Liebeskommunen aber geriet solch angestrebte »Waldursprünglichkeit« meist zum Psychoterror unter inhumanen Kollektivzwängen.46
Aus der vehementen Ablehnung alles Bürgerlichen wird die Verklärung einer unrealistischen Ideal-Natur. Auch Herbert Marcuse, der wie Wilhelm Reich von den 68ern als Theoretiker wieder entdeckt wurde, kritisierte die kommerzielle Nutzung der Sexualität. Diese sei nicht mehr frei, sondern leide unter den Repressionen einer auf Ausbeutung gerichteten Gesellschaftsstruktur.47 Im Zuge der Sexwelle, die der sexuellen Revolution folgte, drang die Sexualität erstmals nachhaltig in Sphären der Öffentlichkeit ein, die ihr bis dahin durch die herrschenden Moralvorstellungen verschlossen waren. Sexuelle Freiheit als bürgerliche Freiheit existierte nicht nur in den Schlafzimmern, sondern auch am Kiosk, in Geschäften sowie in Werbung und Kunst: Pornografie wurde allgegenwärtig. Die Pornografie löste sich von der Sexualität ab, sie war nicht länger Beiwerk zum Hauptereignis, das Bild vom Sex wurde wichtiger als der Sex selbst.48 Christopher Booker vertritt die These, dass es bei der erotischen Besessenheit der sechziger Jahre weniger um die sexuelle Realität als um das Bild vom Sex ging, welches von der Kunst und Werbung verbreitet wurde.49 Die Rezeption wird zum Substitut für den Akt selbst: »Sex als der Kinogänger und Illustriertenleser bescheidenes Vergnügen an Dingern, welche sie nicht kriegen.«50
46
Heider 1986, S. 101.
47
Grant 1996, S. 205.
48
A.a.O., S. 382. Vgl. auch BOOKER, Christopher 1969: The neophiliacs: A study of the revolution in English life in the fifties and sixties. London: Collins.
49
Booker 1969, S. 42f.
50
O.V. 1966: Die gefallene Natur. In: Der Spiegel Nr. 19, S. 50-69.
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Vielerlei spricht für Bookers Annahme; zunächst einmal darf nicht vergessen werden, wie sehr die Sexualität als kommerzieller Faktor benutzt wurde. Sieht man von der gesellschaftlich zu jeder Zeit sehr stigmatisierten Prostitution ab, bleibt nur die rezipierte Sexualität als Konsumobjekt. Darüber hinaus erfordert es weniger privaten Mut, erotische Kunst zu rezipieren als selbst sein Sexualverhalten zu verändern. Letztendlich sind Verkaufszahlen und die Menge verkaufter Eintrittskarten leicht feststellbar, ein Einblick in das Sexualleben lässt sich indes nur schwer erlangen. Die Kehrseite des Phänomens ›Sex als Zuschauersport‹ ist der Leistungsdruck des Zuschauers, der mit der Frage konfrontiert wird, ob das, was er sieht, erstrebenswerter ist als das, was er selbst tut. Solche bis heute weitverbreiteten Zweifel wurzeln in den sechziger Jahren und machen die Leute manipulierbar und bereit, immer weitere Medienratschläge anzunehmen.51 Dieser Mechanismus erklärt den wirtschaftlichen Erfolg der Sexwelle. Von den politisch Engagierten wurde die Sexwelle kritisch gesehen, da diese lediglich kommerziell ausgerichtet und nicht an einer politischen Veränderung interessiert war. Die sexuelle Revolution sei nicht möglich ohne die soziale Revolution, schrieb Reimut Reiche 1968, echte sexuelle Freiheit setze soziale Gerechtigkeit voraus, nicht aber die kapitalistische Scheinbefriedigung, welche die Erzeugnisse der Sexwelle liefern.52Auch die Sexualforschung bezweifelte, dass die Sexwelle eine wirkliche Befreiung der Sexualität gebracht hatte: Wir haben heute ganz ohne Frage eine positive Besessenheit am Sex. Aber das hat mit sexueller Befreiung überhaupt nichts zu tun. Es ist vielmehr die Kehrseite der alten negativen Besessenheit, des völligen Ausklammerns und der Tabuisierung von Sexualität. So oder so ist die Sexualität nicht bewältigt. Ob
51
SCHMIDT, Gunter 2007: »Die Quellen waren mit Sexualität gesättigt«: Ist die Erzählung von der sexuellen Verklemmtheit Nazi-Deutschlands nur ein großes Missverständnis der 68er? Ein Gespräch mit der Historikerin Dagmar Herzog. In: die tageszeitung vom 20.01.
52
Gillen 2007, S. 128.
194 | THEATER DER N ACKTHEIT Sie das, was heute zu beobachten ist, Sex- oder Porno-Welle nennen, ist uns völlig gleichgültig.53
5.3 D IE S EXWELLE ALS R EAKTION AUF DEN N ATIONALSOZIALISMUS Strittig ist, ob die Sexwelle eine Gegenreaktion auf die Unterdrückung der Sexualität im Nationalsozialismus war, wie oftmals angenommen wird. Viele Historiker sehen in der NS-Haltung bezüglich der Sexualität eine reaktionäre Gegenhaltung auf die Freiheiten der Weimarer Republik.54 Die Historikerin Dagmar Herzog widerlegt diese These in ihrer Studie Die Politisierung der Lust, indem sie Belege dafür anführt, dass die Sexualität während der NS-Zeit keineswegs rigoros unterdrückt wurde, sondern im Gegenteil im Zuge der Rassen- und Kriegspolitik durchaus gefördert wurde, solange es nicht zur ›Rassenschande‹ kam. Herzog bezeichnet die Sexualität sogar als ein Hauptanliegen des Dritten Reiches.55 Neben den Bestrebungen, das arische Volk in seiner Zahl zu sichern und zu vergrößern, wurden uneheliche Kinder toleriert und begrüßt, solange die Eltern in das Rassenschema passten. Der Regisseur Arthur Maria Rabenalt (1905-1993) fasst zusammen: »Dem Erotischen – blieb es im Rahmen der Rassengesetze und entsprach es
53
O.V. 1970: »Wir haben heute eine positive Besessenheit«: SpiegelGespräch mit Professor Dr. Dr. Hans Giese und Mitarbeitern über die Sexwelle. In: Der Spiegel Nr. 32, S. 47-54.
54
Herzog 2000, S. 21. George L. Mosse beispielsweise vertritt die These, dass die allgegenwärtige Nacktheit im Dritten Reich nichts Erotisches habe, dem Nationalsozialismus ging es vielmehr um den sexuellen Anstand und nicht um die sexuelle Befreiung. (siehe a.a.O., S. 22). Herzog weist indes darauf hin, dass die Nationalsozialisten als moralischer Gegenpol zur Weimarer Republik gescheitert seien und der Rekurs zu konservativeren Werten erst in den fünfziger Jahren gelang. (A.a.O., S. 132)
55
A.a.O., S. 15.
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dem so genannten gesunden Volksempfinden – war keine Grenze gezogen.« 56 Auch nach Ende des Krieges hielt die sexuelle Freizügigkeit weiter an, was vor allem vonseiten der Kirche 1949 scharf kritisiert wurde: »In weiten Kreisen hat sich eine neue sexualsittliche Anschauung herausgebildet und verbreitet, die den Sexualverkehr bagatellisiert und mit Essen und Trinken auf eine Stufe stellt.«57 Dagmar Herzog weist darauf hin, dass die Zeitgenossen in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren, anders als die spätere Forschung, den Nationalsozialismus nicht als sexualfeindlich ansahen, vielmehr wurde die Ansicht vertreten, dass die Nationalsozialisten selbst die Liberalisierung vorangetrieben hätten:58 Es kristallisierte sich heraus, dass die sexualkonservative Nachkriegskultur nicht (wie die Neue Linke glaubte) die verwässerte Fortführung eines sexuell repressiven Faschismus war, sondern dass sie sich zumindest teilweise als Gegenreaktion zum Nationalsozialismus entwickelt hatte.59
In der ersten Hälfte der fünfziger Jahre wurde die Auffassung von Sexualität deutlich konservativer: Ein Bundesgesetz, das die Ausstellung und den Verkauf von pornografischen Erzeugnissen verbot, wurde erlassen, Homosexualität stärker verfolgt und der Zugang zu Verhütungsmitteln erschwert. Die Massenmedien forderten die Frauen und Kinder auf, sich der Autorität ihrer Männer zu unterwerfen und ihren Eltern zu gehorchen. Mögliche Erklärungen für diesen Wandel der Moral sind Abwendung vom Nationalsozialismus, die Abgrenzung von der weiblichen Emanzipation im Ostteil Deutschlands, die Rechristianisierung und der Versuch, den Moralvorstellungen der amerikanischen Besetzungsmacht nachzukommen.60 Mit dem zunehmenden Wohlstand in Westdeutschland kam es zu einer Ablehnung der Freizügigkeit, gegen welche sich schließlich die
56
RABENALT, Artur Maria 1978: Film im Zwielicht. Mit Ergänzungen zur Neuauflage. Nachdruck der Ausgabe München, 1958. Hildesheim: Olms, S. 29.
57
Zitiert nach Herzog 2000, S. 90.
58
Herzog 2000, S. 91.
59
A.a.O., S. 11.
60
A.a.O., S. 127ff.
196 | THEATER DER N ACKTHEIT
Sexwelle wandte: »Ein Haupteffekt des ›Normalisierungsprojektes der fünfziger Jahre‹ bestand denn auch darin, dass die sex-freundlichen Seiten des Nationalsozialismus in Vergessenheit gerieten.«61 Dieses Normalisierungsprojekt beinhaltete die Reprivatisierung der Sexualität. Neben der strikten Trennung der privaten und öffentlichen Sphäre war die Negierung der Sexualität auch Teil der Strategie, wie die Nachkriegsdeutschen mit ihrer Rolle im Nationalsozialismus umgingen: Keiner wollte zugeben, dass man im Dritten Reich irgendeine Art von Vergnügen gefunden hatte. Die Zuwendung zur konservativen christlichen Auffassung von Sexualität und Familie sollte verschleiern, wie man in der totgeschwiegenen Vergangenheit davon abgewichen war.62 Für die während des Nationalsozialismus in ihrer Autorität geschwächte Kirche stellte die freie Sexualität ein Zeichen der Säkularisierung dar, weshalb sie versuchte, wieder christliche Vorstellungen von Familie und Sexualität zu etablieren. Die Idealisierung der Familie, die Ablehnung der weiblichen Emanzipation, das Streben nach Anständigkeit sowie das Totschweigen der Sexualität wurden von den 68ern, den Kritikern ihrer Eltern und Autoritätspersonen, als Indiz für die gescheiterte Entnazifizierung gesehen. Die Akteure der Studentenrevolte, welche gegen die sexualfeindlichen Moralvorstellungen ihrer Eltern kämpften, durchschauten deren Taktik nicht, sie hielten die Negation der Sexualität für eine Fortführung der nationalsozialistischen Moral und nicht für eine Reaktion auf den Faschismus.63 Bei ihrem Kampf für die Befreiung der Sexualität stützen sie sich auf die Kernthese Wilhelm Reichs, nach der sich sexuelle Befriedigung und Sadismus ausschließen: »Make Love – not War!« Nach Reich musste die Sexualfeindlichkeit in den fünfziger und sechziger Jahren ein Relikt des Nationalsozialismus sein, eine sexuell befriedigte Gesellschaft hätte den Faschismus nicht zulassen und unterstützen können. Ab 1966 ließ sich kaum jemand finden, der nicht der Ansicht war, der Nationalsozialismus sei sexualfeindlich
61
Herzog 2000, S. 130.
62
Gillen 2007, S. 109. Vgl. auch NUYS-HENKELMANN, Christian de 1990: »Wenn die rote Sonne abends im Meer versinkt…«: Die Sexualmoral der fünfziger Jahre. In: BAGEL-BOHLAN, Anja (Hrsg.) 1990: Sexualmoral und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert. Opladen: Leske und Budrich, S. 114.
63
Gillen 2007, S. 117.
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gewesen. Trotzdem war die Sexualfeindlichkeit der fünfziger Jahre kein Relikt aus dem Nationalsozialismus, sondern vielmehr eine Reaktion darauf, der Protest der 68er richtete sich somit nicht gegen ein faschistisches, sondern gegen ein postfaschistisches Phänomen.64
64
Herzog 2000, S. 170.
6.
Nacktheit auf der Bühne in den sechziger Jahren
6.1 H AIR Während Nacktheit im Europa der späten sechziger Jahre auf den Bühnen und im Film keinen größeren Skandal mehr hervorrief, waren die USA weit weniger progressiv. Die beginnende Freizügigkeit hier ging von Europa aus: »The current of sexual frankness in the theater has been moving at a swiftening tempo from Europe to America, from Off Off Broadway to Off Broadway, to Broadway, the last stronghold of middle-class squeamishness.«1 Diese Einschätzung einer Journalistin der New York Times am Tag vor der Premiere des Musicals Hair zeigt, wie reif New York 1968 für provozierendes Theater war, welches den ›zimperlichen‹ Broadway durchschüttelte. Die Amerikaner hatten Nacktheit schon in (europäischen) Filmen wie Antonionis2 Blow Up oder Ingmar Bergmans Das Schweigen gesehen. Auf der OffBühne war 1965 die nackte Rückseite eines Schauspielers in Peter Brooks Inszenierung von Marat/Sade zu sehen, und das Stück You Know I Can’t Hear You When The Water’s Running beschäftigte sich auf der Metaebene mit dem Thema Nacktheit, zwei Figuren unterhalten sich darin, ob ein dritter es wagen würde, die Bühne nackt zu
1
BENDER, Marilyn 1968: Hair – Topless, and No Bottoms, Either. In: The New York Times vom 28. 04.
2
Der Text von Claudes Nummer Manchester England verweist auf Antonioni.
200 | THEATER DER N ACKTHEIT
betreten – er tut es nicht.3 1968 brach Hair gleich zwei bis dahin bestehende Tabus, die Inszenierung zeigte volle, frontale Nacktheit – und das am Broadway, der ersten Adresse des amerikanischen kommerziellen Theaters. Das von Gerome Ragni, James Rado (Buch) und Galt MacDermot (Musik) geschriebene Musical wurde zunächst am Off-Broadway aufgeführt und kam dann am Biltmore Theater auf dem Broadway unter neuer Regie von Tom O’Horgan und mit anderen Darstellern heraus. Die berühmte Nacktszene war in der Off-Broadway-Inszenierung nicht enthalten und wurde erst für in der Neuinszenierung am Broadway hinzugefügt. Hair, für das die Autoren Ragni und Rado die Gattungsbezeichnung The American Tribal Love/Rock Musical schufen, ist ein Konzeptmusical. Ohne stringente Handlung und Dramaturgie wird in 32 Nummern in einer für die damalige Zeit höchst unverblümten und offensiven Sprache voller sogenannter »Four Letter Words«4 thematisiert, was die jugendlichen Hippies in New York bewegte: Armut, Umweltverschmutzung, die Auseinandersetzung mit der Elterngeneration, Drogenkonsum, Rassenkonflikte, sexuelle Befreiung und der Vietnamkrieg. Der Regisseur der Broadway-Inszenierung Tom O’Horgan sagte, dass Hair für ihn eine einmalige Theaterform gewesen sei, deren Haltung, Sprache, Kleidung, Tanz und
3
Bender 1968. Siehe auch BRIEN, Alan 1968: Alan Brien Takes an Advance Look at a Frontal Attack on Broadway. In: The London Sunday Times vom 28.04. Die in den Filmen gezeigte Nacktheit wurde von HairRezensenten als Legitimation für die Nacktheit auf der Bühne gesehen: »In the last ten seconds of the Be-In scene, five boys and three girls appear naked on the dimly-lit stage. It is genuine, it is natural, and in my opinion is neither lewd nor obscene (which is what a jury would have to judge it, if under the new law some puritanical official should successfully try to censor it). Furthermore, if we can use total nudity in such widely distributed films as Blow-Up, it would seem ridiculous to deny it to theater and dance artists.« (HEWES, Henry 1968: Blow Ups. In: Saturday Review vom 11.05.)
4
Eine Zeitungsanzeige für die Hair-Premiere am Broadway warb offensiv mit der Sprache des Librettos: »What’s a four-letter word for a great musical? Hair«, zitiert nach: http://www.michaelbutler.com/hair/holding/ photographs/hair/Ads.html.
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sogar ihr Name eine soziale Epoche in ihrer vollen Blüte reflektiert habe.5 Die Hippie-Bewegung vereinte diverse Subkulturen, darunter Befürworter von Drogen, Nudisten, Vegetarier, Kommunarden, Jesus Freaks, Krishna-Anhänger und unzählige andere Gruppierungen.6 Wenngleich bei den Hippies eindeutige Schwerpunkte auf dem Konsum bewusstseinserweiternder Drogen und religiösen Alternativen zum Christentum lagen, erinnern viele Aspekte an die Ziele der Lebensreformbewegung. Die Triebfeder dieser neuen Jugendbewegung war die Unzufriedenheit mit der westlichen Zivilisation. Kritisiert wurde vor allem die sexuelle Repression durch die gesellschaftliche Ordnung.7 Fünf Grundelemente spielten für die Hippies eine zentrale Rolle: die Geringschätzung materieller Werte, die Bevorzugung des Abenteuers gegenüber dem sicheren bürgerlichen Leben, das Ausleben der Sexualität jenseits der Konventionen und traditionellen Moralvorstellungen, Erweiterung des Bewusstseins durch Drogen sowie die Entdeckung einer neuen Religiosität, die sich vom Christentum abwandte und von Buddhismus und Taoismus inspiriert war sowie Spiritualität und Mystizismus mit einbezog.8 In der Abkehr von den bürgerlichen Idealen und der Aufwertung der freien Sexualität ist die amerikanische Hippie-Bewegung der deutschen Studentenbewegung sehr ähnlich. Anstatt sich den entindividualisierenden Regeln der Gesellschaft unterzuordnen, begehrten die Hippies auf und erhoben die eigene Persönlichkeit und ihren Körper zum Primat: »No, I’m not going to be a part of these authority structures. I’m concerned with myself, and with my body, and I’m really going to develop a body politic. And a body politic was what truly
5
MILLER, Scott 2003: Let the sun shine in: The genius of Hair.
6
PARTRIDGE, William L. 1973: The Hippie Ghetto: The Natural History
Portsmouth NH: Heinemann, S. 8f. of Subculture. New York: Holt Rinehart & Winston, S. 10, zitiert nach HORN, Barbara Lee 1991: The Age of Hair: Evolution and impact of Broadway’s first Rock Musical. 1. Auflage. New York: Greenwood Press, S. 2. 7
Horn 1991, S. 3.
8
Kraushaar 2008, S. 13f.
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came out of their bodies[…].«9 Diese bewusste Entscheidung zur Beschäftigung mit dem Selbst manifestiert sich zum einen im Fokus der Hippies auf die Erweiterung des Bewusstseins durch Drogen, welches eine zutiefst persönliche Erfahrung darstellt, es geht um die Erweiterung des Selbsts, nicht um die Veränderung der Welt. Zum anderen ist auch der Fokus auf den eigenen Körper und die eigene Sexualität zutiefst persönlich. Die betonte Körperlichkeit zeigt sich in dem Song I Got Life, in welchem Claude auf die Frage der Mutter antwortet, was er habe, das ihn ihr gegenüber so überheblich mache: I got my hair I got my head I got my brains I got my ears I got my eyes I got my nose I got my mouth I got my teeth I got my tongue I got my chin I got my neck I got my tits I got my heart I got my soul I got my back I got my ass I got my arms I got my hands I got my fingers Got my legs I got my feet I got my toes I got my liver […]
9
Interview with Wiliam DiFazio, Department of Sociology and Anthropology, St. John’s University, Jamaica, N.Y., November 5, 1990, zitiert nach Horn 1991, S. 8.
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Der nackte Körper war für die Hippies etwas Heiliges, Anbetungswürdiges und somit nichts, das es zu verstecken galt: So wie der Dollybird des Swinging London die neue klassenlose Gesellschaft eines unisexen Großbritanniens repräsentierte, stand das Hippiemädchen von Haight-Ashbury für die sexuelle Befreiung der amerikanischen Westküste. Das Hippiemädchen hatte dieselben Vorhänge flachsblonden Haars, denselben leeren Gesichtsausdruck wie ihre britische Schwester. Aber sie war nackt; auf ihren Körper wurden die Muster der psychedelischen Lichtshows projiziert, vor allem auf ihre Brüste, weil diese mehr als die Beine an das segensreiche Wirken von Mutter Natur erinnerten, der die unentfremdeten Kalifornier huldigten. 10
Sexualität und Nacktheit sind hier untrennbar mit der Natur verbunden und somit in einer Welt voller der Natur zuwiderlaufenden Regeln äußerst erstrebenswert. Linda Grant bemerkt, dass der Anblick des nackten Hippie-Mädchens keine pornografischen Züge trug, weil ihr Blick nicht offensiv auf den Betrachter gerichtet war, sondern nach innen gekehrt, wo sie ihr Unterbewusstsein erforschen wollte.11 Wenngleich ein solcher Blick durch den Konsum bewusstseinserweiternder Drogen zustande kam, zeigt es doch auch, dass die Nacktheit als Ausdruck der Naturverbundenheit verstanden wurde und nicht als Affront gegen den Betrachter. Im Zentrum der sexuellen Revolution der Hippies stand die Sexual Freedom League, eine 1963 von Jefferson Poland gegründete Organisation, deren erklärtes Ziel es war, sexuelle Aktivitäten zwischen ihren Mitgliedern zu fördern und für die Aufhebung des Abtreibungsverbotes sowie gegen die Zensur zu kämpfen. Die sexuelle Freiheit, von der Poland träumte, beinhaltete die Abkehr vom Kapitalismus und den bürgerlichen Werten. Wie in Deutschland sollte die Gesellschaft umstrukturiert werden durch eine Neubewertung der Begriffe Geschlecht und Klasse.12 Der Song Sodomy greift die Kernfrage gegen die sexuelle Repression auf:
10
Grant 1996, S. 204.
11
A.a.O., S. 205.
12
A.a.O., S. 249f.
204 | THEATER DER N ACKTHEIT Sodomy Fellatio Cunnilingus Pederasty Father, why do these words sound so nasty? Masturbation can be fun Join the holy orgy Kama Sutra13 Everyone!
»Father, why do these words sound so nasty?« fragt Woof. Der sehr kurze Text des Songs zeigt präzise die Kritik an der sexuell repressiven Gesellschaft: warum sind diese Sexualpraktiken – deren weite Verbreitung in den USA der Kinsey-Report gezeigt hatte – so negativ konnotiert? Und warum haben allein diese Worte einen hässlichen Klang? Musikalisch ist Sodomy an ein Kirchenlied angelehnt und persifliert die ablehnende Haltung der katholischen Kirche gegenüber der Sexualität. Diese Kritik wird durch Woofs Agieren als Priester vor Beginn des Songs noch verstärkt: »This is the body and blood of Jesus Christ. And I am going to eat you. I swear to tell the truth, the whole truth, and nothing but the truth, so help me God. In the name of the Father, the Son, and the Holy Ghost. Amen.«14 Im Zentrum von Hair steht das sogenannte Be-In, dessen reale Vorbilder Happenings wie das Human Be-In vom 14.01.1967 in San Francisco (»A Gathering of the Tribes for a Human Be-In«) und die Be-Ins im New Yorker Central Park waren, die zwischen 1967 und 1968 stattfanden. In San Francisco wurden Themen wie Individualität und Bewusstseinserweiterung thematisiert, die New Yorker Teilnehmer protestierten gegen Rassismus und den Vietnamkrieg. Bei einem Be-In im Central Park am 30.03.1967 zogen sich zwei Männer aus, woraufhin sie von der »We love Cops« skandierenden Menge gegen die Polizei abgeschirmt wurden.15 Diese reale Begebenheit inspirierte den Autor James Rado zur Nacktheit in Hair.
13
Zur Bedeutung des Kamasutras für die Amerikaner in den sechziger
14
A.a.O., S. 107.
15
MCNEILL, Don 2005: Be-In, be-in, Being: Central Park Rite is Medieval
Jahren siehe Miller 2003, S. 28f.
Pageant. In: The Village Voice vom 18.10.
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In der Be-In-Szene in Hair versammelt sich der gesamte Tribe16 um ein Feuer auf der Bühne, um zu ›Hare-Krishna‹-Gesängen ihre Wehrpässe zu verbrennen. Der Protagonist Claude ist als letzter an der Reihe und reflektiert in dem Stück Where Do I Go? seine Möglichkeiten. Das Ensemble kriecht währenddessen unter eine den ganzen Bühnenboden überspannende Decke. Am Ende des Stücks steht der Stamm auf, einige von ihnen sind nackt. Die Nacktheit ist frontal sichtbar, findet aber im Halbdunkel statt, und die Akteure bewegen sich nicht, ihre Körper werden durch projizierte Blumenmuster verfremdet. Eine Polizeisirene ertönt, die Darsteller raffen ihre Kleider zusammen und rennen im Dunkel von der Bühne. Das Saallicht erleuchtet und zwei Polizisten erscheinen, die den Zuschauern mitteilen, dass sie verhaftet würden, da sie Publikum einer obszönen und anstößigen Darbietung seien. Die Schauspieler, die die Polizisten darstellten, wirkten so echt, dass sie die Zuschauer darüber aufklären mussten, dass jetzt nur die Pause folge. Auch die Darsteller und die Techniker waren nicht alle darüber aufgeklärt, dass die Polizeiaktion fingiert war: Suddenly two cops appear, one onstage, another in the balcony. »You’re all under arrest!« Just then the lighting men up in the booth happen to look out and see the cops. Although they never heard the sirens, they put one and one together – we all know we could be busted at any time – immediately cut their own lights, and drop to their hands and knees. Frantically they try to figure out a way to get out of the theater until one of them happens to notice that the balcony cop is barefoot. He’s a member of the cast. They are so relieved they just laugh it off.17
Diese Episode verdeutlicht, dass die Nacktheit in Hair durchaus ein Risiko darstellte und die Intervention der Polizei nicht gänzlich unwahrscheinlich war.
16
Jedes Hair-Ensemble verstand und versteht sich bis heute als Tribe (Stamm), den eine über die normale Kollegialität hinaus gehende Zusammengehörigkeit verbindet.
17
DAVIS, Lorrie; GALLAGHER, Rachel 1973: Letting down my hair: Two years with the love rock tribe--from dawning to downing of Aquarius. New York: A. Fields Books, S. 88f.
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Die Nacktszene wurde erst in die Neuinszenierung am Broadway eingebaut, in der Off-Broadway-Produktion am Public Theater 1967 war sie noch nicht enthalten. Gerald Freedman, der Regisseur der ursprünglichen Version, zweifelt an der dramaturgischen Notwendigkeit der Nacktheit in Hair: I felt they wanted to get someone undressed just for the sake of getting them undressed. It was big at the time, getting undressed onstage, getting arrested by the cops. I thought it was exhibitionism. I wasn’t opposed to nudity, but the intellectual idea behind it revolted me.18
Auf die Frage, ob man die Nacktheit in der Off-Broadway-Inszenierung weggelassen hätte, um einen Konflikt mit den Geldgebern zu vermeiden, antwortete Freedman: Absolutely wrong, wrong, wrong. The nude scene wasn’t included because it didn’t make any sense. There were suggestions for it at the Be-In. The piece was supposed to be about freedom. It was eventually done under a net, under a red-flashing light, now you see it, now you don’t. It was totally prurient. It had nothing to do with freedom.19
Für den Autor und Hauptdarsteller Jerome Ragni und den Produzenten Bertrand Castelli jedoch war die Nacktszene nicht Mittel des Schocks und der Vulgarität, sondern ein Ausdruck der Hilflosigkeit und Verletzlichkeit des Menschen.20 Der Regisseur Tom O’Horgan sah den Akt als Symbol für Freiheit, Ehrlichkeit und Offenheit sowie als milde Revolte gegen die gesellschaftlichen Tabus.21 Auch der Produzent Michael Butler führte dieses Argument an, um die Darsteller zu überzeugen, sich in der BeIn-Szene auszuziehen: »Michael Butler talked to us, saying that nudity was an important part of the hippie movement; it was part of showing
18
Interview mit Gerald Freedman, New York City, 27.10.1977, zitiert nach
19
Interview mit Gerald Freedman, New York City, 10.04.1990, zitiert nach
20
Bender 1968.
21
Interview mit Tom O’Horgan, New York City, 13.04.1990, zitiert nach
Horn, S. 59. Horn, S. 89.
Horn, S. 59.
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that you were free, liberated, together. In other words, that we were really all the things the show said we were supposed to be.«22 1977 konstatierte O’Horgan in einem Interview, dass sich die Nacktheit in Hair signifikant von der in Shows wie Oh! Calcutta! (siehe Kapitel 6.2) unterschieden habe, welche Nacktheit nur um ihrer selbst willen benutzt hätten. In Hair hingegen sei sie ein klares Zeichen der Befreiung.23 Die Suche nach dem Weg zur Freiheit wird in der Schlussnummer, die der Nacktszene vorausgeht, noch einmal von Claude, der sich nicht sicher ist, ob er zum Militär gehen soll, also in den Vietnamkrieg, thematisiert. In der ursprünglichen Broadwayfassung war Claude die einzige Figur, die sich in keiner Aufführung auszog. Spätere Inszenierungen bezogen Claudes Nacktheit mit ein, welche seine Unsicherheit, ob er zum Militär gehen soll oder nicht verdeutlicht: […] Claude just wants the freedom to live his life, to be free of the pressures of social constructs (whether of mainstream culture or counterculture), and at the end he shucks the trappings of »respectable society«, the pressure to fit in, to »be an American,« to go to war, and he returns to his purest form, just his bare, naked body—a rebellious act that wouldn’t be considered rebellious in a more perfect world that doesn’t demonize and oversexualize the human form. This act of taking his clothes off makes him vulnerable and pure and honest. And his tribe joins him in a stunning moment of support and communalism.24
Der Regisseur und Musikwissenschaftler Scott Miller bemerkt, dass Hair auch ohne die Nacktszene auskomme, das Stück dann aber seine Kraft einbüße und der Ausdruck des Protests der Jugendlichen gegen die Mainstream-Kultur verloren gehe. Auch das Verschieben der Nacktheit innerhalb des Musicals schwächt dessen Protestcharakter, etwa in dem Stück The Bed, dessen Text aufzählt, was man alles im Bett tun kann – annähernd alles, jedoch eines niemals: sündigen. Die
22
Davis; Gallagher 1973, S. 60.
23
Interview mit Tom O’Horgan, New York City, 04.11.1977, zitiert nach
24
Miller 2003, S. 118.
Horn, S. 59.
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Verbindung zwischen The Bed und Nacktheit gibt dieser eine sexuelle Konnotation, welche sie in der Be-In-Szene nicht hat.25 O’Horgan und die Kostümbildnerin Nancy Potts experimentierten zunächst mit Ganzkörpertrikots, Potts erkannte aber schnell, dass diese niemals die Wirkung echter Nacktheit erreichen konnten und empfahl dem Regisseur, die Darsteller ganz unbekleidet auftreten zu lassen oder die Szene zu streichen.26 Im Probenstress vergaß man die Überlegungen bezüglich der Nacktheit, und so waren die Produzenten und das Ensemble überrascht, als Steve Garnet, Steve Curry und Gerry Ragni bei der ersten Preview ihre Kleider ablegten, was sie niemals bei den Proben getan hatten.27 Obwohl die dramaturgische Legitimation aufgrund des HippieKontextes des Stückes glaubwürdig erscheint, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass eine Broadway-Produktion sich besonderen moralischen Maßstäben und Rezeptionsgewohnheiten aussetzen musste und sie vor allem ein weitaus größeres finanzielles Risiko barg als eine experimentelle Off-Broadway-Inszenierung. Der Theaterkritiker Clive Barnes konstatiert, dass es wohl eher der Executive Producer Bertrand Castelli als der Regisseur O’Horgan war, der die die Idee zu der Nacktszene hatte. Im Gespräch mit Castelli mutmaßte Barnes, dass die New Yorker Polizei die Aufführung aufgrund der Nacktheit wohl verbieten würde, worauf Castelli erwiderte, dass er das Klima getestet habe und eine Intervention der Polizei unwahrscheinlich sei. Sollte dieser Fall doch eintreten, wäre es wunderbare Werbung und würde somit auch überhaupt nicht schaden.28 Der Regisseur Tom O’Horgan hatte es seinen Darstellern anfangs freigestellt, ob sie sich in der Be-In-Szene ausziehen wollten. Im Laufe der Proben und Previews stieg die Zahl der Nackten auf der Bühne kontinuierlich, der Autor und Darsteller des Bergers, Gerome Ragni,
25
Miller 2003, S. 118. Bevor The Bed zum Stück hinzu gefügt wurde, experimentierten Rado und Ragni jedoch mit einer Szene, in der Sheila strippen und mit Claude in einem richtigen Bett koitieren sollte, derweil die beiden die Stücke Exanaplanetooch und Climax singen sollten. (Davis 1973, S. 84). Dies zeigt, dass der Bezug zwischen Sexualität und Nacktheit nicht ausgeschlossen war.
26
Davis; Gallagher 1973, S. 59f.
27
A.a.O., S. 75.
28
Interview mit Clive Barnes, New York City, 19.04.1990 in Horn, S. 59f.
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bemerkte: »Anyone who feels like it can take his clothes off. Everybody wants to now, even the stagehands. We turned them on.«29 Dieser Aussage ist indes hinzuzufügen, dass die Darsteller eine Zulage für ihren Nacktauftritt erhielten: »The celebrated nude scene – Broadway’s first – degenerated from an innocent celebration of life to a degrading $ 1.50 ›bonus‹ for those who agreed to appear in the buff.«30 Diese Zulage wurde jedoch erst gezahlt, nachdem sich einer der Darsteller während einer Ensemble-Versammlung bei Michael Butler beschwerte, dass das Management ein Vermögen mit der Nacktheit der Darsteller verdienen würde, diese aber nicht am Umsatz beteiligt wären. Lorrie Davis bezeichnet die Zulage als wertlos und bemerkt, dass einer der Schauspieler, der während einer Vorstellung nur seine nackte Rückseite zeigte, auch nur 75 Cent dafür bekam. Nach eineinhalb Jahren verlangte das Ensemble eine Erhöhung der Zulage und trat in einen ›Nacktstreik‹, als das Management sich weigerte, mehr zu bezahlen. Die Mitglieder des Ensembles, welche erst nach der Premiere hinzugekommen waren, hatten in ihren Verträgen Klauseln, dass sie sich einverstanden erklärten, in der Be-In-Szene nackt zu erscheinen. Anders als die Premierenbesetzung hatten sie somit nicht mehr Wahl, ob sie sich auszogen oder nicht. Während des Streiks übte das Management erheblichen Druck auf diese Schauspieler aus, sodass die Streikenden schließlich nachgaben.31 Der Produzent Michael Butler drohte dem Ensemble sogar damit, professionelle Stripper zu engagieren, wenn sich nicht eine größere Zahl Schauspieler ausziehen würde. Diese Drohung läuft dem Gedanken des Stückes Hair und den in Davis’ Erinnerungen ausführlich beschriebenen Arbeitsprinzipien bei den Hair-Proben deutlich zuwider: Die Darsteller sollten zu einem Tribe zusammenwachsen, Improvisations- und Vertrauensübungen nahmen in den Proben einen größeren Raum ein als das Einstudieren exakter Abläufe. Hair sollte durch seine höchstmögliche Authentizität überzeugen und die Nacktszene die logische Konsequenz des Strebens der Hippies nach Freiheit sein. Die Idee, professionelle Stripper aus einem sexualisierten Milieu – das bei Hair ja eben nicht gegeben war –, zu engagieren, hätte Hair die Unschuld genommen, welche Kritiker und Zuschauer dem Stück
29
Bender 1968.
30
Davis; Gallagher 1973, Klappentext.
31
A.a.O., S. 235f.
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immer wieder bescheinigten. Überdies zeigt es die immense wirtschaftliche Bedeutung der Nacktheit für die Produzenten am Broadway. 1969 wurde die Be-In-Szene für die Zeitschrift Playboy im Studio nachgestellt,32 allerdings war die Beleuchtung auf der Bühne dunkler und es waren mehr Darsteller zu sehen. Auch diese Kooperation von Hair und Playboy läuft der Idee von Hair zuwider, da der Playboy für die sexuell stimulierende Präsentation der Nacktheit und damit für ihre maximale Kommerzialisierung steht, wogegen die Nacktheit in Hair unschuldig und naturverbunden sein soll. Vergleicht man aus der Retrospektive die beiden Positionen Dramaturgie versus Publicity, liegt der Schluss nahe, dass es sich bei der Nacktheit in Hair um eine wohlkalkulierte Provokation gehandelt hat. 1968 hatte New York Nacktheit bereits im Film und auf der Bühne gesehen, und aus Zeitungsberichten wusste das Broadway-Publikum, dass sich die Hippies bei den Be-Ins auch auszogen, um die Freiheit ihres Körpers zu demonstrieren. Die Nacktheit war somit nicht mehr so schockierend, dass die offiziellen Stellen eingriffen, aber interessant genug, um zum Stadtgespräch zu werden. Die Broadway-Produzenten hatten keine Zensur vonseiten der Behörden zu fürchten, da in New York City die Polizei die Inszenierung erst inspizierte, wenn eine Beschwerde wegen Obszönität vorlag. Statische Nacktheit, wie sie bei der Premiere von Hair gezeigt wurde, wurde nicht geahndet.33
32
http://www.michaelbutler.com/hair/holding/photographs/hair/nudescene. html.
33
Bender 1968. Vgl. auch FUNKE, Lewis 1969: City Officials Consulting With ›Oh! Calcutta‹ Staff. In: The New York Times vom 24.05.: »The Police Department is not likely to act unless ordered to do so. A spokesman for the department, who declined to be identified, said: ›There is one thing I would like to make clear. The police do not go around closing shows. Contrary to popular opinion there is no police censorship. The only practical legal function performed by the police is the physical serving of a warrant in making an arrest ordered by the court.‹« In Boston (Massachusetts) und Chattanooga (Tennessee) kam es jedoch zu gerichtlichen Auseinandersetzungen aufgrund der Nacktheit auf der Bühne, vgl. hierzu LIVINGSTON, Guy 1970a: Nudity and Flag »Desecration« Figure In Appeal Against Hair Foldo in Hub. In: Variety vom 15.04.; LIVINGSTON,
Guy 1970b: Producer May Cut Hair in Boston To Resume Run and
Avoid Refunds. In: Variety vom 22.04.; Livingston Guy 1970c: Hub Hair
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Die Darsteller hatten unterschiedliche Einstellungen zu der Nacktheit auf der Bühne und zu ihren Motiven, ihr Kostüm abzulegen oder nicht: »I didn’t do it the first couple of nights, but then I realized how groovy it could be.« (Shelley Plimpton).34 Das Tribe-Mitglied Suzannah Norstrand zog sich nicht aus, konnte aber auch nicht genau benennen, warum sie es nicht tat: »I don’t know why, I just don’t do it. Maybe it’s because I want to save something for another time.« Auf die Frage, ob das Publikum sie einschüchtern würde, erwiderte sie, dass in den ersten Reihen sowieso nur Homosexuelle säßen, die nur an den männlichen Darstellern interessiert seien. Melba Moore, die Darstellerin der Dionne, trat nicht nackt auf, weil sie ihrer Karriere als Sängerin nicht schaden wollte, sie sich selbst für zu dick hielt und ihr Ehemann dagegen war. Mangelndes Körperselbstbewusstsein gab auch die kanadische Darstellerin der Sheila, Gail Garnett, als Vorbehalt für die Nacktheit an: »Nudity was never a moral question with me, because there’s nothing sinful about a human body. What I had to overcome was a feeling that my legs weren’t long enough for my body.«35 Lynn Kellogg, welche in New York die Sheila spielte, lehnte die Nacktheit ab, weil sie glaubte, dass das Publikum die Nacktheit noch nicht akzeptieren würde und sie selbst als Schauspielerin unbedingt vom Publikum akzeptiert werden wollte. Emmaretta Marks aus dem Tribe zog sich schließlich komplett aus, nachdem es Beschwerden aus dem Ensemble gegeben hatte, sie würde sich drücken. Für sich selbst sieht sie die Nacktheit aber schließlich positiv: »I like to feel free, and believe me I’ve lost a few inhibitions in this show.« Das Gefühl der Freiheit, welches die Nacktheit auf der Bühne beim Darsteller erzeugt, nennt auch Arta Abele aus der kanadischen Produktion: I was actually very inhibited before I joined Hair, and I only tried out for it because a friend of mine more or less dared me to do it. Hair gives me such a sense of freedom. the first time I took my clothes off was mostly on impulse,
May Reopen Tonight (Wed) Unless Supreme Court Judge Steps In. In: Variety vom 13.05. 34 35
Bender 1968. ZICHMANIS, John 1970: Hair: the loudest, gaudiest, sexiest, grooviest musical ever to hit Canada. In: The Toronto Daily Star Sunday Magazine vom 07.05.
212 | THEATER DER N ACKTHEIT but now it has become a natural thing to do. it’s beautiful. Feeling freedom without clothes makes you feel more free and relaxed with them on. 36
Diese gefühlte Freiheit war genau das, was die Hippies im Central Park und der Regisseur Tom O’Horgan durch die Nacktheit zeigen wollten. Auch Lorrie Davis sah in der Nacktheit auf der Bühne eine Möglichkeit der Selbstüberwindung. Interessanterweise machte Davis ihre Entscheidung, sich auszuziehen, in jeder Vorstellung aufs Neue vom Publikum abhängig: »If they’re responsive and with it, I take my clothes off. If they’re deadheads, I don’t bother.« Ihre Kollegin Natalie Mosco überwand ihre Scheu vor der Nacktheit auf der Bühne, indem sie sich der Worte ihres Schauspiellehrers erinnerte, der ihr beibrachte, dass ein Teil des Schauspielens auch das Privatsein in der Öffentlichkeit beinhaltete. Wenngleich diese Auffassung der Schauspielkunst in jeder Epoche seine Gültigkeit hat, sofern der Schauspieler versucht, die privaten Gefühle der Bühnenfigur öffentlich zu machen, bekommt diese Arbeitsweise in den sechziger Jahren, in denen das Private hochpolitisch wurde, eine neue, stärkere Bedeutung. Auf keine Weise lässt sich das Private des Darstellers besser zeigen und ausdrücken als durch seinen eigenen, nackten Körper, der frei von nivellierenden Kostümen oder Masken ist. Aus diesem Grund zog sich Diane Keaton nicht aus: »[…] I don’t have the nerve; it’s such a personal thing«37 Die männlichen Darsteller hatten weniger Hemmungen, wie Lorrie Davis schreibt: »The guys acted totally indifferent to the whole thing, as though they had been stripping for over a thousand people all their lives. I could understand why – each one had a beautiful body.«38 Auch in anderer Hinsicht beeinflussten Äußerlichkeiten die Entscheidung der männlichen Darsteller, sich auszuziehen. Auf freiwilliger Basis erhielten die Darsteller ›Vitaminspritzen‹ vom Theaterarzt (›Dr. Feelgood‹), in denen Davis indes illegale Substanzen vermutete. Diese Injektionen wirkten sich auf die Physis der männlichen Ensemblemitglieder aus: »At first I was apprehensive about doing the nude
36
Zichmanis 1970. Auch Davis konnotiert ein Gefühl maximaler Freiheit mit der Nacktszene: »What was all the commotion about? It was like taking one big skinny-dip into the ocean, only this was a sea of eyes. I never felt so free.« (Davis; Gallagher, S. 77).
37
O.V. 1968c: Optional Nudity in Hair. In: Esquire: September 1968.
38
Davis; Gallagher 1973, S. 75.
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scene. The shots ›shrivelled up my member‹ as they say in Victorian novels. Not only mine, but you’d see all the dudes under the scrim pulling at their own, trying to straighten them out.« Ein anderer Darsteller hingegen wurde aufgrund der Größe seines Geschlechts von den Damen hinter der Bühne bedrängt und von den Herren mit neidischen Blicken bedacht. Nach dieser für ihn peinlichen Erfahrung zog er sich nie wieder aus.39 Auch Davis erlebte, wie die Darsteller den Vergleichen unter den Kollegen ausgesetzt sind: On my first try I got as far as taking off my bra, only exposing my breasts. I thought I’d get cross-eyed from trying to stare down at myself. Were my nipples erect? Did my breasts look all right? Were they bigger or smaller than the other girls’ standing nude on stage? How the boys felt about being compared to one another became evident.40
Zusammenfassend kommt Davis zu dem Schluss, dass die Nacktheit eher den exhibitionistischen Neigungen der Darsteller entgegen kam als den voyeuristischen Tendenzen der Zuschauer. Die Nacktszene wurde von den Kollegen zum Anlass genommen, einander zu übertrumpfen. Die Schauspieler kämpften um die beste Position auf der Bühne und versuchten mit ihrem Körper zusätzlich Aufmerksamkeit zu erregen, indem sie ihn mit Leuchtfarbe versahen oder glitzernde Ornamente und Pailletten verwendeten. 41 Trotz persönlicher Gründen einiger Darsteller, sich in der Be-InSzene nicht auszuziehen, war ihnen die dramaturgische Motivation der Nacktheit jedoch klar: […] I felt the costume was very important to this scene. A certain feeling had to be evoked: this was a celebration of body and self, a plea for all of us, including the audience, to get it together. Everything about Be-In, particularly the music and drums, was very ritualistic and sensual. Now management was soft-selling us the ultimate in sensuality: to flaunt our naked bodies. I never gave it another bought until the first preview show.42
39
Davis; Gallagher 1973, S. 76.
40
A.a.O., S. 77.
41
A.a.O., S. 77f.; S. 234.
42
A.a.O., S. 60.
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Für die Darsteller war die Be-In-Szene etwas Sakrales, Robert I. Rubinsky behielt während der Nacktszene mehrfach eine Fliege an, um aufzufallen. Das Ensemble protestierte, weil es nicht tolerierte, dass jemand die Nacktszene ins Lächerliche zog.43 Im Laufe der Zeit begannen Ragni und Rado, die beide auch im Stück auftraten, die Nacktauftritte zu modifizieren und auszuweiten, teilweise aus Rache am Management, mit welchem die Künstler Differenzen hatten. Schließlich verwarnte der Besitzer des Biltmore Theater den Produzenten Michael Butler, dass er das Management verklagen würde, wenn Ragni und Rado wegen ihrer Nacktheit verklagt und das Musical deswegen abgesetzt würde. Die Theaterleitung hatte einer Nacktszene zugestimmt – solange sich die nackten Darsteller nicht bewegten und die Inszenierung somit nicht dem Vorwurf der Obszönität gerecht wurde.44 Während das Publikum zunächst peinlich berührt war, sprach sich die Nacktszene in Hair schnell herum und Zuschauer brachten trotz Verbotes in den Programmheften Kameras und Ferngläser mit, um die Darsteller während des Be-Ins zu fotografieren oder zu betrachten. Davis berichtet von Zuschauern, welche extra kamen, um in der Nacktszene demonstrativ aufzustehen, den Blick indes fest auf die Bühne gerichtet, um nichts zu verpassen. Auf der anderen Seite gab es jedoch auch glühende Fans von Hair, welche an der Nacktszene partizipierten, ohne Teil des Ensembles zu sein: The nude scene also seemed to attract the fringe element of nuts in the audience. During one performance, a young girl came from backstage naked and stood in the front of the stage, mingling with the rest of the nude cast. Most of us tried to act like it was part of the show. Afterwards, the same girl went backstage, headed straight for a male dressing room, and proceeded to go down on everyone who wanted it. She had a lot of takers, including one of the stagehands.45
Die Nacktszene war bereits nach den Previews vor der eigentlichen Premiere Stadtgespräch:
43
Davis; Gallagher 1973, S. 234.
44
A.a.O., S. 210-213.
45
A.a.O., S. 78.
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Besides, as tomorrow’s audience already knows from previewers’ word of mouth and skillfully planted gossip-column items, the first act of the rock musical ends with several healthy young men facing front and center in the altogether. Just how many stark naked males there are and whether the girl hippies are equally unclothed has been the subject of urgent dispute among those who have been attending previews of Hair during the last three weeks.46
Die Nacktheit wurde jedoch von der Mehrheit der Rezensenten als harmlos und anständig eingestuft, hinzu kam der Umstand, dass die Beleuchtung heruntergefahren war, sodass die Darsteller im Halbdunklen standen und die Szene nach wenigen Sekunden in einem Blackout mündete. John Wingate vom TV-Sender WOR-TV meinte, dass das Schlusstableau vor der Pause auch Händels Messias nicht unwürdig gewesen wäre.47 Lorrie Davis bemerkt, dass man in dem gedämpften Licht kaum die einzelnen Schauspieler voneinander unterscheiden konnte, selbst wenn man sie persönlich kannte: While you are up there you think every light and eye in the place is focusing on your naked body. The first time I saw the nude scene from the audience, I realized that, unless you knew us well, you could hardly tell us apart. Between the dimness and the flashing, whirling lights, you could barely distinguish the difference between male and female.48
Allan Jeffreys, der Rezensent von ABC TV, konstatierte, dass das Publikum am Ende des ersten Aktes bereits auf alles vorbereitet war, sodass die »kleine Episode« der Nacktheit nicht weiter schockte, William A. Raidy von der Long Island Press erwähnt die Nacktszene ganz beiläufig am Schluss seines Artikels, als hätte er noch eine Kleinigkeit vergessen. 49 Während Jeffreys’ Schlussfolgerung zeigt, dass die Nacktszene sich konsequent in die Thematik und Inszenierung des Stückes einfügte, mutet Raidys Nachsatz gewollt liberal und abgeklärt
46
Bender, 1968.
47
Zitiert
nach
http://www.michaelbutler.com/hair/holding/articles/Hair
Articles/wortv4-30-68.html. 48
Davis; Gallagher 1973, S. 77.
49
Zitiert
nach
http://www.michaelbutler.com/hair/holding/articles/Hair
Articles/abctv4-29-68.html. und RAIDY, William A. 1968: Hair: Hip Hootenanny in: Long Island Press vom 30.04.
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an, um sein persönliches Missfallen zu verdecken. Die gleiche abfällige Meinung nimmt auch Herbert Whittaker vom Canadian Composer ein, der sich fragt: »So what? Who’s shocked by that old bit?«50 Auch William Goldman, Verfasser eines Buches über die Theatersaison 1967/68, zeigt sich gelangweilt durch die Nacktheit und bewertet sie als kalkulierten Werbeeffekt für das Musical: It added nothing to the show, no matter how much the creative hierarchy pleaded artistic purity, as they tried to do. It was, as one admiring publicrelations man said, »a terrific job of titillation. It’s really what drew attention to the show.« After the show was established, as indicated, they started using the »best-musical« quote. […]51
Wenngleich Hair in seinem Ursprung ein Off-Broadway-Musical war, wurde es ein internationaler kommerzieller Erfolg. Der Broadway-Premiere folgten Aufführungen in London, Paris, Stockholm, Kopenhagen, Bergen, Montreux, Rom, Madrid, Belgrad, Toronto, Sydney, Acapulco, Buenos Aires und Tokio. Die deutschsprachige Erstaufführung Haare fand am 25.10.1968 in München im Theater an der Brienner Straße statt, Aufführungen in weiteren deutschen Städten folgten. Die Nacktszene, welche in der Broadway-Produktion von den Behörden nicht beanstandet wurde, rief in Deutschland die Sittenwächter auf den Plan: Wenige Stunden vor der Premiere erreichte den Produzenten Werner Schmidt ein Brief des bayerischen Kultusministeriums, welches die Zensur der Nacktszene forderte. Während Arthur Maria Rabenalts Theatron Erotikon unbehelligt Nacktheit zeigen durfte, wurde Haare beanstandet. Rabenalts Inszenierungen galten als ›Theater‹, Haare als ›Revue‹, welche nach bayerischen Recht zu denjenigen »öffentlichen Vergnügungen« zählten, welche der behördlichen Erlaubnis bedurften, »Theateraufführungen, bei denen ein höheres Interesse der Kunst vorliege« indes nicht. Nach der Definition von Revue – (»Bühnendarbietung von lose aneinandergereihten Szenen mit Gesang, Tanz und Artistik« fällt Haare unter diese Regelung, weswegen der Produzent Werner
50
WHITTAKER, Herbert 1968: Hair: The Musical That Spells Good-bye
51
Zitiert
Dolly! In: The Canadian Composer, Mai. nach
http://www.michaelbutler.com/hair/holding/articles/Hair
Articles/TheSeason.html.
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Schmidt unter Androhung von Ordnungsgeld und Schließung die Auflage bekam, das »Wälzen von drei Personen am Bühnenboden«, das »Geschlechtsverkehr- oder Unzuchtshandlungen« andeute, zu »unterlassen«. In München wurde diese Szene hinter einem Tuch verborgen, auf welchem »zensiert« stand. Auch die Schambehaarung musste verdeckt werden, ebenso durfte der erst 15jährige Darsteller David Heinemann nicht mehr »Sodomie« singen, dies sei erst ab 18 Jahren erlaubt. Schließlich wurde Haare jedoch von der Staatsanwaltschaft als Theater eingestuft und die Inszenierung konnte in ihrer ursprünglichen Form gespielt werden.52 Während der Spiegel nur von der Aufschrift »zensiert« berichtet, kolportieren amerikanische Medien eine andere Version: Demnach soll der Regisseur Bertrand Castelli die Münchner Stadtoberen informiert haben, dass er Freunde gehabt habe, welche nackt ihren Tod in Gaskammern fanden. Daraufhin ließ er die Nacktszene hinter einem Transparent spielen, auf welches die Namen aller Konzentrationslager geschrieben waren.53 Der musikalische Leiter der Münchner Inszenierung bestreitet diese Version: »Ein Zusammenhang mit den Judenverfolgungen und den Gaskammern wurde im geschilderten Fall in Deutschland öffentlich niemals geäußert oder kritisiert (auch nicht die Aufführungen in weiteren Städten), vielleicht war das alles lediglich eine Vorausvermutung von Castelli.«54 Wenngleich Haare beim deutschen Publikum ein großer Erfolg war, zeigte sich die Kritik wenig begeistert: »Das daheim aggressiv verstandene Werk wirkte hier lieb, lau und ganz von gestern.«55 Waren die internationalen Produktionen alle sehr eng an die an die Broadway-Inszenierung angelehnt, so wurde die Nacktszene zum Gradmesser der Moralmaßstäbe des jeweiligen Landes. Bertrand Castelli, der Hair in Deutschland und Frankreich inszenierte, konstatierte, dass das Pariser Ensemble seine Nacktheit auf der Bühne auf »nahezu religiöse Weise« akzeptiert habe und dass in Paris mehr Darsteller als in jeder anderen ausländischen Produktion zu sehen gewesen seien.56 In London stieß die Nacktszene auf weitaus weniger
52
O.V 1968e: Doppeltes Spiel. In: Der Spiegel Nr. 45, S. 218.
53
DOWLING, Colette 1971: Hair – Trusting the Kids and the Stars. In:
54
Brief von Holger Münzer vom 07.12.2008 an die Verfasserin.
Playbill Magazine, Mai. 55
O.V. 1968d: Haare: Bett verweigert. In: Der Spiegel Nr. 44, S. 218.
56
O.V 1969b: Hair around the World. In: Newsweek vom 07.07.
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Zustimmung bei den Darstellern: »›Oh, it’s a drag to strip,‹ says London actress Rohan McCullough. ›It’s sweaty hard work. But it has to be done. I knew that if I didn’t do it the first night, I wouldn’t do it. So I did it.‹«57 In Kopenhagen wiederum war das Ensemble der Ansicht, dass die Nacktszene im liberalen Dänemark nicht die Wirkung hätte wie in weniger offenen Ländern und spielte die Be-In-Szene vollständig bekleidet, um sich in anderen, weniger hervorsehbaren Momenten auszuziehen. Einige Darsteller waren sogar während der Eröffnungsszene, in der sich das Ensemble unter das Publikum mischte, nackt. Darüber hinaus verharrten die Darsteller während des Be-Ins nicht regungslos, sondern bewegten sich frei. Auch Zuschauer zogen sich aus und tanzten mit den Darstellern nackt auf der Bühne. Die Szene, welche in New York nur wenige Sekunden dauerte, wurde in Kopenhagen auf zehn Minuten ausgedehnt.58
6.2 O H ! C ALCUTTA ! Das »entertainment with music« Oh! Calcutta!,59 wurde am 17.06. 1969 im New Yorker Eden Theatre unter der Regie von Charles Levy uraufgeführt. Im Juli 1970 folgte die Londoner Erstaufführung im Roundhouse, 1971 kam die Revue nach Deutschland. Oh! Calcutta! übertraf Hair in der Tat bei Weitem an Freizügigkeit, hier wurde eine vollkommen neue Dimension der Nacktheit auf der Bühne erreicht. Der britische Theaterkritiker Kenneth Tynan bat mehrere bekannte Schriftsteller und Drehbuchautoren, die Tynans »vollen Respekt« hatten, kurze Sketche für die Revue zu schreiben. Unter der Vorgabe »Die Suche nach dem Glück durch Sex« sollten sie ihre eigenen Sexualfantasien und Beobachtungen auf diesem Gebiet dramatisieren: »He said that we could write about anything in the world within the realm of sexuality […] The only other caveat he had was that our piece
57
LEMON, Richard 1969: Here, There, Everywhere Hair. In: Performing Arts Magazine (the San Francisco program), Oktober.
58
Interview mit James Rado, New York City, 25.03.1990 in Horn, S. 106.
59
Der Titel »Oh! Calcutta!« bezieht sich auf ein Bild von Clovis Trouille, das die unbekleidete Rückseite einer jungen Frau zeigt, und spielt mit dem französischen Ausruf: »O, quel cul t’as.«
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should have absolutely no redeeming social value.«60 Dieses Zitat verdeutlicht den Knackpunkt bei Oh! Calcutta!: Das Stück vertritt keinen moralischen Standpunkt, außer demjenigen, das erlaubt ist, was gefällt. Sexualität wird hier ungeschönt dargestellt und stellt überdies die Quelle für die Komik der Sketche dar. 1966 schrieb Tynan an William Donaldson über die Motivation hinter Oh! Calcutta!: »The idea is to use artistic means to achieve erotic stimulation.«61 Tynan imaginierte eine neue Art von Theater, in welchem er ein grundlegendes Tabu brechen wollte, und gab offen zu, dass er seriöses Theater und Erotik zusammenbringen wollte. Während die Kombination Erotik und Literatur bereits durchaus denkbar war, wurde die Verbindung Erotik und Theater bisher streng vermieden, Derartiges wurde allenfalls in Nachtclubs gezeigt. Als Regisseur für seinen »Evening of elegant erotica« hatte Tynan zunächst an Peter Brook gedacht, dieser lehnte das Angebot jedoch mit der Begründung ab, dass die einzige erotische Show, an deren Inszenierung er interessiert sei, ein Bordell wäre.62 Tynan hatte unter anderem auch bei Tennessee Williams, Jean-Luc Godard, Gore Vidal und Roman Polanski angefragt, ihre Beiträge aber nicht in die endgültige Fassung übernommen.63 Das Material wurde von vier auf zwei Stunden Spielzeit gekürzt, gestrichen wurden »dunkle und düstere« Szenen.64 Unter anderem verwendete Tynan Beiträge von Samuel Beckett, Sam Shepherd und John Lennon: »Weshalb auch sollten die besten Themen den schlechten Schriftstellern vorbehalten bleiben?« Um die Intimsphäre der Autoren zu schützen und zu verhindern, dass einzelne Sketche bekannterer Autoren zuungunsten der Anderen in den Fokus der Rezeption gerieten, ordnete Tynan die Szenen im Programm nicht
60
CLARKE, Gerald 2005: Still Taking It Off and Taking It In. In: Time vom 21.06. Ein Brief, den Tynan an die Autoren verschickte, findet sich in TYNAN, Kenneth; TYNAN, Kathleen 1994: Letters. London: Weidenfeld & Nicolson, S. 370f.
61
Brief an William Donaldson vom 28.06.1966 in Tynan; Tynan 1994, S. 353.
62 63
Tynan; Tynan 1994, S. 352f. RUMLER, Fritz 1969: Auf der Suche nach dem Glück durch Sex. In: Der Spiegel Nr. 26, S. 138-140.
64
Ebd.
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ihren Urhebern zu.65 Vonseiten der Presse gab es selbstverständlich Spekulationen, so ordnete der Reporter des Spiegels die nackte Tanzszene One on One fälschlicherweise John Lennon zu, da dieser zusammen mit Yoko Ono auch gerne nackt vor die Menschen träte.66 Clive Barnes, der das Stück in seiner Kritik in der New York Times verriss, mutmaßte gar, dass keiner der renommierten Autoren für diese missratenen Texte verantwortlich sein könne, es müsse der Butler gewesen sein, der dies geschrieben habe.67 Sein Kollege Frank Rich stellt dreißig Jahre später anlässlich der Derniere der Wiederaufnahme ebenfalls einen Zusammenhang zwischen der in seinen Augen minderwertigen Qualität der Texte und der Anonymität ihrer Autoren her: »It’s a measure of the writing’s slight quality that the authors never made a move of their own to divvy up credit.«68 Oh! Calcutta! bestand aus 13 Sketchen sowie dem Prolog Breath von Samuel Beckett: 1. Faint light on stage littered with miscellaneous rubbish, including naked people. Hold about five seconds. 2. Faint brief cry and immediately inspiration and slow increase of light together reaching maximum together in about ten seconds. Silence and hold about five seconds. 3. Expiration and slow decrease of light together reaching minimum together (light as in 1) in about ten seconds and immediately cry as before. Silence and hold about five seconds.69
65
Tynan in THEATER DES WESTENS (Hrsg.) 1971: Oh! Calcutta! Pro-
66
Rumler 1969.
67
BARNES, Clive 1969: ›Oh, Calcutta!‹ a Most Innocent Dirty Show. In:
grammheft. Berlin.
The New York Times vom 18.06. Bissig bemerkt Barnes: »For the humor is so doggedly sophomoric and soporific that from internal evidence alone I would go to court and testify that in my opinion such highly literate men could not have been responsible.« 68
RICH, Frank 1989: The Asterisks of ›Oh! Calcutta!‹: In: The New York
69
TYNAN, Kenneth 1969: Oh! Calcutta! An Entertainment with music: De-
Times vom 08.08. vised by Kenneth Tynan, Directed by Jacques Levy. New York: Grove Press, S. 9.
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Diese wenigen Zeilen umfassen den gesamten Prolog. Das handlungslose und extrem minimalistische Breath spielt mit den Vorstellungen des Zuschauers, der eine Revue, entertainment with music, erwartet. Beckett entzog Tynan jedoch nach der Premiere die Erlaubnis, seinen Beitrag in der Revue zu verwenden, da nackte Leiber zusammen mit Müll auf der Bühne lagen, was in Becketts Script nicht vorgesehen war. Der Autor untersagte jede weitere Aufführung innerhalb von Oh! Calcutta!70 Anders als den übrigen Beiträgen, welche immer nur als Bestandteil der Revue gesehen wurden, ist es Breath gelungen, als eigenständiges Werk Becketts wahrgenommen zu werden. Ohne den Prolog beginnt die Revue mit der programmatischen Ensemble-Nummer Taking Off the Robe. Die Darsteller betreten im Halbdunkeln in ihrer eigenen Straßenkleidung die Bühne. An der Wand hängen weiße Mäntel, auf deren Rücken »Oh! Calcutta!« steht. Die von den Zuschauern abgewandten Schauspieler ziehen sich schnell und informell aus, die Straßenkleidung verschwindet. Nun stehen die Schauspieler in einer Reihe an der Rampe, jeder im weißen Mantel, jeder in einem andersfarbigen Spot. Die Regieanweisung zu dieser Szene bemerkt, dass dies der einzige Moment während der Inszenierung ist, in welchem die Haut der Darsteller eine unnatürliche Farbe hat: »Except in this number, bodies are to be flesh and only flesh at all times.«71 Diese Regieanweisung zeigt, dass die Nacktheit in Oh! Calcutta! keine sublimierte ist und kein Zustand, der beschämt modifiziert werden muss – es gibt etwa keine Projektionen auf die Körper wie in Hair. Die Nacktheit in Oh! Calcutta! ist natürlich im Sinne von unabänderbar und überdies erotisch, wie die folgenden Sketche zeigen. Während die erste Musiknummer Oh! Calcutta! gespielt wird, beginnen die Schauspieler nach und nach zu strippen, während der Zuschauer in einem Einspielfilm etwas über ihre Person erfährt, vollenden den Akt jedoch nicht. Als alle vorgestellt sind, erstarren sie in einer Pose im bunten Licht. Danach strippen die Darsteller wieder, diesmal jedoch ohne Spots. Als der Letzte fertig ist, erstarren alle wieder, nackt, den Blick ins Publikum gerichtet, diesmal jedoch im weißen Licht. Am Ende der Szene erscheinen sie noch einmal an der Rampe, »proud as bullfighters« und gehen langsam ab.
70
KNOWLSON, James 1996: Damned to Fame. The Life of Samuel Beckett. London: Bloomsbury, S. 565f.
71
Tynan 1969, S. 11.
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Zum ersten Mal in der Theatergeschichte wird hier ein Striptease ohne dramaturgische Notwendigkeit, allein um seiner Wirkung selbst willen, auf einer ›seriösen‹ Musicalbühne vorgeführt. Eine Darbietung, die sonst nur in Nachtclubs gezeigt wird, ist zur großen Eröffnungsnummer geworden. Was die Regieanweisung schon andeutet, wird hier am Ende des zweiten Durchgangs auch dem Publikum unmissverständlich gezeigt: Die Nacktheit ist genuiner Bestandteil von Oh! Calcutta! und wird nicht beschönigt, sondern an der Rampe, den Blick ins Publikum gerichtet und im hellsten Licht, gezeigt. Auf diese Eröffnungsnummer folgen 12 Sketche, neun davon beinhalten Nacktheit. Der zweite Sketch, Dick and Jane, des amerikanischen Autors und Comic-Zeichners Jules Feiffer, handelt von einem Paar, das offensichtlich gerade Geschlechtsverkehr gehabt hat. Im Gespräch offenbaren sich die unterschiedlichen Vorstellungen der beiden über ihr Sexualleben. Dick wünscht sich mehr Aufgeschlossenheit von Janes Seite, sie hält seine Wünsche für suspekt. Die Nacktheit in diesem Sketch ist funktional, sie resultiert aus dem vorangehenden Geschlechtsverkehr. Wenngleich zunächst auf amüsante und später surreale Weise, thematisiert der Sketch die konservative Sexualmoral Janes: »What’s wrong with doing it the regular way?« Neben diesem Sketch behandeln noch diverse andere Episoden in Oh! Calcutta! Sexualpraktiken fernab des ›regular way‹ und verdeutlichen somit Kenneth Tynans Prämisse der Revue, dass Sex Spaß macht und nichts Verwerfliches ist. Der zweite Sketch Suite For Five Letters von Stanley Walden präsentiert fünf Schauspieler, welche voll angezogen Briefe rezitieren, in denen die Fetische dreier Frauen und zweier Männer präsentiert werden. Die Frauen nennen das Schnüren sehr enger Korsette, Flagellantismus und das Tragen von Gummiwäsche, die Männer High Heels sowie Schmuck. Die dritte Episode Will Answer All Sincere Replies von Robert Benton und David Newman zeigt ein Paar, welches sich zum Partnertausch entschlossen hat und an seinem eigenen Mut zu scheitern droht. Dale versucht die Nervosität seiner Frau Sue Ellen zu besänftigen, indem er sie erinnert, dass es das Zeitalter der sexuellen Revolution sei, und dass sie, die Partner tauschenden Eheleute, Trendsetter seien. Als das zweite Paar Monte and Cherie eintrifft, kommt es schließlich zum Verkehr zwischen Sue Ellen und Monte, dies jedoch für den Zuschauer unsichtbar auf einem mit dem Rücken zum Publikum
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zugewandten Sofa. Cherie legt ihre Bluse ab und schließt sich ihnen an, der Zuschauer sieht nur diverse Arme und Beine, die sich hinter der Sofalehne bewegen. Leonard Melfis Jack and Jill, die vierte Szene, zeigt einen jungen Mann und eine extrem naive junge Frau in einer Kinderzimmerlandschaft, die nach eigenen Aussagen von einer Orgien-Party gekommen sind, welche sie jedoch gelangweilt hat. Jack versucht Jill zu verführen und vergewaltigt sie am Schluss, woraufhin sie tot in seinen Armen liegt. Diese Szene, welche nur partielle Nacktheit wie ihr entblößtes Hinterteil zeigt, konterkariert eine Gesellschaft, für die Orgienpartys nichts besonderes und überdies dumm und langweilig sind, mit Doktorspielen in einer Kinderwelt. Delicious Indignities or the Deflowering of Helen Axminster, eine der gelungensten Episoden von Oh! Calcutta!, spielt 1896 in England. Alfred Duff Porter hat Helen Axminster in sein Haus gelockt mit dem Ziel, sie zu entjungfern. Zu seinem Erstaunen erzählt sie ihm ausführlich, wie sie bereits über 37mal vergewaltigt wurde. Der Sketch von Sherman Yellen fällt durch seine literarischen Qualitäten aus dem Rahmen von Oh! Calcutta!, dessen andere Episoden stilistisch sonst eher schlicht sind, und war auch der einzige, welcher die Gnade des Kritikers der New York Times fand.72 Dan Greenburgs Was it good for you too? zeigt zwei junge Leute, welche sich bereit erklärt haben, für ein wissenschaftliches Experiment Geschlechtsverkehr zu haben. Diese Episode ist eine Parodie auf die Arbeit von William Howell Masters und Virginia Johnson, welche Geschlechtsverkehr im Labor beobachteten und dabei Messungen an den Probanden vornahmen. Es folgt die Nummer Much Too Soon, bei der das ganze Ensemble nackt auftritt. Zu Beginn liegen alle Darsteller als Knäuel auf der Bühne, um sich dann zu lösen und zu Paaren zusammenzufinden. Die Schauspieler berühren einander sanft und zärtlich, während sie tanzen. Das Ensemble tritt ab und lässt zwei Darsteller zurück, die nun einen Pas de deux tanzen. Der Kritiker Clive Barnes bemerkt, dass diese Tanzszene sehr von Robert Joffreys Tanzstück Astarte inspiriert sei. Die Fruchtbarkeitsgöttin Astarte hilft in diesem Stück Jünglingen, ihre Jungfräulichkeit zu verlieren. Joffrey wollte diesen freien und
72
Barnes 1969. Zu Sherman Yellens Erinnerungen an Oh! Calcutta! siehe http://shermanyellen.com/scrapbook/Calcutta.html.
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ungehemmten Umgang mit Sexualität Astartes in die Gegenwart der sechziger Jahre transferieren: »knowledge and enlightenment is passed to future generations through the ritual of sex.«73 Wie Astarte greift auch die Inszenierung von Oh! Calcutta! auf die Videoprojektionen der Künstler Gardner Copton and Emile Ardolino zurück, welche für ihre Arbeit bei Oh! Calcutta! 1970 den Obie Award74 erhielten. Eine weitere Parallele zwischen Oh! Calcutta! und Astarte liegt in der Rockmusik, welche nackten Tanz begleitet. Barnes hält jedoch Joffreys Choreografie für weitaus erotischer als die Oh! Calcutta!Choreografie der ehemaligen Joffrey-Tänzerin Margo Sappington. Auch hält er den Umgang mit der Nacktheit beim San Francisco Dance Workshop für gelungener. Wenngleich er hier keine Referenz angibt, meint Barnes wahrscheinlich Anna Halprins Choreografie Parades and Changes aus dem Jahr 1967.75 1989 wirkt Sappingtons Choreografie indes nur noch wie eine Parodie ihrer selbst: »The evening’s erotic ballets, accompanied by disco lighting, soft-rock music (some of it by Peter Schickele) and confessional Lenore Kandel poetry, could be a Feiffer parody of a Greenwich Village interpretive dance recital, circa 1964.«76 Die nächste Episode The Rock Garden von Sam Shepherd besteht aus zwei Monologen und zeigt keine Nacktheit. Who: Whom präsentiert einen Mann, der eine Rede über Demokratie hält, während neben ihm eine gefesselte nackte Frau in einem Netz von der Decke hängt und ein viktorianisches Dienstmädchen ihr blankes Hinterteil präsentiert, weil sie ihre Herrschaften bestohlen hat und deswegen Züchtigung erwartet. Der vorletzte Sketch von John Lennon, Four in Hand, zeigt vier junge Männer, welche sich zum gemeinsamen Masturbieren treffen. Die Regel sieht vor, dass alle sich ihren Fantasien hingeben, der Erste, der den Höhepunkt erreicht, hat gewonnen und determiniert den
73
ANAWALT, Sasha 1996: The Joffrey Ballet, Robert Joffrey and the Making of an American Dance Company. Chicago: University of Chicago Press, S. 244. Auch Anita Berber schuf eine Choreografie zum AstarteMythos, siehe Kapitel 4.1.7.
74
Von der New Yorker Zeitung Village Voice jährlich verliehener Theater-
75
Barnes 1969.
76
Rich 1989.
preis für Off-Broadway (O.B.)-Produktionen.
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Zeitpunkt, an welchem die anderen unverzüglich aufhören müssen. Die vier Männer sitzen mit den Rücken zum Publikum in bequemen Stühlen, über ihren Köpfen sieht der Zuschauer auf Fernsehschirmen ihre Fantasien. Während auf drei Bildschirmen nackte Frauen zu sehen sind, erscheint auf dem vierten Bildschirm die Fernsehfigur ›lone ranger‹, dessen Anblick den fantasierenden Mann auch zum Höhepunkt bringt.77 Das Finale Coming Together, Going Together ist eine EnsembleNummer, die auf der Metaebene die Gefühle der Schauspieler reflektiert, welche sie gegenüber der Nacktheit in Oh! Calcutta! hatten. Die bekleideten Schauspieler stehen im Halbkreis auf der Bühne und sprechen die Gerüchte aus, welche sie vor den Proben über die Revue gehört hatten: »I hear the opening of the show is all the guys stand in a line and come into the audience«, »I hear the cast album’s going to be recorded in the nude«, »I hear they gonna measure the boys«, »When they talk about the size of your part, they really mean it«, »They gonna want you to screw, every night, on cue«, »Everybody’s going to have to fuck on stage, but on alternate nights«78. Diese Zeilen spiegeln sehr gut die Befürchtungen wider, die eine Revue wie Oh! Calcutta!, welche sehr offensiv mit der Präsentation von Nacktheit umgeht, hervorruft. Im Fokus stehen die Frage, was Nacktheit auf der Bühne dramaturgisch motiviert, und der Generalverdacht, dass alles, auch die Plattenaufnahme, die ohne Publikum in Straßenkleidung im Studio durchgeführt wird, nackt abläuft. Des Weiteren geht es um die Furcht vor realen Sexualakten, die vor Publikum und losgelöst von jeglicher Erregung auf Stichwort vollzogen werden, welche ihre Steigerung in dem absurden gemeinsamen Ejakulieren ins Publikum finden. Während diese Ängste überzogen sind, sind andere wie die Furcht vor der Beurteilung der Geschlechtsteile aufgrund ihrer Größe realer, wie auch die Erinnerungen der Hair-Darsteller zeigen. Die Zeile einer
77
John Lennon schrieb an Tynan: »[…] they should even really wank
78
Tynan 1969, S. 117ff. Von der deutschen Aufführung in Hamburg be-
which would be great…« (Tynan 1994, S. 420.) hauptet der Journalist Peter Brügge, man habe »bei der Auslese unter 300 zur Hüllenlosigkeit Bereiten sehr darauf geachtet, daß niemand zuviel Busen oder Penis mitbringt«, um das Publikum nicht zu erschrecken. (BRÜGGE, Peter 1971: Sünde hinterm Paravent. In: Der Spiegel Nr. 12, S. 210.
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Schauspielerin, »My parents expect it from this generation«79 spielt direkt auf die Hippies und die von ihnen initiierte sexuelle Befreiung an, offenbart aber auch den Druck, der auf den einzelnen Personen lastet, wenn eine ganze Generation den Ruf hat, sexuell sehr aufgeschlossen zu sein. Wer die radikalen Ansichten einer Minderheit nicht teilt, wird dem Vorwurf der Prüderie ausgesetzt. Die Schauspieler wiederholen ihre Zeilen, bis die von einer ›Blues Rock‹-Stimme aus dem Off unterbrochen werden: »Well, I wasn’t sure before but now I want it!«. Wie in einem Gospel-Song wird hier die Erlösung verheißen, und diese Erlösung besteht in der Besinnung auf die eigene Person und deren Fähigkeit, sich auf einer Bühne nackt zu zeigen und gut dabei zu fühlen. Das Ensemble zieht sich zurück, nur eine Schauspielerin bleibt in der Mitte zurück und beginnt lustvoll zu strippen. Einer nach dem anderen kommen ihre Kollegen in die Bühnenmitte und folgen ihr. Als alle nackt sind, tanzen sie wild über die Bühne und genießen diesen Zustand. Der Text lautet nun: Well I didn’t know it was there But now I want it! I don’t care what you say I’m gonna do it anyway because I want it!80
Die Musik stoppt, die Tänzer erstarren in ihren Posen und sprechen potenzielle Gedanken der Zuschauer aus: What the fuck are they doing up there? Looks like the perfect summer job. There’s a girl with a two-toned bird. What do the men do when they get erections? There’s a lady in the first row with binoculars. My God, that’s my daughter up there. All the men are circumcised. Must be a Jewish show. Then let’s go to Ratner’s for supper.
79
Tynan 1969, S. 121.
80
A.a.O., S. 123.
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When do you think they’ll raid the joint? I wonder what the cast parties are like.81
Auch diese Äußerungen sind nicht überraschend, die Dame mit dem Fernglas gab es auch bei Hair, ebenso den prüfenden Blick, der von den beschnittenen Penissen der Schauspieler auf deren Religion schloss. Darüber hinaus offenbaren diese Bemerkungen aber auch den Argwohn, dass das Treiben des Ensembles ein unmoralisches wäre, es wird von den Handlungen auf der Bühne auf die Handlungen dahinter und in der Freizeit geschlossen. Die Musik verstummt und eine Schauspielerin beginnt sich sachte und graziös zu bewegen. Sie erweckt die anderen starr stehenden Schauspieler zum Leben, welche nun die Körper ihrer Kollegen entdecken, indem sie mit ihren Händen die Konturen nachfahren, ohne die fremden Körper jedoch zu berühren. Schließlich treffen sie sich in der Mitte und strecken ihre Hände nach oben, wobei sich ihre Leiber nun endlich berühren und zu einer Masse verschmelzen. Wieder ertönt die Stimme aus dem Off: »Well I came here on a dare – but now I want it!« Die Darsteller sind befreit, sie springen auseinander und tanzen über die Bühne, wobei sie nun einander auch berühren. Schließlich formieren sie sich in einer Reihe an der Rampe, dies ist das Schlusstableau mit dem Text: »I WANT IT!« Von den neun Szenen, welche partielle oder komplette Nacktheit beinhalten, ist das Finale die einzige, welche die Nacktheit nicht sexuell konnotiert, sondern um ihrer selbst willen zeigt. Die Nacktheit der Schauspieler wird hier losgelöst von den Wünschen Tynans, eine erotische Revue zu zeigen und den potenziellen Erwägungen der Produzenten, dass sich sexuell konnotierte Nacktheit besser verkauft. Der nackte Körper wird zum Zeichen des selbstbestimmten Umgangs mit der eigenen Körperlichkeit. Die Szene vermittelt, wie befreiend es sein kann, den eigenen Körper in einer Gesellschaft zu zeigen, welche die Präsentation des nackten Leibes einem strengen Regelwerk unterwirft. Oh! Calcutta! präsentiert keineswegs nur die einvernehmliche Partnersexualität und degradiert den (weiblichen) Körper zum Objekt, welches vom Partner missbraucht oder gewaltsam unterworfen wird. Durch Kostüme, Setting und Sprache wird diese Gewalt jedoch abge-
81
Tynan 1969, S. 124.
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schwächt, und ein lächerlicher Effekt entsteht, aus dem die Komik der Szenen resultiert. Im Kontrast hierzu zeigt das Finale einen überaus respektvollen Umgang mit dem Körper. Hier ist der Leib etwas Reines, als Ausdruck der Freiheit etwas Heiliges. Dass Nacktheit eine befreiende Wirkung auf die Schauspieler haben kann, zeigen die zahlreichen Aussagen der Hair-Darsteller. Auch für die Darsteller in Oh! Calcutta! war ihre komplette Nacktheit auf der Bühne zunächst gewöhnungsbedürftig, wurde dann aber zur Routine und zu einem Bühnenkostüm wie jedes andere.82 Beim Vorsprechen für eine Rolle ließ der Regisseur Jacques Levy die Bewerber erst normal singen und tanzen. Waren sie qualifiziert, bekamen sie eine Improvisationsaufgabe, bei welcher sie sich ausziehen sollten. Der Produzent Hillard Elkins bemerkt, dass die Schauspieler umso unbefangener agierten, je talentierter sie generell waren. Während der Proben sollten die Darsteller ihre Kleider einschließen und erhielten Frottee-Mäntel, auf welchen Oh! Calcutta! und ihr Name stand. In den ersten beiden Tagen achteten die Schauspieler noch sehr darauf, dass der Bindegürtel sehr fest gezogen war. Am vierten Tag achteten sie nicht mehr darauf, ob der Mantel geschlossen war oder nicht, und ab dem fünften Tag zogen sie die Mäntel aus. Das Ensemble von Oh! Calcutta! war sehr stolz darauf, dass es unbefangen mit seiner Nacktheit umgehen konnte. Aus dieser Probenerfahrung resultiert die Eröffnungsnummer Taking Off The Robe.83 Der Regisseur Clifford Williams sagt über die deutschen Schauspieler, dass sie zunächst reaktionär und konservativ gewesen seien, dann aber umso freier wurden, je mehr sie sich mit der Thematik beschäftigten.84 Oh! Calcutta! ist somit nicht nur eine ›Porno-Klamotte‹, sondern auch ein ernst zu nehmendes Plädoyer für die Nacktheit auf der Bühne. Betrachtet man das Stück aus diesem Blickwinkel, wird Tynans Motivation verständlich, etwas auf die Bühne zu bringen, was die Menschen interessiert und ihnen Freude bereitet: Sexualität. »›Sex macht Spaß‹, sagt der zum zweiten Mal vermählte Tynan, ›wie das Essen in einem Dreisternerestaurant Spaß macht‹«.85 Sex wird hier von Tynan
82
Clarke 2005.
83
Hillard
Elkins
auf
http://www.lukeford.net/profiles/profiles/hillard_
elkins.htm. 84
Theater des Westens 1971.
85
Rumler 1969.
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in den Rang einer lebensnotwendigen Tätigkeit gehoben, die über jeden moralischen Zweifel erhaben ist, das Triebhafte der Sexualität im Freudschen Sinne wird erkannt. Oh! Calcutta! lässt sich als Dramatisierung des Kinsey-Reportes rezipieren: Partnertausch, Masturbation – überdies mit homosexuellen Fantasien – Fetische und vieles mehr werden in der Revue als selbstverständlich gezeigt, die kleineren und größeren Pannen, die dabei entstehen können, mit eingeschlossen. Clifford Williams antwortete auf die Frage, warum er Oh! Calcutta! inszeniert habe: Weil mir daran gelegen ist, die Menschen aufgeschlossener und interessierter daran zu machen, was zwischen zwei Menschen geschieht. Es ist notwendig, endlich offen darüber zu diskutieren, wir müssen den Sex von jahrhundertealtem Muff befreien. Dazu regt dieses Stück an. Jeder wird von diesem Panorama sexueller Verhaltensweisen betroffen. Keinem ist es möglich, gänzlich unberührt zu bleiben. Geheime Wünsche, Ängste, Begierden — hier werden sie offenbar.86
Oh! Calcutta! wirbt als Zeitgeist-Stück der späten sechziger Jahre und somit der sexuellen Revolution für die befreite Sexualität und bedient sich dabei der Nacktheit, da diese untrennbar mit der Sexualität verbunden ist. Williams sieht in Oh! Calcutta! die Möglichkeit, ›den Mann von der Straße‹ auf unterhaltende und direkte Weise mit der Frage der sexuellen Befreiung zu konfrontieren. Er zieht das Unterhaltungstheater, das Hair und Oh! Calcutta! bieten, dem intellektuellen Programm eines Living Theatre vor.87 Auch der Autor Sherman Yellen, der den Sketch Delicious Indignities schrieb, ist der Ansicht, dass Oh! Calcutta! das Gefühl der sechziger Jahre und der sexuellen Revolution transportierte: My own feeling about it? No high marks for art, but it was a social phenomenon that was bound to happen. This was the sixties, a time of Frank Zappa and the Who’s Tommy. Midnight Cowboy was an X rated film that had just won an Academy Award. From flower power to Calcutta the world was opening up
86
Theater des Westens 1971.
87
Ebd.
230 | THEATER DER N ACKTHEIT to a more generous and relaxed view of human sexuality, and Oh! Calcutta! reflected this change onstage.88
Die Produzenten von Oh! Calcutta! waren sich der Provokation des Stückes und der Inszenierung bewusst, wenngleich der Produzent Hillard Elkins konstatierte, dass man nicht ›provozieren‹, sondern ›unterhalten‹ wolle: I am not looking for a confrontation. We are not trying to make a revolution. I am simply trying to produce an entertainment in the erotic area in the best possible taste. We do not wish to offend, we want to amuse and we’re looking for all the advice we can get.89
Gemessen an der Behauptung, dass man keine Konfrontation suchte, war die Werbung für Oh! Calcutta! mehr als offensiv; Elkins ließ eine Leinwand an der Theaterfassade anbringen, auf die Nacktbilder des Ensembles projiziert wurden. Die Folge waren Autounfälle und Demonstrationen aufgebrachter Katholiken. Schließlich bat Tynan seinen Produzenten per Telegramm, die Werbung zu drosseln: AMERICAN FRIENDS RETURNING FROM NEWYORK ALL FEEL SHOW IS BEING GROSSLY LUDICROUSLY OVER PUBLICISED STOP TENNESSEE WILLIAMS WITHDRAWAL ENTIRELY DUE TO SENSATIONAL PUBLICITY STOP BEG YOU TO SOFT PEDDLE ALL PUBLICITY UNTIL OPENING WEEK STOP ADVANCE NOT WORTH A DAMN IF REVIEWS NOT GOOD KEN90
Um polizeilichen Aktionen vorzubeugen, lud Elkins Vertreter der Stadt New York und der Sittenpolizei zu einer Vorführung ein, welche nicht beanstandet wurde.91 Hintergrund dieser Vorsichtsmaßnahme war die Schließung der Off-Off-Broadway-Produktion Che des 29-jährigen Lennox Raphael, welche das Verhältnis der USA zu den weltweiten Revolutionsbewegungen thematisierte. In diesem Stück traten die Darsteller nackt auf und simulierten mehrfach Geschlechtsverkehr, darunter auch einen homosexuellen »und andere unorthodoxe« Akte. 88
http://shermanyellen.com/scrapbook/Calcutta.html.
89
Funke 1969.
90
Tynan 1994, S. 440.
91
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Nach zwei Vorstellungen wurde das Stück verboten, da ein Geistlicher eine Beschwerde gegen Che bei der Polizei eingereicht hatte. Nach Überprüfung des Falls wurden das Ensemble und die Produzenten der öffentlichen Unzucht und Obszönität angeklagt.92 Den Produzenten gelang es, die Konfrontation mit der Zensur zu vermeiden, der SchockEffekt, der durch die fast ständige Nacktheit und die monothematische Behandlung der Sexualität entstand, war jedoch voll beabsichtigt: »There is always some reaction to Oh! Calcutta!. […] Its message is theatricality – outrageous theatricality – which goes beyond the twilight zone into a territory that had never been explored onstage before.«93 Aus dem Zwielicht der sublimierten Nacktheit bei halber Beleuchtung für wenige Sekunden ist Oh! Calcutta! gewiss herausgetreten und kann somit einen besonderen Platz in der Historie des Theaters für sich beanspruchen. Über die außerordentliche Konzentration auf die beiden Tabuthemen Nacktheit und Sexualität, welche aus dem geschützten intimen Raum in die Öffentlichkeit einer Theaterbühne gebracht werden, wird eine überaus starke SchauspielerZuschauer-Relation erreicht: Der Schauspieler tut etwas bis dahin in dieser Form für den Zuschauer Unerwartetes und Schockierendes und dieser reagiert heftig – ablehnend oder affirmativ – darauf. Diese Affizierung des Zuschauers steht in der Tradition Antonin Artauds und ist symptomatisch für den Gebrauch der Nacktheit im Theater der sechziger Jahre. Clifford Williams, welcher auch Mitglied der Royal Shakespeare Company war, zieht die Stücke William Shakespeares heran, um die Oh! Calcutta! vorgeworfene Obszönität zu legitimieren: »Aber ein gewisses Maß an Vulgarität ist notwendig, um einen heilsamen Schock bei den Zuschauern hervorzurufen. Shakespeare wußte beispielsweise auch ganz genau, wann ein vulgärer Ausdruck angebracht war, um die Wirkung zu steigern.«94 Die heftige Wirkung beim Publikum war beabsichtigt, Kenneth Tynan wollte ja sogar sexuell erregen. Clarke weist jedoch auf das Augenscheinliche hin: Im Theater, inmitten hunderter anderer Zuschauer, kann man sich nicht gehen lassen: »Why does it fail to stimulate eroticism? The answer is that no member of a theater audience is unaware of the rest of the audience, and this communal group consciousness inhibits erotic
92
Funke 1969.
93
Clarke 2005.
94
Theater des Westens 1971.
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response.«95 Der trotzdem hervorgerufene Schock-Effekt beruht indes darauf, dass der Zuschauer sich durch das auf der Bühne Dargebotene in den Bann ziehen lässt. Wird die Sexualität und Nacktheit zu etwas Gewöhnlichem, verliert die Bindung zwischen Dargestelltem und Rezipienten an Kraft und das Stück wird banal oder lächerlich. Seine bemerkenswert lange Spieldauer am Broadway verdankt Oh! Calcutta! (ausländischen) Touristen, für die die Revue auch in den Achtzigern noch eine Sensation darstellte. Vor allem aus Ländern, in denen Nacktheit auf der Bühne nicht gestattet war, kamen die Zuschauer. Ein Drittel der Zuschauer stammte aus Asien, vor allem aus Japan. Der Produzent Kean warb in den japanischen Medien für Oh! Calcutta!, ließ zweisprachige Anzeigetafeln am Broadway anbringen, schließlich konnten die japanischen Zuschauer auch Kopfhörer für die Simultanübersetzung der Sketche ausleihen.96 Bei den Kritikern fiel Oh! Calcutta! durch. So herrschte Konsens darüber, dass die Texte überwiegend albern und banal und die Nacktszenen den textdominierten Sketchen vorzuziehen wären, wenngleich auch diese nicht zu überzeugen vermochten. Clive Barnes bemerkte, dass es wohl keine witzlosere Show in der Stadt gäbe als diese dumme kleine Revue, welche aber den findigen Produzenten den sprichwörtlichen Topf Gold am Ende des Regenbogens bescheren würde. Barnes konstatiert, dass es Werke wie Oh! Calcutta! seien, die die Pornografie in ein schlechtes Licht rücken würden97 und kommt zu dem Schluss: »To be honest, I think I can recommend the show with any vigor only to people who are extraordinarily underprivileged either sexually, socially or emotionally.«98 Der Reporter des Spiegels wertet Tynans Revue als Versuch, das Theater aus einer von ihm diagnostizierten Krise zu befreien. Während das Regietheater Klassiker verfremde, »will Tynan süß und sanft schockieren: Praktizierter Sex, sonst allenfalls Reeperbahn-Habitués zugänglich, soll auch auf dem bürgerlichen Theater eine Heimstatt finden; und zwar, sagt Tynan, als ›elegante Erotik‹ und ›kultivierte Unterhaltung‹ zum Zwecke ›zarter Stimulation‹.«99 Den Kritiker über-
95
CLARKE, Gerald 1969: New Plays: Nude Frontier. in: Time vom 27.06.
96
Clarke 2005.
97
Barnes 1969.
98
Ebd.
99
Rumler 1969.
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zeugt das Stück keineswegs, er vertritt die Meinung, dass keiner der Sketche Ewigkeitswert habe, überdies würden sie »statt Spaß am Sex […] Späße über Sex« bieten. Schon im Vorfeld wurde die Revue vom New Yorker Publikum mit Spannung erwartet, alle 41 Previews waren ausverkauft, die Karten erreichten auf dem Schwarzmarkt exorbitante Preise und Oh! Calcutta! wurde zur teuersten Broadway-Show im Vorverkauf.100 Die Original-Inszenierung wurde insgesamt drei Jahre zunächst im Eden Theatre am Off-Broadway, ab 1971 im Belasco Theatre am Broadway gespielt, eine Wiederaufnahme am Belasco hatte am 24.07.1976 Premiere und lief bis zum 06.08.1989 insgesamt 5.959mal, womit die Revue zu den fünf längstgespielten Musicals am Broadway gehört. Oh! Calcutta! wurde in 18 Ländern gespielt, darunter Venezuela, Brasilien und Israel.101 1970 erlebte Oh! Calcutta! seine Premiere in London. Wie bereits in New York boten die Produzenten der Polizei Freikarten an, um sich eine eigene Meinung über die Revue zu bilden. Die Beamten waren entsetzt, wurden in der Pause jedoch Zeugen eines Gespräches unter Zuschauern, welche der Ansicht waren, dass das Stück nicht zensiert werden solle. Um ihre Meinung zu festigen, besuchten die Polizisten noch zwei weitere Vorstellungen von Oh! Calcutta!, das Urteil fiel indes weiterhin zu Tynans Ungunsten aus: »Sex is not dealt with respect, man is depicted as a performing dog selfindulgently satisfying every whim and fancy thereby debasing any form of dignity and attacking the very roots of the family unit,« reported Luff, asking the attorney general, Sir Peter Rawlinson, to prosecute under the 1968 Theatres Act.102
Konservative Bürgerinitiativen unterstützen diese Forderung. Um die Frage der Obszönität des Stückes zu klären, ernannte Scotland Yard
100 Clarke 1969. Auch in London wurden Karten zu Höchstpreisen verkauft, eine Parkett-Karte zum regulären Preis von £3 wurde für £50 angeboten. (TRAVIS, Alan 2000: How two dames saved Oh! Calcutta! In: The Guardian vom 23.12.). 101 O.V 1989: ›Oh! Calcutta!‹ Closing After 20 Years. In: The New York Times vom 29.07. 102 Travis 2000.
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schließlich eine geheime Kommission bestehend aus zwei Schuldirektorinnen, einen Juraprofessor und einem Vikar. Die 57-jährige Dame Mary Green kam zu dem Ergebnis, dass die Damen in der Revue liebenswert und unverdorben seien und eine gesunde Frische ausstrahlten, sodass sie als Zuschauerin weder schockiert noch peinlich berührt wurde. Wenngleich sie das Stück Jugendlichen nicht empfehlen würde, würden diese ihrer Einschätzung nach auch keinen Schaden daran nehmen. Ihre Kollegin Margaret Miles konstatierte, dass die Revue ein Spiegelbild der erhöhten Ehrlichkeit, Offenheit und Freiheit sei, mit welcher die Gesellschaft dem Thema Sexualität in der Gegenwart begegne. Die beiden anderen Mitglieder dieser Kommission stimmten diesem Urteil zu, sodass es dem Staatsanwalt unmöglich schien, die Obszönität von Oh! Calcutta! zu beweisen. Derart legitimiert und von der Zensur unberührt, schaffte die Revue den Wechsel ins kommerzielle Westend.103 Bei der Hamburger Aufführung 1971 im Operettenhaus auf St. Pauli unter der Regie von Clifford Williams protestierte die »Aktion Widerstand« mit Stinkbomben vor dem Theater.104 Die deutsche Fassung enthielt nicht dieselben Sketche wie die amerikanische, es fehlten Suite for Five Letters, Jack and Jill und Who: Whom. Dafür wurden Ein Butler zum Frühstück und Höschen hinzugefügt. Höschen von Kenneth Tynan ist eine historische Abhandlung über die Geschichte der Unterbekleidung ohne den Einsatz wesentlicher Nacktheit, Ein Butler zum Frühstück handelt von einem Butler, der mit seinem nach früherer Arbeit in einem Atomkraftwerk magnetischen Glied Stecknadeln aus der Vagina seiner Vorgesetzten herausholt.105 Kam es zum – freilich simulierten – Geschlechtsverkehr, verschwanden die Darsteller unter Marschmusik hinter einem Paravent.106 Der Rezensent vom Spiegel bezeichnete die Revue als »letzte[n] Heuler der Theater-Befreiung« und »szenischen Schweinkram«, der nur eine »dünne Essenz von Kasino-Ulk« sei.107. Auch beim Kritiker der Zeit fiel die Revue durch, für ihn war Oh! Calcutta!
103 Travis 2000. 104 Brügge 1971. 105 Ebd. Ein Butler zum Frühstück war auch Bestandteil der Inszenierung in London (ZIMMER, Dieter, E 1970: Oh Kalkül du! In: Die Zeit Nr. 31.). 106 Brügge 1971. 107 Ebd.
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eine Serie dünner und immer dünner werdender Witzeleien und schlingernder Nackttanzereien, eine an Primitivität des Einfalls (immerhin nicht der Präsentation) schwer zu unterbietende Nummernfolge, gegenüber der jede Show in einem besseren Striptease-Lokal auf St. Pauli einen zutreffenderen Eindruck davon vermittelt, daß Sex glücklicherweise etwas mehr und etwas Ernsteres ist als ein ridiküler Schwank. […]108
Bemerkenswert an dieser Kritik ist die Tatsache, dass hier der auf Kommerz und Erotik ausgerichtete Striptease im Rotlicht-Viertel höher bewertet wird als die Revue, welche von renommierten Autoren und Theaterschaffenden produziert wurde. Die zitierte Kritik zeigt die Irritation, welche die satirische Behandlung der Sexualität durch das Theater hervorrief. Die sexuelle Revolution hatte zwar erreicht, dass die Sexualität und ihre zahlreichen Variationen aus dem Fokus der Strafverfolgung und Tugendwächter rückten, die Liberalisierung war aber noch nicht so weit fortgeschritten, dass man über das Thema zu lachen wagte. Quasi als inoffizielle Fortsetzung ist die ebenfalls von Tynan zusammengestellte und von Clifford Williams in London inszenierte Revue Carte Blanche anzusehen, welche nach ähnlichen Prinzipien wie Oh! Calcutta! funktioniert: zusammenhanglose Episoden zeigen »a geriatric gang bang, a ballet stressing the sexual symbolism of motorcycles, and a sketch about a young man’s sexual initiation into a jaded Restoration court where the male courtiers are equipped with waving phalluses[…].« Carte Blanche erhielt damals gemischte Kritiken, konnte aber in keinerlei Hinsicht an den Erfolg von Oh! Calcutta! anknüpfen.109 Dies liegt vor allem an Tynans Problem, dass das Publikum 1969 schon alles gesehen hatte, was er jetzt, 1976, nur noch in Variationen wiederholen konnte. Der immense Publikumserfolg von Oh! Calcutta! war dem Sensationseffekt des Neuen und später dem daraus resultierenden Status einer Legende, einer ›Kult‹-Veranstaltung, geschuldet. Somit kommt auch der Autor des Handbuches Little Musicals for Little Theatres unter dem Punkt »Difficulties and Advantages« zu dem Fazit: »Its time and place are gone with the wind. On the other hand it’s my guess that if you produced the show com-
108 Zimmer 1970. 109 O.V. 1976: Back on the Bawds. In: Time von 11.10.
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mercially in any city that would allow it, you’d make a pile of money. Voyeurism just doesn’t date.«110
6.3 T HE L IVING T HEATRE : P ARADISE N OW Zu den radikalsten und stilbildendsten freien Theatergruppen der sechziger Jahre gehört das amerikanische Living Theatre. Bezüglich des Einsatzes der Nacktheit auf der Bühne soll hier die vierstündige Performance Paradise Now betrachtet werden, welche am 24.07.1968 beim Festival d’Avignon uraufgeführt wurde. Paradise Now entwickelt die Utopie des Paradieses in zehn Stufen und fordert die Zuschauer immer wieder auf, aktiv am Geschehen teilzunehmen. Das Living Theatre wurde 1947 von dem Maler Julian Beck und seiner späteren Frau, der Piscator-Schülerin Judith Malina, in New York gegründet. Beck und Malina wollten ein Theater im Sinne Antonin Artauds schaffen, ein Theater, das nicht um seiner selbst und der Kunst willen geschaffen wurde, sondern ein Theater, dass den Zuschauer zu direkten Reaktionen provozierte. Durch die Unbequemheiten, die der Zuschauer während der Aufführung erfuhr, sollte er zusätzlich zu seiner intellektuellen Erkenntnis physisch etwas spüren: Wenn man es mit dem Körper fühlt, erst dann glaubt man es. Unser Verstand ist von einem Panzer von Alibis umgeben, der uns jedes Argument aufnehmen und gleich zurückweisen läßt. Es ist die These von Artaud, daß wir gegen alles gewappnet sein mögen, daß aber niemand gegen Schmerzen gewappnet ist. Dies ist eine Stelle, wo wir verletzbar sind, die Achillesferse der Seele. Wenn der Künstler selbst leidet, dann leidet das Publikum körperlich mit ihm. […] Wenn das Publikum hierdurch in die Lage versetzt wird, körperlich mit uns zu fühlen, dann ist es gelungen, das Publikum in einer Gegend zu treffen, zu verletzen, die sonst durch den Verstand geschützt ist.111
Wenngleich Malina einen direkten Bezug ihrer Arbeit zu den Ideen Artauds herstellt, zweifelt die Literaturwissenschaftlerin Marianne
110 FLINN, Denny Martin 2006: Little Musicals for Little Theatres: A Reference Guide to the Musicals That Don’t Need Chandeliers or Helicopters to Succeed. Pompton Plains N.J.: Limelight Editions, S. 198. 111 O.V. 1967: Die Achillesferse der Seele. In: Die Zeit Nr. 15.
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Kesting die Umsetzung des ›Theaters der Grausamkeit‹ im Werk des Living Theatre an. Kesting bemerkt, dass das Living Theatre sich einige Sätze aus Artauds Schriften zueigen gemacht habe, dass sein Theaterentwurf jedoch ein anderer sei. Anders als Artaud es wollte, sind die Produktionen des Living Theatre sowohl naturalistisch als auch politisch. Durch diesen Naturalismus soll die Trennung zwischen Kunst und Lebenswirklichkeit überwunden werden. Nach Kestings Ansicht ist dies indes auch als Vorwand anzusehen für den Dilettantismus der nicht professionell ausgebildeten Schauspieler112 des Living Theatres: Ich hege den Verdacht, die Verwechslung von Kunstebene und Realitätsebene solle legitimieren, daß nicht mehr durchformuliert wird, sie diene dem Dilettantismus. Paradoxer-, aber auch bezeichnenderweise terrorisiert das Living Theatre sein Publikum, indem es vorgibt, gesellschaftlichen und politischen Terror zu bekämpfen. Es exerziert viehische Grausamkeit unter dem Vorwand, Grausamkeit anzuklagen.113
Zunächst in einer Privatwohnung, dann im ersten eigenen Theater spielte das Living Theatre unter anderem Stücke von Gertrude Stein, Bertold Brecht, Federico Garcia Lorca und Alfred Jarry. Einen ersten Erfolg erreichen Beck und Malina 1959 mit The Connection, einem Stück über Drogensucht. Im dokumentarischen Stil wurde hier das Publikum direkt angesprochen, es gab keinen Vorhang und die Handlung passierte in realer Zeit. Die Zuschauer fühlten sich hierdurch
112 Beck und Malina hegten Vorbehalte gegenüber professionellen Schauspielern, da sie deren bewusste Artikulation und in ihren Augen manieristische Spielweise nicht passend für ihr politisches Theater hielten: »I think elocution and the throaty way even our best actors often speak is related to some kind of respect for money. [...] I want actors to stop posing. I am talking to Method actors, too, to stop trying to create effects and to break through into the representation of honest life.« (BECK, Julian 1965: Thoughts on Theatre from Jail in The New York Times vom 21.02., zitiert nach BINER, Pierre 1972: The living theatre. New York: Horizon, S. 99). 113 KESTING, Marianne 1967: Das Theater der Grausamkeit: Das Living Theatre und sein Bekenntnis zu Artaud. In: Die Zeit Nr. 15.
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teilweise überfordert, und auch bei den amerikanischen Kritikern fiel das Stück durch.114 Größere Aufmerksamkeit und einen Skandal erzeugte das Living Theatre 1963 durch die Inszenierung von Kenneth H. Browns The Brig, einen Stück, das schonungslos die Zustände in einem MarineLager thematisierte. Parallel zu den Arbeiten an dieser Inszenierung organisierten Malina und Beck den Weltgeneralstreik für den Frieden. Malina und Beck verstanden sich als Anarchisten, welche nach Freiheit strebten: »We were willing to experiment with anything that would set the mind free. We were practicing anarchists, and we were talking about freedom in whatever zones it could be acquired. If drug trips were a way of unbinding the mind, we were eager to experiment.«115 Neben ihrer politischen Theaterarbeit engagierten sich die Mitglieder des Living Theatre auch privat politisch und wurden mehrfach während politischer Proteste, Sit-Ins und Friedensmärschen verhaftet.116 1964 wurden die Theaterräume wegen Steuerschulden von der Finanzbehörde versiegelt und Malina und Beck wegen Steuerhinterziehung und Widerstand gegen die Staatsgewalt zu Gefängnisstrafen verurteilt. Das Living Theatre ging daraufhin ins Exil nach Europa, wo das Ensemble in verschiedenen Städten und Ländern als Wanderkommune lebte und arbeitete. Seit Januar 1968 arbeitete das Living Theatre in Sizilien an seinem kollektiven Projekt Paradise Now, welches auf der Frage basierte, wie das Paradies wohl aussähe. Auf der Grundlage der gemeinsamen Diskussionsergebnisse117 wurde eine Art »Landkarte«118 erstellt, welche die Struktur des Stückes darstellte. Die Zuschauer sollen durch die Rezeption von Paradise Now begreifen, dass eine Transformation ihrer selbst notwendig und dringend ist, dass sie sich von einem Stadium der Unvollkommenheit zu einem weniger mangelhaften Stadium wandeln
114 Miller 2003, S. 49. 115 Julian Beck, zitiert nach Miller 2003, S. 49. 116 Ebd. 117 THE LIVING THEATRE 1969: »Paradise Now«: Notes. In: The Drama Review, 13. Jahrgang, Nr. 3 (Spring), S. 90-107. 118 LIVING THEATRE; MALINA, Judith; BECK, Julian 1971: Paradise now collective creation of the Living Theatre. New York: Random House, S. 2f.
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können. Durch die Veränderung der Welt können die Menschen das Paradies erschaffen, dieses ist der Zustand einer lebenswerteren, bewohnbareren Welt. Die Revolution, welche das oberste Ziel des Living Theatre ist, kann nur dann erreicht werden, wenn das Publikum nicht nur passiv rezipiert, sondern aktiv in Paradise Now mitwirkt.119 Bereits 1964, vier Jahre vor der Uraufführung von Paradise Now sprach Judith Malina von ihrer Vision, Zuschauer und Akteure im Theater in eine intime Beziehung zu bringen, die die Grenzen der konventionellen Theater-Situation überschreitet: The theatre we come from considered the audience a collective. Now we are getting to a theatre where the audience is treated as individualized, as in a sex relationship. A sex relationship must free us from convention. This nakedness and trust in bed is what the actor must come to when we break through and personalize the audience.120
Hier wird bereits ausgesprochen, was die gemeinsame Nacktheit von Akteuren und Zuschauern in Paradise Now bewirken soll. Wie in einer sexuellen Beziehung fällt in beiderseitigem Einvernehmen die letzte Barriere, der Zuschauer sitzt nicht mehr isoliert im Parkett jenseits der vierten Wand, sondern er befindet sich in direkter Interaktion mit den Darstellern. Diese Erwartung erfüllt sich indes nur, wenn die Zuschauer bereit sind, sich auf diese Erfahrung einzulassen. Während das Vorbild Artaud den passiven Zuschauer erreichen wollte, ist das Living Theatre auf einen Rezipienten angewiesen, der sich im Vergleich zum traditionellen Theatererlebnis doppelt überwindet: Er muss sich trauen, seine passive Rolle aufzugeben, zum Mitakteur zu werden und sich somit zu exponieren, und er muss überdies seinen nackten Körper zeigen. All dies geschieht nicht in einem vorbereiteten Rahmen, der dem Rezipienten/Laien-Akteur Sicherheit bietet, sondern spontan. Malina zieht die Parallele dieser Aktion zum Geschlechtsverkehr, dessen Intimität und Vertrauen sie während der Performance herstellen möchte. Das Eintreten einer derart intimen Situation während einer Theateraufführung vor hunderten von Zuschauern ist sehr unwahrscheinlich und lässt die Frage aufkommen, ob die Teilnehmer
119 Biner 1972, S. 170f. 120 Judith Malina in einem Interview mit der Paris Gazette vom 18.10.1964, zitiert nach Biner 1972, S. 95.
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aus dem Publikum überhaupt zu der gewünschten Erfahrung kommen oder ob sie von der Komplexität der Situation – Exposition vor anderen Rezipienten und Nacktheit – überfordert werden. Anders als das Orgien-Mysterien-Theater Hermanns Nitschs (siehe Kapitel 6.4.2) bietet das Living Theatre mit seinen improvisierten Performances keinen streng-choreografierten Rahmen, der dem Teilnehmer aus dem Publikum Sicherheit bieten kann. Paradise Now ist stark von tantrischem und kabbalistischem Gedankengut geprägt, Körper und Seele sollen in Einklang gebracht werden, um Harmonie und Freude zu erzeugen, welche für die Verbesserung der Welt notwendig sind. In Anlehnung an die Lehre Martin Bubers beinhaltet Paradise Now zehn Stufen, welche zum Paradies führen: The play is a voyage from the many to the one and from the one to the many. It’s a spiritual voyage and a political voyage. […]It is a voyage for the actors and the spectators. […] The voyage is a vertical ascent toward Permanent Revolution. The Revolution of which the play speaks is the Beautiful, NonViolent, Anarchist Revolution.121
Jede Stufe beinhaltet zu Beginn einen Ritus, welcher Akteure und Zuschauer auf das Geschehen vorbereiten soll. Dem Ritus folgt eine Vision, welche aus dem Ritus resultierende Traumbilder enthält. Abgeschlossen wird jede Stufe durch eine Aktion, welche durch einen Text eingeleitet wird, der die Grundlage für die gemeinsame Improvisation von Akteuren und Zuschauern bietet. Wenngleich der Zuschauer bereits bei den Riten und Visionen partizipieren darf, wird er bei der anschließenden Aktion explizit dazu aufgefordert.122 Das Element der Zuschauer-Partizipation wurde schon in der Produktion Mysteries and Smaller Pieces praktiziert, welche 1965 auf EuropaTournee ging. Dieses Stück beinhaltet eine Pest-Szene, in der Zuschauer auf die Bühne kommen, um mit den Akteuren zu ›sterben‹. In Brüssel kamen 50 Zuschauer auf die Bühne, in Wien wurde das
121 Living Theatre; Malina; Beck 1971, S. 5. 122 Der Rezensent Fritz Rumler spricht von im Publikum umherstreifenden Schauspielern, welche die Zuschauer »mittels leichter Schläge auf die Köpfe« zum Mitmachen animieren. (RUMLER, Fritz 1970: Schöne, gewaltlose, anarchistische Revolution. In: Der Spiegel, Nr. 3, S. 133-134).
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Stück von der Feuerpolizei verboten, weil Schauspielschüler unerlaubterweise die Bühne stürmten, um an dem Stück teilzunehmen. In Triest weigerten sich die partizipierenden Zuschauer, die Bühne zu verlassen, und wurden mit den Darstellern von der Polizei festgenommen.123 Der außerordentliche Fokus auf die Zuschauerpartizipation veranlasste die Oakland Tribune in ihrer Kritik über die Aufführung im kalifornischen Berkeley zu konstatieren, dass Paradise Now kein genuines Theater sei, sondern eine Konfrontation und ein stilisiertes Gefecht.124 Der Rezensent nahm die Atmosphäre während der Aufführung so war, wie Malina und Beck es im Sinne Artauds intendierten: Der Zuschauer soll sich nicht in seinem Sitz zurücklehnen und passiv rezipieren, sondern selbst involviert werden und durch persönliches Unbehagen (»Konfrontation«) Erkenntnisse erlangen. Wenngleich die Darsteller in Paradise Now in vielen Teilen des Stückes nahezu unbekleidet – alle Darsteller tragen einen knappen Lendenschurz und die Frauen zusätzlich eine Art Bikini-Oberteil – auftreten, spielt die Nacktheit in zwei Teilen eine herausragende Rolle. Ganz zu Beginn des Stückes, im »Ritus des Guerilla-Theaters«, mischen sich die Darsteller unter das Publikum und deklamieren fünf zentrale Sätze, in denen sie die repressive und kapitalistische Gesellschaft anklagen: 1.
I am not allowed to travel without a passport
2.
I don’t know how to stop the wars
3.
You can’t live if you don’t have money
4.
I am not allowed to smoke marijuana
5.
I am not allowed to take my clothes off.125
Bis auf die zweite ist allen Aussagen gemein, dass sie sich auf Gesetze beziehen, die Vereinbarungen der zivilisierten Welt betreffen, die das Zusammenleben erleichtern und regeln sollen. Den ersten vier Statements folgte keine Aktion, sondern lediglich ein Schrei, womit die Frustration in einer ganz und gar nicht paradiesischen Welt ausgedrückt werden sollte. Das Leiden und die Verzweiflung des Schau-
123 TYTELL, John 1997: The living Theatre: Art, Exile and Outrage. London: Methuen, S. 199ff. 124 O.V. 1969a: The Living Theatre. In: The Oakland Tribune vom 22.02. 125 Living Theatre, Malina, Beck 1971 S. 17.
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spielers artikulierten sich in diesem »Flashout«. Nach der letzten Phrase hingegen, »I am not allowed to take my clothes off«, beginnt sich der verärgerte Akteur so weit auszuziehen, wie es das Gesetz erlaubt.126 Die Schauspieler beginnen mittels ihrer Körper ihre Verzweiflung auszudrücken: Dann beginnen die nackten Oberkörper zu rotieren, die Bewegungen beschleunigen sich, treiben die Spieler aufeinander zu, jetzt stehen sie aufrecht, formen einen zuckenden Leib aus vielen Leibern, der stampft, tobt und fällt dann zu einem Knäuel von Körpern wieder zusammen.127
Auch diese Aktion führte zu Reaktionen seitens der Zuschauer, unter anderen auch zu der Entkleidung Richard Schechners, des Gründers der Performance Group. Der Kritiker Richard Gilman indes wertete diese Aktion Schechners als Teil einer Revolution, welche ins Nichts führte und als Ausdruck Schechners Selbstverliebtheit.128 Auch Clive Barnes, Kritiker der New York Times, quittierte Schechners Teilnahme mit Unverständnis: Up stood Fellow Critic Richard Schechner, editor of the Drama Review, champion of audience participation. As Barnes tells it: »Mr. Schechner – to the everlasting glory of his profession – stripped completely, an action I had never previously observed from any of my other colleagues, although Mr. Schechner was, in fairness, wearing a mustache.«129
126 Biner 1972, S. 182. Bei aller Radikalität des Living Theatre ist es äußerst bemerkenswert, dass hier die Gesetze peinlich eingehalten werden, während Produktionen wie Hair und Oh! Calcutta!, die etwa zur selben Zeit aufgeführt wurden, hiermit keine Probleme hatten. Beck und Malina äußern sich nicht dezidiert zum Thema Nacktheit, für sie ist diese ein Ausdruck der Freiheit des Menschen, welche ihm vom Gesetzgeber und der Gesellschaft ebenso verwehrt wird wie der Konsum von Marihuana. 127 O.V. 1968b: Zum Beispiel die Schweiz. In: Die Zeit Nr. 32. 128 Tytell 1997, S. 244. 129 O.V. 1968f: People: Oct. 25, 1968. In: Time vom 25.10. Siehe auch SCHECHNER, Richard 1969: Containment is the Enemy: Judith Malina and Julian Beck interviewed by Richard Schechner. In: The Drama Review, 13. Jahrgang, Nr. 3, Sping, S. 24-44, S. 29.
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Schechners Partizipation verwundert nicht, da dieser kein unbeteiligter Rezipient, sondern als Kritiker professionell mit dem Theater verbunden und überdies mit dem Prinzip der Performance bestens vertraut war. Schechner musste sich wohl weniger als andere Zuschauer überwinden, um ein Teil der Performance zu werden und sich auszuziehen. Die Reaktion seiner Kollegen, welche ihm Selbstverliebtheit vorwerfen statt den Wunsch nach Selbst-Erfahrung in seiner Teilnahme zu erkennen, zeigt die Problematik des Konzeptes von Paradise Now. Im Kontext des Living Theatre ist dem letzten Satz »I am not allowed to take my clothes off« eine besondere Bedeutung zuzumessen, da hier dem menschlichen Körper eine besondere Funktion zukommt: Er wird als etwas Wunderbares angesehen und wird vom Living Theatre sogar noch dem Geist vorgezogen.130 Das Ensemble glaubte, dass die gesellschaftlich herbeigeführte Scham hinsichtlich des eigenen Körpers zu einer Entfremdung von Körper und Seele führte. Analog zur Kernthese der sexuellen Revolution glaubte man, dass es zu einer natürlicheren, harmonischeren Gesellschaft führen würde, wenn man diese Schamschranken überwinden würde, somit kommt dem nackten Körper als einem der fünf genannten gesellschaftlichen Tabus eine besondere Bedeutung zu.131 Auch vor dem Hintergrund der christlichen Mythologie erhält der nackte Körper eine besondere Bedeutung, da dieser im Kontext des Sündenfalls untrennbar mit der Vertreibung aus dem Paradies verbunden ist. Paradise Now, mit dem Malina und Beck zeigen wollten, dass das gegenwärtige Leben eben nicht paradiesisch ist, präsentiert das Tabu der Entkleidung, um auf diesen Umstand aufmerksam zu machen. In Hinblick auf die Nacktheit innerhalb von Paradise Now ist auch die vierte Stufe »Der Ritus des universellen Verkehrs« von Bedeutung. Hier liegen die Darsteller gemeinsam auf dem Bühnenboden und umarmen und liebkosen sich gegenseitig, wobei sie ihre sogenannte »Berührungsgrenzen« überschreiten: Each performer reaches out to the performers who are around him. He touches, caresses, moves toward any or all of the other actors. There is no choosing or
130 Biner 1972, S. 184. 131 SHANK, Theodore 1982: American alternative theatre. London: Macmillan, S. 21.
244 | THEATER DER N ACKTHEIT discrimination. All the bodies are beautiful. They reach out toward one another. The actors make a low humming sound. If a member of the public joins this group, he is welcomed into the Rite. If two actors should feel closely drawn toward each other, they separate themselves from the group and seat themselves alongside it in the position which in India is named Maithuna. It consists of a male and a female position, though in The Rite of Universal Intercourse a person of either sex may assume either position. The person in the male position sits cross-legged on the floor. The person in the female position sits facing him, resting on his thighs, legs coiled around his hips, arms resting on his shoulders, the organs of sex in contact. It is a form of deep physical absorption and communication. After a while the couples return to the group. Anyone may return to the Maithuna position again if he wants to. And with anyone with whom he or she wishes. The Rite lasts fifteen minutes.132
Diese tantrische Vereinigung soll durch physisches Wohlbefinden auch spirituelles Verständnis für den Anderen hervorrufen. John Tytell sieht in der Vereinigungsszene in Paradise Now auch eine Reminiszenz an Friedrich Nietzsches Vorstellung der Geburt der Tragödie, in welcher dieser den Ursprung des Dramas in den Orgien der prädorischen Griechen sieht: »This part of the play suggests the volatile energies that had given birth to theatre in the first place.«133
132 Living Theatre; Malina; Beck 1971, S. 74. Biner fügt in seiner Beschreibung dieses Ritus hinzu: »Owing to legal strictures, they do not perform the act of love, but embrace tightly.« (Biner 1972, S. 196). John Tytell widerspricht dieser Beobachtung Biners: »While most of the sex during the ›body-pile‹ in the ›Rite of Universal Intercourse‹ involved the rubbing of genitalia, some of the actors had engaged in open sex with spectators. Jenny Hecht, for example, believed she had to be as generous and open as possible in order to convince anyone of her revolutionary stance, and consequently, she would give of herself as often as she was asked.« (Tytell 1997, S. 259). Die spontane sexuelle Beziehung zwischen Schauspieler und Zuschauer während der Vorstellung stellt die maximale leibhaftige Involvierung des Zuschauers in das Geschehen dar, es bliebt jedoch fraglich, ob die Beteiligten ihr Handeln noch als theatralen Akt verstehen oder losgelöst hiervon im Affekt handeln, was der ursprünglichen Intention der Bewusstmachung der Notwendigkeit der Revolution zuwider läuft. 133 Tytell 1997, S. 228.
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Die dem Ritus folgende Vision behandelt das Konzept der ›Apokatastasis‹ (Wiederherstellung, Neuordnung) und zeigt die Darsteller in Paaren, wobei einer die Rolle des Opfers und der andere die Rolle des Scharfrichters übernimmt. Letzterer formt mit seinen Fingern eine stilisierte Schusswaffe, welche er auf das Opfer richtet. Die Scharfrichter imitieren das Feuergeräusch und ›erschießen‹ das Opfer, welches zu Boden fällt. Dieser Vorgang wird zwanzigmal wiederholt. Die Opfer richten Worte aus dem zweiten Ritus, dem »Ritus des Gebetes« an die Scharfrichter, welche mit den Phrasen aus dem ersten Ritus antworten: »I am not allowed to take my clothes off, you can’t live if you don’t have money, I am not allowed to smoke marijuana, I don’t know how to stop the wars, I am not allowed to travel without a passport.« Schließlich wandelt sich die Gewalt der Scharfrichter in Liebe, und auch sie sprechen die Worte aus dem Gebetsritus. Die Vision endet mit einer Umarmung der Opfer und der Scharfrichter. Beck und Malina wollen in dieser Vision zeigen, dass eine Umkehr des Hasses möglich ist und dies ohne Gewalt, dass eine friedliche Revolution denkbar ist.134 Die folgende Aktion soll zeigen, wie der Ritus des universellen Verkehrs und die Vision der Apokatastasis zum Exorzismus der Gewalt sowie zu der sexuellen Revolution führen soll. Der reale Konflikt, der hier durch das Spiel auf der Bühne gelöst werden soll, ist der Konflikt zwischen Juden und Arabern: Free theatre. With body and voice, inhibition and exhibition, we tell each other where we are at. Free sexual theatre. Free action. Break the touch barrier. Be the Israeli women with guns. Be the repressed Arab women. Be the Arab and Jewish fanatics. Find a way to reverse history. Who are the victims? Who are the executioners? What do you choose? Fuck the Jews.
134 Living Theatre; Malina; Beck 1971, S. 75ff.
246 | THEATER DER N ACKTHEIT Fuck the Arabs. Fuck means peace. Fuck means peace.135
Die gewaltsame Barriere zwischen Männern und Frauen, Juden und Arabern soll durch die körperliche Vereinigung überwunden werden. Diese Vereinigung wird nun auch von den Zuschauern ausgeführt, welche in der Aktionsphase des Ritus erneut zur Partizipation ermutigt werden. Auch die Überwindung der Trennung zwischen Zuschauern und Akteuren soll die Versöhnung von Juden und Arabern und anderen konfliktbehafteten politischen Konstellationen symbolisieren. Die Trennung im Theaterraum wird hier gründlicher denn je aufgehoben, da die Zuschauer nicht lediglich auf der Bühne mit den Schauspielern agieren, sondern in engen und überdies nahezu maximal intimen Körperkontakt mit den ihnen fremden Akteuren treten. In dieser Aktion wird die Nacktheit – hier als Voraussetzung für den geschlechtlichen Kontakt – politisiert. In der Paradies-Utopie des Living Theatre schafft es die tantrische Vereinigung, Körper und Geist zu vereinen und darüber hinaus einen der größten Konflikte der Menschheit zu lösen. Das Living Theatre kommt in dieser Stufe zu einer der Grundannahmen der Vertreter der sexuellen Revolution:136 Die Tabuisierung der Sexualität führe zu Gewalt und um diese zu überwinden, müssten die sexuellen Tabus aufgehoben werden. Aus diesem Grund hat die sexuelle Revolution sogar noch einen höheren Stellenwert als die von Malina und Beck angestrebte »Beautiful Non-Violent Anarchist Revolution«: Um eine gewaltlose Revolution durchführen zu können, muss die sexuelle Revolution abgeschlossen sein.137 Wenngleich diese Überlegungen vor dem Hintergrund der sexuellen Revolution plausibel wirken, erscheint die Utopie von Paradise Now kaum durchführbar: Der hier intendierte spontane geschlechtliche Kontakt zwischen Akteuren und Zuschauern verlangt dem Publikum noch mehr Überwindung ab als die Nacktheit früher im Stück. Überdies kann diese Szene auch als problematisch für die Darsteller gesehen werden, da das
135 Living Theatre; Malina; Beck 1971, S. 78f. 136 »The works of Wilhelm Reich and Norman O. Brown on the subject are avidly read by the company.« (Biner 1972, S. 196.) 137 Living Theatre; Malina; Beck 1971, S. 80.
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Spielen intimer, körperlicher Szenen in der Regel durch das Vertrauensverhältnis innerhalb des Ensembles erleichtert wird, hier jedoch werden die Darsteller plötzlich mit fremden Personen und ihrem unvorhersehbaren, weil nicht professionellem, Verhalten konfrontiert. Paradise Now endet mit der Aktion des achten Ritus: »Die Straße«. Schauspieler und Zuschauer verlassen das Theater und ziehen auf die Straße. Bei der Uraufführung in Avignon dauerte die Prozession durch die Straßen der Stadt bis zwei Uhr morgens: In the street, spectators surrounded the actors in a compact circle of about two hundred people. An intense bond of communication united them, despite the fact that most of them did not know each other. A humming sound rose spontaneously from the crowd, and as if propelled by an invincible force, it split into ranks and with linked arms marched the length of two long streets before breaking up in front of the Cloister. Some of these spectators decided to embark on the quest for the Paradise, which is earthly, yet without limits. For the true Revolution is permanent and the only boundary of the voyage they would undertake is their physical departure from this earth.138
Diese Prozession durch die Straßen führte nach der Uraufführung am 24.07.1968 zum Eklat zwischen der Stadt Avignon und dem Living Theatre, welches seit Mai in einer alten Schule Quartier bezogen und für das Stück geprobt hatte. Nach der Premiere, die den Spielraum auf die Straßen der Stadt ausdehnte, wurde das Living Theatre von dem Bürgermeister Avignons aus der Stadt getrieben. Julian Beck weigerte sich, dem städtischen Verbot, die Handlung auf die ganze Stadt auszudehnen Folge zu leisten und forderte stattdessen, auf einem öffentlichen Platz umsonst spielen zu können. Der Stadtrat sah dies als Vertragsbruch an und forderte den Ersatz von Paradise Now durch die Repertoirestücke des Living Theatre Mysteries und Smaller Pieces und Antigone. Als Beck sich weiterhin weigerte, musste das Living Theatre sein Quartier verlassen.139 Auch in anderen Städten sorgte das Living Theatre mit Paradise Now für Aufruhr, im November 1968 war eine Aufführung vor 300 Zuschauern im Bennington College in Vermont geplant. Unter den
138 Biner 1972, S. 213. 139 O.V. 1968a: Der lange Marsch ins Paradies. Oder: Was kann das Theater ändern? Die 22. Festspiele von Avignon. In: Die Zeit Nr. 32.
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Zuschauern befanden sich auch Mitglieder einer ortsansässigen Hippie-Kommune, welche die Studenten zum Entsetzen der konservativen Fakultätsmitglieder zum Entkleiden und Partizipieren animierten. Aufführungen von Paradise Now wurden oftmals von Revolutionären als Anlass genommen, sich im Rahmen des Stücks auszudrücken.140 Während die Zuschauer die Nacktheit in dem Stück als Ausdrucksmöglichkeit schätzen, wurde sie von den Kritikern als naive Exposition hässlicher Körper gesehen: The critics were terribly offended by physical nudity as well as by a naked declaration of purpose that they deemed naive. They had decided the bodies were ugly, disregarding Judith’s view that the human form was inherently beautiful and anyone could be a sublime artist.141
In der Tat erscheint das Konzept der »tantrischen Vereinigung für den Weltfrieden« als recht naiv. Dieser Eindruck wird verstärkt durch das entsublimierte unprofessionell-chaotische Agieren der Zuschauer. Im November 1969 trat das Living Theatre mit Paradise Now in Neapel auf. Ein Darsteller entkleidete sich vollständig, was den Unmut der im Saal anwesenden Zivilpolizisten erregte, sie versuchten ihn zu verhaften, doch er entkam. Trotz Warnungen der Polizei kam das Living Theatre einige Tage später der Einladung römischer Studenten nach, in der dortigen Universität zu spielen. Tausend bewaffnete Polizisten stürmten die Bühne, verhafteten das gesamte Ensemble und eskortierten dieses zur italienischen Grenze.142 Paradise Now will die Grenzen zwischen Theater und Realität durch sein Spiel aufheben, was ihm allerdings nur teilweise gelingt, lediglich im Ritus des universellen Verkehrs gelingt dem Living Theatre die Aufhebung der Grenzen, wie der Rezensent der Zeit befindet.143 Im Vorwort des Living Book beschreibt der Kunsthistoriker Wilhelm Unger die Londoner Aufführung von Paradise Now im Round House:
140 Tytell 1997, S. 248f. 141 Ebd., S. 259. 142 A.a.O., S. 272. 143 O.V. 1968b.
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Im Londoner Hippie Theatre Round House, einem umgebauten Lokschuppen, gerieten Mitglieder des Living so in Ekstase, daß sie die letzten spärlichen Reste ihrer Bekleidung mit Parolen wie »Das widme ich dem System« ins Publikum warfen. Einzelne Akteure schreckten auch vor einer Publikumsbeschimpfung nicht zurück. Als eine Anzahl Zuschauer – wie erwünscht – auf die Bühne gingen und sich Akteure wie Publikum dort »zu einem unentwirrbaren Knäuel fast nackter, einander zärtlich streichelnder Menschen« vereinigten, da sahen die Wächter über Sitte und Ordnung den Augenblick für gekommen, einzuschreiten. Die Zuschauer hatten – so verlangten es die feuerpolizeilichen Vorschriften – auf ihren Sitzplätzen zu bleiben. Das Publikum nahm die Aufforderung der Beamten wörtlich und wußte sich zu helfen. Man holte die Stühle einfach auf die Bühne, nahm dort seinen Sitzplatz ein und fuhr dort mit der »Gemeinschaftsliebe« fort.144
1970 beschlossen Malina und Beck, das Living Theatre in seiner bestehenden Form aufzulösen und gaben im Berliner Sportpalast mit Paradise Now ihre europäische Abschiedsvorstellung. Immer wieder hatten die Akteure die 6000 Zuschauer im Sportpalast aufgefordert, sich am Geschehen zu beteiligen, doch erst zum Schluss kamen etwa ein Dutzend Zuschauer auf das Podium und zogen sich aus, wobei es zu Interaktionen mit dem restlichen Publikum kam: Dem Publikum im brav-winterlichen Ausgehanzug schien die »Ganz-ohne«Show zu gefallen. Mit beifälligem Johlen feierten sie die Amateur-Mimen im Adamskostüm. Als diese, angefeuert durch den Erfolg, mit Dessous, Strümpfen, Jacketts und Hemden nach dem Publikum warfen, entwickelte sich eine wahre Kleiderschlacht. Textilien aller Art wirbelten durch den Sportpalast und dazu ertönten Sprechchöre. Forderungen nach Frieden, Freiheit, Liebe und einem besseren Leben wurden von einem Grüppchen überbrüllt. »Wir wollen keine Freiheit — wir wollen Briketts!«145
144 SILVESTRO, Carlo 1971: The Living Book of the Living Theatre. Köln: DuMont Schauberg, ohne Seitenzahlen. 145 Zeitungsausschnitt ohne Quellenangabe vom 12.01.1969, zitiert nach SIEPMANN, Eckhard (Hrsg.) 1984: Che, Schah, Shit: Die sechziger Jahre zwischen Cocktail und Molotow. 2. Auflage. Berlin (West): Elefanten Press, S. 63.
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Hier zeigt sich die Problematik des Konzepts der partizipierenden Nacktheit: Die teilnehmenden Zuschauer sind sich der besonderen, kritischen und hämischen Aufmerksamkeit des übrigen Publikums ausgesetzt, dieses ist von der eigentlichen Intention der Performance abgelenkt und achtet nur noch auf den Striptease, der sich vor ihren Augen abspielt. Der Rezensent des Spiegels konstatierte, dass die »fiebrigen Totemismen und gymnastischen Hieroglyphen« weniger befriedigend für die zivilen Zuschauer seien als für die fast nackten Darsteller, welche seiner Ansicht nach »wenigstens beim Spielen Orgasmen« erleben würden.146 Wie auch Hair ist Paradise Now sehr in seiner Entstehungszeit verankert, eine authentische Rekonstruktion des Stückes würde bei dem heutigen Publikum wohl einiges Befremden auslösen. Während Hair sich aufgrund seiner gefälligen und eingängigen Rock-Musik in der Gegenwart als Zeitdokument der Hippie-Zeit spielen lässt, ist Paradise Now zu sperrig für heutige Sehgewohnheiten. Eine Parallele zwischen beiden Stücken sieht der Kritiker Francis Davis: »In some ways Hair was nothing more (but also nothing less) than an amplified, optimistic, mainstream version of the Living Theatre’s Paradise Now.«147
6.4 D ER W IENER AKTIONISMUS UND DAS O RGIEN M YSTERIEN T HEATER Eines der umstrittensten Kunst-Phänomene in der Zeit von 1960 bis 1970 war der Wiener Aktionismus.148 Die Protagonisten waren Günter
146 Rumler, 1970. 147 DAVIS, Francis 1996: Victim Kitsch. In: The Atlantic Monthly; September, Nr. 3, S. 98-106. 148 Im Juli 1965 erscheint eine Sondernummer der Zeitschrift Le Marais mit Beträgen von Günter Brus, Otto Muehl, Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzkogler. Dieses Heft stellt die erste gemeinsame Publikation der Aktionisten dar, in welcher sie sich erstmals als ›Wiener Aktionsgruppe‹ bezeichnen. (KLOCKER, Hubert 1989b: Die Dramaturgie des Organischen. In: KLOCKER, Hubert (Hrsg.) 1989a: Der zertrümmerte Spiegel: Wien 1960-1971; Günter Brus, Otto Mühl Hermann Nitsch, Rudolf
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Brus, Otto Muehl, Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzkogler,149 in ihrem Umfeld wirkten unter anderem Peter Weibel, Valie Export, Heinz Cibulka, Herbert Stumpfl und Oswald Wiener. Das gemeinsame Anliegen war die Durchführung von Aktionen, welche die Herstellung von Wirklichkeitserfahrung mittels intensivem sinnlichen körperlichen Erleben durch die Rezipienten zuließen. Das permanente Streben der Aktionisten nach Wirklichkeit weist starke Parallelen zu den Forderungen Antonin Artauds auf. Artauds Feststellung »übrigens spielt man nicht, man handelt«150 lässt sich als Folie für sämtliche der Wirklichkeit verpflichteten Aktionen sehen. Um diese Wirklichkeitserfahrungen zu verstärken, wurden oftmals mit dem Körper und seinen Funktionen verbundene gesellschaftliche Tabus gebrochen, was zu einer Auseinandersetzung mit verdrängten Trieben und Obsessionen im Sinn der Psychoanalyse führen sollte. Die evidente Nähe zur Psychoanalyse, gerade in Hermann Nitschs Orgien Mysterien Theater (im Folgenden abgekürzt o.m.theater) lässt den Bezug der Wiener Aktionisten zur Wiener Moderne zu. Mit den Wiener Expressionisten wie Schiele, Klimt und Kokoschka teilen die
Schwarzkogler; Graphische Sammlung Albertina, Wien, März/April 1989; Museum Ludwig, Köln, Aug./Sept. 1989. Klagenfurt: Ritter, S. 4188, S. 41.) 149 Hermann Nitsch betont, dass die vier genannten Künstler keine homogene Gruppe waren, als welche sie oftmals in der Literatur dargestellt wurden: »Es hat sich um vier Maler gehandelt, die eine ähnliche Situation vorgefunden haben und die bis zu einem gewissen Grad ähnlich auf diese Situation reagiert haben, trotzdem hat es sich um verschiedene Begabungen und Persönlichkeiten gehandelt.« (Hermann Nitsch in ROUSSEL, Danièle 1995: Der Wiener Aktionismus und die Österreicher: Gespräche. Klagenfurt: Ritter, S. 45. Zu Nitschs Negation der homogenen Gruppe siehe auch DENK, Wolfgang 2007: Meine Wege zu Hermann Nitsch. In: NITSCH, Hermann; DENK, Wolfgang; AIGNER, Carl (Hrsg.) 2007: Museum Hermann Nitsch: anläßlich der Eröffnung des Hermann Nitsch Museums im Museumszentrum in Mistelbach. Ostfildern: Hatje Cantz, S. 30.) 150 ARTAUD, Antonin: Brief an Paul Thévenin (Dienstag, 24. Februar 1948). In: ARTAUD, Antonin (Hrsg.) 1980: Schluss mit dem Gottesgericht. Das Theater der Grausamkeit. Letzte Schriften zum Theater. München: Batterien, S. 65.
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Wiener Aktionisten die Affinität für die Themen Tod und Eros, Selbstzerstörung und Wiederauferstehung sowie die Betonung des Sinnlichen und das Streben nach dem Gesamtkunstwerk, wie es sich vor allem bei Schwarzkogler und Nitsch findet.151 Für Nitsch ist das Gesamtkunstwerk die einzig mögliche Kunstform für den nach der Realität strebenden Künstler, da das reale Leben auch alle Ebenen von Sinneseindrücken wie Schmecken, Riechen, Sehen, Hören und Tasten vereint. In ihrem psychologischen Ansatz unterscheidet sich die Aktion vom Happening, welches seine Objekte und die Handlung auf oberflächliche und naturalistische Weise abbildet.152 Im Aktionismus sollte nicht die Abbildung oder Nachahmung von etwas Schönem betrachtet werden, vielmehr sollte der Rezipient durch die Auseinandersetzung mit der Kunst für ihn selbst analytisch verwertbare Erfahrungen machen. Otto Muehl skizziert seine künstlerische Entwicklung während des Aktionismus wie folgt: durch destruktion des tafelbildes kam ich zur gerümpelskulptur. durch gebrauch der nahrungsmittel als material und den menschlichen körper als zu gestaltendes objekt entwickelte sich die gerümpelskulptur zur materialaktion. der gestaltungsprozess ist die in der bilderabfolge sichtbar gewordene auseinandersetzung zwischen material und objekt. […] direkte kunst (direct art): das leben des menschen und nicht nur der körper wird zum mittelpunkt der gestaltung. er wird nicht mit materialien bearbeitet, sondern ist der wirklichkeit ausgesetzt. direkte kunst ist die gestaltung der lebenspraxis des menschen.153
151 KLOCKER, Hubert 1989c: Der zertrümmerte Spiegel. In: KLOCKER, Hubert (Hrsg.) 1989a: Der zertrümmerte Spiegel: Wien 1960-1971; Günter Brus, Otto Mühl Hermann Nitsch, Rudolf Schwarzkogler; Graphische Sammlung Albertina, Wien, März/April 1989; Museum Ludwig, Köln, Aug./Sept. 1989. Klagenfurt: Ritter, S. 89-117, S. 100f. 152 Otto Muehl in Roussel 1995, S. 36. 153 MUEHL, Otto 2004b: Wege aus dem Sumpf. In: MUEHL, Otto; NOEVER, Peter; ALLIEZ, Éric (Hrsg.) 2004: Otto Muehl: Leben, Kunst, Werk: Aktion, Utopie, Malerei 1960 – 2004: anläßlich der Ausstellung »Otto Muehl – Leben, Kunst, Werk – Aktion, Utopie, Malerei 1960 – 2004«, MAK Wien, 3.3.-31.5.2004. Köln: König, S. 24-30, S. 24. Die konse-
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Der Weg der Darstellung des wirklichen Lebens führt direkt über den Körper als Repräsentanten des Lebendigen schlechthin. Der Körper wird hierbei nicht nur abgebildet, sondern in den Mittelpunkt der Aktion gestellt und unmittelbar bearbeitet. Ein weiteres zentrales Thema ist die Negation der Schönheit als singulärer Gegenstand der Kunst, welcher nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges als nicht mehr haltbar angesehen wurde: Es kann doch nicht sein, daß nach einer Periode der Menschenvernichtung […] die Malerei einfach nahtlos weitergeht. Sie muß doch diese Spuren sichtbar machen. […] Es mußte doch was passieren. Es durfte doch in der Malerei nicht mehr nur das Schöne beschworen werden, der Mensch hatte doch einen Defekt bekommen, es mußte das doch in Spuren sichtbar und endlich dieser Graben gezogen werden. Und in Österreich waren damals starke Restaurationsbewegungen, es wurde wieder das Gute, Wahre und Schöne beschworen, und irgendwann haben wir gesagt: Nein, wir nicht.154
Wenngleich alle Aktionisten aus dem Bereich der bildenden Kunst kamen, trugen ihre Aktionen stark theatrale Züge, weswegen sie für die theaterwissenschaftliche Forschung von Relevanz sind. Otto Muehl konstatiert in der Beschreibung einer Materialaktion aus dem Jahr 1964 deren Nähe zum Theater: der menschliche körper, ein gedeckter tisch, auf dem sich das materialgeschehen ereignet, oder ein raum wird zur »bildfläche«, zur dimension des körpers, des raumes, kommt die dimension der zeit: die abfolge der aktionen, ihre geschwindigkeit, die simultanität mehrerer aktionen.155
Trotz dieser Parallelen verzichtet Muehl bewusst auf die Bezeichnung ›Theater‹, weil für ihn dieser Begriff mit der Vorstellung von
quente Kleinschreibung wird als Stilmittel von mehreren Aktionisten benutzt. 154 Adolf Frohner in Roussel 1995, S. 123f. 155 MUEHL Otto 2004a: Materialaktion (Manifeste 1964-1969). In: MUEHL, Otto; NOEVER, Peter; ALLIEZ, Éric (Hrsg.) 2004: Otto Muehl: Leben, Kunst, Werk: Aktion, Utopie, Malerei 1960 – 2004: anläßlich der Ausstellung »Otto Muehl – Leben, Kunst, Werk – Aktion, Utopie, Malerei 1960-2004«, MAK Wien, 3.3.-31.5.2004. Köln: König, S. 54-61, S. 55.
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Symbolen, welche eine Fabel illustrieren sollen, belastet ist. Die Elemente der Aktion hingegen stehen nicht als Symbol für etwas anderes, sondern schlicht für sich selbst. Hermann Nitschs Lebenswerk des o.m.theaters trägt ganz bewusst den Begriff ›Theater‹ in seinem Titel und ist als Weiterentwicklung und Gegenversuch des in seinen Augen überkommenen Sprechtheaters zu verstehen: »Aber das Theater nach 1945 war nicht so lustig, es war postfaschistisch. Die Schauspieler, das verlogene Pathos, das alles ist uns auf die Nerven gegangen.«156 Bis auf Rudolf Schwarzkogler, dessen Aktionen nur fotografisch dokumentiert wurden,157 wandten sich alle Aktionisten direkt an das Publikum und machten ihre Darbietung somit zu einem theatralen Akt. Die Hinwendung der Wiener Aktionisten zur theatralen Form resultiert aus der Prämisse, dass weder die Sprache noch die Stilmittel der klassischen bildenden Kunst mehr in der Lage sind, die gewünschten Inhalte zu transportieren, weswegen die Künstler sich verschiedenen Varianten der Aktion zuwenden. Mittelpunkt dieser Aktionen ist stets der (oftmals entblößte) Körper, der verletzt wird (Brus) oder in Zusammenhang mit Körperflüssigkeiten und Exkrementen gezeigt wird (Muehl, Nitsch). Auch andere österreichische Künstler benutzten das Stilmittel der Nacktheit, der Maler Friedensreich Hundertwasser experimentierte damit und demonstrierte unbekleidet am 12.12.1967 in der Münchner Galerie Hartmann mit einer Darstellung seiner »nackten Sprache« gegen den Rationalismus in der Architektur. 1968 setzte er diese Form der Demonstration fort und hielt in einem Studentenwohnheim nackt eine Rede.158 Hundertwasser vertrat hierbei die Ansicht, dass der nackte Körper die Sprache befreien könne, und befand sich auf einer Linie mit den sprachskeptischen Aktionisten, welche den Körper aufwerten. Der Wiener Aktionismus wandte sich gegen das repressive Klima im Österreich der Nachkriegszeit, im Jahr 1968 kam es im Rahmen der Aktion Kunst und Revolution zu einer Allianz mit protestierenden
156 LACKNER, Erna 2005: Hermann Nitsch: Drei Schweine fürs Burgtheater. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 20.11. 157 WUNDERLICH, Wolfgang 1981: Der Wiener Aktionismus heute und Hermann Nitschs O.M. Theater. In: protokolle, Band 2, S. 3-17, S. 3. 158 EXPORT, Valie; WEIBEL, Peter 1970: Wien. Frankfurt am Main: Kohlkunstverlag, S. 287.
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Studenten in der Universität Wien. Diese von der Boulevard-Presse als ›Uniferkelei‹ bezeichnete Aktion führte zu Gefängnisstrafen für die Aktionisten Günter Brus, Otto Muehl, Peter Weibel und Oswald Wiener. Das Kunst-Phänomen des Wiener Aktionismus existierte bis zum Jahre 1970, die Protagonisten sind jedoch bis auf den 1969 verstorbenen Rudolf Schwarzkogler weiterhin als Künstler tätig. Hermann Nitsch führt sein seit 1957 geplantes o.m.theater bis heute fort. 6.4.1 Die Aktionen in den sechziger Jahren Nicht nur Hermann Nitsch, der Schöpfer des o.m.theaters, auch andere Aktionisten übten Kritik an dem erstarrten und in ihren Augen ausdruckslosen Theater der Nachkriegszeit. Der Künstler Peter Weibel beispielsweise, welcher auch Teilnehmer an der Aktion Kunst und Revolution war, konstatiert 1972 in der Zeitschrift Neues Forum, dass das Theater seit der Mitte des Jahrhunderts offensichtlich seine Funktion verloren habe, sofern es seine Aufgabe sei, als »laboratorium der realität« zu fungieren, wie Arvatov es forderte. Weibel hält das Theater der sechziger Jahre für ebenso überflüssig wie die Dampflokomotive oder den Blinddarm.159 Das traditionelle Repräsentationstheater sieht Weibel als überholt an und lässt nur noch experimentelle theatrale Formen wie »cabaret, happening, fluxus, kinetisches theater, event, raum, zeitkunst, aktionstheater, performance, aktion« gelten. Die Aktion habe das Theater abgelöst wie eine Produktionsform die andere, weder bedauert er diesen Umstand noch begrüßt er ihn, es ist schlicht eine Tatsache. Diese von Weibel registrierte Veränderung jedoch wird nicht von den Rezipienten und Produzenten des angeblich überkommenen Theaters gesehen, da diese das traditionelle Theater nicht verändern wollen.160 Theater hat für Weibel keine gesellschaftsund zeitkritische Relevanz mehr, sondern wird zu einem Relikt vergangener Zeiten, welches man wie ein ethnologisches Museum besucht.161 Im Theater, wie es sich die Aktionisten vorstellen,
159 WEIBEL, Peter 1972: Aktion statt Theater. In: Neues Forum, Mai, S. 4852, S. 48. 160 Ebd. 161 Weibel 1972, S. 49.
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verändert sich auch die Aufgabe des Akteurs.162 Hermann Nitsch definiert das Wesen des aktionistischen Akteurs in einem Essay über sein Körpermodell Heinz Cibulka: cibulka erfüllt in meinen aktionen jene funktion, die ein schauspieler, ein hauptdarsteller im klassichen theater einnimmt, aber er bewältigte die aufgabe unter geänderten umständen. die gegenwartskunst verlangt kein schauspielerndes darstellungstheater mehr, im neuen theater zeigt sich die wirklichkeit selbst, cibulka musste sich nie verstellen als hamlet, faust oder penthesilea, er verkörperte den menschen, der er selber war. er stellte seinen nackten körper zur schau, er konnte sich keiner falschen theatralik hingeben, er musste immer er selber sein und verhielt sich so wie es die jeweilige situation ihm abverlangte. verursachte eine aktion schmerzen, so konnte man es an seinem gesicht ablesen, erregte berührungserwartung spannte seine nerven zum zerreissen, güsse von heissem, schlachtwarmem blut, heissem blutwasser, kaltem wasser und laufeuchten gedärmen trafen seinen nackten körper und versetzten ihn in ekstatische zuckungen.163
Der Aktionist Herbert Stumpfl findet für die Erfahrungen, welche der Akteur unmittelbar mit seinem Körper macht und die Rezipienten mittelbar durch den Akteur, den treffenden Vergleich des Kindes, das sich noch in einem vorsprachlichen Stadium befindet. Der freiwillige Rückschritt in diesen Zustand ist auch als dezivilisatorischer Akt zu verstehen, da eine zivilisierte Gemeinschaft auf die Sprache angewiesen ist, um sich möglichst missverständnisfrei auszudrücken und Konflikte diplomatisch und gewaltlos zu überstehen. Auch Gesetzestexte, die offizielle Basis des zivilisierten Staates, können ohne Sprache nicht existieren. Durch die freiwillige Negation des allgegenwärtigen Ausdrucksmittels Sprache sind die Aktionisten auf den Körper als Ausdrucks-
162 Die Begriffe ›Akteur‹ und ›Modell‹ sind hier den Begriffen ›Schauspieler‹ und vor allem ›Darsteller‹ vorzuziehen, da eben nicht wie im Repräsentationstheater etwas ›dargestellt‹ wird, was der Darsteller selbst nicht ist (Darsteller X spielt die Figur Hamlet) sondern an ihm durch den Künstler etwas durchgeführt wird. Der Begriff ›Modell‹ stammt von Nitsch. (Zitiert nach CIBULKA, Heinz 1977: Mein Körper in den Aktionen von Nitsch und Schwarzkogler. Napoli: Morra, ohne Seitenzahlen). 163 Ebd.
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material angewiesen. Die Fokussierung wird zudem noch verstärkt, wenn der Körper direkt mit den Materialien der Aktion in Berührung kommt, eine Erfahrung, die im Alltag selten bis niemals stattfindet, da der Körper hier bedeckt zu halten ist. Nach Ansicht Stumpfls diente die Körperlichkeit des Aktionismus der Reintegration der Gefühle in den Körper, da Körper und Verstand in der modernen Welt sehr voneinander getrennt seien. Der Körper wird im Alltag nur noch als Ort des Schmerzes wahrgenommen, nicht aber als integraler Bestandteil der menschlichen Existenz. Gegen diese Regression der Körperwahrnehmung wandte sich der Aktionismus.164 Otto Muehl trennt den Körper ganz bewusst vom Gesamtkonstrukt des ›Menschen‹:
164 Herbert Stumpfl in Roussel 1995, S. 152. Stumpfl berichtet von einer Aktion Otto Muehls in Köln, bei der er als Akteur dabei war und im Kopfstand auf eine unter ihm liegende Frau defäkierte. Für Stumpfl war dies das befreiende Erleben der Regression in kleinkindliche Verhaltensmuster und die Überwindung der Sauberkeitserziehung: »Das symbolisierte für mich eine absolute Freiheit, ich hatte das Gefühl, nichts mehr verbergen zu müssen: Man war nun das Ferkel und konnte sich bewegen, wie man wollte, ohne Rücksicht zu nehmen. Der Akteur hat ja von vornherein eine Überlegenheit gegenüber dem Zuschauer, weil der Zuschauer ja der saubere Mann ist. Er hat einen Anzug an, beobachtet und ist in die Rolle des Voyeurs gedrängt. Er hat gegenüber dem, der agiert, einen Nachteil. Ich denke, daß solche Dinge, wie sie im Aktionismus gemacht wurden, jeder, der in unserer Kultur aufgewachsen ist in bestimmter Variationsbreite und mit bestimmten Verdichtungen in sich hat.« (A.a.O., S. 154). Muehl legitimiert den Einsatz von Exkrementen in seinen Aktionen psychoanalytisch: »im krieg erlebte ich intensiv das massaker der ardennenschlacht. diesmal war es nicht nur aufgerissene erde, sondern aufgerissenes fleisch: die entsetzlichen verwundungen der gefallenen, später lernte ich die psychoanalyse freuds kennen, freud führt die kunst auf die verwendeten materialien zurück. er bezeichnete das kindliche spiel mit seinen exkrementen als beginn der kunst. ich füge hinzu – es ist nicht nur der beginn der kunst, es ist gleichzeitig die erste aktionistische geste, genauer gesagt, die aktion mit exkrementen ist der beginn der kunst.« (Muehl 2004b, S. 25.)
258 | THEATER DER N ACKTHEIT Jetzt ist es selbstverständlich, daß der Mensch in der Materialaktion nicht als Mensch, sondern als Körper behandelt wird, wenn auch als Körper, der das meiste Interesse auf sich zieht ... Der Mensch tritt nicht als Mensch, als Person, als Geschlechtswesen auf, sondern als Körper mit bestimmten Eigenschaften. Er wird in der Materialaktion wie ein Ei aufgeschlagen und zeigt den Dotter. Die Materialaktion ist eine Methode die Wirklichkeit zu erweitern, Wirklichkeiten zu erzeugen und die Dimension des Erlebens auszudehnen.165
Die Konzentration auf das Physische macht den Rezipienten empfänglich für verloren geglaubte Sinneseindrücke, welche der rational gesteuerte Mensch im Alltag übersieht oder ausblendet. Statt des durch die Sprache an das Publikum vermittelnden Darstellers bedient sich der Aktionismus eines Modells, welches durch den Körper und dessen Empfindungen und Reaktionen vermittelt. Das theatrale Ausdrucksspektrum wird radikal beschnitten und auf den Körper beschränkt. Dieser gehört überdies noch nicht einmal zu den herkömmlichen Qualitäten eines Schauspielers wie Stimme, Mimik, Gestik und Bewegung. Aus diesem Grund kann die Aktion auch mit vollkommen unausgebildeten Akteuren auskommen. Als nicht aktiv gestaltendes, sondern durch den Künstler gestaltetes Element166 der Aktion wird der Körper zum Trägermaterial wie in der Malerei die Leinwand. In dieser Funktion bekommt die Nacktheit eine entscheidende Bedeutung: »... der nackte körper ist mit den wichtigsten und meisten tabus verbunden, noch nie hat sich ernstzunehmendes theater sosehr mit dem abbau von tabuiertem beschäftigt.«167 Der Tabubruch durch den Einsatz des nackten Körpers wird noch gesteigert durch die Fokussierung auf die Geschlechtsorgane:
165 MUEHL, Otto 1986: Ausgewählte Arbeiten 1963-1986: Katalog des Archivs des Wiener Aktionismus. Zurndorf, zitiert nach Klocker 1989b, S. 52. 166 Passivität
und
Vertrauen
in
den
Künstler
sind
die
einzigen
Anforderungen an das Modell: »vor allem wurde von ihm die grosse [sic!] ruhe, die hingabe, die passivität, das so-sein verlangt, er leistete das vollkommene aufgehen in einem geschehen, welches aber nur als freier entscheid möglich ist. es war seine freie entscheidung, seine willensleistung, sich und seinen schönen körper einer idee, einem spiel zu unterwerfen.« (Cibulka 1977). 167 Otto Muehl, zitiert nach Weibel 1972, S. 50.
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ich habe mit allen teilen des menschlichen körpers experimentiert, seit einem jahr befasse ich mich hauptsächlich mit den geschlechtsorganen. das hat seinen guten grund. ich habe bemerkt, daß die staatsanwälte darauf irrsinnig geil sind, mehr als auf mord und totschlag, weil letzteres ja schließlich normal und alltäglich ist. der fall ist klar: ich bin für die unzucht, für die entmythologisierung der sexualität, geschlechtsverkehr nicht als staatserhaltendes Sakrament, sondern reine körperfunktion. [...] freiheit über alle gliedmaßen des menschlichen und tierischen körpers. ab sofort wird dem publikum nichts mehr vorgemacht, alles was es gibt, wird direct dargestellt. [...] DAS SEELENLEBEN WIRD BIS AUF DIE KÖRPERLICHEN VERRICHTUNGEN REDUZIERT.168
Die von Muehl 1969 proklamierte Reduktion auf die körperlichen Verrichtungen zeigt den Anspruch der maximalen Körperlichkeit und die totale Abkehr vom Geistigen: Die Künstler zeigen nunmehr reflexhafte Verrichtungen des Körpers, welche allenfalls ein Nachdenken über das Ob und Wo, nicht mehr aber über das Wie und Warum erfordern. Mit dem Entschluss, die Frage nach dem Ob positiv zu beantworten und den Ort des Geschehens auf die überhaupt keine Intimsphäre bietende Bühne zu verlagern, begeht Muehl den von den Aktionisten gewünschten Tabu-Bruch, mit dem er die Rezipienten unmittelbar angreift. Die Kritik am traditionellen Theater geht mit der Kritik der Unzulänglichkeit der Sprache einher, welche von allen Aktionisten geteilt wird. Peter Weibel zitiert Hermann Nitsch: »die sprache verhinderte sinnliches intensives empfinden, ich konnte an der sprache kein genügen finden.« Und Günter Brus: »die aktion bewegt sich größtenteils außerhalb von sprache, die aktion wendet sich gegen den psychologie-terror!«169 Hier zeigt sich die von den Wiener Aktionisten empfundene Dichotomie zwischen komplizierter, unwirksamer Sprache und direktem Erreichen des Rezipienten durch die Aktion. 1960 gab das Living Theatre, dessen Kunstverständnis sich in vielen Punkten mit dem der Aktionisten deckt, ein Gastspiel in Wien, Muehl indes kritisierte den Ansatz als nicht radikal genug: »Ich habe ihnen vorge-
168 MUEHL, Otto, 1969: mama & papa. materialaktion 63-69. Frankfurt am Main: Kohlkunstverlag, S. 9-11, zitiert nach MEIFERT, Franziska 1990: Zweimal Geborene: Der »Wiener Aktionismus« im Spiegel von Mythen, Riten und Gesichtern. In: protokolle, Band 1, S. 63, S. 10. 169 Günter Brus, zitiert nach Weibel 1972, S. 50.
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worfen, daß sie noch in Gewändern spielen, daß sie noch so am Wort kleben.«170 Bemerkenswert hieran ist, wie Nitsch Kleidung und Sprache in Beziehung setzt. Theater, welches seine Inhalte über Text vermittelt, stellt den Körper gegenüber dem Wort in den Hintergrund. Einem Theater, das die Sprache überwunden hat, reicht der kostümierte Körper nicht mehr als Ausdruckmittel, er muss nackt und in seiner Verletzlichkeit sichtbar sein, damit er zum Bedeutungsträger aufgewertet wird. Das von den Aktionisten intendierte unmittelbare Empfinden des Rezipienten wird gesteigert durch den Einsatz von Synästhesie (Nitsch) und das Überschreiten von Ekelschranken. Vor allem Otto Muehl arbeitet bewusst mit diesen Ekelschranken, um zu verdeutlichen, dass das reale Leben auch nicht ästhetisch erscheinende, unsaubere Vorgänge beinhaltet wie die Geburt und den Geschlechtsverkehr. Die Exhibition des als hässlich Stigmatisierten ist für Muehl ebenso Aufgabe der Kunst wie das Zeigen des Schönen. Bei genauerer Betrachtung wird sogar das Grausame zum Schönen, zu dieser Sichtweise, die von den tradierten Schönheitsbegriffen abweicht, will Muehl seine Rezipienten erziehen.171 Ein pragmatischer Ansatz bezüglich der bewussten Überschreitung der Ekelschranken findet sich bereits bei Antonin Artaud: »Da, wo es nach Scheiße riecht, riecht es nach Leben.«172 Artaud fordert ebenso wie die Aktionisten das direkte Angreifen des Rezipienten, dessen internalisierte Normen ihn auf das Ekelgefühl gegenüber dem nur allzu Natürlichen konditioniert haben. Otto Muehl und Günter Brus prangern mit der Bewusstmachung der Ekelschranken die gesellschaftliche Realität an und protestieren gegen Zwänge und Restriktionen. 1967 beginnt Günter Brus mit der Durchführung mehrerer sogenannter »Körperanalysen«, bei denen der Körper mit seinen Funktionen, ungeachtet der herrschenden Tabus, im Mittelpunkt steht. Brus beginnt mit Selbstbemalungen, welche er in Selbstverletzungen steigert. Der eingehenden Beschäftigung mit sei-
170 PATAKI, Heidi; GEYRHOFER, Friedrich 1983: Gespräch mit Otto Muehl. In: Wiener: Die Stadtillustrierte, Sonderdruck: Wiener Aktionismus, S. 34-41, S. 35. 171 Otto Muehl in Roussel 1995, S. 37; S. 41. 172 Antonin Artaud 1980: Das Streben nach Fäkalität. In: Schluss mit dem Gottesgericht. Das Theater der Grausamkeit. Letzte Schriften zum Theater. München: Batterien, S. 15.
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nem eigenen Körper folgt das Inbezugsetzen des Körpers mit der Gesellschaft.173 Kulminationspunkt dieser Arbeit ist die letzte 1970 von Günther Brus durchgeführte Aktion Zerreißprobe, bei der er sich auf massive Weise selbst verletzt. Nach der Zerreißprobe hört Brus auf, aktionistisch zu arbeiten.174 Noch stärker als die anderen Aktionisten benutzt Muehl das Tabu der Sexualität in seinen Aktionen, um die gesellschaftlichen Repressionen im Österreich der sechziger Jahre aufzuzeigen. Exemplarisch hierfür sind die Aktionen Satisfaction und Oh Sensibility, welche den antiken Leda-Mythos variiert. In Satisfaction wird das Glied eines Akteurs durch einen anderen Akteur mit einem Milchabpumpgerät für Wöchnerinnen bearbeitet.175 Oh Sensibility führt Muehl 1970 in einer Privatwohnung in Frankfurt durch, wo gerade eine Sexmesse stattfindet. Otto und zwei Frauen treten hinter einem Vorhang hervor. Unter Einsatz von Händen, Mündern und Genitalien fangen sie an, alle möglichen Variationen sexueller Dreiheit durchzuspielen, einschließlich Peitschen und einer als Dildo verwendeten Teigrolle. Eine der Frauen geht ins Publikum und versucht einen Mann zum Mittun zu bewegen. Ein geiler Mann folgt ihr. Händehaltend kommen sie zurück auf die Plattform. Die zwei Frauen entkleiden ihn.176
Muehl uriniert auf die drei Personen und köpft anschließend eine weiße Gans, eine der Darstellerinnen wird mit dem Schnabel der Gans
173 Günter Brus-Biografie in KLOCKER, Hubert (Hrsg.) 1989a: Der zertrümmerte Spiegel: Wien 1960-1971; Günter Brus, Otto Mühl Hermann Nitsch, Rudolf Schwarzkogler; Graphische Sammlung Albertina, Wien, März/April 1989; Museum Ludwig, Köln, Aug./Sept. 1989. Klagenfurt: Ritter, S. 137ff. 174 BADURA-TRISKA, Eva 2002b: Körperanalyse. In: BADURA-TRISKA, Eva (Hrsg.) 2002a: Rebellion und Aufbruch. Kunst der 60er Jahre: Wiener Aktionismus, Fluxus, Nouveau Réalisme, Pop Art. Begleitheft zur Ausstellung Museum Moderner Kunst. Wien: MUMOK, S. 11-12, S. 12. 175 MUEHL, Otto; Peter; ALLIEZ, Éric (Hrsg.): Otto Muehl: Leben, Kunst, Werk: Aktion, Utopie, Malerei 1960 – 2004: anläßlich der Ausstellung »Otto Muehl – Leben, Kunst, Werk – Aktion, Utopie, Malerei 1960-2004«, MAK Wien, 3.3.-31.5.2004. Köln: König, S. 149. 176 A.a.O., S. 159.
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penetriert. Peter Weibel merkt an, dass die Einbindung explizit sexueller Handlungen durch die Aktionisten erst nach seiner und Valie Exports Aktion Tapp- und Tastkino aus dem Jahr 1968 erfolgte. Bei dieser Aktion trug Export einen Kasten vor ihrem nackten Oberkörper, welchen die Rezipienten durch den Kasten erfühlen konnten: »Der Busen war also plötzlich real. Das Private wurde öffentlich.«177 Weibel und Export greifen hiermit die zentrale Forderung der 68er auf. Die Veröffentlichung der Privaten, Tabuisierten zu therapeutischen Zwecken greift auch Muehl auf, welcher in den sechziger Jahren mit mehreren Studenten und Aussteigern in einer Kommune in der Wiener Praterstraße zusammenlebt, und in der er in Anlehnung an psychoanalytische Prinzipien entwickelte »Aktionsanalysen« mit den Bewohnern durchführt. Ziel ist die Befreiung der Analysanden von sexuellen Repressionen. Robert Fleck berichtet in seiner Monografie über die Muehl-Kommune von einem jungen Mädchen, welches vor der Wohnungstür der Kommune steht und seine Brüste vor den unbekannten Besuchern entblößt.178 Muehl hatte das Mädchen zu dieser Aktion aufgefordert, um die sprachliche Dimension der Analyse zu durchbrechen. Abermals zeigt sich die abwehrende Haltung gegenüber der Sprache: Diese wird als hemmend verstanden, ermöglicht sie es doch der Analysandin, in der sicheren Sphäre des Diskurses zu bleiben, während die von Muehl geforderte körperliche Aktion gegen die herrschenden Moralvorstellungen verstößt und der entfesselte natürliche Körper die Sicherheit des Regelgeflechts bedroht. Die Exposition der Nacktheit stellte für das Mädchen aus streng katholischem Elternhaus den größtmöglichen Tabubruch dar. Muehl wendet in diesen kommuneninternen Aktionen dieselben Verfahren wie in seinen Aktionen vor Publikum an. 1973 widmet er sich vollständig der gruppeninternen Aktionsanalyse und gründet auf dem Friedrichshof im Burgenland die ›Aktionsanalytische Organisation‹. Die Exhibition des vermeintlich Obszönen ist auch ein Angriff auf das tradierte Kunstverständnis. Dies wird deutlich in Muehls »Penisaktion«, in deren Fokus das Geschlechtsteil des Akteurs und ein Kunstbildband stehen:
177 Peter Weibel in Roussel 1995, S. 137. 178 FLECK, Robert 2003: Die Muehl-Kommune: Freie Sexualität und Aktionismus. Geschichte eines Experiments. Köln: König, S. 10.
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Man nehme einen Bildband über die abendländische Malerei, schlage sein Lieblingsbild auf, durchlöchere mit Hilfe eines scharfen Messers das Buch von rückwärts und zwänge seinen Penis mitten in die abendländische Malerei. Man betrachte 5 min angestrengt die entstandene Montage und denke konzentriert über Kunst nach [...] nur auf diese Weise ist die Kunst zu retten.179
Wie Hermann Nitsch mit seinem o.m.theater strebt Muehl mit seinen Aktionen eine dionysische Aktion an, welche das repräsentative Moment der Kunst überwinden soll zugunsten eines direkten Erlebens des Rezipienten. Während Nitsch jedoch das Erreichen der Abreaktion als Ziel seines o.m.theaters sehr genau plant, tragen Muehls Aktionen eher einen anarchischen Charakter, was sich in seinem verfremdenden Umgang mit Alltagsmaterialien zeigt.180 Nitsch bezeichnet sich als unpolitisch181 und war nur an der Konzeption und Verwirklichung des o.m.theaters interessiert, Muehl hingegen arbeitete auch an Manifesten, in welchen er sich kritisch mit der gesellschaftlichen Realität in seiner Heimat Österreich auseinandersetze. Nachdem er bereits 1965 in Collagen Kritik an der jüngeren Geschichte Österreichs und den dort herrschenden Machtstrukturen, repräsentiert durch die katholische Kirche und den Militarismus, geübt hatte,182 führte er 1967 gemeinsam mit Oswald Wiener und Peter Weibel den Begriff »ZOCK« ein. 1967 wurden mehrere ZOCK-Feste gefeiert und ein Manifest verfasst. Die Bedeutung des Akronyms ZOCK reicht von »zentralorganisation christlicher kupferstecher« (Wiener) über »zealous organisation of candid knights« (Muehl) bis
179 Zitiert nach GORSEN, Peter 1969: Das Prinzip Obszön: Kunst, Pornographie und Gesellschaft. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 112. 180 Klocker 1989b, S. 52. 181 »Ich wollte immer nur mein Orgien-Mysterien-Theater machen. Meine Kollegen, die ich alle sehr schätze, haben sich eher zu politischen Aussagen hinreißen lassen. Ich bin, das ist eher die Konsequenz des Unpolitischen: ein Anarchist. Aber keiner, der Bomben schmeißt. Das hat nix mit Baader-Meinhof zu tun.« (Lackner 2005). 182 KLOCKER, Hubert 2002: Kunst und Revolte. In: BADURA-TRISKA, Eva (Hrsg.) 2002a: Rebellion und Aufbruch. Kunst der 60er Jahre: Wiener Aktionismus, Fluxus, Nouveau Réalisme, Pop Art. Begleitheft zur Ausstellung Museum Moderner Kunst. Wien: MUMOK, S. 13.
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»zerstört ordnung christentum kultur« (Weibel).183 Weibels Interpretation von ZOCK zeigt am deutlichsten den Wunsch nach der Zerstörung sämtlicher etablierter kultureller und gesellschaftlicher Werte, welche das Manifest fordert: was ZOCK nicht will! das geplapper der wichtelführer, wichtelpresse, wichtelfernsehen, wichtelwirtschaft, wichtelrecht, wichtelgericht, wichtelgefängnis, wichtelehe, wichtelfamilie, wichtelpension, wichtelgeld, wichteleigentum […]wichtelliebe, wichtelwohlstand […] wichtelkino, wichtelfernsehen, wichteltheater, […] wichtelerziehung[…]. ZOCK räumt mit dem WICHTELGESTANK AUF! alle opernhäuser, theater, museen, bibliotheken werden dem erdboden gleichgemacht. es ist klar, beginnen kann ZOCK nur mit einem blutbad. der wichtel nimmt nur zwei dinge ernst: geld und blut. alle, die am wichtelweltbild herumbastelten: bilderpinsler, […] und besonders das widerwärtige gesindel der schauspieler, sänger, tänzer, dirigenten, bühnenbildner, regisseure, museumsdirektoren, die seit urzeiten am wichtelstaat schmarotzten und ihn durch ihre einfältige kunst propagierten.184
Wie Nitschs o.m.theater berücksichtigt ZOCK die Notwendigkeit der Abreaktion des Einzelnen, welche durch die scheinbare Elimination der die Triebe sublimierenden Künste nicht mehr gegeben scheint: »ZOCK ist gegen private aggressionen. ZOCK verfügt über genug abreaktionsmittel, um den autowichtel für sein geliebtes fahrzeug zu entschädigen.«185 ZOCK folgt dem Gedankengut von Wilhelm Reich, der in der Kleinfamilie ein faschistisches Element sah, welches die freie und natürliche Entfaltung des einzelnen unterdrückte.186
183 EDER, Thomas 2000: Kunst – Revolution – Erkenntnis. Oswald Wiener und ZOCK. In: EDER, Thomas (Hrsg.) 2000: Schluß mit dem Abendland!: Der lange Atem der österreichischen Avantgarde. Wien: Zsolnay, S. 60. 184 Zitiert nach BADURA-TRISKA, Eva, 2004: Zerstörung, als Gestaltungsprinzip angewendet, führt über die Zerstörung hinaus: Zum künstlerischen Denken Otto Muehls in BADURA-TRISKA, Eva; KLOCKER, Hubert; MUEHL, Otto (Hrsg.) 2004: Otto Muehl: Aspekte einer Totalrevolution. Köln: König, S. 30. 185 A.a.O., S. 31. 186 A.a.O., S. 32.
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ZOCK ist in seiner Radikalität nicht durchführbar, verdeutlicht aber die gravierende Abneigung der Aktionisten gegen die Gesellschaft, in der sie lebten, und den etablierten Kunstbetrieb. Die totale Negation des bürgerlichen Lebens führt zum plakativen Angriff auf dessen Attribute und Ausprägungen. Die bürgerliche Ordnung muss auf den Kopf gestellt und herausgefordert werden, und dies versuchen die Aktionisten über den Einsatz von nackten Körpern und Fäkalien. ZOCK ist die direkte Antwort auf Freuds Befürchtungen bezüglich des repressiven Charakters der Kultur. Den Höhepunkt erreichte die politische Arbeit der Aktionisten 1968 mit der Aktion Kunst und Revolution. Diese Aktion, von der Presse später als »Uniferkelei« bezeichnet, fand am 07.06.1968 vor 400 Zuschauern im Hörsaal 1 des Neuen Institutsgebäudes der Universität Wien statt. Der SÖS (sozialistischer österreichischer Studentenbund) hatte Günter Brus, Otto Muehl, Oswald Wiener und Peter Weibel zu der Veranstaltung eingeladen. Diese begann mit einem Referat eines SÖS-Mitgliedes über die Stellung, Möglichkeit und Funktion der Kunst in der spätkapitalistischen Gesellschaft. Es folgte eine Simultanaktion, in welcher Otto Muehl ein Pamphlet über die Kennedys187 und Peter Weibel ein Traktat über den Finanzminister Stephan Koren vortrug, Otto Wiener die Input-Output-Theorie zwischen Sprache und Denken analysierte und Günter Brus sich selbst Verletzungen an Oberkörper und Oberschenkeln zufügte. Brus trank seinen Urin, darauf hin erbrach er sich. Er sang die österreichische Bundeshymne und defäkierte dabei. Der Aktionist beschmierte seinen Körper mit Kot und begann zu onanieren. Otto Muehl schlug einen aus pornografischer Literatur vorlesenden Journalisten, welcher anonym bleiben wollte. Drei nackte Männer veranstalteten ein Wetturinieren, die Weiten wurden notiert. Die drei Männer und Otto Muehl ahmten vor geöffneten Bierflaschen Onanierbewegungen nach, bis es zur ›Ejakulation‹ des Bierschaumes kam, welcher bis in die ersten Zuschauerreihen spritzte. Im Anschluss an die Aktion kam es zu einer Diskussion über das Gezeigte, ein kleiner Teil des Publikums verließ den Saal.188 Über die Ausführenden wurden Haftstrafen wegen
187 Dies wurde von der österreichischen Presse als besonderer Eklat bewertet, da Robert F. Kennedy erst am Tag zuvor, am 06.06.1968, verstorben war. 188 Gorsen 1969, S. 122.
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Erregung öffentlichen Ärgernisses und Verunglimpfung der österreichischen Fahne und Hymne verhängt. Kunst und Revolution ist der einzige evidente Berührungspunkt zwischen dem Wiener Aktionismus und der Studentenrevolte. In ihrer Studie über das österreichische Schocktheater merkt Jutta Landa an, dass sich in dieser drastischen Aktion die Unzulänglichkeit des Aktionismus als gesellschaftsveränderndes Instrument manifestiere. Ziel der Aktionisten sei »Provokation von Kreativität, durchgeführt mit Hilfe verschiedener Techniken der Erwartungsenttäuschung und Erkenntnisverunsicherung«, wie sie einer Schrift Josef Dvoraks entnimmt.189 Landa wertet die Aktion Kunst und Revolution allerdings als hochgradige Verfehlung des von Dvorak postulierten Zieles, da es nicht wie gewünscht konstruktive Irritation und Öffnung der Gesellschaft gegenüber neuen Kunstformen bewirkte, sondern im Gegenteil eine Festigung der konservativen Ansichten. Kunst und Revolution überschritt den Tabubruch der vorhergehenden Aktionen in zwei entscheidenden Punkten: Die Aktion fand an einem öffentlichen, nicht mit Kunst assoziierten Ort, nämlich der Universität, statt, und es wurden die Nationalsymbole Flagge und Hymne einbezogen. Es ist wahrscheinlich, dass die Aktion in Deutschland weniger strikte Repressionen gegen die Beteiligten nach sich gezogen hätte. Auch die intensive Agitation vonseiten der österreichischen Boulevard-Presse ist nicht außer Acht zu lassen. Die Aktion in der Universität löste keine unmittelbaren Unruhen aus, lediglich zwei Dozenten erstatteten Anzeige. Nach zwei Tagen wurde die Aktion allerdings von der Presse in einer großen Kampagne angeprangert, was eine strafrechtliche Verfolgung der Beteiligten nach sich zog. 190 In einer liberaleren Gesellschaft als Österreich wäre die Aktion Kunst und Revolution wohl nur als stringent konzipiertes Werk innerhalb des Gesamtwerks des Aktionsmus rezipiert worden, ob nun positiv oder negativ, obliegt den persönlichen Ansichten des Einzelnen. Darüber hinaus traf die Aktion die eingangs von Dvorak
189 DVORAK, Josef 1983: Aus den Anfängen des Wiener Aktionismus. In: Wiener, Die Stadtillustrierte, Sonderdruck: Wiener Aktionismus, S. 4-8, S. 7, zitiert nach LANDA, Jutta 1988: Bürgerliches Schocktheater: Entwicklungen im österreichischen Drama der sechziger und siebziger Jahre. Frankfurt am Main: Athenäum, S. 50. 190 Günter Brus in Roussel 1995, S. 29.
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postulierte Erwartungsenttäuschung und Erkenntnisverunsicherung durchaus. Hermann Nitsch stimmt der Auffassung zu, dass der Wiener Aktionismus als Reaktion auf die konservativen politischen Zustände in Österreich zu werten sei, leugnet aber gleichzeitig gesellschaftskritische Züge seiner eigenen Arbeit: […] meine arbeit war nie direkt politisch gesellschaftskritisch ausgelegt, vordergründig politisches wirken war mir zu kurz gesteckt, ich hatte immer philosophisches wirken im auge, die situation, die ich vorfand und auf die ich reagierte, war der entwicklungsstand der kunst […]191
Otto Muehl vertritt ebenfalls diese Ansicht und konstatiert in einem 1993 geführten Interview, dass der Aktionismus gar nicht vordergründig politisch war, sondern nur in dem Sinne, dass er versuchte, Grenzen zu überschreiten und »das Denken des Volkes zu erweitern.«192 Mit diesem Ziel der Grenzüberschreitung und deutlichen Kritik der durch Staat und Gesellschaft gesetzten Moralschranken präsentiert sich der Aktionismus als zeittypische Kunstrichtung der 68erBewegung. Der Architekt Adolf Krischanitz wertet den Aktionismus als Befreiung einer »bestimmten Generation«193 mit der die 68er gemeint sind. Der 1925 geborene Muehl hatte den Krieg und den zu dieser Zeit herrschenden repressiven Umgang mit der Sexualität persönlich erlebt. 2001 konstatiert er in dem Text Weg aus dem Sumpf, dass er in seinen Aktionen die Opfer verdrängter Sexualität dargestellt hätte. In dieser Verdrängung sah er eine Gefahr, da die Sexualität zum »natürlichen« Weg‹ des Lebens dazugehöre, und die Triebe auf andere, unnatürliche Weise abgefahren werden müssen, wenn dies über die Sexualität nicht erlaubt ist.194
191 NITSCH, Hermann 1990a: Das Orgien-Mysterien-Theater: Manifeste, Aufsätze, Vorträge. Salzburg: Residenz-Verlag, S. 159. 192 Otto Muehl in Roussel 1995, S. 42. 193 Adolf Krischanitz in Roussel 1995, S. 74. Wenngleich sie keine Studenten waren, gehörten Nitsch (*1938), Brus (*1938) und Schwarzkogler (1940-1969) der Studentengeneration an, Muehl ist älter (*1925). 194 Muehl 2004b, S. 25.
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Der Österreicher Adolf Krischanitz weist zudem auf die besondere Intoleranz der Österreicher hin,195 welcher man sich unterordnen konnte, indem man die Sexualität unterdrückte oder den gegenteiligen Weg wählte und sie an die Öffentlichkeit trug, was die Aktionisten taten. Peter Gorsen wertet die entsublimierte Sexualität, wie sie in der Aktion Kunst und Revolution eingesetzt wird, als »obszönes Kampfmittel gegen Sexualverdrängung und Sexualtabu«.196 Die Reaktionen der österreichischen Presse freilich zeigen, dass dieses Mittel nur den Skandal, aber keine sexuelle Liberalisierung brachte. Der Schriftsteller Peter Turrini empfindet das Nachkriegsösterreich als devoten Tourismusstaat, welcher sich mit dieser Haltung von den Vorwürfen des Faschismus freikaufte. Den Wiener Aktionismus wertet er als Rebellion gegen dieses Heile-Welt-Konstrukt: Dieses Land wurde in ein Zuckerhaus, in ein verlogenes Märchen verwandelt, und dieses Märchen mußte geschändet werden, mit Scheiße und Urin. In keinem Land der Welt wäre der Aktionismus in dieser Form denkbar gewesen, weil die Lüge, die Lüge über die eigene Identität nirgendwo so groß war.197
Zu dieser Absage an die heile Welt gesellt sich auch eine Absage an den etablierten und staatlich geförderten Kunstbetrieb. 1968 schreibt Otto Muehl, dass Kunst nicht »theater, oper, konzert, bild, skulptur
195 Adolf Krischanitz in Roussel 1995, S. 75. Zum selben Schluss kommt der österreichische Manager Beppo Mauhard: »Er [der Österreicher] ist ein Anpassungskünstler durch Unterordnung. Außerdem ist Österreich ein katholisches Land, das sehr doppelbödig ist. Der kleine Bürger hat nach außen hin auch die völlig geordnete Welt, heimlich geht er ins Bordell. Diese typisch österreichische Doppelbödigkeit, Wurzel für perfektionistische Hinterlistigkeit, ist sicher ein besonderes Merkmal der österreichischen Seele. Die Aktionisten haben mit ihrer Provokation voll diese empfindliche Stelle getroffen. Daher war die Empörung bei der Mehrheit so groß und war eine Minderheit für die Entlarvung so empfänglich.« (Beppo Mauhard in Roussel 1995, S. 201). 196 GORSEN, Peter 2004: Der Wiener Aktionismus in seinen Festen des psychophysischen Naturalismus. In: HUMMEL, Julius; Klocker, Hubert (Hrsg.) 2004: Wiener Aktionismus: Sammlung Hummel, Wien. Milano: Mazotta, S. 81. 197 Peter Turrini in Roussel 1995, S. 92.
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oder sonstiger festwochenunsinn« sei, und man für Kunst kein Klavier brauche, »waschpulver, marmelade und urin tun’s auch.«198 Diese Trias verdeutlicht prägnant das Anliegen der Aktionisten, mit profanen Dingen des Alltags sowie tabuisierten Körperflüssigkeiten Lebenswirklichkeit darzustellen. Anstatt »kleinbürgerliche[…] seelendramen, halberotik und gebremste[s] liebesverlangen« zu zeigen, reduziert der Aktionismus das Seelenleben auf »körperliche Verrichtungen«: »koitus, mord, folterungen, operationen, vernichtung von menschen und tieren und anderen objekten sind das einzige wirklich sehenswerte theater. alles andere ist quatsch.«199 Muehl befürchtet die Verblödung des Publikums und will diese stoppen, indem er Pornografie zeigt, diese hält er für ein geeignetes Mittel, um die Gesellschaft von der »Genitalpanik« zu heilen, sie könne »in den milliarden wichtelhirnen hexen- und sittlichkeitswahn«200 vertreiben. Muehl greift direkt Kirche und Staat als unterdrückende Institutionen an: »es muß den wichtelhirnen endlich eindringlich klargemacht werden, daß ihr eingebildetes seelenleben durch andauernde unterdrückung von kirche und staat, durch den schamlosen einsatz der massenmedien im sinne dieser institutionen, entstanden ist.«201 Ein wesentlicher Punkt des – von den Aktionisten intendierten – Schocks war die Exhibition nackter Körper, »bzw. die Tatsache, daß die Frauenkörper bespritzt wurden«, merkt der Schriftsteller Peter Turrini an. »Offensichtlich spielte für die politische Restauration das sexuelle Tabu eine ganz entscheidende Rolle. Die Leute haben sich unglaublich darüber aufgeregt, daß plötzlich alles dreckig und schmutzig und flüssig war.«202 Die Verunreinigung des nackten Körpers,
198 Muehl 2004a, S. 59. Die hier anklingende Negation der Attribute bürgerlicher Kunst ist auch Inhalt des ZOCK-Manifestes (siehe MUEHL, Otto; NOEVER Peter; ALLIEZ, Éric (Hrsg.) 2004: Otto Muehl: Leben, Kunst, Werk: Aktion, Utopie, Malerei 1960 – 2004: anläßlich der Ausstellung »Otto Muehl – Leben, Kunst, Werk – Aktion, Utopie, Malerei 19602004«, MAK Wien, 3.3-31.5.2004. Köln: König, S. 232f.). 199 Muehl 2004a, S. 59. 200 A.a.O., S. 60. 201 Ebd. 202 TURRINI, Peter 2004: Der Wiener Aktionismus. In: MUEHL, Otto; NOEVER, Peter; ALLIEZ, Éric (Hrsg.): Otto Muehl: Leben, Kunst, Werk: Aktion, Utopie, Malerei 1960-2004; [anläßlich der Ausstellung »Otto
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welche zum Standardrepertoire des Aktionismus gehörte, verletzt sowohl das Tabu der öffentlichen Nacktheit als auch die Ekelschranke der Rezipienten. Darüber hinaus lässt sich der verunreinigte nackte Körper auch nicht mehr als Ausdruck der Natürlichkeit und Unschuld ansehen, da die Verunreinigung in den Aktionen immer eine übertriebene, artifizielle war. Bei Rudolf Schwarzkogler dagegen war diese sexuelle Komponente des nackten Körpers sekundär. In seinem Werk stellte die Nacktheit die Verletzlichkeit des Körpers dar.203 Mit seiner bewussten Exhibition des Hässlichen wollte der Aktionismus gegen die österreichische Verdrängung protestieren. Was in den sechziger Jahren Skandale erzeugte, scheint sich in der Gegenwart, in der explizite Darstellungen jeglicher ehemaliger Tabuthemen in der Kunst und vor allem in den Medien zu finden sind, überholt zu haben. Der Wiener Aktionismus teilt das Schicksal jeder Kunstrichtung, welche Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen der Nachkriegszeit übte: Nur im Kontrast zu den rigiden Moralvorstellungen und der prüden Verschwiegenheit gegenüber Sexualität konnte die schockierende Exhibition des Körpers ihre Wirkung zeigen. Durch die unmittelbare Kopplung an die allgemeingültigen Wertvorstellungen, welche sich naturgemäß im Laufe der Zeit wandeln, verliert diese Kunst schnell ihre Wirkung. Turrini kommt zwar zu dem positiven Fazit, dass der »Aktionismus gesiegt [habe], so wie er es sich nie vorgestellt [habe]«,204 lässt aber außer Acht, dass nicht allein die Sichtbarmachung des Tabuisierten zählt, sondern auch die Reflexion des Gesehenen, welche oftmals aufgrund der Abstumpfung der Rezipienten nicht das gewünschte Ausmaß erreicht. Die Liberalität, mit der die Gesellschaft heute den ehemals schockierenden Bildern begegnet, scheint eine doppelbödige zu sein: Einerseits grenzt die Fülle der Präsentation an Reizüberflutung, sodass derartige Bilder normal erscheinen, andererseits geht die Gesellschaft immer noch nicht entspannt damit um, wie zum Beispiel empörte Kritiken zu Jürgen Goschs Macbeth-Inszenierung (siehe Kapitel 8.1) zeigen. Das Unbe-
Muehl – Leben, Kunst, Werk – Aktion, Utopie, Malerei 1960-2004«, MAK Wien, 3.3.-31.5.2004. Köln: König, S. 49-54, S. 49. 203 JAHRAUS, Oliver 2001: Die Aktionen des Wiener Aktionismus: Subversion der Kultur und Dispositionierung des Bewußtseins. München: Fink, S. 229. 204 Turrini 2004, S. 50.
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hagen gegenüber dem Außerzivilisatorischen ist geblieben, es wird indes aus Angst vor dem Vorwurf der Prüderie nicht mehr so offen gezeigt wie in den Zeiten des Wiener Aktionismus. 6.4.2 Das o.m.theater Hermann Nitschs seit 1957 immer weiter entwickeltes Konzept des o.m.theaters orientiert sich an der antiken Tragödie und deren Intention, beim Rezipienten eine tiefe, nachhaltige Empfindung auszulösen. Die Vervollkommnung des o.m.theaters stellt das Sechstagespiel dar; bevor Nitsch die Mittel besaß, dieses zu realisieren, führte er immer wieder kürzere Aktionen des o.m.theaters durch. Das Theater soll wieder zu einer kultischen Handlung werden: »das drama oder überhaupt das theater soll zum fest werden, und wenn man will, sind meine feste der versuch, das theater aufzulösen, es sind endpunkte und höhepunkte des theaters«.205 Die Bezeichnung »Orgienmysterientheater« wählte Nitsch, weil ich mich ursprünglich sehr viel mit hellenistischen Mysterienkulten beschäftigte. In diesen Kulten sah ich Parallelen zu den Triebdurchbrüchen des Informels (action painting, Aktionstheater). Das Exzessive, Regressionen bewirkende Moment des Informels ließ die verdrängte dionysische Schicht erneut hervorbrechen[…].206
Aufgrund seines Potenzials als Kulthandlung ist das Theater für Nitsch »enthemmungsmittel par excellence […] [und] prädestiniert für die anschaubarmachung von trieb-durchbrüchen.«207 Oberstes Ziel des o.m.theaters ist die sogenannte Abreaktion des Spielteilnehmers, der im Mittelpunkt des Spieles steht: das o.m.theater kennt keine bühne, kein darstellungstheater, keine schauspieler, keine komödianten. der spielteilnehmer selbst ist der held des dramas, seine
205 Peter Friedl, zitiert nach NITSCH, Hermann 1988: Das rote Tuch: Der Mensch das unappetitlichste Vieh. Das Orgien Mysterien Theater im Spiegel der Presse 1960 – 1988. Wien: Freibord, S. 376f. 206 Herman Nitsch im Interview mit der Zeitschrift Kunst April/Mai/Juni 1965, zitiert nach Nitsch 1988, S. 50. 207 NITSCH, Hermann 1983: O.M. Theater-Lesebuch. Wien: Freibord, S. 43.
272 | THEATER DER N ACKTHEIT erlebnisfähigkeit, die entwicklung seiner erlebnisfähigkeit ist das spielgeschehen, entspricht dem spielgeschehen, der handlung des dramas.208
Wie die anderen Aktionisten zweifelt auch Nitsch an der Ausdrucksfähigkeit der Sprache und will diese durch die direkte sinnliche Empfindung des Rezipienten ersetzen: die erinnerung an sinnliche empfindung, welche durch die sprache aktiviert wurde, war zu wenig. das bedürfnis nach tatsächlichem empfinden stieß durch die sprache hindurch, die sprache verhinderte sinnliches intensives empfinden. ich konnte an der sprache kein genügen mehr finden, sie war nur mehr relikt, symbol und erinnerung von tatsächlich erlebtem. […]209
Um dieses sinnliche Empfinden der Rezipienten hervorzurufen, das Nitsch nicht mit Worten erzeugen konnte, begann er mit dem Einsatz von riech- und tastbaren Elementen wie Essig und Blut, die schließlich durch Gedärme und Tierkadaver ergänzt wurden.210 Während das repräsentative Theater die Wirklichkeit abbildet, strebt Nitsch mit seinem Theaterentwurf danach, größtmögliche Wirklichkeit zu erzeugen: »die geschehnisse, welche durch das o.m.theater gesetzt werden, werden nicht gespielt, wie dies im klassischen theater der fall ist, sondern ereignen sich tatsächlich. der zuschauer wird in das ereignis hineingestellt.«211 Die Wahrheit, welche Nitsch anstrebt, ist eine ungeschönte, den Rezipienten schockierende. Die Realität wird nicht wie in der traditionellen Theatersituation über das Betrachten der handelnden Figuren abgefedert, sondern wirkt unmittelbar auf den Rezipienten ein, der überdies zum Mitakteur des Spieles wird. Hierdurch soll es nach Nitsch zur Abreaktion des Rezipienten kommen, was durch das Durchbrechen der Ekelschranken erreicht werden soll: Kunst soll den gesamten psychophysischen Organismus erfassen und ist für mich etwas extrem Schöpferisches. Bis zu einem gewissen Grad sollen Künstler durchaus numinose Anschauungen herstellen, da gehört es dazu, daß man 208 Nitsch 1983, S. 728. 209 NITSCH, Hermann 1976: das orgien mysterien theater 2: theoretische schriften, partiturentwurf des 6 tage spieles. Neapel, Reggio Emilia, München, S. 113, zitiert nach Wunderlich 1981, S. 7. 210 Hermann Nitsch in Roussel 1995, S. 45f. 211 Nitsch 1976, S. 54, zitiert nach Wunderlich 1981, S. 8.
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Angst hat, daß es einen ekelt, daß man sich erbricht. Kunst ist dort, wo es eine extreme Konfrontation mit der Wirklichkeit gibt.212
Nitschs Abreaktionsbegriff deckt sich nicht mit dem der klassischen Psychoanalyse. Diese konnotiert die Abreaktion negativ, sie ist eine tolerierte, aber nicht gewünschte affekthafte Ersatzhandlung, welche keine Reflexion über den unbewussten Konflikt nach sich zieht. Die Psychoanalyse strebt die Überwindung ins Unbewusste verschobener Traumata an, um die kranke Seele zu heilen. Nitsch geht davon aus, dass sich im menschlichen Unbewussten auch ungenutzte Energien befinden, welche mittels der Abreaktion reaktiviert werden sollen: aufgestaute, unbefriedigte energien wollen ständig ausbrechen! und verlangen vom unbewußten her nach abreaktion. sie verlangen nach sensation, nach affekt, nach intensitätserlebnis und verwandeln sich in sadomasochistische bedürfnisse. der abreaktionsdrang will höchste, extremste vitalität, will triebdurchbruch, provokation der lebendigkeit bis zur grenzenlosen berauschung. jene energien, welchen der ausgangsweg versperrt ist, wollen sich in die freude an destruktion, an grausamkeit treiben, ihre einengung verlangt keine natürliche befriedigung mehr, der mühsam zusammengehaltene andrang verlangt ein hektisches ausfließen, alles abreaktionsbedürfnis verlangt nach einem extremen endpunkt des lusterlebens, dessen erreichung ich als das sadomasochistische grundexzesserlebnis bezeichne, es kommt zustande, wenn die abreaktionsekstase alle zensurschranken beiseite geschoben hat und sich alle befriedigung gestattet.213
Nitsch konnotiert den Begriff Abreaktion positiv und erweitert die Triebbefriedigung und -abfuhr um Mythen, Riten und Religion sowie Spannungsbeseitigung, welche durch Sublimierung erreicht wird.214 Wo die Psychoanalyse therapeutische Verfahren wie die Hypnose einsetzt, um die Abreaktion zu evozieren, fokussiert Nitsch Kunst und Religion. Durch das Aktionsmedium Theater wird die befreiende Wirkung der Psychoanalyse ergänzt, welche sich nur des Gespräches bedienen kann, Nitsch nennt dies ein »Theater der Aktivierung«, das
212 Lackner 2005. 213 Nitsch 1983, S. 50. 214 A.a.O., S. 48.
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die limitierten Möglichkeiten des Gespräches hinter sich lässt.215 Trotzdem proklamiert Nitsch für sich, dass die durch sein o.m.theater erreichte Abreaktion kontrolliert ablaufe: »das zum ausagieren, zur abreaktion gelangen durch das om-theater geschieht durch eine psychoanalyse, die mit den mitteln der form, der kunst durchgeführt wird, das ereignis der form neutralisiert die abreaktion, macht bewußt und befreit vom abreaktionszwang.«216 Können die aufgestauten Triebe nicht im Exzess abfließen, wandeln sie sich in destruktive und sadomasochistische Energien, welche durch das menschliche Handeln an die Umwelt abgegeben werden.217 Hier führt Nitsch den (Sexual-)Verbrecher an, dem es nach seinem Verständnis als einem der wenigen Menschen gelingt, den Grundexzess auszuleben, wenngleich dies von der Gesellschaft sanktioniert wird. Als Alternative zum Verbrechen als Abreaktion bietet Nitschs Konzeption die Zerreißung rohen Fleisches an: der triebdurchbruch des sexualverbrechers hat starke ähnlichkeit mit der dionysischen raserei, die in der destruktion, in der zerreissung des opfers (opfertieres) endet, daher die häufig bei verbrechern vorkommende zerstückelung und verstümmelung der opfer, die sich mit dem mythischen schema des zerrissenen dionysos deckt.218
Nitsch stützt diese These auf die 1910 erschienene Monografie Der Sexualverbrecher des Kriminologen Erich Wulfen, dessen Ausführungen wie eine Beschreibung des o.m.theaters wirken: der anblick des nackten reizt zur wollust und zu morden, das befühlen des warmen fleisches kann den wunsch auslösen, das in den ädern unter dieser
215 Nitsch 1990a, S. 164. 216 Nitsch 1983, S. 48. 217 A.a.O., S. 51. 218 Nitsch 1983, S. 67. Siehe auch a.a.O., S. 728: »dem grundexzess entspricht im spiel die zerreissung des lammes. […] das erlebnis des grundexzesses weiss um die schöpferische wut, die zerstörung und liebeswollust einer heiligen kraftvermischung, zerstörung und aufbau eines weltensystems in der wollust des grundexzesses, vernichtung, explosion, urknall, schöpferische urerregung, bräutlichkeit von zerstörung und aufbau im zerrissenen, geopferten (gekreuzigten) körper des lammes (ostermahl).
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warmen haut fließende rote blut rinnen zu sehen, die vorstellung von der purpurroten farbe des blutes kann sexuell erregend wirken […] in der höchsten wollust fühlt sich der mensch leicht getrieben mit den bänden, sich in das fleisch des teilnehmers am akt einzugraben, der rohe ist z.B. imstande so tief er nur irgend kann, in die vulva des weibes hineinzufahren; er vermöchte sie aufzureißen, von hier bis zum wühlen mit den bänden in den blutigen eingeweiden des opfers, zum herausreißen und herausschneiden derselben aus dem leib ist nur ein kurzer schritt.219
Die Destruktion im o.m.theater findet statt an Gedärmen, auf welchen herumgetrampelt wird, bis sie aufplatzen und blutigen Kot offenbaren, die Gedärme werden mit den Händen gequetscht und rohes Fleisch zerrissen.220 Die Gedärme, die aus einem aufgeklafften Tierleib gerissen werden, stehen für den Akt der Geburt, welcher zentraler Bestandteil des o.m.theaters ist.221 Zudem überwindet die haptische Erfahrung des Schmierens mit Kot gesellschaftliche Tabuschranken und führt eine »bewusstmachende Regression« des Spielteilnehmers herbei.222 Hermann Nitsch und das Konzept des o.m.theaters werden oftmals mit dem Vorwurf konfrontiert, dass Nitsch aus sadistischer Freude öffentlich Tiere töte und deren Blut und Kadaver zeige. Für Nitsch dient dieses Agieren jedoch nicht der persönlichen Befriedigung, er stellt es wie beschrieben in den Dienst der Abreaktion, welche das o.m.theater zu erreichen versucht. Über den Anblick des geschlachteten Tieres soll bei dem Rezipienten eine Katharsis eintreten. Nitsch konstatiert, dass die Abreaktion ein natürliches Bedürfnis des Menschen sei, deswegen würden auch Kriege geführt und Menschen würden bei Unfällen gaffen. Aus diesem Grund bietet Nitsch die Abreaktion im geregelten künstlerischen Rahmen des Theaters an.223 Durch die Vielfalt seiner Ausdrucksmittel ist das Theater den übrigen Künsten überlegen, überdies ist es der Bühnenkunst gemäß
219 WULFFEN, Erich 1910: Der Sexualverbrecher: Ein Handbuch für Juristen, Verwaltungsbeamte und Ärzte. Berlin: Langenscheidt, zitiert nach Nitsch 1983, S. 67. 220 Nitsch 1983, S. 153. 221 Nitsch 1990a, S. 33. 222 A.a.O., S. 37. 223 A.a.O., S. 22.
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Nitsch erlaubt, all das zu zeigen, was sonst durch gesellschaftliche und gesetzliche Schranken verboten ist.224 Möglich wird dies für Nitsch durch den Spielcharakter des Theaters, welcher trotz des Strebens nach Wirklichkeit erhalten bleibt. Das Theater gibt dem Abreaktionsspiel eine Form, es werden nicht sinnlos und blindwütig Tiere zerfleischt und Menschen mit Blut übergossen, sondern alles geschieht im Rahmen einer übergeordneten künstlerischen und theoretischen Konzeption, welche als Konzession für das Durchbrechen der Schranken steht.225 Obwohl die das gesellschaftliche Zusammenleben regelnden Normen die Triebe des Menschen unterdrücken und das Bedürfnis nach Kanalisation aufkommen lassen, muss diese sich wiederum neuen Regeln unterwerfen. Hieran wird das Dilemma der Zivilisation deutlich: Ohne sie ist ein Leben heute nicht mehr möglich. Im Zentrum der mythologischen Konzeption des o.m.theaters stehen die drei Figuren Dionysos, Ödipus und Jesus Christus. Die Leibfeindlichkeit, welche sich in der Versehrung ihrer Körper ausdrückt, spiegelt sich in den Aktionen innerhalb des o.m.theaters wider. Es ist zugleich ein Sinnbild für die Leibfeindlichkeit, die der Körper in der zivilisierten Gesellschaft erfährt. Das unmittelbare Erleben dieser Aktionen soll bei den Spielteilnehmern zur Abreaktion führen. Dionysos ist der Sohn von Zeus und Persephone. Die eifersüchtige Hera überredete die Titanen, das Kind in Stücke zu zerreißen und aufzufressen. Das Herz wurde gerettet und zu Zeus gebracht, der es verschluckte und das Kind ein zweites Mal mit Semele zeugte.226 Die Dionysoszerreißung ist somit ein Zeichen der Wiedergeburt. Die Zerreißung des Dionysos ist als Kulminationspunkt des ekstatischen Exzesses zu verstehen.227 Nitsch setzt diese Zerreißung im öffentlichen Schlachten von Tieren als Teil der Spielhandlung um, hierin liegt der
224 Nitsch 1983, S. 115f. 225 »das unternehmen des o. m. theaters befreit und erlöst uns von stauungen, welche durch die kunst systematisch, fast unter wissenschaftlicher kontrolle, abreagiert werden, das bisher zeitweilig not-wendige hinabtauchen in die unkontrollierbare sphäre der triebe wird jetzt geregelt vollzogen, im sinne einer reinigung der psyche durch anschauung und sichtbarmachung belastender triebpotenzen.« (Nitsch 1983, S. 13). 226 TRIPP, Edward 1999: Reclams Lexikon der antiken Mythologie. 6. Auflage. Stuttgart: Reclam, S. 156. 227 Wunderlich 1981, S. 12.
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Kern des Abreaktionsspieles, da hier Schöpfung und Vernichtung beieinanderliegen. Bei dieser Handlung erfährt der Rezipient unmittelbar die Wahrheit des Lebens mit all seinen Facetten von Grausamkeit und Schönheit. Der Rezipient/Mitspieler wird während des Spieles zum sogenannten Grundexzess geführt; um diesen zu erreichen, bereitet Nitsch ein Szenario intensivster synästhetischer Empfindungen vor, welches blutige Tierkadaver, Gedärme, unterschiedliche Gerüche und ekstatischen Lärm enthält. Dies erleben die Zuschauer nicht wie im traditionellen Theater mittelbar, sondern direkt mit ihren eigenen Sinnen, damit sie selbst Abreaktion und Grundexzess erleben.228 Die Tier-Zerreißung innerhalb des o.m.theaters steht ebenfalls für das Prinzip des Dionysischen, aus welchem sich das Konzept der Abreaktion ableitet.229 Die Bakchen, welche Dionysos erlegen sind, jagen Tiere und zerreißen diese im Rausch. Nitsch setzt das Dionysische mit dem Abreaktionsdrang gleich und nennt als Erscheinungsformen des Dionysischen: die begeisterte Bejahung der Existenz, die Bejahung des Geschlechtlichen, Verehrung des Phallussymbols, Sakramentalisierung des Geschlechtsverkehrs, die Orgie als äußerste Seinsanbetungsform und Kommunion mit der Gottheit.230 Evident sind hier die absolut positive Konnotation des Leiblich-Geschlechtlichen und dessen Einbezug in die Religion. Durch die dionysische Orgie wird die Abreaktion erreicht. Eine solche Orgie findet am dritten Tag der SechstagespielKonzeption statt: männer greifen nach frauen, frauen greifen nach männern, es wird versucht, das nackte fleisch, die haut des partners zu berühren, zu betasten, zu befühlen, abzugreifen, brüste werden berührt, gequetscht, geküsst und geschleckt, schenkel und gesäßfleisch wird geknetet, gedrückt, feuchte nasse lippen suchen sich gegenseitig, der atem des anderen wird eingesogen, die lippen des anderen werden gelutscht, gebissen, blut wird herausgesaugt, die geschlechtsteile werden berührt, das feuchte geschlechtsteil der frau wird berührt, die finger werden zwischen die feuchten schamlippen hineingesteckt, schamhaare und geschlechtsteil werden mit der zunge geleckt, finger der frauen bringen männliche glieder zum abspritzen, das leibwarme sperma wird in gesicht und kleider geschmiert, paare begatten sich liegend auf dem boden der wein-keller, stehend
228 Wunderlich 1981, S. 13. 229 A.a.O., S. 12. 230 Nitsch 1983, S. 240.
278 | THEATER DER N ACKTHEIT in den ecken und entlang der wände der weinkeller, frauen werden über tische gebogen und begattet.231
Die Orgie des dritten Tages findet ihre Fortsetzung in der dritten Nacht, in der die sexuellen Ausschweifungen durch Trinkgelage ergänzt werden.232 Das Gelage erzeugt jedoch nicht nur Lust, sondern auch Qual, welche sich wiederum in Destruktion und Sadomasochismus abreagiert. Dionysos steht somit sowohl für die äußerste Lebensbejahung als auch die tödliche Zerstörungskraft: er treibt die wollust zur penetranz. er erlebt die abreaktion für alle konzentriert und verdichtet und demonstriert das leiden an der lust durch seinen tod. er opfert sich der lust. der gott ist ebenso abbild der destruktion, wie er abbild des aufbauend zeugerisch phallischen ist. dionysos ist ausdruck des abreaktionsbedürfnisses der massen. er ist die zusammengefaßte und übersteigerte, auf eine person konzentrierte erlebnisform der abreaktion. er stellt das ausleben der lust bis zum leiden an der lust dar. jede mythische gestalt, die das kollektive bedürfnis nach abreaktion repräsentiert, ist person gewordene kommunikation mit dem unbewußten[…]. 233
In seinem theoretischen Entwurf geht Nitsch noch weiter und entwirft Aktionen mit Leichen:234 Die nackte Leiche eines etwa 40-jährigen Mannes wird gekreuzigt an die Wand genagelt und mit einem intensiv duftenden Puder eingestäubt. Unterhalb der linken Brustwarze wird eine 4 cm lange tiefe Wunde geschnitten. Der Akteur steckt seinen Zeigefinger in die Wunde, küsst diese, steckt seine Zunge in die Wunde und wäscht sie anschließend vom Blut rein. Anschließend wird die Leiche mit Blut, Spülwasser, Bier, Milch und Eidotter übergossen. Eidotter wird über dem Geschlechtsteil und den Schamhaaren verschmiert und anschließend abgewaschen. Die Leiche wird von der
231 Nitsch 1983, S. 549. 232 A.a.O., S. 558-562. 233 A.a.O., S. 241. 234 Die architektonischen Pläne des Schlosses Prinzendorf, welches seit 1971 Spielort des o.m.theaters war, sehen gekühlte Aufbewahrungskammern für Leichen sowie menschliche und tierische Embryos vor (a.a.O., S. 315).
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Wand genommen, auf ein Bett gelegt und mit einem Federbett zugedeckt. Der Körper wird abermals gepudert. Der Penis wird mit einem Skalpell halbiert und wie »fruchtfleisch auseinandergeklafft«. Die Hoden werden zerschnitten und zerfleischt, anschließend wird das Geschlecht zunächst mit Blutwasser überschüttet und dann reingewaschen. Das Geschlechtsteil wird zerfleischt, bis ein blutiges Loch entsteht, in welches der Akteur hineingreift und die Gedärme der Leiche herausreist. Die herausgerissenen Därme werden reingewaschen.235 Unter der Prämisse, dass Nitsch sich in diesem Punkt von seiner Idealvorstellung lösen und ein Substitut finden musste, erhält der nackte Körper als solches eine besondere Stellung unter den Elementen des o.m.theaters. Da die Einbindung von Leichen in ein Kunstwerk sowie die bewusste Körperverletzung anderer Personen gesetzlich sanktioniert und gesellschaftlich nicht toleriert werden, bleibt der nackte Körper als Ausdrucksmittel, das der von Nitschs intendierten Wirkung am nächsten kommt. Der mit Pflastern versehene, blutüberströmte und mit Gedärmen überhäufte Körper hat nichts mehr mit dem nackten Körper gemein, wie er im Alltag vorkommt. Er ist von sämtlichen bekannten Bedeutungen entkoppelt und somit in der Lage, Zeichen im Abreaktionsspiel Nitschs zu werden. Alle entscheidenden Aspekte des o.m.theaters lassen sich am nackten Körper darstellen: die Assoziation zu Jesus am Kreuz, welchem Respekt erwiesen wird (die Salbung, der Kuss der Wunde, das permanente Reinwaschen), Sadomasochismus und Destruktion, zunächst an einer symbolträchtigen, aber nicht tabuisierten Körperstelle, später und heftiger am Geschlecht, wodurch der Zusammenhang zwischen sadomasochistischer Triebabfuhr und sexueller Lust verdeutlicht wird. Ferner zeigt sich das Überschreiten von Ekelschranken, die auf einer harmlosen Ebene durch das Überschütten des Körpers mit Blut und Lebensmitteln und auf einer drastischeren Ebene durch das Zerstückeln des Körpers bis hin zum Herausholen der Gedärme dargestellt werden. Bei aller Destruktion mutet die Szene dennoch respektvoll an, was sich im ständigen Wechsel von Versehren und Versorgen sowie Beschmutzen und Reinigen zeigt. Hier wird nicht wie in einem Splatter-Film eine Leiche gemetzelt, vielmehr wird sie einer streng choreografierten Ritualhandlung unterworfen, an deren Ende die Abreaktion des Akteurs steht.
235 Nitsch 1983, S. 268ff.
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Der Einbezug von Leichen als Material in Nitschs theoretische Konzeption des o.m.theaters erscheint zunächst pietätlos, ist jedoch die konsequente Einhaltung von Nitschs Streben nach Realität und Vermeidung der Repräsentation. Da die Verwendung von Leichen in seiner Kunst unmöglich ist, entscheidet sich Nitsch in diesem einen Punkt für die Substitution: »ich wollte nicht verletzungen vortäuschen, sondern sie an leichen tatsächlich durchführen. knabenleichen sollten geöffnet werden, die blutigfeuchten gedärme sollten aus den leibern herausgerissen werden. der entkleidete leib von cibulka war ersatz für eine leiche.«236 Während der nackte Körper in einigen Aktionen als Material für den destruktiven Prozess dient, erscheint er an anderer Stelle der Gesamt-Konzeption des Sechstagespieles als Zeichen der unschuldigen Reinheit: Am ersten Tag des Sechstagespieles waschen sich die Teilnehmer in einer Ritualhandlung, anschließend bringt eine Prozession nackter Knaben nacheinander Schalen mit weißen Rosen, Phiolen mit Blut und Essig sowie Saccharin- und Zuckerwasser herbei. Diese Handlung wiederholt sich mehrfach am ersten Tag.237 Die Aktionen des o.m.theaters wechseln beständig zwischen Destruktion und Auferstehung, auf die exzessive Steigerung des Spielgeschehens folgt der erlösende Grundexzess, der von einem erneuten Tötungsexzess abgelöst wird. Diese ringartige Struktur spiegelt den Kreislauf des Lebens wieder, bietet aber auch das Wechselspiel von Spannung und Entspannung. Dies zeigt sich neben den mythischen Aktionen auch in den synästhetischen Erfahrungen, die das o.m.theater beinhaltet. Auf die anzuregenden Sinne bezogen bedeutet dies konkret, dass Nitsch auf der einen Seite mit positiv konnotierten Flüssigkeiten und Gegenständen operiert wie Rosen und Wein, auf der anderen Seite stehen negativ besetzte Dinge wie Blut und Schleim, welche sogar Ekel auslösen können. Blutige Destruktionshandlungen wie das Zerreißen von Fleisch wechseln sich mit rituellen Waschungen ab, es herrscht ein ständiges Wechselspiel von Erregung und Entspannung, Ekel und Wohlempfinden. Auf diese Weise vermeidet Nitsch die Überforderung der Spielteilnehmer durch den Exzess. Die nackten Knaben sind Ausdruck der Unschuld und Reinheit als Gegenpol zu
236 Cibulka 1977. 237 Nitsch 1983, S. 349-400.
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den sexuell motivierten Abreaktionshandlungen am nackten Körper. Exemplarisch für die Unschuld der Knaben sei hier die Spielanweisung »nackte knaben gießen quellwasser […] in reine silberschalen«238 zitiert. Am ersten Tag des Sechstagespieles tritt Dionysos selbst in der Aktion »Nacktes Mysterium der Ästhetik« auf: Dionysos liegt nackt auf dem Boden, auf sein Geschlechtsteil wird frisches, nasses Fleisch geworfen. Begleitet von einem Schreichor, einem Lärmorchester und 22 Posaunenbläsern wird er mit einem Kübel schlachtwarmen Blutes überschüttet. Dionysos läuft ekstatisch schreiend zu einem in der Szene hängenden geschlachteten Ochsen, weidet ihn aus und wühlt in dessen Gedärmen.239 Der dionysische Zerstörungsakt zeigt die ambivalente Ästhetik des nackten, rohen Fleisches und dem nach außen gekehrten Inneren des Tieres. Nitsch macht die Ästhetik des Hässlichen und Tabuisierten sichtbar und erreicht somit eine tiefe Bewusstseinserfahrung der Rezipienten. Der nackte Körper im o.m.theater erhält seine Bedeutung erst durch die Handlungen, welche an ihm oder durch die nackte Person vollzogen werden. Die Exposition der Genitalien führt zur Assoziation des Geschlechtlichen, das für Nitsch selbstverständlicher Bestandteil der menschlichen Lebenswirklichkeit ist, weswegen er auch den Vorwurf der Pornografie abweist: was früher pornographie war, wird jetzt anschaubares theatergeschehen, es zitiert sich der begriff pornographie — ich kann damit nichts anfangen, pornographie gibt es für mich nicht bzw. darf es heute nicht mehr geben, pornographie hatte und hat immer schlechtes gewissen, kolle-filme haben schlechtes gewissen, sie zeigen erotik unter einem vorwand, die pornographen zeigten ihre produkte nie aus überzeugung, die aktionen des o. m. theaters geschehen aus überzeugung, das unappetitliche an der pornographie ist die überzeugungslosigkeit, der mangel an selbstverständlichkeit, die sogenannte grenze zwischen kunst und pornographie zu ziehen, scheint mir ebenfalls ein unsinniges unterfangen, entweder es handelt sich um gute kunst, durch welche sexuelles dargestellt wird, oder um schlechte kunst erotischen inhalts, oder es handelt sich um produkte, wo schlechthin erotisches gezeigt wird — warum
238 Nitsch 1983, S. 398. 239 A.a.O., S. 413, S. 431.
282 | THEATER DER N ACKTHEIT nicht? pornographie, das ist das problem des staates, der unsere sexualität einengt.240
Nacktheit ist im Sinne des o.m.theaters nicht per se als Tabubruch zu werten, dieser wird in der – so nicht realisierten – Konzeption des Sechstagespieles erst durch die Kombination mit weiteren Handlungen beziehungsweise Expositionen konstruiert: Nitsch sieht einen nackten Mann vor, der auf einer Kuh reitet und onaniert, eine nackte Frau reitet auf einer Kuh und onaniert mit einer Terpentinfackel. Auf 14 Schweinen reiten 14 nackte mongoloide Kinder. Auf einem Pferd reitet ein nackter Mann, welcher eine Monstranz hochhält. Ein nackter Mann reitet auf einem Pferd, trägt einen Stahlhelm und hält eine Maschinenpistole in der Hand, mit welcher er auf einen gekreuzigten Ochsen schießt. Ein weiterer nackter Reiter schießt auf eine gekreuzigte Leiche, woraufhin Kot und blutige Gedärme umherspritzen. Ein nackter Mann wird von zwei Männern verfolgt und gestellt, sie nageln ihn ans Kreuz und er wird fellatiert. Während seiner Ejakulation setzen Orchester und Schreichor ein.241 Die Nacktheit der onanierenden Personen und des fellatierten Mannes zeigt zum einen die sexuelle Triebabfuhr, zum anderen bricht sie mit dem Tabu der öffentlichen Exposition durch die Kirche nicht gebilligter Sexualpraktiken. Ebenfalls an kirchlichen Tabus rührt die Verbindung einer Monstranz mit einer nackten, sexualisierten Person. Auch die nackten mongoloiden Kinder, die in einem anderen Kontext als besonderer Ausdruck von kindlicher Unschuld gesehen werden könnten, erscheinen hier auf schamlose Weise exponiert. Dieses Rühren an Tabus, das durch den Einsatz des nackten Körpers erzeugt wird, dient der Affizierung des Rezipienten im Sinne Artauds. In anderen Aktionen, wie der 32. Aktion, dem siebten Abreaktionsspiel Nitschs, nimmt die sexuelle Konnotation eine eminente Rolle ein: Eine auf dem Boden liegende Frau wird bis auf die Unterwäsche entkleidet, in ihre Unterhose werden »blutfeuchte, schleimige Gedärme gestopft.« Die Unterhose wird mit einer Schere aufgeschnitten und die Gedärme wieder hervorgeholt, auf diese wird blutiger Schleim geschüttet. Die Frau stößt sich einen Phallus in die Vagina und schreit ekstatisch. Ein weiterer Akteur liegt mit verbundenen Augen in der
240 Nitsch 1990a, S. 34. 241 Nitsch 1983, S. 446ff.
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Mitte des Raumes, aus einem Reagenzglas wird ihm Blut eingeflößt. Auf seinen Leib werden Gedärme geworfen. Die Frau wird jetzt zu einem Kreuz geführt und daran festgebunden, ihre Beine werden gespreizt. Auf ihr Geschlechtsteil werden Gedärme gelegt. Ein totes Schaf wird zwischen die Beine der Frau gelegt, Nitsch begattet das Schaf mit einem umgeschnallten Phallus. Anschließend penetriert er die Frau damit, während er von den übrigen Akteuren mit Blut beschüttet wird. Nitsch zieht ein Messgewand an und gibt der gekreuzigten Frau Blut zu trinken. Am Ende dieser Aktion entsteht eine Balgerei auf einem blutigen Laken, in der alle in den blutigen Gedärmen eines Schafes wühlen, begleitet wird dieses Finale von der höchsten Steigerung des Lärms.242 Die Gedärme, die in der oben beschriebenen theoretisch konzipierten Aktion aus dem Leib der Leiche entfernt werden, stammen von einem Schlachtvieh und werden auf dem Geschlecht einer nackten Frau drapiert. Erweitert wird dieser Akt der sexuell konnotierten Destruktion durch eine tatsächlich sexuelle Handlung, die Penetration der Frau mit dem künstlichen Phallus, welcher sie zur Ekstase führt. Für ihre ausgelebte Leiblichkeit wird die Frau gekreuzigt, Nitsch vollzieht seine Abreaktion, indem er sie seinerseits mit dem Phallus penetriert. Dieser symbolische Akt steht für die Abreaktion, wie sie der Sexualstraftäter nach der Ansicht des Kriminologen Erich Wulfen erfährt. Die Penetration der an das Kreuz gebundenen Frau durch den Phallus zeigt die Macht des Spielteilnehmers, sie wird zum gewaltsamen Akt, welcher zum Grundexzess führen kann. Das zweite mythologische Motiv, auf welches sich das o.m.theater stützt, ist die Blendung des Ödipus. In der Konzeption des Sechstagespieles wird dieser Mythos am vierten Tag thematisiert: nr 3 und nr 4 binden nr 6 an die bahre und stellen diese mit dem gefesselten nr 6 schräg an die stirnwand, nr 0 greift mehrmals nach dem geschlechtsteil von nr 6 (ausgreifen), nr 6 schreit fast parodistisch wie ein zu schlachtendes schwein. (kastration [ schamwut ]). im augenblick, als nr 0 das geschlechtsteil von nr 6 berührt, setzt penetranter lärm des orchesters ein, und das geschrei des chores steigert sich bei jeder neuen berührung zu einer extremen jubelekstase
242 Nitsch 1983, S. 279ff.
284 | THEATER DER N ACKTHEIT und erreicht ein extremes stadium, das geschrei bekommt ein betont phallisches, ordinär obszön sadistisches gepräge.243
Wie die Tiefenpsychologie versteht Nitsch diesen Akt als symbolische Kastrationshandlung, welche die konsequenteste Form der Leibfeindlichkeit und Negation des Triebhaften und Fruchtbaren darstellt. Diese Verleugnung des Leiblichen manifestiert sich auch im gekreuzigten Christus. Der kastrierte Ödipus und der gekreuzigte Christus sind somit Antipoden des lustbetonten Dionysos.244 In Analogie zu Freud erkennt Nitsch die aus dem Zivilisierungsprozess resultierende Triebnegation. Stark vorangetrieben wurde diese durch die christliche Kirche. Die Kreuzigung Jesu Christi versteht Nitsch indes als »[...] nabelschnur zur exzessiven barbarischen kultur der frühzeit.«245 Für ihn existiert eine Verbindung zwischen dem gekreuzigten Christus und der Antike, indem er im Gekreuzigten den verdrängten Dionysos erkennt: »DER GEKREUZIGZTE CHRISTUS IST DER VERDRÄNGTE DIONYSOS.«246 Dieser Konflikt ist für Nitsch indes noch nicht ausgetragen: »Der Kampf zwischen dem Dionysischen und dem zur Verdrängung neigenden Christentum ist noch nicht zu Ende. Diesen Kampf möchte ich auch irgendwie zeigen in meinem Theater. Mein Theater soll die gesamte Geschichte des Bewußtseins darlegen.«247 Die Versehrung der Körper wird in mehreren Variationen immer wieder symbolisch durchgespielt, im Gegensatz zu den Einzelaktionen des Wiener Aktionismus intendiert das o.m.theater jedoch keine realen Verletzungen der Teilnehmer. Diese hängen am Kreuz, über ihnen befindet sich ein geschlachtetes Tier, das Blut läuft über den nackten Körper der Spielteilnehmer. Nitsch evoziert hier eine absolute Grenzerfahrung, da der Spielteilnehmer durch den Hautkontakt direkt in den Prozess des Abreaktionsspieles eingebunden ist und sich diesem anders als ein zusehender oder zuhörender Rezipient im abgetrennten Zuschauerraum nicht mehr entziehen kann. Der nackte Körper wird somit in zweierlei Hinsicht zu einem entscheidenden Element des
243 Nitsch 1983, S. 567. 244 Wunderlich 1981, S. 14. 245 Nitsch 1983, S. 65. 246 A.a.O., S. 64. 247 Hermann Nitsch in Roussel 1995, S. 47.
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o.m.theaters: Zum einen symbolisiert er für die peripher am Spiel beteiligten Akteure den Dionysos/Christus/Ödipus, zum anderen lässt er den im Zentrum des Geschehens stehenden Spielteilnehmer auf die unmittelbarste Weise den Grundexzess erfahren: ohne ein element von grausamkeit, das jedem schauspiel zu grunde liegt, ist theater nicht möglich, bei dem degenerationszustand, in dem wir uns befinden, wird man die metaphysik via haut wieder in die gemüter einziehen lassen müssen, ich gebrauche das wort grausamkeit im sinne von lebensgier, von kosmischer unerbittlichkeit und erbarmungsloser notwendigkeit, im gnostischen sinn von lebensstrudel, der die finsternis verschlingt, im sinne jenes schmerzes, außerhalb dessen unabwendbarer notwendigkeit das leben unmöglich wäre.248
Nitschs Einbindung grausamer Elemente, welche den Rezipienten in seinem Inneren treffen, ist seit der antiken Tragödie im Theater zu finden. Diese Grausamkeiten waren stets als Element moralischer Belehrungen verschleiert, dienten jedoch auch der Triebbefriedigung und Abreaktion des Publikums. Nitsch kommt zu dem Schluss: »das theater von seinen anfängen bis zur gegenwart war immer bestimmt vom kollektiven bedürfnis nach abreaktion. das drama drückt das bedürfnis nach abreaktion eindeutig aus. das innerste wesen des theaters ist abreaktion.«249 Die durch die Tragödie herbeigeführte Abreaktion versiegt mit dem Christentum, welches mit dem gekreuzigten Christus seinen eigenen Mythos einführt. Nitsch sieht im Christentum die Weiterführung der griechischen Tragödie und den scheiternden Helden der Tragödie als Vorläufer von Christus am Kreuz.250 Die christliche Eucharistie übernimmt nunmehr die Funktion der griechischen Tragödie und führt zur erforderlichen Abreaktion: Ein dramaturgisch aufgebauter Ablauf kulminiert in der Wandlung, der Wiedergeburt.251 Hierin liegen die zahlreichen Assoziationen zur christlichen Eucharistie begründet, welche im o.m.theater zu finden sind. Im Sechstagespiel nimmt Nitsch am 5. Tag darauf Bezug:
248 Nitsch 1976, S. 139, zitiert nach Wunderlich 1981, S. 16. 249 Nitsch 1983, S. 118. 250 A.a.O., S. 121. 251 A.a.O., S. 122.
286 | THEATER DER N ACKTHEIT variation eines katholischen gottesdienstes. die messe verwandelt sich während der eucharistie in ein orgiastisches abreaktionsfest. exzessive aktionen mit tierkadavern, steigerung der schlußaktion vom 3. tag. äußerster lärm. höhepunkt des spieles, gezüchtetet triebdurchbruch, weitgehendste abreaktion der zuschauer. bewußtmachung verdrängter bereiche.252
Nitsch versteht die Verwendung religiöser Symbole nicht als Angriff auf die Kirche, für ihn haben sie eine abstrakt mystische Ausstrahlung, welche ihn anzieht, er hat zu ihnen jedoch kein religiöses Verhältnis.253 Der Vorwurf der Blasphemie, da er christliche Symbole in Beziehung setzt zu Erotik und Sexualität, gehört zu Nitschs Konzeption: diese blasphemien tragen aber dazu bei, sich der aus dem unbewußten instinktbereich stammenden mythischen einordnungsschemata christlich religiöser zwänge bewußt zu werden, »blasphemien« machen bewußt und befreien vom diktat des instinktbereiches. schocks werden erzeugt, welche die wirklichkeit über verblassende mythen und abgebrauchte tabus triumphieren läßt, gerade durch das zerstören christlicher absicherungen, durch das nackte zitieren des zu den christlichen symbolen im gegensatz stehenden bereich des geschlechtlichen entstehen zwangsläufig aktionen, die parallelitäten zu frühen kult- und ritualformen aufweisen […].254
Bereits in seinen frühen Aktionen hatte Muehl Sexualität und Religion in Bezug zueinander gesetzt, indem er mit der Exhibition der Geschlechtsteile bewusst religiöse Tabus verletzte. Otmar Rychlik weist darauf hin, dass sowohl die Religion als auch die Sexualität den Aspekt der Reproduktion und der »Auflösung der eigenen physischen Grenzen« teilen, die Religion glaubt an die Auferstehung, durch den Geschlechtsakt wird neues Leben gezeugt.255
252 Nitsch 1983, S. 590. 253 Hermann Nitsch in Roussel 1995, S. 48. 254 Nitsch 1983, S. 201. 255 RYCHLIK, Otmar 2003: Herman Nitsch: Das Sechstagespiel des Orgien Mysterien Theaters 1998: Bilddokumentation mit Kommentaren von Otmar Rychlik. In: NITSCH, Hermann; RYCHLIK, Otmar (Hrsg.) 2003: Hermann Nitsch: Das Sechstagespiel des Orgien Mysterien Theaters 1998. Ostfildern: Hatje Cantz, S. 252.
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Diese Vorstellung der Auferstehung manifestiert sich im o.m.theater vor allen im Rekurs auf den Dionysosmythos. Nitsch gibt unumwunden zu, was ihm vielfach vorgeworfen wird,256 dass sein o.m.theater schocken will. Er definiert diesen Schock aber nicht als antibürgerliche Trotzreaktion, sondern als Aufklärungsinstrument, das die Fragwürdigkeit der dogmatischen Moralvorstellungen der Kirche infrage stellt. Gerade im stark katholisch geprägten Österreich der Nachkriegszeit war eine derartige Aufklärung eine wichtige Gegenstimme zur herrschenden Moral. Die 1957 von Nitsch konzipierten Fragmente des o.m.theaters kulminieren in der Durchführung des Sechstagepieles auf Schloss Prinzendorf im niederösterreichischen Weinviertel vom 03. bis zum 09.08.1998. Die Dramaturgie des Sechstagespieles berücksichtigt die mythologischen Vorbilder und Nitschs Konzeption der Abreaktion. Der erste Tag beginnt mit dem partiellen Aufbau des mythischen Leitmotivs mittels der Durchführung diverser Ausweidungs- und Kreuzigungsaktionen. Der zweite Tag offenbart das mythische Leitmotiv des o.m.theaters, welches aus der Wandlung, der Kommunion, der Kreuzigung von Jesu Christi, der Zerreißung des Dionysos und der Blendung des Ödipus besteht. Der dritte Tag ist der »Tag des Dionysos«. Die Beschäftigung mit Dionysos ist die Beschäftigung mit dem Untergang und der Wiederauferstehung. Durch das Erleben des Exzesses soll in den Spielteilnehmern alles Verdrängte wieder hervorgebracht werden. Das Prinzip des Dionysischen zeigt sich in exzessiven Festen der Spielteilnehmer. In der Aktionsfolge des mythischen Leitmotivs werden mehrere Tierzerreißungen zelebriert, welche im ersten rauschhaften Finale am Nachmittag des dritten Tages münden. Auch am vierten Tag finden Aktionen zum mythischen Leitmotiv statt, am Abend folgt ein »meditatives Begreifen des Seins«. Der fünfte Tag markiert den Höhepunkt des Dramas, das Erreichen des Grundexzesserlebnisses. Um 15.00 Uhr wird eine Messe abgehalten, deren Eucharistie sich in ein von ekstatischem Lärm begleitetes »orgiastisches Abreaktionsfest« verwandelt. Hierin erhofft sich Nitsch die Abreaktion der Spielteilnehmer, wie er sie in seinen theoretischen Ausführungen über das o.m.theater beschrieben hat. Freilich lässt sich dieser Aspekt nicht von einem
256 Siehe hierzu die umfassende Sammlung von Presseberichten über das o.m.theater in Nitsch 1988.
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Regisseur inszenieren, da dieser keine Macht über die psychischen Vorgänge seiner Teilnehmer hat. Nitsch gibt sich indes optimistisch: »nach der katastrophe des dramas, der nacht des exzesses des todes, dem grundexzesserlebnis wird der spielteilnehmer ins helle bewusstsein des daseins entlassen.« Nach dem Grundexzesserleben der Teilnehmer herrscht eine ausgelassene Stimmung, es wird gefeiert. Der sechste Tag ist der Tag der Auferstehung. Hermann Nitsch betont, dass es eine falsche Vorstellung sei, dass bei Aktionsereignissen jeder Rezipient jederzeit nach seinem Gusto ins Geschehen eingreifen dürfe. Diese Vorstellung wird umso manifester, je größer der Tabubruch seitens der ausführenden Künstler ist, der Rezipient fühlt sich somit auch animiert, mit den gesellschaftlichen Regeln auch die Regeln der Distanz zwischen Akteur und Rezipient zu brechen.257 Nitschs o.m.theater folgte jedoch stets einer genauen Partitur, welche wie eine klassische Theaterinszenierung vor der eigentlichen Durchführung exakt geprobt wurde. Mit dieser genauen Planung der Aktionen unterscheidet sich der Aktionismus vom Fluxus und vom Happening: Nitsch intendierte mit dieser minutiösen Planung die Steigerung der Wahrnehmung seiner Mitspieler: empfindungsrituale führen den zuschauer oder besser spielteilnehmer zu immer spontanerem sinnlichen registrieren, die rituale des spieles leiten den spielteilnehmer in seine eigene empfindungsfreiheit bzw. wahrnehmungserweiterung und wahrnehmungsintensität, die mitwirkung der spielteilnehmer bei meinem theater entspricht erfahrungsritualen, die nahezu erlernt werden müssen, bei einer idealen aufführung müßten alle zuschauer (spielteilnehmer) mindestens 4 wochen vorher mit uns proben und mitwirken, die spiele aufzubauen, damit die mitwirkung, das spontane eingreifen, sich richtig ereignet, die grenze zwischen akteur und zuschauer würde sich in einem solchen fall verwischen.258
Dass sein Konzept der Abreaktion funktioniert, verdeutlicht Nitsch anhand des Beispieles seines langjährigen Modells Heinz Cibulka, der auch an einer 24-Stunden-Aktion in Prinzendorf teilnahm:
257 NITSCH, Hermann 1990b: ich will ein theater der sinne: salzburger rede über das prinzendorfer drei-tage-spiel (die 80. aktion). In: protokolle Nr. 1, S. 119-126, S. 124f. 258 Nitsch 1990b, S. 125.
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gegen schluss der 24-stunden-aktion in prinzendorf hielt cibulka, der augenbinde entledigt im dunklen kellergewölbe, nackt, mit beiden armen, von einer grellen hellen magnesiumfackel beleuchtet, eine GOLDENE MONSTRANZ hoch, um danach ins morgendliche tageslicht hinauszugehen. ich sah diesen befreienden gang ins licht als ein gleichnis für die persönliche entwicklung meines freundes, der gerade in dieser zeit über den schauspieler hinauswuchs und entscheidende schöpferische leistungen setzte.259
Dies ist indes die subjektive Wahrnehmung des Schöpfers des o.m.theaters und des damit verbundenen Abreaktionskonzeptes, Cibulkas Empfindungen in diesem Moment sind nicht überliefert. Trotzdem lässt sich erahnen, dass ein Spielteilnehmer, der von dem Konzept ebenso überzeugt ist wie Nitsch, durchaus so empfinden könnte. Cibulka stand Nitsch sehr nahe und nahm seit den sechziger Jahren an dessen Aktionen teil. Die Aktionen des o.m.theaters wie das 1984 in Prinzendorf aufgeführte Dreitagespiel benötigten jedoch so viele Teilnehmer, dass diese nicht alle aus Nitschs persönlichem Umfeld stammen konnten. Bei diesen außenstehenden Akteuren zeigt sich besonders gut, wie tragfähig Nitschs Konzeption der Abreaktion ist, und ob diese auch bei einer größeren Gruppe unterschiedlicher Akteure wirkt. Eine Gruppe studentischer Teilnehmer des Dreitagespieles nahm Nitsch positiv als Führungsfigur an: »Wir hätten ihn gern zu unserem Guru gemacht.«260 Peter Gorsen beschreibt die über hundert Studenten als aufgekratzte Adjunkten, welche sich enttäuscht über den durchorganisierten Probenprozess zeigten, welcher noch keinen Raum für die erhoffte sinnliche Erfahrung ließ. Überdies sei »[d]er gespielte dionysische Exzeß […] über jeden sexuellen Naturalismus erhaben und bedien[e] sich statt dessen der stellvertretenden Repräsentanz der aufgeklafften, durchwühlten, beschütteten Lammkörper.«261 Hier zeigt sich wiederum die Diskrepanz zwischen der theoretischen Konzeption des o.m.theaters, das für den höchsten Naturalismus eintritt, und der tatsächlichen Durchführbarkeit durch die Spielteilnehmer. Die durchnummerierten Spielteilnehmer agieren gemäß Nitschs exakt
259 Cibulka 1977. 260 GORSEN, Peter: 1987: Sexualästhetik: Grenzformen d. Sinnlichkeit im 20. Jahrhundert. Original-Ausgabe. Reinbek bei Hamburg: RowohltTaschenbuch-Verlag, S. 459. 261 Ebd.
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ausgearbeiteter Partitur und werden somit von real empfindenden Menschen zum Spielmaterial, die Abreaktion verkommt zum »ästhetischen Schein«.262 Die in der Theorie des o.m.theaters intendierte Abreaktion des Spielteilnehmers kann nur dann stattfinden, wenn dieser eine entsprechende, auf sein individuelles Wesen passende Erfahrung macht. Die strengen Vorgaben der Partitur lassen jedoch keinen Spielraum, um auf die individuelle Psyche eines jeden Spielteilnehmers zu reagieren. Wer auf die von Nitsch angebotenen Reize nicht mit Abreaktion reagieren kann, bleibt Zuschauer jenseits der Ekstase.263 Sofern die Abreaktion jedoch wie von Nitsch geplant funktioniert, findet ein Prozess statt, dessen Effekt einer psychotherapeutischen Behandlung nicht unähnlich ist. Durch die Abreaktion werden verdrängte Ängste und Triebe dem Spielteilnehmer wieder in Erinnerung gerufen. Anders als in einer therapeutischen Situation jedoch wird der Spielteilnehmer mit seinen Empfindungen allein gelassen, da der Künstler Nitsch ihm keine professionelle Hilfestellung geben kann und das in einer Gruppe von hunderten von Teilnehmer überdies auch nicht für jeden Einzelnen möglich wäre.264 Auch die Presse als unbeteiligte Beobachterin zweifelt daran, dass bei den Teilnehmern des o.m.theaters eine wirkliche Abreaktion stattfindet: An die Mänaden des Dionysos, die vor 3000 Jahren selbstvergessen durch die Wälder von Parnass schwärmten, erinnerte nichts. Unerfüllt blieb auch diesmal der innige Wunsch von Meister Nitsch nach der kollektiven Orgie. Das Publikum – ein paar Münchner Fans, ein paar Mitglieder der österreichischen Kulturschickeria, ein paar Berufsundergrounder wie Oswald Wiener und drei Dutzend Zeitungsleute – zeigte keine ersichtliche Wirkung. Niemand onanierte, niemand massakrierte. Kein Urschrei scholl durch den verwilderten Park. Nur die Mysterienschülerin, unter einen warmen Dusche von Blut und Gedärm befreit, sagte: »Schön war’s.«265
262 Gorsen 1987, S. 459. 263 A.a.O., S. 460. 264 A.a.O., S. 464. 265 SAUTNER, Inge 1975: Wienerblut oder die Schrumpforgie: Der Wiener Aktionist Hermann Nitsch und sein »Orgien-Mysterien-Theater«. In: Die Weltwoche vom 30.07., zitiert nach Nitsch 1988, S. 173.
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Zuerst stellt sich jedoch die Frage, ob das o.m.theater wirklich in der Lage ist, eine tatsächliche Abreaktion beim Spielteilnehmer hervorzurufen, oder ob die blutigen Exzesse, welche Nitsch inszeniert, nurmehr befremdlich auf die Spielteilnehmer wirkten, sodass sich eine Distanz zwischen Akteur und Geschehen aufbaut, welche die Konzentration auf die zu erreichende Abreaktion unmöglich macht. Eine weitere Gefahr für den Erfolg des Abreaktionsprozess liegt in der Konzeption des Sechstagespieles, welches die gleichen Elemente wie die Tierzerreißung und synästhetische Erfahrungen an den einzelnen Tagen mehrfach wiederholt. Durch diese ständige Wiederholung kann eine Abstumpfung des Spielteilnehmers eintreten, welche das Erleben der Abreaktion unmöglich macht. Die für die Bühne ungewöhnlichen und drastischen Mittel des Wiener Aktionismus wurden bald auch vom sogenannten Regietheater für sich entdeckt.266 Hermann Nitsch indes bewertet dies als inhaltsloses Abkupfern eines visuellen Schock-Effektes, der bei ihm in die große theoretische Konzeption des o.m.theaters eingebunden ist: »Ich war auch in Salzburg nie im Theater. Weil mich das Regietheater, dessen Leute eh alles schamlos gestohlen haben, angeekelt hat. Blut und Gedärme, das alles gab es jetzt auf der Bühne.« Nitsch vermisst die Dankbarkeit der Regisseure: »Die könnten ja sagen: angeregt durch den Aktionismus oder durch Nitsch. Aber die sind nur stolz auf ihre kleinen Skandälchen.«267 Trotz dieser Kritik am bürgerlichen Theater führte Nitsch im Jahr 2005 eine achtstündige Aktion des o.m.theaters im Wiener Burgtheater auf. Die 1200 Karten waren am ersten Tag ausverkauft.268 Die große Resonanz dieser Aufführung lässt sich damit erklären, dass das o.m.theater durch seine hohe Ritualisierung und seine stark sinnlich
266 Nitsch 1990b, S. 126. 267 Lackner 2005. 268 Ebd. Die Magistratsverwaltung in Wien informierte das Publikum auf Plakaten darüber, dass der Besuch der Veranstaltung wie bei allen Aktionen des Orgien-Mysterien-Theater erst für Besucher ab 18 Jahren zu empfehlen sei (SCHMITZ, Britta; NITSCH, Hermann 2006: Hermann Nitsch: Orgien-Mysterien-Theater; Retrospektive: anlässlich der Ausstellung »Hermann Nitsch. Orgien-Mysterien-Theater. Retrospektive«, SMB Nationalgalerie Staatliche Museen zu Berlin, Martin-Gropius-Bau 30.11.2006-22.01.2007 1. Auflage. Köln: König, S. 125.
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konnotierten Elemente in der Vorstellung vieler potenzieller Rezipienten zu einem Mythos wird. Nitschs Konzeption bietet sinnliche Erfahrungen, welche in einer rational bestimmten Stadtwelt nicht mehr gegeben sind: Das Fleisch liegt nicht in Folie verschweißt in der Supermarkttheke, sondern wird vom Schlachter aufgeschnitten. Durch die Einbindung in ein festliches Ritual, dessen finaler Durchführung Proben vorausgehen, kann sich der Spielteilnehmer, welcher kein professioneller Schauspieler ist, in seine Situation einfinden und wird nicht überfordert wie in der spontanen Situation in Paradise Now. Die starke Ritualisierung und die Verhaftung des o.m.theaters in zeitlosen Motiven der Religion und dem antiken Mythos zeigen, dass das o.m.theater als eines der wenigen theatralen Phänomene der sechziger Jahre, welche sich der Nacktheit bedienen, immer noch Bestand hat. Während sich die Nacktheit als Zeichen des politischen Protestes überholt hat, bleibt ihre mythologische Relevanz bestehen.
6.5 Z USAMMENFASSUNG Infolge der Studentenproteste kommt es zu einer grundlegenden moralischen Umbewertung der nach dem Zweiten Weltkrieg streng tabuisierten Sexualität. Eine junge Generation wendet sich gegen ihre Eltern und deren bürgerliche Werte, welche als zutiefst repressiv empfunden wurden. Folgen dieses Umsturzes der alten Ordnung sind bis heute spürbar. Die größte durch die 68er-Revolution angestoßene Veränderung besteht in der radikalen Aufhebung der Trennung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich. Diese Trennung, welche vor allem die Tabuisierung der Sexualität beinhaltet, ist eines der Hauptmerkmale des Zivilisationsprozesses und gehört auch zu den Zielen des ›Normalisierungsprojektes‹ im Nachkriegsdeutschland. Der Protest der 68er richtet sich vor allem gegen Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft. Eine vergleichbare Geisteshaltung findet sich in dem ZOCK-Manifest der Wiener Aktionisten und in deutlich abgeschwächter Form in Hair, wo der Hippie-Stamm seine Wehrpässe verbrennt. Die Kritik an der bürgerlichen Kleinfamilie richtet sich gegen eine kirchlich geprägte Moral, welche Sexualität nur innerhalb der Ehe zum Zwecke der Fortpflanzung toleriert. Zudem wird die Familie als
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kleinste Einheit eines repressiven Systems verstanden. Das neue Ideal sieht stattdessen eine antiautoritäre Erziehung nach dem Vorbild Rousseaus vor. Einer der wichtigsten Theoretiker für die 68er wird der Psychoanalytiker Wilhelm Reich. Dieser behauptet, dass jeder Mensch ein Recht auf eine erfüllte Sexualität habe und deren Unterdrückung den Faschismus begünstige. Wenngleich sich die zweite, sehr vereinfachende These nicht belegen lässt, ist sie zentraler Bestandteil des Denkens und ein Hauptargument der 68er. Auch das Kollektiv des Living Theatre teilt Reichs Ansicht, indem es davon ausgeht, dass die zivilisatorisch bedingten Schamschranken zu einer Entfremdung von Körper und Seele führen. Reichs Denken ist zivilisationskritisch, wenn er behauptet, dass der sexuell frustrierte Mensch Hass, Schuldkomplexe und Angst entwickle und dies kompensiere, indem er zum Sittenwächter werde und seine eigene Triebhaftigkeit auf andere projiziere. Der Psychoanalytiker beschreibt hier den Verinnerlichungsprozess von Normen und die negativen Folgen der Triebunterdrückung, vor der Freud und Elias warnen. Diese Projektion der Triebhaftigkeit ist eine weiterreichende Variante der Inversionsstrategie, welche bereits die Lebensreformer und die ihnen zeitgenössischen Tänzerinnen anwandten, um ihre eigene Nacktheit zu rechtfertigen. In beiden Fällen handelt es sich um eine psychisch ungesunde Form der Unfreiheit im Umgang mit der Sexualität. Die unkritische Rezeption der Theorie Wilhelm Reichs und die Fokussierung auf das emotional aufgeladene Feld der Sexualität stehen im Widerspruch zu den rationalen Erfordernissen des politischen Kampfes, welchen die 68er zu führen behaupten. In diesem Ungleichgewicht lässt sich eine Sehnsucht nach etwas Ursprünglichem, Unverfälschtem ausmachen, wofür Rousseaus Postulat ›zurück zur Natur‹ steht. Attribute hiervon sind die idealisierte ›freie Liebe‹ in den Kommunen und die antiautoritäre Erziehung. Neben dem politischen Kampf findet sich auch eine rückwärtsgewandte Sehnsucht bei den 68ern, welche sie mit den Lebensreformern teilen. Evident wird dieses Streben in der amerikanischen Hippie-Bewegung, deren ›Blumenkinder‹ mittels Drogen und exotischer Religionen dem bedrückend empfundenen Alltag entfliehen wollten. Hair thematisiert die Weltanschauung und Lebenswelt der Hippies. Statt für gesellschaftliche Strukturen interessieren sich diese für ihr eigenes Bewusstsein und ihren Körper. Der nackte Körper wird zum Heiligtum erklärt und erhält die gleiche spirituelle und
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transzendente Bedeutung, welche ihm die Lebensreformer und Tänzerinnen wie Ruth St. Denis zugeschrieben hatten. Die religiösrituelle Konnotation des nackten Körpers, welche im Denken der Lebensreformer wurzelt, lässt sich in verschiedenen Abstufungen in allen hier untersuchten Inszenierungen ausmachen. Eine andere Form der Rückwärtsgewandtheit prägt die Performances der Wiener Aktionisten. Durch radikal regressives Verhalten streben diese nach einer absoluten physischen Freiheit, welche ihnen im Alltag durch die Konventionen der Gesellschaft verwehrt ist. Wilhelm Reich behauptet, dass es in Bezug auf die Sexualität einen Zustand des ›Natürlichen‹ gebe, welcher eine nicht weiter zu hinterfragende Größe sei. Wenngleich sich aus seiner Theorie schließen lässt, dass dieses Natürliche ein ungehemmtes Ausleben des Sexualtriebes beinhaltet, bleibt dieser Begriff jedoch diffus. Diese Unklarheit erinnert an die Legitimationsstrategien der Lebensreformer, auch diese verwenden große, im Wesentlichen unschuldig und positiv konnotierte Begriffe, welche sich aber einer klaren Definition entziehen. In Folge der sexuellen Revolution kommt es zu einer massiven Kommerzialisierung, der sogenannten Sexwelle. Die durch den Protest der 68er erreichte Aufhebung der Trennung zwischen der privaten und öffentlichen Sphäre ermöglicht die offene Präsentation der Sexualität und erschließt so ein neues Wirtschaftsfeld. Der endlich erlaubte Diskurs über das ehedem verschwiegene Thema führt indes zu einer Übersexualisierung, welche in einer Art Leistungsdruck mündet. Die Nacktheit in Hair legt den Schluss nahe, dass sie kommerziell motiviert ist, da sie erst ab der Broadway-Fassung Bestandteil der Inszenierung ist. Eine weitere Motivation für die Nacktheit könnte in der Zeigefreudigkeit der Darsteller sowie der spontan teilnehmenden Zuschauer liegen. Oh! Calcutta! steht in direktem Bezug zur sexuellen Revolution und zur Sexwelle, da die Revue die Freude an der Sexualität thematisiert. Die Triebe werden nicht mehr unterdrückt, sondern können nunmehr ausgelebt werden. Somit ist die eingesetzte Nacktheit gänzlich unsublimiert und untrennbar mit der Sexualität verknüpft. Die in nahezu jeder Szene gezeigte Nacktheit in Oh! Calcutta! schafft eine besondere Bindung zu den Rezipienten, welche der offensiven Nacktheit nicht gleichgültig begegnen können. Diese Affizierung in der Tradition Artauds ist symptomatisch für den Gebrauch der
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Nacktheit im Theater der sechziger Jahre. Während es den Produzenten von Oh! Calcutta! mit diesem Kunstgriff weniger um die Agitation des Zuschauers als um die Vermarktung ihrer Revue geht, sehen sich das Living Theatre und die Vertreter des Wiener Aktionismus stärker in der Tradition eines politischen Theaters. Julian Beck und Judith Malina wollen dem Zuschauer zu einer physischen Reaktion auf das Gesehene verhelfen, da sie glauben, dass der Verstand von einem Panzer umgeben sei. Diesen Ansatz vertreten auch die Wiener Aktionisten, welche Erfahrungen des Authentischen durch intensives körperliches Erleben anstreben. Sowohl in den Performances des Living Theatre als auch beim o.m.theater bleibt es zweifelhaft, ob sich die erwünschten Effekte beim Teilnehmer einstellen. Wie schon bei den Lebensreformern oszilliert die Präsentation der Nacktheit in den später sechziger Jahren zwischen den Feldern Rückwärtsgewandtheit und Kommerz. Während freie Theatergruppen wie das Living Theatre eine paradiesisch konnotierte Nacktheit anstreben, ist der unbekleidete Körper für die Produzenten am Broadway und im Londoner Westend ein Verkaufsargument. Nachhaltig verändert hat sich indes die Einstellung zur Sexualität: Diese wird nicht mehr totgeschwiegen oder sorgsam legitimiert, vielmehr wird sie in allen hier untersuchten Produktionen offen thematisiert. Diese Veränderung bleibt dem Kampf der 68er geschuldet. Die Kehrseite der Medaille ist eine Übersexualisierung der Gesellschaft, welche den in der Gegenwart vorherrschenden Körperkult begünstigt.
Die Gegenwart
7.
Der Kult um den Körper
Die in den Kapiteln 3 und 5 beschriebenen Phänomene der Lebensreform und der 68er-Bewegung befassen sich jeweils mit einer durch den Zeitpunkt ihrer Geburt und ihre Interessen definierten ›Generation‹, welche jeweils ein gemeinsames Körperverständnis auszeichnet. Diese Auffassung schlägt sich wiederum nieder in der Darstellung des nackten Körpers auf der Bühne. Nach den beiden historischen Abschnitten dieser Arbeit sollen nun die Gegenwart und ihr Körperverständnis betrachtet werden. Der Terminus ›Gegenwart‹ wirft zunächst das Problem der zeitlichen Abgrenzung auf, da nicht eindeutig gesagt werden kann, wie diese klar von der Vergangenheit abzugrenzen ist. Ohne zeitlichen Abstand kann nur ein Versuch unternommen werden, das Phänomen Gegenwart zu fassen. Um das aktuelle Körperverständnis zu beschreiben und zu erklären, werden hier zunächst in der 68er-Bewegung wurzelnde Einflüsse berücksichtigt wie die fortschreitende sexuelle Liberalität. Dazu kommen das Phänomen der Globalisierung sowie ältere und jüngere technische und mediale Entwicklungen wie das Privatfernsehen und vor allem die Verbreitung des Massenmediums Internet. Der jüngste entscheidende Faktor ist das den Nutzer aktiv als Produzenten von Inhalten mit einbeziehende Web 2.0. Ein weiteres Problem besteht in der Unmöglichkeit, eine ›Generation‹ mit gemeinsamen Zielen und Idealen wie in den beiden anderen Abschnitten der Arbeit auszumachen. Dieser Umstand resultiert einerseits aus der Tatsache, dass sich eine Verallgemeinerung besser aus der Rückschau vornehmen lässt, während die relevante Zielgruppe gegenwärtig noch aus vertrauten Zeitgenossen besteht, deren Handeln den gesellschaftlichen und kulturellen Alltag bestimmt. Zum anderen lassen sich in einer durch die Globalisierung und neue Möglichkeiten
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der Kommunikation und Wissensvermittlung veränderten Welt weniger Charakteristika einer bestimmten Gruppe ausmachen, es koexistieren viele unterschiedliche Gruppen, welche Schnittmengen ihrer Interessen aufweisen können, aber nicht müssen. Auch wenn nur ein Teil der zwischen 1940 und 1950 Geborenen von ihrer Ideologie und ihrem Handeln den 68ern zugeordnet werden kann, erzeugte diese Bewegung einen derartigen Nachhall, dass die Bezeichnung ›68er‹ mit konkreten Assoziationen behaftet ist. Die Suche nach einem Generationenbegriff für die Zeit nach 1968 führt unter anderem zu den markanten Begriffen »Generation X« und »Generation Golf«. Beide Begriffe entstammen der Literatur, Generation X von Douglas Coupland erschien 1991 und handelt von zwischen 1960 und 1970 geborenen Amerikanern, Generation Golf wurde im Jahr 2000 von dem deutschen Journalisten Florian Illies veröffentlicht und beschreibt die zwischen 1965 und 1975 in der BRD sozialisierten jungen Erwachsenen aus der Retrospektive. Der immense Erfolg von Generation Golf zog eine Vielzahl von Nachahmerprojekten nach sich, als Beispiele seien Generation Ally, Generation Umhängetasche, Generation Praktikum und jüngst Generation Doof genannt.1 Alle diese Versuche einer Generationscharakteristik lassen jedoch das gegenwärtige Körperverständnis außer Acht, welche in erster Linie eine Weiterführung der Liberalisierung und der Sexwelle in den späten sechziger Jahren darstellt. Der Körper ist zum Konsumobjekt geworden, er hilft er bei der Durchsetzung ökonomischer Interessen und steht im Fokus der Verkäufer. Die Weiterführung des 68er-Leitspruches ›das Private ist politisch‹ rückt den ehemals privaten Körper in das Zentrum. Ein immenser Leistungsdruck lastet auf dem Körper, dies manifestiert sich in einem allgemeinen Schönheits- und Jugendlichkeitsgebot, welches in einer krankhaften Ess- oder körperdysmorphen Störung2 münden kann. Der Körper ist auch stets ein Gradmesser für die Zivilisation einer Gesellschaft; wenn der urwüchsige Körper nicht gerade als Protest-
1
COUPLAND, Douglas 2000: Generation X: Tales for an accelerated Culture. London: Little. ILLIES, Florian 2002: Generation Golf: Eine Inspektion. Frankfurt am Main: Fischer.
2
Siehe hierzu POPE, Harrison G.; PHILLIPS, Katharine A.; OLIVARDIA, Roberto: Der Adonis-Komplex: Schönheitswahn und Körperkult bei Männern. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
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mittel eingesetzt wird, hat er sich selbstverständlich einer Disziplinierung zu unterwerfen. Aus diesem Grund gilt mittlerweile der digital nachbearbeitete Körper als der »wahre« und der naturbelassene Körper als »falsch«.3 Es kommt zu einer »Körperindustrialisierung«, deren Modelle von den Medien geprägt werden und aus denen man sich seinen Körper wie ein Kleidungsstück aussuchen kann. Das selbst gewählte und zu verantwortende Körperbild gehört zum sogenannten self-fashioning4, welches in einer konsumorientierten Welt eine evidente Rolle spielt: Im System des Konsumismus inszeniert sich das Leben selbst und erfindet seine Identität. Der Wunsch »Verändere mich!« führt dabei natürlich nicht zu einer wirklichen Veränderung; es geht, wie gesagt, nur darum, das Anderssein zu schmecken. Mit anderen Worten: Man kann sich zwar nicht ändern, aber umerzählen und ein neues »Make-up der Identität« auflegen. Es ist deshalb die wesentliche Aufgabe des Marketing und der Werbung, Formulierungshilfen bei der Eigenkonstruktion von Geschichten zu geben, mit denen sich dann Individuen identifizieren können.5
Dabei handelt es sich nicht, wie oftmals von den Akteuren behauptet, um die Körpergestaltung aus rein persönlichen Motiven. Die Soziologin Nina Degele kommt in ihrer Untersuchung des sogenannten »Schönheitshandelns« zu dem Schluss, dieses stelle ein Medium der Kommunikation dar, um Aufmerksamkeit zu erlangen und die eigene
3
CAYSA, Volker 2003: Körperkult und Körperkapitalisierung: Von der biopolitischen Körpertechnologisierung zur selbsttechnologischen Körperindustrialisierung. In: TIETZ, Udo und CAYSA, Volker (Hrsg.) 2003: Körperkult (Berliner Debatte Initial, Heft 4/5, S. 5-15, S. 5f.
4
Der Begriff wurde von Stephen Greenblatt 1980 eingeführt und beschreibt den Prozess der Identitätskonstruktion durch den Einzelnen gemäß gesellschaftlich akzeptierter Normen. Siehe GREENBLATT, Stephen 2005: Renaissance self-fashioning: From More to Shakespeare; with a new preface. Chicago: University of Chicago Press.
5
BOLZ, Norbert 2002: Das konsumistische Manifest. München: Fink, S. 102.
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Identität zu sichern. Schönheitshandeln wird zum Normalitätshandeln, weil es die Anerkennung relevanter Bezugsgruppen bezweckt.6 Während die Lebensreformbewegung identitätsstiftend wirkte durch die angestrebte Befreiung des Körpers und die Stärkung der Körperseele, wird der moderne Körper durch Kleidung, Make-up, Fitness, Diät und Schönheitschirurgie versklavt. Die Gesellschaft nach 1968 wird zwar immer permissiver hinsichtlich der Bedürfnisse des Individuums, fast alles ist erlaubt oder lässt sich mit einer passenden ökonomischen Rechtfertigung tolerieren. Im Umkehrschluss stellt diese Haltung jedoch den Einzelnen vor die schwierige Aufgabe, sein Glück nunmehr auch in physischer Hinsicht aktiv in die Hand zu nehmen. Die gewachsene gesellschaftliche Liberalität führt zu einer gefühlten Entwurzelung, welcher alleine der eigene Körper als einzig verlässliches Moment noch entgegensteht. Angesichts von Unsicherheit und dem Gefühl der Fragmentierung erscheint der Körper als Rückzugsort so attraktiv, weil seine Gestalt beziehungsweise seine Haut die Seele physisch von der Außenwelt abtrennt: Körpermanipulationen gleich welcher Art, ob durch Fitness oder blutige Selbstbeschädigung, tragen dann dazu bei, sich selbst wieder konturiert, begrenzt und lebendig zu fühlen, und nähren die Illusion, angesichts von außen oder innen kommender identitätsauflösender Bedrohungen wieder Herr im eigenen Körper zu sein. Nur auf dieser Basis – ausgehend von der Hypothese, dass die Integration des Körpers bzw. des Körperselbstbildes eine störanfällige Entwicklungsherausforderung bedeutet, die, wenn sie missglückt, zu einer Dissoziation von Körper und Selbst führen kann – ist das klinisch evidente Phänomen zu verstehen, dass Selbstzerstörung – im Sinne der Desintegrationsabwehr – der Selbstfürsorge dienen kann. Der Körper als Objekt des gegenwärtigen Schönheitswahns, als Objekt destruktiven Agierens oder entsprechender Phantasien scheint auf der Matrix von psychischen Traumatisierungen im soziokulturellen Kontext von Enttraditionalisierung und Individualisierung die Artikulationsweise der modernen Identitätskrankheit zu sein.7
6
DEGELE, Nina 2004: Sich schön machen: zur Soziologie von Geschlecht und Schönheitshandeln. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft, S. 10.
7
GERISCH, Benigna 2006: Keramos Anthropos. Psychoanalytische Betrachtungen zur Genese des Körperselbstbildes und dessen Störungen. In: ACH, Johann S.; POLLMANN, Arnd (Hrsg.) 2006: No body is perfect:
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Auch Gero von Randow vertritt die Auffassung, dass die stärkere Sorge um den Körper und dessen Aussehen Ausdruck einer individualisierten und säkularisierten Gesellschaft sei, der das politische Gegenmodell abhandengekommen sei: »Immer wenn die gesellschaftlichen Institutionen fragwürdig geworden zu sein scheinen, bietet sich die Rückbesinnung auf eine scheinbar noch nicht entfremdete Natur an, in diesem Falle auf die Natur, die wir als Körper selbst sind.« Randow muss jedoch auch zugeben, dass der moderne Körper keineswegs mehr als reines Naturprodukt betrachtet werden kann.8 Vergleicht man den gegenwärtigen Umgang mit dem Körper und das Körperverständnis der Naturisten oder Hippies, fällt auf, dass jene tatsächlich einen stark naturbelassenen Körper einer in ihren Augen erstarrten Gesellschaftsordnung entgegensetzten. Mit diesem physischen Protest ging aber auch eine politische Ideologie einher. Die moderne Gesellschaft in ihrer Allgemeinheit kennt indes keine stärkere Ideologie als den Konsum9 und damit verbunden die Sorge um den auf dem Markt bestehenden idealen Körper. Randow hat somit recht mit seiner These hinsichtlich der Aufwertung des Körpers als Zeichen des Gefühls der Entfremdung, eine Renaturisierung des Körpers lässt sich jedoch nicht in der breiten Gesellschaft ausmachen. Vielmehr wird die wahre – das heißt die nicht durch Training und Make-up hergestellte – Natur zum unerwünschten Zustand des Körpers, den es zu eliminieren gilt.10 Naomi Wolf entwickelt die interessante These, dass Brustimplantate aus Silikon bereits wegen ihrer materiellen Beschaffenheit eine Überwindung der Natur und der Nacktheit darstellen.11 Es stellt sich die Frage, ob eine unbekleidete Frau mit erkennbar operierten Brüsten weniger nackt erscheint als eine unoperierte Frau und ob dieser Effekt
Baumaßnahmen am menschlichen Körper; bioethische und ästhetische Aufrisse. Bielefeld: transcript, S. 131-162, S. 138. 8
RANDOW, Gero von; GOLIN, Simon; MEYER, Matthias 2001: Wie viel Körper braucht der Mensch?: Standpunkte zur Debatte; für den Deutschen Studienpreis. Hamburg: Edition Körber-Stiftung, S. 10.
9
Siehe z.B. Bolz 2002.
10
Siehe WALDRICH, Hans-Peter; BOZKURT, Esra 2004: Perfect body: Körperkult, Schlankheitswahn und Fitnessrummel. Köln: PapyRossa Verlag, S. 17f.
11
WOLF, Naomi 1992: Der Mythos Schönheit. 10.-12. Tsd. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 343.
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vom Silikon als Fremdkörper im Körper herrührt oder aber von der mangelnden individuellen Form der Brüste, welche die durch die Nacktheit sichtbare Individualität der Person eliminiert. Trotz der Blumenkinder, die als Synonym für den freien und unverfälschten Körper stehen, rückt die Kontrolle des Körpers 1968 in einen Fokus, dem er sich bis heute nicht mehr entziehen kann: Gerade der allzeit verfügbare, allzeit präsente, allzeit begehrliche Körper ist Ausweis unserer aufgeklärten, liberalen, postmodernen Gesinnung, zentrales Symbol der Zeit nach 1968. […] Also wurde der weibliche, unverhüllte, sexuell attraktive Körper zum Symbol der Befreiung von allem mittelalterlichen Muff unter Kutten wie jener Odos. Ein Symbol der Revolution und Befreiung darf freilich nicht altern, nicht hässlich werden, nicht vergehen und verfaulen. […] Der Körper ist nach dem Zusammenbruch der letzten großen Erzählung vom Geist der 68er übrig geblieben.12
So wie die Sexwelle von Anfang an die wirtschaftliche Verwertung der Errungenschaften der sexuellen Revolution darstellte, kommerzialisierte sich auch der politische Kampf zunehmend. Jean-Claude Guillebaud konstatiert in seiner Abhandlung Die Tyrannei der Lust, dass die meisten sexuellen Minderheiten mittlerweile über eine starke Lobby mit erhöhter Kaufkraft verfügen, wofür er als Beispiel die Professionalisierung des Christopher Street Days anführt.13 Die ersehnte Befreiung des Körpers wird zur Entfesselung desselben, alles erscheint nun möglich, solange der Mensch hart genug an der Form seiner Erscheinung arbeitet. Es genügt nicht mehr, einen Körper zu haben, dieser manifestiert nicht mehr das Subjekt Mensch, sondern wird zum Objekt, das es zu gestalten gilt. Das Aussehen desselben ist nicht mehr Schicksal, sondern obliegt dem Geschick und dem Fleiß des Einzelnen: »Dem Körper kommt […] die Doppel-
12
HEIMERL, Theresia: Ein Sack voll Blut und Schleim, Feuchtigkeit und Galle. Eine theologische Exkursion in die Feuchtgebiete. Auf: www.theologie-und-kirche.de/feuchtgebiete.pdf, S. 11f.
13
GUILLEBAUD, Jean-Claude 1999: Die Tyrannei der Lust: Sexualität und Gesellschaft. München: Luchterhand, S. 100f.
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funktion zu, zwischen ›Körpersein‹ und ›Körper haben‹ einen Bezug des Ichs zur Welt herzustellen.«14 Bei der physischen Gestaltung des Selbsts kommt es indes zu einem paradoxen Verständnis von Individualität: Diese wird nicht mehr über das Aussehen (z.B. Kleidung, Haare) hergestellt, vielmehr strebt man nach einen normierten Ideal. Dieses Einheitsbild soll aber wiederum durch individuelle Leistung erreicht werden, für welche der Einzelne Anerkennung verlangt.15 Die Betrachtung von Werbung und Fotografien bekannter Schauspielerinnen und Fotomodelle, welche als Schönheitsvorbilder angesehen werden, führt zu der These, dass das gängige Schönheitsideal einen minimalen Spielraum der Individualität und Persönlichkeit zulässt und es angestrebt wird, dass alle Menschen, die attraktiv gelten wollen, mehr oder weniger identisch aussehen müssen. Die Vertreter der ästhetischen Chirurgie indes rechtfertigen das Schönheitsideal, an welchem sie sich orientieren, mit der Natur und sind bemüht, ihre Eingriffe als harmonisch und natürlich darzustellen: Aber nicht, um irgendeinem Idealmaß zu entsprechen, also auszusehen wie die Venus von Milo oder ein sonstiges Schönheitsideal, sondern die Menschen haben schon ihre individuellen Schönheitsvorstellungen, was zu ihnen passen könnte. Wir machen ja auch keine 08/15-Nasen, sondern wir passen die Nase immer dem jeweiligen Gesicht an. Sie muß nicht absolut schön sein, sondern harmonisch in das Gesicht passen. Die meisten Menschen wollen ja auch gar keine schöne Nase – sie wollen eine unauffällige Nase. Die Menschen wollen eher unauffällig sein als strahlend schön. Es gibt ja im Grunde auch gar kein häßlich oder schön als Gegensatz […]16
14
WEBER, Karola 2006: Körperkult und -inszenierung: Entwicklung, Trends, Motive. Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller, S. 9.
15
Waldrich; Bozkurt 2004, S. 66.
16
NUBER, Ursula 1990: »Die Menschen wollen lieber unauffällig als strahlend schön sein«: Ein Gespräch mit Professor Wolfgang Mühlbauer. In: Psychologie heute, Juni, S. 26-31, S. 30f. Kurt Bayertz und Kurt W. Schmitt zeigen auf, dass die Geschichte der ästhetischen Chirurgie stets mit dem Verdecken von Defekten wie der Rekonstruktion syphilitischer Nasen, beschäftigt war. (BAYERTZ, Kurt; SCHMITT, Kurt W. 2006: »Es ist ziemlich teuer, authentisch zu sein…!«: Von der ästhetischen Umgestaltung des Körpers und der Integrität der menschlichen Natur. In: ACH,
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Jedoch wird sich wohl kaum ein Chirurg weigern, eine bestimmte Nase zu formen, weil diese zu perfekt für den Rest des Gesichts sei. Wenn alle nach demselben Ideal streben, wird der Körper im wörtlichen Sinne zur ›Uniform‹ des Menschen.17 Evident wird diese Uniformisierung am Beispiel des Make-ups, dessen es für eine Frau im öffentlichen Leben zusätzlich zur adäquaten Kleidung bedarf: »Mit Schminke fühlt man sich vollständig angezogen, das gehört einfach dazu.«18 Der Zweck von Uniformen ist die Erkennbarkeit der Zugehörigkeit des Trägers zu einer bestimmten Gruppe wie beispielsweise dem Militär oder der Polizei, wohinter die Persönlichkeit des Uniformierten vollständig zurück tritt. Überträgt man das Prinzip der Uniform auf das geschminkte Gesicht einer Frau, zeigen sich auch hier starke Vereinheitlichungstendenzen. Statt eines auffälligen Make-ups beinhaltet die geschminkte Uniform ein kompliziertes Konstrukt von künstlicher Natürlichkeit. Denkbar wäre, dass das ungeschminkte Gesicht das natürlichste sei, doch diese Form der Natürlichkeit ist nicht gefragt, da sie zu viel Individualität wie beispielsweise Pickel, Narben oder Pigmentflecke offenbart. Die einzigartige Textur und Farbe der Haut wird unter konfektioniertem Make-up versteckt, dieser Stil wird von der Kosmetikindustrie paradoxerweise als »Nude Look« vermarktet. Die Printmedien gehen noch einen Schritt weiter und bearbeiten die Aufnahmen von professionell geschminkten Fotomodellen digital nach, bis die Haut gar keine natürlichen Attribute mehr aufweist. All diese Maßnahmen dienen der Tilgung der Individualität und der Egalisierung der äußeren Gestalt. Nur das egalisierte Äußere
Johann S.; POLLMANN, Arnd (Hrsg.) 2006: No body is perfect: Baumaßnahmen am menschlichen Körper; bioethische und ästhetische Aufrisse. Bielefeld: transcript, S. 43-62. Siehe auch GILMAN, Sander L. 1999: Making the body beautiful: A cultural history of aesthetic surgery. Princeton, NJ: Princeton University Press. 17
BECKERS, Edgar 1995: Körperkult – Sinnsuche in sinnleerer Zeit? In: NITSCH, Jürgen R.; ALLMER, Henning (Hrsg.) 1995: Emotionen im Sport – zwischen Körperkult und Gewalt: Bericht über die Tagung der asp vom 8. bis 10. September 1994 in Köln anläßlich ihres 25jährigen Bestehens. 1. Auflage. Köln: bps-Verlag, S. 15-29, S. 17.
18
DROLSHAGEN, Ebba D. 1995: Des Körpers neue Kleider: Die Herstellung weiblicher Schönheit. 2. Auflage, 6.-7. Tsd. Frankfurt am Main: Krüger, S. 14.
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erscheint in der heutigen Gesellschaft als das angebrachte und anerkannte. Eine ähnlich paradoxe Auslegung des Begriffs des Natürlichen findet sich bei – überwiegend männlichen – Bodybuildern, welche illegale Steroide einnehmen, um Muskelmasse aufzubauen. Das Schweigen um die Einnahme dieser Substanzen resultiert nach Ansicht von Pope weniger aus deren Illegalität, als vielmehr aus dem Wunsch, die Muskeln als Resultat harten Trainings zu präsentieren.19 Hier zeigt sich abermals die verzerrte Auffassung der scheinbaren Natürlichkeit, welche der ideale Körper aufweisen soll, in dieser Form aber ohne Hilfsmittel nicht erreichen kann. Neben der Uniformierung des Aussehens innerhalb der Geschlechtergrenzen ist eine Angleichung des weiblichen Schönheitsideals an die männliche Statur zu beobachten. Das neue Ziel ist der androgyne Einheitskörper. Galten früher ausgeprägte weibliche Formen wie die Marilyn Monroes als Ideal, ist es heute ein schmaler Körperbau. Eine mögliche Erklärung für diese Wandlung des Schönheitsideals ist die bessere ökonomische Verwertbarkeit einer schwierig zu erreichenden Figur, wie schon der überaus große Markt an Diätratgebern und – Produkten zeigt.20 Auf die Frage, was für ihn ein schönes Gesicht und Schönheit im Allgemeinen seien, antwortete der ästhetische Chirurg Werner Mang in einem Interview: Schönheit ist selten. Schön zu sein heißt, sich von allen anderen wenig zu unterscheiden, keine auffälligen Makel und Mängel zu haben, wie Hakennase, fliehendes Kinn, Hängebäckchen, enger Augenabstand, Glatze, keine oder zu üppige Brüste, sondern wenig Bauch, zarte Hüften, kein großes Gesäß, schlanke Beine, moderate Waden und Fesseln. Die Harmonie ist das Entscheidende.21
19
Pope et. al. 2001, S. 149.
20
Diese Kritik am Körperkult wird vor allem von Feministinnen geäußert, welche die Ideale, die auf Frauen angewendet werden, als männliche Unterwerfungsstrategien deuten. Siehe hierzu Wolf 1992 und BORDO, Susan 1993: Unbearable weight: Feminism, Western culture, and the body. Berkeley: University of California Press.
21
http://www.stern.de/lifestyle/mode/:Interview-Diese-W%FCnscheChirurg/540997.html.
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Das Streben nach Unauffälligkeit und Normalität evoziert schließlich eine »Denormalisierungsangst«, die Angst, dass der eigene Körper nicht den gesellschaftlich akzeptieren Normen entspricht.22 Der perfektionierte Körper ist in den meisten Fällen das Ergebnis harter und entbehrungsreicher Arbeit in der Tradition der protestantischen Ethik: »eine Ethik, die den willigen Geist vom schwachen Fleisch trennt, den Körper traditionell mißbilligt, diffamiert und mehr als Fluch denn als Segen erachtet […].«23 Auf die Schönheit angewendet, zeigt dieser Bezug, wie kapitalistisch verwurzelt das Streben nach dem perfekten Körper ist und dass dieser nur durch permanenten Fleiß und Entbehrungen zu erreichen ist. Der Betreiber eines Fitnessstudios sagt hierzu im Interview: Bei den Frauen kann man oft schon beim ersten Kontakt abklären, daß die falsche Vorstellungen haben. Weil immer erst der Satz kommt: »Ich muß erstmal sehen, ob mir das Spaß macht.« Das ist eigentlich ein völlig falscher Ansatz und macht natürlich erst mal keinen Spaß. Das tut ziemlich weh, ist äußerst anstrengend, ist also erst mal unangenehm.24
Auch die Schmerzen und finanziellen Belastungen von Schönheitsoperationen werden auf diese Weise ertragen in der Hoffnung, durch diese Nachteile quasi als Belohnung besonders schön zu werden.25 In einer säkularisierten Welt wird die Schönheit zu einer Ersatzreligion, welche überdies ebenfalls leibfeindliche Tendenzen aufweist. Diese Leibfeindlichkeit manifestiert sich unter anderem in der Bereitschaft, einen gesunden Körper operieren zu lassen, wenn sich Körper und Gesicht nicht mehr mit gesundheitsfördernden und/oder reversiblen
22
Siehe LINK, Jürgen 1997: Versuch über den Normalismus: Wie Normalität produziert wird. Opladen: Westdeutscher Verlag und Caysa 2003, S. 7f.
23
DROLSHAGEN, Ebba D. 1990: Der maßgeschneiderte Körper. In: Psychologie heute Nr. 6, S. 32-35, S. 33.
24
APRAKU, Eva, NELLES, Stephan 1988: Körperkult: Reportagen über ein Phänomen. Frankfurt am Main: Ullstein, S. 29. Vgl. auch Gruppendiskussionsteilnehmerin, zitiert nach Degele: »Also ich kann Schönheit nur dann empfinden, wenn ich irgendwas getan habe oder dafür gemacht habe.« (Degele 2004, S. 21).
25
Drolshagen 1997, S. 130f.
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Methoden wie Sport und Make-up formen lassen. Die chirurgischen Eingriffe werden von den Medien immer selbstverständlicher präsentiert und werden auch zunehmend aggressiver beworben. Die ästhetische Chirurgie liefert die Möglichkeit, das genetisch bedingte Aussehen eines Menschen vollständig zu verändern. Ein extremes Beispiel hierfür sind ist die Amerikanerin Cindy Jackson, welche 38 Operationen durchführen ließ und als lebende ›Barbie-Puppe‹ gilt. Auffällig ist der Bezug zur Barbie-Puppe, einem kommerziell höchst erfolgreichen Kinderspielzeug, das ein Körperideal propagiert, welches auf eine lebende Frau übertragen gesundheitsschädlich wäre. Jacksons Vorbild zeigt, welche Macht die Vermittlung von Körperbildern von kommerzieller Seite hat. Hier stellt sich die Frage, ob Jackson ihr Aussehen veränderte, um auffälliger, da attraktiver, zu werden oder um eben auf diese Weise unauffälliger zu werden. Cindy Jackson hält ihre Operationen für einen Akt der Gerechtigkeit, welcher ihr zu dem guten Aussehen verhilft, das ihr die Natur verwehrt hat.26 Die zahlreichen Schönheitsoperationen sind eine Neuinszenierung des Körpers und können zu einer Neuerfindung der Persönlichkeit führen. Der modellierte Körper altert nicht oder weniger, womit er seine persönliche Geschichte verliert. Dies erweckt den Eindruck, als könne die ästhetische Chirurgie den verfallenden, sterblichen Körper besiegen und den Traum der ewigen Jugend erfüllen.27 Die Lebensreformbewegung und die Hippies strebten nach der physischen und psychischen Rückkehr zur Natur, sie propagierten das Nacktgehen und Reformkleidung anstatt des Tragens von Miedern und verbrannten ihre Büstenhalter. Die Jungen begehrten gegen die starren Regeln der Alten auf. Heute gebietet der ›Jugendwahn‹ ein jugendliches Aussehen um jeden Preis, wo der natürliche Alterungsprozess des Körpers dies gefährdet, helfen Liposuktionen und Botox-Injektionen. In einer leistungsorientierten Gesellschaft ermöglichen derartige Eingriffe, zumindest optisch neue Frische vorzutäuschen: »Nach einer Alterskorrektur sieht man nur aus, als ob man einen sehr guten Urlaub genossen hätte.«28 Frank Schirrmacher sieht einen direkten Zusammenhang zwischen den Medien und Jugendwahn:
26
BUTTA, Carmen 2002: Die handgemachte Frau. In: Die Zeit Nr. 2.
27
Weber 2006, S. 141.
28
Nuber 1990, S. 27.
310 | THEATER DER N ACKTHEIT Die Abwesenheit der älter werdenden Menschen in Fernsehen, Film und Werbung macht das individuelle Altern nur noch auffälliger; der Prozess des Altern nur noch auffälliger; der Prozess des Alterns wird als Anomalie empfunden, die nicht nur einen ästhetischen und körperlichen Verstoß signalisiert, sondern eine Art Infektion, eine ansteckende Krankheit, deren Berührung man meidet.29
Trotzdem liegt eine immense Kaufkraft bei den Älteren, weswegen es zu einer Infantilisierung dieser Gruppe kommt.30 Ganz evident wird diese Infantilisierung auf dem Gebiet der Mode. Während in früheren Gesellschaften ein junger Erwachsener versuchte, auch erwachsene Kleidung zu tragen, tragen heute erwachsene Frauen T-Shirts mit Kindermotiven, welche sie teilweise auch in den Kinderabteilungen der Modehäuser erworben haben. Dies setzt indes einen kindlichen Körperbau voraus, welcher – wenn überhaupt – nur durch Hungern erreicht werden kann. Eine solche Infantilisierung kann als Begleiterscheinung der Sexwelle gesehen werden, als regressive Abwehrhandlung gegen den Leistungsdruck, den die omnipräsente Sexualität in der Öffentlichkeit ausübt.31 Dieses Agieren ist eine gesellschaftlich akzeptierte Vorstufe der Abwehrhaltung, mit der magersüchtige junge Frauen versuchen, ihren Körper durch Hungern von der Geschlechtsreife abzuhalten.32 Propagiert wird das Schönheitsideal durch Werbung, Zeitschriften, TV-Serien und Reality-Formate wie Germany’s Next Topmodel, wodurch der Idealkörper einiger weniger Personen zum Muster für die Masse erhoben wird. Die Ähnlichkeit mit diesem Idealkörper entscheidet über Erfolg im Beruf und im Privatleben, die Schönheit wird zum Indikator des ›Marktwerts‹ des Menschen. Im Jahr 2004 strahlte der Sender Pro Sieben die Make-Over-Show The Swan – Endlich
29
Schirrmacher 2006, S. 80.
30
A.a.O., S. 67-69 und S. 72f. Schirrmacher macht die fehlenden historischen Erfahrungen dieser Generation dafür verantwortlich, dass sie einen Kult um die Attribute ihrer Kindheit macht. Die heute Vierzigjährigen gehören der Generation Golf (Illies, a.a.O.) an.
31
SCHIRACH, Ariadne von 2007: Der Tanz um die Lust. 3. Auflage.
32
Diese ist jedoch nur eine von vielfältigen Ursachen für Magersucht und
München: Goldmann, S. 44. andere Essstörungen, die jeweiligen Gründe liegen in der persönlichen Geschichte der Patientin.
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schön aus. In dieser Serie verwandelten 16 Frauen mit der Unterstützung von Schönheitschirurgen, Fitnesstrainern, Ernährungsberatern und einem Motivationstrainer ihr Äußeres, die überzeugendste Teilnehmerin wurde von den Zuschauern zur Siegerin gekürt. An diesem Format lässt sich besonders gut beobachten, wie sehr Selbst- und Fremdführung nicht mehr voneinander zu trennen sind. Der eigene Wille zur Veränderung der Teilnehmerinnen fällt zusammen mit normierten Weiblichkeitsentwürfen, welche von den Experten übermittelt und auf die Kandidatinnen angewendet werden.33 Das Prinzip der internalisierten Normen gilt nun auch für scheinbar so banale Dinge wie die äußere Erscheinung. Einen Höhepunkt erreicht die Manipulation in der Tatsache, dass die Teilnehmerinnen erst am Schluss der Sendung, das heißt nach mehreren Tagen im ›Schönheitscamp‹, in den Spiegel blicken dürfen. Paula-Irene Villa konstatiert, dass bei The Swan weniger das Ergebnis der Veränderung im Vordergrund steht als der lange, arbeitsreiche Weg dorthin.34 Die Machbarkeit der Veränderung führt über die Disziplin und den Willen des Körper-Eigners. Parallel zum Körperkult, der das musterkonforme Aussehen beinhaltet, breitete sich die Sexwelle durch die Einführung des Privatfernsehens und des Internets weiter aus. Das Web 2.0, welches neben redaktionellen Beiträgen verstärkt benutzergenerierten Inhalt enthält, bietet eine nie da gewesene Plattform für Voyeurismus und Exhibitionismus. Ein Beispiel hierfür ist die Seite www.youporn.com, auf welcher in Analogie zu YouTube Videos mit erotischem oder pornografischem Inhalt von den Benutzern hochgeladen und angesehen sowie bewertet und getauscht werden können. Die immer stärkere Verknüpfung von Sexualität und Konsum führt dazu, dass die Sexualität systematisch Einzug in die Öffentlichkeit erhalten hat. Das Private ist öffentlich und ökonomisch relevant geworden.
33
SEIER, Andrea; SURMA, Hanna 2008: Schnitt-Stellen – Mediale Subjektivierungsprozesse in THE SWAN. In: VILLA, Paula-Irene (Hrsg.) 2008b: schön normal: Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst. Bielefeld: transcript, S. 173-198, S. 179.
34
VILLA, Paula-Irene 2008a: Habe den Mut, dich deines Körpers zu bedienen!: Thesen zur Körperarbeit in der Gegenwart zwischen Selbstermächtigung und Selbstunterwerfung. In: VILLA, Paula-Irene (Hrsg.) 2008b: schön normal: Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst. Bielefeld: transcript, 2008, S. 245-272, S. 264.
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Ariadne von Schirach bezeichnet die Benutzung von pornografischen Inhalten zum Verkaufen von Waren als »pornografische Strategie«. Sie vertritt die These, dass Pornografie auf den Betrachter automatisch erregend wirkt, und legitimiert somit die Verwendung von pornografischen Bildern und Inhalten in der Werbung.35 Die Bilder der Werbung verheißen »Sexiness« als maximale Selbstverwirklichung und regen somit zum Streben nach dem durch die Medien vermittelten Körperideal an. Die immer omnipräsenter werdende Pornografie wirkt in der Darstellung ihrer Körper artifiziell und perfekt: Vielleicht sollte man fragen, was das Pornographische nicht ist. Es ist nicht liebevoll, nicht ironisch, nicht humorvoll. Es ist kühl, künstlich, perfekt. Es erschafft eine perverse Natürlichkeit, weil der Körper zerstückelt wird, fragmentarisiert, und die einzelnen Teile, wie Brüste, Schwänze und Öffnungen, auf eine Weise zusammengesetzt werden, die Echtheit suggerieren soll. Das alles dient der Sichtbarmachung und Normierung von Lust, der Verlagerung einer inneren Empfindung auf äußeres Geschehen.36
Da die nackten, höchst artifiziellen pornografischen Körper im Zusammenhang mit dem scheinbar ganz natürlichen Vorgang des Geschlechtsverkehrs gezeigt werden, geben sie vor, natürlich zu sein und erhöhen somit den Druck auf den Rezipienten in Hinblick auf seine sexuelle Leistungsfähigkeit und sein körperliches Aussehen. Auch die Bewertung des nackten Körpers im Alltag – jenseits der Bühne – hat sich gewandelt. Seit der sexuellen Revolution und der Sexwelle schockiert öffentlich dargestellte Nacktheit nicht mehr. Sie wird nicht mehr nach moralischen, sondern nach ästhetischen Maßstäben bewertet: Die nackte Haut muss makellos erscheinen. Hieraus resultiert eine neue Art der Scham, welche nicht mehr den verbotenen, sondern den kritischen Blick fürchtet. Die Feministin Naomi Wolf weist in ihrer Abhandlung über den Schönheitsmythos darauf hin, dass Frauen selten sehen, wie andere normale Frauen nackt aussehen. Nacktheit scheint zwar allgegenwärtig, sie erscheint aber in den
35
Schirach 2007, S. 14-17. Schirachs provokante These widerspricht selbstverständlich feministischen, christlichen und jugendschützenden Sichtweisen zur Pornografie.
36
A.a.O., S. 89.
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Medien und der Werbung ausschließlich in der Form von makellosen und retuschierten Körpern. Wolf sieht hierin eine klare patriarchalische Unterdrückung der freien Sexualität der Frau. 37 Das Problem betrifft jedoch beide Geschlechter, auch die medialen Männerkörper entsprechen keineswegs der Realität. Die männliche Variante des Schönheitskultes beschreiben die Soziologen Harrison G. Pope, Katherine A. Philips und Roberto Olivardia in Der Adonis-Komplex38. Zum makellosen nackten Körper gehört auch das mittlerweile vorherrschende Gebot der Entfernung der Körperbehaarung – ausgenommen sind die Kopfhaare, Brauen und Wimpern –, die Körperoberfläche soll möglichst glatt und ungebrochen erscheinen. Angesichts des Primats der Makellosigkeit und Unauffälligkeit des Körpers stellt sich die Frage, ob und in welchem Kontext überhaupt der natürliche, naturbelassene Körper gezeigt werden darf und welche Reaktionen er hervorruft. Die Medienwissenschaftlerin Laura Kipnis sieht gerade in der heutigen Zeit einen Zusammenhang zwischen Dicksein und Erotik. Das Dicksein steht hier für die Natur des Körpers – und den Protest dagegen, sich den Regeln zu unterwerfen. Dieser Protestkörper ist – sofern er bewusst und mit Stolz getragen wird – mit Macht konnotiert, welche erotisch wirkt.39 Im BDSM-Kontext40 erfahren der nackte sowie der nicht den allgemeinen Schönheitsnormen entsprechende Körper eine besondere Aufwertung. Nacktheit wird als eine deviante Form von Schönheitsarbeit angesehen. Für die Mitglieder der Szene wird Nacktheit zum Symbol von Verletzlichkeit und Ausgeliefertsein, zwei Erfahrungen,
37 38
Wolf 1992, S. 188f. Pope et. al. 2001. Während Wolf das unterdrückende Patriarchat für das Korsett des Schönheitsideals für Frauen verantwortlich macht, sieht Pope in der Emanzipation der Frau den Grund für exzessives Fitnesstraining und Anabolika-Missbrauch bei Männern, die unter dem Adonis-Komplex leiden.
39
KIPNIS, Laura 1995: Die kulturellen Implikationen des Dickseins. In: ANGERER, Marie-Luise (Hrsg.) 1995: The body of gender: Körper, Geschlechter, Identitäten: Symposium im Offenen Kulturhaus Linz, 23.25.9.1994 anläßlich der Ausstellung »Andere Körper« September 1994. Wien: Passagen-Verlag, S. 111-130, S. 130.
40
Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism.
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welche in dem Gefüge von Macht und Unterwerfung eine zentrale Rolle spielen.41 Während der Alltag also mit seinen festgelegten Anforderungen an das perfekte Äußere ständige Souveränität erfordert, ist es den Personen in einem BDSM-Kontext gestattet, diese Kontrolle abzugeben. Was im Alltag hinter zivilisiertes Verhalten zurückgetreten ist, darf hier ausgelebt werden. Der nackte Körper muss nicht perfekt sein, auch scheinbare Makel wie blaue Flecken und blutige Stellen werden positiv konnotiert und als erotisch bewertet: Die Akzeptanz von Hässlichkeit durch diejenigen, die sie positiv besetzen, wird dann zum Gradmesser für Anerkennung in der SM-Szene. Nacktheit im Sinne völligen Kontrollverlusts und Auslieferns ist dort nicht auf den Körper begrenzt, sondern schließt Kontrolle in mentaler und psychischer Hinsicht ein: »Die Schönheit, die bei SM entsteht, ist eine, die was mit absoluter psychischer Nacktheit zu tun hat.«42
Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass BDSM eine Subkultur ist, welche überwiegend im diskreten privaten Kontext ausgeübt wird. Während die Szene körperliche Male akzeptiert und positiv konnotiert, ist es den Mitgliedern nicht möglich, ihren devianten Körper der Öffentlichkeit zu präsentieren. Der gesellschaftliche Druck, der sozialen und beruflichen Erfolg bestimmt, ist größer als das individuelle Bedürfnis der Körpergestaltung. Eine literarische Auseinandersetzung mit dem Primat des makellosen Körpers stellt Charlotte Roches Roman Feuchtgebiete dar. Roches umstrittener Roman initiierte mehrere Nachfolger anderer Autoren, welche vom Adoleszenzroman (Heinz Strunk: Fleckenteufel) über eine Erotikanthologie (Susanne Halbleib [Hrsg.]: Trockensümpfe) bis zur Persiflage (Charles Roch, Bernd Zeller: Trockenzonen: Wenn Männer aufhören sich zu waschen) reichen. Der Schockeffekt von Feuchtgebiete resultiert aus der expliziten Thematisierung der natürlichen Körperfunktionen, welche im Alltag verschwiegen werden. Mit
41
Degele 2004, S. 110.
42
A.a.O., S. 111. In dem Gruppengespräch, welches Degele mit zwei BDSM-Gruppen führte, wird weiterhin deutlich, dass in der BDSMSzene Ehrlichkeit und Authentizität einen hohen Stellenwert einnehmen und eine Umkehrung des Schönheitshandelns entsteht: die gängigen Normen werden umgekehrt, das Hässliche wird als schön bewertet.
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Mängeln und Unreinheiten wird ein Körperbild entworfen, welches in Kontrast zu dem durch die Medien vermittelten Bild steht. Der Körper der Protagonistin Helen ist nicht glatt und makellos, sodass er künstlich erschiene, vielmehr ist seine Oberfläche durchbrochen und versehrt. So sind es Hämorrhoiden, welche zu ihrem Klinikaufenthalt führen. Sie bittet den Pfleger darum, das bei der Operation entfernte Gewebe in Augenschein nehmen zu dürfen und dass er ihre Wunde, die sie selbst nicht sehen kann, fotografiert. Helens Interesse am eigenen Körper ist größer als der professionelle Erfahrungsschatz eines Pflegers in der Fachabteilung: »Jetzt arbeite ich schon so lange in der proktologischen Abteilung und habe noch nie die Wunde, die hier alle haben, sehen dürfen. Ich danke dir.«43 Helens Verhalten dem eigenen Körper gegenüber manifestiert sich auch in der Ablehnung der in ihren Augen kapitalistischen Hygieneindustrie: »Wenn ich der Tamponindustrie ein Schnippchen schlagen kann, freue ich mich immer sehr.«44 Roche steht mit ihren Schilderungen in der Tradition des Wiener Aktionismus, allerdings wurde ihr Roman durch die Buchveröffentlichung und die hohe Bekanntheit der Autorin als Fernsehmoderatorin sofort einer breiten Öffentlichkeit zugänglich, weswegen es von der Kritik eher als Skandalbuch denn als literarisches Werk rezipiert wurde. Die Skandalisierung mag auch von der Tatsache herrühren, dass die junge Autorin Roche mit ihrer 18jährigen Protagonistin bewusst das Bild des makellosen Körpers, welchen die Gesellschaft von jungen Frauen erwartet, bricht. Feuchtgebiete spielt ausschließlich in einem Krankenhaus und besteht überwiegend aus einem inneren Monolog und Erinnerungen der Protagonistin. Diese erweckt jedoch den Eindruck, als wasche und kleide sie sich in ihrem Alltag jenseits des Krankenhauses gemäß den gesellschaftlichen Normen. Helens Auflehnung gegen das Hygieneprimat läuft im Stillen ab und trägt geheim-subversive Züge. So lässt sie heimlich eine Urinspur auf den Fußboden tropfen und deponiert unbemerkt einen gebrauchten Tampon im Fahrstuhl. Wie die von Degele zitierte BDSMGruppe vollzieht sich also Helens Körper-Protest nicht-öffentlich. Roches Provokation ist die erste der Gegenwart, welche ein Massenpublikum erreichte. Bereits 1990 wurde das Drama Die Präsidentinnen des österreichischen Dramatikers Werner Schwab ur-
43
Roche 2008, S. 45.
44
A.a.O., 122.
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aufgeführt. Das Stück trägt die Gattungsbezeichnung »Fäkaliendrama«, was sich unter anderem in den Schilderungen der Figur Mariedl manifestiert, welche mit bloßen Händen Aborte reinigt, in denen der Herr Pfarrer Geschenke für sie versteckt hat. Schwabs Stück gehört mittlerweile zum anerkannten Theaterkanon. Seine Fäkalien liebenden Protagonistinnen sind alternde, hässliche Weiber aus dem Proletariat, Roches Heldin Helen hingegen ist gerade 18 Jahre alt und hat eine hoffnungsvolle Zukunft vor sich. Der Verdienst von Roches Roman und auch Schwabs Drama liegt im bewussten Bruch mit den Konventionen, die aufzeigen, wie extrem das Primat des makellosen Körpers in der heutigen Gesellschaft ist. Gegen dieses Primat wenden sich die in den folgenden Kapitel analysierten Darstellungen des nackten Körpers, welcher im wahrsten Sinne des Wortes nackt, das heißt mit all seinen Makeln und ohne Beschönigung, gezeigt wird.
8.
Nacktheit im Theater der Gegenwart
8.1 J ÜRGEN G OSCH : M ACBETH Am 29.09.2005 fand die Premiere der Macbeth-Inszenierung des Regisseurs Jürgen Gosch am Düsseldorfer Schauspielhaus statt. Dieser Macbeth polarisierte sehr stark, viele Zuschauer verließen während der Premiere und späteren Aufführungen unter deutlichen Protestbekundungen den Zuschauerraum, auf der anderen Seite wurde die Inszenierung 2006 zum Berliner Theatertreffen eingeladen und zur Inszenierung des Jahres gewählt. Goschs Arbeit fällt zum einen durch den starken Einsatz von Kunstblut auf, welches in nahezu allen Szenen vorkommt und großzügig und gänzlich unillusionistisch direkt aus großen Plastikflaschen verteilt wird. Ein weiteres Stilmittel ist der konsequente Einsatz der Nacktheit. Der Regisseur verzichtet auf sämtliche illusionsschaffenden Stilmittel. Die über zwanzig Rollen werden von sieben Schauspielern gespielt, auch die Frauen-Rollen. In diesem Zusammenhang ist die Einschätzung des Kritikers Reinhard Wengierek bemerkenswert, der konstatiert, dass das Stück »männlich« sei, da »bis zum Rand gefüllt mit mordgierigem männlichen Fleisch, mit ermordetem männlichen Fleisch, mit Blut und mit Kot«.1 Wengierek trifft dieses Urteil nach der Prämisse, dass der schöne, erotische nackte Körper der weibliche ist, und der nackte Leib des Mannes im Umkehrschluss der weniger ästhetische sein muss. Kritiker, welche sich an der Nacktheit auf der Bühne stören, verurteilen nicht selten eben diesen Bruch mit der Konvention, dass der nackte Körper ein ästhetischer sein muss, und 1
WENGIEREK, Reinhard 2005: Jürgen Gosch gelingt in Düsseldorf ein virtuoser »Macbeth«. In: Die Welt vom 05.10.
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beklagen, »dass sich im Theater ›immer die Falsche auszieht‹, die Dicke und Hässliche, nicht die Hübsche.«2 In der Tat bricht Gosch stark mit den ikonografischen Gewohnheiten der Werbung und der Medien, die (zumeist weibliche) schöne und für das Auge angenehme Nacktheit darzustellen, und präsentiert dem Zuschauer ungeschönte Männerkörper. Das Bühnenbild besteht aus einem großen Papier-Prospekt, welcher aber schon zu Beginn des ersten Aktes von den Hexen zerfetzt wird, und mehreren nüchternen Tischen und Stühlen, die einem Konferenzraum entstammen könnten. Diese Möbel markieren in verschiedenen Anordnungen die jeweilige Szenerie. Auch die Kostüme sind auf ein Minimum reduziert, oft tragen die Figuren unauffällige Straßenkleidung oder Bademäntel, bei Lady Macbeth ist dies ein grauer Plisseerock, der, über die Brust gezogen, zum Kleid wird. Das Attribut des Königs ist eine goldene Pappkrone, die Lady trägt später ein Prinzessinnenkrönchen aus dem Kinderkarneval. Die Hexen und König Duncan sind nackt, andere Figuren ziehen sich in einigen Szenen aus. Trotz einer großen Texttreue ist Goschs Macbeth keine opulente Inszenierung eines altbekannten Klassikers, sondern der Versuch, mit minimalistischen szenischen Mitteln zu dem Kern des Shakespeare-Textes zu gelangen. Macht, Gewalt und Wahnsinn sowie das Animalisch-Dämonische der Hexen werden durch die ständige Präsenz des Blutes auf der nackten Haut physisch sichtbar gemacht. Das Stück beginnt mit dem Auftritt der drei Hexen, welche Macbeth und Banquo ihre Zukunft prophezeien. Zu Beginn dieser Szene betreten alle sieben Schauspieler in Straßenkleidung durch den Zuschauerraum die Bühne, die sie während des ganzen Spielverlaufs nicht mehr verlassen werden. Vier Darsteller markieren wie bei einem kindlichen Rollenspiel die Pferde der drei Hexen. In dieser Anfangsszene tragen diese noch ihre Straßenkleidung, erst bei ihrem zweiten Auftritt in der dritten Szene ziehen sie sich aus. Dieses Entkleiden ist jedoch ein unprätentiöser Akt des Kostümwechsels auf der Szene und keine erotische Darbietung. Dieser nüchterne Umgang mit Nacktheit und Entkleidung ist symptomatisch für ihren Einsatz in Goschs Inszenierung: Die
2
SCHMIDT, Christopher 2006: Hier kotzt der Kritiker. In: Süddeutsche Zeitung vom 09.03. Schmidt schreibt diese Aussage dem Journalisten Matthias Mattussek zu.
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Nacktheit wird auf eine bewusste Art beiläufig inszeniert. So wie die Darsteller zu Beginn einer jeden Szene durch das Eintreten vom Spielfeldrand in die Spielszene und durch das Anlegen ihrer Kostümattribute zu ihrer Figur werden, werden auch die drei Schauspieler zu Beginn des Stücks durch ihre Entkleidung zu den Hexen. Die zum Vorschein tretenden Körper sind durchschnittliche Leiber mittleren Alters. Für den Regisseur Jürgen Gosch wurde die Nacktheit während der Probenarbeiten zur Selbstverständlichkeit: »Da fragt man dann nicht mehr nach dem Grund.«3 Die Nacktheit ist nichts Außergewöhnliches, sondern eine Kostümentscheidung, wie es ein elisabethanisches Kostüm oder ein Fußballdress gewesen sein könnte. Im Fall der Hexen exponiert die Nacktheit die männlichen Geschlechtsmerkmale und offenbart im Umkehrschluss, dass es sich bei diesen Hexen nicht um Frauen handelt. Allerdings klemmen sich die Darsteller ihre Penisse zwischen die Beine, sodass sie sich optisch wieder zu Frauen machen. Dieses Spiel mit der Geschlechterkonfusion der dämonischen Wesen, welche nicht eindeutig menschlich sind, sondern übernatürlich, ist in dieser Deutlichkeit nur durch die Nacktheit der Schauspieler möglich. Die Nacktheit der Hexen steht zudem für die Nicht-Zivilisation dieser Wesen, da die Kleidung eine der augenscheinlichsten Errungenschaften der Kultur ist. Die Hexen sind wild, ungezähmt und folgen den Bedürfnissen ihres Körpers. In der dritten Szene des ersten Aktes stehen die Hexen mit dem Gesicht zum Publikum in gehockter Haltung auf dem Tisch, hinter ihnen stehen die übrigen Darsteller und lassen hinter ihren Rücken Wasser aus Plastikflaschen laufen, während die Hexen erleichterte Laute von sich geben, als könnten sie einem starken Druck auf ihrer Blase endlich nachgeben. Schließlich defäkieren sie auch noch. In einer späteren Szene errichten die Hexen aus hochkant gestellten Tischen einen ›Donnerbalken‹, auf welchen sie sich hocken und unter Stöhnen einschlägige Geräusche von sich geben. Bereits drei Jahre vor Charlotte Roche thematisiert Jürgen Gosch in seiner Inszenierung die natürlichen Körperfunktionen, welche hier die Triebhaftigkeit der Hexen darstellen. Diese offene Exposition des Triebhaften und der Körperlichkeit, in der Imagination verbunden mit Schmutz und Gestank, ist eine höchst konsequente Umsetzung der
3
Der Tagesspiegel vom 05.05.2006, zitiert nach http://www.perlentaucher.de/feuilletons/2006-05-05.html#a13801.
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Natürlichkeit der Hexen.4 Karin Fischer vom Deutschlandfunk erkennt die Unzivilisiertheit der Hexen und der anderen Figuren darin, dass sie die Assoziation äußert, das Stück sähe so aus, »als hätte man ein paar Pennern einen Kurs Schultheater verpasst, in dem sie dann unter Anleitung tun können, was sie sonst auch tun: undeutlich sprechen, raufen, miteinander in die Ecke pissen […].«5 Der Vergleich mit Menschen vom vermeintlich unzivilisierten Rand der Gesellschaft weist neben der Aktualität von Goschs Inszenierung auf die Natürlichkeit und Unangepasstheit seiner Figuren hin. Dem Hexen-Prolog im ersten Akt folgt eine Szene, in der laut Szenenanweisung ein »blutender Krieger« auftritt, welcher dem König Duncan vom Verlauf der geschlagenen Schlacht berichtet. Da stets alle Schauspieler auf der Bühne sind, wird einer der Pferde-Darsteller vom Tisch gezogen, entkleidet, verprügelt und mit Kunstblut übergossen. Eine Hexe dreht sich mit dem Rücken zum Publikum, entkleidet sich, setzt sich die Pappkrone auf und wird somit zu Duncan. Goschs Inszenierung präsentiert als Leitmotiv die optische Dualität des nackten, unverletzten aber verletzlichen Fleisches und der blutgetränkten Haut oder Kleidung. In dieser Szene stehen sich der blutende, in der Schlacht verletzte Krieger und der König gegenüber. Die ganz und gar unkönigliche Nacktheit zeigt jedoch dessen Verletzlichkeit und Gefährdung. Der Krieger steigt zu Duncan auf den Tisch und fasst ihn am Oberkörper an, um seine Worte »Bis er vom Nabel auf zum Kinn ihn schlitzte«6 zu illustrieren. Auch Duncan ist jetzt blutig, noch kann er das Blut jedoch mit einem Lappen von seinem Körper wischen. Auch der Edelmann Rosse, der vom Verrat des Thans von Cawdor berichtet, dessen Titel Macbeth bekommen soll, übergießt sich mit Blut, bevor er zur Rede ansetzt. Dieses Blut illustriert das Verhängnis, das durch seine Nachricht ausgelöst wird, da durch Macbeths Ernennung zum Than der erste Teil der Prophezeiung der Hexen erfüllt wird. In der folgenden Szene treten die drei Hexen wieder auf, eine ist der blutige Krieger aus der vorigen Szene, die anderen Darsteller
4
Auch die Chefdramaturgin Rita Thiele weist auf die Triebhaftigkeit der Hexen hin: MEYER, Marion 2005: Umstrittene »Macbeth«-Inszenierung in Düsseldorf: Auf dem Schlachtfeld der Triebe. In: Westdeutsche Zeitung vom 01.10.
5
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/424814/.
6
Shakespeare, William 2001: Macbeth. Stuttgart: Reclam, S. 6.
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ziehen sich beiläufig aus. Wie bereits erwähnt klemmen sich die Hexen-Darsteller ihren Penis zwischen die Beine, auch für Macbeth und Banquo führt dies zur Konfusion, sie fassen den Hexen in den Schritt, als wollten sie diese merkwürdige Nichtexistenz des Geschlechts ergründen. Banquo und Macbeth übergießen ihre Köpfe mit Blut, bevor sie die Hexen ansprechen. Sie fassen die Hexen an, sodass auch deren nackte Körper blutverschmiert werden. Dadurch bietet sich ein Bild von drei blutigen Nackten und zwei angezogenen, aber dafür umso blutigeren Männern. Ohne explizite Gewalt auf der Bühne gezeigt zu haben, manifestiert sich in diesem Bild die Essenz des Stückes: Gewalt, Macht und die damit verbundene Triebhaftigkeit. Die Hexen sind blutig, weil sie Banquo und vor allem Macbeth mit ihrer Prophezeiung ins Unglück stürzen und Macbeth, weil er die Morde an Duncan und Banquo plant. Die Inszenierung visualisiert hiermit die Gewalt, welche das Stück überwiegend nur durch Text transportiert. In Goschs Interpretation wird die Lady Macbeth von einem männlichen Schauspieler dargestellt, welcher eine schwarze Langhaarperücke, einen grauen Plisseerock und Pumps trägt. Bei ihrem ersten Auftritt trägt sie den Rock auf normaler Höhe, ihr Oberkörper ist entblößt und offenbart die muskulöse Statur des Schauspielers. Dieser Kontrast lässt sich deuten als Zeichen für ihre – gemäß Geschlechterstereotypen eher Männern zugeschriebene – Härte und Skrupellosigkeit. Zum Ende ihrer Szene mit Macbeth holen beide eine mit Wasser gefüllte Plastikwanne aus dem Off, und die Lady beginnt, Macbeth zu waschen. Dies verdeutlicht zum einen das Machtverhältnis zwischen den beiden, zum anderen zeigt sich hier die Weitsicht der Lady, ihn von dem kompromittierenden Blut reinzuwaschen. In der folgenden Szene sind alle Figuren außer Duncan angezogen. Dieser Kontrast verdeutlicht wieder die Gefährdung des Königs und signalisiert seinen nahenden Tod. Macbeth spricht seinen Monolog, in dem er seine Ängste und Zweifel bezüglich des Mordes thematisiert, mit offenem, blutig-nassem Hemd, welches seinen nackten Oberkörper offenbart. Seine nackte Brust lässt ihn, obwohl er ein designierter Mörder ist, schutzlos wirken, was die Zweifel, die er in dem Monolog ausspricht, unterstreicht. Gerade die Dualität des blutigen Hemdes und der nackten Brust verdeutlicht Macbeths Zweifel viel stärker als es ein deklamierter Monolog in einem elisabethanischen Kostüm vermocht hätte. Gosch zeigt nicht nur einen kaltblütigen, an seinem Aufstieg
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orientierten Mörder, der noch zaudert, sondern einen Menschen, den ein essenzieller Zweifel quält. Während der Mord an Duncan nicht auf der Szene vollzogen wird, wird Banquo auf der Bühne von den Mördern erstochen. Hierzu traktieren diese ihn mit einem winzigen Messerchen und überschütten ihn mit Blut. Diese Morddarstellung entspricht Goschs antiillusionistischem Konzept. Auch die Lady ist in einer Szene nackt zu sehen: als sie schlafwandelt. Hier ist die Nacktheit Ausdruck ihres Wahnsinns, wieder ist die Zivilisation überwunden, eine Verrückte weiß nicht mehr, dass es sich schickt, sich zu bekleiden. In der letzen Szene, in der es zum Kampf zwischen Macduff und Macbeth kommt, betritt Macduff nackt die Szene mit dem bekannten Messerchen sowie einer Flasche Blut und kämpft mit dem nackten Macbeth. Hinzu gesellt sich noch ein ebenfalls nackter Gitarrenspieler. In dieser Szene intensiviert die Nacktheit den Ausdruck des elementaren Kampfes dieser beiden Männer. Auch handelt es sich hier um einen wahren Kampf und keine Meucheltat, weswegen die Nacktheit der beiden Figuren ihre physische Präsenz unterstreicht. Der nackte Gitarrist jedoch gibt der Szene ein absurdes Element. Das Schlussbild zeigt zwei ineinander gekeilte, blutige nackte Männer, die einen brutalen Kampf um das Überleben, um Rache und Macht ausführen. Die minimalistischen Theatermittel, welche nur als Andeutungen fungieren und jegliche Illusion konsequent vermeiden, sowie die ständige Präsenz der Nacktheit und des Blutes erzeugen eine Wirkung, die von der Kritik als »Echtheit« beschrieben wurde: »An Jürgen Goschs radikaler Inszenierung kommt erst einmal nicht vorbei, wer über Echtheit von Inszenierungen – egal wo – nachdenkt.«7 Gosch reduziert das Medium Theater, die szenische Umsetzung des Textes, bis er zum Kern stößt. Keine Kostüme, weder Bühnenbild noch Videoeinspielung lenken von dem Grundthema des Stückes ab, welches der Zuschauer im wahrsten Sinne des Wortes am Leib der sieben Schauspieler sieht. Das Stilmittel, worauf der Regisseur setzt, ist der nackte Körper, und dieser wird zum höchsten Ausdruck von Echtheit, weil die hier präsentierten Körper nicht geschönt oder manipuliert
7
KEIM, Stefan 2005: Nackter Wald: Jürgen Goschs Suche nach Echtheit auf der Bühne wird immer radikaler. In: Frankfurter Rundschau vom 8. 10.
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sind, sondern ihre individuellen Narben, Flecken und Fettpolster offenbaren. Der elementare Körper zeigt die elementaren Themen Macht und Gewalt. Für den Kritiker Peter Kümmel ist der mit Blut bedeckte Leib des nackten Schauspielers ein »Wahrhaftigkeitszertifikat des Theaters«.8 Regisseure wie Jürgen Gosch, welche dieses »Zertifikat« wählen, setzten somit einen Kontrapunkt zu einer Inszenierungspraxis, bei der sehr stark mit elektronischen Medien experimentiert wird, und die sich auf diese Weise weit von dem Wahrhaftigen entfernt haben, da solche Inszenierungen einen sehr großen Spekulationsspielraum bieten. Auch der beeindruckende Illusionsapparat, welcher den Werkstätten des Theaters zur Verfügung steht, wird außen vorgelassen, man besinnt sich auf das Wesentliche und verstört damit den Illusion gewöhnten Zuschauer. Ein Leitmotiv der Inszenierung ist das Blut, das allgegenwärtig ist und durch seine drastische Omnipräsenz eine große optische Provokation darstellt, da dieser Anblick im Alltag den wenigsten vertraut ist. Auf dem nackten Körper verstärkt sich diese Wirkung noch weiter, da hier die glatte, helle, friedliche Oberfläche der Haut versehrt scheint und der Mensch zum Stück Fleisch wird. Die Anglistin Christina Wald weist in ihrem Aufsatz Staging Violence and Terror: ›Genuine‹ Violence on Stage? darauf hin, dass das Blut, welches viele Rezensenten der Inszenierung befremdete, auch zentraler Bestandteil von Shakespeares Text ist und zitiert die Textstellen: »It will have blood; they say, blood will have blood« […] und »I am in blood / Stepp’d in so far that, should I wade no more, / Returning were as tedious as go o’er […].«9 Jürgen Goschs Macbeth-Inszenierung polarisiert. Während einige Kritiker differenziert die Umsetzung des Dramas loben, findet vor allem die Boulevard-Presse das Etikett ›Ekeltheater‹, zu dessen Synonym der Düsseldorfer Macbeth wird: »Ekel-Skandal im Schauspielhaus: Hunderte Zuschauer flüchteten aus Premiere« und »SudelMacbeth: Ist das noch Kunst?«10, fragt beispielsweise der Express.
8 9
KÜMMEL, Peter 2006: Vier mal Liebe. In: Die Zeit Nr. 39. WALD, Christina 2006: Staging Violence and Terror: ›Genuine‹ Violence on Stage? Jürgen Gosch’s Macbeth. In: Wissenschaftliches Seminar Online, Ausgabe 4.
10
Express Düsseldorf vom 1.10.2005, zitiert nach Wald 2006.
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Einen Höhepunkt findet diese Ablehnung in der Polemik des Schriftstellers Joachim Lottmann, der im Auftrag des Spiegels über die Inszenierung berichtete. Lottmann, der sich »nicht als Kritiker […], sondern als Stiftung Warentest« versteht, schreibt: Macbeth, nackt. Es ist Ekeltheater von Anfang an. Die minderjährigen Lämmer haben sich noch nicht richtig hingesetzt, als ihnen schon meterhoch der Dreck entgegenspritzt. Was mag in ihnen nun vorgehen? Der Lehrer hat etwas anderes versprochen. Auch die Mädchen hatten eigentlich Shakespeare erwartet. Nun sehen sie Blut und Schlimmeres. Aber sie kotzen nicht, das tun ja schon die Schauspieler. Von der ersten Sekunde an stehen alle nackt auf der Bühne. Nur der König trägt etwas, eine verrutschte Papierkrone auf dem Kopf, damit man ihn erkennen kann. Der Zuschauerraum ist hell ausgeleuchtet, damit niemand unbemerkt fliehen kann. Die Pause fällt aus, aus demselben Grund. Gäbe es eine, wäre anschließend das Haus leer – bestimmt hat man das schon oft ausprobiert. […] Während ich darüber meditiere, wird minutenlang auf der Bühne gepinkelt. Erst der eine, dann der andere, dann noch einer, dann furzen sie (Tonband aus dem Off), dann scheißen sie einen halben Akt lang und so weiter. Im Publikum ist nun echtes Unbehagen. Kopfschütteln, Frauen verziehen das Gesicht. Einer Schülerin ist schlecht, sie will raus. Auch andere wollen raus, trotz der gnadenlosen Scheinwerfer. Ein Rinnsal von Flüchtenden bildet sich, Vertriebene aus dem Theaterland, Alte, Gebrechliche, Enttäuschte, manche weinen. Etwa ein Drittel des zahlenden Publikums verlässt das Haus vorzeitig, trotz der Schikane.11
Lottmann erwähnt zwar direkt zu Beginn die Nacktheit als zentrales Stilmittel in dieser Inszenierung, stört sich aber nicht weiter an ihr, schockierend für ihn und die von ihm beobachteten »minderjährigen Lämmer« sind vielmehr das Blut und das Urinieren und Defäkieren der Hexen. In seinem Essay beklagt Lottmann, dass er den »echten« Menschen sehen will und nicht den »völlig verrohten, entstellten, karikierten«.12 Lottmann vertritt hier einen Zivilisationsbegriff, welcher sehr stark an gegenwärtigen Konventionen orientiert ist, die mit allen Mitteln eine körperliche Fassade aufrechtzuerhalten versuchen. Für ihn ist es undenkbar, dass der ›echte‹ Mensch im Gegenteil ein
11
LOTTMANN, Joachim 2006: Hau ab, du Arsch! In: Der Spiegel Nr. 10,
12
A.a.O., S. 166.
S. 164-167, S. 164.
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hässliches und vor allem grausam und unmoralisch agierendes Wesen sein kann. Auch andere Regisseure entdeckten in der Saison 2005/2006 die Wirkung der Nacktheit. Der Kritiker Peter Kümmel bemerkt in der Zeit, dass das Theater wieder dazu übergegangen sei, Essenzen aus alten Stücken herzustellen: »Es stellt Knochenfonds und Blutsude aus alten Stücken her. Diese Essenzen werden dem Publikum gern als ›Untersuchungen über das Böse‹ oder ›die menschlichen Abgründe‹ serviert.«13 Verdeutlicht werden diese Abgründe durch den blutigen nackten Körper, welchen auch Luc Bondys und Botho Strauß’ Schändung, aber auch Marc von Hennings Macbeth-Inszenierung und Sebastian Nüblings Umsetzung von Hans Henry Jahns Die Krönung des Richard III. in Hamburg einsetzten. Kümmel sieht in all diesen Inszenierungen keine »lüsterne, provozierende oder glückliche Nacktheit, sondern eine des Grabs«.14 Diese morbide Art der Nacktheit ist zwar den gezeigten Theaterstoffen geschuldet, zeigt aber zugleich einen sterblichen und individuellen Körper. Ungerührt werden der Verfall und die Verletzlichkeit desselben gezeigt, Eigenschaften, welche die körperfixierte Gesellschaft durch kosmetische und chirurgische Maßnahmen gerne vergessen machen möchte. Nach Macbeth setzt Gosch die Nacktheit noch in weiteren Inszenierungen als zentrales Stilmittel ein, wenngleich nicht in dem Ausmaß seiner Shakespeare-Interpretation. Am 01.09.2007 inszenierte Gosch die Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs Das Reich der Tiere am Deutschen Theater in Berlin. Das Stück handelt von Schauspielern, welche seit Jahren eine Tierfabel aufführen. Die Verwandlung zum Tier illustriert Gosch durch die Gestaltung der nackten Körper der Darsteller mithilfe von Farbe, Federn und Masken: Da ist der erste Schauspieler schon nackt, lange bevor das erste Wort gesprochen wird, da wird sich zum Zwecke der Verwandlung vom Menschen zum Tier lustvoll mit Farbe und Federn beschmiert, und da wird minutenlang aus Wasserflaschen gepinkelt und dabei über den Wiedererkennungswert von Schauspielerinnenärschen sinniert.15
13
KÜMMEL, Peter 2005: Oh, diese bösen Jungs! In: Die Zeit Nr. 46.
14
Ebd.
15
Zitiert 00.html.
nach
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,503402,
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Die Nacktheit hat hier eine andere Intention hat als in der MacbethInszenierung – Schimmelpfennigs Stück ist eine Farce über den Theaterbetrieb und präsentiert keine Macht- und Gewaltfragen. Die Wasserflaschen sind ein aus Macbeth wieder aufgegriffenes Motiv der Desillusionierung. Auch die Nacktheit, die den transitorischen Zustand vom Schauspieler zu seiner Tierrolle markiert, ist wie bei Macbeth ein Ausdruck der bewussten Exposition der Theatermittel. Gosch spielt damit, dass er dem Publikum zeigt, wie Theater funktioniert. Der Diskurs über den »Wiedererkennungswert von Schauspielerinnenärschen« greift auf ironische Weise die Spekulation der Kritik und Rezipienten auf, ob die Nacktheit als populistisches und effektheischendes Stilmittel eingesetzt wurde.16 Die Rezensentin des Spiegels kommt zu dem Schluss, dass Goschs Inszenierung »pralles, kraftstrotzendes Theater [ist], das mit Fleiß an den Grenzen des sogenannten guten Geschmacks entlangschrammt und den konservativen Mahnern und Ekeltheater-Schreiern frech ins Gesicht lacht.«17 Die Nacktheit in einer Gosch-Inszenierung nach dem Macbeth aus dem Jahr 2005 muss sich somit dem Anfangsverdacht des Ekeltheaters stellen. Die ästhetisch legitime Version des Ekeltheaters ist die des »prallen, kraftstrotzenden« Theaters, welche mit der Klassifizierung des ›echten‹ Theaters einhergeht. Diese Kraft und Echtheit resultiert unter anderem aus der Nacktheit, der Regisseur benutzt keine artifiziellen Körper, sondern authentische, ungeschönte Leiber. Durch die Identifizierung des Zuschauers mit dem Körper des Schauspielers wie in Macbeth oder dem Reich der Tiere entsteht eine höhere Identifikationsmöglichkeit des Zuschauers mit den Bühnenfiguren. Auch in seiner Inszenierung von Shakespeares Sommernachtstraum am Deutschen Theater in Berlin im Jahr 2007 bedient sich Jürgen Gosch des Stilmittels der Nacktheit. Hier sind es die Handwerker, welche sich durch die Entkleidung in die Elfen verwandeln: Die allesamt auf höchstem Niveau komischen Handwerker ziehen einfach ihre Oberteile aus und die Hosen herunter, unter denen grandios geschmacklose Röckchen zu Tage treten – und mutieren so von einer Sekunde auf die nächste zur postmodernen Elfenschar. Keine luftigen Fabelwesen, sondern infantile,
16
In (FKK)-Internetforen werden rege Diskussionen über Körperbehaarung und Geschlechtsteile nackt auftretender Theaterschauspieler geführt.
17
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,503402,00.html.
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abgeranzte, gern auch schmerbäuchige Triebtäter mit unverhohlener Lust am Grabschen und Wehtun sind hier am Werk.18
Wie bei den Hexen in Macbeth ist die Nacktheit hier Attribut des Nichtzivilisatorischen, sie sind nicht den gesellschaftlichen Konventionen unterworfen und unterliegen keinem Bekleidungsprimat, da sie Fabelwesen sind. Im Gegenteil unterstreicht die Besetzung der Elfen durch männliche Schauspieler, deren Körper sich »jenseits aller Model-Maße«19 bewegen, das Naturhafte als Kontrast zum von der Gesellschaft geforderten makellosen Normkörper. Eine weitere Inszenierung, in der Jürgen Gosch Nacktheit als Stilmittel benutzt, ist seine Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs Calypso 2008 am Hamburger Schauspielhaus. Das Stück beginnt mit einer Bootshavarie, die sich an Land geretteten Protagonisten entledigen sich ihrer Kleidung und sind nackt bis auf Handtücher, welche indes laut Regieanweisung verrutschen dürfen und sollen. Die Nacktheit in Calypso, einem in der Gegenwart angesiedelten Stück, ist wiederum ein Angriff auf die Zivilisation. Der Kulturmensch soll seine Hüllen ablegen und sich so zeigen, wie er ist, wie er »wäre, wenn er endlich mal dazu käme, er selbst zu sein – wenn er nicht gezähmt wäre von Scham, Lüge, Selbstbeherrschung.«20 Schimmelpfennigs Figuren gehören der oberen Mittelschicht an, somit ist anzunehmen, dass diese schon aus beruflichen oder gesellschaftlichen Gründen ihren Körper und ihr Aussehen gemäß den geltenden Schönheitsnormen pflegen müssen, was angesichts ihres wahren Alters und dem entsprechenden Aussehen zur Lüge wird und überdies eine immense Selbstbeherrschung des Einzelnen fordert. Durch den Sturz ins Wasser und das beinah geschehene Unglück wird wieder der natürliche, bislang sorgfältig unterdrückte Körper sichtbar.
8.2 S ASHA W ALTZ :
DIE
K ÖRPER -T RILOGIE
Zu Beginn der Spielzeit 1999/2000 übernahmen Sasha Waltz, Thomas Ostermeier, Jens Hillje und Jochen Sandig die Leitung der Berliner
18
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,482529,00.html.
19
Ebd.
20
KÜMMEL, Peter 2008: Macht euch schon mal nackig. In: Die Zeit Nr. 11.
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Schaubühne. Als Leiterin der Tanzsparte eröffnete Sasha Waltz das Haus am 22.01.2000 mit ihrem Stück Körper, welches der erste Teil einer Trilogie ist, die den menschlichen Körper thematisiert. Im November 2000 folgte S, 2002 bildete noBody den Abschluss. In der Spielzeitübersicht 1999/2000 veröffentlichte das Leitungsgremium der Schaubühne ein Manifest, welches die künstlerischen Prinzipien darlegte. Es wurde konstatiert, dass dem deutschen Theater der Auftrag verloren gegangen sei, den es 1968 noch gehabt hätte.21 Das Theater, so forderten die Leiter der Schaubühne, könne »ein Ort der Bewußtwerdung und Repolitisierung«22 sein. Die bewusste Anknüpfung an die politische Gesinnung von 1968 wurde von Kritikern jedoch auch als plakative Werbemaßnahme für die neue Schaubühne wahrgenommen, wie etwa ein wenige Tage vor der Premiere des Eröffnungsstücks Körper in der Zeit erschienenes Foto, das die vier Leiter in der berühmten Pose der Kommune 1 zeigte: nackt und mit dem Rücken zum Betrachter.23 Die Integration des Tanzes als gleichberechtigte Sparte in die Schaubühne resultiert aus der empfundenen Unzulänglichkeit der Sprache, die komplexe Wahrnehmung der Gegenwart angemessen darzustellen: »Ein körperlich-sinnliches Theater – ob Schauspiel oder Tanz – kann sich dieser Realität annähern. Indem der Tanz seine Geschichten mit dem Körper erzählt, gelingt es ihm, jenseits der Sprache Erfahrungswelten, die sich der Herrschaft des Logos entziehen, sichtbar zu machen.«24 Für die Schaubühnen-Leitung spielt der Körper somit eine zentrale Rolle in der Wahrnehmung der gesellschaftlichen Realitäten und Probleme: Als zentrale Themen der Tanzsparte werden psychische und körperliche Gewalt, unerfüllte Sexualität und der Kampf der Geschlechter genannt.25 Das Manifest der Schaubühne grenzt Sasha Waltz’ Tanztheater vom klassischen Handlungsballett ab, welches als ästhetisch hoch entwickelt, aber inhaltlich leer angesehen wird. Fast
21
SCHAUBÜHNE AM LEHNINER P LATZ 1999: Die Spielzeit 1999/2000. Berlin.
22 23
Ebd. BRUG, Manuel 2000: Biologiestunde in der Häschenschule. In: Die Welt vom 24.01.
24
Schaubühne 1999.
25
Ebd.
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hundert Jahre nach den Anfängen des Ausdruckstanzes grenzt sich der moderne Tanz hier noch einmal ganz explizit vom Ballett ab. Die neue Schaubühnenleitung wollte den Ensemble-Gedanken stärken und verankerte das Mitbestimmungsrecht in ihren Statuten. Auf der inhaltlichen Ebene bedeutete dies eine ästhetische und soziologische Recherche des Ensembles, um sich mit der eigenen und der gesellschaftlichen Realität auseinandersetzen zu können. Diese Recherche mündete in als Ensembleversammlungen konzipierten Streitgesprächen. Das zweite Streitgespräch thematisierte »den tanzenden Menschen und die Sehnsucht nach Authentizität und Autonomie in der eigenen individuellen Körperlichkeit«, die Ergebnisse dieser Recherche flossen in die Choreografie von Körper ein.26 Sasha Waltz’ bis dahin bekanntestes Stück war die 1996 in den Berliner Sophiensälen uraufgeführte Off-Produktion Allee der Kosmonauten, welche 1997 zum 34. Berliner Theatertreffen eingeladen wurde. Das Stück basiert auf Interviews, die Sasha Waltz in Plattenbausiedlungen in Berlin-Marzahn durchgeführt hatte, und zeichnet sich durch eine anekdotenhafte Struktur aus. Die Choreografien der Körper-Trilogie und Waltz’ folgende Arbeiten sind hingegen nicht mehr erzählerisch, sondern abstrakt. Einzelne assoziative Szenen gehen fließend ineinander über. 1999 choreografierte Sasha Waltz in dem von Daniel Liebeskind erbauten Jüdischen Museum in Berlin das Stück Dialoge ’99/II, welches eine Vorstudie zu der Körper-Choreografie ist. Wie in ihren vorigen Arbeiten spielt der Raum eine zentrale Rolle als Inspiration für die Choreografie. Waltz lässt das Ensemble den Ort entdecken, die meist nackten Tänzer verteilen sich in allen Räumen und scheinen aus dem Beton herauszuwachsen, durch die Körper beginnt der Raum zu leben.27 Der Bühnenraum der Körper-Inszenierung greift die Weite und die Schlichtheit von Libeskinds Architektur auf: Alles, was auf eine Theaterbühne hindeuten würde, ist entfernt, es bleibt ein bloßer Betonraum: Ich wollte den Raum über den Körper sichtbar machen, ihn vermessen. Und ihn in seiner Präsenz zeigen, entblößt auf das Grundmaterial. Beton, Stahl,
26 27
Schaubühne 1999. SCHLANGENWERTH, Michaela 1999: Sichtbare Stille. In: Berliner Zeitung vom 14.06.
330 | THEATER DER N ACKTHEIT Holz, und das in Kontrast setzen zu den nackten Körpern. Das hat viel mit meinem Projekt im Jüdischen Museum zu tun. Da bin ich denselben Weg gegangen: Über den Raum habe ich zu den Inhalten gefunden.28
Der Körper wird isoliert von der Seele des Menschen betrachtet, er ist ein eigenständiger Organismus, ein biologisches Phänomen. Die Inszenierung von Körper ruht auf vier Säulen: Betrachtet wird der Körper als System, der Körper im Bezug zum Raum, der Körper im Bezug zur Medizin und schließlich das Feld Körper und Geschichte. Der letzte Aspekt resultiert aus Sasha Waltz’ Arbeit im Jüdischen Museum, hier setzt sie sich mit der deutsch-jüdischen Vergangenheit auseinander. Den größten Raum nimmt jedoch die Frage nach den Körpersystemen ein, der Körper wird systematisch aufgesplittet in Knochenbau, Herzsystem, Blutkreislauf, Muskeln, Organe und Haut.29 »Es sei ihr darum gegangen, sagt Sasha Waltz, Körperbilder zu erarbeiten, Bilder vom ›falschen‹ oder ›perfekten‹ Körper, Bilder, die zeigen, dass Worte lügen und der Körper eine andere, wahre Sprache spricht.«30 Körper ist eine Auseinandersetzung mit der Sehnsucht des Menschen nach »einem unendlichen Leben und nach einem perfekten Körper, der Wunsch, alles zu kontrollieren. Gleichzeitig trägt diese Entwicklung Züge eines Albtraums, spürbar ist die Angst, ein Monster zu zeugen.«31 In der Darstellung des Systems werden lebenswichtige Funktionen wie der Blutkreislauf, welche im gesunden Körper problemlos funktionieren und deswegen nicht wahrgenommen werden, fokussiert und isoliert betrachtet. So sind die zuckenden Leiber der Tänzer zu Beginn von Körper ein Sinnbild für den Organismus eines mit Tabletten vollgepumpten Menschen.32 Neben dieser Entkopplung des Körpers von der Persönlichkeit ist die zentrale Aussage des Stücks, dass jeder Körper einzigartig ist und nicht modifiziert werden soll, um eine
28
O.V. 2000b: Tauen Sie auf, Sasha Waltz? In: Der Tagesspiegel vom 09.05.
29
SCHLANGENWERTH, Michaela 2008: Sasha Waltz: Gespräche mit Michaela Schlangenwerth. 1. Auflage. Berlin: Alexander Verlag, S. 62.
30
Zitiert
nach
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,61453,
00.html. 31
O.V. 2000b.
32
O.V. 2000a: Ein Tanz auf allen Hochzeiten. In: Brigitte Nr. 2, S. 88ff.
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Uniformität der Leiber zu erreichen. Beide Aspekte zeigen sich auch im Programmheft, in dem jeder der 13 Tänzer mit seinen körperlichen Merkmalen aufgeführt wird: Alter, Geschlecht, Körpermaße, Schlafpensum und persönliche Kennzeichen wie Narben werden preisgegeben. Es geht nicht um Lebensläufe, Ausbildung und Auszeichnungen der Künstler, sondern um die individuellen Maße des physischen Materials, welches in diesem Stück zu sehen ist. Auf der anderen Seite verdeutlicht diese Aufstellung, dass jeder Körper unverwechselbar ist und mitunter auch von der durch die Gesellschaft geforderten Makellosigkeit abweicht, wie die Auflistung der Narben zeigt. Die Inszenierung beginnt mit der Exposition der Körper der Tänzer, diese befinden sich hinter einer Glasscheibe zusammengekauert und übereinandergestapelt in einem senkrecht stehenden Kasten. Außer einem fleischfarbenen Lendenschurz sind sie nackt. Obwohl sich die Leiber aufgrund der Enge zwangsläufig berühren, ist jeder für sich, es gibt keine Interaktion. Der nahezu bewegungslose Körper wird durch die Abwesenheit von Kostümen und individuellen Bewegungen als entpersonalisiertes Material präsentiert. Die Leiber erinnern an Waren in einer Auslage oder organisches Material in einem Laborversuch. Diese Assoziationen zeigen, dass der gesunde, athletische Körper eines Erwachsenen seine ursprüngliche lebensbejahende Bedeutung verliert. Die Offenheit dieses Bildes führt jedoch auch zu Kritik, so fand es Malve Gradinger in ihrer Rezension von Körper »leider vorhersagbar, dass Sasha Waltz alle zur Zeit gängigen KörperFragen abhandeln wird, von unserer rücksichtslos an uns selbst verübten physischen Überbelastung bis zur Risikosport-Mutprobe, von der zirzensischen Abrichtung bis zur Genmanipulation«.33 Die Wahl der Nacktheit als Stilmittel hält die mitwirkende Tänzerin Lisa Densem für die Essenz von Körper: »Dass der Körper unschuldig ist in einer Welt, wo alles perfekt sein muss. Und das hat mir persönlich was gebracht.«34 Während die Körper in der Anfangsszene nackt erscheinen, tragen die Tänzer in anderen Sequenzen schwarze Anzüge über ihren nackten Leibern oder Kostüme aus durchsichtigem
33
GRADINGER, Malve 2000: Verkrampftes gesellschaftskritisches Getue: Sasha Waltz’ »Körper« an der Berliner Schaubühne. In: Tanzaffiche Nr. 3, S. 32f.
34
O.V. 2000e: Von der Unschuld nackter Körper. In: BZ am Sonntag vom 31.12.
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Stoff, welcher Linien aufweist, die die Glieder der Tänzer abzutrennen scheinen. Durch diese Kostüme von Bernd Skodzig wird der Eindruck einer Dissoziation des Körpers erweckt.35 Diese Fragmentarisierung lenkt den Fokus auf die biologischen Mechanismen des Körpers und teilt ihn von der Seele des Tänzers ab. Nach einer Kampfszene, die die Körper wieder zum Leben erweckt, tritt die Tänzerin Sigal Zoukin hervor, nur mit einer Herrenunterhose bekleidet, und berichtet auf englisch von ihrem persönlichen Körperbefinden. Während sie von ihrer Morgenroutine und ihren persönlichen Kreislaufproblemen berichtet, zeigt sie auf die betreffenden Körperteile, dabei kommt es indes zu einer Verschiebung, sie zeigt auf andere Organe, als sie in ihrer Erzählung benennt. Diese Körperbeschreibungen kommen mehrfach in dem Stück vor, alle beinhalten die erwähnte Diskrepanz zwischen ausgesprochenem und gezeigtem Organ. Während der Solist auf die falschen deutet, zeigt das Ensemble während der Schilderung auf die richtigen Körperteile. Wenn eine Tänzerin von ihrem kleinen Mund und ihren braunen Augen spricht und auf ihren Bauchnabel sowie ihre Brustwarzen zeigt, bekommt der scheinbar jedem Menschen vertraute Körper eine neue Bedeutung. Der Gesichtsausdruck verlagert sich eine Etage tiefer auf den Torso, den normalerweise als sexuellen Zeichen tabuisierten Brustwarzen kommt nun die expressive Funktion der Augen zu. Körperteile verändern somit ihre Funktion, wodurch sie eine andere Bedeutung erhalten. Die Tänzer interagieren nicht mehr als Persönlichkeiten miteinander, sondern als Körper, als entseelte Organismen. Humane Empfindungen wie Schmerz scheinen ausgeschaltet, wenn sich die Tänzer gegenseitig an Hautfalten und sogar den Brüsten hochheben. Durch diesen Griff verliert die Brust ihre bekannten Konnotationen, sie ist weder Ziel einer sexuell motivierten Liebkosung noch Mutterbrust, welche den Säugling stillt, sondern nur noch eine Hautfalte, die als Griff dient, an dem die Masse des Körpermaterials hochgehoben wird. In einer anderen Szene steht das Ensemble wie bei einer Polonaise hintereinander, doch anstatt die Hände lose auf die bekleideten Schultern des Vordermanns zu legen, greifen sie diesem in das Fleisch. Die Gruppe wird
35
SCHLANGENWERTH, Michaela 2000: Schweiß und Thesen: »Körper«: Sasha Waltz eröffnete mit viel Nacktheit die neue Schaubühne. In: Berliner Zeitung vom 24.01.
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somit zu einem kollektiven Organismus, der die Individuen überwunden hat. Körper ist auch eine Kritik an der Kapitalisierung des Leibes. Eine Tänzerin malt sich mit einem roten Stift einen Kreis auf ihren Torso, eine andere Darstellerin klebt ihr ein Preisschild darüber. Mehrere Ensemblemitglieder wiederholen diese Prozedur mit verschiedenen Organen zu unterschiedlichen Preisen. Der derart materialisierte Körper ist nicht nur Ersatzteillager für die wohlhabende Erste Welt, er ist auch eine permanente Baustelle, die es mithilfe ästhetischer Chirurgie instand zu halten gilt: Wie in der Praxis eines Schönheitschirurgen werden mit einem Filzstift Stellen auf den Oberschenkeln markiert, an denen eine Liposuktion für »3000 bis 5000 Deutschmark« vorgenommen werden soll. Im Angebot sind auch Facelifts und sogar eine Veränderung der Hautpigmentierung. Diese Konsumkritik im KörperKontext ist neben der gesellschaftskritischen Relevanz auch ein Ausdruck der antikapitalistischen Haltung, welche die SchaubühnenLeitung mit Einheitsgagen und dem Verbot von Film- und Fernsehengagements für das Ensemble ausdrückt: »Das Marktprinzip von Kaufen, Sichverkaufen und Verkauftwerden schafft Einsamkeit, Kälte und Verlorenheit – und die Sehnsucht ist eine andere.«36 Der Körper ist von der Persönlichkeit und der Seele abgetrennt, dennoch ist er individuell, wie die wiederholten Körperbeschreibungen der Darsteller zeigen. Eine zunächst ganz nackte Tänzerin bekommt von einem bekleideten Tänzer ein Leibchen aus einem durchscheinenden roten Stoff gereicht, welches sie sich überstreift. »This is my body« konstatiert sie, und der Stoff wird zum Geflecht ihrer Muskelfasern. »I didn’t choose it, I was born with it« ist ein klares Statement gegen den Körperwahn: Das Individuum kann sich seinen Körper nicht aussuchen und hat dessen Merkmale zu akzeptieren. Der Körper wird nüchtern betrachtet, so nennt die Tänzerin Größe und Gewicht desselben wie die technischen Maße eines Gerätes in einer Bedienungsanleitung. In der darauf folgenden Sequenz geht es ebenfalls um Maße, hier wird eine andere Tänzerin gemessen, sie wird hochgeho-
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JÖRDER, Gerhard 1999: Sehnsucht nach Welt: Aufbruch mit Tradition: Eine junge Generation von Theatermachern übernimmt die alte Berliner Schaubühne. Ein ZEIT-Gespräch mit vier realistischen Romantikern. In: Die Zeit Nr. 17.
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ben, und Anfang und Ende ihres Körpers werden mit Kreidestrichen auf der Bühnenwand markiert. Die nächste Sequenz fügt die Körper zweier Tänzer zu einem zusammen: Man sieht jeweils den Unterleib einer Person, aus dem der Oberleib einer anderen zu wachsen scheint, erzeugt wird diese Illusion durch ein schwarzes Tuch in der Leibesmitte, welches den Übergang verdeckt. Wieder werden die Körper zu Material, das sich mit Verfahren wie der Gentechnologie, welche die Choreografin ablehnt, beliebig zusammensetzen lässt. »Für viele ist der Glaube an die Wissenschaft und an die Genforschung an die Stelle des Glaubens an Gott getreten. Diese Kontrollsucht über das Leben empfinde ich als widernatürlich.«37 Körper untersucht den Leib als biologisches Phänomen, so wie ein rotes Gewand die Blutgefäße darstellt, werden weiße Porzellanuntertassen zu den einzelnen Wirbeln der Wirbelsäule, wieder verschwindet die Persönlichkeit des Tänzers, und wie auf einem Röntgenbild bleibt nur das Skelett sichtbar. Die Tänzer, welche die Untertassen halten, lassen diese immer wieder durch den Raum schweben, sodass sich der Organismus auflöst. Entsprechend der falsch gezeigten Körperteile wird der Leib abermals in ein neues Licht gerückt, und das gewohnte Bild gerät aus den Fugen. Eine weitere Schilderung eines Tänzers über seinen Körper zeigt die Unsicherheit und Unwissenheit medizinischer Laien – die die Mehrheit der Menschheit ausmachen – gegenüber ihrem eigenen Körper. Symptome wie Schwindel, Schweißausbrüche und Herzrasen führen bei ihm schließlich zu der elementaren Frage, welche er seinem Arzt stellt: »Do you think I have cancer?« Der Körper ist das Vehikel, welches es dem Menschen ermöglicht, seinen stupiden und anstrengenden Tagesablauf durchzuführen: in rastlosem Wechsel legen sich die Tänzer auf den Rücken, springen wieder auf, vollführen eine Vierteldrehung und beginnen diese Routine in einer endlosen Wiederholung von vorne. Dieser Bewegungsfluss wird unterbrochen, als eine Mauer auf der Bühne fällt. Die Stimmung verändert sich, und die maschinengleichen, sich einzeln bewegenden Teile setzen sich wieder zu einem Ganzen zusammen, indem sich die
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HANSELMANN, Ulla 2003: Sasha Waltz feiert als tanzende Forscherin Erfolge – und wünscht sich selbstbewusste Zuschauer. In: Chrismon Nr. 2, S. 31.
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Tänzer wie in einer Fotografie von Spencer Tunick liegend aneinander schmiegen: Der Organismus ist wieder vereint. Die letzte Körper-Schilderung eines Tänzers befasst sich wieder mit Details der Körperwahrnehmung, er berichtet, wie er in der Sonne auf einer Picknickdecke liegt und spürt, wie sich seine Haut bräunt. Diese Sensation kann ein Mensch normalerweise gar nicht wahrnehmen, hier verändert sich der Fokus von der Person, die einen Körper besitzt, auf den Körper selbst, in diesem Fall sind es die Hautzellen, die die Sonneneinwirkung spüren. In seiner Erzählung befindet sich der Tänzer in der Gegenwart einer Frau: »I wanted to show her everything. Everything that makes me different from the rest of the world.« Wieder geht es um die Einzigartigkeit des Körpers, welche den Besitzer mit Stolz erfüllt und welche er nicht verändern will. Neben den mit Sprache und Requisiten arbeitenden Szenen enthält Körper auch lange, genuine Tanzsequenzen, welche wiederum die Materialität des Körpers verdeutlichen. Der Beginn des Stücks enthält eine Szene, in der sich die Tänzer wiederholt hart zu Boden werfen, die Körper verhalten sich jedoch nicht erwartungsgemäß, indem sie versuchen, den Sturz abzufedern oder Zeichen von Schmerz zeigen, sie sind auf eine maschinengleiche Weise unempfindlich. Eine andere Sequenz, in der jeweils zwei Tänzer miteinander tanzen, stellt die körperliche Beschaffenheit der Darsteller in den Vordergrund: Während das eine Duett die Dichotomie großer Mann/kleine Frau thematisiert, besticht ein anderes Tänzerpaar durch seinen nahezu identischen Körperbau. Anders als im klassischem Ballett strebt Sasha Waltz nicht nach der Demonstration virtuoser Technik und Körperbeherrschung, welche die Naturgesetze wie Schwerkraft vergessen lassen will, sondern zeigt bewusst den Körper als Masse. Zu solch einer Masse wird beispielsweise die Tänzerin Lisa Densem, wenn sie bei Hebungen keine Körperspannung hält, Densem ist keine federleichte Primaballerina, sondern ein physikalisches Objekt, das es mit Anstrengung zu bewegen gilt. Sasha Waltz hatte ursprünglich keine Trilogie über das Thema Körper geplant, es waren für sie aber nach der Fertigstellung von Körper noch Fragen offen geblieben, sodass sie sich entschloss, mit S
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und noBody weitere Aspekte der Körperlichkeit zu beleuchten.38 Bei der Pressekonferenz zu S wurde Waltz gefragt, ob der Körper für sie nach dem ersten Teil der Trilogie noch ein Geheimnis darstellen würde. Die Choreografin antwortete, dass der Körper für sie unendlich sei: »Wenn wir denken würden, wir wüssten es, könnten wir ja aufhören.«39 Während das erste Stück Körper den Leib auf eine nüchterne, naturwissenschaftliche Weise als Organismus begreift, wendet sich das am 07.11.2000 an der Schaubühne uraufgeführte S der bis dahin ausgeklammerten Sexualität zu: Die Produktion beschäftigt sich mit Fragen nach der eigenen Identität, dem Phänomen der Sexualität und der Bestimmung der Geschlechter. Wie nehmen wir wahr? Wie findet die verbale Sprache Ausdruck in der Sprache des Körpers, in der Bewegung? Und umgekehrt: Wie entschlüsseln wir die Botschaften unserer Sinne? Welche Begierden und Ängste lösen Berührungen in uns aus?40
Richtet der erste Teil der Trilogie einen kalten, wissenschaftlichen Blick auf den Körper, so wendet sich S einem warmen Körper zu. Die bewusste Konzentration auf die Physis in Körper führte zu einer Entsexualisierung der nackten Leiber, im zweiten Teil S wird die Psyche miteinbezogen.41 Der Titel S lässt bewusst Raum für eigene Gedanken des Zuschauers, das Programmheft offeriert diverse passende mit diesem Buchstaben beginnende Begriffe, ›Sexualität‹ und ›Sinnlichkeit‹ mögen die naheliegendsten Assoziationen sein. Für den Schritt von der wissenschaftlichen Betrachtung zur sinnlichen Erfahrung entwirft Sasha Waltz für S eine tänzerische Version von Hieronymus Boschs Triptychon Garten der Lüste. Dessen Innenteile zeigen den ›Garten Eden‹, den ›Garten der Lüste‹ und die ›musikalische Hölle‹. Der linke Innenflügel präsentiert zahlreiche europäische und exotische Tiere, auch Fabelwesen wie Einhörner sind
38
FISCHER, Dagmar 2002: »Mit Leitern ins Unendliche«: In: Hamburger Morgenpost vom 23.07.
39
KRAMER, Brigitte (Regie) 2006: Garten der Lüste. Die Choreographin
40
SCHAUBÜHNE AM LEHNINER P LATZ 2000: Die Spielzeit 2000/2001.
41
O.V. 2000b.
Sasha Waltz. Berlin.
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zu sehen. Die Mitteltafel lässt sich als utopische Darstellung eines Liebes-Paradieses deuten. Unschuldig-nackte Menschen und Tiere koexistieren friedlich, das Gemälde vermittelt eine friedliche und harmonische Stimmung, die Sexualität ist positiv konnotiert. Der rechte Innenflügel zeigt die ›musikalische Hölle‹, Musikinstrumente fungieren hier als Folterinstrumente. Die verschiedenen Elemente dieses Gemäldeteils mahnen unter anderem die sexuelle Ausschweifung an. Das projizierte Bühnenbild von S greift Boschs Gemälde auf, indem es eine Gartenlandschaft zeigt, in welcher sich »tierische und menschliche Lichtgestalten tummeln.«42 Der Bezug auf den Garten der Lüste, den auch Johann Kresnik in seinem Stück Garten der Lüste. BSE (siehe Kapitel 8.3) wählt, zeigt die Sehnsucht nach einem vorzivilisatorischen Zustand in einer Welt, in der alles bis ins kleinste geregelt ist. S beginnt mit einer Reihe von Bildern, die den zärtlichen, sinnlichen körperlichen Umgang von Menschen miteinander darstellen: Ein entblößter Mann liegt auf der Bühne, er wird von den anderen Ensemble-Mitgliedern gestreichelt. Ein anderer Mann trägt eine Frau, er dreht sie auf den Kopf und entkleidet sie. Eine weitere Frau zieht sich aus, auch sie wird hochgehoben, sodass ihre Haare den Liegenden berühren, schließlich wird sie auf diesen gelegt. Zwei Männer umarmen sich, aus dieser Umarmung kriecht ein dritter Mensch, als würde er gerade geboren. In der nächsten Sequenz liegen alle Tänzer auf dem Boden, ihre Körper beginnen zu vibrieren. Der Kritiker Hans-Peter Göpfert sieht in diesen kontrastierenden Sequenzen den Gegensatz zwischen Unschuld und »eine[r] regelrechte[n] Orgie aus Nacktheit und sexueller Besessenheit«.43 Übertragen auf Boschs Gemälde, stellen die beiden Sequenzen den Garten der Lüste und die musikalische Hölle dar. Die Videoprojektion des Bühnenbildes zeigt das sanfte Bild einer Wattlandschaft, über die eine Flutwelle gespült wird. Das Licht erlischt, die Tänzer ducken sich in einem Graben auf der Bühne, als das Licht wieder angeht, ist eine Landebahn zu sehen, auf welcher ein Mann liegt. Die übrigen Tänzer »spielen
42
KLEMENTZ, Constanze 2000: Zu viel Fülle; »S« in der Schaubühne. In: Zitty Nr. 24.
43
GÖPFERT, Hans-Peter 2000: Starke Szenen, leere Strecken: »S« – Sasha Waltz' zweite Choreographie an der Berliner Schaubühne. In: RheinNeckar-Zeitung vom 17.11.
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Kamasutra im Schnelldurchlauf«.44 Frauen schreien wie Schimpansen und evozieren so die animalische Welt von Boschs Garten der Lüste. Auch Requisiten verhelfen den Akteuren zu einer sinnlichen Körpererfahrung: Der Tänzer in der Anfangssequenz wird ausführlich gestreichelt und berührt, später fließt eine milchige Flüssigkeit über einen nackten Frauenkörper, in einer anderen Sequenz walken zwei Tänzer einen Teig aus und kleben ihn sich ins Gesicht. Alles ist fließend und elastisch sowie taktil mit dem ganzen Körper erfahrbar: In »S« versuche ich, den ganzen Themenkreis von Sexualität, Erotik und Sinnlichkeit zu untersuchen, zunächst pur über die Sinne, den Tastsinn, einfach indem sich Tänzer streicheln zum Beispiel. Die Frage war, wie finde ich eine Form, etwas über Sexualität zu erzählen und trotzdem eine Abstraktion zu erhalten, die Situationen offen zu halten, nicht narrativ zu werden. Wie kommunizieren zwei Menschen allein über die Berührung?45
Waltz’ Einbindung der Erotik in den Körperdiskurs wird von der Kritik unterschiedlich gesehen, für die einen grenzt die Darstellung an Obszönität, die anderen vermissen gerade das Sinnliche, sie sehen in S eine sachliche Weiterführung der Leib-Analyse des ersten Teiles: »Weiter viel Nacktheit, sicher sehr viel Sinn, doch so wenig Sinnlichkeit. Ja, dieser Abend bleibt erschreckend unerotisch. In kaum einer Bewegung lebt Sehnsucht, durch Liebe jenes Laster namens Vernunft wenigstens für einen Rausch lang zu verlieren.«46 Andere Rezensenten wiederum finden durchaus Erotik in S, sie schätzen die stilisierte Darstellung sexueller Praktiken und attestieren Waltz, dass es ihr gelungen sei, mit ihren Bildern nicht in die Obszönität zu geraten. Der Zuschauer sehe Sex als »unbewusste Urgewalt« – ohne zum Voyeur zu werden.47
44
WESEMANN, Arndt 2000: Kindergarten der Lüste: Work in Progress: Sasha Waltz’ jüngstes Stück S an der Schaubühne. In: Tip Berlin Magazin Nr. 24.
45
O.V: 2000c: Paradise Lost: »S« wie Sex, Schaubühne und Sündenfall: Sasha Waltz über ihr neues Stück. In: Tip Berlin Magazin Nr. 22.
46
SCHUTT, Hans-Dieter 2000: Schöpfung, erschöpft: »S« von Sasha Waltz
47
Zitiert nach http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,101857,00.
an der Schaubühne. In: Neues Deutschland vom 16.11. html.
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Trotz der geteilten Meinung über die Darstellung der Sinnlichkeit in S stört sich kein Rezensent an der präsentierten Nacktheit in diesem Stück. Da S als Fortsetzung von Körper angekündigt wurde, wird die Nacktheit kommentarlos akzeptiert. Es scheint, als fungieren die abstrakten Tanzbilder Sasha Waltz’ als Katalysator, die die Nacktheit von der Obszönität und vermeintlichen Effekthascherei abtrennen. Harriet Dreier kommt sogar zu dem Schluss, dass »Sasha Waltz […] ihre Tänzer zu Recht ihre Kleider an der Garderobe abgeben […] [lässt]. Man vergisst die Nacktheit der Akteure und wundert sich im Gehen, dass man selbst bekleidet ist.«48 Wie Körper ist auch S ein Kommentar zu der gegenwärtigen Leibfeindlichkeit, welche sich im Postulat des perfekten Körpers ausdrückt. Die Körper in S werden liebevoll und zärtlich behandelt, sie sind Kommunikationsmittel in einer nonverbalen Umgebung, in der alle nackt sind, und nicht mehr Statussymbol. Die Choreografin möchte ein Körperbild erschaffen, welches ein Gegenpol zum allgemeinen Zynismus ist, der den Körperdiskurs auszeichnet. Auf die Frage, warum die Tänzer in S nackt sein müssten, antwortete Waltz: »Kleider vermitteln immer eine kulturelle, soziale und geschichtliche Bedeutung.«49 Die Nacktheit wird somit zu einem Ausdruck des natürlichen, ungeformten Urzustandes. Waltz versteht ihre Rückbesinnung auf Unschuld und Sehnsucht nicht als Regression, sondern als zentrale Erfahrung. Die Darstellung der Unschuld ist eng verknüpft mit dem Paradiesgedanken, der sich aus Hieronymus Boschs Garten der Lüste ableitet: »[…] das Paradies und die Hölle, das ist eigentlich das Thema des Stücks. S behandelt einen Zwischenzustand, das Paradies ist verlassen, aber es hat noch nichts anderes begonnen. Es gibt vielleicht eine Erinnerung, aber man ist nicht mehr im Paradies.«50 Der Impuls zu der Arbeit an Körper kam durch die Geburt von Waltz’ erstem Kind zustande,51 der am 23.02.2002 uraufgeführte letzte Teil der Trilogie noBody verarbeitet den Tod ihrer Mutter. Wie der Titel suggeriert, thematisiert noBody die Abwesenheit des fassbaren
48
Zitiert nach http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,101857,00.
49
O.V. 2000d: Der Tanz ums große »S«. In: BZ vom 07.11.
html. 50
O.V. 2000c.
51
Siehe Schlangenwerth 2006, S. 60.
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Körpers, es handelt von dessen Metaphysik und den Gefühlen, die die Erkenntnis der Sterblichkeit in dem Menschen auslöst. Mit einem auf 25 Tänzer erweiterten Ensemble – an Körper waren 13 Tänzer beteiligt, an S acht – versuchte Sasha Waltz, das Nichtkörperliche mit Hilfe von Körpern sichtbar zu machen: Das Paradox, das Nichtkörperliche mit dem Körper darzustellen, habe ich zu lösen versucht, indem ich mich für eine große Gruppe von Tänzern entschieden habe. Es geht um die Auflösung des Individuums in der Gruppe, so dass ein neuer Organismus entsteht. Eine Art flüssige Masse – nicht im politischen, sondern im stofflichen Sinne. Um sichtbar zu machen, dass sich die Grenzen eines Körpers in etwas Größerem auflösen, das selbst auch keine festen Grenzen hat.52
NoBody findet viele Bilder für den Tod und die Weise, wie die Hinterbliebenen damit umgehen: Zu Beginn tanzt ein Mann alleine auf der Bühne ein Solo, er scheint den Tod seiner Gefährtin zu betrauern, welche hinter die Transzendenz einer Milchglasscheibe von der Bühne abgegangen ist. Ein anderer Mann trägt eine regungslose Frau von der Bühne. Ein Stroboskop durchzuckt mit Blitzen die Dunkelheit und Stille. Mehrfach schmiegen sich die Hinterbliebenen aneinander und suchen Trost in der Gruppe. Anders als in Körper und S sind die Tänzer in noBody nicht nackt, sie tragen unauffällige Kostüme in den Farben weiß, grau, rot und schwarz. Die Abwesenheit des sichtbaren Fleisches symbolisiert hier die Abwesenheit des Lebens, des lebendigen Organismus, übrig bleiben die blassen Schatten der Seelen der Verstorbenen. Ein hausgroßer weißer Ballon aus luftgefüllter Fallschirmseide wird auf die Bühne gelassen, er wird als Bedrohung empfunden, wieder suchen die Tänzer die Nähe und den Trost der anderen, eine Panik bricht aus. Eine Frau bekommt einen Anfall, zwei Männer versuchen sie zu beruhigen. Ein Mann und eine Frau kommen auf die Bühne, ihre Körper stecken in hölzernen Kegelstümpfen, die vom Hals bis zu den Füßen reichen. Wenn sie den Kopf und die Arme einziehen, verschwindet der lebendige Körper vollkommen in seinem starren Holzkokon. Schließ-
52
O.V. 2002: Den Körper sehen, die Seele spüren: Die Berliner Choreographin Sasha Waltz kommt mit »noBody« zum Laokoon-Finale 2002. In: Die Welt vom 06.09.
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lich fallen die beiden um. Der Kegelstumpf ist einerseits Zeichen der Verwundbarkeit und Unfreiheit der Körper zu Lebzeiten, zum anderen lässt er sich als Kokon deuten, der die Trauernden umhüllt, ihr Schmerz umgibt sie, sie können sich nicht mehr frei bewegen. Wie in Körper arbeitet Waltz auch in noBody wieder mit dem Bild der Dissoziation und Verfremdung des Leibes: Ein Mann steigt zu seinem toten Freund in die Hose, er kann nicht ertragen, dass dieser tot ist, und versucht in seinem Schmerz, ihn mit seinen Schritten wieder zu bewegen und somit zum Leben zu erwecken. Mit dieser Aktion widersetzt er sich jedoch auch der Masse, welche sein Handeln mit abschätzigen Blicken beobachtet. In einer anderen Sequenz steht das Ensemble im Kreis, aus ihrer Mitte hebt es zwei Tänzer hoch, von dem einen sind nur die Beine und Füße sichtbar, von dem anderen lediglich der Oberkörper. Der scheinbar zusammenhängende Körper wird geteilt, als die beiden Personen von der Gruppe auseinander getragen werden. Schließlich verliert auch der weiße Ballon seine Bedrohlichkeit, gemeinsam drücken die Tänzer die Stoffhülle nieder, bis sie schließlich als Paket am Boden liegt und sie wieder hinüberschauen können. In der Schlusssequenz wagt es eine einzelne Tänzerin, ihren Körper dem Ballon anzuvertrauen, sie lässt sich in ihn fallen und er trägt sie: Sie schwebt. Die Angst vor dem Tod ist überwunden. Bereits 1998 klassifizierte der Kritiker Gerhard Jörder Sasha Waltz als Vertreterin einer Generation von Choreografen, deren Arbeiten assoziativ und nicht linear sind. Klare politische Botschaften, wie sie in den Werken Johann Kresniks enthalten sind, werden als befremdlicher ›Bombast‹ empfunden. Die Logik des Körpereinsatzes ist entscheidend, keine verkopfte sozialkritische Aussage.53 Zu Waltz’ assoziativer Arbeit gehört, dass sie die Tänzer ihre eigenen Bilder finden lässt.54 Sasha Waltz reagiert mit ihrer Körper-Trilogie auf das gegenwärtige Körperverständnis, welches den makellosen, uniformen Leib postuliert. Mit ihren Arbeiten möchte die Choreografin das Verhältnis der Zuschauer zu ihrem eigenen Körper verändern, diese sollen ihren Leib so akzeptieren, wie er ist, das Potenzial erkennen, das ihm inne-
53
JÖRDER, Gerhard 1998: Shuttle zum Ku’damm: Das Tanztheater der Sasha Waltz – Eine Erfolgsgeschichte. In: Die Zeit Nr. 18.
54
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wohnt und sich von dem allgemein vorherrschenden Leistungsdruck befreien. Körper zeigt den nackten Leib in schonungsloser Offenheit als biologisches System, S präsentiert einen liebenswerten Körper in einer idealisierten Paradies-Umgebung und noBody setzt sich schließlich über die Materialität des Körpers hinweg und erforscht die Transzendenz. Die von Sasha Waltz in ihrer Trilogie thematisierten Körper sind keine Idealkörper, wie sie die Werbung verkaufen will, es sind vergängliche Leiber, die von internen biologischen Prozessen und Trieben geprägt sind. Die Präsentation des durchschnittlichen, wahrhaftigen Körpers führt zu einer veränderten Leib-Wahrnehmung der Zuschauer, weil sie ihren Körper isoliert von Kultur und Gesellschaft als biologisches Konstrukt betrachten. Die Zuschauer sollen das auf der Bühne gesehene in eine eigene Körperwahrnehmung übersetzen: Es hat mit der Wahrhaftigkeit der Bewegung zu tun, mit diesem ehrlichen Kontakt der Körper zueinander. Es ist etwas, was man als Zuschauer deutlich wahrnehmen kann, weil es durch den eigenen Körper geht, du erfährst quasi die Kräfte an dir selbst. Wenn sich ein ganzer Raum wie ein Strudel zu bewegen scheint, dann steckt darin eine Logik, die der Zuschauer nachvollziehen kann, das Sehen transformiert sich in etwas Körperliches.55
Der Blick auf den Körper, den Sasha Waltz durch ihre Choreografien zu evozieren versucht, ist nicht mehr der kritische, vergleichende, der nur die Unzulänglichkeiten sieht. Es ist eine verstehende, akzeptierende Wahrnehmung. Wenngleich ihre Compagnie aus professionellen Tänzern besteht, deren trainierte Körper eher dem vorherrschenden Schönheitsideal entsprechen als die der Allgemeinheit, wendet sich Sasha Waltz bewusst gegen die Uniformität. Sie setzt auf die unterschiedlichen Körper ihrer Tänzer, da Körper aus verschiedenen Kulturen unterschiedliche Geschichten erzählen.56 Diese Diversität ihres Ensembles nutzt Waltz als Stilmittel in Körper, wenn sie zwei von der Statur sehr unterschiedliche Tänzer miteinander tanzen lässt. Auch bei den Tänzern verändert sich das eigene Körperbewusstsein durch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und der Nacktheit desselben. So sagt die Tänzerin Clémentine Deluy über Sasha
55
Schlangenwerth, 2008, S. 36.
56
HAUBENSCHILD, Klaus (Regie) 2003: Gero von Boehm begegnet: Sasha Waltz.
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Waltz: »Sie hat meinen Körper geöffnet. Ich habe keine Angst mehr.«57
8.3 J OHANN K RESNIK : G ARTEN DER L ÜSTE . BSE Das am 25.01.2001 an der Berliner Volksbühne uraufgeführte choreografische Theaterstück Garten der Lüste. BSE von Johann Kresnik ist eine Bearbeitung des dystopischen Romans Brave New World. Der Autor Aldous Huxley entwirft hierin das Bild einer Gesellschaft, die streng hierarchisch nach Kasten eingeteilt ist, an der obersten Spitze stehen die Alpha-Plus-Menschen, die Einteilung reicht bis zu EpsilonMinus-Menschen, welche einfachste Tätigkeiten verrichten. Mittels physischer Manipulation im Mutterleib und späterer Indoktrinierung werden die Menschen gemäß ihrer Kaste geprägt, sodass sie innerhalb dieser glücklich sind und keine Ansprüche jenseits der ihnen bekannten Grundbedürfnisse haben. In Huxleys Gesellschaft ist es nicht mehr vorgesehen, dass Kinder auf natürliche Weise geboren und von ihren Eltern aufgezogen werden, sondern sie stammen aus staatlichen ZuchtZentren. Die Spielzeit 2000/2001 der Volksbühne war dem Menschen gewidmet, im Mittelpunkt stand die Frage, wie sich der Mensch und sein Selbstverständnis verändern, wenn der genetische Code entschlüsselt ist und das Leben somit kein Geheimnis mehr darstellt.58 »Lasset uns Menschen machen« (Genesis 1.26) ist nicht länger die Aufgabe einer höheren Instanz, der Mensch hat nunmehr selbst die Möglichkeit, in die Schöpfung einzugreifen. Der naturgegebene Körper kann jetzt als Ausgangsmaterial für zahlreiche Modifikationen genutzt werden. In seinen Werkstatt-Notizen zu Garten der Lüste. BSE schreibt Johann Kresnik:
57 58
Kramer 2006. HEGEMANN, Carl 2000: Lasset und Menschen machen. In: Leporello Spielzeit 2000/2001. Berlin: Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, September/Oktober 2000.
344 | THEATER DER N ACKTHEIT Die »Schöne neue Welt« ist eine globalisierte Gesellschaft, die Verantwortung, Politik, Schmerz und Lust, Engagement und Liebe – die immer auch Irrtum ist – nicht mehr will. Huxley lässt in seiner Berliner Brut- und Normenzentrale genügsame Alphas und Epsilons züchten, die ihre Sklaverei lieben und jede Verantwortung ablehnen. Sie sind zu Beziehungen nicht fähig und gegen jeden Rest Skepsis gibt es die Droge Soma. Ihr Körper dient allein der Erhöhung des Kapitalwerts und ist längst zur Ware verkommen. Die absolute Erstarrung ist hier das Endstadium des Kapitalismus.59
Die Kritik am Körper als Ware wird in Garten der Lüste. BSE durch das Bild der Viehzucht ausgedrückt. Das kalt-sterile Bühnenbild zeigt Rinderkäfige, in denen Epsilons eingepfercht sind, später werden sie mit Tiermehl gemästet. Zum Spiegelbild des menschlichen Konsumkörpers wird der Konsumkörper des Rindes, welcher mittels ausgefeilter Technik auf Leistung und somit maximalen Profit getrimmt wird. Zu Beginn des Stücks wird mit Kreide in verschiedenen Sprachen der Satz »Ich will auf meine eigene Art sterben« an den heruntergelassenen Eisernen Vorhang geschrieben. Dieser Satz ist emblematisch für die Inszenierung, in einer Welt voller Klone und geklonter Sensationen suchen die Figuren nach individuellen Erfahrungen: »›Geklont zu sein, wäre eine furchtbare Vorstellung‹, sagte Kresnik der Berliner Morgenpost. ›Ich möchte im Leben Schmerzen erleben, ich möchte weinen und lachen.‹«60 Die Erfahrung der Körperlichkeit und somit des Lebens wird schon zu Beginn des Stückes gezeigt, ein Tänzer löst sich aus seiner Vierergruppe und beißt sich in den Arm. In einer späteren Sequenz bringt eine Tänzerin einen Kübel mit Glasscherben auf die Bühne und schneidet sich bewusst damit, eine andere Darstellerin penetriert sich mit den Stacheln eines großen Kaktus. Neben dem Schmerz als wahrhaftiger Empfindung wird auch das wahrhaftige Leben auf die Bühne geholt, eine Frau bringt ein lebendiges Schaf, es soll geschlachtet werden, doch es entkommt. Den Gegenpol zu dieser vegetierenden, abgestumpften Welt bildet der Protagonist Sigmund Marx, der erkennt, was der Gesellschaft
59
O.V. 2001: Ich will Gott, ich will Sünde. In: Welt am Sonntag vom 21.01.2001.
60
VOGEL, Elke: »Garten der Lüste.BSE«: Johann Kresnik choreografiert grauenhafte
Visionen,
zitiert
gesellschaft/0,1518,114243,00.html.
nach
http://www.spiegel.de/kultur/
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verloren gegangen ist: »Ich will Gott. Ich will Poesie. Ich will wirkliche Gestalten. Ich will Sünde.«61 Marx und mit ihm Kresnik streben nach Individualität, welche über den Körper erfahrbar ist, dieser soll zurück zu seinem Ursprung finden. Der ursprüngliche, wilde Körper steht im Kontrast zu der hochtechnisierten schönen neuen Welt, die selbst für die essenziellste Körpererfahrung, die Geburt, eine sterile Lösung gefunden hat: Die Kinder wachsen in Flaschen heran, welche bei Bedarf entkorkt werden. Das Glück der Protagonisten ist kein echtes, individuelles Glück, es ist kalkulierte Triebbefriedigung, sie werden mit Drogen sediert, und wenn sie sterben, »bekommen sie Schokoladencreme«.62 Kresniks choreografisches Theater ist ein politisches Theater, und so findet er Huxleys Dystopie der ruhig gestellten Gesellschaft als Sinnbild für sein Verständnis der gegenwärtigen Gesellschaft. Die Wahl des Brave New World-Stoffes eignet sich in besonderer Weise dazu, die Entfremdung des Individuums in der modernen Welt darzustellen. Kresniks choreografische Bearbeitung des Stoffes zeigt die Entindividualisierung seiner Epsilons, indem er sie mit Schlachtvieh gleichsetzt, welches ein zutiefst zweckgebundenes und vorherbestimmtes Leben führt. Individuelles Denken und Handeln sind nicht gefragt, und der höchste Ausdruck der individuellen Wahl, das Gefühl der Liebe, ist ausgerottet, Gefühle werden nunmehr über Substitute befriedigt. Promiskuität ist gesellschaftlich anerkannt und wird zur Stabilisierung der allgemeinen Ordnung gefördert. Auch die natürliche Geburt, eine intensive körperliche Erfahrung, welche zu einer starken Mutter-Kind-Bindung führt, ist in der schönen neuen Welt nicht vorgesehen. In Garten der Lüste. BSE gibt es jedoch eine Zahl in Plastiktüten verpackte Babypuppen, die zum Requisit von Geburtsszenen werden. Die Plastikhülle, in welcher sich der Fötus befindet, erinnert zum einen an eine eingeschweißte Ware, zum anderen symbolisiert sie die Entkörperlichung des Leibes, der konditionierte Körper wächst in einer Kunstumgebung und nicht im Mutterleib auf. In einer frühen Sequenz mit dem Titel »Ich spüre ein verlorenes Gefühl«63 gebiert eine Epsilonfrau ein solches Kind, welches ihr ein AlphaMensch entreißt. Die Frau wird in eine Kiste gesperrt, deren Deckel
61
O.V. 2001.
62
Ebd.
63
Zitiert nach http://www.nmz.de/nmz2/kiz/Forum1/000921.cgi
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zugenagelt wird. Körperliche Individualität wird hier mit dem Entzug der körperlichen Freiheit bestraft. Emotionale Anwandlungen werden mit einem Dampfstrahler bekämpft, der nicht nur gegen den verschmutzen Bühnenboden, sondern auch gegen Personen gerichtet wird.64 Kresnik kritisiert in Garten der Lüste. BSE auch die sogenannte ›Leitkultur‹, dieses Schlagwort wird von zwei Alpha-Frauen auf ein überdimensioniertes Leintuch gesprüht. Diese ›Leitkultur‹ wird später dazu benutzt werden, Tote von der Bühne zu schaffen, sie ist nicht gesund, sie kostet Leben in der schönen neuen Welt. Die Nacktheit als Stilmittel zieht sich durch alle Sequenzen von Garten der Lüste. BSE, oftmals sind es die Epsilons, die nackt sind. Ihnen ist die Kleidung als zivilisatorische Errungenschaft verwehrt, sie sind das Vieh in der schönen neuen Welt. Ihre Nacktheit zeigt den Körper als Ware, aber auch die verzweifelten Versuche, wieder zu Individualität und Natürlichkeit zurückzufinden. So entledigt sich die oben erwähnte Frau ihrer Kleidung, bevor sie die eingeschweißte Babypuppe unter einen fleischfarbenen Gummilendenschurz steckt. Der Mann, der ihr das Kind entreißt, trägt einen Anzug, hier stehen sich die schutzlose, unangepasste Natürlichkeit und der regelkonform gekleidete Vertreter des Systems gegenüber. Das Bild der nackten Frau in der für sie viel zu kleinen Kiste verstärkt das Bild ihrer Hilflosigkeit. Auch der Mann, der mittels einer großen Melkmaschine mit einem langen Schlauch seinen Samen abgeben muss, strahlt eine nackte Hilflosigkeit aus. In mehreren Sequenzen ist die Nacktheit der Figuren auch Ausdruck der sexualisierten Atmosphäre. Die fehlende Kleidung weist jedoch auch auf den befreiten Körper hin, eine Frau wird aus einem weißen Latexanzug ohne Ärmel – die Assoziation ›Ganzkörperkondom‹ liegt nahe – befreit und ist nackt darunter. Statt des sterilen Schutzes, der zudem die freien Bewegungen unmöglich gemacht hat, ist der Körper nun befreit und nackt. Er ist wieder in seinem Urzustand – der Zustand, zu dem Kresnik zurückkehren wollte – und überdies in der Lage, eigenbestimmt sexuelle Handlungen vorzunehmen. Ein zentrales Thema in Garten der Lüste. BSE ist die Individualität. Den Umgang mit der Persönlichkeit in der schönen neuen Welt demonstriert eine Szene, in der die Epsilons nur mit einem
64
Zitiert nach http://www.nmz.de/nmz2/kiz/Forum1/000921.cgi
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Lendenschurz die Bühne betreten, vor ihren Kopf halten sie ihre eigene Porträt-Aufnahme. Dieses Bild stellen sie ab und zünden den Rahmen an. Als dieser Versuch die Individualität auszulöschen scheitert, werden die Fotografien von einem Tänzer mit dem Fuß zerstört. Lediglich sein eigenes Bild wird mit einem Tuch verdeckt und bleibt verschont. Wieder ist die Nacktheit Ausdruck von Hilflosigkeit. In einer anderen Sequenz offenbart die Nacktheit die bereits begonnene Modifikation des Körpers: Die Cellistin, welche immer wieder zum Musizieren auf die Bühne getragen wurde, zieht sich aus und zeigt eine stark behaarte Haut. Eine Affenmaske und große Affenfüße vervollständigen die Verwandlung. Dank neuer Technologien lässt sich der Körper dergestalt verändern, im Falle der Affenwerdung bleibt unklar, ob dies ein Privileg oder eine Sanktion ist, jedoch ist anzunehmen, dass es in einen größeren Plan der neuen Gesellschaft passt. Garten der Lüste. BSE ist auch eine Kritik an der gegenwärtigen Leibfeindlichkeit und dem Nichtakzeptieren des eigenen Körpers. In schneller Folge betreten viele verschiedene Figuren die Bühne, eine Frau in Abendrobe tanzt auf Krücken, ein Cowboy mit Rußflecken auf dem Körper ballert mit seiner Waffe herum, während sich seine Begleitung betrinkt. Eine Frau mit Kunstbrüsten und einer künstlichen Vagina aus dem Sexshop, welche sie vor ihre Hose geklebt hat, tritt auf. Ihr folgt eine hochschwangere ›Ballerina‹, die auf Spitze über die Bühne schreitet, sie scheint ihr Kind indes nicht zu wollen, da sie sich auf den Bauch fallen lässt und schließlich schwarze Federn daraus hervor zieht. Der natürliche Körper ist nicht gefragt, er wird – zum Beispiel mit künstlichen Geschlechtsorganen – modifiziert, und wo dies unmöglich ist, geschunden und verletzt. Dies wiederum führt zu der bereits eingangs erwähnten Möglichkeit, sich selbst zu spüren und ein Stück seiner Individualität zurückzuerlangen. Am Ende der Inszenierung steht wieder eine starke Analogie zur Viehzucht: Die nur mit fleischfarbenen Slips und Brustbinden bekleideten Epsilons rollen sich durch ein Matschbad. Der Eiserne Vorhang senkt sich, und der Satz vom selbstbestimmten Sterben ist wieder zu lesen.
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8.4 N EW B URLESQUE Die New Burlesque ist eine seit Mitte der neunziger Jahre von den USA ausgehende Reinszenierung und Weiterführung der Burlesque. Diese Form des Unterhaltungstheaters entwickelte sich bereits um 1870 aus dem Vaudeville, der Star dieser Zeit war die britische Tänzerin Lydia Thompson, welche mit ihrer Truppe The British Blondes in kurzen Röcken tanzte und klassische Theatertexte mit satirischen Nummern kombinierte. Sie feierte immense Erfolge in New York und anderen nordamerikanischen Städten. Als die Burlesque bekannter wurde, wandelte sie sich zur preiswerten und breit verfügbaren Unterhaltung für die Arbeiterklasse. Der Fokus der Tänzerinnen verlagerte sich auf die erotische Darbietung, die Entkleidung wurde zum obligatorischen Bestandteil der Vorführung. Diese Strip-Nummern wechselten sich mit den Unterhaltungseinlagen männlicher Komiker ab.65 Ihre Blütezeit erlebte die Burlesque in den dreißiger Jahren in New York,66 bis der damalige Bürgermeister LaGuardia die BurlesqueTheater wegen Unsittlichkeit schließen ließ. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es noch vereinzelt BurlesqueTheater in den USA, die Darbietungsform, welche jedoch im Gegensatz zum Striptease nicht den ganzen Körper nackt zeigte, verlor allerdings zunehmend an Attraktivität. Das Publikum war nicht mehr an dem Geist und Witz der Darstellerinnen interessiert, sondern nur noch an ihren erotischen Tänzen.67 Die Burlesque zeichnet sich vor allem durch das Spiel mit dem Publikum aus, im Vordergrund steht der »Tease«.68 Die ehemalige Burlesque-Tänzerin Ann Corio bemerkt in ihrem Buch This was Burlesque hierzu: »The power of sex is in the power of suggestion. Take off a glove in the right manner and a man will ask you to marry him.
65
Die klassische Burlesque ist eine Domäne weiblicher Darstellerinnen, in der New Burlesque gibt es einige wenige transsexuelle oder männliche Darsteller. Das Gros ist jedoch weiblich, weswegen hier die weibliche Form benutzt wird.
66
Siehe hierzu Alexander 1938.
67
BALDWIN, Michelle 2004: Burlesque and the new bump-n-grind. Denver:
68
To tease: engl. necken.
Speck Press, S. 3f.
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[…] A woman’s greatest asset is a man’s imagination.«69 Nicht die erotische Stimulation des Publikums steht im Vordergrund, sondern dessen Unterhaltung. Somit setzt die New Burlesque einen Kontrapunkt zu den sexualisierten und expliziten Inhalten der Medien. Die Burlesque benutzt Sexualität implizit, indem sie die Fantasie der Zuschauer anregt. Charakteristisch für das Kostüm der Darstellerinnen sind sogenannte ›Pasties‹, Hütchen, welche die Brustwarzen bedecken und oftmals mit kleinen Quasten versehen sind, welche die Künstlerinnen während ihrer Darbietung in Bewegung versetzen. Ein weiteres Distinktionsmerkmal zum Striptease ist der sorgfältige dramaturgische Aufbau der oftmals nur wenige Minuten langen Nummern. Die Darstellerinnen möchten Geschichten erzählen: »›Es gibt immer ein Motto des Abends‹, erzählt Sandy Beach. ›Zurzeit ist es ‹Crime›. Eine Figur heißt Bunny Clyde. Sie ist weniger ein Sweetheart als vielmehr eine Verbrecherin, die versucht Männer auszuziehen.‹«70 Hinzu kommt der selbstironische Habitus der Tänzerinnen. Die meisten Darstellerinnen der New Burlesque sehen sich in der Tradition der ursprünglichen Burlesque und legen Wert darauf, keine StripteaseTänzerinnen zu sein: »Some of the more well-known neo-burlesque performers seem to go dangerously close to that fine line between the two. I am a burlesque dancer, but I don’t consider myself a stripper, at least not in the modern sense, and I work to keep that distinction evident.«71 Die New Burlesque entstand in den 90er Jahren aus dem persönlichen Interesse einzelner Künstlerinnen an der Burlesque, oftmals werden als Vorbilder Mae West, Betty Page, Gypsy Rose Lee, Dixie Evans oder Lily St. Cyr genannt. Eine der ersten Burlesque-Gruppen ist die 1995 in Los Angeles gegründete Truppe The Velvet Hammer.72 Die meisten New Burlesque-Tänzerinnen besitzen ein großes Interesse an der Nachahmung der historischen Burlesque, Michelle Baldwin
69
CORIO, Ann; DIMONA, Joseph 1968: This was Burlesque. New York:
70
Zitiert
71
Die Tänzerin Kelly Ball (alias Francean Fanny), zitiert nach Baldwin
72
http://www.velvethammerburlesque.com/
Madison Square Press, zitiert nach Baldwin 2004, S. 11. nach
http://bremen.prinz.de/magazin/archiv/new-burlesque-in-
deutschland,443587,2,Article.html. 2004, S. 50.
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sieht diejenigen Künstlerinnen, welche die Burlesque lediglich als Ausgangsform für ihre Performance Art nutzen, als Minderheit, die Mehrheit habe sich sehr intensiv mit der Aufführungsgeschichte der Burlesque auseinandergesetzt. Für Baldwin resultiert dieses Interesse an der Geschichte aus einer grundsätzlichen amerikanischen Obsession für Rollenspiele.73 Wahrscheinlicher ist jedoch die Faszination der Epigoninnen für die vermeintlich heile Welt der fünfziger Jahre – symptomatisch hierfür ist der Begriff ›Cheesecake‹ als Genre-Bezeichnung für naiv-frivole Pin-Ups dieser Zeit. Ein weiterer nicht zu unterschätzender Faktor ist die Bewunderung für die erotische Ausstrahlung und die daraus resultierende Unabhängigkeit und Macht der Burlesque-Stars wie Bettie Page, über deren Filme und Fotos die jungen Frauen in den neunziger Jahren erst auf die Kunstform Burlesque stießen. Jacki Willson weist auf eine Parallele zwischen den einzelnen Blütezeiten der Burlesque hin: The peak of burlesque’s emergence into middle-class theatres took place in the exact years when depression was also in its lowest trough. When the mainstream economic system was at its weakest, burlesque’s excesses, anarchy, bawdy humour and insubordinate spirit mimicked the hedonism of the boom, accentuating the question of who was permitted access to capital, power and legitimacy.74
Auch die jüngste Wiederentdeckung der Burlesque seit den späten neunziger Jahren erklärt Wilson als Reaktion auf die Wirtschaftskrise nach dem Zusammenbruch der New Economy um die Jahrtausendwende.75 Die Beliebtheit der Burlesque in den früheren Phasen der Depression lässt sich vor allem mit ihrer Verfügbarkeit für die Massen erklären, die Eintrittsgelder waren niedrig und für alle Schichten erschwinglich. Es ist jedoch fraglich, ob die Wiederentdeckung der Burlesque in den neunziger Jahren wirtschaftliche Hintergründe hat, wie Wilson vermutet. Die Triebfeder dieser Entwicklung scheint vielmehr die Neugier der entsprechenden Subkulturen auf eine exo-
73
Baldwin 2004, S. 37f.
74
WILLSON, Jacki 2008: The happy stripper: pleasures and politics of the
75
Willson 2008, S. 25.
new burlesque. London: Tauris, S. 12.
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tisch anmutende Kunstform gewesen sein. Dennoch setzt die New Burlesque als rückwärtsgewandtes Phänomen, das sie formal ist, einen Kontrapunkt in einer hochtechnologisierten Welt und erscheint deswegen als Fluchtpunkt sowohl für die Künstlerinnen als auch für das Publikum besonders attraktiv: These artists invest the past with erotic possibilities for the future. They reconstruct images and narratives of what are believed to be more elegant, gentle, glamorous and sensuous eras, but by inserting their contemporary bodies and sexuality into this vintage utopia they point to a desire that is only based on non-attainability and absence. The creation of a ›future past‹ […] is a yearning for erotic potentiality and possibilities. It is a spectacle of desire and lack.76
Während einige Tänzerinnen versuchen, den Stil und die Choreografien der alten Burlesque-Tänzerinnen möglichst authentisch nachzuahmen, nutzen andere Künstlerinnen die Burlesque als Basis für ihre eigene Performance. Integraler Bestandteil der New Burlesque ist jedoch die Nacktheit. Michelle Baldwin bemerkt hierzu: The neo-burlesque community had its growing pains. There were those who wanted to define burlesque as one thing or another, who had either an overly modest vision of burlesque or a questionable and overly risque interpretation. However, overall, the consensus was that as long as it was sexy, comedic, and fun, it was likely burlesque.77
Bemerkenswert bei dieser Definition ist der doppelte Verweis auf die Komik, diese scheint fast wichtiger zu sein als die Erotik der Darbietung. In der Anfangszeit der New Burlesque war die Differenzierung vom Striptease indes noch nicht so deutlich, da aus vielen ehemaligen Burlesque-Theatern Striptease-Lokale geworden waren, wurde auch die Burlesque in den neunziger Jahren weiterhin mit dem gewöhnlichen Striptease assoziiert.78 Auf der anderen Seite jedoch half die ungenaue Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit der Burlesque, sich den Vorwürfen der Unsittlichkeit zu widersetzen. Als der New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani Strip- und Sexclubs aus der Innen-
76
Willson 2008, S. 145f.
77
Baldwin 2004, S. xv.
78
A.a.O., S. 24.
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stadt verbannte, konnte die New Burlesque als Variante der Performance Art weiterhin gezeigt werden: They had to get rid of the lap dances like everyone else, but they were able to still feature nudity because their strips were theatrical and it was considered art. The Blue Angel and the burlesque shows that followed offered naughty fun, and even if they didn’t match the down-and-dirty strip clubs that »progress« had swept away, they still managed to give New Yorkers a place to see a bit of flesh.79
Während die New Burlesque in den ersten Jahren ein subkulturelles Phänomen war, welches vor allem in der Nähe der Rockabilly- und Fetisch-Szene80 angesiedelt war, sind mittlerweile einige Tänzerinnen wie beispielsweise Dita von Teese einem Massenpublikum bekannt. Die Mehrheit der Burlesque-Künstlerinnen lebt nicht von ihren Aufführungen, die meisten gehen verschiedenen, nicht theaterbezogenen Berufen nach. Burlesque dancers, whose day jobs range from doctor and schoolteacher to Goth-club dominatrix, say the dance form offers a unique opportunity to escape everyday lives while liberating the body and empowering the spirit. Some burlesque performers rehearse four times for weekend shows, but unlike pole dancers trying to earn a living through stripping, most burlesque performers say the dancing is about personal expression. Any money they make – rarely more than $200 a performance – is channeled back into costumes and stage props for future shows.81
Die New Burlesque wird somit zum Ausdruck einer Subkultur, die die professionellen Bühnen erreicht hat. Ein damit einhergehendes Phänomen ist das Interesse an Burlesque-Kursen, in welchen auch
79 80
Baldwin 2004, S. 29. Baldwin beschreibt die an der Wiederbelebung der Burlesque Beteiligten als »refugees from the swing revival, tattooed rockabilly chicks, strippers bored with the same old pole dance, dancers and artists looking for a more risqué outlet, and ordinary folks who had a love for the old glamour and the innocent naughtiness of the old peek-a-boo striptease.« (A.a.O., S. 19.)
81
http://www.azcentral.com/ent/pop/articles/0406burlesque0406.html
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nicht mit dem Theater verbundene Frauen mit erfahrenen Künstlerinnen eine Burlesque-Nummer einstudieren und diese als Abschluss des Workshops der Öffentlichkeit präsentieren. Anders als im klassischen Tanz oder den Feldern Schauspiel und Gesang ist die Szene Amateuren gegenüber aufgeschlossen und ermutigt sie, sich selbst in der New Burlesque auszuprobieren: Part of the appeal of the burlesque world is that it’s open to anyone and anyone can get onstage if you put the time into a routine and put a costume together. It’s open and nonjudgmental – it’s not like you have to audition for it. And that has really helped its growth and made it very attractive to people.82
Mittlerweile lässt sich die Beliebtheit dieser Kurse auch mit der enormen Bekanntheit Dita von Teeses erklären, welche als perfekt gekleidete und geschminkte Stilikone einer anderen, verklärt gesehen Zeit verehrt wird. Von Teeses klares Selbstbekenntnis ist: »Glamour geht über alles.« Sich selbst sieht sie als Konservatorin einer vergangenen Zeit und ihre originalen Kleidungsstücke als Exponate, die von dieser Epoche zeugen und bei sorgsamer Pflege auch folgenden Generationen ein Zeugnis ablegen sollen.83 Neben perfektionistisch nach Authentizität strebenden Künstlerinnen wie von Teese und Catherine d’Lish akzeptiert die New-Burlesque-Gemeinde in einem weitaus höheren Maße als andere performative Zweige auch Akteure mit einem nicht dem allgemeinen Schönheitsideal entsprechenden Körper. Anders als in der Pornoindustrie oder in StripteaseClubs legt auch die kommerziell arbeitende New-Burlesque-Szene Wert auf unmodifizierte Körper. Die Leiterin der Velvet-HammerTruppe in Los Angeles stellt keine professionellen Striptease-Tänzerinnen, keine Künstlerinnen mit operierten Brüsten und keine PornoStars ein. Der Club Le Cirque Rouge de Gus wirbt mit den gleichen Kriterien, um sich von der Konkurrenz der Striptease-Lokale abzusetzen. Dieser Fokus auf die natürlichen Körper der Darstellerinnen wurde bereits in den frühen sechziger Jahren eingesetzt, wie eine ehemalige Burlesque-Tänzerin berichtet: »In the old days we were all natural—no face jobs, boob jobs, Botox, tits and ass done, no fake
82
Tara Pontani, zitiert nach Baldwin 2004, S. 32.
83
Teese; Garrity 2007, S. 14.
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weaved hair or nails, no tats—it was all us.«84 Laura Herbert kommt zu dem Schluss, dass die New Burlesque sogar noch offener gegenüber dem individuellen Körper sei als die ursprüngliche Burlesque.85 Das explizite Ziel der Berliner Gruppe The Teaserettes ist die Exposition der körperlichen Individualität ihrer Tänzerinnen: »Ebenso sehen ›The Teaserettes‹ die Sache nicht als eigentliche Arbeit, eher als Berufung und Möglichkeit der Selbstdarstellung. Das heißt, Individualität im Auftritt, wie im Äußerlichen, sind gewollt.«86 Auch die amerikanischen Künstlerinnen sehen die Burlesque als eine Kunstform, die der Darstellung ihrer eigenen Individualität dient: »Modern life is all about creating an image. And really, that is what burlesque is about.«87 Anders als im Alltag geht es hier jedoch nicht darum, das gerade von den Medien und einigen wenigen Stilvorbildern definierte Ideal zu treffen, im Mittelpunkt steht das eigene Image, welches die Persönlichkeit widerspiegelt. Die New Burlesque bietet zum einen als Kunstform die Offenheit und die Möglichkeit diverse Gattungen auf vielfältige Weise miteinander zu kombinieren, auf der anderen Seite aber auch die Akzeptanz der Kunstschaffenden sowie des Publikums gegenüber den individuellen Ideen der einzelnen Darstellerinnen, auch wenn sie abseits der Norm liegen. Somit wird sie zur prädestinierten Kunstform für die Exhibition der eigenen Persönlichkeit. Durch ihre außergewöhnliche Akzeptanz für den nicht perfekten Körper kommt der New Burlesque mitunter eine therapeutische Funktion sowohl für die Akteure als auch für das Publikum zu: Burlesque is confidence for the individual […] Women come into my classes with baggage related to their body, gender, size – they come with a history. I teach them that onstage, they don’t have to deal with all that. They can emphasize parts of themselves that make them feel glamorous, or they can highlight their flaws, embrace them, and challenge the audience to do the same. Onstage, women are allowed to put on a new skin – it’s therapeutic.88
84
Baldwin 2004, S. 51.
85
A.a.O., S. 55.
86
http://www.teaserettes.de/
87
O’REILLY, Jennifer 2006: Big teases: Burlesque is still booming Down-
88
http://www.thestranger.com/seattle/Content?oid=22120.
town. In: downtown express 19. Jahrgang, Ausgabe 20, 29.09.-05.10.
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Der positive Effekt für das Publikum liegt in der Präsentation nicht perfekter Körper, welche authentischer sind als die der meisten Schauspielerinnen und Tänzerinnen in anderen Theatergattungen. Der Darstellerin auf der Bühne kommt durch ihre exponierte Position immer auch eine Vorbildfunktion zu, welche in diesem Fall zur größeren Körperakzeptanz des Publikums führen kann. Manche Kritiker sehen in der Burlesque sogar den sex-positiven Ausdruck der dritten Frauenbewegung.89 Die Burlesque-Tänzerinnen selbst begreifen ihre Kunstform als sehr frauenfreundlich, weil es ein ›Frauengeschäft‹ ist: Frauen produzieren und choreografieren die Shows, in denen sie auftreten. Diese ökonomische Selbstständigkeit und das künstlerische Selbstbewusstsein der Darstellerinnen erinnern an die Nackttänzerinnen zu Beginn des Jahrhunderts (siehe Kap 2.1). Michelle Baldwin kommt zu dem interessanten Fazit, dass die New Burlesque all das beinhaltet, was das gegenwärtige Leben vermissen lässt.90 Damit meint sie im Wesentlichen die bewusste Exposition nicht-perfekter Körper und den starken Fokus auf eine zutiefst glamouröse Ausstattung, welche einen scharfen Kontrast zur technisierten Welt bietet. Die Wiederentdeckung der Burlesque als Kunstform, die Komik und Erotik miteinander verbindet, lässt sich auch als Gegenbewegung zu einer Überpräsentation der Sexualität und Pornografie im Alltag sehen: »Vielleicht hat die Gesellschaft ja gerade den sexuellen Overkill erreicht, und die Verbindung von Sex und Komik bringt in gewisser Weise eine Erleichterung.«91 Die erotische Präsentation nicht-perfekter Körper, die keine expliziten sexuellen Handlungen ausüben, führt zu einer Art comic relief, welche die New Burlesque besonders attraktiv erscheinen lässt. Die New Burlesque wird von den Tänzerinnen als natürlicher Gegenentwurf zu der Künstlichkeit der in den Medien präsentierten Körper verstanden: »Everyone is so sick of these overproduced TV shows […] and all the overt sexual stuff in movies. It’s synthetic, contrived, and mass-produced. Burlesque is raw and human, and there’s something in it for every-
89
In dieser Arbeit ist es nicht möglich, der Frage nach der feministischen Einschätzung der Burlesque nachzugehen. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit diesem Thema bietet Willson 2008.
90
Baldwin 2004, S. 30.
91
Zitiert
nach
http://bremen.prinz.de/magazin/archiv/new-burlesque-in-
deutschland,443587,2,Article.html.
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one.«92 Die Akzeptanz ihres eigenen Körpers, welche eine Tänzerin ausstrahlt, ist entscheidend für den Erfolg ihrer Darbietung, wie auch die Produzentin des New York Burlesque Festival, Jen Gapay, konstatiert: »Just taking your clothes off onstage doesn’t make you a good burlesque performer. You have to be at ease with yourself, comfortable with your body, whatever it is.«93 Neben der Kritik am Primat des perfekten Körpers versteht ein Teil der New Burlesque-Szene seine Arbeit auch als politisch und gesellschaftskritisch motivierte Kunst: Most of us don’t strictly re-enact historical acts, rather we reinterpret burlesque for our own time and to our own tastes. For the ladies of burlesque—from Lydia Thompson in the 1860s to Dixie Evans, Kitty West, Satan’s Angel, Cynthiana, and others who watched it fade out in the 1960s—burlesque was a commentary on their time. Now, the new burlesque is influenced by and a reflection of our time.94
Ein naheliegendes gesellschaftspolitisches Thema ist der Kampf gegen die Diskriminierung von Menschen mit großen Kleidergrößen (fat acceptance movement). Dies ist das Thema der »Original Fat Bottom Revue«, einer New Burlesque-Truppe mit stark übergewichtigen Mitgliedern. Die mittlerweile an Krebs verstorbene Gründerin dieser Truppe, Heather MacAllister, zog die New Burlesque dem gewöhnlichen Striptease vor, weil diese eine Kunstform und eine Form der Selbstverwirklichung und das Publikum respektvoll sei: »It is about humanizing, not dehumanizing, our bodies and ourselves.«95 Neben der ermutigenden Wirkung auf die Tänzerinnen sehen diese aber auch einen positiven Effekt für das (weibliche) Publikum, da dieses anders als in den Medien und in der Werbung üblich Frauen mit ihren eigenen Proportionen sieht, welche überdies Dinge tun, die es sich selbst nicht trauen würde. Die Darstellerin Darlinda Just Darlinda, welche freimütig ihre Körpermaße (»5’4«, size 12, 36 B, 160 pound«)
92
Angie Pontani, zitiert nach http://nymag.com/nymetro/nightlife/sex/ columns/nakedcity/9210/.
93
CALDWELL, Mark 2008: The Almost Naked City. In: The New York
94
Baldwin 2004, S. xv.
95
Heather MacAllister, zitiert nach Baldwin 2004, S. 57.
Times vom 18.05.
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veröffentlicht, konstatiert in einer Rede über die feministischen Aspekte der New Burlesque, dass diese bei dem weiblichen Publikum so beliebt sei, weil es auf der Bühne ein Spiegelbild seiner selbst sähe.96 Die Vorzüge der New Burlesque als Medium der Gesellschaftskritik sehen die Darstellerinnen im Humor der Darbietungen und deren Glamour, welche die ernste Botschaft unterhaltungskompatibler machen: »Because it is expected to be larger and louder than life, burlesque lets women speak without reserve. The performers tell stories using pantomime and dance, combined with an expressive costume and an inspiring music choice. They reveal not only their bodies, but also statements about life.«97 Darlinda Just Darlinda beschreibt auf ihrer Webseite die monatliche Veranstaltung Bad Ass Burlesque, welche den Programmpunkt »Bush Bash« beinhaltete, der die Politik des ehemaligen amerikanischen Präsidenten George W. Bush kritisierte: I have done a couple of acts which bash Bush, mainly they are comments about abortion and how Bush is threatening the women’s right to choose, tonight you see one of these acts. This is the description of the act that I did. The act is to Blood Sweat and Tears »You have made me so very happy«. I enter as a buxom blond with a long red evening gown, blue gloves and American flags everywhere, my smiles are endless and it appears that I am a proud American. I do a classic strip tease and the juxtaposition of what follows as I strip is my smiles turn to nausea and my blond wig comes off as do my pasties and g-string. I pull a picture of George Bush out of my vagina and with shock and horror I rip it up. This act explores the thought of the government in my vagina. Why must abortion be a political issue? Why is health care not available to everyone? How really horrible it is that the government IS in my vagina!98
Die New Burlesque wird hiermit zum Trägermedium einer dem Zeitgeist entsprechenden politischen Kritik, welche auf den ersten Blick nichts mit dem kunstvollen Entkleiden zu tun hat. In dieser
96
http://darlindajustdarlinda.com/feminist-neo-burlesque-speech-from-
97
Baldwin 2004, S. 62.
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http://darlindajustdarlinda.com/feminist-neo-burlesque-speech-from-
102607/
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unerwarteten Kombination und der satirischen Präsentation bietet sich jedoch die Möglichkeit, auch eine politisch nicht interessierte oder engagierte Publikumsschicht zu erreichen. In einer von vielen Menschen als übersexualisiert empfundenen Welt wandelt sich somit eine ursprünglich erotisch intendierte Kunstform zum politischen Theater. Die Exposition des (teilweise) entkleideten Körpers lenkt den Fokus des Publikums auf die Unterwerfung desselben durch die gesellschaftlichen Normen.
9.
Schlussbetrachtung
Im Rahmen dieser Arbeit ist es nicht möglich, sämtliche denkbare Aspekte der Nacktheit auf der Bühne zu analysieren. Der Fokus auf die Beziehung von Nacktheit und Körperzivilisation verdeutlicht jedoch, wie essenziell das Thema Nacktheit in jeder Zeit ist. Der nackte Körper ist niemals nur ein Regieeinfall, er ist immer ein Prüfstein für die Gesellschaft, der er präsentiert wird. Die Präsentation des nackten Körpers wird immer argwöhnisch beobachtet. Zu keiner Zeit war und ist es unproblematisch, einen nackten, naturbelassenen und somit freien Körper zu zeigen. Jegliches eigene Handeln und die Bewertung fremder Aktionen werden von (internalisierten) zivilisatorischen Normen bestimmt. Freud konstatiert, dass das Individuum eine Befriedigung erfährt, wenn es sich normgerecht verhält, und Nietzsche pointiert diesen Umstand, indem er zu dem Schluss kommt, dass der Mensch lieber das Nichts will, als nicht zu wollen. Eine Existenz ohne normatives Gerüst scheint unmöglich und würde dem Menschen den letzten Halt in einer als haltlos erfahrenen Welt nehmen. Aus dieser Angst vor Orientierungslosigkeit resultieren die Körpernormen, welche zutiefst leibfeindlich sind. Somit erscheint es fast unmöglich, den nackten Körper auf natürliche Weise und frei von jeglicher Sublimierung zu zeigen. Obwohl deren Methoden und Ansprüche im Laufe der Zeit variieren, gibt es auch klassische Muster, welche sich durch die Geschichte hindurch halten oder wiederholen. Die Zivilisierung des Körpers betrifft stets dessen Individualität und, damit eng verbunden, die Natur. In der Individualität des Körpers liegt ein Element des Unberechenbaren, welches als Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung angesehen wird. Im Gegensatz zu uniformierend wirkender Kleidung ist der nackte Körper Ausdruck der
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Individualität einer Person. Aus der Angst vor dem unberechenbaren Körper resultieren Bestrebungen nach Vereinheitlichung und Verbesserung des Körpers. Dieses Ziel zeigt sich sowohl bei den zahlreichen Theoretikern der Nacktkultur und den einheitlichen Revue-Girls als auch im Körperkult der Gegenwart, wo das Plurale Tantum mit Photoshop am Computer generiert wird. Schönheit als Ausdruck des gezähmten Körpers ist das höchste Ideal. Der nackte Leib lässt sich hauptsächlich auf zwei Weisen inszenieren: idealisiert und schön im Sinne der Entindividualisierung oder schonungslos und authentisch, was sich bis in das bewusst Hässliche steigern kann. Hässlich ist hier als Antonym zu schön zu verstehen im Sinne der jeweils geltenden Schönheitsnormen. Diese Darstellung betont die Individualität des Leibes und dessen ungeformte Natur. Daneben wird noch ein ›neutraler‹ Körper präsentiert, der weder auffällig schön noch auffällig hässlich inszeniert wird. Bei der chronologischen Betrachtung der Nacktheit auf der Bühne zeigt sich eine tendenzielle Verschiebung von schön nach hässlich: Die Lebensreformbewegung war in ihrem Kern zivilisationskritisch, da sie die Stärkung des Individuums in einer als degeneriert empfundenen Gesellschaft anstrebte. Diese Kritik konnte indes nicht den internalisierten Normen standhalten, und das Streben nach dem natürlichen nackten Körper wurde in das Streben nach dem sublimierten schönen nackten Körper umgewandelt. Dieses, der ›Zuchtwahl‹ dienende Verfahren steht in seinem Ehrgeiz dem heutigen Körperkult in nichts nach. Eine der angewandten Legitimationsstrategien ist demnach die Berufung auf die Schönheit, auch der Bezug auf Antike und Religion fordert einen ästhetisch gefälligen Leib. Die vierte Strategie zeigt die Doppelbödigkeit der Ideologie: man besinnt sich auf die Natur, obwohl sich unter den präsentierten Körpern keine neutralen oder gar hässlichen befinden, sondern allein schöne Leiber. Natur wird sowohl zum Synonym für zu verurteilende Triebhaftigkeit als auch für die paradiesische Unschuld im Gegensatz zur lasterhaften Stadt. Hieran zeigt sich, dass die Legitimationen oftmals eher aus Notwendigkeit denn aus Überzeugung resultieren. Trotz der zwiespältigen Motive war die Nacktkultur notwendig, um der Nacktheit auf der Bühne den Weg zu ebnen. Die Tänzerinnen Olga Desmond, Isadora Duncan, Adorée Villany und Ruth St. Denis zeigen eine schöne, durch ihre jeweiligen Strategien sublimierte Nacktheit. Duncan und Villany fallen überdies durch
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eine gewisse Eitelkeit auf, es ist fraglich, ob diese Tänzerinnen nackt beziehungsweise teilweise entblößt aufgetreten wären, wenn sie selbst unzufrieden mit ihrem Aussehen gewesen wären. Duncan schreibt im Tanz der Zukunft über natürliche Bewegungen und die Individualität, ihre Tänze zeigen indes einen durch den Bezug zur Antike sublimierten Körper. Bei Villany erscheint die Nacktheit, wenngleich sie sie in ihrer Schrift zu legitimieren versucht, als Geschäftsgrundlage einer freischaffenden Künstlerin. Ein interessanter, kommerziell motivierter Fall ist Celly de Rheydt, welche ihre Tänze nur recht wenig zu legitimieren versucht und je nach Mode sowohl antike Schönheit als auch den hässlichen, durch Opium ausgezehrten Körper zeigt. Trotz der verschiedenen Sublimationen darf nicht außer Acht gelassen werden, wie sehr der Verzicht auf den Spitzenschuh, welcher alle Tänzerinnen auszeichnet, gegen die Konventionen des im Tanz zivilisierten Körpers rebelliert. Anita Berber ist die einzige Tänzerin dieser Zeit, welche triebhafte Sexualität und ihren nackten Körper bewusst auf eine hässliche Weise zeigt. Sie setzt als erste dem Postulat der Zivilisation ekstatische Nacktheit entgegen. Diese Enthemmung tritt auch in den anderen untersuchten Phasen auf, so etwa im o.m.theater und bei den Hexen in Macbeth. Die menschlichen Triebe können somit in allen Zeiten ausbrechen, selbst in jenen, in denen die Zivilisation sehr restriktiv überwacht wird. Das Interesse des Publikums an dieser Art der Nacktheit ist indes zeitlich sehr begrenzt und wird bald von der makellosen Ästhetik der Revue-Girls verdrängt. Die Girls stehen für das Phänomen der Denaturalisierung der Natur, sie sind zwar unbekleidet, wirken gleichzeitig aber äußerst asexuell. Dafür strahlen sie eine viel gepriesene Gesundheit aus, ihre positive Körperausstrahlung steht somit in einem scharfen Kontrast zu den Darbietungen Anita Berbers. Die Debatte, ob die Girls nun erotisch wirken oder nicht, zeigt, wie problematisch die Enterotisierung der Nacktheit ist und wie wichtig die Legitimationsstrategien waren, um dem Verdacht der Unsittlichkeit zu entgehen. Auf der anderen Seite resultiert hieraus eine Angriffsfläche, und die Darbietungen wirken schnell langweilig oder unglaubwürdig. Die sexuelle Revolution will die Befreiung der Sexualität und die Enttabuisierung der Nacktheit erreichen und propagiert die Entblößung eines jeden Körpers. Das Private wird politisch und öffentlich. Die
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Nacktheit, welche in Hair, Oh! Calcutta! und Paradise Lost gezeigt wird, lässt sich als neutral bezeichnen, sie zeigt durchschnittliche Menschen, die dafür eintreten, ihren Körper öffentlich zu zeigen. Das oberste Ziel der 68er ist die Entbürgerlichung, was sich in der Dezivilisierung des Körpers niederschlägt. Im Sinne Rousseaus soll das Individuum wieder zurück zur Natur finden, die Natur-Schwärmerei der Hippies erinnert an die Ideale der Lebensreformbewegung. Während die Nacktheit in Hair noch durch den Einsatz von Lichteffekten sublimiert wird, verzichtet Oh! Calcutta! darauf und zeigt den Körper auf eine naturalistische Weise. Oh! Calcutta! und Paradise Lost benutzen das Stilmittel der Nacktheit unter anderem, um eine Reaktion des Publikums im Sinne Artauds zu evozieren. Einen Höhepunkt findet dieses Bestreben im Wiener Aktionismus und beim o.m.theater, welche wie Anita Berber bewusst den hässlichen Körper einsetzen. Die Beschmutzung und Verletzung des unversehrten Körpers durch die Wiener Aktionisten ist ein Protest gegen das als unerträglich empfundene restaurative Bürgertum, welches dem Körper zivilisatorische Schranken auferlegt, die von den Künstlern bewusst und drastisch gebrochen werden. Das o.m.theater hingegen will nicht in erster Linie schockieren, sondern den Mitspieler mittels regressiver Aktionen von dem Joch seiner Alltagserfahrungen befreien. Im gegenwärtigen Alltag hat sich ein Kult um den perfekten Leib etabliert. Der Körper darf im unbekleideten Zustand gezeigt werden – aber nur, wenn er perfekt ist. An die Stelle moralischer Normen sind ästhetische getreten. Während die Lebensreformbewegung und die 68er identitätsstiftende Körper-Ideale vertraten, wird der Körper nun versklavt. Wie zu Zeiten der Körperkultur ist Schönheit das Ideal, diese wird aber nurmehr als Gradmesser der Leistung gesehen. Diesem ästhetischen Druck durch die Gesellschaft setzt das Theater bewusst den neutralen Körper oder gar offensive Hässlichkeit entgegen. Der Körper wird im postmodernen Sinn deinszeniert, wie die verstörend reduzierte Ästhetik von Macbeth zeigt. Macbeth und BSE. Garten der Lüste setzen auf Hässlichkeit, die Körper-Trilogie und die New Burlesque zeigen den neutralen Körper. Wenngleich die Burlesque auf bemerkenswerte Weise für die Befreiung des Körpers von den ästhetischen Normen eintritt, arbeitet auch sie sublimierend. Die obligatorischen üppigen und verspielten Kostüme sowie zahlreiche Requisiten lenken von der Präsentation des nackten Körpers ab.
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Radikaler ist der Einsatz der Nacktheit bei Macbeth, da sie hier den unvorbereiteten Zuschauer ereilt. Die im Laufe der Zeit zunehmende Präsentation des hässlichen Körpers auf der Bühne lässt auf eine nachlassende gesellschaftliche Relevanz der Körpernormen schließen. In der Tat ist die Gegenwart deutlich liberaler im Umgang mit öffentlicher Nacktheit als frühere Zeiten. Der Körperkult zeigt allerdings, dass sich die Normen lediglich gewandelt haben, sie sind nach wie vor im Alltag fest verankert und beeinflussen auch die Präsentation der Nacktheit. Internalisierte Körpernormen sind immer vorhanden, sie wandeln sich lediglich. Verändert hat sich jedoch die Reaktion des Theaters: Dieses kann nun schonungslos den hässlichen Körper präsentieren. Die von Peter Gay beschriebene Doktrin der Distanz, welche durch diverse Sublimierungsakte zwischen dem Betrachter und dem nackten Objekt aufgebaut wird, wandelt sich im Lauf der Zeit. Während die Körperkultur bis in die zwanziger Jahre noch sehr stark mit Legitimierungsstrategien arbeitet, werden diese in den sechziger Jahren allenfalls angewendet, um nicht gegen das Gesetz zu verstoßen, eine gesellschaftlich-moralische Notwendigkeit wird nicht mehr gesehen. Die Inszenierungsbeispiele der Gegenwart lehnen sich gegen die zivilisatorischen Gebote auf und brechen die Distanz vollständig, indem sie dem Rezipienten schonungslos den Körper präsentieren, auch wenn er sich davor ekeln mag. Die Normen der Zivilisation beruhen auf gesellschaftlichen Vereinbarungen, welche ein friedliches und sicheres Zusammenleben in einer Gesellschaft gewährleisten sollen. Die Einhaltung dieser Regeln erfordert Selbstdisziplin und Affektkontrolle, was dazu führen kann, dass die persönlichen natürlichen Triebe zum Wohle der Gemeinschaft unterdrückt werden, eine Repression des Körpers inbegriffen. Freud vertritt die These, dass die psychische Schädigung, welche von dieser Unterdrückung ausgeht, durch die Kunst kompensiert werden kann. So stellt sich die Frage, ob die Präsentation der Nacktheit auf der Bühne diesen kompensatorischen Wert hat. Auf die Frage, wie sie die Nacktheit auf der Bühne empfinden würden, antworteten fast alle in dieser Arbeit zitierten Darsteller, dass sie dies als positiv erfahren hätten, dass sie sich befreiter fühlten und ein besseres Verhältnis zu ihrem Körper erlangt hätten. Selbstverständlich lässt sich aus den Antworten einiger weniger Person keine allgemeingültige Aussage generieren, aber es zeigt sich doch, dass Nacktheit durchaus eine
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befreiende Funktion haben kann. Auch die an Artaud orientierten Ansätze des Living Theatre und des o.m.theaters zielen in diese Richtung. Als bester Beleg mag die New Burlesque gelten, da die Ausführenden sich ganz bewusst selbst und ohne den Druck eines Regisseurs oder Choreografen für die Exhibition ihres nackten Körpers entscheiden. Der Zuschauer wiederum soll je nach der Intention des Theaters seinen Körper formen und sublimieren oder aber so akzeptieren, wie er von Natur aus geschaffen ist. Die Zivilisation besitzt stets eine Komponente der Macht, mithilfe derer sich eine höhere Schicht von einer unteren abzugrenzen versucht. Betrachtet man in diesem Zusammenhang den nackten Körper als ›nicht-zivilisierten‹ Körper und das subventionierte Stadttheater als Stätte, welche häufig von dem Bildungsbürgertum frequentiert wird, so verwundert es nicht, dass fast alle untersuchten Beispiele aus dem Bereich des kommerziellen oder freien Theaters kommen. Erst in der Gegenwart wandelt sich dies, sowohl Gosch als auch Waltz und Kresnik inszenieren die Nacktheit an öffentlichen Theatern. In Analogie zu Foucaults Theorie über den Diskurs der Sexualität stellt sich die Frage, wie eng der zivilisierte Körper in seinen verschiedenen Ausformungen mit seinem Diskurs verknüpft ist. Die Gestaltung des Körpers ist ein omnipräsenter Gegenstand, gerade Frauenzeitschriften generieren einen großen Teil ihres Inhaltes aus diesem Themenkomplex. Es fällt jedoch auf, dass sowohl die Zivilisierung des Körpers propagiert wird als auch die daraus resultierenden negativen Begleiterscheinungen wie Essstörungen beklagt werden. So muss hinterfragt werden, ob die Thematisierung des Körpers auf der Bühne gleichsam von dieser Diskursmaschine profitiert, ob hier wirklich etwas ernsthaft kritisiert wird oder ob man sich nur eines Modethemas annimmt. Die Antwort ist schwierig zu finden, in letzter Linie hängt es von dem Rezipienten ab, in welcher Weise er sich angesprochen fühlt. Fest steht jedoch, dass dem ›Live‹-Medium Theater Mittel zur Verfügung stehen, welche dieses prädestinieren, den Umgang mit dem Körper zu hinterfragen und zu kritisieren. Als konkretes Beispiel sei eine Sequenz aus Sasha Waltz’ Choreografie Körper genannt, in welcher sich die Tänzer an Hautfalten hochheben und über die Bühne tragen. Hier wird physischer Schmerz unmittelbar visualisiert, anders als im Film oder in einem Print-Medium kann der Rezipient sicher sein, dass es sich nicht um einen Trick handelt. Aber auch auf der abstrakten Ebene wie in Jürgen Goschs Macbeth-Inszenierung rückt
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der Körper in den Vordergrund, wenn er mit Eimern voller Blut übergossen wird. Wie Foucaults Modell des Panopticons zeigt, begünstigt die Zivilisation auch stets die Arbeitsleistung einer Gesellschaft. Wenngleich sich niemand der Theoretiker oder Theaterschaffenden explizit auf die Zivilisationstheorien bezieht, greifen viele von ihnen Elemente daraus auf. Ein Beispiel hierfür ist der Girl-Theoretiker Fritz Giese, welcher amerikanische Fließbandmodelle und deutsches Unterhaltungstheater gleichsetzt. Sofern das Theater einen Vorbildcharakter besitzt, sollten die Girls der deutschen Gesellschaft ein positives Beispiel sein. Das von Giese in ihrem Habitus gesehene »Amerikanische« fungiert gleichsam als Legitimationsstrategie für die Präsentation des entblößten Körpers. Das Medium Theater ist eng mit der Sprache verbunden. Bei der Betrachtung der hier untersuchten Inszenierungen fällt indes auf, dass die meisten Inszenierungen aus dem Bereich des Tanzes kommen, nur Jürgen Goschs Macbeth-Interpretation ist ein genuines Drama. Es gibt nur wenige Schauspiel-Inszenierungen, welche in einem derartigen Umfang das Stilmittel Nacktheit gebrauchen, dass sie sich für die vorliegende Untersuchung qualifiziert hätten. Auf der anderen Seite zeigt sich, dass die Nacktheit ein hervorragendes Ausdruckmittel ist, wenn der Sprache die Vermittlung von Inhalten nicht mehr zugetraut wird. Dem Zeitalter der frühen Nackttänzerinnen geht die von Hugo von Hofmannsthal attestierte Sprachkrise voraus, die 68er protestieren mit Performances statt Debatten gegen die eingefahrene Welt ihrer Eltern, und dem gegenwärtig omnipräsenten Körperkult wird Körperlichkeit anstelle von Worten entgegengesetzt. Das Streben der Wiener Aktionisten nach einer kindlichen Vorsprachlichkeit zeigt im Kontext ihres Protestes gegen die bürgerliche Gesellschaft, wie stark Sprache mit der Zivilisation verbunden ist. Außersprachliches, körperliches Theater ist somit eine Hinwendung zu einer natürlicheren, ursprünglicheren Ausdrucksweise. Schien es zunächst wahrscheinlich, dass die Nacktheit auf der Bühne ein klarer Ausdruck des Protestes gegen die Unterdrückung des Körpers ist, zeigte sich jedoch bei der Detailanalyse der einzelnen Beispiele, dass die Zivilisation stets ein gewichtiger Faktor ist, der auch den Protest in seine Schranken verweist. Es bedarf eines genauen Blicks um zu erkennen, wie unterschwellig die zivilisatorischen Normen allen Bereichen des Lebens inhärent sind und um sie infrage zu
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stellen. Besonders schwierig ist dies in der Gegenwart, welche vordergründig permissiv und tolerant erscheint. So stellt sich die Frage, welche Notwendigkeit heute noch besteht, den medial omnipräsenten nackten Körper auch noch auf der Bühne zu zeigen. Dies ist erforderlich, um einen vor- oder außerzivilisatorischen Leib zu präsentieren, welcher im Alltag niemals gezeigt werden darf. Die inoffizielle Fragestellung, welche diese Arbeit permanent begleitete, lautete: »Warum muss der Körper nackt sein?« Der gesellschaftspolitische Vergleich der drei Zeitabschnitte hat gezeigt, dass der Umgang mit dem Körper und damit verknüpft auch mit der Sexualität im Laufe der Zeit nach vorangehendem Protest deutlich liberaler geworden ist. Im Bereich der Kunst als Abbild der Gesellschaft wurde diese Entwicklung durch die Exposition der Nacktheit auf der Bühne begleitet. Das gegenwärtige Körperverständnis indes zeigt, dass der Leib immer noch zivilisatorischen Restriktionen unterworfen ist, welche eine Gefahr für Physis und Psyche darstellen. Die Beschränkung des Körpers ist eine der gravierendsten Einschränkungen, welche das Individuum erfahren kann. Die Nacktheit auf der Bühne ist somit notwendig, um zu zeigen, wie unfrei der Körper und damit letztendlich der Mensch selbst ist.
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Theater Jan Deck, Angelika Sieburg (Hg.) Politisch Theater machen Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten Dezember 2010, ca. 130 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1409-1
Miriam Drewes Theater als Ort der Utopie Zur Ästhetik von Ereignis und Präsenz Mai 2010, 456 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1206-6
Bettine Menke Das Trauerspiel-Buch Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen Juni 2010, 284 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-634-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Theater Patrick Primavesi, Jan Deck (Hg.) Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen September 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1408-4
Jens Roselt, Christel Weiler (Hg.) Schauspielen heute Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten November 2010, 226 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1289-9
Wolfgang Schneider (Hg.) Theater und Schule Ein Handbuch zur kulturellen Bildung 2009, 352 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1072-7
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Theater Gabi dan Droste (Hg.) Theater von Anfang an! Bildung, Kunst und frühe Kindheit
Stephanie Metzger Theater und Fiktion Spielräume des Fiktiven in Inszenierungen der Gegenwart
2009, 260 Seiten, kart., inkl. Begleit-DVD, 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1180-9
April 2010, 406 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1399-5
Jennifer Elfert Theaterfestivals Geschichte und Kritik eines kulturellen Organisationsmodells 2009, 406 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1314-8
Friedemann Kreuder, Michael Bachmann (Hg.) Politik mit dem Körper Performative Praktiken in Theater, Medien und Alltagskultur seit 1968 2009, 294 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1223-3
Hajo Kurzenberger Der kollektive Prozess des Theaters Chorkörper – Probengemeinschaften – theatrale Kreativität 2009, 252 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1208-0
Kuan-wu Lin Westlicher Geist im östlichen Körper? »Medea« im interkulturellen Theater Chinas und Taiwans. Zur Universalisierung der griechischen Antike
Artur Pelka, Stefan Tigges (Hg.) Das Drama nach dem Drama Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland nach 1945 Dezember 2010, ca. 250 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1488-6
Christoph Rodatz Der Schnitt durch den Raum Atmosphärische Wahrnehmung in und außerhalb von Theaterräumen August 2010, 312 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1585-2
Kati Röttger, Alexander Jackob (Hg.) Theater und Bild Inszenierungen des Sehens 2009, 322 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-706-6
Christina Schmidt Tragödie als Bühnenform Einar Schleefs Chor-Theater November 2010, ca. 374 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1413-8
August 2010, 376 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1350-6
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Theater Franziska Schössler, Christine Bähr (Hg.) Ökonomie im Theater der Gegenwart Ästhetik, Produktion, Institution 2009, 370 Seiten, kart., farb. Abb., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1060-4
Stefan Tigges Von der Weltseele zur Über-Marionette Cechovs Traumtheater als avantgardistische Versuchsanordnung Juli 2010, 450 Seiten, kart., 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1138-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
ZfK - Zeitschrift für Kulturwissenschaften Daniela Hammer-Tugendhat, Christina Lutter (Hg.)
Emotionen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2010 August 2010, 164 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-1405-3
ZfK - Zeitschrift für Kulturwissenschaften Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent: Neben innovativen und qualitativ hochwertigen Ansätzen besonders jüngerer Forscher und Forscherinnen steht eine Masse oberflächlicher Antragsprosa und zeitgeistiger Wissensproduktion – zugleich ist das Werk einer ganzen Generation interdisziplinärer Pioniere noch wenig erschlossen. In dieser Situation soll die Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften bieten. Die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur, historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus kann so mit klugen interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar über die Rolle von Geschichte und Gedächtnis, von Erneuerung und Verstetigung, von Selbststeuerung und ökonomischer Umwälzung im Bereich der Kulturproduktion und der naturwissenschaftlichen Produktion von Wissen diskutiert werden. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften lässt gerade auch jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die aktuelle fächerübergreifende Ansätze entwickeln.
Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen die Ausgaben »Fremde Dinge« (1/2007), »Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft« (2/2007), »Kreativität. Eine Rückrufaktion« (1/2008), »Räume« (2/2008), »Sehnsucht nach Evidenz« (1/2009), »Politische Ökologie« (2/2009), »Kultur und Terror« (1/2010) sowie »Emotionen« (2/2010) vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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